Handbuch Personzentrierte Seelsorge und Beratung [1 ed.] 9783666616273, 9783525616277


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German Pages [501] Year 2018

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Handbuch Personzentrierte Seelsorge und Beratung [1 ed.]
 9783666616273, 9783525616277

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Christiane Burbach (Hg.)

Handbuch Personzentrierte Seelsorge und Beratung

Christiane Burbach (Hg.)

Handbuch Personzentrierte Seelsorge und Beratung Mit 6 Abbildungen und 1 Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Krzysztof Wiktor – Adobe Stock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-61627-3

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Christiane Burbach

Teil I

  Grundlagen Personzentrierter Seelsorge und Beratung

1 Lebens-Prozesse – Grundannahmen Personzentrierter Seelsorge und Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Christiane Burbach 2 Was ist der Mensch? Zum Menschenbild im Personzentrierten Ansatz . 49 Tilman Kingreen 3 Carl R. Rogers und die Entstehung des Personzentrierten Ansatzes . 66 Joachim Schlör 4 Der Personzentrierte Ansatz aus neurowissenschaftlicher Sicht . . . . . . 82 Michael Lux 5 Das Humanistische Menschenbild im Dialog mit evangelisch-­ theologischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Diederik Noordveld 6 Geheimnisträger Mensch – Rahners radikaler Ansatz im Gespräch mit der Humanistischen Psychologie Rogers’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Martin Kempen 7 Das Personzentrierte Menschenbild im Dialog mit ausgewählten philosophiegeschichtlichen und reformpädagogischen Positionen . . . 131 Sarah-Magdalena Kingreen 8 Der Humanistische Ansatz im Gespräch mit anderen Ansätzen . . . . . 149 8.1 Das Selbst und seine Entwicklung – tiefenpsychologische Konzepte in Resonanz mit dem Personzentrierten Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Anne Steinmeier 8.2 Tiefenpsychologie der Jung-Schule und Personzentriertes Vorgehen – arbeiten mit inneren Bildern, Träumen, Imaginationen und biblischen Geschichten in der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Martin Moser

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Inhalt

8.3 Personzentrierte Psychotherapie und Verhaltenstherapie – Konvergenzen und Divergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Ernst Kern 8.4 Grundannahmen der Systemischen Therapie und Beratung im Dialog mit dem Personzentrierten Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Sarah-Magdalena Kingreen und Jan Kingreen

Teil II

  Personzentrierte Seelsorge und Beratung in den Institutionen

1 Zum Verständnis von Seelsorge in der katholischen Kirche – ein Blick zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Matthias Ball 2 Seelsorge in der protestantischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Christiane Burbach 3 Personzentrierte Haltungen in Unterricht und Schulentwicklung . . . . 225 Joachim Schmidt 4 Personzentrierte Beratung und Seelsorge in Caritas und Diakonie . . . 236 Peter Abel

Teil III

  Personzentrierte Seelsorge und Beratung in verschiedenen Lebenslagen und Feldern der Gesellschaft

1 Interkulturalität und (Nicht-)Verstehen – Gastfreundschaft als Ermöglichung von Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Klaus Kießling 2 Genderaspekte in Seelsorge und Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Claudia Schubert und Dietmar Vogt 3 »Der Glaube, in der Hölle zu sein« – Seelsorge bei Seelenfinsternis . 282 Klaus Kießling 4 Umgang mit Problemen von Menschen aus religiösen Gruppierungen und anderen Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Gabriele Lademann-Priemer

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Inhalt

5 Ohne Person keine Organisation – Seelsorge im Alltag der Gemeinde 305 Ulrich Schweingel 6 Seelsorge und Beratung in Feldern der Sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . . 317 Mathias Jäggi 7 Seelsorge in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Franziska Oberheide 8 Personzentrierte Seelsorge im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Dietmar Vogt 9 »Wachet mit mir« – Mitgefühl in solidarischer Gemeinschaft (Seelsorge und Hospiz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Verena Begemann 10 Seelsorge in der Psychiatrie – eine Begegnung auf Augenhöhe . . . . . . . 343 Ilka Greunig 11 Notfallseelsorge – für Menschen in Not da sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Karsten Willemer 12 Ehe- und Partnerschafts-, Familien- und Lebensberatung – ein psychologischer Fachdienst der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Ursula Zeh 13 Personzentrierte Seelsorge in und durch Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Martin Moser

Teil IV

  Personzentrierte Beratungsformate in der Praxis

1 Personzentriertes Coaching in der Personalberatung der Kirche . . . . . 371 Tilman Kingreen 2 Personzentrierte Supervision – Kongruenz in der Arbeitswelt . . . . . . . 378 Michael Schlechtriemen 3 Personzentrierte Organisationsentwicklung – ein Werkstattbericht aus einem Organisationsentwicklungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Christin Hemeier 4 »Unmittelbar den Schöpfer mit dem Geschöpf wirken lassen« – Personzentrierte Geistliche Begleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Klaus Kießling

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Teil V

Inhalt

  Modelle Personzentrierter Seelsorgeund Beratungs- Aus- und Weiterbildung

1 Curriculum Personzentrierter Seelsorge- und Beratungsweiterbildung .405 Dietmar Vogt und Claudia Schubert 2 Personzentrierte Seelsorge als Ansatz in der Ausbildung zum Priester 414 Joachim Schlör und Oliver Westerhold 3 Personzentrierte Seelsorge im Vikariat der evangelischen Kirche – auf dem Weg zur kirchlichen Muttersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Sonja Domröse 4 Auf dem Weg zum Coach – Eckpunkte zu den Ausbildungsstandards in Personzentriertem Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Christiane Burbach und Tilman Kingreen 5 Curriculum Personzentrierter Supervisionsausbildung . . . . . . . . . . . . . 436 Petra Wörsdörfer 6 Solidarische Präsenz – Personzentrierte Haltung und spiritueller Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Klaus Kießling 7 Grenzgang und Grenzüberschreitung – Missbrauch in der Beratung . 453 Christiane Burbach und Joachim Schlör

Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

Vorwort

Drei Anliegen verfolgt dieses Handbuch: die Aktualität, die Anschlussfähigkeit und die Gesprächsfähigkeit des Personzentrierten Ansatzes (PzA) darzustellen. Um verschiedene Interessenslagen aufzunehmen, die im Beratungssektor tätig sind, wird Wert auf eine plastische, oft auch bildhafte Sprache gelegt. Der Titel des Buches setzt den Akzent auf die Behandlung des PzA im Kontext von Seelsorge und Beratung. Dass besonders die Seelsorge bedacht wird, geschieht in der Absicht, die in Weiterbildungen und kircheninternen Diskussionen immer wieder gestellte Fragen im Zusammenhang ausführlich zu beantworten. Der Begriff Beratung umfasst nach unserem Verständnis Seelsorge, Eheund Lebensberatung, Beratung im Kontext der Sozialen Arbeit, Supervision, Coaching ebenso wie Organisationsberatung. Alle diese Formate benötigen – außer der beraterischen – weitere Kompetenzen, um den jeweiligen Beratungskontexten, Zielgruppen und Themenstellungen gerecht werden zu können. Es sind katholische und evangelische Autorinnen, Angehörige verschiedener Hochschultypen, Personen aus der Schulleitung und Schulseelsorge, der Sozialen Arbeit, dem kirchlichen Beratungswesen, der klinischen Therapie, der Klinikseelsorge, dem Hospizwesen, der Caritas und Diakonie, der Gemeindeund Notfallseelsorge, der selbstständigen Supervision, der Organisationsentwicklung und Beratung mit Lehr-, Therapie-, Beratungs- oder Seelsorgebefugnis, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen in der und durch die Arbeit mit dem Personzentrierten Ansatz in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zusammengetragen haben. Das erste Kapitel widmet sich den Grundlagen des PzA. Ch. Burbach stellt die anthropologischen Grundannahmen des PzA, seine Begegnungskultur, seine Wachstumsdynamik und Ressourcenorientierung dar. Hier wird der Konnex von der intrapsychischen und der interpersonalen Dynamik des Personzentrierten Vorgehens auf entwicklungspsychologischer und bildungstheoretischer Basis transparent gemacht. Danach folgen vertiefende Aspekte. So beschreibt

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Christiane Burbach

T. Kingreen die wesentlichen Facetten des Personzentrierten Menschenbildes in seinen Abgründen und dennoch vertrauenswürdigen Aspekten. Ein wichtiges Anliegen ist es dabei, den Zusammenhang der Positivität des Personzentrierten Menschenbildes und den negativen Tendenzen herzustellen. J. Schlör zeichnet die Entstehung wesentlicher Topoi des PzA und ihre Verankerung in C.R. Rogers’ privater und beruflicher Biografie nach. Dabei wird in Fallbeispielen der sowohl unermüdlich wie engagiert wahrnehmende und reflektierende Empiriker des Begründers des Ansatzes erkennbar. M. Lux bringt die wichtigsten anthropologischen Grundannahmen des PzA mit aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen ins Gespräch. Dadurch entsteht neben der empirischen-erfahrungsbezogenen auch eine naturwissenschaftliche Fundierung des Ansatzes. Aufgrund verschiedentlicher Debatten über die Kompatibilität des Personzentrierten Menschenbildes mit der Theologie thematisieren die nächsten beiden Aufsätze genau diese Frage. Der systematische Theologe D. Noordveld führt den Dialog zwischen dem Personzentrierten Menschenbild u. a. mit der relational verstandenen Gottebenbildlichkeit des Menschen und der Prozesshaftigkeit seiner Selbstwerdung. Im Spiegel theologischer Thematisierungen z. B. von Karl Barth, Paul Tillich und Wolfhart Pannenberg gewinnt sowohl die theologische als auch die psychologische Anthropologie neue Schattierungen. Dasselbe gilt für die Darstellung des katholischen Pastoralpsychologen M. Kempen, der die Personzentrierte Anthropologie besonders zu Karl Rahners Theologie in Beziehung setzt. Das psychologische Anliegen der Selbstwerdung und das theologische Anliegen, ein Geheimnisträger zu sein und zu bleiben, können in ein gegenseitiges Befruchtungsverhältnis treten. Schließlich wird die anthropologische Anschlussfähig- und Gesprächsfähigkeit mit Philosophie und Päda­ gogik von S.-M. Kingreen anhand der Positionen von Jean-Jacques Rousseau, John Dewey und Martin Buber ausgelotet. In der gegenseitigen Widerspiegelung gewinnen sowohl der PzA als auch die historischen Ansätze an Tiefenschärfe. Den Abschluss dieses ersten Kapitels bilden vier Texte, in denen das Gespräch zwischen Grundbegriffen des PzA und anderen therapeutischen Schulen geführt wird. A. Steinmeier stellt Resonanzen zwischen der Vorstellung des Selbst im PzA und in der Psychoanalyse her, indem sie wesentliche Facetten der Entwicklung des Selbst bei Daniel Stern, das »Zwischenreich des Träumens« Thomas H. Ogdens und den kreativen Bilddialog Gaetano Benedettis, der etwas Drittes, einen Dritten entstehen lässt, nachzeichnet. M. Moser sucht das Gespräch zur Jung’schen Tiefenpsychologie, indem er die Arbeit mit inneren Bildern, Träumen, Imaginationen und biblischen Geschichten zu den Wahrnehmungseinstellungen und Interaktionsformen Personzentrierter Beratung und Seelsorge in Beziehung setzt. E. Kern zeigt in differenzierter Weise

Vorwort

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Divergenzen und Konvergenzen zwischen der Verhaltenstherapie (VT) und dem PzA auf, indem er die grundsätzlichen Unterschiede der Menschenbilder und der Beziehungskonstellationen herausstellt, aber auch die Annäherungen einiger Strömungen in der VT an Personzentrierte Haltung und Personzentriertes Handeln nachzeichnet. Annährungen ergeben sich z. B. im Bereich der Körpertherapie und der grundsätzlichen Integrationsfreude fremder Methoden durch die VT. J. Kingreen und S.-M. Kingreen führen das Gespräch zwischen Systemik und PzA. Als korrelierend werden besonders die für Berater vorgesehenen Haltungsmerkmale herausgestellt, als divergent wird die Rolle der Berater und ihre Wirkungsintention und Wirkweise betrachtet, ebenso wie z. B. die Dynamik des Veränderungsprozesses. Das zweite Kapitel zeigt Rahmen und Arbeitsmöglichkeiten des PzA in verschiedenen Institutionen auf. M. Ball und Ch. Burbach konturieren die Bedeutung und den Stellenwert von Seelsorge in der protestantischen und in der katholischen Kirche. J. Schmidt gewährt einen Einblick in den Schulentwicklungsprozess des Stiftungsschulamts Rottenburg, dem Modellcharakter für andere Schulentwicklungsprozesse zugeschrieben werden kann. P. Abel beschreibt angesichts der grundsätzlichen Veränderungen der Struktur-, Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen in Caritas und Diakonie die Personzentrierte Haltung als Schlüssel- und Basiskompetenz, die durch feldspezifische Kompetenzen ergänzt wird. Seelsorge oszilliert hier zwischen handfester, materieller Nothilfe und Begleitung bei Veränderungsprozessen. Das umfassende dritte Kapitel gliedert sich in zwei Blöcke. Der erster dieser Blöcke ist grundsätzlichen und lebenslagenübergreifenden Aspekten von Seelsorge und Beratungsarbeit gewidmet. K. Kießling eröffnet den Reigen mit seinen Ausführungen zu Interkulturalität und Fremdsein, zu einer Theologie der Gastfreundschaft und Personzentrierter Seelsorge als Kultur wechselsei­ tiger Gastfreundschaft. Genderaspekte in Seelsorge und Beratung thematisieren C. Schubert und D. Vogt. Begriffsdefinitionen, wesentliche Stationen der Geschlechterpolitik und Genderanalysen werden in ihrer Bedeutung für Seelsorge und Beratung entwickelt. Anhand einiger Fallbeispiele wird die hohe Bedeutung für eine gelingende gendersensible Beratungsarbeit dargestellt. Erkennbar wird auch die Wichtigkeit der Genderkompetenz der Beratenden, die über Kon­ struktivität oder Destruktivität eines Gespräches entscheiden kann. Den Umgang mit der Seelenfinsternis als einer Erkrankung und einen Seelenzustand, der in sehr vielen Lebensbereichen angetroffen werden kann, beschreibt wiederum K. Kießling. Er hebt hervor, dass sowohl Therapie als auch Seelsorge ihre Bedeutung für Heil und Heilung haben; Seelsorge hat jedoch ihren Eigenwert darin, dass sie in den der Seelsorger möglichen Grenzen mit in die erfahrene Hölle hin-

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Christiane Burbach

absteigt und stellvertretend auf Veränderung hofft. G. Lademann-­Priemer zeigt Perspektiven der Begleitung von Angehörigen und betroffenen Menschen auf, die sich aus der Abhängigkeit weltanschaulicher Gruppierungen befreien möchten. Ebenso behandelt sie wichtige Aspekte der Beratung von Migrantinnen und Migranten. Das große Feld der Gemeindeseelsorge mit ihren Verschränkungen zu Gottesdienst, Gruppen- und Gemeindeleitung thematisiert Ulrich Schweingel. Der zweite Block behandelt besondere Felder: am Beispiel der Flüchtlings­ sozialarbeit die Anliegen sozialer Beratung (M. Jäggi), Anliegen der Schulseelsorge (F. Oberheide), der Krankenhausseelsorge (D. Vogt), der Psychiatrieseelsorge (I. Greunig), der Hospizarbeit (V. Begemann), der Notfallseelsorge (K. Willemer), (der Beratung von Paaren und Familien, (U. Zeh) und der Gruppen­seelsorge (M. Moser). Kapitel IV ist der Differenzierung der Anliegen und Zielsetzungen von Beratungsformaten gewidmet. Hier werden Personzentriertes Coaching (T. Kingreen), Supervision (M. Schlechtriemen), Organisationsentwicklung (Ch. Hemeier) und Geistliche Begleitung (K. Kießling) dargestellt. Beratung und Seelsorge wollen gelernt sein. Das V. Kapitel widmet sich diesem Anliegen. Das Curriculum Personzentrierter Beratungs- und Seelsorgeweiterbildung wird entfaltet (D. Vogt/C. Schubert), die Seelsorgeausbildung im Priesterseminar (J. Schlör) und Predigerseminar (S. Domröse), die Coachingweiterbildung (Ch. Burbach/T. Kingreen), die Supervisionsausbildung (P. Wörsdörfer) und das Erlernen der Haltung solidarischer Präsenz in der Geistlichen Begleitung (K. Kießling) werden in Personzentrierter Perspektive entfaltet. Den Abschluss dieses Bandes bildet die Darstellung dessen, was Grenzverletzungen im professionellen Bereich in Personzentrierter Seelsorge und Beratung sind. Ch. Burbach und J. Schlör ist es wichtig, die Demarkationslinie zwischen Grenzgang und Grenzüberschreitung zu formulieren. Beim Zitieren und Verweisen auf das Werk C.R. Rogers’ macht sich bemerkbar, dass eine historisch-kritische Rogers-Gesamtausgabe noch aussteht. P.F. Schmid hat mit seiner Online-Bibliographie dafür zwar wichtige Vorarbeit geleistet. Sie fehlt aber dennoch. So war es uns nicht möglich die Auf­ lagen bestimmter Rogers-Literatur noch weiter als hier erkennbar zu reduzieren. Das hat zur Folge, dass ein und dasselbe Werk u. U. in vier verschiedenen Auflagen erscheint. Wichtig ist jedoch in unserem Zusammenhang, kenntlich zu machen, seit wann Rogers’ Erkenntnisse hierzulande als bekannt voraus­ gesetzt werden können. Deshalb wird bei Texten in deutscher Übersetzung das Ersterscheinungsjahr jeweils als erste Ziffer genannt; die zweite bezeichnet das Erscheinungsjahr der Auflage. Die Angabe des jeweiligen Erscheinungsjahrs in englischer Sprache findet sich zudem im Literaturverzeichnis.

Vorwort

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Herzlicher Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, die ihr Wissen und ihre Erfahrung großzügig zur Verfügung gestellt haben. Großer Dank gilt Ulrich und Anna Schweingel für das Korrekturlesen und ganz besonderer Dank Sarah-Magdalena Kingreen für das interne Lektorat, die Hilfe bei der Erstellung des Gesamtliteraturverzeichnisses und die Erstellung des Stichwort­verzeichnisses. Ebenfalls ist Frau Jana Harle für das Lektorat im Verlag sehr herzlich zu danken. Christiane Burbach

Teil I

 rundlagen Personzentrierter G Seelsorge und Beratung

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 Lebens-Prozesse – Grundannahmen Personzentrierter Seelsorge und Beratung

Christiane Burbach

1  Zur Einstimmung

I

Abb. 1: Blühende Wüste (© Patrick Lienin/photocase.de)

Negev: trockene, tagsüber heiße Wüste, nachts unwirtlich kalt. Jahrelang. Es sieht aus, als währte dieser Zustand trockener, toter Erde schon immer. Dann eines Abends: Starkregen, ein satter Guss. Am nächsten Morgen fängt die Wüste an zu blühen. Nach einigen Tagen ist sie grün und bunt. Ein Bild von im wahrsten Sinne unwahrscheinlicher und überwältigender Schönheit. Lüneburger Heide: ein Wacholder wohl vom Windbruch vor einigen Jahren geknickt. Aus dem Stamm wächst ein neuer Trieb und streckt sich dem Sonnenlicht entgegen.

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Christiane Burbach

Küchenfenster in Wien-Margareten, Wiedner Hauptstraße: Der Sozialphilosoph Leopold Rosenmayr hat eine kleine Ahornpflanze ausgegraben, in einen Blumentopf gesetzt und hütet sie als Erinnerung an seine bäuerlichen Vorfahren und ihre Weisheit, mit dem Leben und den Ressourcen umzugehen. »Sie haben mich schon in meiner Kindheit gelehrt: Bei guter Behandlung kann aus einem Bäumchen ein prächtiger Baum werden.« (Rosenmayr, 2016, S. 141 siehe auch ff.) Sein Großonkel war es, von dem er »Wachstumsweisheit« übermittelt bekam. Er zeigte ihm in einem Waldstück einige Zentimeter unter der Humusschicht aus Blättern und Nadeln die kleinen Keimlinge von Buchen, Ahorn, Fichten und Föhren und machte ihn darauf aufmerksam, dass dies der »kommende Wald« sei, die von der Natur großzügig vorbereitete eigene Zukunft.

I

Wie die Texte eines Wachstumsweisen lesen sich auch die Ausführungen Carl R. Rogers’ zum Verständnis des Menschen, seiner Entwicklungspotenziale und der Begegnungskultur, in der dieses Wachstum sich ereignen kann.

2  Perspektiven von Seelsorge und Beratung Wer sucht Seelsorge, wer fragt nach Beratung? In manchen Konzepten geht man davon aus, dass es sich dabei um Personen handelt, die in existenziell bedroh­ liche Krisen oder in Konflikte geraten sind. Dem Verständnis dieses Buches liegt die Einsicht zugrunde, dass der Krisenansatz in unnötigem Maße den Anlass von Seelsorge und Beratung dramatisiert und Ressourcen nicht mehr gut erkennen lässt (Burbach, 2006b). Hier wird davon ausgegangen, dass Menschen, die Beratung oder Seelsorge suchen, eine Inkongruenzerfahrung machen, die sie aufhorchen und fragen lässt, welche Bewandtnis es damit hat. Dieses Verständnis inkludiert Krisen und Konflikte. Es geht aber zunächst davon aus, dass ein Mensch beginnt, nachzudenken, Fragen an sich und andere zu richten und dazu das Gespräch mit einem kundigen Begleitenden, einem Seel­sorgenden oder einem Beratenden sucht. Seelsorge und Beratung haben ihren Initiationspunkt an der Stelle an der ein Mensch aus der Sphäre des Selbstverständlichen und Fraglosen heraustritt und eine Partnerin oder einen Begleiter für das nun anliegende Klärungsprojekt sucht. Es ist die uralte menschliche Erfahrung des Stutzigwerdens, die den Imperativ der Welt an das Individuum zu richten scheint: γνῶθι σαυτόν, erkenne dich selbst, erkenne die Welt, die anderen und das andere. Es ist der Impuls des Anrufs, der Frage und des Antwortsuchens. Seelsorgerinnen haben es mit Fragenden oder Gesprächspartnerinnen zu tun, Berater hingegen je nach institutionellem Kontext mit Teilnehmenden oder Klientinnen. Therapeuten jedoch sprechen mit Klienten oder Patientinnen.

Lebens-Prozesse

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Der organisatorische Rahmen und das Setting der Therapie sind durch Anamnese, Diagnose, Indikationsstellung, Therapiezielformulierung, Anzahl der durch die Kasse genehmigter Stunden, Katamnese und Therapieabschluss deutlich fester umrissen, als dies in der Seelsorge der Fall ist. Auch die Beratung hat einen dezidierten Anfang, definierte Beratungsziele und einen klaren Abschluss. Seelsorge jedoch kann an verschiedenen Orten stattfinden, nicht nur im Amtszimmer. Seelsorge ist ein lebensbegleitendes Angebot der Kirchen und kann anlässlich von Kasualien, von Lebensfragen oder von Krisen in Anspruch genommen werden. Seelsorge ist ein kostenloses Angebot im Unterschied zur Therapie. Eine Seelsorgerin hat es möglicherweise mit mehr unbekannten Parametern zu tun als ein Therapeut. Kurzgespräche, Gesprächsabbrüche oder nicht vollendbare Gespräche aufgrund von äußeren Störungen gehören zum seelsorglichen Alltag, während dies für Therapie und Beratung eher ungewöhnlich ist. Insofern fühlt sich die Rolle der Seelsorgerin, die für den organisatorischen Rahmen in erheblichem Maß persönlich zu sorgen hat, etwas anders an, als die einer Beraterin im Kontext einer Beratungsstelle oder einer Therapeutin. Seelsorge ist menschliche Begegnung im Horizont der Zuwendung Gottes. Beratung ist menschliche Begegnung mit dem Ziel, dass es der zu beratenden Person besser geht. Personzentrierte Seelsorge und Beratung partizipiert an den Grundannahmen, Haltungsmerkmalen und Handlungsperspektiven des von Rogers begründeten und von vielen, u. a. auch in Deutschland praktizierenden und theoriebildenden Therapeutinnen, Beratern, Seelsorgerinnen und Supervisoren weiterentwickelten Personzentrierten Ansatzes (PzA). Im Bereich der Beratung erfreuen sich die Grundannahmen weitgehender Zustimmung, auch durch andere Beratungsansätze. Im Bereich der Seelsorge gab es in der Vergangenheit Anfragen und Kritik, die es notwendig machen, einen genauen Blick auf die Formulierung dieser Basisannahmen und deren Geltungsbereich zu werfen. Von besonderer Bedeutung sind hier die anthropo­ logischen Charakteristika. Wer ist der Mensch? Was ist der Mensch? Das sind Fragen, die die Theo­ logie in großer Grundsätzlichkeit, Spannbreite und Polarität beantwortet, ohne dabei zu einem eindeutigen Bild zu kommen. Diese Menschenbilder wollen dem Anspruch genügen, möglichst in generalisierbarer Weise der Vieldimensionalität gleichermaßen wie der Vielfalt menschlicher Erfahrung gerecht zu werden, wie auch dem Anspruch, zugleich beschreibend und normativ zu sein. Die Grundannahmen Personzentrierter Seelsorge sind demgegenüber deutlich fokussiert auf die Situation beratender oder seelsorglicher Begegnung. Rogers hat sie zunächst formuliert für den Bereich der Therapie.

I

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Christiane Burbach

Die im Anschluss ausführlicher dargestellte Anthropologie ist besonders charakterisiert durch die dem Menschen innewohnende positive Gerichtetheit der Wachstumstendenz, die im Wesentlichen zur Besserung der Situation beiträgt, wenn sie ein hinreichend förderliches Klima menschlicher Begegnung vorfindet. Diese Begegnungskultur hängt eng mit der durch die Seelsorgerin einzunehmenden Haltung zusammen. Menschen, die Therapie und Beratung in Anspruch nehmen und sich von der Seelsorge ansprechen lassen, haben bereits einen wesentlichen Schritt getan, um die Chance zum besseren Leben zu ergreifen.

3  Organismus und Aktualisierungstendenz

I

Die Wachstumsweisheit Rogers’ hat ihren Kern im Verständnis des menschlichen Organismus, seiner Aktualisierungstendenz und den Bedingungen der Entwicklung menschlicher Persönlichkeit (Rogers, 1959/1989, S. 21 f.). Der Ursprung dieser Form der Beratung und Therapie verdankt sich der Faszination der Lebenskraft, die in allem Lebenden, auch in den Menschen wirksam ist. Diese Faszination teilen alle, die diesen Ansatz vertreten und praktizieren (Lemke, 1978, S. 23 ff.; Schmid, 1995, S. 100 ff.).

4  Organismus Der Mensch ist ein Organismus, in dem – solange er lebt –, eine Wachstumskraft wirksam ist, die für Erhaltung, Entfaltung, Wachstum und Veränderung sorgt. Vom Beginn der befruchteten Eizelle an bis zum letzten Atemzug und in unzähligen weiteren Situationen dazwischen lässt sich diese Kraft wahrnehmen. Mit Organismus ist die Gesamtheit des lebenden Wesens mit all seinen Organen und physischen wie psychischen Subsystemen, die hochkomplex miteinander interagieren, gemeint. Dazu gehört das Nervensystem, das Herzkreislaufsystem, das Atmungssystem, das Stütz-, Bewegungs- und das Muskel­system, Verdauungs- und Urogenitalsystem, das Hormon- und das Immunsystem. Dieser in sich hochvernetzte Organismus mit seinen physischen, psychischen und sozialen Funktionen steht der Welt gegenüber und interagiert als integrale Einheit mit den Erfahrungen und den Begegnungen in und mit ihr (Fuchs, 2017, S. 525 ff.; Höger, 2012a, S. 37 f.). Unter Organismus wird auch die Natur der Persön­lichkeit verstanden, mit ihren Potenzialen und reichhaltigen Anlagen, die ihr innewohnen und im Prozess des Lebens entwickelt und verändert werden können (Höger, 2012a, 37; Schmid, 1995, 100).

Lebens-Prozesse

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Dieser Organismus ist in der Lage, Erfahrungen zu machen, sie zu bewerten, ob sie für den Organismus förderlich sind, seiner Erhaltung dienen und so zu verarbeiten, dass Erhaltung oder sogar Entfaltung möglich werden. Organis­ mische Erfahrungen sind bewusstseinsfähige Phänomene. Ob sie zu einer Selbsterfahrung werden, hängt von der inneren Kommunikation eines Menschen ab (Stumm u. Keil, 2014a, S. 6 f.). Organismisches Erleben ist prinzipiell ganzheitlich. Das heißt, äußere und innere Vorgänge können von den unterschiedlichen organismischen Sub­systemen wahrgenommen werden. Je nach individuellem Selbstkonzept gibt es hierbei Prioritäten oder auch so etwas wie blinde Flecken. Ganzheitlichkeit bedeutet eine potenzielle Multiperspektivität, deren Prioritäten zuvor nicht prognostizierbar sind. Ganzheitlichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass mehr und anderes wahrgenommen wird, als das Gegenüber gewohnt ist zu beachten. Hier liegen evtl. bisher nicht erfahrene und genutzte Potenziale und Ressourcen, die entdeckt werden können. Ganzheitlichkeit ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht in Verbindung zu bringen mit Vollkommenheit oder Vollständigkeit. Beraterinnen und Seelsorger wenden sich ebenso wie Therapeutinnen dem zugänglichen Erleben ihrer Klienten zu. Dem Erleben der Klientinnen wird im Prozess der Seelsorge und Beratung »oberste Autorität« (Rogers, 1961) zuerkannt. Bewusstwerdung der äußeren und inneren Wahrnehmungen, das Innewerden der organismischen Reaktion und Bewertung dieser Erfahrungen gehören zum wesentlichen Kern des Ansatzes. Diese Zentrierung auf das Erleben des Gegenübers gibt dem Ansatz den Namen »Personzentriert«.

5  Aktualisierungstendenz Die Aktualisierungstendenz ist jene Wachstumskraft, die den Erhalt und die Entfaltung der Kapazitäten einer Persönlichkeit bewirkt (Rogers, 1959/1989, S. 21 f.). »Der Begriff beinhaltet die Tendenz des Organismus zur Differenzierung seiner selbst und seiner Funktionen, er beinhaltet Erweiterung im Sinne von Wachstum, Steigerung der Effektivität durch den Gebrauch von Werkzeugen und die Ausweitung und Verbesserung durch Reproduktion.« (S. 22)

Diese Tendenz meint die im Organismus innewohnende Potenzialität, die zu unterschiedlichen Zeiten und aufgrund verschiedener Lebensbedingungen in unterschiedlich intensivem Maße zum Zuge kommt. Die eingangs genannten Beispiele mögen das illustrieren: Die Negev-Wüste war vor jenem Regenguss

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zehn Jahre trocken. Die Wurzeln und Samen lagen mitsamt ihrer Wachstumspotenzialität im sandigen und steinigen Boden. Die Wachstumstendenz war während dieser Zeit verebbt und nicht wahrnehmbar. Der prächtige, aber gebrochene Wacholder treibt einen sehr viel kleineren und dünneren Trieb heraus. Dennoch ist er am Leben und bringt eine neue Gestalt aus sich hervor. Übung: Fluss meines Lebens

I

Die Metapher des Flusses mag die Aktualisierungstendenz in Interaktion mit der Umwelt verdeutlichen. Wenn Menschen die wichtigen biografischen Stationen ihres Lebens in Metapher und Bild des Flusses visualisieren und darstellen, zeigen sich Phasen, in denen das Leben in breitem und tiefem Flussbett in großer Wasserfülle verläuft, und es zeigen sich evtl. auch Lebensabschnitte, in denen es eng wird, der Fluss zu einem nur noch kleinen Rinnsal wird, das sich mühsam durch großes Gestein windet. Es zeigen sich Stromschnellen, Wasserfälle, Strudel, Zu- und Abflüsse.

Das dynamische Prinzip dieser Aktualisierungstendenz fundiert alle Veränderungs- und Anpassungsprozesse des Organismus. Es gehören dazu alle entwicklungsbedingten Aufgaben eines Individuums wie auch die Bewältigung von Veränderungen des Kontextes und der Umwelt (Höger, 2012a, S. 48 f.). Im Bedürfnis eines Kindes, sich aufzurichten und gehen zu lernen, auch nach Rückschlägen, zeigt sich die Aktualisierungstendenz z. B. ebenso wie im Fest nach bestandener Prüfung oder wie im Essen einer nahrhaften Mahlzeit nach überstandener Krankheit. Die Aktualisierungstendenz arbeitet selbstorganisiert. Das bedeutet, sie aktiviert in jeder Begegnung mit der Welt ihre Subsysteme in der ihr eigenen Ordnung. Das bedeutet aber auch, dass der Organismus mit seiner Aktualisierungstendenz nur teilweise durch seine Umwelteinflüsse moduliert wird. Zum anderen Teil steuert er sich durch seine internen Produktionsregeln. Insofern bestimmt der Organismus mit, welchen Einfluss die Umwelt auf ihn hat (Höger, 2012b, S. 44 ff.). Durch das Selbst und sein Konzept (s. u.) können diese Wirkungsweisen bewusst werden, sind der Reflexion zugänglich und können so zum Stoff von Gesprächen werden.

6  Vertrauenswürdigkeit der Aktualisierungstendenz Zu Rogers’ grundsätzlichen Annahmen zählt auch, dass »der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur […] von Grund auf sozial, vorwärtsge-

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richtet, rational und realistisch« (Rogers, 1973/2016, S. 99 f.; Rogers, 1961, S. 90 f.) ist. Sobald der Mensch das gesamte Spektrum seiner Person wahrnehmen kann und aus der Balance seiner sämtlichen Regungen heraus handelt, geht dieses letztlich in eine konstruktive Richtung (Rogers, 1973/2016, S. 112; Höger, 2012a, S. 25 f.; Schmid, 1998, S. 102). Das bedeutet, dass nicht nur die äußeren Schichten des Organismus, sondern auch sein Kern reflektorisch erreicht wird und bei der Bewertung des Erlebens und der Vorhaben mitwirkt. Diese positive Bewertung des Organismus und seiner Aktualisierungstendenz verdankt sich Rogers’ Erfahrung mit seinen Klientinnen und Klienten. Die Konstruktivität und Sozialität von Organismus und Aktualisierungstendenz sind von empirischer Bedeutung. Er hat diese Einsicht durch seine Arbeit in der Klinik erworben. Seine Fallgeschichten und auch die vieler Therapeuten, Beraterinnen, Seelsorger und Supervisorinnen sowie Coaches vermögen dies zu bestätigen, dass bei Realisation der zuvor beschriebenen Begegnungsqualität in den Gesprächen, konstruktive Lösungen der vorliegenden Probleme gefunden und bevorzugt werden. Schließlich verstand Rogers die Positivbewertung von Organismus und Aktualisierungstendenz auch als Prämisse (Rogers, 1978a, S. 26 f.) oder als Axiom seiner Anthropologie und seines Therapieansatzes, an dem er trotz intensiver Kenntnis der dunklen, destruktiven und schmutzigen Seite des Lebens festgehalten hat (Höger, 2012a, S. 25). Die Erfahrung des Bösen und der Boshaftigkeit wird in diesem Ansatz nicht geleugnet, aber es wird ihr der Status sekundärer Relativität zugeschrieben. Die empirische Erfahrung der originären Konstruktivität des Organismus wurde zum Axiom des PzA; zum Grundsatz, der nicht mehr hinterfragt wird. Rogers unterscheidet zwischen dem Kern (»core«; Rogers, 1961, S. 99) des Menschen, der dem Bewusstsein nur teilweise zugänglich ist und den sie umgebenden Schichten, die in der Form des Selbst größere Anteile an Bewusstheit implizieren. Metaphorisch lässt sich an eine Frucht denken, die einen festen Kern oder ein Gehäuse hat, um die sich zunächst das Fruchtfleisch, dann die Außenschale schließt. Die Metapher hat jedoch auch ihre Grenze, denn die Aktualisierungstendenz ist etwas Dyna­misches und keine feste Substanz. Dass destruktivem menschlichem Handeln Erfahrungen von Missachtung statt Anerkennung vorausgehen sowie die Hilflosigkeit in einer solchen Situation, zeigt z. B. die empirische Untersuchung P. Sitzers über gewalttätige Jugendliche. Hier wird die Spirale von Nichtachtung, Ohnmacht und Gewalttätigkeit erkennbar. Diese kann umgekehrt als Hinweis auf die Bedeutung von Wertschätzung und Anerkennung verstanden werden, wie auch als Verweis auf die sekundäre Relativität des Bösen.

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In mancher Hinsicht erscheint das Problem des »Optimismus« jedoch auch seinen Ursprung in einer idealisierenden, zu wenig differenzierenden Begeisterung für Rogers’ Entdeckung zu haben. Besonders die Übersetzung von Rogers’ Buchtitel »On Personal Power – Inner strength and its revolutionary impact« in »Die Kraft des Guten. Ein Appell zur Selbstverwirklichung« (Rogers, 1978b) ist unzutreffend und hat den verkürzten anthropologischen Vorstellungen Vorschub geleistet. Rogers’ Buch will die politische Bedeutung des PzA mit ihrer Konzentration auf die Potenziale der Gesprächspartnerinnen und seinen Konsequenzen für die Bereiche Beratung, Familie, Ehe und Partnerschaft, Schule und auch Politik und Administration darstellen. Es ist ein Buch über die Bedeutung von Empowerment als stiller Revolution gegenüber einer Strategie des autoritären Agierens und Kontrollierens (Rogers, 1978b, S. 13 ff.). In diesem Zusammenhang spricht der für den Friedensnobelpreis nominierte Psychotherapeut Rogers von der Vertrauenswürdigkeit des Organismus (S. 27), nicht vom Gutsein des Menschen (Höger, 2012a, S. 26; Schlör, 1994, S. 97). Für die Logik der Effektivität dieses Ansatzes ist diese Prämisse bedeutungsvoll, auch wenn auffällt, dass sie außer der emphatischen Betonung nicht tiefer begründet oder hergeleitet wird (Schlör, 1994, S. 98). Diese Prämisse wird von Rogers jedoch immer wieder plausibilisiert durch die Erfahrungen in psychotherapeutischen Prozessen. Das Therapiebeispiel der Mrs. Oak, das Rogers (Rogers, 1973/2016, S. 101 ff.) ausführlich darstellt, zeigt überzeugend diesen Erkenntnisprozess, dass unter einer Schicht von Verbitterung und Hass so etwas wie ein heiliges Gefühl des pulsierenden, lebendigen Selbstseins liegt, aus dem heraus Mrs. Oak ihr Leben in neuer Weise sehen und angehen kann (Rogers, 1973/2016, S. 101–109; Rogers, 1961, S. 77–86). Die Vertrauenswürdigkeit des Organismus bestätigt sich für Rogers durch therapeutische, empirische Fallstudien und ist zugleich Axiom seines Ansatzes. Angesichts vielfältiger Erfahrungen von Generationen von Therapeuten, Beraterinnen und Seelsorgerinnen mit diesem Ansatz legt es sich nahe, Zutrauen in die Konstruktivität des Organismus der Klienten zu setzen. Insofern ist es sinnvoll, an Beratungs- und Seelsorgegespräche mit dem inneren Bild heranzutreten, dass Konstruktivität und Sozialkompatibilität sich bei unserem Gegenüber durchsetzen können. Diese positive Tendenz scheint mir jedoch nicht nur die Vertrauenswürdigkeit des Organismus des anderen zu unterstreichen, sondern mindestens im selben Maße das Ergebnis der Begegnung zu sein, die sich in einer bestimmten Qualität vollzieht, die unten genauer ausgeführt wird. In der Seelsorge und Beratung kann man die Erfahrung machen, dass es meist ein Eigeninteresse des Gegenübers gibt, der konstruktiven Haltung, die Beraterin oder Seelsorger ihm entgegenbringt, selbst konstruktiv zu begegnen.

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Es gibt aber auch die Erfahrung, dass Kommunikation abgebrochen wird oder die Zeit und Geduld aufseiten der Gesprächspartner nicht reichen, um eingefahrene destruktive Lebensmuster zu bearbeiten und zu modifizieren. Die Langsamkeit solcher Wahrnehmungs- und Veränderungsprozesse kann sowohl die Gesprächspartner als auch Seelsorgeinnen auf eine harte Probe stellen.

7  Selbst »Das Selbst ist der bewusste Anteil der Persönlichkeit eines Menschen. Es ist eine organisierte, konsistente begriffliche Gestalt. Sie setzt sich zusammen aus den Wahrnehmungen der Charakteristika des ›Ich‹ (›I‹) oder ›Mich‹ (›me‹) und den Wahrnehmungen der Beziehungen des ›Ich‹ oder ›Mich‹ zu anderen sowie zu verschiedenen Aspekten des Lebens, zusammen mit den Bewertungen, die mit diesen Wahrnehmungen verbunden sind. Es ist eine Gestalt, die dem Bewusstsein zugänglich, aber nicht immer im Bewusstsein gegenwärtig ist.« (Rogers, zit. nach Höger, 2012a, S. 58)

Von Selbstkonzept spricht Rogers, wenn er die Sichtweise der Person selbst, ihre Erfahrung mit sich selbst thematisiert. Die Selbststruktur meint die Selbst­Betrachtung von einer äußeren Instanz, z. B. der Beraterin aus. In allen Begegnungen eines Menschen mit anderen spielt das Selbstkonzept eine große Rolle. Gemachte Erfahrungen verdichten sich zu einem Selbstbild und dieses hat wiederum Einfluss auf die Wahrnehmungen der eigenen Person auf andere und deren daraus folgender Reaktion. Und umgekehrt, ein Mensch fühlt sich in unterschiedlichen Kontexten mehr oder weniger wohl, je nach Übereinstimmung der von anderen erlebten Selbststruktur mit dem eigenen Selbstkonzept. Zum Selbst einer Person gehört die bewusste Wahrnehmung ihrer Eigenschaften, ihrer Beziehung zu anderen, ihrer Beziehung zu verschiedenen Aspekten des Lebens sowie die bewussten oder bewusstseinsfähigen Bewertungen, mit denen diese Wahrnehmungen verbunden sind (Rogers, 1959/1989, S. 26; Höger, 2012a, S. 59). Eigenschaften sind die Charakteristika einer Person: spontan, sprachbegabt, genussbetont etc. Für die Wahrnehmung der Beziehungen zu anderen kann relevant sein, dass ein Mensch sich z. B. in Gesellschaft hoch qualifizierter Personen inspiriert oder gehemmt fühlt, freudig oder misstrauisch auf neue Kolleginnen zugeht oder sich z. B. für das Verhalten von Kindern, Menschen aus fremden Kontexten interessiert. Umzüge für eine große Chance zum Neuanfang oder als Einbruch des Chaos zu betrachten, die Geburt der ersten Tochter zu begrüßen oder als Störung der Karriere zu verstehen. Das und vieles andere mehr gehört zur Wahrnehmung der Lebensaspekte.

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Schließlich kennt Rogers auch das Selbstideal. Das ist das Selbstbild, das eine Person am liebsten von sich besäße und worauf sie den größten Wert legt (Rogers, 1959/1989, S. 26). Eine hohe Identifikation mit dem Selbstideal oder Ideal-Selbst rückt die weniger positiv bewerteten Eigenschaften in den Hintergrund, um die positiv bewerteten dem Selbsterleben besonders ins Bewusstsein zu rücken. Das Selbstkonzept ist die bewusste Gestalt des Organismus, die beginnend schon beim Säugling im Gegenüber zu einer bedeutenden Person entsteht, zu der er eine Bindung entwickelt (Biermann-Ratjen, 2012a, S. 72 ff.). Die »bedeutende Person« spielt im PzA eine wichtige Rolle. So ist es im Säuglingsalter die Mutter, der Vater oder die nährende und pflegende Person, die diese Rolle einnimmt, indem sie in einen affektiven oder emotionalen Austausch mit dem Kind tritt. Im Laufe des Lebens kommen weitere Menschen dazu, die – in modi­ fizierter oder abgeschwächter Form – diese Rolle innehaben. Auch Therapeutinnen, Seelsorger und Beraterinnen gehören zu dieser Kategorie von Personen (Rogers, 1973/2016, S. 55 u. ö.) und nur, wenn Seelsorger oder Beraterinnen in die Position einer für den Gesprächspartner bedeutenden Person gelangen, entwickelt sich ein Prozess der Selbsterkenntnis und des Selbsterlebens, der es möglich macht, das Selbst weiterzuentwickeln, indem es neue Erfahrungen zulässt und inte­griert, d. h. symbolisiert. Dass eine Seelsorgerin sich hinsichtlich der Gewährung materieller Nahrung und Körperpflege von der Mutter unterscheidet, ist plausibel. Ähnlich jedoch muss das Vertrauen in die Seelsorgerin sein, damit sich das Gegenüber auf einen tieferen seelischen Kontakt mit ihr einlassen kann. Um ein Selbstkonzept entwickeln zu können, das sowohl auf die Person stabilisierend wirkt als auch in der Lage ist, neue Erfahrungen zu integrieren, bedarf es bereits im Säuglingsalter einer bedeutenden Person, die alle für den Säugling wichtige Gefühle, Regungen und Bewertungen akzeptieren und aufnehmen kann, um ihm zu signalisieren, dass er willkommen ist und seine Bedürfnisse liebevoll erfüllt werden (Stern, 1994). Ein Säugling lebt, so die Forschungsergebnisse D. Sterns, niemals in der Symbiose, sondern entwickelt von Anfang an ein Selbstempfinden, das kontinuierlich in das Selbstkonzept inte­ griert wird (Stern, 2016, S. 24ff u. ö.). Damit dies geschehen kann, bedarf es einer hinreichend sensiblen und kongruenten bedeutenden Person. Im PzA geht man davon aus, dass die Reorganisation des Selbstkonzeptes unter denselben Bedingungen ermöglicht wird, wie im Kindesalter das Selbstkonzept erworben wird. Ein empathisch verstehendes, bedingungsfrei positiv anerkennendes und selbst kongruentes Gegenüber ist dafür notwendig (Biermann-Ratjen, 2012b, S. 90). Eine rigide Selbststruktur entsteht, wenn einige Gefühle und Bedürfnisse des Kindes von Geburt an von den Eltern nicht gut angenommen werden kön-

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nen. Sylvia Keil macht darauf aufmerksam, dass dies Voraussetzungen sind, die bewirken, dass die Persönlichkeitsentwicklung und die damit verbundene Reorganisation der Selbststruktur nur in einem langsamen Prozess erreicht werden kann, der aufseiten der Therapeutin, des Beraters erhebliche Geduld erfordert (Keil, 2011, S. 136).

8  Selbstaktualisierungstendenz Die Selbstaktualisierungstendenz ist der Teil der Aktualisierungstendenz, der speziell dem Erhalt und der Entwicklung des Selbstbildes dient. Die Entwicklung des Selbstkonzeptes setzt voraus, dass die betreffende Person eine entsprechende Offenheit der Welt und anderen Menschen gegenüber aufbringt, um neue und mit dem Selbstkonzept bisher nicht vereinbare Erfahrungen an sich heranzulassen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen (Rogers, 1973/2016, S. 173 ff.). In diesem Falle nimmt die Person äußere und innere, neue oder neu ins Bewusstsein tretende Erfahrungen interessiert, neugierig oder auch mit einem freudigen »Aha-Gefühl« auf. Macht die Person eine Erfahrung, die mit ihrem Selbstkonzept grundsätzlich unvereinbar ist, aktiviert sie Distanz, Uminterpretation und Ablehnung oder sie reagiert mit Angst, Wut und anderen heftigen Gefühlen. Dann hat der Selbsterhalt die Priorität.

9  Kongruenz und Inkongruenz Die Erfahrung der Inkongruenz ist es, die Menschen veranlasst, Therapie, Beratung oder Seelsorge aufzusuchen. Inkongruenz meint die Diskrepanz von Erleben und möglicher Symbolisierung im Selbstkonzept. Inkongruenz kann die Facette haben, dass ein Mensch sich selbst nicht mehr versteht, in Selbstzweifel gerät, wer er ist angesichts einer Erfahrung mit sich selbst, wie z. B. einer nicht bestandenen Prüfung. Eine andere Facette stellt für einen Menschen der Zweifel an einer vertrauten Person dar, mit deren Egozentrik z. B. er nicht gerechnet hat, sondern Solidarität von ihr erwartete. Eine solche Erfahrung kann Trauer, Unmut, Unsicherheit, Angst, Scham, Enttäuschung und vieles andere mehr verursachen. Sie kann existenzielle Fragen hervorrufen, Konflikte oder Krisen. Kongruenz wird erlebt, wenn die Erfahrung des Organismus mit den dazugehörigen Bewertungen vollständig symbolisiert werden kann. Sie stellen keine Gefahr für den Organismus oder das Subsystem des Selbst dar. Die Person erlebt sich mit sich selbst und ihrem Umfeld im Einklang und in Sicherheit.

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Das Konzept der »Fully Functioning Person« (Biermann-Ratjen, 2012b, S. 93 ff.) stellt den in der Realität in seiner Gänze nie anzutreffenden Zustand der funktionalen Ungestörtheit dar, in dem es einem Menschen möglich ist, jede Erfahrung zu symbolisieren. Alle Erfahrungen können und konnten in das Selbstkonzept integriert werden. Eine solche Person erlebt kaum Inkongruenz. Erfahrungen, die ihr Selbstkonzept zunächst infrage stellen, kann sie verarbeiten. Eine »psychisch gesunde Person«, wie man dieses Konzept auch nennen kann, hat es gelernt, auch das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung aufrechtzuerhalten, wenn sie infrage stellende Erfahrungen macht. Ihr hilft dann das empathisch korrekte Verstehen der anderen, bedeutungsvollen Person.

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10  Beziehung in der (helfenden) Begegnung Der Gestaltung der Begegnungskultur kommt im PzA eine besondere Bedeutung zu. Ziel der Begegnung in der beratenden und therapeutischen Beziehung ist, dass die Gesprächspartnerin die Chance hat, ihre Inkongruenzen, ihre Fragen, die damit zusammenhängenden Gefühle und Sinngebungen besser wahrzunehmen, zu verstehen und zu akzeptieren. Erst das Akzeptieren ermöglicht es dem Gesprächspartner, sein Selbstkonzept so zu verändern, dass das Spannungsverhältnis von Selbstideal und erlebter Wirklichkeit sich verringert (Rogers, 1973/2016, S. 78 f.). Entscheidend ist die Selbst-Erkenntnis der Gesprächspartnerin. Diese wird erleichtert und ermöglicht, indem die Therapeutin, der Seelsorger, die Beraterin eine charakteristische Gesprächskultur realisiert. Rogers selbst grenzt die therapeutische Beziehungsgestaltung von einem bewertenden Verstehen ab (Rogers, 1977, S. 185). Abzugrenzen ist diese Kultur jedoch auch von Gesprächen unter Freundinnen, bei denen jede zum angesprochenen Thema von sich erzählt, oder auch von Alltagsgesprächen, bei denen die Ebenen und Themen auf wechselnde Initiative hin geändert werden. Das Beratungsgespräch unterscheidet sich auch von der Dynamik einer Diskussion, bei der es darum geht, durch Redebeiträge Hierarchien herzustellen, seine Kompetenz unter Beweis zu stellen durch recht haben und -behalten oder sich im Besitz der relevanten Informationen zu befinden, die es nun wirkungsvoll mitzuteilen gilt. Auch von Lehrgesprächen, die darauf abzielen, Wissen weiterzugeben, unterscheidet sich ein Beratungsgespräch. Entscheidend ist, dass der Gesprächspartner und seine Selbst-Erkenntnis im Mittelpunkt stehen. Diesem Anliegen ordnet sich das Verhalten und besonders die Haltung des Seelsorgers zu und unter. Die Gesprächskultur des PzA zeichnet sich durch drei Haltungs-­Merkmale oder Kern-Bedingungen (Stumm u. Keil, 2014b, S. 17 ff.) aus, die der Therapeut,

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die Beraterin oder der Seelsorger zu realisieren versuchen: Echtheit, Akzeptanz und Empathie. Diese Haltung bildet die »Hintergrundmelodie« (Stumm u. Keil, 2014b, S. 24) der Beratung oder Seelsorge. Bemerkenswert ist, dass diese Haltungs­merkmale nach früherer kritischer Betrachtung inzwischen für das seelsorgliche Verhalten an Bedeutung gewonnen haben. (Ziemer, 2018, S. 192 ff.)

11  Kongruenz, Echtheit, Authentizität Entscheidend für die hilfreiche Begegnung ist es, dass der Berater authentisch ist, den Mut hat, ganz er selbst zu sein, ohne eine schützende Fassade aufzurichten. Er soll sich seiner Gefühle bewusst sein und diese möglichst angstfrei akzeptieren können (Rogers, 1973/2016, S. 74 f.). Er sollte ehrlich mit sich sein und grundsätzlich in der Lage sein, über seine inneren Bewegungen sprechen zu können. Es ist für das Seelsorge- oder Beratungsgespräch nicht entscheidend, dass er tatsächlich seine Einschätzungen und Gefühle in das Gespräch einbringt. Das würde den Fokus des Interesses vom Gesprächspartner auf den Seelsorger verlagern. Aber die Beraterin sollte eine so hinreichend geklärte Persönlichkeit sein, die in der Gesprächssituation ihre Erfahrungen exakt symbolisiert und in ihr Selbstbild integriert (Höger, 2012b, S. 108). Sie sollte auch alle relevanten Erfahrungen, die der Gesprächspartner äußert, exakt symbolisieren können und nicht abwehren, verzerren oder abwerten müssen. Die Betonung der Echtheit als besonders wichtiges Merkmal der Grundhaltung ergibt sich aus der Erfahrung, dass Beraterinnen und Seelsorger das, was sie an sich nicht akzeptieren können, auch an anderen nicht wahrnehmen oder verstehen können. Frei von Inkongruenzen ist nach allgemeiner Erkenntnis keine Therapeutin. Solange ein Mensch lebt und Erfahrungen macht, gerät er in immer neue Phasen und Situationen von Unstimmigkeit. Beim Bemerken einer Inkongruenz sollte der Berater jedoch außerhalb des Beratungsgesprächs eine Selbstklärung herbeiführen; sei es durch Eigen-Reflexion, sei es durch Supervision, Beratung oder Therapie. Das Haltungsmerkmal der Authentizität sollte im Gespräch in selektiver Transparenz realisiert werden. Das bedeutet: Alles, was die Seelsorgerin sagt, sollte mit ihrem inneren Erleben übereinstimmen. Aber nicht alles, was ihr in den Sinn kommt, äußert sie auch. Der Prüfstein des Äußerns über Eindrücke und Einschätzungen vonseiten des Beraters ist die Einschätzung, ob dies dem aktuellen Selbsterleben, der Selbstklärung und der Reflexivität des Gesprächspartners dient. Auf alles, was die Aktualisierungstendenz des Gesprächspart-

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ners ablenkt, hindert oder gar verebben lässt, sollte die Seelsorgerin trotz des Empfindens von Echtheit verzichten. Die Haltung der Echtheit aufseiten des Seelsorgers trägt entscheidend zu einer Atmosphäre der Aufrichtigkeit und Offenheit, des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit bei. Auch tabuisierte Erfahrungen können so von Gesprächspartnerinnen zu betrachten gewagt werden, um mit ihnen einen Umgang zu finden.

12  Akzeptanz

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Eine warme, positive und akzeptierende Einstellung (Rogers, 1973/2016, S. 75) dem anderen gegenüber ist das zweite Haltungsmerkmal (»Experiencing a warm, positive and acceptant attitude«; Rogers, 1961, S. 62). Eine Seelsorgerin sollte ihrem Gesprächspartner gegenüber Respekt, Achtung und tiefe Bejahung entgegenbringen. Sie sollte seine Einzigartigkeit wertschätzen und sein Personsein, so wie es sich jeweils darstellt, bedingungslos anerkennen, auch in seiner mög­ lichen Anders- und Fremdartigkeit. Zur Akzeptanz zählt auch das sorgende Interesse an seinem Schicksal (Stumm u. Keil, 2014b, S. 24), ohne dem Gegenüber die Verantwortung für sein Leben und Tun aus der Hand zu nehmen. Diese bedingungslose Akzeptanz meint dezidiert die Achtung seiner Person, nicht das Gutheißen aller seiner Einstellungen und Handlungsweisen, auch wenn Person und Handeln selbstverständlich im Zusammenhang stehen. Vielfach wird an dieser Stelle eingewandt, dass dieses Haltungsmerkmal unerfüllbar sein kann, wenn man z. B. an Mörder, Kindsmissbraucher oder Menschen mit NS-Vergangenheit denkt. Hier mag die Denktradition der Unterscheidung Martin Luthers zwischen Person und Werk eine klärende Perspektive und Analogie bieten (M. Luther, 1520, Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7[12], S. 20–38). Eine weitere Parallele ist auch die Setzung des Grundgesetzes, laut der die Würde des Menschen unantastbar ist. Dieses Recht im Staat kann nicht durch Taten verwirkt werden. Mit der Akzeptanz der Person des zu Beratenden oder der Gesprächspartnerin verhält es sich noch insofern etwas anders, als Seelsorgerin und Berater diese Haltung der Akzeptanz persönlich einnehmen muss und nicht delegieren kann. Nur die persönlich erlebte Wertschätzung der Seelsorgerin entfaltet bei aller Professionalität, in der sie geschieht, ihre positive Wirkung. Höger macht darauf aufmerksam, dass der Zweifel an der Realisierbarkeit des Akzeptanzmerkmals sehr viel häufiger ist als die Wahrscheinlichkeit der Begegnung mit Mördern und Vergewaltigern im Therapiekontext (Höger, 2012c, S. 111). Auch wenn diese Wahrscheinlichkeit im Kontext von sozialarbeiterischer

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Beratung oder gar Gefängnisseelsorge etwas höher liegt, scheint mir dennoch ihre Beobachtung zutreffend zu sein, dass man in der Weiterbildung, aber auch in der Supervision leicht die Erfahrung machen kann, dass sehr schnell, geradezu reflexartig gewertet und abgewehrt wird, wenn Fremdes wahrgenommen wird. Die Akzeptanz von Fremdem, sich auf Fremdes einzulassen, bedarf der besonderen Aufmerksamkeit und wohl auch Übung. Diese Akzeptanz wird Ratsuchenden entgegengebracht, um ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, sich aus Inkongruenz zu befreien und eine konstruktive Entwicklung zu nehmen, nicht um schädigendes Verhalten zu konservieren oder zu legitimieren. Es besteht Konsens darüber, dass man sich dieser Kernbedingung bei jedem Gesprächspartner wieder neu und wohl auch in unterschiedlichem Maße annähert, die man jedoch nicht in Reinkultur und Absolutheit jederzeit realisieren kann. Sollte jedoch die Diskrepanz zu einer hinreichend wertschätzenden Haltung einem Gesprächspartner gegenüber zu groß sein, sollte in Erwägung gezogen werden, ihm dies in wertschätzender Weise mitzuteilen und einen anderen Seelsorger, eine andere Beraterin zu empfehlen. Es sollte sich dabei um eine Person handeln, die zur Seelsorge und Beratung für diesen Menschen zur Verfügung steht. Wertschätzung bedeutet in diesem Fall, den Respekt vor der Beratungsbereitschaft eines Gesprächspartners zu wahren und ihn nicht in die Situation zu bringen, von einer Adresse zur anderen weitergeschickt zu werden. Akzeptanz unterscheidet sich von Überengagement, das leicht die Tendenz hat, dem Gesprächspartner insofern zu nahe zu treten, dass ihm die Verantwortung für seine Entscheidungen z. T. abgenommen wird oder eine Verstrickung entsteht. Auch komplementäre Beziehungsdynamiken, wie Retter und Opfer (Stumm u. Keil, 2014b, S. 25) oder eine Helfer-Hilflosen-Kollusion (Schmidbauer, 1998) sind eher das Gegenteil dieser genannten Haltung. Schließlich dient die Akzeptanz der Selbst-Werdung des Gegenübers, während Verstrickung und Kollusion die Persönlichkeitsentwicklung behindern oder zum Stillstand bringen. Bedingungslose Akzeptanz bedeutet, dass eine Beraterin es ihrem Gegenüber ermöglicht, alle Gefühle, die in ihm wahrnehmbar sind, zu äußern: »Furcht, Verwirrung, Schmerz, Stolz, Zorn, Hass, Liebe, Mut oder Bewunderung – ganz zu sein« (Rogers, 1973/2016, S. 75). In der Praxis des Erlernens dieses Ansatzes kann öfter die Erfahrung gemacht werden, dass bestimmte Gefühle nicht wahrgenommen und insofern auch nicht verbalisiert werden. Mancher ist das Gefühl der Angst oder gar der Todesangst zu stark, andere, oft junge Menschen, nehmen den Stolz der älteren nicht wahr, mancher macht sich Sorgen, von der Wut des Gesprächspartners mitgerissen zu werden, wenn er diese annimmt und manchem ist das Gefühl der Eifersucht peinlich. Dennoch kommen all diese und

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weitere Gefühle leicht in seelsorglichen und beraterischen Gesprächen vor und so ist es denn notwendig, eine professionelle Seelsorge- und Beratungspersönlichkeit herauszubilden, der es möglich ist, all diesen Gefühlen akzeptierend standzuhalten und ihnen annehmend begegnen zu können. Neben blinden Flecken könnten auch bewusste Bedingungen auftreten: Die moralischen oder auch ästhetischen Wertvorstellungen von Beraterin und Gesprächspartner liegen zu weit auseinander und die Beraterin kann ihren Widerwillen nicht überwinden. In seiner Unpünktlichkeit wirkt das Gegenüber zu wenig ernsthaft, der Gesprächspartner riecht aufdringlich, Verhaltensweisen lassen erkennen, dass die Gesprächspartnerin ihre Seelsorgerin nicht wertzuschätzen scheint. Dies sind dann Anlässe, die es notwendig machen, die Vorbehalte ernst zu nehmen und die Beziehung zu klären. Nur wenn es möglich ist, die Wertschätzung wiederherzustellen, ist eine weitere Beratung sinnvoll. Das akzeptierende Standhalten vollzieht sich im Ausbalancieren der beraterinternen Ambivalenzen, die Erzählungen von Gesprächspartnern auslösen. Die Wahrnehmung der Fremdartigkeit des anderen, das Erstaunen über seine Erlebnisweisen, auch das Erschrecken über seine Sichtweise gehört dazu. Gelegentlich mag die Äußerung solchen Erstaunens oder Erschreckens im Sinne der Echtheit vonseiten der Seelsorgerin hilfreich sein, um die Akzeptanz aufrechterhalten zu können (Selbsteinbringung). Dies ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn es den Prozess der Selbstaktualisierung nicht stört. An dieser Stelle wird deutlich, dass diese Haltung es auch mit einer bewussten Entscheidung zu tun hat, den Weg der Selbsterkenntnis des anderen weiter mitzugehen und davon abzusehen, ihm deutlich zu machen, dass andere Wege sehr viel besser, leichter oder erfolgreicher wären. Positive Akzeptanz kann auch gehindert werden, wenn die Gesprächspartner Themen ansprechen, die auch in der Seelsorgerin (noch) virulent sind. Die Seelsorgerin spürt dann möglicherweise den Impuls, das Gegenüber vor einer Handlung bewahren zu sollen, eine Entscheidung anders zu treffen als avisiert. Hier liegt die Einsicht nahe, dass die Seelsorgerin in der Gefahr steht, ihre ungelösten Probleme bei ihrem Gegenüber zu lösen statt bei sich selbst. Hier ist die Selbstreflexion der Seelsorgerin herausgefordert. Möglicherweise sollte sie in der Supervision daran arbeiten, welche Erfahrung sie nicht vollständig in ihrem Selbstkonzept symbolisiert hat (Höger, 2012b, S. 112 ff.). Die Bedeutung der Akzeptanz oder »voraussetzungslosen positiven Beachtung« (»unconditional positive regard«; Rogers, 1959, S. 198) liegt in ihrer basalen Wichtigkeit für jede menschliche Entwicklung. Angefangen beim neugeborenen Säugling über heranwachsende Kinder, Erwachsene, ältere und sterbende Menschen sind alle auf ein annehmendes, warmes Gegenüber angewiesen, um

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sich selbst akzeptieren, sich finden und entfalten zu können. Es ist, um auf das Bild am Anfang zurückzukommen, das Klima, die Wachstumsbedingung, die dem menschlichen Lebewesen Entfaltung ermöglicht.

13  Empathie Empathie hat sich zu einer Art universalem Modebegriff entwickelt, der Unterschiedliches meint und dem differenzierten Rezeptionsvorgang, der hier gemeint ist, eher im Wege steht. Rogers selbst formuliert das Haltungsmerkmal folgendermaßen: »Empathisch sein bedeutet, den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so, als ob man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals die ›als ob‹-Position aufzugeben. Das bedeutet, Schmerz oder Freude des anderen zu empfinden, gerade so wie er empfindet, dessen Gründe wahrzunehmen, so wie er sie wahrnimmt, jedoch ohne jemals das Bewußtsein davon zu verlieren, daß es so als ob man verletzt würde usw. Verliert man diese ›als ob‹-Position, befindet man sich im Zustand der Identifizierung.« (Rogers, 1959/1989, S. 37)

Empathie ist die präzise Einfühlung in die aktuelle Erfahrungswelt des anderen, in sein Erleben und Bewerten. Empathie meint die Wahrnehmung des anderen mit der emotionalen Begleitmusik, der Sinngebung und auch u. a. der Erfahrung der Sinnlosigkeit, die die fraglichen Erfahrungen mit sich ziehen. Unterschieden wird hier zwischen dem inneren Bezugsrahmen der Gesprächspartnerinnen und dem externen Bezugsrahmen eines anderen, z. B. des Beraters. Entscheidend ist es, dass der Berater den Rahmen der Gesprächspartnerin erfasst und das Wahrgenommene nicht zuerst und vor allem in den eigenen Bezugsrahmen stellt und von diesem her wahrnimmt. Aus der Perspektive des Beraters ist evtl. das Bild der Bühne hilfreich. Im Beratungs- oder Seelsorgegespräch hat das Erleben der Gesprächspartnerin innerhalb ihres Erlebnisrahmens den Platz im Vordergrund der Bühne. Darauf ist die Aufmerksamkeit konzentriert. Der Berater hat jedoch auch den Kontakt zu seinem eigenen Bezugsrahmen, den er im Hintergrund der Bühne der Wahrnehmung weiß. So kommt die bedeutende »als ob«-Position zustande. Der Berater nimmt die Gesprächspartnerin wahr, wie sie ihr Leben erlebt und versteht. Der Berater nimmt dies ernst und geht hierbei verbalisierend mit, ohne den Kontakt zu seiner eigenen Welt zu verlieren. Nur so kann er der psychischen Ansteckung

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oder der Identifikation mit der Gesprächspartnerin entgehen. Dass dennoch das Erleben der Gesprächspartnerin Spuren im Erleben des Seelsorgers hinterlassen und umgekehrt, dass das So-Sein des Beraters Einfluss auf das Erleben der Gesprächspartnerin hat, ist auch wahr und u. U. eine der Wachstumsquellen der Gesprächspartnerinnen. Die Spuren, die die Gesprächspartnerinnen hinterlassen, können unterschiedlich eingeordnet werden: Manchmal sind sie eine Belastung, von denen sich der Berater wieder befreien muss, oft sind sie jedoch auch eine Bereicherung, indem sie ein Innewerden dessen, was alles Leben bedeuten kann, darstellen. Auf die wechselseitige Beeinflussung von Berater und Gesprächspartnerin kommen wir unten noch einmal zurück. In jedem Fall ist hier festzuhalten, dass Empathie zwischen dem Bezugsrahmen der Gesprächspartner und dem eigenen, evtl. auch dem des Kontextes, der Familie, der Organisation etc. (im Fall von Coaching und Supervision) eine anspruchsvolle Aufgabe darstellt. Es ist eine differenzierte und komplexe Seelenarbeit. An dieser Stelle ist zu unterstreichen, welche große Verwandtschaft zwischen der Begegnungskultur des PzA und Rosas Resonanz-Konzept besteht. In seinem Sinne interpretiert, handelt es sich bei der Personzentrierten Begegnungskultur um einen entgegenkommenden Resonanzraum (Rosa, 2016, S. 294 u. ö.), den der Berater, die Seelsorgerin durch die Ermöglichungsbedingungen der Vertrauenswürdigkeit und Responsivität initiiert und auf den die Gesprächspartnerin mit Vertrauen und Selbstexploration antwortet. Das grundsätzliche empathische Verstehen äußert sich charakteristischerweise praktisch im Verbalisieren dessen, was die Beraterin von ihrem Gesprächspartner verstanden hat. Die Verbalisierung, wenn sie zutreffend ist, hilft dem Gesprächspartner, sich seines Erlebens und der entsprechenden Symbolisierung bewusst zu werden. Zugleich wirkt die Verbalisierung motivierend auf die Aktualisierungstendenz und lässt neue Zusammenhänge, alte Erfahrungen oder weitere Komplexe, die mit dem Erlebten und Gesagten zusammenhängen, aufscheinen, die der Gesprächspartner, neugierig auf sich selbst geworden, äußert. So wird durch die präzise Empathie der Beraterin ein Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess in Gang gehalten, der zu immer tieferem Bewusstsein aufseiten des Gesprächspartners führt. Die verbalisierende Reaktion der Beraterin hat auf den Gesprächspartner auch die Wirkung, dass er wahrnehmen kann, was die Beraterin gehört hat. Hat sie das Wichtigste aufgenommen, so kann sich der Gesprächspartner sicher sein, dass sie mit ihm auf dem Weg ist und er kann weitergehen. Hat sie etwas Wichtiges überhört oder nicht aufgenommen, hat er die Chance, zu differenzieren oder zu ergänzen. Oft geschieht das durch ein oder gar mehrere Beispiele.

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Wichtig ist, dass die Beraterin auch heraushört, welche Bedeutung die Narration ihres Gesprächspartners hat. Ist sie begleitet von Freude und Erleichterung, von Bedrücktsein, Peinlichkeit oder gar Angst. Wichtig ist also die Ebene des Gefühls, das mit der erzählten Erfahrung verbunden ist und die Ebene des aktuellen Gefühls, das das Äußern dieser Erfahrung begleitet. Zur präzisen Empathie gehört, auch wahrzunehmen, welches Gefühl, welche Selbsterkenntnis dem Gesprächspartner zugänglich ist. die Beraterin sollte nicht aufdeckend darüber hinausgehen. Es könnte sein, dass der Gesprächspartner sich ertappt oder überfahren fühlt und sich zurückzieht. Personzentrierte Empathie nimmt wahr, wie viel von dem, was im Augenblick wahrnehmbar ist, für das Gegenüber verkraftbar und hilfreich ist. Ein Zuviel könnte ebenso zur Stagnation der Aktualisierungstendenz führen wie ein Zuwenig oder ein Zuoberflächlich. Sensible Menschen kommen u. U. mit weniger Worten und unausgesprochener Empathie besser zurecht. Andere, die sich gerade erst auf den Weg der Selbsterkenntnis gemacht haben und noch suchend und tastend unterwegs sind, brauchen mehr von dem, was die Beraterin an Begleitung zur Verfügung stellen kann. Das Maß jedoch der gezeigten Einfühlung ist die Person, die ihren Fragen durch Selbstexploration nachgehen will. Ebenso ist es wichtig, dass die Beraterin eine Sensibilität dafür entwickelt, was dem Gesprächspartner an der aktuellen Äußerung am meisten interessiert, vitalisiert oder zutiefst angeht. Dem Neuen gegenüber dem schon Gesagten, der Aufmerksamkeit für das, was am Rande des Gewahrwerdens auftaucht, sollte das besondere Augenmerk gelten. Dort, wo die Erkundung des Gegenübers am lebendigsten ist, dort ist wahrscheinlich sein Eigen-Interesse vital und strebt nach weiterer und tieferer Selbst-Erkenntnis.

14 Empathisches Verstehen Die Operationalisierung des Beziehungscharakteristikums Empathie kann sich in unterschiedlichen Formen zeigen. Eine davon ist die Verbalisierung Emotionaler Erlebnisinhalte (VEE) (Höger, 2012b, S. 122 ff.). Die Verbalisierung der emotionalen Erlebnisinhalte ist eine zentrale Methode des PzA und zugleich die am meisten missverstandene und desavouierte Kategorie. »Papageienmethode«, »Spiegeln« sind Begriffe, die den gemeinten Versuch zu verstehen, stigmatisieren sollen. Dass beides wenig mit Empathie, so wie sie oben beschrieben wurde, zu tun hat, ist leicht einzusehen. Schematische, echoartige, wortwört­liche Wiederholungen ohne innere Beteiligung der Beraterin sind nicht gemeint, denn sie erzeugen den Eindruck, nicht ernst genommen zu werden. Solche Reaktion

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ist zu vermeiden. Sie wurden auch schon von Rogers selbst abgelehnt (Schmid, 1995, S. 147). Die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte meint die empathische Resonanz der Beraterin auf das vom Gegenüber geäußerte Erleben. Es sind die Worte und ist die Sprache der Beraterin, die sie spricht, auch, wenn je nach Alter und Milieu des Gegenübers eine gewisse Annäherung an die Sprachwelt des anderen wichtig sein kann. Entscheidend ist die innere Beteiligung, die Anteil nimmt und präzise erfasst, was den anderen genau beschäftigt. Schematische Verba­lisierungen mit geringer innerer Beteiligung des Beraters wirken sich selbst­explorationshemmend aus. Das Gegenüber verliert u. U. das Interesse am Gespräch und evtl. auch an sich und seiner Selbsterkenntnis.

I 15  Stufen des einfühlenden Verstehens Wie tief und weit die Empathie aufseiten der Beraterin reicht, ist ein Prozess des Lernens, auf den sich Kandidatinnen der Fort- und Weiterbildung begeben. Dabei stellt sich heraus, welches der intuitiv eigene Zugang zur Wahrnehmung anderer ist, der dann ergänzt und erweitert wird durch Felder der Wahrnehmung, die zunächst in der Alltagskommunikation unberücksichtigt blieben. Für Ausbildungszwecke und Forschung wurden Skalen entwickelt, die Grad und Intensität der Verbalisierung einzuschätzen helfen (Tausch, 1973; Pfeiffer, 1977). Die sechs Stufen, die noch einmal binnendifferenziert werden können, sind: 1. Bewertung, Belehrung, Ermahnung, 2. Äußere Sachverhalten benennen, 3. Nebensächliche Gefühle, 4. einen Teil der wichtigen Gefühle, 5. den überwiegenden Teil der wichtigen Gefühle, 6. alle wichtigen Gefühle. Die beraterische Wirksamkeit ist mit Stufe 5 gegeben, während Stufe 6 auf die Dauer überfordernd sein kann und insofern nicht dauerhaft angestrebt werden sollte. Stufe 4 gewährleistet, dass die Seelsorgerin keine blinden Flecken hat, die die Wahrnehmung bestimmter Gefühle verhindert.

16  Dimensionen der Empathie Seit den 90er-Jahren ist u. a. Kriz darum bemüht, den PzA aus einer zu eng gedachten Ich-Du-Beziehung – nach dem Modell Bubers – zu befreien und mit dem systemischen Blick auf die Personen und Interaktionen zu erweitern. Das Subjekt ist nicht allein, sondern in seiner Lebenswelt zu betrachten. Dabei unterscheidet er vier Ebenen, die in interaktiven Prozessen beobachtet werden

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können und auch sollten (auch im folgenden Kriz, 2017a, S. 133 ff.). Kriz selbst analysiert diese vier Ebenen in großer Differenziertheit. Im Folgenden werden sie stärker praxisorientiert dargestellt. Die interpersonelle Dimension

Auf der interpersonellen Ebene können Interaktionsmuster, die eine Person mit anderen realisiert, von Bedeutung sein. Hier können Kollusionen (das unbewusste Zusammenspiel zweier Personen im Hinblick auf dasselbe Grundthema) eine Rolle spielen, die zum Problem geworden sind, wie z. B. die gegenseitige Abhängigkeit der »hilflosen Helfer« und ihrer Schützlinge (Schmidbauer, 1989, S. 112 ff.). Täter-Opfer-Dynamiken z. B., die den jeweils anderen Teil verleugnen oder die Delegation eines bestimmten Rollenmusters an eine Person (aufmerksamer Sohn, zuvorkommende Tochter), die auf andere Situationen übertragen wird, können hier beobachtet werden. Die psychische Dimension

Auf dieser Ebene generieren Personen Sinn und Bedeutung, indem sie Wahrnehmungen und Handlungen durch Fühl- und Denkvorgänge bewerten. Durch Rückkoppelungen entstehen »dynamisch stabile Schemata« (Kriz, 2017b, S. 131). Hier gilt es zu beobachten, wie eine Person Wahrgenommenes erlebt, gefühls­ mäßig und denkend bewertet. Bedeutend kann es hier sein, die sinngebende Rahmung nicht als selbstverständlich oder allgemeingültig hinzunehmen, sondern beides nebeneinanderzustellen, um z. B. einen einschränkenden, eingeschliffenen Sinnzusammenhang wahrnehmbar zu machen, zu lockern und eine neue Sinngebung zu ermöglichen. Die gesellschaftlich-kulturelle Dimension

Personen sind nicht einfach aus sich selbst heraus, wer sie sind. Bevor sie »Kinder«, »Erwachsene«, »Ehepartnerinnen«, »Eltern«, »Managerin« oder »Buchhalter« werden konnten, waren all diese Rollen gesellschaftlich schon festgelegt. Die Menschen können in sie hineinwachsen und sie übernehmen. Dass z. B. Paarkonstellationen sich in interkulturellen Vergleich unterschiedlich darstellen und anfühlen, ist bekannt. Vielfach wird aber auch eine familientypische Variante von Paarbeziehung vermittelt, die dann nicht ohne Weiteres mit dem Bild der Familie der Partnerin harmoniert. Die Geschichte der Familie und der Gesellschaft ist in Verstehens- und Verhaltensmustern, Bewertungen und Kommunikationsstilen präsent. Die Sprache, die gesprochen wird, die Gebräuche, Symbole, Feste und Rituale, die eine Rolle spielen, das z. B. abendländische Denken: alles sind Partizipationen an den gesellschaftlich-kulturellen Mikro- und Makro­prozessen.

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Auch die gelebte Religion, die gelebte Konfessionalität, die Theologie in ihren inneren Bildern und Äußerungsformen stellen Felder dieses Bereiches dar, die sich mit anderen Feldern überlagern. Die körperliche Dimension

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Alle Erfahrungen oder auch Narrationen von Erfahrungen implizieren eine körperliche Dimension. Hirnphysiologische Vorgänge, die wiederum hormonelle z. B. evozieren, generelle und situativ hervorgerufene Muskel- und Sehnen­spannung, Herz-Kreislauf-Reaktionen oder motorische Wahrnehmungen sind zu beobachten. Besonders die psychische und die körperliche Dimension interagieren in Rückkoppelungseffekten. Es sind jedoch immer alle vier Ebenen sowohl bei den Gesprächspartnern als auch den Beraterinnen und Seelsorgern im Spiel.

17  Ebenen und Varianten des Verbalisierens Verbalisierungen können grundsätzlich sehr variantenreich sein. Eine Variante ist die synonyme Verbalisierung: Sie hat denselben Sinngehalt wie die Äußerung des Gegenübers. G.: Im Unterschied zu meinem Mann gehe ich sehr gerne ins Kino. B.: Am Kino begeistert Sie etwas, sodass sie es gerne besuchen, anders als Ihr Ehemann.

Verbalisierungen können antonym sein: Sie nähern sich dem Geäußerten ex negativo. G.: Im Unterschied zu meinem Mann gehe ich sehr gerne ins Kino. B.: Ganz anders als Ihr Mann sind Sie Kinobesuchen nicht abgeneigt.

Weitere Formen empathischer Äußerungen wurden entwickelt, z. B. von D. Cain (Keil u. Stumm, 2014a, S. 41 f.). Einige davon werden im Folgenden vorgestellt. Auch, wenn der PzA darin seine Besonderheit findet, dass es wichtig ist heraus­zuhören, von welchen Gefühlen die Narrationen getragen werden, so sind die Sachverhalte, die Sachebene dennoch keineswegs gleichgültig. Sachverhalte und Gefühle klärende Verbalisierung: G.: Und dann hat sie mir vor allen die Dokumentation hingeworfen; ich solle die fehlenden Informationen ergänzen.

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B.: Die Grobheit Ihrer Oberärztin hat Sie sehr gekränkt und geärgert, dass sie so weit geht, Sie vor den Kollegen und der Patientin zu blamieren zu suchen und den Sachverhalt so darzustellen, als wären Sie daran schuld, dass sich Lücken in der Dokumentation fanden. G.: Ja. Auch im Stress geht das gar nicht. Das lasse ich mir nicht gefallen.

Hier wird von der Beraterin die gesamte Szene ins Wort gebracht. Das trägt dazu bei, dass dem Gegenüber die Tragweite der Erfahrung in seiner inneren und äußeren Bedeutung, was hier alles auf dem Spiel steht, bewusst werden kann. Das hat mit Sicherheit Einfluss auf die weitere Selbstexploration. Wenn man sich vorstellt, die Antwort der Seelsorgerin hätte gelautet: B.: Und das hat Sie geärgert.

ist es gut möglich, dass die weitere Suchbewegung des Gegenübers auf diesem Niveau gemäßigten Ärgers weitergeht. Körpersprache einbeziehende Verbalisierung: G.: Das hat mich sehr gefreut, dass ich mich in dieser Frage zum ersten Mal meinem Vater gegenüber durchsetzen konnte und er tatsächlich auf mich gehört hat. Das war wirklich eine tolle Erfahrung. (Augen strahlen) Er hatte früher immer gesagt, auf solche Leute wie Dich höre ich gar nicht. (Augen wechseln zu traurigem Ausdruck) S.: Das hat Sie mit tiefer Befriedigung erfüllt, dass Ihr Vater Sie ernst genommen hat. Am Strahlen Ihrer Augen merke ich, es ist wohl ein Sieg für Sie, auf den Sie lange gewartet hatten. G.: Ja. Trotz des traurigen Anlasses: Das war ein unvorhersehbarer Sieg und eine Bestätigung für mich.

Empathische Herausforderung: Eine solche Form der Verbalisierung kann wichtig sein, um z. B. Ressourcen, die im Moment etwas im Hintergrund stehen, als weitere Verstehens- und Handlungsoption zu erschließen: G.: Am liebsten würde ich meinem Ex eine runterhauen. B.: Sie sind sehr wütend auf Ihren Ex. Ein Schlagabtausch wäre eine Erleichterung? Evtl. aber auch selbstbeschädigend? Vielleicht liegt für Sie an, dass Sie ihm noch einmal deutlich sagen, was Sie von ihm halten?

An dieser Stelle soll auch ein seelsorgliches Beispiel erscheinen: G.: Ich habe jahrelang von dieser Erfahrung der Erleuchtung gezehrt. Das hat mich getragen. Aber heute fühle ich mich hohl.

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S.: Es war eine erfüllende Erfahrung für Sie, in der Gewissheit von Gottes Nähe unterwegs zu sein. Dem gegenüber erscheint Ihnen Ihr Leben und Ihre Arbeit jetzt ernüchternd leer zu sein. G.: Ja, das Gefühl war sehr schön. Aber die Arbeit ist heute besser. S.: Jetzt bemerken Sie, dass Ihre Arbeit ohne diesen Flash valide ist. Hat das evtl. etwas damit zu tun, dass diese Arbeit ein Kind der großen Erfahrung ist, ein kleiner Abglanz des großen Lichts? G.: Ja. Ich merke, das Gefühl der Leere verändert sich.

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Schließlich stellt sich eine Umwertung ein. Die alltägliche Arbeit wird gefühlsmäßig und kognitiv neu bewertet. Sie fühlt sich nach Handwerk mit Dignität an, nicht mehr nach Leere. Affirmative empathische Reaktion: Dies ist eine sparsam einzusetzende Form der Empathie, die jedoch gelegentlich wichtig sein kann, um das Gegenüber in seinem Vorhaben positiv oder negativ zu bestätigen. Zu häufig eingesetzt, kann diese Attitüde zur (positiven) Bewertung werden, von der das Gegenüber sich abhängig macht. B.: Das ist wirklich ein schwerer Gang, den Du Dir da vorgenommen hast.

Vergangenes und aktuelles Gefühl verbalisieren: Es ist sehr wichtig darauf zu achten, welchen aktuellen Affekt die Narration eines Ereignisses der Vergangenheit im Hier und Jetzt auslöst. G.: Und am schlimmsten war, dass ich in dieser Situation meinen Mund gehalten habe, statt Position zu beziehen. B.: Damals haben Sie aus Scham und Betroffenheit geschwiegen und sich wohl auch zurückgezogen. Das ärgert Sie jetzt, wenn Sie daran denken.

Dass das Schweigen von damals heute mit Ärger verbunden ist, ist eine wichtige Selbsterkenntnis, die eine Öffnung zu einem anderen Verhalten als damals aufweist. Mit dem Ärger können Empowerment, Befreiung aus Verstrickungen und Selbstwerdung auf einer tieferen Ebene entstehen. Verbalisierung in emotionsnahen Bildern: Dies kann eine sehr hilfreiche Form der Reaktion sein, die sich hin und wieder nahelegt. G.: Und am schlimmsten war, dass ich in dieser Situation meinen Mund gehalten habe, statt Position zu beziehen. B.: Das ärgert Sie heute, dass Sie damals den Kopf eingezogen haben, statt die Zähne zu zeigen.

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Hier wird der physiologische Aspekt der beiden Haltungen des Gesprächspartners deutlich, die Haltung, über die er sich jetzt ärgert und die Haltung des Standhaltens und sich Wehrens. Verbalisierung in Metaphern: G.: Eigentlich könnte ich mich freuen über meine neue Stelle. Auch meine Tochter hat es gut getroffen. Sie wurde schon zum Geburtstag eingeladen. Aber sie will das nicht sehen, sie will morgens nicht mehr aufstehen, will nicht in ihre neue Schule … S.: Es könnte nun endlich alles gut sein für Dich und Deine Tochter. Aber ihr depressives Verhalten legt sich wie Mehltau über alles.

Verbalisierungen, die den felt sense artikulieren: Felt sense ist ein Begriff aus dem Focusing (Gendlin, 1989). Er meint die zarten und manchmal auch noch diffusen Gefühle, die sich auf ein Vorhaben hin in der Körpermitte melden. Im Focusing Prozess soll man seiner Körpermitte die Frage stellen: »Habe ich wirklich ein gutes Gefühl mit dieser Sache«? Dann ist aufmerksam abzuwarten, welche Gefühle sich dort spüren lassen. Diese Gefühle werden jedoch auch wahrnehmbar ohne die methodische Frage und sollten dann vom Seelsorger aufgenommen werden. G.: Eigentlich könnte jetzt alles gut sein. Ich müsste mich freuen, dass ich es geschafft habe, diese Stelle zu bekommen. B.: Aber es gibt noch eine andere Stimme in Dir, die etwas anderes sagt. G.: Ja. (Schweigen) Es war so schwer. (Tränen) B.: Es ist traurig, dass es so ein zäher Kampf war. Da ist so ein Nachbeben in Dir. G.: Ja. (Seufzen)

Felt shift artikulierende Formulierungen: Auch der Begriff felt shift stammt aus dem Focusing und meint die kleine körperliche Erleichterung, die spürbar wird, wenn etwas mehr Klarheit in die bisher diffuse Selbstwahrnehmung kommt. G.: Ich finde es unmöglich, dass mein Kollege mich in die Situation bringt, die Chefin heraushängen zu lassen und ihm die Anweisung geben zu müssen, dass das seine Aufgabe ist. Wir sind ja auch befreundet. B.: Du fühlst Dich missachtet in Deiner Doppelrolle und bist enttäuscht, dass er wenig Rücksicht auf Dich nimmt. G.: Ja genau. Missachtet das ist es. (Tiefes Luftholen) S.: Obwohl das keine schöne Erkenntnis ist, bist Du doch erleichtert, klar zu sehen. G.: Ja, genau. Jetzt ist mir auch klar, was ich ihm am Montag sagen werde.

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Innere Instanzen zur Sprache bringende Verbalisierung: Die inneren Instanzen sind Teil des Kommunikationsansatzes »Inneres Team« (Schulz von Thun, 2013). Hier wird unterschieden zwischen den »zwei Seelen« und mehr, die jemand in seinem Inneren hat. Zur Klärung der pluriformen und meist diffusen inneren Impulse angesichts einer Problemlage oder Handlungsnotwendigkeit können diese benannt und hierarchisiert werden. G.: Eigentlich müsste ich jetzt konsequent sein und ihn die Suppe auslöffeln lassen, aber es fällt mir schwer. S.: Ist es so: Dein Kopf sagt Dir, jetzt soll Dein Sohn die Konsequenzen seiner Nachlässigkeit auch tragen, aber Dein Herz möchte ihn lieber vor den Konsequenzen schützen?

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Hier ist es die Ambivalenz zwischen Herz und Verstand. Viele andere Gemengelagen können vorkommen: eine Trau-dich-Stimme und ein innerer Zensor, die Stimme des Pedanten, ein innerer Chaot und die internalisierte Stimme der Mutter: »Ohne Fleiß, kein Preis.« u. v. m. Leerer-Stuhl-Arbeit: Diese Methode der Externalisierung innerer Instanzen stammt aus der Gestalttherapie, eines weiteren Ansatzes aus der Familie der Humanistischen Psychologie. Hier bietet sich die Möglichkeit, einen leeren Stuhl aufzustellen und das Gesprächsgegenüber zu bitten, die Mutter, mit der noch ein Konflikt auszutragen ist, in der Fantasie auf diesen Stuhl zu setzen und ein Gespräch anzufangen, z. B. über das, was man nicht verstanden hat, was man ihr noch übel nimmt. Im Dialog, bei dem es auch stark darauf ankommt, die Emotionen, die dabei im Spiel sind, zu benennen, kann ein wichtiger Verstehensprozess, oft ein Aussöhnungsprozess in Gang kommen (Stevens, 2017, S. 79 ff.). Außer realen Personen der Vergangenheit und Gegenwart können es auch Instanzen wie der eigene Schatten oder der innere Schweinehund sein, mit denen der Dialog geführt wird. Aufstellungsarbeit: Diese Methode dient dem Erlebbarmachen der Beziehungen verschiedener Personen oder Instanzen, die in einem systemischen Feld in Relation zueinanderstehen. Sie entstammt der systemischen (Familien-) Therapie (Weber, 2000). In der Aufstellung des Systems z. B. durch Personen werden Beziehungen untereinander erfahrbar wie Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, Beziehungslosigkeit, Liebe, Sehnsucht, Trauer, Schmerz, Verlust, Enge. Lösungen für eine angemessen erträgliche Position des Protagonisten können erarbeitet werden durch Hinspüren und Arbeit an seinem Bild. Schließlich sei erwähnt, dass bei entsprechender Aus-, Fort oder Weiterbildung auch die Arbeit mit kreativen Methoden in die Empathiearbeit einbezogen werden kann. Gestaltungsarbeit, Musik oder Tanz können ebenso helfen

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(Groddek, 2014, S. 127 ff.), sich schwer zugänglichen Erfahrungen anzunähern, wie Fantasiereisen und Imaginationen. Das Zürcher Ressourcen Modell mit seinen 64 elementaren Bildern birgt einen großen Schatz an Ressourcen, die in ihrem Gegenüber etwas zum Klingen bringen können, was längere Zeit verschüttet war. Es wird mit einer Karte gearbeitet und dem Felt sense oder somatischen Marker, der durch das Bild ausgelöst wird (Storch, 2005).

18  Was spricht und kommt zur Sprache? Menschen, die ihre Fragen in Beratung und Seelsorge klären, sprechen auf verschiedenen Ebenen. Sie bringen verbal zum Ausdruck, woran ihnen liegt, was in ihnen vorgeht und auf welche Erfahrungen sie zurückblicken. Körperhaltung, Körpersensationen (z. B. Atemfrequenz, Schwitzen, Blass werden, Erröten), Gestik, Stimme, Blickkontakt und Kleidung sprechen ihre eigene Sprache. Diese nonverbalen Äußerungen können sich im Einklang mit den Worten befinden und sie können inkongruent sein. Besonders die Inkongruenz ist wichtig wahrzunehmen. Inwiefern es für das Gegenüber in seiner Selbstexploration hilfreich ist, diese im Moment des Auftretens anzusprechen oder nicht, ist wiederum eine Frage der Empathie, die von der Beraterin gut abgeschätzt werden will. In vielen Fällen ist es weniger bedrängend, dies an späterer Stelle zu tun. Der Berater begleitet in der Sprache seiner Haltung, in verbalen Mitteilungen, in paraverbalen Mitteilungen z. B. von »Hm« und in nonverbaler Sprache durch Gestik, Mimik und Stimme. Der Berater sollte darauf achten, dass seine Worte, Haltung und nonverbalen Äußerungen kongruent sind. Bemerkt er hier Inkongruenz, ist es wichtig, diese Mehrdeutigkeit zu reflektieren und gegebenenfalls in der Supervision zu klären.

19  Die Wirksamkeit des Personzentrierten Ansatzes Die Wirksamkeit des PzA besteht in ihrer Therapeut-Patienten-Beziehung (Höger, 2012b, S. 121), in ihrer Klienten-Beraterinnen-Beziehung, in der Beziehung zwischen Seelsorger und Gesprächspartnerin. »Wenn das gesprächstherapeutische Beziehungsangebot vom Patienten wahrgenommen und akzeptiert werden kann, entsteht eine Beziehung, in der das empathische und zugleich akzeptierende Verstehen des Therapeuten im Patienten einen

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Zustand der Sicherheit bedingt. Im Schutz dieser Beziehung kann sich der Patient Aspekten seiner selbst zuwenden, die zunächst für ihn fremd und bedrohlich sind, dann aber vertraut und integriert werden können.« (S. 121)

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Dasselbe gilt für Ratsuchende und in der Seelsorge nach Resonanz auf ihre Lebensfragen Suchende und ihre professionellen Gesprächspartner. Es ist die vertrauensvolle Atmosphäre, die wertschätzend haltende und zugleich eröffnende Präsenz der professionellen »bedeutenden Person«, die ihrem Gegenüber die Freiheit zur Exploration ermöglicht. Diese besondere Beziehung ist es, die Entwicklung und Lösungen entstehen lässt. Auf der Seite der Klienten, zu Beratenden und Seelsorgesuchenden kann eine Entwicklung der Persönlichkeit, eine Reorganisation des Selbst und des Selbstbildes insbesondere dann stattfinden, wenn die betroffene Person dazu motiviert ist. Nur wenn sie zu Selbstreflexion bereit ist, wenn sie bereit ist, zu erkennen, welche Erfahrungen und Bewertungen sie leiten und in welchem Maße diese situationsadäquat sind, können neue Optionen entstehen. Ein besonderes Beratungssetting stellt der Zwangskontext (z. B. Jugendhilfe, Beschäftigungsförderung, Strafvollzug, Bewährungshilfe) in der Sozialen Arbeit dar. Hier ist zunächst wichtig festzustellen, dass Zwang der Anlass zur Beratung ist, jedoch nicht das Mittel. Nachdem die Beraterin ihren Auftrag sowohl dem Auftraggeber als auch dem Klienten gegenüber geklärt hat ebenso wie seine Rolle und die Ziele der Beratung, ist es ihre Aufgabe, mit dem Klienten an seiner Motivation zu arbeiten. Sollte eine intrinsische Motivation nicht vorhanden sein, gilt es die extrinsische Motivation, die Formationen von Teilnahme-, Veränderungs- und Beziehungsmotivation auf ihre Tragfähigkeit hin auszuloten und einen Begegnungsansatz zu finden und einen Kontrakt zu schließen (Klug u. Zobrist, 2013, S. 18; auch Kähler, 2005). Die Haltungsmerkmale des Beraters sind im Übrigen dieselben. Der Weg zum zu Beratenden und seinem Interesse an sich selbst benötigt im Zwangskontext eine zusätzliche Beachtung. Sowohl in der Psychoanalyse (Ogden, Potthoff, Wollnik u. a.) als auch in der Systemischen Seelsorge (Morgenthaler) und Personzentrierten Systemtheorie (Kriz) spielt das Feld, das in der Interaktion zwischen Seelsorgerin oder Berater einerseits und dem Hilfesuchenden oder der Gesprächspartnerin andererseits entsteht, eine besondere Rolle. Bereits Rogers selbst charakterisiert die Beziehung (»relationship«; Rogers, 1961, S. 201) zu seinen Klienten so, dass er sich selbst aufs Spiel setzt (Rogers, 1973/2016, S. 199; Rogers, 1961, S. 201: »I risk myself«). »Wenn diese vollständige Einheitlichkeit, diese Einzigkeit, Fülle des Erfahrens, in der Beziehung da ist, nimmt es die »außerirdische« Qualität an, die viele Therapeu-

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ten bemerkt haben: es ist ein traceartiges Sich-Fühlen in der Beziehung, aus dem sowohl der Klient wie ich am Ende der Stunde wie aus einem tiefen Brunnen oder Tunnel auftauchen.« (Rogers, 1973/2016, S. 199 f.)

Das Ent- und Bestehen eines psychologischen Feldes stellt auch für die Psychoanalyse die Voraussetzung dar, überhaupt eine Erfahrung machen zu können (Jaenicke, 2014, S. 63). Ogden beschreibt seine »überschneidenden Träumereien von Analytiker und Analysand« (Ogden, 2004, S. 43) so, dass beide Seiten gleichermaßen an der Konstruktion des analytischen Dritten, an der Arbeit des Bewusstwerdens, beteiligt sind. Mit Balint, Bion und Winnicott warnt er vor dem zu viel wissenden Therapeuten, der dem Analysanden die Kreativität stiehlt (S. 42). Dies ist sicher als ein Hinweis auf den Mehrwert der therapeutischen Zurückhaltung zugunsten der Kreativität des Klienten zu verstehen. Morgenthaler sieht den Hilfesuchenden und den Seelsorger gleichermaßen an Problemfeststellung und Arbeitsbündnis beteiligt (Morgenthaler, 2002, S. 161). Beider Systeme sind in gleichem Maße beteiligt. Im PzA wird der Akzent der Aufmerksamkeit auf die Selbstexploration der Gesprächsgegenüber gesetzt. Das System des Seelsorgers, der Beraterin ist auf der Hinterbühne gegenwärtig; auf der Vorderbühne jedoch wird an und mit den Erfahrungen des Gegenübers gearbeitet (Goffman, 2003). Das besondere psychologische Feld entsteht hier durch das wohlwollende und respektvolle Erfühlen in das Gegenüber und die entsprechende Beziehungsgestaltung der Fragenden. Noch einmal Bezug nehmend auf Rosas Resonanz-Theorie lässt sich der Pol der Seelsorgerin, Beraterin oder Therapeutin im PzA so beschreiben, dass sie einerseits einer der beiden Pole der Resonanzachse darstellt, andererseits hat sie auch die Rolle eines Resonanzverstärkers für den Gesprächspartner (Rosa, 2016, S. 282). Dass die Personzentrierte Haltung wirksam ist, wurde immer wieder nachgewiesen (Grawe, Donati u. Bernauer, 2001; Biermann-Ratjen, Eckert u. Höger, 2012c, S. 226). Welche Wirkung jedoch ein Seelsorger, eine Beraterin qua Person und eigener Erfahrungen hat und welche Wirkung er oder sie auf den Prozess der Selbsterkenntnis ausübt, ist offen. In jedem Fall entsteht in der gemeinsamen Interaktion ein Feld, das eine besondere Atmosphäre generiert und Erkenntnisse und Verhaltensveränderungen ermöglicht, die ohne dieses nicht entstehen könnten. Ein gelingendes Beratungsgespräch fühlt sich meist wie ein kreativer oder gar kreatorischer Akt an. Besonders dann, wenn die Beraterin Zeugin dessen wird, dass ihr Gegenüber neue Potenziale entdeckt, die es bisher nicht wahr­ genommen hatte. Es ist nicht, als ob man etwas im Sand Verschüttetes, Stau­ biges wieder­findet, sondern es ist, auch für die Seelsorgerin, wie die Entdeckung

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oder Schaffung von etwas Neuem, Noch-Nicht-Dagewesenem, das das Leben des Gegenübers bereichert. Um auf das Eingangsfoto zurückzukommen: Die Blüten in der Wüste, der neue Trieb am Wacholder, der Ahornsprössling, der ein Baum werden kann, sind Lebendigkeit, die durch das Zusammenwirken von Potenzialen und guten Wachstumsbedingungen zustande kommen. Die Arbeit der Beraterin und des Seelsorgers besteht außer in der guten Weiterbildung für seine Aufgabe im Aufrechterhalten seiner Haltung, in Wachheit und Achtsamkeit des Herzens, im Finden der angemessenen Sprache, die das Gegenüber fördert. Die Arbeit des Ratsuchenden besteht in der Selbstwahrnehmung, im Erkennen gewohnter Innenbilder und Bewertungen, im Wahrnehmen alternativer Erfahrungsmöglichkeiten, in Umwertungen, Neubewertungen, in Reorganisation des Selbst und des Selbstbildes.

20  Rogers und die Theologie Rogers hat die Axiome seiner Anthropologie dezidiert gegen protestantische Traditionen, mit denen er in seiner Jugend Erfahrungen gesammelt hat, formuliert. »Religion, vor allem die protestantische christliche Tradition, hat unsere Kultur mit der Grundansicht durchdrungen, daß der Mensch im Wesen sündhaft ist, und daß sich seine sündhafte Natur nur durch etwas, was einem Wunder nahekommt, negieren läßt.« (Rogers, 1973/2016, S. 100)

Er wuchs in einem familialen und religiösen Kontext auf, den er selbst als eng, streng und kompromisslos bezeichnet (Schlör, 1994, S. 69). Sein Vater gehörte der Congregational Church an, seine Mutter war Baptistin, und zwar besonders fundamentalistischer Provenienz. – Beides ist nicht repräsentativ für den Protestantismus, auch wenn solche fundamentalistisch orientierten religiösen Milieus zu einem geringen Prozentsatz auch heute noch vorkommen. – Gegen das vorgefasste Menschenbild der Bösartigkeit des natürlichen Menschen, das er auch im Calvinismus und der Freud’schen Theorie wiederfindet (S. 76), stellt er seine Erfahrungen mit Klienten. Es ist so etwas wie ein Dogmatismus der grundsätzlichen Bösartigkeit des Menschen, gegen den er sich wendet. Die Seelsorgebewegung, die in den 1960er-Jahren u. a. von den USA ausging, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Seelsorge als hermeneutische Disziplin zu etablieren, die reale Menschen in ihren Fragen und Antworten im Hinblick auf ihr Leben zu verstehen sucht, sich ihren Erfahrungen verstehend zuwendet. Erinnert sei an dieser Stelle an die »Neuordnung der Seelsorge« wie sie von

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A. Boisen u. a. initiiert und über D. Stollberg, K. Winkler und für den PzA von H. Lemke in die Pastoralpsychologie implementiert wurde. Nicht prioritär die Auslegung historischer Texte, sondern das Verstehen der »lebendigen menschlichen Dokumente« wurde zur Aufgabe der Seelsorge (Stollberg, 1972, Vorwort; Burbach, 2016, S. 23 ff.). Insofern verdankt sich die Implementierung des PzA innerhalb der Seelsorge der Kirchen demselben Anliegen, sich dem Gesprächsgegenüber verstehend anzunähern, auch wenn ihr Begründer des Ansatzes nie Seelsorger sein wollte und das Theologiestudium 1926 abgebrochen hat, um Therapeut und Pädagoge zu werden. Er wollte nie verpflichtet dazu sein, festgelegte Glaubenssätze zu lehren (Zottl, 1980, S. 20). Dieses Thema wird noch einmal in modifizierter Form in der pastoralsoziologischen Perspektive der Dogmatismus-Debatte aufgegriffen und analysiert (Daiber u. Josuttis, 1985). Insgesamt jedoch sei auf den breiten Strom der zu den verschiedenen Zeiten immer wieder neu formulierten dialogischen Form der Theologie des anredenden Gottes im Alten Testament und dem antwortenden Menschen, dem Gespräche führenden Jesus von Nazareth, dem Briefschreiber Paulus z. B. verwiesen. Dass christliche Religion nicht monologisch, dekretierend oder schematisch applizierend zu lebensfördernder Gestalt kommt, sondern durch Dialogisieren, Kommunizieren und gemeinschaftliches Agieren, darf sich weitgehenden Konsenses erfreuen.

21  Grenzen Personzentrierter Beratung und Seelsorge Eine Grenze jeder Beratung ist erreicht, wenn sich herausstellt, dass die Inkongruenz so tief greifend ist, dass eine Therapie indiziert ist. Im analogen Fall sollte die Seelsorgerin in jedem Fall die Gesprächspartnerin dazu anregen, eine Therapie zu beginnen. Grenzen der helfenden Beziehung: Wenn eine Beraterin oder ein Seelsorger vor ihrem Klienten oder seinem Gesprächspartner Angst hat und diese sich auch nach Reflexion und Supervision durchhält, kann nicht gemeinsam weitergearbeitet werden. Die Angst überträgt sich und wird zum Störfaktor. Hier muss nach Alternativen gesucht werden. Wenn sich anhaltend eine Angst um den Gesprächspartner einstellt und nicht beruhigt, wird auch das zum Störfaktor, sollte thematisiert werden, um eine Alternative für den Klienten zu finden. Wenn eine Seelsorgerin oder ein Berater den Eindruck hat, ihr bzw. sein Gegenüber nicht mehr erreichen zu können, stellt auch dies eine gravierende Störung dar, die, wenn sie sich nicht beheben lässt, zur Beendigung dieser helfenden Beziehung und zum Übergang zu einer Alternative führen sollte.

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Dass eine seelsorgliche Beziehung nicht fortgesetzt werden kann, wenn sich die Gesprächspartnerin weigert, weiter mit dem Seelsorger zu sprechen, ist wohl selbstverständlich. Ob eine Beratung dann endet, hängt vom Kontext ab. Eine Beratung im Zwangskontext z. B. wird nicht auf diese Weise vom Klienten zu beendigen sein. Hier gelten andere Richtlinien. Eine Grenze kann sich auch beim Berater oder Seelsorger ergeben, wenn er von der angesprochenen Thematik derart affiziert oder sogar involviert ist, dass er die professionelle Distanz nicht mehr einhalten kann.

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22 Sind Seelsorger dasselbe wie Berater oder Therapeutinnen? Bei weitest gehender Übereinstimmung der Personzentrierten Haltung zwischen den Professionen, müssen Unterschiede in den Settings und Kontexten festgestellt werden ebenso wie Differenzen zwischen den unterschiedlichen Formaten, die oben bereits angedeutet wurden. Besonders hervorzuheben jedoch ist, dass Seelsorgende sich selbst so wahrnehmen, dass ihre Person sich nicht nur in einem religiösen Raum bewegt, sondern von theologischem Wissen und religiöser Erfahrung geprägt ist. In jedem Fall haben sie eine religiöse Sprache gelernt und pflegen religiöse Kommunikation. Seelsorgende partizipieren nicht nur an gesellschaftlichen Kulturen und Denktraditionen, sondern auch an einem großen Reichtum an religiösen Traditionen, Phänomenen, Symbolen und Gestalten. Sie partizipieren an der Geschichte der Kirche, die ein großes Reservoire bereithält an hoffnungsvollen, aber auch schillernden Erzählungen, bergenden Texten, herausfordernden Weisheiten und beeindruckenden Biografien, mit denen die Seelsorgenden selbst in Kontakt und Dialog treten können, um ihre Zugewandtheit zu nähren und zu pflegen und ihre inneren Kräfte immer wieder neu zu fokussieren. Sie können aus diesem Reichtum schöpfen, um ihrem Gegenüber etwas anzubieten, das weiterhilft, wenn es explizit oder implizit danach fragt.

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 Was ist der Mensch? Zum Menschenbild im Personzentrierten Ansatz

Tilman Kingreen

1  Ein Gleichnis

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Abb. 2: Klangkörper Geige (© Timo Klostermeier/pixelio.de)

Wo immer es gelingt, Eigenschwingungen anzuregen, entsteht Neues, bislang nicht Dagewesenes. Resonanzen erzeugen Klänge. So entwickelt jede Geige ihre spezifische Klangfarbe. Klingt sie eher dunkel und bauchig? Oder ist ihr Klang hell, samtig und in den hohen Lagen zärtlich, süß? Als ein schwingendes Holz kann die Geige ein Klangvolumen entfalten, das Kathedralen und Konzertsäle füllt. Ihr wohlgeformter Klangkörper unterliegt Gesetzmäßigkeiten und Bauplänen. Er wird aus definierten Materialen geschaffen. Am Ende verlässt die Werkstatt eines Geigenbauers ein hoch sensibler Klangkörper, zerbrechlich und

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robust zugleich. Je größer der Resonanzkörper, desto tiefer die Eigenschwingungen. Deshalb fällt ein Kontrabass erheblich größer aus als eine Violine. Der äußere Eindruck, den eine Geige hinterlässt, gibt nur bedingt Auskunft darüber, welche Möglichkeiten in ihr verborgen liegen. Nur so ist zu erklären, dass immer wieder Erzählungen die Runde machen von hochwertigsten Instrumenten, die Jahrzehnte unentdeckt auf einem Dachboden lagerten. Das Bild von dem, was eine Geige wirklich ist, entsteht nicht durch Analyse und Diagnose. Eine Geige offenbart sich. Sie tut dies im Augenblick ihres Erklingens. Wer ihren Klang vernimmt, erkennt ihr inneres Wesen. Aus der kunstvollen Begegnung von Saite und Bogen wird dieser Klang geboren. Streicht der Bogen lang, ruhig und sanft über die Saiten oder attackiert er sie und trommelt auf sie ein? Der Anstrich des Bogens regt das große Spektrum von Eigenschwingungen an und setzt dadurch ein weites Klangbild frei. Der gelingende Kontakt von Bogen und Geige lässt sich als Augenblick kongenialen Berührtseins beschreiben. Der Bogen fügt der Geige dabei nichts Neues oder ihr bislang Fremdes hinzu, so als sei an ihr Fehlendes zu entdecken, zu erklären oder zu ergänzen. Der achtsame Kontakt erfolgt nach professionellen Kriterien. Die Berührung bringt die Geige zur Geltung. Wir hören nur sie. Wir hören weder den Erbauer, noch die Musikerin, die die Geige spielt. Wir hören einzig den Eigenklang dieses schwingenden Holzes. Ihr Klang ist »geigen-zentriert«. Als ein schwingungsfähiges System versteht Carl R. Rogers den Menschen: Er will erklingen. Er will entdeckt werden. Als in sich abgeschlossene, substanzhafte Einheit prägen Originalität und Einzigartigkeit den Menschen. Er ist verletzlich und zugleich von Vitalität und Robustheit geprägt. Seine Potenziale entfaltet der Mensch im Augenblick der Begegnung. Fühlt er sich durch einen anderen Menschen berührt und wahrgenommen, so regt dies seine Eigenschwingungen an. Er erlebt sich als lebendigen Klangkörper, der in Schwingung kommt. Er entwickelt Resonanzen. In der qualitätsvollen Beziehung mit einem anderen kommt die Person in ihrer Einzigartigkeit zum Erklingen. Das Personzentrierte Menschenbild gleicht in diesem Resonanzcharakter dem Bild einer Geige.

2  Bilder prägen Frau A. betritt den Beratungsraum, schaut sich offen und interessiert um, senkt wenige Sekunden, nachdem sie ihren Platz eingenommen hat, ihren Blick und beginnt zögerlich: »Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin? Und was soll ich sagen? Mir geht es an sich gut. Ein bisschen …, es ist nur … es ist vielleicht nur so, dass ich …«

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Dieser Gesprächseinstieg gibt eine wiederkehrende Erfahrung in Seelsorge, Beratung, Coaching sowie Supervision wieder. Menschen kommen als Suchende. Sie zeigen sich verunsichert von der Frage: »Welche Bedeutung soll ich meinem inneren Erleben beimessen?« Diese Frage richtet sich nicht nur an die ratsuchende Person, die jetzt im Zimmer einer Seelsorgerin oder eines Beraters sitzt, sondern auch an die, die als Coach und Supervisorin mit diesem Menschen arbeiten. Wie sie arbeiten und was sie tun oder lassen, ist bestimmt von ihrem Bild des Menschen, das in dieser professionellen Begegnung in Geltung gebracht wird. Das innere Bild vom Menschen prägt die Haltung des Menschen, in der er seinen helfenden Beruf ausübt. Sitzt vor ihm eine Person, gefangen im Bann destruktiv wirkender Mächte? Oder befindet sich diese Person primär in einem inneren Wachstumsprozess, in dem neben zerstörenden vor allem lebensbejahend konstruktive Kräfte emporsteigen? Was davon gewinnt in der Person Zugang zu ihrer Gewahrwerdung? Unser Bild, das wir uns vom Menschen machen, legt uns fest. Es bestimmt, mit welcher Grundhaltung die in Seelsorge und Beratung Tätigen dem ratsuchenden Menschen begegnen. Gehen sie mit einer Haltung auf ihn zu, die vertrauensvoll, zuversichtlich und wachstumsorientiert ist oder bleiben sie in ihrer Beziehungsgestaltung abwartend, distanziert, skeptisch und vorsichtig? Unser Grundzugang zum Menschen wird von unserem Grundverständnis des Menschen bestimmt. Das Menschenbild bildet den Wurzelgrund, aus dem sich alle Theorien über das, was für den Menschen und seine Entwicklung als heilsam erachtet wird, speist. Jede Vorstellung von dem, was als eine heilsame zwischenmenschliche Intervention zu verstehen ist, beantwortet die Frage: Von welchem Bild des Menschen bin ich bestimmt? Es ist das Verdienst von Rogers, diesen reziproken Zusammenhang von Therapieform und Menschenbild in den Mittelpunkt seiner Theorie und deren Ausgestaltung gestellt zu haben. Das Personzentrierte Menschenbild versteht sich nicht als eine abstrakte anthropologische Setzung. Es bleibt an Bedingungen gebunden, die in der therapeutisch wirksamen Situation erwachsen und dort zugleich überprüf- und nachweisbar bleiben. Es handelt sich um empirisch-wissenschaftliche Beobachtungen, aus denen heraus die Grundannahmen zu Natur und Wesen des Menschen entstanden sind, die sich schließlich zu einem Bild des Menschen verdichten, das bis heute für die Personzentrierte Gesprächsführung als bestimmend gilt.

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3 Der Kern des Menschen

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Rogers kommt aufgrund dieser Erfahrung zum Schluss: Der »innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur positiv – von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch.« (Rogers, 1973/2016, S. 99 f.) Drei Ebenen emotionalen und sozialen Erlebens werden von ihm wie ein Schichtenmodell voneinander unterschieden: »unter die sozial kontrollierte Oberfläche ihres Verhaltens« (S. 101) als der obersten und ersten Schicht lagern sich als die nächst tiefere Schicht seines emotionalen Erlebens jene Qualitäten ab, die, wie an den Gesprächsprotokollen der Klientin Oak von Rogers plastisch beschrieben, »mörderisches Haßgefühl und den Wunsch, abzurechnen« (S. 101) beinhalten. Auf dieser zweiten Ebene sind damit alle destruktiv wirkenden Empfindungen im Menschen verortet. Diese Ebene wird gespeist aus Angst und Verletzungserfahrungen mit entsprechendem Zerstörungspotenzial aus »Frustration und Verbitterung« (S. 104). Ihr folgt eine dritte Ebene, da »unter der Verbitterung und dem Haß und dem Bedürfnis, mit der Welt, die sie [Frau Oak, T.K.] betrogen hat, abzurechnen, ein weitaus weniger antisoziales Gefühl, ein tieferes Empfinden des Verletzt-Seins liegt.« (S. 104) Auf dieser tieferen Ebene gibt es kein Bedürfnis, die »mörderischen Gefühle in die Tat umzusetzen. Sie mißfallen ihr, und sie möchte sie los werden.« (S. 104) An diesem plastisch dokumentierten Therapieverlauf beschreibt Rogers mit einer Symbolik unterschiedlicher Höhen die verschiedenen Qualitäten emotionalen Erlebens. Er unterscheidet Emotionen nach Kategorien von Destruktivität und Konstruktivität und ordnet sie unterschiedlichen Ebenen im Menschen zu. Der Konstruktivität wird eine größere Tiefe und damit verbunden auch eine größere Bedeutsamkeit für die Bestimmung des menschlichen Wesens zugeschrieben. Als das Tiefere ist sie aber zugleich auch schwerer zu heben und mühsamer zu erreichen. Wie der Kern einer Frucht liegt die tiefere und zugleich konsistentere Wesensbestimmung des Menschen tief im Inneren verborgen und lässt sich aber so »verallgemeinern […], dass der Mensch ein positives und soziales Wesen ist.« (S. 109 f.) Diese Erkenntnis basiert auf der Beobachtung, dass zwischen Ebene zwei und drei ein fortwährend wirkender Bewertungsprozess stattfindet, bei dem destruktiv zerstörerische und konstruktiv aufrichtende Gefühle gleichermaßen hervortreten. Je gelingender dieser innere Dialog stattfindet, umso offensichtlicher tritt zutage, wie sich diese oszillierende Bewegung in ihrer Selbststruktur immer wieder neu in Richtung Konstruktivität ausrichtet. Da aber »Therapie andauernd feindliche und antisoziale Gefühle aufdeckt« und sich damit erst

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einmal auf Ebene zwei bewegt, so vermutet Rogers, »fällt es leicht anzunehmen, daß man hier die tiefere und grundlegende Natur des Menschen sieht« (S. 100). Werden hingegen alle in einem Menschen aufsteigenden Gefühle seiner Gewahrwerdung in Personzentrierter Haltung zugänglich gemacht und damit in ihrer jeweiligen Qualität erkennbar, uneingeschränkt akzeptiert sowie in ihrer Einzigkeit gewürdigt, so wird als Folge dieses Selbsterfahrungsprozesses die fundamental-qualitative Einsicht in die Natur des Menschen freigesetzt, »daß diese ungezähmten und unsozialen Triebregungen weder die tiefsten noch die stärksten sind, und daß der innere Kern der menschlichen Persönlichkeit der Organismus selbst ist, der in seinem Wesen sowohl selbsterhaltend als auch sozial ist.« (S. 100 f.)

Als »Abwehrschichten« (S. 101) besitzen die destruktiv wirkenden Kräfte auf der mittleren Ebene zwischen der sozial-kontrollierten Oberfläche und der sozial-konstruktiv wirkenden tiefsten Schicht im Menschen eine wichtige Zwischen- und Mittlerfunktion. Sie werden als elementarer Bestandteil des menschlichen Resonanzkörpers verstanden. Isoliert betrachtet repräsentiert diese Schicht die vorhandene Destruktivität des Menschen. Wird sie hingegen als Schwingungsebene eines komplexeren Resonanzkörpers gesehen, so trägt sie dazu bei, menschliche Entwicklung zu fördern. Gefühle von Destruktion und Zerstörung werden als zum Menschsein dazugehörig verstanden, ohne darin allerdings den Menschen in seiner Bestimmtheit und im Wurzelgrund seines Seins erfassen und festlegen zu wollen. Sie bringen aber als eine eigene Qualität Erfahrungsinhalte ins Bewusstsein, die nur über Gefühle, die dieses destruktiv-aggressive Potenzial besitzen, Zugang zur Gewahrwerdung im Menschen erlangen. Sie qualifizieren den inneren Bewertungsprozess, indem sie zerstö­rerischen Erfahrungen aus Geschichte und Umwelt der Person auf dieser inneren Ebene des Menschen eine eigene Repräsentanz geben. Auch diese Erfahrungen haben ihren Ort im Menschen.

4  Zur inneren Dynamik des Selbst Während in diesem Schichtenmodell die erste Ebene eine nach außen gerichtete Oberflächenstruktur besitzt, die als kristallin verfestigt beschrieben werden kann, sind die Ebenen zwei und drei in einem »fließenden Sinne« (Rogers, 1973/2016, S. 181) vorzustellen. Die innere Struktur des Menschen befindet sich wesens­ mäßig in einer prozessualen Dynamik. Konstruktivität und Destruk­tivität wer-

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den als unterschiedliche innere Qualitäten verstanden. Sie besitzen ihre eigene Dignität und Bedeutsamkeit. Sie tragen zur Entwicklung der Person bei, wenn sie zueinander in Beziehung treten. Sie sind nicht als isolierte Schichten zu verstehen. Ihr Sinn erschließt sich erst, wenn ihre Beziehungsdynamik bewusstseinsmäßig nachvollzogen wird. Gefühle von Aggression und Sexualität rangieren als Ausdruck solcher innerer Qualitäten. Sie werden von Rogers bewusst nicht als Konstrukte manifest gemacht. Das würde eine vom Prozess unabhängige Deutungszuschreibung beinhalten. »Weder Aggression noch Sexualität […] haben […] eine konzeptualisierte Bedeutung. Sie sind Phänomene des Erlebens« (Stumm, 2012, S. 580). Die Flussmetaphorik verzichtet bewusst auf jede phänomenologische Beschreibung eines Unbewussten im Menschen. Den Menschen zu verstehen, bedeutet für Rogers, ihn in seiner prozessualen Bestimmtheit nachgehend verstehen zu wollen. Der Mensch wird als ein in Entwicklung befind­ liches Wesen verstanden, das die Strukturen seines Selbst durch seine aktualen Erfahrungen immer wieder neu anreichert. Diesem Prozess der Bewusstwerdung von bislang nicht Bewusstem wird von Rogers eine hohe Bedeutung beigemessen. »Zeigt der Therapeut Einstellungen wie tiefen Respekt […] für den Klienten, so wie er ist; steht er den Möglichkeiten des Klienten, mit sich selbst und seinen Situationen umzugehen, entsprechend gegenüber; sind diese Einstellungen von einer ausreichenden Wärme durchdrungen, die sie in Schätzung oder Zuneigung für das Wesen dieses Menschen wandelt; wird eine Mitteilungsebene erreicht, auf der der Klient beginnen kann, wahrzunehmen, daß der Therapeut die Gefühle versteht, die der Klient erfährt, und daß er ihn auf der tiefsten Ebene dieses Verstehens akzeptiert – dann könnten wir sicher sein, daß dieser Prozeß in Gang gebracht worden ist.« (Rogers, 1973/2016, S. 85)

Der Mensch bleibt darin gefährdet, dass er in seiner inneren Strukturbildung erstarrt und sich aus der Fließbewegung herauslöst. So wie ein Tier bei drohender Gefahr entweder in Schockstarre verfällt oder flieht, so kann auch im Menschen der Austauschprozess inneren Erlebens erstarren oder vermieden werden. Wesentliche Erfahrungen finden dann keine Symbolisierung im inneren Erleben. Die innere Struktur verliert an Resonanzfähigkeit und mutiert zu einem erstarrten Selbstkonzept. Auch diese Möglichkeit gehört zum Bild des Menschen und bildet oftmals den Ausgangspunkt für heilsame gesprächstherapeutische, qualifizierte Beratungsprozesse. Es besteht kein Automatismus, jene Qualitäten inneren Erlebens zu erreichen, die auf Ebene drei verortet sind. Diesen Zugang zu erlangen, bedeutet viel

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Arbeit. Berater und Ratsuchende stehen ständig in der Gefahr, auf der Ebene der Destruk­tionen hängen zu bleiben und dann in ihnen die Grundschicht des Wesens dieses Menschen zu sehen. Die Erfahrung aber zeigt, dass sich im polyphonen Misch-Klang divergierender innerer Instanzen und ihrer jewei­ ligen Töne unter einer Personzentriert gestalteten Beziehung langsam doch eine eigene Melodie herausbildet, in der diese Person für sich und für andere in ihrer unverkennbaren Originalität und Konstruktivität neu erklingt. Es kommt zum Einklang mit den konstruktiv wirkenden Kräften aus jener untersten Schicht. Es entsteht so etwas wie ein klangvolles Stück Musik. Der Mensch erklingt mit seinen Stimmen und seinen unverwechselbaren Worten. Diese wiederkehrende Beobachtung einer real wirksamen »Gesetzmäßigkeit und Ordnung« (S. 84) verdichtet sich zu einem Menschenbild, das in der Polyphonie der inneren Stimmen diese Tendenz zum Wohlklang erkennt, die allerdings kein »Hinaufgehen in das dünne Ideal« einer positiven Überhöhung des Menschen meint, sondern umgekehrt »ein Hinabsteigen in die erstaunlich solide Realität« bedeutet (S. 106), als Ausdruck einer tiefen Verwurzelung des Menschen im Grund des Lebens. Diese tiefste Schicht konstruktiver Empfindungen und Einstellungen des Menschen wird in dieser Vorstellung, darin die tiefste Schicht im Menschen zu sehen, als die konsistenteste Schicht angesehen. Sie geht nicht verloren.

5 Wenn der Mensch erklingt Versteckt im Inneren einer Geige steht der Stimmstock, genannt »die Stimme« oder im italienischen Geigenbau bezeichnet als »Anima«. »Es ist das kleine runde Hölzchen, das zwischen Boden und Decke gesetzt wird und beide Schwingungssysteme miteinander verbindet. Es entsteht eine Koppelung der Resonanzen, und nur so bekommen die Korpusresonanzen ihre notwendige Asymmetrie und der Steg den Widerstand, den er braucht, um tänzelnd auf der Decke zu schwingen.« (Schleske, 2014, S. 187)

Es sind drei Ebenen: Saite, Decke, Boden, die jeweils frei schwingend den Klang hervorbringen. Der Klang der Geige entsteht, weil drei Ebenen, in eine feste Beziehung gebracht, ihre Eigenschwingungen entfalten können. Mit der Geige tritt exemplarisch ein Modell vor Augen, wie Resonanzkörper in ihrem kon­ struktiv wirkenden inneren Zusammenspiel zu verstehen sind. Das Personzentrierte Menschenbild versteht den Menschen als einen solchen Resonanzkörper mit innerer Struktur und Gesetzmäßigkeit. Das gelin-

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gende Zusammenspiel gegenläufiger Schwingungen bestimmt das Wesen des Menschen. Nicht die Abwesenheit der Gegensätze, sondern deren gelingendes In-Beziehung-Treten als jeweils gleichberechtigte innere Instanzen, gehört zum Wesen des Menschen. Das entsprechende therapeutische Handeln fördert ein Wieder-In-Beziehung-Treten dieser gegenläufigen Schwingungen im Menschen. Dazu kommt, dem Anstreichen der Saiten einer Geige vergleichbar, der Begegnung von Therapeut und Klientin eine Schlüsselrolle zu. Die Art der Ausgestaltung dieser Beziehung entscheidet darüber, wie gut oder schlecht die inneren Resonanzebenen in Schwingung kommen. Den Empfindungen, Gefühlen und Symbolisierungen, die dem Destruktiven im Menschen entspringen, begegnen Seelsorgerin, Berater, Supervisorin und Coach mit derselben Achtsamkeit, Empathie, Akzeptanz und innerer Wahrhaftigkeit wie jenen Schwingungen, die aus der tieferen Ebene konstruktive und lebensförderliche Empfindungen hervorbringen. Es handelt sich um unterschiedliche, aber gleich beachtete Quali­ täten, die der Aktualisierung des menschlichen Organismus als spezifische Resonanzen dienen.

6 Das Vorwärtsgerichtetsein als ein Grundmerkmal des Menschen Der Mensch wird auf seiner tiefsten Ebene von Rogers als »sozial«, »rational« und »realistisch« sowie als »vorwärtsgerichtet« (s. o.) beschrieben. Diese von Rogers parallel gesetzten Beschreibungen lassen sich weiter ausdifferenzieren. Das Vorwärtsgerichtetsein des Menschen lässt sich als ein energetisches Moment verstehen. Es markiert die Vitalenergie des Menschen und beschreibt seine »Neigung zur Reorganisation seiner Persönlichkeit« (Rogers, 1973/2016, S. 49). Diese Energie zur Reorganisation speist sich aus der Aktualisierungstendenz. Diese begründet das wesensmäßige Vorwärtsgerichtetsein des Menschen und entspringt der tiefsten Schicht im Menschen. Dadurch werden – mal schleichend und zaghaft, dann wieder heftig und drängend – innere Repräsentanzen von Erfahrungen an die Oberfläche des Bewusstseins gebracht. Dabei tritt Konstruktives neben Destruktivem gleichermaßen hervor. Einmal ans Licht geraten, sind beide an Wucht, Macht und Präsenz gleich stark. In ihrer Wirkmächtigkeit gleichen sie sich. In ihrer Substanzhaftigkeit aber unterscheiden sie sich signifikant. Sie sind nicht gleich ursprünglich. Sie sind substanziell von unterschiedlicher Qualität. Diesen Aspekt beschreibt das Schichtenmodell, das in der Kategorie von Höhe und Tiefe denkt. Der Unterschied kommt in der therapeutischen Arbeit zum Tragen, sobald destruktive neben konstruktiven

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Emotionen in den Energieraum Personzentriert gestalteter Beratung gelangen. Während sich die destruktiven Kräfte zu pulverisieren beginnen, nehmen die konstruktiven Kräfte an Konsistenz zu. Es scheint, als wären sie, wie von Schlacke befreit, jetzt als geläuterte Qualitäten der Bewusstwerdung unverzerrt zugänglich, sodass sie nun von der inneren Bewertungsinstanz des Menschen als realer und damit auch als realitätskonformer und realistischer bewertet werden. Das Bild der Geige kommt hier an seine Grenzen, weil es diesen stofflichen Unterschied der unterschiedlichen Ebenen nicht erfasst. Die mittlere Ebene destruktiver Emotionen gehört zur Realität mensch­lichen Erlebens. Sie qualifiziert das Wesen des Menschen als ein corpus permixtum. Sie beschreibt aber nicht die Quelle menschlicher Vitalität. Die Vitalkraft des Menschen entspringt dort, wo das Konstruktive im Menschen verortet ist. Darum kann Rogers sagen, dass die an sich auf der sozial kontrollierten Oberfläche des Verhaltens anzusiedelnden Eigenschaften menschlicher Rationalität und Sozialität zur genuinen Wesensbestimmung des Menschen gehören. Sie verdanken sich dieser untersten und nachhaltigsten Qualitätsschicht, aus der die vorwärtsgerichtete Vitalkraft des Menschen fließt. Die menschliche Wesensbestimmung, sozial, rational und realistisch zu sein, ist zutreffend, setzt aber voraus, dass der Mensch aus dieser ursprünglichen tiefsten Vitalkraft heraus lebt. Die Rahmensetzung einer Personzentriert gestalteten Gesprächskultur ist damit als Voraussetzung mitgedacht, wenn Rogers die Qualität des mensch­ lichen Wesens dahingehend allgemein beschreibt. Sofern dies nicht gegeben ist, gehören Destruktivität und Asozialität ebenso zum realen Erscheinungsbild des Menschen. Rogers bilanziert: »Ich habe kein euphorisches Bild von der menschlichen Natur. […] Das Leben ist im besten Fall ein fließender, sich wandelnder Prozeß, in dem nichts starr ist.« (Rogers, 1973/2016, S. 42)

7  Das Phänomen des Bösen Wenn insbesondere in der frühkindlichen Entwicklung die Erfahrung von Zuwendung und Anerkennung im Leben ausbleibt, bildet der Mensch in seiner Selbstkonzeptionsentwicklung keine eigenen Strukturrepräsentanzen für seine Affekte und Erfahrungen aus, um sie kongruent zu symbolisieren. Aktualisierungs- und Selbstaktualisierungstendenz entwickeln Eigendynamiken, die keine Kongruenzerfahrungen entstehen lassen. Damit ein Kind unter sozial-­ abweisenden, kalt-distanzierten Umgebungsbindungen überhaupt psychisch überlebt, übernimmt es die Interpretationen dieser befremdend gewordenen relevanten anderen Personen. In seinem Selbst bilden sich sogenannte Intro-

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jekte aus (Burbach, I.1, S. 26 f. Kriz, 2007, S. 29). Dieser Befund einer tiefgehenden Störung der Selbstkonzeptionsentwicklung wird von Erkenntnissen der Bindungstheorie bestätigt (Burbach, I.1, S. 26) Sie fördert das Verständnis, wie aus Personzentierter Perspektive das Phänomen des Bösen zu verstehen ist. Mit seiner Geburt bildet der Mensch ein rudimentäres Selbst aus, das auf ein Gegenüber bezogen ist. Von der Geburt bis zum Tod ist der Mensch auf Bindungen angewiesen. Wird er verlassen, reagiert er mit Verlustängsten. Bindungserfahrungen stellen eine fundamentale Realität des Menschen dar, die in ihrer sozialen Qualität allerdings hinterfragbar sein muss. Dazu unterliegen Erfahrungen im menschlichen Organismus einem fein ausbalancierten Bewertungsprozess, der durch eine Balance organismisch und sozial organisierter Bewertungsinstanzen entsteht. In einer Kultur, in der eine bedingungsfreie positive Beachtung durch eine kongruente andere Person erlebt wird, realisiert sich diese Balance. Sie ist jedoch in dem Maß gefährdet, in dem sich das Bedürfnis nach positiver Beachtung durch eine andere Person nicht erfüllt. Ist etwa ein Kleinkind oder Säugling dauerhaft destruktiven Bindungserfahrungen ausgesetzt, so wird es sich dem nicht entziehen können, es sei denn, dass weitere Bezugspersonen in seinem Umfeld präsent sind und sich in einer Qualität für das Kind erreichbar machen, dass es diesen Beziehungen als einer tragfähigen Alternativkultur zu vertrauen beginnt. Sind die primären Bindungserfahrungen hingegen so geprägt, dass das Kind Ablehnung, Destruktivität bis hin zu traumatischen Erlebnissen etwa durch häusliche Gewalt erfährt, wird dieses Klima der Destruktivität im psychischen Organismus Spuren hinterlassen. Erfahrungen von Entwertung werden zum dominanten Skript des Selbst. Destruktive Bindungen werden zur Erfahrungs-Norm, die alternativlos erscheint. Das Kind sucht sie schließlich aktiv auf, selbst wenn sich inzwischen Alternativen auftun. Der in dieser Weise vom Leben beschädigte Mensch wird von Rogers als der verletzte Mensch beschrieben. Die Bindungsperson wird zur Quelle von Ängstigung und Verwirrung. Das Kind würde zugleich die Grundlage seines Überlebens einbüßen, wenn es diese Bezugsperson verlieren würde. Es ist diesen Bindungen ausgesetzt, die seine organismischen Aktualisierungen verschütten. Durch diese Verletztheit kann es sein Bedürfnis nach Anerkennung auch hilfreich bedeutenden Personen gegenüber nicht mehr verstehbar machen. Die Verletztheit des inneren Menschen lässt das Gefühl von Ohnmacht entstehen. Das Kind reagiert darauf mit dem Gefühl von Wertlosigkeit. Je nach Ausmaß solch schädigender Bindungen kann es dazu führen, dass der Mensch Impulse seiner organismischen Aktualisierung nicht mehr wahrnimmt. Es kommt zu einem Inkongruenzerleben. Durch seine Verletztheit verliert der Mensch seinen inneren Bezug dazu, dass es berechtigt sein kann, gesehen und ange­sehen sein zu wollen. Stattdessen über-

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nimmt ein erstarrtes Selbstkonzept die Kontrolle über seine Bedürfniswahrnehmung. Die Aktualisierungstendenz gerät u. U. unter die Dominanz dieses rigiden Regiments des Selbstkonzepts, sodass deren vorwärtsgerichtete Energie unter die Bedingung dieser destruktiven Bindungs­erfahrungen gerät. Dieses Muster artikuliert sich nun u. U. als ein anti-­soziales, un-realistisches und ir-rationales Verhalten. Die Verletztheit des Kindes prägt einen Charakterzug hoher Verletzbarkeit aus, bedingt durch eine erhöhte Vulnerabilität. »Ich weiß, daß Individuen aus Abwehr und innerer Angst sich unglaublich grausam, destruktiv, unreif, regressiv, asozial und schädlich verhalten können.« (Rogers, 1973/2016, S. 42) Rogers sah in dem Bedürfnis nach Anerkennung die Wurzel für Destruk­ tivität. »Der Wunsch nach Anerkennung durch andere könne stärker sein als das Bestreben, sich der eigenen organismischen Bewertung der Erfahrung bewusst zu werden.« (Biermann-Ratjen, 2012a, S. 81) Dies hat Auswirkungen auf die Bewertung all dessen, was als ein Erfolgserlebnis bewertet wird. Potenziell erschließt die Aktualisierungstendenz der Person weiterhin organismische Erfahrungen. Doch das rigide Ordnungsmuster des Selbstkonzepts verhindert nicht nur ihre Gewahrwerdung, sondern deutet sie um. Darin steckt das »Böse« als eine Fehlhaltung gegenüber der Würde der eigenen Person. In einem destruktiven Verhalten wird dies manifest. Das verletzte Kind wiederholt seine Verletzungen. Rogers denkt in Kategorien von Entwicklung. Darin gründet auch sein bleibendes Vertrauen in die Wachstumsfähigkeit des Menschen. Doch diese Wachstumsfähigkeit kann im Unterschied zu einem biologischen Determinismus gestört, verschüttet und irritiert werden. Es können isolierte Resonanzen als Subsysteme des Gesamtresonanzkörpers entstehen, sodass nur noch bestimmte Regionen der neuronalen Vernetzung aktiviert werden. Der Kontakt zum Ganzen emotionaler Verarbeitungsmöglichkeiten im Organismus scheint blockiert. Da Rogers von einer »geschichteten vertikalen Komplexität« des Organismus spricht (Rogers, 1973/2016, S. 115), kann man auch im Bild des Raumes sagen: Dem Resonanzkörper ist die Schwingungstiefe genommen. Ihm fehlt der Resonanzboden. Das Böse beschreibt die unvollendet gebliebene Beziehungsgestaltung des Menschen zu sich selbst, zu seinen Erfahrungen, seiner Umwelt und zu anderen Menschen. Dieses Wachstumsverständnis als einer anthropologischen Grundbestimmung des Menschen versteht Rogers in der Kategorie eines gelingenden oder fehlgeleiteten Dialogs. Die innere und die äußere Natur des Menschen sind dialogisch strukturiert, damit grundsätzlich störungsanfällig und angewiesen auf Interaktionsbedingungen, die es möglich machen, Erfahrungen des Selbst zu erschließen, damit sie in das Selbstkonzept integriert werden können.

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8 Die organismische Erfahrung als Quellcode

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Der Mensch sammelt ein Leben lang Erfahrungen. Erfahrungen beschreiben den Modus, in dem Widerfahrnisse und Fakten als Teil des Selbstkonzepts wahrgenommen und integriert werden, sodass sie entsprechend eingeordnet und bewertet werden können. Der Organismus ist fähig, dies alles zu erfassen und über lange Zeiträume zu bewahren, gleichsam lebenslang abzuspeichern und damit verfügbar zu haben. Der Mensch besitzt die Fähigkeit zum »Erfahren der Erfahrung« (Rogers, 1973/2016, S. 87). »Erfahrung ist für mich die höchste Autorität« (S. 39), bekennt Rogers und versucht, »bedeutsame Erfahrungen in eine innere Ordnung zu bringen.« (S. 40) In der bewusstseinsmäßigen Verarbeitung von Erfahrungen werden Gefühle und alle im Organismus sich manifestierenden Empfindungen in den sprachlich-kulturell geprägten Bewusstseinsraum überführt. Der Fluss dieser Erfahrungen verdichtet sich zu einem lebendigen Selbstkonzept. Dieses gibt Auskunft darüber, wie der Mensch sich selbst, die anderen und seine Umwelt sieht und versteht. Die Fähigkeit des Menschen, Erfahrungen seinem Bewusstsein zugänglich zu machen, versetzt ihn in die Lage, diesen fließenden Prozess der inneren Bewertung seiner Erfahrungen durch immer neue Hypothesenbildungen über sich selbst, andere und seine Umwelt zu überprüfen und zu gestalten. Er kann seine bisherigen Bewertungen auf ihre Konsistenz hin überprüfen, sie verwerfen oder neu formulieren. Der Mensch kann autonom Auskunft zur aktuellen Deutung seiner selbst geben. »Der Mensch wird das, was er ist […]. Das heißt anscheinend, daß der einzelne – im Bewußtsein –, das wird, was er – in der Erfahrung – ist.« (S. 111) Vergleichbar einem seismographischen Frühwarnsystem liefert der Organismus dem Bewusstsein des Menschen ständig Bewertungen seiner aktuellen Erfahrungen. Stimmt sein Selbstkonzept mit den aktuellen Erfahrungen überein, befindet sich der Mensch im Stadium der Kongruenz. Dem Organismus wird von Rogers dabei als Äquivalenz zur Variablen der Echtheit in der Gesprächsführung die Fähigkeit zur Untrüglichkeit zugeschrieben. Es bleibt zwar möglich, dass die Gewahrwerdung organismischer Erfahrungen nur verzerrt gelingt sowie es auch passieren kann, dass die Realität von der Person entsprechend nur verzerrend wahrgenommen wird. Dann befindet sich der Mensch im Stadium der Inkongruenz. Solange alle Erfahrungen in das bestehende Selbstkonzept integrierbar sind und darin ihre symbolische Repräsentanz finden, befindet sich der Mensch im Zustand der Kongruenz. Durch die fluide Struktur seines Selbst bleibt die Fähigkeit des Menschen erhalten, immer wieder in den Zustand kongruenten Erlebens zu gelangen.

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In seiner Potenzialität bleibt der Mensch gegenüber Veränderungen in seiner Umwelt ein Leben lang anpassungsfähig. Nur wenn Erfahrungen keinen Zugang zum Selbstkonzept finden, gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht. Dann erweist sich sein Bewusstsein als verarbeitender Resonanzraum gegenüber den Erfahrungen als unzugänglich. Das Selbst erstarrt. Auch dies gehört zum Bild des Menschen, dass er durch ein erstarrtes Selbstkonzept neue Erfahrungen nicht mehr adäquat erfasst bis dahin, dass er in einen kontextlos vegetierenden Status verfällt, in dem die Fähigkeit zum lebendigen Selbstausdruck gänzlich verloren zu gehen droht. »Wenn der Mensch kein vollständiger Mensch ist – wenn er seinem Bewusstsein verschiedene Aspekte seiner Erfahrung verweigert – dann haben wir in der Tat allzu oft Grund, ihn und sein Verhalten zu fürchten.« (Rogers, 1973/2016, S. 112) Auch in diesem Stadium wirkt der Organismus als belebende Größe weiter. Er ist vergleichbar mit einem Quellcode. Der Organismus sendet weiter verlässlich alle Informationen an das Bewusstsein zum aktuellen Stand gegenwärtiger Erfahrungen. Auch wenn das Bewusstsein diese gegenwärtig nicht verarbeiten kann, stellt der Organismus weiter dieses Potenzial bereit, aus dem heraus der Mensch in den Status seiner fluiden Entwicklungsmöglichkeit zurückgelangen kann. Es gibt für das Personzentrierte Menschenbild grundsätzlich keinen hoffnungslosen Fall. Die Fähigkeit zur organismischen Erfahrung bleibt im Menschen erhalten, solange er lebt. Sie liefert das Potenzial, an das therapeutisches und beraterisches Handeln anknüpfen. »Wenn ich ihn als einen Menschen im Prozeß des Werdens ansehe, dann trage ich meinen Teil dazu bei, seine Potentialitäten zu bestätigen oder real werden zu lassen.« (S. 69) Die Entwicklung des Menschen kann von außen nur angeregt werden. Sie erfolgt von innen und gestaltet sich als eine Bewegung, deren Richtung von unten nach oben weist. Im Unterschied zu allen diagnostischen und deutenden Zugängen zum Menschen ist der Verstehensweg des Personzentrierten Ansatzes konsequent von diesem Bild des Menschen geprägt. Aus dem tiefsten Wesen des Menschen heraus schafft der Organismus selbst die notwendige innere Öffnung und Bereitschaft, die Entwicklung und Veränderung möglich machen. Das Personzentrierte Bild vom Menschen ermutigt zu einem Begleitungsweg, Schicht um Schicht, an Abgründen entlang, mit der Person hinab zu steigen, um ihr im Verstehen ihres inneren Erlebens bis zu diesem tiefsten Punkt zu folgen. Befördert wird menschliche Entwicklung durch eine solche Haltung, die dafür offen ist, dem eruptiven Strom innerer Kräfte auf ihrem Weg ans Licht begleitend zu folgen und dabei bis zum Quellgrund dieses Stroms hinabzusteigen, begründet in dem Vertrauen, dass dort das Humanum des Menschen gegründet liegt. Um diesen Schatz zu heben, ist es notwendig, dass Seelsorger, Supervisorin, Coach oder Bera-

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terin die dafür notwendigen wachstumsförderlichen, d. h. angstminimierenden Bedingungen schaffen und in dieser Empathie das Verbalisieren von Erfahrungen akzeptierend und wahrhaftig unterstützen. Sie stärken die Entwicklung der ratsuchenden Person, indem eine Veränderung des Selbstkonzepts möglich wird.

9  Das Zusammenspiel von Aktualisierung und Beziehung

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Die Reorganisationsfähigkeit des Selbstkonzepts (Burbach, I.1, S. 26) verdankt sich einer inneren Kraft, die als die Aktualisierungstendenz des Organismus näher beschrieben wird. Sie ermöglicht, dass sich in jeder Begegnung mit der Umwelt die organismische Erfahrung des Menschen neu aktualisiert. Das Bewusstsein kann sie erfassen und gleicht diese bewusstseinsfähigen Erfahrungen mit dem bisherigen Selbstkonzept ab. Neue oder bisher nicht bewusstseinsfähige Erfahrungen finden Zugang, indem es zu einer Aktualisierung des Selbstkonzepts kommt. Die Aktualisierungstendenz ermöglicht ein fortlaufendes Update des Selbstkonzepts. Dieses gelingende Zusammenspiel erfolgt als autopoietisch ablaufender Prozess. Er sichert die Autonomie des Menschen und markiert damit die Substanzhaftigkeit des menschlichen Wesens. Veränderungspotenziale wie auch ihre Umsetzung werden durch die Aktualisierungstendenz im Menschen gleichermaßen generiert wie realisiert. Die gelingende Integration aktualisierter Erfahrungen in das Selbstkonzept versetzt den Menschen in die Lage, autonom und verantwortlich die Interaktion mit seiner Umwelt aktiv als »Assimilation (die Welt sich anpassen) und Akkomodation (sich der Welt anpassen)« (Kriz, 2012, S. 148) zu gestalten. Im Wesen des Menschen ruht eine »selbstorganisierte Entwicklungsdynamik von einer symptomatischen in eine weniger belastende Prozessstruktur« (S. 152). Der Mensch verfügt über dieses selbststeuernde Potenzial. Er ist fähig zu autonom-verantwortlichem Handeln. Er kann hervorbringen, was in ihm substanzhaft angelegt ist. Der Mensch besitzt die dafür notwendige dynamische Potenz, um die Potenzialität seiner substanzhaften Natur aktualisieren und beleben zu können. Diese Aktualisierungstendenz realisiert sich aber nicht kontextlos. Sie wird erst durch Resonanz mit der Umwelt möglich. Das Aussich-­Heraustreten-Können des Menschen als Ausdruck seiner Existenz bildet die notwendige komplementäre Seite zu seinem substanzhaften Dasein. Erst seine Begegnung mit einer für ihn bedeutenden Person erweckt im Menschen jene Aktivität, ein Bild seines Selbst zu aktualisieren. »Wer bin ich?« wird für den Menschen erst an der Frage: »Wer ist der andere für mich?« und »Wer bin ich für ihn?« aktuell und beschreibbar.

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Zum Bild des Menschen gehört immer auch das Bild, das er sich von der Beziehung zu sich, den anderen und seiner Umwelt macht. Die Erfahrungen, die der Mensch in diesen Beziehungen sammelt, machen es möglich, bzw. sie verstärken oder verhindern, dass sich das Selbst in seinen konstruktiven Kräften aktualisiert. »In der Sicherheit, die eine Beziehung […] gewährt, beim Fehlen jeglicher wirklichen oder angedeuteten Bedrohung für das Selbst, kann es sich der Klient erlauben, verschiedene Aspekte seiner Erfahrung zu untersuchen, so wie er sie wirklich empfindet, so wie seine Sinnesorgane und seine Physis sie erfassen, ohne sie verzerren zu müssen, damit sie dem vorherrschenden Begriff des Selbst entsprechen.« (Rogers, 1973/2016, S. 87)

In diesem Spannungsfeld interpersonaler Begegnung und organismischer Selbstwerdung zeigt sich der Mensch als konstruktiv und sozial. Das Personzentrierte Menschbild postuliert damit kein hohes Ideal vom Menschen. Es postuliert ein reales Bild vom Menschen, wie er es aus der Tiefe leidvollen Durcharbeitens divergierender innerer Kräfte in immer größere Klarheit über sich selbst aufsteigen sieht. Das von Rogers formulierte Zielbild einer »Fully Functioning Person« (Burbach, I.1, S. 28) beschreibt dieses überraschende Potenzial, eines auf allen Ebenen seines Erlebens schwingungsfähigen Menschen. Er kann in sich Resonanzen spüren, dabei auch Irritierendes zulassen und ermöglicht in seiner Beziehungsgestaltung Resonanzbildungen bei anderen und zwischen ihnen und sich. Während eine Geige immer erst gespielt werden muss, um zu erklingen, stellt der Mensch ein eigenschwingendes sowie ein mitschwingendes System dar. Der Mensch schwingt, solange er lebt. Seine Potenzialität zur Entwicklung bleibt ihm erhalten. Darin gründet das Primat der Konstruktivität im Wesen des Menschen.

10  Zur Widerständigkeit der Person Auf der Basis des abendländischen Personbegriffs steht hinter dem Personzentrierten Bild vom Menschen ein Begriff von persona, der sich der Entfaltungsfähigkeit des Menschen verschrieben hat (dazu Schmid, 1995, S. 112–118). Individuen wirken auf ihre Systeme ein. In ihrer Verbform bedeutet personare »die Stimme durch die Maske erschallen lassen« (Moreschini, 2016, Sp. 311). Die Person wird sichtbar, indem sie in jeder Interaktion oder Wahrnehmung einer Rolle etwas Persönlichkeitsspezifisches hörbar werden lässt.

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Tilman Kingreen

Das Personzentrierte Menschenbild akzentuiert dieses auf Autonomie, Selbstständigkeit, Einzigartigkeit, Würde und Souveränität der Person ausgerichtete Verständnis des Menschen. Die Person geht nicht auf in der Sozialität. Sie behält etwas Eigenes und bleibt dabei auch immer mehr als das, was sie für sich und für andere aktuell in der Beziehung erlebt, spürt und zur Darstellung bringen kann. Zur Aufrechterhaltung von Autonomie und Selbstwerdung als Beschreibung der Substanzhaftigkeit der Person gehört konstitutiv auch die relationale Dimension der Person, die sich in Verantwortungsübernahme, Solidarität, System­bezug und einem auf Beziehung ausgerichteten Bild vom eigenen Leben realisiert. Für den Personzentrierten Personbegriff ist es charakteristisch, dass die substanzhafte und die relationale Dimension der Person als einander ergänzend und zusammengehörig verstanden werden. Die darin bestehende Spannung wird als ein kreatives Potenzial gedeutet. Im Personzentrierten Bild vom Menschen wird das Individuum konstitutiv als Sozialität gedacht, das sich produktiv in Originalität realisiert.

11 Aus-Klang »Eine gute Geige wird sich dem Menschen nie unterwerfen, sie wird mit ihm auf Augenhöhe sein.« (Schleske, 2014, S. 52) Als Wegbereiter der Humanistischen Psychologie prägte Rogers die Beratungspraxis durch den Entwurf eines Menschenbildes, das den Menschen als ein in sich stimmiges und differenziert wirkendes Resonanzsystem vor Augen führt. Dieses Bild vom Menschen findet heute durch Neurowissenschaften und Resonanztheorien (Burbach, I.1, S. 34 sowie Lux, I.4) auf vielfältige Weise Bestätigung. Rogers brachte ein Bild vom Menschen hervor, das geprägt ist von Würde und Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe. Vor diesem Bild verantworten sich Personzentrierte Seelsorge und Beratung, Supervision und Coaching. Sie vollziehen sich als Begegnung auf Augenhöhe in Ehrfurcht vor dem Gewordensein der und des anderen. Sie würdigen sein Potenzial, trauen dem, was sich in der Person repräsentieren will, und bleiben doch auch wachsam im Aufspüren von Inkongruenzen, denn sie wissen um deren Zerstörungsdynamik. Mit der Geige als Metapher sollte verdeutlicht werden, wie eine Begleitung von Menschen aussehen muss, die sich diesem Menschenbild verpflichtet weiß. Es geht um die kunstvolle Gestaltung von Begegnung. Sie ist wie ein Handwerk erlernbar, erfordert Sensibilität und duldet kein schlampiges Spiel. Das Personzentrierte Menschenbild als anthropologischer Bezugsrahmen for-

Was ist der Mensch?

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dert in der professionellen Ausgestaltung von Beziehungen den radikalen Verzicht auf jedwede Form von Macht gegenüber der ratsuchenden Person. Das Vertrauen in die Selbstwerdung des anderen gründet in diesem Bild vom Menschen. Es fordert von professioneller Seite Kraft und Entschlossenheit, Gründlichkeit und Langmut, um die in diesem Menschenbild begründete Rahmensetzung aufzubauen und durchzuhalten, in der eine Personzentrierte Haltung überhaupt realisiert werden kann. Das Menschenbild gibt dieser Arbeit ihre Prägung als einem von Empathie und Empowerment geprägten Begleitungsangebot. Das Bild vom Menschen setzt frei, was im jeweiligen Prozess möglich gemacht wird. Realisiert wird ein Stück Menschwerdung des Menschen gemäß dem Bild, das in ihm angelegt ist. Dies zur Entfaltung zu bringen, bleibt seine Chance und Aufgabe.

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Joachim Schlör

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»Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit« oder »A way of being« übersetzt mit »Der neue Mensch«, »On personal power, inner strength and its revolutionary impact« deutsch »Die Kraft des Guten« oder »Freedom to learn«, so lauten einige Titel der Bücher von Carl R. Rogers. Setzt man die Überschriften in Verbindung zu den Erscheinungsjahren von 1977 bis 1983 und berücksichtigt die USA als Ort der Entstehung, dann könnten sie leicht in die Ecke des »anything goes« und der Euphorie über die Möglichkeiten der Psychologie in der NachHippie-Zeit rücken und uns nostalgisch verzücken, wie ein paar alte Fotografien von vielen Menschen auf dem Woodstock-Festival. Alle Menschen könnten sich mögen und lieben, Friede schien möglich, die Kraft des Guten greifbar nahe und der neue Mensch mit etwas psychologischer Hilfe bald da. Der Ansatz wurde und wird teilweise als naiv, als zu optimistisch angesichts der Welt, als nicht wirklich seriös belächelt, abgewertet oder nicht so ganz ernst genommen. Was hat den Menschen Carl R. Rogers dazu gebracht, diesen gegenüber den damals vorherrschenden Therapieformen wirklich völlig anderen Zugang zu formulieren? Zunächst ein Blick auf sein Leben (vgl. Schlör, 1994, S. 65 ff.).

1  Ein biografischer Überblick Carl Ransom Rogers wurde am 8. Januar 1902 in Oak Park, einem Vorort von Chicago, geboren. Er war das vierte von sechs Kindern, der mittlere von fünf Brüdern, sein Vater war ein wohlhabender Geschäftsmann. Harte Arbeit und ein sehr konservativer, fundamentalistischer Protestantismus bestimmten das Familienklima. Als er dreizehn Jahre alt war, zog die Familie auf eine Farm, zum einen als Hobby des Vaters, zum anderen um die Familie und die Jugendlichen von den Versuchungen des Kleinstadtlebens fernzuhalten. Im Anschluss daran entwickelte sich Rogers’ Interesse an der Landwirtschaft, er begann 1919 an der Universität von Wisconsin das Studium der Agrarwissenschaften. Nach zwei

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Jahren wechselte er das Studienfach und studierte Geschichtswissenschaften, in diese Zeit fiel 1922 ein sechsmonatiger Chinaaufenthalt und der Besuch einer World Student Christian Federation Conference. 1924 in dem Jahr, in dem er seine Jugendfreundin Helen heiratete, besuchte er das Union Theological Seminary in New York und war sich sicher, dass er seine Arbeit in den Dienst des Christentums stellen wollte. Doch im Laufe des Theologiestudiums am liberalen Union Seminary änderte sich seine Einstellung und er wechselte zur Psychologie und Pädagogik, ging ans Teachers College der Columbia University, fand in William H. Kilpatrick einen ausgezeichneten Lehrer und kam so mit den Gedanken Deweys der Erziehung in und zur Demokratie in Berührung. Zur gleichen Zeit arbeitete er an einer Erziehungsberatungsstelle. Er machte einerseits Erfahrungen mit der Theorie am Teachers College und andererseits mit den dynamischen Ansätzen Freud’scher Psychologie von Seiten seiner Kollegen. 1926 bekamen die Rogers’ ihr erstes Kind, David, das Rogers nach damals modernen behavioristischen Regeln aufziehen wollte, doch seine Frau bewahrte das Kind vor »all diesem zerstörerischen psychologischen Wissen«. Noch vor Beendigung seiner Dissertation trat er eine Stelle am Institut for Child Guidance in Rochester als Psychologe in der entwicklungspsychologischen Abteilung der Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Kindern an. Im Zusammenhang mit seiner Dissertation entwickelte er einen Persönlichkeitstest für junge Menschen. 1931 erhielt er seinen Doktortitel an der Columbia University im Wesentlichen für den entwickelten Test für Persönlichkeitsmessungen von Kindern zwischen neun und dreizehn Jahren (Rogers, 1931). Später wurde er Direktor des Guidance Center, wo er insgesamt zwölf Jahre, also bis 1939 blieb. Die inhaltlichen Auseinandersetzungen dieser Zeit sind teilweise in seinem Buch »The clinical treatment of the problem child« beschrieben. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Darstellung der Praxis der Child Guidance Clinic sowie um einen Überblick der verschiedenen Methoden der Behandlung von Kindern. Außerdem ist das Buch von der Abgrenzung der Alleinherrschaft der orthodoxen Psychoanalyse geprägt. Die »relationship therapy«, eine auf psychoanalytische Wurzeln zurückgehende Therapie, die den Beziehungsaspekt stark in den Vordergrund stellt und der Willenstherapie von Otto Rank, bei dem er ein mehrtägiges Seminar besuchte, entstammt, beschäftigte ihn ebenso wie das Reflektieren seiner praktischen Erfahrungen, vor allem das Scheitern von Beratungssituationen. Rogers arbeitete zu dieser Zeit wohl eher eklektisch-enzyklopädisch, betrachtete Fälle unter verschiedensten Perspektiven und deutete die Resultate aus diversen Vorverständnissen heraus. »Bis zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, daß meine Schriften im wesentlichen Versuche darstellten, die Prinzipien deutlicher herauszufiltern, nach denen ohnehin ›alle

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Kliniker‹ arbeiteten.« (Rogers, 1959, S. 13) Dies mag zur nächsten Phase seiner Auseinandersetzung geführt haben, nämlich der mit der Psychologie. An der Universität in Rochester und in der American Psychological Association herrschten die Laborexperimente mit Ratten vor und seine Arbeit wurde als unwissenschaftlich angesehen. In Soziologie und Erziehungswissenschaft hielt er Vorlesungen und entwickelte ein starkes Interesse an der Frage der Empirie in seiner Arbeit. Einen im Dezember 1940 erschienenen Aufsatz »Alte und neue Standpunkte in Beratung und Psychotherapie« bezeichnete Rogers als den ersten bewussten Versuch, eine relativ neue Richtung zu entwickeln. Diesem Aufsatz stellte er zwei Jahre später die Hypothese voran:

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»Wirksame Beratung besteht aus einer eindeutig strukturierten, gewährenden Beziehung, die es dem Klienten ermöglicht, zu einem Verständnis seiner selbst in einem Ausmaß zu gelangen, das ihn befähigt, aufgrund dieser neuen Orientierung positive Schritte zu unternehmen.« (Rogers, 1942, S. 28) (Übersetzung der eng­ lischen Texte ins Deutsche: J.Sch.)

Von 1940 bis 1945 war Rogers Professor an der Ohio State University; das positive und negative Echo auf den erwähnten Aufsatz bewogen ihn dazu, seine Gedanken in einem Buch zu veröffentlichen. Das 1942 erschienene Buch Counseling and Psychotherapy (dt. Die nicht-direktive Beratung) wird allgemein als der Beginn der Theorie der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie angesehen. Außer dem komplett dokumentierten Fall Herbert Bryan enthält das Buch, der Hypothese entsprechend, viele Fragen des therapeutischen Settings und die Frage nach direktiv – nicht-direktiv. Die drei später formulierten Bedingungen (Empathie, bedingungslose positive Wertschätzung, Echtheit) finden sich hier explizit noch nicht. In den Jahren 1944 bis 1945 bildete Rogers psychologische Betreuer für Kriegsheimkehrer in New York aus und war kurze Zeit an der University of Ohio. Anschließend wurde er an die University of Chicago berufen und blieb dort zwölf Jahre lang. In dieser Zeit entstand das Buch »Client-centered therapy. Its current practice, implications and theory« und der schon eher abgrenzende Aufsatz »The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change«, in dem er die therapeutischen Bedingungen genauer definierte. 1957 wechselte er an die University of Wisconsin, wo er ein Projekt zur Behandlung Schizophrener startete. In der Zeit bis 1961 legte er seine Persönlichkeitstheorie nieder und arbeitete an dem Buch »Entwicklung der Persönlichkeit«, welches er später als sein Lieblingsbuch bezeichnete. Es handelt sich um eine Zusammenstellung wesentlicher Aufsätze zu den Bereichen: hilfreiche Beziehungen, der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, die Philosophie

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der Persönlichkeit, empirische Forschungen und die Implikationen für Leben, Mensch und Verhalten. Mit dem Wechsel 1964 in das in Gründung befind­liche Western Behavioral Science Institute in San Diego in Kalifornien änderten sich auch seine inhaltlichen Schwerpunkte. Von der Universitätsarbeit entlastet, widmete sich Rogers den Konsequenzen seines Personzentrierten Ansatzes (PzA) außerhalb der Therapie. Nach Entwicklungen zur stärkeren Bürokratie und Hierarchie am Institut gründeten 1968 etwa vierzig Kollegen das Center for Studies of the Person (CSP), ebenfalls in La Jolla, Kalifornien, dem Rogers bis zu seinem Tod als »Resident Fellow« angehörte. Er beschäftigte sich mit Gruppen, Paaren, politischen Konfliktfeldern, wie Ost-West Problematik, Rassismus in den USA und Südafrika, hielt Workshops in Japan, Mexiko und Nordirland. Ein weiteres Thema der späteren Jahre war Lernen und Bildung in gesellschaftspolitischer Sicht. Rogers kritisierte das gesamte Bildungssystem als undemokratisch und prägte den Begriff des selbstinitiierten signifikanten Lernens, das in Systemen derzeitiger Bildung geradezu verhindert würde. Er widmete sich verstärkt dem, seiner Ansicht nach, revolutionären politischen Einfluss des PzA. Seine Schüler unternahmen zahlreiche empirische Untersuchungen, um die Theorie zu überprüfen und konnten sie größtenteils stützen. Als seine Frau krank wurde, pflegte er sie bis zu ihrem Tod 1979. In dieser Zeit wandelte sich seine Einstellung zu seinem eigenen Tod, von einer Sicht des Todes als dem Ende zu einer offeneren Sicht mit teilweise östlich religiösem Einschlag. Es folgte eine ziemlich arbeitsintensive Phase, in der Rogers viel herumreiste und sehr vital und beziehungsfreudig war. Um seinen 85. Geburtstag schrieb er noch einen Aufsatz, in dem er sich über sein Leben und seine Erfolge freute. Als es ihm gesundheitlich schlechter ging, erfuhr er von seiner Nominierung zum Friedensnobelpreis. Er starb später relativ schnell, wie er es sich gewünscht hatte, am 4. Februar 1987. Das Leben von Carl R. Rogers ist ziemlich gut dokumentiert. Über weite Strecken seines Lebens hat er, schon als Jugendlicher, Tagebuch geschrieben und zumindest die Jugendtagebücher seinem Hauptbiografen Howard Kirschenbaum noch zu Lebzeiten zur Verfügung gestellt. Die erste sehr ausführliche Bio­grafie von Kirschenbaum entstand im Jahre 1979 als Rogers 77 Jahre alt war. Fast alle anderen Biografien1 beziehen sich hauptsächlich darauf. Daneben gibt es mehrere autobiografische Aufsätze von ihm und 1 Kirschenbaum, 1979; Cohen, 2000 (dieser ergänzt die letzten Jahre); Hinz u. Behr, 2002 Außerdem kurze Biografien seiner Mitarbeiter Raskin, o. J.; Gendlin, 1988. Weitere: Thorne, 1992, deutsche Kurzbiographien Schmid, 1995; Zottl, 1980; Bommert, 1979; französisch ausführlicher Peretti, 1974. Lück, 2016, S. 249 formuliert in »Die Psychologische Hintertreppe« überspitzt, dass es bei Carl Rogers eigentlich überhaupt keiner Hintertreppe und biografischer Erklärungen bedürfe, weil Schriften und Ansatz so transparent, kongruent und autobiografisch seien.

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eine oral history in der er ein Jahr vor seinem Tod erzählend auf sein Leben zurückblickt. Somit gibt es relativ viele Quellen, in denen er selbst beschreibt oder von Schülern beschrieben wird, wie er den PzA entwickelte (als weiterführende autobiografische Lektüre ist Rogers, 1955, deutsch als Kap. 1 in 1973/2016 und als biographische Schmid, 1995 oder Hinz u. Behr, 2002 empfehlenswert). Rogers hat sich zentral mit Persönlichkeitsentwicklung des Menschen beschäftigt und dort vor allem ein wesentliches Bedürfnis betont: das Bedürfnis nach Anerkennung, echtem Verstehen und Wertschätzung (»need for positive regard«), damit der Mensch sich entwickeln, verändern, heilwerden und wachsen kann. Diese Erfahrung ist für Menschen lebenslang notwendig. Der PzA kann diese Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen und fördern. Wie kam Rogers dazu? Zwei Aspekte sollen im Zusammenhang dieses Buches über Personzentrierte Seelsorge exemplarisch aufgegriffen und entfaltet werden: Carl R. Rogers als Empiriker und Carl R. Rogers als Theologe. Beide Aspekte reichen biografisch in die erste Lebenshälfte von Rogers, also in die Zeit vor der expliziten Ausformulierung seiner Theorie und Praxis des PzA in Psycho­therapie, Paarbeziehung, Gruppe, Spannungsfeldern und zukunftsfähigem Leben. Es soll der Versuch sein, zwei Merkmale hervorzuheben, die sozusagen in der Wiege des PzA liegen. Die Auswahl dieser beiden Aspekte zielt auf eine mögliche Übersetzung und Aktua­lisierung ursprünglicher Ideen des Gründers in eine systematisch und subjektiv durchdachte Personzentrierte Seelsorge.

2  Carl R. Rogers als Empiriker Empirie ist bei Rogers’ (Selbst-)Darstellungen ein zentraler Begriff und zwar in drei Linien: 1. Empirie als (damals) neue Methode in der Psychotherapie, also die wissenschaftliche Auswertung von Aufzeichnungen therapeutischer Prozesse. 2. Empirie als Reflexion eigener Erfahrung in hilfreichen und weniger hilfreichen Prozessen. 3. Empirie als Extraktion oder Destillation der wesentlichen Merkmale von Persönlichkeitsveränderungen durch Psychotherapie. 2.1  Empirie als neue Methode in der Psychotherapie Rogers sah sich in den 1930er-Jahren als Pionier der Psychotherapieforschung, er wollte genauer verstehen, was in einer Psychotherapie vor sich geht. Deshalb

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hat er, transparent und unter Wahrung der Verschwiegenheit, sehr viele thera­ peutische Sitzungen aufgenommen, damals auf Schellackplatten als Tonträger. Diese hat er mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern analysiert und ist auf diese Weise, so eine seiner späteren Selbstdarstellungen, auf die Personzentrierten Haltungen gestoßen. In den folgenden Jahrzehnten arbeitete er mit Tonbandaufzeichnungen, dann mit Film- und Videoaufzeichnungen, immer wieder hat er versucht, Transparenz und Forschung in den geschützten Bereich des therapeutischen Settings zu bringen. Akribisch hat er die therapeutischen Sitzungen archiviert, mit Kollegen und Kolleginnen besprochen, ausgewertet und teilweise als Lehraufnahmen zur Verfügung gestellt. In den Bibliotheken und im Carl-Rogers-Institut in La Jolla bei San Diego in Kalifornien sind viele der Audio- und Videobänder der Forschung zugänglich. Einige davon sind über die Homepage des Instituts zu bekommen, manche sind inzwischen auch auf Youtube zu sehen. Schon in seinen frühen Büchern sind komplette Therapieverläufe dokumentiert und auch in späteren Aufsätzen sind immer wieder größere Passagen mit wörtlichen Äußerungen von Therapeut und Klientin. In den dann folgenden Jahren hat er in Workshops und Ausbildungsveranstaltungen »Demonstrations­interviews«, wie er sie nannte, geführt. Das waren therapeutische Gespräche mit Menschen aus diesen Workshops, die sich zur Verfügung stellten und vor den anderen Teilnehmenden, teilweise mehrere hundert, mit Rogers über ihr Leben und ihre Schwierigkeiten sprachen. Anschließend klärte Rogers zusammen mit dem Klienten und durch Fragen mit den anderen Workshopteilnehmerinnen, was ihrer Meinung nach in dem Gespräch hilfreich oder weniger hilfreich war. 2.2  Empirie als Reflexion eigener Erfahrung Empirie als Reflexion der eigenen Erfahrung: Rogers schrieb immer wieder Falldarstellungen und führte sie gleichzeitig als Belege für sein »Lernen aus der eigenen Erfahrung« an. Einige dieser Fallbeschreibungen kreisen um das Thema Scheitern und Ohnmacht. Sie haben, teils nur entfernt, mit psycho­ analytischen Theoriestücken zu tun. Die erste Erfahrung wurde von Rogers oft beschrieben und ist quasi als seine Schlüsselerfahrung bekannt. Er war Direktor des Rochester Guidance Center geworden und behandelte eine intelligente Mutter mit ihrem sehr schwierigen Sohn, als »ein rechter kleiner Teufel« beschrieb ihn Rogers. Er selbst »ermittelte die Fallgeschichte, während ein anderer Psychologe den Jungen testete. Wir kamen beide zu der Überzeugung, daß das Hauptproblem in der ablehnenden

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Haltung der Mutter ihrem Sohn gegenüber lag. Wir beschlossen, daß ich mit der Mutter dieses Problem bearbeiten, mein Kollege mit dem Jungen eine Spieltherapie durchführen sollte. In vielen Gesprächen versuchte ich – aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen nun schon viel sanfter und freundlicher – der Mutter zu helfen, Einsicht in ihr Verhalten und die daraus folgenden negativen Auswirkungen auf ihren Jungen zu gewinnen […]. Alles zwecklos. Nach ungefähr zwölf Gesprächen sagte ich ihr, wir hätten ja nun beide einen Versuch gemacht, ohne jedoch wirklich etwas zu erreichen, und wir sollten das Ganze wahrscheinlich aufgeben. Damit war sie einverstanden. Als sie dabei war, den Raum zu verlassen, drehte sie sich um und fragte: ›Beraten Sie hier auch Erwachsene?‹ Verwirrt antwortete ich, daß dies manchmal der Fall sei. Woraufhin sie zu ihrem Stuhl zurückkehrte, die Geschichte ihrer Schwierigkeit zwischen ihr und ihrem Mann hervorsprudelte und von ihrem großen Bedürfnis nach Hilfe sprach. Ich war vollständig überwältigt. Was sie mir da erzählte, ähnelte in keiner Weise der glatten Geschichte, die ich ihr entlockt hatte. Ich wußte kaum, was tun, also hörte ich erst einmal zu.« (Rogers u. Rosenberg, 1977, S. 191)

Rogers war der Klientin gefolgt, statt ihr seine Diagnose beizubringen. Die therapeutische Beziehung zwischen ihm und der Klientin entwickelte sich positiv und die Schwierigkeiten mit Mann und Sohn nahmen ab. Laut Selbstdarstellung am Ende dann doch eine gelungene Therapie. Rogers hatte erfahren, dass allein sein Wissen im Umgang mit der Frau nicht genügte; Wissen, das für Rogers bisher meistens zu einer Lösung geführt hatte. Rogers reflektiert das an anderer Stelle auch wiederum biografisch. »Einem gestörten, konfliktbeladenen Menschen gegenüberzustehen, der Hilfe sucht und erwartet, ist für mich immer eine große Herausforderung gewesen. Habe ich denn das Wissen, die Ressourcen, die psychologische Kraft, die Fertigkeit – habe ich denn das, was man braucht, um einem solchen Individuum zu helfen? Seit mehr als 25 Jahren versuche ich, dieser Herausforderung zu begegnen. Sie veranlaßte mich, jeden Bestandteil meiner beruflichen Erfahrung zu aktivieren: die rigorosen Methoden der Persönlichkeitsmessung, die ich am Teachers’ College der Columbia University lernte, die Freudianisch-psychoanalytischen Einsichten und Methoden des Institute for Child Guidance, wo ich als Assistent arbeitete, die kontinuierlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der klinischen Psychologie, der ich eng verbunden war, die kurze Zeit, die ich der Arbeit von Otto Rank, den Methoden der psychiatrisch orientierten Sozialarbeit und anderen mannigfaltigen Quellen widmen konnte. Die weitaus größte Bedeutung jedoch hatte das beständige Lernen aus meiner eigenen Erfahrung.« (Rogers, 1954, S. 45)

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Es geht Rogers also in der späteren etwas allgemeineren Deutung um beides, um all das Wissen, das er an unterschiedlichen Stellen und zu unterschied­lichen Zeiten gelernt hat und um seine eigene Erfahrung. In diesem Sinne ist er als Empiriker der, der all sein Wissen mit seiner Erfahrung verbindet. »In meiner eigenen jahrelangen therapeutischen Erfahrung habe ich das Gefühl bekommen, dass wenn ich das geeignete Klima, die geeignete Beziehung, die richtigen Bedingungen herstellen kann, dass dann ein Prozess der therapeutischen Bewegung fast immer in meinem Klienten vor sich geht. Ich frage daher: was ist dieses Klima, was sind diese Bedingungen? Wird es sie in einem Gespräch mit einer Frau, die ich nie zuvor gesehen habe, geben?« (Rogers, 1965, Min. 3:09 ff.)

Mit diesen Fragen hat Rogers versucht darzustellen was im »Interview mit Gloria« vor sich ging. Wie kann es geschehen, dass ein Gespräch mit zwei Menschen, die sich zum ersten Mal begegnen, eine solche Intensität bekommt. Aber auch die radikal ehrliche Antwort auf die Frage nach der eigenen Motivation, Psychologe zu werden, Menschen helfen zu wollen und dem eigenen Gewinn davon, hat Rogers für sich selbst vor Die hilflosen Helfer und der Beschreibung des Helfersyndroms gegeben: »Rückblickend wird mir klar, daß mein Interesse am Gespräch und an der Therapie zum Teil wohl aus meiner früheren Einsamkeit herrührte. Hier gab es einen gesellschaftlich anerkannten Weg, Menschen wirklich nahe zu kommen und vielleicht ein wenig den Hunger nach Kommunikation zu stillen, den ich selbst verspürt hatte. Dieser Weg bot mir die Möglichkeit, engen Kontakt zu Menschen herzustellen, ohne deshalb mich selbst immer wieder in einer engen Beziehung engagieren zu müssen – ein (für mich) langwieriger und oft schmerzhafter Prozeß.« (Rogers, 1973a, zit. nach Rogers u. Rosenberg, 1977, S. 189 f.)

Rogers verstand sich selbst wesentlich als empirischen Forscher, nach innen und nach außen. 2.3  Empirie als Extraktion wesentlicher Merkmale von Persönlichkeitsveränderung durch Psychotherapie In seinem programmatischen Vortrag »Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie« von 1957 stellt Rogers sechs Bedingungen dar. Er vertritt darin die These, dass diese sechs Bedingungen im wahrsten Sinn des Wortes notwendig sind, es also diese sechs

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Bedingungen braucht, und dass sie ebenso hinreichend sind, es also auch nicht mehr braucht, damit sich Menschen persönlich positiv weiterentwickeln können im Rahmen einer Psychotherapie. Die Bedingungen sind:

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»1. Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt. 2. Die erste, die wir Klient nennen werden, befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar oder ängstlich. 3. Die zweite Person, die wir Therapeut nennen werden, ist kongruent oder integriert in der Beziehung. 4. Der Therapeut empfindet eine bedingungslose positive Zuwendung dem Klienten gegenüber. 5. Der Therapeut empfindet ein empathisches Verstehen des inneren Bezugsrahmens des Klienten und ist bestrebt, diese Erfahrung dem Klienten gegenüber zum Ausdruck zu bringen. 6. Die Kommunikation des empathischen Verstehens und der bedingungslosen positiven Zuwendung des Therapeuten dem Klienten gegenüber wird wenigstens in einem minimalen Ausmaß erreicht.« (Rogers, 1957, zit. nach Rogers, 1991a, S. 168)

Diese Beschreibung, die Rogers 1957 in einem Vortrag erstmals so darstellte und die dann 1959 veröffentlicht wurde, gilt als präzise Formulierung des PzA und wird bis heute in Ausbildungskursen verwendet. Der empirische Duktus wird in den Formulierungen deutlich. Das nicht-mehr-und-nicht-weniger genügt. Rogers geht im letzten Teil des Aufsatzes jedoch wesentlich weiter: Er stellt die Bedingungen nicht, wie vielleicht vermutet werden könnte, für den PzA dar, sondern für alle Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie, unabhängig vom therapeutischen Ansatz. Er behauptet, dass diese Bedingungen auch in jeder anderen Form von Psychotherapie, die Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht, gelten, sei es gute Psychoanalyse, gute Verhaltenstherapie oder anderes. Ein etwas vermessener allumfassender Anspruch? Oder aber es bedeutet, dass Rogers seine eigene Auffassung von Empirie, sein Quasi-Herausdestillieren dessen, was wirkt, über seinen eigenen Ansatz stellt. Die Mittel mit denen Psychotherapie jeweils arbeitet, erkennt er an, relativiert sie jedoch im Verhältnis zu seiner Empirie und zwar in der Weise, dass er die Mittel der Psychoanalyse im gleichen Absatz unterbringt wie die »Techniken« seines eigenen Ansatzes. Unter Signifikante Implikationen schreibt er: »Es wird nicht behauptet, daß diese sechs Bedingungen die wesentlichen Bedingungen für klientenzentrierte Therapie seien und daß andere Bedingungen für

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andere Arten von Psychotherapie wesentlich seien. Ich bin gewiß stark von meiner eigenen Erfahrung beeinflußt […]. Dennoch ist es mein Ziel bei der Aufstellung dieser Theorie, die Bedingungen zu nennen, die zu jeder Situation gehören, in der konstruktive Persönlichkeitsveränderung geschieht, ob wir dabei an klassische Psychoanalyse […] denken oder […]. Es wird nicht behauptet, dass Psychotherapie eine spezielle Beziehung ist, artverschieden von allen anderen, die im täglichen Leben vorkommen. Es ist im Gegenteil evident, daß zumindest für kurze Augenblicke viele gute Freundschaften die sechs Bedingungen erfüllen.« (Rogers, 1957, zit. nach Rogers, 1991a, S. 179)

Er zählt dann freie Assoziation, Traumanalyse, Übertragungsanalyse, Hypnose usw. auf, stellt sie als mögliche wesentliche Elemente dar, ordnet sie jedoch den beschriebenen Bedingungen unter. Dies beschreibt er nicht nur für die Psychoanalyse, sondern auch für die klientenzentrierte Technik des »Gefühle-Reflektierens«: »Gefühl kann auf eine Weise ›reflektiert‹ werden, die den Mangel an Empathie des Therapeuten zum Ausdruck bringt.« (S. 179) Rogers war überzeugt, dass die beschriebenen Bedingungen und Haltungen des Therapeuten das eigentlich ermöglichend Wirksame für Persönlichkeitsveränderung sind und die jeweiligen schulenspezifischen Techniken und Vorgehensweisen möglicherweise hilfreich, aber weder notwendig noch hinreichend sind. Diese drei Linien der Empirie scheinen mir einfach auf Personzentrierte Seelsorge anwendbar: 1. Reflexion, Auswertung und kollegiale Betrachtung der Arbeit – wahrscheinlich in den seltensten Fällen anhand von Videoaufzeichnungen, aber doch im kollegialen oder supervisorischen Blick auf konkrete Menschen in der Seelsorge – bleiben ein zentrales Anliegen für eine gute Seelsorgerin. Personzentrierte Seelsorge kann sich sehen lassen: in der empirischen Forschung, in den Nachfragen der Organisation, in der kritischen Selbstreflexion der Grenzen oder Grenzverletzungen. 2. Fragen stellen, Lernen am Missglückten, an der eigenen Ohnmacht, am Gefühl des Versagens gehören essenziell zur Personzentrierten Seelsorge ebenso wie, sich seine Gefühle und Motivationen zur Seelsorge einzugestehen. Sie sind dem Ansatz durch ihren Begründer in die Wiege gelegt und verbinden sich theologisch gesehen mit dem Wissen, dass der Seelsorger nicht der Heiland ist. 3. Was wirkt in Personzentrierter Seelsorge? Was sind die essentials meiner Tätigkeit? Was ist mehr als Wissen, Technik, Mittel, meine Person? Sich diesen Fragen immer wieder zu stellen gehört zur Empirie, zur reflektierten Erfahrung des Ansatzes.

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3  Carl R. Rogers und die Theologie Nach dem bisher dargestellten scheint es nachvollziehbar und schlüssig, dass sich der PzA in der Seelsorge weit ausgebreitet hat. Fast alle westlichen Seelsorger und Seelsorgerinnen wurden in den letzten 50 Jahren mit diesem Ansatz mehr oder weniger intensiv ausgebildet. Er scheint sich mühelos in christlich-seelsorgliche Vorgehensweisen und das christliche Menschenbild einzupassen, geradezu ideal geeignet. In der Biografie von Rogers stellt sich das völlig anders dar. Zwei sehr unterschiedliche Zitate von Rogers sollen den Spannungsbogen einleiten. Der junge Rogers schreibt in seinem Tagebuch:

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»Während Eddys Rede am Morgen faßte ich fast den Entschluß, in die christliche Arbeit zu gehen und während seiner Rede am Nachmittag kam ich zu einer endgültigen Entscheidung. Gott, hilf mir, sie einzuhalten! Alle meine vorigen Träume kommen mir jetzt billig vor, denn ich habe mich angeboten für die wichtigste, die größte Aufgabe auf Erden. Ich habe gefunden, was ich nie zuvor fand, den Frieden Gottes, der alles Verstehen übersteigt. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß, sich einfach für Gott zu melden, mich so mit der Welt im Einklang fühlen läßt. Es ist wunderbar […]. Ich bin mir jetzt sicherer denn je, daß ich christliche Arbeit tun werde und ich bin ziemlich überzeugt, daß es das Priesteramt sein wird, ob auf dem Land oder nicht, weiß ich noch nicht […]. Ganz sicher will Gott mich für eine große Aufgabe, etwas, das er für mich ganz alleine bereithält. Ich fühle mich wie David sich gefühlt haben muß, als er von Samuel gesalbt wurde, und möge es für mich wahr sein, wie es für David war; ›und der Geist des Herrn ruhte auf ihm von diesem Tage an.‹ Sicherlich ist Gottes Hand sichtbar in dieser letzten und größten Gelegenheit und Verantwortung, die ich bekommen habe. Möge ich groß genug sein, ihr zu begegnen […]. Heute bin ich 20 Jahre alt.« (Rogers, zit. nach Kirschenbaum, 1979, S. 21 ff.)

50 Jahre später schreibt er: »Der wahre Gläubige ist auch der Feind des Wandels. […] solche Leute werden sich immer gegen prozeßbewußte Menschen wenden, die nach Wahrheit suchen. Solche überzeugte Gläubige besitzen die Wahrheit, und die andern müssen ihnen zustimmen.« (Rogers, 1978a, S. 42)

Dies ist kein seltenes biografisches Phänomen: religiöse Begeisterung in der Jugend und deutliche religiöse und hier besonders kirchlich-institutionelle Ablehnung im Alter. Seine Abkehr von Glaube und Kirche war relativ abrupt

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während des Studiums. Das dem theologischen Seminar gegenüberliegende Teachers College hatte eine größere Faszination für ihn, auch weil dort neue Lernverfahren ausprobiert wurden und ein Lernen in größerer Freiheit möglich war. Dennoch war der innere Umschwung für ihn nicht ganz einfach. In seinem autobiografischen Rückblick im Alter von 84 Jahren erzählt er die kleine Begebenheit mit der Tasse. Zu dieser Zeit, ca. 1926, hielt er zusammen mit seiner Frau Kurse für Erwachsene zur religiösen Bildung. Einer dieser Kurse wurde von den Teilnehmern gut beurteilt und sie gaben den Rogers’ als Geschenk der Anerkennung eine kleine Silbertasse mit dem eingravierten Namen des neugeborenen Rogers-Kindes David. »Ich fühlte mich nicht wohl, dieses Geschenk zu akzeptieren und dachte, ich bin mir nicht sicher, ob sie es schenken würden, wenn sie wüßten, was ich wirklich fühle.« (Rogers, 1986, S. 61) Diese Geschichte zeugt m. E. deutlich von einer inneren Abkehr und nicht nur von Zweifeln an einer Institution. Rogers hatte nach einer rigid-religiösen Kindheit und einer Phase höchster Begeisterung in der späteren Jugend dann als junger Erwachsener den Glauben verloren und wie in anderen Krisen seines Lebens hat er das im Wesentlichen still mit sich selbst gelöst. Die Erzählung mit der Silbertasse hat noch eine weitere Spur. Zur Vorbereitung auf die oral history hatte er seine Biografie noch einmal durchgeblättert und blieb dort an der Silbertasse hängen und wunderte sich selbst, dass er die Geschichte vergessen hatte. »Es war wohl nicht so sehr wichtig für mich … Ich denke, ein Grund, warum es in meiner Erinnerung fehlt, ist, daß ich mich, kurz nachdem ich (den Job) angenommen hatte, mich selbst von der Religion zu entfernen begann und mich deshalb diesbezüglich zwiespältig empfand. Ich tat etwas, woran ich stark geglaubt hatte und es irgendwie immer noch tat – tat ich das überhaupt noch? Ich hatte da so ein komisches Gefühl: Ist das, was du hier tust, nicht verlogen?« (Rogers, 1986, S. 60)

Auch dies ist keine ungewöhnliche biografische Geschichte eines Menschen im pastoralen Tätigkeitsfeld, dessen Glaube sich stark verändert oder verloren geht. Seit dieser Zeit jedoch bezeichnete er sich als empirischen Psychologen explizit ohne religiösen Hintergrund. Im Alter von 53 Jahren stellt er in einer autobiografischen Schrift die Kontinuität folgendermaßen her: »Daß Fragen über den Sinn des Lebens und die Möglichkeit einer konstruktiven Verbesserung des Lebens der Einzelnen mich wahrscheinlich immer interessieren würden, ahnte ich; ich konnte jedoch nicht in einem Bereich arbeiten, in dem man immer von mir verlangen würde, an eine bestimmte religiöse Doktrin zu glauben.

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Die Inhalte meines Glaubens hatten sich bereits stark verändert und würden es vielleicht weiterhin tun. Es schien mir eine furchtbare Vorstellung, sich zu einem Gefüge von Glaubensinhalten bekennen zu müssen, um im eigenen Beruf bleiben zu können. Deshalb wollte ich einen Arbeitsbereich finden, der mir die Freiheit der Gedanken beließ.« (Rogers, 1955, S. 24)

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Und diesen Arbeitsbereich fand er als Psychologe, zuerst als psychoanalytisch ausgebildeter in der Erziehungsberatung, dann mit seinem eigenen Ansatz als Professor, Lehrer und Therapeut. Doch auch dabei gab es immer wieder das Problem mit den Institutionen und den Autoritäten. Die jeweilige Universität, der Psychologenverband, sein erstes selbst gegründetes Institut, das Schulprojekt in einem Orden, jedes Mal kam Rogers mit der Institution und den Vorgaben nicht klar und verließ daraufhin die Institution. Umgekehrt war ihm auch nicht wohl, wenn er zu viel Gefolgschaft bekam. Als Individualist hatte er eine Skepsis gegen alle Arten von Institutionen, an denen er im Laufe seines Lebens meistens gescheitert ist. Gescheitert in dem Sinne, dass er abgelehnt wurde, oder so hoch gelobt wurde, dass er sich kaum noch wehren konnte. Auch seine Schüler, die ihn immer wieder auf seine eigenen Wahrheiten festzulegen suchten, standen bei ihm im Verdacht, »Gläubige« zu werden. »Ich hasse es, ›Jünger‹ zu haben, die sich genau nach dem Bilde formen, das ich mir ihrer Meinung nach wünsche« schrieb er 1980 (Rogers, 1980b englisch; 1980c deutsch, S. 29). Nicht nur der religiöse Ausdruck »Jünger« ist im hohen Alter erstaunlich. Wieder gibt es eine biografische Verbindung zu seinem Studium viele Jahre vorher. Noch einmal eine Sequenz aus der oral history. Rogers hatte als Student Seminararbeiten über Luther und Wycliff geschrieben, die sich hauptsächlich um das Thema der Auseinandersetzung mit Autoritäten drehten: »Jedenfalls machte ich mehr daraus als er [d. i. Luther, J. S.] – daß der Ort der Autorität wirklich im Inneren der Gedanken und dem Bewußtsein des Individuums liegt und so weiter, und nirgends sonst. Ich bin mir sicher, daß ich dabei ein persönliches Problem mit Autorität bearbeitet habe und dazu gekommen bin, meine eigene Quelle zu sein.« (Rogers, 1986, S. 44)

Rogers schuf sich so seinen eigenen Protestantismus, indem er mehr daraus machte als Luther selbst, seine eigene Reformation, nicht in Abgrenzung zur katholischen Kirche, sondern in Abgrenzung zum rigiden Elternhaus, zunächst noch innerhalb des Glaubens und innerhalb der Glaubensgemeinschaft. Bemerkenswert ist, dass er sein »persönliches Problem«, das er dabei bearbeitet hat, im Nahhinein klar benennt, das Problem mit Autorität. Umso verständlicher, dass

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er diese Skepsis auch gegenüber seinen Schülern und Studierenden beibehalten hat. Autorität ist für ihn die eigene Autorität, bei den eigenen Quellen zu sein. Es liegt nahe, die Themen des veränderten Glaubens, des geradlinigen Umgangs mit Institutionen und die eigene innere Autorität zu finden, im Sinne der Entwicklung der Bedingung »Authentizität« bei der Person Carl R. Rogers zu sehen. Später wurde Rogers in den USA in den 50er- und 60er-Jahren von biblikalen Kreisen kritisiert. Trotz zunächst kollegialer Freundschaften mit Rollo May und Bill Coulson, einem Pfarrer, war die Frage nach dem Bösen immer wieder Kernpunkt der Auseinandersetzungen. Die Leugnung des Bösen im Menschen, so die Gegner, war die zentrale Kritik von philosophischer und vor allem von kirchlicher Seite. Rogers hielt an seinem jugendlich optimistischen Menschenbild fest, unabhängig von seiner Abkehr von Kirche und Autorität. Erst als der Ansatz in den 60er-Jahren nach Europa kam, speziell über das Ehepaar Tausch nach Deutschland, reagierten im Anschluss daran viele Mitgliederinnen und Mitglieder der großen Kirchen in Deutschland und Europa positiv auf diesen Ansatz für die Seelsorge. Dass allerdings seine Theorie des PzA zunächst bei der Übersetzung ins Deutsche »Gesprächspsychotherapie« genannt wurde, hat Rogers ziemlich irritiert (Rogers u. Schmid, 1991, S. 11).

4 Mögliche Folgerungen für Personzentrierte Seelsorge aus der biografischen Betrachtung der beiden ausgesuchten Aspekte im Leben des Begründers Einfach und durchaus legitim wäre es zu sagen, dass sich der Ansatz in den letzten 60 Jahren weiterentwickelt hat. In den jeweiligen Anwendungsfeldern haben sich einerseits spezifische Ausformungen ergeben, andererseits ist manche Rogers-Utopie, wie die Idee der »Fully Functioning Person« als wenig hilfreich für den Ansatz betrachtet worden und in Vergessenheit geraten. Nicht nur in der sozialen Arbeit hat er eine hohe Ausbreitung, auch die Neurowissenschaft hat ihm zu neuer Aktualität verholfen. Somit wäre diese biografische Betrachtung eine historische, als solche möglicherweise interessant aber wenig relevant. Auch einfach, aber unangemessen, wäre eine biografische Betrachtung im Sinne einer Orthodoxie, einer rechten Lehre, die herausfindet, was der so geniale Gründervater gesagt hat und sich apologetisch gegen Verfälschungen und Irrlehren auflehnt. Interessanterweise hatte der PzA diese Hürde kaum, im Unterschied zu manch anderen therapeutischen Ansätzen. Die großen Schülerstreite sind (mit Ausnahme von Coulson s. o.) ausgeblieben. Diese Variante der Orthodoxie wäre im PzA besonders unangemessen, weil, wie ja oben zitiert,

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Rogers es hasste, Jünger zu haben. Die Freiheit und Autonomie der Personzentriert Arbeitenden, auch der diesen Ansatz Lernenden, war ihm wichtiger als die rechte Lehre. Das führt m. E. dann auf eine sinnvolle und aktualisierbare Spur der biografischen Betrachtung des Gründers für die Aktualität und das Erlernen des PzA, in diesem Fall speziell für Personzentrierte Seelsorge. Nachdem es bei Personzentrierter Arbeit nicht um die Anwendung einer speziellen Technik geht, sondern um innere Haltungen, die in Ausbildungskursen entdeckt werden können, lohnt sich ein Blick auf die Erfahrungen, die Rogers dazu bewogen haben könnten, diesen Ansatz so zu formulieren. Zur Aneignung oder Entdeckung des Ansatzes gibt es unterschiedliche Methoden in den verschiedenen Ausbildungen: Achtsamkeitsübungen, Videoanalyse von Gesprächen, eigene Supervision oder Therapie während der Ausbildung, Selbsterfahrungselemente, Körperübungen zur nonverbalen Aufmerksamkeit, erlebnispädagogische Elemente, Studium der Theorie und vieles mehr. Auf der anderen Seite lernen heute auch Verkäuferinnen von Finanzprodukten, Versicherungen oder Autos, dass sie mit etwas Verständnis, besserem Zuhören und dann noch der Imitation der Körperhaltung des Kunden, deutlich bessere Verkaufszahlen erreichen. Wertschätzung ist derzeit ein wichtiges Werbe- und Führungsinstrument. Im Artikel »Leistungsmotor Wertschätzung« steht: »Wertschätzung durch Führungskräfte leistet einen wesentlichen Beitrag zur Gesundheit, Motivation und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter […]. Dadurch waren Sie offener und belastbarer.« (https://bankingclub.de/leistungsmotor-wertschaetzung/) Das heißt, dass die Prozessvariablen richtig sind und funktionieren. Sie funktionieren auch relativ unabhängig von Setting und von der dahinterstehenden Haltung. Das könnte ein Grund sein, warum der Ansatz so kompatibel, so alltagstauglich und manchmal auch lapidar erscheint. Personzentrierte Seelsorgerinnen müssen sich mit ihren eigenen Biografien auseinandergesetzt haben. Vielleicht ist für diejenigen, die sich stärker mit ihren eigenen Haltungen beschäftigen wollen, die »Folie« der Biografie von Carl R. Rogers eine Möglichkeit zum vertieften Verständnis. Unter dem hier angedachten Focus stellt sich so die Frage nach der eigenen Empirie auf dreifache Weise: Überprüfe ich meine Personzentrierte Seelsorge? Welche Erfahrungen bringe ich biografisch mit, kann ich denen trauen und inwiefern sind sie hilfreich oder störend bei meiner Seelsorge? Was lerne ich für mein Tun aus meinem Tun? Und für spirituelle Menschen die wiederkehrende Frage nach Autonomie und Dazugehören im Glauben und in der Institution und die Frage nach der Theologie. Habe ich ein Humanistisches Menschenbild und verbindet sich das mit meiner Theologie oder jedenfalls einem schöpfungs­theologischen Ansatz (»und siehe, es war sehr gut«)? Sehe ich die Erlösungsfähigkeit des Menschen, die Besserung, das Gutsein – oder das Gute, das mir oder dem Menschen

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mir gegenüber möglich ist? Die Lektüre einer Lebensbeschreibung eines Menschen, der auf die bekannten Ergebnisse gestoßen ist, der seine Schwächen und Probleme benannt hat und ebenso stolz auf seine Erfolge ist, ist ebenso ein Weg innerer Empiriker zu sein, wie die innere Beschäftigung mit dem Menschen, den ich Personzentriert seelsorglich begleite.

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 Der Personzentrierte Ansatz aus neurowissenschaftlicher Sicht

Michael Lux

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In den letzten Jahren gab es in den Neurowissenschaften einen bedeutsamen Zuwachs an Erkenntnissen, die eine hohe Kompatibilität mit dem Personzentrierten Ansatz (PzA) aufweisen (Lux, 2007; Lux, 2014). Die Verbindungen zu den Neurowissenschaften sind jedoch keine neue Entwicklung, sondern reichen bis an den Ursprung des PzA zurück. Rogers (1981/2017) weist darauf hin, dass er sich bei der Entwicklung des Konzepts der Aktualisierungstendenz, also der Tendenz des Organismus sich zu erhalten und die in ihm liegenden Potenziale zur Entfaltung zu bringen, auf Gedanken des Gestaltpsychologen und Neurologen Kurt Goldstein gestützt hat. Goldstein gilt als einer der Urväter der klinischen Neuropsychologie und hat insbesondere durch die Entwicklung der systemischen Neurowissenschaften gerade in letzter Zeit neues Interesse auf sich gezogen (Frisch, 2014). Rogers hat den PzA als offene Konzeption entwickelt, sodass sich dessen Theorien im Zuge der Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts verändern können und sollen. Interessanterweise bestätigen die Neurowissenschaften jedoch die Grundannahmen des PzA in hohem Maß, sodass dieser heute aus meiner Sicht einen geeigneten Rahmen für eine Integration neurowissenschaftlicher Theorien und Befunde im Hinblick auf eine hilfreiche Beziehungsgestaltung in den verschiedensten Kontexten darstellt. Bestätigung findet der PzA dabei nicht nur in den Neurowissenschaften, sondern auch in verschiedenen anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie z. B. Bindungsforschung, Systemtheorie oder positiver Psychologie (für einen Überblick siehe Cornelius-­White, Motschnig-Pitrik u. Lux, 2013). Was den PzA dabei in der Wissen­schaftslandschaft auszeichnet – und damit für die interdisziplinäre Forschung und Theoriebildung interessant macht – ist, dass er im Sinne einer Meta-Perspektive einen einzigartigen integrierenden Überblick über die verschiedensten Forschungsfelder bieten kann (Motschnig-Pitrik, Lux u. Cornelius-White, 2013). Im Folgenden soll an ausgewählten Konzepten die Nähe des PzA zu den Neurowissenschaften exemplarisch verdeutlicht werden. Zunächst werden dabei

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Aspekte der Persönlichkeitstheorie des PzA betrachtet, ehe anschließend die Personzentrierte Beziehungsgestaltung aus neurowissenschaftlicher Sicht thematisiert wird. Eine ausführlichere Darstellung dieser Zusammenhänge ist bei Lux (2007) zu finden. Der PzA wurde ursprünglich in der Psychotherapie entwickelt, es wird jedoch davon ausgegangen, dass die gleichen grundlegenden Prinzipien für alle hilfreichen Beziehungen gelten. Nachfolgend wird dabei nur dann auf Ergebnisse der Psychotherapieforschung Bezug genommen, insofern diese auf andere Gebiete generalisierbar sind.

1 Die Persönlichkeitstheorie des PzA Symbolisierung, organismische Erfahrung und Kongruenz

Psychische Prozesse laufen in der Sichtweise des PzA auf zwei Ebenen ab. Die Ebene der Symbolisierungsprozesse umfasst die im Bewusstsein repräsentierten Erfahrungen. Daneben gibt es außerhalb des Bewusstseins noch einen ständigen Strom an präreflexiven organismischen Erfahrungen. Die symbolisierten Erfahrungen stellen dabei nur einen geringen Teil der Gesamtheit der psychischen Prozesse dar, wobei Rogers (1981/2017) die Bedeutung unbewusster Prozesse betont: »Die Fähigkeit zum Gewahrsein und zur Symbolisierung kann man sich als die winzige Spitze einer riesigen Pyramide nichtbewusster organismischer Existenz vorstellen« (S. 78). Neurowissenschaftler äußern sich in ähnlicher Form zum Verhältnis von bewussten und unbewussten Einflüssen auf das psychische Geschehen. Lutz Jäncke stellt beispielsweise fest: »In diesem Sinne sind unsere Gedanken, Empfindungen und Entscheidungen mit einem Eisberg vergleichbar. Nur ein Teil der Gedanken und Empfindungen wird uns bewusst, ähnlich wie bei einem Eisberg, bei dem nur ein kleiner Teil die Wasseroberfläche überragt. Der größte Teil ist unter der Oberfläche verborgen. Der Eisberg ist allerdings eine Einheit und umfasst den erkennbaren wie auch den verborgenen Teil.« (Jäncke, 2016, S. 268).

Unbewusste Prozesse sind z. B. intensiv im Zusammenhang mit dem Gefahrenabwehrsystem des Gehirns untersucht worden, in dem die Mandelkerne von zentraler Bedeutung sind (LeDoux, 2002). Diese sind in der Lage, aufgrund einer direkten Verbindungsbahn von den Sinnesorganen über den Thalamus, d. h. ohne Beteiligung der Hirnrinde, die für bewusste Verarbeitungsprozesse nötig ist, die Bedrohlichkeit von unterschwellig dargebotenen Reizen zu bewerten und

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eine Abwehrreaktion des Organismus zu initiieren. Diese Befunde bestätigen einen von Rogers (1959/1991) angenommenen unbewusst wirkenden Prozess: »Der Organismus kann also Reize und deren Bedeutung für den Organismus unterscheiden, ohne dass höhere Nervenzentren, die bei Vorgängen im Bewusstsein eine Rolle spielen, beteiligt sind. Diese Fähigkeit erlaubt es dem Individuum eine Erfahrung als bedrohlich zu erkennen, ohne dass die Bedrohung im Gewahrsein symbolisiert wurde.« (S. 25 f.)

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Der Organismus wird ständig mit einer gewaltigen Informationsmenge konfrontiert, von der nur ein geringer Teil ins Bewusstsein gelangt. Die Selektion von Informationen ist deshalb eine wichtige Aufgabe des Gehirns und hier ist der »Scheinwerfer« der fokussierten Aufmerksamkeit von großer Bedeutung. Das, was von der Aufmerksamkeit erfasst wird, gelangt in das Bewusstsein, der riesige Rest an Informationen bleibt dagegen gewissermaßen »im Dunkeln« und wird vergleichsweise oberflächlich verarbeitet. Der Begriff der »Unaufmerksamkeitsblindheit« beschreibt das Phänomen, dass Dinge außerhalb der Aufmerksamkeit, selbst dann, wenn sie markant sind, nicht registriert werden (Jäncke, 2016). Die von der Aufmerksamkeit erfassten Inhalte gelangen ins sogenannte Arbeitsgedächtnis, ein Speicher mit begrenzter Speicherdauer und Speicherkapazität, in dem Informationen kurz zur Weiterverarbeitung bereitgehalten werden (z. B. Baars, 1998). Meiner Ansicht nach laufen in diesem Arbeitsgedächtnis die Symbolisierungsprozesse ab, wobei die Kapazitätsbeschränkung des Arbeitsgedächtnisses ein weiterer Grund dafür ist, dass nur »die winzige Spitze einer riesigen Pyramide nichtbewusster organismischer Existenz« in symbolisierter Form in unser Bewusstsein gelangt. Werden die zu einem bestimmten Zeitpunkt relevanten Erfahrungen exakt im Bewusstsein symbolisiert, resultiert Kongruenz – das Synonym für see­lische Gesundheit innerhalb des PzA. Kongruenz beschreibt eine optimale Integration von Symbolisierungen und präreflexiven organismischen Erfahrungen: »Andere Begriffe, die in gewisser Weise dem der Kongruenz synonym sind, lauten: integriert, ganz, echt.« (Rogers, 1959/1991, S. 32). Auch aus neurowissenschaftlicher Perspektive wird dabei betont, dass die Integration der verschiedenen Funktionssysteme innerhalb des Gehirns von zentraler Bedeutung für die seelische Gesundheit ist: »We have equated psychological health with optimal neural network growth and integration« (Cozolino, 2010, p. 31). Die Offenheit für Erfahrungen, eine akzeptierende Zuwendung zu allen im Hier und Jetzt vorhandenen relevanten Erfahrungen ist die Voraussetzung

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für Kongruenz. Die »Fully Functioning Person«, das Ideal seelischer Gesundheit im PzA, hat aufgrund ihrer Kongruenz den bestmöglichen Zugang zum organis­mischen Bewertungsprozess, dem »inneren Kompass«, der die Aktualisierungstendenz zum Ausdruck bringt. Personen, die sich in ausreichendem Maß in Richtung der »Fully Functioning Person« entwickelt haben, vertrauen einer darin zum Ausdruck kommenden intuitiven Weisheit, die über den Verstand hinausgeht: »Sie haben in immer größerem Maß entdeckt, dass es sich – wenn sie für ihre Erfahrung offen sind – als ein kompetenter und vertrauens­ würdiger Führer zu einem besseren Leben erweist, wenn man tut, was einem ›richtig anmutet‹.« (Rogers, 1973/2016, S. 189). Solch eine Person wird nicht von egozentrischen Interessen bestimmt, sondern sie lebt entsprechend sozial-konstruktiver Werthaltungen, die darauf gerichtet sind »to enhance the development of the individual himself, of others in his community, and to make for the survival and evolution of his species« (Rogers, 1964, p. 165). Es gibt mittlerweile verschiedene Ansätze in den Neurowissenschaften, die Hinweise dafür geben, welche neurobiologischen Prozesse am organismischen Bewertungsprozess beteiligt sein können, so etwa die Theorie der somatischen Marker (Damasio, 1997). Zu den Hirnregionen, die dem organismischen Bewertungsprozess zugrundeliegende Integrationsleistungen ermöglichen, zählt vermutlich der insuläre Kortex. Bud Craig beschreibt dabei, dass im insulären Kortex Informationen aus körperlichen, motivationalen, emotionalen und kognitiven Systemen integriert und hinsichtlich ihrer Relevanz bewertet werden. Das Ergebnis dieses Bewertungsprozesses ist über Gefühle zugänglich und scheint in Beziehung zur Aktualisierungstendenz zu stehen: »The salience of any factor is determined by its significance for the maintenance and advancement of the individual and the species« (Craig, 2009, p. 66). Integrative Kompetenzen weist daneben vor allem die rechte Hirnhälfte auf (z. B. McGilchrist, 2010). Aufgrund ihrer parallelen, ganzheitlich-integrativen Verarbeitungsweise ermöglicht sie das Treffen kongruenter Entscheidungen »that satisfy multiple constraints related to one’s own (and even relevant others’) needs, emotions, beliefs and abilities« (Kuhl, Quirin u. Koole, 2015, p. 119). Die rechte Hirnhälfte arbeitet wahrnehmungsnah und ist an der präreflexiv erfahrenen Realität orientiert. Sie spürt als »Anomaliedetektor« Abweichungen der linkshemisphärischen Interpretation der Erfahrungen mit Prozessen in den eigenen neuronalen Netzwerken auf und ermöglicht so eine Optimierung der Interpretation an die erfahrene Wirklichkeit (Jäncke, 2016). Aus Sicht des PzA können dadurch die Symbolisierungsprozesse in Einklang mit den präreflexiven organismischen Erfahrungen gebracht werden.

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Bewertungsbedingungen, Abwehrprozesse und Inkongruenz

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Mit dem Bedürfnis nach positiver Beachtung und Wertschätzung durch bedeutende Personen wird im PzA die Beziehungsangewiesenheit des Menschen betont. Häufig müssen Menschen allerdings die Erfahrung machen, dass andere Personen ihre Wertschätzung nicht bedingungsfrei gewähren, sondern sie daran knüpfen, dass bestimmte Bedingungen, die sogenannten Bewertungsbedingungen, erfüllt werden. Dann wird ein Selbst entwickelt, das darauf ausgerichtet ist, dass diese Bedingungen möglichst nicht verletzt werden. Sind Erfahrungen nicht vereinbar mit dem Selbst, werden diese abgewehrt und gelangen dann nicht oder in verzerrter Form ins Bewusstsein. Daraus kann eine Diskrepanz zwischen Symbolisierungsprozessen und der Gesamtheit der Erfahrungen resultieren. Dies wird als Inkongruenz bezeichnet und geht mit einer Beeinträchtigung der Persönlichkeitsintegration einher: »Des Menschen Verhalten ist ungemein rational; es bewegt sich in subtiler und geordneter Komplexität auf die Ziele zu, die sein Organismus zu erreichen bemüht ist. Tragisch ist für die meisten von uns, dass unsere Abwehrmechanismen uns hindern, dieser Rationalität bewusst zu werden; wir begeben uns also bewusst in die eine Richtung, während wir uns organisch in eine andere begeben wollen« (Rogers, 1973/2016, S. 194).

Angenommen wird, dass daraus psychische Störungen und eine Entfremdung von der eigentlich positiven, sozial-konstruktiven menschlichen Natur entstehen können. Das Potenzial des Menschen, Böses zu tun, findet sich somit auch im Menschenbild des PZA wieder: »In my experience, every person has the capacity for evil behavior« (Rogers 1982, zit. nach Kirschenbaum u. Henderson, 1989, p. 254). Eine Beeinträchtigung der Integration psychischer Prozesse ist auch aus neurowissenschaftlicher Sicht von zentraler Bedeutung für die Entstehung psychischer Störungen. Problematisch aus dieser Perspektive ist insbesondere die relativ gering entwickelte Verbundenheit von kognitiven und emotionalen bzw. motivationalen Systemen innerhalb des Gehirns: »the part that hasn’t been fully solved is connectivity between cognitive systems and other parts of the mental trilogy – emotional and motivational systems. … If the mental trilogy breaks down, the self is likely to disintegrate and mental health to detoriate.« (LeDoux, 2002, p. 323 f.).

Auch neurowissenschaftliche Befunde weisen auf die große Bedeutung sozialer Beziehungen für unsere psychische und körperliche Gesundheit hin. So konnte

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gezeigt werden, dass der Ausschluss einer Person aus einer Gemeinschaft bei der betroffenen Person dazu führt, dass Hirnregionen aktiviert werden, die beim Leiden unter Schmerzen beteiligt sind (Eisenberger et al., 2003). Gleichzeitig werden dabei neben Stresshormonen auch entzündungsförderliche Botenstoffe im Immunsystem freigesetzt. Denkbar ist, dass solche Prozesse an dem in vielen Untersuchungen zutage getretenen Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozialem Eingebundensein beteiligt sind (Eisenberger u. Cole, 2012). Es ist deswegen nicht überraschend, dass Neurowissenschaftler in bemerkenswerter Übereinstimmung mit dem PzA darauf hinweisen, dass durch die Anpassung an die Normen und Erwartungen anderer Personen Entfremdungsprozesse im Sinne von Inkongruenz entstehen können: »Die inneren Repräsentationen, die das Selbstbild eines Menschen prägen, werden darum ganz wesentlich dadurch geformt, was man an Zuschreibungen und Bewertungen von anderen Menschen erlebt und verinnerlicht … Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist der Schlüssel zum Verständnis dieses sonderbaren Anpassungsprozesses, der Menschen dazu bringt, ihr Gefühl von ihrem Verstand und ihren Körper von ihrem Gehirn abzutrennen.« (Hüther, 2006, S. 87 f.)

Abwehrprozesse können mit dem von Michael Gazzaniga (2011) beschriebenen linkshemisphärischen Interpretationsmodul in Zusammenhang stehen. Dieses integriert die vielen parallel ablaufenden Prozesse innerhalb des Gehirns zu einer einheitlichen Geschichte, einer inneren Erzählung über das, was uns gerade passiert. Das linkshemisphärische Interpretationsmodul sorgt dafür, dass wir trotz der Vielzahl an Prozessen, die gleichzeitig in unserem Gehirn ablaufen, das Gefühl haben, dass wir ein einziges und einheitliches Selbst besitzen. Um die Erzählung konsistent zu halten, wählt es Informationen aus, die dazu passen, macht das passend, was nicht passt und konstruiert in der Wirklichkeit nicht vorhandene Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die rechte Hirnhälfte als »Anomalie­ detektor« die Stimmigkeit der linkshemisphärischen Interpretation mit der erfahrenen Realität prüft. Wenn die rechte Hirnhälfte nicht zur Verfügung steht, können bei Schlussfolgerungen erstaunliche Fehlleistungen auftreten, wie von Deglin und Kinsbourne (1996) eindrucksvoll gezeigt wurde. Die beiden Hirnhälften sind dabei über den Balken miteinander verbunden. Er ermöglicht den Austausch von Informationen zwischen den Hirnhälften, hat aber auch die Aufgabe, Aktivitäten in der gegenüberliegenden Hirnhälfte zu hemmen. Dadurch kann bewirkt werden, dass der Informationsaustausch zwischen den Hirn­hälften sowie deren integrierte Zusammenarbeit eingeschränkt wird (McGilchrist, 2010). Aus meiner

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Sicht kann dies zu einer Diskrepanz zwischen Symbolisierungsprozessen und präreflexiven organismischen Erfahrungen führen und so an der Entstehung von Inkongruenz beteiligt sein. Wenn Rogers (1973/2016) das Denken von Personen mit geringer seelischer Gesundheit beschreibt, entsteht der Eindruck, dass dieses eher linkshemisphärisch dominiert ist und ein eingeschränkter Zugang zu den Kompetenzen der rechten Hirnhälfte besteht: »Die Vergangenheit hat die Art und Weise, in der er die Erfahrung auslegt, fixiert; diese Auslegungen sind starr und von den Realitäten der Gegenwart nicht angreifbar.« (S. 137) Wie in vielen Forschungsarbeiten gezeigt werden konnte, sind Personzentrierte Beziehungen ein wirksames Gegenmittel gegen Inkongruenz und unterstützen dadurch die Entwicklung hin zu einer verbesserten Persönlichkeits­ integration. Im Folgenden wird darauf eingegangen, welche neurobiologischen Prozesse hierfür von Bedeutung sein können.

2 Personzentrierte Beziehungsgestaltung aus neurowissenschaftlicher Sicht Das Personzentrierte Beziehungsangebot

In der Sichtweise des PzA wird angenommen, dass konstruktives Beziehungsgeschehen in den verschiedensten Kontexten (z. B. Psychotherapie, Seelsorge, Unterricht, Partnerschaft) durch die gleichen Prinzipien ermöglicht wird. Das Personzentrierte Beziehungsangebot ist von Seiten des »Helfers« durch die Grundhaltungen der Kongruenz, der Empathie und der bedingungsfreien Wertschätzung für das Gegenüber gekennzeichnet. Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren bedeutsame Fortschritte bei der Erforschung sozialer Fähigkeiten gemacht, die auch Einblick darin geben, wie das Gehirn die Verwirklichung der Grundhaltungen ermöglicht (Lux, 2007; Lux, 2010; Lux, 2013; Lux, 2014; Silani, Zucconi u. Lamm, 2013). Zunächst möchte ich auf neurowissenschaftliche Befunde zur Empathie eingehen, ein Forschungsschwerpunkt der sozialen Neurowissenschaften in den letzten Jahren. Hier wird zwischen kognitiver und emotionaler Empathie unterschieden (Shamay-Tsoory, 2009). Kognitive Empathie ermöglicht, dass wir uns durch eine Perspektivenübernahme in die Situation einer anderen Person hineinversetzen und uns dadurch über ihr Empfinden bewusst werden können (»Ich weiß, dass es ihm weh tut und welche Gründe es für sein Empfinden gibt«). Dagegen basiert emotionale Empathie auf einer Simulation der Empfindungen der anderen Person im eigenen Organismus, sodass deren Empfindungen miterlebt werden können (»Ich fühle mit ihm mit, spüre am eigenen Leib, dass es

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ihm weh tut«). Die Simulationstheorie der Empathie hat durch die Entdeckung der sogenannten Spiegelneurone (Gallese et al., 1996) großen Auftrieb erhalten. Spiegelneurone sind eine Gruppe von Neuronen, die sowohl dann aktiviert werden, wenn eine bestimmte Handlung ausgeführt wird, als auch dann, wenn die Ausführung der Handlung nur beobachtet wird. Rogers definiert Empathie folgendermaßen: »Es bedeutet, den Schmerz und die Freude des anderen zu empfinden, gerade so wie er empfindet, dessen Gründe wahrzunehmen, so wie er sie wahrnimmt, jedoch ohne jemals das Bewusstsein davon zu verlieren, dass es so ist, als ob man verletzt würde oder als ob man sich freut. Verliert man diese »als-ob«-Position befindet man sich im Zustand der Identifizierung.« (Rogers, 1959/1991, S. 37)

Enthalten sind in dieser Definition damit sowohl, Aspekte der emotionalen Empathie – »den Schmerz und die Freude des anderen zu empfinden, gerade so wie er empfindet« –, als auch der kognitiven Empathie – »dessen Gründe wahrzunehmen, so wie er sie wahrnimmt«. Rogers betont hier aber auch, dass es sich beim empathischen Verstehen um ein als »Als-ob-Erleben« handelt. Dazu gibt es eine interessante Untersuchung, in der Videos, die eine unter Schmerzen leidende Person gezeigt haben, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wurden (Lamm, Batson u. Decety, 2007). In der Fremdperspektive haben sich die Versuchspersonen vorgestellt, wie es sich für die andere Person anfühlt den Schmerz zu erleiden. Dagegen haben sie sich die Versuchspersonen in der Selbstperspektive vorgestellt, was sie selbst erleben würden, wenn sie sich in deren Lage befinden würden. Die Einnahme der Selbstperspektive, also gewissermaßen die Identifizierung mit der Situation der anderen Person, ging dabei mit einem höheren Ausmaß an psychischer Belastung einher. Hier kam es also zu einem belastenden Mitleiden, was sich auch in einer Aktivierung der Mandelkerne geäußert hat. Bei der Einnahme der Fremdperspektive wurden dagegen eher Gefühle der Sympathie, der Hilfsbereitschaft, der Wärme und der Anteilnahme für die leidende Person erlebt, ohne dass eine Aktivierung der Mandelkerne feststellbar war. Im PzA wird angenommen, dass die Grundhaltungen nicht isoliert voneinander wirken, sondern dass sie ihre volle heilsame Wirkung im Verbund entfalten. Kongruenz ist dabei eine Voraussetzung für die Verwirklichung sowohl von Empathie als auch von bedingungsfreier Wertschätzung: »Wenn das Individuum all seine Körper- und Sinnes-Erfahrungen wahr- und in ein konsistentes und integriertes System aufnimmt, dann hat es notwendigerweise

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mehr Verständnis für andere und verhält sich gegenüber anderen als Individuum akzeptierender.« (Rogers, 1972/2005, S. 447)

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Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass wir den anderen verstehen, indem wir unser eigenes Erleben verstehen. Unser Erleben stellt gewissermaßen eine Brücke in das Erleben des anderen dar. Die Neurowissenschaften haben mittlerweile begonnen zu erkunden, wie das Gehirn es möglich macht, dass das Erleben von Personen, die einander begegnen, miteinander in Resonanz treten kann. Empathische Resonanzprozesse können auf unterschiedlichen Wegen hervorgerufen werden, wozu auch über Spiegelneurone ausgelöste Simulationsprozesse zählen. Diese sind vermutlich auch daran beteiligt, dass in zwischenmenschlichen Interaktionen automatische Nachahmungsphänomene auftreten. So konnten Dimberg, Thunberg und Elmehed (2000) zeigen, dass bei der Betrachtung von unterschwellig dargebotenen Bildern von Gesichtern mit einem lachenden oder verärgerten Gesichtsausdruck beim Betrachtenden automatisch Muskelgruppen aktiviert werden, die beim Lachen oder Ärgern beteiligt sind. Über Gerüche ausgelöste Resonanzprozesse sind ebenfalls möglich. Beispielsweise wurde in einer Untersuchung von Prehn-Kristensen et al. (2009) der rechtsseitige insuläre Kortex stärker durch den Geruch von Schweiß von Studierenden vor einer Prüfung (Angstbedingung) als durch Schweiß von auf Sportgeräten trainierenden Personen (Kontrollbedingung) aktiviert. Die Gerüche waren dabei für die Versuchspersonen kaum wahrnehmbar und nicht voneinander unterscheidbar. Neuronale Simulationsphänomene ließen sich auch bei empathischen Prozessen nachweisen, bei denen bewusste Verarbeitungsprozesse beteiligt sind, etwa wenn man sich vorstellt, dass eine andere Person gerade Schmerzen erlebt. Hier kommt es genau wie beim Erleben von eigenen Schmerzen zu einer Aktivierung der sogenannten neuronalen Schmerzmatrix (Singer et al., 2004). Außerdem konnte festgestellt werden, dass bei einer Person, die die von einer anderen Person erzählte Geschichte versteht, eine ausgedehnte Synchronisierung ihrer neuronalen Prozesse mit der der erzählenden Person stattfindet. Dieses Phänomen wird auch als »neuronale Koppelung« bezeichnet und ist bei einem besseren Verstehen der Geschichte in stärkerem Ausmaß vorhanden (Stephens, Silbert u. Hasson, 2010). Untersuchungen zur Empathie in der Psychotherapie zeigen zudem, dass die Synchronisierungsprozesse auch auf körperlicher Ebene stattfinden können, etwa was die Hautleitfähigkeit der beteiligten Personen anbelangt – wobei sich der Klient bei einem höheren Ausmaß an Synchronisierung besser von der Therapeutin verstanden fühlt (Marci, Ham, Moran u. Or, 2007). Diese Befunde weisen darauf hin, dass unser Organismus (bzw. unser Gehirn als Teil davon) beeindruckende Fähigkeiten hat, uns in Resonanz mit anderen

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Menschen zu bringen. Egal, ob wir uns bewusst in den anderen hineinversetzen im Sinne der kognitiven Empathie, oder ob wir bei der emotionalen Empathie mit dem anderen mitfühlen, in unserem Organismus findet dabei eine Resonanz statt, die uns einen Zugang zum Erleben der anderen Person ermöglicht und uns hilft, sie zu verstehen. Diese Resonanzen sind von uns erfahrbar, d. h., wenn wir offen für unsere Erfahrungen sind, dann haben wir – entsprechend der Sichtweise von Rogers – mehr Verständnis für andere. Dieser Zusammenhang wird auch dadurch bestätigt, dass bei einer stärker ausgeprägten Alexithymie, also einer beeinträchtigten Fähigkeit eigene Gefühle wahrzunehmen und diese zu benennen, die neuronalen Resonanz bei der Konfrontation mit Schmerzen anderen Personen geringer ist (Bird et al., 2010). Außerdem konnte von Marci, Ham, Moran und Or (2007) gezeigt werden, dass bei einem höheren Ausmaß an Synchronisierung sich nicht nur die Klientin besser verstanden fühlt, sondern dass gleichzeitig auch mehr Solidarität und Wertschätzung von therapeutischer Seite gezeigt wird. Beides sind zentrale Aspekte der Grundhaltung der bedingungsfreien Wertschätzung. Dies kann damit als ein Hinweis für die enge Verflochtenheit von bedingungsfreier Wertschätzung mit empathischem Verstehen angesehen werden. Wie macht sich bedingungsfreie Wertschätzung bei uns bemerkbar? Rogers führt dazu Folgendes aus: »Es bedeutet, eine Art Liebe für den Klienten zu empfinden, so wie er ist, vorausgesetzt wir verstehen das Wort Liebe im Sinne des theologischen Begriffs der ›Agape‹ und nicht im üblichen romantischen und besitzergreifenden Sinne. Was ich hier beschreibe ist ein Gefühl, das weder patriarchalisch sorgend, noch sentimental, noch oberflächlich liebenswürdig ist. Es respektiert den anderen Menschen als ein eigenständiges Individuum und nimmt ihn nicht in Besitz. Es ist eine Art Zuneigung, die eine gewisse Stärke und Intensität besitzt, aber die nicht fordert.« (Rogers, 1962, zit. nach Tausch u. Tausch, 1990, S. 67)

Gefühle der Abneigung für andere Personen können die empathische Resonanzfähigkeit herabsetzen (Singer et al., 2006), im Gegensatz zu Gefühlen der Wertschätzung und des Wohlwollens, die hier verstärkend wirken. Interessante Erkenntnisse dazu konnten aus Untersuchungen zur Wirkung von Mitgefühlsmeditation gewonnen werden. Bei dieser Art von Meditation wird versucht, Gefühle des Wohlwollens, der altruistischen Liebe und des Mitgefühls für andere Personen in sich lebendig werden zu lassen. Diese Gefühle, die in uns auch entstehen, wenn wir einer anderen Person mit bedingungsfreier Wertschätzung begegnen, sorgen dafür, dass unsere empathische Resonanzfähigkeit

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verbessert wird und wir stärker durch Emotionsäußerungen anderer Personen berührt werden (Lutz, Brefczynski-Lewis, Johnstone u. Davidson, 2008). Wir werden dann zwar stärker emotional berührt, aber anscheinend nicht im Sinne eines belastenden Mitleidens, sondern als positiv getöntes Mitgefühl, das mit einer verstärkten Hilfsbereitschaft einhergeht. Es konnte nämlich zum einen gezeigt werden, dass Mitgefühlsmeditation bei der Betrachtung von Bildern von offensichtlich leidenden Menschen zu einer stärkeren Aktivierung von Hirn­ regionen führt, in denen Spiegelneurone lokalisiert sind (Weng et al., 2013). Dies spricht dafür, dass Simulationsprozesse verstärkt werden, die es ermöglichen, am eigenen Leib zu spüren, wie es dem anderen geht. Wenn nur das der Fall wäre, dann müsste Mitgefühlsmeditation belastendes Mitleiden verstärken. Es wurde jedoch von Weng et al. auch festgestellt, dass zusätzlich eine verstärkte gemeinsame Aktivierung von dorsalen frontalen Hirnregionen und dem Nucleus accumbens auftrat. Dies weist darauf hin, dass dem simulierten Leiden positiv getönte Gefühle beigemischt wurden. Auswirkungen im Verhalten im Anschluss an die Darbietung der Bilder konnten ebenfalls festgestellt werden. Hier zeigte sich eine verstärkte Motivation, das von einer anderen Person erlebte Unrecht wiedergutzumachen. Gefühle des Wohlwollens gegenüber anderen Personen, die in der Mitgefühlsmeditation hervorgerufen werden können und die wir auch erleben, wenn wir einer anderen Person mit bedingungsfreier Wertschätzung begegnen, können damit verschiedene Auswirkungen haben: Sie sorgen dafür, dass unsere empathische Resonanzfähigkeit verbessert wird, wir dabei aber gleichzeitig vor belastendem Mitleiden geschützt werden und stärker motiviert sind anderen Personen zu helfen. Hilfsbereitschaft ist im Übrigen tief in unserem Wesen angelegt. In der Entwicklungspsychologie konnte gezeigt werden, dass wir gewissermaßen eine biologische Prädisposition haben, anderen Menschen zu helfen (Tomasello, 2014). Aus heutiger Sicht klingt die folgende Einschätzung von Rogers somit gerechtfertigt: »Der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur aus positiv.« (Rogers, 1973/2016, S. 99 f.) Kongruenz bedeutet, dass wir einen Zugang zu diesem »innersten Kern« haben und damit bedingungsfreie Wertschätzung für andere Personen in der Beziehung besser leben können und uns »gegenüber anderen als Individuum akzeptierender« (s. o.) verhalten. Die Wirkung des Personzentrierten Beziehungsangebots

Wird das Personzentrierte Beziehungsangebot vom Gegenüber zumindest ansatzweise wahrgenommen, dann sind die Bedingungen für eine hilfreiche Beziehung gegeben. Es werden dadurch vielfältige neurobiologische Prozesse

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angeregt, die an der Entfaltung der Aktualisierungstendenz des Gegenübers beteiligt sein können. Wenn wir dem anderen Personzentriert begegnen, dann vermitteln wir ihm unter anderem, dass er sich sicher fühlen kann. Rogers schreibt dazu: »In der emotionellen Wärme in der Beziehung mit dem Therapeuten erfährt der Klient ein Gefühl der Sicherheit, wenn er merkt, dass jede von ihm ausgedrückte Einstellung fast auf die gleiche Weise verstanden wird, wie er sie wahrnimmt, und gleichzeitig akzeptiert wird.« (Rogers, 1972/2005, S. 52) Hier gibt es Beziehungen zur Polyvagal-Theorie von Stephen Porges (2007). Die Polyvagal-Theorie ist eine Theorie des vegetativen Nervensystems und sie ist gut gestützt durch evolutions- und neurobiologische Befunde. Danach besteht das vegetative Nervensystem aus drei Teilen, die hierarchisch miteinander verbunden sind: Der nicht-myelinisierte Vagus stellt den evolutionsbiologisch ältesten Teil dar. Er hat die Aufgabe, die Versorgung des Organismus mit Energie sicherzustellen. Das sympathische Nervensystem mobilisiert Energie und versetzt den Organismus so in die Lage, mit Kampf oder Flucht auf bedrohliche Situationen zu reagieren. Der dritte und evolutionsbiologisch neueste Teil ist der myelinisierte Vagus. Dieser wird aktiviert, wenn unser Gehirn eine Situation als sicher bewertet. Gleichzeitig wird dabei das sympathische Nervensystem deaktiviert. Der myelinisierte Vagus steuert unter anderem Muskelgruppen im Kopf-, Gesichts- und Halsbereich, die wichtig für die soziale Kontaktaufnahme sind. Er ermöglicht durch diese Muskelgruppen einerseits, über die Mimik und die Stimme Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Andererseits ist er aber auch, z. B. über die Herstellung von Augenkontakt, für die soziale Wahrnehmung von großer Bedeutung. Das Personzentrierte Beziehungsangebot könnte so, vermittelt über die vom Klienten erfahrene Sicherheit, zu einer Aktivierung des myelinisierten Vagus führen. Durch die damit verbundene Deaktivierung des sympathischen Nervensystems wird Stress gemindert. Außerdem wird die emotionale Ausdrucksfähigkeit verbessert, was es einer anderen Person erleichtert, sich einzufühlen. Gleichzeitig kann es auch zu einer Verbesserung der sozialen Wahrnehmung kommen, wodurch das Personzentrierte Beziehungsangebot besser wahrgenommen werden kann. Neben Sicherheit spielt Vertrauen – »the most fundamental and pervasive concept in person-centered therapy« (Raskin u. Rogers, 1995, p. 128) – eine zentrale Rolle innerhalb der Personzentrierten Beziehungsgestaltung. Anderen Personen entgegengebrachtes Vertrauen bewirkt dabei bei diesen, dass das »Bindungshormon« Oxytozin freigesetzt wird (Zak, Kurzban u. Matzner, 2005). Wie Kéri und Kiss (2011) gezeigt haben, bewirkt auch das Anvertrauen eines persönlichen Geheimnisses bei der Person, der dieses Zeichen von Vertrauen

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entgegenbracht wurde, einen Anstieg des Oxytozinspiegels. Die Selbst-Öffnung des Helfers, im Sinne von Transparenz als Außenaspekt der Kongruenz, könnte damit als vertrauensvolles Zeichen die Oxytozinausschüttung beim Gegenüber verstärken. Intranasal verabreichtes Oxytozin kann eine Reihe von bedeutsamen Wirkungen haben. Hierzu zählen die Reduktion der Cortisolausschüttung in einer Stresssituation (Heinrichs, Baumgartner, Kirschbaum u. Ehlert, 2003) und der Aktivierbarkeit der Mandelkerne (Kirsch et al., 2003). Vertrauen in andere Personen (Kosfeld, Heinrichs, Zak, Fischbacher u. Fehr, 2005), die Bereitschaft zur Selbstöffnung (Lane et al., 2012), Bindungssicherheit (Buchheim et al., 2009), Augenkontakt (Guastella, Mitchell u. Dadds, 2008), emotionale Empathie (Hurlemann et al., 2010) sowie die Nervenzellneubildung im Hippocampus (Leuner, Caponiti u. Gould, 2012) können dagegen verstärkt werden. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass sowohl situative als auch persönlichkeitsspezifische Einflüsse auf die Wirkung von experimentell verabreichtem Oxytozin vorhanden sind (Bartz, Zaki, Bolger u. Ochsner, 2011). Von großer Bedeutung ist empathisches Verstehen und die damit zusammenhängende Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte insbesondere für die Unterstützung der Emotionsregulation von anderen Personen (Seehausen, Kazzer, Bajbouj u. Prehn, 2012), wobei mittlerweile auch die beteiligten neuronalen Prozesse erkundet wurden (Seehausen et al., 2014). Empathisches Verstehen kann dabei bewirken, dass das Gegenüber eigene emotionale Erfahrungen benennt, wodurch eine Aktivierung emotionsregulierender Hirnstrukturen bewirkt werden kann (Lieberman et al., 2007). Dies kann, neben der durch Personzentrierte Kommunikation bewirkten Aktivierung von Belohnungszentren (Kajamichi et al., 2015), eine unterstützende Wirkung auf ein emotionales Umlernen von belastenden Erfahrungen haben. Aus der Perspektive einer neurowissenschaftlich orientierten integrativen Psychotherapieforschung wird die Bedeutung der Personzentrierten Beziehungsgestaltung beispielsweise von Robert Moss betont. Er sieht deren Relevanz unter anderem in einer Förderung des interhemisphärischen Informationsaustauschs, wodurch Prozesse in den beiden Hirnhälften besser miteinander in Einklang kommen: »The process variables of warmth, genuineness, and empathy described by Rogers (1957) are important for the most effective therapy regardless of orientation … In total, the presence of these process variables creates the security and hemispheric congruence in therapy allowing the client to most effectively address important issues.« (Moss, 2014, p. 11).

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Auch Louis Cozolino unterstreicht aus neurowissenschaftlicher Perspektive die zentrale Rolle der Personzentrierten Beziehungsgestaltung für Veränderungsprozesse und bezeichnet sie als »optimal environment for neural change« (Cozolino, 2010, p. 38). Abschließende Bemerkungen

Unser Organismus (einschließlich des Gehirns) scheint wie geschaffen dafür zu sein, einerseits das Personzentrierte Beziehungsangebot zu machen, und andererseits davon auch profitieren zu können. Wenn wir einer anderen Person Personzentriert begegnen, dann passieren dabei sowohl in uns als auch in der anderen Person viele neurobiologische Prozesse, die miteinander in Wechselwirkung treten, wie dies z. B. im Modell des Kontakt-Kreises (Lux, 2010; Lux, 2013; Lux, 2014) veranschaulicht wird. Ich nehme dabei an, dass diese gegen­ seitige Beeinflussung auf neurobiologischer und psychosozialer Ebene dazu führen kann, dass aus dem Ich und dem Du ein Wir wird, dass eine Beziehung oder eine Gemeinschaft zwischen Menschen entsteht. »Beziehung« scheint dabei aus systemtheoretischer Sicht ein emergentes Phänomen zu sein, das eine eigene Wesenheit und Entfaltungsmöglichkeit besitzt. Godfrey Barrett-Lennard, ein langjähriger Mitarbeiter von Carl Rogers, schreibt dazu: »The relationship is not just the sum of its parts (whole persons) but is itself a living process at a further level« (Barrett-Lennard, 2009, p. 82). Möglicherweise werden durch die vielfältigen Wechselwirkungen auch »lebendige Prozesse« auf höheren Ebenen sozialer Systeme angeregt, in die diese Beziehung eingebunden ist. Mit dem Konzept der Ko-Aktualisierung beschreiben Renate Motschnig und Godfrey Barrett-Lennard (2010), wie in Personzentrierten Beziehungen ein Klima entsteht, das sich günstig auf die Entfaltung der Aktualisierungstendenz aller beteiligten Personen auswirkt. Ko-Aktualisierung betrifft aber darüber hinaus auch die Entfaltung der Beziehung zwischen diesen Personen und kann günstige Wirkungen auf den sozialen Kontext der Beziehung haben, also beispielsweise eine Kirchengemeinde, eine Schule, ein Wirtschaftsunternehmen oder die Gesellschaft insgesamt. Erfahrungen, die mit der Einführung des PzA bei der ASB-Gesellschaft für soziale Hilfen in Bremen gemacht wurden, weisen auf die Entfaltung dieser Potenziale hin (Becker, 2014). Die Neurowissenschaften beginnen das Geheimnis der verwandelnden Kraft zu ergründen, die frei wird, wenn Menschen einander auf Personzentrierte Weise begegnen. Der Kern dieses Geheimnisses wurde dabei aus meiner Sicht im neuen Testament in einem »alles übersteigenden Weg« angesprochen: »Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.« (1 Kor 13,1).

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 Das Humanistische Menschenbild im Dialog mit evangelisch-theologischer Anthropologie

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Seit der Übernahme des Personzentrierten Ansatzes (PzA) in Bereichen der christlichen Seelsorge hat sich wiederholt die Frage gestellt, inwieweit das Humanistische Menschenbild eben dieses Ansatzes mit dem christlichen Menschenbild zu vereinbaren ist. Die Anfrage fokussiert sich dabei schwerpunktmäßig auf die optimistische Wahrnehmung der menschlichen Natur, welche nach Rogers »in seinen Tendenzen und seiner Richtung im Kern konstruktiv ist.« (Rogers, 1981/2017, S. 7) Die bisherige theologisch-anthropologische Rezeption des PzA hat deswegen versucht, die Berührungspunkte zwischen beiden Menschenbildern aufzuzeigen. Dabei wurden Personzentrierte Begrifflichkeiten holzschnittartig mit theologischen Loci in Verbindung gebracht. Peter Schmid (1995, S. 227–230) weist zum Beispiel auf die Bedeutung des Glaubens an einen personalen Gott und auf Jesus als Erfahrung der Begegnung Gottes mit den Menschen hin. In seiner Darlegung der Seelsorge als Fortsetzung des Beziehungsangebotes Gottes zeichnet er zudem Verbindungen zu soteriologischen Aspekten der Theologie auf (S. 231–236). Helga Lemke und Wilhelm Thürnau (2016, S. 339–343) warnen vor einer Verwechslung der psychologischen und der theologischen Seite und möchten Selbstaktualisierung nicht als Selbsterlösung fehlgedeutet wissen. Dabei stellen sie zugleich fest, dass sich »in den Basisvariabelen Echtheit, Akzeptanz und Empathie […] die genuin christlichen Verhaltensweisen von Annahme, Wahrhaftigkeit und Liebe« (S. 340) wiederfinden. Die Grundannahme des Rogerschen Menschenbildes ist, dass die menschliche Natur »von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch« (Rogers, 1973/2016, S. 99 f.) sei. In diesem Beitrag wird die theologisch-­anthropologische Anschlussfähigkeit dieses Menschenbildes näher eruiert. Er setzt dafür bei zentralen Aspekten der theologischen Anthropologie ein, die inhaltlich eng miteinander zusammenhängen. Ausgangspunkt ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen (1.), die sich in seiner fundamentalen Relationalität (2.) und Geschichtlichkeit (3.) ausdrückt. Dabei wird die Fragmentarität des menschlichen Seins (4.) hervor-

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gehoben und eine hamartiologische Perspektive (5.) auf die von Rogers als konstruktiv wahrgenommene menschliche Natur eröffnet.

1  Menschenbild und Gottebenbildlichkeit In seinen Werken entwickelt Rogers ein Menschenbild, das sich auf den ersten Blick wohltuend von einem christlichen Menschenbild abzuheben scheint: Der Mensch ist kein armer Sünder, der auf Erlösung von oben angewiesen ist, sondern ein konstruktives Wesen, das sich selbst verwirklichen möchte und auch kann. Auch wenn diese Darstellung sicherlich sowohl das christliche als auch das Rogersche Menschenbild karikiert, ist nicht zu übersehen, dass Rogers sich in seinem Ansatz wiederholt explizit von einem christlichen Menschenbild distanziert (siehe hierzu Burbach, I.1, S. 46 f.). Die Thematik des Bösen spielt hier eine zentrale Rolle und auf sie wird in 5. näher eingegangen. Es sind jedoch andere Grundstrukturen des Rogerschen Menschenbildes, die sich zuerst theologisch durchbuchstabieren und auf ihre Anschlussfähigkeit überprüfen lassen sollen. Rogers versteht den menschlichen Organismus zuallererst als ganzheitliches Wesen, das physisch wie psychisch mit der ihm umgebenden Welt interagiert. Als solches macht er Erfahrungen, deutet sie und erfährt in dieser Erfahrung und Deutung sich selbst. In der Wahrnehmung der Mitmenschen und der Umwelt wird das Selbst konstruiert, indem sich die Persönlichkeit eines jeden Menschen in seinen subjektiven Konstruktionen der Umwelt entwickelt. Hinter dieser Entwicklung steckt die Aktualisierungstendenz, welche wesentlich zum menschlichen Organismus gehört. Rogers versteht sie im humanistischen Sinne als grundsätzlich sinnvoll und zielorientiert. Der Mensch befindet sich in einem zielorientierten Prozess der Selbstverwirklichung und soll in diesem Prozess auf sich vertrauen, bei sich bleiben und so sich selbst werden: »ein Mensch, der gegenüber allen Elementen seines organischen Erlebens offener ist, der Vertrauen zum eigenen Organismus als einem empfänglichen Instrument ent­wickelt, der Bewertungen aus sich heraus vornimmt, ein Mensch, der lernt, sein Leben als fließenden, fortwährenden Prozeß zu sehen, in dem er ständig neue Aspekte seines Wesens im Strom seiner Erfahrung entdeckt.« (Rogers, 1973/2016, S. 129)

Diese prozesshafte Entfaltung des Selbst gelingt umso besser, wenn Inkongruenzen in der Selbsterfahrung angenommen und in das Selbstkonzept integriert werden: »Würde dies für alle Selbsterfahrungen gelten, dann wäre das Indi­ viduum eine mit sich in völliger Übereinstimmung befindliche, also eine psy-

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chisch völlig gesunde Person.« (Rogers, 1959/2016, S. 32) Wenn der Mensch in Kongruenz zwischen Erfahrung und Selbst lebt, wird er zu einer psychisch reifen Person, die Rogers als »Fully Functioning Person« umschreibt. Auch wenn Rogers die »Fully Functioning Person« anvisiert, wäre er missverstanden, wenn dies als statischer Endpunkt eines Entwicklungsweges verstanden werden würde. Wie nachher in 3. zu zeigen ist, steht hier vielmehr die Prozesshaftigkeit des Seins im Vordergrund. Das Leben ist »ein fließender, sich wandelnder Prozeß, in dem nichts starr ist.« (Rogers, 1973/2016, S. 42) Der Mensch befindet sich in einem Prozess ständiger Selbstaktualisierung und es ist vielmehr die Qualität dieser Entwicklung, die entscheidet, ob eine Person voll funktioniert oder eben auch nicht. Entscheidend für das Gelingen der Selbstaktualisierung ist die Offenheit der Person für ihre Erfahrung in der Welt, denn sie »beinhaltet all das, was sich innerhalb des Organismus in einem bestimmten Augenblick abspielt und was potentiell der Gewahrwerdung zugänglich ist. Er schließt Ereignisse ein, deren sich das Individuum nicht gewahr ist, ebenso wie Phänomene, die im Bewußstein (consciousness) sind.« (Rogers, 1959/2016, S. 23) Die Offenheit für diese »organismische Bewertung« macht den Menschen zu einer selbstkongruenten und ausgeglichenen Person, die imstande ist, »sich aus seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten heraus immer neu zu verwirklichen. Eine solche Person hat es nicht nötig, Gefühle und Erfahrungen abzuwehren, weil sie genügend Selbstvertrauen besitzt. Sie ist imstande, verantwortungsbewußt und sozial zu handeln.« (Schmid, 1995, S. 104)

In der theologischen Anthropologie nimmt die menschliche Gottebenbildlichkeit eine zentrale Stelle ein: Über die Jahrhunderte hinweg ist sie vielfach und unterschiedlich interpretiert und bestimmt worden. Sie bewegt sich von dem aufrechten Gang des Menschen über seinen Herrschaftsauftrag bis zu der durch die Ebenbildlichkeit ermöglichten freien Lebensgestaltung. Grundsätzlich entstammt das Verständnis des Menschen als Imago Dei dem jüngeren Schöpfungsbericht (Gen 1,1–2,4a). »Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriegt.« »Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden

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kriecht. Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu euer Speise.« (Gen 1,26.28–29).

Wie der ältere Schöpfungsbericht (Gen 2,4b–3,24) versucht der jüngere die Frage nach Grund und Sinn des menschlichen Lebens zu beantworten. Beide Berichte greifen dabei auf altorientalische Schöpfungsmythen zurück, die unter Berücksichtigung der damaligen Erfahrungen der Lebenswelt korrigiert und modi­ fiziert wurden. In ihnen geht es schwerpunktmäßig um die Güte der Schöpfung (»Und Gott sah, dass es gut war.«) als auch um die Angewiesenheit der Welt auf ihren Schöpfer. Beide Schöpfungsberichte sind von einem starken Anthropozentrismus gekennzeichnet. Der Mensch ist Bild Gottes und seine Gottebenbildlichkeit steht im engen Zusammenhang mit seinem Herrschaftsauftrag: Er soll sich die Erde untertan machen und über sie herrschen. Eine genauere Lektüre des jüngsten Schöpfungsberichtes macht aber deutlich, dass es sich hier nicht um eine Willkürherrschaft handeln darf, die die Welt nur ins Verderben stürzen kann. Gott hat nicht nur den Menschen, sondern Mensch und Tier »alles grüne Kraut zur Nahrung« (Gen 1,30) gegeben und eben diese »Vision der vegeta­ rischen Solidargemeinschaft von Menschen und Tieren« (Welker, 1995, S. 101) erinnert den Menschen daran, fürsorglich und verantwortungsvoll mit seiner Lebenswelt umzugehen. So verstanden äußert sich die menschliche Gottebenbildlichkeit in der Aufgabe, »dem Geschöpflichen Gottes Solidarität und Fürsorge entgegen [zu] bringen.« (S. 103) Der Mensch befindet sich als Imago Dei in einer »Solidargemeinschaft mit den Tieren« und als solches mit allem Geschöpflichen. Diese fürsorgliche Beziehung zu der ihn umgebenden Lebenswelt erinnert an die grundsätzliche Relationalität des Menschen, die seit der »Renaissance der Trinitätstheologie« im vergangenen Jahrhundert besondere Aufmerksamkeit im theologischen Diskurs genießt – vorangetrieben u. a. durch die Theologie Karl Barths (1886–1968) und Karl Rahners (1904–1984). Der britische Theologe Colin E. Gunton (1941–2003) verfolgte diese Spur weiter und betont, dass Gott die Beziehung zwischen Vater, Sohn und heiligem Geist ist. Als solche ist er ein »being-in-relation«. Gott ist ein Gott in Beziehung und deswegen macht auch gerade die Relationalität des Menschen seine Gottebenbildlichkeit aus. Er steht in einer ontologischen Beziehung zu Gott und dadurch auch in Beziehung zu seinen Mitmenschen und zu seiner Umwelt: »To be created in the image of God places us first in relation to human beings especially to the ›other‹ that man and woman are created to be and second to the rest of the created order.« (Gunton, 2002, S. 41) Die Bezie-

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hungen zu den anderen Menschen als Bilder Gottes haben hier eine besondere Bedeutung, da sie den Menschen zu der Person machen, die er ist bzw. wird. Eine direkte Gegenüberstellung des Rogerschen und eines christlichen Menschenbildes zeigt, dass die »Fully Functioning Person« ohne Transzendenzbezug auskommt, während die Schöpfungsberichte das Imago Dei immer in Angewiesenheit auf seinen Schöpfer darstellen. In beiden Konzepten spielt die Relationalität eine fundamentale Rolle – auch wenn sie verschieden begründet wird: Sie wird im nächsten Abschnitt näher betrachtet.

2 Fundamentale Relationalität

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Die Konzentration auf die Person ist eine weitreichende Grundannahme, die den PzA nicht nur von anderen therapeutischen Ansätzen unterscheidet, sondern auch unmittelbare Konsequenzen für die pastorale Praxis hat. Im Vergleich zu anderen Ansätzen hat die Fokussierung auf die Person einen fast revolutionären Zug: Nicht das Problem des Gegenübers steht im Mittelpunkt, sondern die Person so wie sie sich erfährt. Auch wenn diese grundlegende Transformation vielleicht »eine zu stille Revolution« (Schmid, 1995; Schmid, 2008b) war, ist nicht zu übersehen, dass dadurch die Kategorie der Begegnung zu einem Grundmoment des PzA wurde. In der Begegnung erfährt die Person, wie eine andere Person sie wahrnimmt und eben durch diese Wahrnehmung kann eine neue innere Wahrnehmung seiner Selbst hervorgerufen werden, da es die Erfahrungen in der Begegnung sind, die die Selbstaktualisierung des Menschen stimulieren. Die pastorale Gesprächsbeziehung ist kein »Mittel zum Zweck« (Schmid, 2008b, S. 124), vielmehr ist die Beziehung sui generis der entscheidende Faktor. Aus Personzentrierter Perspektive ist festzuhalten, »dass es die Begegnung, die un-Mittel-bar gegenwärtige Beziehung von Person zu Person ist, die das Wesen des Therapeutischen ausmacht.« (S. 125) »Der Gesprächspartner lernt, mit sich selbst so umzugehen, wie der Berater mit ihm umgeht, sich also selbst besser und offener wahrzunehmen, echter zu sein und sich zu akzeptieren. So entsteht ein neuer ›innerer Dialog‹ des Betroffenen. Mehr und mehr setzt er sich mit seinem Erleben auseinander.« (Schmid, 1995, S. 52 f.)

Rogers selbst kam zunehmend zu der Überzeugung, dass diese Kraft der Begegnung nicht nur im therapeutischen Setting, sondern in allen Beziehungen durchklingt.

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»Diese Aussage trifft, glaube ich, zu, gleichgültig, ob ich von meiner Beziehung zum Klienten, zu einer Gruppe von Studenten oder Kollegen, oder von meiner Beziehung zu meiner Familie oder meinen Kindern spreche. Mir scheint, daß wir hier eine allgemeine Hypothese haben, die aufregende Möglichkeiten der Entwicklung von kreativen, anpassungsfähigen, autonomen Menschen bietet.« (Rogers, 1973/2016, S. 52)

Auch wenn Rogers sich erst später mit dem dialogischen Personalismus Martin Bubers (1878–1965) auseinandersetzte, sind die Konvergenzen zwischen dem dialogischen Prinzip und der Selbstaktualisierung nicht zu übersehen (siehe hierzu S.-M. Kingreen, I.7, S. 142–147). Auch in die theologische Anthropologie fand Buber seinen Eingang und seine Dialogphilosophie wurde von Karl Heim (1874–1958), Friedrich Gogarten (1887–1967), Emil Brunner (1889–1966) und vor allem auch von Karl Barth rezipiert. Letzterer legt dar, dass der Mitmensch den Menschen in einer konkreten Geschichtlichkeit begegnet und gerade »in der Tota­ lität dessen, was er war, ist und sein wird und eben in dieser Totalität das Du [ist], ohne das mein Ich kein menschliches sein kann.« (Barth, 1948, S. 630) Geprägt von seiner Vergangenheit und von seiner Zukunft prägt das Du der einen Person das Ich der anderen Person, indem sie gegenseitig Zeit für sich haben: »Was Gott und was der Mitmensch für mich sind, das sind sie mir in der Geschichte ihres Seins und Tuns und also in der Zeit, die sie auch für mich haben.« (S. 630). Barth verwendet die Begriffe »Begegnung« und »Geschichte« analog (siehe hierzu Becker, 1986, S. 175–187), da die zwischenmenschlichen Beziehungen sich alle in einer andauernden Geschichte mit einem Anfang und einem Ziel vollziehen und demnach, so Barth, grundsätzlich zeitlichen Charakter haben. »Wir mögen dabei wohl daran denken, daß Zeithaben für einander, obwohl das scheinbar nur eine inhaltsleere Form ist, in Wirklichkeit bereits den Inbegriff aller Wohltaten bezeichnet, die ein Mensch dem andern erweisen kann. Wenn ich jemandem meine Zeit wirklich schenke, dann schenke ich ihm eben damit das Eigentliche und Letzte, was ich überhaupt zu verschenken habe, nämlich mich selber.« (Barth, 1938, S. 60)

Das Zeithaben füreinander unterstreicht die Bedeutung der fundamentalen Relationalität und sagt auch bei Barth aus, dass das Ich in der Begegnung mit einem Du konstituiert wird. Eine theologische Anthropologie unterscheidet sich hierhin weder von dem dialogphilosophischen Denken noch von dem PzA. Auch wenn Rogers eine große Nähe zu Buber hat, unterscheiden beide Denker sich in einer wesentlichen Hinsicht. Nach Buber steht hinter jedem Du Gott als das »ewige Du« und begegnet der Mensch in jedem Du letztendlich

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Gott: »Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du.« (Buber, 1923/2006a, S. 76) Es ist der fehlende Gottesbezug, der den PzA auch von einer theologischen Anthropologie unterscheidet. Denn: »Die entscheidende These einer christlichen theologischen Anthropologie besteht darin, daß Menschsein als In-Beziehung-Sein in der Beziehung des dreieinigen Gottes zur Menschheit begründet ist.« (Schwöbel, 2002, S. 194) Die Barthsche Anthropologie zeigt exemplarisch, dass die Kategorie der Relationalität einen selbstverständlichen Platz in der theologischen Anthro­ pologie einnimmt. Wie in 1. dargelegt, gründet das menschliche Sein in Beziehungen in der Beziehung des Menschen zu Gott bzw. in Gottes Beziehung zu dem Menschen. Eben als Bild des dreieinigen Gottes, der die Beziehung zwischen Vater, Sohn und Geist ist, ist der Mensch ein Beziehungswesen und lebt er in einer Beziehung zu seinem Gott, zu seinen Mitmenschen, zu seiner Umwelt und auch zu sich selbst. Die menschliche Beziehungsangewiesenheit hängt wesentlich mit seiner Gottebenbildlichkeit zusammen. Dazu ist festzuhalten, »daß die Beziehung Gottes zur Menschheit der Schlüssel zum Verständnis aller Beziehungen ist, in denen der Mensch existiert, einschließlich der Beziehung des Menschen zu Gott.« (Schwöbel, 2002, S. 195) Gottes Beziehung zur Menschheit äußert sich nicht nur in der ontologischen Verfassung des Menschen, sondern auch in der Art und Weise, wie der Mensch Erkenntnis über seine Verfassung erlangt. Theologisch betrachtet ist es Gottes Offenbarung in Jesus Christus, die das wahre Menschsein enthüllt: Als wahrer Gott und wahrer Mensch erschließt er sowohl Gott selbst als auch das Menschsein. Die christologische Perspektive des Menschen enthüllt einerseits, welche Bestimmung das menschliche Leben hat, andrerseits auch, wie der Mensch sich eben von dieser Bestimmung entfremdet hat. Bevor in 3. auf die Gemeinschaft mit Gott als Bestimmung des Menschen eingegangen und in 5. eine hamartiologische Perspektive auf die Entfremdung eben dieser Bestimmung eröffnet wird, seien hier die methodische Konsequenzen bedacht. Wenn man, so Christoph Schwöbel, den Menschen aus christologischer Sicht versteht, kann auch nur Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus angemessene Erkenntnis des Menschseins bieten und ist sie folglich nicht aus empirischer Wahrnehmung abzuleiten. »Darum sollte das Verhältnis der theologischen Anthropologie zu nicht-theologischen Anthropologien nicht im Sinne der Ausrichtung auf eine mögliche (theologische) Synthese verstanden werden, sondern als dialogische Beziehung.« (S. 197) Diese »dialogische Beziehung« zwischen dem theologisch-anthropologischen und dem Personzentrierten Menschenbild zeichnet zuerst eine Übereinstimmung in der geschicht­ lichen bzw. prozesshaften Entwicklung der menschlichen Bestimmung aus (3.).

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3  Menschsein als Geschichte In seiner »Systematischen Theologie« beginnt Wolfhart Pannenberg (1928–2014) die Anthropologie mit folgendem programmatischen Satz: »Grundlegend für die Personalität jedes einzelnen Menschen ist seine Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott.« (Pannenberg, 1991, S. 232) Es sind demnach nicht die menschlichen (Un-)Taten, die dem Menschen Personalität schenken, sondern es ist seine von Gott gesetzte Bestimmung, die ihm seine Identität garantiert. Während Pannenberg den Menschen zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt sieht, zielt Rogers vielmehr auf die reife Persönlichkeit. Nicht nur die Bestimmung des Menschen unterscheiden sich bei Rogers und Pannenberg, sondern auch die Quelle der Energie, die zu diesem Ziel führt. Nach Pannenberg ist der Mensch eine ‫נפׁש חיה‬: eine lebendige Seele, indem Gott ihm Lebensatem einbläst (Gen 2,7) und der Mensch ist somit ein auf Dauer gottesbedürftiges Geschöpf. Wenig überraschend sieht Rogers im Personzentrierten Prozess keine Notwendigkeit zu einer göttlichen Beseelung des Menschen. Er hebt vielmehr hervor, »daß das Individuum in sich die latente, wenn nicht offene Fähigkeit und Neigung hat, sich vorwärts auf psychische Reife hin zu entwickeln.« (Rogers, 1973/2016, S. 49) Die grundverschiedene Vorstellung der menschlichen Bestimmung bei Rogers und Pannenberg beruht auf den jeweiligen humanistisch psycholo­ gischen bzw. theologischen Vorannahmen und erstaunt deswegen nicht. Bemerkenswert ist vielmehr, dass beide Denker die Bedeutung des prozesshaften bzw. geschichtlichen hervorheben. Pannenberg legt dar, dass der Mensch nicht nur eine lebendige Seele, sondern auch Bild Gottes ist. Im Anschluss an Irenäus von Lyon stellt er jedoch fest, dass der Mensch ‫( בצלמנו כדמונו‬Gen 1,26) geschaffen worden ist. Er ist zum (‫)ב‬ Bilde Gottes geschaffen und als solcher während seines Lebens auf dem Weg zu diesem Bild. Es ist deswegen die Geschichte, die Pannenberg als das principium individuationis der menschlichen Identität auffasst. Wo Pannenberg die Geschichte als Weg zum Ziel definiert und eben dieses Ziel den Menschen auf diesem Weg antreibt, sieht Rogers die Selbstaktualisierungstendenz des Menschen als treibende Kraft. Die Tendenz zur Aktualisierung äußert sich in der Lebensgeschichte eines jeden Menschen, da sich in ihr die Selbstentwicklung realisiert. Diese Entwicklung ist ein ständiger und dadurch sehr dynamischer Prozess. Seine Richtung ist im PzA grundsätzlich als aufbauend zu verstehen: »Der Mensch hat in einer fruchtbaren Atmosphäre die Freiheit, jede Richtung zu wählen; tatsächlich wählt er jedoch eine kon­struktive.« (Schmid, 1995, S. 102)

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Pannenberg und Rogers unterscheiden sich in ihrer Begründung der geschichtlichen Nicht-Realisierbarkeit der menschlichen Personalität. Pannenberg zufolge wird der Mensch in der Geschichte mit der Vorläufigkeit seines Seins konfrontiert: »Ohne den Aspekt der Geschichte bliebe das Bewusstsein der in der Gegenwart noch nicht erreichten Vollendung, bliebe das Leiden an den Widersprüchen, an den Absurditäten und Ungerechtigkeiten der gegenwärtigen Welt verdrängt.« (Pannenberg, 1983, S. 502 f.)

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In den Erfahrungen von Begrenztheit und Endlichkeit leuchtet die Bestimmung des Menschen auf: die Gemeinschaft mit Gott, die primär aus der Teilhabe an seinem unvergänglichen Leben besteht. Bis zum Erreichen dieser Bestimmung ist die menschliche Persönlichkeit offen und unabgeschlossen. Auch Rogers nimmt die menschliche Persönlichkeit prinzipiell als offen und unabgeschlossen wahr. Ihre Offenheit beruht seiner Meinung nach allerdings nicht auf ihrer jenseitigen Realisierung, sondern vielmehr auf der erstaunlichen Kraft, die dem Menschen von Kind an innewohnt. Jeder Mensch befindet sich durch eine ihm innewohende Wachstumskraft immer in Bewegung und es tun sich immer wieder und immer wieder neue Entwicklungspotenziale auf. Die Unabgeschlossenheit der menschlichen Persönlichkeit hängt dabei schlicht damit zusammen, dass auch die Welt, in der der Mensch lebt, sich in ständiger Bewegung befindet: Jede Person interagiert mit der sie umgebenden Welt und diese Interaktion zieht weitere Selbstaktualisierung nach sich. Die Entwicklungsrichtung ist dabei – anders als bei Pannenberg – offen: »Das gute Leben ist ein Prozess, kein Daseins-Zustand. Es ist eine Richtung, kein Ziel. Die Richtung, die für das gute Leben konstitutiv ist, wird vom gesamten Organismus gewählt, sofern die psychische Freiheit vorhanden ist, sich in jede Richtung zu entwickeln.« (Rogers, 1973/2016, S. 186)

4  Sein im Fragment Der Mensch erfährt zeit seines Lebens seine Begrenztheit und Endlichkeit und es sind nach Pannenberg eben diese Erfahrungen, die deutlich machen, dass er zum Bilde Gottes geschaffen ist und zu seiner Gottebenbildlichkeit unterwegs ist. Henning Luther (1947–1991) hat diese Unabgeschlossenheit der mensch-

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lichen Identität unter dem Stichwort »Fragment« thematisiert. Er setzt bei der Anwendung des Identitätskonzepts in der Praktischen Theologie ein und würdigt, dass mit der Subjektorientierung zugleich auch Aufmerksamkeit für den Entwicklungsgang des Subjekts entstanden ist: »Identitätsentwicklung meint danach nicht die Gründung und Behauptung einer Identität als vielmehr den ständigen Prozeß der durch Abgrenzungsleistungen sich vollziehende Identitätssuche.« (Luther, 1992, S. 162) Wenn es um die Suche nach der Identität geht, liegt es nahe, daran zu glauben, dass die Suche irgendwann auch eingestellt werden kann, nämlich dann, wenn das Gesuchte – in diesem Fall die Identität – gefunden ist. Dies widerspricht jedoch der intrinsischen und somit kontinuierlichen Dynamik von Entwicklungsprozessen. »1.  Jedes Stadium der Ich-Entwicklung stellt immer auch einen Bruch, Verlust dar (und nicht nur Wachstum und Gewinn). Insofern sind wir immer auch die Ruinen unserer Vergangenheit. In Krisen wird dieser normale Tatbestand nur dramatisch erfahrbar. 2. In jedem Stadium der Ich-Entwicklung sind wir aber immer auch Ruinen der Zukunft, Baustellen, von denen wir nicht wissen, ob und wie an ihnen weitergebaut wird; wir wissen immer nur, daß der Bau noch nicht vollendet ist. Gegen die Erstarrung steht die Sehnsucht, die Bewegung der Selbsttranszendenz. 3. In jedem Stadium der Ich-Entwicklung sind wir durch andere in Frage gestellt. In jeder Begegnung mit anderen wird unsere Identität neu herausgefordert. Das beharren auf einer sich gleichbleibenden Identität wird durch die Erfahrung der Differenz erschüttert.« (Luther, 1992, S. 167)

Der Mensch lebt demnach im Fragment und seine Identität ist grundsätzlich unabgeschlossen. Für Luther liegt hierin das Eigentümliche des christlichen Identitätsverständnisses: Gerade wenn der Mensch sich als Fragment versteht, ist er sich seines Angewiesenseins auf Vollendung zum Ganzen bewusst. Argumentativ nimmt der Zusammenhang von Kreuz und Auferstehung eine zentrale Position ein: Er zeigt, dass Jesus die Fragmentarität seines Lebens angenommen hat und auf eine dauerhafte Ganzheit verzichtet hat. »Im Glauben an Kreuz und Auferstehung erweist sich, daß Jesus nicht insofern exemplarischer Mensch ist, als er eine gelungene Ich-Identität vorgelebt hätte, gleichsam ein Held der Ich-Identität wäre, sondern insofern exemplarischer Mensch, als in seinem Leben und Tod das Annehmen von Fragmentarität verwirklicht und ermöglicht ist.« (Luther, 1992, S. 173)

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Dagegen liegt die Betonung bei Rogers nicht auf dem Fragmentarischen, sondern auf der Entfaltung des Selbst, die sich gerade durch das Integrieren von Inkongruenzen in das Selbstkonzept entwickelt. Während der PzA die selbstkongruente und ausgeglichene Person hinter den Bruchstücken des Lebens am Horizont sieht, unterstreicht Luther, dass vielmehr das Annehmen der Vorläufigkeit der Ich-Identität Ziel der Seelsorge ist. Die Wertschätzung der Fragmentarität findet er exemplarisch in der Begegnung Jesu mit einem Blindgeborenen vor (S. Luther, 1992, S. 174): Jesus führt die Blindheit weder auf Sünde seiner Eltern noch auf eigene Sünde zurück, »sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.« (Joh 9,3) Die positive Annahme der Sehbehinderung als über sich hinausweisende Vorausschau auf die Vollendung und die mit ihr gegebene Umwertung der üblichen Bewertung heben das eigentümlich Christliche der Fragmentarität hervor: In Jesu Augen ist das Fragment mehr als ein Bruchstück, weil es über sich selbst hinausweist. Der Mensch ist in seiner über sich selbst hinausweisenden Fragmentarität ein Vorschein seiner von Gott in Zukunft definitiv realisierten Persönlichkeit. Rogers und Luther stimmen darin überein, dass Fragmente und Bruchstücke im Leben nur dann fruchtbar sein können, wenn sie in der Selbsterfahrung aufgenommen werden. Die Wertung der Fragmentarität unterscheidet sich jedoch, indem Luther mit den Ruinen der Vergangenheit, den Baustellen der Zukunft und den Differenzerfahrungen in der Gegenwart zu einer Annahme der prinzipiellen Unabgeschlossenheit der menschlichen Identität ermutigt. Ziel der Identitätsentwicklung ist seiner Meinung nach nicht, ein »Held der Ich-­Identität« zu werden, sondern gerade in der Annahme der Fragmentarität Mensch zu sein. Denn: »Das Elend des Menschen liegt in dem fragmentarischen Charakter seines Lebens und seiner Erkenntnis, die Größe des Menschen liegt in seiner Fähigkeit, zu wissen, daß das Sein fragmentarisch und rätselhaft ist.« (Tillich, 1952, S. 106)

5  Sünde als Störung der Selbstverwirklichungstendenz In dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von »A Way of Being« legt Rogers seine Grundüberzeugung dar, dass der Mensch ein konstruktives Wesen ist. Rogers selbst versteht diese optimistische Wahrnehmung des Menschen explizit nicht als einseitig oder naiv: »Ich bin nicht blind für das unglaubliche Maß an sinnloser Gewalt, für die abscheulichen und zerstörerischen Verhaltensweisen und für die Kriege und Kriegsdrohungen, die unsere Gesellschaft kennzeichnen.« (Rogers, 1973/2016, S. 7) Die Anfrage an sein Menschenbild wird dadurch aller-

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dings nicht weniger prägnant: »Erfasst Rogers Menschenbild die Tiefe der zerstörerischen Kräfte der Menschen, oder ist es im Hinblick auf die täglich geschehenden Grausamkeiten nicht zu optimistisch?« (Lemke u. Thürnau, 2016, S. 342) Es ist gerade die optimistische Perspektive auf die menschliche Natur, die Rogers theolo­gischerseits Kritik entgegengebracht hat: »Es wird ihm Einseitigkeit, Naivi­ tät und mangelnde Differenziertheit vorgeworfen.« (Schmid, 1995, S. 109) Rogers begründet seine optimistischen Wahrnehmung der menschlichen Natur nur lapidar – »Die Vermutung folgt aus unserer klinischen Erfahrung.« (Rogers, 1973/2016, S. 110) Als gesichert darf jedoch betrachtet werden, dass sie auch als eine Reaktion auf seine eigene religiöse Biografie zu verstehen ist. Rogers’ streng calvinistische Kindheit prägte seine Wahrnehmung des christ­ lichen Menschenbildes einseitig negativ: »Religion, vor allem die protestantische christliche Tradition, hat unsere Kultur mit der Grundansicht durchdrungen, daß der Mensch im Wesen sündhaft ist […]« (S. 100). Am 7. März 1965 traf Carl Rogers sich mit Paul Tillich (1886–1965) zu einer Debatte an dem San Diego State College. In diesem Gespräch – dem letzten öffentlichen Auftritt des Theologen Tillich vor seinem Tod – setzen beide sich mit Hauptmomenten ihres Denkens auseinander. In dem ersten Teil findet ein Austausch über die menschliche Natur und über die Freiheit statt. Rogers betont, »dass das Individuum […] in einer Beziehung wirklicher Freiheit sich nicht nur in Richtung auf tieferes Selbst-Verstehen hin bewegt, sondern auch in Richtung auf sozialeres Verhalten.« (Rogers u. Tillich, 1995/2014, S. 261) In seiner Reaktion zeigt Tillich, dass er eher skeptisch über die Realisierung eben dieser Freiheit ist, da sie aus seiner Sicht eine ontologische Polarität mit dem Schicksal formt: »Der Mensch ist Mensch, weil er Freiheit hat, aber er hat Freiheit nur in polarer Abhängigkeit von Schicksal.« (Tillich, Theologie I, 1987a, S. 214) Einerseits kann der Mensch Argumente und Motive frei abwägen, sich selbst in einer Sache entscheiden, diese Entscheidung auch begründen und somit seine Freiheit »als Erwägung, Entscheidung und Verantwortung erfahren.« (S. 216) Andrerseits ist jede Freiheit immer auch eine begrenzte Freiheit, indem die Person nur als diejenige Entscheidungen treffen kann, wie sie in der Totalität ihres Seins geworden ist. »Unser Schicksal ist das, aus dem unsere Entscheidungen hervorgehen: es ist die unbestimmte breite Basis unseres selbstzentrierten Selbst, es ist die Konkretheit unseres Seins, die all unsere Entscheidungen zu unseren Entscheidungen macht. […] Schicksal ist nicht eine fremde Macht, die determiniert, was mir geschehen soll. Ich bin es selbst, und zwar geformt durch Natur, Geschichte und mich selbst.« (Tillich, Theologie I, 1987a, S. 217)

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Von besonderem Interesse für die theologische Auseinandersetzung mit dem Bösem ist der Teil zum Dämonischen und zur Entfremdung. Für Tillich ist das Dämonische ein zentrales religiöses Symbol, das sich in allen Bereichen des Lebens manifestiert. Er versteht es nicht als antigöttliche Kraft, sondern als Überhebung einer endlichen Größe zu göttlicher Größe: »Der Anspruch eines Endlichen, unendlich und von göttlicher Größe zu sein, ist das Charakteristikum des Dämonischen.« (Tillich, Theologie III, 1987b, S. 125) Tillich denkt hier an die Forderung unbedingter Hingabe an den Staat oder an Führertypen, oder auch an »spezielle Triebe im inneren des Menschen, die das personale Zentrum in ihre Gewalt bringen« (S. 126). Die Überhebung zur göttlichen Größe ruft jedoch Widerspruch von anderen endlichen Größen hervor und führt somit zu einem Zustand der Gespaltenheit, die das Hauptmerkmal des Dämonischen ist. »Solche dämonischen Strukturen in Person und Gemeinschaft können nicht durch Akte der Freiheit oder des guten Willens überwunden werden.« (S. 126) Tillich deutet sie als Hybris und betont zugleich, dass der Mensch so in Entfremdung von seiner existenziellen Natur lebt: »In seiner existentiellen Selbstverwirklichung wendet er sich seiner Welt und sich selbst zu und verliert seine essentielle Einheit mit dem Grunde von Selbst und Welt.« (Tillich, Theologie II, 1987a, S. 55) Tillich setzt die Entfremdung des Menschen nicht mit der Sünde gleich, da der Begriff »Sünde« seiner Meinung nach einen zusätzlichen Aspekt hervorhebt, der in dem Begriff Entfremdung nicht enthalten ist: »Das Wort Sünde enthält das persönlich-aktive sich Wegwenden von dem, wozu man gehört. Es bringt den persönlichen Entscheidungscharakter der Entfremdung zum Ausdruck.« (S. 54) Der wesentliche Unterschied liegt letztendlich darin, dass Rogers die Bedeutung des Gegenübers in der Begegnung als zentral erkennt und Tillich Gott als das Sein-Selbst als konstitutiv sieht: »Es ist die Macht des Seins, an der alles Seiende teilhat.« (Tillich, Theologie I, 1987a, S. 267) Als Bild des dreieinigen Gottes ist der Mensch ein Beziehungswesen und als Sünder entfremdet er sich von dieser Bestimmung seines Seins. Indem er sich aktiv von seiner Beziehung von Gott wegwendet, entfremdet er sich auch von der Beziehung zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst. Der Begriff der Sünde ist also nicht zuerst moralisch zu deuten, sondern vielmehr als persönliche Entfremdungsentscheidung des Menschen zu verstehen, die von seiner Natur und von seiner Lebensgeschichte geprägt wird und dadurch seine Handlungsoptionen reduziert. Die Sündhaftigkeit des Menschen ist damit aus theologischer Sicht keine pauschale Vorverurteilung der menschlichen Natur, sondern warnt vielmehr vor unterkomplexen und zu einfachen Selbstentfaltungs­erwar­tungen.

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6 Ausblick Rogers geht davon aus, dass die menschliche Natur »sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch« (Rogers, 1973/2016, S. 99 f.) ist. Diese positive Perspektive auf den Menschen ist sicherlich in Abgrenzung zu dem ihm in seiner Kindheit vermittelten Menschenbild zu verstehen, beruht jedoch vor allem auf Erfahrungen aus seiner klinischen Praxis. Rogers sieht den Menschen als ganzheitliches Wesen mit seiner Umwelt interagieren und in dieser Begegnung sich selbst erfahren und deuten. Die Beziehungsangewiesenheit der mensch­ lichen Aktualisierungstendenz rückt das Menschenbild des PzA dadurch in enge Verbindung zu der christlichen Anthropologie, dass der Mensch aus christlicher Sicht als Imago Dei ein grundsätzlich relationales Wesen ist: Als Bild des dreieinigen Gottes – der Beziehung hat und ist – existiert der Mensch in fürsorglichen und verantwortungsvollen Beziehungen zu sich selbst, zu anderen Menschen und auch zu seiner Lebenswelt. Das Sein in der Begegnung als Grundmoment des PzA verbindet Rogers eng mit dem christlichen Menschenbild, deckt jedoch zugleich auch eine wesentliche Verschiedenheit auf. Während Rogers sein Menschenbild aus empirischer Wahrnehmung von interpersonalen Begegnungen ableitet, setzt eine evangelisch-theologische Anthropologie bei Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus ein und öffnet dadurch den Blick auf »das ewige Du« (Buber) hinter allen Begegnungen. Das Sein in der Begegnung betont die Prozesshaftigkeit des Seins. Der Mensch befindet sich in einer offenen und unabgeschlossenen Bewegung zu seiner Bestimmung, sei sie die Gemeinschaft mit Gott oder auch die reife Persönlichkeit. Der Unterschied zwischen Rogers und theologischer Anthropologie ist auch hier in dem fehlenden Gottesbezug zu finden: Während Rogers die Unabgeschlossenheit des Seins mit der immer in Bewegung seienden menschlichen Wachstumskraft verbindet, begründet Pannenberg sie mit der jenseitigen Realisierung der Bestimmung des Menschen. Auch die Kraft und Energie für diesen Prozess wird dementsprechend anders verortet: Rogers betont, dass die Selbstaktualisierungstendenz in Bewegung setzt und Pannenberg hebt hervor, dass es Gott ist, der den Menschen zu einer lebendigen Seele macht. Die dynamische Unabgeschlossenheit des menschlichen Seins heißt bei Rogers, dass der Mensch sich immer weiter entfaltet, in diesem Prozess Inkongruenzen in der Selbsterfahrung aufnimmt und so zu einer psychisch reifen Person wird. Er legt dabei den Schwerpunkt auf den Menschen als selbst­kongruente und ausgeglichene Person, die sich immer neu verwirklicht. Luther hebt dagegen die Unabgeschlossenheit der menschlichen Identität hervor und betont, dass das Eigentümliche des christlichen Identitätsverständnisses sich vielmehr in der

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Annahme der Bruchstückhaftigkeit des Menschen zeigt: Als Fragment weist der Mensch über sich selbst hinaus und offenbart so etwas von seiner von Gott in Zukunft realisierten Persönlichkeit. Tillich hat mit dem Begriff der Entfremdung gezeigt, dass der Mensch in der Konkretheit seines Seins Entscheidung trifft und Verantwortung übernimmt, aber auch, dass diese Freiheit zur Selbstentfaltung begrenzt ist: Der Mensch ist der, der er in der Geschichte seines Seins geworden ist und dementsprechend sind auch seine Möglichkeiten zur Entfaltung eingeschränkt. Eine nicht-­ moralische Lehre der Sünde kann als Korrektiv für das Rogersche Menschenbild funktionieren, indem sie die innere Gespaltenheit des Menschen auf die Überhebung zu unendlicher Größe zurückführt und als Entfremdung seiner existenziellen Natur versteht und ernst nimmt. Indem die Sünde den persönlichen Entscheidungscharakter der Entfremdung zum Ausdruck bringt, wird der Mensch dabei zugleich nicht aus der Verantwortung entlassen. Die Beziehungsangewiesenheit des Menschen, die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins und seine fragmentarische Unabgeschlossenheit sind Strukturmomente, die die christliche Seelsorge für den PzA öffnen. Dabei ist die Frage nach dem Fehlen des Gottesbezuges gar nicht entscheidend, wie Anne Steinmeier in ihrer Studie zur Verhältnisbestimmung von Theologie und Psychoanalyse darlegt. Sie sieht Gott in der Entwicklung des Selbst am Werk und interpretiert das »Subjektwerden als Prozeß der Gotteswirklichkeit« (Steinmeier, 1998). Jeder Mensch wird als ein Selbst geboren und dieses Selbst hat die Freiheit sich zu entfalten und zu entwickeln. Diese Freiheit ist jedoch nie ungefährdet und bedeutet somit zugleich, dass die Realität des Lebens leicht hinter seinen Möglichkeiten zurückbleiben kann. Dieses gefährdete Subjektwerden ist allerdings dadurch ein Prozess der Gotteswirklichkeit, »daß Gott selber Mensch geworden ist. Es gibt keinen Ort der Leibhaftigkeit von Fleisch und Blut, den Gott nicht kennt und in dem er selbst und also wesentlich mit dem Menschen verbunden ist.« (Steinmeier, 1998, S. 198) Die Konstruktion des Selbst in der Wahrnehmung der Mitmenschen und der Umwelt ist nicht ohne Gott und die Entwicklung der Persönlichkeit eines jeden Menschen in seinen subjektiven Konstruktionen steht in einer direkten Verbindung zu ihm, sowohl in den Höhen- als auch in den Tiefflügen des Prozesses der Selbstwerdung. »Der Prozeß der Selbstwerdung, der Kampf im Ringen und Verlieren und Neubeginnen, die Flucht vor sich selbst und der Mut, sich mit den eigenen Kräften der Zerstörung auseinanderzusetzen, ist theologisch zu verstehen als Prozeß, in dem Gott selbst je neu, je anders zur Welt kommt, als Prozeß der Gotteswirklichkeit, wie sie in jedem Leben gegenwärtig ist. In der kontingenten Subjektivität von Men-

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schen schenkt Gott sich Menschen und liefert sich daran ans Menschliche aus.« (Steinmeier, 1998, S. 200)

Wenn das Subjektwerden als Prozess der Gotteswirklichkeit zu verstehen ist, bedeutet dies angewendet auf die als psychisch völlig gesunde Person bei Rogers, dass Gott gerade in der Selbstaktualisierung als Realisierung des erwachenden Selbst anwesend ist und zur Welt kommt.

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 Geheimnisträger Mensch – Rahners radikaler Ansatz im Gespräch mit der Humanistischen Psychologie Rogers’

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Mit Carl R. Rogers (1902–1987) wird im Folgenden einer der bedeutendsten Vertreter der Humanistischen Psychologie in ein Gespräch mit Karl Rahner (1904–1984), einem der renommiertesten theologischen Denker in der katholischen Kirche des 20. Jahrhunderts, gebracht. Beide sind jeweils geprägt von den Entwicklungen ihrer Zeit und in ihrem Fach und haben umgekehrt diese stark mit beeinflusst. Das Spannungsverhältnis zwischen der empirisch-phänomenologischen Methodik Rogers’ und seiner Neigung, Fragmente philosophisch-reflexiven Denkens zur Erläuterung seiner Erfahrung zu integrieren, lädt ein, seinen Einsatz im Sinne einer Rahnerschen Radikalisierung zu vertiefen. Diese Zielsetzung des vorliegenden Kapitels erfolgt, indem zuerst auf eine gemeinsame, aber getrennt voneinander stattfindende Veränderung der Sichtweise auf den Menschen in Psychologie und Theologie eingegangen wird (1), bevor das Miteinander und Zueinander der beiden Wissenschaftsdisziplinen im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils und in der Theologie Rahners in den Blick genommen wird (2). Den Impuls Rahners für das interdisziplinäre Gespräch folgend, werden anschließend exemplarische Aspekte des Personzentrierten Ansatzes (PzA) im Sinne einer Radikalisierung der Humanistischen Anthropologie Rogers’ interpretiert (3). Die wechselseitigen Rückfragen aus der Perspektive der Humanistischen Psychologie einerseits und aus theologischer Perspektive andererseits (4) münden in ein zusammenfassendes Fazit (5).

1  Die anthropologische Wende in Psychologie und Theologie Insbesondere in der Humanistischen Psychologie spielt das zugrunde liegende Menschenbild eine zentrale Rolle. So schreibt Rogers: »Ich glaube, […] daß ich über die Jahre hinweg einen sehr weiten Weg zurück­gelegt habe, wenn man bedenkt, von welchen Annahmen ich ausgegangen war: daß der

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Mensch im Wesen böse ist; daß man ihn, als professioneller Helfer, am besten als Objekt behandelt; daß Hilfe sich auf Fachwissen gründet; daß der Experte den Einzelnen beraten, manipulieren und formen darf, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen« (Rogers, 1980d, S. 196).

Diese bewusste Abgrenzung von den damals vorherrschenden psychologischen Schulen der Psychoanalyse und des Behaviorismus durch Rogers und anderen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten führte zur Herausbildung einer sogenannten Dritten Kraft in der Psychologie, der Humanistischen Psychologie. Als deren Geburtsstunde kann 1962 die Gründung der Amerikanischen Gesellschaft für Humanistische Psychologie gelten, bei der Rogers von Beginn an mitwirkte (Quitmann, 1996). Die Humanistische Psychologie ist ihrer Bezeichnung als Dritter Kraft gemäß ein Sammelbecken von psychologischen Ansätzen und Themen, die in den bisherigen großen Schulen der Psychoanalyse und des Behaviorismus nicht systematisch erfasst waren. So gehört neben Rogers auch die Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn oder die Gestalttherapie nach Fritz Perls dazu. Nach Bugental (1964) basiert die Einheit der Humanistischen Psychologie in der Vielfalt ihrer Ansätze auf folgenden fünf Grundannahmen: »Der Mensch […] ist mehr als die Summe seiner Teile. […] Das Menschsein vollzieht sich in zwischenmenschlichen Beziehungen. […] Der Mensch lebt bewusst. […] Der Mensch hat eine Wahlfreiheit. […] Der Mensch handelt intentional« (Bugental, 1964, S. 24. Übersetzung des Verfassers).

Diese Entwicklungsdynamik Humanistischer Psychologie beschreibt Bugental in Superlativen, die seine Begeisterung nicht verbergen können. Die ganzheitliche Perspektive auf den Menschen der Humanistischen Psychologie eröffnet unabsehbare Möglichkeiten, »als ob eine ganz neue Erdhalbkugel durch einen neuen Kolumbus entdeckt worden wäre« (Bugental, 1964, S. 21. Übersetzung des Verfassers). Quitmann sieht diese Entwicklung innerhalb der Psychologie nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Entwicklungen jener Zeit. »Durch die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte war es den Menschen gelungen, ihre Umwelt zunehmend zu beherrschen und physische Bedürfnisse wie Essen, Trinken und Kleidung weitgehend abzusichern. Von daher traten die

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Probleme des persönlichen Seins und Werdens sowie die Beziehungen der Menschen untereinander immer stärker in den Vordergrund. Es wurde deutlich, daß die rasante technologische Entwicklung der Kontrolle des Menschen entglitten war […]. Eine zunehmende Entfremdung des Menschen gegenüber sich selbst, gegenüber anderen Menschen, gegenüber der Gesellschaft und der Geschichte war verbunden mit einer Trennung von öffentlichem und privatem Leben. Die althergebrachten Identifikationen wie genuine Religiosität, Patriotismus oder familiäre Autorität verloren ihre integrierende Kraft […]. Es war nicht mehr einfach möglich, sich am Wertsystem der Vorfahren oder der Kirche zu orientieren, ohne Wesen und Struktur des gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems in Frage zu stellen.« (Quitmann, 1996, S. 27)

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Inmitten dieser Umbruchszeit findet in der katholischen Kirche von 1962 bis 1965 das Zweite Vatikanische Konzil in Rom statt. Johannes XXIII. spürte den tiefen Graben zwischen dem Anspruch des Glaubens, Wegweiser für alle zu sein, und der Sprachlosigkeit der Kirche für Belange außerhalb ihres inneren Bereichs. Nicht zuletzt deshalb bedürfe es einem »Sprung nach vorwärts, der einem vertieften Glaubensverständnis und der Gewissensbildung zugutekommt« (Kaufmann u. Klein, 1990, S. 136). Drei Jahre später, am 07. Dezember 1965, wurde die Pastoralkonstitution Gaudium et spes (GS) feierlich verabschiedet. Sie bildet im Prozess der Erneuerung von Kirche und Theologie zugleich Grundlage und Maßstab für die pastorale Praxis. In diesem Dokument findet sich folgende Zeitanalyse der Konzilsväter, die stark an Quitmanns Darlegung erinnert: »Heute befindet sich das Menschengeschlecht in einer neuen Epoche seiner Geschichte, in der sich tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt über den gesamten Erdkreis ausbreiten. Vom Verstand und schöpferischen Fleiß des Menschen hervorgerufen, fallen sie auf den Menschen selbst zurück, auf seine individuellen und kollektiven Urteile und Wünsche, auf seine Art und Weise, sowohl in bezug auf die Dinge als auch in bezug auf die Menschen zu denken und zu handeln. So können wir schon von einer wirklichen sozialen und kulturellen Umgestaltung sprechen, die sich auch auf das religiöse Leben auswirkt.« (GS 4)

Im Vordergrund sehen die Konzilsväter die »ängstlichen Fragen nach der heutigen Entwicklung der Welt, nach Stellung und Aufgabe des Menschen im Universum, nach dem Sinn seines individuellen und kollektiven Mühens, schließlich nach dem letzten Ziel der Dinge und Menschen« (GS 3). So verdeutlicht gleich zu Beginn die Pastoralkonstitution Gaudium et spes, dass es in der Pastoral, »auf Lehrprinzipien gestützt«, um die »Haltung der Kirche

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zur Welt und zu den heutigen Menschen« (GS 1, Fußnote zum Titel der Pastoralkonstitution) gehe. Dieser Blick auf die Menschen geschieht in analoger Weise zur Humanistischen Psychologie in einer ganzheitlichen Perspektive: »Der Mensch also, und zwar der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Geist und Willen, wird der Angelpunkt unserer ganzen Darlegung.« (GS 3) Der Grund für die ganzheitliche Perspektive auf den Menschen liegt für das Zweite Vatikanische Konzil im Mysterium der Inkarnation. Die Anthropologie des Zweiten Vatikanischen Konzils kann nicht losgelöst von der Christologie und Theologie betrachtet werden. So verweist GS 22 darauf, dass durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, dieser sich gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt hat. In dieser Gottebenbildlichkeit liegt die Würde des einen und ganzen Menschen begründet. Denn der Sohn Gottes hat »mit Menschenhänden gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit einem menschlichen Willen hat er gehandelt« (GS 22). Diesen engen Zusammenhang zwischen Anthropologie und Theologie entfaltet Karl Rahner im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil. Die Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus bildet hierbei ein zentraler Bezugspunkt. Von ihr ausgehend folgert er: »Wenn Gott selbst Mensch ist und es in Ewigkeit bleibt; wenn alle Theologie darum in Ewigkeit Anthropologie bleibt; wenn es dem Menschen verwehrt ist, gering von sich zu denken, da er dann ja gering von Gott dächte, und wenn dieser Gott das unaufhebbare Geheimnis bleibt, dann ist der Mensch in Ewigkeit das ausgesagte Geheimnis Gottes, das in Ewigkeit am Geheimnis seines Grundes teilhat« (Rahner, 1999, S. 216).

Dieser transzendentale Grund des Menschen ist Bedingung der Möglichkeit, dass dieser über sich selbst hinausgreift in die Weite eines unendlichen Fragehorizontes, »der immer weiter zurückweicht, je mehr Antworten der Mensch sich zu geben vermag« (S. 36). So erweist sich der Mensch vor dem entgrenzten Horizont seines endlichen Fragens selbst als eine Frage, die sich »immer schon überantwortet ist« (S. 36). In dieser Hinsicht ist der Mensch nach Rahner mehr als die Summe seiner Teile. Er ist und bleibt aufgrund der Selbstmitteilung Gottes immer auch Geheimnisträger. Rahner bezeichnet Jesus Christus als den »radikalsten Menschen« (S. 217). »Seine Menschheit [ist] die selbstmächtigste, die freieste, nicht obwohl, sondern weil sie die angenommene, die als Selbstentäußerung Gottes gesetzte ist.« (S. 217) Die menschliche Wirklichkeit Jesu von Nazareth erweist

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sich als Vermittlung zur Unmittelbarkeit Gottes, dem absoluten Geheimnis, insofern er in ihr ungetrennt und unvermischt geschichtlich anwesend ist. Dies aber wiederum ermöglicht dem Menschen in einer persönlichen, je einmaligen Beziehung zu Jesus Christus sich selbst zu entdecken. Eine solche existenzielle Christologie umfasst eine große Bandbreite von Rahners berühmtem Diktum des anonymen Christentums bis hin zu dem »explizit zu sich selbst gekommene[n] Christentum im glaubenden Hören des Wortes des Evangeliums, im Bekenntnis der Kirche, im Sakrament und im ausdrücklichen christlichen Lebensvollzug, der sich selbst als auf Jesus von Nazaret bezogen weiß« (S. 291).

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Vor diesem Hintergrund erweist sich in Rahners Denken die »Christologie [als] Anfang und Ende der Anthropologie, und diese Anthropologie in ihrer radikalsten Verwirklichung ist in Ewigkeit Theologie« (S. 217). Es stellt sich die Frage, wie angesichts dieser Überschneidung von Anthropologie und Theologie im Rahnerschen Denken ein interdisziplinäres Gespräch mit der Humanistischen Psychologie und ihrer Grundannahmen über die Frage nach dem Menschen möglich ist, ohne der Gefahr einer vorschnellen Vereinnahmung der Humanistischen Anthropologie durch die theologische Anthropologie bzw. anthropologische Theologie Rahners anheimzufallen. In welchem Verhältnis stehen also Psychologie und Theologie?

2  Psychologie und Theologie im Gespräch Das Zweite Vatikanische Konzil betont den gemeinsamen Auftrag aller Menschen nicht nur im Dienst an der Entfaltung des Menschen, sondern auch in der Gestaltung einer gerechteren Welt (GS 3). Diese Aufforderung beinhaltet auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Theologie mit den sogenannten profanen Wissenschaften, wie sie Rahner übergreifend bezeichnet. Für das Miteinander und Zueinander der verschiedenen Wissenschaften folgt das Zweite Vatikanische Konzil den Spuren des Ersten Vatikanischen Konzils (1869–1870), indem es die Bedeutung der Eigenständigkeit profaner Wissenschaften bekräftigt und ihre Bedeutung gesondert hervorhebt. »Indem die Heilige Synode das, was das Erste Vatikanische Konzil gelehrt hat, erneuert, erklärt sie, dass es eine zweifache Ordnung der Erkenntnis gibt’, die unterschieden ist, nämlich die des Glaubens und die der Vernunft, und dass die Kirche

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keineswegs verbietet, dass die Kulturen der menschlichen Künste und Wissenschaften […] in ihrem jeweiligen Bereich ihre eigenen Prinzipien und ihre eigenen Methoden anwenden’; daher bekräftigt sie, indem sie diese gerechtfertigte Freiheit anerkennt’, die rechtmäßige Autonomie der menschlichen Kultur und insbesondere der Wissenschaften.« (GS 59)

Diese unaufhebbare Eigenständigkeit profaner Wissenschaft gilt auch hinsichtlich deren Perspektive und Vorgehensweise auch unter der Prämisse, dass es Gott nicht geben könnte (etsi Deus non daretur), quasi einem methodo­logischen Atheismus. Die »methodische Forschung [wird] in allen Disziplinen, wenn sie in einer wahrhaft wissenschaftlichen Weise und gemäß den sittlichen Normen vorgeht, niemals dem Glauben wahrhaft widerstreiten, weil die profanen und die Dinge des Glaubens von demselben Gott ihren Ursprung herleiten.« (GS 36)

Trotz dieser unaufhebbaren Eigenständigkeit profaner Wissenschaften sind sie zugleich mit der Theologie verbunden, insofern »die profanen Dinge und die Dinge des Glaubens von demselben Gott ihren Ursprung herleiten.« (GS 36) In letzter Konsequenz bedeutet dies nach Kießling, »daß im interdisziplinären Konfliktfall der Gegensatz nicht zwingend zwischen irrender Vernunft und unfehlbarer Offenbarung zu suchen ist, sondern vielmehr auch die folgende Alternative vorliegen kann: zutreffende wissenschaftliche Erkenntnis – bedingte und daher überholbare theologische Deutung der Offenbarung« (Kießling, 2004, S. 255).

Für das Gespräch mit der Psychologie ergibt sich außerdem noch eine zweite Verbindung, die in der gemeinsamen Option für den Menschen liegt. Schließlich sollen »in der Seelsorge […] nicht nur die theologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der profanen Wissenschaften [in ihrer Eigenständigkeit; M.K.], vor allem der Psychologie und Soziologie, genügend anerkannt und angewendet werden.« (GS 62)

Diese Anerkennung und Anwendung darf nicht in der Degradierung der anderen Wissenschaften als ancillae theologiae geschehen, sondern ausschließlich in einem aufrichtigen Gespräch konvergierender Optionen in der Sorge um den Menschen (Mette u. Steinkamp, 1983).

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Bei Rahner basiert die Eigenständigkeit und Verbundenheit der unterschiedlichen Wissenschaften auf der Unterscheidung zwischen kategorialer und transzendentaler Erfahrung. Der Mensch erfährt sich als das Wesen der Transzendenz, »indem er die Möglichkeit eines bloß endlichen Fragehorizontes setzt, [und dadurch; M.K.] diese Möglichkeit schon wieder überholt« (Rahner, 1999, S. 36). Diese Transzendenz ist in jedem menschlichen Erkenntnisakt ungewusst und (zumeist) unbewusst mitgegeben. Sie ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit einer gegenständlich kategorialen Erkenntnis. Dieser Horizont lässt sich jedoch nicht weiter begrifflich fassen. Das Woraufhin unserer Erkenntnis »gibt sich uns im Modus des Sichversagens, des Schweigens, der Ferne, des dauernden Sichhaltens in einer Unausdrücklichkeit« (S. 66). Transzendentale Erfahrung nach Rahner wird vermittelt durch kategoriale Erfahrung und ist gleichzeitig die notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit. Daraus folgert Rahner für das interdisziplinäre Gespräch: »Der Unterschied zwischen kategorialer und transzendentaler Erfahrung bedeutet zwar einen ursprünglichen legitimen Unterschied zwischen dem letzten Gegenstand der Theologie und dem der Wissenschaften, so daß diese beiden Größen Theologie und Wissenschaften grundsätzlich legitim und voneinander unableitbar in dem gnoseologischen Pluralismus […] innerhalb des menschlichen Bewußtseins bestehen können« (Rahner, 2001b, S. 709).

Hiermit bestätigt Rahner die irreversible Eigenständigkeit der profanen Wissenschaften gegenüber der Theologie bei gleichzeitiger Verbundenheit über die gemeinsame unhintergehbare »Entschränktheit auf die unbegrenzte Weite aller möglichen Wirklichkeit« (Rahner, 1999, S. 26). Im interdisziplinären Gespräch tragen beide Interaktionspartner Verantwortung für dieses in jeder kategorialen Erkenntnis mitbewusste geheimnisvolle Humanum. So kann Rahner sagen, »daß jeder Mensch im Grunde gar nicht vermeiden könne, ein Theologe zu sein, mindestens unthematisch, wenn man unter Theologie das Bedenken der menschlichen Existenz als ganzer und solcher über alle regionale Wissenschaftlichkeit hinaus und in deren Verwiesenheit auf das absolute Geheimnis versteht.« (Rahner, 2001a, S. 699)

Vor diesem Hintergrund lässt sich auch Rahners Feststellung verstehen, dass die anderen Wissenschaften »eine gewisse Bedeutung für die Mystagogie in die transzendentale Erfahrung haben, insofern diese Wissenschaften durch ihre Selbstkritik, durch den nicht adäquat in eine

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höhere Synthese aufhebbaren Methodenpluralismus und den sich daraus ergeben­ den Methodenrelativismus, durch ihre auch von außen kommende und nie völlig aufhebbare Bedrohtheit durch das Ganze des menschlichen Lebens selber so etwas wie einen Anfang von Transzendenzerfahrung vermitteln.« (Rahner, 2001aS. 709)

Der Theologie, deren Forschungsgegenstand jene Transzendenz ist, schreibt Rahner in einem interdisziplinären Diskurs die Aufgabe zu, Anwältin für das unbegreifliche und unhintergehbare Geheimnis zu sein, das in jeder Wissenschaft waltet (Rahner, 2001a). Ihre Rolle als Anwältin des geheimnisvollen Humanums kann die Theologie im interdisziplinären Gespräch nur sehr behutsam und vorsichtig nachgehen: »Es ist klar, daß die Theologie in diesem Gespräch sehr bescheiden auftreten muß, viel mehr hören als reden muß, ja, daß sie gar keinen materialeigenen Beitrag an Wissen von der Art, wie die übrigen regionalen Wissenschaften ihn untereinander austauschen, beitragen kann, wenigstens da nicht, wo die Theologie streng als solche und nicht bloß als eine Wissenschaft auftritt, die unvermeidlich auch manches andere weiß als das, was sie eigentlich angeht. Sie wird in diesem Gespräch, wo es notwendig wird, eher jene Theologie im anderen Gesprächspartner anrufen, die in ihm unthematisch, ja vielleicht verdrängt schon am Werke ist. Sie wird den anderen Gesprächspartner leise und bescheiden fragen, ob nicht da und dort doch ein blinder Fleck im Auge dieser Wissenschaft oder dieses Wissenschaftlers sei, den man berücksichtigen müsse, den auch der andere Wissenschaftler bei etwas methodischem Geschick und bei gutem Willen entdecken könne, weil er und seine Wissenschaft paradoxerweise immer auch mehr sind als das, was sie ausdrücklich charakterisiert und von anderen Wissenschaftlern und Wissenschaften unterscheidet.« (Rahner, 2001a, S. 709)

Mit dieser Vorgehensweise der Theologie im interdisziplinären Gespräch bemüht sie sich um eine »apophatische Radikalisierung der profanen Anthropologie« (Rahner, 2008a, S. 56). Denn nach Rahner gilt, dass »die theologische Anthropologie nicht eigentlich zusätzlich Neues (wenn auch von höchster Wichtigkeit) zu den Sätzen profaner Anthropologien hinzufügt, sondern diese nur, aber radikal aufsprengt und so einen ersten und letzten Zugang zu dem einen Geheimnis ermöglicht, das wir ›Gott‹ nennen.« (S. 52)

Radikal ist Rahners theologische Anthropologie, insofern sie nach der Wurzel (lat. radix) menschlicher Existenz fragt, der transzendentalen Eröffnetheit des Menschen in das unbegreifliche Geheimnis hinein, das Rahner Gott nennt:

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»Wie aber wäre Gott wirklich als Gott verstanden, würde er nicht als das unumgreifbare Geheimnis verstanden, das nicht in die Koordinatensysteme unseres durchschauenden und beherrschenden Verstehens als eine Einzelwirklichkeit eingetragen werden kann, sondern als der unumgreifbare Grund alles umgreifenden Verstehens immer und überall schon anwesend, tragend und eröffnend, gegeben ist, wo der Mensch beginnt, die Koordinatensysteme seines Verstehens zu errichten, in Wissenschaften auszusagen und in einem steten Prozeß immer mehr zu vervollkommnen oder in Frage zu stellen? Wenn aber der Mensch theologisch nur in seiner Verwiesenheit auf Gott verstanden ist und über dieses Verhältnis hinaus (natürlich mit all seinen Voraussetzungen, Implikationen, Konsequenzen) vom Menschen theologisch gar nichts zu sagen ist und wenn dabei Gott wirklich als Gott ernst genommen, d. h. als das ewig unumgreifbare Geheimnis angenommen wird, dann ist das eben angedeutete Verständnis einer theologischen Anthropologie eigentlich selbstverständlich.« (S. 56)

Rahner kommt zu dem Schluss, dass sich theologische Aussagen über den Menschen insgeheim, als Radikalisierung einer profanwissenschaftlichen Anthropologie erweisen und umgekehrt aber auch gilt: »Die scheinbar bloß profanen anthropologischen Aussagen erweisen sich als insgeheim theologische Sätze, wenn sie nur in der in ihnen angelegten Radikalität ernst genommen werden« (S. 56). Rahner widersetzt sich damit einem hierarchischen Stockwerkdenken zwischen Profanwissenschaften und Theologie bzw. zwischen säkularer Beratung und religiöser Seelsorge, sondern lädt vielmehr zur Explikation einer impliziten Theologie in den profanwissenschaftlichen Disziplinen ein, die in der Eigenständigkeit ihres Formalobjekts und der damit verbunden gnoseologischen Konkupiszenzsituation sich über das geheimnisvolle Humanum verbunden wissen.

3 Der radikale Ansatz Rahners im interdisziplinären Gespräch mit Rogers Exemplarisch soll dieser Ansatz katholischer Theologie und Anthropologie nach Rahner in Bezug auf den Existenzbegriff und die Grundhaltungen des PzA nach Rogers, als Vertreter der Humanistischen Psychologie, konkretisiert werden. Diese beiden Aspekte werden im Folgenden bezüglich ihrer transzendentalen Wurzel (lat. radix) untersucht, indem dahin gehende Impulse in Rogers’ Denken entsprechend aufgegriffen und im Sinne Rahners radikalisiert interpretiert werden.

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Existenzbegriff

Im Zentrum der Humanistischen Psychologie steht die existenzphilosophische Perspektive mit der Frage nach dem Menschen (Kriz, 2007). Auch das Denken Rogers’ ist durch die Existenzphilosophie beeinflusst. In der Darstellung des Ziels menschlicher Entwicklung bezieht sich Rogers explizit auf Soeren Kierkegaard, den Quitmann als den »›Großvater des Existentialismus‹« (Quitmann, 1999, S. 67) bezeichnet. So trägt der Titel eines Aufsatzes, den Rogers 1957, also fünf Jahre vor der Gründung der Gesellschaft für Humanistische Psychologie, erstmals veröffentlichte, ein von ihm viel zitiertes Kierkegaard-Zitat: »›Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist‹ – Ansichten eines Therapeuten über persönliche Ziele« (Rogers, 1973/2016, S. 164). Darin greift er in seinen Gedanken auf die philosophisch-theologischen Überlegungen Kierkegaards zurück. So schreibt er: »Heutzutage betrachten es die meisten Psychologen als Beschimpfung, wenn man sie philosophischer Gedankengänge bezichtigt. Ich teile diese Reaktion nicht. Ich kann nicht anders, als über die Bedeutung dessen, was ich beobachte, zu rätseln.« (S. 164)

Der dänische Philosoph Soeren Kierkegaard habe sich im 19. Jahrhundert mit den zentralen Fragen der Menschen auseinandergesetzt: »›Welches ist mein Lebensziel?‹ ›Wonach strebe ich?‹ ›Was ist mein Sinn?‹« (S. 164). Voller Ehrfurcht und Respekt vor Philosophen wie Kierkegaard schreibt Rogers: »So gesehen gibt es nichts Neues, was man über diese Fragen sagen könnte. […] Es wäre anmaßend, wollte ich einfach eine andere persönliche Meinung zu diesem Fragekomplex äußern« (S. 165). Dementsprechend greift er Kierkegaards Gedanken in der Beschreibung des Lebensziels des Menschen auf. So Rogers: »Wenn ich einen Menschen nach dem anderen betrachte, wie er in den Therapiestunden darum ringt, eine eigene Lebensweise zu finden, [… dann kann ich; M.K.] dieses Lebensziel, das ich in meinen Beziehungen zu meinem Klienten zum Vorschein kommen sehe, am besten mit den Worten Kierkegaards darlegen: ›Das Selbst zu sein das man in Wahrheit ist‹« (S. 167).

Rogers übernimmt diese Formel zur Beschreibung des asymptotischen Ziels menschlicher Selbstwerdung der »Fully Functioning Person« (Rogers, 1959/1991). Es bleibt ein hypothetischer Begriff, da ein solcher Zustand völliger Offenheit gegenüber allen inneren und äußeren Wahrnehmungen, des unverfälschten Wahrnehmens dieser Regungen einen nie zu erreichenden Zustand darstellt (Rogers, 1959/1991). Darin wird auch die gemeinsam geteilte Grundannahme der Existenzphilosophie und der Humanistischen Psychologie deutlich.

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Der menschlichen Existenz ist eine fortwährende Dynamik zu eigen, die sich als ein Sein-im-Werden bezeichnen lässt. »›Existenz‹ ist somit etwas, das erst verwirklicht werden soll« (Kriz, 2007, S. 17). In seiner Beschreibung der »Fully Functioning Person« als Person, die sich in einem fließenden Prozess befindet, kann Rogers »nicht umhin, an Kierkegaards Beschreibung des Individuums, das wirklich existiert zu denken« (Rogers, 1973/2016, S. 172). So zitiert Rogers folgendes Zitat aus Kierkegaards Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken:

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»Der Existierende ist beständig im Werden; … und setzt all sein Denken in das Werden. Es ist hiermit beschaffen wie mit dem Stil-Haben; nur der hat eigentlich Stil, der nie etwas auf Vorrat hat, sondern jedesmal, wenn er beginnt, ›die Wasser der Sprache bewegt‹, so dass der alleralltäglichste Ausdruck für ihn mit neugeborener Ursprünglichkeit ersteht« (zit. nach Rogers, 1973/2016, S. 172).

Diese Aussage beschreibt für Rogers »sehr treffend die Richtung, in die sich Klienten bewegen: zu einem Zustand hin, in dem man ein Prozess der Möglichkeiten ist, die jeweils neu geboren werden, anstatt ein feststehendes Ziel zu sein oder zu werden« (S. 172). »Das sein, was man ist, heißt voll in das Prozess-Sein eintreten.« (S. 177) Gleichwohl ist anzumerken, dass Rogers von sich behauptet »kein Jünger der Existentialphilosophie« (S. 197) zu sein. Dies wird dadurch deutlich, dass er erst die Bekanntschaft mit Texten Kierkegaards machte, als er von einigen Theo­ logiestudenten auf die Nähe seiner Ausführungen zu den Gedanken Kierkegaards und Martin Bubers hingewiesen wurde. »Sie waren überzeugt davon, dass ich das Denken dieser Männer als geistesverwandt ansehen würde, und sie hatten weitgehend recht.« (S. 197) Nach der Lektüre der Schriften Kierkegaards kommt Rogers zu dem Schluss: »Obwohl es vieles in Kierkegaards Werk gibt, das mir gar nichts sagt, gibt es immer wieder tiefe Einsichten und Darlegungen, welche meine Ansichten, die ich gewonnen, aber nie habe formulieren können, auf schönste ausdrücken. Obwohl Kierkegaard vor hundert Jahren lebte, kann ich nicht umhin, ihn als einen lebhaft mitempfindenden und auffassungsfähigen Freund zu betrachten.« (S. 197) Dass Rogers kein Vertreter der Existenzphilosophie ist, sondern diese nur als Inspirationsquelle zur Beschreibung seiner Erfahrungen in der therapeutischen Praxis zu nutzen wusste, lässt sich auch daran festmachen, dass er nur Fragmente rezipiert, ohne den größeren Kontext einer Aussage zu beachten. So benutzt er zwar die Aussage Kierkegaards »das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist« zur Beschreibung der »Fully Functioning Person«, aber lässt Kierkegaards Verständ-

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nis des Selbst völlig außen vor. Nämlich das Selbst als ein Verhältnis aus Unendlichkeit und Endlichkeit, Zeitlichem und Ewigem, Freiheit und Notwendigkeit, dass sich zu sich selbst verhält (Kierkegaard, 1849/2007). Kierkegaard beschreibt in seinem Werk Die Krankheit zum Tode das Ziel menschlicher Entwicklung, d. h., »wenn die Verzweiflung ganz ausgerottet ist« (Kierkegaard, 1849/2007, S. 33) mithilfe der Formel: »im Sich-Verhalten-zu-sich-selbst und im Es-Selbstsein-Wollen gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte« (S. 33). Rogers übernimmt auch nicht die transzendentale Dimension, ohne die der Philosoph und Theologe Kierkegaard eigentlich nicht zu denken ist. Im Sinne einer Explikation des geheimnisvollen Humanums lässt sich dieser transzendentale Hintergrund nachträglich integrieren, insofern sie in Rogers’ PzA implizit bereits enthalten ist. Für diese Vorgehensweise spricht, dass Rogers gegen Ende seines Lebens eingesteht, dass er »die Wichtigkeit dieser mystischen, spirituellen Dimension unterschätzt habe« (Rogers, 1959/1991, S. 243). Allerdings bezeichnet er diese Dimension nicht mit dem christlichen Gottesbegriff, sondern mit Worten wie »intuitiv, transzendent, spirituell, mystisch« (S. 242). Die Vorstellung vom Selbst des Menschen lässt sich so beim späten Rogers um eine spirituelle Dimension erweitern, die er mit »dem transzendentalen Kern« (Rogers, 1981/2017, S. 80) bzw. »dem Unbekannten in mir« (Rogers, 1959/1991, S. 242) umschreibt. Dies erinnert an Kierkegaards Verständnis des »ewigen Anderen« im Selbst, das er als den Grund seines Sein-Könnens, als Gott anerkennt. »Denn nur dann ist das Selbst gesund und frei von Verzweiflung, wenn es […] sich selbst dursichtig in Gott gründet.« (Kierkegaard, 1849/2007, S. 52) Das Selbst kommt also nur zur Ruhe, wenn es sich durchsichtig in den das Verhältnis setzenden Gott gründet. Während Kierkegaard nach dem Setzenden fragt, stellt sich Rogers diese Frage nicht, obwohl sich der Mensch bei ihm mit seinem Organismus auch als Gesetztsein erfährt. Folglich definiert Rogers auch nicht die Dimension des Anderen im Selbst als Grund des eigenen Sein-Könnens, sondern nur als etwas Fremdes, zu dem sich der Mensch gleichwohl verhalten muss: »Wenn ich irgendwie mit dem Unbekannten in mir in Berührung bin, [dann ist; M.K.] alles, was immer ich tue volle Heilung.« (Rogers, 1959/1991, S. 242) An anderer Stelle heißt es: »Wenn ich mich entspanne und dem transzendenten Kern von mir nahekomme, dann verhalte ich mich […] auf eine Weise, die ich rational nicht begründen kann und die nichts mit meinen Denkprozessen zu tun hat. Aber dieses seltsame Verhalten erweist sich merkwürdigerweise als richtig.« (Rogers, 1981/2017, S. 80)

Dies verstärkt die These, dass mit den Begriffen »das Unbekannte« bzw. »transzendenter Kern« beim späten Rogers eine neue Dimension des Selbst hinzu-

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kommt, gilt doch bei Rogers die einfache Leitregel: Je mehr der Therapeut ganz sich selbst ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Therapie (Rogers, 1977/2013). In dieser Hinsicht wird deutlich, dass Rogers gegen Ende seines Lebens verstärkt dem geheimnisvollen Humanum auf der Spur ist. Die Grundhaltungen des Personzentrierten Ansatzes

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Rogers vertritt die Annahme, dass eine bedeutsame positive Persönlichkeitsveränderung in Richtung des wahren Selbst beziehungsweise der »Fully Functioning Person« nur in einer zwischenmenschlichen Beziehung zustande kommen kann (Rogers, 1959/1991). Aufgrund der Bedeutsamkeit dieses Aspektes im PzA nach Rogers sollen im Folgenden die drei therapeutischen Variablen einer solchen Beziehung – Wertschätzung, Empathie und Echtheit – theo­logisch radikalisiert werden. Für Rogers bedeutet die Grundhaltung der bedingungslosen positiven Zuwendung, dass der »Therapeut eine warmherzige, positive und akzeptierende Haltung gegenüber den Vorgängen im Klienten als Persönlichkeit einnimmt. […] Es bedeutet, dass er sich um seinen Klienten auf eine nicht besitzergreifende Weise sorgt, als um einen Menschen voller Möglichkeiten. Es schließt eine offene Bereitschaft für den Klienten ein, die ihm alle Gefühle gestattet, die im Augenblick in ihm vorhanden sind: Feindseligkeit und Zärtlichkeit, Auflehnung und Fügsamkeit, Selbstvertrauen und Selbstentwertung« (Rogers, 1977/2013, S. 218).

Rogers umschreibt diese Form der Wertschätzung als »eine Art Liebe zu dem Klienten, so wie er ist; vorausgesetzt, dass wir das Wort Liebe entsprechend dem theologischen Begriff Agape verstehen und nicht in seiner romantischen oder besitzergreifenden Bedeutung« (S. 218). Mit dieser Ausführung lädt Rogers unbeabsichtigt dazu ein, die Liebe als theologische Radikalisierung der Wertschätzung zu verstehen (Kießling, 2002). Und tatsächlich erweist sich als bedeutsames Merkmal des neutestamentlichen Agape-Begriffs »die von Herzen kommende Bejahung des anderen, die sich nach Kräften für ihn einsetzt und ihre authentische Gestalt durch die pneumatische Partizipation an jener Liebe gewinnt, die Jesus Christus zu Gott und zu den Menschen hat« (Söding, 2006, Sp. 221).

Wie bewusst Rogers, dieser Radikalisierung der Wertschätzung als Liebe im Sinne des hier verdeutlichten Agapebegriffs war, lässt sich nicht weiter rekonstruieren.

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Es ist jedoch erstaunlich, wie wenig Interpretation es in diesem Fall bedarf, um die implizite Theologie in Rogers’ Verständnis der Wertschätzung freizulegen. Kießling geht in seiner Interpretation noch einen Schritt weiter und erkennt im Glauben des Therapeuten an einen Menschen voller Möglichkeiten und an dessen Ressourcen eine theologische Qualität, die sich im Glauben an die »Möglichkeiten Gottes mit diesem Menschen [und] sich konkret auch im Glauben an einen leidenden und suchenden Menschen [zeigt]. An wen ich glaube und wem ich vertraue, auf den wage ich zu hoffen, auf den setze ich meine Hoffnung« (Kießling, 2002, S. 139).

Empathie beschreibt Rogers, als »ein präzises einfühlendes Verstehen für die persönliche Welt des Klienten […] als wäre sie die eigene (doch ohne die Quali­tät des ›als ob‹ zu verlieren)« (Rogers, 1977/2013, S. 216). Kießling radikalisiert diese Dimension einer therapeutischen Beziehung bei Rogers strukturanalog zur Selbstmitteilung Gottes, der in Jesus von Nazareth ganz Mensch wird und doch wahrer Gott bleibt (vgl. Kießling, 2002). Übertragen auf die seelsorgliche Praxis bedeutet dies ein »Mitgehen in Nähe und Treue, in räumlicher Nähe und Treue durch die Zeit, meint ein ›Ich bin der ›Ich-bin-da‹‹ (Ex 3,14)« (Kießling, 2002, S. 139). Doch auch hier gilt die von Kießling aufgezeigte Strukturanalogie. So wie sich Gott in seiner Selbstmitteilung zum innersten Konstitutivum des Menschen macht, und doch dessen absolute Alterität bleibt, so gilt analog in der seelsorglichen Praxis, worauf Rogers hinweist: das empathische Einfühlen in mein Gegenüber, als ob es meine Welt wäre. Die Welt des Anderen bleibt bei aller mitgehenden Nähe die Welt des Anderen. Die Variable der Echtheit stellt für Rogers »die grundlegendste unter den Ein­ stellungen des Therapeuten dar« (Rogers, 1977/2013, S. 30). Für ihn läuft es »darauf hinaus, dass eine persönliche Weiterentwicklung begünstigt wird, solange der Therapeut lebt, was er wirklich ist, wenn er in seiner Beziehung mit dem Klienten echt und ohne Fassade bleibt, also ganz offen Gefühle und Einstellungen lebt, die ihn im Augenblick bewegen. Bei dem Versuch, diesen Zustand zu beschreiben, sind wir auf den Begriff der Übereinstimmung mit sich selbst (›Kongruenz‹) gekommen. Wir meinen damit, dass die vom Therapeuten erlebten Gefühle seinem Bewusstsein zugänglich sind, dass er diese Gefühle leben und sein kann und sie seinem Bewusstsein zugänglich sind, dass er diese Gefühle leben und sein kann und sie – wenn angemessen – mitzuteilen vermag. Das heißt, er begibt sich in eine unmittelbare persönliche Begegnung mit dem Klienten, indem er ihm von Person zu Person gegenübertritt. Es bedeutet, dass er gänzlich er selbst ist und sich nicht verleugnet« (Rogers, 1977/2013, S. 213).

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Diese Echtheit wirkt, indem sie sich offenbart und vom Gegenüber wahrgenommen wird. Ihre theologische Verwurzelung findet die Rogersche Variable der Echtheit »in der Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus, in seiner Wahrgabe als Mensch« (Kießling, 2002, S. 140). Sie ist Voraussetzung und Anspruch menschlicher Existenz, insofern die »Christologie Anfang und Ende der Anthropologie« (Rahner, 1999, S. 217) ist. »Seine Menschheit [ist] die selbst-­mächtigste, die freieste, nicht obwohl, sondern weil sie die angenommene, die als Selbst­ entäußerung Gottes gesetzte ist.« (S. 217) Anders gesagt: Das Ziel des Menschen das Selbst zu sein, das er in Wahrheit ist (Rogers in Anlehnung an Kierkegaard), erreicht er nur, indem er sich ganz weggibt in das Andere seiner selbst, ergo die Unbegreiflichkeit des absoluten Geheimnisses annimmt (Rahner) bzw. sich durchsichtig in Gott gründet (Kierkegaard). Nach diesen exemplarischen Ausführungen einer theologischen Radikalisierung der Aussagen Rogers’ nach Rahner bleibt eine zweifache Rückfrage, zum einen aus Perspektive einer katholischen Anthropologie und Theologie und zum anderen aus der Perspektive der Humanistischen Psychologie.

4  Wechselseitige Rückfragen … … aus der Perspektive einer katholischen Anthropologie und Theologie?

Wie Rogers selbst formuliert, gehört zu einer seiner »revolutionärsten Einsichten [die Folgende; M.K.]: der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur aus positiv – von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch.« (Rogers, 1973/2016, S. 99 f.)

Ein solches positives Menschenbild, das sich durch zwischenmenschliche Begegnung und eine emotionale und kognitive Auseinandersetzung entwickeln und entfalten kann, ist nicht nur dem PzA zu eigen, sondern auch ein allgemeines Charakteristikum der Humanistischen Psychologie (vgl. Kießling, 2006). Von theologischer Seite wird dieser Punkt oftmals kritisiert: –– »kritisch zu bedenken ist die teilweise auftretende Tendenz der Humanistischen Psychologie zur Selbsterlösung, zur Unterschätzung von Schuldverstrickung und, -bedrohtheit des Menschen« (Kießling, 2006, Sp. 328). –– »Es entsteht […] der Eindruck, als habe der Mensch sich selbst (und alles andere dazu) völlig in der Hand und als gelte es lediglich, [seine; M.K.] Kräfte voll und ganz

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auszuschöpfen. Aber ist im Leben tatsächlich alles nur eine Frage des Einsatzes? Gibt es nicht auch Schuld, Krisen, Krankheit, Tod, denen der Mensch machtlos gegenüber-steht? Werden diese Momente von der Humanistischen Psychologie in ihrem Lebensoptimismus eigentlich wahrgenommen?« (Brunner, 1997, S. 78)

Wie tief verankert diese Anfragen in der katholischen Anthropologie und Theologie sind, zeigt sich beispielsweise in Bezug auf den Atheismus. So heißt es in der bereits erwähnten Pastoralkonstitution Gaudium et spes aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil wie folgt: »Wenn […] das göttliche Fundament und die Hoffnung auf das ewige Leben schwinden, wird die Würde des Menschen aufs schwerste verletzt, wie sich heute oft bestätigt, und die Rätsel von Leben und Tod, Schuld und Schmerz bleiben ohne Lösung, so daß die Menschen nicht selten in Verzweiflung stürzen. Jeder Mensch bleibt vorläufig sich selbst eine ungelöste Frage, die er dunkel spürt. Denn niemand kann in gewissen Augenblicken, besonders in den bedeutenderen Ereignissen des Lebens diese Frage gänzlich verdrängen.« (GS 3)

Einer katholischen Anthropologie und Theologie ist der Gedanke menschlicher Selbsterlösung im Angesicht des Todes und bezüglich auf sich geladener Schuld unvorstellbar. Tod und Auferstehung, Schuld und Vergebung bilden zentrale Elemente christlichen Glaubens. Ein anderes Beispiel Rahners verweist auf die Schuldverstrickung mensch­ licher Existenz. Unsere Freiheitssituation ist immer auch schon eine durch Schuld mitbestimmte Situation: »Wenn man eine Banane kauft, reflektiert man nicht darauf, daß deren Preis an viele Voraussetzungen gebunden ist. Dazu gehört u. U. das erbärmliche Los von Bananenpflückern, das seinerseits mitbestimmt ist durch soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung oder eine jahrhundertealte Handelspolitik. An dieser Schuldsituation partizipiert man nun selbst zum eigenen Vorteil. Wo hört die personale Verantwortung für die Ausnützung einer solchen schuldmitbestimmten Situation auf, wo fängt sie an? Das sind schwierige und dunkle Fragen.« (Rahner, 1999, S. 110 f.)

Wenn nun aber auch in der Humanistischen Psychologie »Wahl und Entscheidung […] für alle eine Ausdrucksform der Freiheit [ist], die eine Verantwortlichkeit hinsichtlich der Konsequenzen des Wählens und Entscheidens gegenüber sich selbst und den Mitmenschen einschließt« (Quitmann, 1996, S. 281), dann gehören diese Fragen nach Schuld und Freiheit nicht nur zur Rahnerschen

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Theologie, sondern in gleichem Maße zur Humanistischen Psychologie. Rahner spricht diesbezüglich von der »Möglichkeit der Sünde [als; M.K.] ein Existential, das unüberwindlich dem Ganzen des irdischen Lebens des Menschen anhaftet.« (Rahner, 1999, S. 105) … aus der Perspektive einer Humanistischen Psychologie?

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Während sich die Theologie unter der Voraussetzung des Glaubens und mithilfe der Vernunft der Frage nach Gott und der Welt nähert, ist dies für die Psychologie nicht der Fall. Sie erforscht weltanschauungsneutral das Erleben und Verhalten von Menschen. Zwar öffnete sich Rogers gegen Endes seines Lebens einer transzendentalen, spirituellen Dimension menschlichen Existenz, doch hat er auch stets die Enge religiöser Doktrinen abgelehnt (Rogers, 1973/2016). Hieraus ergeben sich folgende zwei Rückfragen an eine katholische Theologie und Anthropologie nach Rahner: ȤȤ Wie begegnet die Theologie im interdisziplinären Dialog der Gefahr, dass ihre Sprache zu sehr einengen könnte? ȤȤ Wie kann die Eigenständigkeit der Humanistischen Psychologie, gerade hinsichtlich ihres methodologischen Atheismus, gewahrt bleiben, wenn in Anlehnung an Rahner eine Radikalisierung profanwissenschaftlicher Anthropologie vorgenommen wird? Die in diesem Beitrag vorgenommene Radikalisierung einzelner Aspekte des PzA ist vor allem für das innerchristliche Gespräch interessant, insofern mit dieser Vorgehensweise aufgezeigt werden kann, dass in profanwissenschaftlichen Erkenntnissen auch Zugänge zum Geheimnis des Glaubens erkundet werden können. Schließlich leiten sich die profanen Dinge und die Dinge des Glaubens von ihren selben Ursprung her: Gott (vgl. GS 36). Es besteht allerdings die Gefahr, mit einer vorschnellen Verwendung gängiger theologischer Begrifflichkeiten, den von Rahner geforderten apophatischen Charakter einer Radikalisierung profaner Anthropologie abzuschwächen. Deshalb gilt es, sich immer wieder bewusst zu machen, »daß alle theologischen Aussagen, wenn auch noch einmal in verschiedenster Weise und verschiedenem Grad, analoge Aussagen sind« (Rahner, 2008b, S. 47). Darauf machte Rahner in seiner Rede Erfahrungen eines katholischen Theologen aufmerksam – kurz vor seinem Tod im Jahr 1984. »An sich ist das eine Selbstverständlichkeit für jede katholische Theologie […]. Aber ich meine, dieser Satz wird faktisch doch immer wieder bei den einzelnen theo­logischen Aussagen vergessen […]. Für ein ganz primitives schulmäßiges Ver-

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ständnis des Begriffes der Analogie ist ein analoger Begriff dadurch gekennzeichnet, daß eine Aussage über eine bestimmte Wirklichkeit mit Hilfe dieses Begriffes zwar legitim und unvermeidlich ist, aber in einem gewissen Sinne immer auch gleich­ zeitig zurückgenommen werden muß, weil die bloße Zusage dieses Begriffes auf die gemeinte Sache hin allein und ohne gleichzeitige Rücknahme, ohne diese seltsame und unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein, den wirklich gemeinten Gegenstand verkennen würde und letztlich irrig wäre. Aber diese geheime und unheimliche, zur Wahrheit einer analogen Aussage notwendige Zurücknahme, wird meistens nicht deutlich gemacht und vergessen. […] Das vierte Laterankonzil [im Jahr 1215; M.K.] sagt ausdrücklich, man könne über Gott von der Welt aus, also von jedwedem denkbaren Ausgangspunkt der Erkenntnis aus, nichts an Inhaltlichkeit positiver Art sagen, ohne dabei eine radikale Unangemessenheit dieser positiven Aussage mit der gemeinten Wirklichkeit selbst anzumerken. Aber im praktischen Betrieb der Theologie vergessen wir das immer wieder. Wir reden von Gott, von seiner Existenz, von seiner Persönlichkeit, von drei Personen in Gott, von seiner Freiheit, seinem uns verpflichtenden Willen usf.; wir müssen dies selbstverständlich, wir können nicht bloß von Gott schweigen, weil man dies nur kann, wirklich kann, wenn man zuerst geredet hat. Aber bei diesem Reden vergessen wir dann meistens, daß eine solche Zusage immer nur dann einigermaßen legitim von Gott ausgesagt werden kann, wenn wir sie gleichzeitig auch immer wieder zurücknehmen, die unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein als den wahren und einzigen festen Punkt unseres Erkennens aushalten und so unsere Aussagen immer auch hineinfallen lassen in die schweigende Unbegreiflichkeit Gottes selber […].« (Rahner, 2008b, S. 47)

Diese Bescheidenheit einer analogen Gottesrede ermöglicht eine Radikalisierung psychologischer Anthropologie, die sich durch ihren apophatischen Charakter auszeichnet. Darauf ist die Theologie als Anwältin des geheimnisvollen Humanums im interdisziplinären Gespräch bedacht.

5 Fazit Die ganzheitliche Perspektive auf den Menschen eint die Humanistische Psychologie und die theologische Anthropologie beziehungsweise die anthropologische Theologie Rahners. Die Theologie in ihrer Rolle als Anwältin des geheimnis­ vollen Humanums radikalisiert diese ganzheitliche Perspektive auf den Menschen, hinsichtlich des Gottgeheimnisses Mensch. Als solcher ist es seine Aufgabe, das Selbst zu werden, das er in Wahrheit ist. Er ist sich aufgegeben, insofern er sich in seiner Existenz immer schon vorfindet, das heißt in die Welt ohne

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sein eigenes Zutun hineingesetzt ist. Gleichzeitig ist es auch seine Auf-Gabe, da ihm die Möglichkeit des inneren Wachstums und Reifens geschenkt ist, bei aller Einschränkung bezüglich unvermeidbarer Schuld­verstrickung und der Bedrohtheit menschlicher Existenz angesichts Tod, Krankheit und Krisen. Für diesen Vollzug menschlicher Existenz können ihn psychologische Beratung und religiöse Seelsorge in ihrer konvergierenden Option in der Sorge um den Menschen unterstützen. Damit ein sich gegenseitig bereicherndes Gespräch zwischen psycho­logischen Beratungsansätzen und religiöser Seelsorge in der Praxis gelingt, bedarf es der Eigenständigkeit theologischer und psychologischer Forschung, auch hinsichtlich ihrer methodologischen Perspektiven – bei gleichzeitiger Verbundenheit. Hierfür bietet die transzendentale Theologie Rahners wertvolle Impulse. Psychologie und Theologie sind nach Rahner kategorial eigenständig, aber transzendental, das heißt in der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit unauflöslich miteinander verbunden. Dies ermöglicht eine apo­phatische Radikalisierung psychologischer Anthropologie, in der sich der Mensch als bleibendes Geheimnis angesichts des entgrenzten Horizontes seiner Existenz erfährt. Auf diese Weise wird deutlich, dass der Mensch nur Mensch ist, wenn er nicht nur ein Rätsellöser, sondern immer auch ein Geheimnis­träger bleibt.

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 Das Personzentrierte Menschenbild im Dialog mit ausgewählten philosophiegeschichtlichen und reformpädagogischen Positionen

Sarah-Magdalena Kingreen

Der Gründungsvater des Personzentrierten Menschenbilds Carl R. Rogers arbeitete als Psychotherapeut und Pädagoge und verstand sich selbst dezidiert als Empiriker und Phänomenologe. Er bewegte sich in seiner Forschung zwischen subjektiver Erfahrung, persönlicher Reflexion und darauf aufbauender deutender Theorie. Erst retrospektiv diskutierte er einzelne Gedanken seiner Erkenntnisse mit philosophischen Positionen seiner Zeit und plausibilisierte seine Ergebnisse daraufhin in einem größeren Kontext. Er war der Philosophie nicht abgeneigt: »Heutzutage betrachten es die meisten Psychologen als Beschimpfung, wenn man sie philosophischer Gedankengänge bezichtigt. Ich teile diese Reaktion nicht. Ich kann nicht anders als über die Bedeutung dessen, was ich beobachte, zu rätseln. Manche dieser Deutungen scheinen aufregende Implikationen für unsere Welt zu haben.« (Rogers, 1973/2016, S. 164)

Rogers daher aber als »philosophischen Amateur« zu bezeichnen (Wuttig, 1990, S. 23) widerspricht seinem Selbstverständnis. Rogers formulierte bewusst einen Begriff und Konzept des Menschen, das für andere Wissenschaften anschlussfähig ist. Schließlich machte er selbst seine Personzentrierten Erkenntnisse für die Pädagogik fruchtbar (Rogers, 1978b und dazu Wagner, 1987; Groddeck, 1987 und Behr, 1987). Ziel dieses Aufsatzes ist es, dass für den Personzentrierten Ansatz (PzA) grund­ legende Menschenbild in einigen ausgewählten philosophischen und reform­ pädagogischen Positionen und deren ideengeschichtlichen Verortung zu versprechen. Hier mag ein Bild helfen: Durch einzelne und punktuelle Verankerungen eröffnet sich die Chance, Positionen miteinander ins Gespräch zu bringen und gegenseitig zu befruchten, deren wissenschaftstheoretischen Heimathäfen ursprünglich weit auseinanderliegen. Dabei lässt sich der Anker nicht

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Abb. 3: Anker in Camaret-sur-Mer (© Sarah-Magdalena Kingreen)

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Das Personzentrierte Menschenbild im Dialog

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an jedem Ort werfen. Es gibt Gelände, da haftet der Anker nicht, dort z. B., wo der Mensch als Mängelwesen gedeutet wird; die Grundkategorien, mit denen sich das Schiff im Heimathafen beladen hat, müssen stimmen. Damit der Anker hält, muss die Ankerkette gespannt sein. Es werden sich nicht nur Konvergenzen zwischen dem Personzentrierten Menschenbild und den jeweiligen angefahrenen Positionen benennen lassen. Die Verankerung ist temporär und lässt die Positionen miteinander in Kontakt kommen. Dabei darf die Ankerkette aber auch nicht zu straff gespannt werden, die Eigenlogiken bleiben gewahrt, Infragestellungen und Differenzpunkte sind konstitutiv. Im vorliegenden Aufsatz wird die angewandte Methodik dem PzA insofern gerecht, als dass der Anker konkret bei je individuellen historischen Personen und philosophischen Entwürfen geworfen wird, um punktuell ausgewählte Kerncharakteristika des PzA im Dialog auf die jeweiligen Konvergenzpunkte sowie Differenzen hin zu befragen. So werden neue Dialogräume über die Fächergrenzen hinweg ermöglicht und ein interdisziplinärer Austausch auch in Bezug auf anthropologische Grundlegungen angeregt. Die Grundentscheidung, ob das Schiff ankern kann, gilt der Frage, wie das zugrundeliegende Menschenbild gezeichnet wird.

1  Grundentscheidung: positives oder negatives Menschenbild In der Philosophiegeschichte finden sich Deutungen des Menschen, die von einer positiven Grundtendenz des Menschen ausgehen, und solche, die eine negative Grundtendenz voraussetzen. Paradigmatisch sollen an dieser Stelle die beiden entgegengesetzten Bestimmungen des englischen Humanisten Thomas Hobbes (1588–1679) und des französischen Aufklärers Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) herangezogen werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit kannte Rogers die Gedanken Rousseaus, vermittelt über seinen Lehrer Patrick Kilpatrick (Zottl, 1980, S. 63, Anm. 184). Hobbes geht davon aus, dass alle Menschen im Urzustand, d. h. im ursprünglich rechtsfreien Raum gleichermaßen frei waren (Hobbes, 1651/1996, S. 107– 119). In diesem Naturzustand bestimmt den Menschen ein Selbsterhaltungstrieb, durch den jeder versucht, seine Triebe möglichst optimal auszuleben, um seinen Begierden zu folgen. Diese Situation führt nach Hobbes notwendigerweise zum »Krieg aller gegen alle« (bellum omnium contra omnes; Hobbes, 1658/2017, S. 15. 38 f.; Hobbes, 1651/1996, S. 104). Dieses Menschenbild hat sich in der berühmten Formel niedergeschlagen: »der Mensch ist des Menschen Wolf« (homo homini lupus; ursprünglich vom Komödiendichter Plautus geprägt, wiederaufgenom-

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men bei Hobbes, 1658/2017, S. 3). Nach Hobbes bringt erst ein Staatsvertrag, dem die Menschen geleitet durch ihre Vernunft zustimmen, einen geordneten und sicheren Zustand.

2  Perfektibilität oder die Vertrauenswürdigkeit der Aktualisierungstendenz des Organismus

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Der Philosoph und Pädagoge J.-J. Rousseau setzt dem ein positives Menschenbild entgegen. Auch er stellt die Grundfrage, was der Mensch eigentlich seiner Natur nach sei und antwortet vor allem im sogenannten zweiten Diskurs »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit zwischen den Menschen« (1755) sowie dem Erziehungsroman »Emile« (1762). Im Gegensatz zu Hobbes (vgl. Rousseaus direkte Frontstellung: Rousseau, 1755/1983, S. 91. 167 f. 299) diagnostiziert Rousseau in der Vergesellschaftung eine Entfremdung des Menschen von seiner Natur. Um eine Aussage über den natürlichen Menschen treffen zu können, müsste dieser so vorgestellt werden, als ob er ohne Gesellschaft, Wissenschaft und technische Errungenschaften existiere. Es »muß jeder einsehen, daß die Bande der Knechtschaft sich nur in der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen voneinander und durch die wechselseitig vereinigenden Bedürfnisse bilden konnten. Daher ist es unmöglich einen Menschen zu unterjochen, ohne ihn zuvor in die Lage versetzt zu haben, daß er ohne einen andern nicht auskommen kann. Diese Situation kommt im Naturzustand nicht vor.« (Rousseau, 1755/1983, S. 189)

Daher versteht Rousseau das Wesen des Menschen, seinen Naturzustand als einen Zustand jenseits und vor aller Gesellschaft. Er differenziert zwischen dem, was in der Natur des Menschen ursprünglich und originär angelegt ist und welche Eigenschaften mit seiner Entwicklung hinzugekommen sind. Dass jegliche gedankliche Annäherung an eine solche Fragestellung, wie der Mensch vor der Entstehung der Gesellschaft seiner Natur nach ist, methodisch einer kontrafaktischen Rekonstruktion unterliegt und einer erkenntnistheoretischen Grundlage entbehrt, weiß Rousseau (vgl. Rousseaus autobiographischen Rückblick: Rousseau richtet über Jean-Jacques). Sein Gedankenexperiment besteht darin, den natürlichen Zustand des Menschen durch sukzessive Abstraktion zu imaginieren. Dabei rekonstruiert er drei Stadien: Der »reine Naturzustand« (Rousseau, 1755/1983, S. 261), in dem der Mensch tiergleich als »wilder Mensch« lebt, unterscheidet sich vom zweiten Stadium, das Rousseau

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auch als »Naturzustand« bezeichnet, als Ideal favorisiert und später im »Emile« grundlegt, darin, dass der Mensch elementare Techniken entwickelt und soziale Verbindungen eingeht. Das dritte Stadium meint das gegenwärtige Leben des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft. Als »reinen Naturzustand« versteht Rousseau die unmittelbare Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst. Zwei Charakteristika machen diesen natürlichen Zustand des Menschen aus: Zum einen kennzeichnet den natürlichen Menschen eine »unmittelbare Präsenz«. Wie beim Tier stimmen das triebgesteuerte Bedürfnis und die Fähigkeit zur Handlung, d. h. Wollen und Können unmittelbar überein. Sie sind nicht sozial oder durch die Vernunft vermittelt (Rousseau, 1755/1983, S. 129. 185). Zum anderen markiert der »Akt der Freiheit« das Differenzkriterium zum Tier. »Bei den Bewegungen der Tiere [tut] die Natur alles […], während der Mensch bei den seinen mithilft, insofern sein Wille frei ist. Jenes wählt oder verwirft mit Instinkt, dieser durch einen Akt der Freiheit« (Rousseau, 1755/1983, S. 106 f.). In dieser Zeichnung des Naturzustandes des Menschen formuliert Rousseau eine »formale Identität« des Menschen ohne eine inhaltliche Näherbestimmung, was den Menschen ausmacht und wer er ist. »Es ist die formal als Sich-selbst-Gleichheit aufgefasste Identität, die den Menschen zum ›Menschen‹ […] macht: zu einer von allen vorgegeben sozialen, religiösen und moralischen Erwartungen unabhängigen Instanz, die ihre Würde darin erhält, dass sie sich in eben dieser Unabhängigkeit zu solchen Erwartungen verhält.« (Schäfer, 2017, S. 26 f.)

Dem Menschen können gerade nicht »von Natur aus« verschiedene Eigenschaften oder Anlagen zugeschrieben werden, wie z. B. Sprache, Vernunft, Wissensdrang, Sozialität etc.; diese bilden vielmehr sekundäre Aneignungen, derer der Mensch im Laufe seines Lebens – z. B. durch Erziehung und Lernen in seinem soziokulturellen Kontext – habhaft wird. Der Pädagoge Rousseau nimmt die Radikalität seiner These ernst, wenn er alle von außen an das Individuum herangetragene Vorgaben zurückweist, die nicht im Individuum selbst angelegt sind und von diesem artikuliert werden. »Wir wissen nicht, was uns die Natur zu sein erlaubt.« (Rousseau, 1762/1998, S. 38) Die inhaltliche Näherbestimmung des je individuellen Menschen liegt im Individuum selbst. Rousseau entwickelt daher eine pädagogisch verantwortete Selbst-Bildung (vgl. die Übernahme in reformpädagogischen Diskussionen) und zeigt die Grenze pädagogischer Lenkung auf. Vielmehr plädiert er für eine natürliche oder »negative Erziehung«.

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Analog zur pädagogischen Diskussion erweist sich diese Thematik auf seelsorgerlicher und beraterischer Ebene. Auch die Grundannahme des PzA lässt sich im Hinblick auf das Gefühlserleben des Menschen zunächst als eine »formale Identität« einordnen: Das Maß der Aktualisierung des jeweiligen Selbst und der Integration der verschiedenen Erfahrungen ins eigene Selbstkonzept gibt das jeweilige Selbst vor (Burbach, I.1, 26 f.). Dies ist entsprechend im individuellen Menschen je eigen angelegt; die inhaltliche Näherbestimmung bleibt dabei von Individuum zu Individuum unterschieden. Das von Rogers eingeführte Schichtenmodell (T. Kingreen, I.2, S. 52 ff.) widerspricht einer solchen Bestimmung nicht, auch wenn es bereits eine gewertete Hierarchisierung (destruk­tive, konstruktive Emotionen) voraussetzt; sondern es bestätigt vielmehr die Grundannahme, dass in jedem Menschen bereits alle Persönlichkeitsanteile angelegt sind. Wie Rousseaus Pädagogik geht auch der PzA davon aus, dass die Ent­wicklung des Menschen aus diesem selbst kommen muss. Weder weiß der Seelsorger oder die Beraterin, wer der Mensch ist, der vor ihm bzw. ihr sitzt, noch steuert er bzw. sie die Aktualisierung. Vielmehr ermöglicht er bzw. sie lediglich einen Begegnungs- und Entwicklungsrahmen für sein bzw. ihr suchendes Gegenüber. Rousseau prägt dazu den Gedanken der Perfektibilität. Mit der dem natürlichen Menschen eigenen Freiheit geht die »Fähigkeit zur Vervollkommnung« einher (Rousseau, 1755/1983, S. 109). Mit dem Gedanken der Perfektibilität sichert Rousseau als Quelle aller Entwicklung des Menschen diesem die Möglichkeit seiner Entwicklung als Selbstvervollkommnung zu, die ihn letztlich aus dem Naturzustand herausführt. Wie die individuelle Entwicklung explizit verläuft, ist unbestimmt. Die Perfektibilität meint den Ermöglichungsgrund der Entwicklung des Menschen, indem die im Naturzustand übereinstimmenden Momente von Bedürfnis und Vermögen, dieses zu erfüllen, auseinandertreten und zugleich durch die sich entwickelnden physischen und psychischen Kräfte des Menschen sowie durch technische Fähigkeiten miteinander ausgleichen lassen. Damit findet sich in diesem Gedanken die Unumkehrbarkeit der geschichtlichen Entwicklung des Menschen angelegt, den der Ruf »Zurück zur Natur!«, wie Rousseau von seinen Gegnern vorgeworfen wurde, gerade konterkariert. In diesem grundlegenden Gedanken der Perfektibilität und der Entwicklung des Menschen findet sich ein Proprium, das auch das Personzentrierte Menschenbild ausmacht, das von der im Organismus wirkenden, vorwärtsgerichteten Wachstumskraft und Potenzialität des Menschen ausgeht (Burbach, I.1, S. 23; T. Kingreen, I.2, S. 56 f.). Dabei verortet Rousseau die Entfaltung der Möglichkeiten des individuellen Menschen in diesem selbst, deutet aber zugleich – entsprechend seines pädagogischen Konzepts – eine äußere Einwirkung, die

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das Subjekt aufnehmen muss. Im PzA ist diese Struktur weitergeführt, wenn neben der Annahme der Aktualisierungstendenz das sogenannte dialogische Prinzip konstitutiv ist (s. u.). Die Entwicklung des Menschen bildet für Rousseau dabei keinen genuin positiven Prozess, die Möglichkeit zum Scheitern bzw. zur Entwicklung in destruktive Richtung ist real enthalten und für Rousseau die häufigere Form (Rousseau, 1755/1983, S. 107 u. ö.). Entsprechend der Vorstellung Rousseaus ist mit der Annahme einer solchen Potenzialität noch kein positives Resultat mit­ gesetzt. Das Personzentrierte Menschenbild nimmt die destruktiven Seiten ernst, die im Menschen angelegt sind. Diese gelten gerade nicht als »Wurzelgrund« des menschlichen Seins. Vielmehr finden sich unter der Ebene der destruk­ tiven Empfindungen die konstruktiven Emotionen, die in einem dauerhaften Austausch und Prozess stehen (Burbach, I.1, S. 23; T. Kingreen, I.2, S. 52), von denen sich die konstruktive Seite letztendlich im Selbstaktualisierungsprozess durchsetzt. Zugleich bedarf es »Sicherungen«, um die Konstruktivität des Entwicklungsgedankens möglich erscheinen zu lassen. Für Rousseau bilden diese nicht zerstörbaren Sicherungen die Selbstliebe und das im Gewissen verortete Mitleid. Unter Selbstliebe, der »Urleidenschaft« und damit »Quelle unserer Leidenschaften« (Rousseau, 1762/1998, S. 212) versteht er die Sorge des Menschen um das eigene Wohlsein und das daraus resultierende Streben um die Selbsterhaltung. Selbstliebe ist die natürliche Selbsterhaltungsenergie und damit »immer gut« (S. 212). Die Liebe zu sich selbst formt den Boden für die Liebe zu anderen. Einen gefährlichen Grad bildet der Umschlag in Eigenliebe. Diese relationale Form der Liebe findet sich nach Rousseau erst im Moment der Sozialität mit anderen Menschen und führt dann zum Selbstverlust. Denn nicht mehr nur die eigene Existenzsicherung und Selbsterhaltung stehen im Mittelpunkt, sondern die Eigenliebe resultiert aus dem Vergleich mit anderen, den (imaginierten) Urteilen anderer, der Abhängigkeit von den Mitmenschen. Mitleid gilt als die unverfügbare, vorreflexive und damit auch nicht kontrollierbare Grundtendenz des Menschen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Dabei klingt ein dialogisches Moment an, ohne dass es weiter ausgeführt wird, wenn Rousseau feststellt: »Wir leiden nicht in uns, wir leiden in ihm. Man wird nur dann empfindsam, wenn sich die Phantasie regt und beginnt, uns aus uns selbst heraustreten zu lassen.« (Rousseau, 1762/1998, S. 224; Rousseau, 1755/1983, S. 171) Das Mitleid bildet als natürliche Tugend das Korrektiv zur Selbstliebe, indem es zur Unterstützung derjenigen anregt, die als leidend wahrgenommen werden. In Emile entwickelt Rousseau diesen Gedanken weiter: Die »Fähigkeit, durch das Gute unmittelbar gerührt zu werden« (Schäfer, 2017, S. 37) garantiert das Gewissen.

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»Das Gute kennen heißt noch nicht, das Gute lieben, denn diese Erkenntnis ist dem Menschen nicht angeboren. Sobald er es aber durch die Vernunft erkennt, treibt ihn das Gewissen, es zu lieben. Dieses Gefühl ist ihm aber angeboren.« (Rousseau, 1762/1998, S. 305. auch S. 44)

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Im PzA entsprechen diesen von Rousseau herausgearbeiteten Garantien für die Entwicklung im Beratungsprozess die Haltungen der Seelsorgerin und des Beraters: Akzeptanz, Wertschätzung und Empathie. Mit Blick auf den Organismus des Menschen ist es die empirische Beobachtung der Erhaltungsenergie und der vorwärtsgerichteten Vitalenergie, die den Menschen bestimmt. Im Kleinen zeigt sich dies bereits im aktiven und vor allem freiwilligen Aufsuchen des Seelsorge- und Beratungsgesprächs durch den Gesprächspartner, sofern der Kontext kein Zwangskontext ist – der Aktualisierungs-Wunsch kommt aus dem Individuum selbst. Dieser Durchgang zeigt auf, dass für Rousseau zwar das Diktum gilt, dass der Mensch von Natur aus »gut« ist (Rousseau, 1755/1983, S. 111. 283). Aber in seinem Naturzustand unterscheidet er sich kaum vom Tier, sodass Rousseau einschränkend feststellt, dass der Mensch »gerade deswegen nicht böse [ist], weil [er] nicht w[eiß], was gut sein heißt.« (S. 169) Vielmehr lebt der Mensch in der Gesellschaft und Sozialität. Sie ist der Grund, dass sich der Mensch von sich entfremdet und die destruktiven und dunklen Seiten des Menschen sichtbar werden. Auch für Rousseau gehören diese Seiten zum Menschen dazu; der »Wurzelgrund« allerdings ist das Gutsein des Menschen, in dem von Natur aus ein Trieb zur Vervollkommnung angelegt ist. An diese anthropologische Grund­ legung lassen sich die Personzentrierten Annahmen leicht anknüpfen. So schreibt Rogers, dass »der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur […] von Natur positiv – von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch« ist (Rogers, 1973/2016, S. 99 f.; Burbach, I.1, S. 22; T. Kingreen, I.2, S. 52 f.). Rousseau folgert als Konsequenz die richtige Form der Erziehung; diese »negative Erziehung« ist gerade als ein Handeln zu verstehen, das frei von einem direktiven, pädagogisch-lenkenden Handeln ist oder an Normen geleitet vorgeht. Es ist gerade die »Dialektik von Perfektibilität der individuellen Natur des Menschen einerseits, und Gelegenheiten, wie sie die natürlichen und sozialen Umwelten bieten, andererseits« (Hansmann, 2012, S. 137; Hansmann, 2008, S. 36 f.), welche die Grundlage für eine Pädagogik, die zur Selbst-Bildung der Individuen anleitet, beschreibt. Was Rousseau für die Pädagogik – und zwar auch auf empirischer Grundlage – entwickelt und rezeptionsgeschichtlich die Reformpädagogik in der Bewegung »vom Kinde aus« (z. B. durch H. Wolgast, J. Gläser, E. Key oder M. Montessori zu Beginn des 20. Jh.; weiterführend:

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Lischewski, 2015, S. 37–41; Hansmann, 1996) weiterentwickelt, benennt der PzA für die Psycho­therapie, Beratung und Seelsorge. Im Mittelpunkt steht die individuelle Natur des Menschen, in der dynamisch die Tendenz zur Aktua­ lisierung und Perfektibilität angelegt ist. Zugleich ist eine wachstumsfördernde Lernumgebung bzw. das Gesprächssetting entscheidend, ein nicht-direktives und dialogisch ausgerichtetes Vorgehen gilt als angemessen, um die individuelle Entwicklung in den Mittelpunkt zu stellen. Der PzA folgert als Konsequenz, in einer qualitätsvollen, von Grundannahmen geleiteten Beziehung den Raum zur Entfaltung der Potenzialität der im Menschen angelegten Emotionen zu schaffen. Das Streben nach Vervollkommnung, nach Aktualisierung und Selbsterkenntnis braucht seinen Selbst-Entfaltungsraum (Rogers, 1978b, bes. S. 86–107).

I 3 Die Erfahrung als höchste Autorität und »Quellcode« In der Entwicklungspsychologie erschließt Erfahrung den Zugang zur lernenden Weiterentwicklung des Menschen. Zu der Frage, wie Erfahrung anthropo­ logisch zu verorten ist und wie sie sich zum Prozess des Erkennens verhält, finden sich philosophische Diskussionen seit der Antike. Diese Diskussion wurde in der Moderne auch durch den amerikanischen Philosophen John Dewey (1859–1952) geprägt, der sich der Richtung der Philosophie des Pragmatismus und zugleich der internationalen reformpäda­ gogischen Bewegung zuordnen lässt. Dewey hat Erfahrung als Ausgangspunkt seines Denkens herangezogen und entwirft diesen Begriff konsequent von der Praxis menschlichen Erfahrens her. Seine Gedanken lassen sich als »prag­ matische Folie« (Zottl, 1980, S. 177) dem Grundverständnis des PzA zuordnen. Rogers hat diese vermittelt über seinen Lehrer Kilpatrick, der Schüler Dewey’s war, kennengelernt. Als Grundprinzip von Erfahrung (experience) bestimmt Dewey die dynamische Wechselwirkung zwischen dem wahrnehmenden Geist und der wahrzunehmenden Welt. »Es gibt nichts der Art wie eine Fähigkeit an sich, zu sehen oder zu hören oder zu erinnern; es gibt nur die Fähigkeit, etwas zu sehen oder zu hören, sich an etwas zu erinnern. Es ist Unsinn, von der Schulung einer – geistigen oder physischen – Fähigkeit unabhängig von dem stofflichen Inhalt zu reden.« (Dewey, 1916/1993, S. 94)

Dewey entwickelt einen Erfahrungsbegriff, der nicht nur einseitig auf der subjektiven oder objektiven Erfahrung fußt. Hier wird weder das individuelle Erfahren

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einer Person in einer bestimmten Situation noch das Objekt, das Gegenstand der Erfahrung ist und auf den Erfahrenden einwirkt, überbetont. Erfahrung besteht für Dewey gerade nicht in der einzig passiven Rezeption der Umwelt oder dem einzig aktiven Erfahren des Subjekts, sondern ist durch eine umfassende Wechselwirkung beider Komponenten bestimmt. »Erfahrung ist ›doppelläufig‹ in dem Sinne, daß sie in ihrer primären Ganzheit keine Trennung zwischen Akt und Material, zwischen Subjekt und Objekt kennt, sondern sie beide in einer unanalysierten Totalität enthält.« (Dewey, 1925/1995, S. 25)

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Erfahrung hat für Dewey einen allumfassenden Sinn, der die Einheit von Mensch und Umwelt, die Verbindung von wahrnehmendem Subjekt und erlebter Welt beschreibt (Dewey, 1916/1993, S. 186 f.; Dewey, 1925/1995, S. 226 f.). Das, was eine Erfahrung erst zu einer Erfahrung macht und zusammenhält, wird bestimmt als »unmittelbar erlebte Qualität«, die sich in ihrer Einzigartigkeit und Unteilbarkeit ausdrückt (Dewey, 1925/1995, S. 88–126. 226 f.; Dewey, 1938/2002a, S. 92). Diese an Ort und Zeit gebundene Erfahrung wird für den, der sie durchlebt, zu einer »wirklichen« Erfahrung. Die Qualität der Erfahrung konkretisiert Dewey durch zwei Kriterien: Zum einen benennt er das »Prinzip der Kontinuität« (Dewey, 1925/1995, S. 240–246; dazu Zottl, 1980, S. 191–194). Erfahrungen, die »fruchtbar und schöpferisch in nachfolgenden Erfahrungen fortleben« (Dewey, 1938/2002b, S. 237), weil sie einen Wachstumsprozess freisetzen und wiederum die Qualität der zukünftigen Erfahrungen beeinflussen, gelten als wertvolle Erfahrungen für denjenigen, der diese macht. Zum anderen gilt das Prinzip der Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt – auch als Sicherung vor einer Überordnung des subjektiven Erlebens –, das in seiner Wechselwirkung von persönlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten auf der einen und den umgebenen Bedingungen auf der anderen Seite die »Situation« ausmacht (S. 246 f.; Zottl, 1980, S. 194–198). Das Verhältnis beider Prinzipien bestimmt er als einen nicht voneinander trennbaren Längs- und Querschnitt der Erfahrung. Folgen verschiedene Situationen aufeinander, so wird durch das Prinzip der Kontinuität etwas der früheren Situation auf die nachfolgende übertragen. Hier wird ein Schichtenmodell deutlich, in dem auch Rogers denkt. Erfahrung bildet für Dewey einen Lernprozess. Die Integration dieser aufeinanderfolgenden und zugleich zusammenhängenden Erfahrungen bildet die integrierte Persönlichkeit aus. »Eine voll integrierte Persönlichkeit gibt es nur dort, wo die aufeinanderfolgenden Erfahrungen integriert sind.« (Dewey, 1938/2002b, S. 248) Die Wahrnehmung der Qualität einer Situation, die erfahren

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wird, verortet er im Fühlen und Erleben. Das Gefühl ist für Dewey die Fassung der Qualität einer Erfahrung in ihrer situativen Gegenwärtigkeit. Die Qualität einer Situation wird emotional erfasst; für Dewey ist dies »ein Aspekt mensch­ lichen Antwortverhaltens innerhalb dieser Wechselwirkung« (Zottl, 1980, S. 212). »Der emotionale Aspekt des Reaktionsverhaltens ist dessen unmittelbare Qualität. Angesichts der Gefahr bezeichnet das An- und Abschwellen der Emotion eine Störung der gleichmäßigen Gestimmtheit des Daseins. Emotionen sind durch die Unbestimmtheit der gegenwärtigen Situationen im Hinblick auf ihren Ausgang bedingt.« (Dewey, 1929/1998, S. 225; Dewey, 1925/1995, S. 248–251; Zottl, 1980, S. 212)

Das Gefühl gibt es für Dewey nicht an sich, sondern nur gebunden an die jeweilige Erfahrung. Auf dem menschlichen Lernprozess, wie Dewey ihn versteht, bildet die emotionale Reaktion den Marker für eine unabgeschlossene Situation, die durch eine Störung des vorher herrschenden Gleichgewichts einer Situation angezeigt wird. Auf die Irritation der Situation durch die Emotion folgt das reflexive Einordnen dieser, indem vorherige Erfahrungen und deren Lösungskonzepte erinnert und in die gegenwärtige Handlung durch das Ausprobieren dieser Lösungsstrategien überführt werden. Dieser Schritt führt über Hypothesenbildung, Experimentieren und Anwendung zum Abschluss der Handlung, mit der die neue Erfahrung komplettiert ist und in den Erfahrungsschatz des eigenen Lernens integriert werden kann (Dewey, 1916/1993, S. 186–203; Dewey, 1929/1998, S. 223–228; dazu Suhr, 2005, S. 80 f. 130–132). Ziel ist es, eine zunächst als unsicher empfundene Situation in ein einheitliches Ganzes zu überführen. Mittel ist das »denkende Handeln«, das aus bereits gemachten Erfahrungen resultiert und sowohl auf »aktivem Ausprobieren« als auch »passivem Erleiden« als gleichwertigen Vollzügen fußt (Dewey, 1916/1993, S. 186 f.). Was Dewey philosophisch entwickelt und auf die Pädagogik überträgt, wird von Rogers für die psychotherapeutisch wirksame Beratung weiterentwickelt. Für Dewey gilt Erfahrung als anthropologische Grundkonstante für die Entwicklung des Selbst. Die allgemeinen Prinzipien und Bedingungen der Erfahrung wirken wachstumsfördernd und bleiben an die gegenwärtige Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt gebunden. Jeder Fortschritt an Erfahrung trägt zur Ich-Werdung des Menschen bei. Für den PzA bildet der Bezugspunkt für das Selbst die wahrgenommene Welt, anhand derer sich das Selbstkonzept einer Person in je neuen Begegnungen mit der Umwelt herausbildet. Dabei sind die organismischen Erfahrungen des Menschen, die sich in seiner Begegnung mit der Umwelt ereignen, vor­reflexiv; erst mit der Integration der Erfahrung in das Selbstkonzept des Menschen ist von

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der bewusstseinsfähigen Erfahrung zu sprechen. Rogers grenzt sich mit dieser streng phänomenologischen Perspektive u. a. von der in der Psychoanalyse fest verankerten Dominanz des Unbewussten ab. Das Gefühlserleben im gegenwärtigen Moment wirkt auf die Aktualisierungstendenz des Menschen. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit bilden dabei die Grundlage, auf der neue Erfahrungen eröffnet werden können. Dieses Schichtenmodell ermöglicht eine teleologische Perspektive. Dewey und Rogers denken dabei in der Kategorie des Wachstums, d. h. einer nach vorne gerichteten Weiterentwicklung. Dewey spricht von der »integrierten Persönlichkeit«, Rogers von der »Fully Functioning Person«. Für Rogers bleiben allerdings alle Wachstumsschichten gleichzeitig erlebbar (Burbach, I.1, S. 23; T. Kingreen, I.2, S. 52 f.). Zugleich können die gegenwärtigen Erfahrungen mit denen, die bereits in der Vergangenheit in das Selbstkonzept integriert wurden und denen eine identitätsstiftende Erhaltungskraft innewohnt, in Widerspruch treten. Den gegenwärtigen organismischen Erfahrungen kommt nach Dewey und Rogers die Priorität zu, weil durch sie die Aktualisierungstendenz im Menschen wirkt. Mit dieser Betonung der Gegenwärtigkeit und teleologischen Perspektive macht Rogers seine zunächst im psychotherapeutischen Kontext entwickelten Gedanken auch anschlussfähig für reformpädagogische Konzepte und der Idee der Anleitung zum Selbstlernen (vgl. sein Werk »Lernen in Freiheit«).

4  Dialogischer Personalismus oder »Ich werdend spreche ich Du« – die Notwendigkeit der bedeutenden Person Zwischen den Gedanken des jüdischen Theologen und Religionsphilosophen Martin Bubers (1878–1965), der in Nachfolge Herrmann Cohens, Franz Rosenzweigs u. a. als wichtiger Vertreter des dialogischen Personalismus gilt, und dem Personzentrierten Menschenbild zeigen sich auffallende Konvergenzen. Auch diese Gedanken sind je innerhalb ihres Systems und Ansatzes eigenständig entwickelt worden und können erst nachträglich auf ihre Konvergenzen hin befragt werden. »Ich bin kein Jünger der Existentialphilosophie. Ich machte erst dann die Bekanntschaft mit den Werken Søren Kierkegaards und Martin Bubers, als einige Theologiestudenten der Universität von Chicago, die zu meinen Hörern zählten, mich dazu drängten. Sie waren überzeugt davon, daß ich das Denken dieser Männer als geistesverwandt ansehen würde, und sie hatten weitgehend recht.« (Rogers, 1973/2016, S. 197)

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Rogers und Buber sind sich dann 1957 persönlich begegnet und haben über die Konvergenzen und Differenzen der Rezeption des dialogischen Prinzips in psycho­ therapeutischer Hinsicht diskutiert (Cissna u. Anderson, 1994; Friedman, 1994; Zottl, 1980, S. 79–85). Buber reflektiert diese Begegnung im Nachwort zu seinem Werk »Ich und Du« (Buber, 1923/2006a, S. 122–136). Die sich gerade zu Beginn des 20. Jh. verstärkt entwickelnde Bewegung des Dialogismus bildete ihrem Selbstverständnis nach als »neue Denkweise« (Buber, 1954/2006d, S. 302) eine Oppositionsbewegung zur Tradition des cogito ergo sum (René Descartes). Sie wendet sich vom allgemeinen Subjekt ab hin zum konkreten Ich und kritisiert die transzendentalphilosophische Denktradition, die ausgehend von Immanuel Kant gezeigt hat, dass alle Erkenntnis subjekt- und bewusstseinsabhängig ist und von dort aus dem erfahrenden Ich eine Zentralposition zuschreibt. Ideengeschichtlich zeigt sich bereits etwa 150 Jahre vorher im Denken von Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) der Grundgedanke des später von Buber entwickelten dialogischen Prinzips (zur Frage nach möglichen antiken Wurzeln dieses Gedankens: Schrey, 1991). Bereits 1775 formuliert Jacobi in einem Brief an einen Unbekannten die Notwendigkeit des Du, um Ich sein zu können. »Ich öffne Aug’ oder Ohr, oder ich strecke meine Hand aus, und fühle in demselbigen Augenblick unzertrennlich: D u und I c h;  I c h und D u.« (Jacobi, 1775/1983, Nr. 424; wiederholt im Brief an Lavater Nr. 738) Jacobi handelt vom konkreten, geschichtlich verfassten Ich, dessen sinnliche Wahrnehmungen, d. h. Sehen, Hören, Berühren und Fühlen eine unmittelbare Begegnung erfahrbar werden lassen. Bereits hier zeigt sich das reziproke Verhältnis von Ich und Du: Das Ich ist in dieser Begegnung Ich und Du zugleich, so wie das Du auch Ich ist. Denn gegen die Annahme einer irgend gearteten Abhängigkeit von Ich und Du steht die Gleichursprünglichkeit beider (Jacobi in seiner Schrift David Hume). Anklänge an eine dialogische Grundstruktur, wie sie im Folgenden nachgezeichnet wird, sind nicht zu übersehen. Martin Buber selbst führt retrospektiv die Ursprünge seines philosophischen Modells auf die sich bereits bei Jacobi und in seiner Folge bei Hegel, Feuerbach u. a. findenden Gedanken zurück (Buber, 1954/2006d). Bubers Grundlegung des dialogischen Prinzips entspringt zunächst einer Glaubenserfahrung, die er dann in eine philosophische Sprache übersetzt (Buber, 1961/1962b, S. 1111–1113). Maßgeblich zeugen seine in den Jahren 1923–1953 zum dialogischen Prinzip entstandenen Werke von dieser philosophischen Rückbindung. Buber geht von der anthropologischen Grundannahme aus, dass der Mensch ein Doppelverhältnis zum Sein hat, das sich aus der Erfahrung einer Ur-­ Begegnung mit dem Ur-Du Gottes konstituiert, aus der heraus der Mensch in

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eine Ur-Distanz gerät. Diese Urdistanz bildet die »elementare Voraussetzung aller menschlichen Beziehung« (Buber, 1961/1962b, S. 1115) und schafft erst die Möglichkeit für das In-Beziehung-Treten des Menschen, durch das der Mensch zum Menschen wird (Buber, 1950/1962a, S. 411 f.). Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch dazu fähig, die Welt um sich losgelöst von sich selbst zu betrachten und zu erfahren. Zugleich hat er die Fähigkeit, diese Distanz zu überbrücken, und versucht als Mensch immer wieder in Beziehung zu treten. Diese anthropologische Grundkonstellation der Urdistanzierung und des In-Beziehung-Tretens bezeichnet er auch mit den Grundworten »Ich-Du« und »Ich-Es«. »Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es.« (Buber, 1923/2006a, S. 8) Das Ich konstituiert sich erst im Gegenüber mit einem Du oder mit einem Es bzw. einem Er oder Sie. Dabei reicht diese dem Es zugeordnete Welt der Erfahrung für den Menschen aus, sein Leben einzurichten. Allerdings ist diese Welt der Vergangenheit zugeordnet, weil das Wesen von Gegenständen für Buber im Gewesen-Sein besteht. Doch »ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch!« (S. 38) Damit der Mensch sich selbst als Mensch erfährt und seiner teilhaftig wird, bedarf es die Anteilhabe an der Gegenwärtigkeit des Du. Es ist die unmittelbare, gegenwärtige Begegnung von Ich und Du, in der für Buber der Mensch erst zum Menschen wird, sodass er konstatiert: »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du.« (S. 15) Erst in dieser Begegnung von Ich und Du im Moment der Anrede des anderen entwickelt sich das Ich-Sein des Menschen, in dem er sich durch die Vergegenwärtigung am Anderen seiner selbst bewusst wird. Das Ich wird im Angesprochen-Werden zum Ich, ebenso wird es selbst im Ansprechen des gegenüberseienden Ichs zum Ich (Theunissen, 1977, S. 273 f.). Ich und Du sind gleichursprünglich; beide sind Ich, beide werden Ich am Du. Dieser Begegnung inhäriert ein passives und ein aktives Moment zugleich: »Das Du begegnet mir. Aber ich trete in die unmittelbare Beziehung zu ihm.« (Buber, 1923/2006a, S. 15; zum Verhältnis des aktiven und passiven Moments im Personzentrierten Menschenbild: T. Kingreen, I.2, S. 53 ff.) In der Beziehung von Ich und Du wirkt das Ich am Du und das Du am Ich. Eine Beziehung kann nicht einseitig entstehen, sondern wird von beiden Partnern gleichermaßen gelebt und stößt jeweils auf gegenseitige Resonanz. Erst in diesem reziproken Geschehen wird das Ich sich an seinem Gegenüber seiner selbst bewusst. Mit der Bestätigung des Gegenübers (»Ich verstehe Dich als Person, so wie ich mich auch selbst als Person verstehe.«) wird diese Erfahrung für das Ich real, das seinerseits als Gegenüber dem anderen diese Zusage zuspricht. Kurz gesagt: Wenn ich nie in Kontakt mit anderen Menschen bin, werde ich mir nicht meines Menschseins bewusst, erfahre also nicht meine Liebe, meine Trauer usw.

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Dabei findet der Moment der Begegnung von Ich und Du im Gespräch seine besondere Bedeutung. An dieser Stelle lohnt ein Blick auf die Personzentrierten Grundannahmen. Der Gedanke des »echten Dialogs« bei Buber, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er »den oder die anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, daß lebendige Gegenseitigkeit sich zwischen ihm und ihnen stiftet« (Buber, 1929/2006b, S. 166), weist die gleiche Struktur auf wie das Personzentrierte Gespräch. Die Ich-Du-Beziehung unterscheidet sich von einer einfachen Beobachtung oder Betrachtung der gegenständlichen Welt dadurch, dass »mir etwas sagt, mir etwas zuspricht, mir etwas in mein eigenes Leben hineinspricht.« (S. 152) Die im PzA vorausgesetzte positive Tendenz der Aktualisierungsfähigkeit des Menschen (Burbach, I.1, S. 22–25; T. Kingreen, I.2, S. 62) findet sich philosophisch auch in der Qualität dieser zur Begegnung gesteigerten, sich in der Gegenwart vollziehenden Ich-Du-Beziehung begründet. Auch Buber konstatiert bezüglich des »Prozesses der Aktualisierung der Person«, dass »die aktualisierenden Kräfte je und je in einem mikrokosmischen Kampf mit Gegenkräften« stehen (Buber, 1953/2006c, S. 282). Das Gespräch garantiert also noch keine echte Begegnung und eine daraus resultierende Selbstaktualisierung, aber es ermöglicht eine solche. Die sich zwischen Seelsorger und Gesprächspartnerin entwickelnde Beziehung kann den Prozess der Selbstaktualisierung positiv bedingen, wenn die Qualität der Begegnung – in Bubers Terminologie ein echtes Gespräch, im PzA findet sich die Rede der bedeutenden Person (Burbach, I.1, S. 26) – stimmt. Ich und Du bilden bei beiden Ansätzen keine Symbiose; vielmehr basiert die anthropologische Grundeinsicht Bubers auf der Annahme, dass erst in der jeweiligen »Innewerdung« des anderen das Ich sich selbst erschließt, wenn die Erfahrungen des anderen selbst erfahren werden und zugleich die Erfahrungen des anderen bleiben (Buber, 1929/2006b, S. 153; Buber, 1953/2006c, S. 278). Zum Beispiel kann einem der spezifische Schmerz eines anderen Menschen selbst als dieser spezifische Schmerz fühlbar werden und zugleich bleibt dieser doch der Schmerz des anderen. Dieses ist die »Sphäre des Zwischen« oder das »und« von Ich und Du (zur Frage einer Ontologie des Zwischen: Theunissen, 1977). Buber stellt dabei wie der PzA den Terminus Person in den Mittelpunkt, indem er diesen Moment der Ich-Werdung durch das Erfahrbarwerden des anderen als »personale Vergegenwärtigung« (Buber, 1953/2006c, S. 278) bezeichnet. Die Begegnung mit der Personhaftigkeit des anderen erschließt mir meine eigene Personhaftigkeit (Buber, 1923/2006a, S. 66). Erst in diesem Moment des Zwischen besitzt »die personale Subjektivität […] ihre substantielle Fülle« (Theunissen, 1977, S. 272). Für Buber hat das Selbst erst am Sein teil, wenn es sich als Person am Gegenüber seiner selbst bewusst wird.

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Buber entwickelt daraus Charakteristika, die sich mit den drei Personzentrierten Grundhaltungen parallelisieren lassen. Das echte Gespräch, also »jede aktuale Erfüllung der Beziehung zwischen Menschen« (Buber, 1950/1962a, S. 421) ist zunächst durch die »Hinwendung zum Partner in Wahrheit, als Hinwendung des Wesens also« (Buber, 1953/2006c, S. 285) charakterisiert. Diese wesenhafte, d. h. mit der ganzen Person authentisch vollzogene Hinwendung zum Gegenüber, entspricht der Personzentrierten Grundhaltung der Authentizität. Die Ich-Du-Beziehung und ihre »gemeinschaftliche Fruchtbarkeit« (S. 286) kann sich nur einstellen, wenn sich beide Partner wahrhaftig selber einbringen. Dann »erschließt [das Zwischenmenschliche] das sonst Unerschlossene.« (S. 286) Buber denkt dies zunächst konkret von den sprachlichen Äußerungen her, die sich im Inneren der Person bilden und nach außen drängen. Die begrenzende Gefahr deutet er im Scheinen-Wollen, »wenn ich statt des zu Sagenden mich anschicke, ein zur Geltung kommendes Ich vernehmen zu lassen« (S. 286). Diese Grenze der Echtheit findet sich im PzA in der Theorie der selektiven Echtheit wieder. Ein echtes Gespräch ist sodann durch die »Akzeptation der Anderheit« (Buber, 1950/1962a, S. 421) und damit gegenseitige Anerkennung und Bejahung des Anderen bestimmt. Es gilt für Buber als eine unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende Begegnung, dass »jeder seinen Partner als diesen, als eben diesen Menschen meint« (Buber, 1953/2006c, S. 277) und »zu ihm als Person Ja« (S. 285) sagt. Den Höhepunkt dieser Begegnung bestimmt Buber schließlich in der Fähigkeit jedes Menschen, die er als »Realphantasie« bezeichnet: »die Fähigkeit, sich eine in diesem Augenblick bestehende, aber nicht sinnmäßig erfahrbare Wirklichkeit vor die Seele zu halten […], daß ich mir vorstelle, was ein anderer Mensch eben jetzt will, fühlt, empfindet, denkt, und zwar nicht als abgelösten Inhalt, sondern eben in seiner Wirklichkeit, das heißt als einen Lebensprozeß dieses Menschen.« (Buber, 1950/1962a, S. 422)

Dieses »Einschwingen ins Andere«, in »die mir entgegentretende besondere reale Person, die ich mir eben so und nicht anders in ihrer Ganzheit, Einheit und Einzigkeit und in ihrer all dies immer neu verwirklichenden dynamischen Mitte zu vergegenwärtigen versuchen kann« (Buber, 1953/2006c, S. 280), bezeichnet der PzA als Empathie. Volle Vergegenwärtigung lässt etwas von der Wirklichkeit des Anderen für das eigene Ich selbst als real erscheinen. Beide Gesprächspartner sind durch das Sein ihres Gegenübers beeinflusst, ohne symbiotisch darin aufzugehen (das »als ob« als Sicherheit vor der Identifizierung: Burbach, I.1, S. 33).

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In Bubers Grundlegung fällt auf, dass ein echtes Gespräch durch die volle »Gegenseitigkeit der inneren Handlung« (Buber, 1929/2006b, S. 149) bestimmt ist. An dieser Stelle findet sich eine wichtige Differenz zwischen Bubers Denken und dem PzA. Unter der besonderen Situation eines therapeutischen Gesprächs, zu dem ein Personzentriertes Seelsorge- und Beratungsgespräch strukturell zählt, lässt sich kein voll gleichgültiges reziprokes Verhältnis zwischen Ich und Du, zwischen Seelsorger und Gesprächspartnerin, zwischen Beraterin und Klient konstatieren. Denn das gemeinsame Erlebnis in diesem Moment der »personalen Vergegenwärtigung« bzw. Selbstaktualisierung steht unter dem primären Ziel der Selbst-Erkenntnis der Gesprächspartnerin. Der Seelsorger bzw. die Beraterin ist im Ereignis der Gegenwart, im Moment des Werdens in ihrer Rolle empathisch daran beteiligt; zugleich ist es zum einen gerade dieser »als-ob«-Vorbehalt der Empathie, der das Geheimnis dieser nicht voll reziproken Begegnung ausmacht, wenn sich das Gegenüber entwickelt und diese gegenwärtige Erfahrung auf der Vorderbühne ihm gehört. Zum anderen bleibt das eigene System der Seelsorgerin auf der Hinterbühne gegenwärtig (Burbach, I.1, S. 33 f.). Zugleich ist es jener Moment der Begegnung, den Buber als »die Sphäre des Zwischenmenschlichen«, »des Ein-ander-gegenüber« (Buber, 1953/2006c, S. 272) beschreibt, in dem ein Wirk-Feld entsteht (Rogers’ Rezeption: Rogers, 1973/2016, S. 69 f.; dazu Burbach, I.1, S. 45). Nach dem dialogischen Personalismus, wie er sich bei Buber konturiert, ist das Menschsein einzig relational zu fassen; es gehört zur anthropologischen Grundstruktur, dass es das menschliche Sein nur als In-Beziehung-Sein zweier verschiedener Begegnungsarten gibt. Das Ich existiert nur im Dialog. Dieser ist der Bewusstwerdungsprozess des Ich auf sich selbst. Der Mensch ist Ich nur vom Du her und auf das Du hin. Notwendig zur Person-Werdung gehört die spezielle Art der Begegnung zwischen Ich und Du, die sich in der Sphäre des Zwischenmenschlichen im Moment der Gegenwart realisiert und die Teilhabe am Sein erst ermöglicht. Auch der PzA rekurriert auf das heilende Potenzial der zwischenmenschlichen Begegnung und deutet diese als notwendig zur Verwirklichung der in jedem Menschen angelegten Möglichkeiten. Dabei ist auch für den PzA »die Gegenwärtigkeit des Augenblicks […] das Maßgebende [, … welche] die Möglichkeitsbedingungen für den Vollzug des personalen Seins« (Zottl, 1980, S. 85) angibt. Für Buber bildet jede einzelne Ich-Du-Begegnung einen gnadenhaft gewirkten Hinweis auf das Ur-Du Gottes. Auch kann im seelsorgerlichen Kontext eine gelingende, in die Selbstaktualisierung führende Gesprächsbegegnung je individuell als Gotteserfahrung gedeutet werden.

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5 Schluss

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Der knappe Durchgang zeigt, um erneut im oben angebotenen Bild des ankernden Schiffes zu bleiben, dass die jeweiligen Verankerungen nicht der Heimathafen selbst sind. Ursprung des PzA bildet ein therapeutischer Ansatz. Von diesem aus, in seiner Eigenlogik, Ziel- und Zweckbestimmung entwickelt, ist ein Anschluss gegeben, wie Rogers selbst anregt (s. o.). Verankerungen bleiben als Dialogräume immer temporär. Es hat sich gezeigt, dass ein einzelner Bezugspunkt nicht ausreicht: Die abzufahrende See ist groß. So lassen sich noch weitere Ankermöglichkeiten in der Philosophiegeschichte nennen (z. B. existenzialphilosophische Gedanken von Kierkegaard oder Sartre, Überlegungen zum Selbstkonzept bzw. zur Identität; Wuttig, 1990; Schmid, 2004). Der PzA integriert – bewusst und unbewusst – verschiedene ideengeschichtlich zu verortende anthropologische Deutungen. In dieser Vielheit liegt die Chance, unterschiedlichste Dialogräume mit Ansätzen der Philosophie und Reformpädagogik zu schaffen, in denen keine komplette Übernahme der jeweiligen Thesen des anderen geschieht, sondern die eigenen Aspekte fruchtbar weiterentwickelt werden können. Rogers selbst macht seinen im psychotherapeutischen Kontext entwickelten Ansatz für die Pädagogik fruchtbar (Rogers, 1978b). Das Personzentrierte Menschenbild hat es in dieser Form vor seinem Begründer Carl Rogers nicht gegeben; es lassen sich je einzelne Facetten nachzeichnen, die sich »wie ein buntschillerndes Mosaik, dessen Bestandteile aus ganz verschiedenen philosophischen Ateliers stammen« (Wuttig, 1990, S. 39) zeigen mögen.

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 Der Humanistische Ansatz im Gespräch mit anderen Ansätzen

8.1

 Das Selbst und seine Entwicklung – tiefenpsychologische Konzepte in Resonanz mit dem Personzentrierten Ansatz

Anne Steinmeier Der Vergleich mit tiefenpsychologischen Konzepten bietet sich mit Ansätzen an, die auf Grundlagen einer relationalen Psychotherapie arbeiten (Sassenfeld, 2015). Das Verständnis des Subjekts als eines von Beginn an berührbaren, sozialen Selbst und Annäherungen an das Unbewusste im Horizont des Resonanzmodells zeigen interessante Verbindungslinien auf. Im Rahmen dieses Beitrags richtet sich der Blick exemplarisch auf Forschungen von Daniel Stern, Thomas Ogden und Gaetano Benedetti.

1  Daniel Stern – ein Selbst von Anfang an Die entscheidende Wende in der Blickrichtung tiefenpsychologischer Wahrnehmung hat sich durch die Forschungen des amerikanischen Psycho­analytikers, Entwicklungspsychologen und Säuglingsforschers Daniel Stern vollzogen. Mit seiner Untersuchung eines präverbalen Selbstempfindens – eines Selbstempfindens vor Sprache und Selbstreflexivität – fragt er nach dem »primäre[n] Organisations­prinzip« (Stern, 2016, S. 46) der menschlichen Entwicklung. Zwar ist das Erleben des Selbst und des Anderen auch Thema der Objektbeziehungstheorie, doch in ihren Theorien war dieses nur »eine Art sekundärer Begleiterscheinung der Trieb- oder Ich-Entwicklung« (S. 46). Das »Selbstempfinden als primäres Organisationsprinzip« haben sie »nie in Erwägung gezogen« (S. 46). Diese anthropologisch grundlegende Erkenntnis begründet das Vertrauen darauf, dass der Mensch ein Organismus ist, in dem eine Wachstumskraft wirksam

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ist. In Bezug auf den Personzentrierten Ansatz könnte man vom Selbstempfinden als »oberste[r] Autorität« sprechen (Rogers, zit. nach Burbach, I.1, S. 20 f.). Von seinen ersten Anfängen an macht ein Mensch Erfahrungen und kann sie bewerten. In dieser Kompetenz liegt seine Stärke, aber auch seine Verletzbarkeit begründet. Dieses primäre, nicht abgeleitete Empfinden des Selbst und des Anderen entwickelt sich langsam und ist als komplexes System ein Leben lang in Bewegung. Dabei erlebt der Säugling nicht nur die bereits entwickelte Organisation, sondern auch den Prozess, die Herausbildung von Organisation (Stern, 2016, S. 72). Entscheidend ist in all den Stufen seiner Entwicklung – über das Empfinden eines auftauchenden Selbst, eines Kern-Selbst, eines subjektiven Selbst, bis hin zum verbalen, sprachlichen und narrativen Selbst – die Spannung zwischen Selbstempfinden und Bezogen-Sein (Geißler u. Heisterkamp, 2007, S. 141 ff.). Das Empfinden des auftauchenden Selbst von Geburt an ist ein Selbstempfinden einer »im Entstehen begriffenen Organisation« (Stern, 2016, S. 61). Die Auffassung einer anfänglichen Undifferenziertheit (Mahler, Pine u. Bergmann, 1993) wird damit radikal bestritten. Säuglinge sind vielmehr von Beginn an fähig, auf äußere soziale Vorgänge zu reagieren. Eine Erkenntnis von eminenter anthropologischer Bedeutung: Anders als unter der Voraussetzung eines »verstehbare[n] Geschöpf[es]«, anders als im Blick auf den »Menschen, der zu werden er im Begriff ist« (Stern, 2016, S. 69), ist soziale Interaktion mit einem Säugling nicht möglich. Konstitutiv für diese grundlegende »Welt der Gefühle« (Geißler u. Heisterkamp, 2007, S. 141) ist die angeborene amodale Wahrnehmung: Damit ist die Fähigkeit bezeichnet, das in einer bestimmten Sinnesmodalität Auf­genommene in eine andere Sinnesmodalität übersetzen zu können (Stern, 2016, S. 79). Im Unterschied zur Annahme von frühen Spaltungen werden hier von Anfang an Wahrnehmungseinheiten erkannt. So taucht zum Beispiel die Mutterbrust »im Erleben des Kindes als bereits integrierte Wahrnehmung (eines Teils) des Anderen, als Resultat der nicht-erlernten Verknüpfung visueller und haptischer Eindrücke auf« (Stern, 1992, S. 80). Wenn auch die Reiztoleranz im Alter von einer Woche geringer ist als einige Monate oder Jahre später, so ist doch die Entdeckung entscheidend, dass das Neugeborene von Beginn an ein »optimales Stimulierungsniveau« hat (Stern, 1992, S. 325), das meint eine Beziehung zu äußeren Reizen, die sich qualitativ das ganze Leben hindurch nicht verändert. Wenn es unterschritten wird, sucht der Säugling nach Stimulierung, wird es überschritten, weicht er aus. Von großer Bedeutung für das von Anfang an gemeinsame Erleben und für die Organisation von Erfahrung sind die »dynamischen Vitalitätsformen« (Stern, 2016, S. 198ff; Stern, 2011). Hiermit sind subjektiv erlebte Veränderungen inne-

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rer Gefühlszustände bezeichnet, die innerhalb von Sekundenbruch­teilen hervorgerufen werden. Stern hat diese bis zu seinem Tod erforscht. Heute lassen sie sich neurobiologisch im Rahmen der Spiegelneuronen begründen. »Neurobiologisch gesprochen, könnte man sagen, dass dieses präreflexive Erleben intersubjektiver Offenheit durch Mechanismen wie die Spiegelneuronen, die adaptiven Oszillatoren und andere, ähnliche Prozesse erzeugt wird […]. Auf der Erfahrungsebene aber erzeugt diese intersubjektive Offenheit die Bedingungen für jene primäre Intersubjektivität […], die sich im sehr frühen Kindesalter beobachten lässt, und für die später auftauchenden Manifestationen der sekundären Intersubjektivität (wie der Empathie im eigentlichen Sinn)« (Stern, 2007, S. 108).

Zwischen dem zweiten und sechsten Lebensmonat organisiert sich in der Interaktion mit der Mutter bzw. der affektiv präsenten Pflegeperson die Empfindung eines Kern-Selbst als abgegrenzter körperlicher Einheit (Stern, 2016, S. 24). Damit ist die Wahrnehmung eigenen Handelnkönnens, eigener Affektivität und zeitlicher Kontinuität verbunden (S. 106 f.). Hier spielt das dynamische Episoden­gedächtnis eine wichtige Rolle, Stern spricht von RIGs (Represen­ tations of Interactions that have been Generalized) (S. 143). Nicht nur einzelne Wahrnehmungen, sondern Interaktionsabläufe werden zu Gedächtnisepisoden und diese durch Wiederholung zu generalisierten Episoden, die psychisch als ein aktives, affektives Erlebensmuster des Zusammenseins mit einer anderen Person repräsentiert werden. Sie gehören als »Selbsterfahrungen in der Gemeinschaft mit einem Anderen […] zu den im höchsten Grad sozialen Momenten unseres Erlebens, einfach deshalb, weil sie nur dann auftreten können, wenn sie durch das Verhalten oder die Anwesenheit eines anderen Menschen ausgelöst oder lebendig gehalten werden. Ohne einen Anderen können wir sie nicht kennenlernen.« (S. 149)

Denn eine »halbe Umarmung« gibt es nicht (S. 149). Die nächste Veränderung des Selbstempfindens tritt etwa im Alter von neun Monaten ein, wenn der Säugling anfängt wahrzunehmen, dass er ein »Seelenleben« hat (Stern, 2016, S. 179), ein eigenes, inneres subjektives Erleben, und dass er dieses mit anderen teilen kann. Mit dem subjektiven Selbst können Intentionen »gelesen« werden (Eckert, Höger u. Biermann-Ratjen, 2012, S. 74). Jetzt bildet sich eine emotionale Verständigung in varianten Ausdrucksformen heraus, für die Konturen von Intensität, Rhythmus und Zeit eine große Rolle spielen. Die innere Welt konturiert sich: Denn ob das Kind durch affektive

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Abstimmung eine Gemeinsamkeit erfährt, entscheidet darüber, ob es »innerliche Gefühlszustände als Formen des menschlichen Erlebens kennenlernt, die man mit einem anderen Menschen teilen kann« oder ob es in diesen Gefühlen allein bleibt, weil sich auf sie »nie ein anderer Mensch einstimmt« (Stern, 2016, S. 217). Dabei »steht nichts Geringeres als die Gestalt und die Größe des gemeinsam mit dem Anderen erlebbaren inneren Universums« auf dem Spiel (S. 217). Es steht auf dem Spiel auch durch frühe Fehlabstimmungen, die nur mit einem genauen Gehör wahrzunehmen sind, weil sie

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»irgendwo zwischen einer gemeinsamen, gelungenen Abstimmung und […] einer affektiv nicht übereinstimmenden Reaktion […] angesiedelt sind. Sie kommen den Abstimmungen näher; ihr Hauptmerkmal besteht sogar darin, dass sie sich aufgrund ihrer großen Ähnlichkeit mit den Abstimmungen im eigentlichen Sinn einschmuggeln lassen. Aber an einer genauen Entsprechung zielen sie knapp vorbei, und ebendiese Kleinigkeit, um die sie das Ziel verfehlen, ist für ihre Wirkung entscheidend« (Stern, 2016, S. 296).

Aufgrund seiner Bezogenheit auf die Gemeinsamkeit mit der Mutter kann das Kind sich verrücken, eben näher dorthin, »wo sie ›ist‹, um die Lücke zu schließen und eine Übereinstimmung zu schaffen« (S. 299). Auf dieser Spur wird für Stern das »unwillkürliche Gedächtnis« von Marcel Proust für den therapeutischen Kontext wichtig: Stern spricht von Affekten, die »wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles Übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen« (Marcel Proust, zit. nach Stern, 2016, S. 366, Anm. 2).

Mit dem schließlichen Auftauchen der Sprache, dem von Stern sogenannten »Empfinden eines verbalen Selbst« im zweiten Lebensjahr, zeichnet sich eine bedeutende Zäsur ab (Stern, 2016, S. 231 ff.). Jedes neu erlernte Wort vermag Welten zu eröffnen und neue Verbindungen zu schaffen. Mit der Entwicklung von Sprache und symbolischem Denken kann ein Kind das eigene Empfinden ausdrücken, Wünsche formulieren und Widerstand benennen. Auf der anderen Seite aber ist mit der Sprache das Risiko verbunden, das eigene Erleben, Erfahrungen des amodalen Wahrnehmungsstroms, zu verlieren. Es entsteht ein Zwischen­raum zwischen der gelebten und der sprachlich repräsentierten Erfahrung.

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In dieser Zeit beginnt ein Kind seine Erfahrungen in einer Geschichte zu organisieren. Dieses narrative Selbstempfinden geht über eine bloß sprachliche Beschreibung oder Mitteilung von Informationen hinaus. Denn »[m]it jeder neuen Geschichte schafft das Kind nun auch eine eigene, neue Realität« (Geißler u. Heisterkamp, 2007, S. 151 f.). Aber nicht nur die Worte, auch die Geschichten, die ein Kind nun zu bilden anfängt, sind immer auch Geschichten einer Ko-Kreation, Geschichten einer Gemeinschaftsarbeit des Kindes mit zumindest einem Elternteil, aber auch mit anderen Familienmitgliedern. So kann es sein, dass die Geschichte, die ein Kind erzählt, ein Elternteil »entschuldigt«. Unter einem Oberflächennarrativ, der expliziten Geschichte, die bewusst, symbolisch als Vorstellung repräsentiert wird, liegt ein Tiefennarrativ, das anders gespeichert ist: unbewusst, nicht als ein verdrängtes Wissen, sondern als »implizite Agende«, nicht-symbolisch, nonverbal und prozedural (Stern, 2002, S. 976f; Stern, 2007, S. 123). In dieser Tiefenstruktur des Selbst wird »erzählt«, »wie man etwas versteht und erlebt«, es »behandelt das Nichtgesagte, […], die Art und Weise, wie man menschliche Interaktion erfährt« (Geißler u. Heisterkamp, 2007, S. 153). Die implizite Agenda ist von fundamentaler Bedeutung, denn sie kontextualisiert die explizite Agenda. »Sie umgrenzt sie und gibt vor, worüber gesprochen werden kann […]: Sie determiniert ihre Freiheitsgrade« (Stern, 2007, S. 130). Die Bedeutung Sterns im Gespräch mit dem Personzentrierten Ansatz liegt in der Empathie als einem differenzierten Rezeptionsmodus für diesen Fluss, für dieses »Fließmuster«. Ein Fließmuster, um es im wunderbar einstimmenden Bild der Herausgeberin dieses Bandes zu formulieren, das vielleicht eine Zeit scheinbar versiegen, vertrocknen, aber doch niemals erstarren kann. Es gibt ein Gedächtnis des Selbstempfindens, auch dort, wo es etwa durch Fehlabstimmungen verloren gegangen scheint. Darauf zu vertrauen ist kein naiver Optimismus, der die Wahrnehmung von Erstarrung, der Realität zerstörerischer Kräfte übersieht oder bagatellisiert. Hier ist vielmehr eine empirische Gründung für Rogers Würdigung des Menschen formuliert, dass noch »unter einer Schicht von Verbitterung und Hass so etwas wie ein heiliges Gefühl des pulsierenden, lebendigen Selbstseins liegt« (Burbach, I.1, S. 24). Auf den Spuren des Gedächtnisses des Selbstempfindens ist Stern auf die Bedeutung des von ihm sogenannten Now-Moments aufmerksam geworden. Eine Entdeckung von großer Bedeutung auch für Seelsorge und Beratung. Solche Momente der Gegenwart können sich in Augenblicken, nicht länger als zehn Sekunden dauernd, ereignen: Plötzlich und unerwartet verdichtet sich die Gegenwart auf gleichsam dramatische Weise und findet in einem Narrativ Gestalt (Stern, 2007, S. 46). Damit richtet sich der Fokus nicht mehr in erster

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Linie auf die Vergangenheit und ihren Einfluss auf die Gegenwart, sondern auf die jetzt und hier lebendige und gelebte Geschichte (S. 16). Stern beschreibt die innere Struktur dieses Narrativs als einen dreiteiligen Moment, in dem zwischen den Zeiten, zwischen Vergangenheit und Zukunft, eine »neue Zeit« »auftaucht«: eine momentane Veränderung im Empfinden des Selbst und im Empfinden des Anderen, im Geschehen, im Gewahrwerden eines neuen Klangs »zwischen uns« (Stern, 2007, S. 131). Die Entfaltung des Gegenwartsmoments erinnert an eine Vorwärtsbewegung, eine Orientierung auf ein Ziel hin. Stern spricht unter phänomenologischem Blickwinkel von einem »intentionalen Gefühlsstrom«, der »als ganze Phrase unterhalb der spezifischen intentionalen Inhalte« fließt und das Gefühl eines Vorwärtsstrebens gibt (Stern, 2007, S. 76 f.). Das zeitliche Rückgrat dieser Gegenwarten wird von den transmodalen und multisensorischen »dynamischen Vitalitätsformen« geprägt, die Stern in der frühen Säuglingsforschung bereits wahrgenommen hat und die er bis zuletzt, bis zu seinem Tod 2012, in ihrer fundamentalen Bedeutung für unser Erleben erforscht hat. Über Zeit und Intensität hinaus sind Kraft, Bewegung, Raum, Gerichtetheit und Lebendigkeit für diese grundierenden Formen der Erfahrung als wesentlich erkannt worden (Stern, 2011). Vergleichbar mit einer musikalischen Phrase tragen Gegenwartsmomente ein emergentes Potenzial in sich: die »pregnancy phase«, die ankündigt, vielleicht nur vage und flüchtig, dass irgendetwas bevorsteht, dann die »weird phase«, die merkwürdige, unheimliche Phase, in der die Partner realisieren, dass sie einen unbekannten und nicht erwarteten intersubjektiven Raum betreten haben. Es sind Momente, in denen die Balance ins Wanken gerät, die sich mit Erwartungen oder mit Angst aufladen, »weil unbedingt eine Entscheidung getroffen werden muß – ein Handlungsplan oder eine Erklärung aber […] nicht sofort zur Hand« und der Rückgriff auf gewohnte Maßnahmen verwehrt sind (Stern, 2002, S. 990). In der dritten und nicht aufzuschiebenden Phase entscheidet sich, ob es zu einem Moment der Begegnung kommt, ob sich »ein kleines Fenster des Werdens« öffnet oder nicht (Stern, 2007, S. 26). Solche Momente können überall, auch im Alltag, entstehen. Sie müssen nicht reflexiv bewusst und sprachlich narrativiert werden. Sie können, so wie sie »aufgetaucht« sind, auch wieder »untertauchen«. Bewusst und gedeutet aber, und das ist die Chance und Herausforderung in Seelsorge und Therapie, können sie Erwartungen verändern und Erinnerungen abwandeln, zu Neuarrangement, Klärung des bewussten und sich sprachlich verständigenden Wissens, auch in eine andere Richtung der Lebenserzählung führen. Die Herausforderung der reflexiven Verständigung aber liegt darin, das Geschehene so zur Sprache zu

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bringen, dass in der Deutung der Bezug zu dem, was sich nicht in Sprache und Reflexion auflösen lässt, den »impliziten Agenden«, gehalten wird. Stern spricht von einem »›Etwas-mehr‹ als Deutung« (Stern, 2002). Wenn zwei Menschen miteinander eine solche dynamische Zeit erleben, »überschneidet sich das phänomenale Bewusstsein des einen Beteiligten mit dem phänomenalen Bewusstsein des anderen und schließt es partiell mit ein« (Stern, 2007, S. 135). So wird zwischen zwei Menschen das Bewusstsein einer gemeinsamen Landschaft geweckt. Diese intersubjektive Rekursion, diese »Reentry-­Schleife« zwischen zwei Psychen, mündet für beide Beteiligte in eine »Erfahrung ›höherer Ordnung‹«, in der sich für beide Beteiligte etwas verändert hat (Stern, 2007, S. 136).

2  Thomas Ogden: Im »Zwischenreich des Träumens« Im Unterschied zu Stern ist der ebenfalls amerikanische Psychoanalytiker Thomas H. Ogden in objektbeziehungstheoretischem Denkhorizont verortet. Seine Konzeption ist aber gerade in den Verschiebungen, die er innerhalb dieses Denkens vornimmt, ein wichtiger Gesprächspartner für den Personzentrierten Ansatz. Als »primitivste psychische Organisation« führt Ogden das Konzept der autistisch-berührenden Position ein, das alle Erfahrung des Selbst sensorisch gründet (Ogden, 2006, S. 4). Ausgehend von sinnlichen Wahrnehmungen an der Hautoberfläche entstehen »Praktiken des Seins« in intermediären Räumen, zwischen Selbst und Anderen, in Beziehung zur Mutter und zur Welt der übrigen Objekte (S. 62 f.). Die Spannung im Begriff autistisch-berührend deutet auf die sinnliche Erfahrung als Erfahrung eines »Zwischenraums«: zwischen Selbst und Anderem, zwischen Autonomie und Bezogenheit. Hier entsteht das »Gefühl, das Wissen, wer man ist« (Ogden, 2006, S. 56), und hier liegt der lebendige Grund für die weitere Entwicklung über die Spaltungen der objektbeziehungstheoretisch sogenannten paranoid-schizoiden Position und ihrer Ablösung durch die depressive Position als der reifsten psychischen Organisation, der Fähigkeit sich selber und andere in widerstreitenden Gefühlen zu akzeptieren (Steinmeier, 1998, S. 115 ff.). Der autistisch-berührende Modus der Erfahrung ist von zentraler Bedeutung für Gespräche im »Zwischenreich des Träumens« (Ogden, 2004). Ogden verwendet diesen metaphorischen Ausdruck für das »Spiel von Subjektivität und Intersubjektivität«, in dem das Zentrum menschlicher Lebendigkeit liegt, die Quelle aller psychischen Entwicklung. Jedes lebendige Gespräch ist in diesem »Zwischenreich« geortet.

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In Ogdens psychoanalytischer Topik ist dieses »Reich« zwischen Unbewusstem und Vorbewusstem geortet, was eine für unseren Zusammenhang wichtige Veränderung des Verständnisses von Entwicklung bedeutet. Psychische Arbeit ist in dieser tiefenpsychologischen Sicht nicht länger als eine lineare verstanden, vom Erleben gleichsam vorwärts und auf höhere symbolische Ordnungen strebend, sondern als ein lebendiger »Diskurs« wahrgenommen. Stimmiger vielleicht formuliert lässt sich hier eine fließende Bewegung vorstellen, in der unbewusstes und vorbewusstes Erleben und sprachlich vermittelte Erfahrung ein Leben lang einander »schaffen, negieren, erhalten und beleben« (Ogden, 2004, S. 14). Damit ist das Verständnis des dynamischen Unbewussten »als zentrale klinische Tatsache im therapeutischen Prozess« (Sassenfeld, 2015, S. 81) noch präziser ausgeführt als bei Stern. Im »Versuch, so gründlich wie möglich das spezifische Wesen der Erfahrung des Spiels zwischen individueller Subjektivität und Intersubjektivität zu beschreiben« (Ogden, zit. nach Sassenfeld, 2015, S. 82), hat Ogden die Konzeption des analytischen Dritten gefunden und das therapeutische Gespräch »als unbewusste intersubjektive Konstruktion von Analytiker und Analysand« (Ogden, 2001, S. 7) beschrieben. Das bedeutet: Zwei eigenständige, getrennte Individuen teilen für eine gewisse Zeit ein spannungsvolles Eigenleben, das sich zwischen ihnen als eine gemeinsame »Schöpfung« dynamisch entwickelt (Ogden, 2001, S. 23). Es geht um eine intersubjektive Erfahrung, in der Gedanken, Gefühle, körperliche Reize entstehen, eine »Bedeutungsmatrix«, die beide gemeinsam und doch auf unterschiedliche Weise teilen und aus der sie beide verändert hervorgehen. Es ist eine Ko-Kreation, die im interpersonalen Feld zwischen zwei Partnern ein eigenes Leben annimmt. Ein Leben in kontinuierlicher Bewegung, auf vielfältigen Ebenen und mit reichen Facetten. Dazu gehören vor allem auch die Träume, nicht nur der Nacht, sondern all jene alltäglichen Formen, die »auftauchen« in den inneren lebendigen Gesprächen »zwischen Gefühlen und Gedanken und zwischen Gedanken und Worten«, vor allem in all jenen Gesprächen, die sich »zwischen dem Unaussprechlichen und dem Ausdrückbaren« (Ogden, 2004, S. 11) bewegen. Ogden spricht von einem »imagining ear« (im Anschluss an Frost, 1995), das nicht nur die Inhalte des Gesagten wahrnimmt, sondern auch die Art und Weise, wie etwas gesagt wird und was es in der Beziehung in einem bestimmten Augenblick bedeutet und bewirkt. Das bedeutet die Sensibilität für die Stimme im Gesprochenen, die nur als »Ereignis«, in Bewegung und im Augenblick, hörbar ist. Hören bedeutet so nicht mehr ans »Licht« der bewussten Aufmerksamkeit zu rücken, zu dechiffrieren und zu dekodieren, sondern wachsam zu sein für ein Neues, das für beide Beteiligte zu Gehör, in Erfahrung und ins Empfinden kommen will (Ogden, 2004, S. 40).

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Es ist nicht zufällig, dass sowohl Stern den Gegenwartsmoment mit einer musikalischen Phrase vergleicht, als auch Ogden lebende und atmende Worte als Musik bezeichnet. Den Akkorden in der Musik vergleichbar geht es für Ogden in einem Gespräch darum, den Klang eines Akkords oder einer Phrase in ihrer Unbestimmtheit zu hören. »Beim Gebrauch unserer Sprache müssen wir, sowohl beim Formulieren von Theorien wie auch in der analytischen Praxis, bemüht sein, vor allem Musik zu machen und nicht so sehr nach Noten zu spielen« (Ogden, 2001, S. 4; vgl. hierzu Leikert, 2012, S. 105ff; Leikert, 2008, S. 116 ff.). Für das therapeutische und seelsorgliche Gespräch bedeutet das den Respekt, kreative Spannungen zu halten: zwischen Subjektivität und Inter­subjektivität, zwischen Privatsphäre und Kommunikation, zwischen Träumerei, Traum­ erleben und Deutung, zwischen dem Versuch, Gedanken und Gefühle präzis zu benennen, und der Freude an den Umwegen, auf denen sich ein den Deutungen nicht zugänglicher und nicht übersetzbarer Überschuss je neu und anders bewegt. In den Zwischenräumen können Metaphern, Klänge von Wörtern und Sätzen, Bilder und Gesten Brücken bilden. Denn das seelische Leben hört nicht auf, Formen zu suchen, in denen es lebendig sein kann. Im »Zwischenreich des Träumens« erwacht je neu die Möglichkeit eines schöpferischen Erkanntwerdens, einer Resonanz im »Dritten« einer Figur, einer Gestalt, einer Geste, die aber »nicht schon da« ist, zum Beispiel »›im‹ Leser oder ›im‹ Gedicht«, und nur darauf wartet, »ins Licht gerückt zu werden« (Ogden, 2004, S. 151). Vielmehr wird die Form jedes Mal – unverfügbar – »neu geschaffen«, nicht nur im Medium der Worte des Gedichts, sondern zugleich »im Medium der Worte eines anderen Menschen. […] Wir werden auf eine Weise gekannt, wie wir uns bisher selbst nicht kannten; wir waren nicht so völlig wir selbst, wie wir es werden, indem wir ein Gedicht erleben und indem ein Gedicht uns erlebt« (S. 151).

In einem Gedicht von A. R. Ammons findet Ogden das Verständnis seiner analytischen Arbeit ausgedrückt: »weniger die Form suchen/als offen sein/für jede Form, die sich zeigen mag/durch mich/aus dem Selbst, nicht meinem/sondern unserem« (Ammons, zit. nach Ogden, 2004, S. 18). So lässt sich auch von einer Empathie der Künste sprechen: Für Ogden sind besonders sprachliche Gestalten, wie Gedichte, von Bedeutung, aber dies lässt sich ausweiten auf die Sprachen der Bilder, die Kraft von Musik und Tanz. In ihrem kreativen Potenzial, im Reichtum ihrer Ressourcen, in vielfachen imagina­

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tiven Variationen vermögen die Künste Räume und Zeiten zu eröffnen, in denen unverfügbar Neues entstehen und gefunden werden kann (Steinmeier, 2011). Das gilt auch für eigene Gestaltungen.

3  Gaetano Benedetti – Resonanzbilder

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Eine besondere Arbeit mit dem schöpferischen Potenzial des Unbewussten als einer Figur des Dritten bildet die von dem Baseler Psychiater und Psychoanalytiker Gaetano Benedetti gemeinsam mit seinem Kollegen Maurizio Peciccia entwickelte kunsttherapeutische Behandlungsmethode des »graphischen Dialogs« als eines »progressiven therapeutischen Spiegelbildes«. Eine Methode, die ein psychoanalytisch interpretatives und imaginatives, sogenanntes »affektiv-­ repräsentationales«, Denken verbindet (Faugeras, 2000, S. 41). Entstanden ist sie aus der Erfahrung, dass Patientinnen oft durch Bilder sprechen, ein Phänomen, das Benedetti nicht als »eine Psychopathologie des Ausdrucks« deutet, sondern als Versuch der Kommunikation, als Ruf, der Antwort sucht. Antwort aber nicht nur in Form von Deutung und Kommentar, sondern als Resonanz, »vor allem durch die Wirkung unserer Tiefenperson in Bildentwürfen, Einfällen, Gestaltungen, die nicht weniger aus unserem Unbewußten stammen als die Bilder aus dem ihrigen« (Benedetti, 1998, S. 224). Der »graphische Dialog« ist ein spiegelndes Gespräch auf transparentem Papier, in dem fortschreitend von beiden Beteiligten gestaltete Zeichnungen übereinander »geschichtet« werden. Durch die Transparenz des Papiers wird das je eigene Bild in all seinen Übergangszonen bewahrt und kann sich zugleich im Dialog, im gegenseitigen gestaltenden Antworten verändern. So entsteht nach einer Zeit ein »drittes« Bild. Benedetti spricht von einem »Übergangssubjekt«, das beiden gleichzeitig vorübergehend zugehörig ist, weil es gemeinsam entstanden ist, aber es ist in beiden auf unterschiedliche Weise wirksam. Es gibt eine mögliche Variante, dass das erste Bild nicht nur von der Gesprächspartnerin oder dem Klienten gestaltet wird, sondern dass beide für sich selbst gleichzeitig mit einer Zeichnung beginnen. Auf jede der beiden Zeichnungen wird ein Transparentpapier gelegt. Dann werden die Zeichnungen ausgetauscht und jeder erhält vom anderen eine Antwort. Dieser Tauschvorgang geht einige Male hin und her. Auf diese Weise entwickelt sich »eine Bildgeschichte in zwei Bilderreihen« (Meng, 2013, S. 17), aus der Impulse entstehen für das weitere Gespräch, aber auch für weitere selbstständig gemalte Bilder. Interessant ist der Vergleich mit dem Akt des Übersetzens von einer Sprache in die andere: Der Akt des Übersetzens bleibt immer eine Tätigkeit in Respek-

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tierung des zu wahrenden Abstands. In dem schwer zu erfassenden Raum zwischen unterschiedlichen Sprachen will jedes lebendige Wort »seiner Ursprünglichkeit oder Andersheit« zurückgegeben werden. (Rachel, 2000, S. 43). Die »fundamentale Dimension aller Begegnung, sozusagen ihr Kennzeichen und ihre Wirkung«, zeigt sich in »ihrer Offenheit auf Trennung hin […]. Gemeint ist damit […] eine Getrenntheit, durch die es möglich und notwendig wird, endlich zu sich selbst zu finden. Wie eine Brücke, die sich über den Fluß spannt und von der aus sich die getrennten Ufer klar abzeichnen, erscheint eine Welt des ›mit …‹ (der eine mit dem anderen), das wirklich der existentielle Ort sein könnte, von dem aus der eine wie der andere ohne jede Vormachtstellung existieren könnte: ein Miteinander, in dem jeder sich selbst zurückgegeben wird« (Faugeras, 2000, S. 44 f.).

Darum ist der »graphische Dialog« über den ursprünglichen Kontext der Psychiatrie hinaus als schöpferische Kommunikation auch in Seelsorge und Beratung zu entdecken. Es ist eine Arbeit auf »Passagen«, hilfreich vielleicht besonders in Situationen gefühlter Ausweglosigkeit, der Trauer, der Erfahrung von Verlust. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit können sich Spuren zu einer imaginativen Begegnung eröffnen, in der sich »eine einzigartige Möglichkeit« zeigt, »ihr ein zweites Mal nahezukommen, heute, in der Gegenwart, um in ihr eine Richtungsänderung zu bewirken, zu der die Vernunft allein nicht fähig wäre,« um aus manchen »unentwirrbaren Knoten, aus den Schatten, den Flecken und den ungelenken Entwürfen von heute die Gestalten, die Bewegungen, die Hoffnungen von morgen herauszuholen und zu formen« (Benedetti, 2000, S. 157 f.). Wesentlich ist das innere Bild des homo absconditus, aus dem die Arbeit Benedettis ihren entscheidenden Impuls erfährt und in dem sich zugleich ihre religiöse Dimension ausdrückt. Ein Bild in der Dynamik des Weges, des gefahrvollen Unterwegsseins wie des hoffenden Aufbrechens. Bilder auch für die Therapeutin oder den Seelsorger. Im »unbeirrbare[n] Glaube[n] an ein nie ausgelöschtes Menschliches« gründet nach Benedetti alles psychologische Wissen, »oder es ist unnütz und nichtig« (Benedetti, zit. nach Rachel, 2000, 163).

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8.2

  T  iefenpsychologie der Jung-Schule und Personzentriertes Vorgehen – arbeiten mit inneren Bildern, Träumen, Imaginationen und biblischen Geschichten in der Seelsorge

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Tiefenpsychologie und Personzentrierte Beratung sprechen manchmal von den gleichen Dingen mit unterschiedlichen Worten. Im Personzentrierten Ansatz (PzA) wird die Sprechweise von Bewusstem und Unbewusstem so aufgenommen, dass es oft ein nicht bewusstes organismisches Erleben gibt, das im Falle von Inkongruenz dem bewussten Selbstkonzept der Person gegenübersteht. Wenn beim Arbeiten mit inneren Bildern, Träumen, Symbolen ein unbewusstes organismisches Erleben ins Bewusstsein drängt (symbolisiert wird), dann arbeiten wir am Rande der Gewahrwerdung (Rogers, 1977/2010, S. 25).

1  Das topografische Personmodell in der Tiefenpsychologie Es ist das bleibende Verdienst von C. G. Jung und der auf ihn folgenden analytischen Psychologie, dass das Unbewusste und seine Bilder Ausdruck der inneren Wahrheit und Zustandsbeschreibung der Gesamtperson sind, und nicht wie bei Freud ein Behälter, in dem Verdrängtes abgelagert wird. Dabei wird das Unbewusste als ständig aktiv und produktiv angesehen im Sinne des Heil- und Ganzwerdens der Seele. Der Organismus nimmt wesentlich mehr wahr und auf, als das Wachbewusstsein verarbeiten kann. Im Unbewussten geschieht ein ständig tätiger Prozess. Alltagsbilder und -eindrücke werden verarbeitet, neu zusammengesetzt, auf Verwertbarkeit geprüft, integriert oder bearbeitet. Im Schlaf, wenn die Bewusstseinsschwelle herabgesenkt ist, werden sie in Form von Traum­ geschichten dem Bewusstsein zugespielt und – wenn beim Aufwachen erinnert – in einen Dialog mit dem Wachbewusstsein gebracht. Der Traum ist so das Verdauungssystem, der Stuhlgang der Seele. Dabei beinhalten die Bilder der Seele nicht nur verarbeitende Sequenzen, sondern auch heilende und prospektiv auf Ganzheit hin abzielende Aspekte. Der innere Traumregisseur setzt das Material des Tages neu zusammen, ergänzt es durch Symbole und Prozesse, die aus dem Körper, den Wünschen und Bedürfnissen der Person, früheren biografischen Episoden und vielleicht gar aus transpersonalen oder kollektiven Bewusstseinsschichten stammen. Nicht nur im Traum, sondern auch in der Imagination, bei

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spontan einfallenden Bildern oder Geschichten, in intuitiven oder tranceähnlichen Zuständen kommen wir mit dieser unbewusst und ständig tätigen Schicht unserer Seele in Kontakt und empfangen von dort wertvolle Impulse. Das Unbewusste ist so ȤȤ Kein leerer Container. ȤȤ Enthält Erfahrungen unseres Herkommens. ȤȤ Bewusstsein und Unbewusstes sind komplementär. ȤȤ Ein Übergewicht des Unbewussten dezentriert die Person (Triebhaftigkeit, Ich-Überschwemmung) genauso wie ein Übergewicht des Bewusstseins dezentriert (Mangel an Emotionalität, Kreativität). ȤȤ Die Entwicklung des Selbst geht nur über Integration beider Pole, der Traum ist dabei eine wichtige Korrekturinstanz. (Keil, 2002, S. 437) Im Zentrum des Persönlichkeitsmodells des analytischen Ansatzes stehen so die Orte Wachbewusstsein, persönliches Unbewusstes und kollektives Unbewusstes. Man kann deshalb von einem topografischen Modell sprechen, weil verschiedene Orte (topos = Ort) ausgemacht werden, in denen sich die Inhalte und Prozesse des Bewusstseins ereignen (Adam, 2006, S. 29 ff.).

2 Arbeitsweisen der Tiefenpsychologie in der Arbeit mit Träumen Vorgehensweisen in der Arbeit mit Träumen auf der Grundlage der Tiefenpsychologie sind (Adam [2006] formuliert zusammen mit Vera Schmidt-Riese für einen seit 2006 regelmäßig im Erzbistum Freiburg stattfindenden Kurs »Traumarbeit als Seelsorge«): Tagesreste aufsuchen: In vielen Träumen werden die Erlebnisse des vergangenen Tages verarbeitet. Die aktuellen Ereignisse der Außenrealität sind dann sozusagen die Bausteine, aus denen die innere Traumregisseurin den Traum zusammenbaut. Das Aufsuchen von Tagesresten verankert den Träumenden in der Realität der Außenwelt. Zugleich ist es interessant, nach Unterschieden zwischen der tatsächlich außen erlebten Realität und dem Traumgeschehen zu fragen. Frage: Was von dem, was ich in den vergangenen Tagen erlebt habe, taucht im Traum wieder auf? Kompensation des Traumes entdecken: Weil das Wachbewusstsein sich durch freie Willensakte vom Unbewussten entfernt, reguliert der Traum diese Ausein-

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anderentwicklung durch seine Botschaften an das Wachbewusstsein. Der Traum kann Einseitigkeiten im Wachbewusstsein kompensieren, indem er ergänzende Informationen zur Verfügung stellt oder eine dem Bewusstsein widersprechende Auffassung vertritt. Frage: Welche Handlungen, Prozesse und Vorgänge im Traum sind ganz anders als in meinem realen Leben?

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Assoziieren: Beim Assoziieren umkreisen wir das Traumbild: Was fällt mir zum Traum und seinen einzelnen Elementen ein? Dabei gilt: Nur die Träumende selbst kann Assoziationen auf Stimmigkeit prüfen. Sie bleibt die Fachfrau für ihren Traum. Frage: Was fällt mir zum Traumbild ein? Amplifizieren: Manche Symbole lassen sich ergänzend verstehen, wenn man ihre Bedeutung in Mythen, Märchen und kulturellen Traditionen zu Hilfe zieht. Das nennt man Amplifizieren. Frage: Welche ähnlichen Episoden, Vorgänge, Gestalten, Symbole kenne ich aus Märchen, Mythen, biblischen Geschichten, aus der Kulturgeschichte der Völker? Objektstufe: Unsere Interaktionen, dass was wir mit anderen erleben, macht einen großen Anteil unserer Emotionen aus. Diese verarbeiten wir im Traum. Deshalb bildet der Traum vielfach ab, wie wir unsere Beziehungen erleben, die anderen Menschen wahrnehmen usw. So können wir den Traum befragen, welche Beziehungsrealitäten er abbildet und welche Aussagen er zu unserer äußeren Lebenssituation machen kann. Die Objektstufe sollten wir in der Traumarbeit immer zuerst berücksichtigen. Frage: Wo ist mir in letzter Zeit Ähnliches wie im Traum passiert? Subjektstufe: Es ist die tiefste Ebene des Traumverständnisses. Alle vorkommenden Personen, Gegenstände und Situationen werden als bildhafter Ausdruck für eigene Anteile, Kräfte, Energiepotenziale verstanden. Der Traum benutzt Bilder der Außenwirklichkeit, um innerpsychische Beziehungen zu veranschaulichen. Subjekt- und Objektstufe sind ergänzend zu betrachten, daher kommen in der Traumarbeit häufig beide Ebenen vor. Frage: Inwieweit beschreiben die vorkommenden Personen, Objekte, Prozesse Anteile von mir selbst? Kausalität: Es gibt eine Ursache, warum gerade wir und gerade jetzt diesen Traum träumen. Oftmals erweisen sich Bezüge, die in unsere Lebensgeschichte

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hineinreichen. Auch hinter aktuellen Konfliktsituationen steht oftmals ein Wurzel­konflikt aus der eigenen Biografie. Frage: Was ist die Ursache, der lebensgeschichtliche Bezug dieses Traumes? Finalität: Bei der Finalität fragen wir nach dem Sinn und Ziel unseres Traumes, daraus ergeben sich richtungsweisende Aspekte für unsere Entwicklung. Der finale Aspekt ist zukunftsgerichtet, er kann sich als vorausschauend oder vorwegnehmend erweisen. Die finale Aussage unseres Traumes steht in engem Zusammenhang mit unserer Selbstfindung und Selbstheilung. Frage: Welche Aussagen macht der Traum zu dem Weg, der vor mir liegt, zum nächsten Entwicklungsschritt?

I 3  Die organismische Persönlichkeitstheorie im PzA Carl R. Rogers hat sich mit seinem Ansatz von der Psychoanalyse abgegrenzt und eine eigene Sprache für seelische Prozesse entwickelt. Im Zentrum des Persön­ lichkeitsmodells des PzA steht die Aktualisierungstendenz und eng damit verbunden das Organismuskonzept (Finke, 2010, S. 9; Stumm u. Kriz, 2003, S. 219; Heinerth, 2003, S. 330 ff.; Wunderlich, 2011). Diese Aktualisierungstendenz im Menschen zielt auf die Erhaltung und Entfaltung der Person. Es kann sein, dass das (noch unbewusste) organis­mische Erleben sich in eine Richtung entfalten will, die im Gegensatz zum Selbstkonzept des Menschen steht bzw. darin noch nicht vorkommt. Dann entsteht Inkongruenz. Die Personzentrierte Therapietheorie formuliert auf dieser Basis Einstellungen aufseiten des Therapeuten (Kongruenz, Wertschätzung und Empathie) und Voraussetzungen aufseiten der Klientin (Inkongruenz) bzw. in der Beziehung (psychologischer Kontakt, Wahrnehmung des Beziehungsangebots) (Stumm, 2002, S. 2). Kennt deshalb der PzA das Unbewusste überhaupt nicht? Und kennt der analytische Ansatz das Organismische nicht? Rogers selbst charakterisierte die unbewusste und die bewusste Existenz der Person so: »Die Fähigkeit zum Gewahrsein und zur Symbolbildung kann man sich als die winzige Spitze einer riesigen Pyramide nicht bewusster organismischer Existenz vorstellen.« (Rogers, 1981/2017, S. 78) Rogers benutzt das Unbewusste nicht im topografischen Sinn als Ort. Er kennt aber die Sache selbst und weist häufig auf unbewusste Bereiche des menschlichen Lebens hin. Das Inkongruenzmodell nimmt implizit an, dass es nicht bewusster Aspekte im organismischen Erleben gibt. Diese werden nicht symbolisiert oder verleugnet und sind

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deshalb vom Gewahrsein oder Bewusstsein ausgeschlossen (Finke, 2013, S. 18). Durch einen Personzentrierten Beratungsprozess werden die nicht bewussten Seelenanteile zunehmend bewusst und dann in das Selbstkonzept integriert, wodurch dieses eine Änderung bzw. Erweiterung erfährt. Stumm formuliert: »Der Personzentrierte Ansatz greift Unbewusstes weder als archaisches noch als topisches Unbewusstes auf, sondern als Unbemerktes, als Sich-dessen-nichtbewusst-Sein, das außerhalb des Gewahrseins liegt, aber unterschwellig vom Gesamtorganismus wahrgenommen wird. Demgemäß ist eine psychodynamische bzw. tiefenpsychologische Komponente zu erkennen, die allerdings mit der Tiefenpsychologie i.S. der analytischen Ansätze nicht gleichgesetzt werden kann.« (Stumm u. Keil, 2002, 15 f.)

I 4  Arbeitsweisen im Personzentrierten Vorgehen Nach Keil gibt es drei Varianten, Träume und innere Bilder Personzentriert zu verstehen (Keil, 2002, 438 ff.): 1. Der Traum ist Ausdruck der Aktualisierungstendenz. In ihm drückt sich das organismische Erleben der jeweiligen Person aus. In ihm wird das erzählt, was jetzt in uns lebt und dabei ist, ins Bewusstsein zu kommen (Finke, 2013). 2. Der Traum ist Ausdruck einer Divergenz oder eines Konfliktes zwischen Organismus und Selbstkonzept. Abgewehrte oder nicht realisierte Erfahrungen tauchen an der Grenze des Gewahrwerdens auf. Im Schlaf ist das leichter möglich, weil die Wertorientierungen und der Realitätsbezug des Selbst teilweise ausgeschaltet sind (Schmid, 1992). 3. Der Traum ist ein unvollendetes Erlebnis. Unvollendete Erlebnisse sind noch mitten im Prozess einer Bedeutungsfindung. Mithilfe des Erlebensstroms im Körper und des Felt Sense können die unvollendeten Erlebnisse weitergeführt werden und zu einer Bedeutung finden (Gendlin, 1987). Für eine Personzentrierte Traumarbeit gilt (Keil, 2002, S. 440): ȤȤ Vertiefung des Erlebens soll erreicht werden. ȤȤ Offenheit des Erlebens geschieht, indem man sich auf die Bilder und Szenen des Traumes mit Respekt und Empathie einlässt. ȤȤ Authentizität entsteht, wenn man die Resonanz auf die Traumbilder im Sinne eines Felt Sense achtsam im Innern entstehen lässt. ȤȤ Ein phänomenologisches Verständnis des Traumes: Er ist ein kreatives Kunstwerk, das seine Bedeutung in sich trägt. Der Traumbegleiter begibt sich mit auf die Suche nach einer persönlichen Botschaft des Traumes an die Träu-

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menden. Dazu soll der Traum ausführlich vor Augen geführt und vergegenwärtigt werden. Es geht nicht darum, zuvor schon feststehende symbolisch verschlüsselte Trauminhalte zu entschlüsseln.

5  Die Träume in der Bibel und bei den Kirchenvätern Der Traum kommt in der christlichen Überlieferung immer wieder als Ort der Begegnung mit Gott und als Ort der Selbstbegegnung vor. So ist das Personzentrierte Arbeiten mit Träumen eingebettet in einen Kontext, der schon viel früher begann (Grün, 1989; Hark, 1985). In der Antike gab es die Praxis des Tempelschlafs: Die Menschen pilgern zum Tempel, bereiten sich darauf vor, im heiligen Bezirk zu schlafen und von Gott heilende Träume zu bekommen. Am Morgen erzählen sie den Traum den Priestern, die sie deuten. Traumdeutung war damals religiöses Tun. Im ersten und zweiten Testament werden viele Entwicklungen durch Träume angestoßen: ȤȤ Jakobs Traum von der Himmelleiter (Gen 28,12). ȤȤ Der Traum des Josef von den Garben, die sich aufrichten (Gen 37,5–7), Sonne Mond und elf Sterne verneigen sich (Gen 37,9). Josef erscheint als Traumberater beim Traum des Mundschenks: Ein Weinstock mit drei Ranken (Gen 40,9–11), beim Traum des Bäckers: Gebäck im Korb wird von Vögeln gefressen (Gen 40,16 f.) und beim Traum des Pharaos: Sieben wohlgenährte Kühe und sieben magere Kühe, sieben pralle volle Ähren und sieben magere kümmerliche Ähren (Gen 41,1–6). ȤȤ Gott erscheint Salomo nachts im Traum und gewährt ihm eine Bitte. Salomo bittet um ein hörendes Herz (1 Kön 3,5–9). ȤȤ Die Träume des Josef: Das Kind ist vom Heiligen Geist (Mt 1,20–23), die Aufforderung zur Flucht nach Ägypten (Mt 2,13), der Traum von der Rückkehr von Ägypten (Mt 2,19 f.). Bei den Kirchenvätern kommen Träume als Orte der Transzendenz und Gottesbegegnung vor (Grün, 1989, S. 23 ff.): ȤȤ Tertullian (150–230 n. Chr., Buch über die Seele): »Ist es nicht allen Menschen bekannt, dass Gott sich dem Menschen am besten durch den Traum offenbaren kann?« ȤȤ Bischof Synesios von Kyrene (370–413 n. Chr.) veröffentlicht ein eigenes Traumbuch und empfiehlt die Führung von Traumtagebüchern. Er weiß, dass Träume in Alltagsfragen helfen und dass sie kreative Ideen bergen und fördern.

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»Das Wunderbarste und zugleich Geheimnisvollste ist jedoch, dass der Schlaf der Seele den Weg zu den vollkommensten Einsichten in das wahre Wesen der Dinge erschließt und dass er ihr die Fähigkeit eröffnet, über die Natur hinauszugehen und sich selbst mit der intelligiblen Sphäre zu vereinigen, von welcher sie so weit her gewandert ist, dass sie gar nicht mehr weiß woher sie kam … Daraus erhellt, dass es immer ein Mensch ist, der uns belehrt, wenn wir wachen; dass es aber stets Gott ist, der uns erleuchtet, wenn wir schlafen.«

6  Arbeiten mit Träumen im seelsorglichen Gespräch

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Oftmals kommt es vor, dass im seelsorglichen Gespräch von einer ratsuchenden Person der Hinweis auf einen Traum oder ein Traumfragment kommt. Es kann sein, dass die ratsuchende Person das nur kurz erwähnt und schnell marginalisiert (an den Rand des Erlebens drängt). Möglicherweise möchte sie gleich weitergehen zu anderen Erlebnisinhalten. Ist der Seelsorger dafür sensibilisiert, kann er die Klientin anregen, beim Traum zu verweilen. Im Sinne der Psychoedukation ist es manchmal sinnvoll, etwas zu sagen über den möglichen Gewinn einer Arbeit mit Träumen und über das Vorgehen: dass die Träumerin die einzige Fachfrau für ihren Traum bleibt und der Seelsorger den Traum nicht »deutet«, sondern dabei hilft, dass die Träumerin selbst die Bedeutung des Traumes sich erschließen kann. Zu Beginn einer seelsorglichen Arbeit mit Träumen wird wohl immer das Erzählen des Traumes stehen. Dabei achtet der Seelsorger darauf, dass zunächst nur der reine Traumtext erzählt wird, nicht schon vermischt mit dem, was sich die Träumerin beim Aufwachen und ggf. Aufschreiben dazu gedacht hat. Der Traumtext soll aus sich sprechen. Die konkreten Wortformulierungen der Träumerin und die dahinterstehenden Traumbilder können dadurch ihre eigene Wirkkraft entfalten: Tiefenpsychologisch würde man sagen: Es fließt durch das Erzählen Energie vom Unbewussten zum Bewusstsein. Das belebt die Träumerin und wird als Bewusstseinserweiterung verstanden. Personzentriert heißt es: Die von der Träumerin für ihr Traumerleben gefundenen Worte symbolisieren ein organismisches Erleben, das sich hinter den Worten verbirgt und größer und weiter ist als die semantisch als für das Traumerleben als stimmig gefundenen Begriffe (Wiltschko, 2017, S. 32 ff.). Es besteht Möglichkeit, dass der Traumberater im Sinne des »Genauerns« den Traum in seiner erzählten Chronologie durchgeht und die Träumerin die Möglichkeit hat, vom eigenen Traumerleben her mitzuschwingen, zu präzisie-

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ren oder zu korrigieren oder zu ergänzen. Immer noch sind wir im Textraum des Traumes und lassen uns von der Gestalt der Traumbilder und der Traumdynamik berühren. Ein anderer Weg ist, die Träumerin zu fragen, wo am meisten Energie im Traum ist. Dann kann man dort einsteigen und den Traum vorwärts und rückwärts von diesem Ort her erschließen. Im Personzentrierten Arbeiten mit Träumen gibt die Träumerin die Richtung vor, als Traumbegleiter folge ich ihr und begleite sie (Empathie), rege durch Haltung und ggf. Worte an zu verweilen und wertzuschätzen, was der Traum an Bildern und Dynamiken zeigt (Akzeptanz), und werde eventuell eigene Asso­ziationen und Amplifikationen der Träumerin als Angebot zur Verfügung stellen (Kongruenz und Selbsteinbringen des Beraters), wartend und hörend ob sie etwas davon als stimmig und nützlich aufgreifen kann oder durch ihre eigene innere Resonanz ändert. Strukturierend kann ich auch in Personzentrierten Gesprächen die verschiedenen Arbeitsfokusse der analytischen Psychologie vorschlagen, um den Traum zu explorieren: das Benennen von Tagesresten, das Assoziieren, die Objekt- und Subjektebene, kausale oder finale Aspekte. Nach einem wirklich langen Verweilen bei den Traumsymbolen und Prozessen ist dann in seelsorglichen Gesprächen die Blickrichtung von Bedeutung: Was bedeutet das für mein Leben und meinen Alltag? Und vielleicht auch – je nach spiritueller Bewusstheit und Färbung des Träumers: Was möchte mir der Traum sagen, wenn ich mir gegenwärtige, dass ich auf einen Urgrund und Seinsgrund bezogen bin, den wir Gott nennen?

7 Arbeiten mit inneren Bildern in der seelsorglichen Beratung Bildhafte Vorstellungen begleiten ganz spontan das alltägliche Erleben. Oft sind wir uns dessen gar nicht bewusst (Finke, 2013, S. 105). Häufig kommt es im seelsorglichen Gespräch vor, dass die ratsuchende Person zur Beschreibung ihres Erlebens Bilder verwendet. Neben der Symbolisierung in Begriffen kann sich unser organismisches Erleben in Bildern ausdrücken. Bilder sind vielschichtig und bedeutungsoffen. So bringen sie oftmals das innere Erleben direkter und lebendiger zum Ausdruck als Begriffe. Beispiele sind folgende Klientenaussagen: »Mein Leben kommt mir vor wie auf einer Autobahn.« »Da ist so etwas wie eine Nebelwand, da kann ich nichts sehen.« »Ich komme mir vor wie ein Schmetterling, der vom Wind mal da mal dorthin geblasen wird.«

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Hier lade ich als Seelsorger ein, beim jeweiligen Bild zu verweilen. Hinter Bildern, die der ratsuchenden Person spontan einfallen, verbirgt sich eine ganze Landschaft des inneren Erlebens. Analytisch gesprochen: Diese Bilder fallen dem Wachbewusstsein der Person zu, weil sie im Unbewussten wurzeln und von dort genährt und gestaltet werden. Personzentriert gesprochen: Diese Bilder sind Symbolisierungen eines ganzen Universums von Erlebnisaspekten der Person. Wenn wir sie erforschen und explorieren, tauchen viele Aspekte auf, die sich an der Grenze des Gewahrwerdens ansiedeln und für das Wachsen und Entwickeln der Person von Bedeutung sind. Für die religiöse und spirituelle Dimension gilt, dass Bilder und Symbole eine bevorzugte Sprache sowohl biblischer Geschichten als auch ritueller Vollzüge sind. So kann es für ein seelsorgliches Gespräch weitend sein, wenn die Seelsorgerin zur bildhaften Erlebniswelt der ratsuchenden Person aus einer größeren Vielfalt biblischer Bilder ein passendes auswählen und anbieten kann. Zu denken wäre an das Ausziehen aus Ägypten, die vierzig Tage in der Wüste, das Blindsein und Sehendwerden, das Gelähmtsein und Gehenkönnen. Tiefenpsychologisch gesprochen wird dieser Vorgang als Amplifizieren bezeichnet. Personzentriert können wir von Kontexten sprechen, die das innere Erleben bereichern und erweitern. Auf jeden Fall werden wir auch hier in die Exploration mit dem Klienten gehen: Was ist es genau, was er an diesem Bild bereichert oder fasziniert oder tröstet?

8  Imagination und Fantasiereisen in der Seelsorge Auch Imaginationen begleiten unseren Alltag. Am bekanntesten sind Tagträume, in denen wir eine fiktive Welt erschaffen, frei von den Begrenzungen der Wirklichkeit. Wir können darin der Realität entfliehen, aber auch unser schöpferisches Potenzial entfalten und entsprechend die Realität gestalten. Manchmal gibt es den Anwendungsbereich, dass der Seelsorger eine Imagination oder eine Fantasiereise anleitet. Bei der aktiven Imagination wird die Aufmerksamkeit der ratsuchenden Person auf die inneren Bilder gelenkt, die sich zu einer bestimmten Situation zeigen (Kast, 1999). Bei der Fantasiereise gibt der Seelsorger Szenen vor, zu denen die ratsuchende Person ihre eignen Bilder aufsteigen lassen kann (Huber, 2006). Dieses Vorgehen verlässt zunächst die im engen Sinn Personzentrierte Arbeitsweise, weil sie ȤȤ im Falle der Imagination eine Verfahrensweise vorschlägt, in dessen Verlauf die Klientin ihren inneren Bildern folgt.

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ȤȤ im Falle der Fantasiereise aktiv Bilder vorgibt, innerhalb derer sich das innere Erleben der ratsuchenden Person abspielen kann. Gleichwohl geht es um das innere Erleben des Klienten, das mit diesen Wegen ins Zentrum der Wahrnehmung kommt und Personzentriert begleitet werden kann. Nach Carl Rogers soll der Personzentrierte Veränderungsprozess einem Klienten eine größere Nähe zu seinem Erleben bringen (Rogers, 1977/2010, S. 145 f.). Die Aufmerksamkeit der Therapeutin, hier übertragen Seelsorgerin, gilt der »inneren Welt des Klienten mit ihren ganz persönlichen Bedeutungen« (S. 216). So ist die Personzentrierte Sichtweise in vollem Umfang wirksam: ȤȤ als Wissen um die Wirksamkeit innerer Bilder. ȤȤ als Verständnis, dass Bilder das organismische Erleben ausdrücken (Finke, 2013, S. 21). ȤȤ als Sensibilität für den Vorrang des inneren Erlebnisprozesses der Person. ȤȤ als Wissen darum, dass inneres Erleben weiter und größer ist als die entsprechenden Symbolisierungen und dass ein Wort oder Bild passen oder nicht passen kann. Methodisch zeigen sich Imaginationen und Fantasiereisen als unmittelbar lenkenden Vorschlag der Seelsorgerin, oftmals »Übung« genannt. Das bedarf einer situativen Vereinbarung (Kontrakt), in der das Einverständnis der ratsuchenden Person zu dieser Vorgehensweise eingeholt wird. Nach der Übung kann die ratsuchende Person ihr Erleben erzählen und die Seelsorgerin wird sie nach den normalen Personzentrierten Kriterien darin begleiten.

9 Arbeiten mit vorbewussten Prozessen in Verkündigung, Predigt und Ritual In Verkündigung und Predigt weiß ein durch Personzentrierte Arbeit geschulter Seelsorger, dass die Bilder der Bibel Prozesse in den hörenden Personen auslösen, die weiter sind als das gesprochene Wort. Als sprechender Seelsorger wähle und wäge ich meine Worte darauf hin ab, wie sie Prozesse des inneren Erlebens bei den Zuhörenden auslösen werden. Die von der Tiefenpsychologie inspirierten Bereiche des Bibliodramas (Brandhorst, 2012), des Bibliologs (Pohl-Patalong, 2005) und der tiefenpsychologischen Schriftauslegung (Drewermann, 1984 und 1985; Grün, 1992) haben Nähe zu der hier beschriebenen Praxis. Aus diesem Blickwinkel kann man sagen, dass viele Prozesse der Seele im Bereich des Unbewussten (Jung) oder im Bereich der nicht bewussten organismi-

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schen Existenz (Rogers) stattfinden. Tiefenpsychologisch gesehen treffen biblische Bilder und liturgische Rituale auf einen immer schon tätigen Prozess der Seele, die in Bildern und Symbolen »kommuniziert«. So hat z. B. das Symbol »Weg«, »Licht«, »Wasser«, wenn es außen angesagt oder rituell inszeniert wird, in der Tiefe der Seele einen Gegenpart, der stimuliert und aktualisiert wird. »Der Ritus greift lebendige, schon tätige Inhalte des Unbewussten auf, stellt sie durch Bilder und symbolische Gesten dar, bringt sie in Worte und gestaltet sie um.« (Kreppold, 1990, S. 18) Diesen Vorgang kann man auch Personzentriert beschreiben: Das organismische Erleben der Person beinhaltet viel mehr als das, was im Fokus der bewussten Gewahrwerdung ist. Von außen auf eine Person treffende biblische Bilder oder liturgische Rituale lösen Gefühle, Erinnerungen und kontextuelles Erleben aus, das in der Kindheit oder an anderen Stellen in der Biografie seinen Ursprung hatte. Die Person kommt in einen inneren Dialog mit dem, was sie außen hört und sieht und dem, was sich innen in ihr an der Grenze des Gewahrwerdens zeigt. Als Seelsorger weiß ich darum, dass biblische Bilder aus sich heraus wirkmächtig für das innere Erleben von Menschen werden können, wenn sie gut und verweilend platziert werden. Ich gehe mit dieser Wirkkraft verantwortlich um, wenn ich jeder Person ermögliche, sich auf ihre je eigene Weise damit zu verbinden, dazu auf Distanz zu gehen oder das Bild in einer für sie passenden Weise abzuändern.

10  Transzendentes Erleben würdigen und angemessene Symbolisierungen ermöglichen Viele Menschen – auch wenn sie von den großen Kirchen distanziert leben – haben heute einen erlebnishaften und hinspürenden Zugang zu dem Bereich, der unser Machen und Bewirken übersteigt und in den wir gleichwohl eingebunden sind. Sehr unterschiedlich kann dieser Bereich des Erlebens mit Begriffen symbolisiert werden: ȤȤ Das Absolute, auf das sich alles bezieht (Fritz Oser) ȤȤ Der Seinsgrund, in dem ich gegründet bin und mit dem ich in Kontakt kommen kann (Karlfried Graf Dürckheim) ȤȤ Die erste Wirklichkeit, von der alles ausgeht (Willigis Jäger) ȤȤ Das, was unser kategoriales Erfassen übersteigt (Karl Rahner) ȤȤ Die göttliche Energie, die das Universum durchwirkt und durchwaltet (außerkirchliche Formen der Religiosität) ȤȤ Abba Vater (Jesus Christus) ȤȤ Gott: Keinem von uns ist er fern. In ihm leben wir, bewegen wir uns, sind wir. (Paulus in Apg 17,27 f.)

Tiefenpsychologie der Jung-Schule und Personzentriertes Vorgehen

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Personzentrierte Seelsorgerinnen wissen, dass sich hinter den Begriffen und Symbolisierungen anfanghaft gespürtes und oftmals nur kurz berührtes und dann wieder verlassenes Erleben verbirgt, das nach einem fragilen und gleichwohl stimmigen Ausdruck in begrifflicher Sprache drängt. Sowohl der tiefenpsychologische Ansatz als auch der PzA sind offen für den transzendenten Bereich, der unser kategoriales Erfassen übersteigt. Bei C. G. Jung liest es sich so: »Die entscheidende Frage für den Menschen ist: Bist Du auf Unendliches bezogen oder nicht? Das ist das Kriterium seines Lebens.« (Jaffé, 1992, S. 327) Bei Carl Rogers hat es folgende Sprachgestalt: »Wenn ich als Gruppen-Facilitator oder als Therapeut ganz auf meinem Höhepunkt bin, entdecke ich ein weiteres Merkmal. Ich bemerke, wie ich meinem inneren intuitiven Selbst ganz nahe bin, wenn ich irgendwie mit dem Unbekannten in mir in Berührung bin, wenn ich mich vielleicht in einem etwas veränderten Bewusstseinszustand in der Beziehung befinde, dass dann alles, was immer ich tue, voller Heilung zu sein scheint. Dann ist einfach meine Gegenwärtigkeit (presence) befreiend und hilfreich.« (Rogers u. Schmid, 2004, S. 242)

Und schließlich ist da der PzA des Focusing zu nennen, der explizit transzendierend arbeitet, weil es jeweils um eine Überschreitung in Richtung auf die größere Weisheit des Körpers und des im Körper sich zeigenden organismischen Erlebens geht (Campbell, 1992; Wiltschko, 2017). Träume, Bilder und Symbole vermögen eine Brücke zu schlagen zu diesem Bereich des Transzendenten, der uns umgibt und übersteigt. Man kann beim Verbalisieren des Erlebten ein Sprechen in Bildern von einem Sprechen in Begriffen unterscheiden (Finke, 2013, S. 109). Transzendentes Erleben entzieht sich oftmals dem begrifflichen Zugang. Hier ist die Sprache der Bilder angemessen. »Bilder operieren gewissermaßen unterhalb der rationalen Denkschicht, wie sie von der diskursiv orientierten lexikalischen Sprache vertreten wird. Es geht also beim Vorstellen und Denken in Bildern um ein freilegen dieser vordiskursiven Schicht im Erleben der Person« (S. 23).

Eine Seelsorgerin wird andere Personen dann angemessen im Bereich ihres trans­zendenten Erlebens begleiten können, wenn ihr das Sprechen in Bildern vertraut ist und sie darum weiß, dass das Transzendente nicht begrifflich umfasst, sehr wohl aber spürend berührt werden kann.

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 Personzentrierte Psychotherapie und Verhaltenstherapie – Konvergenzen und Divergenzen

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Heutzutage als ein im Personzentrierten Ansatz verwurzelter Therapeut über einen Vergleich zwischen Verhaltenstherapie (VT) und Personzentriertem Ansatz (PzA) zu schreiben, ist schwierig. Man läuft die Gefahr eines »ideolo­ gischen Nachkartens«, alte Positionen wieder aufzuwärmen, über die schon lange die Zeit hinweggegangen ist und eigene Fakten geschaffen hat. Die Personzentrierte Therapie war meine erste Ausbildung. An der Klinik, an der ich zuerst arbeitete, war mehr als die Hälfte des Kollegenkreises in diesem Verfahren ausgebildet. Dann kamen das Psychotherapeutengesetz und die Ein- und Ausgrenzung der Richtlinienverfahren, im Anschluss nannte man ab sofort alles in der Klinik Verhaltenstherapie, auch wenn es überwiegend noch dieselbe Therapie wie vorher war. Im weiteren Verlauf nahm die VT Fahrt auf, es entstanden viele Manuale und wirksame störungsspezifische Vorgehensweisen, z. B. für die Therapie mit Ängsten, Depressionen oder Schmerzen. Gleichzeitig schien es mir, dass neben den vielen konkreten Techniken der »Verhaltensmodifikation« immer noch andere Aspekte wesentlich und zum Teil grundsätz­ licher waren, damit Therapie erfolgreich sein konnte. Seit zwölf Jahren arbeite ich jetzt mit einem Konzept der sogenannten dritten Welle der Verhaltenstherapie, der Dialektisch Behavioralen Therapie für Borderline-Störungen (Linehan, 1996). Mein Verhältnis zum PzA wurde natürlich durch den berufslebenslangen Kontakt und Umgang mit VT beeinflusst, genauso blieb aber immer eine humanistische Grundüberzeugung in mir bestehen, die meinen Umgang mit VT stark geprägt hat. Dieser Aufsatz möchte über Zusammenhänge und Unterschiede von Verhaltenstherapie und der Personzentrierten Therapie nachdenken. Dass das notwendigerweise sehr subjektiv ausfallen wird, sollten schon die einleitenden Sätze deutlich gemacht haben.

1  Die ursprünglichen Ansätze Die erste Bezeichnung, unter der der PzA zum Teil bis heute bekannt ist, lautete »Gesprächspsychotherapie«. Zur Abhebung von offensiveren Vorgehensweisen wurde die vorgeschlagene Gesprächsführung zunächst auch non-­direktiv genannt.

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Die erste »Welle« der Verhaltenstherapie beruhte direkt auf dem Lern­modell des klassischen und operanten Konditionierens. Daher ist bis heute das paradig­ matische Therapiebeispiel der VT die Behandlung von Phobien, bei denen durch Exposition gelernte Verknüpfungen (wie z. B. »Spinne bedeutet Gefahr«) aufgelöst und »gelöscht« werden. Die Unterschiede zwischen beiden Verfahren könnten nicht größer sein: Die VT will Symptome, die als gelernt angesehen werden, beseitigen. Die Gesprächspsychotherapie lehnt anfangs jedes Störungsmodell ab und vertraut vollständig der therapeutischen Wirkung eines guten Beziehungsangebots, das über eine bestimmte Art der Gesprächsführung umgesetzt wird. In der VT folgte bald die zweite Welle, beruhend auf der »kognitiven Wende« in der Psychologie. Jetzt wurden für das Lernen, neben äußeren Reizen und darauffolgenden Reaktionen, auch innere Ereignisse (Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen) als relevant für Therapie erachtet. Gedanken werden in diesem Ansatz, der bis heute als »Kognitive Verhaltenstherapie« viele Therapiekonzepte bestimmt, als primär gesehen. Wenn man das Denken verändert, verändern sich auch Fühlen und Handeln. Die Veränderung bzw. Erweiterung der Benennung von Gesprächspsychotherapie in Personzentrierte Psychotherapie sollte die umfassende Perspektive auf die ganze Person verdeutlichen. Der PzA zielt auf die Innenwelten der Person, damit natürlich auch auf die Gedanken. Als entscheidend für die Selbstorganisation werden hier aber die Gefühle angesehen, das genaue Erfassen und Verstehen der Emotionen steht hier im Mittelpunkt der therapeutischen Bemühungen. Eine beliebte Art des Kritisierens der jeweils anderen Ansätze war und ist, sie mit ihren jeweiligen Ursprungsformen identisch zu setzen. Die einen werden dann z. B. als Rattenpsychologen verdächtigt, die anderen als Papageien, die zumeist die Äußerungen der Klienten nur wiederholen. Das ist v. a. polemisch und greift natürlich viel zu kurz. Um wirklich vergleichen zu können, müssen wir den Blick erweitern.

2 Die Menschenbilder der beiden Ansätze Um sich von der bisher eher historischen Betrachtung zu lösen, muss man also einen Schritt zurücktreten und die Frage nach den Grundannahmen der beiden Ansätze stellen. Erst auf diese Ebene lassen sich die Unterschiede genauer verstehen. Psychotherapeutische Modelle haben den Menschen zum Gegenstand, beruhen also auf bestimmten Menschenbildern. Diese bestimmen, was ein

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Modell für wichtig erachtet und was eher nebensächlich erscheint. Aus ihnen heraus entstehen Handlungsanweisungen. Gehen wir dafür noch mal an den Beginn von VT und dem PzA, so beruht die Gesprächspsychotherapie auf der Basis des Menschenbildes der Humanistischen Psychologie (Eberwein, 2014; Finke, 2002). Daraus folgt, dass sie den Menschen als sich selbst organisierendes, zur Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung fähiges Wesen ansieht. Er selbst weiß am besten, was er braucht und was gut für ihn ist, es gibt in jedem Menschen eine Tendenz zur authentischen Selbstaktualisierung (Eckert, Biermann-Ratjen u. Höger, 2012). Dieser Zugang zur inneren organismischen Bewertung kann allerdings durch problematische biografische Erfahrungen erschwert sein. Hier setzt die Aufgabe der Psychotherapeuteninnen an, der Person zu helfen. Im Mittelpunkt steht das Erleben der Person, durch ein vertieftes emotionales Verstehen entstehen Veränderungsprozesse aus der Person selbst (Rogers, 1972/2005). Auf das ursprüngliche Menschenbild der VT verweist der Begriff »Verhalten«. Verhalten wird im Unterschied zum Erleben (Erste-Person-Perspektive) von außen beobachtet, man nimmt also die Perspektive einer dritten Person ein. Grundsätzlich muss man dafür noch nicht einmal wissen, was die Person denkt oder fühlt, daher der Lernansatz der ersten Welle (für die kognitive VT würde vielleicht der Begriff der Handlung besser passen als der des Verhaltens, da Handlungen Intentionen beinhalten, die dann wiederum aus der Perspektive der ersten Person gesehen werden können). Es macht, zumindest begrifflich gesehen, einen großen Unterschied, ob sich eine Therapie auf Verhalten oder auf Erleben (bzw. Handeln) richtet. Der Verhaltensbegriff hat dabei den großen Vorteil, dass er viel besser in das naturwissenschaftlich-medizinische Weltbild hineinpasst, man spricht sogar von »Verhaltensmedizin«. Aus dieser Sicht behandelt Psychotherapie nur psychische Störungen mit Krankheitswert. Dysfunktionale Verhaltensweisen können im Grunde genauso als Symptome betrachtet und behandelt werden wie ein körperliches Symptom, man muss nur die zugrunde liegenden ursächlichen Mechanismen kennen. Der Ausgangspunkt beim Erleben braucht sozialwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Modelle, für das Verstehen insbesondere den Bezug auf Hermeneutik (Eberwein, 2014). Unter Bezug auf die ursprünglich zugrunde gelegten Menschenbilder ergeben sich also große Unterschiede zwischen den beiden Verfahren, die große Divergenzen in den gewählten Vorgehensweisen nach sich ziehen.

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3  Der Wertbezug Zu beachten ist, dass ein bestimmtes Menschenbild, als Paradigma, nicht per se »richtiger« oder »falscher« sein kann als ein anderes. Dahinter steht immer eine Wertsetzung, eine Entscheidung, welche Aspekte eines Menschen man als wesentlich erachtet. Leider wird auf diesen Aspekt, der jedem Modell zugrunde liegenden Paradigmen in der VT, aktuell kaum mehr Bezug genommen. Hinter der Evidenzbasierung (die einseitig auf dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Modell beruht) als vermeintlicher Wahrheitssicherung kommt es leider kaum mehr zur Offenlegung von paradigmatischen Überlegungen in den jeweiligen VT-Konzepten. Das Menschenbild der VT impliziert einen zweckrationalen Menschen, der (zumindest in der 2. Welle) in erster Linie von seinem Denken gesteuert wird. Welche Ziele und Zwecke das sind, ist zunächst offen, hier ist der Ansatz erst einmal wertneutral. Die humanistischen Therapieansätze sind dagegen schon von der Grundkonstruktion her wertbezogen (Eberwein, 2014). Der Mensch wird als autonomie- und bindungsorientiert gesehen, zur Selbstverantwortung fähig und verpflichtet. Der Therapieansatz gibt der subjektiven Sichtweise der Person die größte Bedeutung, der Therapeut fördert den Prozess des Zu-Sich-Selbst-Findens, sich selbst besser Verstehens, um mehr Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zu bekommen. Alle dominanteren, Einfluss nehmenden therapeutischen Vorgehensweisen stehen zurück hinter einem großen Respekt vor der Autonomie und Selbstentscheidung der Person. Die VT musste in den neuen Ansätzen den Wertbezug wieder in die Therapie holen, z. B. in der Acceptance und Commitment Therapie (Hayes, Strosahl u. Wilson, 2004). Dort gilt wieder als wichtiges Therapieziel, mit den Patienten über langfristige Wertbezüge und Ziele zu sprechen, um daraus aktuelle Ziele ableiten zu können, für die sich ein Engagement lohnt (Heidenreich, Noyon, Grober u. Michalak, 2017). Wertearbeit, persönliches Engagement (»commitment«), Achtsamkeit und Akzeptanz sind einige der zentralen Ziele in der Acceptance und Commitment Therapie (ACT).

4  Die Bedeutung von Beziehung Aus den Überlegungen zu den unterschiedlichen Menschenbildern resultieren natürlich auch sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Bedeutung der therapeutischen Beziehung. In der VT (der ersten und überwiegend auch der zweiten Welle) ist die Therapeutin die Expertin, die den Patienten beim Lösen

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ihrer Probleme hilft. Sie muss in der Lage sein, eine gute Beziehung herzustellen, um dann die eigentliche Therapie machen zu können. Beziehung wird als eine Art Vorbedingung für die Behandlung gesehen. Ihre Bedeutsamkeit wird empirisch begründet, da sie in vielen Studien als für Therapie wichtiger Faktor nachgewiesen wurde. Für eine gute Therapiebeziehung können alle nützlichen Dinge umgesetzt werden, wie sich einfühlen, validieren, sich selbst einbringen (Lammers, 2017). Beziehung ist (vor dem Hintergrund eines zweckrationalen Menschenbildes) strategisches Handeln, daher werden (insbesondere für Persönlichkeitsstörungen) Beziehungsstrategien beschrieben, die jeweils sinnvoll erscheinen. Auch Einfühlen und Annehmen wird in Form von Validierungsstrategien gefasst (Bohus, 2002). Hier haben wir wieder Fluch und Segen nah beieinander. Segen, weil damit eine therapeutisch hilfreiche Beziehung konkret lehrbar und verstehbar beschrieben wird. Fluch, weil die Benennung als Strategie die andere Person als Zweck betrachtet und damit dem Humanistischen Menschenbild entgegensteht. Im PzA wird die Beziehung als eigentliches Agens von Therapie angesehen und steht damit in diametralem Unterschied zur VT (Finke, 2003; Zurhorst, 2007). Das kann entwicklungspsychologisch erklärt werden. Das Selbst entsteht in der Bindung und im affektiven Austausch mit den primären Bezugspersonen (Stern, 2016). Ist die Feinfühligkeit und Fürsorge der Bezugsperson nicht gut genug (»good enough mother«, Winnicott, 1974), so entsteht seelische Not, und es kommt zu psychischen Problemen. Der Therapeut taucht in diese interaktive Matrix ein. Durch ein einfühlendes, annehmendes Kontaktangebot, in dem er auch als Person für sein Gegenüber spürbar wird, hat die Klientin die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen, die einen besseren Zugang zu sich und zur Welt ermöglichen. Im PzA wurde im weiteren Verlauf der von Rogers Kongruenz genannte Aspekt für die Qualität der therapeutischen Beziehung als immer wichtiger angesehen. Dahinter steht die existenzielle Vorstellung, dass der Kern von Therapie immer eine Begegnung zwischen zwei Menschen darstellt (Buber, 1923/2006a), die aufeinander antworten (Schmid, 2007). Die Therapeutin sollte ein präsentes, spürbares Gegenüber für den Klienten sein, der in Verbindung mit seinem inneren Spüren kongruent interagiert. Man sieht, dass in der Bedeutung, die der therapeutischen Beziehung beigemessen wird, mit die größten Unterschiede zwischen den beiden Verfahren liegen. Auch wenn in Überlegungen im Rahmen der VT der große Stellenwert der therapeutischen Beziehung immer wieder durchaus gesehen und gewürdigt wird (in jüngster Zeit Lammers, 2017), entspringt das nicht wie im PzA aus dem zentralen Theoriekern des Ansatzes.

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5  Therapie als Haltung vs. Therapie als Technik Der PzA kümmert sich um die Kunst der förderlichen Beziehungsgestaltung und des vertiefenden Zuhörens, im experientiellen Zweig auch um die Unterstützung der Öffnung und Verbesserung des Zugangs zu sich selbst. Therapie wird in erster Linie als das Einnehmen einer bestimmten Haltung verstanden, diese förderliche Beziehungsgestaltung umzusetzen und die Selbstwahrnehmung zu öffnen. VT versteht Therapie viel mehr über die Beschreibung des richtigen Vorgehens, d. h. Therapie wird als Methode und Technik verstanden. Diese können genau beschrieben werden, was z. B. in Manualen versucht wird. In den letzten Jahren versuchen einzelne Verfahren, die Methodentreue eines Therapeuten zu einem Konzept über sogenannte »Adherence«-Kriterien überprüfbar zu machen. Die Vorstellung, dass Therapie zumindest auch über Haltungen und Perspektiven beschrieben wird (statt v. a. über Techniken), taucht wieder in neuen Ansätzen der VT auf, wie z. B in den achtsamkeitsbasierten Verfahren (Heidenreich u. Michalak, 2004). Achtsamkeit hat die Besonderheit, dass sie v. a. eine Haltung darstellt, wie etwas wahrgenommen werden kann. Gleichzeitig kann und muss diese Haltung gelernt und intensiv geübt werden, was sie u. a. für die VT so kompatibel und attraktiv macht. In anderen neuen VT-Konzepten (z. B. der Dialektisch Behavioralen Therapie, Bohus, 2002) wird von Therapieprinzipien gesprochen, womit zunächst eben auch die Einnahme bestimmter Sichtweisen im therapeutischen Vorgehen gemeint ist, aus denen dann erst bestimmte Techniken resultieren. Achtsamkeit und Akzeptanz sind in den experientiellen Ansätzen des PzA zentrale Bezugspunkte (Bundschuh-Müller, 2004), sie sind in der humanistischen Tradition schon in den 70er-Jahren verankert. Ein ursprünglich eindeutiger Unterschied der beiden Verfahren zwischen einem Verständnis von Thera­ pie als Haltung vs. Therapie als Technik/Methodik wird also in einigen neuen VT-Ansätzen relativiert.

6 Die Entdeckung von »Tugenden« als Bezugspunkt für Therapie Einige neuere VT-Ansätze haben gemeinsam, dass sie zwischenmenschliche Tugenden wieder als Leitmotiv für Psychotherapie ansehen (Meinlschmidt u. Tegethoff, 2017): Mitgefühl (Gilbert, 2013), Verzeihung oder Dankbarkeit. Insbesondere die »Compassion Focused Therapy« von Gilbert kommt dabei ganz nah an Rogers’ Ausgangspunkt, dass Empathie in der Therapie eine zentrale Bedeu-

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tung hat. Statt Bezug auf den PzA zu nehmen, wird Mitgefühl in diesem Modell aber v. a. über evolutionäre und neurobiologische Begründungen abgeleitet. Die therapeutische Technik wird über (buddhistische) Haltungen und über Übungen beschrieben, mittels derer mitfühlendes Verhalten geübt und erlernt werden soll. Trotz der inhaltlich großen Nähe zum Grundansatz der PzA zeigen sich auch wieder deutliche Unterschiede. Ähnlich wie in der Acceptance and Commitment Therapy, in der unter Rekurs auf Skinner Gefühle als konditionierte Phänomene verstanden werden, wird die Bedeutung von Mitgefühl nicht in Bezug auf ein wertsetzendes Menschenbild begründet. Therapie wird überwiegend als Technik verstanden, Mitgefühl zu lernen und zu üben. Der Unterschied bei Therapie­ ansätzen in Richtung Vergebung oder Dankbarkeit wird noch größer, da diese ein Ziel tatsächlich schon vorgeben (z. B. einer bestimmten Person zu vergeben), was im PzA erst von der Klientin verstanden und selbst entschieden werden müsste. Wieder scheint es einerseits gut, dass solche Aspekte wie Mitgefühl und Empathie erneut als wichtige Therapieaspekte auftauchen. Andererseits fragt man sich, ob man jemals überhaupt Therapie ohne Mitgefühl machen konnte, ob man Mitgefühl wirklich durch Üben lernen kann oder ob Mitgefühl nicht vielmehr als menschlicher Grundzug gesehen werden sollte.

7  Ressourcen als Bezugspunkt für Therapie Manchmal möchte man die VT beneiden, die anscheinend mühelos fast jeden Aspekt, den sie als empirisch bedeutsam identifiziert hat, in ihr Methodenspektrum aufnehmen kann. Diese Fähigkeit ermöglicht es, integrativ vieles aufzugreifen, was zu einer guten Therapie gehört. Dass das zuletzt in nicht unbeträcht­ lichem Ausmaß Aspekte waren, die in der Humanistischen Psychotherapie sehr wichtig bis selbstverständlich sind, könnte bei etwas mehr Bewusstsein für die Ideengeschichte der Psychotherapie nachdenklich machen, ob die VT nicht auf dem Weg der Evidenz und des medizinischen Modells etliche allgemeine Essentials von Therapie aus dem Auge verloren hat. Diese tauchen jetzt in den neuen Therapiekonzepten nach und nach wieder auf, da sie eben wirksam sind. Das gilt übrigens auch für etliche Elemente der Tiefenpsychologie wie Übertragung, Mentalisierung, Interaktion. Ein weiterer dieser Aspekte ist der Bezug auf die Ressourcen eines Menschen, was zu einer »stärkenbasierten Verhaltenstherapie« (Meinlschmidt u. Tegethoff, 2017; Flückiger et. al., 2017) führen würde. Statt v. a. die Planbarkeit wird jetzt die Sinnhaftigkeit therapeutischer Prozesse betont sowie die »proaktive« Rolle des Patienten, die ja im medizinischen Modell eher als ein Störfaktor gilt. Über

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diesen Ressourcenbezug werden wieder viele positive Elemente für Therapie als wichtig erachtet, wie die Fähigkeiten einer Person, ihre soziale Einbindung, ihre Wertsetzungen, ihre Resilienz. Im Humanistischen Menschenbild ist eine positive Sichtweise der Person, die ihr nicht selten als Naivität vorgeworfen wird, immer schon enthalten, muss also nicht dazuaddiert werden. Darin zeigt sich wiederum für den PzA die zentrale Bedeutung der Verankerung von Therapie in einem humanistisch-optimistischen Menschenbild.

8  Der Körper als psychotherapeutischer Bezugspunkt Eine Art »Dauerbrenner« in der Psychotherapie stellen die körperorientierten Verfahren dar (Meinlschmidt u. Tegethoff, 2017), sie wurden v. a. in den humanis­ tischen Verfahren und in der Tiefenpsychologie weiterentwickelt (Thielen, 2014). Die neue VT subsumiert sie oft unter dem Aspekt der Erlebensaktivierung. Durch den Körperbezug werden Themen der Therapie spürbar und erlebbar gemacht und damit der Bearbeitung zugänglich. Körperpsychotherapie wird in der VT über das Lernen verstanden (Langlotz-Weis, 2006) und oft über Übungssammlungen (Görlitz, 1998) und praktische Vorgehensweisen operationalisiert, immer schon eine große Stärke dieser Ansätze. Der »Embodied turn« mit dem Konzept des Embodiments zeigt die grundsätzliche Dimension des Körpers. Emotionen und Affekte werden als Schnittstelle zwischen Körper und Psyche erkannt (Damasio, 2000). Das führte zu etlichen VT-nahen emotionszentrierten Ansätzen mit Körpereinbezug (Berking, 2007; Hauke u. Dall’Occhio, 2014; Lammers, 2007). Die VT bezieht die Körperorientierung wie viele andere Aspekte meist als ein weiteres, für Therapie hilfreiches Element mit ein, tut sich aber schwer, die grundsätzliche Dimension des Embodiments konzeptuell zu verankern. Eine Personzentrierte Körperpsychotherapie ergibt sich ganz selbstverständlich aus dem ganzheitlichen Menschenbild. Die phänomenologische Grundorientierung verweist auf die Basis von Therapie in der Wahrnehmung. Philo­ sophie und Entwicklungspsychologie bestimmen die soziale Natur des Menschen und den Ursprung der (interaktiven) Erfahrungen in Bewegung und Körperlichkeit (Kern, 2014). Gendlin (1981) konzeptualisierte im Focusing das Körperer­ leben als zentralen Bezugspunkt unserer authentischen Erfahrung über die Welt. Körperpsychotherapie ist ein historisch immer sehr kreativer, phasenweise konzeptuell etwas »wilder« Bereich, in dem über alle Verfahren hinweg zum Teil relativ ähnliche Vorgehensweisen eingesetzt werden. Aufgrund der vielen Konvergenzen eignet er sich m. E. gut, Verbindungen zwischen den verschiedenen Verfah-

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ren zu ziehen. Verfahrensübergreifende Aspekte wie Emotionsbezug, Achtsamkeit (Wahrnehmung, Akzeptanzorientierung), Bindungs- und Beziehungsorientierung vereinen viele der neuen körperpsychotherapeutischen Therapieansätze.

9  Unterschiede im konkreten therapeutischen Vorgehen

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Therapie wird im PzA als Prozess angesehen. Die Aufgabe der Therapeutin ist es, diesen Prozess förderlich zu gestalten. Die experientiellen Weiterentwicklungen der Personzentrierten Therapie betonen daher, dass der Klient der Experte für seine Themen und Inhalte ist, die Therapeutin die Prozessexpertin. Auf der Prozessebene darf und sollte man daher aus dieser Sichtweise aktiv und offensiv sein (Gendlin, 1998; Greenberg, 2006). Es gibt definierende Beschreibungen der Verhaltenstherapie über ein kleines Set von Basiskompetenzen (Linden, 2007; Linden, Rief, Voderholzer u. Vögele, 2015): Ein Verhaltenstherapeut sollte mit Verhaltensanalysen arbeiten, sollte Hausaufgaben stellen, am Aufbau von Aktivitäten arbeiten, Kognitionen analysieren und modifizieren und schließlich mit Exposition arbeiten. In der harten Linie wird davon ausgegangen, dass das alle wesentlichen Therapieinterventionen beinhaltet. In einer erweiterten VT-Sichtweise werden Psychotherapieverfahren in einem Mehrebenenmodell von Therapeutenkompetenzen erfasst (Linden et al., 2007): zugrunde liegende Heuristik (theoretischer Rahmen), verfahrensspezifische Basistechniken, störungsspezifische Techniken, Beziehungskompetenzen, Strategien zur Gestaltung einer Stunde, Strategien für einen ganzen Therapieprozess. Dieses Mehrebenenmodell macht deutlich, dass es auf einzelnen Ebenen (Beziehung, einzelne Techniken, Stundengestaltung) durchaus ähnliche Vorgehensweisen geben kann, bei bleibenden Unterschieden zumindest in den Grundannahmen. Humanistische Verfahren würden ein Mehrebenmodell auch anders ansetzen, siehe z. B. Högers (2006) vier Ebenen zur Erfassung der therapeutischen Situation: Ebene 1 definiert die Form der Beziehung (Therapeut-Klient) überhaupt, Ebene 2 übergreifende Merkmale von Beziehungs­formen (z. B. empathisch, annehmend, kongruent sein), Ebene 3 daraus folgendes allgemeines Therapeutenverhalten (z. B. Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte) und die Ebene 4 das konkrete therapeutische Vorgehen in einer spezifischen Situation. Im ersten Modell wird Therapie-Kompetenz als Strategie verstanden, wovon Beziehung nur eine Ebene darstellt. Im zweiten Modell ist die Art des In-­Beziehung-Seins das Wesentliche an Therapie, das vom All­gemeinen bis zur konkreten Situation beschrieben wird.

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10  Die Weiterentwicklungen der beiden Ansätze In der Verhaltenstherapie entstanden, wie schon mehrmals erwähnt, seit ca. 20 Jahren eine Reihe neuer Verfahren, die sogenannte dritte Welle in der VT. Diese Verfahren verstehen sich zum Teil integrativ, zum Teil auch verfahrensübergreifend (Linden et al., 2015), werden aber doch meist zur VT im weiteren Sinne gezählt. Eines der ersten und einflussreichsten Konzepte ist die Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT; Linehan, 1996), weitere sehr bekannt gewordene sind die Acceptance und Commitment Therapie (ACT; Hayes et al., 2004), die Schematherapie (ST; Young, Klosko u. Weishaar, 2005), die Metakognitive Therapie (Fisher u. Wells, 2014), das Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP; McCullough, 2000), achtsamkeitsbasierte Therapien (Segal, Williams u. Teasdale, 2008; Kabat-Zinn, 2011), zuletzt die Compassion Focused Therapy (Gilbert, 2013). Deutliche Unterschiede zu der 2. Welle der VT bestehen darin, dass viel mehr auf das »wie« bei einer psychischen Störung geachtet wird als auf die Inhalte. Emotionen werden als zentraler erachtet und es gibt ausgearbeitete Konzepte über die therapeutische Beziehung (ST: korrigierende Elternerfahrung, CBASP: Übertragung, DBT: dialektische Beziehungsführung). Einige der Ansätze sind auch explizit für bestimmte Störungsbilder entwickelt worden (DBT: Border­line, CBASP: chronische Depressionen). An vielen Stellen werden wieder humanistische Konzepte aufgegriffen, allerdings oft ohne den Bezug zu sehen oder genauer zu benennen: Selbstverantwortung, Entscheidung, Achtsamkeit, Akzeptanz, Validierung (Empathie), Beziehung und Bindung, Mit­ gefühl, Engagement (commitment). Der PzA erfuhr eine deutliche Weiterentwicklung (Keil et al., 2002) durch die experientiellen Ansätze, v. a. das Focusing (Gendlin, 1998) und die emotionsfokussierte Therapie (Greenberg, 2006). Gendlin sah neben der von Rogers beschriebenen Beziehungshaltung noch einen weiteren Aspekt als zentral für Personzentriertes Arbeiten: den Bezug einer Person zum eigenen Erleben. In seinem Focusing-Konzept beschreibt er diesen Prozess genau, dessen Zentrum im Wahrnehmen eines inneren Spürens und im Hin- und Hergehen zwischen implizitem Spüren und dessen Explizieren besteht. Dieses innere Spüren (der »felt sense«) ist atmosphärisch, ganzheitlich und im Körper wahrnehmbar. Greenberg zentrierte dann auf die Emotionen als wichtigste Organisatoren der Psyche, übernahm als eine zentrale Technik das Focusing und beschrieb genau bestimmte Einstiegsstellen (»emotionale Marker«) für ein vertieftes Arbeiten mit Emotionen.

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Aus der Sichtweise der experientiellen Ansätze ist die Förderung des Therapieprozesses die entscheidende Aufgabe der Therapeutin. Die Therapeutin ist die Prozessexpertin, der Patient der Experte für die für ihn wichtigen Themen und Inhalte. Mit Prozess ist der Vorgang des in Kontaktkommens mit sich selbst gemeint, das Wahrnehmen und Annehmen der eigenen Gefühle. Als Prozessexperte darf und soll der Therapeut aktiv und kreativ sein, hierfür kann er viele Wege vorschlagen, natürlich immer aus Personzentrierter Haltung und Beziehungsangebot heraus. Gendlin beschreibt das so, dass man aktive Vorschläge machen kann (»leading«), dann aber immer eine gute Zeit lang verstehend begleitet (»pacing«). Gegebenenfalls muss man auf seinen Vorschlag verzichten. Solche aktiven Prozess-Vorschläge wären z. B. Focusing-Fragen wie (»Wo spüren Sie das in ihrem Körper, wenn Sie gerade über die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter sprechen?«) oder emotionsfokussierende Vorgehensweisen. In den Weiterentwicklungen beider Verfahren zeigen sich große Konvergenz-Möglichkeiten von PzA und VT: Es geht um das »wie« psychischer Prozesse, es geht zentral um das affektiv-emotionale Erleben. Dieses emotionale Erleben ist eng eingebettet in das Beziehungserleben, weswegen diesem eine große Bedeutung zugemessen wird. Hier sehe ich eine der deutlichsten Annäherungen zwischen beiden Ansätzen und gleichzeitig einen der wichtigsten Entwicklungsbereiche für Therapie.

11 Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT) als Beispiel eines Konzepts mit Brückenpotenzial Am Beispiel der DBT, die ich aus der Praxis besonders gut kenne, sollen diese möglichen Konvergenzen beispielhaft noch einmal genauer betrachtet werden. DBT wird beschrieben über ein Set an Therapieprinzipien. Die DBT-Therapeutin führt Verhaltensanalysen durch, arbeitet mit kognitiver Umstrukturierung, Problemlösungsmethoden, behavioralen Methoden, Kontingenzmanagement (strategische Überlegungen zu Beziehungsreaktionen), alles klassische VT-Methoden. Er arbeitet aber auch mit dialektischer Beziehungsgestaltung, mit Commitment (Verantwortungsübernahme), mit starkem Emotionsbezug, Achtsamkeit und Akzeptanz, Ressourcenorientierung (Bezug auf Fertigkeiten), Körperbezug und Erlebensaktivierung. In ihrer für den Ansatz grundlegenden Veröffentlichung beschreibt Linehan (1996) auch eine Art engagiertes Menschenbild für Personen mit frühen Bindungsverletzungen in Form von zehn Leitsätzen, die sehr humanistisch klingen (u. a.: Jedes Verhalten macht im subjektiven Kontext Sinn, Borderline-­

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Patienten können in der Therapie nicht scheitern, sie sind nicht selbst schuld an ihren Problemen, müssen aber heute die Verantwortung für sich übernehmen, Bohus, 2002). Das Grundprinzip der Dialektik in der Therapie gibt der sehr veränderungslastigen (2.Welle-)VT wieder mehr Balance. Therapie wird im Spannungsfeld gesehen zwischen den beiden Polen der Akzeptanz der Patientin und der Veränderung. Die humanistische Sicht würde den Akzeptanz-/Validierungspol als primär sehen: Ohne dass sich der Klient verstanden und angenommen fühlt, kann kaum eine Veränderung entstehen. Weiterhin würden klassische Gesprächspsychotherapeutinnen in der guten Beziehungserfahrung schon eine (oft) ausreichende Bedingung für Veränderungen sehen, wohingegen VT in der Regel darauf besteht, dass es ohne gezielte Veränderungsinterventionen nicht geht. Dennoch ist hier auf jeden Fall eine Konvergenz zu sehen, bei der die neue VT den Wert validierender Beziehungserfahrungen wieder sieht. Da viele DBT-Interventionen auf die Prozessebene zielen, ist hier auch eine Annäherung an experientielle Ansätze des PzA festzustellen. Ein weiterer Brückenaspekt kann am Beispiel des Umgangs mit »Rückfällen« in Problemverhaltensweisen (bei Borderline z. B. Selbstverletzung, Suchtmittelkonsum, problematisches Essverhalten, Wutausbrüche, suizidales Verhalten) verdeutlicht werden. Klassische VT würde hier mit Grenzsetzungen oder Verstärkerorientierung arbeiten, DBT setzt dagegen hier meist die Klärung der Motivation (»Commitment«) ein und überlässt der Klientin die Souveränität über ihre Entscheidung. Das heißt, es wird an der persönlichen Entscheidung für oder gegen ein Problemverhalten gearbeitet (ähnlich wie in der motivierenden Gesprächsführung; Miller u. Rollnick, 2004) und diese geklärt. Das wäre wieder nahe an humanistischen Vorgehensweisen. Das sehr bekannt gewordene »Skillstraining« (Bohus u. Wolf, 2012) vereint ebenfalls Aspekte aus den Hintergründen beider Verfahren. Es kann als überwiegend behaviorales Training von Verhalten angesehen werden (z. B. das Einsetzen von starken körperlichen Reizen gegen hohe Anspannung), es beinhaltet aber auch existenzielle Aspekte, wie »Radikale Akzeptanz« (von Dingen die eine Person nicht ändern kann) oder »Wohlwollender Blick auf sich selbst«, die in jeder humanistischen Therapie eine Rolle spielen. DBT hat als erstes der neuen Verfahren die Bedeutung der Achtsamkeit betont. Auch wenn Linehan sie eher aus dem Buddhismus ableitet, gibt es Berührungspunkte mit der Focusing-Haltung der inneren Achtsamkeit. Die starke Betonung von Akzeptanz in der DBT hat auch in der Achtsamkeit (und im Buddhismus) ihre Wurzeln, konvergiert mit Focusing-Haltungen und der existenziellen Therapie. Das Verständnis der Bedeutung von validierender Beziehung

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in der DBT führte zu einem Beschreibungssystem von »Validierungsstrategien«, weiterhin zuletzt zum Einbezug von Vorgehensweisen aus der Mitgefühlsfokussierten Therapie. Unterschiede zum PzA bleiben in der VT-spezifischen hauptsächlichen Umsetzung über das Üben und dem strategischen Handeln. Die grundsätzliche Anerkennung der zentralen Bedeutung von mitfühlender, annehmender und kongruenter therapeutischer Beziehung bleibt dennoch sichtbar. Daneben erscheint die Emotionsfokussierung ein verbindender Aspekt zu sein, viele Vorgehensweisen in der DBT zielen auf das bessere Verstehen und die günstigere Regulation von Emotionen ab. Hier lassen sich mühelos Interventionen aus dem Focusing und der emotionsfokussierten Therapie zuordnen und integrieren. DBT nutzt aber auch gleichwertig »äußere« Emotionsperspektiven (z. B. Gefühle zu üben oder nachzustellen), wohingegen die humanistischen Zugänge die Innenperspektive des Individuums in den Mittelpunkt stellen. DBT hätte also deutliches Potenzial, ein im guten Sinne des Wortes integratives Konzept zu sein, das auf pragmatische Weise Therapieperspektiven verbindet, die für eine bestimmte »Innenwelt-Gestalt« (diejenige vieler Menschen mit frühen Bindungsverletzungen und Traumaerfahrungen) sinnhafte, respektvolle Zugänge und wirkungsvolle Unterstützung beinhaltet. Hier zeigt sich m. E., was Psychotherapie heutzutage wirklich erreichen könnte, wenn sie die Konzepte offener, weniger schulenspezifisch und weniger verhaftet im medizinisch-­ naturwissenschaftlichen Menschenbild gestalten würde. Durch die letztliche fehlende Verankerung des DBT-Konzeptes zumindest auch in einem expliziten Humanistischen Menschenbild ist dennoch nicht gesichert, in der Praxis immer wieder nur auf eine medizinisch-strategische Behandlung (die z. B. im Auswendiglernen von Skills oder im überwiegend pädagogischen Grenzensetzen besteht) reduziert zu werden.

12 Schlussbetrachtung Die VT braucht dringend die Therapieperspektiven, Prinzipien und Aspekte der therapeutischen Haltung, die das Zentrum der Personzentrierten Therapie und der humanistischen Therapieansätze bilden. Das zeigt der große Erfolg der dritten Welle der VT, die viele dieser Aspekte wieder als zentral für Therapie konzipiert. Hier kann tatsächlich eine deutliche Konvergenz zwischen VT und PzA gesehen werden, auch wenn diese Ursprünge in den jeweiligen »neuen« VT-Konzepten meist kaum oder gar nicht benannt werden. Auf der anderen Seite hilft die pragmatische Seite der VT der klinischen Praxis sehr, ebenso wie das genaue Beschreiben vieler spezifischer Vorgehensweisen

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in der VT die Lehrbarkeit erhöht. Ebenso nützlich ist die integrative Leichtigkeit der VT, als hilfreich erkannte Vorgehensweisen in die Therapie einzubinden. Aus einer Personzentrierten Haltung heraus kann man viele (nicht alle, einige sind m. E. tatsächlich inkompatibel) dieser Vorgehensweisen in der Therapie vorschlagen (Stumm u. Keil, 2014; Kriz u. Slunezko, 2007). Alternativ zur Verfahrensorientierung werden in neueren Aufsätzen eine allgemeine Psychotherapie (Grawe, 2004), transdiagnostische Ansätze oder modulare Konzepte diskutiert. So attraktiv eine solche allgemeine, vermeintlich empirisch, neurobiologisch, evidenzbasiert begründete Therapie wäre, so lässt sich m. E. die Ableitung eines Therapieverfahrens aus einem Menschenbild nicht völlig übergehen. An etlichen Stellen der neueren Verfahren der 3. Welle entsteht der Eindruck, dass viele Aspekte des Humanistischen Ansatzes zumindest implizit wieder dazugenommen werden. Zuletzt betone ich noch einmal den sehr persönlichen Blickwinkel, aus dem heraus diese »Rundreise« über die VT und den PzA erfolgt ist. Er beinhaltet viele persönliche Erfahrungen und Wertsetzungen als »Grenzgänger« zwischen beiden Verfahren und beansprucht keine Wahrheit. Zwangsläufig tritt man mit solchen Überlegungen Therapeuten beider Verfahren auf die Füße, tut ihnen mit Verkürzungen und Pointierungen Unrecht, wofür ich mich bei beiden Seiten entschuldige. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wäre das auf der einen Seite mehr ideengeschichtliche Redlichkeit, was das »Neuentdecken« von für Psycho­ therapie wichtigen Aspekten angeht. Gleichzeitig hoffe ich, dass die Integration solcher Therapieprinzipien wie Selbstverantwortung, Mitgefühl, positive Sicht auf den Menschen etc. weitergeht. Damit einhergehen würde mehr Respekt vor dem Reichtum der humanistischen Therapie (und der anderen, ins Abseits geratenden Verfahren), was ich als Gegenpol gegen einen Zeitgeist der Be- und Vernutzung von sich selbst und von anderen für extrem wichtig halten würde. Auf der Seite des PzA wäre eine pragmatischere Haltung hilfreich, ein Weiterverfolgen der Störungsorientierung (»mitfühlendes Wissen«), noch mehr Öffnung und Integration zum experientiellen Ansatz und viel mehr Mut zur Methodenintegration. Der Ansatz ist so stark, dass es genauso wie die neue VT viel kreative Vielfalt integrieren kann. So könnte der PzA zusammen mit anderen Konzepten den Kern einer emotionsbezogenen Psychotherapie bilden, der m. E. die Zukunft gehören könnte.

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  G  rundannahmen der Systemischen Therapie und Beratung im Dialog mit dem Personzentrierten Ansatz

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1  Systemische Therapie und Beratung – Versuch einer Begriffsklärung

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Von den vier großen Richtungen der Therapie und Beratung (psychoanalytisch, kognitiv-behavioral, humanistisch und systemisch) fällt letztere und jüngste unter ihnen durch ihre Diffusität und scheinbare Unbestimmbarkeit besonders auf: Auf die Frage, was das Proprium des systemischen Ansatzes ist, erhalten zehn Fragesteller elf (richtige) Antworten. Diese definitorische Mehrstimmigkeit bei gleichzeitiger Offenheit für andere Definitionen deutet bereits auf das Wesen der Systemik hin: »›systemisch‹ [ist] ein erkenntnistheoretischer Begriff (›Was kann ich erkennen?‹), kein ontologischer (›Was ist dort wirklich?‹).« (von Schlippe u. Schweizer, 2016, S. 31) Dass diese Offenheit keine Beliebigkeit darstellt und in systemischen Konzepten nicht als Problem oder Mangel wahrgenommen wird, zeigt ein kurzer Blick in die vielseitige Geschichte des systemischen Ansatzes (von Schlippe u. Schweizer, 2016, S. 33–86; Steiner, Brandl-Nebehay u. Reiter, 2002). Historisch findet sich ein Dreischritt der Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung: In den 1950er-Jahren wird an mehreren Orten unabhängig voneinander das Paar- und Familiensetting der Klientin in unterschiedliche Therapieprozesse und -formen einbezogen. Der systemische Ansatz kann sich daher nicht auf die eine Gründungsfigur, die eine neue, klar umgrenzte Therapierichtung begründet und für folgende Generationen durchdenkt, berufen. Der Einbezug der Familie geschieht sowohl in der Humanistischen Therapie und Beratung als auch im kognitiv-behavioralen Ansatz sowie mit der mehrgenera­ tionalen Perspektive (s. u.) auch in der Psychoanalyse. Durch die langsame Einbindung der Familie und ihrer Strukturen und die damit einhergehende systemorientierte Sichtweise in laufende Therapieprozesse unterschied­lichster Prägung bildet sich ein – wissenschaftstheoretisch damals nicht begleitend reflektierter – Nährboden, auf dem dann in den 1960er- bis 1980er-Jahren mit der Systemtik eine neue Therapie- und Beratungsrichtung entstehen kann. Hier sind vor allem Palo Alto (Kalifornien) und Mailand (Italien) die großen Zentren, von denen aus Impulse für den systemischen Ansatz ausgehen.

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Nach fortwährender Weiterentwicklung, insbesondere durch den Einbezug des Beobachters eines Systems als Teil desselben, etabliert sich die Systemik so weit, dass sie seit den 1990er-Jahren in unterschiedliche Disziplinen der P ­ raxis und Wissenschaft, wie wirtschaftliche Organisationsberatung, Päda­gogik, Supervision, Soziale Arbeit und Seelsorge, Eingang findet. Diese patchworkartige Entstehungsgeschichte, in der die systemische Einsicht, dass jeder Mensch in Bezugssystemen (Familie, Partnerschaft, Beruf udgl.) handelt, von verschiedenen Vertretern der anderen großen therapeutischen Fachrichtungen in unterschiedlicher Gewichtung in ihre jeweiligen Kontexte eingebunden wird, erklärt, warum es nur schwer möglich ist, eine für alle gültige und überzeugende Definition der Systemik aufzustellen. Neben dieser histo­rischen Erklärung sind es aber vor allem die erkenntnistheoretischen Grundannahmen der systemischen Therapie und Beratung und ihrer vielen Akzen­tuierungen, die eine einmalige Begriffsklärung, deren Gültigkeit über alle Zeiten hinweg trägt, nicht zulässt. Diese erkenntnistheoretischen Grundannahmen, auf der jeder Therapie- und Beratungsprozess fußt, bündeln sich im sog. Konstruktivismus; einer philo­ sophischen und soziologischen Richtung, die wie keine andere die positive Nähe zur Neurobiologie und Psychologie sucht (Schmidt, 2015, S. 573). Immanuel Kant (1724–1804) legt mit seinem geistesgeschichtlichen Paradigmenwechsel den Grundstein der Erkenntnistheorie, auf welchem der Konstruk­ tivismus aufbaut. Er selbst bezeichnet seine Einsicht als »koperni­kanische Wende« (1787/1956, B XVI), da es sich wie bei der astronomischen Ent­deckung von Nikolaus Kopernikus (1473–1543) um einen revolutionären Perspektivwechsel handelt: Für den Menschen scheinen sich die Planeten, Monde udgl. am Sternen­himmel zu bewegen, doch rotiert die Erde um die eigene Achse und bewegt sich dabei um die Sonne, was dazu führt, dass Planeten und auch Fixsterne aus dem menschlichen Sichtfeld verschwinden. Es hängt also maßgeblich von der Perspek­tive der Beobachterin ab, was sich ihr wie darstellt – und was nicht. So auch bei Kant: Der Mensch erkennt lediglich die Erscheinungen von Gegenständen und nicht das ›Ding an sich‹. »[D]ie Dinge, die wir anschauen, [sind] nicht das an sich selbst, wofür wir sie anschauen, noch [sind] ihre Verhältnisse so beschaffen, als sie uns erscheinen […], sondern [können] nur in uns existieren.« (1787/1956, B 59). Wie Dinge dem erkennenden Subjekt erscheinen, hängt von den individuellen Strukturen des Verstandes und der Sinnlichkeit ab und ist damit im höchsten Maße subjektiv. Gerade Raum und Zeit gehören nicht zu den »Dingen an sich«, sondern sind Formen der menschlichen Anschauung, in der sich der Mensch alle Gegenstände vorstellt.

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Auf dem Gedanken (dazu ausdifferenziert Barth, 2005), dass sich die Welt dem Menschen nur als subjektive Erscheinung darstellt, baut der Konstruk­ tivismus auf. Als »Gründungsdokument« kann der 1970 von dem Neuro­ biologen Humberto Maturana (*1928) verfasste Aufsatz »Biology of Cognition« ange­sehen werden (Pörksen, 2015, S. 3). Darin entwickelt der Chilene in kompakter Form den für spätere Denker wie Heinz von Foerster (1911–2002) und Ernst von Glasersfeld (1917–2010) leitenden Gedanken, dass es eine beobach­ ter­unabhängige Außenwelt zwar spekulativ geben mag, sie der mensch­lichen Erkenntnis jedoch entzogen bleibt. Es sind die Sinneswahrnehmungen des Menschen, d. h. die neuronalen Sensoren, die eine Wirklichkeit als solche erst konstruieren: »[…] da draußen gibt es weder Klänge noch Musik, sondern lediglich perio­dische Druckwellen der Luft; da draußen gibt es keine Wärme oder Kälte, sondern nur bewegte Moleküle mit größerer oder geringerer durchschnittlicher kinetischer Energie usw.« (von Foerster, 1993, S. 26) Als anregendes Beispiel mag folgende zu verneinende Frage dienen: Macht der Baum, der im Wald ohne einen Beobachter umfällt, ein Geräusch? Zusammengefasst: »Wir erzeugen buchstäblich die Welt, in der wir leben, indem wir sie leben.« (Maturana, 1985, S. 269) Entscheidend für den systemischen Ansatz sind zwei Folgerungen: Erstens sind jede Beobachtung und damit auch jede Bewertung und Deutung vom individuellen Subjekt in seinem soziokulturellen Kontext abhängig. Intersubjektive Kategorien und Erklärungsmuster wie »richtig« oder »falsch«, die normative Machtgefüge festigen sollen, sind keine Beschreibungen einer objektiven Realität, die es so gar nicht geben kann (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969/2017, S. 55 f.). Zweitens ist die erkennende Beobachterin nicht getrennt von seiner Beobachtung denkbar: »Ein System ist nicht ein Etwas, das dem Beobachter präsentiert wird, es ist ein Etwas, das von ihm erkannt wird.« (Maturana, 1982, S. 175) Ein System liegt also nicht als externe Größe vor, sondern entsteht – wie jede Wirklichkeit – immer erst in der Betrachtung des Beobachters, die individuell durch Unterscheidungen die Grenzen des betrachteten Systems festlegt und damit selbst zum Teil des Systems wird.

2  Systemische Therapie und Beratung – methodische Strukturen der Praxis Diese (erkenntnis-)theoretischen Annahmen, die gleichsam eine systemische Weltsicht darstellen, bilden das Fundament aller methodischen Ansätze, von denen im Folgenden exemplarisch einige benannt werden.

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Kontinuierlich partizipiert der systemische Ansatz an wissenschaftlichen Systemtheorien (u. a. Luhmann, 1987; Willke, 2006; Strunk u. Schiepek, 2013). Demnach ist ein lebendes System ein »Zusammenhang von Teilen, deren Beziehung untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver sind als ihre Beziehungen zu anderen Elementen. Diese Unterschiedlichkeit der Beziehung konstituiert eine Systemgrenze, die System und Umwelt trennt.« (Willke, 2006, S. 282)

Die Bewertung der Beziehungen und die damit erfolgte Festlegung der Unterscheidung eines »Innen« und »Außen« liegt bei der Beobachterin, die das System damit erst erschafft. »Ein lebendes System […] kann sich nicht nicht verändern« (von Schlippe u. Schweizer, 2016, S. 168), es ist dauerhaft in Bewegung und bietet nahezu unendliche Möglichkeiten der Neugestaltung. Wie ein Mobile ist es trotz andauernder Veränderung dabei jedoch immer bestrebt, Stabilität zu generieren – es »hält bewerte Muster so lange wie möglich aufrecht« (Minuchin, 1977/2015, S. 71). Im Prozess der systemischen Therapie und Beratung ergibt die Frage nach möglichen Veränderungen daher nur wenig Sinn; diese geschehen zwangs­ läufig. Bedeutender ist es, den Fokus auf die Strukturen zu richten, die im Vollzug wieder­holend Stabilität und damit auch Orientierung herstellen. Hier steht die sog. Theorie autopoietischer Systeme (griechisch: Selbsterzeugung) im Hintergrund, die Humberto Maturana und Francisco Varela (1946–2001) in den 1980er-Jahren gemeinsam entwickelt haben (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 111–114). Danach erzeugen lebende Systeme alle nötigen Komponenten in (Re-)Produktion aus sich selbst heraus – ein System ordnet sich selbst und hält sich selbst am Leben. Die einzige Begrenzung der Veränderung bildet die aktuelle Struktur des Systems; bspw. kann ein menschliches System nicht fliegen. Neben der Selbsterzeugung haben lebende Systeme keine weitere Bedeutung, »alle anderen Behauptungen über ihren Sinn werden durch Beobachter an sie herangetragen.« (S. 112) Die Grundzüge der Autopoiesie sind entscheidend für die systemische Praxis; auch wenn die Kritik, dass Individuen immer auch in einen sozialen Kontext eingebunden sind, der intersubjektiv ebenfalls Wirklichkeit konstruiert, teilweise berechtigt ist (u. a. Kriz, 2004). Wenn Systeme sich selbst erhalten und regulieren, bedarf es keines steuernden Eingriffs von außen. Dieser könnte gar nicht konstruktiv verlaufen, da es nicht möglich ist, Wertungen und Urteile von Erlebtem einseitig zu bestimmen. Jede Interaktion des Beraters oder der Therapeutin trägt daher den Charakter

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der verstehenden Kooperation. Ein Anstoß von außen wird dann als relevant erfahren und ist somit therapeutisch wirksam, wenn er strukturell so verfasst ist, dass er Eigenzustände und -logiken des individuellen Systems (auch die einzelne Person ist ein System!) berücksichtigt und diesem auch sprachlich entspricht. Hier finden die erkenntnistheoretischen Überlegungen Anwendung, die jeden Klienten und seine Beurteilung der Wirklichkeit anerkennen und nicht versuchen, eine »richtige« Weltsicht zu vermitteln. Wenn eine Intervention jedoch als relevant erfahren wird, integriert die Klientin diese in seinen aktuellen Identitätsentwurf, der sich in ständigem Wandel befindet bzw. situativ neu konstituiert und nicht in einem statischen oder unveränderlichen »Wesenskern« gründet. Exemplarisch lässt sich dies verdeutlichen, wenn sich der Mensch in seinem Selbstverhältnis, das ständig Selbstreflexion bzw. Selbstverständigung hervorbringt, fragt »Wer bin ich?« und sich in der Antwort darauf nie abschließend in Gänze selbst erfassen kann: Wir können schlicht nicht allumfassend sagen, wer wir sind bzw. tun dies stets angereichert durch eine Auswahl von (biografischen) Narrativen, die aber ihrerseits hochgradig situations- und kontextabhängig sind. Systemische Arbeit ist daher in hohem Maße ressourcenorientiert. Auf die vorhandenen Stärken und Fähigkeiten des Klienten bzw. des Systems zu fokussieren und dieselben weitergehend einzuüben, folgen der individuellen Systemlogik des Gegenübers und eignen sich daher besser als das Aufzeigen vermeintlicher »Fehler«, um selbst erzeugte Veränderungen zu realisieren. Entsprechend wird in der systemischen Therapie und Beratung mit Symptomen der Klientin bzw. ihrem individuellen Leidensdruck als Symptom­trägerin verfahren. Diese werden nicht als Defizit abgewertet, sondern funktional als beziehungsgestaltende Fähigkeit mehrerer Personen in einem System wahr­ genommen: Sie sind als systemimmanenter Lösungsversuch Strukturmerkmal von Beziehungskonflikten und können daher für Berater und Klientin eine Erschließungskategorie des Systems darstellen. Wenn bisherige Lösungs­versuche des Systems (oftmals mehr derselben Lösung; Watzlawick, 1983/2010, S. 27–30) das Symptom stabilisiert oder eskaliert haben, gilt es gemeinsam systemkonforme Alternativen zu finden. Diese Lösungsorientierung zeigt sich in folgendem Beispiel: Zwei Menschen sind in einem Raum ohne Türen eingeschlossen und möchten diesen verlassen. Dazu schlägt einer mit großer Kraft gegen die Wand, was zwar zu Schmerzen, aber nicht zur gewünschten Lösung führt. Daher schlagen nun beide zusammen gegen die Wand und erleiden beide Schmerzen: Die Lösung wird zum Problem. Als eine Möglichkeit im systemischen Kontext ließe sich – anstatt als Therapeut auch auf die Wand einzuschlagen – die Perspektive (Raum ohne Tür) weiten.

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Der Logik des Systems folgend, könnte die Beraterin das Fenster, das keiner im Blick hatte, als möglichen Ausgang anbieten. Diese Perspektiverweiterung, die eine Vielzahl an alternativen und dennoch systemkonformen Möglichkeiten aufzeigt, bildet den größten Teil systemischer Arbeit. Im Familiensetting kann dies bspw. durch das Einnehmen einer mehrgenerationalen Perspektive geschehen (weiterführend: Reich, Massing u. Cierpka, 2008): Welche erlernten Muster, Weltsichten und Loyalitäten bestehen in der Herkunftsfamilie und in der Großeltern- und Urgroßeltern-Generation? In welchen soziokulturellen Kontexten sind diese entstanden? Wie wurden sie damals und werden sie heute beurteilt? Diese und andere Fragen und methodisch-symbolisierende Übungen wie Arbeit an einem Genogramm oder einer Familienskulptur (zur theoretischen Vertiefung der Aufstellungsarbeit Weber, Schmidt u. Simon, 2016) generieren zunächst eine höhere Repräsentanz der Vergangenheit. Sie können dann die Perspektive des Klienten erweitern und ihm mehr Möglichkeitsräume der Bewertung in der bisher als Problem beurteilten familiären Beziehung erschließen. Das Angebot zur Rekontextualisierung des individuellen Bezugsrahmens von Urteilen, Zuschreibungen und Erwartungen (Refraiming) und das daraus resultierende Erleben von Handlungsalternativen, gehen mit der Haltung der systemischen Beraterin oder des systemischen Therapeuten einher (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, 199–211; Selvini-Pallazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1981). Diese ist eng mit den oben beschriebenen erkenntnistheoretischen Grund­annahmen verknüpft. Arist von Schlippe (*1951) benennt systemische Therapie und Beratung im gleichnamigen Aufsatz als »engagierter Austausch von Wirklichkeitsbeschreibungen« (von Schlippe, Braun-Brönneke u. Schröder, 1998). Dies setzt voraus, dass der systemische Berater anerkennt, dass seine Wirklichkeitswahrnehmung und -beurteilung zwar die eigene Realität abbildet, aus ihr jedoch kein normativer Anspruch für alle Menschen ableitbar ist. Vielmehr existieren neben der eigenen Wirklichkeitszuschreibung noch zahlreiche andere gleichberechtigte Konzepte. Die systemische Therapeutin, die um diese Kon­struktion weiß, trägt daher weder Bewertungen, noch Autorität oder Manipu­lation in das Therapiesetting ein, sondern betrachtet den Prozess als prinzipiell ergebnisoffen. Damit akzeptiert sie (im Rahmen des Grundgesetzes und der jeweiligen Ethikrichtlinien) die Autonomie des Klienten und verhält sich neutral gegenüber Personen und Lebenskonzepten sowie gegenüber Symptomen. Alle als problematisch empfundenen Strukturen entsprechen dem System der Klientin und sind für ihren lebensbewältigenden Fortbestand nützlich und als solche eher wertschätzend zu würdigen. Dieses hohe Maß an Wertneutralität ist allerdings keine Wertfreiheit: Ein subjektives Werturteil, das jeder

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(unterschiedlich flexibel) in sich trägt, kann – sofern es als solches gekennzeichnet wird – produktiv in den systemischen Prozess einfließen. Ähnlich verhält es sich mit Hypothesen des Beraters, die kongruenter Kommunikation entspringen, und zur Perspektiverweiterung dienlich sein können. Ob diese Resonanz erfahren und Möglichkeitsräume eröffnen, entscheidet allein die Klientin, die dies in einem Feedback in einer ihm entsprechenden Kommunikation mitteilt (zur Wirksamkeit hypothetischer Deutungsangebote: Furman u. Ahola, 2001). Alle beschriebenen Anteile der Haltung eines Systemikers werden durch eine ausgeprägte Skepsis gegenüber bestehenden Gewissheiten, gegenüber traditionellen Bewertungsmustern und Kausalketten sowie gegenüber defizitorientierten Diagnosen und anderen vereinfachenden Normierungsversuchen begleitet. Zusammenfassend lässt sich festhalten: »Das systemische Selbstverständnis besteht darin, professionell angemessene Rahmenbedingungen für konstruktive Veränderungen bereitzustellen und zugleich auf gezielte und geplante Veränderungen zu verzichten.« (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 202)

3  Eine Replik aus Personzentrierter Perspektive Die Denkorte, an denen die Ansätze der Systemik und des PzA mehr und mehr ausdifferenziert wurden, liegen geografisch ca. 750 km voneinander entfernt. Während sich in Palo Alto, nahe des Silicon Valley in Kalifornien 1958 das Mental Research Institute als Zentrum etablierte, in dem u. a. Watzlawick, Satir und Minuchin arbeiteten, forschte Rogers mit Kolleginnen und Kollegen seit 1964 im südlichen Kalifornien mit Hauptsitz in La Jolla und pointierte seine Gedanken des PzA, die er in seiner Zeit als Professor in Ohio, Chicago und Wisconsin bereits als klientenzentrierte Therapie entwickelt hatte (dazu Schlör, I.3, S. 68). Für amerikanische Verhältnisse liegen die Wirkungsstätten dieser beiden psychotherapeutischen Richtungen Mitte des 20. Jh. in keiner großen geografischen Distanz, sind sie zumal in einem Bundesstaat beheimatet. Historisch ist es aufgrund der unzureichenden Quellenlage nicht möglich, festzustellen, inwieweit Vertreter der beiden Richtungen miteinander in Kontakt gestanden haben. Daher scheint es so, dass sich die Richtungen ohne Austausch nebeneinander entwickelten und ihre je eigenen Propria ausbildeten. Aus heutiger Perspektive lässt sich deshalb (selbst-)kritisch fragen: Wo finden sich Konvergenzen? Kann eine Dialogpartnerschaft spannend und fruchtbar sein? Weist der systemische Ansatz auf Dimensionen hin, die im PzA in seinen Wurzeln vorhanden sind, mit der Weiterentwicklung aber Prioritäten verschoben wurden und umgekehrt? Welche Divergenzen liegen auch zwischen den beiden Richtungen?

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Eine methodische Grenze bei der Beantwortung dieser Fragen zeigt sich bereits darin, dass sich die Replik lediglich auf die eine, oben dargestellte Form der Systemik bezieht, die sich erkenntnistheoretisch verortet. Es finden sich Konvergenzen und Impulse, die es sich weiterzudenken lohnt und deren inhaltliche Übereinstimmung bei gleichzeitiger begrifflicher Differenzierung im Folgenden zunächst aufgezeigt wird. Zugleich lassen sich mit Blick auf anthropologische Grundannahmen der beiden Richtungen sowie der anzuwendenden Methodik Unterschiede markieren. Konvergenzen und Impulse

Die Systemik markiert die Rolle der Beraterin, des Seelsorgers oder der Thera­ peutin entsprechend dem Grundverständnis des Konstruktivismus und der Systemtheorie als am System selbst teilnehmender Beobachter, der durch diese Beobachtung hindurch selbst Teil des Systems wird. Ihre Interaktion wird als »verstehende Kooperation« gedeutet, die mit einem »Anstoß von außen« in das Ursprungssystem der Klientin interveniert, ohne dabei Anspruch auf Richtigkeit und positive Wirkung zu erheben; diese Wertung kommt allein dem erlebenden Subjekt der eigenen Wirklichkeit des Systems, d. h. der Klientin zu. Dieses Bild der Intervention (inter-venire als »dazwischen gehen«) sieht der PzA immer in der Balance der drei Grundhaltungen (Empathie, Wertschätzung und Echtheit); wenn die Kategorie der Echtheit überbestimmt ist, wird dieses Bild der Intervention als zu direktiv verstanden (auch die Entwicklung der Bezeichnung des PzA zunächst als nichtdirektiv hin zu Personzentriert, mit der jeder Anklang an eine Direktivität unterbunden werden soll). Zugleich geht auch der PzA von einer Doppelwirkung aus. Die Selbstaktualisierungstendenz der Person, die Beratung sucht, d. h. ihr Eigeninteresse und ihre Motivation ein in ihrem Selbst manifestiertes Erleben und Handeln verstehen oder ändern zu wollen, korreliert mit der Akzentsetzung des Beraters oder der Therapeutin, die mit der suchenden Person an bestimmten Stellen ihres erlebten Handelns und ihrer Biografie, die im Selbstkonzept manifestiert sind, stehen bleibt und mit ihr gemeinsam hinschaut. In der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte bietet der Berater der ratsuchenden Person seine »empathische Resonanz […] auf das vom Gegenüber geäußerte Erleben« (Burbach, I.1, S. 36), die damit zugleich unter dem »als ob«-Vorbehalt steht; dies kann in das Bewusstwerden der eigenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse der ratsuchenden Person resultieren und in das bestehende Selbstkonzept inte­ griert werden. Die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte dient letztendlich als ein »Schallregler«, um die in der Person angelegten Resonanzen für sie in neuen Nuancen der Lautstärke klingen zu lassen, sie für sie wahrnehmbarer

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und annehmbarer werden zu lassen. Ihr kommt damit keine steuernde Funktion im direktiven Verständnis zu, sondern eine »funktionelle Sicht« (Stumm u. Keil, 2014b, S. 16). Grundlage für diese Doppelwirkung bzw. verstehende Kooperation bilden die drei Haltungen, die für den PzA konstitutiv herausgestellt wurden und die sich in ähnlicher Form auch im systemischen Ansatz finden. Dem einfühlenden Verstehen, d. h. der Empathie kommt in der Systemik keine klar konturierte Funktion zu, sondern diese schwingt eher als Grundton mit, der wie ein nicht näher hinterfragter common sense übernommen wurde (Rogers hatte diese bereits in den 1940er- und 1950er-Jahren entwickelt und veröffentlicht, bspw. 1952, auf Deutsch wieder abgedruckt als Kap. 17 in Rogers, 1973/2016; 1959, auf Deutsch wieder abgedruckt als Kap. 14 in Rogers, 1973/2016). Dahin­ gegen bildet sie im PzA ein Proprium (Stumm u. Keil, 2014b, S. 26, die diese für den psychotherapeutischen Kontext als »zentrale Interventionskategorie« verstehen). Erst durch dieses einschwingende Mitgehen und Erspüren der Resonanzen durch die Beraterin kann diese die wahrgenommenen emotionalen Erlebnisinhalte verbalisieren und der Person zugänglich machen (s. u.). Empathie bildet den Schlüssel dafür, dass eine herrschaftsfreie personale Begegnung angestrebt wird, die innerhalb ihrer funktionalen Struktur zugleich asymmetrisch sein muss. Die Seelsorgerin oder der Berater begegnet der ratsuchenden Person als ganze Person. Klarer umrissen sind die beiden Haltungen der Echtheit bzw. Authentizität sowie der Wertschätzung bzw. Akzeptanz. Letztere beschreibt die Systemik entsprechend der konstruktivistischen Annahme als »Wertneutralität«. Dieser Begriff betont die gleiche strukturelle Dimension, die auch im PzA herausgestellt wird: Die Beraterin weiß um ihre eigenen Werturteile in Differenz zu denen der ratsuchenden Person; sie fühlt sich unabhängig von diesen Positionen, d. h. weitestgehend neutral in die Welt ihres Gesprächspartners ein. Rogers selbst hat die positiv wertenden Begriffe »Wertschätzung« und »Akzeptanz« geprägt, um insb. »Haltungen wie Wärme, Liebe, Respekt, Sympathie und Anerkennung« mit anklingen zu lassen, und zwar »ungeachtet der verschiedenen Bewertungen, die man selbst ihren [d. i. der Person] verschiedenen Verhaltensweisen gegenüber hat« (Rogers, 1959/2016, S. 40 f.; zu den Grenzen der Wertschätzung bzw. -neutralität s. o. sowie Burbach, I.1, S. 30–33). Die Kategorie der Echtheit bzw. Authentizität wird in der Systemik zum Kernelement der Begegnung. Dem Axiom der »kongruenten Kommunikation« entsprechend macht der Berater oder die Therapeutin seiner bzw. ihre eigenen Hypothesen für den Klienten mit dem Ziel der Perspektivweitung durchsichtig; ob der Klient dies als konstruktive Intervention in seinem System erlebt, unter-

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liegt seinem Urteil. Im Gegensatz dazu steht diese Haltung im PzA unter dem Vorbehalt einer selektiven Authentizität, der durch die beiden anderen Haltungen der Empathie und Wertschätzung vergegenwärtigt wird: Nur dasjenige des inneren Erlebens der Seelsorgerin, des Beraters oder der Therapeutin, was die Selbstaktualisierung des Gesprächspartners fördert und am Rande seiner Gewahrwerdung steht, wird explizit zugänglich gemacht. Was allerdings noch in der Tiefe ist, wird nicht hochgeholt; das hilfreiche Instrument zur Selektion bildet die Empathie des Beraters oder der Seelsorgerin. Dieses Proprium der Empathie bedeutet dabei keine Dominanz. Auch der PzA kennt die Konfrontation, schließlich ist es wesentlich, »als Person [d. h. als Seelsorgerin oder Berater] standzuhalten« (Schmid, 2008a, S. 25 sowie passim zur Bedeutung der Konfrontation im PzA). Die Systemik ermutigt dazu, die Grundvariable der Echtheit wieder neu bewusst zu machen (ein kurzer Hinweis zur Diskussion um die Grenzen der selektiven Echtheit sowie verschiedene Forschungspositionen bei Stumm u. Keil, 2014b, S. 21–24 sowie die Hermeneutik der »Verstehenshypothesen« im gleichen Lehrbuch Keil u. Stumm, 2014b, S. 66–69). Divergenzen

Der Systemische Ansatz betrachtet entsprechend seines systemtheoretischen Konzepts Person und System nie getrennt voneinander: Eine Person ist immer Teil eines bzw. mehrerer (Sub-)Systeme und kann nicht ohne Beziehungen existieren. Diese Umweltsensibilität ist Ende des letzten Jahrhunderts aus­ differenziert im PzA integriert worden (bereits Rogers’ Voraussetzung der Umwelt bspw. Rogers, 1959/2016, S. 44–46; Rogers, 1981/2017, S. 74; Weiterentwicklung zur Personzentrierten Systemtheorie: Kriz, 2004; Kriz, 2017a; Keil u. Stumm, 2014a, S. 52; eine kurze Darstellung bei Burbach, I.1, S. 36–38). Auch für den PzA ist die Person nicht losgelöst vom System zu denken, doch fokussiert er ausgehend von der Person auf diese in ihrem System. Zur Verdeutlichung mag das Bild einer Theaterbühne helfen: Das System bildet die Kulisse, die Szene, die ratsuchende Person spielt für die Beraterin die Hauptrolle, die in Beziehung zu anderen Personen, welche auf dieser Bühne in Nebenrollen agieren, steht. Die Beraterin oder die Seelsorgerin hat als Zuschauerin die gesamte Bühne im Blick, sitzt aber mit im Theater, d. h. sie partizipiert als Beobachterin an diesem System. Für den PzA steht die Person auf der Bühne, um sie herum die Kulisse und andere Mitspieler. Der Fokus der Beraterin liegt im Interagieren maßgeblich auf der Person. Von ihr aus werden Kulisse und Nebenrollen mitthematisiert. Die Beraterin sieht die Szene, erschließt diese in ihrer Verba­ lisierung aber immer vom emotionalen Erlebnisinhalt der Person her. Wenn es

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der Erschließung hilft, wird auch die Bühne (Kulisse und Nebenrollen) mitverbalisiert. Allerdings benennt die Beraterin jeden Sachverhalt oder eine deskriptive Beschreibung immer an ein Gefühl gekoppelt. Das primäre Ziel liegt darin, das Gefühl zu entschlüsseln und der ratsuchenden Person zur Integration in ihr Selbstkonzept zugänglich zu machen (s. o. zur Grundhaltung Empathie). Die ratsuchende Person soll sich selbst in Echtheit und Wahrhaftigkeit erkennen. Im Scheinwerferlicht werden auch die Abgründe der Person sichtbar; sie erkennt, welche dramatische Rolle sie im Leben (auch) hat – meistens sind es Tragödien, seltener Komödien, die die ratsuchende Person im Gespräch vorbringt. Für die Systemik jedoch ist ein Schauspieler nicht ohne Bühne zu denken. Den Schauspieler gibt es nur als Teil des gesamten Ensembles, sodass die Bühne notwendigerweise mitthematisiert werden muss. Die Person existiert nicht ohne System; streng genommen gibt es sie in der Seelsorgesituation auch nicht ohne Beraterin oder Seelsorger. Damit erfasst die Systemik die Bühne in ihrer Komplexität. Thema bildet die Gesamtstruktur ausgehend von der ratsuchenden Person, während der PzA die Bühne in ihrem emotionalen Gehalt erschließt und die innere Struktur, d. h. das Selbstkonzept der ratsuchenden Person das zentrale Thema ist. Aus systemischer Perspektive lässt sich fragen, ob es nicht auch für den PzA sinnvoll wäre, das erkenntnistheoretische Fundament explizit zu machen. Dieses entspringt – wie beim systemischen Ansatz – nicht dem Ansatz selbst, sondern wird erst im anthropologischen bzw. erkenntnistheoretischen Diskurs an diesen herangetragen. Zum einen gilt es auch für den PzA als ein Proprium, dass Akteur und Deuterin der Weltwahrnehmung die Person selbst ist, die Beratung sucht; dass der Berater im Beratungskontext ebenfalls Teil des dort neu entstehenden Systems ist, in dem ratsuchende Person und Berater zu einem Dritten konvergieren usw. Die erkenntnis- und systemtheoretische Durchdringung an diesen Stellen sichtbar zu machen, erweist sich als lohnend. Zum anderen entspricht die systemische Annahme, die eine Person in ihrer Eigenständigkeit ohne ihr System nicht denken kann und somit die Konstruktion von Identität in dauerhafter Neukonstitution begreift, dem PzA so nicht. Dem widerspricht die anthropologische Annahme der doppelten Deutung der Person, die gerade nicht nur relational, sondern auch in ihrer Substanzhaftigkeit, und damit mit einem vom sie umgebenden System unabhängigen Wesenskern, bestimmt wird (T. Kingreen, I.2, S. 62–64). Damit geht eine methodische Divergenz einher – der Begriff Methodik (griechisch: met-hodos) zeigt bereits an, dass es sich um einen Weg handelt; in diesem Kontext konkret um den Weg vom emotionalen Erleben der Person zu einer ihr adäquaten Lösungsstrategie.

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Die Perspektive des systemischen Ansatzes sieht die ratsuchende Person nicht losgelöst vom System, indem sie prioritär die (Selbst-)Beziehungen, in denen die Person lebt und agiert, betrachtet – entsprechend dem Axiom, dass jedes Symptom als beziehungsgestaltende Fähigkeit gilt. Von daher entspricht es der Systemik auch im Vollzug des Gesprächs »über die Bande zu spielen« und die Beziehungen zu Nebenrollen (seien es konkrete Personen, seien es exter­nalisierte Gefühle oder Personenanteile) nicht nur aktiv zu verbalisieren, sondern auch zu einer eigenen temporären (Neben-)Bühne werden zu lassen, um von dort aus Gefühle zu konturieren und Lösungskonzepte zu erschließen. Der PzA nimmt seine Betrachterperspektive konsequent von der ratsuchenden Person aus ein und sieht ihren Teil, den sie in die Beziehung einbringt. Das Lösungskonzept ist nicht losgelöst vom Selbstkonzept der ratsuchenden Person zu denken. An dieser Stelle zeigt sich eine inhaltliche Nähe zur Analytik. Der PzA betrachtet die Hauptfigur in der Szene mit der Wahrnehmung dessen, wie es sich für diese anfühlt, dort zu sein und zu agieren. Die Seelsorgerin versucht in ihrer Verbalisierung nachzuvollziehen, warum die Person – nämlich ihrem Selbstkonzept entsprechend – sich so verhält. In dieser emotionalen Erschließung, dem Stehenbleiben bei dieser Szene kann die Person in sich andere, ersehnte Emotionen und Handlungsoptionen aufflackern fühlen. In der empathischen Begleitung durch die Seelsorgerin können diese von der ratsuchenden Person möglicherweise in dieser Szene in neue Handlungsoptionen und Lösungsstrategien münden, welche die ratsuchende Person dann in ihr Selbstkonzept integrieren kann. Damit gründen die Ressourcen nach dem PzA in der Person selbst; der syste­ mische Ansatz verortet diese hingegen auch im System. Mit dieser Perspektive der Ressourcensuche von der Person ausgehend geht die Problematik einher, dass der PzA die Ressourcen des Systems häufig erst in einem zweiten Schritt in den Blick nimmt. Die Differenz lässt sich begrifflich so beschreiben: Während der PzA die Personzentrierte Systemressource anstrebt, sieht die Systemik die Systemressource aus Perspektive der Person. Beide Ansätze verlaufen im Prozess ergebnissoffen. Autorin der eigenen Biografie und Deutungsgeber bleibt die ratsuchende Person bzw. die Klientin. Mit Blick auf die Fokussierung lässt sich festhalten, dass der systemische Ansatz die heilsame Dynamik von Systemen in den Vordergrund stellt. Der PzA verortet diese in der Person selbst und in ihrem inneren System; dem entspricht eine zurückhaltende Umgangsweise. Dem zielgerichteten Fragen in der Systemik als konstitutiver Bestandteil eines therapeutisch wirksamen Gesprächs steht das empathische Einfühlen und Mitschwingen im PzA, das sich in der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte artikuliert, gegenüber.

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Die Systemik fokussiert Lösungsstrategien, die im Prozess möglicherweise schneller gefunden werden können, sodass sich auch mit Blick auf die Geschwindigkeit und das Tempo eines Beratungs- oder Seelsorgeprozesses eine Differenz konstatieren lässt. Während der Prozess eines Personzentrierten Seelsorge- und Beratungsgesprächs auf den ersten Blick viel Zeit in Anspruch nimmt – das hängt hier ebenso wie bei der Systemik von der ratsuchenden Person ab –, wird umgekehrt die gefundene Lösungsstrategie in der Person nachhaltig verankert sein. Während der systemische Ansatz die Nachhaltigkeit in der System­ sensibilisierung verortet, vertraut der PzA auf die Selbstaktualisierungskraft der eigenen Ressourcen der Person, die sie über die Emotionen – als Sitz der Nachhaltigkeit – erschließt. Ob diese längerfristig wirken, ist im Einzelfall im höchsten Maße individuell von der ratsuchenden Person abhängig.

4  Fazit – ein gemeinsamer Voraus-Blick Der Dialog zwischen dem systemischen und Personzentrierten Ansatz erweist sich als fruchtbar, wenn beide Ansätze in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen werden. Zugleich haben sie einen gemeinsamen Referenzrahmen – gleichsam wie sie historisch in dem einen Bundesstaat vereint sind –, in dem sich das verbindende Potenzial zeigt: Beide Ansätze verbindet eine starke Ressourcenorientiertheit. Der Lösungsorientierung der Systemik entspricht die anthropologische Annahme der Vorwärtsgerichtetheit im PzA. Beide nehmen ihren Ausgangspunkt daher in der Gegenwart, die Vergangenheit kann nicht schwerpunktmäßig den Schlüssel der Lösung bieten. Zugleich ist es elementar, die Gegenwart als etwas Gewordenes zu begreifen, um die Substanzhaftigkeit des eigenen Seins im PzA bzw. die Lösungsstrategien im systemischen Ansatz zu verstehen. Es wird erkennbar, dass die Konvergenzen, die oben bereits aufgezeigt wurden, überwiegen und sich deshalb eine Auseinandersetzung mit der Systemik aus Sicht des PzA und auch umgekehrt sehr lohnt. Für die Systemik erscheint es fruchtbar, die Grundlage der Empathie weiter auszubauen und theoretisch zu reflektieren. Der Grundgedanke des PzA, dass diese erlernbar ist, gelernt werden muss und mit zu den anspruchsvollsten Haltungen gehört, eröffnet die Möglichkeit, sie als wesentliche Facette in Ausbildungseinheiten integrieren. Bei einer noch ausstehenden detaillierten Verhältnisbestimmung vom syste­ mischen Ansatz und PzA muss es grundlegend immer wieder darum gehen, den Dialog nicht auf praktische Methoden oder Wirkweisen zu beschränken. Vielmehr müssen die erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grund-

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annahmen durchsichtig und in ein gegenseitiges Verstehen gebracht werden (für den PzA bereits: S.-M. Kingreen, I.7). Phrasenhafte Containerbegriffe (wie z. B. »Seele«, »Identität« oder »Selbstkonzept«), deren Begründungsmuster und die dahinter­stehenden philosophischen und soziologischen Ideen gilt es zu erschließen und präzise zu klären. Ein solcher Dialog, der Freude an der gegenseitigen, differen­zierten Wahrnehmung hat, fördert letztendlich auch das Selbstverständnis des jeweiligen Ansatzes.

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Teil II

Personzentrierte Seelsorge und Beratung in den Institutionen

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 Zum Verständnis von Seelsorge in der katholischen Kirche – ein Blick zurück

Matthias Ball

Fragt man Theologiestudierende nach ihren Interessen im Blick auf einen pastoralen Beruf, so taucht in den Antworten immer wieder und relativ zentral die Aussage »ich will Seelsorger, Seelsorgerin sein« auf. Seelsorge scheint somit genau das zu sein, was sich die Menschen für ihre berufliche Tätigkeit erhoffen und wo sie ihre besonderen Chancen sehen, im Auftrag von Kirche tätig und damit auch wirksam sein zu können. Geht man auf die andere Seite und fragt Menschen, ganz unabhängig von ihrer Nähe oder Distanz zur Kirche, was sie denn von der Kirche erwarten und wofür aus ihrer Sicht Kirche wichtig ist, so taucht genau derselbe Begriff – nämlich Seelsorge – ebenso zentral in den Antworten auf. Wenn man so will, treffen sich im Wunsch nach Seelsorge – von der einen Seite her als Seelsorger tätig sein zu können und von der anderen Seite her Seelsorge erleben, empfangen zu können – beide Seiten, Anbieter wie Nutznießer. Gibt es an dieser Stelle also eine scheinbar selbst­verständliche Übereinstimmung, so lohnt es sich doch, einmal genauer zu fragen, was denn mög­licherweise beide Seiten unter diesem Begriff Seelsorge verstehen. Die Menschen erwarten dabei eine Dienstleistung, die darauf hinausläuft, dass in aus ihrer Sicht kritischen Situationen »jemand von Kirche« da ist. Dieses Dasein muss dann als hilfreich, tröstend, beruhigend, aufbauend, ermutigend erfahren werden. Die Kirche selbst versteht darunter ebenfalls eine Dienstleistung, allerdings mit bestimmten Spezifika. Dazu gehört, dass in dieser seelsorglichen Begegnung der menschenfreundliche Gott sowie das in Jesus Christus angebrochene Heil als hilfreiche Realität in der konkreten Lebenssituation des Menschen – zumindest ahnungsweise – erfahrbar wird. Im Hinblick auf die Menschen und ihre Erwartung auf Seelsorge gibt es innerhalb der katholischen Kirche kein so aussagekräftiges Instrument, wie es die evangelische Kirche seit Jahrzehnten kennt, nämlich die regelmäßigen Mitgliedschaftsstudien. An die Stelle solcher Kriterien für die Entwicklung des Verständnisses von Seelsorge rücken in der katholischen Kirche zentrale Versammlungen, bei denen die Kirchenleitung sich zu grundsätzlichen Fragen ver-

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bindlich geäußert hat. Teilweise sind diese Versammlungen oder verschiedene Dokumente ein Reflex auf gesellschaftliche Wahrnehmungen, wie sie in eher allgemeinen Studien festgestellt wurden. Bevor ich den Blick in die Geschichte und damit wichtige Dokumente vornehme, noch ein Hinweis zu der hier verwendeten Begrifflichkeit von Seelsorge. Anders als im evangelischen Kontext, in dem der Begriff vorrangig für die Begleitung Einzelner oder von Gruppen Verwendung findet, stehen im katholischen Verständnis die beiden Begriffe Seelsorge und Pastoral vielfach nebeneinander und werden zum Teil auch identisch benutzt. Im Blick auf den hier zu leistenden von exemplarischen Beispielen geprägten Überblick verstehe ich unter Pastoral das gesamte Handeln der Kirche, das sich darauf ausrichtet, die Grundbotschaft der Kirche in die heutige Zeit zu übersetzen und den Menschen unter heutigen Lebensbedingungen diese Botschaft zu vermitteln. Nachdem es in diesem Buch vorrangig auch um die Nähe von Seelsorge und Beratung geht, verstehe ich Seelsorge dann tatsächlich eher im engeren evangelischen Sinn als die Form, in der Menschen, vorrangig in der Beziehung von Seelsorgerin und Gläubigen, die Botschaft des Evangeliums als heil- und Trost bringend für ihr Leben eröffnet oder erschlossen wird.

1  Das Zweite Vatikanische Konzil – ein Paradigmenwechsel Sucht man in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) nach Aussagen zum Seelsorgeverständnis, so wird man so gut wie nicht fündig. Es scheint so zu sein, als ob eine zentrale kirchliche Aufgabe diesem so wegweisenden Konzil keine Silbe Wert ist. Dennoch hat dieses Konzil das Verständnis von Seelsorge so fundamental verändert, dass der Begriff Paradigmenwechsel seine Berechtigung hat. Dieser Paradigmenwechsel leitet sich daraus ab, dass dieses Konzil grundlegende Aussagen zur Kirche und ihrem Ort in der Welt, zu der Aufgabe von Kirche und dann auch zur Rolle von Laien und Priestern getroffen hat. Davon konnte das Verständnis von Seelsorge nicht unberührt bleiben. Um diese Verschiebung einordnen zu können, einige Hinweise zum Verständnis von Seelsorge vor dem Konzil. Die Leitidee bestand darin, die Welt und damit auch den Menschen als »heillos« anzusehen; die Welt war gleichsam »böse« und es bestand eine strikte Trennung von Welt und Heil. Gott hat sich aber dieser Welt zugewandt durch seinen Sohn Jesus Christus und für diese Welt das Heil gewirkt. Dieses Heil ist allerdings der Kirche gleichsam übertragen und kann nur durch die Kirche in diese Welt kommen und in dieser Welt

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wirksam werden. Der Gewährsmann für diese punktuellen Berührungen ist der Priester, der entweder das Wort Gottes verkündet oder die Heilsmittel, die Sakramente, spendet. Für die Kirche ergab sich daraus der Auftrag, sich ganz im Dienst an der Vermittlung des Heils an die ganze Welt und damit alle Menschen »aufzubrauchen«. Insofern ist die so bezeichnete Erfassungspastoral eine direkte Konsequenz aus diesem Grundverständnis. Im Unterschied dazu ist das Konzil von einem Heilsoptimismus geprägt, der davon ausgeht, dass die Welt als Schöpfung Gottes längst das Heil in sich trägt. Die Kirche verkündet somit ihre Botschaft von Gott Menschen gegenüber, denen sich der von der Kirche verkündete Gott längst aus eigener Freiheit zugewandt hat. Insofern begegnen sich Welt und Kirche auf Augenhöhe, denn nicht die Kirche ist für die Anwesenheit des Heils in der Welt zuständig, sondern Gott selbst. Seinen besonderen Ausdruck findet dieses Verständnis in der sogenannten Pastoralkonstitution, für die bereits der Titel bezeichnend ist: »Kirche in der Welt von heute«. Sie beginnt mit einer wunderbaren Aussage über diese Augenhöhe, wenn es heißt: »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi« (Art. 1). Neben diesem Kirche-Welt-Verständnis kommen noch weitere zentrale Verschiebungen hinzu. Dass sich die Kirche neu als Teil der Welt verstehen kann, hat auch mit ihrer in der »Konstitution über die Kirche« vorgenom­ menen Selbstrelativierung zu tun. Nicht mehr die Kirche – wie man vor dem Konzil zwar nicht direkt ausgesprochen, aber durchaus denken konnte –, sondern »Christus ist das Licht der Völker … Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« (Art. 1). Eine weitere Achsenverschiebung betrifft das Verständnis von Priestern und Gläu­ bigen. Nicht mehr ein Unterschied von oben und unten, gleichsam wie im Staat, bei dem die Bürger Untertanen einer Obrigkeit sind, sondern die Gleichheit aller ist entscheidend. Die gerade benannte Kirchenkonstitution geht in der Selbstdefinition von Kirche nämlich weiter und hebt zuerst das Volk Gottes mit dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen heraus, bevor die durchaus bestehenden Unterschiede zwischen Priestern und Laien benannt werden. Die zentrale Aussage jedoch heißt: »Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes…unterscheiden sich zwar dem Wesen nach und nicht bloß dem Grade. Dennoch sind sie einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priester­tum Christi teil« (Art. 10).

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2 Eine neue Theologie von Seelsorge – mit einem Schattendasein in kirchenamtlichen Dokumenten …

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Was bedeuten diese wenigen Aussagen für das Verständnis von Seelsorge? Entscheidend ist, dass sich das theologische Verständnis von Seelsorge verschoben hat. Seelsorge ist nicht länger ein Besitz oder ein Herrschaftsinstrument von besonders Beauftragten, sondern Seelsorge ist Auftrag der ganzen Kirche und jeder und jede nimmt auf seine oder ihre Weise daran Anteil. Dann ist Seelsorge nicht Versorgung oder Belehrung, sondern kann nur im Modus des Angebots, der Einladung, der Werbung für das in Christus angebrochene endgültige Heil für alle Menschen erfolgen. Seelsorge wird damit zu einem »mystagogischen Ereignis«. Das bedeutet, Seelsorge ist nichts anderes als das Bemühen, den Menschen in das Geheimnis seines Lebens hinzuführen, das ihn immer schon umfasst hat oder die aus dem Evangelium mögliche Erschließung der Situation, in der er oder sie sich befindet. Diese Erschließung ermöglicht einen Mehrwert ganz im Sinne des Johannesevangeliums, »ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10). Ganz im Sinne der Weltzugewandtheit von Kirche heißt es in der Pastoralkonstitution an einer der ganz wenigen Stellen, an denen sie sich zum Verständnis von Seelsorge äußert: »In der Seelsorge sollen nicht nur die theologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der profanen Wissenschaften, vor allem der Psychologie und der Soziologie, wirklich beachtet und angewandt werden« (Nr. 62). Weg von der römischen Perspektive und hin zur bundesrepublikanischen Situation gibt es ebenfalls ein zentrales Ereignis, das für das Verständnis von Seelsorge bedeutsam ist, die Gemeinsame Synode (1974–1976). Ziel dieser Synode war die Umsetzung und Übertragung der Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils auf die Situation der deutschen Kirche. Diesen Synodenberatungen voraus ging eine groß angelegte soziologische und sozialpsychologische Umfrage unter allen Katholiken über 16 Jahren über die gegenwärtige Situation der Kirche in Deutschland und über die wesentlichen Problemkomplexe zwischen Kirche und Gesellschaft. Zentrale Fragerichtung war in dieser Umfrage natürlich, inwieweit der Kirche noch eine gesellschaftliche Relevanz zukommt und wenn ja, welcher Art diese ist. Im Ergebnis bestätigt die Umfrage die in der Modernisierungsdebatte schon »gefühlte Realität«, dass nämlich angesichts der vielfältigen Sozialsysteme in einer pluralistischen Gesellschaft, die Kirche nur noch einen Faktor unter vielen darstellt. Dennoch gibt die Umfrage auch eine deutliche Antwort darauf, was die Menschen von der Kirche erwarten. Im Blick auf die zu erfüllenden Funktio-

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nen »gliedern sich die Antworten klar in zwei Faktoren auf: spiritueller und gesellschaftlicher Auftrag der Kirche« (Schmidtchen, 1972, S. 26). Gut verständlich ist dabei, dass für die der Kirche intensiv verbundenen Mitglieder die spirituelle Orientierung wichtiger ist. Ein eigenständiger Themenkomplex dieser Untersuchung war zudem die Rolle des Priesters. Hier sind die Antworten ebenfalls relativ eindeutig. Die wesentlichen Aufgaben des Priesters sind die Eucharistiefeier bzw. die Feier der Sakramente insgesamt – hier hat er ja ein Alleinstellungsmerkmal – sowie die persönliche Seelsorge. Dabei rangiert die Feier der Sakramente (65 %) nur unwesentlich höher als die persönliche Seelsorge (59 %; S. 126). Diese doppelte Wertschätzung gegenüber den Dienstleistungen von sakramentaler Feier und seelsorglichem Dienst wird auch an einer anderen Stelle mit gleichsam einer umgekehrten Fragestellung deutlich. Bei den Aufgaben, die unbedingt dem Priester vorbehalten bleiben sollen, rangieren wieder die Feier der Sakramente und die persönliche Seelsorge, die Seelsorge am Einzelnen auf den vorderen Plätzen. Schaut man sich die Zahlen dazu genauer an, sie sind in einer Darstellung nach Alterskohorten getrennt aufgeführt, so bekommt die persönliche Seelsorge bei den Jüngeren ein signifikant deutlicheres Gewicht. Geht man gute 30  Jahre weiter und versucht, aus der groß angelegten Sinus-Milieu-Studie Aspekte für die Frage nach der Bedeutung von Seelsorge im Leben der Menschen zu finden, so hilft diese Untersuchung nicht wirklich weiter. Wo Kirche immer größere Probleme hat, überhaupt wahrgenommen zu werden und sie dementsprechend an Bedeutung verliert, stellt sich die Frage nach der besonderen Dienstleistung Seelsorge nicht mehr. Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass die Milieus vielfältiger werden und dass gerade die katholische Kirche unter Milieuverengungen leidet. Andererseits gibt es dennoch in allen Milieus durchaus Erwartungen an die Kirche. Umgekehrt wird die Kirche kaum in der Lage sein, diesen differenzierten Erwartungen mit einem differenzierten Angebot zu entsprechen. Auf diese Untersuchung hin gab es kein offizielles Dokument der Kirchenleitung mehr, das man als Reaktion auf die in dieser Untersuchung fest­gestellten Ergebnisse bezeichnen kann. Das hat vorrangig damit zu tun, dass bereits im Jahr 2000 seitens der Deutschen Bischofskonferenz ein Text erschienen ist – »Zeit zur Aussaat« –, der mit dem Appell und Impuls für eine missionarisch ausgerichtete Kirche für die nächsten Jahre so wegweisend einzuschätzen war, dass es keiner eigenständigen Reaktion auf die Daten der Sinus-Studie bedurfte. Vielmehr haben die Daten dieser Studie die Notwendigkeit einer glaubwürdigen missionarischen Ausrichtung von Kirche nur bestätigt. Auf diesen Text »Zeit zur Aussaat« wird gleich noch einzugehen sein.

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So sehr diese wenigen »Probebohrungen« zu zentralen Ereignissen oder wichtigen Dokumenten gleichsam die Selbstverständlichkeit von Seelsorge voraussetzen, ohne sie explizit zu entfalten, so darf man daraus keineswegs den Schluss ziehen, das Thema »Seelsorge« sei der Kirche nicht wichtig. Als Beleg sei hier nur eine Aussage angeführt: »Seelsorge bleibt eine einzigartige, ja die erste und vornehmste Aufgabe der Kirche, die ihr von niemandem abgenommen werden kann. Ihre Sendung steht und fällt mit diesem Auftrag« (Lehmann, 1990, S. 52).

3 … und ausgeprägter Neugier und Vielfalt in der Pastoraltheologie

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So sehr man sich darüber wundern kann, dass gerade »die vornehmste Aufgabe der Kirche« in den kirchenamtlichen Dokumenten nicht besonders im Fokus steht, so wenig kann dann erstaunen, dass sich die theologischen Disziplinen, allen voran die Pastoraltheologie, dieses Themas angenommen haben. Wenn die kirchenamtlichen Vorgaben gleichsam nur die Bedeutung von Seelsorge herausheben, dann ist damit ja noch nichts über die inhaltliche Ausrichtung ausgesagt. Genau darum haben sich auf katholischer wie evangelischer Seite vielfältig Autorinnen und Autoren bemüht. Das spezifische Anliegen dabei war, nicht einseitig von der Theologie her den Seelsorgebegriff zu füllen. Wesentlich wichtiger wurde, dass Seelsorge verstanden wird als Brückenfunktion auf die Menschen hin, die – wie die Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ja zur Kenntnis genommen hat – mittlerweile in einer pluralistisch ausgerichteten Welt leben. Es kommt also darauf an, »dass seelsorgerliches Handeln unter den Rahmenbedingungen (post)moderner Wirklichkeit zum Indikator einer christlich motivierten zwischenmenschlichen Praxis wird, die sowohl kirchennahen als auch kirchenfernen Menschen die menschenfreundliche Absicht einer ganzheitlichen Sorge im Namen der christlichen Kirchen glaub-würdig macht. Glaubwürdigkeit aber ist heute nötiger als je zuvor, weil die Kirchen das Monopol auf Seelsorge längst verloren haben« (Nauer, 2001, S. 12).

In diesem Spannungsfeld von Evangelium einerseits und moderner Welt bzw. modernen Menschen andererseits, mit all seinen Formen von Kirchenmitgliedschaft bzw. Interesse an Kirche, wie es die unterschiedlichen soziologischen Studien zeigen, wurde der Versuch unternommen, den Seelsorgebegriff inhaltlich zu bestimmen. Im Rahmen dieser Versuche gab und gibt es auch das Bemühen, aus sehr unterschiedlichen Perspektiven zu sagen, wie sich Kirche heute auf-

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stellen und wie sie agieren muss, um mit der Botschaft des Evangeliums bei den Menschen anzukommen. Insofern gibt es vielfältige leitende Interessen, wenn Seelsorgekonzeptionen eher aus verkündigender, biblischer, therapeutischer, spiritueller, diakonischer, feministischer oder befreiungstheologischer Perspektive formuliert werden. Doris Nauer hat sich die Mühe gemacht, die Vielzahl solcher Konzeptionsentwürfe einmal in einer Zusammenschau zu präsentieren. In dieser Übersicht fällt auf, dass eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren mehr oder weniger starke Anleihen bei den Humanwissenschaften machen, allen voran den unterschiedlichen Therapieformen, die im Zuge der »human-relation-Bewegung« von Amerika nach Deutschland gekommen sind. Diese Anleihen sind gut verständlich, hat es doch in der Grundausrichtung der Seelsorge die wesentliche Verschiebung weg von der Belehrung hin zur aus dem Evangelium gestalteten Beziehung gegeben. Der Blick auf die aus dem Evangelium gestaltete Beziehung ist auch eine Wende innerhalb der Pastoral­theologie wie der praktischen Theologie insgesamt, für die sicherlich Joachim Scharfenberg ein wichtiger Protagonist war mit seinem 1972 erschienen Buch mit dem wegweisenden Titel »Seelsorge als Gespräch«. Die Untersuchung und Darstellung von mehr als 20 Seelsorgekonzeptionen von Doris Nauer zeigt, wie bedeutsam die inhaltliche Ausrichtung von Seelsorge als der Realisierung des Grundauftrags von Kirche ist. Insofern müssen beide Kirchen Wert darauflegen, dass Seelsorge weiterhin professionell und mit klaren konzeptionellen Über­legungen stattfindet. Angesichts der Vielfalt von Kontaktoptionen der Menschen braucht es auch eine Vielfalt im seelsorglichen Angebot. Letztlich wird es sich auch nicht vermeiden lassen, dass die unterschiedlichen Seelsorgeverständnisse wie sie von den handelnden Personen gelebt und gestaltet werden, auch ein mehr oder weniger implizites oder explizites Kirchenverständnis mittransportieren. Allen Ausprägungen gemeinsam wird aber bleiben, dass Seelsorge eine spezifische Form menschlicher Begegnung im Modus von Rat, Hilfe oder Trost ist, bei dem die Botschaft von einem Gott, der in Jesus Christus das Heil für den Menschen will und für immer gewirkt hat, Räume eröffnet, die die menschliche Begegnung allein nicht herstellen kann.

4 Interessante Fundstücke für eine attraktive Zukunft von Seelsorge Nachdem mit dem Konzil der Diskurs zwischen Kirche und Welt in Gang gekommen ist, gibt es seitens der Kirche sehr wohl eine Sensibilität für die Frage, wie das Evangelium dem Menschen von heute in guter Weise verkündet werden kann. Papst Paul VI. hat sich dieser Grundproblematik gestellt und zehn Jahre nach dem

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Konzil in seinem Schreiben Evangelii nuntiandi (EN) die weitere Entwicklung aufgegriffen. Ihn hat die Frage umgetrieben, ob das Konzil tatsächlich einen Beitrag dazu geleistet hat, »die Kirche des 20. Jahrhunderts besser zu befähigen, das Evangelium der Menschheit des 20. Jahrhunderts zu verkünden« (EN 2). Diese Frage hat für ihn deshalb Bedeutung, weil er gleichzeitig als zen­trale Wahrnehmung der Gegenwart und damit auch als zentrale Herausforderung für Kirche den »Bruch zwischen Evangelium und Kultur … als das Drama unserer Zeit­ epoche« bezeichnet (EN 20). Die Antwort auf diese Heraus­forderung kann dann nur heißen: Evangelisierung. Was meint aber nun Evan­gelisierung im Sinn von Papst Paul VI.? »Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität« (EN 14). Damit wird hier mit einem anderen Begriff – nämlich der Evangelisierung – genau das zum Ausdruck gebracht, was Karl Lehmann mit Seelsorge »als erster und vornehmster Aufgabe von Kirche« benannt hat. In diesem Sinn lohnt es sich, noch einige Aspekte aus dem Schreiben von Paul VI. im Sinne von Fundstücken für eine attraktive Seelsorge herauszuheben. Ganz im Sinne der Seelsorge­konzeptionen, die auf die Humanistische Psychologie zurückgreifen und ganz stark auf die Beziehung als dem zentralen Medium für die Seelsorge setzen, benennt Paul VI. eine Reihenfolge für die Schritte in der Evangelisierung: man geht immer von der Person aus, geht dann zu den Beziehungen der Personen untereinander und schreitet dann zu der Beziehung mit Gott fort (EN 20). Die Evangelisierung erfolgt somit in einer bestimmten Abfolge. Sie beginnt mit einem »Zeugnis ohne Worte«, das in den anderen Menschen unwider­ stehlich(e) Fragen auslöst. Zu diesem Zeugnis ohne Worte sind im Übrigen alle Christen befähigt und aufgerufen; insofern wird hier das vom Konzil wieder entdeckte gemeinsame Priestertum aller Gläubigen auf sehr nachdrückliche Weise bestätigt und herausgehoben. Dieses Zeugnis ohne Worte ist ein wichtiger erster Schritt, der dann seine Ergänzung im Zeugnis des Lebens findet. »Die Frohbotschaft, die durch das Zeugnis des Lebens verkündet wird, wird also früher oder später durch das Wort des Lebens verkündet werden müssen. Es gibt keine wirkliche Evangelisierung, wenn nicht der Name, die Lehre, das Leben, die Verheißungen, das Reich, das Geheimnis von Jesus von Nazareth, des Sohnes Gottes, verkündet werden« (EN 22).

Bemerkenswert an diesem zweiten Schritt ist der knappe Hinweis »früher oder später«. Wann der Zeitpunkt ist, dieses Zeugnis ohne Worte durch das Zeugnis des Lebens, die ausdrückliche Benennung des Evangeliums zu ergänzen, kann dann von mehreren Faktoren abhängen, vor allem von dem, der mir in der seelsorglichen Begegnung gegenübertritt. Es gibt also keine Eile. Vervollständigt werden

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die Schritte durch die »Zustimmung des Herzens«, das meint die Aufnahme des Wortes Gottes in das eigene Leben, den Eintritt in die Gemeinschaft der Gläubigen und den Empfang der Sakramente (EN 23). Nimmt man diese Schrittfolge – gerade auch in der Frage nach dem Tempo – als ein Modell für die seelsorgliche Begegnung, so kann sehr entlastend und wegweisend sein, dass die seelsorgliche Begegnung ihren Sinn auch dann erfüllt, selbst wenn es über einen längeren Zeitraum nur bei einem Zeugnis ohne Worte bleibt. Andersherum ist gerade dieses Zeugnis ohne Worte gleichsam ein Echtheitskriterium für die Seelsorge, denn warum soll ich der Botschaft einer Seelsorgerin glauben, wenn ich in ihrem Verhalten keinen Ansatzpunkt für die Frage finde, warum lebt dieser Christ so, wie er lebt, und was macht seinen Glauben denn wirklich aus? Auf dieses Echtheitskriterium der Glaubwürdigkeit macht Paul VI. nochmals ausdrücklich aufmerksam, wenn er davon spricht: »Der heutige Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind« (EN 41). Auf ein zweites Fundstück möchte ich zum Schluss noch hinweisen. Es ist ein Text aus dem Jahre 2000, der in ausdrücklicher Weise mit der Tatsache Ernst macht, dass Deutschland wieder ein Missionsland geworden ist. Der Text »Zeit zur Aussaat – Missionarisch Kirche sein« verdankt seine Entstehung zum einen einer reflektierten Erfahrung von zehn Jahren deutscher Wiedervereinigung und der Beobachtung, dass die Situation im Osten Deutschlands der im Westen durchaus vergleichbar ist – bezogen auf die Wirklichkeit der Rede von Gott und der Bekanntheit des Evangeliums. Was die religionssoziologischen Studien immer wieder zu erkennen gegeben haben oder was Paul VI. als »Bruch zwischen Evangelium und Kultur« bezeichnet hatte, ist jetzt in der deutschen Kirche in voller Realität angekommen und konnte benannt werden. Die Ernsthaftigkeit dieser Situation wurde sogar ökumenisch geteilt, denn seitens der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland gab es 1999 eine Studientagung, die das Stichwort »missionarisch« bereits im Titel trug: »Aufbruch zu einer missionarischen Ökumene. Ein Verständigungsprozess über die gemeinsame Aufgabe der Mission und Evangelisation in Deutschland«. Als Ergebnis dieser Diskussionen und vieler weiterer Versuche, der neuen Realität von Kirche in dieser Welt und Zeit gerecht zu werden, haben die deutschen Bischöfe dann ihren Text »Zeit zur Aussaat« verfasst. Interessanterweise greifen sie dabei auf den Text »Evangelii nuntiandi« von Paul VI. von 1975 zurück und übersetzen dieses weltkirchliche Dokument in die deutsche Situation. Der Text fügt dem Grundanliegen von »Evangelii nuntiandi« keine neuen Aspekte hinzu, sondern zieht einzelne Linien noch etwas deutlicher aus oder verknüpft die römisch-kirchenamtliche Sprache mit den pastoraltheologischen Herausforderungen hier.

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Matthias Ball

Welchen Stellenwert hat es, diese beiden Texte hier im Beitrag zu erwähnen? Das hat vor allem damit zu tun, weil mit dem Stichwort »Evangelisierung« und der Aussage »missionarisch« gleichsam zwei synonyme Begriffe in die Diskussion kommen, die nichts anderes beschreiben als das, was mit Seelsorge gemeint ist. Wenn man so will, ist spätestens ab dem Jahr 2000 so gut wie alles, was zum Handeln von Kirche gesagt und geschrieben wird, zu ihrem Angebot, zur Gestaltung der Beziehung von Kirche und Welt, von Entwicklung von Gemeinde oder zur Begegnung von Priestern und Gläubigen, ganz gleich ob kirchenverbunden oder als »treue Kirchenferne« wie es die EKD-Studie sagt, mit der Begrifflichkeit »missionarisch« versehen. Seelsorge ist zwar nach wie vor die »erste und vornehmste Aufgabe der Kirche« (K. Lehmann), aber sie ist Teil des missionarischen Handelns von Kirche bzw. geschieht gleichsam unter dem Radar der missionarischen Ausrichtung.

II 5 Was Seelsorge und Seelsorger auszeichnet Fasst man zusammen, was in den Dokumenten und dem pastoraltheologischen Diskurs geäußert wird, so lassen sich aus meiner Sicht ganz wenige grund­legende Aspekte für die Beziehungsgestaltung in der Seelsorge benennen. Dabei ist das Entscheidende weniger ein bestimmtes theologisches Wissen, das ich einbringe, oder eine bestimmte Technik, die ich z. B. in der Gesprächsführung erlerne und einübe, sondern es kommt in der Beziehung von Seelsorgerin und Gläubigem auf eine angemessene Haltung an: ȤȤ In der Seelsorge weiß ich darum, dass ich eine Stimme unter vielen bin, die nicht schon durch ihr Vorhandensein einen Anspruch auf Gehör hat. ȤȤ In der Seelsorge komme ich nicht in der Haltung des Wissenden, sondern ebenso wie mein Gegenüber als Suchender, mit Neugier auf das Evangelium oder im Modus des Angebots. ȤȤ In der Seelsorge bin ich zunächst der, der durch sein Leben Fragen auslöst, die die Begegnung interessant machen und den Anderen einladen, mit mir in den Dialog zu treten. ȤȤ In der Seelsorge bin ich sprach- und auskunftsfähig, ja sogar bereit dazu, denn ohne ein Zeugnis des Wortes bleibt das Zeugnis des Lebens »unverständlich«. ȤȤ In der Seelsorge spreche ich mit demütigem Selbstbewusstsein, denn nicht ich bringe Gott in das Leben des anderen, sondern er hat dort längst seinen Platz eingenommen. ȤȤ In der Seelsorge spreche ich authentisch und glaubwürdig von dem, was ich in meinem Leben an Gottesspur entdeckt habe.

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Wenn Seelsorge in dieser Haltung geschieht, dann ist sie auf gutem Weg, sowohl evangelisierend im Sinne von Paul VI. oder missionarisch im Sinne des Wortes der deutschen Bischöfe. Wie mein seelsorgliches Bemühen angenommen wird, ist dann nicht nur von mir abhängig, sondern das entscheidet der andere mit. Am Ende wird es in der Frage, wie wirksam Seelsorge als ein spezifisch christlich-kirchliches Beziehungsgeschehen sein kann, wohl eine ähnliche Antwort geben, wie es für die Wirksamkeit von Beratung schon länger bekannt ist. Entscheidend ist die »therapeutische bzw. pastorale Allianz«, bei der die Gläubige von der Kompetenz des Seelsorgers überzeugt ist. Umgekehrt ist der Seelsorger davon überzeugt, dass er der anderen helfen kann, dass ein Leben unter dem Zuspruch und Anspruch Gottes gelingt. Und letztlich sind beide davon überzeugt, dass Gottes Geist in ihrem Beisammensein wirksam ist.

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  Seelsorge in der protestantischen Kirche

Christiane Burbach

1  Seelsorge – Herzstück protestantischer Freiheit und Verantwortung

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Die Seelsorge hat in der lutherischen Kirche den Rang eines Herzstücks. Die lutherische Reformation selbst wurde 1518 in dem berühmt gewordenen Brief Luthers an Erzbischof Albrecht von Mainz vom 31. Oktober initiiert als Rettungsaktion der belasteten und theologisch fehlgeleiteten Gewissen. »Dabei klage ich nicht so sehr das Ausschreien der Ablaßprediger an, das ich nicht gehört habe, sondern ich bin schmerzlich besorgt über die überaus falschen Anschauungen des Volkes, die aus dem entstehen, was man überall und allerorts im Munde führt: etwa, daß die unglücklichen Seelen glauben, daß sie, wenn sie die Ablaßbriefe gekauft hätten, ihres Heiles sicher sind; desgleichen, daß die Seelen sofort aus dem Fegefeuer herausfliegen, sobald sie ihren Betrag in den Kasten gelegt haben; ferner, daß diese Gnaden so stark sind, daß keine Sünde so groß sei, als daß sie nicht erlassen werden könnte; […] daß der Mensche durch diese Ablässe von jeder Strafe und Schuld frei sei. Ach, lieber Gott, so werden die Eurer Sorge anvertrauten Menschen zum Tode unterwiesen! Und es entsteht und erwächst die härteste Rechenschaft, die Dir für all diese abzulegen ist.« (WABr 1,108 ff.)

Luther hat die Wirkung der Ablasspredigten auf die Seelen derjenigen wahrgenommen, die ihm in Beichte und Kommunion vertrauten und ihm anvertraut waren. Nicht nur diesen Brief jedoch hat Luther im Interesse der Seelsorge geschrieben. Seine Predigten, weiteren Briefe und Tischreden sind voller Beispiele seines seelsorglichen Engagements (Schütz, 1977, S. 10). Der Theologieprofessor und Disputator war im Sinne der cura animarum specialis an Krankenbetten anzutreffen, war als Briefseelsorger vielen ratlosen, lebensmüden und trostbedürftigen Menschen mit seinen Gedanken und Worten nahe (Möller, 1995, S. 28 ff.).

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Er selbst hat gegen den Rat seines Kurfürsten Wittenberg 1527 in der Pestzeit nicht verlassen, um die Kranken und Sterbenden nicht im Stich zu lassen, ganz nach der Maßgabe, die er Johann Heß in Breslau schrieb, dass ein Pfarrer vor der Pest genauso wenig fliehen dürfe wie vor einem Brand in des Nachbars Haus (Schütz, 1977, S. 10). Dass der gute Hirte seine Schafe nicht verlässt, sondern gegebenenfalls sein Leben für sie lässt, geht zurück auf das Wort des johanneischen Jesus in Joh 10,11 f. Eine solche Haltung gehört zum Ethos bischöflicher und kirchenleitender Existenz. Diese Haltung gewann in den Zeiten der Alten Kirche während der gegen Christen gerichteten kaiserlichen Maßnahmen an hoher Bedeutung. Für Cyprian von Karthago, der sich als junger Bischof auf dem Land versteckt hatte und seine Gemeindeglieder im brieflichen Kontakt begleiten wollte (Cypr., Epist. 20), bevor die gegen Christen gerichteten Maßnahmen Kaiser Decius’ 249 ihn treffen konnten, war diese Entscheidung folgenschwer. Sein Ansehen und seine Autorität als Bischof wurden in Frage gestellt und seine weitere Amtszeit war von Schwierigkeiten und Misstrauen gekennzeichnet. Obwohl Cyprian auf diese Weise zwei Mal den kaiserlichen Maßnahmen entkam, starb er am Ende auch den Märtyrer-Tod während der Amtszeit Kaiser Valerians (14.9.258). In Rom wurden bereits am 6.8.258 Bischof Sixtus II. zusammen mit vier Diakonen getötet (Cypr., Epist. 80, 1). Valerian verfolgte die Strategie, die Bischöfe und Archi-Diakone besonders hart zu bestrafen, um die Spitzen der christlichen Gemeinden zu treffen. Eine »kopflose« Gemeinde, schien leichter zu zerstreuen zu sein. Ähnlich lassen sich auch frühere lokale Verfolgungen z. B. für die große christliche Gemeinde in Lyon nachweisen (177 n. Chr.), während derer Bischof Photinus bei seiner Gemeinde geblieben ist, den Tod eines Märtyrers auf sich genommen und seine Glaubensgeschwister in dieser Zeit durch seine Präsenz bis zum Tod gefestigt hat. Vettius Epagathus, der das Martyrium mit ihm erlitt, wird im Brief, den die überlebenden Christen verfassten, sogar als »Tröster der Christen« bezeichnet (Eus., Hist. Eccl. 5,1,1 ff., dazu auch Wischmeyer u. Seeliger, 2015, S. 47–86).

Wenige Stunden vor seinem historischen Auftritt am 17. April 1521 vor dem Reichstag in Worms besuchte Luther den Ritter Hans von Minckwitz auf seinem Krankenlager, um seine Beichte zu hören und ihm das Abendmahl zu reichen. Bevor er Worms verließ, besuchte er ihn noch einmal (Schütz, 1977, S. 10). Viele weitere Zeugnisse von Luthers umfänglichem seelsorglichen Tun wurden gesammelt, kommentiert und dokumentiert, sodass Ch. Möller zu Recht feststellt: »Seelsorge ist kein Teilaspekt, sondern Grunddimension in Martin Luthers Leben und Wirken.« (Möller, 1995, S. 25) Diese Auffassung teilt er mit einer ganzen Reihe herausragender Lutherforscher.

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Die pastorale Existenz Luthers war offensichtlich von der Haltung geprägt, dort hinzugehen und dort auszuhalten, wo andere sich zurückzogen. – Die hohe Bedeutung der Seelsorge schon am Beginn der evangelischen Kirche ist jedoch nicht nur auf Luther beschränkt. Viele weitere Zeugnisse mutiger Seelsorge und tatkräftigen diakonischen Handelns ist bei Katharina Zell, der Laientheologin und Ehefrau des Straßburger Reformators zu finden: Sie beherbergte u. a. 1523 vier Wochen lang zwischen 50 und 80 der 150 Flüchtlinge aus Kenzingen in ihrem Pfarrhaus (Mager, 1998, Sp. 381 ff.; Domröse, 2010, S. 50). Sie redete mit den Bauern, die sich bereits zum Kampf versammelt hatten. Nach dem Scherweiler Massaker, dem 3000 Bauern zum Opfer fielen, flüchteten die Frauen und Kinder nach Straßburg. Katharina kümmerte sich darum, dass sie im leer stehenden Franziskanerkloster unterkamen (Domröse, 2010, S. 51; Schenk, 2017). Sie sammelte bei den begüterten Bürgern Straßburgs Spenden für den Lebensunterhalt dieser Frauen und Kinder, bis diese die Stadt nach einem halben Jahr wieder verlassen konnten. Sie besuchte unerschrocken Pestkranke und wohnte 1555 sogar mit Pestkranken zusammen. Sie stand zum Tode Verurteilten seelsorglich bei. Sie besuchte 1558 den leprakranken Felix Armbruster (Mager, 1998, Sp. 382; auch im Folgenden). Sie schrieb den Kenzinger Flüchtlingen 1524 einen Trostbrief, für Felix Armbruster eine Auslegung des 51. Psalms sowie eine Vaterunserparaphrase und zeigte ihr Mitgefühl für die Situation dieser Menschen. Schließlich hielt sie, selbst schon schwer krank, der Schwenckfeldanhängerin Elisabeth Heckler 1562 die Totenrede. Die männlichen Geistlichen hatten es nicht gewagt, sie zur letzten Ruhe zu geleiten. Die eindrucksvolle Seelsorge in Wort und Tat dieser beiden bekannten Personen der Reformation zeigt die hohe Verantwortung, mit der sie Menschen in seelischer, körperlicher und materieller Not begegnet sind und offenbart die persönliche Freiheit und ihr persönliches Engagement. Niemand, außer dem eigenen Gewissen, hat sie zu diesem außergewöhnlichen Handeln genötigt.

2  S  eelsorge – die verschwiegenste Zuwendung zum Menschen Die Seelsorge ist unter allen kommunikativen Formen der Kirche die verschwiegenste. Der Gottesdienst ist mit Wort und Sakrament die öffentliche Verkündigung des Wortes Gottes, der kirchliche Unterricht findet semi-öffentlich in Gruppen statt. Seelsorge hingegen findet schwerpunktmäßig unter vier Augen statt und ist geschützt durch das Seelsorge- und Beichtgeheimnis (Ev.: SeelGG 2009; kath.: Can. 983 § 1 CIC 1983).

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Es ist das Individuum mit seinen Fragen, seinem Leben, seiner Biografie, seinen vielfältigen Beziehungen, seinen Erfahrungen, seinen Werten, seinem Glauben und Zweifeln, dem sich die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Seelsorgerin widmet. Diese Verschwiegenheit, Individualität und Exklusivität verpflichtet die Kirche und ihre Seelsorgenden zu besonderer Sorgfalt und Qualität. Kann im öffentlichen Raum damit gerechnet werden, dass die Sozialkontrolle greift und eventuellen Fehlentwicklungen entgegenwirkt, so gilt für die Seelsorge, dass ihre Qualitätssicherung in der Ausbildung der Seelsorgenden, dem klaren Auftrag und der Supervision begründet liegt. Auch oder vielleicht gerade, weil Seelsorgende eine hohe Verantwortung haben, ist die Seelsorge ein Arbeitsfeld, dem die Kirchenmitglieder eine hohe Wertschätzung entgegenbringen.

3  Akzeptanz der Seelsorge Die kirchensoziologischen Studien zeigen, dass die Zustimmung der Kirchenmitglieder zur Seelsorge hoch ist. In der ersten Mitgliedschaftsstudie »Wie stabil ist die Kirche?« liegt die Zustimmung zu diesem Arbeitsfeld bei 30 % und zu 61 % sind die Befragten der Auffassung, dass auf diesem Gebiet die Aktivität gesteigert werden sollte (Hild, 1974, S. 210 ff.). Dieses Bild wird noch deutlicher durch die entsprechende Statistik von 1984. Hier vertreten 69 % der Befragten die Meinung, dass die Kirche ihre Aktivität auf diesem Gebiet steigern sollte, 25 % halten sie für angemessen und nur 5 % denken, dass sie reduziert werden sollte (Hanselmann, Hild u. Lohse, 1984, S. 123). Die neueste Mitgliedschaftsuntersuchung »Engagement und Indifferenz« fragt sogar nach Seelsorgegesprächen, die stattgefunden haben, z. B. bei den sehr und ziemlich verbundenen Kirchenmitgliedern. Danach ist Seelsorge zwar gegenüber dem Kontakt der Gemeindemitglieder mit Pfarrern und Pastorinnen gegenüber dem in Gottesdiensten (83 %) und bei Kasualien (52 %) von geringerer Bedeutung, hat aber mit 11 % doch einen sehr hohen Stellenwert (Hermelink, Lisowski u. Grubauer, 2012, S. 98). Mit 11 % der sehr oder ziemlich Verbundenen ein Seelsorgegespräch geführt zu haben, bedeutet eine beträchtliche Anzahl an Gesprächen pro Jahr, wenn man von 4 000 Gemeindemitgliedern ausgeht, von denen sich 43 % dieser Bezugsgröße zuordnen. Der Wertschätzung von Seelsorge aufseiten der Kirchenmitglieder entspricht die Bedeutung, die sie für die Theologinnen und Theologen hat. Untersuchungen aus den 70er- und den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts zeigen, dass die prioritäre Berufsmotivation zum Pfarrberuf in dem Wunsch

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begründet ist, zu helfen und sozial zu handeln, gefolgt von missionarischen und Selbstverwirklichungszielen (Riess, 1986, S. 195). Helfen ist hier ein Aspekt der Seelsorge. Die neue, noch in Arbeit befindliche Untersuchung von Maximilian Baden zeigt, dass heutige Studierende, die mit dem Theologiestudium begonnen haben, nach ihrem Berufsbild gefragt, das zu ihnen passt, das Bild des Seelsorgers priorisieren, gefolgt von dem Bild »Begleiter*in von Lebenswegen« (Baden, 2017, S. 6). Mehr als zwei Drittel derer, die geantwortet haben, nennen »Seelsorger*in« als den passenden Beruf. Mehr als die Hälfte erkennt in der »Begleiter*in von Lebenswegen« ihr berufliches Leitbild. Die Studienanfänger*innen wurden auch danach gefragt, welche pfarramtliche Tätigkeit für sie besonders reizvoll ist. Hier liegt »Seelsorge und Lebensbegleitung« wiederum an der Spitze (S. 7). Seelsorger oder Seelsorgerin zu sein ist schwerpunktmäßig das Leitbild der meisten Theologiestudierenden und das Hauptziel ihres vielfältigen und komplexen Studiums und des langen Lernprozesses, in dem sie unterwegs sind. Tatsächlich scheint Seelsorge auch in der Vorstellung der jungen Menschen, die auf kirchliche Ämter zugehen, die Kernaufgabe der Kirche zu sein, wobei hier die Nähe zu den Menschen, der direkte Kontakt zu ihnen und auch die Kontinuität dieser Kommunikation als Begleitung eine bedeutende Rolle zu spielen scheinen. Individuelle Kommunikation mit Einzelnen und bedeutungsvolle Begleitung des Lebens anderer gehören zu den heutigen Kennzeichen der von jungen Menschen angestrebten Seelsorge, während in den 80er-Jahren möglicherweise das helfende und soziale Handeln stärker akzentuiert wurde. In jedem Fall verweisen beide Tendenzen auf die Priorität persönlichen Engagements und Interesses an anderen Menschen.

4  Impulse der Seelsorgebewegung Mit der Einsicht in die Notwendigkeit, Menschen als lebendige Individuen zu verstehen mit je besonderen Wahrnehmungsweisen, Charaktereigenschaften und Erfahrungen, einer Biografie, einer Familiengeschichte, mit einer Heimat in gesellschaftlichen Kontexten, mit einer charakteristischen Frömmigkeit, mit prägender Berufserfahrung und vielem anderen mehr, entstand ein wesentlicher hermeneutischer Impuls. Einer der Männer, der die Initialzündung zur Neuorientierung der Seelsorge nach dem Zweiten Weltkrieg gab, war Anton Boisen mit seinem Votum: Es komme darauf an, nicht historische Dokumente, sondern »living human documents« zu verstehen (Asquith, o J., S. 87; Stollberg, 1972, Vorwort, S. 7). Damit war für die Seelsorge ein deutlicher Impuls gesetzt, Menschen

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nicht mehr mithilfe von Applikation theologischer, dogmatischer Begriffe auf ihre Existenz zu verstehen. Vielmehr galt es genau wahrzunehmen, wie sie sich selbst verstehen, welchen Erfahrungen sie für ihr Leben Relevanz einräumen, welche Erfahrungen sie evtl. auch übersehen haben, obwohl sie relevant sind. In den USA und den Niederlanden hatte man schon in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts damit begonnen. Mit dem Boisen’schen Votum und weiteren griffigen Formulierungen hielt die Seelsorgebewegung auch in Deutschland Einzug. Nicht, dass es keine Entwürfe gegeben hätte im Bereich der deutschsprachigen Theologie, Religionsphilosophie und Pastoralpsychologie. Im Gegenteil: Ihre Gedanken und Perspektiven sind mehrfach nachgezeichnet worden (besonders umfangreich: Winkler, 2000, S. 162 ff.; dann auch z. B. Schütz, 1977, S. 57 ff.; Jochheim, 1989). Was wahrscheinlich an der amerikanischen und niederländischen Seelsorgebewegung so überzeugend wirkte, ist, dass es sich hier nicht vor allem um eine akademisch geprägte Intervention handelt, sondern um eine Praxisbewegung von »unten«, die mit Praxiserfahrungen, Supervision dieser Praxis, Fallbesprechungen, Selbsterfahrung, Gruppenerfahrungen, Reflexion und dann auch mit der Reformulierung theologischer Topoi die theologische Szene betrat. Seelsorge wendete sich dem Counseling, der Lebensberatung zu (Stollberg, 1972, S. 161ff auch im Folgenden). In diesem Zusammenhang wurde seit 1942 auch Rogers rezipiert und er gewann Einfluss auf die Seelsorgebewegung. Diese pragmatisch-empirisch gestützte Seelsorgebewegung erzeugte auch in Deutschland ab den späten 60er-Jahren einen großen Aufbruch. Dieser war mit erheblichem persönlichem Einsatz der Einzelnen verbunden, die Verantwortung für ihre eigene pastorale Existenz und Kompetenz übernahmen und sich auf den Weg machten zu pastoralpsychologischem Lernen und dann auch Lehren. Die Erfahrung positiver Feedbacks auf die neue Art der Seelsorgepraxis förderte die Erfahrung der Wirksamkeit der Theologen. Gleichzeitig war diese Bewegung davon geprägt, das Risiko einzugehen, die eigenen Positionen zu hinterfragen, sein Gewordensein wie auch die eigenen Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen kennenzulernen. Eine hohe Bereitschaft, sich zu riskieren und seine Kompetenz zu erweitern, gehörte zum Programm dieser Bewegung. Von großer Bedeutung war auch, dass die Humanwissenschaften wie Psychologie und zunehmend auch die Soziologie, jedoch auch die verschiedenen Therapieansätze zu Gesprächspartnerinnen der Seelsorge und der Praktischen Theologie wurden. Zunehmend konnten auch die Kirchenleitungen davon überzeugt werden, dass die Seelsorgebewegung einen wichtigen Impuls für die Kirchen darstellt. Teilweise wurde ihr auch aus Angst vor Überfremdung der Theologie und Kirche Widerstand entgegengesetzt.

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Im Ganzen wirkte sich die Seelsorgebewegung sowohl auf das Theologiestudium als auch auf die Kirche aus. Heute hat sich meist die Einsicht durchgesetzt, dass die Wahrnehmung einer qualitativ verantwortungsvollen Seelsorge einer entsprechenden Fort- oder Weiterbildung bedarf. So vertritt es z. B. das EKD Seelsorgegesetz (SeelGG 2009, § 4).

5  Seelsorge – viele Gesichter in den Lebensbereichen der Menschen

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Die Seelsorge erreicht die Menschen inzwischen in sehr vielen Lebenssituationen. Die Seelsorge im Kontext der Gemeindearbeit und der Kasualien erreicht die Menschen mit ihren Familien und Freunden bei der Geburt von Kindern, die getauft werden sollen, bei Konfirmationen, Eheschließungen, Ehejubiläen, schließlich auch bei Beerdigungen. Im ländlichen Bereich ist hier tatsächlich die von Studierenden angestrebte Lebensbegleitung eine häufige Erfahrung. Die Seelsorgerin kennt schon die Großeltern, die ihre Goldene Hochzeit gefeiert haben, die Eltern als Eltern von Konfirmandinnen, als Paten, als Silberhochzeitfeiernde, die Enkelkinder als Kindergottesdienstkinder und Konfirmanden. Sehr leicht sind hier weitere Herausforderungen zu bearbeiten: Kann das junge Paar, das ein Kind erwartet, die geplante Hochzeit feiern, obwohl nun der Großvater in der letzten Woche gestorben ist, oder muss alles abgesagt werden? Freude und Trauer, Normen, die zwar ernst genommen werden, aber nicht zusammenpassen, sind mit den Menschen zu reflektieren. Was hätte der Großvater gesagt, wenn man ihn gefragt hätte? Sehen sich das Paar und seine Angehörigen und Freunde in der Lage zu feiern, ist es möglich, die Dankbarkeit über die Bedeutung des Großvaters in das Hochzeitsfest zu integrieren oder ist da zunächst noch eine Menge innerer Arbeit notwendig, vielleicht auch Abstand zu gewinnen, bis man sich für den Segen und die Feier der neuen Familienkonstellation öffnen kann? Also lieber nur eine standesamtliche Trauung und die kirchliche dann später, evtl. zusammen mit der Taufe des Kindes? Andererseits: Ist der göttliche Segen nicht immer lebensstiftend? Lohnt es sich evtl. doch, sich von den inneren Idealbildern zu befreien, unter welchen Umständen eine Hochzeit gefeiert werden sollte? Oder ist es der Enkelin doch unmöglich, selbst glücklich »Ja« zu sagen, während die Tränen der Großmutter eben nicht nur Freudentränen sind, sondern solche, die ihren Grund darin haben, dass der Großmutter und ihren Kindern noch einmal bewusst wird, was die Formel »bis dass der Tod euch scheidet« existenziell bedeutet?

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Hier kann ein Seelsorger eine wichtige Begleitung sein, wahrnehmen, was gesagt wird und was ungesagt bleibt, aber besser doch ins Bewusstsein treten sollte, wer in der Familie am stärksten seine Anliegen einbringt und wessen Gefühle und Gedanken leicht in den Hintergrund gedrängt werden, aber dennoch wirksam bleiben. Er könnte die Anliegen aller Beteiligten zunächst in die gemeinsamen Überlegungen einbeziehen, um einen Kompromiss zu finden, mit dem möglichst alle ihren Frieden finden. Den Mix aus Werten, die im Lebensumfeld, im Milieu, hohe Bedeutung haben, Familientraditionen, Vorstellungen von Modernität, inneren Bildern, wie etwas sein sollte, Gefühlen, Idealen, theologischen Vorstellungen und christlicher Freiheit und Verantwortung gemeinsam mit den Menschen, um deren Leben es geht, zu einer guten Gestalt zu verhelfen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Seelsorge geht jedoch auch den Menschen nach, deren Leben von horizontaler Mobilität, vertikaler Flexibilität, wechselnden Lebenssituationen und Konstellationen stark betroffen ist und die existenzielle Fragen haben. An den großen Knotenpunkten globaler Mobilität ist Seelsorge – zumindest in Deutschland – sehr oft in guter ökumenischer Kooperation präsent: in der Flughafen-, der Kreuzfahrt- und der Bahnhofsseelsorge. An den Stellen, an denen die Grenzerfahrungen des Lebens mitten in den Alltag hineinragen, öffentlich z. B. auf der Autobahn nach einem schlimmen Verkehrsunfall oder verborgen zu Hause bei einem plötzlichen Kindstod oder tödlichem Herzinfarkt, ist die Notfallseelsorge präsent. Auch an anderen Orten der Grenzerfahrung ist Seelsorge präsent: z. B. im Krankenhaus, im Hospiz, in Senioreneinrichtungen, im Gefängnis, bei der Feuerwehr und Polizei, dem Militär. Seelsorge sucht die Kommunikation mit schwerhörigen, blinden und sehbehinderten Menschen. Felder besonderer Kommunikation sind die Telefon- und die Chatseelsorge. Zu den besonderen Orten gehört auch die Zirkus- und Schaustellerseelsorge, die mit Menschen das Gespräch sucht, die zu besonderen Zeiten und Gelegenheiten angesprochen werden möchten. Schließlich ist Seelsorge auch an den Urlaubsorten, auf Camping­ plätzen präsent, um mit Menschen zu sprechen und Gottesdienste zu feiern.

6  Seelsorge als Leuchtfeuer und Muttersprache der Kirche Seit ca. zehn Jahren ist die protestantische Kirche auf EKD-Ebene darum bemüht, die seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen Früchte der Seelsorge­ bewegung zu sichten, zu würdigen und sich auf den Weg zu machen, diese angesichts der zu erwartenden Herausforderungen noch stärker durch Standards öffentlichkeitswirksam zur Geltung zu bringen. Das ist ein bemerkenswerter

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Schritt von der initialen Bewegung, der dann folgenden Teilinstitutionalisierung zur nun vollständigen Institutionalisierung dieser kirchlichen Kernkompetenz. Das 2006 verabschiedete und seither viel diskutierte EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit«, das eine Bestandsaufnahme über den gegenwärtigen Zustand der Ev. Kirche in Deutschland zeigt, gesellschaftliche und kirchensoziologische Veränderungen beschreibt und den daraus resultierenden Herausforderungen zu begegnen sucht, formuliert zwölf Leuchtfeuer für das Jahr 2030. Zum ersten Leuchtfeuer kirchlicher Kernangebote zählt neben Gottesdienst und Amtshandlung auch die Seelsorge.

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»Auf Gott vertrauen und das Leben gestalten – den Menschen geistliche Heimat geben. Im Jahre 2030 ist die evangelische Kirche nahe bei den Menschen. Sie bietet Heimat und Identität an für die Glaubenden und ist ein zuverlässiger Lebensbegleiter für alle, die dies wünschen. Ein vergleichbares Anspruchs- und Qualitätsniveau in allen geistlichen und seelsorglichen Kernvollzügen zeichnet die Erkennbarkeit und Beheimatungskraft der evangelischen Kirche aus.« (S. 49)

Beheimatungskraft und Qualität werden in engem Konnex gesehen. Der Einsicht in die Notwendigkeit qualitativ hochwertiger Seelsorgeausbildung wird hier auf EKD-Ebene hohe Bedeutung beigelegt. Begegnungsfähigkeit, kommunikative Kompetenz, zwischenmenschliche und theologische Sprachfähigkeit, Situations- und Gestaltungsfähigkeit gehören zu den Qualitäten, die Menschen im kirchlichen Dienst, die seelsorglich tätig sind, elaborieren sollten. Dies alles und vieles mehr sind Anliegen, mit denen die verschiedenen Generationen und Sektionen der Seelsorgebewegung zuvor an Kirchenleitungen herangetreten waren, um eine moderne, methodisch verantwortete Seelsorge in Gemeinde, Diakonie und den verschiedenen Feldern wie z. B. Krankenhaus, Gefängnis oder Altenheim zu etablieren. Sie hatten sich auf den Weg gemacht, im Namen christlicher Freiheit, Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit eine das Individuum und seine Anliegen ernst nehmende Seelsorge zu entdecken, erlernen und zu praktizieren. Diese Anliegen zu vertreten war häufig nicht einfach, wurden doch den entsprechenden Vertreter vonseiten der Kirchenleitungen immer wieder die Ressourcen an Zeit und Geld, die solche Ausbildungen benö­ tigen, vorgehalten (vgl. die verschiedenen Beiträge in Grenz-Gang-­Kompetenzen, WzM 2014/4). Auch die Sorge, dass Theologie und Verkündigung »psycho­ logisiert« und verfremdet werden könnten, kam sehr lange nicht zur Ruhe. Nun, im Impulspapier »Kirche der Freiheit«, kommt die Seelsorge als Bereich in den Blick, der sich eignet, Kirchenbindung zu produzieren. Beheimatung und Identitätsbildung soll sie bewirken. Und ihre Qualität soll feststellbar, messbar

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werden. Eventuell sind hier die Forderungen an die Seelsorgerinnen doch etwas zu forsch formuliert. Bei bester Ausbildung und hervorragender Tagesform entgeht ein Seelsorgegespräch nie der Unverfügbarkeit. Eine Funktiona­lisierung für ambitionierte Organisationsziele kann leicht eine kontraproduktive Wirkung erzielen (Hermelink, 2007, S. 51 spricht sogar von Domestizierung der pastoralen Individualität). Im Prozess der Institutionalisierung wird erkennbar, was mit dem ursprünglichen Aufbruchpotenzial, hier der Seelsorgebewegung, geschieht: Es tritt nun als Forderung der kirchlichen Hierarchien an den einzelnen Seelsorger heran. Was begonnen hat als Hermeneutik des Verständnisses je Einzelner, als Aufwertung der Dignität des Individuums, kommt jetzt als Kriterium zur Selbsterhaltung und Stabilisierung der Kirche daher. Beheimatung und Identität sollen die kirchlichen Felder, auch die Seelsorge, bewirken. Ihre christliche Identität zu finden und die Ermöglichung, diese für sich zu formulieren (persönlichkeitsspezifisches Credo), waren u. a. Ziele der Aufbruchsjahre (Winkler, 1982). Identität zu geben, wird nun zur Gestaltungsaufgabe der Seelsorge. Dasselbe gilt für Heimat: Sie soll zu Beheimatung beitragen. Hermelink machte bereits darauf aufmerksam, dass eine geistliche Heimat unverfügbar ist und sich nicht herstellen lässt (Hermelink, 2007, S. 54). Sie ist, in der Sprache der Theologie ausgedrückt, Gottes Werk. Dass jedoch Heimatfinden in bestimmten Glaubens­bildern und Symbolen, wenn auch evtl. für eine gewisse Zeit, etwas war, das öfter bei Menschen in der Seelsorge zu erleben war, hat die Seelsorgenden mit Dankbarkeit und Freude erfüllt. Nun soll Beheimatung jedoch operationalisiert und intentional realisiert werden. War sie zur Zeit der Bewegung ein Kind der Freiheit, so soll sie im Horizont der »Kirche der Freiheit« zum organisationalen Ziel werden. Dass Institutionalisierung immer auch die Seite der Normierung und Verzweckung hat, dass dies der Preis der Zugehörigkeit zum System ist, ist bekannt. Meist steht der angenehme Teil der Institutionalisierung stärker im Vordergrund: z. B. Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit, Einsparen der Kräfte zur Rechtfertigung und Legitimation zugunsten der direkten Arbeit. Hier wird jedoch sichtbar, dass die Institutionalisierung auch das Format zerstören kann, je nachdem wie rigide die Normen der Institution angewandt werden und in welchem Maße ein Nichteintreten der gewünschten Ziele als Versagen der Seelsorge angerechnet wird. In jedem Fall scheint jedoch die Kirche auf allen Organisations- und Hierar­ chi­estufen gut beraten zu sein, wenn sie verlässliche Rahmenbedingungen für die Seelsorgearbeit vorsieht, innerhalb derer sie jedoch die Seelsorgebewegung leben und sich weiterentfalten lässt. Angesichts der Erkenntnis, dass es ein Fehler war, die Seelsorge im Impulspapier »Kirche der Freiheit« zu schwach zu the-

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Christiane Burbach

matisieren (Berneburg, Muttersprache, S. 4), wurde am 16. November 2009 ein Workshop zum Thema »Seelsorge – Muttersprache der Kirche« veranstaltet, der dieses Defizit ausgleichen sollte. Der wesentliche Impuls dieses Workshops mit seinen unterschiedlichen Beiträgen zielte auf Erhalt und Weiterentwicklung der pastoralpsychologisch fundierten Seelsorge in Gemeinde, in den außerkirchlichen Institutionen wie z. B. Krankenhaus und in der Diakonie. Er zielte auf theologische und ethische Weiterentwicklung und Differenzierung, auf Qualitätsmanagement, auf Sichtung, Bündelung und Koordination dessen, was vorhanden und Best Practice ist. Wie in verschiedenen Landeskirchen erkennbar, wird auf diese Ziele hingearbeitet. In der hannoverschen Landeskirche z. B. durch die Einrichtung eines Zentrums für Seelsorge, das die Arbeit der verschiedenen Seelsorgerichtungen und -felder koordiniert. Bemerkenswert jedoch an diesem Papier ist der Ausdruck »Muttersprache«. Die Vorstellung, dass die Kirche eine Muttersprache hat, die von der Seelsorge gesprochen wird, stellt eine neue Würdigung ihrer Arbeit dar. Muttersprache: Das ist eine signifikante Ansage. Die Muttersprache, das ist diejenige Sprache, die einem Kind von Anbeginn seiner Existenz an mitgegeben wird. In der Muttersprache lernt ein Mensch, das zu benennen, was ins Wort gebracht werden soll: wie es ihm geht, was es meint und möchte, was ihm wichtig ist. Muttersprache ist die Sprache der Ursprünglichkeit, bedeutet den Wechsel von der Vorsprachlichkeit in die Welt der Sprache. Muttersprache wird in vielfältiger Weise gelernt und geübt: vom deiktischen Einwortsatz zum komplexen Satzgebilde, das treffend differenzierte Wahrnehmungen zu kommunizieren versteht. Muttersprache wird gelernt durch Nachahmung anderer native speaker, durch Kommunikation, Lesen, Schreiben, originelle Analogien und vieles mehr. Dass das Erlernen der »Sprache der Seelsorge« ein aufwendiger und zugleich lohnender Prozess ist, mag in diesem emotional hoch besetzten Wort »Muttersprache« gut gekennzeichnet sein. Ein direktes oder kausales Erfolgsrezept gibt es dennoch nicht. Hier bleibt die Hoffnung auf einen weisheitlichen Blick sowohl auf die Seelsorge als auch auf die Sorgen der Kirche um sich selbst.

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 Personzentrierte Haltungen in Unterricht und Schulentwicklung

Joachim Schmidt

1  Carl Rogers: »Freedom to Learn« Carl R. Rogers war zeit seines Lebens daran interessiert, seine Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Bereich der Therapie und Beratung auch auf andere Felder anzuwenden. Von besonderem Interesse war dabei für ihn der Bereich der Erziehung und Bildung. Inhaltlich stand dabei immer im Mittelpunkt, Menschen darauf vorzubereiten, in einer Welt zurechtzukommen, die von ständigem Wandel geprägt ist. Eine neue Art des Lernens schwebte ihm daher als Inhalt von Erziehungs- und Bildungsprozessen vor: das »signifikante Lernen«, d. h. ein Lernen, das persönliche Bedeutsamkeit besitzt. Hierfür brauchte es nach Rogers’ hellsichtiger Analyse Veränderungen in der Haltung der Lehrkräfte, die sich von »Instruktoren« zu »facilitators«, zu »Ermöglichern« weiterentwickeln müssten. Da Rogers während dieser Zeit, in der sich sein Interesse stark auf die Veränderung des Erziehungs- und Bildungssystems richtete, intensiv mit Encounter-Gruppen arbeitete, schien ihm dies auch der geeignete Weg, solche Veränderungsprozesse bei Erziehern und Lehrkräften zu initiieren. Eine historische Aufarbeitung der Bemühungen von Rogers um die Veränderung des Schulsystems steht noch weitgehend aus. Bekannt sind seine Ansätze mit den Schulen des Ordens der »Schwestern des unbefleckten Herzens« in Los Angeles sowie die von Newman Walker und Karl Foster unternommenen Projekte in Louisville/Kentucky. Während Rogers und seine Mitarbeiter im »Immaculate Heart«-Projekt direkt mitarbeiteten, war er in Louisville als Consultant tätig. Der in Los Angeles gewählte Ansatz, ganz auf Encounter-Gruppen zu setzen, erwies sich als schwierig. Rogers selbst neigte dabei noch zu einem weitgehend positiven Fazit: »Although many mistakes were made in the planning and implementation of the project, the response of the participants was almost entirely enthusiastic. Faculty began to change their methods of teaching and some important administrative policy changes were made.« (Rogers, 1980a, S. 287) Schon er musste aber einräumen, dass seine Maßnahmen auf ein sehr

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geteiltes Echo stießen: »The nonparticipants were often shocked by the degree of chaos involved in the changes and they became in some instances violently critical.« (Rogers, 1980a, S. 288) Andere Autoren kommen zu wesentlich schärferen Beurteilungen: »On an institutional level, however, the group program had disastrous effects […]. The existing structure of the system did not evolve but fractured; and the encounter group medium as employed came to be repudiated by the majority, including many initially eager advocates.« (Barrett-Lennard, 2005, S. 191)

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Dem zweiten Projekt in Louisville/Kentucky war insgesamt mehr Erfolg beschieden. Barett-Lennard führt dies u. a. darauf zurück, dass im Projekt vorab die Hauptverantwortlichen in Lern- und Trainingsgruppen sehr gut geschult und über die Methoden und die zugrunde liegende Philosophie des Personzentrierten Ansatzes (PzA) informiert wurden. Auch scheint es positive Effekte gehabt zu haben, dass die »facilitators« nicht von außerhalb des schulischen Systems kamen, sondern in demselben verortet waren. Trotzdem hinterließ auch das Projekt in Kentucky keine nachhaltigen Erfolge und wurde letztlich durch administrative und politische Entscheidungen beendet (Barrett-­Lennard, 2005, S. 191). Wie auch in verschiedenen anderen Feldern außerhalb von Therapie und Beratung entfaltet Rogers auch für die Pädagogik hauptsächlich als Visionär seine Wirkung und weniger als konkreter Macher – eine Einschätzung, die durchaus wertschätzend und positiv gemeint ist. Die Effekte, die Rogers trotz aller Fehlschläge sicherlich zu Recht feststellt – v. a. Veränderungen der Lehrerrolle und Verbesserungen in der Lehrer-Schüler-Beziehung –, lassen sich ohne Zweifel auf Erfahrungen im Erlernen des PzA zurückführen. Vielleicht hatte Rogers zu sehr die Veränderungen des ganzen Schulsystems im Blick, das er als desaströs und völlig reformunfähig wahrnahm – und vertraute dabei zu wenig auf die von ihm sonst so hochgeschätze Kraft einer »leisen Revolution«, die auf die Veränderung von (einzelnen) Menschen baut. Rogers selbst reflektierte auf diese Frage: »Hatte ich denn das Gefühl einer Mission, irgendeine Vorstellung, dass ich die Erziehung »retten« könnte?« (Groddeck, 2011, S. 158). So wird Rogers auf dem Feld der Erziehung sicherlich nicht so sehr durch seine schulpraktischen Versuche in Erinnerung bleiben, als vielmehr durch sein damals revolutionäres und in Teilen immer noch beein­druckendes Buch von 1969: »Freedom to Learn« (Rogers, 1969). Vieles von dem, was er schreibt, sind zwar keine neue und originär aus dem PzA gewonnenen Erkenntnisse, sondern stammen beispielsweise aus den Überlegungen von John Dewey

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(Vgl. S.-M. Kingreen, I.7, S. 139 ff.). Der Kontext aber, in den Rogers diese Über­ legungen stellt, regen zum Nach- und Weiterdenken an und sind teilweise auch heute noch nicht eingelöst. Auch im Gefolge von Rogers selbst gab es immer wieder Versuche, den PzA auf Schule zu übertragen. Bei der Lektüre der dabei entstandenen Bücher gewinnt man immer wieder denselben Eindruck: Man ahnt, dass in diesen Entwürfen sehr viele positive Erfahrungen von Einzelnen stecken – man gewinnt aber gleichzeitig den Eindruck, dass die Versuche einer Übertragung der Personzentrierten Prinzipien auf das System Schule irgendwie leblos bleiben. So befreiend und lebendig die Erfahrungen eines kongruenten Gegenübers, das Erleben von wirklichem Verstandenwerden und die Kraft echten Akzeptiertwerdens für einen Menschen in einer konkreten Begegnung sind, so blass erscheinen Ansätze, in denen versucht wird, diese Erfahrungen methodisch, didaktisch oder schulorganisatorisch einzufangen.

2 Der Personzentrierte Ansatz als gelebte Anthropologie für die (katholische) Schule Die ca. 90 katholischen Schulen unter dem Dach der Stiftung Katholische Freie Schule in der Diözese Rottenburg-Stuttgart entwickelten in den letzten Jahren einen Weg, den PzA auf verschiedenen Ebenen ihrer Organisation zu implementieren. Dabei wurden konsequent diejenigen Prozesse Personzentriert weiterentwickelt, die die persönliche Kommunikation im Zentrum hatten. Es wurde also keine »Personzentrierte Methodik« oder »Personzentrierte Didaktik« entwickelt, es wurden auch keine Gruppenmethoden angewendet, um beispielsweise Lehrerkonferenzen direkt zu verändern. Vielmehr standen im Mittelpunkt des Lernens immer die Erfahrungen der einzelnen Personen: Lehrkräfte, Eltern, Führungskräfte. Dass hierfür der Personzentrierte Ansatz gewählt wurde, war einerseits Zufall: Einige der für die Schulen Verantwortlichen waren in anderen Zusammenhängen als GwG-Ausbilder tätig oder kannten den Ansatz zumindest gut. Der Personzentrierte Weg entsprach aber – was viel wichtiger war – in besonderer Weise dem Menschenbild und dem pädagogischen Ansatz, mit dem die Diözesanschulen seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts arbeiten: dem »Marchtaler Plan« (Stiftung Katholische Freie Schule der Diözese Rottenburg-­ Stuttgart, 2018). Diese Übereinstimmungen im Menschenbild waren es, die die Verantwortlichen zu der Überzeugung kommen ließen, dass es sinnvoll sei, sich in den verschiedenen kommunikativen Feldern von Schulentwicklung immer

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auf dieselbe Grundlage zu beziehen – und damit in den entsprechenden Fortbildungen auch immer auf Referentinnen und Referenten zurückzugreifen, die im PzA ausgebildet waren. Es war besonders der Verdienst von Peter F. Schmid, diese Bedeutung der Anthropologie Rogers’ für den PzA herauszuarbeiten: »Wie der Mensch verstanden wird und damit natürlich auch, wie wir uns selbst verstehen, macht ja den Unterschied zwischen den Therapierichtungen aus.« (Schmid, 2008b, S. 125) Schmid stellt unter anderen folgende Punkte in besonderer Weise heraus: ȤȤ Die Bedeutung des Personbegriffs in ihrem Spannungsfeld von Selbststand und Beziehung; ȤȤ Die Aktualisierungstendenz als eine Kraft zur Ganzheit und zur Verwirklichung der vorhandenen Anlagen eines Menschen; ȤȤ Die Begegnung, die Schmid mit den Worten Romano Guardinis als »Betroffenwerden vom Wesen des Gegenüberstehenden« und als »staunendes Zusammentreffen mit der Wirklichkeit des Anderen« (zit. nach Schmid, 2008b, S. 126) beschreibt. Auf der Grundlage dieser Zentralkategorien ließe sich der PzA in jeder schulpädagogischen Konzeption verorten. Für die katholischen Schulen ergibt sich in diesem Kontext noch ein ganz besonderer Bezug zur christlichen Anthropologie. Wenn die katholischen Schulen den großen gesellschaftlichen und religiösen Herausforderungen der Gegenwart angemessen begegnen wollen, dann erhalten sie hierfür Inspirationen aus der biblischen Botschaft und dem theo­ logischen Denken aus vielen Jahrhunderten. Einige dieser Bezugspunkte weisen enge Beziehungen zu den von Peter F. Schmid für den PzA herausgearbeiteten Kategorien auf (Kießling, 2004, S. 344–354): ȤȤ Der Mensch in seiner unverlierbaren Würde: Alle Menschen, besonders auch Kinder und Jugendliche, wollen als einmalig und unverwechselbar gesehen und ernst genommen werden. Die biblische Überzeugung, dass Gott jeden »bei seinem Namen« (Jes 43,1) gerufen hat, spricht jedem Menschen in jeder Situation eine einmalige und unverlierbare Würde zu, die weder von seinem Entwicklungsstand noch von seiner gesellschaftlichen Position abhängt. Diese Würde und mit ihr verbunden die Achtung vor jedem menschlichen Leben ist eine der Kernbotschaften, die Katholische Schule in jeden Bildungsprozess einbringt. Die Achtung vor der unverlierbaren Würde jedes Menschen ist eine Haltung, die die Kinder und Jugendlichen selbst in der Schule einüben können – die sie aber auch in der Art und Weise, wie man ihnen im schulischen Alltag begegnet, erleben und erfahren können müssen.

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ȤȤ Der Mensch in der Erfahrung von Freiheit und Verantwortung: Das Thema der Freiheit ist ein zentrales Leitmotiv der biblischen Botschaft: Die Urerfahrung der Israeliten mit ihrem Gott, der sie aus der Unter­ drückung, aus dem »Sklavenhaus Ägyptens« befreit (Ex 13–15), wird vielfach im Alten Testament aufgegriffen und thematisiert. Unter anderem bildet sie die Einleitung und damit gleichsam die »Überschrift« über die Zehn Gebote als ethische Grundurkunde des Volkes Israel (Ex 20). In dieser Zusammengehörigkeit wird deutlich, dass Freiheit und Verantwortung miteinander unlösbar verbunden sind: Verantwortung ist die »Schwester der Freiheit«. Die Ermöglichung der Freiheit und die Einübung in die Verantwortung sind aus dieser biblischen Inspiration heraus auch für Bildungsprozesse an Katholischen Schulen grundlegend. Beide müssen erfahren – aber auch »erlernt« – werden. ȤȤ Der Mensch in seinem Angewiesensein auf Begegnung und Beheimatung: Die biblischen Gottesbilder zeugen alle von einem Gott, der selbst in Beziehung zu den Menschen tritt. Letztlich drückt sogar das ganze christlich-­ trinitarische Gottesbild nichts anderes aus, als dass Gott selbst Beziehung ist. In dieser Linie versteht sich auch Katholische Schule als Weggemeinschaft, in der Kinder und Jugendliche Kommunikation und Gemeinschaft als zentrale Grunddimensionen menschlichen Lebens erfahren und an denen sie lernen, Kommunikations- und Begegnungsprozesse achtsam zu gestalten. Diese Beziehungsprozesse sind das eigentliche Zentrum einer echten Herzens­ bildung, die im Zentrum des christlichen Bildungsverständnisses steht. ȤȤ Der Mensch als Mitgestalter der Welt: Viele Kinder und Jugendliche sind daran interessiert, die Welt aktiv und partizipativ mitzugestalten und in diesem Sinne »politisch« zu sein, wobei ihre Beweggründe vielgestaltig sind. Für Katholische Schulen ist es in jedem Fall bedeutsam, zu solchem gesellschaftlichen Engagement zu ermutigen und dessen biblisch-theologische Perspektiven zu beleuchten. So sind es vor allem die prophetischen Traditionen, die zu einer Veränderung gesellschaftlicher Unrechtssituationen aufrufen und dem Heilswillen Gottes Geltung verschaffen wollen (Amos 4,1; 5,7–15; 6,1–8; Jes 1,15–17). Dieser Aspekt der Weltgestaltung tritt als Bildungsaufgabe zu der Aufgabe hinzu, die Welt und ihre Phänomene verstehen zu lernen. ȤȤ Der Mensch vor der Erfahrung von Scheitern: Kinder und Jugendliche erleben – oft schon sehr früh –, dass zum Leben und Zusammenleben der Menschen auch die Erfahrung von Brüchigkeit und Scheitern gehört: Ehen und Partnerschaften gehen auseinander, Familien werden getrennt und setzen sich neu zusammen.

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 rfahrungen des Scheiterns gehören dazu, wenn Menschen »sich bilden«. E Kinder und Jugendliche können in Katholischen Schulen erleben, dass Krisen und Brüche des menschlichen Lebens nicht ausgeblendet werden. Sie haben vielmehr die Chance, solche Erfahrungen ansprechen zu können, und erleben »Räume« – im Sinne von Orten und Zeiten –, wo sie Menschen begegnen, die sie auf schwierigen Wegen begleiten. ȤȤ Der Mensch auf der Suche nach Hoffnung und Sinn: Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Erfahrungen sind Kinder und Jugendliche in ihrem Leben auf der Suche nach einem übergreifenden Sinn für die schönen, aber auch die leidvollen Erfahrungen, die sie machen. Schon Kinder – und mehr noch Jugendliche und (junge) Erwachsene – stellen bohrende Fragen nach dem Sinn menschlichen Leidens und nach der eigenen Herkunft und Zukunft. Die Biblische Botschaft ist nicht einfach eine »Antwort« auf diese Fragen, aber in ihr sind die Hoffnungssehnsüchte und -perspektiven zahlreicher Menschen formuliert. Daher sind auch die großen biblischen Hoffnungsvisionen von einer Welt, in der die Tränen getrocknet sind und kein Leid mehr sein wird (Offb 21,3–5), viel mehr als billige Vertröstungen. Zum Bildungsauftrag Katholischer Schulen gehört vor diesem Hintergrund, Kindern und Jugendlichen einen Zukunftshorizont offen zu halten und sie bei den »großen Fragen« nach der Zukunft der Welt und des Menschen ernst zu nehmen und zu begleiten. Die hier beschriebenen anthropologischen Grundlagen sind natürlich inhaltlich nicht auf ein staatliches Schulwesen übertragbar. Auch dort aber gibt es eine der Pädagogik zugrunde liegende Anthropologie, auf die es in der Schule zu reflektieren gilt und die als Grundlage des gemeinsamen Arbeitens immer wieder neu unter den pädagogischen Mitarbeitern bekannt gemacht und diskutiert werden muss.

3 Ein Personzentrierter Weg in der Schule: Personalentwicklungsmaßnahmen in der Stiftung Katholische Freie Schule der Diözese Rottenburg-Stuttgart Wie schon beschrieben, war der Weg der katholischen Schulen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart bei der Einführung Personzentrierter Personalentwicklungsmaßnahmen nicht durch den Blick auf direkte Systemveränderungen geprägt. Der Grundgedanke, den PzA als Grundlage für zahlreiche Fortbildun-

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gen zu übernehmen, war, Menschen dessen befreiende und verändernde Kraft erleben zu lassen – und darauf zu vertrauen, dass diese erlebte Veränderung Einfluss haben würde auf die Art und Weise, mit Schülerinnen und Schülern, Kollegen, Eltern, Mitarbeitenden usw. umzugehen. Die Arten und Weisen des Unterrichtens, des Führens, der Konfliktbearbeitung sollten sich dadurch verändern, dass die Personen, die unterrichten, führen, streiten sich verändern. In folgenden Bereichen fanden in den letzten Jahren Personzentrierte Personalentwicklungsmaßnehmen statt: ȤȤ »Personzentrierte Kommunikation. Eltern- und Schülergespräche kompetent führen«: Dieser Kurs für Lehrkräfte bildet gleichsam die Grundlage für alle weiteren Seminare in diesem Bereich. Anhand von Fallbeispielen, theore­ tischen Inputs, kollegialer Beratung, Selbsterfahrungseinheiten u. v. m. wird eine Einführung in die Personzentrierte Kommunikation und Beratung gegeben. Die Inhalte der Fortbildung erfolgen nach den Ausbildungsrichtlinien der GwG. Der Kurs dauert 3 × 2 Tage und findet – wie alle anderen Kurse auch – in der Akademie der Lehrerbildung Obermarchtal, der stiftungs­ eigenen Weiterbildungsakademie, statt. Dieser Kurs ist beispielsweise auch die Grundlage und Voraussetzung, um an einem Qualifizierungskurs für Leitungsaufgaben teilnehmen zu können. ȤȤ »Aufbaukurs Personzentrierte Kommunikation. Eltern- und Schülergespräche kompetent führen«: Der wiederum 3 × 2 Tage dauernde Kurs bietet zum einen die Vertiefung der Inhalte aus dem Grundlagenkurs. Daneben erfolgt eine Personzentrierte Betrachtung von ausgewählten und im Schulalltag besonders häufig vorkommenden Verhaltensauffälligkeiten wie Depressionen, Essstörungen, ADHS und Angststörungen. Inzwischen besuchen die ersten Teilnehmenden schon einen Aufbaukurs II, der immer dann angeboten wird, wenn genügend Personen sich finden, die die ersten beiden Module absolviert haben. ȤȤ »Wie sage ich es der Lehrerin? – Damit Elterngespräche gelingen«: Der zweitägige Kurs für Eltern entstand aus einer Idee im Vorstand des Gesamtelternbeirates und aus der Erfahrung heraus, dass Eltern gerne konstruktiv mit den Lehrkräften zusammenarbeiten wollen, dass aber die kommunikativen Voraussetzungen dafür (auf beiden Seiten) nicht immer gegeben sind. Für die katholischen Schulen bedeutete dieser Kurs einen wichtigen Schritt für eine Vertiefung der Elternarbeit auch in inhaltlicher Hinsicht. ȤȤ »Kollegiale Beratung«: Die Einführung Kollegialer Beratung an den katholischen Schulen ist für die Verantwortlichen ein Wichtiges, wenn auch schwer zu realisierendes Ziel. Kollegiale Beratung der Lehrkräfte richtet sich auf die Verbesserung

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der beruflichen Praxis: Es geht um Lösungen für konkrete Praxisprobleme, die Reflexion der beruflichen Tätigkeit und der Berufsrolle sowie um den Ausbau von praktischen Beratungskompetenzen. Immer wieder zeigte es sich aber im Lauf der Jahre, dass der Wunsch nach solcher Unterstützung im Kollegium zunächst groß ist – dass sich aber nur wenige Gruppen über einen längeren Zeitraum halten. ȤȤ »Mitarbeitergespräche führen«: In den letzten Jahren wurde der Leitfaden für die Durchführung von Mitarbeitergesprächen auf allen Ebenen der Stiftung überarbeitet und eine Schulung aller Führungskräfte in der Personzentrierten Ausgestaltung von solchen Gesprächen initiiert. Ergänzt wird das grundlegende Modul durch zwei weitere Bausteine: »Zielvereinbarung und Feedback zur Zielerreichung« sowie »Vertiefende Reflexion der Mitarbeitergespräche«. Die Kurse dauern jeweils zwei Tage und bauen auf dem Grundlagenkurs auf. ȤȤ Personzentrierte Ausgestaltung eines Kurses für Führungskräfte: In einem einjährigen Kurs sollten Führungskräfte, die relativ neu im Amt sind, Werkzeuge kennenlernen, die ihnen die Arbeit in der Schul-, Tagheim- oder Abteilungsleitung erleichtern. Auch in diesem Kurs wurde konsequent ein Personzentrierter Weg verfolgt, nicht nur in Bezug auf Gesprächsanlässe, sondern beispielsweise auch für die Leitung von Gesamtlehrerkonferenzen oder in Bezug auf das Prinzip der Transparenz von Führungshandeln. ȤȤ Personzentriertes Einführungsseminar für alle pädagogischen Mitarbeitenden einer Schule: Besonders erfreulich für die Personzentrierte Weiterentwicklung von Schule ist die Initiative eines katholischen Gymnasiums. Dort berichteten Kolleginnen von der Einführungsveranstaltung. Auf deren Initiative und mit Unterstützung der Schulleitung wurde für alle Kollegen in Schule und Ganztagsbereich ein solcher Einführungskurs – von Freitagmittag bis Samstagabend angeboten. Ziel des Kurses war es, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, wie (Kommunikations-)Prozesse zukünftig ausgestaltet werden.

4 Ein Personzentrierter Weg in der Schule: Erfahrungen von Teilnehmenden Im Folgenden sollen einige der zentralen Punkte benannt werden, die in den ausführlich und intensiv evaluierten Rückmeldungen der Teilnehmenden immer wieder anklangen. Diese zeigten sich selbst von dem in den Kursen gewählten

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Ansatzpunkten überrascht: »Ich hatte etwas anderes erwartet. Ich war nicht auf die Förderung der Selbstentwicklung eingestellt usw. Es ging viel tiefer als ich dachte – was ich gut fand!« Oder ein anderer Teilnehmer: »Ich wusste nicht, was auf mich zukommt. Ich dachte, der Personzentrierte Ansatz ist eine Technik. Ich war sehr froh, dass es eine Haltung ist.« Wahrgenommene Veränderungen bezogen sich auf unterschiedliche Ebenen im Handeln von Lehrkräften und pädagogischen Mitarbeiterinnen: Die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern

Pädagogische Mitarbeiter berichteten in den Rückmeldungen immer wieder, dass sich der Blick auf die Schülerinnen und Schüler sowie die Beziehungsgestaltung zu ihnen während und in der Folge des Kurses veränderte: »Ich nehme mehr die innere, subjektive Welt der Schüler wahr und gehe weniger von mir und meinen Werten aus« war ein Statement, »Ich nehme mehr das ›Dahinter‹ wahr« ein anderes. In diesen Aussagen steckt ganz sicher die Erfahrung, Schülerinnen und Schüler in ihren teilweise durchaus originellen Verhaltensweisen besser verstanden zu haben. Eine andere sehr interessante Erfahrung berichtet eine Teilnehmerin in Bezug auf das Thema Feedback. Sie begrüßt die Erfahrung, immer wieder Rückmeldungen zum eigenen Handeln bekommen zu haben – vor allem im Hinblick darauf, dass sie ja als Lehrkraft eigentlich ständig in der Rolle ist, den Schü­ lerinnen und Schülern Feedback zu geben. Wahrgenommene Veränderungen der eigenen Haltung

Die weitaus meisten Rückmeldungen nach Abschluss eines Kurses beziehen sich auf die Veränderungen der eigenen – professionellen wie persönlichen – Haltung. Hierzu gehören Äußerungen, die dies direkt festhalten: »Ich höre viel mehr zu und habe meine Haltung verändert«. Teilweise scheinen Teilnehmende von sich selbst überrascht zu werden: »Ich bin tatsächlich gelassener geworden – ich bin beeindruckt …!« Insgesamt entwickeln Teilnehmende fast durchgängig ein stabileres Selbstwertgefühl: »Ich weiß klarer, was ich (nicht) will, ich äußere mich deutlicher, bin weniger autoritätsängstlich und fühle mich sicherer in mir« oder »Ich bin kongruenter und nehme mich selbst ernster«. Wahrgenommene Veränderungen des eigenen Verhaltens

Aus diesen Haltungsänderungen resultieren notwendigerweise auch Veränderungen auf der Verhaltensebene, die durchweg positiv erlebt werden. Diese beziehen sich natürlich zum einen auf das pädagogische Handeln: »Ich stelle

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jetzt andere Fragen und fühle mich weniger für die Lösungen (allein) verantwortlich«, sie greifen aber auch deutlich darüber hinaus: »Ich habe jetzt mehr ausprobiert, mich abzugrenzen und nicht ständig verfügbar zu sein. Das ›Jetzt nicht!‹ hat mir geholfen«. Teilnehmende erleben den Kurs durchgehend als umfassender und tief greifender als sie sich das vorgestellt hatten: »Der Personzentrierte Ansatz ist ein Lebenskonzept« oder »Ich habe gemerkt, dass es wirklich um eine Haltungs- und Persönlichkeitsentwicklung geht«. Die gute Kombination aus Hilfe für das berufliche Handeln und der erlebten eigenen Weiterentwicklung trägt dabei sicher zu der hohen Zufriedenheit bei, die die Kurse seit ihrer Einführung begleitet. Sicherheit im Handeln als Lehrkraft

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Zu den wichtigsten Erfahrungen im pädagogischen Handeln gehört dabei sicherlich der Zuwachs an Sicherheit. Immer wieder werden hier die Elterngespräche genannt, die für die Lehrkräfte hohes Verunsicherungspotenzial bergen: »In Elterngesprächen habe ich an Sicherheit gewonnen und gehe weniger in eine Verteidigungshaltung«. Diese Erfahrung von wachsender Sicherheit gilt aber auch in Bezug auf das Unterrichtserleben: »Ich spreche reduzierter und bewusster. Ich komme schneller auf den Punkt und rede nicht so viel «Drumherum». Dadurch fühle ich mich sicherer und optimistischer«. Veränderung von Beziehungen

Nicht nur das berufliche Umfeld wird bei den Rückmeldungen in den Blick genommen, sondern auch die erlebte Veränderung von Beziehungsqualität insgesamt: »Erfahrung von ›echten‹ Begegnungen mit Kollegen und privat: ›Der Kern wurde berührt!‹«. Viele Teilnehmende äußern den Wunsch, dass die Erfahrungen aus den Kursen auch die Grundlage für das Miteinander an den Schulen bilden würde: »Diesen Kurs würde ich mir für alle Mitarbeiter wünschen – es wäre dann viel leichter über Gutes und nicht so Gutes zu reden« oder »Es ist noch ein weiter Weg, bis wir das in der Schulkultur insgesamt leben können – beispielsweise ein klares, kongruentes Feedback als Lernkultur«. Diese Rückmeldungen bestätigen die Verantwortlichen darin, in Zukunft auch verstärkt Kurse direkt an den Schulen anzubieten, wie dies im berichteten Beispiel schon erfolgte.

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5  Statt eines Schlusswortes: Noch einmal Carl Rogers Es war in diesem Artikel schon einmal die Rede von der Frage, ob der PzA eine zu leise Revolution darstelle. Mit Blick auf die rückgemeldeten Erfahrungen der Teilnehmenden an den verschiedensten Kursen können wir als Schulverantwortliche darauf vertrauen, dass aus den kleinen Schritten Einzelner eine Bewegung erwächst. An diese Wachstumsbewegung zu glauben ist Teil des PzA und damit die Aufgabe derer, die ihn einsetzen: »So glaube ich auch, dass unter unserer zerfallenen Kultur neues Leben keimt, ja eine neue Revolution sich abzeichnet. Ich sehe diese Revolution nicht durch eine große organisierte Bewegung kommen, nicht durch eine gewehrtragende Armee mit Fahnen, nicht durch Manifeste und Deklarationen, sondern durch die Entstehung eines neuen Menschen, der […] durch die […] Institutionen nach oben drängt.« (Rogers u. Rosenberg, 1980, S. 201 f.)

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 Personzentrierte Beratung und Seelsorge in Caritas und Diakonie

Peter Abel

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Beratung und Seelsorge werden in Caritas und Diakonie in einer Vielzahl von Formen und Handlungsfeldern verwirklicht. Personzentrierte Grundhaltungen und Begleitprozesse kommen hier in spezifischer Weise ins Spiel, da sie in einen psychosozialen Kontext und in die Bedingungen der freien Wohlfahrtspflege eingebettet sind. Beiden Formen der Begleitung ist die Grundhaltung karita­ tiven Handelns zu eigen: Im Mittelpunkt steht der Mensch. Um diese Kernaussagen zu veranschaulichen, werden zunächst Grund­fragen Personzentrierter Arbeit an Beispielen seelsorglichen und beratenden karitativen Handelns1 erarbeitet. Sodann: Was ist die diakonische Perspektive von Beratung und Seelsorge? Abschließend werden wir Grundfragen und Herausforderungen Personzentrierter Arbeit in Diakonie und Caritas als Orga­nisationen der freien Wohlfahrtspflege diskutieren.

1 Fallbeispiele Seelsorge im Altenheim

»Seelsorge gelingt uns nicht mehr wie bisher«, sagt mir der Leiter eines Altenheimes. »In der letzten Woche hat ein dementer Bewohner beim Gottesdienst so stark randaliert, dass wir diesen abbrechen mussten.« Stationäre Altenhilfe hat sich in den letzten Jahren radikal verändert: Die Einrichtungen sind zunehmend mehr Sterbehäuser geworden. Die Verweildauer der Bewohnerinnen und Bewohner sinkt. Existenzielle Fragen verdichten und beschleunigen sich für Bewohner und Angehörige und äußern sich in Trauer, Angst, Vereinsamung, Aggression. Die fachliche Betreuung und Pflege ist durchorganisiert. Die geistigen, seelischen und religiösen Bedürfnisse der zu Pflegenden werden immer 1 Um Seelsorge und Beratung in Diakonie und Caritas zu umschreiben, wird hier der Begriff »Karitas« als die zu Grunde liegende gemeinsame Arbeitshaltung gewählt.

Personzentrierte Beratung und Seelsorge in Caritas und Diakonie

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mehr vernachlässigt und finden unter dem zeitlichen und ökonomischen Druck keine Aufnahme in das Pflegegespräch. Die Gefahr ist groß, dass Seelsorge aus dem Blick – der Gemeinden wie der Einrichtungen – gerät. In einer Arbeitsgruppe, in der wir die seelischen Bedürfnisse von Bewohnern, Angehörigen und Mitarbeitenden erarbeiten, stellen wir fest: Klassische Instrumente der (Gemeinde)pastoral reichen nicht. Die zwanzigminütige Predigt vom Sonntag zu wiederholen geht an den Menschen vorbei. Seelsorgliche Beratung und Begleitung bedarf hier spezifischer Kenntnisse und Kompetenzen, um z. B. mit dementen Menschen gelingend in Kommunikation zu treten oder die existenziellen Unsicherheiten der Angehörigen aufzugreifen. »Auch die Seele bedarf der Pflege«, so bringen wir es auf den Punkt. Wir machen aber auch immer wieder überraschende Entdeckungen. Im engen Zeittakt der Pflege finden viele Kurzgespräche statt. Um ihre religiöse Sprachfähigkeit und Sensibilität zu stärken wie auch eine dem Menschen zugewandte Personzentrierte Haltung zu fördern, entwickeln wir Personzentrierte Alltagsseelsorge in den verschiedenen Diensten (Abel u. Baumann, 2003). Unsere Fragen: Drückt sich eine Personzentrierte Haltung vor allem im Gesprächsverhalten aus oder auch im Alltagshandeln? Ist beratende Seelsorge in Diakonie und Caritas ein Fachdienst neben anderen oder eine Basis­kompetenz, die im Arbeitsalltag zusammen mit anderen Tätigkeiten gelebt werden kann? Welches Fachwissen braucht es für Seelsorgerinnen und wie können die verschiedenen Fachdienste voneinander lernen? Führungskräfte in Diakonie und Caritas

Im Rahmen eines Workshops zum christlichen Profil ihrer Caritaseinrichtung arbeite ich mit Führungskräften an deren persönlicher Spiritualität. Was ist der Glaube, der sie trägt? »In einem Pflegepraktikum habe ich intensivere Exerzitien gemacht als im Kloster. Die einfachen Tätigkeiten haben mir christliche Glaubwürdigkeit veranschaulicht. Im Verband gibt es viele Menschen, die etwas vom Evangelium verstehen.« Die Beiträge in der Runde sind von Vertrauen getragen. Ich verstehe meine Aufgabe darin, dieses Vertrauen, Wertschätzung und menschliche Nähe zu stärken. Wie kann Personzentrierte Arbeit eine Atmosphäre des Vertrauens und der Wertschätzung, ein Klima der Zuwendung und Zusammenarbeit auf Augenhöhe schaffen? Was ist das Profil individuellen wie auch institutionellen karitativen Handelns? Wie können wir dieses Profil unter den Bedingungen des Marktes stärken?

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Peter Abel

Personzentrierte Beratung in Einrichtungen und Diensten

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Christiane L., langjährige Mitarbeiterin in der Jugendhilfe, äußert im Gespräch Zeichen der inneren Erschöpfung (Abel, 2009). Seit Wochen ist sie innerlich aufgewühlt und schläft nicht gut. Zu den Jugendlichen geht sie zunehmend mehr auf Distanz; deren Schicksal interessiert sie nicht mehr. In der Beratung ist sie darüber erschrocken, wie negativ sie über die ihr Anvertrauten denkt und spricht. Sie stellt fest, dass ihre Gefühle über die Klienten, aber auch über sich selbst ihr immer mehr gleichgültig geworden sind. Ihr ursprünglicher Enthusiasmus ist einer depressiven Stimmung gewichen. In der Begleitung kommt Christine wieder in den Kontakt zu sich selbst, indem sie ehrlich über sich spricht. Sie kann ihre Selbstzweifel, ob sie überhaupt noch zu einer konstruktiven Beziehung fähig ist, ausdrücken und findet gerade dabei zu ihren Fähigkeiten und zu sich selbst zurück. In ihrer eigenen Hilflosigkeit findet sie zu einem vertieften Verständnis zu sich selbst, aber auch für die Jugendlichen, mit denen sie arbeitet. Sie nimmt die Belastungen in ihrem Arbeitsumfeld wahr und lernt, besser damit umzugehen. Sie gewinnt die Überzeugung, dass sie ihre Probleme auch bewältigen kann und erlangt wieder das Selbstvertrauen, dass sie konstruktiv in Beziehung gehen und wertschätzend arbeiten kann. Welche Kompetenzen sind für gelingende seelsorgliche und beratende Prozesse in Caritas und Diakonie im jeweiligen Setting notwendig? Wie gelingt eine professionelle Rolle, wenn neben Beratung noch andere, oft direktive Arbeitshaltungen erwartet werden? Ist ein Personzentriertes Menschenbild dann durchgängig tragfähig? Auszeit – seelsorgliche Begleitung von Mitarbeitenden

In einer auf zwei Jahre angelegten Mitarbeitendengruppe gibt ein diakonischer Fachverband Mitgliedern eine Auszeit: Selbsterfahrung und therapeutische Arbeit, Supervision oder geistliche Begleitung, Stressmanagement und Einüben alltäglicher Bewältigung, Glaubensgespräch und stille Zeiten sind Bausteine der Begleitung. Ihnen wird erlaubt, »müde und beladen zu sein, um zur Ruhe zu kommen« (Mt 11,18). »Begleitende, die täglich mit existenziellen Belastungs­ situationen konfrontiert werden, brauchen Beistand, um seelisch gesund zu bleiben.« hat mir die Seelsorgerin des Verbandes einleitend gesagt. Welche Form der Begleitung unterstützt karitatives Handeln angemessen? Wie unterscheiden wir Beratungsarbeit und Seelsorge? Was können beide voneinander lernen?

Personzentrierte Beratung und Seelsorge in Caritas und Diakonie

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2  Beratung und Seelsorge in Diakonie und Caritas Beratende und seelsorgliche Dienste in Pflege, Betreuung und pädagogischen Feldern finden – wie die Beispiele belegen – in Diakonie und Caritas auf vielerlei Weise (Zwicker u. Pelzer, 2010, S. 77 ff.) als formalisierte Beratung, beispielsweise in Lebens-, Erziehungs-, Eltern-, Schuldner- oder allgemeiner Sozialberatung statt. Wir finden sie ebenso als informelle Alltagsberatung in Besuchsdiensten, Freiwilligenarbeit, Hilfegruppen, Hausaufgabenhilfe, Flüchtlingsarbeit, Hospizund Trauerarbeit, Stadtteil- und Quartiersarbeit, Gemeindediakonie und -caritas vor. Seelsorgliche und beraterische Kompetenz wird in karitativen Einrichtungen wie in Kindertagesstätten, im Krankenhaus oder der stationären Altenhilfe als Bestandteil fachlicher Kompetenz ebenso erwartet wie als Basiskompetenz sozialen Alltagshandelns. In allen diesen Feldern begegnen wir einer Bandbreite von sozialen und existenziellen Fragen und Nöten wie Krankheit und Krise, Trauer und Vereinsamung, Angst und Hilfebedürftigkeit, Suche nach Gemeinschaft und Solidarität, Leben und Tod. Beratung, hier verstanden als Unterstützungshandeln durch eine helfende Beziehung, ist eine Schlüsselkompetenz karitativer Arbeit (Albrecht, 2017, S. 46). Beratung ist ein Hilfeprozess, durch den die Kompetenz des Ratsuchenden gestärkt wird, seinen Alltag besser zu gestalten und bestimmte Probleme und Herausforderungen besser bewältigen zu können. Beratung im karitativen Kontext bezieht sich vor allem auf psychosoziale Problemlagen, in denen der Rat­suchende seiner Lebenslage nicht mehr gewachsen ist und daraus eine persönliche Notlage empfindet. Ziel der Beratung ist daher sowohl das psychische als auch das soziale Wohlbefinden eines Menschen. Es geht um Probleme mit sich selbst, aber auch um soziale Problemlagen, z. B. in einer Partnerschaft oder im sozialen Umfeld. Persönliche und soziale Herausforderungen sind häufig miteinander verwoben; eine schwere Erkrankung führt zum Verlust der Arbeit, die fehlende Arbeit zur sozialen Isolation und Verarmung. Komplexe Problemlagen entstehen. Häufig spielt die Inkongruenz zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Erwartungen der Umwelt eine besondere Rolle. Der langzeiterkrankte Mensch braucht Zeit, die Gesellschaft erwartet von ihm eine zügige Wiederaufnahme der Arbeit. Gesellschaftliche und soziale Ansprüche und Werte einerseits wie auch persönliche Bedürfnisse, Interessen und Ziele der Person andererseits stehen dann in einem Widerspruch: Daher kommen kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse in der Beratung ebenso zum Zug wie die individuelle Lebenslage der Person. Welche grundlegenden Fähigkeiten braucht es hierzu bei den Beratenden? Beratungskompetenz zeigt sich in einem Zusammenspiel von gelebter Haltung, methodischem Handeln, Prozesskompetenz und arbeitsfeldspezifischen Fähig-

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keiten. Personzentrierte Beratungskompetenz zeigt sich vor allem in der hilfreichen Haltung der beratenden Person. Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie (T. Kingreen, I.2), das hier grundgelegt wird, ist von einer posi­tiven Sicht des Menschen getragen; die Person – die eigene wie auch der Rat­suchende – ist der Schlüssel im Beratungsprozess. Eine vertrauensvolle, kooperative und stärkende Beziehung bildet die Basis, um Veränderung zu ermöglichen. Daher sind die Personzentrierten Grundhaltungen (Weinberger, 2013, S. 41–70; Burbach, I.1, S. 28 ff.) wesentliche Elemente der Beratung. Wie diese in Dia­konie und Caritas in besonderer Weise zum Tragen kommen, muss differenziert und auf die psychosoziele Problemlage hin befragt werden (Rechtien, 2009, S. 69 ff.; Weinberger, 2013, S. 101 ff.): Welche Besonderheiten prägen das jeweilige Arbeitsfeld und damit verbunden karitative Beratung? Wie unterscheidet sich Beratung von direktiven Vorgehensweisen wie gesetzlicher Betreuung oder angeordneten unterstützenden Maßnahmen? Wie kann eine Personzentrierte Haltung unter den Bedingungen von Zwang und fehlender Freiwilligkeit gelingen? Wie ist eine Personzentrierte Beziehung auf Augenhöhe bei einer Beeinträchtigung möglich? Wie sieht Beratung in Kurz­gesprächen, wie in länger dauernden Beziehungen aus? Berücksichtigt man diese Fragen, so ist eine Personzentrierte Grundhaltung innerhalb der Bandbreite Personzentrierter Ansätze (Rechtien, 2009, S. 12–54) realisierbar, wenn auch differenziert in der Intervention und auf die Lebenslage der Person hin. Auch unter eingeschränkten Bedingungen und bei fehlender Freiwilligkeit kann eine Personzentrierte Haltung zur Grundlage kon­ struktiver karitativer Arbeit werden. Nehmen wir als Beispiel das Notruftelefon eines Caritas­dienstes im betreuten Wohnen: Ein hilfebedürftiger Mensch meldet sich per Telefon. Die Beziehung muss unter eingeschränkten Bedingungen wie begrenzter Sprachfähigkeit, fehlendem direkten Kontakt und in der akuten Notlage zustande kommen. Dennoch begegnet mir bei einem solchen Notdienst eine ausgesprochen wertschätzende Haltung der Partner am Telefon. Sie nehmen schnell Beziehung auf. Es ist offenkundig, dass sie personorientierte beraterische Standards praktizieren: Sie leben Wertschätzung, indem sie echtes Interesse zeigen und den Angerufenen ermutigen, seine Situation zu erklären, sie zeigen Empathie, indem sie das Verstandene in ihren Worten ausdrücken. Sie leben einfühlendes Verstehen durch verlangsamte und aufmerksame Kommunikation, behutsame und klärende Fragen und sprichwörtliche Geduld. Ich bin erstaunt, welche Dichte das Gespräch in kurzer Zeit erreicht und wie auf einfühlsame Weise Vertrauen aufgebaut wird. Die Personzentrierte Zuwendung hilft und bildet die Basis des Gesprächs. Dennoch wird durch das Setting die Grenze Personzentrierter Arbeit sichtbar: Der Anrufende will sich nicht selbst

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aktualisieren oder sich verändern, er ist in Not. Wir haben es nicht mit einem durch personale Begegnung geförderten Veränderungsprozess zu tun, sondern mit direkter Hilfe. Handeln ist angesagt. Echtheit ist nicht direkt gefordert, aber angesichts der oben beschrieben existenziellen Not ein Weg, dem Gegenüber Halt, Orientierung und Sicherheit zu geben. »Ich spüre, wie schwierig Ihre Situation jetzt ist …«, betont der Helfende und signalisiert, dass er jetzt da ist. Ein unechter, z. B. Befehle gebender Partner würde den Rat­suchenden nur verunsichern. Im konkreten Vollzug (Widulle, 2012) Personzentrierter Instrumente und Methoden wie aktivem Zuhören, vertiefter Hinwendung zum Ratsuchenden, Ansprechen und Ausdrücken von Gefühlen und Erlebnissen, Vergegenwär­tigen der Beratungsbeziehung, Erkunden der als problematisch erlebten Lebenssituation, im Herausfinden, was der Ratsuchende eigentlich möchte und welche Schritte er realistisch gehen kann, geht es dabei weniger um Techniken als um eine personale Begegnung (Schmid, 1995), durch die der ratsuchende Mensch seinen Weg gehen kann. Denn der Ratsuchende selbst ist der Experte. Die körperlichen, sozialen und geistigen Fähigkeiten sind in der karitativen Arbeit bei der Person, die begleitet wird, in vielen Fällen eingeschränkt. Durch jahrelange Bevormundung können die Selbstwahrnehmung und Selbstachtung abgewertet sein. Entscheidungen können bei einer geistigen Beeinträchtigung erschwert oder zu komplex sein. Wenn nun die Grundannahme Personzentrierter Arbeit, dass der Ratsuchende die Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann, gelten soll, dann muss diese Bereitschaft unter veränderten Bedingungen wahrgenommen werden und als Zutrauen in das persönliche Erleben der Person im Rahmen ihrer Möglichkeiten gelebt werden. Gerade hier kann die beraterische Fähigkeit zur Prozesskompetenz zur Geltung kommen: Durch einen strukturierten Prozess von Wahrnehmen, Ordnen, konstruktiver Beziehung und Lösungen in kleinen Schritten wird ein verlässlicher Rahmen geschaffen, der Sicherheit und Vertrauen schenkt. Weiterhin braucht es ein arbeitsfeldspezifisches Fachwissen, das sich auf das Wissen über die Organisation und Institution, psychologisches Fachwissen und den Umgang mit den jeweiligen Störungen und Krisen, auf gesetzliche Grundlagen, lebensweltliche Kenntnisse wie auch soziale und kulturelle Bedingungen im Feld bezieht. Vor allem bedarf es einer auf die Lebenslage bezogenen Zuwendung zur Person. Beispielsweise ist ein geistig beeinträchtigter Mensch in seinem intellektuellen Fassungsvermögen begrenzt: Eine einfache und anschauliche Sprache, Wiederholungen, alltägliche Beispiele können ihm helfen, seine Situation zu verstehen. Klare Rahmenbedingungen und Absprachen können ihm ein Gefühl der Sicherheit und Verlässlichkeit geben.

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Soziales und karitatives Handeln hat nicht nur mit individuellen Störungen zu tun. Probleme müssen daher »in ihren jeweiligen zeitlichen und räumlichen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und familiären Kontext« (Albrecht, 2017, S. 54) gestellt gesehen werden. Deshalb bedarf es weiterer professioneller Vorgehensweisen wie der Intervention, der Verhandlung, langfristiger Begleitung, Erziehung und Bildung, Lebensweltorientierung und Kultursensibilität (Zwicker-Pelzer, 2010). Die Personzentrierte Beziehung kann hier Ausgangspunkt weiterführender Hilfe sein und um eine systemische Haltung erweitert werden (Pfeifer-Schaup, 2015). Diese doppelte Sensibilität zeigt sich in der folgenden Geschichte, die uns den christlichen Hintergrund Personzentrierter Arbeit aufzeigt:

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3 Personale Seelsorge »Was willst du, dass ich Dir tue?« fragt Jesus den blinden Bartimäus, der da in Jericho am Straßenrand sitzt, und der Evangelist Markus erzählt uns die ganze Geschichte so: »Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, rief er lauf: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg.« (Mk 10,46–52)

Einige Beobachtungen mit dem beraterischen Blick: Der blinde Bettler ist zunächst gar nicht im Mittelpunkt. Wir haben eine Weg- und Jüngergemeinschaft vor uns. Das Umfeld des Bettlers ist nicht förderlich; es kommt keine hilfreiche Beziehung zustande. Der Ratsuchende und sein Umfeld stehen in keinem konstruktiven Bezug. Aber der Blinde, eine Randexistenz mit Namen, schreit gegen den Widerstand der Umstehenden. Er lässt nicht ab. Er schreit seine Not aus dem Leib, sehnt sich Gottes Innerstes – seine Barmherzigkeit – herbei. Er will sich verändern. Seine Inkongruenz ist eine individuelle und soziale; er ist blind und ausgeschlossen. Er wagt sich und er löst sich – der Mantel, Symbol

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für persönlichen Schutz, wird abgeworfen. Jesus fragt nun den Bartimäus, was dieser wirklich will. Er zeigt die Kompetenz, die einen guten Begleiter ausmacht, sich durch eine offene und authentische Fragehaltung in Beziehung zu bringen. Er deutet nicht, er fragt: Was willst du? Er sieht auf den Kontext: Er hebt die Blockade der Jünger auf und bestärkt sie, dem Bartimäus Mut zu machen. Er heilt das Umfeld und den Betroffenen. Aus dem Herbeigerufenen wird ein Jünger, einer, der etwas erkannt hat und jetzt auf dem Weg des Glaubens ist. Aus der Rettungs- und Glaubensgeschichte dieses Armen, eines von Gott geliebten Menschen, der in Not geraten ist, können wir unser Verständnis einer personalen Seelsorge gewinnen. Seelsorglich handeln (Zerfass, 1986; Baumgartner, 1990) heißt, Jesu Umgangsstil zu wagen und die befreiende Kraft der guten Botschaft Gottes durch die Tat erfahren zu lassen. Seelsorglich handelt, wer die Verstocktheiten und Blockaden des Betroffenen und seines Umfeldes zulässt und aufzubrechen hilft. Eine seelsorgliche Haltung nimmt wahr, wer den Mut hat, Gefangenheit und Ohnmacht des in Not Geratenen zu durchbrechen, und das Innerste im Herzen, das Erbarmen, aufspürt. Seelsorglich handelt, wer heilende Nähe lebt, dabei den Anderen in seiner Not zu Wort kommen lässt mit seinen Gefühlen der Niedergeschlagenheit und Sehnsucht, der Trauer und der Hoffnung, der Angst und des zuversichtlichen Vertrauens und ihm so den mühsamen Übergang von heute nach morgen (Zerfass, 1986, S. 90) ermöglicht. Seelsorglich handelt, wer im Anderen eine Perspektive auf das göttliche Geheimnis hin eröffnet und Gottes lebensschaffende Kraft erfahrbar werden lässt. Damit sind die Grundorientierungen einer beratenden und begleitenden Seelsorge benannt: Sie ist personal und dem Menschen zugewandt, karitativ durch heilende Nähe und Beziehung, beratend im Übergang, von sozialen Blockaden befreiend und gottoffen in der Weise, dass sie dem Namen Jesu gerecht wird: Gott rettet. Diese Sorge um die Seele des ratsuchenden Menschen ist eine Basiskom­ petenz christlich-karitativen Handelns. Die im Evangelium verankerte unmittelbare Zuwendung zum Menschen ist Richtschnur. Das heißt nun, dass ich den Menschen in den Mittelpunkt stelle, ihn wie Jesus zu fragen: »Was willst Du, dass ich Dir tue?«, weil ich an ihn glaube.

4  Karitativ handeln – im Mittelpunkt der Mensch »Die menschliche Natur ist grundsätzlich als positiv und konstruktiv, vernünftig und fähig zur Selbsterkenntnis anzusehen. Von Natur aus gut, tendiert der Mensch letztendlich immer wieder zum Guten. Er trägt eine ›innere Kraft zum Guten‹ in

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sich, die ihn bestrebt sein lässt, sich selbst und anderen gegenüber ein förderliches, ›realistisches‹ Verhalten zu entwickeln. Die innere Kraft des Guten und zum Guten bewirkt, dass jeder im Innersten seines Wesens sich auf das je größtmögliche Maß an Selbstgestaltung hinzubewegen sucht.« (Baumgartner, 1990, S. 433, mit Bezug auf Carl Rogers)

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Die Annahme von der inneren Kraft zum Guten wird innerhalb des Personzentrierten Ansatzes durchaus kontrovers diskutiert, mit theologischen Argumenten: Einerseits kann man das Gutsein des Menschen als Geschöpf Gottes betonen (Gen 1,27), andererseits dessen Begrenztheit und Sündigkeit (Gen 3,7). Beide Annahmen bedürfen des konstruktiven Dialogs und haben eine gemeinsame Basis, die auch das konkrete Beratungshandeln trägt. Ein ressourcen­ orientiertes und wachstumsförderndes Menschenbild (Widulle, 2012, S. 51 ff.; zum Menschenbild Personzentrierter Arbeit siehe auch die Beträge in Kap. I in diesem Band) hat als Fundament, dass der Mensch selbstverantwortlich und zu sozialer Beziehung fähig ist. Werte wie Menschenwürde, persönliche Freiheit und Entwicklung, Gleichberechtigung, Solidarität und Gerechtigkeit bilden den Zielkorridor der Beratung. Der Ratsuchende in seiner schwierigen Lebenssituation verdient daher Achtung und Wertschätzung. Er bleibt Experte für sein Leben. Diese ressourcenorientierte Auffassung hat Konsequenzen bis in die Praxis der Beratung und Seelsorge; beispielsweise gehen in einem sozialen Warenladen die Handelnden von der grundsätzlichen Vertrauenswürdigkeit der Hilfesuchenden aus und nicht davon, dass sie sich nur persönlich bereichern wollen. Eine direktive, im Befehlston vorgetragene Sprache verbietet sich dann. Die humanistische Grundannahme der Person verbindet Personzentrierte Beratung und Personzentrierte Seelsorge. Beratung und Seelsorge sind von der Beziehung getragen. Personale Begegnung (Schmid, 1995) setzt die schöpferische Kraft zur Veränderung, die in jedem Menschen grundgelegt ist, frei. Kari­tatives Handeln stellt demnach den Menschen in den Mittelpunkt. Dieser Mensch, auch wenn er vielleicht in diesem Moment in seinem Personsein gefährdet ist, auch wenn er den Bezug zu seiner Lebensgeschichte wie auch zu seiner Umwelt wiederfinden muss, verdient meine unbedingte Achtung und meine positive Wertschätzung. Mag er beeinträchtigt, in seinen Fähigkeiten blockiert sein, er trägt die innere Kraft in sich, erfüllter zu leben. Deshalb bemühe ich mich, ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Ich werde ihn dabei unterstützen, sich selbst zu achten, gelingende Beziehungen zu leben und eine förderliche Umgebung zu gestalten. Diese Haltung, die mit Jesu unbedingter Zuwendung zum Heilung Suchenden übereinstimmt, ist ein wesentliches Merkmal

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karitativen Handelns. Karitas, die tätige Liebe, hat ihren Wurzelgrund in der bedingungslosen Zuwendung zum ganzen Menschen und öffnet den Horizont für das unendliche Geheimnis, das der barmherzige Gott ist. In Caritas und Diakonie sind alle Menschen geliebte Geschöpfe Gottes.

5  Personorientierung in organisierter Caritas und Diakonie Dass der Mensch im Mittelpunkt steht, ist ebenso Auftrag und Angelegenheit der Organisation, der Führungskräfte, die eine Personzentrierte Arbeit absichern, wie auch der Begleitenden, die vor Ort Zuwendung leben. Angesichts der Gefahr, dass die Menschen der Ökonomisierung der Wohlfahrtspflege untergeordnet werden, mag der Appell Isidor Baumgartners Orientierung geben: »Seelsorge darf in caritativen Einrichtungen nicht fehlen. Sie muss (wieder) zu einem wesentlichen Markenzeichen der organisierten Caritas werden. »Seelsorger« oder »Spirituale« gehören sozusagen zur »Unternehmenskultur«. Seelsorger haben ihre Aufgaben neben der Alltags- und Lebensberatung der Hilfsbedürftigen auch darin, Leitbildprozesse zu inspirieren und Mitarbeitende zu begleiten. Sie sind die spirituellen Mentoren und Coachs in den Einrichtungen. Im Übrigen: Alle Seelsorgeumfragen zeigen: Die Menschen setzen große Hoffnungen auf diese personennahe Seelsorge gerade in Phasen der Krankheit, der Krise und der Lebensübergänge.« (Baumgartner, 2004, S. 65)

Es bedarf »kreativer Anstrengungen, wie Seelsorge in den Caritaseinrichtungen gewährleistet werden kann.« (Baumgartner, 2004, S. 65) Was hier zur Seelsorge gesagt wurde, gilt ebenso in der Personzentrierten Arbeit.

6  Abschließende Kernaussagen Chancen und Herausforderungen Personzentrierter Beratung und Seelsorge in Caritas und Diakonie werden abschließend in Form von Kernaussagen und weiterführenden Perspektiven benannt: ȤȤ Grundlage von Seelsorge und Beratung ist die gelingende Beziehung und damit verbunden die Achtung der Person. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Angesichts der Ökonomisierung der Wohlfahrtspflege muss die Solidarität mit den Menschen nicht nur personbezogen, sondern auch strukturell und anwaltschaftlich praktiziert werden.

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ȤȤ E  ine Personzentrierte Zuwendung ist die Grundlage karitativen Handelns. Jenseits aller professionellen Ausdifferenzierungen und bis in das Alltagshandeln hinein ist sie Schlüssel- und Basiskompetenz. Wo dieses Handeln aufgrund lebensweltlicher und sozialer Dissonanzen an eine Grenze gerät, bedarf es eines erweiterten Beratungsverständnisses, in das psychosoziale und systemische Instrumente einbezogen werden. ȤȤ Seelsorge und Beratung haben die gemeinsame Aufgabe, den Menschen in seinen alltäglichen, menschlichen Nöten und seelischen Bedürfnissen zu achten und ihm durch gelingende Beziehung zu helfen. Indem Beratung in der Caritas eine Nähe zum Leben der Menschen entwickelt, in die Gefährdungszonen der Gesellschaft geht und damit die Not sieht und handelt, kann sie die Seelsorge bereichern. Indem Seelsorge die seelischen Bedürfnisse der Ratsuchenden aufgreift, öffnet sie karitative Arbeit auf Glaubenserfahrungen hin. ȤȤ Personale Seelsorge ist eine Basiskompetenz karitativen Handelns, des Einzelnen wie auch der Organisation. Die Träger von Diakonie und Caritas tragen die Verantwortung für eine seelsorgliche Kultur, für personorientierte Standards wie auch für die seelischen Bedürfnisse der Mitarbeitenden, wenn sie ihren christlichen Markenkern (Baumgartner, 2003) ernst nehmen und realisieren wollen. ȤȤ Caritas und Diakonie verdienen Seelsorge (und umgekehrt), weil die Menschen in den Caritaseinrichtungen das Evangelium durch die Tat lebendig werden lassen und auf diese Weise Kirche sind (Marcus, 2012). Jede Einrichtung und die in ihr Mitarbeitenden verdienen es, dass man sich dort von Zeit zu Zeit auf sie als Person orientiert und sich auf die christlichen Kraftquellen besinnt.

Teil III

Personzentrierte Seelsorge und Beratung in verschiedenen Lebenslagen und Feldern der Gesellschaft

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 Interkulturalität und (Nicht-)Verstehen – Gastfreundschaft als Ermöglichung von Seelsorge

Klaus Kießling

Seelsorge gilt mit Recht als Herzstück der Pastoral – einer Pastoral, die sich im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils (Bucher, 2016) als kreative Konfrontation des Evangeliums mit unserer Gegenwart versteht. Pastoral lässt an Hirten, an bäuerliches Leben denken, an biblische Kultur, an Agrikultur – und nicht etwa an Frankfurter Kulturwelten. Die Konfrontation des Evangeliums mit unserer Gegenwart geht also von allem Anfang an mit fremden, wenn nicht befremdlichen Ansprüchen einher. Seelsorge ist konzeptionell eine interkulturelle Qualität eigen, noch bevor Fragen einer interkulturellen Seelsorge laut werden, sei es aufgrund muslimischer Patientinnen und Patienten in katholischen oder evange­lischen Krankenhäusern, sei es aufgrund ausländischer Priester in Deutschland, sei es aufgrund vielfältiger Migrations- und Fluchtbewegungen (Rat der Religionen, 2012; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2016a; 2016b). Pastoralpsychologisches Engagement zeigen in diesen Zusammenhängen insbesondere SIPCC (Society for Intercultural Pastoral Care and Counselling) und ICPCC (International Council on Pastoral Care and Counselling). Dieser Beitrag widmet sich einer Interkulturalität, die zum Selbstverständnis jeder Seelsorge gehört (Weyel, 2013).

1 Seelsorgekultur Kultur umfasst, was uns zu Menschen macht, sie umfasst Gefundenes und Erfundenes (Greverus, 2007). Was ich kultiviere, bewohne ich, mache ich urbar, schütze und ehre ich aber auch, sei es im Ackerbau, sei es in der Kultivierung des Intellekts, sei es im religiösen Kult (Herbrik, 2013, S. 57). Mit Clifford Geertz zielt Kultur auf Bedeutungsgewebe, in die wir verstrickt sind und die wir selbst gesponnen haben, auf »ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen

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Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln« (Geertz, 1987, S. 46).

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Geertz schafft einen interpretativen ethnologischen Zugang zu mehr oder weniger fremden Kulturen, zu ihren allemal begrenzten Bedeutungsrahmen und ihren unabschließbaren Sinnhorizonten: In teilnehmender Beobachtung lässt sich Beobachtetes auf seine Bedeutung hin entschlüsseln, auch lassen sich sogenannte dichte Beschreibungen (thick descriptions) entwickeln. Religion versteht Geertz als kulturelles System, als »Symbolsystem, das darauf zielt, […] starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen« (S. 48). Damit stellt sich die Frage nach einer eigenen Seelsorgekultur (Federschmidt, 2002; Hauschildt, 2002), nach einer Kultursensibilität für Religionen und Spiritua­ litäten, für Nationalitäten, Geschlechter, sexuelle Ausrichtungen und Lebensformen, für heimliche und unheimliche Leitkulturen, für Machtfragen (Poling, 2002) und Sprachen, wenn Sprachgrenzen oft Kulturgrenzen bilden, eine Sprache aber auch unterschiedliche Kulturen beherbergt: In meinem Spanischlehrbuch endet jede Lektion mit einer Seite unter der Überschrift »Entre culturas«, weil etwa in Barcelona anderes gilt als in Havanna. Damit erfolgt der Übergang vom einen zum anderen Stichwort, von der Seelsorgekultur zur Interkulturalität.

2 Interkulturalität Das Attribut »interkulturell« nimmt Bernhard Waldenfels (1990; 1999a; 2012; 2016; Gmainer-Pranzl, 2014) auf – als in phänomenologischer Tradition verwurzelter Philosoph, dessen Denken mich vor dem Hintergrund sowohl aktuellen gesellschaftlichen und politischen Ringens als auch pastoralpsychologischer Anliegen bewegt. Fremde und Fremdes

Das Attribut »interkulturell« beim Wort nehmend, muss ich mir zunächst eingestehen, dass ich als Europäer meiner Kultur so wenig entfliehen kann wie meinem Leib und meiner Sprache. Ich jage also keinem interkulturellen Esperanto nach und doch bleibt, wenn sich ein Weg überhaupt auftut, allenfalls ein schmaler Grat, und Gefahren drohen auf beiden Seiten: einerseits diejenige, alles Fremde zu vereinnahmen, und andererseits diejenige, auf alles Fremde, Neue und darum Interessante zu fliegen und ihm den Vorzug vor dem allzu vertrauten Eigenen zu geben.

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Wir bewegen uns – interkulturell – in einer Zwischensphäre, die sich weder der einen noch der anderen Seite zuschlagen lässt, die weder auf Eigenes noch auf Fremdes zurückgeführt und auch nicht in ein Ganzes integriert und harmonisiert werden kann und will, wenn ich nicht doch eine universale Ordnung im Hinterkopf oder eine Leitkultur in der Hinterhand mitbringe. Was sich dazwischen abspielt, gehört weder dem Einen noch der Anderen, weder jedem und jeder Einzelnen noch allen zusammen. Diese Zwischensphäre bildet ein Niemandsland, eine Grenzlandschaft, die heimische und fremde Welten verbindet und trennt. Dabei bietet Fremdes eine nuancenreiche Vielfalt: mit dem Fremdling, dem Fremdeln, der Entfremdung zwischen Menschen bis zum Fremdgehen, mit Verfremdung – etwa in Literatur und Musik – und allerlei Befremdlichem. Im akademischen Jargon wirkt ein Satz wie »Ihre Reaktion finde ich recht befremdlich« schon fast wie das Zerreißen des Tischtuches in der Kommunikation zwischen beiden Beteiligten. Ich kenne Fremdes, das außerhalb meiner eigenen Sphäre vorkommt, anderswo verortet ist und anderswo herkommt. Diese Unterscheidung von Innen und Außen verweist auf einen Ort und eine Topografie des Fremden. Ich kenne aber auch Fremdes, das Anderen gehört, im Gegensatz zu Eigenem, etwa zum eigenen Bett, auf das sich Menschen freuen, wenn sie eine Weile unter fremden Sternen gelebt haben und in die Heimat zurückkehren, oder zum eigenen Auto: Im Schwäbischen ist es bekannt als Heilig’s Blechle, das für Andere unantastbar sein soll, und wenn es einen Kratzer abbekommt, kratzt dies den Fahrer persönlich. In dieser Unterscheidung von Eigenem und Fremdem geht es also um Besitz. Schließlich kenne ich Fremdes von anderer Art, das fremdartig, unheimlich, seltsam, strange anmutet, im Gegensatz zu Vertrautem. Vertrautes mag mir selbstverständlich sein, doch wie verständlich ist oder wird mir Fremdes? In der Unterscheidung von Fremdem und Vertrautem geht es um eine Weise des Verstehens. Alle drei Varianten spielen dabei zusammen: Das Haus meines Nachbarn – an einem Ort außerhalb meines eigenen Grundstücks und nicht mein Eigenheim – kann mir gleichwohl vertraut sein. Die Bedeutungsfäden laufen vielfach hinüber und herüber. »Hinsichtlich der Frage nach dem Fremden kommt für Waldenfels allerdings dem Aspekt des Ortes der Charakter eines Leitfadens zu. Es ist die Ferne, die dem Fremden seine Eigenständigkeit garantiert.« (Feiter, 2010, S. 244) Dabei sind Andere und Fremde nicht synonym zu verstehen. Der Eine und die Andere, die sich im Gespräch voneinander abgrenzen, müssen sich nicht entfremden und einander nicht ausgrenzen. Wer von seinem Alter Ego, von seinem anderen Ich spricht, wird diesen Titel allenfalls einer Vertrauensperson

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verleihen. So gilt in der Leitung einer Diözese der Generalvikar als Alter Ego des Bischofs. Die Sprache, die Erfahrung, das Handeln, das Leben des Einen und des Anderen, der Einen und der Anderen nehmen Gestalt an innerhalb einer ihnen mehr oder weniger vertrauten Ordnung, die sich freilich in Grenzen hält. Der Eine und die Andere bewegen sich innerhalb dieser Ordnung, das Fremde aber scheint an ihren Grenzen auf, und an der Grenze entscheiden sich In- und Exklusionen (Merle, 2013, S. 16 f.; Wahl, 2016). Kulturellen Differenzen werde ich nicht gerecht, indem ich diese in eine Ordnung einzufassen suche. Denn zwischen Kulturen verläuft eine Schwelle (Waldenfels, 1987, S. 28–31; Waldenfels, 1999b). Schwellen verbinden, indem sie trennen, etwa zwischen Jugend und Alter, zwischen Leben und Tod, und sie kennen keinen Vermittler, der auf beiden Seiten der Schwelle zugleich Fuß fassen könnte. Das Absonderliche des Fremden hat nichts zu tun mit dem bloß Besonderen, das sich innerhalb einer Ordnung ausweist. Fremdes zeichnet sich durch seine außerordentliche Fremdheit aus, es bedroht die je eigene Ordnung, die darum ihre Bollwerke auffährt gegen alles Fremde, das sich ausweisen muss wie ein Eindringling. Fremdes zeichnet sich dadurch aus, dass es sich meinem Zugriff entzieht. Ich meine an Unantastbares und Unfassbares zu rühren, das mir doch unzugänglich bleibt. Es mag mich ein fremder Blick aus nicht auszulotender Ferne treffen, bevor ich mich dessen versehe – ein fremder Blick aus einer Gruppe von Menschen, denen ich nicht zugehöre. Zu dieser Unzugänglichkeit und dieser Nichtzugehörigkeit gesellt sich eine Unverständlichkeit, die sich etwa als Pause im Gespräch artikuliert. Fremderfahrungen erweisen sich als paradox: Worauf ich mich beziehe, entzieht sich, jeder Zugang bleibt im Unzugänglichen, jede Zugehörigkeit im Nichtzugehörigen, jede Verständlichkeit im Unverständlichen. Die Fremderfahrung erweist sich als sich selbst widerstrebende Erfahrung, hier geht es nicht um ungelebte Möglichkeiten, sondern um gelebte Unmöglichkeiten. Hier geht es nicht um nur mir Fremdes, also relativ Fremdes, das in einem vorläufigen Stand der Aneignung darauf wartet, bis ich damit vertraut bin. Zwischen Personen und zwischen Kulturen geht es auch nicht um absolut Fremdes, etwa um eine Sprache, die mir so fremd vorkommt, dass ich sie noch nicht einmal als Sprache wahrnehme. Hier geht es um radikal Fremdes, um jene Fremdheit, die weder auf Eigenes zurückgeführt noch einem Ganzen eingeordnet werden kann. Dabei bleibt jede Ordnung vom Schatten des Außerordentlichen umgeben. Und doch setzt die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, eigenem und fremdem Leib, Muttersprache und Fremdsprache, eigener und fremder Kultur voraus, dass beides bei aller Absonderung ineinander verflochten und ver­ wickelt ist. Am Anfang steht nicht nur die Differenz, sondern auch die Mischung,

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die jedes familiäre, nationale, kulturelle Reinheitsideal als bloßes Phantasma entlarvt. Auch Kulturen sind miteinander verwandt, mehr oder weniger, eingelassen in ein Netz von Lebenswelten. Sind die Mitglieder einer fremden Kultur uns fremd – oder wir ihnen? Auch Sankt Georgen: Das Leben auf dem Campus dieser Hochschule – zumal hinter noch immer nicht abgebauten Mauern – bildet einen Mikrokosmos, eine eigene Kultur. Als einstmals einziger Nichtjesuit im Lehrkörper kam ich mir nicht absolut fremd vor, auch nicht radikal fremd, aber relativ fremd – in mir unbekanntem Gelände. Doch »tröste dich«, sagte mir seinerzeit mein Kollege Medard Kehl, »Neuland entsteht beiden Seiten!« Genau diese Einsicht verhindert, dass eine Leitkultur machtvoll aufmarschiert und alles Fremde niedertritt. Heimliches und Unheimliches

Ist Eigenes mit Fremdem verflochten, so dringt Fremdes, dringen Fremde nicht nur an den Außengrenzen des eigenen Grundstücks oder des Heimatlandes heran und herein, vielmehr beginnt Fremdes dann auch in uns selbst. Und wenn Fremdes in uns selbst beginnt, so sind wir niemals völlig bei uns: Ich bin leiblich in eine Welt hineingeboren, habe meine Sprache von Anderen übernommen, kenne sie buchstäblich vom Hörensagen, von meiner Mutter, als Muttersprache. Ich trage einen Namen, den andere mir gegeben haben und in dem weit entfernte Geschichten anklingen. Ist sich also jeder selbst der Fernste? Niemandem sind seine Gefühle, Antriebe und Sprache ganz zugänglich, niemand ist seiner Kultur ganz zugehörig, niemand lebt vollkommen kongruent. Darin sehe ich jedoch keinen Mangel, eben weil ich nicht davon ausgehe, dass ich nur aus dem bestehe, was ich selbst aus mir gemacht habe. Ich erinnere mich daran, wie unser Erstgeborener als Frühchen zur Welt kam – so früh, dass meine Frau und ich seinen Namen noch nicht gefunden hatten, er anders als alle anderen Neugeborenen mit leerem Namensschild in seinem Bettchen lag, bis wir unsere Erfahrung ins Wort brachten: Seht, ein Sohn, in biblischer Sprache: Ruben! Dabei erfahre ich nicht nur Fremdes, vielmehr gipfelt die Begegnung mit Fremdem in einem Fremdwerden der Erfahrung selbst, die ich mache, aber eher durchmache als herstelle: Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus, sonst könnte er sich das Fremde und Unheimliche vom Leibe halten, sich in eine Trutzburg flüchten – gleichsam als Flüchtling vor Flüchtlingen, die Ordnungen nur von außen und nicht von innen bedrohen. Doch das Unheimliche nistet sich durchaus im eigenen Heim ein, es haust auch innerhalb der eigenen vier Wände. Heimlich ist in seiner Bedeutung ambivalent, es meint zum einen das Heimische, Vertraute, Behagliche und zum anderen das Geheime, Versteckte, Undurchdringliche, Hinterlistige, ja das Unheimliche. Das Unheimliche nistet bereits im

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Heimlichen, im Heimischen. Für Sigmund Freud ist das Unheim­liche »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht« (Freud, 1919/1994, S. 244). Das Unheimliche ist dem Seelenleben ursprünglich Vertrautes, das dem Menschen durch den Prozess der Verdrängung entfremdet wurde und plötzlich wieder zum Leben durchbricht, uns beunruhigen, auch in Angst versetzen kann. Freuds Beitrag »Das Unheimliche« aus dem Jahr 1919 trägt im Französischen den Titel »L’inquiétante étrangeté«, meint also beunruhigende Fremdheit, die zwar auf Altbekanntes zurückgeht, aber nicht als bekannt und schon gar nicht als vertraut in Erscheinung tritt, sondern als beunruhigend fremd. Die Verschränkung von Eigenem und Fremdem lässt zu, dass eine oder einer mit mehr oder weniger eigener Stimme spricht, niemals aber mit völlig eigener Stimme, die in den eigenen Ohren sowieso fremd klingt. Es liegt eine Vielstimmigkeit in jeder Stimme, und unser eigener Leib, der uns in einer Welt wohnen lässt, lässt uns Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden finden.

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Fremdes und sein Stachel

Eigenes und Fremdes fügen sich nicht in eine Gesamtordnung ein. Der fremde Anspruch, der uns in der Fremderfahrung trifft, kommt von anderswoher. Er kennt kein Hoheitsgebiet mit vorgegebenen Regeln. Fremdheit als Unzugänglichkeit, als Nichtzugehörigkeit und als Nichtverständlichkeit sprengt alle Vermittlungs- und Aneignungsversuche: Im Fremden bin ich außer mir und außerhalb bestehender Ordnungen. Fremd ist, was sich genau nicht einbeziehen lässt und sich jeder Inklusion widersetzt. Eine Politik, die dem Fremden Raum lässt, verleiht dem Politischen ein Moment des Apolitischen – nicht des Unpolitischen, sondern ein Moment, das sich im Bereich des Politischen dem ordnenden Zugriff entzieht, ein Moment, das jeder Totalisierung widersteht und jede Ein- und Ausgrenzung aufsprengt, ein Moment mit eminent politischem Effekt – zugunsten einer Ordnung, die porös bliebe und nicht dichtmacht, weil sie gerade dann nicht ganz dicht wäre. Fremdes macht sich als Beunruhigung, Störung und Verstörung bemerkbar, nimmt in Verwunderung und Beängstigung verschiedene affektive Tönungen und Stimmungen an (Storch u. Tschacher, 2016), es bildet einen Anfang, dessen wir nicht Herr sind, und führt zu der Einsicht, dass niemand je völlig bei sich selbst und in seiner Welt zu Hause ist. Wer aber führt ein interkulturelles Gespräch, wenn kein gemeinsamer Boden, kein Hoheitsgebiet Regeln setzt, die es erlauben, jemanden als jemanden anzusprechen? Allemal kommt ein Drittes ins Spiel, das sich weder auf die eine noch auf die andere noch auf beide Seiten zurückführen lässt. Der Dritte kann sich am Gespräch beteiligen und intervenieren; er kann als Zeuge auftreten; er kann

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beobachten und Vorgänge registrieren, schlichten und dolmetschen. Teilnehmende Beobachtung in Ethnologie und empirischer Pastoralpsychologie steht für einen methodischen Zugang zu interkulturell Fremdem. Fremdes lebt in der religiösen Erfahrung und in der Kunst, in der Politik und in der Liebe – und in der Seelsorge: Die Auseinandersetzung mit der Frage, wozu ich im Leben berufen bin, mag in große Unruhe versetzen, aber auch die Konfrontation mit einem Trauma und seiner Wiederkehr wirken bedrängend, herandrängend von allen Seiten, von innen und außen, verstimmend und verstummend. Fremdes, dem ich seinen Stachel nicht raube, lässt mich außer mich geraten, ich kann es weder herstellen noch abstellen, es widerfährt mir – mit all der Ambivalenz, die darin liegt: Es trifft mich und lässt mich leiden und bewahrt mich vor einer harmlosen Deutung des Fremden, vor seiner Verteufelung wie vor seiner vorschnellen Heiligsprechung. »Fremd ist etwas, von dem wir ausgehen, bevor wir darauf zugehen […]. So wie es ein Lernen durch Leiden gibt, nicht aber ein Erlernen des Leidens, so gibt es ein Lernen durch Fremdes, nicht aber ein Erlernen des Fremden.« (Waldenfels, 2012, S. 303 f.; Waldenfels, 2006)

Fremdes als Pathos

Was mir widerfährt und mich trifft, dazu muss ich mich verhalten. Wovon ich getroffen bin, wandelt sich; es wird zu dem, worauf ich antworte – redend, handelnd, abwehrend oder begrüßend. Ich sage, was ich leide, und dieses Sagen beginnt nicht bei mir, es geht ein auf Fremdes, das sich mir entzieht. Die Instanz, die in der Moderne Subjekt heißt, erscheint mit Bernhard Waldenfels als Pathos, nicht pathetisch, sondern pathisch, als eine Instanz, die Erfahrungen unterworfen ist, diese leidlich erträgt und in diesem unüblichen Sinne Subjekt ist. Das Pathische widerfährt mir, und zur Vorgängigkeit des Pathischen gesellt sich die Nachträglichkeit jeder Antwort, und die zeitliche Verschiebung, die daraus erwächst, täuscht nicht darüber hinweg, dass beides zusammengehört, aber über einen Spalt, eine Kluft hinweg, die sich nicht schließt, sondern nach erfinderischen Antworten verlangt. Im Trauma etwa wird die Fixierung auf das Widerfahrene zur Antwort­ blockade, oft über Jahrzehnte hinweg, bis sich erste stammelnde Antworten finden. Alles Antworten erfolgt unausweichlich, nachträglich und asymmetrisch (Feiter, 2010, S. 292 ff.): Denn der fremde Anspruch und meine eigenen Ansprüche stehen einander nicht gleichberechtigt gegenüber, der fremde Anspruch kommt über mich. Dieser Anspruch und meine Antwort konvergieren auch nicht auf ein Gemeinsames hin, der Unterschied zwischen Eigenem und Fremdem hebt

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sich nicht auf. Indem ich antworte, beobachte ich nicht etwa Fremdes und Eigenes mit den Augen eines Dritten, vergleiche ich nicht das eine mit dem anderen, rechne ich nicht das eine gegen das andere auf. Vielmehr bleibt der fremde Anspruch jedem Vergleich entrückt: »Wer vergleicht, antwortet nicht, und wer antwortet, vergleicht nicht.« (Waldenfels, 2008, S. 94) Aus dem Hin und Her von Aneignung und Enteignung, von Vereinnahmung des Fremden und Auslieferung an das Fremde finden wir heraus, wenn das Fremde als Pathos kommt, als Getroffenheit von etwas, das sich niemals dingfest und sinnfest machen lässt, das allenfalls Sinn hervorruft, ohne selbst schon sinnhaft zu sein – persönlich nicht und interkulturell nicht. Der Mensch, wie er leibt und lebt, ist eben Leib, jener angeborene Komplex (Merleau-Ponty, 1966/1974, S. 109), der seinen Blick auf die Geburt des Sinnes aus dem Pathischen lenkt. Das Gespräch, das wir sind, kommt aus der Ferne, aus der Fremde. In dem Anspruch, den ich vernehme, erhebt sich ein Anspruch, der mir etwas abverlangt. Dieser Anspruch kommt jedem moralischen oder rechtlich verbürgten Anspruch zuvor. Er geht unter die Haut, lässt mich leibhaftig aufmerken, affiziert mich, geht mich an. Meine Antwort bedeutet den Verzicht auf ein erstes Wort – und somit auch auf ein letztes Wort. Und sie erfolgt auf dem schmalen Grat zwischen Hörigkeit und Beliebigkeit: Wir erfinden, was wir antworten, nicht aber das, worauf wir antworten und was unserem Reden und Tun Gewicht verleiht. Ich antworte nicht von mir aus, sondern von anderswoher. Mein Sagen und Sehen ist unablässig in jenes Gesagte und Gesehene verstrickt, das es übersteigt und verfremdet. Das »Trans« der Transzendenz hat in dieser zeitlichen Verschiebung seinen Zeit-Ort. Diese überspringen zu wollen, hätte etwas Veloziferisches, wie Goethe formuliert, wenn er wortschöpferisch Eile (velocitas) und Luzifer miteinander verschränkt (Osten, 2003, S. 29). Fremde Ansprüche erfordern eine Sprache, die weder in der ersten Person auf subjektive Akte noch in der dritten Person auf objektiv Registrierbares abstellt, eine Sprache, in der das, was mich angeht und mir widerfährt, dem Ich vorausgeht und diesem wie eine untilgbare Spur eingeschrieben ist.

3  Kultur der Gastfreundschaft Christliche Theologie als Annahme des Fremden

Eine besondere Geste im Umgang mit Fremden liegt in der Kultur der Gastfreundschaft. Fremde und Fremder stehen oft synonym für Gäste. So sprechen wir etwa von Fremdenzimmern, die in einem Gasthof verfügbar sind, und vom Fremdenverkehr, der eintritt, wenn Urlaubsgäste kommen. In vielen Städten

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arbeiten Fremdenführerinnen, die Gäste mit Sehenswürdigkeiten des Ortes bekannt machen, und Menschen, die ins Nachkriegsdeutschland kamen, heißen Gastarbeiter. Drückt das unseren Vorsatz aus, dass wir mit ihnen so einladend umgehen wollen – wie mit Gästen –, oder kündigt dieses Wort an, dass sie irgendwann wieder gehen müssen – wie Gäste? Auch Religions- und Kirchengeschichte zeigen eine zwiespältige Rolle von Religion und Kirchen im Umgang mit Fremden. Denn zum einen »sind es gerade Religionen, die Fremde produzieren, weil derjenige, der nicht zur eigenen Religion gehört, oft als um so fremder gilt« (Fuchs, 1993, S. 64). Zum anderen lebt aber auch eine religiös motivierte Gastfreundschaft, die Fremde unter den Schutz Gottes stellt. Diese Gastfreundschaft findet viele biblische Belege und Hochschätzung, etwa in der Genesis (18,1 ff.): Drei Männer besuchen Abraham, der ihnen mit Saras Hilfe Gastfreundschaft gewährt. Dabei wird Abraham die Verheißung eines Sohnes zuteil und »Sara hörte am Zelteingang hinter seinem Rücken zu« (Gen 18,10); in der Weltgerichtsrede: »[…] ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen« (Mt 25,35; unter umgekehrtem Vorzeichen Mt 25,43); auf dem Weg zweier Jünger nach Emmaus, die den Auferstandenen einladen: »Bleib doch bei uns, der Tag hat sich schon geneigt. Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben.« (Lk 24,29); oder in Hebr 13,2 auf, wie ich finde, besonders schöne Weise: »Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.« Auch das Christsein selbst trägt als paroikia den Würdenamen des Fremdlingsdaseins. Das griechische Wort für Pfarrei bedeutet zunächst Aufenthalt in der Fremde. Christliche Theologie begegnet dem Fremden auf vielfältigen Wegen, auf eine besondere Weise aber »in ihrem eigenen Zentrum: in jenem Begriff, der sie zuletzt alleine definiert und in dem sie ihr Spezifikum besitzt: dem Gottesbegriff« (Bucher, 1988, S. 303). Das Wort »Gott«, so Karl Rahner, »ist ja selbst das letzte Wort vor dem anbetend verstummenden Schweigen gegenüber dem unsag­baren Geheimnis« (Rahner, 1976, S. 60 f.). »Es ist die Öffnung in das unbegreifliche Geheimnis« (S. 60) – ein »Wortereignis« (S. 59), das »uns, ein Moment der Welt, zwingen will, vor das Ganze der Welt und unser selbst zu kommen, ohne daß wir das Ganze sein oder beherrschen könnten« (S. 60). Darin ist der Gottesbegriff »das prinzipiell Fremde als das konkret Zugesagte. […] christliche Theologie kann zum Fremden nicht erst sekundär eine Beziehung entwickeln, überhaupt also erst von außen ihr Verhältnis zum Fremden nachträglich bestimmen wollen, sie ist vielmehr Annahme des Fremden in ihrem eigenen Wesen. Sie verrät also nicht nur das Fremde oder den Fremden, sondern sich selbst, wo sie dies in ihrer verbalen oder non-verbalen Praxis leugnet.« (Bucher, 1988, S. 304)

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Gastfreundschaft als Ermöglichung von Seelsorge

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Vielleicht nehmen wir einen uns fremden Menschen als Gast an. Wir laden uns mehr oder weniger fremde Menschen in unser Haus ein, manche kommen auch ungefragt, womöglich auf Herbergssuche, nicht nur an Weihnachten. Wer Fremde einlässt und Gastfreundschaft denen gewährt, die sonst mutterseelenallein wären, sorgt sich um deren Leib und Seele. Aber holt Seelsorge Suchende in ihr Haus, holt sie sie heim – oder macht sich Seelsorge auf in das Haus, die Welt, die Lebenswelt, die Kultur Anderer? Ich jedenfalls erlebe mich in der Seelsorge vorrangig nicht als Gastgeber, sondern als Gast. Aber als Gast weile ich nur dann in fremdem Hause, wenn der Gastgeber mir Gastfreundschaft gewährt. Das Beziehungsangebot der Seelsorge ist das eine, das in der Seelsorge ebenso unerlässliche Beziehungsangebot der Gastfreundschaft gegenüber Fremden das andere, und beide trauen sich, beide schenken Vertrauen. Und nicht trotz, sondern dank ihres Einander-fremd-Seins können sich die Einzelnen in ein Gespräch einlassen. Beide werden aneinander anders, sie verändern sich durch einander – aber eben nur dann, wenn ein suchender Mensch eine Seelsorgerin in seine Welt einlässt, wenn ein suchender Mensch seinem Seelsorger Gastfreundschaft gewährt. Als Gast wohne ich nicht in der Welt meines Gegenübers, der Gast wohnt vielmehr als Fremder auf der Schwelle, er ist weder völlig drinnen noch völlig draußen. Die Figur des Gastes »tritt auf als Vorgestalt einer radikalen Fremdheit, indem sie die Grenzen der vorgegebenen Ordnung überschreitet« (Waldenfels, 2012, S. 309). Gastgeber sind nicht mehr ganz Herren im eigenen Haus, wenn der Gast über die Schwelle tritt – über jene Schwelle, die Eigenes von Fremdem trennt. Denn was dem Gastgeber eigen ist, wird durch den Fremden, durch seinen Anspruch infrage gestellt. Im Französischen heißt es: »L’hôte est chez soi chez l’autre.« L’hôte ist der Gast, aber auch der Gastgeber. Der Gast ist beim anderen bei sich, und auch der Gastgeber ist beim anderen bei sich. »Es scheint so, daß sich im Gast, der von draußen kommt, das Fremde par excellence verkörpert. Das Lateinische geht noch einen Schritt weiter. Hier gibt es nicht nur eine sprachliche Verwandtschaft zwischen hostis und hospes, die beide sowohl für den Fremden/die Fremde wie auch […] für Gast und Gastgeber stehen; denn darüber hinaus reicht die Bedeutung von hostis bis hin zur Bezeichnung des Feindes oder des Gegners.« (S. 305)

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Das Unbehagen in der Kultur

Wie Menschen auf kulturelle Fremdheit reagieren (Kayales, 2015), hängt stark davon ab, welche Formen der Identifikation Einzelne oder eine Gruppe erlebt haben. Von Kindesbeinen an nehmen wir herrschende Denk- und Wertemuster an – auch in Gestalt von Selbstunterdrückung, wenn die erlernten Muster eigenen Strebungen zuwiderlaufen. Da diese Prozesse unbewusst ablaufen, haben wir keine Ahnung, wie fremdbestimmt wir sind und wie sehr wir eigene Strebungen verdrängen, um einer Ordnung zu genügen und so den Vorteil der Zugehörigkeit, der Sicherheit und der Geborgenheit zu erlangen. Die Konfrontation mit kulturell Fremdem rührt an eigener Erfahrung der Iden­ tifikation mit machtvoll Erlebtem. Wer viele eigene Strebungen unterdrückt hat, wer den Schmerz und die Demütigung früherer Zeiten im Leibe spürt, mag in diesem »Unbehagen in der Kultur« (Freud, 1930 [1929]/1997) umso härter und aggressiver auch Anderen abverlangen, sich ebenfalls anzupassen – oder hinter der Grenze zu bleiben. Damit versuche ich mich nicht an Massen­ diagnosen, die ihrerseits ausgrenzend wirken, aber an einem Fremdverstehen, weil ich mich etwa darüber wundere, in welcher Heftigkeit manche Menschen mit eigener Migrationserfahrung fremdenfeindliche Parolen von sich geben und für geschlossene Gesellschaften eintreten. Die Fremdheit, die uns im Anderen begegnet, hinterlässt offenbar umso tiefere Spuren in uns, je mehr dieses Fremde an verkannte, verdrängte, geopferte Eigenheiten rührt, die uns nunmehr selbst eigenartig fremd wurden. Dabei stehen Fremdenfeindlichkeit und Feindschaft für mehr und anderes als fehlendes Verstehen und mangelnde Anerkennung (Waldenfels, 2012, S. 314). Feindschaft steht für jene Fremdheit, die ich mir angstvoll ausgetrieben und Verdrängungsprozessen überlassen habe, um nicht von Dritten ausgegrenzt zu werden, und in diesem Sinne steht sie für eine verweigerte Gastfreundschaft, verweigert denen gegenüber, die für jenes Fremde und Unerwünschte stehen, das ich mir womöglich selber versagt habe oder versagen musste, um dazugehören zu können, und die ich darum buchstäblich nicht riechen kann. Und bei aller Freude über klare kirchliche Stellungnahmen und religiös motiviertes Engagement im Umgang mit uns kulturell Fremden, auch über den politischen Mut, der damit einhergeht, bleibt – jedenfalls bei mir – ein Erstaunen darüber, wie ängstlich die kirchliche Diskussion um Gender-Fragen läuft. Woran können wir so sicher festmachen, ob wir gerade einen Anschlag auf die Schöpfungsordnung abwehren müssen – oder ob wir bloß miterleben, wie eine menschengemachte, also selbst gestrickte Ordnung ins Wanken gerät?

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Nicht einmal »Herr im eigenen Hause«

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Personzentrierte Seelsorge setzt auf eine Kultur der Wertschätzung, auf einen würdigen und ebenbürtigen Umgang, auf Offenheit und Interesse (Nees, 2016). Sie setzt auf Empathie für die Welt meines Gegenübers, ohne dass ich mich darin verliere, sondern indem ich mir selbst treu bleibe, kongruent, stimmig. Auf diese Weise mögen Suchende Mut fassen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, mit Inkongruenzen in ihrem Selbstkonzept, mit Fremdem und Fremdgewordenem in ihrer eigenen Welt. Hier greife ich das Bild auf, das Sigmund Freud zeichnet, wenn er die Macht des Unbewussten im Seelenleben hervorheben und »dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause« (Freud, 1917 [1916– 1917]/1994, S. 284). Das Motiv des Hauses als Bild für einen suchenden und leidenden Menschen ist ein sehr sprechendes. Eine Begegnung kommt nur zustande, wenn nicht nur der Gast, sondern auch die Hausbesitzerin Beziehung anbietet und eine Willkommenskultur (Ulrich, 2016) pflegt. Der Seelsorger wird hereingebeten, wenn er respektvoll und wertschätzend anklopft. Im Haus verhält sich dieser Gast jedoch anders als die Hausbesitzerin. Er betritt nur Räume, in die ihm Einlass gewährt wird. Er überschreitet die ihm als Gast gesetzten Grenzen lediglich dann, wenn ihm etwa der Geruch von Angebranntem in die Nase steigt, er einen Brandherd oder anderes Bedrohliche ausmachen kann – und Krisenintervention nottut. Zudem ist er bereit, mit der Hausbewohnerin auf deren Wunsch hin bis dahin verbarrikadierte Zimmer aufzuschließen und diese empathisch in Räume zu begleiten, in die die Bewohnerin allein nicht zu gehen wagt – vielleicht auch zu den Leichen im Keller dieses Hauses, wie wir im Deutschen formulieren, oder zum Skelett im Schrank, wie es die finnische Sprache ausdrückt. Der Gast fühlt sich während seines Aufenthaltes vielleicht wie zu Hause, und doch sieht er das Haus als Gast mit anderen Augen als die Gastgeberin, was keinem von beiden zum Mangel gereicht, vielmehr für letztere zum Geschenk eines kongruenten Gastes werden kann – in einem Haus, das er wieder verlässt, weil es nicht sein eigenes ist und er anderswo wohnt. Dank der Haltung des Seelsorgers, der sich wie ein Gast in meinem Haus bewegt, lerne ich mich mit meiner eigenen Welt wertschätzend und empathisch auseinanderzusetzen, gerade dann, wenn ich mich darin selber nicht auskenne, wie aus dem Häuschen bin und mir fremd vorkomme und nicht weiß, wie ich auf fremde Ansprüche, woher sie auch kommen und wie auch immer sie sich Gehör verschaffen, antworten kann. An der Beziehung zu meinem Gast wächst meine Beziehung zu mir selbst und so kann es gelingen, dass sich Inkongruenzen überbrücken lassen.

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4  Empathie und Interpathie, Verstehen und Nichtverstehen Verstehen in Ordnung(en)

Empathie und Verstehen gelten der Kultur des Hauses, das ich als Seelsorgerin, als Fremder aufsuche. Empathie und Verstehen sind auf Sinnhaftes gerichtet, nur Verstandenes erweist sich als sinnvoll (Merle, 2013, S. 28) – demjenigen, der als Gast verstanden hat. Dabei basieren alle Versuche, in die Fremde und in der Fremde mitzugehen, auf Akten der Selbstauslegung (S. 29): Wie und was ich als Gast verstehe, mag abweichen von dem, wie und was der Hausbesitzer versteht. Was ich als Gast verstehe, wird auf die Probe gestellt, indem der Gast dem Hausbesitzer zur Verfügung stellt, was er verstanden hat. So mag sich im Haus ein Raum öffnen, in dem der Hausbesitzer sich dank der Anreize, die der Fremde setzt, mit seinem inneren Ausland konstruktiv auseinandersetzen und selbst Empathie mit dem ihm fremden oder jedenfalls fremd gewordenen Haus entwickeln kann. Als Gast ist mir dieses Haus nur in beschränktem Maße zugänglich, gehöre ich nur bedingt dort hin, ist es mir relativ fremd. Diese relative, also vorläufige und vorübergehende Fremdheit kann aber weichen – im Verstehen und im Vertrauen. Und was im Verstehen seinen Sinn offenbart, fügt sich in die sichtbare oder unsichtbare Ordnung dieses Hauses ein. Es fügt sich ein in Horizonte vielleicht traditioneller Vertrautheit, sodass Eigenes mit Fremdem verschmilzt (Li, 2016). Relative Fremdheit bleibt überwindlich, mir Fremdes muss mir nicht fremd bleiben, es wird mir vertraut, durch den Hausbesitzer anvertraut, indem ich es mir aneigne und darin jene Ordnung wiedererkenne, mit der ich schon vorab übereingekommen bin. Verstehen richtet sich an einer solchen Hausordnung aus, es partizipiert am Sinn dieser Ordnung. Diese Teilhabe erweist sich als vorgängiges Einverständnis mit dieser Ordnung, als Einverständnis, das sich verändern und vertiefen, aber nicht aufheben lässt und das es braucht, damit wir überhaupt uneins sein und uns gegeneinander abgrenzen können (Waldenfels, 1999c, S. 67–87). Im Rahmen dieser Ordnung kann der Haussegen einmal schief hängen und mag es Missverständnisse geben, die sich im Nachhinein beheben lassen wie eine optische Täuschung. Es geschieht aber auch Unverständliches, das sich – anders als bloß Missverständliches – eben nicht verständlich machen lässt. Dann steht Verständlichkeit überhaupt auf dem Spiel – und nicht nur eine ihrer Varianten: Wir geraten ins Stocken, kommen nicht weiter, Zugänge sind versperrt. Wir sehen und sehen nicht, wir hören und hören nicht. Und anstatt Fremdes zu verstehen, bleibt nur, das Fremde auszuhalten und in seiner Ferne zu ertragen – vor jedem Versuch zu verstehen (Rohr, 2005).

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Verstehen in Grenzen

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Beim Erlernen einer Fremdsprache stoße ich auf noch nicht oder nicht mehr Verständliches, auf Grenzen, die sich zwar nicht tilgen, aber doch verschieben lassen, und alles geht gut, auch in zwischenmenschlichen Begegnungen, solange ich die Grenze nicht von der falschen Seite aus anschaue. Immer gehen Grenzen mit, gleich dem mitwandernden Schatten auf sonnigen Wegen. Eigenes ist in Fremdes eingewoben, eigene Kultur in fremde Kultur. Grenzen des Könnens tun sich auf, des Nichtgelernten, jedoch Erlernbaren, aber eine Sprache lebt auch als Lebensform: So entstehen Grenzen des Ethos, wenn Fremdes Formen des Ungewohnten und Unvertrauten annimmt, dessen Aneignung nicht nur unsere Kompetenzen erweitert, sondern uns selbst verändert, und schließlich stoßen wir auf Grenzen der Existenz, die uns mit dem Fremden als einem Außerordentlichen konfrontieren: allemal mit Geburt und Tod, aber auch mit Traumata, die sich in unsere leibliche Existenz einbohren, und mit ekstatischem Außer-sichSein. Auch außer sich zu geraten bedeutet nicht, dass wir uns selbst verlieren, sondern dass wir anderswo beginnen (Waldenfels, 2012, S. 298; Pfeiffer, 1993). Fremdes steht dann nicht für das in verständlicher Welt noch nicht Verständliche, Fremdes zeigt sich dann vielmehr als »Ort der Unruhe, von dem unser Verstehen jeweils schon unwiderruflich ausgegangen ist, bevor das Projekt des Verstehens einsetzt und bevor das Fremde selbst benannt und beredet wird. Dieser Zeit-Raum des Fremden zersprengt jeden Sinnhorizont und zerreißt jedes Textgewebe.« (Waldenfels, 1999c, S. 84)

Fremdes entzieht sich dem Verstehen. Vielmehr kommt eine fremde Stimmung, eine fremde Stimme ins Spiel und die Fremdheit dieser Stimme rührt nicht daher, dass ich sie nicht verstehe, sondern beruht darauf, dass sie anderswoher kommt, dass sie mich herausfordert, meine Ordnungen infrage stellt, einen Anspruch erhebt, sodass es mir die Stimme verschlägt, sodass mir Hören und Sehen vergehen, einen Anspruch, der mich überfällt und dem ich kaum standzuhalten weiß. Dieser kommt mir so fremd vor, so ungehörig, dass ich ihn nicht als mir zugehörig wahrnehme. Doch die Breschen, an denen das Fremde eindringt, lassen sich nicht schließen, außer wir schließen die Augen. Ein solcher fremder Anspruch trifft auf kein vorgängiges Einverständnis. Ein solcher fremder Anspruch »hat in der Tat keinen Sinn, und er unterliegt keiner Regel […]. Das Antworten, das auf den fremden Anspruch eingeht, beschränkt sich weder darauf, daß ich die fremde Äußerung verstehe, noch darauf, daß ich mich mit einem Anderen verständige.« (S. 85 f.)

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Dieser fremde Anspruch geht buchstäblich nicht in Ordnung, vielmehr sprengt er jede Ordnung. »Jede Aneignung, ohne die es kein Eigenes gäbe, setzt etwas voraus, das sich gleich unserer Geburt einer Aneignung und Bemächtigung entzieht.« (S. 87) Dabei ist das Fremde mit Bernhard Waldenfels »dasjenige, das sich dem Verstehen widersetzt und das nur zur Sprache kommen kann in der Antwort, in der sich dasjenige, woran sie anknüpft, gleichwohl entzieht« (Feiter, 2010, S. 242), in vertrauteren Worten: »Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn, dann sahen sie ihn nicht mehr.« (Lk 24,31) »Für das ordentliche, normale Antworten gilt, daß es Sinn hat und bestimmten Regeln folgt. Doch das gleiche gilt nicht für ein Antworten auf ungeahnte Ansprüche, das eine bestehende Ordnung durchbricht und die Bedingungen des Verstehens und der Verständigung mit verändert.« (Waldenfels, 2016, S. 67)

Verstehen darf also nicht einer Wut des Verstehens anheimfallen, die allem Unverstandenen den Kampf ansagt und mit gewaltsamer Aneignung droht, Fremdem keinen Raum gewährt und imperialistisch daherkommt. Vielmehr geht es um das Eingeständnis eigener – wenn auch verschiebbarer – Grenzen des Verstehens, der Empathie und der Interpathie – als Empathie gegenüber dem kulturell Fremden (Schneider-Harpprecht, 2002; Hézser, 2002; Schneider-­ Harpprecht u. Hézser, 2002, S. 280) –, um eine Freigabe des Fremden zwischen Aneignung und Enteignung, um eine Freigabe des Fremden, das »in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt« (Adorno, 1966/1990, S. 192) und bleiben darf – und keiner subtilen Bewertung und machtvollen Annexion zum Opfer fällt, aber auch keiner Exotisierung.

5  Nochmals: Seelsorgekultur Dem radikal Fremden komme ich nur nahe, indem ich seine Ferne ertrage – eine Ferne, die keinen Mangel aufweist, sondern einen Anspruch bezeugt, den Anspruch des Fremden als eines Fremden, das sich nicht auf einen Fremd­ körper zusammenstauchen lässt, der entweder einer Assimilation anheimfällt oder abgestoßen wird. »Der Gesichtspunkt des Fremden in seiner Fremdheit und Andersheit entpuppt sich« vielmehr »als ein Gesichtspunkt besonderer Art. Er ist nicht mehr der Gesichtspunkt des Ganzen, unter dem das Fremde absorbiert würde, er ist auch nicht der Gesichtspunkt

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eines formell Allgemeinen, unter dem das Fremde neutralisiert würde, er ist erst recht kein bloßer Gesichtspunkt unter anderen, der Fremdes von sich abstößt. Er ist im strengen Sinne überhaupt kein Gesichtspunkt, der etwas zugänglich macht, sondern ein Ort, an dem man auf einen Anspruch oder eine Herausforderung des Fremden antwortet. Denn wäre das Fremde selbst ein Etwas oder ein Jemand, so wäre es bereits ein Substrat mehr oder weniger vertrauter Bestimmungen. Das Fremde selbst ist kein Was, es ist das Worauf einer Antwort« (Waldenfels, 1999a, S. 179 f.).

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Mit Bernhard Waldenfels verwandelt sich die Phänomenologie in eine Hyper-­ Phänomenologie, in seiner Theorie der Responsivität nennt er Modi hyper­ bolischer Erfahrung. Hyperbolisches lässt sich wie folgt umschreiben: »Etwas zeigt sich als mehr und als anders, als es ist.« (Waldenfels, 2012, S. 9) Hyper­ phänomene überqueren Schwellen des Fremden, freilich ohne diese zu überwinden, und sie tauchen in vielerlei Gestalt auf – als Unendliches, das uns Menschen heimsucht, die wir allemal unendlich weit hinter uns selbst zurückbleiben und unendlich weit über uns hinausgehen; als Unmögliches, das in der Zweideutigkeit der Vorsilbe »un-« zum einen auf Negatives, auf eben nicht Mögliches und zum anderen auf Überbietendes, gleichsam Übermögliches verweist, wie auch eine Unmenge oder eine Unzahl gerade nicht nichts, sondern besonders viel ist; als Unsichtbares, das sich unserem Blick entzieht, uns womöglich anzieht und auf den Blick wartet, der es aufdeckt; als Unvergessliches, das insofern gar kein Gegenstück kennt, als wir einen Gegenstand oder ein Ereignis, das vergessen werden darf, niemals mit dem Attribut vergesslich versehen, sondern ausschließlich Menschen, die leicht dies und jenes vergessen. In der offenen Form der Gastfreundschaft gibt die Gastgeberin, was sie nicht hat, »da das Eigene und das Eigentum durch den fremden Anspruch in Frage gestellt werden« (S. 309). Als Unendliches, Unmögliches, Unsichtbares und Unvergessliches sprengen diese Phänomene den Rahmen unserer Erfahrung, und sie knüpfen soziale Fäden in Formen des Gebens und der Gastlichkeit, auch in Figuren der Stellvertretung, wie wir sie in Theologie und Seelsorge traditionsreich kennen: in der Fürsprache für Andere, die weder dem Sprechen mit Anderen noch dem Sprechen über Andere gleichkommt (S. 234–254). In der Fremdheit des Religiösen erreicht die Transzendenz schließlich ein eigenes Gewicht. Das Überschüssige und Fremde, das Charakteristische solcher Widerfahrnisse, die vielleicht religiös anmuten, verliert sich jedoch, wenn ich es vorweg als religiös definiere und festklopfe. In diesem Sinne gibt es keine religiösen Phänomene, keine religiösen Erfahrungen, aber es gibt ein Getroffen­ sein, ein Angesprochensein, das sich in der Antwort des Getroffenen oder der Angesprochenen als religiös erweist – oder auch nicht.

Interkulturalität und (Nicht-)Verstehen

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Kulturelle Selbstverortungs- und Identitätsfindungsprozesse, auch migrationsbedingte, resultieren nicht aus vermeintlich homogenen Kulturen, auch die Unterscheidung von Gläubigen und Ungläubigen erweist sich als Miss­achtung beiden gegenüber – und als Missachtung einer Seelsorgekultur und eines religiösen Lebens, »das die Grauzonen erhält, das auch den halbentschiedenen und viertelgläubigen Kulturreligiösen […] einen Raum gibt und das den Vorhof zum Tempel nicht zum Schutz des Allerheiligsten verschließt« (Specker, 2016, S. 3). Vielmehr werden kulturelle Versatzstücke aus unterschiedlichen Kontexten auf je eigene Weise zusammengesetzt. Solche Mischungen und Prozesse kultureller Verflüssigung, solche Hybridisierung trifft nicht nur Eigenes, sondern auch Fremdes, weil Andere sich kaum noch auf eine fremde Lebenswelt – gleichsam in Reinkultur – festlegen lassen. Kulturelle Hybridisierung schließt Eigenes und Fremdes ein (Simojoki, 2013) und diese hybride Präsenz des Fremden im Eigenen verlangt in der Seelsorge – gewiss nicht nur dort, dort aber ganz gewiss – Aufmerksamkeit auch für das Eigene.

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  Genderaspekte in Seelsorge und Beratung

Claudia Schubert und Dietmar Vogt

1 Definition »Gender« und Darstellung des Fragehorizontes »Gender« und dazugehörige Kategorien

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Wer sich der Frage des »Gender« annimmt, hat es zugleich mit sich verändernden »Dynamiken und Kräfteverhältnissen, Hierarchien und Unterordnungen« (Burbach, 2001, S. 55) zu tun, die es auch in Beratungszusammenhängen zu beachten gilt. Sie setzen voraus, eine Person in ihren Bezügen wahrzunehmen. Der Personzentrierte Ansatz kennt mit dem Selbstkonzept (Burbach, I.1, S. 25 ff.) ein Konstrukt, bestehend aus Werten, Haltungen, Einstellungen und dem Gewordensein einer Person, das in Dialog tritt mit den Normen, die in einer Gesellschaft tradiert werden. Dieser Artikel thematisiert, inwiefern Persönlichkeitsentwicklung notwendigerweise mit der Aufgabe einhergehen muss, das sich entwickelnde Selbstkonzept mit individuellen und gesellschaftlich etablierten Aspekten von »Gender« diskursiv zu versprechen, um persönliche Inkongruenzen und soziale Konflikte aufzudecken, sozial nutzbar zu machen und zu verstehen. Mit der Bewusstwerdung alltäglich erlebbarer und mit dem Thema »Gender« verbundener Spannungen soll dabei das Erfordernis individueller Persönlichkeitsentwicklung aufgezeigt werden, das mit der gesellschaftlich sich im Fluss befindenden Genderfrage korrespondiert. Im Englischen wird zwischen dem biologischen Geschlecht »Sex« und dem soziokulturellen Geschlecht »Gender« unterschieden. Der Begriff »Gender« unterstreicht, dass weibliche und männliche Zuschreibungen auf wechselnden gesellschaftlichen Dynamiken gründen. Die gesellschaftlichen Geschlechter­ rollen, die Vorstellungen und Erwartungen, wie Frauen oder Männer sind bzw. sein sollen, beinhaltet »Gender«, das als veränderbare Kategorie fortwährend neu konstruiert wird. »Geschlechtersensibilität« nimmt die Situation von Frauen und Männern in den Blick, um das gesellschaftlich und individuell induzierte »Doing Gender« mit seinen Auswirkungen wahrzunehmen. Die »Gender Perspektive« fokussiert auf die Lebensverhältnisse von Frauen

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und Männern in allen Lebensbereichen. Sie macht Ungleichheiten sicht- und beschreibbar. »Wer die Genderfrage stellt, meint nicht einen linearen oder kausalen Zusammenhang zwischen Sex als dem biologischen und Gender als dem sozialen Geschlecht, sondern eröffnet einen weiten Horizont möglicher Zusammenhänge: Es gilt genau zu beobachten, wie biologisches und soziokulturell konstruiertes Geschlecht in welchem Kontext zusammenwirken, aus welchen Gründen sich Hierarchien entwickeln, wozu und wem sie dienen, auf wessen Initiative und mit wessen Mitwirkungen sie zustande kommen.« (Burbach, 2001, S. 55) Dieser von Burbach vertretene Differenzansatz macht deutlich, dass Gender tatsächlich mehr ist als zu wissen, was als männlich oder weiblich zu beschreiben ist. Gendersensible Beratung setzt voraus, dass es keine Wirklichkeit gibt, die Frauen und Männer neutral versteht, da sich unsere westliche Gesellschaft androzentrisch entwickelte. Daraus folgte, dass sich Männer über Jahrhunderte als das erste Geschlecht verstanden. Frauen dagegen waren das zweite Geschlecht, »das Andere« (de Beauvoir, 2013, S. 12) und inkorporierten diese Zuschreibung. Dieses Kulturgedächtnis prägt die heutige Realität in dominanter Weise weiter. Das Kulturgedächtnis im Wandel der Geschlechterverhältnisse

Neuere medizinische Definitionen von Geschlecht sind multidimensional. Ein prägender Bestandteil gesellschaftlicher Ordnung sind Geschlechterverhältnisse, also Strukturkategorien, die beschreiben, wie Vorstellungen über Geschlecht in Organisationen sowie in gesellschaftliche Regelsysteme eingeschrieben sind. Traditionell wird das Geschlechterverhältnis mit einer hierarchischen Vorstellung von der Überlegenheit des Mannes (Patriarchat) und einer männlichen Norm (Androzentrismus) verknüpft. Fühlen, Denken und Handeln sind also nicht geschlechtsneutral, sondern beziehen sich in unserer Kultur in erster Linie auf Männer, sodass Lebenslagen und Erfahrungen von Frauen zumeist unberücksichtigt bleiben. Die westliche Geschlechterordnung, in der bürgerlichen Gesellschaft bis Mitte des 20. Jahrhunderts realisiert, wird als binär, hetero­normativ und patriarchal charakterisiert, geprägt durch männliche, hegemoniale Dominanz. Merkmal dieses hierarchisch angeordneten Geschlechterverhältnisses ist eine geschlechtsbezogene Aufgabenteilung, mit der eine Zuordnung des Männlichen zum Bereich des Öffentlichen und des Weiblichen zum Privaten verbunden ist. In diesem Denken wird Lohnarbeit somit männlich und Hausarbeit weiblich konnotiert. Damit geht einher, dass Werte und Normen des Denkens und Handelns in Gesellschaft, Politik und Kultur geschlechtsspezifisch besetzt sind: Fürsorge z. B. gilt als weiblich und Aggression als männlich, Fühlen als weiblich und Denken als männlich. Frauen gelten als schwach, zurückhaltend

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und unterwürfig, Männer als stark, risikofreudig und durchsetzungsfähig usw. Diese Stereotype mit all ihren Facetten sind handlungsleitende Vorstellungen, die noch tief in unseren Kulturen verwurzelt sind. In Feministischer Theorie und in der Geschlechterforschung wird kontinuierlich die mit dieser Geschlechterordnung verbundene Ungleichheit in ihren mannigfaltigen Dimensionen analysiert und kritisiert. Lohnunterschiede, geringere Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen oder die mehrheitliche Zuständigkeit von Frauen für Hausund Erziehungsarbeit sind prägnante Beispiele für die anhaltende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Jäger arbeitet heraus, dass sich die Geschlechterverhältnisse gegenwärtig dadurch auszeichnen, »dass Phänomene der Persistenz von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern parallel zu Phänomenen des Wandels bestehen« (Jäger, 2016, S. 359). Denn »es gibt neue Existenzweisen« (S. 357), die neben binären stereotypen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit gelebt oder mindestens erwünscht werden. Für das Selbst ist das Geschlecht real spürbar und wird »als geschlechtliche Denk-, Gefühls- und Körperpraxis gelebt« (Jäger, 2016, S. 358). Aber »diese Existenz­weise [… setzt] sich für jede Person aus ganz individuellen Schemata des Wahrnehmens, Denkens, Handelns und Fühlens zusammen […], die gleich­zeitig strukturell von der bestehenden Geschlechterordnung geprägt sind« (S. 358) und dem gesellschaftlichen Wandel unterliegen. Politische Dimension von Gender

Trotz Frauenbewegung prägt die androzentrische Entwicklung unserer Gesellschaft Leben und Selbstverständnis vieler Frauen und Männer bis heute. »Noch immer halten genug Männer ihre Karriere automatisch für wichtiger als die ihrer Partnerin. 90 Prozent aller Väter von Kindern unter sechs Jahren arbeiten Vollzeit, aber die meisten Mütter Teilzeit – mit der Gefahr, beruflich den Anschluss zu verlieren und zu wenig für die Rente einzuzahlen. […] Genauso demotivierend wie manche Männer verhalten sich manche Firmen. […] Die hochflexiblen Arbeitszeitmodelle einiger Unternehmen bleiben eine Ausnahme. […] Zum Trio der Entmutiger gehört auch die Politik. […].« (Hagelüken, 2017, o. S.)

Eine Verpflichtung des Staates zu wirkungsvoller und aktiver Gleichstellungspolitik ergibt sich aus dem deutschen Verfassungsrecht. Artikel 3 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) bestimmt nach der Änderung von 1994 nicht nur: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG), sondern nimmt den Staat ausdrücklich in die Pflicht, »die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern« zu fördern und

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»auf die Beseitigung bestehender Nachteile« hinzuwirken (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG; https://www.bmfsfj.de, abgerufen am 31.12.17). Bis Ende 2018 wird der Gesetzgeber eine Neuregelung schaffen, um das dritte Geschlecht positiv in das Geburtenregister aufzunehmen (https://www.bundesverfassungsgericht. de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/bvg17-095.html, abgerufen am 09.03.2018). Genderkompetenz

In jedem gesellschaftlichen Bereich verlangen die genderbezogenen EU-Richtlinien von den Mitgliedsstaaten verpflichtende Umsetzungsregelungen. Im Kontext von Seelsorge, Beratung, Coaching und Supervision hat die kon­ sequente Anwendung des im Grundrecht verankerten Gleichheitsprinzips weitreichende ethische wie auch therapeutisch-wirksame Relevanz, da Menschen durch Gender­unrecht in Problemsituationen geraten und deswegen erkranken. Genderkompetenz ist demzufolge zu einem unverzichtbaren Quali­ tätsmerkmal für Beratungsarbeit geworden und Voraussetzung für erfolgreiches Gender Mainstreaming. Abdul-Hussain beschreibt Genderkompetenz und -performanz als »die Fähigkeit und die Umsetzung der bewussten und theoriegeleiteten Analyse und systematischen Reflexion […] aus Genderperspektive, um daraus adäquates und gendergerechtes Handeln zu entwickeln und bei der Umsetzung dieses Handelns Unterstützung zu bieten« (Abdul-Hussain, 2011, S. 56).

Die gesetzliche Verpflichtung zur Chancengleichheit von Frauen und Männern ist Basis gendersensibler Beratung, die stets politisch ist und »Gerechtigkeit unter konkurrierenden Gleichen« (Burbach, 2006a, S. 22) in den Blick nimmt.

2  Gender I – zwei Beispiele und Einordnungen aus dem Erfahrungsspektrum einer Beraterin Pastorin A.

Frau A., Pastorin, seit drei Jahren im Dienst, verheiratet und Mutter eines kleinen Kindes. Das System, in das sie als »Führungskraft in Teilzeit« (Sparber, 2009, S. 159) bei Dienstbeginn hineinkommt, ist geprägt durch eine männ­ liche »Dominanzkultur« (Döge, 2006b, S. 215). Ihr Kollege, Pastor B., ist primär im örtlichen Gemeindepfarramt sozialisiert und verfügt über jahrzehntelange Berufserfahrung. Die Pastorin repräsentiert ein Bild von Gemeindearbeit, das

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geprägt ist von agiler sowie multipler Netzwerkarbeit. Durch ihre Affinität zu sozialraumbezogenem und leitendem Denken sowie Handeln trägt sie in ihren beruflichen Kontext eine bis dahin unbekannte Struktur- und Leitungswahrnehmung als Veränderungssignal ein. Dennoch erlebt sie eine langsam eintretende Müdigkeit und Arbeitsüberlastung. Diese Inkongruenz wahrnehmend nimmt sie eine berufliche Krisenberatung für sich in Anspruch. Nachdem zeitgleich ihre Leitungsverantwortung ausgedehnt wurde, bittet die Pastorin ihren Dienstvorgesetzten einen Teamcoachingprozess einzuleiten. Auf der Beziehungsebene agiert die Pastorin umsorgend, indem sie in der Aktualisierung ihrer Selbstsorge den Kollegen verantwortungsbewusst in den Prozess integriert. Sie beklagt sich: »Ich habe eine halbe Stelle und mache so oft die Arbeit für (den Kollegen) mit. Er fühlt sich einfach nicht zuständig.« Die von dem Kollegen nicht wahrgenommenen Aufgaben – Beziehungspflege, organisatorische Absprachen zum Rahmenprogramm und zur kulinarischen Prägung von Gemeindeveranstaltungen sowie Hausbesuche – haben eine parallele Struktur: Es sind Aufgaben, die die Pastorin – ausgehend von ihrem eigenen beruflichen Rollenverständnis – als selbstverständlich erachtet. Dem Kollegen scheinen sie im Vergleich zu den repräsentativen, machtvoll-­dominanten Inhalten, die das Pfarramt bereithält, nachrangig zu sein. Anstatt den Kollegen mit ihrer Erwartung des Einhaltens getroffener Absprachen sowie termingerechter Aufgabenbearbeitung zu konfrontieren, erfüllt die Pastorin seine und ihre Aufgaben bis an die Grenzen der eigenen Erschöpfung. Ihre Frustration verschweigt sie zunächst und wählt den Weg der indirekten Konfrontation. Erst in dem Moment, in dem sich ihre Unzufriedenheit organismisch aktualisiert und es ihr unmöglich macht, konstruktive Gesprächskontakte zu ihrem Kollegen aufrechtzuerhalten, nimmt sie Beratung für sich in Anspruch und bittet im zweiten Schritt um ein Teamcoaching. Geprägt durch die vateridentifizierten Anteile ihres Selbstkonzeptes erlebt die Pastorin Inkongruenzen in der Zusammenarbeit mit dem Kollegen, dessen Arbeit sie in Teilen erledigt. Auf der emotionalen Beziehungsebene auf die liegen gebliebene Arbeit durch Gemeindemitglieder angesprochen, reagiert sie unverzüglich durch Bearbeitung der offenen Punkte. Die Pastorin hebt hervor, dass sich bei ihr deswegen »ein Verzettelungsgefühl« bei gleichzeitigem Verlust ihrer fokussierten Handlungsorientierung eingestellt hat. Anstatt ihre Arbeitsenergie fast ausschließlich nur auf die ihr zugeordneten Arbeitsbereiche zu richten und ihre Anliegen energisch zu verfolgen, erlebt sie, dass sie ihre eigenen Projekte vernachlässigt. Aus der fürsorgenden Arbeitshaltung, die die Pastorin als Teil der erhaltend wirkenden Selbstaktualisierung internalisiert hat, resultiert ein von den eigenen Idealen und Schwerpunktsetzungen entfremdetes, situationsbezogenes Arbeitsverhalten, das nur noch auf die Anforderungen von außen

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reagiert. Ihren eigenen Erfolg in Form von Priorisierung und Verwirklichung ihrer Schwerpunkte und Ideen stellt die Pastorin in den Hintergrund zugunsten der von dem Kollegen vernachlässigten Aufgabenerledigung. Die auf der Metaebene nicht reflektierte Übertragung der eigenen interna­ lisierten Erwartungshaltung an den Kollegen wirkt sich kontraproduktiv aus und erschwert die Zusammenarbeit zusätzlich. Im Coachingprozess beschreibt sie zudem den Verlust der Freude an ihrem Amt und stellt ihre Eignung als Pastorin infrage. Es irritiert sie, dass der Kollege sie als kühl, distanziert und herablassend bezeichnet. Mit Erstaunen wird ihr deutlich, dass sie die Kontaktpflege mit ihm verweigert. Zugleich kann sie ihm mitteilen, dass durch sie Teile seiner Arbeit mit­ erledigt werden und dass er dieses mit seinen Erwartungen konforme Verhalten stillschweigend annimmt und es für sich wie selbstverständlich nutzbar macht. Pastor B. begegnet zunächst der Übernahme von Leitungsaufgaben durch die Pastorin kritisch. Vorstellbar ist, dass er sich dadurch entmachtet fühlt. Würde die Pastorin jedoch weiterhin auf Leitung und Kontrolle verzichten, würde sie den Anforderungen ihres Amtes nicht genügen und sich auf diese Weise selbst disqualifizieren. Im Rahmen des Teamcoachings wird die Leitungskompetenz der Pastorin dahin gehend gefördert, dass die weibliche Geschlechtsrolle mit der Übernahme von Führungsaufgaben von ihr als kongruent erlebt wird. Zudem wird sie dabei begleitet, ihre Rolle, ihre Arbeitssituation wie auch die eigene Persönlichkeit metareflektieren zu können, sodass sich in ihrem Selbstkonzept ihr Leitungshandeln immer weiter etablieren kann. Der Beratungsprozess wird von einer Beraterin begleitet, die von dem männlichen Kollegen als hilfreich erfahren wird. Das Verhalten der Beraterin könnte ein »Role Model« (Schigl, 2012, S. 86) für die Pastorin darstellen. Sie erlebt exemplarisch, wie Kommunikation aus einer kongruenten Haltung heraus Gendergerechtigkeit realisiert. Sie wird zu integrierterem Verhalten angeregt. Dieses äußert sich in einer klareren Rollengestaltung und Abgrenzungsfähigkeit gegenüber Delegationsdynamiken. Durch den Klärungswunsch der jungen Pastorin gelingt es, alte Konflikte im Rahmen des moderierten Gesprächs zu bearbeiten und verkrustete Schuldzuschreibungen befreiend anzusprechen. Der Kollege hätte nach eigener Aussage »einfach so weitergemacht« und die Pastorin hätte sich kontinuierlich distanziert. Hier zeigt sich, dass es insbesondere für Frauen wichtig ist, einerseits Bindungs- und Beziehungsorientierung nicht als Schwäche zu verstehen, die es durch männlich-dominante Autonomie aufzuheben gilt, sondern als notwendige Fähigkeit, die Entwicklungsprozesse und selbstbestimmte Autonomie begünstigen kann, andererseits aber auch eine stabile Leitungskompetenz diesen Fähigkeiten an die Seite zu stellen.

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Pastor C.

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Frau D., 66 Jahre, engagiertes Gemeindemitglied, fühlt sich von ihrem Ehemann unverstanden, kleingemacht und unterdrückt. In ihr wächst der Wunsch, aus dem starren Korsett auszubrechen. Sie würde gern ihre eigenen Entscheidungen treffen und darin bestenfalls von ihrem Mann unterstützt werden. Zugunsten der familiären Situation und auch für die Karriere ihres Mannes hat sie ihre eigene berufliche Verwirklichung zurückgestellt. Diese Entscheidung bereut Frau D. aus heutiger Perspektive. Sie sucht das Beratungsgespräch mit Pastor C., zu dem sie aufgrund ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit Kontakt hat, um auf ihrem Emanzipationsweg Unterstützung zu finden. Frau D. schildert eine typische Kommunikationssituation mit ihrem Ehemann. Der Grundduktus dieses Gesprächs ist bestimmt von der latenten Wut der Frau auf den Ehemann. Im Beratungsgespräch wird die heimische Situation, aus der die Ehefrau auszu­ brechen wünscht, fortgesetzt, indem der Berater die Wut der Frau viel zu lange nicht erkennt und dementsprechend auch nicht verbalisiert. Stattdessen bietet er Verbalisierungen an, die die Gefühlslage in ihrer vitalen, nach vorn gerichteten Energie nicht erkennen und deshalb nicht förderlich für die Frau sind, sondern sie in altbekannte Muster wie Unterwürfigkeit sowie kleinlautes und devotes Verhalten »zurückwerfen«. Die Hoffnungs- und Hilflosigkeit der Frau, darin begründet, dass sie in ihrer Ehe nicht genug Beachtung findet und die daraus resultierende Sehnsucht, dass sich ihre Lebenssituation ändern möge, wird vom Berater nicht adäquat gewürdigt. Die gewünschte Unterstützung erfährt die Frau in dem Beratungsgespräch nicht. Im Rahmen einer Supervisionsgruppe äußert der Pastor seine Verwunderung darüber, dass das Gespräch mit der Frau nach seinem Ermessen schwergängig war und stagnierte. An dieser Stelle nimmt er eine Inkongruenzerfahrung hinsichtlich seines beruflichen Erfolges wahr. Erst in der Reflektion konnte der Pastor erkennen, dass seine biografisch bedingte Rollenwahrnehmung und die damit verbundenen impliziten Zuschreibungen im Gespräch einen Fallstrick darstellen und den Gesprächsprozess und vor allem den befreienden Entwicklungsprozess der Frau zum Erliegen gebracht haben, da die der Frau innewohnende Kraft und Energie von ihm weder gesehen noch ermutigend versprachlicht wurden, sondern erneut gehemmt. Überlegungen aus Sicht einer Beraterin

Im Handeln der Pastorin A. wird deutlich: »Unsicherheiten, geringes Selbstwertgefühl und leicht zu erzeugende Schuldgefühle verringern für Frauen die Chancen beruflichen Erfolges.« (Burbach, 2001, S. 246) Es könnte aber auch denkbar sein, »dass Frauen leitende Positionen verwehrt werden, weil Männer, bewusst oder unbewusst, weibliche Kontrolle fürchten.« (S. 246) In ihrem

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Leitungs­handeln erlebt die Pastorin fernerhin, dass »ihre Kompetenzen auf Misstrauen und Verweigerung stoßen.« (S. 246) Im Selbstkonzept von Pastor C. scheint sich ein eher althergebrachtes Geschlechterverständnis aktuell zu realisieren: Die Frau als die Umsorgende und Nichtverdienende ist das schwache Glied in der Partnerschaft. Der Mann als Alleinverdienender das starke Pendant in der Ehe. Augenfällig beim Reflektieren des Gesprächs wird, dass die Gefühlsäußerungen durch den Berater analog zu seinem eigenen Rollenverständnis strukturiert sind. Der Mann verkörpert die vitalen und kraftvollen Gefühle, wohingegen der Frau durch den Berater lediglich die schwachen Gefühlsausprägungen zuerkannt werden. Genderkompetente Beratende sind sensibel dafür, wie sich die Art der Beziehungsgestaltung, Kommunikation und Auseinandersetzung aufgrund ihrer Sozialisation geformt hat und wie sie sich in der Interaktion mit dem jeweils gleichen oder anderen Geschlecht ausdrückt. In ihrer Beratungsarbeit berücksichtigen sie die Schwierigkeiten von Männern, Gefühle anzusprechen und sich hilfsbedürftig zeigen zu können. Zugleich sind sie aufmerksam für weibliche Äußerungen nach Gestaltungswillen sowie aggressiver Potenz und wie sie sich emotional, körperlich und mental im Selbst der Person repräsentieren und nach außen treten. Es ist ein Qualitätsmerkmal genderkompetent Beratender, die eher stärkere Beziehungsorientierung von Frauen als auch die eher stärkere Aufgabenorientiertheit von Männern als potenzielles gesundheitliches Risiko wahrzunehmen. Für die psychische Ganzheit des Menschen ist die Integration weiblicher wie männlicher Konstruktions- sowie Lebensentwürfe in das individuelle Werden und Wachsen der Person unerlässlich. Differenzachsen und ihre Bedeutung für Beratungssituationen

Aktuelle Geschlechterverhältnisse sind überdies durch eine gestiegene Bedeutung von Differenzen charakterisiert. Für die Geschlechterordnung sind nicht mehr nur die Unterschiede zwischen Frauen und Männern relevant, sondern die Differenzen zwischen verschiedenen Frauen und zwischen verschiedenen Männern gilt es ebenso zu berücksichtigen wie andere »Achsen der Differenz« (Knapp u. Wetterer, 2003, S. 12). Für die Bereiche Seelsorge, Beratung, Coaching und Supervision ist diese Erkenntnis bedeutsam, da es vor allem in diesen Kommunikationskontexten wichtig ist, die divergierenden Differenzachsen wie beispielsweise Geschlecht, Ethnie, Religion, Bildung, Gesundheit oder Behinderung in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zu beachten und sie mit den innerpsychischen Resonanzachsen in Beziehung zu bringen, um die organismische Selbstaktualisierung zu fördern (Burbach, I.1, S. 27). Neben einer Verän­derung der Geschlechterverhältnisse ist zugleich eine Vermehrung der sogenannten

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Geschlechterarrangements festzustellen. Wie in Paarkonstellationen oder in Familien Erwerbs-, Haus- und Erziehungsarbeit geteilt werden, unterliegt einem Wandel. Neben das traditionelle Modell mit dem Mann als einzigem Verdiener und der Frau als der sich ausschließlich um die Familienarbeit Sorgenden treten vielfältige Organisationsgefüge, in denen die polare Aufgabenzuordnung aufgebrochen scheint. Die Trennung von Beruflichem und Privatem ist nicht mehr offenkundig. Die Neuverteilung der (Familien-)Arbeit und der Rollen wird individuell wie situationsbezogen kontinuierlich entwickelt. Für eine transparente sowie gelingende Neuordnung der Verbindung von Beruf und Privatem jenseits binärer Geschlechterordnungen sind jedoch noch keine tragfähigen Vorbilder erkennbar. Die beschriebenen Veränderungen der aktuellen Geschlechterverhältnisse und die zunehmende Diversität von Geschlechterarrangements sind für Seelsorge, Beratung, Coaching und Supervision relevant. Auch wenn in einer Beratungssituation auf den ersten Blick nur rein berufliche Aspekte thematisiert werden, ist doch zu berücksichtigen, dass diese mit Fragen verbunden sind, die über das Berufliche hinausreichen und damit die Person in ihrem persönlichen Gewordensein, der aktuellen Lebenssituation und somit auch im Privaten tangieren. Grundlegend für die Ratsuchenden wie die Beratenden ist an dieser Stelle, der eigenen Aktualisierung zu vertrauen sowie eine Kultur der Achtsamkeit für eigene Wertvorstellungen zu pflegen. Konsequenzen für die gendersensible Beratungspraxis im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen

Mit der Veränderung der Geschlechterverhältnisse geht eine öffentliche Sichtbarwerdung der lange Zeit vorherrschenden unsichtbaren Konstellationen einher, die immer mehr Bedeutung im politischen Diskurs einnimmt und in Beratungszusammenhängen Berücksichtigung finden muss. Transsexualität, Transgender, Transqueer und Intersexualität sind Lebensformen, die heute mehr oder weniger offen gelebt werden können, an dieser Stelle aber nicht weiter erörtert werden. Die Aufmerksamkeit auf die Differenzierung existierender Unterschiede im strukturellen Bereich und in der individuellen Verortung des Gegenübers zu richten, ist somit angezeigt. Beratung sowie Coaching und Seelsorge, die im Idealfall ihrem Grundsatz nach gendersensibel durchkomponiert sind, betrachten sowohl individuell Erlebtes strukturell als auch strukturell Geprägtes individuell. Der Beratungsverlauf wird auf die ratsuchende Person mit der je persönlichen Konstellation abgestimmt und immer wieder rückgebunden an das, was sich aus dem Blickwinkel der Strukturebene über Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und über Geschlechterverhältnisse in einem definierten Bereich formulieren lässt. Gesellschaftlich beobachtbar und in Beratungs-

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wie auch in Coachingprozessen als Belastungsmoment sowie Verunsicherungsfaktor erlebbar ist der Umstand, dass diffuser geworden ist, was von Frauen in ihrem Frausein und von Männern in ihrem Mannsein im beruflichen Kontext wie im privaten Bereich erwartet wird und welche Erwartungen sie an sich selber stellen. Wenn man der hier beschriebenen Einschätzung aktueller Geschlechterverhältnisse, der gestiegenen Anzahl möglicher Geschlechterarrangements, dem Vorhandensein von Differenzen auch zwischen Frauen und Frauen sowie Männern und Männern folgt, so steht das professionelle Ethos, gendersensibel zu beraten sowie zu coachen, vor mehreren Herausforderungen: Zum einen ist offensichtlich, dass es Veränderungen in der Geschlechterordnung gibt. Zum anderen ist jedoch nicht eindeutig, welche Veränderung für wen wann wie neu ist. Geschlecht ist universell von Bedeutung. Doch es ist nicht eindeutig zuzuordnen, welche Bedeutung es für wen wann entfaltet. Eine allgemeine Bestimmung, wie man Frauen im Gegensatz zu Männern beraten und coachen sollte, ist darum nicht sinnvoll. Daraus ergibt sich für Beratungs- wie Coaching­prozesse, in denen die Gender-Perspektive empathisch einfühlend eingenommen wird, kategorische Zuordnungen sowie ideologisch bedingte Bewertungen zu unterlassen; stattdessen geht es um die bedingungslos positive Beachtung und Verbalisierung der individuell erlebten Bedeutungen von Geschlecht – und damit um die Realisierung Personzentrierter Haltung in Bezug auf Geschlecht und den damit verbundenen individuellen und gesellschaftlichen Wandlungsprozess. Jedes Beratungsgespräch beinhaltet immer wieder aufs Neue einen Sondierungsaustausch darüber, wie das Gegenüber die eigene Geschlechtlichkeit denkt, fühlt, lebt und wie es dementsprechend handelt. In Personzentrierter Haltung wird der ratsuchenden Person ein Erfahrungs- wie Erlebensraum eröffnet, in dem die persönlichen Perspektiven im geschützten Rahmen überprüft und möglicherweise ergänzt und auch erprobt werden können.

3  Gender II – ein Beispiel aus dem Erfahrungsspektrum eines Beraters Auszug aus einem Beratungsgespräch mit einem Mann in einer Führungsposition U.: Früher dachte ich, ich sei schwach, aber nun erleben mich andere (U. erzählt vor allem von Kolleginnen) als zu stark! E.: Sie dachten immer, dass Sie sehr genau wissen, wer Sie sind, doch nun verunsichern Sie diese neuen Wahrnehmungen und Sie fragen sich, wer bin ich eigentlich? (…)

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U.: Ja genau, und dann kommt mir mein Vorgesetzter in den Sinn. Das ist ein echter Machtmensch, und doch ist er dabei herzlich und durchsetzungsstark. Der ist durchaus ein Vorbild für mich.

Suche nach dem Mannsein – neurobiologische und soziologische Implikationen

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Wenn es um männliche Identitätsfindung, Leitungsrollen und Macht geht, bilden neurobiologische sowie soziologische Forschungsergebnisse den wissenschaftlichen Beratungsrahmen für Personzentrierte Beratung und Seelsorge. Dabei fokussieren Neurobiologie und Hirnforschung ihren Blick zunächst auf das männliche Gehirn und halten fest, dass in erster Linie die spezifisch männliche Nutzung im Laufe der Mannwerdung das männliche Gehirn und damit auch das Denken und Fühlen von Männern charakteristisch prägt. Entscheidend dabei sind die auf Entwicklung hin orientierten menschlichen Gemeinschaften, die u. a. die jeweilig geltende Männerkultur formen. Je mehr die gerade erlebbare Männerkultur von Jungen und Männern fordert, desto mehr wird das männ­ liche Gehirn aufgrund des Geschlechtshormons Testosteron sowie aufgrund der typisch männlichen Orientierung an dem, was andere Männer machen, in der geforderten Weise genutzt bzw. diesem Denken angepasst. Die jeweils geltenden »kollektiv geteilte[n] Überzeugungen« (Hüther, 2016, S. 50) bestimmen, was gerade von Männern gefordert wird: »Machtaneignung, Raub, Betrug, Überfall und Krieg [oder] Umsicht, Mitgefühl, Solidarität, Verantwortung, Reflexions­ fähigkeit und Affektkontrolle.« (S. 50) Schwer wird es dabei für Männer, wenn es wie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft nicht unbedingt leicht ist, weib­liches wie männliches Verhalten und Aussehen deutlich von­einander abzugrenzen und unsere Gesellschaft »ohne es zu wollen, in einer Zeit angekommen [ist], in der es für Männer nicht mehr darauf ankommt, eine Rolle als Mann zu spielen, [sondern] stattdessen […] ein authentischer Mann zu werden.« (S. 79) Gegenwärtige soziologische Untersuchungen zeigen darüber hinaus, wie vielfältig männliche Rollen- und Leitbilder in unserer Gesellschaft sind. Sie sind wandelbar und zugleich abhängig sowohl vom Lebensalter, von den im Leben gemachten Erfahrungen als auch von widersprüchlichen gesellschaftlichen Erwartungen, zu denen die verschiedensten Rollenerwartungen von Frauen an Männer ebenso gehören. Sozialwissenschaftliche Aspekte

Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben zeitgenössische männliche Leit- und Rollenbilder erhoben und verschiedenen Milieus zugeordnet. Dabei fällt auf, dass das hegemoniale und traditionell-männliche Geschlechterrollenbild in unserer Gesellschaft neben dem derzeitigen Mainstream-­Männerbild

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steht, das den Mann »zwischen traditionellen Pflichten von Männern mit einem klaren begrenzten Rollenprofil einerseits, [und] einer Fülle von neuen, weichen ganzheitlichen Eigenschaften, Aufgaben und Möglichkeiten des Mannseins andererseits« (Wippermann, 2014, S. 9) wahrnimmt. Zudem treffen hegemoniale Leitbilder des Mannseins in unserer derzeitigen Gesellschaft auf in anderen Milieus gleichstellungsorientierte Männer, die mit »Unverständnis und Widerstände[n] in der Arbeitswelt gegenüber einem Rollenwandel von Männern« (S. 12) zu kämpfen haben. Während das Selbstbild vieler Männer dem Bild des neuen, modernen Mannes entspricht, ist dieses im Verhalten meist nicht hinreichend realisiert. Suche nach männlicher Identität am Beispiel des Gesprächs

Der vorliegende Auszug aus einem Beratungsgespräch bestätigt, was die neurobiologischen und soziologischen Forschungen darstellen, denn U. sieht sich mit sich selbst und den Männerbildern seines Milieus konfrontiert. Trotzdem fällt es ihm nicht leicht, sein Mainstream-Männerbild authentisch zu leben. Er spürt etwas in sich vom modernen, neuen Mann als Entdecker ganzheitlicher Männlichkeit und ist gleichzeitig im Rahmen seiner Organisation fasziniert vom dort positiv konnotierten hegemonialen, traditionell-männlichen Leitbild seines Vorgesetzten. In dem Moment, in dem U. diese Faszination äußert, sind für ihn die Schattenseiten des hegemonialen Männerbildes nicht präsent. Dass die Rollenbilder männlicher Dominanzkultur verbunden sein können mit dem Verzicht auf Zeit z. B. für Ehe und Familie, spielt in dem Moment seiner Faszination keine Rolle. Trotzdem ahnt U., dass letztendlich etwas bei seinem Rollenbild nicht passt, denn er ist verunsichert, wenn Frauen in seinem Betrieb zu ihm sagen, er sei zu stark. Um in seiner Organisation gut leben zu können, übernimmt U. das von seiner Organisation vorgegebene hegemoniale Leitbild, das die Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Organisation bestimmt, doch die organisationalen Hierarchien, die auf dieser Basis entstehen, bergen die Gefahr, dass Frauen sich schwach fühlen, weil sie sich mit (scheinbar) starken Männern konfrontiert sehen, und dass Männer sich stark fühlen, obwohl ihre Stärke vor allem daher rührt, dass sie ein Männerbild verkörpern, das letztendlich nicht kongruent mit ihnen selbst ist. Überlegungen aus Sicht eines Beraters

Die hier beschriebene aktuelle Lage zeigt, dass Organisationen zwar »niemals homogen männlich [sind, sondern] organisationales Handeln kann geschlechtertheoretisch als Interaktion unterschiedlicher Geschlechterkulturen

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und Männlichkeitsmuster, die sich in unterschiedlichen Apparaten und Abteilungen ausbilden, beschrieben werden. Insbesondere das Management von Organisationen stellt einen zentralen Ort der Reproduktion hegemonialer Männlichkeit dar, was einen Ausdruck in jeweils organisationsspezifischen Männlichkeitsstilen findet.« (Döge, 2006a, S. 30)

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Auch der anfangs zitierte Auszug aus einem Beratungsgespräch zeigt, dass U. die Macht hegemonialer Führungsstile aus seinem System kennt, sie positiv konnotiert und zugleich seine Leitungs- bzw. Männerrolle von Kolleginnen hinterfragen lässt, was auf Inkongruenzen in seinem Bild vom Mannsein hinweist. Geschlechtersensible Beratung hat zunächst die Aufgabe, das eigene Männerund Leitungsrollenbild von U. in den Blick zu nehmen, um es in Beziehung zu setzen zu dem Männer- und Leitungsrollenbild seiner Institution. Dazu muss U. auch sein Frauenbild und das seiner Organisation hinterfragen, damit er am Ende zu einem Männer- und Leitungsrollenbild finden kann, das sowohl organismisch zu ihm passt als auch mit den Bildern seiner Organisation kompatibel ist. Gleichzeitig ist es gut, wenn U. weiß, wo er sich vom Männer- und Leitungsrollenbild seiner Institution abgrenzt. Orientiert an solchen von Döge entwickelten Leitfragen könnte das Beratungsgespräch geführt werden (Döge, 2006a, S. 28). Gendersensibel Beratenden fällt zudem auf, dass U. in dem anfangs zitierten Gesprächsausschnitt erwähnt, dass ihn das, was die Frauen über sein Männer- und Leitungsbild sagten, besonders berührt. Welche Rolle nehmen da – zumindest unbewusst – Frauen für U. ein? Sieht er in ihnen vor allem Auskunftgeberinnen oder gar Bewunderinnen? Vor dem gendersensiblen Hintergrund wäre zudem nachfragbar, wie U.’s Macht- und Leitungsrolle auf Männer wirkt. Ob er sie gefragt hat? Vielleicht spürt U., dass eine Befragung von Männern eher Konkurrenz hervorrufen könnte und er plötzlich in Gefahr der Disqualifikation seines Männerbildes stünde. Hierher gehört ferner die Frage, warum U. die Rolle seines Chefs faszinierend findet. Das Fühlen und Verhalten von U. stabi­lisiert hegemoniale Hierarchien und hegemonial androzentrische Leitungs­ rollen. Es eröffnet keinen Weg hin zu heterogenen gendersensiblen Hierarchien und reziproker Resonanz und es verweigert ihm einen unverklärten Blick auf die Schattenseiten männlicher Dominanzkultur. In der Personzentrierten Grundhaltung können diese Themen angstfrei angesprochen werden, um sie zu überprüfen und evtl. für U. stimmig zu transformieren: immer in dem Wissen, dass es bei den Themen männliche Identitätsfindung, Leitungsrolle und Macht nie nur um individuelle geschlechtssensible Themen geht, sondern stets auch um gendersensible, organisationstheoretische und damit eben auch um hochaktuelle politische Themen.

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4  Genderkompetenz in Beratung und Seelsorge Resonantes Lernen und Begegnen im Beratungsprozess

Für Seelsorgerinnen, Berater, Coaches sowie für Supervisorinnen ist es zwingend notwendig, das persönliche wie berufliche Gewordensein in Selbsterfahrungen und Selbstklärungsprozessen kontinuierlich zu reflektieren und mit den aktuell vorfindlichen Arbeits-, Lebens- und Weltsituationen in Resonanz zu treten. Die Integration der Lern- sowie Erkenntnisprozesse in das Selbstkonzept hilft ihnen, für die in der aktuellen Beratungssituation anklingenden Themen und Assoziationen durchlässiger zu sein. Darüber hinaus ist ein geschlechtersensibler und gendersensibler Umgang mit sich selbst und den eigenen Lebenserfahrungen unverzichtbar, um relevante Beratungsarbeit gestalten zu können. Sprache als Kommunikationsmittel schafft Realitäten. Demzufolge bedürfen die Beratenden eines Bewusstseins für gendersensible Sprache. Genderverhältnisse nehmen in Beratung und Coaching eine wichtige Rolle ein. Mit Diskursen um Gender sind immer Herrschafts- wie auch Machtdiskurse verknüpft, ebenso wie Fragen nach Differenz und Gleichheit. »Die Geschlechterrollen sind durch viele verschiedene Faktoren eingeübt und werden auf verschiedenen Ebenen durch eine ganze Reihe von Mustern stabilisiert und auch fixiert. Um die individuellen, gesellschaftlich bedingten, milieugesteuerten, institutionskulturellen und peer-group-orientierten Selbst- und Fremdbilder, Verhaltensweisen, Einstellungen und Interaktionsmuster wahrzunehmen, ihre Wirkung auf andere zu entdecken, Alternativen zu phantasieren und auszuprobieren, zu bewerten und sich möglicherweise anzueignen, bedarf es der Arbeit auf verschiedenen Ebenen.« (Burbach, 2001, S. 55)

Im Hinblick auf die vielfältigen Beratungs- wie Coachingsettings ist zu konstatie­ ren, dass Differenzen zwischen verschiedenen Frauen wie auch zwischen verschiedenen Männern in diesem Kontext von spezieller Bedeutung sind. Sie fordern Beratende auf, die persönliche Interpretation von Geschlechterverhältnissen und auch das eigene Selbstkonzept in Bezug auf Geschlecht durch Selbsterfahrung immer wieder infrage stellen zu lassen. Entlang der mannigfaltigen Differenzachsen sind Unterschiedlichkeiten immer zweifach präsent: einmal in der beratenden und einmal in der Rat suchenden Person. Für Beratung und Coaching im beruflichen Bereich ergibt sich daraus die Konsequenz, mit den strukturellen Differenzen vertraut zu sein, und zugleich die Notwendigkeit, ein Bewusstsein für die individuellen Verschiedenheiten auszuprägen sowie die Besonderheit der ureigenen Situation der Person umfänglich zu erfassen (Burbach, I.1, S. 33 f.).

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Claudia Schubert und Dietmar Vogt

Gender Perspektiven in Aus-, Fort- und Weiterbildung

Bedeutsam für die Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie für die Qualitätssicherung der Personzentrierten Arbeit ist die fortlaufende Auseinandersetzung mit den eigenen geschlechtsspezifischen Prägungen sowie Vorannahmen, um diese von der Theorieebene ausgehend über biografienahe Selbsterkenntnisprozesse zur bewusstseinsfähigen Wahrnehmung zu bringen. Auf diese Weise können die »Gender-Färbung« (Schigl, 2012, S. 87) sowie deren Konstruktionsprozesse reflektiert werden. Für gendersensibles, Personzentriertes Arbeiten ist es grundlegend, empirische wie theoretische Kenntnisse über aktuelle Geschlechterverhältnisse den Teilnehmenden als Erweiterung ihres Kognitions- und Erfahrungsspektrums anzubieten, um mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen. Gender Mainstreaming in der Beratungspraxis

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Gender Mainstreaming bedeutet, in allen Planungs- und Entscheidungsprozessen von vornherein Gleichstellungsaspekte zu beachten und für deren Umsetzung Verantwortung zu übernehmen. Auf Ebene der Europäischen Union wurde der Gender Mainstreaming-Ansatz zum ersten Mal im Amsterdamer Vertrag vom 1. Mai 1999 verbindlich festgeschrieben (www.bmfsfj.de, abgerufen 31.12.17). Gender Mainstreaming etabliert die Kenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt, und fordert somit die nachhaltige Verankerung der Geschlechterdimension in allen Bereichen von Institutionen und Orga­ nisationen. Es richtet sich gleichermaßen an Männer wie Frauen und will erreichen, dass negative Auswirkungen der derzeitigen Geschlechterverhältnisse auf Frauen, aber auch auf Männer, überwunden werden. Die Besonderheit des Konzepts des Gender Mainstreaming besteht nach Ansicht von Burbach und Döge darin, »dass es die Aufgabe der Herstellung von Chancengleichheit von Frauen und Männern zu einer gemeinsamen Aufgabe aller in den jeweiligen Organisationen Tätigen macht.« (Burbach, 2006a, S. 9) Gleichzeitig wird durch die Umsetzung von Gender Mainstreaming neue Gender-Kompetenz ausge­ bildet. Gender Mainstreaming als »politische Aufgabe« (S. 9) setzt »nicht bei den weiblichen Individuen an, sondern orientiert sich auf einen grund­ legenden Umbau von Organisationskulturen insgesamt. […] Grundlage hierfür bildet […] vor allem die Absage an ein Denken in homogenen Geschlechtergruppen: Nicht alle Frauen sind qua Geschlecht emanzipationsorientiert, nicht alle Männer per se am status quo interessiert.« (S. 9 f.)

Gendersensible Beratung und Seelsorge als Abkehr von der männlichen »Dominanzkultur« (Döge, 2006b, S. 215) nimmt den gesellschaftlichen Willen und den

Genderaspekte in Seelsorge und Beratung

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damit verbundenen politischen Anspruch auf Geschlechtergerechtigkeit ernst und konfrontiert Männer damit, dass die von ihnen gefühlten Inkongruenzen in Bezug auf ihr Männer- und Leitungsbild etwas mit den in Organisationen protegierten hegemonialen Männer- und Leitungsbildern zu tun haben können. Auf diese Weise kann klarer werden, dass Männer, die ein hegemoniales Männerbild vertreten, in machtvollen Geschlechterhierarchien eher favorisiert werden, was oftmals ein entsprechendes Verhalten zur Folge hat. Frauen werden dabei in ihrer heteronomen Rolle fixiert und dadurch diskriminiert. Männer, die dem hegemonialen Bild vom Mann nicht entsprechen, sammeln inzwischen Erfahrungen, die dem jahrhundertealten Erleben von Frauen nahekommen. Durch Einblicknahme in gendersensible Machtpolitik und gendersensible Hierar­chien kann mit den zu Beratenden ein Weg zu einem Frauen- wie Männerbild gegangen werden, das zur Person passt und gleichzeitig die Grundrechte auf Gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit ernst nimmt. Im Verlauf gendersensibler Beratungsprozesse haben auch Gender Mainstreaming-Prozesse, Institutionsanalysen und Gender Trainings ihren festen Ort.

5 Ausblick Der Personzentrierte Ansatz sieht das Personsein des Menschen in seiner Individualität und geschichtlichen sowie gesellschaftlich-sozialen Geprägtheit. Der Mensch wird sensibilisiert, Kongruenzerfahrungen zu entwickeln. Der strukturelle Kontext ist jedoch geprägt von Genderunrecht und stellt damit eine erhebliche Inkongruenzquelle dar. Personzentrierte Seelsorge, Beratung und Supervision sowie Personzentriertes Coaching setzen sich kritisch mit diesem Umfeld auseinander. Sie ermöglichen Reflexionsprozesse. Der Leitgedanke, das soziokulturelle sowie das sexuelle Geschlecht zu reflektieren, bleibt bedeutsam, auch wegen der politischen Relevanz, die Gender Mainstreaming-­Prozessen zukommt. Die Arbeit an diesem strategischen wie politischen Konzept muss also reagierend auf sich wandelnde Strukturen weitergehen, besonders da sich der Begriff Gender aufgrund verändernder Geschlechterverhältnisse und Geschlechterarrangements um Transgender, Transqueer, Intersexualität u. a. erweitert hat.

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 »Der Glaube, in der Hölle zu sein« – Seelsorge bei Seelenfinsternis

Klaus Kießling

1 »Der Glaube, in der Hölle zu sein«

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»[…] ich glaubte, Strafe, selbst ewige Strafe, verdient zu haben, und ich wußte sehr genau, für welche Vergehen und Unterlassungen. Der Glaube, in der Hölle zu sein, paßt in den Rahmen der Depression. Aber meist ordnete ich die Dinge so: Es gehört zu den Höllenqualen, in manchen Augenblicken zu glauben, daß du nicht in der Hölle bist. Auch dieser Gedanke ist ein Teil der Hölle. Es ist Gott, der dich das glauben läßt. Er kann, so argumentierte ich, zulassen, daß Teufel dir die Eingeweide aus dem Leibe reißen, und doch dafür sorgen, daß du daran nicht stirbst. Aber Er kann die Hölle auch erst recht zur Hölle machen, indem er dich glauben läßt, du seist nicht in der Hölle. Wo du dann wirklich bist, das wirst du jeweils aufs neue erfahren.« (Kuiper, 1995, S. 148 f.)

Der Psychiater Piet C. Kuiper ließ sich dazu ermutigen, seine eigenen heillosen Erfahrungen höllischer Depression im Nachhinein unter dem Titel »Seelenfinsternis« in Worte zu fassen. Solche Seelenfinsternis umfasst vielfältige Weisen menschlichen Leidens, die heute vor allem als depressive Erkrankungen in Erscheinung treten. Diese grassieren in erschreckendem Ausmaß – und häufig mit tödlichem Ausgang durch Suizid. Dieser Befund trifft sich nicht nur mit meiner eigenen Erfahrung in pastoralpsychologischer Praxis und Supervision; einhellige Bestätigung findet er auch unter vielen Gemeindemitgliedern, unter haupt- und ehrenamtlich Engagierten der Kirchen sowie unter Mitarbeitenden von Beratungsstellen in kirchlicher Trägerschaft, die bei verschiedenen Anlässen darüber Klage führen, wie hilflos und ohnmächtig sie sich im Kontakt mit depressiv kranken Menschen sowie im Umgang mit der Macht und der Wucht dieses Leidens oftmals fühlen. Zunächst möchte ich das Stimmungsbild solcher Seelenfinsternis weiter ausmalen und den folgenden Fragen nachgehen: Wie lassen sich Möglich­keiten der Begleitung von Menschen in Seelenfinsternis skizzieren? Was vermag Person­

»Der Glaube, in der Hölle zu sein«

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zentrierte Psychotherapie dagegen auszurichten? Wie verhalten sich Psychotherapie und Seelsorge zueinander? Welche Chancen liegen schließlich in einer Seelsorge bei Seelenfinsternis?

2 Seelenfinsternis Zu den Erfahrungen von Seelenfinsternis, die für Menschen in depressiven Anfechtungen ganz typisch sind, zählen Gefühle der Schuld angesichts bestimmter Versäumnisse und Vergehen in der Vergangenheit, aber auch eine übermächtige Angst vor der Zukunft. Leben wird aufgeschoben, gelebte und erlebte Zeit klaffen auseinander: »Ich saß in einer Ecke und schaute auf die Uhr, nach einiger Zeit noch einmal. Zweieinhalb Minuten waren vergangen, während es nach meiner Schätzung eine Stunde hätte sein müssen. […] Den Stillstand der Zeit habe ich als eines der quälendsten Symptome meiner Krankheit erfahren.« (Kuiper, 1995, 168 f.)

Nicht allein das Zeiterleben, auch das Raumerleben erlangt in einer Depression ein ganz eigenes Gepräge: Leere, Völle, Albdruck, de-primierende, nieder-­ drückende Schwere rücken das Telefon, das zum Greifen nahe Wasserglas, die in wenigen Schritten erreichbare Küche in unendliche Ferne. Typische Körperwahrnehmungen sind das »Helmgefühl« über dem Kopf mit Druck auf den Schläfen, überhaupt Schwere-, Spannungs- und Druckgefühle. Der Leib eines Menschen trägt seine Existenz, verkommt in der Depression aber zum lastenden Leib, und seine Welt schrumpft zu einem lästigen und aufdringlichen Ganzen zusammen, das nicht mehr an einen Menschen, »wie er leibt und lebt«, denken lässt, sondern an einen leblosen Körper. Dieses Erleben kann zur völligen Entleibung, zum Suizid führen. All dies sind Phänomene, die oft gerade dann zutage treten, wenn die Geschäftigkeit des Alltags zurücktritt, etwa während der Urlaubszeit. Es scheint so, als gönne sich ein deprimierter Mensch seine freie Zeit nicht, als fühle er sich gerade dann am wohlsten, wenn er leiden muss. Vielleicht sind es aber die im Urlaub wegfallende Struktur und die fehlende Betriebsamkeit des Alltags, die dazu führen, dass eine ansonsten verdeckte finstere Grundstimmung den ganzen leeren Raum einnimmt, bestimmt, verstimmt. Dabei lassen sich Stimmungen klar abgrenzen gegen Gefühle. Ein Gefühl richtet sich auf jemanden oder etwas, etwa Freude über Interesse an diesem Thema, Zuneigung zu oder Abneigung gegen einen Menschen. Eine Stimmung

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Klaus Kießling

aber bekundet, wie einem gleichsam im Ganzen zumute ist. Auf dem Boden einer Stimmung sind immer nur bestimmte, eben von dieser Stimmung gestimmte Gefühle möglich: Wem im Ganzen bedrückt zumute ist, der kann sich über nichts so recht freuen. Stimmungen lassen sich also nicht als bloße Begleiterscheinungen menschlicher Wahrnehmung abtun, vielmehr erschließen sie menschliches In-der-Welt-sein als Ganzes. Unsere Stimmung kann bewirken, dass uns die ganze Welt finster vorkommt – der oft belächelte Weltschmerz drückt dies treffend aus –, sie kann aber auch bewirken, dass einer ausruft: »Ich könnte die ganze Welt umarmen!« Was auch immer Menschen wahrnehmen, nehmen sie in einer bestimmten Stimmung wahr. Auch Schwermut richtet sich auf kein konkretes Ereignis, ist gleichsam grundlos und unterscheidet sich dadurch von allem begründeten Leid, wie der darin erfahrene dänische Theologe und Philosoph Sören Kierkegaard schreibt:

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»Es ist etwas Unerklärliches in der Schwermut. Wer Kummer und Sorge hat, weiß, was ihm Kummer und Sorge verursacht. Fragt man den Schwermütigen, was ihn so schwermütig mache, was so schwer auf ihm laste, so wird er antworten: das weiß ich nicht, das kann ich nicht sagen. Das macht den Schwermütigen immer so unendlich schwermütig. Seine Antwort ist übrigens ganz richtig; denn sobald er sich in seiner Schwermut versteht, ist sie gehoben, während der Kummer mit der Erkenntnis seiner Ursache nicht gehoben ist.« (Kierkegaard, 1843/1913, S. 159)

Die düstere Weise, Welt zu erschließen, taucht auch zwischenmenschliche Beziehungen in ein negatives Licht. Umgang mit anderen Menschen ist primär von Sorge und Verantwortlichkeit geprägt, kaum aber von gemeinsamer Freude. Diese Schwere, diese Last lässt menschliche Aktivität erlahmen, bringt Konzentrationsstörungen oder gar völlige Handlungsunfähigkeit mit sich, führt also zu weiteren Belastungen der Stimmungslage. Diese wiederum steigert die Selbstabwertung bis zum Selbsthass und ist mit massiven Schuldgefühlen verknüpft: Erfahrungen der Niedergeschlagenheit, der Erschöpfung, der Antriebs-losigkeit, der Hilf-losigkeit, der Schlaf-losigkeit, der Appetit-losigkeit, der Lust-­ losigkeit, der Nutz-losigkeit, der Sinn-losigkeit, der Hoffnungs-­losigkeit, all diese »Losigkeiten« verdichten sich immer mehr. Die Kluft zwischen diesen Erfahrungen und den eigenen Idealbildern wird tiefer und tiefer, denn gerade das Idealbild eines depressiv erkrankten Menschen zeichnet sich durch großen Perfektionismus, hohe Leistungsansprüche und starke Wünsche, ja Sehnsucht nach Respekt und Liebe aus. Auf dem Weg in eine Depression finden sich oft lange Strecken von enttäuschten Bemühungen um Annahme und Liebe durch bedeutsame Bezugspersonen, manchmal auch zwiespältige Äußerungen der

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Eltern, die ihr Kind zu guten Leistungen ermuntern und insgeheim doch mit ihm rivalisieren, etwa so: »Du sollst ganz tüchtig sein, darfst aber nie besser werden als ich.« Die darin zum Ausdruck kommende Haltung vereint zwei Momente, die gar nicht miteinander vereinbar sind: »Du sollst ganz tüchtig sein« formuliert einen Ansporn, zielt auf Erfolge und strahlendes Rampenlicht. »Du darfst nie besser werden als ich« steht auf der Schattenseite, bremst den so Ange­sprochenen ab. Eine solche Verknüpfung einander entgegengesetzter Momente, solches »Fahren mit angezogener Handbremse« kostet alle menschliche Energie und lässt erfahren, wie diese Energie gleichsam versickert im Graben zwischen licht­vollen Idealen und realem finsterem Erleben. Welche Möglichkeiten helfen dabei, Licht ins Dunkel oder das Dunkel ans Licht zu bringen?

3 Personzentrierte Psychotherapie Die psychotherapeutische Begleitung eines depressiv erkrankten Menschen basiert auf der Beziehung zwischen einem leidenden Menschen einerseits und einer therapeutischen Begleiterin sowie verschiedenen Grundhaltungen andererseits (Finke, 1994a, S. 119–127). Letztere bilden die Basis therapeutischen Arbeitens, die sich in der Vielfalt psychotherapeutischer Ansätze durchhält (Tscheulin, 1992) und auch in der Seelsorge sowie in alltäglichen menschlichen Begegnungen eine tragende Rolle spielt. Dazu gehört erstens die Wertschätzung, also der unbedingte Respekt vor meinem Gegenüber. Mit dieser Haltung kommt ein Therapeut einem depressiv leidenden Menschen sehr entgegen, da dieser oft lange vergeblich um Angenommensein durch ihm wichtige Bezugspersonen gerungen hat. Besondere Herausforderungen erfährt diese Haltung zum einen dadurch, dass ein depressiv herabgestimmter Mensch diesen Respekt zwar ersehnt, aber zugleich abwehrt aus dem Gefühl heraus, diese Wertschätzung gar nicht verdient zu haben, und zum anderen dadurch, dass die Therapeutin ihren Klienten mit immer neuer Geduld durch die düstere Welt seiner Hoffnungslosigkeit begleiten muss, die oft aussieht, »wie wenn eine Trockenzeit ausgebrochen ist und aus einem lebendig dahinströmenden Fluß ein Rinnsal von langsam dahinsickerndem Wasser hat werden lassen. Aus dem Flußbett ragen nun groß und unübersehbar die vom Flußwasser einst überdeckten Brocken von Komplexgestein heraus: Angst, Sorge, Schuld.« (Steinhilper, 1990, S. 14 f.)

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Die zweite Grundhaltung ist die Empathie. Dieses verstehende Einfühlen meint eine Bewegung, in der ein Therapeut sich auf das Erleben und dessen Bedeutung für die Klientin einlässt und sie in ihrer Welt zu verstehen sucht. Wirkliches Verstehen kann einen Raum öffnen, in dem sich der leidende Mensch mit seinen quälend schweren Gefühlen und seinen selbstzerstörerischen Gedankenketten konstruktiv auseinandersetzen kann. So vermag echtes Verstehen verändernde und heilende Kräfte freizusetzen. Ich erinnere an Kierkegaard, wie er von einem Schwermütigen schreibt: »[…] sobald er sich in seiner Schwermut versteht, ist sie gehoben« (Kierkegaard, 1843/1913, S. 159). Zur besonderen Herausforderung wird die Empathie in der Arbeit mit einem depressiv leidenden Menschen zum einen dadurch, dass sie ihn in seinem In-der-Welt-sein zu verstehen sucht, obwohl (oder gerade weil) er sich selbst kaum versteht, und zum anderen dadurch, dass sie ihn konfrontiert mit der schmerzlichen Kluft zwischen selbstquälerisch anmutenden Idealen und düsterem Selbstbild. So sehr er sich wünschen mag, endlich verstanden zu werden und sich selbst verstehen zu können, so sehr schmerzt es ihn, dabei seine fehlende Stimmigkeit mit sich selbst zu spüren. Echtes Verstehen meint ein Sicheinlassen auf die Welt meines Gegenübers, ohne dass ich mich darin verliere, sondern indem ich mir selbst treu bleibe. Damit umschreibe ich als dritte Grundhaltung die Echtheit, also die Transparenz der Therapeutin in ihren Gefühlsäußerungen, sofern sie ihr für die Beziehung zu ihrem Klienten bedeutsam erscheinen, und den Verzicht auf eine professionelle Fassade. Zur besonderen Herausforderung wird diese Haltung, wenn ein depressiv herabgestimmter Mensch seine Aggressionen (Frielingsdorf, 2016) nicht allein gegen sich selbst richtet, sondern diese Wut nach außen kehrt und an die Therapeutin adressiert, etwa in Form von Vorwürfen, sie kümmere sich nicht genügend um ihn. Ein echtes Verstehen braucht solche »Angriffe« nicht barsch zurückzuweisen, sondern kann den Raum für die Erfahrung öffnen, dass Aggressionen nicht niedergedrückt, deprimiert werden müssen und der Klient sich mit seiner Wut auseinandersetzen und vielleicht sogar versöhnen kann. Eine Klientin, die durch aktives Zuhören und interessierte Rückfragen des Therapeuten behutsam, aber unablässig mit sich selbst konfrontiert wird, kann Mut fassen, sich in dieser Welt wie eine Forscherin in (noch) unbekannten Gegenden zu bewegen und aus dem ihr entgegengebrachten Vertrauen heraus (neu) an die ihr gegebenen Möglichkeiten zu glauben. So kann es gelingen, dass sich perfektionistische Ansprüche an die eigene Person durch die Erfahrung von Zuwendung und echtem Verstehen relativieren lassen. Die Selbstwertschätzung kann wieder wachsen, eigene Fähigkeiten können wieder in den Blick kommen.

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Das überhöhte Idealbild und das negative Selbstbild nähern sich einander an, sodass der dazwischen klaffende Spalt im Laufe eines psychotherapeutischen Prozesses überbrückt werden kann. Zur Begleitung durch finstere Schluchten hindurch braucht es einen langen Atem, langen Mut, die Akzeptanz des Gegenübers in seiner Schwermut und die spürbare Hoffnung einer Begleiterin, eines Psychotherapeuten, einer Seelsorgerin auf einen Lichtstreif am Horizont.

4  Psychotherapie und Seelsorge Wie lassen sich Psychotherapie und Seelsorge zuordnen, wie gegeneinander abgrenzen? Zielt Psychotherapie auf Heilung der psychischen Verfassung eines Menschen ab, während Seelsorge für das Heil der Seele, für das Seelenheil sorgt? Sind die einen für die Heilung, die anderen für das Heil zuständig? Oder verschiebt sich damit die Frage nach dem Verhältnis von Psychotherapie und Seelsorge nur dahin gehend, dass nun zu erörtern wäre, wie sich Heil und Heilung zueinander, miteinander, gegeneinander verhalten? Welche Antwort bietet die Heilige Schrift an? Die Heilungstätigkeit Jesu nimmt in den Evangelien breiten Raum ein. Jesus »redete […] vom Reich Gottes und heilte alle, die seine Hilfe brauchten« (Lk 9, 11) – eine Hilfe, die im griechischen Urtext therapeia heißt. Dieser Text macht die enge Verknüpfung der Botschaft vom Reich Gottes mit der jesuanischen Heilungstätigkeit deutlich. In diesen Zusammenhang gehört die eindrucksvolle Wendung bei Lk 11,20: »Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen.« Für mich heißt das, dass die Gegenwart Gottes sich mit gegenwärtiger Erfahrung vermittelt, dass die uns verheißene Zukunft umfassenden Heils durch Heilung heute zumindest anfanghaft auf uns Menschen zukommen und uns erfahrbar werden kann. Heil und Heilung sind offenbar unlösbar miteinander verquickt; biblisch lassen sie sich nicht trennen, aber sie gehen auch nicht ineinander auf. Und Jesus macht auch seine Jünger zu Trägern seiner heilenden Macht: »Dann rief er die Zwölf zu sich und gab ihnen die Kraft und die Vollmacht, alle Dämonen auszutreiben und die Kranken gesund zu machen (therapeuein). Und er sandte sie aus mit dem Auftrag, das Reich Gottes zu verkünden und zu heilen.« (Lk 9,1 f.)

Jesu heilendes Handeln lädt also zum Nachhandeln ein. Die Zusammengehörigkeit von umfassendem Heil in der Zukunft und konkreter Heilung heute lässt nicht zu, die Zuständigkeit zwischen Kirche und übri-

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ger Gesellschaft aufzuteilen, etwa zwischen Heilssorge der Kirche einerseits und heilenden Berufen andererseits. In welcher Beziehung finden Seelsorge und Psychotherapie zueinander? Oder: Worin besteht der Mehrwert der Seelsorge? Die Frage nach einem möglichen Mehrwert der Seelsorge halte ich für eine Irreführung. Die Rede von einem Mehrwert der Seelsorge wertet Psychotherapie ab, und vor allem: Wenn Mehrwert der Seelsorge bedeutet, dass Seelsorge alles vollbringen muss, was Psychotherapie vermag, und darüber hinaus noch mehr, dann überfordert dies Seelsorger. Mehrwert klingt in meinen Ohren so, als käme zu vielfältigen profanen Erfordernissen noch ein wie auch immer geartetes »christliches Extra« hinzu – wie ein religiöser Überbau zu einem in sich schon stabilen Bauwerk. Das hier Gesuchte ist in meinen Augen jedoch kein zusätzliches Stockwerk, kein additiver Mehrwert, ist nicht eine Wirklichkeit neben den menschlichen Wirklichkeiten, sondern deren innerste Mitte selbst. Das hier Gesuchte sprengt diese menschlichen Wirklichkeiten radikal auf, es ermöglicht so einen Zugang zu dem einen Geheimnis, das wir »Gott« nennen und das uns Menschen ausmacht. Radikal ist dabei das Fragen nach der radix, nach der Wurzel menschlichen Daseins. Analog dazu ergibt sich für eine Verhältnisbestimmung von Psychotherapie und Seelsorge, dass nicht nach einem Mehrwert von Seelsorge und einer Minderwertigkeit von Psychotherapie zu fahnden ist, sondern Psychotherapie in ihrer Radikalität gefragt ist und auf diese Radikalität hin aufgebrochen werden kann. Seelsorge bricht auf in die Unbegreiflichkeit Gottes hinein. Diese ihr eigene Radikalität, dieser unbegreifliche Eigenwert lässt kleinkariert wirkende Mehrwertdebatten verstummen – und dies aus der praktischen Gewissheit heraus, dass Seelsorge ihr theologisch radikales Eigenleben nicht unter Geringschätzung psychotherapeutischer Erkenntnisse fristen muss, sondern in Hochschätzung psychotherapeutischer Erkenntnisse führen kann und darf (Kießling, 2002, S. 117–278). In diesem Sinne suche ich die Grundhaltungen der Wertschätzung, Empathie und Echtheit theologisch radikal ernst zu nehmen.

5 Personzentrierte Seelsorge Carl Rogers – kein Theologe, sondern einer der Psychotherapie-Pioniere – umschreibt Wertschätzung bemerkenswerterweise als »eine Art Liebe zu dem Klienten, so wie er ist; vorausgesetzt, dass wir das Wort Liebe entsprechend dem theologischen Begriff Agape verstehen und nicht in seiner romantischen oder besitzergreifenden Bedeutung« (Rogers, 1977/1990, S. 218). Im Geist dieser Liebe glaubt eine Begleiterin an die Ressourcen und Begabungen, die die-

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sem Menschen innewohnen, auch wenn sie vielleicht verschüttet sind; sie glaubt an diesen Menschen mit seinen ungeahnten Möglichkeiten, ganz abgesehen von den Möglichkeiten Gottes mit diesem Menschen. Die theologische Qualität des Glaubens zeigt sich konkret im Glauben an einen Menschen: An wen ich glaube und wem ich vertraue, auf den wage ich zu hoffen, auf den setze ich meine Hoffnung. Glauben, Lieben und Hoffen sind theologische Wurzeln dessen, wofür eine wertschätzende Haltung steht. Empathie in der Seelsorge oder Metriopathie (Hebr 5,2), also die Fähigkeit, sich mit Maß einzufühlen, meint ein Mitgehen in Nähe und Treue, in räumlicher Nähe und Treue durch die Zeit. Dabei versucht Seelsorge bei Seelenfinsternis ansatzhaft zu realisieren, wovon sie inhaltlich spricht. Ein Begleiter erzählt gerade dadurch am überzeugendsten vom unbeirrbaren Hinzukommen und Mitgehen Gottes, indem er selbst treu und unbeirrbar mit den Krisen des oder der Anderen mitgeht – mit Krisen, deren Sinn sich allenfalls im Nachhinein erschließt, wenn überhaupt. Echtheit schließlich meint Wahrhaftigkeit in der Beziehung zur eigenen Person sowie zu einem Gegenüber. Wahrhaftigkeit bewährt sich nur, wenn sie sich zeigt und offenbart. Sie versteht sich als Selbstkundgabe, bei Gott »treu seinem Namen« (Ps 23,3). Wer die Liebe eines Gegenübers spürt, kann wieder (oder erstmals!) Respekt vor sich selbst und sich selbst liebenswürdig finden. Wer merkt, wie ein Gegenüber empathisch um Verstehen ringt, kann anfangen, die eigene Welt zu erkunden und dafür selbst Verständnis zu entwickeln. Wer Echtheit und Selbstoffenbarung eines Gegenübers erlebt, vermag selbst Mut zu fassen zugunsten von Offenheit und Authentizität der eigenen Person gegenüber. Was vermögen die auf diesem Weg gewonnenen Haltungen für eine Seelsorge bei Seelenfinsternis konkret auszurichten?

6  Seelsorge bei Seelenfinsternis: Lieben, Glauben und Hoffen in Stellvertretung Seelsorge vollzieht sich als eine Begegnung im Geist der Liebe, schenkt also eine gerade von depressiv erkrankten Menschen oft entbehrte und lang ersehnte Zuwendung. Ein Mensch, der sich selbst nicht annehmen kann, erfährt das Angenommensein durch ein menschliches Gegenüber, das dadurch wiederum das Angenommensein durch Gott durchscheinen lassen kann. Auf non­verbale Weise drückt diese Zuwendung einen Zuspruch von Würde aus, lässt den deprimierten Menschen seine Gottebenbildlichkeit, sein Lebensrecht spüren, sein

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Recht, da sein zu dürfen. Mit der Gottebenbildlichkeit kommt implizit der »erste« Schöpfungsbericht (Gen 1,1–2,4a) zum Tragen, während ein von Depressionen gequälter Mensch ansonsten nur Schuldgefühle, Schuld und Sünde sieht und erlebt, Phänomene also, wie sie der »zweite« Schöpfungsbericht (Gen 2,4b–3,24) einführt. Dabei geht es darum, diesen Zuspruch in eine Begegnung im Geist der Liebe implizit und vorsichtig einfließen zu lassen, ohne ihn in die von mir gebrauchten Worte zu fassen. Denn zu viele Worte können einen von Schuldgefühlen gequälten Menschen überfluten, ohne bei ihm anzukommen; sie erwecken den Eindruck, diese Gefühle sollten ihm ausgeredet werden. Die Beziehung hat Vorrang vor inhaltlichen Fragen. Dabei sollen mit dieser Priorisierung Inhalte nicht als sekundäre Größen (dis-)qualifiziert werden; vielmehr kommt es darauf an, durch Beziehung den Boden zu schaffen, auf dem Inhalte wachsen und bewegt werden können. Gerade in schweren Zeiten sind kurze stützende Kontakte wertvoller als lange Gespräche. Zentral ist dabei das Angebot von Struktur und Sicherheit, wobei der Seelsorge ihr biblisch verankerter Reichtum an Symbolen und Ritualen zu Hilfe kommen kann. Seelsorge bei Seelenfinsternis kann zur Überforderung werden; wichtig ist auch in dieser Situation, einen von Beziehungsarmut und Enttäuschungen belasteten Menschen nicht erneut zurückzuweisen, sondern mit ihm eine Brücke zu einer Beratungsstelle, zu Caritas oder Diakonie zu schlagen, den Hausarzt oder die Hausärztin um Vermittlung und um Klärung zu bitten, ob die Einnahme von Pharmaka indiziert ist und ob Suizidgefahr besteht, und Netzwerke zu bilden (Du, 2012). Ich komme zur Qualität des Glaubens in der Seelsorge mit depressiv leidenden Menschen: Zu unterscheiden sind Glauben als Beziehung zu einem Du, auf das ich setze, und Glauben in seinen Inhalten, die sich in Glaubenssätzen artikulieren lassen, vorzugsweise im Glaubensbekenntnis. In der Beziehung zu einem depressiv leidenden Menschen spielt der Du-Glaube eine hervorragende Rolle, denn er kann die Erfahrung vermitteln: »Einer glaubt an mich.« Es kann auch um einen stellvertretenden Du-Glauben gehen: »Auch wenn ich nicht glauben kann – einer glaubt doch an mich!« In einer akuten depressiven Krise kommt Seelsorgerinnen die Aufgabe zu, tröstend zu wirken und auf keinen Fall – sie wären nicht bei Trost! – in die Diskussion von Glaubensinhalten einzusteigen, die den kranken Menschen emo­tional gar nicht erreichen und allenfalls zu für beide Seiten fruchtlosen Auseinander­setzungen führen können. Erst in einer späteren Phase der Begleitung kann eine – dann wieder emotionale Resonanz findende – Diskussion von Glaubensinhalten bedeutsam werden und getrost beginnen. Schuldgefühle legen oft das Thema Schuld und Sünde nahe.

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Empirische Untersuchungen (Hole, 1994; Kießling, 2011) belegen heilsame Formen von Religiosität, die als religiöse Erziehung fördernd und protektiv auf eine gesunde Entwicklung wirken; nachweisbar sind aber auch kränkende Formen und Wirkungen von Religiosität, insbesondere die Begünstigung von Depressionen durch religiös geprägte Schuldgefühle. Die mehrfach berührte und für ein depressives Krankheitsbild typische Diskrepanz zwischen realer eigener Lebenssituation und überfordernden perfektionistischen Idealen kann so gestaltet sein, dass diese Ideale eine stark religiöse Prägung zeigen; der seelische Absturz in eine Depression kann die Folge des Versuchs einer Art religiöser Höhenwanderung auf rigoristischen Spuren sein. Die depressive Erkrankung markiert dann die pathologische Endstrecke dieser Höhenwanderung. So sehr ich von den heilsamen und lichtvollen Wirkungen einer religiösen Verankerung überzeugt bin, so wichtig ist mir auch, wachsam zu sein für die depressogene Schattenseite mancher Formen von Religiosität. Eine Depression zeichnet sich gerade dadurch aus, dass jeder Hoffnungsschimmer, jeder kleine Strohhalm unendlich fern erscheint. So geht es in der Seelsorge oft um Hoffen in Stellvertretung (Kießling, 2012). Stellvertretung meint einen Einsatz, der das Gegenüber nicht er-setzt, sondern frei-setzt. Konkret: Wenn mein Leben in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu versinken droht, brauche ich einen Seelsorger, der seine Hoffnung in mich und in die Möglichkeiten Gottes mit mir setzt – trotz allem. Hoffnung lässt leben – darum ist es lebensnotwendig, dass andere für mich hoffen, bis ich selbst wieder ein Hoffen­der bin: Stell-Vertretung kann einem Menschen die »Stelle« seines eigenen Daseins neu eröffnen, ihm durch Nähe und Treue Raum und Zeit für eigenes Hoffen neu erschließen. Wichtig in der Begegnung mit einem depressiv leidenden Menschen ist, jedes Fünkchen Hoffnung vorsichtig brennend zu halten!

7  Seelsorge bei Seelenfinsternis: Mithinabsteigen zur Hölle Empathie in einem radikalen Sinne meint ein Mithinabsteigen zur Hölle. Wie wir im Glaubensbekenntnis von Jesus Christus sprechen, er sei »hinabgestiegen in das Reich des Todes«, steigen Seelsorgerinnen mit hinab in eine emotionale Finsternis, geben Raum für Wut und Zorn, für Schuldgefühle und Enttäuschung, dafür, dass Menschen mit ihrer Verletzung, ihrem Schmerz in Berührung kommen können, geben Zeit, dass ein leidender Mensch seine Wut aussprechen und hinaussprechen kann, dass aus De-pression Ex-pression werden kann, letztlich ein Wiederauferstehen zu neuen Lebensmöglichkeiten – in erneuter Analogie zum Credo: »am dritten Tage auferstanden von den Toten«. Heilung in

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Klaus Kießling

dieser Situation verstehe ich als Vorzeichen endgültigen Heils, als kleine Auferstehungsschritte. Dabei sind Heil und Heilung nicht herstellbar. Seelsorge kann aber den Mut entwickeln, auf eine Spiritualität der Gnade zu setzen und diese einem oft gnadenlos und deprimierend wirkenden gesellschaftlichen Klima entgegenzusetzen. Mitgehen meint dann primär Raumschaffen für die Erfahrung von Heilsamem. Solches Mitgehen schließt Angehörigenarbeit ein. Ehepartner, Freundinnen, Eltern, Geschwister und Kinder Betroffener wachsen in ihrem Engagement für einen depressiv erkrankten Mitmenschen oft über sich selbst hinaus; sie leisten Schwerstarbeit und laufen dabei Gefahr, gemeinsam mit ihrem kranken Familien­mitglied in die Isolation zu geraten, ihrerseits jede Hoffnung auf Heilung zu verlieren und innerlich auszubrennen. Sie sind für den kranken Menschen da, mitunter rund um die Uhr – aber wer ist für sie da? Darüber hinaus bleibt die Frage drängend, ob depressive Erkrankungen nicht auch symptomatisch sind für ein mitunter hoffnungsloses Klima in Gruppen und Gemeinden, in Kirche und Gesellschaft, gegen das sich manche Menschen offenbar weniger gut verschließen können und wollen als andere. Anwältinnen Betroffener und ihrer Angehörigen, insbesondere in Diakonie und Caritas, werfen die Frage auf, woran gesellschaftliche Entwicklungen und gemeindliche Konstellationen ihrerseits kranken und auf welche Weisen sie kränkend wirken, sodass depressiv Leidende als Symptomträger des sie umgebenden Klimas erscheinen. Besonders deutlich treten diese Zusammenhänge hervor, wenn Menschen durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes einer wirtschaftlichen Depression zum Opfer fallen und in eine finstere Schlucht (Ps 23,4) geraten. Seelsorgliches Mitgehen kommt einmal zum Abschluss – sinnvollerweise. Seelsorgliche Beziehungen sind Arbeitsbündnisse – im Unterschied zu Freundschaften. Freundschaften leben aus der Hoffnung, dass sie »für immer« Bestand haben mögen; Arbeitsbündnisse dagegen leben davon, dass sie ein Ende haben! Im Hintergrund einer Seelenfinsternis steht oft ein nicht verschmerzter früherer Abschied oder frühere sich wiederholende Abweisungen; darum ist es im Falle einer längeren seelsorglichen Begleitung von depressiv erkrankten Menschen besonders wichtig, deren Abschluss gut vorzubereiten.

8  Seelsorge bei Seelenfinsternis: Sich selbst treu bleiben Damit ich mir selbst treu bleiben kann, ist es wichtig, nicht mehr zu versprechen, als ich vor mir selbst vertreten kann, und selbst Klarheit darüber zu gewinnen, wo meine eigenen Grenzen und Verletzungen liegen, damit ich als Seelsorger

»Der Glaube, in der Hölle zu sein«

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nicht in Abhängigkeiten gerate und bei meinem Gegenüber eine neue Enttäuschung provoziere. Supervision ist dabei unerlässlich (Kießling, 2007). Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer es sein kann, mit meinem Gegenüber in seine von Depression durchstimmte Leidenssituation hinabzusteigen, sein Erleben von tiefer Abgründigkeit und Schmerz zu begleiten und dabei weiterhin an ihn und seine Möglichkeiten zu glauben, darauf zu vertrauen, dass eine Wandlung spürbar geschehen kann – bis dahin, dass über ein Gesicht, das sich durch einen melancholischen Blick auszeichnet, wieder ein Lächeln huscht und auch der Humor seinen wichtigen Platz in der Seelsorge einnimmt. Das letzte Wort soll wiederum Piet Kuiper haben: »Die einzigen Worte, die ich herausbringen konnte, waren: ›Gott, Gott, o Gott.‹ Nur ein verzweifelter Seufzer, oder doch, weil du weißt, denkst, glaubst, daß es Einen gibt, den du um Hilfe bitten kannst, auch wenn du dich in der Hölle wähnst?« (Kuiper, 1995, S. 172)

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 Umgang mit Problemen von Menschen aus religiösen Gruppierungen und anderen Religionen

Gabriele Lademann-Priemer

1 Einleitung

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Als Voraussetzung sowohl für die Beratung von Menschen aus demselben Kulturkreis, die sich einer religiösen Gruppe, Weltanschauung oder anderen Religion angeschlossen haben, als auch für die Seelsorge an Migrantinnen gilt, dass die Beratenden sich ihrer religiösen Einstellung, Kultur, Herkunft, ihrer »Brille« bewusst sein müssen. Dazu gehören nicht allein die Mitgliedschaft und eventuell die Funktionsträgerschaft in einer »anerkannten« Konfession und der theologisch bewusste Inhalt, sondern besonders auch die eigenen volksreligiösen und magischen Anteile, um einerseits das Gegenüber zu verstehen, andererseits die eigene Sichtweise zurückstellen zu können.

2  Beratung von Menschen aus demselben Kulturkreis, die sich religiösen oder ideologischen Gruppen angeschlossen haben Der Sektenbegriff

Das Wort »Sekte« ist außer Gebrauch gekommen, weil es als diffamierend und als Kampfbegriff seitens der großen Kirchen gilt. Außerdem ist es eine Zuschreibung von außen. Jede Gruppe betont: »Wir sind doch keine Sekte!« Sowohl schriftlich als auch mündlich sollte man den Begriff Sekte vermeiden, besonders im Gespräch mit betroffenen Menschen, Angehörigen oder Mitgliedern, aber auch Aussteigern. Was bis vor etwa zehn Jahren als Sektenberatung bezeichnet wurde, heißt heute durchgängig »Weltanschauungsbeauftragung«. Sowohl die röm.-kath. als auch die evang. Kirche tun sich zunehmend schwer, diese Stellen im nötigen Umfang zu besetzen. Das hat nicht allein mit den Finanzen zu tun, sondern auch mit der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz von weltanschau-

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lichen Strömungen und Religionen und damit, dass die Zeiten, als die Skandale um Scien­tology und die sogenannten »Jugendreligionen« in den 1970er- und 1980er-Jahren pressewirksam waren, vorbei sind. Der Druck der Presse entfällt. Das Spektrum hat sich mittlerweile bis zur Unübersichtlichkeit diversifiziert. Eine Ausnahme in der Akzeptanz bildet der Islam/Islamismus u. a. aufgrund der Erfahrungen mit dem extremistischen und teilweise gewaltbereiten Islam und den Berichten über Al-Qaida und den IS. Religiöse und weltanschauliche Gruppen haben einen unterschiedlichen Hintergrund. Sie sind christlicher, fundamentalistischer oder neupfingstlicher, buddhistischer, hinduistischer Herkunft, aber auch der Synkretismus Lateinamerikas ist gelegentlich Ideengeber. Politisch motivierte Gruppierungen außerhalb des Islamismus spielen ebenfalls eine Rolle, besonders die unterschiedlichen rechtsextremen Gruppen. Die politischen oder religio-politischen Gruppen haben oft eine totalitäre Struktur, aber diese bildet sich u. U. auch in religiösen Gemeinschaften heraus, wenn eine Leitungsperson oder ein »innerer Zirkel« eine tragende Funktion haben aufgrund ihres »Charismas«, besonderer »Offenbarungen« und nicht hinterfragbarer Auslegung heiliger Schriften. Alle diese Gemeinschaften, Institutionen, Gruppierungen und Zirkel erfordern in der Beratung besondere Kenntnisse über den jeweiligen Glauben und die Organisationsform. Hierüber geben die Weltanschauungsbeauftragten der Landeskirchen und Diözesen sowie die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin Auskunft. Für politische Gruppierungen gibt es ferner säkulare Beratungsstellen. Organisationsform

Wenn es sich nicht um einen selbst organisierten Zirkel, um einen Geistheiler oder eine Seherin handelt, so sind alle Gruppen und Institutionen entweder den Kirchen gleichgestellt als Körperschaft des Öffentlichen Rechts (z. B. Neu­ apostolische Kirche, Zeugen Jehovas – Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft der Zeugen Jehovas), oder sie sind eingetragene Vereine. Die Gemeinnützigkeit kann jedoch strittig sein, wie im Falle von Scientology. Eine juristische Anerkennung als »Religion« gibt es in Deutschland nicht, auch der Begriff »Kirche« ist juristisch nicht geschützt. Grundsätzlich gilt die Freiheit von Religion und Weltanschauung, Art 4 Grundgesetz. Es gilt also auch die »negative Religionsfreiheit«, d. h. niemand muss zu erkennen geben, woran er oder sie glaubt oder zu welcher Gemeinschaft er oder sie gehört. An der Spitze einer Gemeinschaft stehen ein Chef oder eine Leiterin, umgeben von einem engen Kreis von besonders Vertrauten. Entscheidend ist jedoch,

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wieweit deren Beschlüsse, Anweisungen und Ratschläge für die Gefolgschaft transparent sind und ob ihnen widersprochen werden darf. Aussteigerinnen und Aussteiger

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Alle Gruppierungen, welchen Ursprungs auch immer, produzieren Aussteigerinnen, die sich als geschädigt betrachten. Der jüngste Skandal um den bisher anerkannten buddhistischen Lehrer Sogyal Rinpoche, bekannt geworden durch das Rigpa-Netzwerk und »das Tibetische Buch vom Leben und Sterben«, zeigt deutlich den Beratungsbedarf. Es ging um Missbrauchsvorwürfe (Presse­ berichte 2017). Aus vielen Gemeinschaften sind Missbrauch, Kindesmisshandlung, Schulverweigerung, unsaubere Geldgeschäfte usw. bekannt geworden. Dass manche ähnlichen Vorwürfe gegen die großen Kirchen erhoben werden, sei am Rande erwähnt. In kleineren Gruppen und Zirkeln sind betroffene Menschen großem Druck zu schweigen ausgesetzt, teilweise mit der Drohung, dass ihnen außerhalb sowieso niemand glaube, dass man sie verfolgen werde, sei es direkt oder »mental«, dass sie des »ewigen Heils«, was auch immer im Einzelnen damit gemeint ist, verlustig gehen. Es wird ferner – bei entsprechendem Hintergrund – mit einer nächsten »miesen Inkarnation« gedroht. Das heißt nun aber nicht, dass Opfer tatsächlich schweigen, sondern es gibt Internet-Plattformen, auf denen sich Aussteiger zusammentun und äußern, was tatsächlich in einigen Gruppen zu Veränderungen geführt hat, in anderen hingegen nur zur Verbesserung der Propaganda beitrug. Bücher und Aufsätze von Aussteigerinnen über ihre Erfahrungen in einer Gruppe werden ebenfalls im inneren Kreis eifrig studiert. Den Gläubigen sind solche Bücher verboten, auch wenn sie wohl von Hand zu Hand weitergegeben werden. Die Ratsuchenden

Wir haben es mit zwei Gruppen von Ratsuchenden zu tun, den Aussteigern zum einen und ihren Angehörigen zum anderen. Beide, ehemalige Mitglieder und Angehörige, meinen, es mit der »gefährlichsten Sekte überhaupt« zu tun zu haben. Hinsichtlich der »Gefährlichkeit« ist jedoch zu fragen, was darunter zu verstehen ist. Ist eine Gruppe eine Gefahr für die Gesamtgesellschaft, wenn ja, ist sie es in wirtschaftlicher oder politischer Hinsicht? In diesem Fall wird sich der Staat, d. h. der Verfassungsschutz damit beschäftigen. Es kann sich auch um ein subjektives Urteil handeln, das gleichwohl ernst zu nehmen ist, denn für diesen Personenkreis hat sich die bestimmte Gemeinschaft in der Tat als »die gefährlichste« erwiesen.

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Im Laufe einer längeren Beratung und Begleitung kann das Urteil relativiert werden mit dem Hinweis darauf, dass Menschen aus anderen Gruppen ähnliches erlebt haben und vor denselben sozialen und religiösen Schwierigkeiten stehen. Das ist nicht allein erleichternd, nämlich auf der Welt nicht allein dazustehen, sondern entmachtet auch die Gruppe und deren Chefs. Der Sektenchef ist also nicht gleichsam allmächtig, sondern es handelt sich u. a. um ein Strukturproblem. Kirchliche Seelsorge und Beratung sind in diesem Bereich aus zwei Gründen gefragt: Zum einen wird »Glaube« nicht pathologisiert, sondern die Ratsuchenden gehen davon aus, dass Beratende wissen, »wie sich Glauben anfühlt«, zum anderen ist bekannt, dass Gespräche unter die Schweigepflicht fallen. Insofern wird kirchlichen Mitarbeiterinnen großes Vertrauen entgegengebracht. Die Angehörigen suchen kirchliche Stellen ferner aus dem Grunde auf, dass sie meinen, mithilfe der Autorität der Kirche könnten sie irgendwelche juristischen Verbote durchsetzen oder aber einen Ausstieg erzwingen. Wenn die Kirche etwas als »Sekte« bezeichne, so müsse dieses zu Konsequenzen führen. Hier müssen die eigenen Grenzen aufgezeigt werden. Zeichnet sich jedoch eine Straftat ab, sollten eine Juristin oder die Polizei eingeschaltet werden, natürlich in Absprache mit den betroffenen Menschen. Auch hier geben Weltanschauungsbeauftragte Hinweise auf Juristen, die sich im religiösen Umfeld auskennen, oder haben Kontakte zur Polizei, sodass Tatbestände zunächst vertraulich behandelt werden können. Anliegen der Aussteigerinnen und Aussteiger

Nach meiner Erfahrung sucht selten jemand eine Beratungsstelle auf, der oder die sich im Prozess des Ausstiegs befindet. Die Betroffenen möchten nicht überredet werden oder sich gedrängt fühlen, eine schnelle Entscheidung zu fällen. Eine Zeit nach dem Ausstieg, wenn die Euphorie vorbei ist und der graue Alltag eintritt, womöglich ein depressives Loch droht, wird Beratung in Anspruch genommen. Zeigt es sich, dass es nicht allein ein Loch, sondern eine wirkliche Depression ist, sollte psychiatrische Hilfe aufgesucht werden. Es geht in der Beratung und Seelsorge zunächst nicht um religiöse oder theologische, sondern um praktische und soziale Fragen, etwa um das Sorgerecht – möglicherweise ist der Partner mit Kind in der Gruppe zurückgeblieben –, um Einsamkeit – man hat menschliche Beziehungen, ja Freunde hinter sich gelassen, selbst wenn die Beziehungen innerhalb der Gruppe belastet gewesen sind durch Spitzelei und gegenseitige Überwachung, man hat »draußen« keine wirklichen Gesprächspartnerinnen, die Verständnis aufbringen für die Prozesse, die in dem Menschen ablaufen (»Sei doch froh, dass du da weg bist«, »wir hatten dich ja gleich gewarnt« o. ä., so sagen manchmal Freunde.). Unter Umständen

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muss eine Wohnung gesucht werden, wenn man in der Gruppe gelebt hat, ein Arbeitsplatz muss her usw. Manchmal sind Krankheiten unbehandelt geblieben, weil man die Hoffnung auf das Gebet, auf die Macht der Chefin, auf Engel und die betende Gruppe gesetzt hatte. In Träumen findet sich der Schlafende auf einer Insel im Eis allein. Es erweist sich oft als hilfreich, nach Träumen zu fragen, wenn das Gespräch es zulässt. In diesem Zustand ist der betroffene Mensch anfällig für die Rückkehr in die Gruppe und sogar bereit, seinen Ausstieg als »Verfehlung« einzugestehen, um wieder »gnädig« aufgenommen zu werden. Es ist folglich nützlich, herauszufinden, ob es ein stützendes Netz gibt und alte Freundschaften oder Verwandtschaft zu reaktivieren sind. Möglicherweise werden hier aber auch Fachleute gebraucht: Juristinnen, ein Arzt, eine Behörde, eine Psychotherapie, sofern die Seelsorgerin nicht selber Gesprächsreihen durchführen kann oder will. In allen Gruppen, die mir bekannt geworden sind, wurde den Menschen beigebracht, ihren Gefühlen zu misstrauen und Werturteile an deren Stelle zu setzen. Die Werturteile spiegeln den Willen des Meisters oder »Gottes«, »der Bibel« und der jeweiligen Interpretation der Heiligen Schrift wider. Dass mit den Heiligen Schriften eklektizistisch umgegangen wird, ist klar. Die Chefs suchen sich heraus, was zu ihrem System passt, und das tun dann wundersamerweise überirdische Agenten kund durch Offenbarungen, Engelsbotschaften, Prophetien. (»Ich habe eine besondere Botschaft für dich« – und es folgt eine Handlungsanweisung z. B. hinsichtlich einer Freundschaft oder Partnerschaft.) Der moralische Druck ist immens und mit ihm das Empfinden für das eigene Unvermögen. Der Weg zur »Vollkommenheit« ist mit Verboten und Regeln gepflastert, die den Menschen überfordern und deprimieren. In Gruppierungen besonders mit hinduistischem Einschlag wird »gechantet«, also stundenlang Mantragesang geübt. Dieser Mantragesang überdeckt Empfindungen und entfaltet eine große manipulative Wirkung. Er ist zugleich beruhigend und schafft ein Gemeinschaftsgefühl. Das ist nicht von heute auf morgen zu überwinden, der Mensch muss sich aus dem Zwang zum Chanten allmählich befreien, dazu hilft das Vertrauen zur Gesprächspartnerin. Nimmt das Gespräch mit einem Beratenden eine kritische Wendung, so schaltet sich im Betroffenen u. U. ganz von selbst unhörbar das Chanten ein als »Gefahrenabwehr«. Ebenso spannen sich manchmal bestimmte Gesichtsmuskeln an, die das Gehör beeinflussen, also herabsetzen. Dieses haben mir Menschen erzählt, die sowohl ihre Mitgliedschaft als auch den Ausstieg bereits verarbeitet hatten. Aussteiger fürchten sich ferner vor Praktiken und Meditationen innerhalb der Gruppe, in denen sich die Mitglieder auf Aussteiger konzentrieren, um sie

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angeblich mental zu beeinflussen. Aussteigerinnen haben selber an solchen Sitzungen teilgenommen und wissen womöglich, wann sich eine Meditationsgruppe nunmehr auf sie negativ konzentriert, was zu großer Verunsicherung führt. Hier zeigt sich allerdings, dass die Menschen niemals nur Opfer waren, sondern auch Täter. Sie haben sich negativ auf andere konzentriert, sie haben andere bespitzelt und angeschwärzt, teilweise sogar um ihr Geld gebracht. Die Schuld daran wird bei dem Chef oder inneren Kreis gesucht. Manchmal werden jedoch Details aus der Führungsebene gleichsam als Buße öffentlich gemacht, um andere zu warnen. In der Beratung müssen die ehemaligen Mitglieder ermutigt werden, Werturteile von Gefühlen zu unterscheiden, also zu differenzieren zwischen dem, was aus ihnen selber kommt, und dem, was ihnen eingeflüstert wurde. Sie lernen wieder, ihren Gefühlen und Wünschen zu vertrauen, sie gewinnen Selbstvertrauen. Religiöse und spirituelle Bindungen sind dagegen oftmals bis auf Weiteres gekappt, weil die religiösen Gefühle und Bedürfnisse missbraucht wurden. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass dem, der den Ausstieg aus einer Gruppe geschafft hat, ein Kraftpotenzial zur Verfügung steht, das es zu erkennen gilt und das gestützt werden muss. Ausstieg ist ein Kraftakt, der sehr hoch zu bewerten ist. Fallbeispiel 1: Frau B. war zehn Jahre Mitglied von Scientology, drei Jahre nach ihrem Austritt kam sie zur Beratung zu mir. Sie war zur Scientology gegangen, weil sie sich Hilfe in persönlichen Problemen erhoffte. Attraktiv waren für sie: Das Studium der Schriften von R. Hubbard, dem Gründer der Organisation, sie genoss die menschliche Gemeinschaft, die Feste in Abendgarderobe, auch wenn sie kritisch anmerkte, dass es »zu teuer« wäre, sowie die Landschaft von Südengland, denn einmal durfte sie die Zentrale »Saint Hill« bei London besuchen. Ihrer Bereitschaft, anderen Menschen zu helfen, meinte sie gerecht zu werden in der scientologischen Beratungsarbeit, dem Auditing. Scientology gehörte für sie in den Freizeitbereich, sie hat – anders als andere – ihre Arbeitsstelle behalten und dort keine Werbung betrieben, sie hat auch trotz des Gruppendrucks bei Scientology nichts über ihre Arbeitsstelle verlauten lassen. Gründe zum Austritt waren psychosomatische Leiden wie Durchfall und Dauer­kopfschmerz durch die ständige Überlastung: Bis zum Nachmittag arbeitete sie, dann musste sie täglich bis 22 Uhr oder länger in die Organisation und ebenso an den Wochenenden, zudem kümmerte sie sich um ihren Haushalt. Ferner sehnte sie sich nach Spaziergängen in der Natur, litt zunehmend unter der gegenseitigen Bespitzelung und hatte mittlerweile beinahe 100.000 DM Schulden angehäuft. Erst nach weiteren acht Jahren konnte sie sich eine Reise von acht Tagen leisten.

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In der fast 150 Stunden dauernden Gesprächsreihe wurden der Zwiespalt von Anspruch und Wirklichkeit in der Organisation bearbeitet, sie lernte, Gefühle von Werturteilen zu unterscheiden. Hierbei erwies sich Focusing als hilfreich. Sie wollte wissen, was sie denn nun lesen könnte. Am Ende stand, was eine Ausnahme darstellt, der Wiedereintritt in die Kirche, und sie wurde eine geschätzte Kirchenvorsteherin in ihrer Gemeinde (Lademann-Priemer, 1998, S. 160 ff.). Sonderfall

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Ein Sonderfall sind Menschen, die in eine Gruppe hineingeboren sind. Gelegentlich wenden sich ausstiegswillige Jugendliche an Beratungsstellen. Man muss mit ihnen gemeinsam abwägen, was es bedeutet, wenn sie als Minderjährige Eltern und Familie verlieren für eine im Augenblick ungewisse Zukunft. Manche schrecken davor zurück und entscheiden sich, zunächst in der Gruppierung zu bleiben, manche gehen den Weg nach draußen mit juristischer Hilfe. Jugendämter haben sich manchmal als wenig hilfreich erwiesen, wenn es um Familienkonflikte geht, in die religiöse Problematik einfließt. Sie nehmen oft nicht ernst genug, was es bedeutet, wenn Kinder unter ständigem religiösem Druck stehen. Elternrecht und religiöse Erziehung sind jedoch selbstverständlich ein juristisch vermintes Gelände. Die Angehörigen und Freunde

Angehörige und Freunde suchen Beratung, solange ihre Freundin oder ein Familienmitglied in einer Gruppe ist. Sie haben erst einmal die Erwartung, dass man ihr Familienmitglied aus der »Sekte« herausholen könne. Kirchliche Stellen bieten in der Regel jedoch keine »Ausstiegsberatung« an. Was man den Angehörigen hingegen anbieten kann, ist eine Form der Supervision, nachdem sie ihre Trauer und Verletzung, ihren Ärger und ihre Angst haben ausdrücken können. Es geht bei der »Supervision« darum auszuloten, wie sich eventuell eine Gesprächsbasis mit dem Menschen in der Gruppe aufrecht halten lässt, ohne sich »missionieren« zu lassen, ohne sich zu Geldzahlungen oder gar zur Auszahlung des Erbes überreden zu lassen (sehr wichtig!). Es ist zu klären, welche Fallen man im Gespräch umschiffen muss (u. a. Sektenbegriff, Vorwürfe, Streitereien über Gott und Offenbarung, Glaube und Wissen), was man benennen kann und was nicht. Nach meiner Erfahrung kann man dem Familienmitglied durchaus die eigenen Sorgen und Verletzungen mitteilen, allerdings ist strikt die »Ich-Form« einzuhalten. Hier kann man Formulierungshilfe leisten! Manchmal ist es möglich, an die gemeinsame Vergangenheit und an alte Interessen anzuknüpfen. Vor allem müssen Beratende und Angehörige zu verstehen suchen, was die Gruppenmitgliedschaft für eine positive Bedeutung hat:

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Sie gibt Geborgenheit, sie gibt dem Leben Orientierung und Halt, beantwortet die Frage nach dem Sinn des Lebens. Mögen Außenstehende dieses auch für Einbildung halten, so hat alles doch für das Mitglied bis zum Zeitpunkt des Ausstiegs eine Bedeutung und muss ernst genommen werden. Man muss sich selber vielleicht kritisch fragen, was die Außenwelt dagegen zu bieten hat. Die Beziehung zwischen Mitglied und Angehörigem ist ein Balanceakt zwischen Grenzziehung und Kontakterhalt. Wenn ein Mensch im besten Falle austritt, so sollte er eine Familie oder Freunde finden, die ihn aufnehmen, ohne ihn zu verurteilen. Gegebenenfalls ist Trauerarbeit zu leisten, weil man ein Familienmitglied verloren hat, auch wenn die Hoffnung, dass es doch noch irgendwann zu einer Wiedervereinigung mit der Familie kommt, im Hintergrund bleiben wird.

3  Beratung von Migranten und Migrantinnen Angesichts der Migranten und Migrantinnen aus andern Ländern und fremden Kulturkreisen, mit einem anderen religiösen Hintergrund und Sozialverhalten stehen wir vor Problemen, die m. E. noch nicht ausreichend erfasst sind. Die Tragweite von ihren Problemen durch soziale Bedingungen sowohl in der Heimat als auch in Europa und durch aufbrechende Traumata oder posttraumatische Belastungsstörungen übersehen wir noch nicht. Fragwürdig ist jedoch der presse­mäßige und sozusagen flächendeckende Umgang mit dem Wort »Trauma­tisierung«. Viele Flüchtlinge haben Schreckliches erlebt, sind aber dennoch vermutlich nicht »traumatisiert«. Andere Kulturen verlangen den Menschen andere Härten ab, als wir sie gewohnt sind. Das Wort Trauma birgt die Gefahr in sich, das Kraftpotenzial der Betroffenen nicht genügend zu würdigen, sondern sie allein als Opfer zu betrachten. Sie alle haben unendlich belastende Erinnerungen. Die Flucht und ihre Schrecken zu überstehen, aber zeigt auch ein Potenzial, das nicht zu unterschätzen ist. Anders ist es, wenn eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert ist. Die Vorstellungswelt

In Afrika, und darauf beziehe ich mich im Wesentlichen, ist »Atheismus« überaus selten, sondern er gilt als dumme europäische Marotte. Die sichtbare und die unsichtbare Welt durchdringen sich gegenseitig und wirken ständig aufeinander ein. Die Menschen sind von der Welt der Ahnen, Geister und Götter umgeben, die man anruft, die man benutzen kann und die umgekehrt auf die Menschen und ihre Verehrung und Opfer angewiesen sind. Sie tun sich kund in Träumen, in Erscheinungen, aber auch durch Krankheiten und Unglücksfälle, wenn sie vernachlässigt sind. Götter und Geister sind ambivalent wie die

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Menschen, sie sind weder eindeutig »gut« noch »böse«. Der Dualismus von Gut und Böse ist oft erst mit dem Christentum und dem Islam eingedrungen. In afrikanischen Kulturen sind Individualismus und persönliche Entfaltung kein anzustrebendes Ziel. Die Ahnen wachen über den Zusammenhalt der Familie, des Clans, des Volkes. Wer Individualist ist, gilt oftmals als ichbezogen. Dem »Individuum« droht der Hexereiverdacht, was bedeutet, es wird verdächtigt, antisozial zu sein. Hexereiverdacht, Hexereianklagen und Furcht vor Hexerei und Fluch nehmen nicht unbedingt ab mit zunehmender Wirtschaftskraft, sondern sind z. T. eine Folge der »Globalisierung«. Das heißt jedoch nicht, dass es in Afrika keine herausragenden Einzelnen gäbe, es kann aber sein, dass sie mit einem gewissen Misstrauen betrachtet werden. Hexerei ist aber nicht nur das Ergebnis der Bosheit eines Menschen, sondern beruht auf einer übernatürlichen Kraft oder auf Totengeistern (Totengeister sind etwas anderes als die Ahnen der Familie), die sich des Menschen bedienen, manchmal sogar ohne sein Wissen. Wenn Afrikanerinnen bei uns in Schwierigkeiten geraten mit Behörden, bei der Wohnungssuche usw. wird gelegentlich der Fluch der Angehörigen in Afrika als Ursache genannt, die ihm den Erfolg im »reichen Westen« neiden. Unglück oder Pech werden in der Regel auf übernatürliche Einwirkungen zurückgeführt, es sei denn es handelt sich um banale Alltäglichkeiten wie Schnupfen oder vergessene Taschentücher. Das heißt aber auch, dass keine Verantwortung übernommen wird, sondern die Ursache allen Elends allein außerhalb seiner selbst gesucht wird. Religion und Rituale sind eine nicht zu vernachlässigende Kraftquelle und ein Identitätsfaktor (Utsch, 2015 u. 2016), aber sie bergen auch Gefahren, denn sie binden den Menschen in ein System ein, aus dem es schwierig ist, sich herauszuwinden. Viele Menschen sind eingebunden in ein Ritualsystem und haben Initiationsrituale in Afrika erlebt, deren bindende Kraft wir als Europäer nicht einfach lösen können. Um überhaupt zu verstehen, was vorgeht, sollte man eine ungefähre Kenntnis der Vorstellungswelt haben, in der Träume und Erscheinungen, Stimmenhören sowie außersinnliche (oder: angeblich außersinnliche) Wahrnehmung selbstverständlich sind und keineswegs als Ausdruck psychischer Krankheit gelten. Problembearbeitung

Viele Migranten sind es nicht gewohnt, über ihre Gefühle und Empfindungen zu sprechen. Kleine Gemeinschaften können und konnten oftmals nur existieren, wenn der Einzelne sich zurücknimmt. Das Leben der Gemeinschaft steht über dem des Individuums.

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Für Unglücksfälle und deren Gründe wird in Westafrika der Orakelpriester zurate gezogen. Die Betroffenen schildern ihr Anliegen nicht, sondern erwarten, dass die Experten aufgrund ihres »höheren Wissens« alles nach der Orakel­ lesung darlegen. Das können sie auch, sofern sie keine Scharlatane sind. Wenn von uns erwartet wird, dass wir wissen müssen, was dem Gegenüber fehlt, ohne dass es uns einen Hinweis gibt, sind wir ratlos. Unser Personzentriertes Konzept beruht darauf, dass der andere sein oder ihr Leiden schildert, und die Schilderung ist der Ausgangspunkt für das Gespräch. Wir müssen hier selbst eine ungefähre Gesprächseröffnung machen oder eine Frage stellen. Geht es um Gefühle, so muss man im Gespräch Angebote machen, aber in der 3. Person »ich habe gehört, dass …, mir wurde folgende Geschichte erzählt … – geht es dir auch so?« dann kommt ein Prozess in Gang. Fallbeispiel 2: Ein junges Mädchen, nigerianischer Vater, deutsche Mutter, lebte in einem Jugendheim zusammen mit einer Iranerin, offenbar gab es keine Gemeinsamkeit der beiden. Das Mädchen litt unter Kopfschmerz und Schlaflosigkeit. In Nigeria war sie als Kind zwangsweise von ihrer afrikanischen Stiefmutter, der zweiten Frau des Vaters, einem Ritual unterworfen worden. Als Christin wollte sie »das Ritual loswerden«. Über den Inhalt sagte sie nichts. Rituale unterliegen der Schweigepflicht, man fürchtet den Zorn der Götter, wenn man etwas verrät. Die Götter drohen mit Wahnsinn oder Tod. (Der sogenannte »Voodootod« ist eine ernste Gefahr, Schmid, 2004.) Außerdem ist im Tempel in der Regel etwas vom Eingeweihten zurückgeblieben: Blutstropfen, Haare, Fingernägel usw. Sie freute sich, dass ich ihr zuhörte und Verständnis und Kenntnis über ihren Hintergrund hatte. Geholfen hat es ihr in der Kürze der Zeit (ein Kontakt) nichts. Ich habe sie mithilfe einer Ghanaerin in eine afrikanische Gemeinde vermittelt, dann aber nichts mehr von ihr gehört. Im Rückblick wäre vielleicht ein tieferes Gespräch möglich gewesen durch die Eröffnung: »Du hast ein Stück von dir im Tempel zurückgelassen«, eventuell mit dem Zusatz »das macht dir Angst«. Vor zwanzig Jahren hatte ich mit Tempelritualen noch nicht genug Erfahrung. Oft wenden sich Beratungsstellen oder Kindergärten an »die Kirche« mit der Bitte um Einschätzung »eines Falles«. Dann ist ein Rat gewünscht vor dem Hintergrund der Kenntnis der jeweiligen Religion und Kultur. Neupfingstler und afrikanische Gemeinden versuchen, mit Gebet und Handauflegung allen Schwierigkeiten bis hin zum Fluch und zur Hexerei entgegen zu wirken. Ich halte es daher für problematisch, Afrikaner ohne Weiteres in eine afrikanische Gemeinde zu vermitteln, die man selber nicht genau kennt.

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Manche Landeskirchen haben einen angestellten afrikanischen Pastor, mit dem man zusammenarbeiten sollte, er kennt den Spagat zwischen Afrika und Europa und den grundlegenden Unterschied im Denken und Fühlen und Agieren. Manchmal gibt es eine afrikanische Ärztin, die aufklären kann über Krankheitsursachen. Manche Ethnologen und Religionswissenschaftlerinnen kennen sich auf diesem Gebiet aus und können Hinweise geben, manche Anfragen landen direkt oder auf Umwegen bei mir. Für den Islam und Islamismus gibt es hingegen Anlaufstellen: Islambeauftragte, aber auch staatliche und Stellen in freier Trägerschaft. Im muslimischen und jesidischen Bereich kann man auf eigene Therapeuten und Psychoanalytikerinnen zurückgreifen.

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 Ohne Person keine Organisation – Seelsorge im Alltag der Gemeinde

Ulrich Schweingel

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Abb. 4: Der Gekreuzigte in der St.-Nikolai-Kirche, Hannover-Limmer (© Ulrich Schweingel)

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Ulrich Schweingel

1  Auf dem Weg zu einer seelsorglichen Gemeinde Der Gekreuzigte mit goldener Dornenkrone, dahinter im Fensterbild der Auferstandene: »Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« (Mt 28,20) – das war 40 Jahre der Blick von meinem Arbeitsplatz am Altar der St.-­NikolaiKirche in Hannover-Limmer. Dieses Versprechen der Liebe hinter dem Bild des Leids fasst für mich beides: christlichen Glauben und Personzentrierte Seelsorge. Beides ergänzt sich als Basis meiner Haltung und meines Verhaltens als Pastor einer Gemeinde: Jesus und Rogers als Dream-Team. Warum? Dass Gottes Gnadenzusage und Liebesversprechen in eine Gemeinde gehören, liegt auf der Hand. Aber wozu Personzentrierte Seelsorge? Vier Thesen: Rogers hilft zur Personwerdung

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Mit Carl R. Rogers hat sich mir als jungem Pfarrer, überfordert von Konflikten zwischen Trauernden oder Mitarbeitenden, eine Welt erschlossen. Im Studium lernten wir zu exegesieren – aber nicht, mit Menschen umzugehen. Geschweige denn, das eigene Empfinden in schwierigen Situationen schnell sortiert zu bekommen und zur Kompassnadel zu machen. Das ist heute, auch dank unserer Sektion, zumindest in der hannoverschen Landeskirche anders: Gesprächsführung und Selbstreflexion gehören inzwischen zur Vikariats­ ausbildung. Die Weiterbildung in Personzentrierter Seelsorge war für mich: Hilfestellung zur lebendigen Kommunikation, Handwerkszeug, das mutig machte, Menschen echt und offen zu begegnen oder brodelnde Konflikte wahrzunehmen und anzusprechen. Nicht, um zu urteilen, zu analysieren oder gar theologisch verbrämt zu moralisieren, sondern, um etwas zur Sprache bringen zu können, das unterschwellig zu spüren ist. Insofern war der Gesprächsführungsansatz von Rogers für mein Handeln als Pastor eine Schlüsselerfahrung, wie Kommunikation mit Einzelnen und in Gruppen wahrhaftig, transparent und wertschätzend gelingen kann. Rogers hilft für die Rollensicherheit

In Kapitel I.1 schreibt Christiane Burbach, »Personen sind nicht einfach aus sich selbst heraus, wer sie sind« (I.1, S. 18). Das gilt genauso für die Rolle des Pfarrers. Man wird nicht als Pfarrer geboren. Man wird dazu gemacht. Man macht sich selbst dazu. Und die Rolle, das ist mehr als eine: Ich war Prediger und Liturg, Seelsorger für Einzelne, Paare und Angehörige, Gemeindeleiter, Chef, Verantwortlicher für Mitarbeitende, Gruppenleiter für Kinder, Jugendliche, Ehrenamtliche. Immer, ob explizit oder zwischen den Zeilen, war ich

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dabei Seelsorger – denn Seelsorge ist, darin besteht Konsens, eine Dimension aller pastoralen Arbeit in der Gemeinde. In der Begegnung mit Menschen schwingt die Rolle immer mit, die eigene, die der anderen. Sie prägt die Erwartungen des Gegenübers, ohne dass man ihnen immer gerecht werden kann oder auch will. Sie prägt die eigenen Erwartungen an sich selbst. Hier habe ich Rogers von Anfang an als hilfreich empfunden; vor allem die den Berufsalltag kontinuierlich begleitende Aus- und Weiterbildung, kollegiale Supervisionen, Selbsterfahrung, Selbstreflexion. Denn der Ansatz von Rogers ist ja ebenso wie der eigene Glaube nichts, was sich nur nach außen richtet oder richten sollte: Kommen meine Wertschätzung, meine Echtheit, meine Empathie wirklich von innen, kann ich das empfinden, oder trage ich sie wie ein Rollenschutzschild pastoral vor mir her? Ist mein Glaube glaubhaft? Was passiert da mit mir selbst, wenn ich anderen begegne? Wenn ich andere bei ihrer Selbstaktualisierung zu unterstützen versuche, dabei aber an meinem Selbstideal scheitere – was ist dann? Personzentriert zu arbeiten heißt darüber hinaus gerade in der Rolle des Pfarrers, dass ich mich selbst nicht als die Lösung ansehe, sondern als leben­ digen Menschen, der sucht und sehnt. Und dass ich mich um meiner Lebendigkeit und Weiterentwicklung willen selbst einbinde in einen Kreis von Kolleginnen, die für meine Fragen offen sind, die mein Tun kritisch begleiten, mich korrigieren und bei Unsicherheiten helfen, einen eigenen Weg zu finden. So ist regelmäßige (kollegiale) Supervision meiner seelsorglich-beraterischen Einzeloder Gruppenarbeit wie ein Schleifstein meines Könnens. Der Personzentrierte Ansatz (PzA) ist also mehr als eine Methode: Er ist eine Haltung zu sich selbst, den anderen und der Welt. Rogers hilft zur Begegnungsfähigkeit

»Und wie begegn ich Dir?« – für Rogers ist die Sache klar: echt, wertschätzend, empathisch. Was heißt das genau? »Seelsorge ist menschliche Begegnung im Horizont der Zuwendung Gottes« (Burbach, I.1, S. 19). Wenn wir alle uns einander so zuwenden würden, wie Gott sich das von uns wünscht und wie wir uns das selbst wünschen – dann bräuchten wir Rogers nicht, keine »Reorganisation des Selbstkonzeptes« und kein dafür notwendiges »bedingungsfrei positiv anerkennendes […] Gegenüber« (S. 26 und 44). Wo aber Verletzung die vordergründige Lebenserfahrung ist und keine stabilisierende und lebensfördernde Kraft zu finden, wo Menschen keinen Maßstab dafür entwickeln konnten, was liebevolles Verhalten ist – da gibt es viel nachzunähren. Da gilt es erst einmal, überhaupt wieder Begegnung zuzulassen und vertrauen zu lernen, dass die andere Person es gut

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mit mir meint und dass da irgendwo ein Zipfel der Liebeszusage »Siehe, ich bin bei euch …« zu erhaschen ist. Diesen Vertrauensvorschuss andersherum zu geben, sehe ich als die erste Aufgabe des Seelsorgers: Ja, du bist gut. Du bist gemeint und gewollt und geliebt, das weiß ich. Daran glaube ich, auch wenn ich es dir jetzt kaum anmerken kann. – Das verstehe ich unter dem, was Rogers Wertschätzung nennt: Dahinter sehen. Hinter die Verletztheit, hinter die Erzählung, hinter die Flecken auf dem Pullover. Das ist die Liebeszusage des Auferstandenen. Dieser Vertrauensvorschuss als Basis überhaupt irgendeiner Form von Begegnung, in der mein Gegenüber mir vertrauen kann, setzt meines Erachtens eine »geklärte Persönlichkeit« (Burbach, I.1, S. 29) voraus – einen echten Menschen. Sich im PzA fortzubilden, bringt es zwangsläufig mit sich, dass man an die Schlacken der eigenen Persönlichkeit kommt. Das ist nicht jedermanns Sache. Aber wenn man sich darauf einlässt, stehen die Chancen gut, dass man Erkenntnisse und Haltungen für sich gewinnen kann, die die Begegnung mit anderen Menschen – nicht nur im professionellen Bereich wohlgemerkt – öffnen und fruchtbar machen können: von Person zu Person. Und als Person möchte ich echt sein, erkennbar, ehrlich und offen. Denn ich bin davon überzeugt, dass ich nur so für mein Gegenüber in die »Position einer für den Gesprächspartner bedeutenden Person« gelange, von der Christiane Burbach spricht (I.1, S. 26 ff.), kurzum, dass ich nur so ein Mensch bin, dem man (sich an)vertrauen kann. Indem mein Gegenüber Bedeutsamkeit, Angenommenwerden und Vertrauen erfährt, entsteht eine wachstumsfördernde Atmosphäre, in der neues Selbsterleben möglich wird und es ihm, ihr schließlich gelingt, sich selbst als bedeutsam zu sehen, sich selbst anzunehmen, sich selbst und weiteren Menschen außerhalb des seelsorglichen Settings zu vertrauen. Rogers hilft zur Organisationsentwicklung

Beliebt in Unternehmen sind Organisationsberatungen, die Prozesse einführen sollen und Strukturen. Das ist grundsätzlich nichts Falsches. Auch Kirche braucht Prozesse und Strukturen, wie jedes andere System. Wer aber ausschließlich hier ansetzt, ohne Person, Rolle und Beziehung im Blick zu haben – der wird keinen fruchtbaren Wandel herbeiführen können. Wenn die Energie in einem System vor allem als Kontrolle, Überprüfung und Misstrauen in den Menschen hineinwirkt, dann ist kein Wachstum möglich. Andersherum kann der von Rogers formulierte Anspruch nach Echtheit, Akzeptanz und Empathie auch rückwirken auf die Strukturen, die eine Kirchengemeinde braucht und die wesentlich vom Pfarrer geprägt und vorgelebt

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werden. Wer Menschen grundsätzlich und damit auch seinen Mitarbeitenden Eigenständigkeit, Verantwortung, Entwicklung zutraut, der möchte, muss und wird Strukturen schaffen, die dies ermöglichen. Es ist die Leitung einer Kirchengemeinde, die dafür zu sorgen hat, dass ein geschützter Raum entsteht, in dem auch widersprechende Positionen benannt werden können, in dem kontrovers diskutiert werden kann, in dem jeder gehört und in dem ein wertschätzender Umgang gepflegt wird. Es geht mit Rogers dabei ganz klar nicht um einen Kuschelkurs, sondern um die Möglichkeiten einer sachbezogen dienenden Arbeit. Nicht immer hat die Leitung so hervorragende Bedingungen, wie ich sie in Limmer mit anfangs sogar zwei Kollegen, engagierten Ehrenamtlichen und mit einer über 30 Jahre höchst vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Kirchenvorstandsvorsitzenden erleben durfte. Dies sei genannt, um deutlich zu machen, wie prägend Einzelne für das System Gemeinde sind, sodass ein Pfarrer unter Umständen bei allem gutem Willen gegen das Destruktiv-Böse in der eigenen Gemeinde – oder sogar in der eigenen Kirche – sich nicht durchsetzen kann. Fazit

Der Weg zu einer seelsorglichen Gemeinde ist also zunächst eine Schrittfolge von innen nach außen: Die Klärung von Person, Rolle und Haltung wirkt über das Personzentrierte Leitungsverständnis auf die Organisation der Kirchengemeinde. Und von den äußeren Rahmenbedingungen ausgehend wirkt die Personzentrierte Haltung wieder nach innen: von der Organisation bis zum Menschen, zur Person. In dieser Schrittfolge können Felder aufgemacht werden, die eine Kirchengemeinde einen seelsorglichen Ort werden lassen.

2 Sieben Beispiele aus dem Alltag einer seelsorglich geleiteten Gemeinde Beispiel 1: Personzentriertes Leiten einer Kirchengemeinde

Wenn Rogers für den einzelnen Menschen von der »Vertrauenswürdigkeit des Organismus« spricht (Rogers, 1978b, S. 27) – dann kann man dies auch für den Organismus Kirchengemeinde ableiten: Diesem komplexen und verletz­baren Gebilde grundsätzlich mit Vertrauen in die eigene Entwicklungskraft und Selbstaktualisierungstendenz zu begegnen – das hilft, um das eigene Tun und Lassen abwägen zu können. Und wenn Transparenz und Wertschätzung Säulen der eigenen Werte sind – dann lassen die sich in Form von Klarheit, Delegation, Entscheidungsbefugnissen und Planbarkeit auch ganz praktisch in eine Orga­

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nisationsstruktur prägen. Beispiele aus der Arbeit im Kirchenvorstand (KV) und in der Mitarbeiterbesprechung (MAB): Die Sitzungen des KV finden monatlich statt. Tagesordnungspunkte kommen aus der MAB, vom KV-Vorsitz, den Ausschüssen und dem Pfarramt. Mit Tagesordnung und Einladung bekommen die Mitglieder des KV umfassende Informationen, sodass sie zu einer eigenen Haltung zu dem jeweiligen Tagesordnungspunkt finden können. Die Ausschüsse arbeiten präzise vor und berichten. Sie haben die Befugnis – in Abstimmung mit dem KV-Vorsitz –, Beschlüsse nur noch rein formal vom KV einzuholen, um in der laufenden Arbeit handlungsfähig zu sein. Ein Organisationsplan, 1988 eingeführt und immer wieder aktualisiert, dokumentiert diese Regeln transparent und verlässlich für alle.

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Transparenz und gegenseitiges Vertrauen in die Redlichkeit des anderen gehören unabdingbar zur Grundlage der gemeinsam verantworteten Personzentrierten Gemeindearbeit. Dennoch wird es in der Sache auch Dissens geben. Seelsorge in der Gemeinde heißt dann: Die Leitungspersonen achten darauf, dass der jeweilige Hintergrund – Erfahrungen und Emotionen – angesprochen und für alle Anwesenden verstehbar benannt wird. In der Regel lässt sich dann Einmütigkeit erreichen. Bei Entscheidungen sehen sich aber auch nicht immer alle Personen mit ihrer Meinung voll vertreten. Hier gilt es, zumindest kurz die Möglichkeit zu geben, das augenblickliche Empfinden dazu auszusprechen (Echtheit). Ebenso sollte Raum vorhanden sein zum Bedenken, was die Entscheidung für die Betroffenen bedeutet (Empathie) und wie sie mit ihnen kommuniziert wird (Wertschätzung). In den MAB ist Raum zu arbeitsfeldbezogenem Austausch und verbindlichen Absprachen unter den bezahlt Mitarbeitenden, Zeitrahmen 90 Minuten: Jeder Mitarbeitende bringt seine Punkte ein zu den Stichworten »Beraten«, »Berichten«, »Bekunden« – so können Themen nach ihrer Relevanz gruppiert werden. Ausführlich beraten werden sachbezogen die anstehenden Aufgaben. Berichtet werden gemachte Erfahrungen aus dem Arbeitsbereich. Über das Bekunden werden kurze Mitteilungen an alle weitergegeben. Jeder Mitarbeitende bringt nach eigenem Ermessen die systemrelevanten Punkte ein. Sie werden protokolliert, Ergebnisse festgehalten und weiteres informierendes Vorgehen abgesprochen. Die MAB erarbeitet Beschlussvorlagen für den KV und hat ihrerseits in einem definierten Rahmen Entscheidungsbefugnisse.

Dies alles zielt auf eine größtmögliche Transparenz, gegenseitiges Vertrauen, Klarheit und Verlässlichkeit. Da die an KV und MAB Beteiligten selbst Verantwor-

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tung innerhalb der Kirchengemeinde tragen und damit selbst in ihrem Stil prägend sind, ist es so wichtig, dass von der Gemeindeleitung eine »charakteristische Gesprächskultur« (Burbach, I.1, S. 28) der Konfliktbearbeitung und -klärung vorgelebt wird: Dissens und Konflikte werden offen angesprochen. Nur so kann eine Gesprächskultur auch für schwierige Situationen eingeübt und mit der Zeit in der Gemeinde verankert werden. Dies alles ist prozessgemäße Seelsorge in einer Mitarbeitenden-Gruppe. Beispiel 2: Wertschätzung durch Schulung von Ehrenamtlichen

Was an Kommunikationskultur aus Personzentrierter Sicht bei bezahlten Mitarbeitenden wünschenswert ist, gilt ebenso bei Ehrenamtlichen, die ja oft in mehreren Feldern engagiert sind. Gemeinde ist Erfahrungsraum, Möglichkeitsraum, Entfaltungsraum. Es ist deshalb so wichtig, dass es Bereiche gibt, die sich der professionalisierten und zunehmend zentralisierenden Struktur von Kirche entziehen und in denen sich Ehrenamtliche engagieren können und wollen. Bereiche, in denen Wertschätzung erlebt werden kann, Sinn, Nutzen, Freundschaft. Menschen, die sich bei der Kirche engagieren, wollen nicht nur etwas geben, sondern das, was sie anderen geben, auch selbst empfangen können, wenn sie es brauchen. Ehrenamtliche suchen also selbst Seelsorge, umso mehr, wenn sie selbst seelsorglich tätig sind. Zum Beispiel im Besuchsdienst: Besuchsdienstmitarbeitende brauchen eine Schulung und Reflexion ihrer Motivation und Aufgabe, dazu methodisches Rüstzeug. Dies konnte ich monatlich in einer Art supervisorischer Reflexion anbieten. Je nach Selbsteinschätzung und Mut haben die Besuchskreismitglieder Jubilare besucht, Neuzugezogene begrüßt, Krankenbesuche gemacht. Diese Erfahrungen, verbunden mit Freude, Stolz oder auch Unsicherheit, wurden innerhalb des Besuchskreises reflektiert. Hierbei kann Vertrauen wachsen, Mut, sich zu öffnen, und erlebt werden, verstanden zu sein, ernst genommen und wertgeschätzt. Im Austausch in der Gruppe differenzieren sich die Wahrnehmungen, gerade auch der eigenen Möglichkeiten und Grenzen. So entsteht ein gemeinsames transparentes Lernen bis hin zu weiteren seel­sorglichen Gesprächen untereinander oder mit dem Pfarrer – ein im gelingenden Fall heilsamer seelsorglicher Dienst aneinander, ein mögliches Modell für das eigene Verhalten bei Besuchen in der Gemeinde.

Dabei ist für ehrenamtlich wie bezahlt tätige Seelsorgende jeweils die Erfahrung der Selbstwirksamkeit wichtig: Ich bin präsent und trage in guter Weise dazu bei, dass eine Beziehung zwischen dem Gemeindeglied und mir entsteht und die gegenseitige Wertschätzung sich positiv entwickelt.

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Beispiel 3: Begegnung in der Rolle Die Sonne scheint am wolkenlosen Himmel. Der Küster mäht Rasen. Ich gehe auf ihn zu. Er stellt den Motor ab und kommt auf mich zu. Wir geben uns die Hand, schauen uns an: »Guten Morgen!« Mag ich ihn? Mag er mich? Ist das zwischen uns gefühlt klar? Wenn ja und auch wenn nein: Hat er mir was zu sagen? Habe ich ihm was zu sagen? Dabei geht es zum einen um Inhalte, die zu formulieren und hörend zu verstehen sind. Schon das kann schwierig sein. Da schwingt zugleich die Frage der Hierarchie mit, der jeweiligen Rolle im System – und wie er und ich das jeweils empfinden und leben. Da schwingen Erfahrungen mit, die wir jeweils mit ähnlichen Personen in ihren Rollen gemacht haben. Hat der Küster »mir was zu sagen«? Hat der Pastor »mir was zu sagen«?

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Es ist so alltäglich und zugleich entscheidend. Denn wie wir kommunizieren: wertend, von oben herab, kriegerisch oder gemeinsam zielfindend, das wirkt sich aus bei uns, das nehmen wir als Gefühl mit in unseren Alltag, in die Begegnungen mit anderen. Es ist segensreich und wirkt seelsorglich, wenn die Begegnungen im Kreis der Mitarbeiterschaft untereinander sachbezogen und wertschätzend gelingen. Das strahlt hinein in den Alltag der Gemeinde: mein Menschenbild, meine Grundhaltung und meine Rollenklarheit. Oder: »Wo Gottes große Liebe in einen Menschen fällt, da wirkt sie fort in Tat und Wort hinaus in unsre Welt« (EG 603). Wenn diese Begegnungen gelingen, wächst bei Mitarbeitenden ein Empfinden der Wirksamkeit, der Wertschätzung, der Zugehörigkeit zur Gemeinde, das stärker sein kann als zur Wohnortgemeinde, zu der sie karteimäßig gehören. Beispiel 4: Den Personzentrierten Ansatz mit anderen teilen

Seelsorge ist da wichtig, wo die Seele wächst. In einer Gemeinde mit eigener Kindertagesstätte und eigenem Kinderheim ist es wünschenswert, dass die pädagogischen Fachkräfte möglichst für die Kinder und Jugendlichen »bedeutende Personen« (Burbach, I.1, S. 26 f.) sind, die den Kindern Vorbild in einer Umgangsweise werden, die sie womöglich von ihrem Zuhause nicht kennen. Pädagogische Fachkräfte stehen täglich im Spannungsfeld von eigenem Potenzial und Erwartungen von Kindern und Familien an sie. Dem Kirchenvorstand als Träger der Einrichtungen war es wichtig, die Mitarbeitenden in diesem Spannungs­feld zu begleiten und beauftragte mich damit: Einmal wöchentlich nahm ich an der Mitarbeiter-Morgenrunde im Kindergarten teil. Einerseits im Vorsitz des KV, andererseits als Seelsorger war es mir wichtig, in meiner Rolle als seelsorglicher Begleiter des Teams klar erkennbar zu sein, was

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von den Fachkräften auch wertgeschätzt und genutzt wurde. An zehn Tagen im Jahr nahm das Team an hausinternen ganztägigen Fortbildungen teil. Kirchenvorstand und Eltern genehmigten dies bzw. trugen dies gerne mit. Jährlich leitete ich einen Fortbildungstag zum Thema »Seelsorge mit Kindern«, an denen die Mitarbeitenden an ihren Beobachtungen und Fragen zu ihrem Gruppenalltag arbeiten konnten. Hier erlebten sie an sich selbst, wie wohltuend und hilfreich eine Personzentrierte Haltung ist, und konnten mehr und mehr diese Haltung für sich übernehmen und einbringen in die tägliche Arbeit mit den Kindern und deren Familien. Auf diesem Hintergrund gelang es, dass sich die Kinder­tagesstätte erweiterte zu einem von der Kommune geförderten Familienzentrum.

Im wachen Wahrnehmen der Nöte in Gemeinde und Stadtteil finden sich vielfältige Möglichkeiten, diakonisch-seelsorglich als Gemeinde zu leben, z. B.: Treffpunkt »Laden« für ältere Menschen, Obdachlose im Gemeindehaus, Kirchen­asyl, monatlich der »Kindertag« zum Toben, Basteln und Werkeln, Offene Jugendarbeit (Burbach u. Schweingel, 2002, S. 242 ff.). Beispiel 5: Wertschätzung, Empathie und Echtheit im Kontext von Kasualien

Zurück zum System. Das System tritt bei Kasualien manchmal in den Hintergrund: Eine schöne Dorfkirche gerät schnell zur Kulisse für Hochzeiten und Taufen, ohne Anbindung an die Kirchengemeinde. Wenn Paare aus anderen Gemeinden bei uns in Limmer heiraten wollten, fragte ich daher immer, warum sie nicht in ihrer Gemeinde heirateten. Denn Kasualien können Anlass für eine Einbindung von Menschen in die Gemeinde schaffen. Das gelingt aber nur, wenn insgesamt in der Gemeinde ein offen-willkommenheißender Stil gepflegt wird. Ebenso waren Kasualien immer auch Anknüpfungspunkte für seelsorg­ liche Anliegen: Wenn Monate vor dem angefragten Trauungstermin sich ein Paar bei mir meldete, habe ich angeboten, schon bald ein erstes Gespräch zu führen, um die bei dem Paar entstandenen Fragen zur Trauung zu klären. Das Angebot wurde immer gerne angenommen: Wer führt die Braut hinein? Kirchenschmuck? Trauspruch? Lieder? Zusätzliche Musik? Beteiligung von Familie und Freunden? Wen laden wir von unseren geschiedenen Eltern ein? Ein weites Feld von Fragen und Befürchtungen, von Meinungsdifferenzen zwischen dem Paar sowie den jeweiligen Eltern und Familien. Sehr oft wurde deutlich angesprochen, wie gegensätzlich beide geprägt sind: Meinungsunterschiede, gar Streit als zu vermeidende Katastrophe – Streit als lustvolle Art sich zu begegnen. Oder christlicher Glaube als bewusste Haltung – Ablehnung von Glauben und Religiosität. Aus solchen leidvoll empfundenen Differenzen haben sich

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mehrfach Paargespräche vor der angestrebten Trauung ergeben. Drei davon führten zur Trennung, eine gar erst zwei Wochen vor der Trauung. Dieses Wahr- und Ernstnehmen dessen, was Wirklichkeit ist, auch an Widerspruch und Diskrepanz, gehörte für mich zur Dignität der Wahrnehmung meines Amtes. Einige Tage vor der Trauung habe ich das eigentliche Traugespräch geführt. In diesen Gesprächen wuchs Vertrauen, aus dem heraus Paare im Laufe der Ehezeit sich wiederholt an mich gewandt haben. Aufgrund der monatlichen Karteimeldungen erfuhren wir, wenn ein Kind geboren war, dessen Vater oder/und Mutter evangelisch-lutherisch sind. Möglichst zeitnah habe ich per Brief gratuliert, ein Gespräch angeboten und zur Taufe eingeladen. Damit habe ich versucht, in Beziehung zu kommen mit dieser Familie und der Familie die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit ihrer Gemeinde gegeben. Manche Menschen sterben einsam, haben keine Angehörigen (mehr), kein Mensch scheint zu trauern oder an einer kirchlichen Feier Interesse zu haben. Andere Menschen sind schwer krank, werden im Heim oder zu Hause von dem Partner gepflegt, von der Familie begleitet. Innerhalb dieses Spannungsbogens gilt es, im Beerdigungsgespräch wach das Erleben und Empfinden der Angehö­rigen wahrzunehmen. Sei es allein der Partner, sei es eine Gruppe aus Kindern und Geschwistern des Verstorbenen: Wahrnehmen, Einfühlen, Verstehen, Verbalisieren bewirkt, dass die Anwesenden sich selbst in ihrer Unterschiedlichkeit und auch Ähnlichkeit wahrnehmen. Seelsorgliche Gespräche nach einer Beerdigung können dazu beitragen, dass ein Hinterbliebener aus einer empfundenen Isolation heraus­findet, er durch Personzentrierte Seelsorge aus seiner Erstarrung wieder in einen lebendigen Fluss seines Erlebens und Lebens, auch zur Gemeinde, gelangen kann.

Beispiel 6: Das Destruktiv-Böse im Gemeindealltag (vgl. zum Thema: T. Kingreen, I.2, S. 57 ff.)

Daneben stelle ich erschreckende Erfahrungen: Eine junge Mutter nimmt sich aus Verzweiflung, innerer Not das Leben. Ein Drama für die Familie. Erschreckend für Mitarbeitende und Eltern der Kindertagesstätte, die täglichen Kontakt mit ihr und ihrem Kind hatten. Neben der Begleitung der Familie vor, bei und nach der Beerdigung bot ich einen Gesprächskreis für Eltern an. Ausgehend von der aktuellen Betroffenheit, den Fragen, machten wir uns auf den Weg, aus dem Glaubensschatz der Kirche Hilfreiches zu finden, Orientierung und Halt für das alltägliche Leben mit seinen Freuden, aber eben auch mit seinen Widrigkeiten und den Konflikten, in die wir innerlich und äußerlich geraten. Da war immer wieder ein Prozess zu erleben, wie durch Bewusstmachung Personzentrierter Grundwerte und deren lebendiger Anwendung Selbstbilder wahrgenommen und bearbeitend verändert wurden. In diesem so entstandenen Gesprächskreis »Gott

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und die Welt« trafen sich schließlich 15 Jahre lang monatlich Frauen und Männer der Gemeinde, die als Arbeitnehmer oder Arbeitgeberinnen sich nach Personzentriertem Konzept gegenseitig hörten, wahrnahmen, wahrhaftig begleiteten und darin Gottes Gegenwart erkannten.

Eine weitere Erfahrung, die ich zweimal gemacht habe: Ein Ehemann tötet seine Ehefrau. Die Hintergründe sind sehr verschieden. Nach den Beerdigungen halte ich Kontakt zum jeweiligen Täter, besuche ihn monatlich in U-Haft bzw. Gefängnis. Die Familie der getöteten Frau X. ist konsterniert, als sie beim Gerichtsverfahren gewahr wird, dass ich Kontakt zu dem Mörder ihrer Tochter habe und halte. Es passt nicht in die emotionale Bewegung aus Wut, Empörung und das Entsetzen der Familie, dass der Pastor dem Tochtermörder Begleiter ist. Auch in der Gemeinde gibt es kopfschüttelnde Reaktionen über mein Verhalten. Im KV wird mein Verhalten diskutiert, es wird theologisch argumentiert und dadurch deutlich: Seelsorgliche Begleitung ist überparteilich.

Es ist ein langer seelsorglich wirkender Weg, bis rational und auch emotional von KV, Gemeinde und teilweise der Familie akzeptiert wird, dass zu differenzieren ist zwischen Person und Tat – gut lutherisch also zwischen Person und Werk: Der Mord ist geschehen, der Täter bleibt ein Mensch, der sich sehnt nach Beziehung und liebevoller Begleitung. Dies ist Aufgabe derjenigen in der Gemeinde, die diesem schuldig gewordenen Menschen begegnen wollen – zuerst ist es von der Rolle her die Aufgabe des Pfarrers. Auch das ein notwendender Weg, dem Täter nahe zu sein, sodass er sich selbst nahekommt, seine Schuld wahrnimmt, sein Tun bereut, um Vergebung bittet, sie annehmen kann nach der Beichte. Und im Abendmahl sich hineinstellt in den Kreis derer, die ebenso wie er Christi Leib und Christi Blut zur Vergebung und Feier erneuerter Gemeinschaft empfangen. Ich schrieb damals ins Gefängnis: »Wie mag es Ihnen gehen? Ich denke manchmal an unser letztes Gespräch und ich wünsche Ihnen, daß Sie darauf vertrauen können, daß Gott Ihnen Ihre Schuld vergeben hat. Sie muß nicht mehr auf Ihrer Seele lasten! Das kann Sie frei machen, Ihre positiven Kräfte zu entfalten, für sich selbst neues zu lernen und soweit es möglich ist auch an andere Ihre guten Gaben weiterzugeben.«

Christliche Gemeinde, die sich unter das Kreuz stellt, Schuld erkennt, Vergebung lebt und darin auf die Worte des Auferstandenen vertraut: »Siehe ich bin bei Euch alle Tage …« – all dies und vieles mehr geschieht im Alltag der Gemeinde,

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befördert die Freude aneinander, lässt jeder Begegnung ihren Sinn und mindert gerade für die Engagierten die Gefahr eines Ausbrennens. Beispiel 7: Umbruchsituationen als Herausforderung für die Personzentrierte Haltung

Es ist in unseren Gemeinden auch zu erleben, dass nicht alle zufrieden sind, sondern dass es grummelt, rumort, gar kracht. Das wird schnell deutlich bei einem Personalwechsel, sei es im Pfarramt, bei Diakonin oder auch Küster. Auch nach Kirchenvorstandswahlen mit dem Ergebnis eines personell (stark) veränderten Kirchenvorstandes.

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Als Personzentriert lebender und handelnder Pfarrer habe ich spätestens dann vor der Aufgabe gestanden, die bisher gültigen Regelwerke für die Arbeit in der Gemeinde transparent zu machen. Dazu können gehören: Leitbild, Leitungsstruktur, Arbeits­ abläufe, Arbeitsfeldzuordnung. Sie sind gemeinsam in der personell neu aufgestellten Gruppe wahrzunehmen. Mir war es immer wichtig, bewusst dafür zu werben, sich vorerst auf sie einzulassen, um nach einer abgesprochenen Zeit sich über die jeweils gemachten Erfahrungen auszutauschen. Dann gilt es, unter Umständen auch mit weiteren Personengruppen, diese Regelwerke so zu verändern, dass möglichst alle diese gefundene neue Form als ihr Regelwerk annehmen und auch anwenden können.

In diesem Prozess wird zugleich Personzentriertes Handeln eingeübt und auch mit seinen Grundhaltungen klar benannt: ein (Personzentriertes) Wahrnehmen und Hören aufeinander, gegenseitige Wertschätzung und die wahrhaftige Benennung und Wahrnehmung der (veränderten) Gegebenheiten. Vertrauen in die Wachstumsweisheit und in Gott – bis zuletzt

Die größte Herausforderung, der größte Umbruch für einen selbst als Pfarrer mag am Ende das Loslassen sein, die Übergabe des Geprägten an die nächste Generation. Zu welchem neuen Selbstbild wird die Gemeinde sich entwickeln? Was an Vorgelebtem und Gelerntem wird tragen, wo gerät es an seine Grenzen? Wie zu Beginn heißt es hier: innerlich gut sortiert sein, loslassen können von dieser Rolle. Im Vertrauen, dass eines bleibt – die Zusage der Liebe hinter dem Leid, die seelsorglich mitgeht mit der Gemeinde. Hinweis: Erst nach Fertigstellung des Manuskripts erschien Ziemers Aufsatz über Gemeindeseelsorge (Ziemer, 2018).

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Die katholische Kirche in der Schweiz hat bereits in den 70er-Jahren angefangen, Sozialarbeiterinnen auf der Stufe Pfarramt als »pastorale Mitarbeiter« einzustellen. Zurzeit sind allein im Bistum Basel 47 Sozialarbeitende aktiv im Dienst, die allermeisten davon auf der Stufe Pfarramt oder Pastoralraum. Fast alle sind, wenn auch unterschiedlich stark akzentuiert, beraterisch tätig.

1  Aus dem Leben einer Flüchtlingsfamilie

Abb. 5: Mutter mit Kind in einer kommunalen Flüchtlingsunterkunft (© Mathias Jäggi)

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Beim vorgestellten Fall handelt es sich um eine Flüchtlingsfamilie, die vor dem Erstkontakt im Jahr 2010 bereits seit vier Jahren in der Schweiz gelebt hat und die in letzter Instanz im Asylverfahren abgewiesen worden ist. Sie hatten eine rechtskräftige Wegweisung und waren angehalten, so rasch wie möglich in die Heimat zurückzukehren. Das Heimatland weigerte sich jedoch, gültige Reise­ dokumente bereitzustellen. Mit der Wegweisung folgten der Entzug der Arbeitserlaubnis, worauf der Vater seinen Minijob verlor, und der Sozial­hilfestopp. Der Asylbetreuer der Kommune initiierte den Beratungskontakt zur Kirche, da er von seiner Seite nur noch sehr beschränkt auf die Bedürfnisse der Familie eingehen konnte. Die Perspektivenlosigkeit und die depressive Lebenslage waren denn auch das Hauptthema der ersten Beratungsstunden, die vom Vater wahrgenommen wurde. Zudem ging es auch um materielle Anliegen. Die Nothilfe für abgewiesene Asylbewerber deckt in der Schweiz nur die elementarsten Bedürfnisse für Essen und Körperpflege (Trummer, 2011). In den Beratungsanliegen ging es um konkrete Bedürfnisse im Zusammenhang mit dem Kindswohl, um den Spracherwerb beider Elternteile und um kreative Ideen gegen die soziale Isolation. Der Vater war gegenüber der aktuellen, neuen Asylsituation hilflos. Nach circa zehn Beratungsgesprächen fand zum ersten Mal der Kontakt zur Mutter statt. Ihre psychische Verfassung war desolat und sie war am Rande einer Depressionserkrankung mit den entsprechenden Begleiterscheinungen. In zahlreichen Beratungsgesprächen, die teils mit beiden Elternteilen alleine erfolgten und teils als Paarberatung stattfanden, gelang mit der Zeit eine erste Stabilisierung. Für das Kind konnte pro Woche ein halbtägiger Spielgruppenplatz gefunden und finanziert werden. Die »Spielgruppe« ist in der Schweiz eine der Einschulung vorausliegende, freiwillige und privat zu finanzierende Einrichtung. Hauptsächliches Ziel ist dabei die psychosoziale Entwicklung des Kindes in einer Gleichaltrigengruppe. Die Einschulung selbst beginnt im fünften Lebensjahr mit dem Kindergarten. Für den Vater konnte die Fortführung des Sprachkurses organisiert werden. Zudem engagierte er sich freiwillig im Bereich der kirchlichen Hauswartung. Die Mutter bekam Anschluss an eine Turnerinnengruppe, wodurch ihre Gefühle der Isolation und Trauer etwas abgemildert wurden. Zu einem späteren Zeitpunkt absolvierte sie ebenfalls weiterführende Sprachkurse. Sie begann, sich gemeinnützig im Vereinswesen zu engagieren und gründete mit Unterstützung durch den kirchlichen Sozialdienst einen eigenen kulturellen Verein. Die Familie erhielt in den folgenden Jahren Zuwachs um weitere zwei Kinder. Beim letzten Kind hatte der Vater Tränen in den Augen, da er wusste, was für eine (finanzielle) Belastung damit auf die Familie zukam. Da eine Rückkehr in die Heimat immer unrealistischer erschien, wurde im Sommer 2013 beim Bundesamt für Migration

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ein Gesuch um vorläufige Aufnahme eingereicht, dem dann im Sommer 2014 entsprochen wurde. Nach vier Jahren der sozialen und existenziellen Isolation wurden ab diesem Zeitpunkt von staatlicher Seite her wieder Sprachkurse und Programme für die berufliche Integration finanziert und der Vater konnte, mit inzwischen 33 Jahren, diverse längere Praktika absolvieren. Eine definitive Arbeitsintegration konnte bis zum heutigen Zeitpunkt jedoch nicht wiederhergestellt werden. Dieser beruflichen Perspektivenlosigkeit ihres Mannes wollte die Frau in mehreren Beratungsgesprächen, die zeitweise den Charakter eines Coachings trugen, nicht tatenlos zusehen. Im Jahr 2017 übernahm sie schließlich ein kleines Geschäft, das sich zurzeit im Aufbau befindet. Ein definitiver Erfolg ist noch nicht absehbar.

2  Beziehungsgestaltung: Der Personzentrierte Ansatz in der Beratungsarbeit Es dürfte deutlich werden, dass Beratung in so einem Kontext sehr umfangreich und komplex ist. Nicht selten sprechen Klientinnen von der Beraterin als beste Freundin oder dass sie wie eine Schwester sei. Damit wird eine Qualität der Beziehung ausgedrückt, welche auch von den Klienten als nicht selbstverständlich erlebt wird. Möglicherweise ist es gewagt, im professionellen Umfeld von Beratung als einem Ersatz der fehlenden familiären und gesellschaftlichen Strukturen zu sprechen. De facto läuft es jedoch oft darauf hinaus. Diese Beziehung ist im Idealfall geprägt von wohlwollendem, beidseitigem Vertrauen. Selbstverständlich gilt hier aber, was in jeder menschlichen Beziehung vorkommen kann. Vertrauen kann missbraucht werden oder anderweitig gestört sein. Professionalität zeichnet sich dann erst recht durch die Kompetenz des Beraters aus, die aus der Balance gebrachte Beziehung zur Sprache und bestenfalls zusammen mit dem Klienten wieder ins Lot zu bringen. Es gibt allerdings auch Situationen, in denen dies nicht gelingt und in denen die Beratung durch den Klienten selbst oder durch die Beraterin abgebrochen wird. Beratung kann nicht als rein methodische Kompetenz verstanden werden, sondern beinhaltet die Kompetenz, eine Beratungsbeziehung zu etablieren, welche dem Klienten die Grundlage für Entwicklung und Veränderung ermöglicht. Hilfreich für die Gestaltung dieses Balanceaktes zwischen Freundschaft und Professionalität erweisen sich die Interventionsformen nach Finke (2003b) die von der »akt –Arbeitsgemeinschaft für Klientenzentrierte Therapie und Humanis­tische Pädagogik« im Hinblick auf Beratung entfaltet worden sind (s. Tab. 1, Groddeck, o. J.).

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Tab. 1.: Die Interventionsformen nach Finke (2003b) in deren Ausdeutung durch »akt« für die Personzentrierten Beratung (Groddeck, o. J.) Interventionsform nach J. Finke

Bedeutung für das Personzentrierte Arbeiten

Folgen

Der Berater versucht das Erleben nachzuvollziehen: Aktives Zuhören, Zurücksagen, Spiegeln, Verbalisieren, Reflektieren.

Teilen

Der Berater hat das emotionale Erleben »erreicht« und kann und will es mitvollziehen (mitfühlen). Er lässt sich emotional berühren.

Halten

Der Berater verweilt bei dem geschilderten Erleben; z. B. durch Zurücksagen oder durch Nachfragen (Konkretisieren) und Beschreiben lassen. Auch durch »teilen« oder durch begegnen.

Begegnen

Der Berater stellt seine inneren Gefühle gleichwertig neben die des Klienten. Diese können unterschiedlich sein. Beide begegnen sich respektvoll in ihrer Unterschiedlichkeit (Selbstöffnung des Beraters).

Konfrontieren

Der Berater hat eine andere Sichtweise, Erwartung, Wertvorstellung, etc. Er »konfrontiert« den Klienten mit dieser, z. B. mit Informationen, Sach- und Expertenwissen, oder eigenem Erleben. Oft gehört zum Konfrontieren auch ein Aspekt von »Führen«.

Führen

Der Berater will die Aufmerksamkeit des Klienten von einem gegenwärtigen Wahrnehmungsobjekt auf ein anderes lenken, einen neuen Abschnitt beginnen oder auch das Ende der Beratungs­stunde einleiten.

Umdeuten

Der Berater hat einen Erlebensvorgang des Klienten zutreffend verstanden und gibt ihm eine neue, andere Bedeutung (Per­spektivenwechsel).

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Die Interventionsformen »Begegnen, Konfrontieren, Führen und Umdeuten« sind besonders bei den langen Beratungskontakten hilfreich und weiterführend. Hier sind das dazu notwendige Vertrauen und die Stabilität vorhanden. Damit wird klar, dass eine etablierte Beratungsbeziehung durchaus auch etwas aushält. Zu beachten ist, dass in einer Weise begegnet, konfrontiert, geführt oder umgedeutet wird, bei welcher der Klient stets frei wählen kann, wie er damit umgeht.

3  Ethik als Qualitätsmerkmal Nun kommen wir unweigerlich zu ethischen Aspekten der Beratungsarbeit. In der Sozialen Arbeit werden diese jüngst im Zusammenhang mit der fortschreitenden Professionalisierung diskutiert. Schumacher schreibt der Sozialen Arbeit einen »expliziten Wertebedarf« (Schumacher, 2013, S. 154) zu und betont, dass das »berufliche Sozialarbeitshandeln« über geklärte ethische Bezüge die Sicherheit finden muss, die es braucht. Ethik wird zum Kriterium, an dem sich

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das sozialarbeiterische Handeln unweigerlich qualifizieren muss (S. 156). Das Menschenbild der Sozialen Arbeit ist geprägt von Selbstbestimmung und vom Autonomiegedanken. Soziale Arbeit, als neuzeitliche Disziplin, sieht sich diesem modernen Verständnis des Menschen verpflichtet. Der Mensch ist als Indivi­ duum selbst Subjekt des Hilfeprozesses (S. 80 ff.). Dieser ethische Aspekt wohnt auch dem Personzentrierten Denken inne und lässt sich mit dem von Schumacher postulierten Autonomieverständis in Verbindung bringen. Autonomie kommt nicht an den Grunddimensionen vorbei, innerhalb derer sich Autonomie überhaupt erst verwirklichen lässt. Ethik bewegt sich im Bezugsrahmen von »Ich-Du-Natur-Gemeinschaft« (S. 223 ff.). Es stellt sich jedoch die Frage, wie sich professionelles Handeln als Wertehandeln im beruflichen Kontext etabliert, damit es zum Qualitätsmerkmal professionellen Handelns wird. Reichen Bekenntnisse, wie sie in unterschiedlichen Standards zum Ausdruck gebracht werden allein schon aus oder wie werden sie für die Praxis operationalisiert? Wie wird deren Umsetzung im Einzelfall evaluiert?

4 Communities of Practice: Soziale Arbeit in der (erneuten) Professionalisierung An der Fachhochschule Nordwestschweiz wurde ein neues Instrument ent­wickelt, das sich im Fachbereich der Kasuistik, von seiner Bedeutung her also dem Fallverstehen, angesiedelt hat (Tov, Kunz u. Stämpfli, 2013). Es macht zurzeit im deutschen Sprachraum Schule und hat zum Ziel, sozialarbeiterisches Handeln zu evaluieren und professionsbewusst abzusichern: Was ist Professionalität und wie kann diese gefördert und entwickelt werden? Wie können die unterschiedlichen Wissensformen aus der Theorie und Praxis erfolgreich miteinander verbunden werden? Wie können die unterschiedlichen Erfahrungen von Praktikerinnern einen Beitrag zur Professionalisierung leisten? Das Modell der Schlüsselsituationen verschreibt sich der Relationierung von Theorie und Praxis und der Relationierung verschiedener Wissensressourcen. Dabei wurden sieben Ressourcen definiert: Erklärungswissen, Interventionswissen, Erfahrungswissen, Orga­ nisations- und Kontextwissen, Fähigkeiten, Voraussetzungen (organisationale, infrastrukturelle, zeitliche, materielle) und Wertewissen (Ethik). Das Ziel besteht darin, eine konkrete Schlüsselsituation aus der Praxis der Sozialen Arbeit auf einer eigens entwickelten Plattform in Communites of Practice zum Diskurs zu bringen (http://www.schluesselsituationen.ch/plattform-­schluesselsituationen). Pro Schlüsselsituation werden in der Community Qualitätsstandards definiert,

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um daraus mögliche Handlungsalternativen zu formulieren. Diese Arbeit der Praxisgemeinschaft garantiert, dass nicht im stillen Kämmerlein über Ethik und Qualität diskutiert wird, sondern im kollegialen Umfeld und im »open space« des Internets. Qualität und so auch der ethische Aspekt von Beratung brauchen einen verbindlichen Rahmen, damit sie zum professionellen Habitus werden.

5  Was macht eigentlich eine gute Beratung aus?

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Norbert Groddeck weist mich persönlich darauf hin, dass sich Beratung und Psycho­therapie in den letzten Jahren durchaus unterschiedlich entwickelt haben und es deshalb nicht sinnvoll sei, die Personzentrierte Beratung in der Seelsorge mit Psychotherapietheorien und medizinisch naturwissenschaftlichen Ansprüchen zu überlagern. Die von Schumacher skizzierte Autonomie­pyramide bringt hier ein Unterscheidungskriterium ins Spiel. Soziale Arbeit bewegt sich in ihrer Klientenorientierung nicht im leeren Raum, sondern im Gefüge der individuellen Umwelt (Schumacher, 2013, S. 217–228). Damit grenzt sich Beratung von Therapie ab. Nach geläufigem Konsens sollen die in der Beratung verwendeten psychotherapeutischen Interventionsmethoden die Fähigkeit zur Selbstexploration und zur Selbststeuerung fördern. In Abgrenzung zur Psychotherapie wird in der Beratung jedoch breiter gearbeitet. Das gesamte soziale Umfeld der Klienten und ihre Unterstützungssysteme sind viel stärker im Blick und werden stärker in den Bearbeitungsprozess miteinbezogen und involviert. Damit ist die Lebensweltorientierung der Sozialen Arbeit angesprochen. Eine effiziente und gute Beratung anerkennt erstens die subjektive Lebenswelt des Individuums und orientiert sich an ihr, wie dies von Thiersch (2014) bereits postuliert wurde. Beratung bezieht unweigerlich die Lebenswelt des Klienten mit ein. Sie nimmt, viel stärker als im therapeutischen Bereich, das soziale Umfeld des Klienten und die dort vorhandenen Unterstützungssysteme mit in den Blick und versucht sie im Bündnis mit dem Klienten in den Beratungs­prozess zu integrieren. Im geschilderten Fall fällt dem Sozialarbeiter durchgängig die Aufgabe zu, die verschiedenen involvierten Stellen und Personen zu vernetzen, zu kommunizieren und die Anliegen der Klientinnen mit allen Involvierten zu koordinieren. Das sind Themen von der Wohnungssuche, Klären von Missverständnissen mit dem Vermieter, Konfliktgespräche mit Arbeitgebern bis hin zur Vertretung von Interessen der Klienten bei kommunalen Behörden und Ämtern. Damit ist der zweite Aspekt einer holistischen Beratungsarbeit angesprochen. Beratung nimmt über das Handlungsfeld der Gemeinwesenarbeit Einfluss auf

Seelsorge und Beratung in Feldern der Sozialen Arbeit

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die Rahmenbedingungen und ergreift, im Idealfall mit den Klienten, Partei für deren Anliegen. Sie stärkt die Subsysteme und dadurch auch die einzelnen Individuen. Mehrmals durfte ich die Erfahrung machen, dass Klientinnen anfangen, sich für ihr Anliegen einzusetzen. Im geschilderten Fall kommt dies beispielsweise in der Vereinsgründung zum Ausdruck. Die Klientin vereinigt mithilfe ihres Beraters Gleichgesinnte in einem eigenen Verein und nimmt damit Einfluss auf das Gemeinwesen. Der dritte Aspekt der hier abschließend zur Sprache gebracht wird, ist das Empowerment, welches als Resultat einer gelingenden Beratung zum Vorschein kommt. Dies war beispielsweise der Fall, als die Klientin unverhofft mit der Geschäftsgründung beginnt. Klienten fangen an, ihr Umfeld selbst zu gestalten und ihre persönlichen Ziele zu verwirklichen. Sie warten nicht darauf, dass jemand sie von offizieller Seite her zum Handeln auffordert, sondern beginnen selbsttätig mit der Veränderung. Ämter sind mit solchen Initiativen seitens der Klientinnen überfordert und müssen sich erst auf den Einzelfall einstellen. Nicht selten werden solche Klientenaktivitäten als Aufmüpfigkeit oder Widerstand verstanden. Zum Schluss bleibt der Wunsch, dass in der professionellen und in der freiwilligen Sozialen Arbeit immer mehr Personen die Personzentrierung zur Entfaltung der individuellen Potenziale für Menschen in besonderen Lebens­ situationen einsetzen. Wie wir gesehen haben, liegt hier ein großes Potenzial zur Humanisierung von Kirche und Gesellschaft.

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  Seelsorge in der Schule

Franziska Oberheide

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»Ihr seid das Salz der Erde; ihr seid das Licht der Welt.« (Mt 5,13a.14a) Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Schule tragen insbesondere durch ihre Haltung dazu bei, dass der Lebensraum Schule sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für Mitarbeitende neben dem Wissenszuwachs auch ein Ort ist, um auf gesellschaftlich-sozialer, persönlicher und spiritueller Ebene zu wachsen und sich zu entwickeln.

1  Schule als Lern- und Lebensraum Aufgrund sich verändernder gesellschaftlicher Voraussetzungen steigt seit einigen Jahren die Forderung nach (offenen, teilgebundenen und gebundenen) Ganztagsschulen. Im Schuljahr 2015/2016 besuchten laut Kultusministerkonferenz knapp 40 % aller Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I in Deutschland eine Ganztagsschule – Tendenz steigend. Außerdem ist seit dem Schuljahr 2013/2014 in Niedersachsen die inklusive Schule verbindlich eingeführt worden. Beide Faktoren haben den Lernort Schule immer mehr auch zu einem Lebensraum werden lassen, an dem Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrkräfte, in heterogenen Gruppen bis zu acht Stunden ihres Tages verbringen. Diese Entwicklung bringt eigene Herausforderungen und Möglichkeiten mit sich. Bundesweit gibt es laut EKD derzeit etwa 1100 Schulen in evangelischer Trägerschaft. Damit kommt die evangelische Kirche einerseits ihrem evangelischen Bildungsauftrag nach – andererseits wird sie damit für die Schülerinnen, Schüler und Mitarbeitenden niederschwellig erlebbar. Auch in staatlichen Schulen werden durch Schulpastorenstellen, aber auch durch die Förderung der Ausbildung von Religionslehrkräften zu Schulseelsorgerinnen deutliche Akzente gesetzt. Damit schafft die EKD ein klares Signal, dass sie sorgend für die Menschen einsteht und über die Religionszugehörigkeit hinaus der Gesellschaft durch das Evangelium Jesu Christi etwas zu sagen hat.

Seelsorge in der Schule

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Sowohl durch die kirchliche Trägerschaft als auch durch die vermehrte Präsenz von Schulseelsorgerinnen nutzt die Kirche ihre Chance, den schulischen Alltag aktiv mitzugestalten und so Kindern und Jugendlichen auch aus kirchenfernen Haushalten die Möglichkeit zu eröffnen, positiv besetzte Kontaktflächen zu Kirche zu bekommen.

2 Definition von Schulseelsorge und ihre Standort­ bestimmung in Bezug auf den Religionsunterricht Schulseelsorge hat sich in den letzten Jahren neben dem Religionsunterricht immer mehr im schulischen Kontext etabliert. »Mit diesem neuen, eigenständigen Handlungsfeld [Schulseelsorge] erhält die Kirche neben dem konfessionellen Religionsunterricht ein zweites Standbein in der Schule.« (Schweiker, 2017, S. 273) In meinen Ausführungen gehe ich von einer Definition von Schulseelsorge aus, wie sie im EKD-Text 123 »Evangelische Schulseelsorge (2015)« entfaltet ist: »Schulseelsorge will Kindern und Jugendlichen [und den Mitarbeitenden der Schule] eine im Evangelium begründete Lebenszuversicht eröffnen« (EKD, 2015, S. 7). Schulseelsorge umfasst hiernach also neben dem seelsorgerlichen Einzel­ gespräch auch eine »religiös-ethische und liturgisch-spirituelle Begleitung« und ist »Teil einer sorgenden Schulgemeinschaft« (EKD, 2015, S. 6). In der Praxis bedeutet das, dass der Begriff Schulseelsorge auch die Bereiche Gottesdienste und Andachten sowie die Beteiligung an der Schulentwicklung – bei Schulen in kirchlicher Trägerschaft bis hin zur Mitarbeit am evangelischen Profil der Schule – einschließt. Dabei ergänzen sich der Religionsunterricht und die Schulseelsorge durch ihre unterschiedliche Zielsetzung: Im Religionsunterricht werden Inhalte des christlichen Glaubens vermittelt und über die intellektuelle Ebene ein Zugang auch zur eigenen Spiritualität eröffnet. Durch seine lebensrelevanten Inhalte bietet der Religionsunterricht niederschwellig Themen, die Anlass zu einem Vieraugengespräch geben können. Die Schulseelsorge schafft darüber hinaus – mit ihren unterschiedlichen Angeboten von persönlichen Gesprächen über Andachten und Gottesdiensten hin zu punktuellen Aktionen und der Förderung von Ritualen – Raum für eigene religiöse Erfahrungen. Sie ist somit Wegbereiter und -begleiter auf dem individuellen Glaubensweg. Schulseelsorge steht vor der Herausforderung einer in kultureller und religiöser Hinsicht pluralen Gesellschaft. Ihre Themen brauchen immer den Bezug zur (säkularen) Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Allerdings ist es die

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Franziska Oberheide

Stärke von Seelsorgern, dass sie aus ihrem eigenen Glauben heraus gerade bei existenziellen Lebensfragen Impulse setzen können. Entscheidend ist hierbei die eigene Haltung, die Orientierung anbieten und auf diese Weise stärken kann (vgl. dazu Behrens, 2015, S. 403 ff.). Besonders in der Trauerbegleitung und bei persönlichen Schicksals­schlägen oder anstehenden und vollzogenen Umbrüchen im Leben ist der PzA das Funda­ ment für gelingende Schulseelsorge, weil er echte Begegnung ermöglicht. Indem die Seelsorgerin Mut zur Echtheit zeigt und gleichzeitig aktiv zuhört, ermöglicht er bzw. sie auch dem Gegenüber, sich auf den Weg zu sich selbst zu begeben und so Selbstaktualisierung geschehen zu lassen (Vogt, 2017, S. 184).

3 Schulseelsorge praktisch – Chancen für die Kooperation mit Kirche

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Schulen mit kirchlicher Trägerschaft, aber auch staatliche Schulen mit einem Angebot der Schulseelsorge, weisen Schnittmengen zwischen kirchlichem und schulischem Angebot auf, die sich aus der oben genannten Definition von Schulseelsorge heraus begründen: 1. Förderung des Schulklimas durch: ȤȤ Seelsorge und Beratung im Vieraugengespräch und in Gruppen ȤȤ Tür- und Angelgespräche ȤȤ Wahlpflichtkurse und AG-Angebote, die zum Teil von kirchlichen Mitarbeitenden geleitet werden ȤȤ Zusammenarbeit mit Kollegenkreis, Schülerinnen und Schülern in Bezug auf spirituelle Angebote ȤȤ Förderung der Mitarbeit Ehrenamtlicher an den Schulen, zum Beispiel bei Durchführung von Ehrenamtsfesten und Einbeziehung der Eltern in den Schulalltag ȤȤ Organisation von Ehemaligenfesten 2. Gestaltung des kirchlichen Lebens: ȤȤ Vorbereitung und Durchführung von Schulgottesdiensten und Andachten ȤȤ Wochenstart bzw. Wochenschlussandachten ȤȤ Aktionen zum Kirchenjahr, wie z. B. den Lebendigen Adventskalender, Fastenaktionen ȤȤ Gestaltung eines Schulgartens ȤȤ Kreativangebote für die Gestaltung eines Andachtsraumes/eines Raumes der Stille. 3. Mitarbeit an der Entwicklung des (evangelischen) Profils der Schule

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So bildet Schulseelsorge »eine Brücke zwischen Kirche und Schule« (EKD, 2015, S. 13) und lässt persönliche, spirituelle Erfahrungen zu einem Teil des Alltags der Kinder und Jugendlichen werden.

4 Schulseelsorge praktisch – Personzentrierte Haltung in der Anwendung Als Schulseelsorgerin an der Ev. IGS Wunstorf ist es meine Aufgabe, »Schule als Lebens-Zeit – und nicht nur als Vorbereitung auf das nachfolgende Leben« (Gutberlet, 2013, S. 21) erlebbar zu machen. Gemeinsam mit dem Team Ganztag (der Ganztagsorganisatorin und den beiden Mitarbeitenden der Schulsozialarbeit) bin ich dafür zuständig, die Zeiten um den Unterricht herum inhaltlich zu gestalten. Wir haben an unserer Schule die BauStille angeschafft, einen eigens für die Schule gebauten Bauwagen, der als mobiler Raum der Stille kreiert wurde. Sie ist mit einem Altar, Teppichen, Kissen und Decken ausgestattet und die Schülerinnen und Schüler können in den Pausen dorthin kommen, eine Kerze anzünden und sich hinsetzen. Rituale und die verlässliche Ansprechbarkeit in der BauStille, aber auch die Präsenz im Unterricht und in den Pausen bieten immer wieder Möglichkeiten, einen Bogen zur Schulseelsorge zu spannen. Der 5. Jahrgang feiert wöchentlich Andachten – und thematisch ermöglichen auch Themen aus dem Unterricht oder dem sozialen Lernen einen persönlichen Zugang, der dann in Andachten, Gottesdiensten oder auch im Vier-Augen-Gespräch aufgefangen werden kann. Gerade der PzA bietet hierbei mit seinen drei Säulen Empathie, Wertschätzung und Authentizität eine stabile Grundlage. Diese Haltung bildet für meine Arbeit als Schulseelsorgerin die wichtigste Komponente (Germing, 2017, S. 194). Verdeutlichen werde ich das an einem Beispiel aus der Arbeit mit dem 5. und 6. Jahrgang. Dort beginne ich jede Religionsstunde mit einem Ritual, das dazu dient, die Empathiefähigkeit der Kinder zu stärken, sie zur Wertschätzung Anderer zu ermutigen und gleichzeitig anzuregen, in sich selbst hineinzufühlen. Gemeinsam sitzen wir dafür in einem Stuhlkreis. In der Mitte liegt eine Decke, auf der ein Kreuz und eine Kerze stehen. Außerdem befinden sich dort zwei Körbe, einer mit Muscheln und einer mit Steinen gefüllt. Zu Beginn beschreiben die Schülerinnen und Schüler den Zusammenhang der einzelnen Gegenstände: Das Kreuz steht dort, weil Jesus am Kreuz gestorben ist und Gott mit ihm in den Tod gegangen ist. Die Kerze muss erst angezündet werden – wie das auch mit der Hoffnung ist. Gegenseitig können wir Hoffnung in uns entfachen. Hoffnung ist empfind-

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lich, sie kann erlöschen und wieder entzündet werden. Die Kerze erinnert an die Osterkerze und somit an die Auferstehung Jesu nach dem Tod. Der Korb mit den Steinen und der Korb mit den Muscheln stehen in der Mitte als Symbole dafür, dass Jede und Jeder von uns verschiedene Gefühle in sich trägt – traurige und auch schöne. Die Steine stehen für Dinge, die uns schwer auf der Seele liegen. Die Muscheln stehen für die Dinge in unserem Leben, für die wir dankbar sind – auf die wir stolz sind – Dinge, die uns froh machen und auf die wir uns freuen. Gott kennt uns Menschen. Er weiß um das Schwere und das Schöne – und er trägt beides mit uns. In Kreuz und Auferstehung ist er uns im Schweren und im Schönen vorausgegangen. Jede und jeder ist nun reihum aufgefordert, einen Stein und eine Muschel zu Kreuz und Kerze zu legen. Wer möchte, darf dazu ein Wort sagen – oder aber den Gegenstand schweigend legen. Das Ritual fördert die drei Grundhaltungen des PZA: Wertschätzung, Authentizität und Empathie: Wertschätzung

Bevor wir mit dem Legen beginnen, stehen wir alle auf und fassen uns an den Händen. Wir spüren: Wir sind eine Gemeinschaft. Die Kinder, die Schulbegleiterinnen und ich. Die Kerze in der Mitte leuchtet – Gott ist bei uns. Ob wir ihn gerade spüren oder nicht. Dann ist jede und jeder nacheinander an der Reihe. Das Ritual dauert in etwa zehn Minuten. Es ist für viele Kinder eine Herausforderung abzuwarten, bis sie selbst an der Reihe sind. Aber auch nach dem eigenen Legen und dem Preisgeben von etwas Persönlichem – beides ist mit Aufregung verbunden – ist es eine Herausforderung, nun zu sehen, wie Andere in die Mitte gehen und ihnen zuzuhören. Auf diese Weise fördert das Ritual die Wertschätzung untereinander. Die Kinder lernen, sich gegenseitig Raum zu geben. Authentizität

In der Auseinandersetzung mit dem, was in ihrem Leben gerade schwer und schön ist, fühlen die Kinder in sich hinein. Gerade dadurch, dass sie frei sind zu reden oder zu schweigen – und auch dadurch, dass manchmal ein Kind nichts legen möchte – ist die Ernsthaftigkeit in diesem Geschehen spürbar. Indem sie erst nachdenken und dann die eigenen Gefühle teilen oder bewusst verschwei-

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gen, üben die Kinder, ehrlich mit sich selbst zu sein. Sie nehmen wahr, dass ihr Leben und ihre Gefühlswelt vielfältig sind, dass sie gleichzeitig sowohl Trauer als auch Glück empfinden können. Sie lernen: Ich bin Teil einer Gemeinschaft – aber ich muss nicht alles teilen, was mich innerlich bewegt. Empathie

Indem jeder und jede Stein und Muschel legt, lernen die Kinder, dass jeder Mensch, ob Kind oder Erwachsener, Dinge hat, um die er oder sie trauert und Dinge, die ihn oder sie dankbar sein lassen. Einmal legte ein Schüler zuerst eine Muschel und sagte »Papa«. Als er den Stein legte, sagte er »Wochenende«. Neben mir saß ein Schüler mit dem Unterstützungsbedarf sozial-emotionale Entwicklung, der aufgrund seiner Einschränkung schon seit der Grundschule eine Schulbegleitung hat. Dieser Schüler flüsterte mir zu: »Philipp hat Stein und Muschel verwechselt, Wochenende ist doch was Schönes.« Er hielt kurz inne, sah mich fragend an und sagte: »Ach – oder wegen seinem Vater vielleicht, weil er da am Wochenende nicht hinkann?« Indem Kinder hören, was andere beschäftigt, lernen sie, sich in die anderen Kinder einzufühlen. Manchmal ergeben sich im Anschluss an die Religionsstunde dann auch Gespräche über persönliche Themen – wie in diesem Beispiel. Manche Kinder hören zum ersten Mal, dass ein anderes Kind auch getrennte Eltern hat, dass es gerne zum Vater geht oder vielleicht lieber bei der Mutter bleiben möchte. Dieses Ritual mit seinen drei Grundpfeilern des PzA bietet insgesamt eine gute Voraussetzung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, dass sie für die entsprechende individuelle Lebenslage Anknüpfungspunkte an die Angebote der Schulseelsorge finden können. Es ermöglicht den Schülerinnen und Schülern, erst einmal auf das aufmerksam zu sein, was sie selbst bewegt. Sie lernen, dass sie einander widerstreitende Gefühle in sich tragen und dass ein Verbalisieren der eigenen Gefühle – laut oder auch nur im Kopf – zur eigenen Klarheit verhilft. Dabei werden sie angeregt, miteinander ins Gespräch zu kommen. Außerdem sinkt die Hürde, bei persönlichen Problemen auf mich als Seelsorgerin zuzukommen. Das gesellschaftliche Feld Schule ist für kirchliche Arbeit an sich und besonders für die Seelsorge eine große Chance, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen und dienend für die Menschen da zu sein. Denn: »In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.« (Gen 12,3b) Und »obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, auf dass ich möglichst viele gewinne.« (1. Kor 9,19)

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  Personzentrierte Seelsorge im Krankenhaus

Dietmar Vogt

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»Der Patient heißt der Erduldende und ich brauche tatsächlich eine Menge Geduld, um diese Untätigkeit zu ertragen, die unbequemen Gipse, die stickige Hitze im Zimmer, die fehlende Privatsphäre. Kurz, ich fühle mich äußerst reduziert. Mir scheint, in den Augen der Welt bestehe ich nur aus einer zu entleerenden Blase und Blähungen, aus Knochenbrüchen und Schläuchen.« (Roger, 2014, S. 20)

Dieser Romanausschnitt nimmt den Patienten nicht nur als Leidenden, sondern als Erduldenden in den Blick und skizziert bruchstückhaft das Besondere der Lebenslage von Patientinnen und Patienten im Krankenhaus. Diese spezifische Perspektive nimmt auch Personzentrierte Seelsorge im Krankenhaus wahr. Der Mensch im Krankenhaus

Die komplexen Aufgaben eines Krankenhauses haben eine auf Wirtschaftlichkeit basierende Organisation geschaffen. Darüber hinaus stellt »das moderne Krankenhaus […] ein naturwissenschaftlich-technisch ausgerichtetes bürokratisch organisiertes, selbstreferentielles System dar« (Klessmann, o. J., S. 13). Dabei ist es ein Kennzeichen von Organisationen und Systemen, dass feste Handlungsabläufe entstehen, die dabei helfen, die Aufgabe der Organisation und des Systems umzusetzen. Für das Krankenhaus bedeutet dies, dass die Patientinnen auf Routineabläufe stoßen, die sich in der Regel diametral von den Abläufen in ihrer gewohnten Umgebung unterscheiden. Es gibt Hierarchien nicht nur innerhalb des in der Verwaltung tätigen Personals, der Ärzteschaft und der Pflegekräfte, sondern auch eine ungewohnte »Asymmetrie in der Arzt-Patienten-Beziehung« (Karle, 2010, S. 541). Die Handlungsmacht der Patienten ist eingeschränkt genauso wie die Privatsphäre, die bis auf Krankenbett und Nachtschrank reduziert sein kann. Zudem ist die zwischenmenschliche Atmosphäre im Krankenhaus aufgrund hoher Arbeitsbelastung sowie auch struktur-, regel- und hierarchiebedingt potenziell eher emotionskalt. Emotionen, die Patientinnen den Mitarbeitenden mitteilen, stehen in der Gefahr, ins

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Leere zu laufen. Bauer (2016, S. 109 ff.) bezeichnet ein Verhalten, das emotional nicht mitschwingt, als sozialen Tod und Marks (2016, S. 70) redet darüber hinaus von Beschämung. »Vor allem, wenn die »Kasernierung« länger dauert, entwickeln Patientinnen und Patienten ein regelrechtes Krankenhaussyndrom. Sie werden humorlos und depressiv, kreisen oft nur noch um ihre Krankheit oder ihr körperliches Befinden und können an nichts anderes mehr denken, von nichts anderem mehr sprechen.« (Karle, 2010, S. 540)

Gleichzeitig sehnen sich Patienten in einem System, das sie als Objekte behandelt und in dem sie zwangsläufig Zeit zum Nachdenken über existenzielle Fragen, Krankheit und Endlichkeit haben, danach, verstanden zu werden. Personzentriert gedacht heißt dies, dass aufgrund der geschilderten Umgebungsbedingungen bei Patientinnen und auch bei allen Mitarbeitenden im System Krankenhaus verstärkt mit zwei Tendenzen zu rechnen ist: Zum einen mit der organismischen Aktualisierungstendenz, die auf das »Erhalten und Entfalten« des Organismus (Lux, 2007, S. 165) abzielt und zum anderen mit der Selbstaktualisierungstendenz. »Sie zielt auf die Erhaltung des Selbst und die Sicherung der positiven Beachtung durch wichtige Bezugspersonen ab« (S. 166). Seelsorge im System Krankenhaus muss solche Aktualisierungs­prozesse kennen, um Menschen, die mit diesem System in Kontakt sind, kompetent zu begleiten. Seelsorgende im System Krankenhaus

Die Seelsorgenden könnten auf das System Krankenhaus so reagieren, dass sie das System ignorieren, weil es den Seelsorgenden vor allem darum gehen könnte, das Zeugnis von Jesus Christus weiterzugeben. Sie könnten zweitens gegen das System Krankenhaus arbeiten und vor allem die Defizite des Systems aufdecken. Die Seelsorgenden könnten drittens in der Institution aufgehen, weil sie sich z. B. mit einem christlich-diakonischen Konzept des Trägers identifizieren, oder sie könnten viertens sich als systemfremd begreifen, aber trotzdem kritisch und konstruktiv im gesamten System mitarbeiten (Klessmann, 2017, S. 212 ff.). Zu diesem Positionierungsdruck tritt ein zeitlicher Druck, denn aufgrund der vom System angestrebten abnehmenden Verweildauer der Patienten lässt sich ein Kontakt, wenn er gewünscht wird, zeitlich nicht längerfristig planen. Vieles muss sofort geschehen.

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Dietmar Vogt

1 Personzentrierte Seelsorge im Krankenhaus als Erfahrungsraum echter Begegnung Patientin:  »Da sind Sie ja endlich! Ich habe mich schon gefragt, wo Sie bleiben!« Seelsorger:  »Sie haben mich erwartet!?« Patientin: »Irgendwie wusste ich, dass Sie kommen. Beim letzten Mal war es auch so. Hier passiert so wenig und meine Kinder kommen auch so selten.« Auszug aus einem Gespräch am Krankenbett.

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Dieses Beispiel zeigt, dass Seelsorgende im Krankenhaus immer auch »ein Stück der Außenwelt, die so weit entfernt erscheint« (Karle, 2010, S. 541), repräsentieren. Diese Repräsentation ist lebensnotwendig, denn ohne »soziale Resonanz« (Bauer, 2016, S. 116) bleibt die Außenwelt stumm und die Einsamkeit der Patientinnen wächst. Sie bleiben auf sich zurückgeworfen, sodass zum Seelsorgeverständnis der Krankenhausseelsorgenden auf jeden Fall auch das oft diskreditierte kurze Gespräch über den Alltag des Lebens gehört. Auch das schafft – wenn es in Personzentrierter Grundhaltung geschieht – eine hilfreiche Beziehung, denn in ihm begegnet ein Mensch einem anderen Menschen als Teil der Außenwelt jenseits der »Eigenlogik der Organisation Krankenhaus« (Karle, 2010, S. 542). Klessmann (2017, S. 214 f.) ergänzt, dass dies auch dem Status der Krankenhausseelsorge entspricht, die als kirchliches Handeln im naturwissenschaftlich-medizinisch denkenden System Krankenhaus gar nicht vorgesehen ist und somit immer von außen kommt. Doch bei einem Gespräch über den Alltag des Lebens muss es nicht bleiben. Rogers stellte die Frage: »Welche Eigenschaften haben […] Beziehungen, die […] Hilfe leisten, also Entfaltung fördern?« (Rogers, 1973/2016, S. 54), woraufhin er die gesprächstherapeutisch wirksame Personzentrierte Haltung darstellt, deren Grundlagen und Wirkungsweise in Kapitel I.1 dieses Buches beschrieben sind und die auch im Krankenhaus in einem Erfahrungsraum von Resonanz echte Begegnung erfahrbar machen, Hilfe leisten und Entfaltung fördern können. So ist personale Begegnung das Proprium auch der Krankenhausseelsorge.

2 Personzentrierte Seelsorge im Krankenhaus als Erfahrungsraum von Resonanz Patient:   »Sie sind ein Seelsorger, der ganz bei mir ist. Das sehe ich daran, dass Sie ganz ruhig hier sitzen, zuhören und mir in die Augen sehen, wenn ich rede!« Aussage während eines Seelsorgegesprächs.

Personzentrierte Seelsorge im Krankenhaus

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Das, was hier an äußerlichen Merkmalen festgemacht wird, können Kennzeichen von dem sein, was Rogers als »unmittelbare Beziehung« (Rogers, 1973/2016, S. 200) beschreibt. In allen Personzentrierten, kurzen und längeren Gesprächseinheiten, die das Krankenhaus vorgibt, kann es dazu kommen. Eine besondere Stärke der Personzentrierten Haltung ist es dabei, dass sie in allen Begegnungen die Perspektive des Individuums aufnimmt, und sie so den Patienten in der Fremde des Krankenhauses das Gefühl des Subjektseins und der Selbstwirksamkeit zurückzugeben sucht. Hartmut Rosa beschreibt eine ähnliche, schwingende – manchmal sogar »vibrierende« (Rosa, 2017, S. 24.261) – Grundhaltung, die er Resonanz nennt. Dabei zeigt er auf, wie Resonanzsphären und Resonanzachsen in einer entfremdeten Welt (S. 316) so genutzt werden können, dass eine gute Weltbeziehung entsteht. Sie ist für ihn ein Zeichen gelingenden Lebens (S. 24) und ein auf Reziprozität beruhender »Beziehungsmodus« (S. 298), der offen bleibt für alle Emotionen, aber nicht im Sinne einer Verdinglichung verfügbar ist. Er ereignet sich eher wie die »unmittelbare Beziehung« bei Rogers (1973/2016, S. 200), bei der die Seelsorgenden im Krankenhaus mithilfe der Personzentrierten Grundhaltung immer wieder nur kommunikative Bedingungen schaffen können, durch die der Prozess des Werdens möglich werden kann und zwar nicht nur in guten Zeiten, sondern auch und gerade im Mitgehen durch die »Nachtseite des Lebens« (Karle, 2010, S. 549), die je nach Person gekennzeichnet sein kann z. B. durch Krankheit, Leiden, Entfremdung, Einsamkeit, Schmerzen, Beschämung, Gedanken an Sünde, Tod und anderes, was Menschen tief bewegt.

3 Personzentrierte Seelsorge im Krankenhaus als Erfahrungsraum von Spiritualität Patientin: »Ja, da sind sie: die Gedanken. Mal sind sie hier und dann wieder da: Warum, warum, warum? Und es gibt keine Antwort.« Aussage einer pflegebedürftigen Patientin, nachdem sie erfahren hat, dass während des Krankenhausaufenthaltes der Ehepartner verstorben ist.

Seelsorge im Krankenhaus ist vor allem Begegnung und gleichzeitig ist sie auch »religiöse Kommunikation«. Karle (2010, S. 547) schreibt in diesem Zusammenhang: »Religion symbolisiert und bearbeitet die Unbestimmbarkeit der Welt«. Sie stellt, indem sie Krech zitiert, fest: »Die Religion stellt mithin die Frage an uns, ›wie wir mit Nichtwissen, mit Unwissenheit, mit Ambivalenzen und mit Uneindeutigkeiten umgehen‹« (Karle, 2010, S. 547; Krech, 2003, S. 64). Dieser

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Hintergrund macht deutlich, dass Seelsorge im Krankenhaus nicht in erster Linie lösungsorientiert sein kann. Sie wird Krankheiten auch keinen religiösen Sinn geben, sondern sie ist und bleibt Begegnung und Beziehung sowie ein Mitgehen mit den Patienten durch traumatisierende Erfahrungen, durch Hadern, Zweifeln und Fragen hindurch. Der vorangestellte Gesprächsausschnitt weist darauf hin. Im gleichen Atemzug sind »religiöse Sprach- und Sinnformen unverzichtbare Ressourcen seelsorgerlicher Kommunikation« (Karle, 2010, S. 552). Sie bieten in ihrer Sprache einen besonderen Kontakt an zu Menschen des Glaubens und zur christlichen Tradition. Über Tausende von Jahren bewährte Deutungsmuster von Lebenserfahrungen stehen hier zur Verfügung und können, wenn sie ins Gespräch passen oder gewünscht werden, für viele Menschen eine Hilfe sein, ihre existenziellen Fragen in einem anderen (göttlichen) Licht zu sehen, was als »persönlichkeitszentrierte Entwicklung« (S. 545) zu verstehen ist. Gerade Seelsorgende im Krankenhaus brauchen aufgrund der im Krankenhaus spürbaren Entfremdung und der virulenten Fülle von existenziellen Fragen eine besondere Sensibilität für die lebensstärkenden, aber nicht zu instrumentalisierenden christlich-jüdischen Glaubensressourcen, die im Rahmen der Verbalisierung von Emotionen und im Rahmen der Personzentrierten Echtheit eingebracht werden können. Dadurch können für die Gesprächspartner in Seelsorgegesprächen Halte- und Orientierungspunkte am Horizont aufleuchten, manchmal sogar transportiert über den »stellvertretende[n] Glaube[n] des Seelsorgers« (Karle, 2010, S. 553). Rituale und Gebete haben hier eine besondere Bedeutung, aber nie als Selbstzweck oder gar bedrängend, sondern immer nur als Teil der stattfindenden Begegnung, die ganz beim anderen ist und darauf achtet, was der Seelsorge suchende Mensch braucht. Vor diesem Hintergrund muss sich das Konzept von Spiritual Care, das in das System Krankenhaus implementiert werden soll, positionieren, denn Spiritual Care verortet sich in einem »holistischen Behandlungskonzept« (Karle, 2010, S. 551). Dieses Konzept steht in Gefahr, auch die zum Menschen gehörende Spiri­ tualität zu instrumentalisieren, um sie wie ein heilbringendes »Medikament« zu nutzen oder sie als eine medizinisch verschriebene spirituelle »Resonanzoase« (Rosa, 2017, S. 372) zu etablieren. Doch das Ansprechen der spirituellen Dimension gehört – wie die Spiritualität selbst – als unverfügbare Möglichkeit in den Kontext der seelsorglichen Begegnung und in den Kontext der Erfahrung. Sie bedarf der Fachleute, die nicht nur selbst spirituelle Erfahrungen gemacht haben, sondern gleichzeitig pastoralpsychologisch ausgebildet sind. Im vorangestellten Gesprächsbeispiel könnte ein Seelsorger das Gefühl, dass die Patientin überall ihre Gedanken spürt und Warumfragen stellt, die nicht beantwortet werden, so aufnehmen, dass der Seelsorgende das Gefühl

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des »Allein-Gelassen-Seins« ausdrückt und tastend die Erfahrung am Horizont anbietet, dass scheinbar niemand – noch nicht einmal Gott – antwortet. Je nach Gesprächsduktus ist dabei auch das Gefühl der Wut und Verzweiflung darüber zu verbalisieren. So könnten, wenn die Patientin das so empfindet, auch Gott und der Glaube zum Thema werden. Wertschätzung, Echtheit, Empathie, Kongruenz und Offenheit sowie die Sprachfähigkeit des Seelsorgenden auch und gerade in Sachen der eigenen Spiritualität sind hier in besonderer Weise gefordert.

4 Personzentrierte Seelsorge als basale Begegnungskultur im Krankenhaus Wie auch immer sich Seelsorgende im System Krankenhaus positionieren, sie werden durch ihre Person verschiedene Seelsorgehaltungen und auch verschiedene Seelsorgerichtungen repräsentieren. Im Angesicht der Situation, in der sich die Patientinnen und Mitarbeitende im System Krankenhaus befinden und im Angesicht der existenziellen Fragen an diesem Ort, bietet die Personzentrierte Seelsorge eine »basale(n) Begegnungskultur«, die die Methoden der Psychotherapie reflektiert, erlernt und sich aneignet (Burbach, 2016, S. 37 f.). Diese Personzentrierte Begegnungskultur bietet im System Krankenhaus genau das, was vielen Menschen hier fehlt: echte Begegnung, die nichts tabuisiert, die Erfahrung von Würde in einem oft beschämenden System, die Möglichkeit zur Selbstaktualisierung, Verstehen und ein Blick auf eigene Ressourcen sowie Resonanz und Spiritualität. Eine solche basale Begegnungskultur setzt in einem umfassenden Sinn (selbst-)aktualisierende, nicht zu instrumentalisierende, potenziell heilbringende bzw. heilende Kräfte frei. Vor diesem Hintergrund ist es auch gesundheitspolitisch unumgänglich, dass sowohl die Lehre als auch die Personzentrierte Haltung viel stärker als bisher Eingang finden in die Ausbildung aller seelsorglichen, pflegerischen und medizinischen Berufe im System Krankenhaus.

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 »Wachet mit mir« – Mitgefühl in solidarischer Gemeinschaft (Seelsorge und Hospiz)

Verena Begemann

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»Der wichtigste Grundstein für unsere Arbeit steckt sicher in jenen schlichten Worten von Jesus im Garten Getsemani, in denen all die Nöte und Bedürfnisse Sterbender zusammengefasst sind: »Wachet mit mir«.« (Mk 14,34; Saunders, 2009, 13) Die Hospizpionierin Dame Cicely Saunders (1918–2005) formuliert 1965 eindrücklich und berührend in ihrem Vortrag »Wachet mit mir«, wie wir Menschen am Lebensende seelsorgerlich begleiten können. Saunders hat durch ihre Persönlichkeit und interdisziplinäre Professionalität als Krankenschwester, Ärztin und Sozialarbeiterin die Hospizbewegung und Palliativversorgung in Europa geprägt wie keine andere. Sie war in der anglikanischen Kirche beheimatet. In ihrer Jugend stand sie Glauben und Religion jedoch eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Biografisch interessant ist, dass sie 1944 Mitglied im »Oxford Socratic Club« wurde, in dem unter Leitung des Schriftstellers C. S. Lewis, Atheisten, Christen und Agnostiker über politische, philosophische und religiöse Fragen des Lebens diskutierten. In einem Urlaub mit christlichen Freundinnen hatte Saunders als Dreißigjährige persönliche Gotteserfahrungen, die sie auch in mystischer Poesie zum Ausdruck brachte. Durch die Begegnungen als Krankenschwester mit schwerstkranken und sterbenden Menschen und durch ihre Tätigkeit als ehrenamtliche Mitarbeiterin im St. Luke’s Hospital spürte sie eine tiefe Berufung für die Hospizarbeit und verstand ihr Leben und Wirken als Nachfolge Christi. Dabei war sie Praktikerin, Forscherin und Visionärin. Sie entwickelte ein umfassendes Schmerzkonzept, förderte die palliative Forschung und verstand das Hospiz als Ort der verantwortungsvollen Gemeinschaft von unterschiedlichen Professionen, Ehrenamtlichen, Sterbenden und Angehörigen (»community of the unlikes«). Zeit ihres Lebens führte sie intensive Gespräche mit befreundeten Theologen und Philosophen über Hoffnung, Leiden und Sinn des Lebens. Dank der hervorragenden Masterarbeit in Pastoral Care und Pastoral Psychology (MAS PCPP) der Schweizer Theologin und Sozialpädagogin Martina Holder-­Franz sind nun auch unbekannte Vorträge, Aufsätze und Aufzeichnungen von Cicely Saunders im deutschsprachigen Raum zugänglich. Für das Seel-

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sorgeverständnis von Saunders sind prägende Einflüsse aus Philosophie und Theologie wichtig wie C.S. Lewis (Dimensionen des Schmerzes), Pierre Teilhard de Chardin (Die Liebe als Urgrund allen Seins spüren und denken), Viktor E. Frankl (Sinnsuche des Menschen und Sinn im Leiden) sowie Henri J. M. Nouwen (In solidarischer Gemeinschaft eigene Verwundungen zulassen). Für Saunders, die transdisziplinär dachte und arbeitete, war es von großer Bedeutung, Glauben und Wissen, Haltung und Handeln für die Gemeinschaft von Sterblichen und Sterbenden fruchtbar zu machen. Wichtig ist, dass Saunders’ spirituelle Haltung von einem starken religiösen Glauben geprägt war. Zugleich nahm sie offen und bewusst wahr, dass viele ihrer Gäste im Hospiz keinen Zugang zur christlichen Spiritualität hatten und ihre Nöte von Sinnlosigkeit, Trauer und Versäumnissen nicht einer religiösen Sprache formulieren konnten. Dennoch betonte sie, dass es wichtig sei, diese Nöte als spirituelle Nöte im Hospizteam wahrzunehmen und anzuerkennen. Seelsorge verstand sie als transdisziplinäre Aufgabe aller Beteiligten der Hospizgemeinschaft und sah zugleich die Notwendigkeit, dass es ausgebildete Seelsorger in St. Christopher’s gab (Holder-Franz, 2012). Mit zentralen Aussagen des Vortrags »Wachet mit mir«, die ich mit Studienergebnissen meiner eigenen Hospizpraxis und -forschung verbinde, will ich versuchen, einen Zugang zur seelsorgerlichen Begleitung in der Hospizarbeit aufzuzeigen und zu veranschaulichen. »Zuallererst verlangt »wachet«, dass all unsere Arbeit in St. Christopher’s aus der Achtung für den einzelnen Patienten und aus dem Wahrnehmen seiner Nöte herauswächst. Zu wachen heißt, ihn wirklich wahrzunehmen, zu merken, welcher Schmerz ihn plagt, welche Symptome es sind, und von dieser Wahrnehmung aus Wege zu finden, um ihm Erleichterung zu schaffen.« (Saunders, 2009, S. 13 f.)

Cicely Saunders hat bereits in den 1960er-Jahren ihr Konzept »total pain« erforscht, umgesetzt und publiziert. Total pain bedeutet Schmerzen in körperlicher, psychischer, sozialer und spiritueller Dimension wahrzunehmen, zu begleiten und kompetent zu behandeln. Die vielen Facetten und Interdependenzen des Schmerzes stellen umfassende Herausforderungen für ein multiprofessionelles Team dar und deswegen sind Fachwissen, Erfahrungen, die Haltung des Einlassens auf die subjektive Wahrnehmung des Betroffenen und Zeit notwendig. Nicht immer sind Schmerzen zu bekämpfen oder zu stillen, aber meistens doch zu lindern. Saunders hat ihre Patientinnen ermutigt, von ihrem Schmerz zu erzählen: »Palliative- und Hospizkultur sind für Saunders eine »listening and learning community«, in der der leidende und sterbende Mensch mit seiner »story« und seinen Bedürfnissen im Zentrum steht.« (Holder-­Franz, 2017, S. 430).

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Achtung und Wahrnehmung für die komplexen Nöte zeigen sich darin, dass Menschen die Lebensgeschichten der Menschen, die sie begleiten, hören wollen und können. Im aktiven Zuhören liegt ein befreiender und heilender Dienst für den Nächsten, der in der Hospizarbeit häufig von ehrenamtlichen Mitarbeitenden geleistet wird. In Deutschland sind ca. 100.000 Menschen bürgerschaftlich engagiert, um Menschen am Lebensende einfühlsam, fürsorglich und quali­ fiziert zu begleiten. Stationäre Hospize und ambulante Hospizvereine verstehen sich auch heute als lernende Gemeinschaft, in der man miteinander aus unterschiedlichen Perspektiven die Bedürfnisse Sterbender und ihrer Angehörigen als »unit of care« wahrnimmt.

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»Noch wichtiger aber ist es zu spüren, wie es einem Todkranken zumute ist, wenn er von seinem Leben und allem Tun Abschied nehmen muss, wenn er fühlt, dass seine Kräfte versagen, dass er geliebte Menschen und seine Aufgaben loslassen muss.« (Saunders, 2009, S. 15)

Es ist die Haltung der Abschiedlichkeit, die Saunders uns Begleiterinnen vor Augen führt. Diese Haltung, die wir auch mitten im Leben durch Abschiedserfahrungen zu lernen haben, kristallisiert sich am Lebensende noch einmal besonders deutlich heraus. Es gilt von allem Abschied zu nehmen, was die Identität des Menschen und seine Sinnorientierung durch schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte (Frankl, 1987) geprägt hat. Die aktive Lebensgestaltung kommt zu ihrem Ende, die Anteilnahme an Schönem und Erhabenem des Weltlichen wird sich nicht wiederholen lassen. Aber im bewussten Abschiednehmen und Wahrnehmen dessen, was war, leuchtet die Einzigartigkeit und Kostbarkeit des Lebens noch einmal neu auf. Es ist sinnvoll und heilsam, wenn Menschen dabei nicht alleine gelassen werden, sondern ein Gegenüber mit Offenheit und ehr­ lichem Interesse präsent ist, damit dieser Lebensrückblick gelingen kann. In der Hospizarbeit verstehen wir Sterben als spezifische und verletzliche Lebensphase. Somit dürfen wir davon ausgehen, dass Sterbeprozesse ihre eigene Lebendigkeit haben und es sinnvoll ist, Abschiednehmen als eine letzte Aufgabe zu verstehen. Es geht bei dieser Aufgabe nicht um Leistung und Erfolg, sondern um die Würde der Unvollkommenheit und Begrenzung. Jedes Abschiednehmen ist individuell und hat ein eigenes Maß. Eine liebevolle Atmosphäre, in der Begleitende sich auf starke Gefühle, Unverarbeitetes, Schönes, Schweres und das pure Menschsein einlassen, ermutigt dazu, das Leben im Rückblick noch einmal wertzuschätzen und zu würdigen. Im Sinne des »total pain« ist die Begleitung in diesem Sinne eine echte Linderung des Schmerzes. In der Studie »Zeugnisse Sterbender« beschreibt die Schweizer Theologin, Musiktherapeutin und Psychoonkologin Monika Renz

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diesen lebendigen Prozess eindrücklich. Sie hat 600 Gespräche und Begegnungen mit Sterbenden ausgewertet und beschreibt folgende Merkmale und Erkenntnisse, die Menschen in der letzten Lebensphase in aller Individualität und Unvollständigkeit durchmachen: Frage nach Einwilligung in die Krankheit, Angst und Todeskämpfe, Durchgang – Übergang – letzte Reifung, Versöhnung und Integration und spirituelle Öffnung (Renz, 2008). Angehörige und Freunde sind im Sterbe­prozess eines nahestehenden Menschen in ihrem Sein gefordert. Sie wissen, dass die gemeinsame Zeit begrenzt ist, und suchen nach Wegen, um Abschied zu gestalten. Sie sind häufig aufgewühlt durch existenzielle Fragen und auf der Suche nach Sinn in den Leiderfahrungen. Häufig treten in der antizipatorischen Trauer Verlustängste auf, die Schmerzen verursachen. Spiegelbildlich machen Ange­hörige oft ähnliche Krisenzeiten wie Sterbende selbst durch. Zum Hintergrund dieser Prozesse, die bei aller Individualität auch gemeinsame Merkmale haben, verweise ich, stellvertretend für viele Modelle, auf die Auf­gaben der Trauerbegleitung, wie sie von der Theologin Kerstin Lammer skizziert werden: T-R-A-U-E-R steht für: Tod begreifen helfen, Reaktionen Raum geben, Anerkennung des Verlusts äußern, Ueber­gänge unterstützen und Erinnern und Erzählen anregen, Ressourcen und Risiken einschätzen (Lammer, 2010). »Wir haben zu lernen, wie wir mit unseren Patienten mitfühlend sein können, ohne uns wie sie zu fühlen. Denn nur so können wir ihnen jene Aufmerksamkeit und Unterstützung geben, die sie brauchen, um ihren eigenen Weg durch das Leiden hindurch zu finden.« (Saunders, 2009, S. 15)

In Niedersachsen haben wir ehrenamtliche Hospizmitarbeitende in zwei Befragungen (quantitativ und qualitativ) nach Inhalten der Vorbereitungskurse und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Sterbebegleitungen befragt. Die Abschlussfrage der quantitativen Erhebung im Rahmen der Studie »Nachhaltige Qualifizierung des Ehrenamtes in der ambulanten Hospizarbeit und Palliativ­ versorgung in Niedersachsen« (Begemann u. Seidel, 2015) lautete: »Welches sind nach Ihrer Einschätzung die drei wichtigsten Lebenshaltungen für die Tätigkeit als ehrenamtliche/r Hospizmitarbeiterin?« Eine überragende Mehrheit der Befragten nannte Empathie an erster Stelle (N = 433), gefolgt von aktivem Zuhören (N = 189) und Nächsten- bzw. Menschenliebe (N = 141). Diese drei Haltungen spiegeln ein Menschenbild der Ehrenamtlichen wider. Ehren­amtliche begegnen Sterbenden in liebevoller und einfühlsamer Zuwendung und vermitteln damit, dass Menschen am Lebensende Teil der mitmenschlichen Gemeinschaft sind. Die Studie ergänzt Saunders Seelsorgeverständnis durch folgende Selbst­einschätzungen von Ehrenamtlichen:

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» Ich bin bereit, mich auf starke Gefühle der Sterbenden und Angehörigen einzulassen.« (89 %) »Ich bin in der Lage, mich in Sterbende und Angehörige einzufühlen.« (85 %) »Ich bin in der Lage, Sterbenden und Angehörigen aktiv zuzuhören.« (93 %) »Ich habe einschneidende Ereignisse meines Lebens reflektiert.« (84 %) »Ich bin in der Lage, auch mit mir selbst achtsam umzugehen.« (75 %) Mit den Worten einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin aus meiner Studie »HospizLehr- und Lernort des Lebens« (Begemann, 2006) möchte ich den Anspruch von Saunders noch einmal qualitativ konkretisieren. Die Mitarbeiterin schildert eindrücklich ihr Verständnis von Mitgefühl in einer Begleitung, in der sie schweres und schmerzhaftes Sterben miterlebt hat:

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»In dem, was ich wahrnehme, spüre ich auch ihr Leiden, ja. Und auch das füllt sich in mir ihr Leiden, es ist aber nicht mein Leiden, es ist teilnehmen, Teilnahme und so ist es auch unvorstellbar für mich, was sie durchmacht, was sie durchlebt, das können wir, nein, nicht nachvollziehen und das habe ich ihr auch gesagt. Ich kann nur bei dir sein. Wenn du möchtest, können wir reden.« (Begemann, 2006, S. 113)

Die Spannung, in der die Mitarbeiterin in dieser Begleitung steht, ist hörbar. Einerseits ist es ein unbeschreibliches Leid, das die sterbende Person erleben muss. Andererseits zeigt die Mitarbeiterin, dass sie dieses spürbar wahrnehmen, aber nicht in letzter Konsequenz nachempfinden kann und darf. Es ist eine Gratwanderung, einerseits Leiden in sich aufzunehmen und diesem Raum im eigenen Leben zu geben und zugleich zu wissen und zu spüren, dass es nicht das eigene Leiden ist. Sie weiß einerseits, wie hilfreich es ist, im Leiden nicht allein gelassen zu sein und sich mitteilen zu können. Andererseits erlebt sie hautnah die Grenze ihres Einfühlungsvermögens. Leiden wahrnehmen und sich vom Schmerz des anderen berühren zu lassen, führt sie zum Mitleiden, das trotz aller Sensibilität ein anderes Leiden ist und niemals im Leiden der Betroffenen aufgehen kann und darf (dazu Burbach, I.1 S. 33 ff. Empathie-als ob). »Wachet mit mir meint auch, aushalten zu können, was wir nicht verstehen. Es bedeutet nicht: »Versteht doch endlich«, und noch weniger bedeutet es »Erkläre!« oder »Nimm es weg!« […] immer wird es Situationen geben, in denen wir innehalten und realisieren müssen, dass wir wirklich hilflos sind. Es wäre schlimm, wenn wir das vergessen würden. Es wäre falsch, dies zu negieren und uns der Illusion hinzugeben, wir seien in allen Situationen erfolgreich. Gerade wenn wir erfahren, dass wir absolut nichts mehr tun können, müssen wir bereit sein dazubleiben.« (Saunders, 2009, S. 17 f.)

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Wenn wir andere Menschen bis an ihre Lebensgrenze begleiten, machen wir nicht selten dabei auch selbst Grenzerfahrungen. Wir spüren eigene Hilflosigkeit und kommen in Erklärungsnöte. Wir haben keine Lehre und keine Lösungen, aber wir können unser Dasein und unsere Nähe anbieten, um somit Menschen das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Solidarität anzubieten. Am Ende des Lebens geht es häufig darum, die eigene Sprachlosigkeit auszuhalten, nicht viele Worte zu machen, sondern eher ein Ethos des mitfühlenden Schweigens anzubieten. Ein Mensch, der gelernt hat zu schweigen, wenn Worte nicht mehr reichen, dem kann man sich vielleicht auch mit der eigenen Lebensgeschichte, eigenen Verletzungen und Verwundungen anvertrauen. Es ist doch das Lebensende, das uns die eigene Bedürftigkeit, Zerbrechlichkeit und Schwachheit unmissverständlich aufzeigt. In unserer Zeit sind wir so sehr von Erfolg, Leistung und Machbarkeit geprägt und tief durchdrungen, dass diese Seite unseres Menschseins oft verschüttet ist. Immer häufiger habe ich den Eindruck, dass wir als Sterbliche die Sterbenden brauchen, um einen klareren Blick auf das Leben zu bekommen. Es ist auch nicht unprofessionell, eigene Tränen, Angst und Hilflosigkeit zu zeigen und zuzugeben. Immer wieder ist von Sterbenden und Angehörigen in der Hospizarbeit wahrzunehmen, welcher Trost für sie darin liegt, wenn sie spüren, dass Professionelle sich von ihrem Schmerz berühren und bewegen lassen. Vielleicht ist gerade diese mitmenschliche Beziehungsqualität notwendig, in der Menschen in solidarischer Gemeinschaft ihre eigene Verletzbarkeit und Verwundbarkeit wahrnehmen und darin eine Wahrheit erkennen und akzeptieren. Erfahrene haupt- und ehrenamtliche Sterbebegleiterinnen, die im Rahmen unserer niedersächsischen Studie an einem Fachtag teilnahmen, plädierten dafür, dass man weniger vom »Aushalten«, sondern vielmehr von einem »aktiven Dasein im Nichtstun« sprechen sollte. Wichtig war diesen Begleiterinnen auch, sich ehrlich einzugestehen: »Das halte ich nicht mehr aus!« Als Beispiele dafür werden starke Aggressivität oder Freundschaftsangebote genannt. Hier hilft es, ein gewisses Maß an Durchlässigkeit zu entwickeln. Zum Aushalten gehört eine notwendige Balance zwischen Nähe und Distanz. Diese ist schwierig zu erlangen und sollte in Vorbereitungskursen und Supervision geübt werden. Es gilt ein duales Gewahrsein zu entwickeln, mit dem sich Ehrenamtliche selbst genauso wahrnehmen lernen wie den Sterbenden (Begemann u. Seidel, 2015, S. 143 ff.). »Wachet mit mir erinnert uns auch daran, dass wir die tiefe Bedeutung dieser Worte nicht verstanden haben, wenn wir nicht die Präsenz von Christus in jeder Patientin und in jedem Patienten wahrgenommen haben und ebenso in jenen, die wachen. Vergessen wir nicht, dass Christus mit allen Leidenden eins ist, und dies gilt für

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alle Zeiten, ob sie es erkennen oder nicht. Und wenn wir mit ihnen wachsen, dann wissen wir auch, dass er da ist, dass er jetzt für immer da sein wird und dass seine Gegenwart erlösend ist.« (Saunders, 2009, S. 19)

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Christus ist am Ende des Lebens, mitten im Geschehen, als Leidender und Erlöser präsent. In dieser Zuversicht lebt Saunders und ermutigt ihre Hospizgemeinschaft in dieser Haltung zu begleiten und zu wachen. Dabei ist es nicht wichtig, ob der leidende Mensch einen persönlichen Zugang zu Christus hat oder nicht. Ganz nach jüdischem Verständnis ist es dem Menschen nicht möglich, aus seiner Geschöpflichkeit herauszutreten. Er ist gebunden an Gott, dessen Gegenüber er ist und nach dessen Ebenbild er geschaffen ist. Von dort erhält sein Leben Würde, Sinn und Ziel. Die gegenwärtige Ich-Du-Beziehung, wie sie uns durch die Dialogphilosophie Bubers vertraut ist, ist ein Ort der Gottes­begegnung: »Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm. Durch jedes geeinzelte Du spricht das Grundwort das Ewige an.« (Buber, 1923/2006a, S. 76) Saunders erinnert uns daran, dass Begegnungen in der Sterbebegleitung immer auch Zeiten und Räume der Gottesbegegnungen sind. Es liegt darin die tiefe Zuversicht, dass Menschen an der Lebensgrenze nicht alleine sind. Das ist nicht immer spürbar oder wahrnehmbar, aber es ist zu glauben, dass der letzte Sinn im Leiden, wenn auch verborgen, nicht verloren geht. Gott begegnet dem Menschen im Aufeinander Hören, im Miteinander Sprechen und Schweigen, im Mitgefühl für den anderen, in der gegenseitigen Wahrnehmung. Jede gegenwärtige Ich-Du­Beziehung verkörpert diese Vollkommenheit in der Menschengemeinschaft, so, wie sie von Gott gedacht ist. »Die wichtigste Grundlage für St. Christopher’s ist die Hoffnung. Die Hoffnung nämlich, während unseres »Wachens« immer besser zu lernen, wie wir unsere Patientinnen und Patienten von ihren Schmerzen und Nöten befreien können, und auch, wie wir schweigen, wie wir zuhören und einfach da sein können. Wenn wir das lernen, werden wir auch merken, dass die wirkliche Arbeit nicht durch uns allein geleistet wird.« (Saunders, 2009, S. 22)

Cicely Saunders starb mit 87 Jahren in ihrem eigenen Hospiz St. Christopher’s in London. Sie nahm dort in den letzten Wochen täglich ein Glas Whiskey mit Eis zu sich. In diesem Jahr dürfen wir ihren hundertsten Geburtstag feiern und uns verneigen vor einer großen Seelsorgerin, von der wir zu lernen haben.

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  S  eelsorge in der Psychiatrie – eine Begegnung auf Augenhöhe

Ilka Greunig

Frau H.:  »Wir reden wenig über Gott, aber er ist immer dabei.« (Holtz, 2017, S. 4)

Seelsorge in der Psychiatrie ist im Wesentlichen ein Beziehungsgeschehen. Patientin und Seelsorger begegnen sich auf Augenhöhe. Das erlebte Vertrauen und die positive Annahme wirken sich auf die Beziehung der Patientin zu sich selbst und zu Gott aus. Dieser Beitrag bezieht sich auf Erfahrungen als Klinikseelsorgerin in einer großen psychiatrischen Einrichtung, die sowohl Klinik- als auch Heimbereiche umfasst. Seelsorge ist dort ein Angebot für Patienten, Angehörige und Mitarbeitende. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Begegnung mit den Patienten.

1  Psychisch erkrankt sind nicht nur die anderen Nach Muskel-Skelett-Erkrankungen sind in Deutschland psychische Erkrankungen gemessen an der Zahl der Arbeits-Unfähigkeits-Tage die häufigste und kostenintensivste Erkrankung von Beschäftigten im Alter zwischen 15 und 65 Jahren (Storm, 2017, S. 19). »33,3 Prozent der Bevölkerung weisen aufs Jahr gerechnet eine oder mehrere klinisch bedeutsame psychische Störungen auf.« (Jachertz, 2013, S. 1) Menschen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden, begegnen dementsprechend nicht nur in der Psychiatrie. Wie Menschen mit jeder anderen Krankheit gehören sie in all unseren sozialen Bezügen dazu, sei es beruflich, im Familien- und Freundeskreis oder in der Kirchengemeinde. Jeder Mensch kennt psychische Verstimmungen und seelische Nöte. Die meisten Menschen erleben im Laufe ihres Lebens auch bei sich selbst Symptome psychischer Erkrankungen. Um der eigenen Kongruenz willen ist es wichtig, sich das als Seelsorgerin bewusst zu machen. Je besser ich als Seelsorger auch diese Anteile in mir wahrnehme, desto angstfreier und offener kann ich Menschen, die psychisch erkrankt sind, begegnen.

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Ilka Greunig

2 Aufgabe und Ort der Seelsorge in einem Fachkrankenhaus für die Psyche

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Neben der Behandlung mit Medikamenten wird in der Psychiatrie eine Vielzahl von Therapiemöglichkeiten angeboten. Dazu gehören Ergotherapie, Sport­ therapie, Skilltraining, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen sowie Gruppenund Einzelgespräche mit Ärztinnen und Psychologen. Es geht darum, sich selbst besser zu verstehen, persönliche Ressourcen zu aktivieren und Verhaltens­muster zu verändern. Wo hat an einem Ort, an dem es um die Psyche der Menschen geht, die Seelsorge ihren Platz? Seelsorge bietet den Raum, Erkenntnisse, die die Patientinnen in den Therapien gewonnen haben, weiterzudenken. Oft ist auch der Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus selbst Gegenstand des Gesprächs. Dazu kommen die persönlichen Bezüge, in denen die Patienten leben, und in denen ihre Krankheit immer auch eine Rolle spielt. Darüber hinaus bietet das Seelsorgegespräch die Möglichkeit, sich in einem größeren Sinnzusammenhang zu verorten. Seelsorgende sind Fachleute für Spiritualität. Die Frage nach Gott wird nirgendwo so laut und deutlich gestellt wie in der Psychiatrie. Für die einen ist ihr Glaube ein treuer Begleiter auch in höchster Not. Dann tut es gut, sich seiner im seelsorglichen Gespräch zu vergewissern. Andere erleben genau das Gegenteil. In einer Zeit, in der man sich seiner selbst nicht mehr sicher ist und Beziehungen infrage stellt, trägt auch der bisherige Glaube oft nicht mehr. Manchmal ist der Kontakt zu Gott gänzlich abgebrochen. Manchmal ist aus einem Gott, der mich mit seiner Liebe begleitet, ein Gott geworden, der mich mit Krankheit straft. In der Seelsorge geht es darum, Wut auf und Enttäuschung über Gott gemeinsam auszuhalten. Behutsam kann gemeinsam nach einem neuen Kontakt zu Gott gesucht werden. Die Bitte um ein Seelsorgegespräch ist oft schon der erste Schritt in diese Richtung. Die Vorstellung, dass Krankheit eine Strafe Gottes ist, beinhaltet mehrere seelsorgerelevante Themen. Zum einen: Um welche Schuld geht es, die bestraft werden soll? Wie kann ein Mensch mit seiner Schuld umgehen und leben? Oder geht es gar nicht um Schuld, sondern um Schuldgefühle? Zum anderen: Braucht es einen Tun-Ergehens-Zusammenhang, um die Krankheit zu erklären? Welche anderen Möglichkeiten gibt es, die Krankheit in den eigenen Lebenszusammenhängen zu verorten? Zum Dritten: Woher kommt das Bild eines strafenden Gottes? Welche Rolle könnte Gott stattdessen in dieser Lebenssituation spielen? Schließlich gehören die Begleitung von Trauernden und die Auseinandersetzung mit dem Tod zu den Kernkompetenzen der Seelsorge, die in der Psychiatrie

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eine wichtige Rolle spielen. Abschied, Tod und Trauer gehören zum Leben dazu. Trauer ist keine Krankheit. Insofern ist sie auch nicht medizinisch behandlungsbedürftig. Dennoch braucht sie eine verständnisvolle und ausdauernde Begleitung. Auch Rituale können an dieser Stelle sinnvoll sein. In keinem anderen Bereich ist die Akzeptanz der Seelsorge in der psychiatrischen Klinik so hoch wie im Umgang mit Tod und Trauer.

3 Seelsorgliche Begegnungen Seelsorge braucht keine Krankheit Herr G.:  »Ich finde es komisch in einem Fachkrankenhaus für die Seele zu sein. Ich weiß, dass ich eine psychische Krankheit habe, aber mit meiner Seele ist eigentlich alles in Ordnung!«

In der Seelsorge begegnen wir nicht einer Krankheit, sondern einem einmaligen Menschen. Dieser Mensch trägt Gefühle und Erfahrungen in sich wie kein anderer Mensch. Herr G. erlebt seine Seele in Verbindung zu Gott als intakt, auch wenn er weiß, dass er psychisch krank ist. Krankheitsdiagnosen dienen einer groben Einordnung zwecks medizinischer Behandlung. Manches, was Patientinnen erleben und schildern, lässt sich besser auf dem Hintergrund ihres Krankheitsbildes verstehen. Keine Diagnose kann jedoch unbedingte seelsorgliche Empathie ersetzen. Empathie bedeutet »die private Wahrnehmungswelt des anderen zu betreten und darin […] heimisch zu werden, […] in jedem Augenblick ein Gespür zu haben für die sich ändernden gefühlten Bedeutungen in dieser Person, […] Bedeutungen zu erahnen, derer sie sich selber kaum gewahr wird […].« (Rogers, zit. nach Keil u. Stumm, 2014a, S. 38)

Es geht in der Seelsorge also nicht um die Therapie von Krankheitssymptomen, sondern um eine ganzheitliche Begegnung mit dem Ziel eines besseren Selbst-Verstehens. Beziehung und Vertrauen Frau H.:  »Ich hatte sofort Vertrauen. Das war der springende Punkt. Denn mit dem Vertrauen ist das so eine Sache bei mir […].« (Holtz, 2017, S. 3)

Seelsorge ist ein Beziehungsangebot, in dem der Seelsorger immer wieder den aktiven und verlässlichen Part übernimmt.

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»Die Therapeutin wartet ganz bewusst, bis der Klient von sich aus den Weg zu ihr gefunden hat, […]. Die Seelsorgerin wird dagegen vielfach selbst initiativ, […] sie muss das Vertrauen zum Gesprächspartner erst gewinnen.« (Lemke, 1995, S. 24)

Die Sehnsucht nach Beziehung ist bei vielen Menschen mit einer psychischen Erkrankung groß. Gleichzeitig ist es für sie aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen und ihres Krankheitsbildes oft schwer, Vertrauen zu fassen, Beziehungen anzunehmen und zu leben. Umso wichtiger ist es in der Seelsorge größtmögliche Zuverlässigkeit zu erleben, die auch durch längere Krisenzeiten trägt. Frau H.:  »Die Gespräche mit der Pastorin sind für mich Überlebenstraining. Dass jemand, dem ich vertraue, auch tatsächlich kommt.« (Holtz, 2017, S. 3)

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Es gibt Zeiten, da ist die Zuverlässigkeit und Kontinuität der seelsorglichen Besuche wichtiger als die Inhalte der Gespräche an sich. Das Entscheidende ist dann die Erfahrung, nicht allein gelassen zu werden, egal wie schwierig die persönliche Situation gerade ist. Die seelsorgliche Beziehung kann dabei beispielhaft für die Gottesbeziehung sein. Auch er verlässt den Menschen nicht, egal in welcher Situation dieser sich gerade befindet. Die Begegnung zwischen Patienten und Seelsorgerin findet auf Augenhöhe statt. Damit sich der Patient im seelsorglichen Gespräch öffnen kann, ist es wichtig, dass die Seelsorgerin ihm ein kongruentes Gegenüber ist. Dazu gehört eine »respektvolle Haltung und eine gewisse Angstfreiheit« (Knienieder, 2014, S. 142). Die Seelsorgerin sollte »weder einer Selbsttäuschung unterliegen noch dem Klienten (Patienten) gegenüber sich mit bewusster Absicht verstellen und ihm gleichsam etwas vormachen« (Stumm u. Keil, 2014b, S. 22). Nicht nur was und wie die Seelsorgerin etwas sagt, sondern auch ihre Körperhaltung und ihr Gesichtsausdruck drücken aus, wie frei, offen und selbstverständlich sie dem Patienten begegnet. Für manche Patienten ist es besonders schwierig, die Mimik und Haltung ihres Gegenübers richtig zu interpretieren. Darum sollte sich die Seelsorgerin klar und eindeutig verhalten in dem, was sie sagt und körperlich ausdrückt (Knienieder, 2014, S. 147). Die Unterschiedlichkeit der Erfahrungswelten und die Echtheit der Gefühle Frau E.:  »Ich höre Stimmen. Hören Sie die auch?« Seelsorgerin:  »Nein, ich höre keine Stimmen. Was sagen denn die Stimmen zu ihnen?« Frau E.:  »Sie sagen ganz gemeine Sachen zu mir. Hören Sie wirklich nichts?«

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Seelsorgerin:  »Nein, ich höre die Stimmen nicht. Aber ich spüre, wie bedrohlich diese Stimmen für sie sind!« Frau E.:  »Ja, die Stimmen sind laut und gemein. Ich habe Angst.«

Manchmal unterscheidet sich die Wahrnehmung der Wirklichkeit der Patientin stark von der Erfahrungswelt der Seelsorgerin. Im besonderen Maß trifft dies auf Patientinnen mit Wahnvorstellungen und verwirrte Patienten zu. Sich als Seelsorgerin auf die Erfahrungswelt der Patientin einzulassen, bedeutet nicht, diese Erfahrungswelt zu übernehmen, für wahr zu halten oder zu verstärken. Spätestens wenn die Patientin in einer Phase ist, in der sie keine Stimmen mehr hört, wird sie sich sonst von der Seelsorgerin belogen und nicht ernst genommen fühlen. Die Gefühle der Patientin sind jedoch immer echt. Sie bieten einen ganz unmittelbaren Zugang zu ihrer Wahrnehmungswelt. Über den Weg der Emotionen ist die Erlebenswelt der Patientin grundsätzlich verstehbar und einfühlbar (Knienieder, 2014, S. 146). Entscheidend sind in diesem Fall also die Angst und die Bedrohung, die die Patientin erlebt, nicht die Frage, ob die Stimmen, die sie hört, wirklich existieren. In einer seelsorglichen Beziehung, die durch Wertschätzung und Respekt geprägt ist, kann es weiterführend sein, die Unterschiede in der Wahrnehmung von Patientin und Seelsorgerin zu benennen. Dies sollte jedoch in einer empathischen Grundhaltung geschehen und ohne zu bewerten. Der Patientin hilft es, ihre eigene Wahrnehmung besser verstehen und einordnen zu können. Im Idealfall bietet das empathische Verstehen für die Patientin die Gelegenheit, sich im Kontakt mit der Seelsorgerin ihrer selbst immer sicherer zu werden (Knienieder, 2014, S. 145). Grenzen schützen Frau H.:  »Wenn wir darüber sprechen, tut mir alles weh. Es geht mir nicht gut.«

Manche Patientinnen sagen sehr deutlich, wenn sie über bestimmte Dinge nicht oder nicht weiterreden möchten. Andere tun dies versteckter. Sie beginnen ein neues Thema, schweigen oder rücken innerlich und äußerlich ab. Für den Seelsorger gilt es grundsätzlich, die Grenze, die die Patientin für sich setzt, zu akzeptieren. Die Patientin kennt sich selbst am besten. Sie weiß und spürt, wenn etwas ihr nicht guttut. Und in diesem Gespür für sich selbst sollte sie in der Seelsorge befördert und nicht behindert werden. Viele Patientinnen haben in ihrer Biografie Grenzverletzungen erlebt, die sich in der Seelsorge nicht wiederholen dürfen. Die Patientin bestimmt das Tempo des Gesprächs. Vielleicht

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ist ein bestimmtes Thema nur heute nicht dran. Beim nächsten Treffen sind Vertrauen und Mut vielleicht schon wieder ein Stück gewachsen. Die Patientin fühlt sich stark genug, um Themen anzusprechen und auszuhalten. Als Seelsorgerin ist es aber auch wichtig, selbst Grenzen zu setzen. Diese Grenzen betreffen die Häufigkeit und die Dauer des Seelsorgegespräches. Eine Stunde sollte ein Gespräch nicht überschreiten. Möglicherweise ist aber die Grenze der Konzentration und Aufnahmefähigkeit der Gesprächspartner schon viel früher erreicht. Wichtig für die Seelsorgerin ist es auch, eigene Grenzen bezüglich der Gesprächsinhalte wahrzunehmen. Über welche Themen fällt es als Seelsorgerin schwer zu sprechen? Woran könnte das liegen? Zudem gilt es immer wieder auszuloten, welche körperliche Nähe die Seelsorgerin zulassen möchte. Je klarer die Seelsorgerin ihre Grenzen spürt und kommunizieren kann, desto sicherer fühlt sich der Patient. Er wird zudem ermutigt eigene Grenzen wahrzunehmen und deren Einhaltung einzufordern.

III 4  Alles erhoffen und nichts erwarten Psychische Erkrankungen dauern oft sehr lange, unter Umständen sogar das ganze Leben einer Patientin. Der Heilungsprozess braucht viel Zeit und ist durch Rückschläge geprägt. Das ist anstrengend und frustrierend für die Patientin, aber auch für die Menschen, die sie begleiten. Auf der einen Seite ist die Voraussetzung für jedes Seelsorgegespräch das Axiom, dass jeder Mensch, und sei er noch so krank, die Fähigkeit in sich trägt, unter günstigen Bedingungen in einer vertrauensvollen Beziehung innerlich zu wachsen und sich positiv zu verändern. Insofern tut ein Seelsorger gut daran, immer alles für die Patientin zu erhoffen. Auf der anderen Seite verläuft der Heilungsprozess oft nicht linear. Rückschritte und Sackgassen gehören dazu. Manche Patienten sind in ihren Wachstumsmöglichkeiten so eingeschränkt, dass »bereits ein Erhalten des Status quo als ein Erfolg zu werten ist« (Stumm u. Keil, 2014a, S. 5). Zu hohe Erwartungen tun dann weder dem Patienten noch dem Seelsorger gut. Entscheidend ist, was sich in der aktuellen Begegnung zwischen Seelsorger und Patient ereignet. Erlebt der Patient in ihr Wertschätzung, echtes Interesse und ein authentisches Gegenüber, wird das Gespräch ein wichtiges positives Beziehungserlebnis für ihn sein und bleiben, unabhängig vom weiteren Krankheitsverlauf. Aus solch einer Begegnung kann Vertrauen wachsen in sich selbst, in andere Menschen und letztlich auch in Gott. Denn wer in einem Seelsorgegespräch bedingungslose Annahme erlebt, hat etwas Wichtiges über Gott erfahren.

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  Notfallseelsorge – für Menschen in Not da sein

Karsten Willemer

Seelsorge an Menschen in Not gehört seit jeher zu den grundlegenden Aufgaben pastoralen Handelns. Zugleich ist die Notfallseelsorge ein Arbeitsfeld, das unter besonderen Bedingungen stattfindet. Das öffentliche Bild der Notfallseelsorge ist von Großschadenslagen geprägt. Der Alltag sieht jedoch anders aus, denn ca. »90 % aller Einsätze finden im häuslichen Bereich statt« (Kremer, 2016, S. 198). In der Regel geht es um Beistand für Menschen, die plötzlich und unerwartet einen Angehörigen verloren haben und durch dieses Ereignis aus dem inneren Gleichgewicht gebracht wurden. Ziel ist es, den Betroffenen zu helfen, sich zu stabilisieren, zu orientieren und die eigenen Ressourcen zu aktivieren. »Die Arbeit der Notfallseelsorge geschieht im Wesentlichen durch Beziehung und Kommunikation, seelsorgerliches Gespräch und Präsenz des Seelsorgers, der Seelsorgerin vor Ort.« Dieser Satz aus den »Kasseler Thesen« von 1997 (zit. nach Müller-Lange, 2013, S. 23) beschreibt die Aufgabe der Notfallseelsorge: Es kommt darauf an, präsent zu sein und den Betroffenen ein verlässliches Beziehungs­angebot auf Zeit zu machen. Notwendig dafür ist nicht in erster Linie ein Werkzeugkasten an Spezialwissen und -methoden, sondern eine seelsorgliche Grundhaltung, die geprägt ist von Echtheit, Empathie und Akzeptanz. Im Folgenden gibt ein Fallbeispiel Einblick in die Arbeit der Notfallseelsorge. Anschließend wird das Besondere einer Notfallseelsorgesituation beschrieben. Die Bedeutung der Grundhaltungen Echtheit, Empathie und Akzeptanz wird benannt und auf hilfreiche Interventionen hingewiesen.

1  Sie lassen mich nicht alleine! Ein Beispiel aus der Praxis In der Notfallseelsorge gilt: Jeder Einsatz ist anders. Das folgende Beispiel bildet nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit ab. Es gehört in den Bereich der innerhäuslichen Einsätze, die etwa 90 % der Einsatzhäufigkeit ausmachen.

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Karsten Willemer

»Aber Sie lassen mich nicht alleine!«, sagte die Witwe, der wir gerade die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht hatten. Dabei hielt sie meine Hand ganz fest. Auf diese Weise hat sie selbst ihre Themen benannt: »Ich fürchte mich vor dem Alleinsein.« Und: »Wie kann ich ohne meinen Mann zurechtkommen?« Beide Themen prägten den Fortgang des Einsatzes, der am frühen Mittag begonnen hatte. Die Polizei hatte telefonisch um Begleitung bei der Überbringung einer Todesnachricht gebeten. Ich hatte zugesagt, obwohl ich am Nachmittag den Seniorenkreis leiten musste. Ich hoffte darauf, zeitlich genug Spielraum zu haben. Nachdem ich auf der Polizeiwache alle nötigen Informationen erhalten hatte, fuhr ich mit zwei Polizisten zum Haus der Angehörigen. Dort öffnete niemand die Tür, sodass wir nach erfolglosem Warten zunächst wieder abrücken mussten. Am späten Nachmittag – ich war inzwischen beim Seniorenkreis gewesen – versuchten wir es erneut. Diesmal öffnete sich die Tür. Die Ehefrau des Verstor­benen, die ihren Mann bereits vermisst hatte, reagierte sofort auf die Uniformen der Beamten und begann schreiend durch die Wohnung zu laufen. Es gelang uns, sie zu beruhigen. Als wir uns setzten, nahm sie meine Hand und sagte: »Aber Sie lassen mich nicht alleine!« Meine Gegenwart war für sie ein wichtiger Halt in ihrer Not. So blieb ich noch bei der Frau, nachdem die Polizisten die Wohnung bereits verlassen hatten. Die Situation ähnelte nun einem klassischen Seelsorge-Setting: Da-Sein, Zuhören, der Trauer und anderen augenblicklichen Gefühlen Raum geben – das waren in dem Moment meine Aufgaben. Gleichzeitig ging es um erste Schritte, die Situation zu organisieren. Wer könnte der Witwe helfen, die erste Nacht und die nächsten Tage zu überstehen? Angehörige standen nicht zur Verfügung. Auch in der Wohnanlage gab es niemanden, zu dem das Ehepaar näheren Kontakt hatte. Die Eheleute hatten recht zurückgezogen gelebt. Nun hatte die Witwe Angst, es nicht alleine schaffen zu können. Im Gespräch nannte die Witwe schließlich ein Ehepaar aus ihrer Wohnanlage, mit dem sie immerhin bereits ein paar Worte gewechselt hatte. Sie rief in meinem Beisein das Paar an, schilderte kurz die Situation und bat sie zu sich in die Wohnung. Gemeinsam überlegten wir, ob und wie das Ehepaar helfen könnte. Die Nachbarn erklärten sich bereit, die Witwe am Abend zu betreuen und ihr in den nächsten Tagen bei den Erledigungen zu helfen. So konnte ich den Einsatz nach etwa drei Stunden beenden.

2  Seelsorge unter besonderen Bedingungen Das Fallbeispiel zeigt, dass die Notfallseelsorge einerseits Elemente der klassischen Seelsorge enthält, sich andererseits an einigen Stellen von ihr unterscheidet. Sieben Besonderheiten prägen die Notfallseelsorge:

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(1) Notfallseelsorge ist Seelsorge in der akuten Krise. Die Betroffenen haben Erfahrungen gemacht, die belastend sind und traumatisierend wirken können. Sie wurden vom Tod bedroht oder mit dem plötzlichen Tod eines nahen Menschen konfrontiert. Diese Bedrohung bzw. Konfrontation hat die Betroffenen emotional überwältigt. Sie fühlen sich oft hilflos und handlungs­unfähig. Manche geraten in eine Schockstarre, wirken teilnahmslos oder emotional unterkühlt. Andere verfallen in Geschäftigkeit, wollen Dinge regeln, um zu spüren, dass sie etwas tun können. Wieder andere geraten außer sich, weinen, schreien, laufen herum. Die Bandbreite der Reaktionen ist groß. Manchmal wechseln die Zustände. Wir sprechen von einem normalen Verhalten angesichts einer unnormalen Situation. (2) Auch die Notfallseelsorgerin trifft die Krise plötzlich. Notfalleinsätze kündigen sich nicht an. Im Bereitschaftsdienst ist zwar mit der Möglichkeit der Alarmierung zu rechnen. Dennoch reißt der Alarm aus der Alltagsroutine. Es gilt, rasch zu reagieren. Andere Vorhaben müssen zurückgestellt, Termine möglicherweise abgesagt werden. Diese Besonderheit der Notfallseelsorge macht für viele den Dienst so belastend. (3) Notfallseelsorge wird von Dritten alarmiert, nicht von den Betroffenen, denn sie ist Teil einer Rettungskette. Sie kommt zum Einsatz, wenn der Einsatz­leiter vor Ort sie bei der Leitstelle anfordert. Der Kontakt zwischen der Notfallseelsorge und den Betroffenen kommt also zustande aufgrund der Einschätzung eines Außenstehenden. Das kann in Einzelfällen dazu führen, dass die Betroffenen selbst keinen Bedarf sehen und den Seelsorger schnell wieder wegschicken. Häufiger zu spüren ist die Unsicherheit aufseiten der Betroffenen, was sie vom Seelsorger erwarten können. Ein klares Beziehungsangebot gibt an dieser Stelle Sicherheit. (4) Notfallseelsorge geht zu den Menschen hin. Sie findet in der Regel im häuslichen Umfeld der Betroffenen statt. Das bedeutet für mich als Notfallseelsorger: Ich bewege mich auf fremdem Boden. Die Örtlichkeit ist mir unbekannt. Gleichzeitig betrete ich einen Bereich der Privatheit. Das gilt umso mehr, als die Betroffenen nicht die Möglichkeit hatten vor meinem Besuch Ordnung zu schaffen, so wie es bei Trauerbesuchen die Regel ist. Die Lebenssituation der Betroffenen präsentiert sich mir ganz unmittelbar und ungeschminkt. (5) Notfallseelsorge arbeitet in einer stark handlungsorientierten Umgebung. Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei sind in Aktion, sie retten, löschen, ber­gen, behandeln und ermitteln. Notfallseelsorge ist zunächst einmal nur da. Damit sorgt sie für einen heilsamen Kontrast zu der tätigen Unruhe des Umfelds. (6) Der zeitliche Rahmen eines Einsatzes ist begrenzt, aber nicht planbar. Er hängt von der konkreten Situation ab. Die Notfallseelsorge will niemanden in

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einer instabilen Lage alleine lassen. Deshalb wird in der Regel das Eintreffen von weiteren Angehörigen oder Freunden abgewartet. Oder man überzeugt sich im Gespräch, dass die Betroffenen vor Ort soweit stabil sind, dass sie ohne Seelsorge zurechtkommen. Im Fallbeispiel dauerte der Einsatz drei Stunden. Andere Einsätze sind bereits nach fünf Minuten beendet. (7) Die seelsorgliche Begegnung im Rahmen der Notfallseelsorge ist in der Regel auf einen einmaligen Kontakt beschränkt. Denn die Notfallseelsorge wird in der akuten Krise aktiv und ihr Einsatz bleibt punktuell. Eine weitergehende Nachsorge gehört nicht zu ihrem Aufgabenspektrum. Das bedeutet für die Notfallseelsorgerin, dass sie den Fortgang der Geschichte nicht miterlebt. In Erinnerung bleibt die Situation der akuten Krise mit ihren Besonderheiten. Damit fehlt die Erfahrung, dass manche der dramatischen Geschichten ein gutes Ende nehmen. Für die Seelsorgerin bleiben sie unabgeschlossen, und das erschwert die eigene Verarbeitung des Erlebten.

III 3  Auf die Haltung kommt es an Nimmt man die genannten Besonderheiten zusammen, dann ist die Notfallseelsorge in besonderem Maße davon geprägt, dass sie in einer Situation geschieht, die offen und hoch dynamisch ist. Es kommt darauf an, die konkrete Situation wach wahrzunehmen und dann angemessen zu reagieren. Mit anderen Worten: Es kommt auf die Haltung an, mit der ein Notfallseelsorger präsent ist. Das beginnt mit einer grundsätzlichen Wertschätzung der Aufgabe. Wenn ich einen inneren Widerstand gegen meine Mitarbeit in der Notfallseelsorge habe, kann ich diesen Dienst nicht angemessen ausfüllen. Jeder Einsatz beginnt mit einer Unterbrechung. Die Alarmierung unterbricht mich in meinem Tagesablauf. Diese Unterbrechung nicht als Störung meiner Aufgaben zu sehen, sondern darin die Aufgabe zu erkennen, die mir in diesem Augenblick gegeben ist: Damit nehme ich eine wertschätzende Haltung ein. Ich öffne mich für das, was mich erwartet. Die Wertschätzung bezieht sich auch auf die Personen, denen die Notfallseelsorge im Einsatz begegnet. Die Unterscheidung von Person und Werk spielt hier eine entscheidende Rolle. Auch der Verursacher eines Unfalls braucht Seelsorge. Das bedeutet: Ich begegne der Person meines Gegenübers mit einer Wertschätzung, die nicht an Bedingungen geknüpft ist. Ein möglicherweise schuldhaftes Verhalten beeinträchtigt die Wertschätzung nicht. Vor Ort gehe ich empathisch vor: Ich versuche zu erspüren, was mein Gegenüber in diesem Moment braucht. Das bedeutet, dass ich alle inneren Handlungskataloge beiseitelasse und ganz auf die Signale der Betroffenen höre. Sie zeigen

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in der Regel deutlich, was sie brauchen. Empathisches Handeln wird manchmal von Notfallseelsorgern selbst als unprofessionell empfunden. Dahinter steht das Bedürfnis, mehr tun zu können als »nur da zu sein«. Demgegenüber ist zu betonen: Indem ich in dem Augenblick der Not präsent bin, mich auf die Gefühle der Betroffenen einlasse und das Unglück mit ihnen aushalte, handle ich professionell und biete den Betroffenen die bestmögliche Hilfe. Betroffene haben ein feines Gespür für die Kongruenz ihres Gegenübers. Ich bin als Seelsorger glaubwürdig, wenn ich echt bin. Echtheit bedeutet zum Beispiel, ich nehme meine Widerstände und Ängste wahr: Furcht vor dem Anblick eines Verletzten; Widerstand im Umgang mit einem Unfallverursacher; Ekel beim Besuch einer verdreckten Wohnung; Traurigkeit, weil mir das Schicksal der Betroffenen nahe geht; Hilflosigkeit, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich nehme dies alles wahr und lasse mich dennoch nicht davon bestimmen. Ich habe es verfügbar. Ich bestimme. Nicht: es überkommt mich. Kongruenz bedeutet auch, die eigenen Fragen und Zweifel nicht zu verschweigen, auch im Blick auf religiöse Themen. Die Frage: »Warum lässt Gott das zu?« lässt sich nur persönlich beantworten, ein Rückgriff auf angelernte Dogmatik hilft hier nicht weiter. Zur Echtheit gehört schließlich, dass ich die Grenzen meiner Möglichkeiten kenne und keine Versprechungen mache, die ich nicht halten kann oder will.

4 Hilfreiche Intervention Die Notfallseelsorge arbeitet mit Menschen, die in zeitlicher Unmittelbarkeit von einem belastenden Ereignis betroffen sind. Nicht alle werden durch ein solches Ereignis traumatisiert. Dennoch ist damit zu rechnen, dass die Notfallseelsorge Menschen begegnet, »die eine akute psychotraumatische Krise erleben« (Kremer, 2016, S. 36). Als hilfreiche Intervention für diesen Personenkreis gilt der Dreischritt von stabilisieren, orientieren und Ressourcen aktivieren. Er ist nicht nur bei psychotraumatisierten Personen angezeigt, sondern bei allen, die von einem belastenden Ereignis betroffen sind. Im Fallbeispiel hat die Witwe selbst für die entscheidende Stabilisierung gesorgt, indem sie den Notfallseelsorger an ihre Seite geholt hat: »Aber Sie lassen mich nicht alleine!« Diese Sicherheit hat ihr geholfen, die weiteren Schritte zu gehen. Ebenfalls stabilisierend wirken kann z. B. ein sicherer Ort, ein Ritual oder eine Alltagsroutine wie Kaffee kochen (Kremer, 2016, S. 36 f.). Orientieren bedeutet, die Betroffenen »im Hier und Jetzt« zu erden, um zu verhindern, dass sie von den schrecklichen Eindrücken des Erlebten »überflutet«

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werden (Kremer, 2016, S. 37). Dazu gehört auch, die notwendigen Informationen über das Geschehene parat zu haben und den Betroffenen auf Nachfrage zu sagen. Dabei gilt: Es werden nur verlässliche Informationen weitergegeben. Spekulationen und Vermutungen können zur Verunsicherung führen. Zur Orientierung gehört auch der Hinweis auf die möglichen Reaktionen, die Menschen nach außergewöhnlichen belastenden Ereignissen zeigen können. Zu hören, dass solche Reaktionen zunächst einmal normal sind, beruhigt die Betroffenen. Gleichzeitig sollen sie die Möglichkeit bekommen, sich im Falle von tiefer gehenden Belastungen weitere Unterstützung zu suchen. Ein entsprechender Flyer (z. B. BBK, 2015) gehört zur Grundausstattung vieler Einsatzrucksäcke. Ressourcen aktivieren bedeutet, den Betroffenen aus der Passivität herauszuhelfen. Eine alltägliche Handlung wie das Kochen eines Kaffees bietet im Augenblick tiefster Hilflosigkeit nicht nur Stabilität, sondern erinnert die Betroffenen daran, dass ihnen Möglichkeiten bleiben, aktiv mit dem schrecklichen Ereignis umzugehen. In dieselbe Richtung zielen gemeinsame Überlegungen, was als nächstes zu tun ist. Sind Angehörige oder ein Bestatter zu informieren? Wie können die nächsten Schritte organisiert werden? Wer kann die Betroffenen unterstützen? Es ist sinnvoll, die Betroffenen die notwendigen Schritte selbst gehen zu lassen, sie etwa Telefonate selbst führen zu lassen. Je mehr die Betroffenen eigenständig agieren können, desto besser. Insgesamt zielt die Notfallseelsorge darauf, sich selbst überflüssig zu machen. Wenn die Betroffenen in der Lage sind, ohne die Notfallseelsorge zurechtzukommen, ist ihr Auftrag erfüllt.

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 Ehe- und Partnerschafts-, Familien- und Lebensberatung – ein psychologischer Fachdienst der Seelsorge

Ursula Zeh

»Wir haben ein Kommunikationsproblem. Allein bekommen wir das nicht mehr hin.« So beginnt Fr. M. das Erstgespräch. Ihr Mann nickt zustimmend. Herr M., 36, und Fr. M., 31, sind seit fünf Jahren verheiratet und haben eine vierjährige Tochter. Nach ihrer Geburt bekam Fr. M. eine Depression, die das Leben und die Beziehung des Paares zwei Jahre lang sehr belastet hat. Nachdem sich Fr. M. wieder erholt hatte, begann Herr M. die Meisterschule, die ihn zeitlich und mental sehr in Anspruch nahm. Konflikte brachen auf – um Ordnung und Zuverlässigkeit, um Erziehungsstile, um gemeinsame Zeit, um Sexualität. Gegenseitige Vorwürfe und Schuldzuweisungen sind nun an der Tagesordnung, Streits münden immer öfter in lautes Schreien von ihr und eisiges Schweigen von ihm. Diese vielen und heftigen Auseinandersetzungen und die gegenseitigen Kränkungen führen dazu, dass die positiven Gefühle füreinander mehr und mehr erodieren. In der Beratung geht es zunächst darum, Strategien zur Unterbrechung der eskalierenden Streits zu entwickeln. Dann werden anhand aktueller Konfliktsituationen die zugrundeliegenden Problematiken, die Hintergründe und Zusammenhänge und die je eigenen Anteile erkundet: Da geht es etwa um Überforderung, eigenes geringes Selbstwertgefühl, um falsche Rücksichtnahmen, aus denen viele Missverständnisse und irrtümliche gegenseitige Zuschreibungen entstanden sind. Es zeigt sich auch, dass die Zeit der Depression von Fr. M. dem Paar noch in den Knochen sitzt. Im Verlauf des Beratungsprozesses kann das Paar wieder Verständnis füreinander entwickeln. Die moderierten Gespräche helfen, einen Kommunikationsstil zu entwickeln, der es jedem ermöglicht, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu äußern, den anderen in seinem Anderssein wahrzunehmen und gute Kompromisse zu finden. So kommt sich das Paar wieder nahe. Spürbarer Ausdruck dafür ist, dass auch ihre Sexualität wieder lebendig wird. Fazit: Herr und Frau M. können sich als Einzelne weiterentwickeln und ihre Beziehung gewinnt deutlich an Qualität und Reife. Frau und Herr S. sind seit ca. 15 Jahren ein Paar, die Kinder sind acht und zehn Jahre alt. Frau S. hat sich in einen anderen Mann verliebt und mit ihm ein

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Verhältnis angefangen, ›Passiert‹ ist es im Rahmen eines gemeinsamen sexuellen Kontaktes mit einem anderen Paar. Dabei ging die Initiative für die Besuche eines Swinger-Clubs von ihm aus – sie wollte das eigentlich gar nicht, hat sich aber von ihm unter Druck gesetzt gefühlt. Das ist dann in eine Richtung gelaufen, die so nicht vorgesehen war … In der Beratung wird sichtbar, wie tief der Graben zwischen dem Paar schon lange ist, aber auch, dass die Beziehung sich im Laufe der Zeit nicht weiterentwickelt hat. Die ursprüngliche Anziehung füreinander beruhte wohl auf der Faszination für das, was man bei sich selbst als Defizit wahrnahm: Sie sehr kompetent in allen Alltagsfragen, temperamentvoll und emotional, er sehr strukturiert, intellektuell, argumentativ unschlagbar. Das hat sich mit der Zeit abgenutzt und wurde zur Erfahrung ›wir verstehen uns nicht, wir passen nicht zusammen‹. Fazit: Das Paar entscheidet sich zur Trennung und Ziel der Beratung ist es, gute Regelungen für die Kinder zu finden. Die institutionelle Ehe- und Partnerschafts-, Familien- und Lebensberatung bietet Einzelnen, Paaren und Familien Unterstützung bei der Bewältigung von Krisen- und Konfliktsituationen an. Je nach theoretischem Hintergrund der Beratenden unterscheiden sich das Selbstverständnis dieses Beratungsformats und der Schwerpunkt der zugrundeliegenden Arbeitsweisen. Auf der Grundlage des Personzentrierten Ansatzes steht das Thema »Beziehung« im Fokus der Beratungsarbeit. Inhaltlich geht es um Probleme in der Partnerschaft, wenn z. B. heftig gestritten oder nur noch geschwiegen wird, wenn der Respekt voreinander und die Wertschätzung füreinander verloren gegangen ist, wenn es keine Gemeinsamkeiten mehr gibt, wenn sexuelle Probleme, Krankheiten, Stress oder schwierige wirtschaftliche Verhältnisse eine Beziehung belasten, wenn eine Beziehung an einer Außenbeziehung zu zerbrechen droht oder eine Trennung ansteht und bewältigt werden muss. Es geht um familiäre Beziehungen, wenn etwa Streitigkeiten zwischen Eltern und ihren Kindern eskalieren, wenn erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen haben, wenn Geschwister alte Familienkonflikte ausräumen möchten, wenn die Pflege alter Eltern überfordert. Auch bei Lebenskrisen, die Anlass für Beratung sein können, geht es oft um Probleme im Zusammenhang mit Beziehungen zu anderen oder der Beziehung zu sich selbst: Da geht es um Einsamkeit und Beziehungslosigkeit, um Konflikte am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, um Schwierigkeiten bei der Lebensplanung und -gestaltung, um die Bewältigung schwieriger Lebensumstände und um Entwicklungskrisen. Psychologische Beratung auf Grundlage des Personzentrierten Ansatzes versteht solche Probleme und Schwierigkeiten als Krisen, die zu Entwicklungsprozessen herausfordern, sodass Fehlentwicklungen oder unan­gemessene

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Lösungsversuche korrigiert und neue Perspektiven entwickelt werden können. Grundsätzliches Ziel der Beratung ist es Wachstums- und Reifungsprozesse zu ermöglichen und zu unterstützen, um so ein höheres Maß an persönlicher Entfaltungs-, Beziehungs- und Partnerschaftsfähigkeit zu erreichen. Wesentlich gehört dazu, die Autonomie der Ratsuchenden zu fördern und zu stärken, etwa indem man die Fähigkeit stärkt, eigene Lösungswege zu erarbeiten, eigen­ verantwortliche Entscheidungen zu treffen und Krisen eigenständig zu bewäl­ tigen. Bei der Beratung von Paaren steht die Arbeit an der Kommunikationsund Konfliktlösekompetenz im Vordergrund; der zweite Schwerpunkt ist die Arbeit am Beziehungsmuster des Paares bzw., am Bindungsstil der Partner – so geht es etwa um ausgewogene Balancen zwischen dem Bedürfnis nach Auto­ nomie und dem Bedürfnis nach Bindung oder zwischen Nähe und Distanz. Der konkrete Beratungsauftrag orientiert sich immer an den Anliegen, der individuellen Lebenssituation und den Bedürfnissen der Ratsuchenden. »Beziehung« ist nicht nur der Schlüsselbegriff der Ehe- und Partnerschafts-, Familien- und Lebensberatung in Bezug auf Thematik und Beratungsziele, sondern auch in Bezug auf den Beratungsprozess. Dass hier Beziehung geschieht, ist ein konstitutiver Bestandteil von Beratung: Beziehung zwischen den Ratsuchenden und den Beratenden, Beziehung zwischen Partnern oder Familienmitgliedern und Beziehung zu sich selbst. Dabei ist die Beziehung zwischen den Ratsuchenden und den Beratenden Voraussetzung, Grundlage und Instrument der Beratung. Eine Beziehung, in der die Ratsuchenden angenommen und verstanden werden und so Vertrauen und das Gefühl, geschützt zu sein, aufbauen können, ermöglicht es ihnen, sich zu öffnen, die eigenen Erfahrungen, Ängste, Befürchtungen und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und verstehen zu lernen, das eigene Verhalten und die persönlichen Werte und biografischen Zusammenhänge zu erkunden und sich damit auseinanderzusetzen, Stärken und eigene Ressourcen zu entdecken und Schwächen, eigenes Scheitern oder auch fremde Schuld anzunehmen und zu vergeben. In einem solchen Vertrauens- und Schutzraum können dann auch neue Verhaltensmöglichkeiten erprobt werden, es geschieht innere Weiterentwicklung und Reifung, Heilung von Kränkungen und Verletzungen, aber auch das Akzeptieren von Grenzen wird möglich. Auf diese Weise wird die Beziehung der Ratsuchenden zu sich selbst gefördert und gestärkt und damit auch ihre Beziehungskompetenz. Im Rahmen einer Paarberatung ermöglicht dieser Raum, in dem die Beratungsfachkraft die Paarkommunikation und das Paargeschehen moderiert und begleitet, dass auch die Partner ihre Beziehung miteinander (wieder) erleben und spüren können: Auf der Grundlage des Beziehungsgeschehens zwischen Ratsuchenden und Beratenden kann auch das gegenseitige Verständ-

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nis des Paares, die Offenheit und Toleranz füreinander wachsen und so entsteht auch wieder bzw. mehr Nähe zwischen den Partnern, die Beziehung gewinnt Qualität und Tiefe und so wird eine neue Basis für ein Leben miteinander gelegt. Gleichzeitig ist die Beziehung, die zwischen den Ratsuchenden und den Beratenden entsteht, ein Modell: Hier können Ratsuchende erleben, wie Beziehung zu sich und zu anderen möglich ist und gestaltet werden kann, was eine gute Beziehung fördert und was sie eher hindert, wie Kommunikation und ein konstruktiver Umgang mit Konflikten gelingt. Grundsätzlich zeichnet sich die Ehe- und Partnerschafts-, Familien- und Lebensberatung durch Methodenintegration aus. Methodische Basis der Beratungsarbeit auf der Grundlage des Personzentrierten Ansatzes ist es, einen Beziehungsraum herzustellen, in der eine Begegnung stattfinden kann, die getragen ist von einfühlendem Verstehen, Wertschätzung und Echtheit. Wenn auf diese Weise eine tragende und vertrauensvolle Beziehung etabliert werden konnte, kann die Arbeit mit den Ratsuchenden mit Arbeitsweisen aus verschiedenen therapeutischen Ansätzen unterstützt und vertieft werden: So wird etwa nach der Psychodynamik gefragt, die oftmals den Beratenden und den Ratsuchenden hilft, einen Konflikt besser zu verstehen. Mit Methoden aus dem Repertoire der Verhaltenstherapie können konstruktive Kommunikationskompetenzen, die mit einem Paar erarbeitet wurden, eingeübt werden. Auch Verfahren anderer therapeutischer Richtungen, vor allem aus der Systemischen Therapie, der Gestalttherapie und der Emotionsfokussierten Therapie, kommen zur Anwendung, wenn sie zum tieferen Verständnis beitragen und die Ratsuchenden in Kontakt zu ihren Ressourcen bringen und sie aktivieren. Sich um Beziehung und Beziehungskompetenz zu kümmern und sie zu fördern ist vom Wesen des Menschen her, aber auch gesellschaftlich sinnvoll und notwendig, denn In-Beziehung-sein ist ein Grundelement gelingenden Lebens: Beziehung ist die Voraussetzung für die physische und psychische Entwicklung und Reifung des Menschen, sie trägt wesentlich zur Erhaltung der Gesundheit bei und hier ereignet sich Selbst- und Welterkenntnis. Das heißt: Bindung, Kontakt, Zugehörigkeit sind elementare Bedürfnisse des Menschen. Diese Bedürfnisse können am besten im Rahmen einer stabilen Partnerschaft befriedigt werden, weil man hier am ehesten mit langfristiger Zuneigung und Anerkennung, Verständnis und Unterstützung rechnen kann. Diese hohe Bedeutung von verbindlicher Partnerschaft für Menschen spiegelt sich auch in der gelebten Wirklichkeit: Rund 80–90 % der Bevölkerung heiratet irgendwann einmal im Leben oder hat zumindest eine feste intime Beziehung. Auch heute ist für die meisten Menschen eine glückliche und verbindliche Paarbeziehung und Familie eines der wichtigsten Ziele im Leben, sie hat nachweislich einen positiven Effekt auf

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Lebenszufriedenheit und Gesundheit und eine stabile und respektvolle Beziehung der Eltern trägt wesentlich zum Wohl von Kindern und deren gesunder Entwicklung bei (vgl. Bodenmann, 2013, 20–23; 15. Kinder- und Jugendbericht, 2017; 17. Shell-Jugendstudie, 2015). Trotz dieser großen Bedeutung von Ehe bzw. lebenslanger Partnerschaft hat die Instabilität von Paarbeziehungen in den vergangenen fünfzig Jahren rapid zugenommen und ist auf einem relativ hohen Niveau geblieben (vgl. statista 2018). Zurückführen lässt sich die Fragilität heutiger Beziehungen auf eine sich grundlegend verändernde Lebenswelt, die geprägt ist von rasanten technischen Fortschritten, Globalisierung, Digitalisierung und Medialisierung. In Folge dieser Veränderungen ist in der westlichen Welt eine Freiheits-, Machbarkeits- und Optionsgesellschaft entstanden, die Beziehungen in hohem Maße herausfordert und belastet, sodass »deren Gelingen in verstärktem Maße vom wechselseitigen Anerkennungsverhältnis und der Beziehungskompetenz der Partner sowie von sozialen Bedingungen sowie materiellen und kulturellen Ressourcen abhängt« (Sautermeister, 2013, S. 92; vgl. Hutter u. Plois, 2006; Hutter, 2016). Insofern Beziehung im Fokus der institutionellen Ehe- und Partnerschafts-, Familien- und Lebensberatung steht, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur psycho­sozialen Versorgung der Menschen und übernimmt wesentliche Aufgaben im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Aus Sicht der Kirchen ist die Ehe- und Partnerschafts-, Familien- und Lebensberatung darüber hinaus genuiner Bestandteil ihres seelsorglichen Handelns (vgl. Baumgartner 2006; Papst Franziskus 2016), das sich am Vorbild des heilenden und befreienden Handelns Jesu orientiert (vgl. Sautermeister, 2013): Wenn Kirche Menschen in Sorgen und Nöten, bei Krisen und in Erfahrungen des Scheiterns und der Ohnmacht nicht allein lässt, sie begleitet und hilft, wird Gottes Solidarität, Zuwendung und sein unbedingtes Ja zu jedem Einzelnen erfahrbar. Wenn sich hier Begegnung und Beziehung ereignet und Menschen in ihrer Beziehungskompetenz unterstützt werden, wird ein Weg aus Isolation und Einsamkeit möglich, neue Lebensperspektiven können in den Blick kommen und Handlungsfähigkeit wird gewonnen. Damit wird auch (wieder) der Aufbau einer Beziehung zu Gott ermöglicht bzw. gestärkt und mit dieser spirituellen Dimension erschließt sich eine wichtige Ressource für die Bewältigung von Krisen, weil hier existenzielle und religiöse Fragen, etwa nach dem Sinn des Lebens, nach Schuld und Vergebung, Raum bekommen. Und wenn Kirche es sich in besonderer Weise zur Aufgabe macht, Paare dabei zu unterstützten, ihre Partnerschaft zu leben, trägt sie der existenziellen und nach katholischem Verständnis auch sakramentalen Bedeutung verbindlicher Beziehungen in Liebe und Treue Rechnung: So trägt sie mit dazu bei, dass personale Liebe, die einer-

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seits zutiefst dem Wesen des Menschen und seiner Erfüllung entspricht und in der sich andererseits die Liebe Gottes zu den Menschen verwirklicht, gelingen kann. Mit der Ehe- und Partnerschafts-, Familien- und Lebensberatung erfüllt Kirche ihren diakonischen, missionarischen und im katholischen Bereich auch sakramentalen Grundauftrag.

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  Personzentrierte Seelsorge in und durch Gruppen

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1 Seelsorgliche Gruppensituationen Personzentriert wahrnehmen In seelsorglichen Kontexten gibt es eine große Anzahl verschiedener Gruppen. Sie haben unterschiedlichen Charakter: ȤȤ Seelsorgliche Begegnungsgruppen: Es geht um gegenseitige Unterstützung, um Achtsamkeit und Begegnung, um Bewusstwerdung in Lebensthemen und spirituellem Wachsen. ȤȤ Projektbezogene Gruppen: Es geht um Mitarbeit in einer Aufgabe, die irgendwann abgeschlossen sein wird. ȤȤ Sachbezogene Gruppen: Es geht um Information, Beratung und Beschlussfassung in einem Gremium oder einer Konferenz. Einerseits gilt, dass alle Vollzüge kirchlichen Lebens seelsorglich wirken: Liturgie, Kommunikation in Gremien, Formen gemeindlichen Engagements. Andererseits gibt es eine ausdrücklich beratende Seelsorge, die entweder situativ-zufällig sich ereignet oder die Form einer Vereinbarung (Kontrakt) hat (Findl-Ludescher, 2005). In folgenden Gruppen kann sich seelsorgliche Kommunikation ereignen: ȤȤ Familiengruppen/Elterngruppen: Eltern mit (Klein)kindern treffen sich zur Begegnung und gegenseitigen Unterstützung. ȤȤ Bibelgesprächskreise: Erwachsene Personen treffen sich zum Begegnen und Austausch über eine Bibelstelle, wobei die Resonanz dieser Texte im Leben der Menschen im Zentrum des Gesprächs steht. ȤȤ Leben-Glauben-Teilen Gruppen: Als Form des Gemeindeaufbaus haben sich solche Gruppen in unterschiedlichen Formen als Unterstruktur einer Großgemeinde bewährt. ȤȤ Gruppen in der Vorbereitung auf die Sakramente: In vielfältiger Weise geschieht die Vorbereitung auf die Sakramente in Gruppentreffen.

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ȤȤ Mitarbeitergruppen: Mitarbeitende bei einem Gemeindeprojekt treffen sich regelmäßig in einer Gruppe zur Projektentwicklung und zum persönlichen Austausch. ȤȤ Männergruppe/Frauengruppe: Männer oder Frauen treffen sich in spezifischen Gruppen zur Begegnung und Unterstützung. ȤȤ Selbsthilfegruppen: Von der gleichen Situation betroffene Menschen treffen sich in Selbsthilfegruppen. Hier geschieht explizit oder implizit Gruppenseelsorge in der Weise, dass sich Menschen in ihrem seelischen Erleben begegnen, mitteilen, in ihrem Wachstumsprozess unterstützen und dabei ausdrücklichen oder verhaltenen Kontakt zum Evangelium als Text und/oder gelebter Praxis (Müller, 2000, S. 383) haben. Sie alle haben mehr oder weniger den Charakter einer Begegnungsgruppe.

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2  Personzentriertes Begegnen als Encounter bei Carl Rogers C. Rogers selbst hat in seiner zweiten Arbeitsphase mit der Anwendung des Personzentrierten Ansatzes in Begegnungsgruppen experimentiert. Er gilt als Begründer der Encounter-Gruppen. Zeugnis davon ist sein 1970 erschienenes Buch »Encounter-Gruppen. Das Erlebnis menschlicher Begegnung« (Rogers, 1974). Rogers selbst hat keine eigene Theorie der Gruppe entwickelt. Ihm geht es mehr um das Verständnis eines förderlichen Beziehungsprozesses als um Theorien über das Wesen der Gruppe (Schmid, 1996, S. 24). Seine Aussagen über Gruppen sind von seinen Theorien über das Individuum und die Zweierbeziehung abgeleitet und verstehen sich als Anwendung der Personzentrierten Haltungen auf Gruppen (Rogers, 1959/1991, S. 66ff.). Wie in der Einzel­therapie verbessern sich in Encounter-Gruppen das Persönlichkeitswachstum des Einzelnen in der Gruppe und die Beziehungen untereinander. Er versteht die Gruppe wie einen Organismus und beschreibt ihre Entwicklung mit Begriffen, die er zunächst für die Aktualisierungstendenz des Individuums verwendet hat. Rogers formuliert in seinem theoretischen Hauptwerk Eine Theorie der Psycho­therapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen 1959 für Gruppenkommunikation: Wenn folgende Bedingungen gegeben sind: 1. Die Haltungen Kongruenz, bedingungsfreie Wertschätzung und Empathie, die Rogers zunächst für die Therapie formuliert hat.

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2. Die Beteiligten haben ein Bedürfnis nach Kontakt und Kommunikation. 3. Bei einem der Beteiligten ist ein hohes Maß an Kongruenz da und zwar bezüglich a) Der Erfahrung des Gegenstandes der Kommunikation b) Der Symbolisierung dieser Erfahrung c) Des bewusst kommunizierten Ausdrucks dieser Erfahrung. Dann treten unter anderem folgende Phänomene auf: »Die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Gruppe werden immer umfangreicher ausgeschöpft, immer differenziertere Daten werden von der Gruppe hervorgebracht, das Denken und die Wahrnehmung werden extensionaler, selbstbezogenes Denken und Handeln nimmt zu, die Gruppenleitung verteilt sich mehr in der Gruppe, es werden immer mehr effektive, in die Zukunft gerichtete Problemlösungen ent­wickelt.« (Rogers, 1959/1991, S. 67)

Daraus ergeben sich nach Rogers Konsequenzen für das Verhalten bei Gruppen­ spannung und Konflikten (Rogers, 1959/1991, S. 67) und für die Leitung von Gruppen (Rogers, 1971/1996). Rogers’ Maßstab ist, dass eine Gruppe ihr eigenes Potenzial und das ihrer Mitglieder entwickeln kann, wenn ein angemessenes förderliches Klima gegeben ist. Der Gruppenleiter ist deshalb ein Facilitator (Förderer, Ermöglicher). Dabei ist ihm bewusst, »dass es viele effiziente Gruppen­ leiter gibt, die Stile benutzen, die in hohem Maße verschiedenartig sind.« (Rogers, 1971/1996, S. 543)

3 Das Bild vom Organismus ist biblisch anschlussfähig Der Ansatz von Rogers, eine Gruppe wie einen lebendigen Organismus zu sehen, ist biblisch anschlussfähig. 1 Kor 12, 4–27 (Der eine Leib und die vielen Glieder) ist ein wichtiger biblischer Gruppentext: Es gibt verschiedene Begabungen (Charismen). Die Gruppe gleicht einem Leib, einem Organismus, bei dem gerade die Verschiedenheit der Glieder den Wert des Ganzen ausmacht. Verschiedenheit kann aber auch in die Isolierung oder Vereinzelung führen. Anzustreben ist Verschiedenheit in Verbundenheit und Beziehung. Über­tragen heißt das: Kommunikation, Interaktion, Begegnung sind Vollzugsweisen, wie sich Leib Christi realisiert. Wenn ich eine Gruppe in dieser Weise organismisch verstehe, dann ist das Bild des Leiters: Diener des Organismus sein, mit der Dynamik und den viel-

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fältigen Energien dieser einzigartigen Gruppe zu arbeiten, Verschiedenheit würdigen und dazu ermutigen, Begegnung und Verstehen ermöglichen. Der Leiter ist dann ein Facilitator, der den einzigartigen Energien dieser Gruppe ermöglicht, sich zu zeigen und auszuwirken. Er rechnet damit, dass jede Gruppe ihre eigene Weisheit hat. Rogers sagt dazu:

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»Ich vertraue darauf, dass eine Gruppe, sofern das Klima einigermaßen förderlich ist, ihr eigenes Potential und das ihrer Mitglieder erschließt. Für mich ist diese Fähigkeit der Gruppe etwas Ehrfurchtgebietendes. Als Folge habe ich mit der Zeit ein sehr großes Vertrauen in den Gruppenprozess entwickelt, das zweifellos dem Vertrauen gleicht, das ich in Bezug auf den therapeutischen Prozess hege, wenn dieser gefördert und nicht gesteuert wird. Mir erscheint die Gruppe wie ein Organis­ mus, der seine eigene Richtung kennt, auch wenn er sie intellektuell nicht definieren kann.« (Rogers, 1974, S. 50f.)

4  Aufnahme des Encounter-Ansatzes im Raum der Kirche Die Entdeckung der Gruppe für Therapie und Persönlichkeitsentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte parallel zu einer Neubewertung der Gruppe in Theologie und Kirche. Es war die Zeit großer Hoffnungen über die neuen Möglichkeiten, die eine erfahrungsorientierte Gruppenarbeit bringen könnte. Rogers sprach davon, dass die geplante intensive Gruppenerfahrung »eine der ganz großen sozialen Erfindungen dieses Jahrhunderts ist«: Die Gruppe sei »die vermutlich potenteste Erfindung des 20zigsten Jahrhunderts« (Rogers, 1970, S. 9). Sie sei die Antwort auf die Sehnsucht nach wirk­lichen Beziehungen, wie sie sonst im modernen Leben nicht zu finden seien. In der gleichen Zeit gab es in den Kirchen einen Paradigmenwechsel, der sich an den Begriffen »Communio-Ekklesiologie« und »Gemeinde« festmachen lässt. Es entwickelte sich ein soziales Verständnis der Trinität. Es entstand eine Vorstellung der Kirche als Gemeinschaft von Gemeinschaften, die auch heute unter veränderten institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen gültig ist. Diese Entwicklungen hatten Konsequenzen in der Seelsorgeausbildung und Seelsorgetheorie. Im deutschsprachigen Raum wurde der Personzentrierte Encounter-Gedanke für Gruppen aufgenommen von: Matthias Kroeger (1983): Er buchstabiert früh in den 70er-Jahren die Anliegen von Rogers für die Seelsorge und erweitert sie im Blick auf seelsorgliche

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Gruppenarbeit durch den Ansatz von Ruth. C. Cohn, die mit Rogers eine der Begründerinnen der Humanistischen Psychologie war und ihn gekannt hat. Wunibald Müller (1989): Er bezieht sich auf Rogers (Encounter-Gruppen 1970), Robert Leslie (Sharing-Groups 1979) und Howard Clinebell (Wachsen und Hoffen 1982) und formuliert Gesichtspunkte für seelsorgliche Begegnungsgruppen, die das Wachsen und Entwickeln ihrer Mitglieder zum Ziel haben. Peter F. Schmid (1994, 1996, 1998): In einem dreigliedrigen Werk reflektiert er den Personzentrierten Ansatz als Begegnungsansatz auf Gruppen hin und plädiert im letzten Band für Begegnungsgruppen als konkrete Erfahrung von christlicher Gemeinschaft. Dabei wird deutlich, dass die Anwendung des Personzentrierten Begegnungsanliegens in kirchlichen Gruppen nicht einfach die Inszenierung einer Encounter-Gruppe im kirchlichen Raum sein kann. Zu unterschiedlich sind die situativen Aufgaben von kirchlichen Gruppen. Einerseits ist die seelsorgliche Begegnungsgruppe ein Instrument seelsorglicher Gruppenarbeit, das noch viel zu wenig in den Pastoralkonzeptionen und Ausbildungsgängen der großen Kirchen vorkommt (Schmid, 1998, S. 154ff.; Müller, 1998, S. 77ff.). Andererseits ist zu fragen, wie sich das Grundanliegen des PzA (das Menschenbild mit seiner Vorstellung von Wachstum und Selbstaktualisierung, die Grundhaltungen) in aufgabenbezogenen Gruppen und in entscheidungsorientierten Gruppen (Gremien) verwirklichen lässt.

5  Seelsorgliche Begegnungsgruppen Seelsorge möchte, dass Menschen vor dem Antlitz Gottes wachsen und reifen können (Stenger, 1991). In seelsorglichen Gruppen ist der ideale Kontext eine Face-to-Face-Situation von bis zu 16 Personen. Begegnung ist entweder das eigentliche Ziel der Gruppenarbeit oder einzelner Gruppenphasen. Der Leiter erscheint als Facilitator, als Ermöglicher. Er ermöglicht Begegnung im Sinne des Personzentrierten Ansatzes: Begegnung der Gruppenmitglieder untereinander und Begegnung der Gruppenmitglieder mit ihren eigenen inneren Resonanzen und ihrem inneren Erleben zum jeweiligen Thema der Gruppe. Als Leiterin: 1. Habe ich einen bedingungslosen positiven Blick auf jede Person in der Gruppe (Wertschätzung, Akzeptanz). 2. Versuche ich das Verhalten und die Beiträge jeder Person aus ihrem Bezugsrahmen zu verstehen und bin damit transparent (Empathie). 3. Versuche ich mit mir selbst und meiner inneren Resonanz in Kontakt zu sein und mich nach außen situativ stimmig zu zeigen (Kongruenz).

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Zugleich rege ich die Teilnehmenden an, diese Grundhaltungen ebenso zu praktizieren. In der Anwendung Personzentrierter Gruppenarbeit auf kirch­liche und gemeindliche Kontexte ist dieses Begegnungsmoment in Gruppen das Entscheidende: Ich ermögliche als Leiter einen Raum, in dem sich Begegnung ereignen kann, wohl wissend, dass sie sich nicht im technischen Sinne herstellen oder machen lässt. Rahmenbedingungen für diesen Raum sind: ȤȤ Die drei von Rogers formulierten Grundhaltungen. ȤȤ Ein Verständnis, dass Wachstum der Persönlichkeit durch Begegnung passieren kann. ȤȤ Ein Praktizieren von Gegenwärtigkeit (Präsenz) im laufenden Gruppenprozess.

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Wie in der Einzelberatung strukturierende Interventionen je nach Klient, Setting und Situation hilfreich sind, so auch im Personzentrierten Gruppensetting. Zu nennen wäre hier: ȤȤ Das Kontrakting: Um was geht es? Was bewirkt Begegnen? Was ist die Aufgabe der Leitung? Ich benenne Begegnen als Hauptziel der Gruppenarbeit, kläre meine Rolle als Facilitator, dieses Prozesses. ȤȤ Die Zeit: Wie lange sind wir zusammen? Wann treffen wir uns möglicherweise wieder? ȤȤ Je nach Gruppengröße soziale Unterstrukturen: Zweiersetting, Kleingruppe, Halbgruppe, Plenum. ȤȤ Eventuell eine thematische Fokussierung, innerhalb derer das innere Erleben zur Sprache kommen soll: Eine Bibelstelle, eine biografische Situation, ein Thema, eine konkrete Aufgabe (z. B. Sterbebegleitung), ein Projekt.

6 Der Personzentrierte Ansatz in aufgabenbezogenen Gruppen Häufig gibt es im seelsorglichen Raum Gruppen, die sich um eine Aufgabe versammeln: die Gestaltung eines Weges zur Vorbereitung auf die Sakramente, die Vorbereitung eines Festes, die Organisation eines Ferienlagers oder einer Bildungsreise. Auch hier begegnen sich Personen, die sich mit ihrem unterschied­ lichen inneren Erleben einbringen. Ein Gruppenleiter, der Personzentriert geprägt ist, wird diese unterschiedlichen Zugänge und inneren Erlebnisweisen wie einen Schatz heben und sie würdigen und wertschätzen. Dadurch steigt die Qualität der Kommunikation. Er wird Verschiedenheit als Reichtum verstehen und die verschiedenen Anliegen in das zu gestaltende Projekt einfließen lassen. Er wird

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sich darum kümmern und es benennen können, wenn Kompromisse geschlossen werden müssen, nicht alle zum Zuge kommen können, die Verwirklichung der Aufgabe/des Vorhabens es mit sich bringt, dass manche Wünsche und Bedürfnisse nicht oder nur teilweise vorkommen können. Er wird darum wissen, dass in allen Phasen einer Aufgabenerledigung die Begegnung der versammelten Personen einen genauso hohen Stellenwert hat wie die Bewältigung der Aufgabe.

7 Der Personzentrierte Ansatz in entscheidungsbezogenen Gruppen (Gremien, Konferenzen) Die Grundgestalt der Kirche als »Volk Gottes auf dem Weg« oder als »Gemeinschaft von Gemeinschaften« bringt es mit sich, dass in einer Vielzahl von Gremien um den gemeinsamen Weg gerungen wird und Entscheidungen getroffen werden. Wie sieht eine Personzentriert gestaltete Gremienarbeit aus? Auch wenn eine Liste von Tagesordnungspunkten und anstehende Entscheidungsprozesse dominieren, können wir uns für den inneren Erlebensprozess der anderen Gremienmitglieder interessieren. Folgende Frageperspektiven markieren dieses Interesse am inneren Prozess: ȤȤ »Wie geht es mir/dir im Moment?« ȤȤ »Was macht es mit mir/dir, dass mein/dein Anliegen nur zum Teil zum Zug gekommen ist?« ȤȤ »Welche Folgen hat die jeweilige Entscheidung für die beteiligten Menschen?« Als Leiter einer solchen Konferenz werde ich die Menschen im Blick haben, die hier ihre Zeit und ihren guten Willen einbringen. Ich werde kommuni­kative Räume gestalten, in denen sich die Person in ihrer Beziehung zur Aufgabe zeigen kann und Verschiedenheit sichtbar werden kann. Ich werde das Potenzial der Gruppe nutzen und in Entscheidungsprozessen dritte und vierte und fünfte Wege suchen, in denen möglichst viele sich wiederfinden können. Ich werde mich bei nötigen Abstimmungen um die verlierende Partei kümmern und ihr inneres Erleben aufnehmen und sprachlich kommunizieren.

8  Gruppenleiter – Seelsorgerin – Facilitator sein Als Gruppenleiter ermögliche ich der Gruppe ihren eigenen Weg zu finden. Ich versuche dafür hilfreich zu sein. Das gilt sowohl für die einzelnen Personen einer Gruppe: Die Gruppe ist ein Raum, in dem jeder seinen eignen Weg zu sich selbst

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und zu den anderen finden und gehen kann. So gesehen gibt es in einer Gruppe von 16 Personen 16 verschiedene Wege, die gesucht und gegangen werden. Das gilt aber auch für die Gruppe als Ganzes: Ich vertraue bei anstehenden Entscheidungen auf die Weisheit der Gruppe – sehe sie als Organismus – moderiere Entscheidungsprozesse, indem ich Verschiedenheit zulasse, divergierende Gesichtspunkte aufnehme, in Beziehung zueinander bringe, einen für möglichst viele befriedigenden Weg emergieren lasse. Dabei bringe ich mich mit meiner Echtheit und Kongruenz ein, bin sozusagen ein Mitglied der Gruppe mit eigenem innerem Erleben. So habe ich zwei »Stühle«: Einerseits besetze ich die Rolle des Leiters mit meiner Personzentrierten Haltung und ermögliche damit einen Prozess als Facilitator. Andererseits bin ich echt und kongruent mit meinem Erleben dabei und bringe dieses Erleben selektiv und situativ stimmig als meinen Beitrag ein. Seelsorge geschieht gemeinschaftlich in und durch die Gruppe: Nicht einer ist Seelsorger für alle anderen, sondern wir sind einander Seelsorgende in den unterschiedlichen bilateralen Begegnungen, die es in jedem Gruppenprozess gibt. Zugleich wird die Gruppe selbst als ein geschützter energiereicher Raum erlebt, in dem jeder Einzelne gesehen werden kann in seinem inneren Erleben.

9 Ausblick Die Grundhaltungen des Personzentrierten Ansatzes gelten heute in den Kirchen als seelsorgliche Basishaltungen, die aus den Ausbildungsgängen für Seelsorge nicht mehr wegzudenken sind (Klessman, 2006, S. 442). Auf diesem Weg finden sie auch Eingang in Formen der Gruppenkommunikation. Es wäre zu wünschen, dass der Praxis der Seelsorge in und durch Begegnungsgruppen, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist, durch Ausbildungen, Forschungsprojekte und Seelsorgepraxis zu einer für das 21. Jahrhundert aktualisierten Gestalt findet.

Teil IV

Personzentrierte Beratungsformate in der Praxis

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 Personzentriertes Coaching in der Personalberatung der Kirche

Tilman Kingreen

1 Zur Notwendigkeit von Coaching in der Kirche Berufliches Handeln findet heute in einem Kontext statt, der Agilität und Teamfähigkeit fordert. Statt einer One-Man-Show wird Arbeit als Ensembleleistung organisiert, die als Stehgreifspiel auf offener Bühne zur Darstellung kommt. Performance als Ausdruck gezeigter Leistung wird zur beruflichen Schlüsselkategorie. Dies gilt auch für den Bereich der Kirche, in dem aufgrund von Ressourcenumverteilung auch auf die Leistung von Mitarbeitenden bewertend geachtet wird. Die Ratsuchenden, die zur kirchlichen Personalberatung kommen, suchen nach einer Neuausrichtung im Beruf. Sie wollen ins Handeln kommen und spüren zugleich, dass sie ratlos oder frustriert sind. Dies hat viele Gründe: Entweder haben sie in der bisherigen Rolle belastende Erfahrungen gesammelt und wollen sich an ihrem Standort verändern oder sie erleben, dass sie bei Bewerbungen, die immer stärker Elemente des Castings tragen, wiederkehrend nicht zum Zuge kommen. Diese Erfahrungen verstärken das Gefühl, sich beruflich zu verlieren, sich als abgeschnitten und ausgegrenzt zu erleben. Personzentriertes Coaching reagiert auf diese Situation und bietet auf Basis seines Humanistischen Menschenbilds (T. Kingreen, I.2) mit der Realisierung der entsprechenden spezifischen Haltungsmerkmale (S. 51) ein tragfähiges Konzept, das die Ressourcenaktivierung beim Menschen fördert, die sowohl die Person im System sichtbar werden lässt als auch bei der Person eine realitäts­ konforme Sensibilität für das gegenwärtige System fördert. Mit dem Bild der Bühne soll die spezielle Wirkweise Personzentrierten Coachings dargestellt werden. Als Arbeitsmodell dient die Architektur der Deutschen Oper Unter den Linden in Berlin (www.tempuscorporate.zeitverlag.de/cases/staatsoper-­ unter-den-linden).

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2 Zur Arbeitsweise Personzentrierten Coachings

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Personzentriertes Coaching lädt dazu ein, die innere Bühne beruflichen Erlebens zu betreten. Alles, was die Person an Gelingendem sowie an Scheitern erlebt, soll aus ihrer Sicht wahrgenommen werden. Dieser subjektbezogene Zugang realisiert sich an der Schnittstelle von Person und Organisation. Mit dem Bild der Bühne sind Selbsterleben, eigenes Leitungshandeln und berufliches Agieren untrennbar verknüpft mit Organisationsaufbau (Bühnenbild), Organisationsdynamiken (Mitspielende) und den Einflüssen des Kundensystems (Publikum). Wie erlebt sich die jeweilige Person auf dieser Bühne ihres beruflichen Erlebens in ihren Rollen? Welche Mitspielende nimmt sie wahr und welche nicht? Vor welchem Publikum bringt sie ihre jeweilige Rolle zur Aufführung? Wie heißt die Regisseurin? Und wie heißt schließlich überhaupt das Stück, das hier zur Aufführung kommen soll? In welchem Genre bewegt es sich? Ist es tragisch, komisch oder heiter? Was ist seine Aussageintention? Das Regiebuch wird dabei als objektivierbare Beschreibung der systemischen Metaebene (Kriz, 2017a, S. 30–41) gemeinsam aufgeschlagen. Personzentriertes Coaching ist der Versuch, das Regiebuch aus dem inneren Bezugsrahmen der Person heraus zu verstehen und zu lesen. Wie und was liest sie? Was auch nicht? Wo entsteht Klarheit und was wird immer diffuser, je genauer der Scheinwerfer innerer Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird? Coaching wirkt für die Person produktiv und weiterführend, wenn es gelingt, gemeinsam hinter die Maske zu blicken, in der sie ihre spezielle berufliche Rolle auf der Bühne ihrer Organisation zur Darstellung bringt. Damit tut sich ein sehr persönlicher Reflexionsraum auf. Er eröffnet den Zugang zur persönlichen Rollen­ ausgestaltung. Wie gestaltet sie in einer für sie kongruenten Weise ihre Rolle? Coaching reagiert mit seinem subjektorientierten Ansatz auch auf die Erfahrung von Delegation der Verantwortung auf die einzelnen Mitarbeitenden: Du darfst entscheiden! Hierarchische Machtpositionen und Entscheidungsverantwortungen sind heute entkoppelt mit der Folge, dass die Person vor Ort zwar entscheidet, das übergeordnete System aber sich die Beurteilung vorbehält. Formen der Mitarbeiterbefragung treten an die Stelle direkter Kommunikation und Ergebniskontrollen werden mit Erwartungsszenarien verknüpft. Indem die Leitungsspitze die finanzielle Ressourcenverteilung an die mittlere Ebene delegiert, hat sie ein wesentliches Steuerungsinstrument abgegeben. Sie muss andere Instrumente nutzen, um ihre Interessen und Perspektiven durchzusetzen. Im Blick auf das Personal rücken Fragen der Dienstaufsicht in den Mittelpunkt. Ratsuchende erleben vermehrt den Einsatz disziplinarrechtlicher Aufsichtsinstrumentarien.

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3  Das Bühnenmodell Die Staatsoper Unter den Linden in Berlin realisiert ein bauliches Konzept, das als ein Abbild für das Verständnis von Personzentriertem Coaching dienen kann. Neben der eigentlichen Bühne, die sich auftut, wenn sich der Vorhang hebt, gibt es eine separate Probebühne. Über einen befahrbaren unterirdischen Tunnel sind beide Bühnen so miteinander verbunden, dass es möglich ist, auf der Probebühne vor der Originalkulisse zu proben. Zu den Bühnenelementen, die von den Zuschauern wahrgenommen werden und auf der Probebühne nachgebildet sind, gehören die Hauptbühne mit ihrer Vorder- und den beiden Seitenbühnen sowie der dahinterliegenden Hinterbühne, die über eine Drehscheibe den schnellen Kulissenwechsel ermöglicht. Coaching findet in dieser Opernarchitektur seine Szene auf der Probebühne. Wie über einen unterirdischen Gang werden die lebendigen Erinnerungen realer Berufserfahrungen als szenisch wiedererlebbare Erinnerungen der inneren Gewahrwerdung zugänglich gemacht und auf der Probebühne in Form geteilter Aufmerksamkeit neu erschlossen. Coaching ist Arbeit im Angesicht des real erlebten Kontextes und bietet einen Vertrauens- und Probenraum, in dem ein unmittelbares Nacherleben beruflicher Erfahrungen möglich wird. Dazu bildet die emotionale Erschließung des Erlebten den zentralen Schlüssel. Alternative Szenen-, neue Rollen- und Ausführungsgestaltungen werden erprobt. Es besteht die Möglichkeit, in die Rolle des oder der anderen zu schlüpfen und die eigene Rolle einmal aus deren Blickwinkel wahrzunehmen. Dabei können sowohl der Frage nach einer gelingenden Passung der eigenen Person mit einer angestrebten Rolle kritisch reflektiert, als auch der Frage einer Neugestaltung der bisherigen Rolle nachgegangen werden. Die Person erschließt sich ein multiperspektivisches Feedback. Dies fördert Rollensicherheit, -findung und eine kritische -reflexion. Konflikte werden sichtbar. Sie können durchlebt, verstehbar und sprachfähig gemacht, sowie probeweise persönlichkeitskonform gelebt werden. Die Person kann sich als kongruent handelnd erleben. Dies fördert ihre Fähigkeit zu einer größeren Bezogenheit auf sich und andere. Personzentriertes Coaching erweitert mit diesem Bild der Bühne das von E. Goffman übernommene Verständnis einer Vorder- und Hinterbühne (Goffman, 2003, S. 99–128), indem es die Hinterbühne verstärkt als Probebühne versteht und dabei Rollengebundenheit und Sprachcode, die für Goffman den Unterschied von Hinter- und Vorderbühne charakterisieren, um die Dimension eines emotionalen und kognitiven Verstehensprozesses erweitert. Die Bühne wird als systemischer Bezugsrahmen unter dem Aspekt der persönlichkeitsspezifischen Ressourcenakkumulation differenziert betrachtet. Haupt-,

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Vorder-, Seiten- und Hinterbühne halten rollenrelevante Ressourcen bereit. Die Hauptbühne wird als Ort allgemeiner, professioneller Präsenz verstanden. Hier gelten Sprach- und Verhaltenscodes, Aufgaben- und Zuständigkeitszuschreibungen, in denen sich die spezifische Organisationskultur ausdrückt. Es ist der Raum für Teamerfahrung. Er bietet Chancen von Zugehörigkeit sowie Unterschiedenheit bei gleichzeitigem Eingebundensein. Es ist auch der Raum, um zu erkennen, welche Rolle oder Aufgabe an ihr Ende gekommen ist. An die Stelle nicht mehr reanimierbarer Lösungen tritt die Suche nach vitalen Rollen und neuen Aufgaben. Anderes gilt für die Vorderbühne. Hier tritt die Person in ihrer Rolle solistisch hervor. Berufliche Motivation wird zum Thema. Der eigene Ausdruck ist gefordert. Der Charakter der beruflichen Rolle wird präzisiert. Im Coaching überprüft die Person kritisch, von wem sie Applaus erhält. Sie achtet darauf, ob sie die ihr zustehende Anerkennung erfährt. Mit der Zunahme von Organisationszuständigkeiten geht eine schleichende Aufmerksamkeitsverschiebung einher, die den Fokus von den kreativen Akteurinnen auf der Bühne wegrückt. Als beruflich handelnde Person auf der Bühne erleben Mitarbeitende einen zunehmenden Organisationsnarzissmus. Individualität und Leistung werden missachtet, indem Erfolge dem System zugeschrieben, Misserfolge der Person zur Last gelegt werden. Die Vorderbühne fordert besonders zu einer kritischen Loyalität mit dem System heraus. Sie verlangt neben Bühnenpräsenz ein Mehr an Exzentrizität und Auftrittssicherheit sowie Kenntnis über die Befriedigung des Publikumsinteresses. Schließlich gibt es die Möglichkeit, auf eine der Seitenbühnen zu wechseln. Hier ist lediglich eine stille Präsenz gefordert. Die Regie zur Steuerung von Rolleninhalten und angemessenen Inszenierungsorten wird zum Thema. Welche Aufgaben im Beruf sollen randständig auf der Seitenbühne Platz bekommen? Der Inszenierungsreichtum, den das gesamte Bühnenbild erschließt, dient im Coaching dem inneren Reflexionsprozess für eine gelingende Ausgestaltung beruflichen Handelns. Dabei wird auch deutlich, wo es in der Aufbau- und Ablauforganisation hakt, wie sie bisher funktioniert und wo sie Verbesserungspotenzial besitzt. Erweitert wird dieses Bild schließlich noch durch die Vorstellung einer Hinterbühne. Mit ihrer Drehscheibe kommt der schnelle Wechsel zum Ausdruck, den eine flexible Rollengestaltung vor wechselnder Kulisse fordert. Wie sieht eine situationsangemessene Kontextgestaltung aus? Welche Requisiten, berufliche Insignien und Rahmensetzungen sind für ein gelingendes berufliches Wirken notwendig? Sie alle müssen heute gezielt hergestellt und inszeniert werden. Der schnelle Wechsel verändert Auftritt und Wahl der Auftrittsorte; es will erprobt sein. Fragen des Impressionsmanagements haben hier ihren Raum.

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Beim Mehrpersonencoaching eröffnet das Bild der Probebühne Möglich­ keiten, um Fragen der Rollenverteilung sowie der Passung von Gabe und Aufgabe zu klären. Welche Aufgabe im Team passt zu mir? Wer füllt welche Rolle gut aus? Fragen der Regieführung werden zum Thema. Wer ist Regisseur? Ist dies allen deutlich oder hat sich ersatzweise eine heimliche Regieführung etabliert? Im Einzelcoaching stellt sich diese Frage auch im Blick auf das Regisseur-­Sein im eigenen Haus der inneren Stimmen und Instanzen (Rohr, 2016, S. 13–26; Hammers, 2009, S. 153 f.). Fragen der Selbstführung und der Fähigkeit zur Anleitung von Teams greifen ineinander.

4  Zum Grundverständnis Personzentrierten Coachings Personzentriertes Coaching fokussiert auf das subjektive Erleben im Kontext der eigenen Lebenswelt (Kriz, 2017a, S. 225–228). Die spezifische Bedeutung von Problemkonstellationen wird aus Sicht der Person erfasst. Dieser autonomiefördernde Zugang bringt umweltbezogene Wahrnehmungen und Erfahrungen ins Bewusstsein und macht die darin gesammelten Beziehungserfahrungen sichtbar. Es geht um Rolle und Funktion. Und zugleich sind es konkrete Personen, die in ihren jeweiligen Positionen interagieren. In der Personzentrierten System­theorie sind die vier Wahrnehmungsebenen der (1) körperlichen, (2) psychischen, (3) interpersonellen sowie (4) kulturellen Prozesse in ihren wechselwirkenden Einflüssen in den Blick zu nehmen (Kriz, 2017a, S. 133–208). Diese Arbeit basiert auf der spezifisch auf die Person abgestimmten Personzentrierten Beziehungsgestaltung. Sie ermöglicht der Person, Inkongruenzerfahrungen auf der inneren Bühne ihres Erlebens als ein Grenzgebiet der inneren Gewahrwerdung so tiefgehend zu erfassen, dass bisherige Handlungs- und Verhaltensmuster in ein labiles Stadium gelangen. Die Überstabilität innerer Ordnungsmuster als Ausdruck einer blockierten Aktualisierungstendenz wird gelöst (Burbach, I.1, S. 26 f.). Es wird die Aktualisierung des Selbstkonzepts gefördert, sodass Anpassungs­leistungen an veränderte Rahmenbedingungen möglich werden. Neue Sinnattraktoren bilden sich aus (Kriz, 2017a, S. 123–132). Sie führen zu einem situationsspezifisch angepassten und kongruenten Verhalten. Mit der Aktualisierung neuer innerer Ordnungsstrukturen entwickelt sich das Selbst der Person weiter, sodass sie ihre beruflichen Aufgaben besser bewältigen kann. Die Haltung des Coaches beschreibt dabei die Grundbedingung, um Veränderung aufseiten der ratsuchenden Person zu fördern. Die Person erweitert dadurch ihr Verhaltensrepertoire, indem sie das Haltungsangebot als Modell wahrnimmt und sich aneignet. Sie beginnt ihr Selbstwirksamkeitspotenzial zu entfalten.

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Mit dem Axiom einer organismischen Aktualisierungstendenz wird der Mensch als ein vorwärtsgerichtetes, sich selbst organisierendes System verstanden, das aus sich heraus Motivation und Entschlusskraft zur Realisierung seiner personspezifischen Fähigkeiten entwickelt (T. Kingreen, I.2). Diese ressourcen­ aktivierende Grundtendenz des Menschen ist in dem Wachstumsbild enthalten, das dieses permanent vorhandene Streben beschreibt, »sich selbst zu erhalten, die eigenen innewohnenden Möglichkeiten zu entfalten und sich weiterzuentwickeln« (Maurer, 2013b, S. 212). Um diese Potenziale des Menschen freizulegen, bedarf es der gleichzeitigen Realisierung der drei Grundhaltungen, die Personzentriertem Coaching charakteristisch zugrunde liegen. Die Haltung der Akzeptanz achtet die Diversität menschlichen Seins, Erlebens und Bewertens von Erfahrungen. Empathie versucht die genaue Bedeutung zu erfassen, die dies in der Wahrnehmung des inneren Bezugsrahmens der Person darstellt. Diese Gesprächsführungsvariable der Empathie erlaubt keine Enthaltsamkeit des Coaches. Sie fordert seine aktive Beteiligung am Suchprozess der Person unter Wahrung einer Distanz-Nähe-Haltung, die sich im Modus des »als-ob« realisiert (Burbach, I.2, S. 33). Die Variable der Kongruenz schließlich fordert vom Coach als »stimmig, klarer, offener, transparenter und verlässlicher Partner« (Maurer, 2013b, S. 213) in einen Dialog mit der ratsuchenden Person zu treten. Das gelingende Zusammenspiel aller drei Grundhaltungen ermöglicht ihm, die subjektive Wirklichkeitskonstruktion der ratsuchenden Person zu erfassen und aus diesem Erleben heraus »den zentralen Kern des Problems zu treffen und die für den Klienten bedeutsamsten Problemaspekte zu benennen.« (S. 221) Es soll eine hohe Klärungseffizienz erreicht werden. Darum wird im Personzentrierten Coaching einfühlendes Verstehen als ein verbalisiertes Verstehensangebot bisheriger Inkongruenzerfahrungen realisiert. Die bislang am Rande der Gewahrwerdung auftauchenden Erfahrungen und Wahrnehmungen, die zuvor im Selbst keine Rolle gespielt haben, werden dem Selbstkonzept der Person zugänglich und damit potenziell als Handlungsmöglichkeiten erschlossen. Kognitionen, Elaborationen und eine Experimentierfreudigkeit für Verhaltensvarianten verstärken sich gegenseitig und schaffen alternative Wahrnehmungsszenarien, die die Person von sich, den Möglichkeiten ihrer Rolle und den Erwartungen des Systems sowie auch seiner Erwartungen an das System entwickelt. Auf dem Weg zu einem kongruenten Selbsterleben kommt dem Inkongruenzerleben eine diagnostische Qualität zu. Es lassen sich drei Formen der Inkongruenzen unterscheiden (Speierer, 2006, S. 104): (1) Eine Innen-Außen-Konfliktinkongruenz als Spannung von Selbstkonzept und aktueller Erfahrung (T. Kingreen, I.2, S. 54 f.); (2) eine Innen-Innen-­

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Konfliktinkongruenz als Spannung zweier Selbstkonzeptanteile (Burbach, I.1, S. 27 f.) sowie (3) Stressinkongruenzen als überwältigende Erfahrungen, die das Selbst aktuell bedrohen. Zu letzterem gehören auch Inkongruenzen durch überfordernd erlebte Umgebungsbedingungen. Diese drei Inkongruenzformen lassen sich weitergehend nach ihren jeweiligen Inkongruenzquellen unterscheiden als »lebensereignisbedingt«, »sozialkommunikativ« oder »dispositionell« sowie daraufhin befragen, auf welcher Systemebene von Person, Rolle und Organisationszugehörigkeit sich diese Inkongruenzdynamiken darstellen (Maurer, 2013b, S. 222). Inkongruenz wird in dieser Differenzierung der drei Ebenen mit ihren jeweiligen drei Ausbildungsformen zu einem wichtigen Navigationsinstrument, das die Selbstbestimmung der Person weiterhin in den Mittelpunkt rückt. Die organismische Erfahrung der Person als Quellcode (T. Kingreen, I.2, S. 60–62) bleibt dabei eine Lösung gebende Instanz. Wird Coaching aus entwicklungsbezogenem Anlass aufgesucht, so wird weitergehend auch das triadische Feld beruflichen Handelns (Rappe-Giesecke, 2008, S. 55–76) dahingehend betrachtet, auf welchem Feld von (1) Person, (2) Funktion und (3) Laufbahn sich die Aktualisierung des Selbst im Entwicklungsmodus bewegt und wo Erhaltungsdynamiken des Selbstkonzepts Entwicklungen bislang blockieren. Personzentriertes Coaching nutzt weitergehend auch Methoden und Testverfahren (Kingreen, 2017). Sie werden als elaborationsfördernde Selbstwahrnehmungshilfen eingesetzt mit dem Ziel, Problemlagen genauer zu erkennen und personspezifische Lösungsmöglichkeiten präzise zu ergründen. Personzentriertes Coaching in der Personalberatung der Kirche fördert die Personenwahrnehmung des Personals im System sowie die Personalwerdung der Person in ihrem System. Die Person und ihre Kompetenzen werden sichtbar. In ihrem Autonomieüberschuss bleibt die Person mit dem System nicht verrechenbar. Das System wiederum kommt im Personzentrierten Coaching in Szene, wird lebendig und dadurch als eigener Organismus gewürdigt. Es bleibt gegenüber den Individualinteressen der einzelnen Akteure eine eigene Größe, die für sich gewürdigt werden will. Die Kundenperspektive wird gestärkt, indem sie als eine Erlebensqualität erschlossen wird. Abschottungs- oder Selbstbeschäftigungstendenzen von Organisation und Personal erhalten im Personzentrierten Coaching durch diese belebende Dreieckserfahrung von Person–System–Umwelt ein attraktives Modell, das alle Potenziale wieder nach vorne ausrichtet.

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 Personzentrierte Supervision – Kongruenz in der Arbeitswelt

Michael Schlechtriemen

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Personzentrierte Supervision berät Menschen in ihren beruflichen Bezügen, Problemen und Herausforderungen mit dem Ziel zur »authentischen, menschengerechten und emanzipatorischen Gestaltung der Arbeitswelt der betroffenen Personen, Teams und Organisationen« (Schmid, 2000, S. 15) beizutragen. Supervision ist ein Beratungsformat an der Schnittstelle von Person und Organisation und hat die Person im Beruf, die Person in ihrer beruflichen Rolle und ihrem beruflichen Auftrag im Fokus. Frenzel (2000, S. 37) meint in diesem Zusammenhang, die Kennzeichnung unseres supervisorischen Arbeitens im organisationsbezogenen Kontext als Personzentriert »ist nicht sehr hilfreich, weil hier sprachlich der Verdacht nahegelegt wird, man würde den tatsächlich kapitalsten Fehler supervisorischer Arbeit systematisch begehen: die psychologische Individualisierung problematischer Prozesse im Organisationsgefüge unter Missachtung der enormen Bedeutung sozialer und orga­nisationaler Einflussfelder.«

Personzentriert ist also keinesfalls mit individuumzentriert gleichzusetzen. Vielmehr lässt sich die Person nur in ihrer sozialen Bezogenheit, in ihrer Eingebundenheit in die Prozesse ihrer Organisation begreifen. In der supervisorischen Arbeit bedeutet dies, die Reflexion der Erfahrung der Person im beruflichen Feld mit sich, ihrem Kollegenkreis und in ihrer Organisation.

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1 Personverständnis und das Personzentrierte Beziehungsangebot Personzentrierte Supervision basiert auf einem Humanistischen Menschenbild, welches die Person versteht in ihrem Streben nach Aktualisierung, Entwicklung, Selbstbestimmung und Freiheit einerseits und ihrem Angewiesen- und Verwiesensein auf ein Gegenüber andererseits. Dies hat »zur Formulierung des Personzentrierten Axioms geführt, in dem die Dialektik von Selbständigkeit und Beziehungsangewiesenheit festgehalten ist: Dass der Mensch die Fähigkeit und Tendenz zur Entwicklung in sich selbst trägt, er aber der Beziehung bedarf, damit diese Entwicklung tatsächlich stattfinden kann.« (Schmid, 2000, S. 19)

Dementsprechend begegnen Personzentrierte Supervisorinnen ihren Supervisanden mit einem spezifischen, klar definierten Beziehungsangebot, das die Selbstklärungsfähigkeit des Supervisanden maximal begünstigt: Sie haben Respekt, Wohlwollen und Annahme für ihre Supervisandin. Diese wertschätzende Grundhaltung Menschen gegenüber, die sich mit ihren beruf­ lichen Fragen, Herausforderungen und Konflikten einbringen, schafft ein angstfreies und entwicklungsförderliches Klima. Der Supervisor ist gewillt, die Supervisandin von ihrem inneren Bezugsrahmen her, ihrer beruflichen Rolle in ihrer institutionellen Situation zu verstehen. Mit ihrer Kompetenz zum vertieften Verstehen unterstützen Personzentrierte Supervisoren die Exploration des tieferen Erlebens der Supervisandin. Sie verhelfen ihr so zu einem Verstehen und Akzeptieren ihrer selbst im beruflichen Kontext. Die Personzentrierte Supervisorin möchte ihrem Supervisanden ein präsentes und authentisches Gegenüber sein. Sie macht sich dem Supervisanden gegenüber in geeigneter Weise transparent, bringt sich ein. Sie teilt dem Supervisanden eigene emotionale Resonanzen, Beobachtungen und Gedanken auf ihn und seine Thematik mit. Damit bekommt die Beziehung zwischen Supervisand und Supervisorin eine herausragende Bedeutung, sie stimuliert Selbstklärungs- und Problemlösekompetenz des Supervisanden. So formulieren Barg und Kunze-Pletat (2017, S. 6): »Durch die kongruente nicht an Bedingungen geknüpfte, ausdrückliche Beachtung und empathische Einstellung, mit der der/die Supervisor/in mit den Super­visanden in Beziehung tritt, entsteht potentiell ein Klima der Veränderungssicherheit, in dem diesen auch schwierige Reflexions-, Klärungs- und Veränderungsschritte ermöglicht werden.«

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Dabei gilt, dass das Personzentrierte Beziehungsangebot des Supervisors eine verinnerlichte Einstellungsqualität in seinem Selbstkonzept sein muss. Diese drei Grundhaltungen der Personzentrierten Supervisorin werden gerne als Gegenwärtigkeit zusammengefasst, und diese beruht auf einem Grundvertrauen in die Person im Beruf, deren konstruktive Tendenz zur Aktualisierung wirksam werden wird, wenn nur geeignete Beziehungsbedingungen vorhanden sind.

2  Die Themenfelder und Reflexionsebenen in der Supervision

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Das Themenspektrum supervisorischer Reflexion und Arbeit beschreibe ich in fünf Kategorien: ȤȤ die Person des Supervisanden im Beruf, z. B. was ihn in diesen Beruf geführt hat, eigene Anteile an beruflichen Problemen, seine Arbeitsauffassung, seine Berufsidentität, Fragen des Selbstmanagements und der Work-Life-­ Balance … ȤȤ die Berufsrolle der Supervisandin, z. B. Rollenerwartungen, Kompetenzen und Anforderungsprofile, ihre Position im Gesamtgefüge der Organisation, der berufliche Auftrag, Fragen rollenangemessenen Handelns … ȤȤ die berufliche Interaktion, z. B. berufliche Beziehungsgestaltung, Team­ dynamik, berufliche Konflikte mit Kolleginnen, Vorgesetzten, Mitarbeiterinnen … ȤȤ die Klienten (Fallsupervision) oder Kunden der Supervisandin, z. B. vertieftes Verstehen des Klienten-/Kundensystems, Entwickeln angemessener Interventionen … ȤȤ institutionelle Rahmenbedingungen z. B. die Struktur der Organisation, Organigramm, Workflows, Ressourcen, Organisationskultur, Ziele und Leitbild der Organisation … Die Anliegen der Supervisandinnen werden sich in diesen fünf Themen­feldern einordnen lassen, zugleich dienen diese auch als Reflexionsebenen für die Bearbeitung der Probleme und Fragen der Supervisanden. Berufliche Probleme können wir gleichermaßen auf der Personebene, als Rollenfrage, auf der Ebene kollegialer Interaktion und auch auf der organisationalen Ebene betrachten, und Supervision wird durch diese mehrdimensionale Betrachtung dem Anliegen der Supervisandinnen erst gerecht. Wenn auch je nach Fragestellung die Akzente und Schwerpunkte verschieden liegen mögen, so bedarf eine qualitativ gute Supervision dieser Mehrperspektivität.

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3 Personzentrierte Supervision als interdisziplinärer Klärungsprozess Dieser weitgesteckte Rahmen macht es notwendig, die beraterische Grundorientierung von Supervisoren durch Theorieelemente des systemischen Ansatzes, der Betriebswirtschaftslehre, der Managementtheorien, der Organisations­ psychologie und -soziologie zu erweitern. Fortmeier (2017, S. 9 f.) sieht mit Blick auf die therapeutischen und beraterischen Schulen »keines, das in der Lage wäre, allein eine hinreichend komplexe konzeptionelle Antwort auf die Anforderungen und beraterischen Herausforderungen in der Arbeitswelt geben zu können. Aber gepaart mit weiterem Wissen, reflektierter Erfahrung und Analyse- und Handlungsfähigkeiten, die aus den Sozial- und Arbeitswissenschaften sowie der Psychologie abgeleitet sind, kann der Blick sich weiten.«

Das organisationale Umfeld der Supervisandin lässt sich nicht durch Selbstexploration klären. Hier braucht es ein distanziertes reflexives Betrachten organisationaler Rahmenbedingungen. Gerade die unvoreingenommene Außenperspektive des Supervisors kann zu neuen Einsichten, Perspektiven und Sichtweisen führen. Und gegebenenfalls kann auch die Erfahrung der Supervisorin hilfreich sein bei der Konzipierung eigenen Vorgehens in einer schwierigen beruflichen Situation. Jedoch möchte der Personzentrierte Supervisor die Supervisandin als wesentliche Prozessgestalterin und Prozesseignerin ernst nehmen, denn damit wird es der Supervisandin möglich, sich selbst in ihrer Verantwortung und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Auf diese Weise kann sie die für sie passenden Veränderungsschritte herausfinden und gehen, an die eigene Kompetenz glauben lernen und sie weiterentwickeln. Gerade darin besteht ja das wesentliche Ziel von Supervision, nämlich der (Wieder-) Gewinnung der eigenen Handlungsfähigkeit: sie soll ja lernen, der eigenen Kompetenz und der eigenen Wahrnehmung zu trauen und eine kritische Distanz zu Fremdurteilen und Fremdeinschätzungen zu gewinnen.

4 Wie geht eine Personzentrierte Supervisorin in der Regel vor? So, wie am Beginn des Supervisionsprozesses ein klarer Auftrag, das Ziel und ein dementsprechender Rahmen für den Supervisionsprozess erarbeitet wurde, mag am Beginn der einzelnen Sitzung normalerweise eine Anliegensklärung

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stehen. Was beschäftigt den Supervisanden derzeit beruflich, was möchte der Supervisand heute bearbeiten und klären? Die Personzentrierte Supervisorin folgt den Fragestellungen und Klärungswünschen des Supervisanden. Dieser ist der Themengeber, er wird als Fachmann in eigener Sache angesehen: im Tiefsten weiß er am besten über sich Bescheid, kann selbst überprüfen, was er braucht und ob erarbeitete Lösungen sich für ihn und seine Situation derzeit als stimmig anfühlen. Dies gilt als entscheidendes Qualitätskriterium für gelungene Supervision: die gefühlte Stimmigkeit. Gefühlte Stimmigkeit schließt auch die Angemessenheit und Passung seines beruflichen Handelns bzgl. seines beruflichen Auftrags, seiner Rolle, seiner kollegialen Bezüge, seiner Kunden, sowie seiner Organisation mit ein. Für den Supervisanden kann es sehr wertvoll und bedeutsam sein, in einer komplexen beruflichen Situation auf diese Weise Klärungshilfe zu erleben, sich seiner selbst vergewissern zu können, mit sich selbst in Übereinstimmung zu kommen. So richtet sich der Blick der Supervisandin einerseits nach innen: In Introspektion und Selbstexploration klärt und begreift sie sich in ihrer beruflichen Situation, ihrem Erleben, ihrem Selbstkonzept. Hier kommt sie sich näher und wird sich klarer. Hier kann sie eigene blinde Flecken ausleuchten, ihre Anteile an beruflichen Problemen explorieren und erkennen, ihre Inkongruenzen im beruflichen Arbeiten wahrnehmen und bearbeiten. Andererseits richtet sich ihr Blick nach außen auf die Klärung äußerer kollegialer und institutioneller Bezüge ihres beruflichen Felds. Für ihr zukünftiges angemessenes berufliches Handeln sind die eigene Kongruenz sowie das Verstehen der Interaktionspartner und die Klärung der Rahmenbedingungen gleichermaßen bedeutsam. Supervision fragt danach, wie die Organisation im Erleben des Supervisanden wirkt, was wie im Rahmen seiner Rolle und seines Auftrags getan werden soll und kann und wie das eigene Handeln gut auf das kollegiale und institutionelle Umfeld abgestimmt werden kann. Auf dieser Grundlage kann er Lösungen entwickeln, nächste Schritte klären und professionell wachsen. Im Personzentrierten Sinne wird Berufsarbeit als ein spezifischer Ausdruck der Selbstaktualisierung einer Person verstanden. Diese Selbstaktualisierung gelingt im Arbeitsalltag mehr oder weniger. Supervision will dazu beitragen, die einschränkenden Faktoren aufzuspüren und zu bearbeiten. Dabei soll Super­ vision die Supervisandinnen anregen, einen Weg zu finden, zwischen dem reflektierenden Innehalten (die berufliche Erfahrung in Zeitlupe anschauen) und dem Erarbeiten von (schnellen) Lösungen, um den Handlungsdruck zu verringern. Gerade der Personzentrierte Ansatz bietet den Supervisanden einen wissenschaftlich fundierten, reflektierten und weitreichend erprobten Kommunikations- und Beziehungsrahmen an für vorurteilsfreie Betrachtungen.

Personzentrierte Supervision – Kongruenz in der Arbeitswelt

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Supervision zielt in diesem Sinne auf die Aktivierung von Ressourcen im Supervisanden, in den Klientinnen, Kunden, im Team und in der Organisation. Für die wichtigste Ressource in Personzentriertem Verständnis gilt die Selbstklärung und Selbstvergewisserung der Supervisanden. Wenn Supervisanden in guter Verbindung mit sich selbst stehen, über ein hohes Maß an Kongruenz verfügen, können sie auch ihr ganzes Potenzial nutzen zur Bewältigung der jeweiligen beruflichen Situation.

5  Personzentrierte Gruppen- und Teamsupervision Die Veränderungswirksamkeit einer Personzentrierten Gruppensupervision schätze ich als hoch ein. Die Erfahrung des Gruppen- und Teammitglieds in der Klärung seines Themas, in einem wertschätzenden, verstehenden und authentischen Klima ist bereichert durch die Gegenwärtigkeit mehrerer Kolleginnen. Jeweils einzelne Gruppenmitglieder bringen sich als Themengeber ein, der Personzentrierte Supervisor regt, über sein Beziehungsangebot dem Einzelnen und der Gruppe gegenüber hinaus, die Gruppe an, (verstehende) Resonanz auf den Protagonisten zu geben. Damit nutzt der Supervisor das Potenzial der Gruppe zur Klärung der Themen des Einzelnen. Und während die Einzelne mithilfe der Gruppenmitglieder sich und ihr Thema klärt, können alle Gruppenmitglieder an der Klärung der Einzelnen teilhaben und ihre Klärung auch für sich selbst nutzen. So können wir in Gruppen- und Teamsupervisionen nicht nur das professionelle Wachstum der Einzelnen beobachten – es scheint oft, wie wenn die ganze Gruppe, das ganze Team einen Entwicklungsprozess vollzieht. In der Teamsupervision stehen oft vor allem das Zusammenspiel und die kongruente Kommunikation und Interaktion der Teammitglieder in Bezug auf die zu leistende Aufgabe im Fokus. Wichtig ist daher hier zu beachten, dass Exploration in der Teamsupervision nicht nur den Selbstklärungsprozess einzelner Teammitglieder bzgl. ihres eigenen Erlebens (im Team) braucht, sondern darüber hinaus wird auch das Team angeregt, Teamdynamik und Zusammenspiel aller miteinander zu erforschen und zu verstehen. Teamprozesse werden im verstehenden Blick aller auf das Team begreifbarer. Der Supervisor regt alle Teammitglieder an, eine Teamdiagnose miteinander zu entwickeln, indem die unterschiedlichen Perspektiven und Erlebensweisen zusammengetragen und ausgetauscht werden. So entwickelt sich das Team in individueller und gemeinsamer Selbstklärung. Personzentriertes supervisorisches Arbeiten mit Einzelnen, in Gruppen und Teams lässt sich auch als Kommunikationslernen betrachten, stellen doch

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die Beraterhaltungen einen hilfreichen Ansatz zur Förderung wirkungsvoller Kommunikation in Organisationen dar. Empathie, Kongruenz und Wertschätzung sind Grundpfeiler einer förderlichen Unternehmenskommunikation, fördern das Lernen der Organisation, steigern die Intelligenz und Motivation der Gruppe, führen zur Freisetzung des Potenzials der Mitarbeiterinnen, reduzieren kollektive Abwehrmechanismen, Entscheidungsautismus und Kommunikationsbarrieren.

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 Personzentrierte Organisationsentwicklung – ein Werkstattbericht aus einem Organisationsentwicklungsprozess

Christin Hemeier

1 Vorbemerkung Dieses Kapitel widmet sich der Personzentrierten Beratung in Organisationsentwicklungsprozessen (kurz OE-Prozess) und der Frage, wie die Organisationsentwicklerin die Haltung des Personzentrierten Ansatzes (PzA) nach Rogers nutzt. Dieser Ansatz wird an einem aktuellen OE-Prozess dargestellt, um zu zeigen, wie externe Beraterinnen, Trainerinnen und Coaches Rogers’ Grundhaltungen in ihre Arbeit übersetzen. Zentrale Muster und konkrete Methoden aus Training, Coaching und Teamentwicklungsmaßnahmen werden hinsichtlich ihrer Grenzen und Möglichkeiten im Personzentrierten Rahmen diskutiert. Es handelt sich bei dem hier betrachteten OE-Prozess um die Etablierung einer neuen Führungs- und Zusammenarbeitskultur bei einem öffentlich-rechtlichen Dienstleister. Aus diesem beispielhaften Prozess, der aus verschiedenen Elementen wie Training, Workshop und Coaching besteht, resultieren Leitideen für die Arbeit mit dem PzA in Organisationen.

2 Die vier Wirkebenen des Personzentrierten Ansatzes in der Organisationsentwicklung Die Praxis der OE zeigt, dass eine entsprechend ausgebildete Trainerin, Coach oder eine Moderatorin den PzA nach Rogers in seiner Haltung und seinem methodischen Ansatz aktiv leben und einsetzen kann. Der PzA wird nicht in »Reinform« in der Organisationsentwicklung genutzt, doch finden sich wesentliche Grundzüge auf verschiedenen Ebenen wieder, die im Folgenden als vier Wirkebenen zusammengefasst vorgestellt und exemplarisch in den konkreten Prozessen der OE erläutert werden. Diese Wirkfaktoren wurden demnach aus der Beobachtung der Praxis der Personzentrierten Organisa-

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Christin Hemeier

tionsentwicklerinnen zusammengetragen und sind wissenschaftlich für diesen Einzelfall valide1. Ebene der inneren Haltung

Die Ebene der inneren Haltung zur Personzentrierten Herangehensweise beschreibt die implizite Grundhaltung der Moderation. Die Organisationsentwicklerin hat diese Grundhaltung im Rahmen einer zertifizierten Aus- und Fortbildung erworben und fühlt sich den Prinzipien Rogers’ – Empathie, Wertschätzung, Kongruenz – im Rahmen der Arbeit, der persönlichen Herangehensweise und der Orientierung am Humanistischen Menschenbild verpflichtet. Eine Personzentrierte Beratung führt durch die Form des Fragens und Verbalisierens dazu, dass Lösungen im OE-Prozess von den Beteiligten idealerweise selbst gefunden werden. Die Organisationsentwicklerin hilft beim Sortieren, stellt weiterführende Fragen, spitzt zu und bringt behutsam und immer wertschätzend Sachverhalte auf den Punkt.

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Inhaltliche Ebene

Auf der Grundlage der skizzierten inneren Haltung der Personzentriert wirkenden Organisationsentwicklerin, geht es auf inhaltlicher Ebene um die Verankerung des PzA in der OE-Maßnahme. Rogers Haltung und seine Form der Gesprächsführung wird in Zügen Teil des Curriculums, um eine wertschätzende, einfühlende Kommunikation mit der Kollegin, dem Kunden oder der Mitarbeiterin zu entwickeln. Methodische Ebene

Die Personzentrierte Organisationsentwicklerin agiert methodisch in besonderer Weise über die Form der Rückmeldungen, die Vorstellung der Arbeitsweisen im Training sowie die methodische Herangehensweise. Hierzu gehören Instrumente wie: ȤȤ Möglichkeiten zur Selbsterfahrung vs. theoretischer Input, ȤȤ Einsatz echter Fallbeispiele aus der Praxis der Teilnehmer, ȤȤ konstruktives Feedback, ȤȤ lösungsorientierte Form der Rückmeldung unter den Teilnehmerinnen: »Ich wünsche mir in einem nächsten Gespräch … von Dir!« ȤȤ zukunfts- und lösungsorientiertes Fragen: »Wo sehe und wünsche ich Verbesserungen?« vs. »Was läuft schief?« 1 Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle meinem geschätzten Kollegen Dr. Albert Siepe, der seinen Erfahrungsschatz als Personzentrierter Organisationsentwickler für diesen Buchartikel mit mir teilte.

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Kulturelle Ebene

Auf der kulturellen Ebene tritt die Personzentrierte Organisationsentwicklerin wertschätzend auf und »übersetzt« die Grundhaltungen Rogers’ für die Arbeit der Teilnehmerin, z. B. der Führungskraft: »Wichtig ist, dass Sie Ihrer Mitarbeiterin zuhören, dass Sie sich einfühlen.« Dies findet sich schlussendlich im Leitbild der Organisation wieder. Dabei geht es insbesondere darum, die Ziele und die Personzentrierte Haltung von Rogers inhärent zu vermitteln und als Haltung von Führungskräften in Form von Leitbildern zu verankern.

3 Der Personzentrierte Ansatz im exemplarischen Organisationsentwicklungsprozess Startschuss des OE-Prozesses im öffentlich-rechtlichen Dienstleistungsunternehmen bildete das Coaching der Geschäftsführung. Ziel dieses Coachings war die Begleitung und Beratung in einer außerordentlich kritischen Startphase der Tätigkeit. Führungs- und Mitarbeitersituationen sowie Organisationsprozesse erlebte die Geschäftsführung als absolut »desolat«. Aus diesem Coachingprozess entwickelten sich verschiedene Veränderungsprozesse, um das Unternehmen und die Mitglieder im Rahmen einer komplexen OE zu verbessern. Dabei ging es neben der Etablierung einer nachhaltigen Führungsund Zusammenarbeitskultur auch darum, die Arbeits-, Ablauf- und Kontroll­ prozesse zu reorganisieren. Der OE-Prozess bezog sich auf alle Ebenen und Abteilungen der Organisation. In einer ersten Maßnahme waren die alten und neuen Abteilungs­leiterinnen (AL) in Führungsworkshops eingebunden. Dieser AL-Kreis hat mittlerweile in drei Workshops grundlegende Rahmenbedingungen zur Führung, Zusammenarbeit sowie zu den organisatorisch-institutionellen Abläufen im Unternehmen festgelegt und implementiert. Parallel fanden begleitende Coachings der drei neuen Team- und Abteilungsleiterinnen statt. In einer anderen Abteilung gab es handfeste Konflikte innerhalb des Führungs- und Mitarbeiter­kreises, welche im Rahmen eines Konfliktworkshops und einer Mediation bearbeitet wurden. Nach Besetzung aller Führungspositionen fand im Sommer 2017 eine Klausurtagung statt. Die Ebenen der Abteilungsleitung und der Teamleitung sowie die Geschäftsleitung waren dabei beteiligt. Es ging in diesem Workshop darum, ein vereinheitlichtes Führungs- und Handlungsverständnis gemeinsam abzustimmen. An ausgewählten Beispielen aus diesem OE-Prozess soll der PzA im folgenden Abschnitt mit seinen Wirkfaktoren illustriert werden.

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Christin Hemeier

Training

In Führungs-, Team- und Kommunikationstrainings ging es u. a. darum, eine Lernerfahrung zu kreieren und durch wertschätzendes, empathisches und echtes – also Personzentriertes – Feedback die Selbstaktualisierung anzuregen. Zum Tragen kommt dieses Feedback und die Anregung zur Selbstaktualisierung in Lernerfahrungen, wie z. B. ȤȤ Rollenspielen an authentischen Praxisfällen ȤȤ Experimenten und Selbsterfahrungen, wie etwa in einem »blind walk« ȤȤ Kollegialer Beratung und Fallbesprechung Die Trainerin eines Führungstrainings im Rahmen einer OE-Maßnahme agiert Personzentriert, indem sie die Gefühle und Emotionen der Teilnehmenden verbalisiert, wenn beispielsweise Führungsideen und -grundsätze zur Diskussion stehen. Exemplarisch ist die folgende Diskussion aus einem Führungs­training:

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Führungskraft:  »Ich glaube nicht, dass man Menschen so führen kann. Das ist naiv. Die brauchen Zuckerbrot, aber die brauchen auch die Peitsche.« Trainer:  »Wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, ist es für Sie wichtig, beides zu haben. Die harte Linie und die weiche Linie. Weshalb ist Ihnen das wichtig?«

In der Trainingspraxis wird diese Form des Gesprächs zwischen Trainerin und Führungskraft auch als Sokratisches Gespräch bzw. M-Kompetenz-Dialog übersetzt. Das M steht hier für die Mäeutik, die Hebammenkunst. Die Einsicht zu einem Sachverhalt wird mithilfe der Lernhelferin »ans Licht gebracht«. Durch Verbalisieren und offenes Fragen der Trainerin wird die Erkenntnis über das neue Lernelement und die Selbstaktualisierung der Teilnehmerin Personzentriert angeregt. Als Trainerin eines am partizipatorischen Leitbild orientierten Führungstrainings lautet der Auftrag, die Führungskraft dazu zu bewegen, ihre Mitarbeiterinnen wertzuschätzen und sie ernst zu nehmen. Im Training kommen alle vier Wirkfaktoren Personzentrierter Arbeit zum Tragen. Coaching

Alle neuen Führungskräfte des sich im OE-Prozess befindenden Unternehmens werden, wie geschildert, zunächst zum Thema Führung und Kommunikation trainiert und anschließend durch drei Coachings in ihrer ersten Führungsrolle und -funktion begleitet. Wenn sich nicht schon aus den beiden voran­ gegangen Trainingsmodulen ein konkreter Beratungsbedarf oder ein Anliegen herauskristallisiert hat, z. B. ein Konfliktthema mit dem eigenen Vorgesetzten,

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dann folgt das sogenannte »100-Tage-Coaching« einem Muster und einem roten Faden. Coaching (1): Bestandsaufnahme mit Anamnese-Fragen wie: Was sind ihre Ziele? Wie lautet ihr Führungs- und Mitarbeiterverständnis? Wie handeln sie als Führungskraft? Wer sind ihre Mitarbeitenden? Welche Aufgaben haben diese? Was sind deren Besonderheiten? Welches sind die größten Herausforderungen in ihrer neuen Rolle? Es ergeben sich in diesem ersten Coaching meist eine Fülle von Themen für die zu coachende Führungskraft. Die Fragen der Coaches lauten beispielsweise: »Wie schaffe ich es die Fülle zu bewältigen und gleichzeitig auf meine Work-Life-Balance zu achten?« Coaching (2): Im Zentrum stehen die Aktualitäten seit dem 1. Coaching-Termin, eigene Erfahrungen und Befindlichkeiten in der Führungsrolle, Fragen zum Verhalten der Mitarbeiterinnen und der eigenen Führungskraft, Team-­ Dynamiken in der Gruppe. Mit dem zweiten Coaching deckt die Coach mögliche Konflikte, sowohl personeller als auch persönlicher Struktur, auf. Im Coaching ergeben sich Perspektiven für eine bessere Kooperation im Team. Konkrete Vorhaben hinsichtlich optimierter Schnittstellen der Zusammenarbeit werden besprochen und Verbesserungsmöglichkeiten diskutiert. Coaching (3): Aktualitäten seit dem 2. Coaching, Fortsetzung und Vertiefung eigener Vorhaben, Reflextion des Gesprächsverhaltens, Stärken-Schwächen-­ Profil der Führungsrolle, Einrichtung eines Coaching-Trouble-Telefons, falls zukünftig akuter Coaching- und Beratungsbedarf entsteht. Wenn es am Ende um die Verankerung in der Praxis geht, kann beispielsweise die Frage im Zentrum stehen, welches Thema und welche Herausforderung für die Coaches in diesem Coaching zentral waren und was sie konkret in ihrer Führungspraxis umsetzen will. Hier empfiehlt sich eine verhaltenstherapeutische Intervention durch die Formulierung konkreter Aufgaben, wie z. B. »Bis zu unserem nächsten Coaching habe ich, um mich vor Überforderung zu schützen, zu drei Personen und aktuellen Anfragen ein verbindliches »Nein« gesagt. Ich werde dann davon berichten, wie es mir dabei ergangen ist.« Ziel ist es, im Coaching die Coachees durch offenes aber auch direktives Fragen in der Exploration wertschätzend zu begleiten und sie bei der Lösungsentwicklung zu unterstützen. Als ein entscheidender Wirkfaktor erscheint hier wiederum die innere Haltung und die methodische Herangehensweise der Coaches.

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Workshop

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Im Workshop befindet sich die Organisationsentwicklerin häufig in einem Rollenmix, da sich Trainingsinhalte, gruppendynamische Prozesse, Beratungssequenzen und konzentrierte Bearbeitung von operativen Fragestellungen abwechseln. Insofern kommen in einem komplexen Workshopverlauf sowohl die Wirkebene der inneren Haltung und kulturellen Orientierung als auch die inhaltliche und methodische Wirkebene der Personzentrierten Organisationsentwicklerin in ihrer jeweiligen Rolle zur Geltung. Gut gestellte Fragen ermöglichen es der Organisationsentwicklerin, möglichst viele Facetten des Veränderungsprozesses in einem Workshop zu thematisieren, um einen konstruktiven Dialog und Erkenntnisprozesse zu eröffnen. Folgende Fragen waren im hier beschriebenen OE-Prozess zentral: ȤȤ Welche Einstellungen und Gewohnheiten stehen unserem zukünftigen Erfolg am meisten im Wege? Welche Einstellungen und Gewohnheiten eröffnen einen positiven Weg in die Zukunft? ȤȤ In welchen Teamsituationen geht es mir richtig gut? In welchen Teamsituationen fühle ich mich allein gelassen? ȤȤ Unter welchen Situationen leide ich am meisten? ȤȤ Was hält mich eigentlich noch in diesem Team? ȤȤ Welche Lösungen und Ideen helfen weiter? Die Moderatorin agiert in einem OE-Prozess jedoch nicht nur als neutraler Prozessbegleiterin, sondern auch situativ durch »eingreifende Moderation«, die – immer wertschätzend und konstruktiv – Dinge auf den Punkt bringt, Ergebnisse festhält und einen Knoten »Fall abschließend« durchschlägt.

4 Schlussbemerkung – Leitideen für die Personzentrierte Organisationsentwicklung Der PzA nach Rogers bietet vielfältige Möglichkeiten, Organisationen und die darin tätigen Menschen mit ihren Rollen und Bedürfnissen humanistisch weiter zu entwickeln. ȤȤ Organisationsberaterinnen nutzen häufig einen »Multi-Methoden-Mix«, um den vielfältigen Herausforderungen einer OE gerecht zu werden. Dabei kommen z. B. soziologische, psychologische, lern-/verhaltenstherapeutische oder systemische Ansätze zum Einsatz. Dem PzA kommt in diesem »Methoden-Konzert« die besondere Bedeutung zu, dessen Werte – Empathie, Wert-

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schätzung, Kongruenz –sowohl in der Haltung der Organisationsentwicklerin als auch in den Inhalten einzubringen. ȤȤ Es kommt letztendlich auf die innere Haltung der Organisations­entwicklerin an, die neben der inhaltlichen, methodischen und kulturellen Wirk­ebene jeweils situativ als Persönlichkeit zum Tragen kommt. Die Grundidee Rogers’ ist nicht immer Kern des Curriculums, aber sie schwingt stets mit. ȤȤ Die zentralen Muster des PzA geben den verschiedenen Prozessen der Organisationsentwicklung eine tiefere Explorationsebene. Trotzdem bleibt ein definierter »roter Faden«, in Form konkretisierender Fragestellungen im Coaching oder auch im Training unerlässlich.

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  »Unmittelbar den Schöpfer mit dem Geschöpf wirken lassen« – Personzentrierte Geistliche Begleitung

Klaus Kießling

1  Weiß der Himmel, was ich auf Erden soll?

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Fragen der Berufung stellen sich nicht nur dann, wenn kirchliche und andere Ämter zur Besetzung anstehen. Fragen der Berufung stellen sich immer dann, wenn die Frage aufkommt, mitunter auf sehr bedrängende Weise, wie sich (m)ein Leben (neu) ausrichten lässt. Der eine mag ausrufen: Weiß der Himmel, was ich auf Erden soll! Die andere aber mag diesen Aufschrei in gezähmter Ungeduld als Frage vorbringen: Weiß der Himmel, was ich auf Erden soll? Denn all meine Gaben, die mir geschenkt sind, habe ich nicht aus mir selbst, und sie können nur leben, wenn ich sie nicht für mich behalte. Mir ist noch gut im Ohr, wie mich eine Kollegin an ihrer Überzeugung teilhaben ließ, dass Gaben immer auch Verpflichtung bedeuteten, und diese Wendung ging mir unmittelbar zu Herzen: Wenn Gaben ein Geschenk und ein Wink des Himmels sind, so bin ich verpflichtet, sie nicht verkümmern zu lassen, auch wenn sie mir und Anderen vielleicht unbequem erscheinen. Diese Einsicht gehört zu meinem eigenen Suchen und zu meiner Berufungsgeschichte. Weitere Einsichten verdanke ich dem Konzilstheologen Karl Rahner. Mit ihm und seiner Erfahrung als Jesuit entstehen Denkwege, die er selbst beschreitet und die sein Suchen lesbar und spürbar werden lassen – auf eindrückliche und noch heute inspirierende Weise. Mit ihm weitet sich der Horizont über Berufungs­geschichten hinaus auf weitere Fragen, wie sie sich Suchenden in Geistlicher Begleitung stellen.

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2 »Haben wir schon einmal gehorcht« – allein um Himmels willen? »Haben wir eigentlich schon einmal die Erfahrung der Gnade gemacht? Wir meinen damit nicht irgendein frommes Gefühl, eine feiertägliche, religiöse Erhebung, eine sanfte Tröstung, sondern eben die Erfahrung der Gnade […]. Kann man die Gnade in diesem Leben überhaupt erfahren? […] Nun sagen uns zwar die Mystiker – und sie würden die Wahrheit ihrer Aussage mit der Hingabe ihres Lebens bezeugen –, daß sie Gott und also die Gnade schon erfahren haben. Aber mit dem erfahrungsmäßigen Wissen Gottes in der Mystik ist es eine dunkle und geheimnisvolle Sache, über die man nicht reden kann, wenn man sie nicht hat, und nicht reden wird, wenn man sie hat.« (Rahner, 1964, S. 105)

Und weiter fragt Rahner: »Haben wir schon einmal gehorcht, nicht weil wir mußten und sonst Unannehmlichkeiten gehabt hätten, sondern bloß wegen jenes Geheimnisvollen, Schweigenden, Unfaßbaren, das wir Gott und seinen Willen nennen?« (S. 106) Solche Fragen stellen sich in Geistlicher Begleitung – und damit in einem Setting, dessen Bezeichnung aus den evangelischen Kirchen stammt (Greiner, Noventa, Raschzok u. Schödl, 2007; Schemann, 2014) und dort das Hören und Begleiten von Sterbenden umfasst. Heute umschreibt Geistliche Begleitung eine Wachstumsbranche – in Zeiten des Wandels von Religion, der sich als Pluralisierung vollzieht, und dies sowohl innerhalb von Religionsgemeinschaften als auch in einer Gesellschaft, die geprägt ist von Multireligiosität und Multikulturalität sowie von einem Nebeneinander religiöser und anderer Lebensorientierungen. Mit dieser Pluralisierung geht eine Individualisierung einher, die Religion nicht mehr als überkommene Bindung in Erscheinung treten lässt, sondern zu einer Frage der persönlichen Wahl werden lässt, die zu treffen durch Geistliche Begleitung möglicherweise erleichtert wird. Doch: Was ist Geistliche Begleitung? In welchem Rahmen findet sie statt, was unterscheidet sie von (anderer) Seelsorge, Psychotherapie und Super­vision? Welche Haltung zeichnet einen Geistlichen Begleiter aus? Auf welche Wirkkräfte setzen sie? Bilden sie eine eigene Profession – oder leben sie eine spezifische Gnadengabe?

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3  Was ist Geistliche Begleitung? Geistliche Begleitung als doppeltes Angebot

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Geistliche Begleitung umfasst ein doppeltes Angebot, Menschen zu unterstützen: sowohl dabei, dass sie ihre eigenen geistlichen Quellen finden, als auch dabei, dass sie Kongruenz entwickeln, dass also genau das nach außen sprudelt, was aus dieser Quelle kommt, und dass es genau so sprudelt, wie es jeder einzelnen Person entspricht. Geistliche Begleitung spürt die Bundesbeziehung zwischen Gott und Mensch auf, der seinerseits auf das Geheimnis des Lebens, auf das beziehungsreiche Leben Gottes als Vater, Sohn und Geist verweist. Geistliche Begleitung geschieht auf einem Weg des Lebens im Heiligen Geist, biblisch im Vollzug von Glauben, Lieben und Hoffen, von Wahrheit und Freiheit, von Frieden und Demut – durch Unterscheidung der Geister, um von unfrei machenden Bindungen frei zu werden für den Anruf Gottes. Geistlich Begleitete versuchen mit auf solchen Wegen Bewanderten das eigene Glaubensleben und den eigenen Lebensglauben wahrzunehmen (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2001; 2014): Welcher Halt trägt mich, welche Haltungen nehme ich ein? Wie zeigen diese sich in meinem Verhalten, wie in meinen Verhältnissen? Wenn mir neue Orientierungen und Impulse zuteilwerden, wie übe ich sie ein, wie lebe ich sie aus? Wie finde ich Vertrauen, dass Entscheidendes in vermittelter Unmittelbarkeit des Wirkens des Geistes geschieht? Dabei sind therapeutische Wirkungen, wie sie aus der Psychotherapie bekannt sind, als Nebenwirkungen willkommen. Umgekehrt kann auch therapeutische Arbeit zu geistlicher Erfahrung führen, freilich ohne sie angezielt oder auch nur erhofft zu haben. Konstitutiv für Geistliche Begleitung sind jedoch nicht ihre Inhalte, sondern die Weise des Umgangs mit denselben. Alles, was sich aufdrängt, kann zur Sprache gebracht und in geistlicher Perspektive wahrgenommen, gehört, erspürt und verkostet werden, wie auch umgekehrt über geistliche Inhalte durchaus sehr ungeistlich oder zeitgeistlich gesprochen werden kann. So kommt es im Rahmen Geistlicher Begleitung immer wieder – gewollt oder ungewollt – zur Konfrontation auch mit traumatischen Erlebnissen, am schwersten erträglich für die begleiteten Personen selbst, aber Hilflosigkeit und Überforderung aus­lösend auch bei Begleiterinnen (Jungers, 2017), sodass sich auf zugespitzte Weise die Frage aufdrängt: Wie viel Psychologie braucht die Geistliche Begleitung? (Bergmann, 2011) Auf welche pastoralpsychologischen Kompetenzen kommt es – sei es gemeinsam mit, sei es im Unterschied zu anderen Settings – in der Geistlichen Begleitung an? (Kießling, 2010)

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Für die Begleiteten selbst bleiben diese Fragen leitend: Welche richtungsweisende Bedeutung kommt dem, was mich bewegt, für meinen Weg zu? Wie erschließt sich mir dadurch das Geheimnis Gottes? Wie lässt es sich umschreiben – wenn nicht mit dem Schlüsselbegriff der von Karl Rahner ins Wort gebrachten Gnade? In dieser Gnade, als diese Gnade wendet sich Gott seinem Volk in Nähe und Treue zu: »Ich bin der ›Ich-bin-da‹. […] Das ist mein Name für immer.« (Ex 3,14 f.) Gnade ist Gottes Zuwendung zu uns Menschen, Jesus Christus ist Gottes Gnade in Person, er stiftet Gemeinschaft mit Gott – durch den Heiligen Geist. Geistliche Begleitung in ihren Rahmenbedingungen

Im Feld Geistlicher Begleitung tut sich ein mannigfaltiges Spektrum von Rahmenbedingungen auf, innerhalb derer sie sich ereignet. Dem hohen Anspruch, das Glaubensleben meines Gegenübers zu fördern, kann ich als Begleiter auf unterschiedliche Weise entsprechen. Im Rahmen von Exerzitien oder von Wüstentagen, während derer Menschen sich ins Schweigen einüben und dem Geheimnis ihres Lebens auf die Spur kommen wollen, bieten Begleitende tägliche Einzel- oder Gruppengespräche an. Im ganz anderen Rahmen von Exerzitien im Alltag finden solche Gespräche einmal pro Woche statt, indem Gleichgesinnte sich in Kleingruppen zusammenfinden, um die Erfahrungen miteinander zu teilen, die sie zwischenzeitlich je einzeln in Zeiten des Gebets, der Tagesrückschau im Gebet, des Jesusgebets oder der Schriftmeditation gesammelt haben. Ganz unabhängig von Exerzitien geschieht Geistliche Begleitung ein- oder zweimal pro Monat – regelmäßig und auf eine bestimmte Zeitspanne hin, insbesondere während spezifischer Lebensphasen und im Umfeld wichtiger Entscheidungen. Es empfiehlt sich, einen Kontrakt zu schließen, der sich etwa auf ein Jahr erstreckt, oft mit der Aussicht auf Mehr, das zu gegebener Zeit ausgehandelt werden muss. Typischerweise handelt es sich im Unterschied zu Seelsorgebeziehungen, die auf ein Alltagsproblem oder einen anderen Konflikt zentriert sind, um vergleichsweise große Zeiträume. Dieser Kontrakt dient auch der Klärung der Fragen nach dem Ort und bei Bedarf der Finanzierung der Begleitung sowie nach der Position des Begleiters – in seiner Unabhängigkeit von den Lebenszusammenhängen und »Beziehungskisten« des Gegenübers. Geistliche Begleitung im Unterschied zu Psychotherapie und Supervision

Begleitende wahren Diskretion und übernehmen Verantwortung dafür, dass Vereinbarungen in Geltung bleiben oder neu getroffen werden, etwa darüber, dass es um Geistliche Begleitung gehen soll und nicht um möglicherweise ohnehin parallel laufende Psychotherapie oder Supervision. Es bedarf einer koopera­tiven Unterscheidung zwischen Geistlicher und anderer Begleitung.

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Psychotherapie ist ein zeitlich eng umgrenztes Handeln von mindestens zwei Personen mit folgenden Rollen: Therapeutin ist eine durch Ausbildung qualifizierte Person, die bewusst zu handeln und ihr Handeln bewusst zu reflektieren vermag; Patient oder Klientin ist eine psychisch leidende und um Hilfe nachsuchende Person; gemeinsame Ziele sind die Minderung oder Beseitigung psychischen Leidens und die Förderung der Entwicklung des hilfsbedürftigen Menschen. Die therapeutische Arbeit erfolgt auf der Basis einer fundierten Theorie; das Handlungs- und Erfahrungswissen psychotherapeutisch Tätiger muss lehr- und lernbar, die Wirkung ihres Tuns nachprüfbar sein. Dagegen ist Geistliche Begleitung anders motiviert und anders ausgerichtet, auch zeitlich und inhaltlich weniger eng umrissen als Psychotherapie. Supervision meint ein Arbeitsverfahren, das der Reflexion professioneller Beziehungen von Menschen sowie der Erweiterung berufspraktischer Kompetenzen dient, also primär Arbeitsbeziehungen fokussiert – und nicht etwa die Gottesbeziehung. Mir fällt auf, dass Menschen derzeit lieber von ihrem Supervisionsbedarf als von ihrem Therapiebedarf sprechen und dass sie eher nach Geistlicher Begleitung als nach Seelsorge fragen. Aus den oben skizzierten Gründen verhalten sich Supervision und Geistliche Begleitung jedoch nicht derart zueinander, wie dies für Psychotherapie und Seelsorge gilt (Kießling, 2002, S. 117–278). Geistliche Begleitung als Seelsorge

Beide Seiten verständigen sich in einem Vorgespräch über Angebot und Nachfrage, also darüber, worum es sich bei ihren Begegnungen handeln kann und soll: um Psychotherapie, um Supervision, um Seelsorge, um Geistliche Begleitung. Wenn Seelsorge sich als ein im größtmöglichen Sinnhorizont, in der Kraft des Heiligen Geistes stattfindendes Geschehen fassen (und darum gerade nicht fassen) lässt, so findet sich die konkrete Anfrage eines Menschen, die er an einen Seelsorger richtet, in einem geistlichen Sinnbezug wieder, der an Geistliche Begleitung denken lässt. Seelsorge und Geistliche Begleitung sind unter den genannten Settings wohl die beiden engsten Verwandten. Strittig ist ihre Zuordnung: Ist Geistliche Begleitung eine spezifische Gestalt von Seelsorge? Ist Geistliche Begleitung Begleitung Geistlicher, also Supervision oder Seelsorge an Seelsorgerinnen? Oder steht Geistliche Begleitung neben der Seelsorge? Auch im engsten Familienkreis sind Differenzierungen unter Verwandten zumindest einen Versuch wert: Seelsorge kommt aus einer spezifischen Not heraus zustande, ist durch eine Problemlage oder ein Leiden veranlasst, dessen Bewältigung zugleich das Ende der seelsorglichen Beziehung ankündigt. Diese ist in ihrer inhaltlichen Zielsetzung und in ihrer zeitlichen Erstreckung

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meist enger gefasst als Geistliche Begleitung; jedoch entwickelt sich Seelsorge in einem Horizont, auf den ganz offenbar auch Geistliche Begleitung setzt. Diese aber ist, vorläufig und vorsichtig formuliert, vielleicht weniger aus einer Not heraus geboren, sondern eher aus einer Notlosigkeit heraus, in der alles im Leben glattzugehen scheint, ohne allerdings den geistlichen Horizont, in dem alles Leben sich vollzieht, auch nur einen Augenblick lang eines Blickes zu würdigen. Was also in der Seelsorge unausgesprochen, implizit bleiben mag, wird in der Geistlichen Begleitung expliziert und als Erschließung der Gottesbeziehung thematisiert – mit einer Wachsamkeit und Aufmerksamkeit (Bäumer u. Plattig, 1998), die einer schläfrigen Notlosigkeit diametral entgegensteht und -wirkt. Verstehe ich aber Seelsorge im Vollsinn ihres Wortes, zum einen die Seele im umfassenden Sinn der sprichwörtlichen Menschenseele, die auf manchen ihrer Wege keine andere trifft und sich mutterseelenallein fühlt, und zum anderen die Sorge als Grundphänomen menschlichen Daseins (Heidegger, 1926/1986, S. 191 ff.), so erscheint auch Geistliche Begleitung als Seelsorge, durchaus mit eigener Tradition: Wer darum bittet, betritt den Weg einer Neugeburt aus dem Glauben, begleitet von einer geistlichen Mutter, einem geistlichen Vater.

4  Geistliche Übungen in Personzentrierter Haltung Eine Personzentrierte Haltung kommt Prozessen Geistlicher Begleitung sehr zugute (Zuska, 2009). Meine Akzeptanz desjenigen, der um Begleitung nachfragt, bedeutet nicht, dass ich alles gutheiße, was er mitbringt; Akzeptanz bedeutet mir aber, dass ich dem Umstand Respekt zolle, dass mein Gegenüber als Frau, als Mann Verweis auf das Geheimnis Gottes ist. Mitgehen erfolgt in Treue, nicht aber treudoof, es schließt vielmehr Konfrontationen ein, beispielhaft deutlich auf dem Weg der beiden Emmausjünger, zu denen ein Dritter sich gesellt und spricht: »Begreift ihr denn nicht? Wie schwer fällt es euch, alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben?« (Lk 24,25) Und zeigt nicht schon die Auseinandersetzung der beiden Jünger mit ihren eigenen Erfahrungen, dass es keine Erfahrung gibt, die uns so real berührt wie jene, die aus unserer eigenen Wirklichkeit emporsteigt und uns widerfährt? Geistliche Übungen des Ignatius von Loyola

In Geistlicher Begleitung hat weder der eine, der begleitet wird, noch die andere, die Personzentriert begleitet, Zugriff auf das Wirken des Geistes. Gesprächsführung zu lernen heißt vielmehr, sich dem Dritten anzuvertrauen, auf die

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Führungskraft des Geistes zu setzen – und damit zugleich die Gefahr zu bannen, dass Führer und Geführte zu Verführern und Verführten werden: »Der die Übungen gibt« – von einem Meister oder Führer ist hier nicht die Rede –, »darf nicht den, der sie empfängt, mehr zu Armut oder einem Versprechen als zu deren Gegenteil bewegen noch zu dem einen Stand oder der einen Lebensweise mehr als zu einer anderen«, so heißt es in den »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola (1491–1556), in deren Horizont sich viele Konzepte Geistlicher Begleitung einbetten lassen. Beim Suchen des göttlichen Willens erscheint es »angebrachter und viel besser, daß der Schöpfer und Herr selbst sich seiner frommen Seele mitteilt […]. Der die Übungen gibt, soll sich also weder zu der einen Seite wenden oder hinneigen noch zu der anderen, sondern in der Mitte stehend wie eine Waage unmittelbar den Schöpfer mit dem Geschöpf wirken lassen und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn.« (Ignatius von Loyola, 1544/2003, Nr. 15)

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Es geht darum, dass geistliche Übungen Menschen für die Gnade Gottes disponieren und »jede Weise« bezeichnen, »die Seele darauf vorzubereiten und einzustellen, um alle ungeordneten Anhänglichkeiten von sich zu entfernen und nach ihrer Entfernung den göttlichen Willen in der Einstellung des eigenen Lebens zum Heil der Seele zu suchen und zu finden« (Nr. 1).

Geistliche Übungen in doppelter Empathie

Begleitende üben doppelte Empathie (Schaupp, 1994): für die Regungen ihres Gegenübers ebenso wie für die Bewegung und den Willen Gottes. In solcher doppelter Empathie kann ein Begleiter sich fürbittend an Gott wenden, darin solidarisch mit den ihm Anvertrauten und zugleich rückgebunden an Gott und sein Reich. Dies mag den Begleiter davor bewahren, sein eigenes Reich aufzubauen und sich und den Begleiteten das Wirken der Gnade Gottes zu ver­bauen. Begleitete suchen Kongruenz für sich selbst und zuvor bei ihrem Begleiter: im Sinne wirklicher, wirkmächtiger Präsenz, im Sinne einer Macht, die nicht ans Herrschen, sondern an eine Vollmacht denken lässt, die aus eigener Ursprünglichkeit erwächst, aus eigenen Quellen schöpft und sprudelt. Danach sehnen sich Menschen von Anfang an, auch schon in der Zeit der Alten Kirche. Die Apophthegmata Patrum (Pater Bonifatius, 1963), die Sprüche oder Weisungen der Väter, geben einen Einblick in das Leben der Mönche als Wüstenväter und Geistliche Begleiter. Exemplarisch genannt sei Abbas Antonios, der im Jahr 251 oder 252 in Mittelägypten geboren wurde. Die überlieferten Texte zeigen ihn in der Auseinandersetzung mit seinen logismoi, mit Gedanken und

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Einfällen, die ihn in Mutlosigkeit und Verwirrung stürzen; er führt die Demut und die Gabe der Unterscheidung (diakrisis) an, die ihm zu Hilfe kommen. Während er selbst sich im Kampf mit diversen Anfechtungen schult, reift er zum Begleiter heran. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Person verleiht ihm Kongruenz und Kompetenz, für die logismoi eines Gegenübers Raum zu schaffen und dessen Einfällen – die einem nicht nur einfallen, die einen auch überfallen können – mit gleichbleibend ermutigender Aufmerksamkeit (nepsis) zu begegnen. Dies geschieht in der Absicht, dass der begleitete Mensch sich mit all seinen logismoi – ohne eine Vorselektion zu treffen – zeigt und offenbart, bevor die geistliche Gabe der Unterscheidung zum Einsatz kommt. Diese discretio spirituum entwickelt sich in den ignatianischen Exerzitien zu einer Form der Entscheidungsfindung.

5  Geistliche Wirkkräfte: Verlangen, Erinnern, Suchen In Geistlicher Begleitung lassen sich drei Wirkkräfte (Andriessen, 1995, S. 128– 149) ausmachen: das Verlangen, das Erinnern und das Suchen nach Gott und seinem Reich. Alle drei Wirkkräfte können sich auf vierfache Weise zeigen und eine bedürftige, eine begehrende, eine bittende oder eine offene Gestalt annehmen. Als erste Wirkkraft erscheint ein Verlangen, dessen Erfüllung wir nicht als Schatz in uns selbst tragen, vielmehr meint es ein existenzielles Ausgerichtetsein auf Andere und Anderes. Zeigt es sich als bedürftiges Verlangen, so sucht es außerhalb unserer selbst nur eine Verlängerung dessen, was in uns selbst liegt. Im Unterschied dazu fordert ein begehrendes Verlangen ein, was wir deutlich als anderes und als uns fehlend wahrnehmen, etwa eine Gebetserhörung, aber wie die Bedürftigkeit verkürzt das Begehren das Verlangen in seiner Sinnrichtung auf die Verlängerung unserer selbst. So entstehen oft erste Enttäuschungen auf geistlichen Wegen, wenn zwar das Zuschneiden von Geistlichem auf die eigene Bedürftigkeit ein Ende hat, das Begehren aber nicht unmittelbare Erhörung findet. Die Annahme eigener Bedürftigkeit und eigenen Begehrens geht einem bittenden Verlangen voraus: Bittend anerkennen wir Erbetenes als uns Fremdes. Mit dieser Wendung wächst eine Bereitschaft heran, Ersehntes und Erfragtes, auf dessen Entgegenkommen wir angewiesen bleiben, als Geschenk anzunehmen. Schließlich zeigt sich ein offenes Verlangen, wenn wir nicht mehr beherrscht sind von eigener Bedürftigkeit und eigenem Begehren und das Bitten sich in einem oft schmerzhaften Geschehen zu einem andäch­ tigen Warten entwickelt, zu einer Offenheit für das Geheimnis – und für all das, was im Leben ansteht.

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Eine zweite Wirkkraft ist die Erinnerung. Exemplarisch für die bedürftige Erinnerung ist das Murren des Volkes, das lieber zu den sprichwörtlichen Fleischtöpfen Ägyptens (Ex 16,3) zurückkehrt, anstatt den Weg durch die Wüste weiterzugehen. Die begehrende Erinnerung bleibt fixiert auf Vergangenes und Vertrautes, auf die gute alte Zeit. Bittend fragen wir nach der Heutigkeit des Erinnerten, nach seiner gegenwärtigen Relevanz und Präsenz. Offen wird die Erinnerung, wenn beispielhaft der Dritte auf dem Weg nach Emmaus Erinnerungen nicht nur wachruft, sondern den Jüngern in ihrer Bedeutung für heute und morgen erschließt: »Da gingen ihnen die Augen auf« (Lk 24,31). Die dritte Wirkkraft lässt sich umschreiben als Suche nach Gott und seinem Reich. Der oft zitierte liebe Gott mag unserer Bedürftigkeit entsprechen. Als der Begehrte hat Gott unserer Lebensleere abzuhelfen – gefälligst! Ein Gott aber, dem wir uns mit dem Zauberwort »bitte« zuwenden, führt ein Eigenleben, wird uns zum Licht, folgt aber auch unergründlichen Absichten und zeigt in unseren Augen (s)eine dunkle Seite. Unsere Suche mag offen werden für das Geheimnis, unbenennbar und in zahllosen Namen sich offenbarend, unsere Kategorien, etwa von gut und böse, übersteigend. Mit diesen je vier Gestalten lässt sich unsere existenzielle Verfasstheit andeuten, gleichsam der Stand unseres Daseins, auf geistlichen Wegen der Stand der Gnade: Geht es vorwiegend um Bedürftigkeit und Begehren oder um Bitten und offenes Verlangen, Erinnern und Suchen?

6  Ausbildungsgänge zwischen Profession und Charisma Um Geistliche Begleiterin zu werden, braucht es eine Ausbildung (Bundschuh-­ Schramm, 2010; Hundertmark, 2010; Lanfermann, 2010), doch sie allein genügt nicht: Schon die Zeugnisse der Alten Kirche zeigen, dass der eigene geist­ liche Weg eine wichtige Rolle spielt. Hinzu kommt, dass niemand sich zum Geistlichen Begleiter macht, sich allenfalls berufen lassen und von anderen in Anspruch nehmen lassen kann. Nicht nur die Mönche und Wüstenväter des Anfangs, auch Ordensfrauen, weibliche und männliche Laien, Pfarrerinnen, Priester und Diakone können Geistliche Begleiterinnen und Begleiter werden; einige Diözesen bieten Ausbildungen für hauptberuflich pastoral Tätige und gezielt auch für Ehrenamtliche an. Professionalisierung tut not, soll die Qualität Geistlicher Begleitung gesichert werden, und zugleich lauert eine Professionalisierungsfalle. Denn eine Ausbildung vermag Charismen nicht zu ersetzen, sondern vielmehr zu kultivieren. Gnade und Gnadengaben genießen also Priorität, es braucht eine gemäßigte, keine ungnädige Professionalität. »Zum

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›Mühen‹ um dieses Charisma gehört, daß der Begleiter selber in einer Begleitung steht und daß er sich theologisch wie auch psychologisch weiterbildet.« (Schneider, 2000, S. 79) Dank einer empirischen Untersuchung auf der Basis von Interviews mit in Geistlicher Begleitung engagierten Frauen und Männern lassen sich nicht nur die Wirkweisen ihrer Tätigkeit konturieren (Wagener u. Kießling, 2010a), vielmehr wird auch deutlich, dass Geistliche Begleitung pastoralpsychologischer Kompetenzen bedarf, die in der Ausbildung einen zentralen Platz beanspruchen. In einer weiteren Studie (Wagener u. Kießling, 2010b), die nicht den Begleitenden, sondern jenen Menschen galt, die solche Angebote wahrgenommen haben und weiter in Anspruch nehmen, erachten die dabei Befragten die in der Geistlichen Begleitung geübte Konzentration auf ihre Gottesbeziehung als hoch bedeutsam: Auch wenn zwischenmenschliche Beziehungen hier offenbar weniger stark im Vordergrund stehen als etwa in anderen Settings der Seelsorge, scheinen sich diese hintergründig und auf indirekten Wegen gleichwohl spürbar zu verändern – eben über die Umgestaltung der Gottesbeziehung, die in diesem Sinne transformierend wirkt.

7 Was geschieht, wenn ein Mensch auf den sich selbst mitteilenden Gott hört? Geistliche Begleitung, die sich auch in Gruppen vollzieht, arbeitet unter den Bedingungen jener eingangs geschilderten individualisierten Gegenwart genau mit diesen Bedingungen. Darin ist sie der Supervision verwandt. Dabei kommt Geistlicher Begleitung die Aufgabe zu, den Geist des Evangeliums zum Tragen zu bringen. »Aber wir wissen, wenn wir in dieser Erfahrung des Geistes uns loslassen, wenn das Greifbare und Angebbare, das Genießbare versinkt, wenn alles nach töd­lichem Schweigen tönt, wenn alles den Geschmack des Todes und des Unterganges erhält, oder wenn alles wie in einer unnennbaren, gleichsam weißen, farblosen und ungreifbaren Seligkeit verschwindet, dann ist in uns faktisch nicht nur der Geist, sondern der Heilige Geist am Werk. Dann ist die Stunde seiner Gnade. Dann ist die scheinbar unheimliche Bodenlosigkeit unserer Existenz, die wir erfahren, die Bodenlosigkeit Gottes, der sich uns mitteilt, das Anheben des Kommens seiner Unendlichkeit, die keine Straßen mehr hat, die wie ein Nichts gekostet wird, weil sie die Unendlichkeit ist.« (Rahner, 1964, S. 108)

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Schließlich geht es darum, den Geist des Evangeliums nicht in eine spirituelle Nische oder gar in eine muffige Ecke zu zwängen, sondern weltwärts verändernd, auch politisch wirken zu lassen. Denn Gnade, Gottes Zuwendung zu uns Menschen, lässt Gottes Geist in uns und unter uns wohnen. Gnade ist kein Geheimabkommen von Glaubenden mit ihrem Gott, Gnade wirkt vielmehr verwandelnd in einer gnadenlosen Erfolgsgesellschaft, sodass Gottes Reich hervorzubrechen vermag. Weiß der Himmel, was ich auf Erden soll? Die einleitenden Verweise auf die eigene Berufungsgeschichte gelten auch für die Jahre, in denen mich die wachsende Gewissheit bewegte, ein »geheimer« Diakon zu sein, einer, der einen Ruf vernimmt, welcher sich in vielen biografischen Stationen abzeichnete, und sich anschickt oder geschickt weiß, diesen Ruf kundzutun, zu verlautbaren und in der Tat zu übernehmen. Mit den Worten des Jesuiten William A. Barry konzentriert sich Geistliche Begleitung »auf das, was geschieht, wenn ein Mensch auf den sich selbst mitteilenden Gott hört und ihm antwortet« (Schaupp, 2007, S. 19). In der Geistlichen Begleitung, die mein eigenes Suchen unterstützte, warf ich wieder und wieder die Frage auf, wie sich (m)eine Berufung qualifizieren und wie sich gewährleisten lässt, dass mit der Annahme und der Übernahme einer Berufung kein Vorteil einhergeht, der mich diese in Zweifel ziehen ließe. Abschließend kommt nochmals Karl Rahner zu Wort. Geistliche Begleitung unterstützt eine Suchbewegung, die er wie folgt umschreibt: »Suchen wir selbst in der Betrachtung unseres Lebens die Erfahrung der Gnade. Nicht um zu sagen: Da ist sie; ich habe sie. – Man kann sie nicht finden, um sie triumphierend als sein Eigentum und Besitztum zu reklamieren. Man kann sie nur suchen, indem man sich vergißt, man kann sie nur finden, indem man Gott sucht und sich in selbstvergessender Liebe ihm hingibt, ohne noch zu sich selbst zurückzukehren. Aber man soll sich ab und zu fragen, ob so etwas wie diese tötende und lebendigmachende Erfahrung in einem lebt, um zu ermessen, wie weit der Weg noch ist, und wie ferne wir noch von der Erfahrung des Heiligen Geistes in unserem sogenannten geistlichen Leben entfernt leben.« (Rahner, 1964, S. 109)

Teil V

Modelle Personzentrierter Seelsorgeund Beratungs- Aus- und Weiterbildung

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  C  urriculum Personzentrierter Seelsorgeund Beratungsweiterbildung

Dietmar Vogt und Claudia Schubert

1  Herzens- und Verstandesangelegenheit »›Kogong‹ ist das Geräusch, das das Herz macht, wenn man genau hinhört. Der Song handelt von kleinen und großen Dingen, die mir mein Herz gesagt hat, und die ich irgendwie nicht hören konnte. Ich hoffe sehr, dass ich in Zukunft mehr darauf hören kann, vielleicht ist dieses Lied ja mein Anfang.« (Forster, 2017)

Diese Gedanken, die Mark Forster zu seinem Lied »Kogong« geäußert hat, stehen mit grundlegenden Gedanken von Carl Rogers in Verbindung, an denen sich die Personzentrierte Seelsorge- und Beratungsausbildung orientiert. Hör auf dein Herz von Anfang an

Was Fortzubildende mitbringen, was sie bereits können und was sie zum Lernen motiviert Wenn Personzentriert fortgebildete Menschen auf ihren Lernweg zurücksehen und bedenken, was sie bewog, mit der Ausbildung zu beginnen, kommen konkrete Berufserfahrungen in den Blick. Da wollte z. B. eine Gesundheits- und Krankenpflegerin mit schwierigen Patienten angemessener und verständnisvoller umgehen. Eine Pastorin war unzufrieden mit den von ihr geführten Tür- und Angel­gesprächen. Sie suchte für solche Gespräche nach einer einfühlsameren und aufmerksameren Haltung. Ein Pastor entdeckte bei sich nach 500 Beerdigungen ein routiniertes, manchmal auch abgestumpftes Gesprächsverhalten. Das erschreckte ihn und er stellte sich die Frage, wie es ihm gelingen könne die Menschen, die ihm begegnen, wieder als Person und weniger als Fall wahrzunehmen. Eine Heilpraktikerin suchte für die Gespräche mit ihren Patientinnen neue Wege für eine ganzheitliche Begegnung, weil sie merkte, dass ihr bisheriges Gesprächsverhalten das nicht leisten konnte. Ein Krankenpfleger im Hospiz suchte eine Gesprächshaltung, mit der er die im Hospiz lebenden Menschen noch tiefer erreichen und besser verstehen konnte als bisher.

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So bringen also diejenigen, die in Personzentrierter Seelsorge und Gesprächsführung ausgebildet werden, in der Regel viele Kompetenzen und Erfahrungen mit, die sie in verschiedenen Ausbildungen sowie im Berufsalltag erworben haben. Fragen und Grenzerfahrungen tragen sie ein, auf die sie durch ihre bisherige Arbeit gestoßen sind. Sie hören auf ihr Herz und beginnen die Ausbildung, um sich persönlich wie beruflich weiterzuentwickeln.

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Ressourcen- und entwicklungsorientiertes Lernen Die Personzentrierte Seelsorge- und Beratungsausbildung nimmt Ressourcen und Entwicklungswünsche, die die Teilnehmenden der Ausbildung mitbringen, ernst und führt sie weiter, denn Personzentriertes Lernen ist per se entwicklungsorientiert. In der Tradition von Carl R. Rogers weiß man über dieses Lernen, wie entscheidend für jede menschliche Entwicklung die in Kapitel I.1 und I.2 dieses Handbuches beschriebenen Grundvariablen der Personzentrierten Haltung sind. Sie sind konstitutiv nicht nur für jede seelsorg­ liche und beratende Begegnung, sondern auch für alle Begegnungen zwischen Ausbildenden und Auszubildenden. Im Rahmen dieser Haltung kann also Entwicklung geschehen, bei der die als Ressourcen mitgebrachten Erfahrungen und Wünsche bewusst wahrgenommen werden. Sie werden im Rahmen der Ausbildung verbalisiert, gewürdigt und wertgeschätzt, damit sie gegebenenfalls von den Auszubildenden (neu) entdeckt und bei Bedarf weiterentwickelt bzw. modifiziert werden können. Ressourcenaktivierende Übungen haben deshalb einen festen Ort im Curriculum. Die prozessorientierte Kursgestaltung ermöglicht es, die unterschiedlichen Erfahrungen und Ressourcen der Kursteilnehmenden ins Kursgeschehen einzubeziehen sowie bei der Vergabe von Referatsthemen mit zu berücksichtigen. Ein weiteres Charakteristikum des ressourcen- und entwicklungsorientierten Lernens ist, dass dieses Lernen auf mehreren Ebenen geschieht: Theorie und Praxis, Selbsterfahrung und das Erleben und Erlernen von Haltung und Handlungskompetenz sind eng miteinander verbunden. Interdisziplinäres Lernen als umfassende Lebensbezeugung Weil die Personzentrierte Seelsorge- und Beratungsausbildung die verschiedensten Ressourcen und Entwicklungswünsche der Auszubildenden ernst nimmt und weiterentwickelt, ist diese Ausbildung stets auch ein interdisziplinäres Lernfeld. Schon 1978 hielt Lemke (1978, S. 64) fest: »Die Ausbildung […] steht grundsätzlich jedem offen, der im psychosozialen Bereich tätig ist.« Die Treue zu diesem Grundsatz führt bis heute dazu, dass aufgrund der an der Ausbildung Teilnehmenden mannigfaltige berufsspezifische Fragen, Erfahrungen und

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Grundsatzfragen aus unterschiedlichen psychosozialen Berufen Teil des Ausbildungsgeschehens sind. Zu diesen Berufen gehören im kirchlichen Bereich der Beruf der Pastorin, der Beruf des Diakons, der Beruf der Sozialarbeiterin, die pflegerischen und pädagogischen Berufe der Kirche sowie die Studierenden und Auszubildenden, die für diese Berufe ausgebildet werden. Eine interdisziplinäre Reflexion kommt in Gang.

2 Zum Inhalt der Personzentrierten Grundausbildung – die kleinen und großen Dinge, die sich lohnen zu wissen Am Ende der Ausbildung beschrieb ein Teilnehmender sinngemäß in seiner Abschlussdokumentation, wie wichtig es für ihn geworden sei, dass ihm jetzt ein Kompendium mit Lebensthemen aller Art zur Verfügung stünde. Für ihn sei diese Wissensvermittlung neben der Erfahrung und dem Erlernen der Personzentrierten Gesprächshaltung eine große Stärke der Personzentrierten Ausbildung. In ihr sei es nämlich wichtig, hinter den verbalisierbaren Gefühlen die Lebenswelt der Menschen zu erkennen und einordnen zu können. Als Resonanzboden kommen all die kleinen und großen Dinge, die das Herz sagt, in jedem Gespräch mit ins Spiel. Welche Lebensthemen der Menschen Teile der Ausbildung sind, setzen die Ausbildungsrichtlinien fest, die sich an den Standards der »Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung e. V.« (GwG) orientieren. Derzeit umfassen die Theorieeinheiten Themen wie die Grundvariablen professioneller Personzentrierter Gesprächsführung. Es geht um psychotherapeutische Theorie sowie um den Ansatz und das Menschenbild von Rogers. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Kooperativität, »Altruismus und Empathie« werden vermittelt. Kommunikationstheorien, die Psychologie des Helfens, Bindungstheorien sowie die Kenntnis von Persönlichkeitsstrukturen sind Themen. Krankheitsbilder wie Depression, Suizid und Suizidversuch, Abhängigkeiten, Demenz und Trauma werden bearbeitet genauso wie Sterben und Trauer, Krisen und das Alter. Hinzu kommen Biografiearbeit, das Kurzgespräch, das Thema Kriegskinder und -enkel, Burn-out, Paarberatung und Beratung in Gruppen. Bei all dem bestimmen die jeweiligen Lerngruppen Schwerpunkte bei den durch Präsentationen und Vorträge zu erarbeiteten Themen. Der Herzschlag des Lebens – er ist hier abgebildet.

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Das Herz wahrnehmen heißt, genau hinzuhören

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Das Herz der hilfesuchenden Menschen wahrnehmen – Haltungsmerkmale des PzA Empathie, Wertschätzung und Kongruenz als konstitutive Personzentrierte Grundhaltung für alle seelsorglichen und beratenden Begegnungen zu erlernen, ist ein anspruchsvoller wie auch langwieriger Prozess. »Zu tief ist mitunter das Bestreben verwurzelt, Lösungen anzubieten, besonders dann, wenn der Seelsorger verhältnismäßig schnell zu einer überzeugenden Antwort auf die gestellte Frage meint gekommen zu sein.« (Lemke, 1978, S. 72) Hilfreicher als das Angebot von Lösungen ist die nicht direktive Personzentrierte Grundhaltung, die gekennzeichnet ist von Empathie, Wertschätzung und Kongruenz (Burbach, I.1, S. 28 ff.; und T. Kingreen, I.2, S. 55 f.). Erlern- und erfahrbar ist die Personzentrierte Haltung durch die Vermittlung von Wissen und zugleich durch die Praxis – also vor allem mithilfe geführter Seelsorge- wie Beratungsgespräche. Diese werden im Rahmen der Ausbildung supervidiert. Die Personzentrierte Ausbildung hat für diesen Teil der Ausbildung verschiedene Methoden gefunden, wobei ein effektives Setting die Audiodokumentation von Gesprächen darstellt, die mithilfe von Ratingskalen (Tausch, 1973; Pfeiffer, 1977) supervidiert werden, um festzustellen, welche Gefühle im Gespräch vorhanden sind, ob und wie sie benannt werden, was nicht aufgenommen wurde, warum das geschah und wie die Grundvariablen der Personzentrierten Haltung umgesetzt werden. Dadurch entwickelt sich nach und nach die Personzentrierte Grundhaltung, von der eine Teilnehmerin am Ende ihrer Ausbildung festhält, wie wichtig es ihr geworden sei, immer wieder mit einer guten inneren Konzentration und auch Vorfreude ins Gespräch zu gehen, gelassener zuzuhören und im Verlauf behutsam mit zu erspüren, wo Gefühle lebendig werden, wo die Begeisterung, die Kraft, die Liebe mitschwingt (oder auch der tiefe Schmerz, die tiefe Trauer). Sie habe über die vielen Gespräche erfahren, wie in der Personzentrierten Seelsorge viel Verborgenes, z. T. nie Preisgegebenes sich öffnen und in berührende, z. T. in großes Staunen versetzende Gespräche führen könne. Sie glaube, dass hierin eine heilsame Kraft liegt, die im Selbst mobilisiert wird. Das Herz des seelsorgenden und beratenden Menschen wahrnehmen Es ist eine menschliche Grunderfahrung, dass Menschen oft nicht auf das hören können, was ihnen das Herz sagt (Forster, o. J.). Die Personzentrierte Haltung geht davon aus, dass eine größtmögliche Kongruenz der auszubildenden Person mit sich selbst nötig ist, um die eigenen Gefühle zu kennen und sie ohne Angst zu verbalisieren. Dadurch hat die Person einen freien Zugang zu sich selbst und kann sowohl sich als auch die Sachverhalte von Gesprächssituationen unverstellt erkennen. Um diese Klarheit und damit den Zugang zum eigenen

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Herzen zu gewinnen, gehören die Selbsterfahrung und die damit verbundene Selbstfindung basal zur Personzentrierten Ausbildung dazu. Die Selbsterfahrung können und sollen die Auszubildenden nutzen, um gespürte Inkongruenzen und auch eigene Probleme sowohl professionell als auch kollegial begleitet zu bearbeiten und daran zu wachsen. Weitere Lernformen und Ziele Zur Vermittlung von Wissen, zur Supervision von audiodokumentierten Seelsorgegesprächen, zum mit der Praxis verzahnten Erlernen der Grundhaltung und zur Selbsterfahrung kommen weitere Lernformen, die ganzheitlich und am Herzschlag des Lebens der Auszubildenden wie auch der Ausbildenden orientiert sind. Dazu gehört die kollegiale Beratung in Regionalgruppen. Diese Gruppen treffen sich in der Regel ohne Ausbildende und ermöglichen nicht nur einen konstruktiven Austausch, sondern auch die kollegiale Supervision von geführten Gesprächen. Die Regionalgruppen helfen als Sozialisationsort auch beim Zusammenwachsen der Gesamtlerngruppe. Übungen, die möglichst passend zu den erarbeiteten Tagesthemen ausgesucht sind (z. B. Genogrammarbeit oder systemische Aufstellungen als Möglichkeit der Selbsterfahrung sowie die Einladung über eigene spirituelle Quellen nachzudenken), ergänzen die Ausbildung. Für eine Teilnehmerin waren es gerade diese Übungen, die sie aufatmen ließen und die ihr Zeit gaben, um in sich hineinzuspüren und sich mit dem eigenen Lebensweg auseinanderzusetzen. Lernen in Modulen und Abschlüsse Der Bologna-Prozess setzte eine Umstellung von Hochschul- und anderen Ausbildungsprozessen in Gang. Die geforderte europäische Vergleichbarkeit verschiedener Ausbildungen, die geforderten Aufbaumöglichkeiten sowie neue modulare Ausbildungsprozesse führten auch im Rahmen der Personzentrierten Ausbildung zu einer Modularisierung. Die grundständige Ausbildung in Personzentrierter Gesprächsführung (Grundstufe), die zwischen eineinhalb und zweieinhalb Jahre dauert, setzt sich derzeit aus zwei Modulen zusammen. In Modul 1 werden die theoretischen und haltungsspezifischen Grundlagen erarbeitet. Modul 2 intensiviert das Gelernte. Komplexere Seelsorge- wie Beratungssituationen kommen in den Blick. Gespräche in Gruppen, verschiedene Gruppensituationen und Grenzen der Personzentrierten Gesprächsführung werden genauer betrachtet sowie der Umgang mit psychisch belasteten Gesprächspartnern. Modul 1 endet mit zwei supervidierten grundständigen Gesprächen und einem Vortrag zu einem der Wissensthemen inklusive der Darstellung des persönlichen Lernverlaufs. Modul 2

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erweitert diese Leistungen um einen weiteren Vortrag und zwei supervidierte qualifizierte Gespräche sowie um eine Dokumentation, die den Lernprozess beschreibt und ein Seelsorge- oder Beratungsgespräch im Kontext des gesamten Fallverlaufs praktisch und theoretisch reflektiert. Der modulare Aufbau der Ausbildung ermöglicht es Menschen, die im Rahmen der Gesamtausbildung Modul 1 mit Erfolg abgeschlossen haben, zu einem späteren Zeitpunkt Modul 2 anzuschließen. Am Ende von Modul 1 steht eine Zwischenevaluation, die den Teilnehmenden zum einen ihren derzeitigen Ausbildungsstand deutlich macht und zum anderen klärt, was ihnen noch fehlt und was sie für sich noch erreichen wollen. Die erfolgreiche Teilnahme an Modul 1 und 2 berechtigt zur Teilnahme an Modul 3, dem Beratungsmodul.

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Was das Herz schwer und was es leicht macht – Erfahrungen aus den Kursen Im Rahmen der Personzentrierten Seelsorge- und Beratungsausbildung werden die Auszubildenden mit einer umfassenden und sie selbst einbeziehenden, neue Erfahrungen hervorbringenden Ausbildung konfrontiert. Sich darauf einzulassen, kann mit ambivalenten Gefühlen, mit Widerständen und auch mit Schwierigkeiten verbunden sein, die von der Leitung Personzentriert, verantwortungsvoll und entwicklungsorientiert begleitet werden müssen. Eine Teilnehmerin schreibt dazu beispielsweise im Rückblick: »Das für mich frühe Bewerten der Gespräche in kleinen Abschnitten, mittels der Bewertungsskala, ist einerseits hilfreich und schafft Klarheit, hat mich aber in Bezug darauf, ob ich die Ausbildung schaffen kann, sehr unter Druck gesetzt. Somit hat es mich z. T. sogar bei den Aufnahmen in Anspannung versetzt. Dieses hat gleichzeitig dazu geführt, mich mit meinen eigenen Ängsten, meinen Wünschen nach beruflicher Veränderung und meiner aktuellen Lebenssituation auseinanderzusetzen.«

Verunsicherungen können bei manchen Teilnehmenden durch die für sie ungewohnte nichtdirektive Personzentrierte Grundhaltung, durch die Notwendigkeit audiodokumentierte Gespräche zu erstellen sowie durch die konstitutiv zur Ausbildung gehörende Selbsterfahrung entstehen. Es dauert erfahrungsgemäß, bis die Personzentrierte Grundhaltung bei den Auszubildenden frei ins Schwingen kommt und Teil ihrer selbst wird, sodass manche Teilnehmende auf dem Weg dahin eine Spannung spüren. Sie ist auf der einen Seite gekennzeichnet durch das redliche Bemühen der Auszubildenden und auf der anderen Seite durch ihre Sehnsucht, möglichst alles sofort perfekt zu machen. Ein Teilnehmer schilderte in diesem Zusammenhang, dass er zwischenzeitlich sogar das Gefühl hatte, sein bereits sicher geglaubtes Gesprächsverhalten gänzlich zu

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verlieren. All dies sind Zeichen einer Krise, die das Herz schwer machen kann. Letztendlich ist diese Krise für viele Teilnehmende jedoch die Grundlage zu einem »schöpferischen Sprung« (Kast, 2013), dessen Durchleben erleichtert und freimacht. Wenn im Zusammenhang mit solchen Krisensituationen bei Auszubildenden Enttäuschungen wachsen, müssen sich Ausbildende bewusst sein, dass auch sie als diejenigen angesehen werden können, die die Ursache für die erlebte Krise sind. Wenn Ausbilderinnen hier nicht geschult sind oder eigene Inkongruenzen nicht zu spüren vermögen, kann die Personzentrierte Ausbildung aufgrund der Auszubildenden zum Problem werden. Dasselbe gilt, wenn Auszubildende sich in Krisensituationen oder durch Vereinnahmungen verunsichert oder unter Druck gesetzt fühlen. Diese Beispiele machen deutlich, welche Inhalte und Standards eine gute Ausbildung zum Ausbilder erfüllen muss. Ziel der Fortbildung Das Ziel der Personzentrierten Ausbildung hat Sander in dem Satz zusammengefasst: »Der Berater hat seine beste Funktion als Gehilfe und nicht als Leitfigur« (Sander, 1999, S. 246). Andere Verfasser reden teils in Anlehnung an Rogers vom Berater »als Gärtner und als Geburtshelfer« (Schmid, 1995, S. 102). Ein Gärtner »kann sich nicht aussuchen noch bestimmen, was für eine Art Pflanze das werden wird. Aus einer Hyazinthe kann er keine Rose machen. Aber was er kann und worin seine Aufgabe besteht, ist, möglichst optimale Bedingungen für das Wachstum der Pflanze zu bereiten: Licht und Wärme, Erdreich und Feuchtigkeit – kurz das Umfeld, die Bedingungen, unter denen das Wachstum stattfindet, kann er so gestalten, dass sie dieses Wachstum fördern oder hemmen. Er hat also keinen direkten Einfluss auf das Aussehen der Pflanze, wohl aber darauf, wieviel von dem aus der Pflanze werden kann, was schon in ihr an Möglichkeit angelegt ist« (Schmid, 1995, S. 102).

Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es die in diesem Artikel beschriebenen Kompetenzen.

3  Im Herzschlag des Lebens bleiben – Supervision Auch und gerade wenn die Ausbildung beendet ist, stellen die Gespräche in den Berufsfeldern der Ausgebildeten Herausforderungen dar, die im Rahmen der Qualitätssicherung und persönlichen Weiterentwicklung supervidiert werden müssen. Fachgruppen und Regionalgruppen, die die Ausgebildeten gründen

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oder weiterführen bzw. zu denen sie eingeladen werden, bieten Möglichkeiten für kollegiale Supervision. Auch die Mitgliedschaft in der GwG eröffnet und fordert Möglichkeiten für Supervision und Qualitätssicherung. Eine andere Möglichkeit, sich stets weiterzuentwickeln und mit großer Ernsthaftigkeit an den anvertrauten Menschen und den Gesprächen zu bleiben, ist das Führen eines sogenannten Seelenbuches. In so einem »Seelenbuch«, das Burbach als hilfreiche Lern- und Reflexionsmethode Auszubildenden empfiehlt, können die Auszubildenden ihre eigenen Erfahrungen und Gedanken sowie ihr Mitgehen mit den Personen, mit denen sie gesprochen haben, festhalten und reflektieren. Abschnitte dieses Seelenbuches können später Teil einer weiterführenden Supervision werden, die besondere Gespräche reflektiert, eventuellen Wechselwirkungen auf die Spur kommt und dabei hilft, sich selbst und das Gespräch, was geführt wurde, mitsamt seinen Konflikten besser wahrzunehmen.

4  Ausblick auf weiterführende Ausbildungen

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Wie für die Grundausbildung geschildert, setzen die Ausbildungsrichtlinien der GwG auch die Standards der auf die Grundausbildung aufbauenden Ausbildungsmodule fest. Auf die Grundausbildung folgen die Beratungsausbildung, die Ausbilderausbildung, die Coachingausbildung und daran anschließend die Supervisionsausbildung. Die Standards werden ständig angepasst und sind auf der Internetseite der GwG nachzulesen (GwG, o. J.). Die GwG sowie in Einzelfällen auch Vereine, Institutionen oder andere Institute bieten in Kooperation mit der GwG die genannten Ausbildungsgänge an.

5 Personzentrierte Seelsorge- und Beratungsausbildung als Herzensbildung »›Kogong‹ ist das Geräusch, das das Herz macht, wenn man genau hinhört.« (Forster, 2017) Mit diesem Zitat begann der Artikel, mit ihm endet er auch, denn Personzentrierte Seelsorge- und Beratungsausbildung ist im beschriebenen Sinn eine Herzensbildung. Sie ist orientiert am Herzschlag des Lebens der Menschen, hört also von Anfang an auf das Herz. Sie bezieht gemachte Erfahrungen mit ein, weiß um die kleinen und großen Dinge, die das Herz sagt, hilft, das eigene Herz und das Herz der Gesprächsteilnehmenden besser zu verstehen, weiß um die Dinge, die das Herz schwer und leicht machen, bleibt also immer ganz nah am Herzen des Menschen, zu dem auch die spirituellen Kräfte gehören. Rogers

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benutzt zwar eine andere Terminologie, aber auch er weiß, wie wichtig es ist, dass sich Menschen, die andere Menschen beraten, im »Strom des Erfahrens oder des Lebens« (Rogers, 1973/2016, S. 200) – also mit allem, was das Herz bewegt – auskennen. An dieser Herzenskraft ist die Personzentrierte Haltung genauso orientiert wie Personzentrierte Seelsorge- und Beratungsausbildung.

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 Personzentrierte Seelsorge als Ansatz in der Ausbildung zum Priester

Joachim Schlör und Oliver Westerhold

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Die Priesterausbildung in den deutschen Diözesen ist durch verschiedene vatika­ nische Vorgaben und die national angepassten Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz einerseits klar geregelt und strukturiert, andererseits gibt es in der Struktur und der konkreten Umsetzung deutliche Unterschiede. Die Diözesen Köln und Rottenburg-Stuttgart haben eine Unterteilung in Studienseminar und Pastoralseminar, letzteres dort Priesterseminar genannt; während in anderen Diözesen das Priesterseminar das Studien- und das Pastoralseminar umfasst. Die Seelsorgeausbildung findet hauptsächlich in den Pastoralseminaren, also nach Abschluss des Studiums als Vorbereitung auf und Ausbildungsbegleitung während der Diakonats- und Vikarszeit (in manchen Diözesen Kaplanszeit genannt) statt, wobei je nach Universität oder hausinternem Studienbegleit­programm Kurse zum Thema Kommunikation schon in der Studienphase stattfinden. In einigen Priesterseminaren, z. B. Köln, Würzburg, Trier, Lantershofen und Rottenburg-Stuttgart gibt es einen Dozenten für Pastoralpsychologie mit Stellen­ anteil in der Priesterausbildung. In den anderen Diözesen wird dieser Ausbildungsteil durch externe Dozentinnen übernommen, teilweise kirchlich, teilweise diözesan, teilweise säkular oder überregional. Allgemeingültige Standards bezüglich der Inhalte in der Seelsorgeausbildung gibt es nicht, ebenso gibt es keine gemeinsamen Qualitätsstandards in Bezug auf die Qualifikation der Ausbilder. Jedoch beinhalten die meisten Ausbildungen in den Priesterseminaren Kommunikationstheorien und -modelle und in den Ausbildungsteilen zum seelsorglichen Gespräch dürfte der Personzentrierte Ansatz (PzA) die wichtigste Rolle spielen. Die Mehrzahl der Dozierenden kommt aus dem psychosozialen oder psychologischen Bereich. Sie sprechen die Themen mit der Seminarleitung ab. In einer kleinen Austauschgruppe der pastoralpsychologisch Tätigen in deutschsprachigen Priesterseminaren sind ein größerer Teil Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP), davon wiederum die meisten zur Sektion Personzentrierte Psychotherapie und Seelsorge (PPS) gehörig; auch der psychoanalytische Ansatz ist vertreten.

Personzentrierte Seelsorge als Ansatz in der Ausbildung zum Priester

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Die gesamtkirchlichen Vorgaben zur Priesterausbildung sind vielfältig und haben eine lange Tradition in der katholischen Kirche. Momentan sind die maßgeblichen Dokumente einerseits das Dekret »Optatam Totius – Über die Ausbildung der Priester« des zweiten Vatikanischen Konzils aus dem Jahr 1965 und andererseits die »Ratio Fundamentalis Institutionalis« der Kleruskongregation aus dem Jahr 2016. Nachfolgend einige Ausschnitte aus beiden Dokumenten, die auf je eigene Weise die Ausbildung der Priester zu Seelsorgern weltweit regeln und nach Ansicht der Autoren dieses Artikels eine pastoralpsychologische Ausbildung indizieren. Das Konzilsdekret besagt: »Die Grundsätze christlicher Erziehung sollen hochgehalten und durch die neueren Erkenntnisse einer gesunden Psychologie und Pädagogik ergänzt werden. In klug abgestufter Ausbildung sollen die Alumnen auch zur nötigen menschlichen Reife geführt werden, die sich vor allem in innerer Beständigkeit bewähren muß, in der Fähigkeit, abgewogene Entscheidungen zu fällen, und in einem treffenden Urteil über Ereignisse und Menschen. Die Alumnen müssen ihren Charakter formen lernen. Sie sollen zu geistiger Entschlossenheit erzogen werden und überhaupt jene Tugenden schätzen lernen, auf die die Menschen Wert legen und die den Diener Christi gewinnend machen. Dazu gehören Aufrichtigkeit, wacher Gerechtigkeitssinn, Zuverlässigkeit bei Versprechungen, gute Umgangsformen, Bescheidenheit und Liebenswürdigkeit im Gespräch (11) […] Sorgfältig sollen sie in die Kunst der Seelenführung eingeführt werden, damit sie alle Glieder der Kirche in erster Linie zu einem voll bewußten und apostolischen Christenleben und zur Erfüllung ihrer Standespflichten führen können … Überhaupt sollen die Eigenschaften der Alumnen ausgebildet werden, die am meisten dem Dialog mit den Menschen dienen: wie die Fähigkeit, anderen zuzuhören und im Geist der Liebe sich seelisch den verschiedenen menschlichen Situationen zu öffnen. (19) […] Im Gebrauch der pädagogischen, psychologischen und soziologischen Hilfsmittel sollen sie methodisch richtig und den Richtlinien der kirchlichen Autorität entsprechend unterrichtet werden, das apostolische Wirken der Laien anzuregen und zu fördern sowie die verschiedenen und wirkungsvolleren Formen des Apostolats zu pflegen. (20)«

Die »Ratio Fundamentalis Institutionalis« mit dem Titel »Das Geschenk der Berufung zum Priestertum« benennt die Herausforderungen von Ausbildung und der gelungenen Begleitung der Entwicklung der Alumnen so: »Während der Ausbildung zum Priestertum des Dienstes ist der Seminarist auch sich selbst gegenüber gleichsam ein »Mysterium«. Zwei Aspekte seiner menschlichen

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Natur, die sich überschneiden und nebeneinander vorhanden sind, müssen miteinander integriert werden: einerseits ihre Gaben und Talente und ihre Formung durch die Gnade, andererseits ihre Grenzen und Schwächen. Die Bildungsaufgabe besteht darin, der Person zu helfen, diese Aspekte unter dem Einfluss des Heiligen Geistes auf einem Weg des Glaubens und der Voranschreitenden, harmonischen Reifung aller Dimensionen unter Vermeidung von Fragmentierungen, Polarisierungen, Übertreibungen, Oberflächlichkeiten oder Unvollständigkeiten zu integrieren. (28) […] Der Humus der Berufung zum priesterlichen Dienst ist die Gemeinschaft, insofern der Seminarist aus dieser kommt und nach der Weihe zu ihr gesandt wird, um ihr zu dienen. Zunächst braucht der Seminarist und dann der Priester eine vitale Bindung an die Gemeinschaft. Sie ist wie ein roter Faden, der die vier Ausbildungs­ dimensionen [d. i. die menschliche, die spirituelle, die intellektuelle und die pastorale Dimension; J.S u. O.W] in Einklang bringt und vereint. (90) Die menschliche Bildung ist das Fundament der ganzen Priesterbildung. Sie fördert das umfassende Wachstum der Person und ermöglicht, auf dieser Basis alle Dimensionen zu formen. Physisch geht es um Aspekte wie Gesundheit, Ernährung, Bewegung und Ruhe; psychologisch um die Bildung einer stabilen Persönlichkeit, die von affektiver Ausgeglichenheit, von Selbstbeherrschung und von einer gut integrierten Sexualität geprägt ist. Moralisch erfordert sie, dass der Mensch zunehmend ein gebildetes Gewissen erlangt. Er muss eine Person mit Verantwortungsbewusstsein werden, die fähig ist, richtige Entscheidungen zu treffen, die vernünftig urteilen und Personen und Ereignisse objektiv wahrnehmen kann. Diese Wahrnehmungsfähigkeit leitet den Seminaristen zu einer ausgewogenen Selbstachtung an, die ihn dazu bringt, sich seiner Talente bewusst zu werden und zu lernen, sie in den Dienst des Volkes Gottes zu stellen. Im Rahmen der menschlichen Formung darf die Ästhetik nicht vernachlässigt werden. Es ist eine Unterweisung anzubieten, die es ermöglicht, verschiedene künstlerische Formen und Ausdrucksweisen kennen­zulernen. Der »Sinn für das Schöne« muss geschult werden. Auch das soziale Verhalten ist zu berücksichtigen. Es ist der Person zu helfen, ihre Beziehungsfähigkeit zu verbessern, so dass sie zum Aufbau der Gemeinschaft, in der sie lebt, beitragen kann. Damit diese Ausbildung fruchtbar sein kann, ist es wichtig, dass jeder Seminarist sich seiner Geschichte bewusst ist und die Ausbilder darüber in Kenntnis setzt: über seine Kindheit und Jugend, über den Einfluss, den die Familie und die Verwandtschaft auf ihn ausüben, über die Fähigkeit oder die Unfähigkeit, reife und ausgeglichene zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen sowie in positiver Weise mit Momenten der Einsamkeit umzugehen. Diese Informationen sind relevant, um die geeigneten pädagogischen Mittel sowohl für die Beurteilung des zurückgelegten Weges als auch für das bessere Verständnis eventueller Rückschritte oder schwieriger Momente wählen zu können.« (94)

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Auch wenn die Sprache vatikanischer Dokumente ungewohnt sein mag, sind doch die Aussagen klar: Es geht um die »Kunst der Seelenführung«, also Seelsorge. Diese Kunst zu erlernen und zu beherrschen, war sicher ein zentrales Initiationsmoment für die Entwicklung und Profilierung der Pastoralpsychologie. Denn »entstanden ist die Pastoralpsychologie aus dem praktischen Bedarf an humanund sozialwissenschaftlicher Kompetenz. Psychologie, Pädagogik und Soziologie richten gleichsam fremdprophetische Anfragen an die Praktische Theologie sowie an christlich-kirchliche Praxis und fordern letztere zu einem pastoralpsychologisch verantworteten Handeln auf.« (Kießling, 2012b, S. 112)

So stellt die Pastoralpsychologie jenes Fachwissen (auch aus Humanwissenschaften) zur Verfügung, das dem Ziel der Entwicklung der Persönlichkeit des zukünftigen Priesters hilfreich ist. Inhaltlich orientiert sich diese an Haltungen und Tugenden, die in der Pastoralpsychologie zentral sind. Parallelen zum PzA sind augenfällig: »Aufrichtigkeit« korrespondiert mit der Echtheit im Ansatz von C.R. Rogers. »Im Geist der Liebe sich seelisch den verschiedenen menschlichen Situationen zu öffnen« hat eine signifikante Nähe zur Haltung der Empathie. »Liebenswürdigkeit im Gespräch« ist eine treffende Umschreibung von »caring love«, wie Rogers selbst die Haltung der unbedingten positiven Zuwendung immer wieder umschrieb. Mit den »guten Umgangsformen« weist das vatikanische Dekret bereits 1965 auf die Einhaltung von Grenzen in der Seelsorge hin. Der Text von 2016 betont, dass die Entwicklung einer »stabilen Persönlichkeit«, die wesentlich von Beziehungsfähigkeit geprägt ist, ganz maßgeblich durch die Aufarbeitung der eigenen Biografie begünstigt werden kann. Auch hier scheint eine pastoralpsychologische Selbstverständlichkeit ausgesprochen zu sein. Derzeit sind die Bischofskonferenzen dabei, diese weltweite »Ratio Fundamentalis« jeweils in eine »Ratio Nationalis« zu übersetzen; vergleichbar mit Ausführungsbestimmungen auf nationaler Ebene. Es ist zu erwarten, dass die deutsche Bischofskonferenz die bisherige »Ratio Nationalis« novelliert und ersetzt. Wie werden nun diese wesentlichen Vorgaben umgesetzt? Aus dem Beschriebenen wird deutlich, dass es aufgrund unterschiedlicher Situationen in den deutschen Diözesen und Seminaren keine einheitliche Beschreibung der Seelsorgeausbildung geben kann. Eine konkrete Darstellung kann nur am Beispiel erfolgen. Wir, Joachim Schlör, Dozent für Pastoralpsychologie mit einem Stellenanteil von 50 Prozent im Priesterseminar Rottenburg und Pfarrer Oliver Westerhold, der die Ausbildung vor mehr als zehn Jahren selbst durchlief und heute

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an unterschiedlichen Stellen als Referent Ausbildungsteile mit leitet, beschreiben die Personzentrierte Seelsorgeausbildung am Priesterseminar in Rottenburg: Das Pastoralpsychologische Curriculum in der Diözese Rottenburg-Stuttgart ist breit gefächert. Alle werdenden Priester durchlaufen es in den sechs Jahren ihrer zweiten Ausbildungsphase nach dem Studium. Es ist nicht möglich, das ganze Curriculum en détail darzustellen. Es wird auch lediglich der spezifisch pastoralpsychologische Teil angegeben, selbst wenn das jeweilige Thema noch umfassender in anderen Disziplinen behandelt wird. Zum Beispiel nimmt das Thema Ehe in einem ersten Teil 5 Tage in Anspruch: zusammengesetzt aus Paardynamik in pastoralpsychologischer Perspektive (2 Tage) und dem Traugespräch aus kirchenrechtlicher Perspektive (1 Tag); später folgt die Liturgie der Trauung (1 Tag) sowie das Traugespräch in pastoralpsychologischer und praktischer Hinsicht (je 0,5 Tage). In der folgenden Übersicht erscheinen demzufolge nur die 2,5 Tage der pastoralpsychologischen Befassung mit dem Thema. Drei Jahre später, in der Vikarszeit, findet dann eine Seminarwoche zu den Themen Ehe im Lebenszyklus, Scheidung, Wiederheirat, Ehe- und Familienpastoral, statt.

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Hier eine Übersicht über Themen und Inhalte des oben genannten pastoralpsychologischen Curriculums (Angaben in Klammer entsprechen der Seminar­ zeit in Tagen): Selbst- und Fremdwahrnehmung (2), Auseinandersetzung mit Lebens- und Glaubensgeschichte (2), Feedback lernen (1), Einführung in die Pastoralpsychologie in einer Höhle Erlebnispädagogik (1), Seelsorgliches Gespräch 1–4 (17), Klinikseelsorge (19), Gruppenreflexionen (1), Sucht (2), Prävention Sexueller Missbrauch (2), Trauung – Ehepastoral Paardynamik Systemische Sicht-Gespräch (2,5 + 2), Beerdigung – Trauer, Trauergespräch (2), Beichte Grenzfälle Gespräch (1), Depression und Suizid (2), Gruppe Teams Moderationen (2), Veränderungen gestalten Persönlichkeit (3), Lebenskultur (2), Lebensform Beruf Spiritualität (3), Gruppensupervision (2 × 15 Sitzungen) An den Themen zeigen sich einige Spezifika dieser Ausbildung: ȤȤ die Pastoralpsychologie hat in der Seminarausbildung eine Brückenaufgabe zwischen den verschiedenen Disziplinen und übernimmt somit eine wichtige Querschnittsfunktion im Gesamt der Seminarausbildung. ȤȤ Seelsorgliches Gespräch ist mit insgesamt sieben Wochen (inkl. Klinikseelsorge) ein klarer Schwerpunkt im Curriculum. ȤȤ Die Vernetzung mit den Sakramenten und Sakramentalien ist evident. ȤȤ Bei den diakonischen Themen ist die Pastoralpsychologie federführend dabei.

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ȤȤ Kooperationen mit (nahezu allen) anderen pastoralpsychologischen Ansätzen. ȤȤ Kooperationen mit anderen Berufsgruppen in der Ausbildung, (vor allem mit der Berufseinführung der Pastoralassistentinnen und -assistenten). Die Verbindung zwischen all diesen Themen und Ausbildungsinhalten ist die durchgängige personale Präsenz des Dozenten für Pastoralpsychologie in Durchführung und Begleitung aller Veranstaltungen. Es wird in der Anfangsphase der Seminarausbildung eine Personzentrierte Basis gelegt. Diese Basis ist in verschiedenen Richtungen anschlussfähig und die Teilnehmenden lernen unterschied­ liche Ansätze kennen. In den reflexiven Teilen der Kursarbeit decken die Teilnehmenden Parallelen und Weiterführendes für sich ebenso auf, wie Unterschiede und Widersprüchliches. Beim Thema »Umgang mit Nähe und Distanz« kam der psychoanalytische Ansatz der Übertragung und Gegenübertragung in den Blick (Pultke u. Schlör, 2014). Auch wurden Verbindungen zwischen Psycho­ analyse und PzA in der Kursarbeit gesucht (Schlör u. Pultke, 2015); ebenso fließen syste­mische und gruppendynamische Ansätze in die Kursarbeit ein. Dem Regens als Leiter des Priesterseminars ist aufgrund nur männlicher Teilnehmer in einem Priesterseminar eine geschlechtsparitätische Besetzung der Kursleitung wichtig. Dies deckt sich auch mit den fachlichen Empfehlungen und ist organisatorisch zumeist möglich. Die diakonischen Themen der Priesterausbildung, für die die Pastoralpsycho­ logie Verantwortung übernimmt, wissen sich folgender drei Perspektiven verpflichtet: ȤȤ Seelsorglich, also mit Blick auf Menschen und Situationen, die in der konkreten Arbeit auf die Alumnen, Diakone und Vikare zukommen werden. ȤȤ Selbstreflexiv, also mit Blick auf die eigene Person und die Möglichkeiten und »Untiefen« der Persönlichkeit. ȤȤ Mitbrüderlich und leitend, also mit Blick auf Mitbrüder, Pastorales Personal, Ehrenamtliche und die daraus erwachsenden Ansprüche an die zukünftige Führungskraft. Dies ist für die Auszubildenden insofern bedeutsam, dass sie sich mit den genannten Themen nicht nur unter dem Aspekt der kritischen Selbstbetrachtung beschäftigen, sondern sich ebenso der pastoralen Relevanz, wie auch der institutionellen und kollegialen Dynamik bewusst werden. Neben der pastoralen Ausrichtung wird mit Ladenhauf die Pastoralpsychologie hier in engster Verbindung zur Diakonie gesehen (Bucher, 2010, S. 4). Auch eine theologische und biblische Verortung der Pastoralpsychologie in der Priesterausbildung ist, im Anschluss an Baumgartner, der sein ganzes Handbuch der

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Pastoralpsychologie anhand der Emmausgeschichte darlegt, ein Kennzeichen der Rottenburger Ausbildung. Konkret stellt sich das am Beispiel eines Kurses dar: Der Kurs »Seelsorgliche Gesprächsführung I« wird seit Jahren als Kooperationskurs in der Berufseinführung der Gemeindeassistenten sowie der Pastoralassistentinnen gemeinsam mit Alumnen des Priesterseminars (Priesteramtskandidaten vor der Diakonenweihe) veranstaltet. Er versteht sich einerseits als Basiskurs zum Kennenlernen der Theorie und Einübung der Haltungen Personzentrierter Gesprächsführung und ist andererseits für die allermeisten Teilnehmer Einstieg in und Erst­kontakt mit praktisch gewendeter Pastoralpsychologie. Vier Säulen konstituieren diesen viertägigen Kurs: 1. Theorie und Einordnung des PzA nach C. R. Rogers und seines Menschenbildes durch Beschäftigung mit Originaltexten in Einzel- und Gruppenarbeit, Diskussion und Austausch 2. »Einander zum Seelsorger werden« – jeder Kursteilnehmer führt zur Einübung Personzentrierter Haltungen zwei Gespräche: jeweils eines in der Rolle des Seelsorgenden und des Ratsuchenden. Die Gespräche werden im Hier-Und-Jetzt geführt und dauern 15 Minuten. Der Ratsuchende bringt eine persönliche, innere Fragestellung als Thema ein. Die Gespräche werden auf Video aufgezeichnet und im Rahmen der ausführlichen Reflexion durch alle Mitglieder der Kleingruppe, die jeweils zuvor Beobachtungsaufträge erhielten, gemeinsam angesehen. Der Fokus der Beobachtung liegt auf den Interaktionen des Seelsorgers. 3. Auseinandersetzung mit einem psychologischen Konzept und Menschenbild in pastoraltheologischer, diakonisch-seelsorglicher Haltung und im Horizont heutiger Seelsorgestrukturen. 4. Spirituelle Vergewisserung, Fundierung und Vertiefung der Haltungen im seelsorglichen Kontakt durch eine biblische Suche und die Gestaltung eines Bildes hierzu; durch den sich anschließenden partnerschaftlich-vertrauensvollen Austausch über eigene seelsorgliche Motive und biblische Anknüpfungen nach Art eines Emmausgangs; durch die Vernissage mit allen Bildern der gesamten Kursgruppe und die gemeinsame Feier der Eucharistie, in der die Bilder ebenfalls präsent sind und die in sehr persönlichen Fürbittgebeten gebündelt werden. Im Ganzen der Kurskonzeption und mit der Perspektive, zukünftige Seel­sorgerin­ nen fundiert, verantwortet und nachhaltig auf ihren sehr komplexen Dienst in sehr unterschiedlichen Seelsorgesituationen vorzubereiten, nimmt die letzte, die vierte Säule, eine besonders wichtige Rolle ein. Führen die drei ersten Säulen vor

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Augen, wie »das Psychologische der Pastoralpsychologie […] zur wunderbaren Buntheit dieser Bewegung« (Kießling, 2012b, S. 124) beiträgt, so stellt die vierte Säule die wesentlichen Fragen: nach »dem Pastoralen der Pastoralpsychologie« und damit nach meiner Haltung als Seelsorger nach den »Zeichen der Zeit« und damit nach meinem Verständnis von Seel-Sorge in einer sich stets verändernden Welt; nach den Menschen, die marginalisiert und deren Leben angefochten ist (S. 124) und damit nach den Menschen, für die Seel-Sorge da sein will und für die und mit denen sie glaubt, hofft und liebt (S. 129). In diesem anspruchsvollen Verständnis von Seelsorge stellt die Pastoralpsychologie mit dem Ansatz und den Haltungen der Personzentrierten Gesprächsführung auch ein wichtiges Instrumentarium zur Verfügung, die eigenen Grenzen als Seelsorgerin wach zu halten, zu achten und sich nicht durch »Fehlhaltungen in der Begegnung« (wie sie beispielsweise Hermann Stenger anhand des Motivs des ›Mitfühlens‹ und des Motivs des ›Charismas der Metriopathie‹ im Hebräerbrief beschreibt; Stenger, 1985, S. 135 ff.) leiten zu lassen.

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 Personzentrierte Seelsorge im Vikariat der evangelischen Kirche – auf dem Weg zur kirchlichen Muttersprache

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Abb. 6: Seelsorgerin als Wegbegleiterin (© Martin Schneider/photocase.de)

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Als Seelsorgerin auf dem Weg Ich als Seelsorgerin … … verstehe mich als Wegbegleiterin … blicke zurück auf meinen Weg des Lebens … vertraue darauf, dass Gott mich begleitet auf meinem Weg … habe Interesse an den Lebenswegen anderer Menschen … bin noch auf dem Weg (Selbstverständnis einer Vikarin am Ende der Seelsorgeausbildung)

1 Transit Das Vikariat ist eine Art »Transitstation« zwischen Studium und Pfarrberuf. Nicht mehr Studierende, Pastorin aber auch noch nicht. Kein Leben mehr als Student in einer Universitätsstadt, sondern nun oft eine erste Tuchfühlung mit dem Leben inmitten eines Dorfes oder einer Kleinstadt. Diese besondere Phase des Durchgangs ist äußerst ambivalent besetzt. Auf der einen Seite steht das bestandene Examen mit der Bescheinigung der eigenen wissenschaftlichen Kompetenz, auf der anderen Seite die Unerfahrenheit in der praktischen Arbeit der jeweiligen Gemeinderealität. »Im Kopf fit, aber im Körper kennt man sich noch nicht aus«, auf diese griffige Formulierung brachte es ein Kollege. Aber auch Erfahrungen der Beschämung und Kränkung aus den zuvor absolvierten Prüfungssituationen sind nicht selten noch zu verarbeiten. Unterschied­liche Hermeneutiken gilt es nun zu vereinbaren und miteinander in eine ausge­ wogene Balance zu bringen: Auf der einen Seite die Hermeneutik, mit der sich Studierende wissenschaftliche Texte erschlossen haben, auf der anderen Seite nun die Hermeneutik des Lesens von »living human documents«, wie Boisen (Ziemer, 2008, S. 185) die in der Seelsorge wichtige Kompetenz genannt hat. Und so starten Vikarinnen und Vikare ihre zweijährige Ausbildung in diesem Spannungsbogen zwischen gefühlter Allmacht und Ohnmacht, vergleichbar darin wohl auch Studierenden in Kunst und Musik, die in der Theorie ihr jeweiliges Fach beherrschen, aber in der Praxis sich erst noch entwickeln müssen. In diesem labilen Transitstadium kommt der Seelsorgeausbildung eine besondere Bedeutung zu, denn sie ist der persönlichste Dienst in der Gemeinde. Sie gehört zum Auftrag jedes Pastors und jeder Pfarrerin. Für den Großteil der Theologiestudierenden ist dieses zukünftige Arbeitsfeld die treibende Motivation zu Studium und Beruf. In einer aktuellen Umfrage an 25 Standorten im deutschsprachigen Raum gaben von 307 befragten Theologiestudierenden über 200 an, dass zu ihrem Bild einer Pastorin das der Seelsorgerin gehöre, gefolgt

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von dem fast ebenso häufig genannten Bild des Begleitens von Lebenswegen. Bei den reizvollen Tätigkeiten als künftige Geistliche nannten die Studierenden vor Gottesdienst und Predigt sowie Auseinandersetzung mit Gegenwartsfragen Seelsorge und Lebensbegleitung wiederum an erster Stelle (Baden, 2017). Gerade im Bereich der Seelsorge starten Vikare also mit einer sehr großen Motivation. Sie wollen lernen, Erfahrungen sammeln und reflektieren, sich gefördert wissen und gesehen werden. Auch aktuelle Befragungen unter Pastorinnen und Pfarrern korrelieren mit diesen Aussagen, denn an jeweils erster Stelle wird genannt, dass sich Geistliche in ihrem Beruf als Seelsorgerin und Begleiter von Lebenswegen sehen (Magaard u. Nethöfel, 2011, S. 31). Neben dem Arbeitsfeld von Gottesdienst, Homiletik und Religionspädagogik ist die Seelsorge daher konstitutiver Bestandteil des Vikariats. Die Ausbildenden begleiten die angehenden Geistlichen durch die gesamte Zeit hindurch, sodass mit zunehmender Erfahrung im Gemeindealltag und sich verstetigender Sicherheit die eigene Rolle immer wieder neu reflektiert wird. Wer bin ich als Seelsorgerin? Verstehe ich mich als temporärer Begleiter, aufmerksame Zuhörerin, mitfühlende Trösterin, hilfreicher Gesprächspartner? Aber nicht nur im Beruf finden sich Auszubildende in neuen Rollen wieder. Auch im Privatleben verändert sich mit dem Beginn des Vikariats oftmals durch eine Eheschließung und/oder die Gründung einer Familie die eigene Biografie in entscheidender Weise. Auch hier sind verschiedene Rollen in Partner- und Elternschaft zu bewältigen. Diese Fragen des Anfangs sollen am Ende der Seelsorgeausbildung eine je vorläufige eigene Antwort finden mit dem Ziel, in der eigenen Seelsorgepraxis eine erste Sicherheit gefunden zu haben, sich der Bedeutung der Sorge für die eigene Seele bewusst geworden zu sein, sowie verschiedene Seelsorgeansätze kennengelernt und reflektiert zu haben.

2  Kirche als Seelsorgebewegung Pastoren sind qua Amt in die Seelsorge berufen, denn sie »ist Nachfolgepraxis im Wirkungsbereich des Evangeliums« (Ziemer, 2008, S. 181). Seit der Reformation versteht sich die evangelische Kirche als Seelsorgebewegung. Die Sorge um die Seelen der Menschen war der Anlass für Martin Luther, seine 95 Thesen in Wittenberg zu veröffentlichen. In seinem Brief an Erzbischof Albrecht von Mainz, dem er seine Thesen beilegte, schrieb er am 31. Oktober 1517: »Ach, lieber Gott, so werden die Seelen, die Deiner Obhut anvertraut sind, zum Tode unterwiesen.« (Luther, WABr 1,108 ff.). Die tiefe Verantwortung, die der Refor-

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mator hier formuliert, zeigt sich auch in weiteren Schriften wie »Vierzehn Tröstungen für Mühselige und Beladene« aus dem Jahr 1522 oder auch seinem »Sermon von der Bereitung zum Sterben« von 1519. So ist Seelsorge kein Teilaspekt in Luthers Leben und Wirken, »sondern eine Grunddimension« (Möller, 1995, S. 25). Die Kirche wird für den Reformator zur Kirche durch Predigt und »Seelsorgen«, ein von ihm offenbar neu gebildetes Verb (S. 9). Prediger und Seelsorger sind für ihn »die spezifischen Bezeichnungen derjenigen Tätigkeiten, von der das Christsein lebt und für die jeder Christ mitverantwortlich ist.« (S. 9) Reformatorische Trostschriften, seelsorglich motiviert, um Angefochtene zu stärken, sind in der gesamten evangelischen Bewegung des 16. Jahrhunderts vielfach zu finden, u. a. auch von weiblichen Laientheologinnen, wie der Straßburgerin Katharina Zell (1497–1562), die einen Trostbrief an die Frauen von Kenzingen schrieb, deren Männer aufgrund von gewalttätigen Religionskonflikten nicht in ihre Heimatstadt zurückkehren konnten (Domröse, 2017, S. 55 ff.). Aber auch die Reformationsfürstin Elisabeth von Calenberg-Göttingen (1510–1558) verfasste für Witwen ein Trostbuch (S. 155). So wurde in der Reformation eine Theologie entwickelt, »die ihre Pointen direkt aus dem und auf den Lebensalltag ihrer Zeitgenossen bezog und die sich einließ auf die tägliche Gewissensorientierung und mannigfache Anfechtung von Gewalterleben, Schuld, Verzweiflung und Verderben.« (Rieske, 2017, S. 46)

Für die Seelsorgelehre der Gegenwart ist es laut Ziemer notwendig, mit drei historischen Herausforderungen umzugehen: dem Siegeszug der modernen Psychologie, den einschneidenden Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts sowie der zunehmenden Säkularisierung (Ziemer, 2008, S. 78). Mit der kerygmatischen oder verkündigenden, der beratend oder therapeutischen und der evangelikal oder biblischen Seelsorge macht er die drei Hauptströmungen in der poimenischen Landschaft aus (S. 81). Die in der Vikariatsausbildung gelehrte Seelsorgehaltung entspricht dabei in ihrer interdisziplinären Form in all ihren unterschiedlichen Fachrichtungen der zweiten Hauptströmung, also der beratend therapeutischen, ohne damit natürlich die kerygmatischen und biblischen Elemente auszublenden.

3  Muttersprache der Kirche Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat Seelsorge einmal als »Muttersprache der Kirche« bezeichnet (Muttersprache). Eine Muttersprache muss

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gelernt werden und bedarf der Übung. Vom Drei-Wort-Satz bis zu einer nuancenreichen Sprache, die die Vielzahl der menschlichen Erfahrungen abbildet, ist es ein langer Weg. Angewandt auf die Seelsorgeausbildung bedeutet es: Will ich mein Gegenüber verstehen, muss ich seine Sprache sprechen und seine verbalen und nonverbalen Äußerungen »lesen« können. Dafür reicht es nicht, mich in der Theorie mit verschiedenen Seelsorgeentwürfen zu beschäftigen und sie intellektuell zu durchdringen, sondern es erfordert eine spezifische seelsorgliche Haltung, die ich durch Praxis und Übung mir aneigne. So zeichnet die Seelsorgeausbildung im Vikariat aus, dass Theorie und Praxis ineinander verschränkt sind. »Alleine die Erfahrung macht den Theologen«, so formulierte es Luther 1531 (Luther, WA.TR 1,16, Nr. 46). Wie kann dieser Wechsel von der Theologie zu den Menschen gelingen? Von der Textexegese hin zum Menschenverständnis, von der menschenanalytischen Hermeneutik hin zur menschenverstehenden – wie geht das?

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4 Persönlichkeitslernen Das wichtigste Medium in der Seelsorge ist die Person des Seelsorgenden selbst. Deshalb steht sie im Lernen von Seelsorge im Vordergrund. »Die Person ist von der seelsorgerlichen Aufgabe nicht abzulösen […] Die Qualität einer seelsorgerlichen Beziehung hängt nicht zuletzt mit der persönlichen Reife des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin zusammen.« (Ziemer, 2008, S. 184) In der Seelsorgeausbildung wird durch supervidierte Gespräche, die Dynamik von Gruppenprozessen und in Einzelberatung also die Reife einer Persönlichkeit weiter entfaltet. Dabei geht die Personzentrierte Seelsorge in ihrer Anthropologie davon aus, dass jedem Menschen die Fähigkeit und Tendenz gegeben ist, in konstruktiver Weise von seinen je eigenen Ressourcen Gebrauch zu machen. »Der Mensch kann das eigene Leben und Zusammenleben in befriedigender Weise gestalten, indem er sich selbst immer genauer zu verstehen sucht und sich dem kontinuierlichen Fluss seines Erlebens mit zunehmend weniger Abwehr öffnet. Diese Tendenz zur Verwirklichung der eigenen Möglichkeiten wird durch die Begegnung von Person zu Person angeregt und unterstützt.« (Schmid, 2009, S. 144).

Dem Fluss des Erlebens sich ohne Abwehr zu öffnen, um tiefer in die eigene Lebensgeschichte einzutauchen, das eigene So-Geworden-Sein zu reflektieren und zu verstehen, um als Persönlichkeit zu wachsen und weiter zu reifen, ist

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also eine Grundbedingung des Seelsorge-Lernens. Dazu ist eine innere Bereitschaft und Offenheit nötig, um auf diese Entdeckungsreise zu sich selbst zu gehen. Dies steht in gewisser Spannung zum verpflichtenden Charakter der Seelsorgeausbildung als konstitutivem Element des Vikariats. Und hier kommt die Person der Ausbilderin ins Spiel. Wenn es ihr nicht gelingt, sich selbst auch als Person in ihrer Ganzheit zur Verfügung zu stellen, echt und kompetent, verschwiegen und vertrauenswürdig, wertschätzend und erkennbar zu sein, dann ist ein Lernen von Seelsorge nicht möglich. Denn Seelsorge ist Begegnung und bedarf eines Rahmens, der Schutz gewährt. Deshalb ist dem Versuch zu widerstehen, der von unterschiedlichen Seiten an die Seelsorgeausbildung im Vikariat herangetragen wird, auch die ausbildenden Dozenten sollten am Ende des Vikariats ein Votum darüber abgeben, ob eine Person für das Pfarramt geeignet sei oder nicht. Auch Lernen von Seelsorge geschieht in einem verschwiegenen Raum, der für ein offenes Wachsen in der Persönlichkeitsentfaltung und den Mut in der Erkundung der eigenen Biografie nötig ist. Nach Personzentriertem Verständnis trägt jeder Mensch die Fähigkeit und Tendenz zur Entwicklung in sich, es bedarf aber der Beziehung, damit diese Entwicklung auch tatsächlich sich ereignen kann. Menschen tendieren also von Natur aus aktiv zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten, zu Reife und Lebensbereicherung. Dieser Tendenz ist mit Vertrauen zu begegnen. Dabei gilt es einen wichtigen Unterschied zu beachten: In der Grundausbildung der Personzentrierten Seelsorge, an deren Ende ein Zertifikat zu einer erbrachten Seelsorgeleistung steht, werden supervidierte Gespräche nach einem für alle transparenten Verfahren aufgrund einer sogenannten Rating-Skala bewertet. Die Seelsorgeausbildung im Vikariat ist davon aber zu unterscheiden. Denn es besteht die Gefahr, dass durch Bewertungen der Dozentinnen, die über Wohl und Wehe der zukünftigen Pastoren entscheiden, der notwendige Schutzraum für eine Seelsorgeausbildung gar nicht erst eröffnet werden kann, weil stets der Verdacht mitschwingt: »Hier werde ich in meinem Innersten bewertet und für nicht gut befunden.« Das Persönlichkeitslernen schließt auch die Person des Dozenten mit ein und hier ermöglicht der Personzentrierte Ansatz eine besondere Intensität der gemeinsamen Arbeit: Durch die eigene Haltung der Echtheit, die auch immer eine selektive sein kann, verharrt die lehrende Person nicht in der distanzierten Haltung der Analyse und Meta-Ebene, sondern wird als Person erlebbar. Sie leitet die Einheiten, ist kompetent und professionell, aber eben auch ein lebendiger und berührbarer Teil des gemeinsamen Prozesses.

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5 Interdisziplinäres Lernen

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Seit 2006 ist in der hannoverschen Landeskirche die Personzentrierte Seelsorge (PzS) in die Ausbildung implementiert (Burbach u. Schweingel, 2006). Schulenübergreifend wirken neben der Fachgruppe PzS die psychoanalytisch orientierte Fachgruppe (T) sowie die Klinische Seelsorgeausbildung (KSA) mit. 2009 wurde unter maßgeblicher Beteiligung der PzS ein intersektionelles Konzept für die pastoralpsychologische Seelsorgeausbildung erarbeitet und seitdem erfolgreich in die Praxis umgesetzt (Intersektionelles Konzept, 2009). Dieses Konzept sieht vor, dass – einem regelmäßigen Turnus folgend – jeweils zwei Fachgruppen mit ihren jeweiligen Dozentinnen die Ausbildung verantworten. So lernen die Vikare bereits im Predigerseminar verschiedene Ansätze von Seelsorge kennen. In die Systemische Seelsorge wird bislang am Ende der Ausbildung eingeführt. Dieses interdisziplinäre Lernen ermöglicht sowohl den Lehrenden wie den Lernenden einen fruchtbaren Diskurs, der aber auch davon lebt, dass die Seelsorge­teams kooperativ und kollegial miteinander arbeiten können. Störungsanfällig ist diese Arbeit, wenn stets neue Teams gebildet werden müssen, sodass bewährte Arbeitsstrukturen immer wieder neu auszutarieren sind. Auch kirchenleitende Entscheidungen zu ungleichen Verteilungen von Ressourcen und Kompetenzen der verschiedenen Fachrichtungen können sich nachteilig auf die Arbeit der Teams auswirken. Denn diese Konflikte werden von außen in die Teams hineingetragen und können eine erhebliche Irritation in die Kollegialität, von dem das Modell lebt, hineintragen. Interdisziplinär wird darüber hinaus mit der Studienleitung gemeinsam in der sogenannten »Kasualien­woche« gearbeitet, in der es sowohl um die seelsorgerliche wie auch die homiletische Kompetenz geht. Dazu ausführlich gleich mehr. Aktuell besteht innerhalb der hannoverschen Landeskirche nur noch ein Predigerseminar in Loccum, in dem mittlerweile neben Hannover auch die Landeskirchen von Braunschweig, Bremen, Oldenburg und Schaumburg-Lippe ihre angehenden Geistlichen ausbilden lassen.

6 Arbeitsformen Die Seelsorgeausbildung findet in insgesamt viereinhalb Präsenzwochen, die über Monate verteilt sind, zentral im Seminar statt sowie an zehn dezentralen Regionaltagen, in denen über die gesamte Vikariatszeit hinweg gearbeitet wird. Die vier Wochen sind gegliedert nach unterschiedlichen Schwerpunkten. Geht es in der ersten Woche vornehmlich um eine Einführung in die Seelsorge und

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eine erste Rollenfindung und -klärung in diesem neuen Arbeitsbereich, so sind die weiteren Einheiten thematisch enger gefasst. In der »Kasualienwoche« liegt der Fokus auf Taufe, Trauung und Beerdigung mit ihren jeweiligen seelsorglichen Herausforderungen und der aus diesen Gesprächen entstandenen Predigt. Gestaltet und geleitet wird diese Woche daher in Kooperation der Seelsorgedozenten mit der Studienleitung des Predigerseminars, die verantwortlich zeichnet für die homiletische Ausbildung. Der Tag beginnt mit einem morgendlichen Impuls zur jeweiligen Kasualie, in Kleingruppen wird anschließend durch das Seelsorgeteam ein Gespräch anhand eines Protokolls supervidiert. Hier wird nach den in der ersten Ausbildungswoche eingeführten Grundhaltungen der Seelsorge von Empathie, Akzeptanz und Echtheit das Gesprächsprotokoll in der Gruppe reflektiert. Es folgt die Analyse der jeweils zum Gespräch gehörenden Predigt, die in ihrer homile­ tischen Dimension auch in der Gruppe unter Leitung der Studieninspektoren untersucht wird. Merkmale gelingender Kasualpraxis werden in diesen Tagen ebenso erarbeitet wie unterschiedliche Agenden, Gesetzestexte und Liturgien einer kritischen Sichtung unterzogen. Jederzeit sind auch Einzelberatungen möglich. Hier werden erste Erfahrungen mit den verschiedenen Facetten der Seelsorge gesammelt. Denn die Auszubildenden erleben sich selber als Seelsorgende, aber in der Einzelberatung und im Gruppensetting auch als diejenigen, die selber Seelsorge erfahren. Die dichtesten Erfahrungen in den Seelsorgewochen werden in der Regel in der Zeit gemacht, in der die Vikarinnen kontinuierlich zwei Wochen lang in Krankenhäusern oder Altenheimen als Seelsorgende tätig sind. Vormittags finden die Besuche statt, die am Nachmittag in festen Kleingruppen durch jeweils eine Seelsorgedozentin supervidiert werden. Hier brechen oft die existenziellen Themen von Umgang mit Krankheit und eigenen Erfahrungen damit auf, aber auch das Erleben von Sterben und Tod, Schuld und Versagen oder der Blick auf den eigenen Weg am Lebensende wird häufig thematisiert. Diese Wochen sind aber auch deshalb von besonderer Intensität geprägt, da sie zwei Besonderheiten aufweisen. So ist in dieser Zeit für jeden Vikar ein Einzelgespräch bei einem der Dozenten vorgesehen. Und: Die Dozentinnen bleiben mit den Auszubildenden auch am dazwischenliegenden Wochenende im Seminar. In der Einzelsupervision wählen die angehenden Geistlichen das Thema selbst, das in dieser abendlichen Einzelsitzung angesprochen wird. Ziel ist es dabei, ein eigenes wichtiges (Lebens-)Thema für sich zu klären und sich als die Person zu erleben, die in direkter face-to-face Kommunikation Seelsorge erlebt. Am Wochenende stehen die eigenen spirituellen Kraftquellen im Mittelpunkt und alle Teilnehmenden gewähren dabei in ihrer jeweiligen Kleingruppe einen

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Blick in den eigenen geistlichen Schatz. Bibelworte werden vorgestellt, Musikstücke auf dem Klavier erklingen, Bilder werden an die Wand gebeamt, auch afrikanischer Tanz war schon dabei. Das Erschließen, Gewahrwerden und Würdigen der eigenen spirituellen Ressourcen ist eine Facette der eigenen Sorge für die Seele. Denn nicht wenige Vikarinnen hegen die untergründige Sorge, in ihrem späteren Beruf der Gefahr des Burnouts zu begegnen. Da ist solch eine Vergewisserung der eigenen Kraftorte eine gute und nötige Prophylaxe. Die letzte Halbwoche der Ausbildung dient der Bündelung der gemachten Erfahrungen während der Seelsorgeeinheiten. Es werden die eigenen Werkstücke erstellt, mit denen das aktuelle eigene Seelsorgeverständnis im Plenum vorgestellt und gewürdigt wird. Offene Fragen werden geklärt und es findet ein ausführliches Feedback zur Seelsorgeausbildung statt. Die zehn Regionaltage finden ortsnah zu den jeweiligen Vikariatsgemeinden der Gruppe statt und werden von einem Mitglied des Seelsorge-Teams geleitet. Schwerpunkte dieser Tage sind durch die Gruppe selbst gewählte Themen wie Notfallseelsorge, Umgang mit trauernden Kindern, Hospizarbeit, Militärseelsorge oder auch Suizid. Eigene Fälle werden anhand von Gesprächsprotokollen eingebracht und supervidiert, wobei die Gruppe nach und nach auch in die Rolle der Supervidierenden hineinwachsen soll. Praxis und Theorie werden hier also eng miteinander verzahnt. Der kollegiale Austausch über die Herausforderungen und Problemstellungen in der jeweiligen Gemeinde haben Raum wie auch Übungen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie Rollenspiele, in denen entweder neue Situationen antizipiert oder bereits stattgefundene, als problematisch erlebte Konstellationen analysiert werden. Die Regionaltage bieten darüber hinaus die Möglichkeit, am Modell des Dozenten eine eigene Seelsorgehaltung einzuüben und sich darin zu erproben.

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 Auf dem Weg zum Coach – Eckpunkte zu den Ausbildungsstandards in Personzentriertem Coaching

Christiane Burbach und Tilman Kingreen

1  Zur Begriffsklärung Coaching geht ursprünglich aus der betrieblichen Personalarbeit hervor (Böning, 2005, S. 36–53) und hat sich inzwischen auf viele Lebensbereiche ausgeweitet (S. 21). Formate des Lifecoachings lassen sich von arbeitsweltbezogenen Coaching­formaten grundsätzlich unterscheiden. Beiden ist gemeinsam, dass sie auf eine Steigerung der Handlungsfähigkeit der Person in ihrem jeweiligen System fokussieren. Es geht um die Passung von Person und Situation. Coaching als Element der Personalentwicklung leistet einen spezifischen Beitrag zur Organisationsentwicklung und -kultur, indem es an der Gelenkstelle von Person und Organisation auch auf Fragen der Arbeitsmotivation und der Sinnstiftung fokussiert. Mit der Stärkung der Selbstwirksamkeitsbefähigung der Mitarbeitenden fördert Coaching eine Organisationskultur, die von Vielfalt, Vitalität und Vertrauensstiftung geprägt ist. Im Führungskräftecoaching wird die Verantwortung für den Gesamtzusammenhang verknüpft mit der Frage eines würdigenden Umgangs mit Mitarbeitenden und deren Fachexpertise. Ressourcenorientiertheit und der Schaffung von Transparenz bei Fragen der Prioritätensetzung kommen ebenso Bedeutung zu, wie der Fähigkeit Selbstorganisationsprozesse zu initiieren. Coaching ist zu einem festen Bestandteil der Personalentwicklung geworden (Loos u. Rauen, 2005). In sozialen Organisationen und Bildungszusammenhängen des Nonprofit-Bereichs hatte bislang das Beratungsformat der Super­ vision die beruflichen Reflexionsprozesse bei helfenden Berufen angeleitet. »Da der Begriff Supervision aber aufgrund seines Wortsinns (Kontrolle, Aufsicht) ein hierarchisches Rollenverständnis impliziert« (Maurer, 2013a, S. 198) und zudem Formen wie Intervisionen und Konsultationen im Rahmen von Qualitäts­ sicherungsmaßnahmen kennt, erscheint in der betriebswirtschaftlich bestimmten Realität moderner Organisationen insbesondere in höheren Führungs­ ebenen Coaching als ein erkennbar auf Augenhöhe arbeitendes Beratungsformat anschlussfähiger. Dies mag auch mit Begriffsanleihen aus dem Bereich des Sports

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zu tun zu haben, die Coaching mit Sparringspartnerschaft, Vitalitätsversprechen, Handlungsorientierung, Ehrgeiz und Lustgewinn assoziativ verbinden. Coaching avanciert zu einer Professionsmarke. Es hat sich etabliert und »den Schritt von der Initialisierung zur Objektivierung« (Liska, 2009, S. 36) vollzogen. Diese organisationstheoretische Bewertung wird gestützt durch die Beobachtung diverser Professionalisierungsschritte in Form spezieller Fachverbandsgründungen, die im Bereich der Bundesrepublik Deutschland qualitätssichernde Interessen vertreten und deren Spitzenverbände sich zum »Roundtable der Coachingverbände« (www.roundtable-coaching.eu) zusammengeschlossen haben. Das Personzentrierte Coachingkonzept ist im »Roundtable der Coachingverbände« etabliert. Das Spezifikum von Coaching zeigt sich in seiner ziel- und lösungsorientierten Ausrichtung und in seiner »linear-vektoriell ausgerichteten Zeitskala« (Liska, 2009, S. 29), das zugleich ein Differenzmerkmal zum Beratungsformat der Supervision darstellt. Während die Supervision »zirkulär, reflektierende Zeitskalen« (S. 29) nutzt und der Person dazu verhilft »Distanz von ihrer beruflichen Rolle zu gewinnen« (S. 29), fokussiert Coaching primär die Passung von Person und Profession. Coaching geht bei dem Haltungsmerkmal von seinem professionell erkennbaren Engagement bei der Lösungssuche aus. Im Unterschied zum Mentoring nutzt Coaching keinen beruflichen Erfahrungsvorsprung einer Älteren gegenüber einem Jüngeren, sondern versteht sich als Form von Empowerment (Rauen, 2005, S. 112). Während Organisationsberatung eine Prozessbegleitung zur Um-, Re- und Neustrukturierung einer Organisation anbietet (Seewald in Maurer, 2013a, S. 198), zielt Coaching »auf den Leistungs- und Handlungsprozess des Klienten« (Loebbert, 2013, S. 4). Coaching kennt neben dem Einzelcoaching auch Arbeitsformate des Mehrpersonen- oder Peercoachings, des Gruppen- und Teamcoachings sowie das Dyadencoaching bei Leitungsduos (Maurer, 2013a, S. 199 f.). Neben das Beratungssetting »von Angesicht zu Angesicht« treten zunehmend telekommunikative Beratungsvarianten (Telefon, Skype, E-Mail usw.). »Aktuell schon weit verbreitet ist das Blended Coaching bei dem E-Coachingvarianten mit dem Präsenzcoaching kombiniert werden.« (Maurer, 2013a, S. 203) Schließlich lassen sich die Anlässe für Coaching in zwei Kategorien fassen (Maurer, 2013b, S. 211): (1) konflikt- und problembezogene Anlässe stehen neben (2) entwicklungsbezogenen Anlässen bei beruflichen Veränderungswünschen. In beiden Fällen zielt Coaching auf eine Erhöhung der Problemlösekompetenz. Die Lösungssuche umfasst wiederum vier Ebenen: Die Ebene des (1) Selbstkonzepts zur Aktivierung beruflicher Selbstgestaltungspotenziale, die Ebene des (2) Systems zur Effizienz- und Leistungssteigerung, die Ebene (3) der Rolle zur Unterscheidung und Lösung von intra- und interpersonellen Rollenprob-

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lemen (Dörhöfer u. Loebbert, 2013, S. 193), sowie die Ebene (4) der Person mit dem Ziel der Verbesserung ihres Wohlbefindens.

2 Lernziele Die Weiterbildung zum Coach schließt konsekutiv an die Teilnahme an Modul 1 und 2 der Weiterbildung »Personzentrierte Beratung« der GwG an (Vogt u. Schubert, V.1, S. 408 ff.) Die relevanten anthropologischen und kommunikations­ theoretischen wie -praktischen Grundlagen können voraus­gesetzt werden. Hier geht es jetzt um das Zusammenspiel von Person und System. Das Globalziel ist, dass die zukünftigen Coaches selbstständig Einzelne, Teams, Gruppen, Peergroups oder Leitungsdyaden im Kontext ihres Systems coachen können. Dazu gehört im Einzelnen: ȤȤ Sie können Coaching von Supervision und Therapie oder Lebensberatung unterscheiden. ȤȤ Sie können die Inkongruenzerfahrung ihrer Coaches vor dem Hintergrund des PzA und den systemischen und organisationalen Einflüssen verstehen. ȤȤ Sie können einen Coaching-Prozess initiieren, durchführen und evaluieren. ȤȤ Sie können die klärende, motivierende, kritische und stützende Funktion des Coachings realisieren. ȤȤ Sie können Zielvereinbarungen mit ihren Coaches treffen und Prozesse ergebnisorientiert gestalten und abschließen. ȤȤ Sie kennen Methoden, die es Coaches ermöglichen, eine vertiefte Wahrnehmung im Hinblick auf sie selbst und den Einfluss des Systems (Ziele, Werte, Mentalitäten, Geschichte, gesellschaftliche Einflüsse) zu erhalten. ȤȤ Sie können Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sowohl ressourcenorientiert als auch kritisch organisieren. ȤȤ Sie können für den Prozess relevantes Wissen einbringen, angemessene Übungen kreieren oder schon bestehende fallangemessen anleiten. Um diese theoretischen, praktischen und methodischen Anforderungen ausfüllen zu können, bedarf es sowohl an Wissen, Wahrnehmungs- und Anwendungskompetenz, als auch an Praxis und Selbsterfahrung. All diese Kompetenzen sollten zu einem Coach-Habitus, zu einem inneren Bild zusammenwachsen, das situativ und Personzentriert in angemessener Varianz wirksam wird. Der Habitus ist bei Bourdieu ein inkorporierter »Stil« des Denkens und Handelns, des Auftretens, der Sprache, der durch Prägung und Teilhabe erworben und durch Teilhabe auch modifiziert wird. Im Fall des professionellen

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Coach-Habitus findet die Prägung jedoch auch durch Wissens- und Kompetenzerwerb sowie Reflexion statt. Ein Habitus vermittelt zwischen Potenzialität und Realisierung. Es sind stets mehr Möglichkeiten des Handelns vorhanden als realisiert werden können. Der Habitus jedoch vermittelt sowohl Sicherheit als auch Flexibilität im professionellen Feld. Die Flexibilität hängt mit der besonderen Begegnungsoffenheit zusammen, die im PzA eine besondere Dignität hat. Die Vorstellung eines Coach-Habitus grenzt sich ab gegen das Bild eines im Schnellverfahren ausgebildeten Menschen mit einem Methodenkoffer.

3  Lernformen und Lernwege

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ȤȤ Theoretische Inputs werden sowohl von der Kursleitung als auch von den Teilnehmenden in Form von Vorträgen und Referaten geleistet. Als Referenzwissenschaften gelten insbesondere die Organisations- und Personalpsychologie sowie -soziologie, die Arbeits- und Kommunikationswissenschaften sowie die Sozialpsychologie. Sowohl die selbstständige Erarbeitung als auch das modellhafte Präsentieren der Kursleitung hat hier seine Bedeutung. ȤȤ Das Kennenlernen und Anwenden von Analyseinstrumenten unterschiedlicher Art schärft den diagnostischen Blick auf Organisationen und Handlungsstile und vermittelt Hinweise auf Veränderungsmöglichkeiten. ȤȤ Fallarbeit eröffnet die Möglichkeit, die Wahrnehmung für Personen und Systeme zu erweitern. Besonders in der Gruppenarbeit zeigt sich, wie viele unterschiedliche Aspekte relevant sein können. Hier gilt es dann zu priorisieren und zu Interventionsvorschlägen zu kommen, abzuwägen, welche Wirkung sie entfalten könnten und ob diese Wirkungen erwünscht sind. Die Fallarbeit in Gruppen ist besonders kreativ. ȤȤ Übungen zu verschiedenen Bereichen des Coachings vermitteln den Teilnehmenden einen wichtigen Eindruck, wie sich bestimmte Erfahrungen und Interventionen anfühlen. Ein Coach sollte u. E. keine Methode anwenden, deren Wirkung er nicht aus eigenem Erleben kennen gelernt hat. ȤȤ Themenbezogene Selbsterfahrung ermöglicht sowohl einen vertieften Einblick in eigene Konflikte im beruflichen Feld also auch die Erfahrung, welche Interventionen und Methoden sich als hilfreich und zielführend darstellen. ȤȤ Die Durchführung eigener Coaching-Prozesse hilft, eigenständig in diesem Feld tätig zu werden. ȤȤ Die Supervision in der Gruppe mit den Trainerinnen hat die Funktion, sowohl blinde Flecken zu entdecken als auch die Perspektive auf die entscheidenden, strategisch wichtigen Punkte des Falls zu fokussieren.

Auf dem Weg zum Coach

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Was die Lernorganisation angeht, so ist darauf zu achten, dass ein professioneller Habitus sich nicht hinreichend in einem Crashkurs herausbildet, sondern zwischen den einzelnen Blöcken, die Theorie, Praxis, Supervision, Übungen und Selbsterfahrung umfassen, hinreichend Zeit zur Integration des Erfahrenen bleibt, bevor neue Inputs gegeben werden.

4 Zum Ethos von Coaching Coaching präferiert eine Weltbeziehung, die von Passung und Zusammengehörigkeit bestimmt ist und grenzt sich damit von einem Weltverständnis ab, das der Vorstellung maximaler Steigerung verpflichtet ist. Es ermöglicht eine tiefere Einsicht in die Frage nach den Ingredienzien, die ein humanes Leben auf diesem Planeten möglich machen. Coaching fokussiert auf die Ressourcen der Person. Es würdigt, stärkt und hebt das bereits Bestehende. Damit trägt Coaching zur Humanisierung der Arbeitswelt bei, indem die vorhandene Produktivität der Mitarbeitenden sichtbar gemacht und mit ihren Interessen, Fähigkeiten und beruflichen Motiven als Quellgrund ihrer jeweiligen Kompetenzen und Fähigkeiten ins Verhältnis gesetzt werden. Coaching folgt einem Lernparadigma, das sich an der grundsätzlichen Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeit des Menschen orientiert. Es beschreibt die Kunst, Übergänge zu gestalten. Mit seinem Plädoyer für die Mitarbeitenden grundiert Coaching eine Organisationskultur, die von Vertrauen und individueller Leistungsbereitschaft geprägt ist. Mitarbeitende werden als Coproduzenten des unternehmerischen Erfolgs gewürdigt. Die in vielen Firmenleitbildern annoncierte Bedeutung des Mitarbeitenden wird durch Coaching zu einer erlebbaren Größe. Sie erhalten im Coaching Unterstützung. Probleme am Arbeitsplatz werden in der Arbeitswelt bearbeitet und damit der Tendenz zur Privatisierung von Problemen entgegengewirkt. Die durch Coaching eröffnete Potenzialsicht auf die Mitarbeitende fordert die Organisationen dauerhaft zu dynamischen Selbstreflexionsprozessen heraus. Personzentriertes Coaching generiert systemimmanentes Prozesswissen. Dieses Wissen ermöglicht eine vitale Formulierung von Veränderungszielen, die für Change-Managementprozesse nutzbar gemacht werden sollten.

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  C  urriculum Personzentrierter Supervisionsausbildung

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Wenn im Folgenden ein Curriculum für eine Personzentrierte Supervisionsausbildung beschrieben wird, handelt es sich um ein erprobtes und seit fünfzehn Jahren von der GwG angebotenes kontinuierlich aktualisiertes Konzept. GwG steht für die »Gesellschaft Personzentrierte Psychotherapie und Beratung e. V.« und ist mit seinen 2000 Mitgliedern, seinen jährlich ca. 50 Publikationen und seinen Fort- und Weiterbildungen der europaweit größte Fachverband für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (https://www.gwg-ev.org/die-gwg). Des Weiteren ist voranzustellen, dass diese berufsbegleitende Weiterbildung bereits mit ihrer Implementierung von der DGSv zertifiziert wurde. Seit seiner Gründung 1989 steht der Berufs- und Fachverband »Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V.« für eine durch Forschung und Praxis gestützte Qualitätsentwicklung und -sicherung von Supervision als Beratung von Menschen in der Arbeitswelt (https://www.dgsv.de/dgsv/der-verband/ueber-die-dgsv/). Die Weiterbildung richtet sich an Personen mit umfangreicher Berufs- und Beratungserfahrung aus den unterschiedlichsten Branchen sowohl aus dem Nonprofit- als auch dem Profit-Bereich. Da Supervision gerade auch in kirchlichen Arbeitsfeldern eine langjährige und viel genutzte Anwendung findet, bietet die Ausbildung auch für Mitarbeiter aus dem kirchlichen Kontext die Möglichkeit der beruflichen Weiterentwicklung. Etwa zehn Prozent der Weiterbildungsteilnehmenden stammen aus kirchlichen Arbeitskontexten. Insgesamt verfügen Teilnehmende an einer Supervisionsausbildung bereits über ein großes Spektrum an Qualifikationen und Kompetenzen: Studium, diverse Fort- und Weiterbildungen, Berufserfahrung und Berufsreife, ein professionelles Standing. Mit der Ausbildung zur Supervisorin erlernen sie eine neue Profession und verlassen nicht selten ihr ursprüngliches Berufsfeld. Supervisoren bewegen sich in komplexen Gefügen der Arbeitswelt, in unterschiedlichen Branchen und Organisationsformen und beraten darin Menschen, die ebenso in dieser Komplexität in ihren Rollen und mit ihren Berufsbiografien unterwegs sind. Sowohl Einfühlungsvermögen als auch professionelle Distanz

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sowie die Fähigkeit, die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Wirkfaktoren zwischen Person, Rolle, Organisation, Umwelt etc. zu erkennen sind dafür notwendige Kompetenzen. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist daher die eigene Rollenklarheit und ein professioneller Habitus, um der Komplexität und den oftmals widersprüchlichen Anforderungen in der Arbeitswelt zu begegnen. Supervisorinnen brauchen dafür eine Haltung im Sinne einer inneren Stabilität, die ihnen Halt, Orientierung und professionelles Auftreten gibt. Eine Personzentrierte Supervisionsausbildung unterstützt und begleitet die Teilnehmenden in diese neue Profession und Berufsidentität hineinzuwachsen, ihre Rolle zwischen Anforderungen und Lernnotwendigkeiten einerseits und der Einzigartigkeit der eigenen Person andererseits zu finden.

1 Zugangsvoraussetzungen Die Weiterbildung zur Supervisorin setzt voraus, dass die Teilnehmenden bereits umfangreiche Kompetenzen im Beratungsbereich nachgewiesen haben, sowohl praktisch durch mehrjährige Berufserfahrung als auch theoretisch durch den Nachweis beratungsrelevanter Vorqualifikationen. Da von den Teilnehmenden erwartet wird, die in den Kursblöcken vermittelten theoretischen Inhalte auch praktisch anzuwenden, ist ein erhebliches persönliches und professionelles Engagement notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Gestaltung der Weiterbildung. Die Zugangsvoraussetzungen orientieren sich an den Standards der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv), die als Berufs- und Fachverband die Ausbildung zertifiziert. Demnach müssen die Teilnehmenden folgende Voraussetzungen mitbringen: ȤȤ abgeschlossenes Studium an einer Hochschule/Universität ȤȤ mindestens drei Jahre Berufserfahrung ȤȤ Nachweis über längerfristige Fort- oder Weiterbildungen im Umfang von insgesamt wenigstens 300 Unterrichtsstunden ȤȤ Inanspruchnahme eigener Supervision im Umfang von 30 Sitzungen

2  Zum Personzentrierten Lehr- und Lernverständnis Das Curriculum dieser Coaching- und Supervisionsausbildung basiert auf dem Personzentrierten Bildungsverständnis, welches sich dafür engagiert, den Lernenden nicht Objekt, sondern Subjekt des eigenen Lernprozesses sein zu lassen. Dem-

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entsprechend ist ein Personzentriertes Ausbildungscurriculum: prozessorientiert, erfahrungsorientiert, reflexionsorientiert sowie stark auf Training ausgerichtet. Prozessorientierung ist notwendig, um die Lernenden an der Bestimmung und Akzentuierung der Lerninhalte beteiligen zu können. In einem Self-Assessment zu Beginn und an verschiedenen Stellen im Verlauf der Weiterbildung klären die Teilnehmenden eigene Stärken und Kompetenzen für supervisorisches Arbeiten sowie die Rollenübernahme als Supervisor. Sie generieren ihre jeweiligen Lernbedarfe und werden angeregt, für diese im Laufe des Ausbildungsprozesses Verantwortung zu übernehmen. In Lernpartnerschaften, die sich zu Beginn bilden, sollen sich die Teilnehmenden in der Reflexion dieses auch selbstgesteuerten Aneignungsprozesses supervisorischer Kompetenz gegenseitig unterstützen. Aus Personzentrierte Sicht ist relevantes Lernen wesentlich erfahrungsorientiert. Mit zahlreichen neueren Studien und Forschungen der Neurowissenschaften lässt sich die Notwendigkeit der Erfahrungsorientierung in Lernprozessen als wissenschaftlich fundiert belegen. Daher sollen Inhalte unseres Personzentrierten Curriculums so vermittelt werden, dass Teilnehmende die Inhalte in Verbindung mit ihren Erfahrungen bringen können, d. h. sie verknüpfen bereits gemachte Erfahrungen mit der aktuellen Lernsituation in einem Ausbildungsblock. Dieses neue Erfahrungsfeld wird wiederum Gegenstand der Reflexion. Erfahrungsorientiertes Lernen im Ausbildungsprozess zu organisieren, bedeutet, das Curriculum mit einer entsprechenden erfahrungsorientierten methodischen Didaktik auszugestalten. Erfahrungen müssen oft, um sie sich ganz aneignen zu können, reflektiert werden. Die Ausbildung ist selbstverständlich, weil sie mit Supervision ein reflexives Verfahren lehrt, selbst stark auf Reflexion ausgerichtet. Die Lernenden werden angeregt, sich selbst im Lernprozess zu reflektieren. Erfahrungen werden reflektiert, der Gruppenprozess wird reflektiert, der Einzelne im Prozess der Gruppe reflektiert sich. Darüber hinaus hat jeder Teilnehmende in der Halbzeit ein Reflexionsgespräch/Ausbildungscoaching mit einer der Ausbilder. Des Weiteren sind die Teilnehmenden angeregt, wichtige supervisorische Skills und Prozessabläufe, sowie supervisorische Methoden zu trainieren. Auch dies ist eine Form erfahrungsorientierten Lernens. Es ist zugleich Ausprobieren und Üben und für das Aneignen supervisorischer Kompetenz unerlässlich.

3 Lernziele Die Weiterbildung soll die Teilnehmenden befähigen, Personzentrierte Super­ vision und Personzentriertes Coaching eigenverantwortlich in unterschied­lichen

Curriculum Personzentrierter Supervisionsausbildung

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Settings durchzuführen und zu evaluieren (zum Personzentrierten Verständnis von Supervision: Schlechtriemen, IV.2, S. 378 ff.). In Verbindung mit dem Personzentrierten Ansatz ist das Systemische Denken ebenso integraler Bestandteil der Ausbildung: Die einzelne Person mit ihren inneren Anteilen, Personen, die miteinander umgehen und aufeinander reagieren, die Dynamik in Teams und Organisationen etc. – nichts ist nur aus sich selbst heraus so, wie es scheint. Der Systemische Ansatz nimmt die Wechselwirkungen, das Dazwischen anstelle von linearem Ursache-Wirkungs-Denken in den Blick, unterscheidet zwischen Absicht und Wirkung und sieht den Beobachter als den eigentlichen Konstrukteur von Wirklichkeit. Coaching und Supervision sind somit person- und kontextbezogene Beratungsformate. Betrachtet und reflektiert werden Zusammenhänge auf und zwischen unterschiedlichen Ebenen: Personale, interaktionelle, strukturelle, organisationale, gesellschaftliche Bezüge werden transparent und gestaltbar. Ein solches Personzentriert-systemisches Konzept bietet dafür differenzierte Verstehens- und Interventionsmöglichkeiten. Für die fachliche Fundierung kommen organisationswissenschaftliche Modelle des Organisationsaufbaus und der Organisationsentwicklung hinzu, um bei der Bearbeitung von individuellen Anliegen Prozesse und Phänomene auch auf der Makro- und Mesoebene verstehen zu können. Kenntnisse aus der Organisationspsychologie, die das Erleben und Handeln von Personen in Organisationen betrachtet, stellen ein weiteres Fundament dar, um das Spannungsfeld und die Dynamik von Person, Rolle und Organisation als Kern supervisorischen Arbeitens zu verstehen. Somit ergeben sich folgende Lernziele: Absolventinnen und Absolventen der Ausbildung können: ȤȤ den Zusammenhang von Person, Institution/Unternehmen und Gesellschaft auf der Basis der Personzentrierten Methoden und Theorien unter Einbeziehung anderer geeigneter Ansätze verstehen und Fragestellungen der Supervisandin mit diesem Bezugsrahmen bearbeiten. ȤȤ Supervision als professionelle Beziehungsgestaltung und Beratungstätigkeit verstehen und Interessen und Erwartungen von Supervisanden, Institution/ Unternehmen und Klientel in der Kontraktgestaltung und Durchführung der Supervision berücksichtigen. ȤȤ Supervision von anderen Formen der professionellen Beratung (u. a. psycho­ soziale Beratung, Organisationsberatung, Personalentwicklung) und der Psycho­therapie unterscheiden und eine angemessene Indikationsentscheidung für bzw. gegen Supervision treffen.

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ȤȤ Supervision als Einzel-, Gruppen-, Team- und Fallsupervision durchführen. ȤȤ unter der Berücksichtigung der Strukturen des Tätigkeitsfeldes differenzielle Diagnosen erstellen, mit den Supervisandinnen Ziele erarbeiten und festlegen und Supervision als Entwicklungsprozess planen. ȤȤ die berufliche Tätigkeit und die damit verbundenen beruflichen Rollen in der Supervision erkennen und einordnen. ȤȤ Supervision in ihrer Entlastungs-, Unterstützungs- und Korrekturfunktion wahrnehmen und ausüben. ȤȤ verschiedene Interventionsformen anwenden, problem- und handlungsrelevantes Wissen in den Supervisionsprozess einbringen sowie längerfristige Auswirkungen des supervisorischen Handelns mitberücksichtigen. ȤȤ Supervision unter Beachtung der ethischen Prinzipien der GwG und der DGSv durchführen. ȤȤ den Supervisand auf dem Hintergrund seines inneren Bezugsrahmens und der äußeren organisationalen Rahmenbedingungen verstehen und seine Selbstklärungsprozesse initiieren und begleiten.

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4  Der curriculare Aufbau Die gesamte Weiterbildung ist auf drei Jahre angelegt und in zwei Stufen gleichen Umfangs aufgebaut. Diese können unabhängig voneinander absolviert werden und bieten damit auch die Möglichkeit eines Quereinstiegs. Stufe 1 schließt ab mit dem Titel: »Personzentrierte*r Coach (GwG)«, Stufe 2 schließt ab mit dem Titel: »Supervisor*in GwG« bzw. »Supervisor*in DGSv« ȤȤ 500 Unterrichtsstunden mit Ausbildern (unterteilt in 20 Kursblöcke à 25 Unterrichtsstunden, in einer Frequenz von ca. 8 Wochen über 3 Jahre) zuzüglich: ȤȤ 30 Stunden kollegiale Gruppenarbeit ȤȤ 90 Stunden eigene dokumentierte Supervisions-/Coaching Praxis (Lernsuper­ vision) ȤȤ 50 Stunden Lehrsupervision/-coaching ȤȤ sowie eigenverantwortliches Literaturstudium und Erstellung einer Ab­schluss­ arbeit Lernsysteme

Der Kompetenzerwerb ereignet sich in vier aufeinander bezogenen und miteinander verzahnten Lernsystemen: Ausbildungsblöcke, Kollegiale Gruppe, Lern- und Lehrsupervision.

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Ausbildungsblöcke Dem Lernsystem der Ausbildungsblöcke kommt im Wesentlichen die Aufgabe der Erarbeitung und der Vermittlung der Theorieinhalte sowie dem Erwerb supervisorischer Handlungskompetenz zu. Neben dem Eigenstudium und dem Verfassen der Abschlussarbeit wird hier vor allem der Theoriehintergrund supervisorischen Arbeitens in Personzentriertem Verständnis erarbeitet. Die Vermittlung von Theorie gestaltet sich dabei erfahrungsorientiert. Das heißt die Theoriearbeit richtet sich an den Erfahrungen der Teilnehmenden zum jeweiligen Thema aus, erfragt und aktualisiert diese und ermöglicht neue Erfahrungen zum Thema in der Lerngruppe. Erfahrungsorientiertes Lernen geschieht somit im Dialog und bindet die Lernenden in den Lernprozess mit ein, aktiviert sie im Prozess und nutzt deren Erfahrungen und Wissen. Erfahrungsorientiertes Lernen ist daher einprägsam, bedeutungsvoll und manchmal aufregend. Die neuen Theorieinhalte knüpfen am Erleben der Teilnehmenden an, werden greifbar und können so gut integriert werden. Dies ermöglicht, die Wirklichkeit neu zu betrachten. Die Theorieinhalte sind im Konzept so abgestimmt, dass die wichtigsten Inhalte vor dem jeweiligen Ausprobieren und Umsetzen in der Praxis vermittelt sind. Da oft theoretische Aspekte zunächst in praktischen Trainingssequenzen in der Lerngruppe erprobt werden oder an der eigenen Person, Beruflichkeit und Rolle durchdacht und angewendet werden, sind die Teilnehmenden gut vorbereitet, diese dann selbst in der Praxis in ihren Lernsupervisionen zu nutzen. Die Dramaturgie des Lernprozesses während der Ausbildungsblöcke gestaltet sich in einem Wechsel von Theorieinputs, Trainingssequenzen, Übungen sowie Selbsterfahrung und Reflexion: ȤȤ In den Theorieinputs werden der Personzentrierte und supervisorische Hintergrund, aktuelles fachliches Wissens, die aktuelle Fachdiskussion sowie aktuelle Trends und Analysen in der Berufs- und Arbeitswelt vermittelt. Weitere Inhalte umfassen Systemisches Denken, Akquise, Kontrakt- und Auftragsklärung, Rollenklärung, Team (Dynamiken, Rollen, Entwicklung), Organisation (Strukturen, Abläufe, Entwicklung, Kultur), Diversity, Konfliktbearbeitung, Führung, Ethik, Supervision als Beruf, Evaluation. ȤȤ Die Trainingssequenzen dienen dem Ausprobieren und Einüben supervisorischen Arbeitens. Trainiert wird anhand von vorgegebenen Fallvignetten, Fallbeispielen aus der Berufserfahrungswelt der Teilnehmenden, Fallaspekten der Teilnehmenden aus ihren Lernsupervisionen und eigenen beruflichen Anliegen der Teilnehmenden selbst. Feedback durch Ausbilderin und Gruppe sowie Auswertung von Audio- und Videoaufnahmen vertiefen den Trainingseffekt.

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ȤȤ Übungen zum erfahrungsorientierten Erlernen spezifischen superviso­ rischen Könnens haben das Ziel, durch die Anwendung eines superviso­ rischen Themas an der eigenen Person oder Situation eine relevante Erfahrung zu machen, die dann den praktischen Umgang und die Anwendung in der Praxis ermöglicht. In Übungen kann experimentiert und ausprobiert werden. So fördern Übungen die Erfahrung der Teilnehmenden. ȤȤ Selbsterfahrungsorientiertes Lernen ermöglicht das genaue Kennenlernen der eigenen Person und Rolle, auch in ihrer Wirkung auf andere. Es fördert die Kongruenz der Person. Für selbsterfahrungsorientiertes Lernen ist die Gruppe der Weiterbildungsteilnehmenden ein idealer Lernort. Das Medium dieser Lernform ist die Selbsterfahrung im genauen Wahrnehmen und Selbstklären, in den Interaktionen mit anderen und in der gemeinsamen Reflexion der Prozesse und des Erlebens. Die Person des Supervisors als zentrales Instrument der beraterischen Tätigkeit wird hier in den Mittelpunkt gerückt.

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Kollegiale Gruppe Das Lernsystem der Kollegialen Gruppe bietet als selbstorganisiertes Setting vielfältige Lern- und Entwicklungschancen. Im Zentrum steht der kollegiale Austausch zum gegenseitigen Weitergeben von Ideen und Anregungen. Dadurch wird die kollegiale Unterstützung z. B. in Form von Ermutigung und konstruktiver Kritik für die Kollegen ermöglicht. Kollegiales Feedback soll zur Förderung kongruenter Selbstwahrnehmung und authentischen Selbstbewusstseins beitragen. Die Reflexionsprozesse in der Gruppe sind darüber hinaus für emanzipatorische Aspekte den Ausbilderinnen gegenüber sowie für Klärungsprozesse zu Themen, Inhalten, Vorgehensweisen und Dynamiken in der Gesamtgruppe wesentlich. Schließlich kann in diesem Lernsystem ganz konkret kollegiale Supervision zum Bearbeiten von Themen aus den Lernsuper­ visionen genutzt werden. Lernsupervision Das Lernsystem der Lernsupervision eröffnet die praktische Anwendung des Wissens und Umsetzung des Erlernten in eigener Verantwortung unter realen Bedingungen. Die praktische eigenverantwortliche supervisorische Tätigkeit unter Ausbildungsbedingungen hat eine sehr wichtige Bedeutung für die Kompetenzentwicklung der Teilnehmenden. Von Beginn an sind sie damit aufgefordert, eigene Kunden zu akquirieren, Verträge zu verhandeln, ihren Preis zu definieren und Supervisionen eigenständig durchzuführen. Sie erproben und reflektieren sich in der neuen Rolle und entwickeln, rückgebunden in den

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anderen Lernsystemen, ihre Identität in der neuen Profession. Die Evaluation der eigenen Supervisionstätigkeit durch die Kundinnen am Ende jeder Sitzung trägt zu einer kontinuierlichen Qualitätsentwicklung bei. Lehrsupervision Die Lehrsupervision dient – wie jede Supervision – der systematischen Reflexion und Bearbeitung von Problemen der beruflichen Interaktion, der Erweiterung und Verbesserung der persönlichen und beruflichen Kompetenzen, einem konstruktiven Umgang mit dem Klienten- und Kundensystem und einer kongruenten Einnahme der Berufsrolle. Sie gibt der Weiterbildungsteilnehmerin darüber hinaus die Möglichkeit, sich in der Rolle der Supervisandin zu erleben und einen erfahrenen Supervisor bei der Arbeit zu beobachten. Der Lehrsupervisor ist also auch Modell für die Lehrsupervisandin. Der Fokus der Lehrsupervision richtet sich vor allem auf die supervisorische Tätigkeit der Weiterbildungsteilnehmenden in ihren Lernsupervisionen. Als Begegnungsmöglichkeit im Vier-Augen-Kontakt ist sie aber auch ein Schmelztiegel für alle Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse in einem intensiven (Persönlichkeits)-Entwicklungsprozess, der es für einen Großteil der Teilnehmenden bedeutet. Für viele ist sie ein »Herzstück« der Ausbildung. Ausbildungsabschluss

Ein wesentliches Element des Abschlusses der Ausbildung stellt die Erstellung einer Facharbeit dar. In dieser werden sowohl sachliche Aspekte von Super­vision reflektiert, als auch das eigene Supervisionskonzept bzw. das eigene Verständnis von Supervision dargelegt. Eigene Überlegungen und Erfahrungen werden dabei ebenso verarbeitet wie einschlägige Literatur. Die inhaltliche Auseinandersetzung kann mehr praxisnah oder mehr theoretisch orientiert sein. So widmen sich viele Teilnehmenden in ihrer Abschlussarbeit einem Tätigkeitsfeld von Supervision wie z. B. Hospiz, Schule, mittelständiges Unternehmen. Andere setzen sich mit Themen wie z. B. Führung, Empathie oder Wirksamkeitsmessung von Supervision auseinander. Die Arbeit ist Teil des Abschlussverfahrens und wird im letzten Kursblock vorgestellt. Das Abschlussverfahren setzt sich dann wie folgt zusammen: ȤȤ Präsentation der Abschlussarbeit ȤȤ Präsentation eines Supervisionsprozesses von mindestens sieben Sitzungen ȤȤ Vorstellung der eigenen persönlichen und supervisorischen Entwicklung während der Ausbildung ȤȤ Abschlussfeedback durch den/die Ausbilder/in und Gruppenmitglieder.

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 Solidarische Präsenz – Personzentrierte Haltung und spiritueller Habitus

Klaus Kießling

1  Spiritualität

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Menschen, die erzählen, wes Geistes Kind sie sind, aus welchem Geist, aus welchem spiritus sie leben, gewähren Einblicke in ihre Spiritualität. Diese entfaltet eine größtmögliche Weite, wohingegen mit Religion und Religiosität eine institutionelle Verankerung einhergeht, die für spirituelle Bewegungen nicht zwingend ist. Leben im Geist, geistliches Leben vollzieht sich innerhalb und außerhalb traditioneller Religiosität, die ihrerseits Möglichkeiten bietet, spirituelle Erfahrungen im jeweils gegebenen Horizont zu verorten und eine Unterscheidung der Geister vorzunehmen. Ein Leben aus dem Geist zeigt sich inspiriert, begeistert von Kräften und Impulsen, die nicht aus mir selbst kommen und, wenn sie bei mir ankommen, nicht bei mir verbleiben. Meister Eckhart, ein berühmter Dominikaner, predigt wie folgt von der Geburt Gottes im Menschen: »Daß ein Mensch Gott in sich empfängt, das ist eine gute Sache […]. Daß aber Gott im Menschen fruchtbar werde, das ist noch besser« (Meister Eckhart, 1979, S. 115). Wenn ich das Bild der Geburt ernst nehme, so kann ich nicht anders, denn ans Licht der Welt zu bringen, was zur Geburt drängt. Der griechische Begriff Mystik verweist auf das Verb myein, »die Augen schließen«, und Eckharts Spiritualität zeigt in der ihr eigenen Dynamik, dass es dabei gerade nicht bleibt – und uns die Augen erst recht aufgehen, und alle anderen Sinne auch: »Spiritualität ist Aufmerksamkeit« (Steffensky, 2006, S. 17) – in der Gottesbeziehung und in jeder Beziehung. Spiritualität richtet sich als Einübung in Achtsamkeit auf alle Beziehungen, in denen, aus denen und für die Menschen leben. Solche Achtsamkeit lebt in spirituellen Traditionen, inzwischen haben auch psychologische Schulen sie zum Glück entdeckt (Reisch, Bundschuh-Müller, Knoche u. Kern, 2007). Mit diesen einführenden Umschreibungen von Spiritualität will ich auf zweierlei abheben: Zum einen darauf, dass Spiritualität sich nicht nur esoterisch nach innen richtet und gleichsam als transpersonal eingekleidete Well-

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ness mit Aussicht auf narzisstischen Gewinn daherkommt; vielmehr richtet sie sich auch exoterisch nach außen, wenn ans Licht einer beziehungsreichen Welt kommt, was zur Geburt drängt. Was ein Mensch im Geiste empfängt, behält er nicht für sich allein; sonst stirbt, was zum Leben kommen will, vielleicht einen eigenen Lebensstil, einen eigenen Habitus ausprägen will. Zum anderen hebe ich darauf ab, dass Eckharts Wirkungsgeschichte weit über die Grenzen kirchlicher Traditionen hinausragt und die von ihm gelebte und angestoßene Spiritualität mit einer im Islam und in allen anderen Weltreligionen lebenden Mystik mehr gemein hat als etwa mit christlichem oder anderem religiösem Fundamentalismus.

2 Solidarität In der Tradition Meister Eckharts sehe ich auch eine Mystik der offenen Augen. Diese verdankt sich Johann Baptist Metz. Er schlägt ein Weltprogramm des Christentums vor, das auf eine pluralitätsfähige Spiritualität setzt. Dabei treibt ihn folgende Einsicht an: »Gott ist entweder ein Menschheitsthema oder überhaupt kein Thema. Götter sind pluralisierbar und regionalisierbar, nicht aber Gott. Er ist nur ›mein‹ Gott, wenn er auch ›dein‹ Gott sein kann, er ist nur ›unser‹ Gott, wenn er auch als der Gott aller anderen Menschen bekannt und angebetet werden kann.« (Metz, 2000, S. 10)

Metz geht es um eine Spiritualität, die sich Leid und Not nicht verschließt, die vielmehr mit der Autorität der Leidenden auf compassion, auf Mitleidenschaft setzt (Kießling, 2016). Deren Verweigerung ist ihm Sünde, Selbstverkrümmung des Herzens, denn »Jesus lehrt nicht eine Mystik der geschlossenen Augen, sondern eine Mystik der offenen Augen«, eine Mystik »der unbedingten Wahrnehmungspflicht für fremdes Leid« (Metz, 2000, S. 17) und der Solidarität. Systematisch-theologisch gewinnt Solidarität erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) und seiner Pastoralkonstitution Gaudium et Spes Bedeutung (GS 4, 32, 90) und zwar als Kategorie der Erlösung: Der Gedanke der Genugtuung Gottes durch Jesu Tod am Kreuz tritt zurück, es braucht keine Sühneopfer mehr zur Beschwichtigung eines erzürnten Gottes. Eine Neubegründung von Solidarität tritt hervor – durch die Menschwerdung Gottes, der nicht Versöhnung braucht, sondern schenkt (2 Kor 5,21): Jesus Christus offenbart und verwirklicht Gottes Liebe und Solidarität mit den Menschen und befreit sie mit seiner Botschaft vom Reich Gottes zur Solidarität untereinander.

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Mit der Geburt Gottes, mit der Menschwerdung Gottes setzt unsere eigene Menschwerdung ein. Und wenn der Gekreuzigte in das Reich des Todes hinabsteigt, so tritt er in seinem Tod und durch seine Auferstehung in die Solidarität mit den Toten und ihrem Leid ein; so begründet er Solidarität unter den Menschen über den Tod hinaus; so eröffnet er die Vision einer Weltgemeinschaft, die auf göttliche Solidarität setzt. Theologisch orientiert sich diese Vision an einer Zukunft, die sich menschlichem Zugriff entzieht. Sie richtet sich an einer Lebenswelt aus, in der die Qualitäten Gottes zur Lebensqualität menschlicher Verhältnisse geworden sind.

3  Ausbildung mit doppelter Zielsetzung

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Wenn Spiritualität sich in diesem Horizont als Einübung in Achtsamkeit versteht und sich auf alle Beziehungen richtet, in denen, aus denen und für die Menschen leben, stellt sich eine doppelte Frage: Wer oder was lässt Beziehung gelingen? Welche menschlichen Haltungen begünstigen Beziehungen? Wie lassen sie sich pflegen? Und: Worin liegt in allen Beziehungsgeflechten jenes Herzstück, das sich als solidarische Spiritualität ausmachen lässt? Mit diesen Fragen ist für eine Personzentrierte Ausbildung eine zweifache Zielsetzung umrissen. Mir als Lehrendem geht es zum einen um die Arbeit an einer Personzentrierten Haltung und zum anderen um spirituelles Wachstum, also um die Arbeit an einem Habitus, in dem sich Spiritualität einüben lässt – als Ressource, die sich Verwertungsoptionen verweigert und zugleich den Berufsalltag von Seelsorgenden sowie von Lehrkräften gelingen lässt. Mit diesen Fragen haben alle Kolleginnen und Kollegen schon vor Beginn ihrer Ausbildung gerungen, sie sammelten bereits vielfältige Erfahrungen mit ge- und missglückten Versuchen, eine Personzentrierte Haltung und einen spiri­ tuellen Habitus zu leben. Auf welche Weise tragen Menschen dazu bei, dass ihre Versuche glücken oder missglücken – oder in mancher Hinsicht glücken, in anderer aber missglücken? Wodurch begünstigt oder vereitelt das jeweilige Gegenüber diese Versuche? Welche Rahmenbedingungen erhellen, welche verdunkeln das Geschehen? Mit den je eigenen Erfahrungen und Ressourcen setzen wir ein, zunächst in Still-, dann in Gruppenarbeit, schließlich im Plenum, bevor wir diese reichhaltigen Erfahrungen reflektieren, mit Beiträgen aus verschiedenen einschlägigen Disziplinen in Beziehung setzen und uns praktisch darin üben, Spiritualität zur Welt und zur Sprache zu bringen. Während ich hier damit einsetze zu konturieren, was Spiritualität ausmacht, kommen in der Ausbildung zunächst die Kolleginnen und Kollegen zu Wort.

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Auch im weiteren Verlauf dieses Beitrags geht es nicht um die Chronologie einer Ausbildung, sondern um die Präsentation einiger zentraler Elemente in ganz eigener Abfolge. Denn als Lehrender komme ich zur Ausbildung nicht mit einem vorab festgelegten Zeitplan, sondern mit einem Rucksack – im wörtlichen, aber auch im übertragenen Sinne: Er enthält zum einen einige Bausteine, die mir für die Ausbildung unerlässlich erscheinen, die ich so oder so auspacke und auch in dieser Dokumentation zumindest nenne, zum anderen aber auch Elemente, auf die ich zugreife, wenn ich Bedarf wahrnehme, die ansonsten aber auch getrost im Rucksack verbleiben können. Selbstverständlich entstehen beim gemeinsamen Arbeiten auch Konstellationen, für die sich in meinem Rucksack nichts Geeignetes findet, sodass wir gemeinsam kreative Prozesse in Gang setzen, damit ans Licht der Welt kommen kann, was zur Geburt drängt.

4  Arbeit an der Haltung – Arbeit am Habitus Arbeit am Habitus ist Arbeit. Der Begriff des Habitus steht für das Auftreten und die Umgangsformen einer Person, ihre Vorlieben und Gewohnheiten, ihr Sozialverhalten. Schon unsere Sprache macht den Zusammenhang von Haltung und Verhalten vernehmbar. Dabei lässt sich der Habitus bis in die Antike zurückverfolgen, und aus aristotelischen Quellen (hexis) schöpft Thomas von Aquin (Pesch, 1995), bevor in der zeitgenössischen Soziologie Norbert Elias (1939/1997) und insbesondere Pierre Bourdieu (1987) auf eigene Weise eine lange philosophisch-theologische Tradition weiterführen. Bei letzterem umfasst der Habitus den Lebensstil, die Sprache, auch Kleidung und Geschmack. Wenn Entwicklung und Sozialisation sich als wechselseitiges Formen und Geformtwerden erweisen, wird deutlich, dass es sich beim Habitus, bei gleichsam verinnerlichten kollektiven Dispositionen eines sozialen Akteurs um eine zwar tief verwurzelte und darum nicht abstreifbare, aber doch nicht angeborene, sondern erworbene und erfahrungsabhängige Haltung handelt. In diesem Sinne ist der Habitus keine unumstößliche Größe, sondern eine, die sich in einem sozialen Feld bewegt, in einem Spielraum von Lebensstilen, in einem Kräftefeld, in dem alle Beteiligten um Macht konkurrieren. Der Habitus steht für die geronnene Lebensgeschichte, damit aber auch für einen unabgeschlossenen Prozess, der uns nicht nur widerfährt und überfällt, sondern sich auch weiterführen und gestalten lässt. Arbeit an einer Personzentrierten Haltung und Arbeit an einem Habitus, der den Haltungsbegriff in dieser Tradition versteht, ist darum Arbeit, ist eine Übung, ein exercitium.

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5  Arbeit an der Personzentrierten Haltung eines Gastes

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Welche menschlichen Haltungen lassen Beziehungen gelingen? Damit setzte sich insbesondere Carl Ransom Rogers auseinander – als Pionier der Psychotherapieforschung und Begründer eines Personzentrierten Konzepts, aber mit weitreichender Bedeutung auch für alle anderen professionellen und alltäglichen Beziehungsgeflechte. Personzentrierte Arbeit basiert auf der Beziehung zwischen einem oder mehreren leidenden Menschen einerseits und einer therapeutischen Begleiterin sowie verschiedenen Grundhaltungen andererseits. Ein Beziehungsangebot geht dabei nicht nur von Professionellen aus, sondern auch von dem leidenden Menschen selbst, der aufgrund der Einsicht, dass er sein Leben ohne fremde Hilfe nicht mehr wird meistern können, mit einem großen Schritt auf einen anderen Menschen zugeht. Zu diesen Grundhaltungen gehört erstens die Wertschätzung, der Respekt vor und das Vertrauen in die Möglichkeiten des Klienten, sodass dieser sich mit seinem Selbstkonzept auseinandersetzen und dieses neu strukturieren kann. Dieses kennzeichnet die durch Erfahrung geprägte Weise, wie eine Person sich in ihrer Welt wahrnimmt, also in ihren Charakteristika und Fähigkeiten, in ihren Beziehungen zu ihrer Mit- und Umwelt, sowie ihre Ziele und Ideale. Die zweite Grundhaltung ist die Empathie. »Die innere Welt des Klienten mit ihren ganz persönlichen Bedeutungen so zu verspüren, als wäre sie die eigene (doch ohne die Qualität des ›als ob‹ zu verlieren), das ist Empathie und das scheint mir das Wesentliche für eine wachstumsfördernde Beziehung zu sein« (Rogers, 1977/1990, S. 216).

Echtes Verstehen meint ein Sich-Einlassen auf die Welt meines Gegenübers, ohne dass ich mich darin verliere, sondern indem ich mir selbst treu bleibe. Damit umschreibe ich als dritte Grundhaltung die Kongruenz oder die Transparenz des Therapeuten in seinen Gefühlsäußerungen, sofern sie ihm für die Beziehung zu seinem Klienten bedeutsam erscheinen, und den Verzicht auf eine professionelle Fassade. Diese drei Haltungen führe ich nacheinander ein, wir üben sie praktisch ein. Sie sind miteinander verwoben und lassen sich zu einer Haltung bündeln. Dazu greife ich ein Bild auf, das Sigmund Freud zeichnet, wenn er »dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause« (Freud, 1917 [1916–1917]/1994, S. 284). Das Motiv des Hauses als Bild für einen Menschen ist ein sehr sprechendes: Die Personzentrierte Begleiterin ist im Haus ihres Gegenübers Gast, der eingelassen wird, wenn er den Hauseingang findet und wert-

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schätzend anklopft. Er ist bereit, die Hausbewohnerin empathisch in Räume zu begleiten, in die diese allein nicht zu gehen wagt. Dabei ist sich der Gast klar darüber, dass dieses Haus »echt« nicht sein Haus ist, sodass er es wieder verlässt – zwar nicht Hals über Kopf, aber nach einer Vorankündigung –, um sich in seinem eigenen Haus häuslich niederzulassen. Auch wird er mit seiner Gastgeberin die Frage klären, ob diese gleichsam allein auf weiter Flur lebt oder ob quasi in der Nachbarschaft andere ansprechbare »Häuser« stehen. Dieses Bild gibt auch Hinweise darauf, in welcher idealtypischen Chronologie die Grundhaltungen der Wertschätzung (zur Aufnahme und Aufrechterhaltung von Beziehungen zwischen Gast und Gastgeberin), der Empathie (in der Prozess­ begleitung durch das Haus) und der Echtheit (in der Perspektive des Gastes, die letztlich eine andere, eine eigene bleibt) zu spezifischer Aktua­lität gelangen. Weil ein Anderer mir Wertschätzung entgegenbringt, lerne ich mir selbst mit Respekt zu begegnen. Weil ein Anderer empathisch mit mir umgeht, lerne ich mich selbst zu verstehen. Weil ein Anderer sich mir authentisch zeigt, lerne ich echt zu sein. An der Beziehung zum Gegenüber wächst meine Beziehung zu mir selbst – und jeder Beziehungsreichtum. In der empirischen Forschung zu Wirkfaktoren gelingender Psycho­therapie (Tscheulin, 1992) zeigt sich das Personzentrierte als integratives Konzept. Der Nachweis liegt vor, dass diese Wirkfaktoren nicht nur in dem von Carl Rogers entwickelten, sondern auch in allen anderen traditionsreichen psychotherapeu­ tischen Konzepten tragende Rollen spielen. Personzentrierte Arbeit ist schließlich »mehr eine grundlegende Philosophie als einfach eine Technik oder Methode« (Rogers 1991b, S. 243), und zur Arbeit an der Haltung eines Gastes gesellt sich die Arbeit an einem spirituellen Habitus.

6  Arbeit am spirituellen Habitus Spiritualität versteht sich als Leben aus dem Geist, ebenfalls in jeder Beziehung. Gelten auch beim Versuch, Spiritualität zur Welt und zur Sprache zu bringen, die Grundhaltungen, die sich im Bild des Hauses zu einer einzigen Haltung zusammenführen lassen? Lassen sich darüber hinaus noch andere Beziehungsqualitäten ausmachen, die über die genannten Grundhaltungen hinausgehen oder gar im Widerspruch zu ihnen stehen? In der Ausbildung gleichen wir die Personzentrierten Grundhaltungen mit den Erfahrungen ab, die alle Kolleginnen und Kollegen im Zuge ihrer Ver­suche, an ihrem spirituellen Habitus zu arbeiten, bisher sammeln konnten. Dabei entdecken wir weitreichende Gemeinsamkeiten, aber auch unseren je eigenen

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Bedarf, uns in diese Haltungen exemplarisch einzuüben, sowohl anhand der Arbeit mit transkribierten Ausschnitten aus Gesprächen zu spirituellen Fragestellungen als auch im praktischen Üben miteinander. Um in die oben formulierten Fragen hineinzuwachsen und einer möglichen Antwort auf die Spur zu kommen, braucht es die Auseinandersetzung mit einem biblischen Text, dessen spirituelle Kraft mich immer wieder aufs Neue begeistert. Welche der Grundhaltungen findet sich im Text wieder? Welche Szenen im Text gehen über diese Grundhaltungen hinaus oder stehen dazu im Widerspruch? Die faszinierend komponierte Perikope zum Emmausgang (Lk 24,13–35) schildert die Begegnung zweier Jünger mit dem Auferstandenen, Grundzüge unserer Auseinandersetzung damit lassen sich nachlesen (Kießling, 2004, S. 455–461). Sowohl in der Arbeit am Text als auch in Übungsgesprächen zu verschiedenen geistlichen Herausforderungen entwickeln wir unseren je eigenen spirituellen Habitus weiter. Die Übungsgespräche erfolgen in Gruppen von drei Personen mit folgenden Rollen: Person A bringt aus ihrem eigenen Erfahrungsraum Spiritualität ins Gespräch ein, Person B gestaltet die Beziehung zu ihr Personzentriert, und Person C vollzieht den Prozess aus eigener Perspektive mit, insbesondere Nonverbales beobachtend. Die Gruppen kommen dreimal zusammen, um sich und einander in allen Rollen kennenzulernen, zeichnen die Praxisübung auf und reflektieren diese – zunächst in der Kleingruppe und schließlich im Plenum in Gestalt einer Supervision (Kießling, 2005). Dabei zeigt sich, dass eine Personzentrierte Haltung Versuchen, Spiritualität zur Welt und zur Sprache zu bringen, sehr zugute kommt. So bedeutet mir die Akzeptanz, dass ich dem Umstand Respekt zolle, dass mein Gegenüber als Frau, als Mann Verweis auf das Geheimnis Gottes ist. Als Begleiter übe ich doppelte Empathie – für die Regungen meines Gegenübers ebenso wie für die Bewegung und den Willen Gottes – und Begleitete suchen Kongruenz für sich selbst und zuvor bei ihrem Begleiter: im Sinne wirklicher, wirkmächtiger Präsenz.

7  Spiritualität als solidarische Präsenz Wertschätzung in der Kontaktaufnahme, Empathie im Mitgehen, Echtheit in der Konfrontation mit der Wahrheit leben in der Emmaus-Geschichte – als Haltungen desjenigen, der als Menschgewordener göttliche Solidarität lebt, Solidarität bis in den Tod und über den Tod hinaus. Der Auferstandene erscheint als der Dritte, der immer schon mit den beiden unterwegs ist. Seine Solidarität ermöglicht den Jüngern, miteinander solidarisch zu sein. Er verleiht ihnen die Kraft, selbst zu Zeugen göttlicher Solidarität zu werden – über ihre eigene Beziehung

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hinaus in die Gesellschaft hinein. Der Emmausgang zeigt nicht nur zwei Jünger, denen sich ein Dritter zugesellt. Der Emmausgang schenkt uns vielmehr die Gewissheit, dass wir allemal darauf setzen können, dass immer ein Dritter mit uns ist, der uns zu gegenseitiger Solidarität anstiftet. Er bleibt in der Welt der Jünger aber nicht Gast: Als Gastgeber sprengt er das Bild des Hauses (Lk 24,30) – und eröffnet einen Himmel, unter dem ein Leben im Geist möglich wird. In der Ausbildung kommen wir nochmals auf Carl Rogers zurück. Bis zum Ende seines Lebens ringt er um die Grundhaltungen, und während seiner letzten Lebensjahre ist er »geneigt zu denken, dass ich in meinen Schriften zu viel Gewicht auf die drei Basisbedingungen […] gelegt habe« (Baldwin, 1987, S. 45). In beziehungsreichen Konstellationen entdeckt er Neues: Ihm »scheint es, daß mein innerer Sinn (inner spirit) sich hinausgestreckt und den inneren Sinn des anderen berührt hat. Unsere Beziehung transzendiert sich selbst« (Rogers, 1991b, S. 242). Menschliche Erfahrungen, so Rogers, »schließen das Transzendente, das Unbeschreibbare, das Spirituelle ein. Ich sehe mich gezwungen anzunehmen, daß ich, wie viele andere, die Wichtigkeit dieser mystischen, spirituellen Dimension unterschätzt habe.« (S. 242 f.) Bei Rogers tut sich in Ansätzen eine den anderen Grundhaltungen vorgeordnete Qualität auf, die er als presence (Rogers, 1980, S. 129) umreißt. Nun steht es mir nicht zu, Rogers als anonymen Christen zu bezeichnen, aber es tut sich in seiner Konzeption ein Raum auf, auf den ich in meiner Spiritualität angewiesen bin. Ich erinnere an Meister Eckhart: »Daß ein Mensch Gott in sich empfängt, das ist eine gute Sache […]. Daß aber Gott im Menschen fruchtbar werde, das ist noch besser« (Meister Eckhart, 1979, S. 115). Wenn zwei einander begegnen, so werden sie beide zu Zeugen jenes Dritten, der schon mit ihnen ist, bevor sie ihn in seiner Präsenz achtsam wahrnehmen. Der Dritte handelt an ihnen, und in seinem Namen handeln sie aneinander, sie leben ihre Spiritualität nicht aus sich selbst und nicht für sich selbst. Indem sie aneinander handeln, zeigen sie füreinander solidarische Präsenz. Sie handeln an Anderen, an den geringsten unter ihren Brüdern und Schwestern. Indem sie an ihnen handeln, handeln sie an jenem Dritten (Mt 25,40), sie machen Gottes Solidarität mit und unter uns Menschen wahr. Sie bewähren sich. »[…] und der eine von ihnen – er hieß Kleopas – antwortete ihm« (Lk 24,18), und der andere? Wir wissen es nicht und sollen es wohl auch nicht wissen. Denn so hält der Erzähler dieser Geschichte einer und einem jeden von uns den Platz frei. Wir erfahren durch Menschen, die uns begleiten, von jenem Dritten. Seine Präsenz, seine Solidarität wird offenbar, wenn Menschen aus diesem Geist leben. Dabei ist Solidarität der biblischen Idee der Stellvertretung verpflichtet – nicht so, dass es Opfer braucht, damit Gott sich versöhnen lässt, aber so, dass

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Menschen füreinander eintreten. Solidarität will demjenigen, dem sie gilt, dessen Platz nicht wegnehmen, sondern ihm den Raum für dessen eigenes Dasein schaffen. In der Ausbildung denken wir beispielsweise an die Rolle von Eltern: In vielfältiger Weise sind sie als Vertreterinnen und Vertreter ihrer Kinder gefragt, aber niemals so, dass sie sie ersetzen, sondern so, dass sie sie stärken, damit sie eines Tages ihre je eigene Stelle einnehmen können. »Wer nach den Strukturen gelebter Stellvertretung fragt, wird nicht umhin können, nach Christus zu fragen, also danach, in welchem Sinne sich die Stellvertretung beschreiben lässt, die die konkrete Person Jesus […] freiwillig für alle […] leisten soll.« (Sölle, 2006, S. 88)

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Mein Stellvertreter, der an meiner Stelle glaubt, hofft und liebt, weil ich nicht glauben, nicht hoffen, nicht lieben kann, hebt mich nicht auf, sodass es auf mich nicht mehr ankäme. Vielmehr läuft er vor und ich folge nach. Andere folgen nach, weil er sich nach uns umsieht und uns ansieht. Er verleiht uns durch ihr Ansehen Ansehen. Er leidet mit denen und an denen, die nicht nachkommen. Der Stellvertreter ist empfindlich für ihr Leid. Seine Liebe erzwingt nichts, sondern hofft alles: Der Stellvertreter lässt dem von ihm Vertretenen die Zeit, an seine Stelle zurückzukehren. Der Stellvertreter zwingt ihn nicht dazu, er hofft für ihn. Liebe ist als Hoffnung Stellvertretung. Der Stellvertreter macht sich abhängig, er weiß, dass er nicht machen kann, was und worauf er hofft, aber genau in dieser Ohnmacht ist er zur Liebe befreit. Diese Spiritualität, diesen Habitus leben wir Personzentriert – nicht nur nicht aus uns selbst, sondern auch nicht für uns selbst, nicht esoterisch, sondern exoterisch, nämlich zugunsten derer, deren Würde angetastet ist und die unserer solidarischen Präsenz am meisten bedürfen.

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 Grenzgang und Grenzüberschreitung – Missbrauch in der Beratung

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Der Begriff Beratung umfasst hier die Formate Seelsorge, Supervision, Coaching und auch Lehrsupervision.

1 Einleitung Beratungsgespräche sind keine Alltagsgespräche. Sowohl die Thematik als auch die Gesprächsführung unterscheiden sich in charakteristischer Weise von Alltagsgesprächen oder vertrauensvollen Gesprächen im Familien- und Freundeskreis. Indem die Anliegen der fragenden, rat- oder hilfesuchenden Person im Mittelpunkt des Gespräches stehen (Burbach, I.1, S. 28 ff.), die Seelsorgerin oder der Berater ihre bzw. seine eigenen Anliegen im Hintergrund (Goffmann, 2003) hält, um sich auf das Erleben seines Gegenübers zu konzentrieren, entsteht ein charakteristisch asymmetrisches Verhältnis zwischen beiden Gesprächspartnern. Der Berater nimmt tiefe Einblicke in das Innenleben der ratsuchenden Person. Auch, wenn gelegentliche Selbsteinbringung etwas vom Erleben der Seelsorgerin erkennbar werden lassen, so bleibt im Personzentrierten Ansatz die Asymmetrie bestehen, dass es um die Potenziale, Selbstaktualisierungsmöglichkeiten und Reorganisationschancen des Selbstkonzeptes des Gesprächspartners geht. Die Interessen der Seelsorgerin bleiben bewusst im Hintergrund. Dies erfordert auf der Seite des Beraters im Hinblick auf die Erfüllung eigener Interessen in der Beratung eine abstinente Haltung. Diese Abstinenz bezieht sich auf aufkommende Neugierde ebenso wie auf Verliebtheit, sexuelle Lust, Wut, Bedürfnis nach Nähe, besondere Anerkennung oder auch finanzielle Bedürftigkeit. Die Asymmetrie eines Beratungsverhältnisses impliziert u. a., dass die fragende und suchende Person zeitweilig in Abhängigkeit zu ihrem Berater als der passager für die Zeit der Beratung »bedeutenden Person« geraten kann. Solche Abhängigkeit, evtl. auch eine vorübergehende Regression in lustvolle, schmerzhafte oder schambesetzte Erfahrungen können zu einer Beratung dazugehören.

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Über Anliegen und Gedanken der Gesprächspartnerinnen zu sprechen, die in anderen Gesprächen deplatziert sind, gehört zu den »normalen Grenzgängen« der Beratung. Der Übergang vom »normalen Grenzgang« zur Grenzüberschreitung kann verschwommen und gleitend sein, wenn die Grenze nicht ständig und auch unter Supervision reflektiert wird.

2  Die rechtliche Dimension der Grenzüberschreitung

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Nicht tolerierbare Grenzüberschreitungen beschreibt und regelt der Gesetzgeber und stellt sie unter Strafe. Er folgt im Strafgesetzbuch dabei einer Logik, die beim sexuellen Missbrauch von Kindern zunächst am deutlichsten wird (StGB § 176). Das Gesetz stellt sämtliche sexuellen Handlungen eines erwachsenen Menschen mit einem Kind, also einem Menschen unter 14 Jahren, unter Strafe; sowohl Handlungen mit direktem Körperkontakt (Hands-on-Delikte) wie auch solche ohne direkten Körperkontakt (Hands-off-Delikte wie Pornografie oder Exhibitionismus), sowohl Taten, die der Täter an dem Opfer vornimmt als auch Taten, die der Täter durch das Opfer an sich vornehmen lässt. Die dahinterstehende Logik besagt, dass es zwischen Erwachsenen und Kindern keine einvernehmlichen sexuellen Handlungen geben kann, weil aufgrund des großen Machtunterschieds und des jungen Alters des Kindes, dieses letztlich dem, was passiert, nicht frei zustimmen kann. Derselben Logik folgend schützt das Gesetz auch andere Personen, wie Jugendliche, also Menschen zwischen 14 und 18, die in einem Ausbildungsverhältnis stehen oder jemandem zur Erziehung anvertraut sind (StGB § 174) und unterschiedliche Gruppen von Erwachsenen: Schutzbefohlene (StGB § 174), Gefangene, behördlich Verwahrte, Kranke und Hilfsbedürftige in einer Einrichtung (StGB § 174a), widerstandsunfähige Personen (StGB § 179). Das heißt, der Gesetzgeber geht davon aus, dass in einer Beziehung mit entsprechendem Machtgefälle, wie zum Beispiel in einem Gefängnis, einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Personen, etwa einem Gefangenen und einer Justizbeamtin, nicht möglich sind. Und dann gibt es seit 1998 den Paragrafen 174c StGB: Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung einschließlich einer Suchtkrankheit oder wegen einer körperlichen Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist, unter Missbrauch des Beratungs-, Behandlungs- oder

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Betreuungsverhältnisses vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm zur psychotherapeutischen Behandlung anvertraut ist, unter Missbrauch des Behandlungs-verhältnisses vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt. (3) Der Versuch ist strafbar.

Es stellt sich die Frage, was insbesondere der 2. Absatz für Beratung oder für Seelsorge heißt. Zunächst ist festzustellen, dass der Gesetzgeber in einem psycho­therapeutischen Setting ein so starkes Machtgefälle sieht, dass dort Personen geschützt werden, unabhängig davon, ob sie selbst sexuellen Kontakt wünschen. Wo liegen jedoch die Unterschiede zwischen einer Psychotherapie und einer Beratung? Juristisch stellt es sich so dar: Die Auslegung des § 174c(2) ist breit gefächert, auf der einen Seite im Sinne einer anzunehmenden Analogie von Beratungskontexten zur Psychotherapie auf der anderen Seite bis zur klaren Beschränkung auf den Gesetzestext, also Psychotherapie nur als die anerkannten Verfahren zu bewerten. »Bei kaum einer Rechtsfrage gehen die Auffassungen des Bundesgerichtshofes und die einhellige Lehrmeinung, die in unterschiedlichen anerkannten Kommentaren des Strafgesetzbuches zu finden ist, so auseinander, wie bei der Frage, was unter einer psychotherapeutischen Behandlung im Sinne des Abs. 2 zu verstehen ist. Während der Bundesgerichtshof (der 1. Strafsenat) festgestellt hat, dass im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) nur solche Personen Täter sein können, die eine Qualifikation im Sinne der §§ 5,6 PsychTHG besitzen (BGH 54, 169, 172), sind nach einhelliger Gegenansicht in der strafrechtlichen Literatur (MK-Renizkowski NstZ 10 Heft 12) nicht nur die anerkannten Therapien vom Gesetzgeber gemeint, sondern auch alternative Therapieformen einbezogen. »Ein Fall der Vorschrift ist immer dann gegeben, wenn die betroffenen Person aus eigenem oder fremdem Antrieb wegen geistiger oder psychischer Beeinträchtigungen eine therapieartige Behandlungssituation aufsucht und auf eine Linderung des Leidensdrucks oder Heilung gerichtete Tätigkeit des Therapeuten stattfindet« (Fischer StGB, § 174 c, Rd 6). Ausgeschlossen sind nach dieser Ansicht nur reine Selbsthilfegruppen und solche Kurse, die dem Training von sozialen Kompetenzen dienen (Coaching von Führungskräften etc.)« (Fegert, Hoffmann, König, Niehues u. Liebhardt, S. 60)

Nach derzeitigem Stand würden Beratung und Supervision nicht unmittelbar unter den § 174c(2) fallen. Dennoch ist es sinnvoll, dass Beraterinnen und Supervisoren sich der Nähe zu dieser Grenze bewusst sind.

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3 Standesethische Grenzen in der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie Viele Beratungsverbände haben standesethische Richtlinien. Exemplarisch werden hier die der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie vorgestellt (Satzung, 2014).

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»§ 9 Ethische Richtlinien 1. Die DGfP verpflichtet ihre Mitglieder in ihrer pastoralpsychologischen Arbeit auf die Einhaltung ethischer Grundsätze, vor allem –– zum Beachten der Grenzen der eigenen Kompetenz und Qualifikation, –– zum Verzicht auf Indoktrination, –– zum Beachten der durch den Beruf entstehenden Abhängigkeit von Klientinnen und Klienten in Gruppen oder in der Arbeit mit einzelnen Personen z. B. im finanziellen Bereich, –– zum Respektieren der persönlichen Integrität der Person, –– zur uneingeschränkten Abstinenz im sexuellen Bereich gegenüber Klientinnen und Klienten und Ausbildungskandidaten und Ausbildungskandidatinnen, –– zur Einhaltung der Schweigepflicht. 2. Im Fall von Beschwerden Betroffener oder vergleichbaren Fällen führt die DGfP ein eigenes Verfahren durch. Beschwerden sind an die/den erste/n Vorsitzende/n oder den/die Vorsitzende/n der Standeskommission zu richten. 3. Über die Verfolgung von Beschwerden und eine bei deren Begründetheit zu verhängende Maßnahme entscheidet die Standeskommission. Dem Mitglied steht innerhalb einer Frist von einem Monat nach Erhalt des schriftlichen Abschluss­berichtes der Beratung die Berufung (analog der §§ 513 Abs. 1, 529 Abs. 1, 531 Abs. 1 und 2 ZPO) vor dem Gesamtvorstand zu. Dieser entscheidet dann letztinstanzlich. 4. Mögliche vereinsrechtliche Sanktionen sind ein Verweis (Rüge), die Aberkennung aller von der DGfP vergebenen Titel oder der Ausschluss aus der DGfP.«

Hier wird deutlich, dass die DGfP das Abstinenzgebot unmissverständlich ernst nimmt und Beschwerden in einem verbandinternen Verfahren nachgeht. Im Fall der Feststellung von Grenzüberschreitungen werden Sanktionen ausgesprochen je nach Schweregrad des Vertrauensbruchs bis hin zum Ausschluss aus der Gesellschaft. Angesichts der oben dargestellten Rechtslage kann dies im Streitfall dazu führen, dass die Täter dennoch Recht bekommen (Burbach, 2015, S. 71). Trotzdem wird erwartet, dass die in der Satzung vorgesehenen Grenzen von den Mitgliedern eingehalten werden. Hier ist die Rechtsprechung bislang noch nicht völlig konform mit den ethischen Richtlinien der Gesellschaft.

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4 Die innere Differenzierungsarbeit der Beraterin nach Carl Rogers Bei Carl Rogers findet sich zwar kein explizites Abstinenzgebot oder ähnliches, jedoch weisen seine Ausführungen zu den Prozessvariablen Empathie und Echtheit die Linie für Personzentrierte Arbeit. Von besonderer Bedeutung vorab ist dabei Rogers’ Verständnis von Erfahrung. Er hat quasi einen doppelten Erfahrungsbegriff: Zum einen bedeutet Erfahrung, nahe dem Alltagsbegriff, ein Erlebnis oder etwas, das von außen auf den Menschen zu kommt und das er reflektierend oder nachspürend verarbeitet und in sein Selbst integriert; zum anderen thematisiert Rogers die innere Erfahrung, also aufsteigende Gefühle, Wünsche, Fantasien, die der Therapeut während des Gespräches in sich wahrnehmen – erfahren – kann. Die Echtheit des Therapeuten, die Rogers auch mit Offenheit für Erfahrung beschreibt, beinhaltet beide Aspekte. Es geht ihm darum, die Lebenswelt des Gegenübers im Sinne der Empathie zu verstehen, diese Lebenswelt zu hören und nonverbal wahrzunehmen, also von außen zu erfahren und dann im Sinne der Echtheit zu versuchen nachzuvollziehen, was dieser Einblick in die Lebenswelt des Anderen beim Therapeuten bewirkt. Macht mich diese große Traurigkeit des Gegenübers selbst traurig oder treibt sie mich unmittelbar in die Flucht oder löst sie Mitleid aus? Auf einer weiteren Ebene zeigt sich dann die Offenheit für meine eigenen inneren Motive. Stellt sich aufgrund dieser Begegnung mit diesem Menschen in mir ein Wunsch nach Nähe, nach Zärtlichkeit oder Ablehnung oder Hass ein? Diese Offenheit für Erfahrung ist für Rogers der Schlüssel. Wenn ich diese Gefühle in mir wahrnehmen kann, kann ich damit dem Klienten gegenüber besser umgehen und reflektieren, was für den Klienten hilfreich ist. Rogers formuliert: »Wenn ich auf die Weise echt (real) bin, die ich zu beschreiben versuche, dann weiß ich, dass meine eigenen Gefühle oft ins Bewusstsein hochblubbern und so ausgedrückt werden, dass sie sich meinem Klienten nicht aufdrängen.« (Rogers, 1965) Wenn der Therapeut diese innere Erfahrung nicht leugnen muss, sie wahr­ haben kann und dieses »Hochblubbern« ins Gewahrsein ernst nimmt, dann wird er feststellen, dass die Wünsche und Fantasien beispielsweise nach Sexualität oder nach Gegenaggression dem Klienten nicht hilfreich sein wird. Innere Erfahrung »experience« und Gewahrsein »awareness« sind bei Rogers die Kombination, die dem Therapeuten die Handlungs- und Reflexionsmöglichkeiten geben, dem Klienten hilfreich zu sein und nicht den eigenen Wünschen oder Bedürfnissen zu folgen. »I have used the term »congruence« to refer to this accurate matching of experience with awareness. It is when the therapist is fully and accurately aware of what

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he is experiencing at this moment in the relationship, that he is fully congruent.« (Rogers, 1961, p. 282)

Die Ausführungen über Echtheit betreffen die Möglichkeiten grenzüberschreitender Wünsche aufseiten des Therapeuten. Mit Erläuterungen zur Empathie beleuchtet Rogers die Möglichkeiten grenzüberschreitender Wünsche aufseiten des Klienten. Während Rogers auf der einen Seite ein hohes und sehr nahes Ideal des empathic understanding beschreibt mit Sätzen wie: »Werde ich fähig sein die innere Welt dieses Individuums von innen her zu verstehen? Kann ich sie durch ihre Augen sehen? Kann ich mich sensibel genug in der Welt ihrer Gefühle bewegen, sogar so, dass ich weiß, wie es sich anfühlt sie zu sein […]« (Rogers, 1965),

betont er auf der anderen Seite bei Empathie die »als ob«-Dimension:

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»is that the therapist is experiencing an accurate, empathic understanding of the client’s world as seen from the inside. To sense the client’s private world as if it were your own, but without ever losing the »as if« quality – this is empathy …« (Rogers, 1961, p. 284.)

Mit diesem »als ob« meint Rogers die Klarheit des Therapeuten, dass er bei aller Empathie eben nicht der Klient ist, dessen Gefühle letztlich nicht seine eigenen sind und daher auch die Grenzlinie der Wünsche klar ist. Die Wünsche und Sehnsüchte des Klienten sind nicht meine. Damit sind bei Rogers zwei wesentliche Linien zum grenzachtenden Umgang vorgegeben, die in der weiteren Entwicklung des PzA erhalten und aktualisiert wurden. Der Blick auf den Klienten und die Überprüfung der jeweiligen Wünsche in dem asymme­ trischen Verhältnis zwischen Klient und Therapeut sind ein wichtiges Merkmal Personzentrierter professioneller Kompetenz. Wenn also Personzentriert arbeitende Berater und Seelsorgerinnen mit der durch den Ansatz gegebenen empathischen Nähe in guter und reflektierter Weise umgehen können und die inneren Erfahrungen im Sinne der Echtheit überprüft haben, können Beraterin und Klient vom Humanistischen Menschenbild des Ansatzes stark profitieren. Die Persönlichkeit des Klienten, so die Idee, wird sich unter den notwendigen und hinreichenden Bedingungen (s. o.) zu einer sozialen und vorwärtsgerichteten Persönlichkeit entwickeln. Der Berater ist ein »facilitator«, einer der durch seine Haltung diese Entwicklung möglich macht. Das bedeutet eine hohe Autonomie der Klientin. Der Personzentrierte

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Berater wird keine Lösungen anbieten, wird keine eigene Ursachenforschung betreiben, wird Äußerungen nicht werten oder deuten. Er ist überzeugt, dass die positiven Wachstumskräfte im Klienten stark genug sind und wohin diese führen, weiß letztlich nur der Klient selbst. Diese Kräfte sind der Klientin möglicherweise momentan nicht zugänglich, sie sieht keine Lösung, erkennt ihr Potenzial nicht. Auch in solch einer Situation ist die Haltung der Beraterin von bedingungsloser positiver Wertschätzung, empathischem Verstehen und Echtheit geprägt. Es sind die inneren Kräfte des Klienten, die zum Fortschritt führen, nicht das Wissen, Können oder die Technik der Beraterin. Wird dies beachtet, wird diese Grundlinie »ich weiß nicht mehr und nichts besser als Sie, Sie sind die Spezialistin in Ihrem Leben« nicht überschritten, ist das Risiko einer Grenzverletzung von Seiten des Beraters gering.

5  Das Vertrauensverhältnis in der Ausbildung Besondere Aufmerksamkeit gilt den Ausbildungsverhältnissen im PzA. Hochschulstudierende, Vikarinnen oder Priesteramtskandidaten nehmen pflichtgemäß an den Modulen und Kursen zu Seelsorge und Beratung teil. Andere melden sich freiwillig, aus dem Bedürfnis heraus, ihre Beratungskompetenz erweitern zu wollen, zu einer Fort- oder Weiterbildung in Personzentrierter Beratung und Seelsorge. Sie alle sind Menschen, die bereits unterschiedliche Kompetenzen erworben, abgeschlossene, anspruchsvolle Studiengänge und auch Lebenserfahrung ihr Eigen nennen. All das, was die Teilnehmenden mitund einbringen, wird als Ressource betrachtet, die den gemeinsamen Lernweg bereichern wird. Die Teilnehmenden werden ihre Praxis supervidieren lassen, in der Selbsterfahrung werden sie versuchen, sich selbst besser und noch einmal neu kennen zu lernen, sie werden mit sich neue Erfahrungen machen in der Zusammenarbeit mit den anderen Teilnehmenden, theoretische Inputs müssen verarbeitet und z. T. auch mit eigenem Erleben, eigenen biografischen Ereignissen in Verbindung gebracht werden. Der Leitung eines solches Moduls, einer Fort- oder Weiterbildung kommt eine wichtige Rolle zu. Sie eröffnet den Raum für dieses mit der je eigenen Person und dem je eigenen Selbst sehr eng verbundenen Lernen. Sie treffen Absprachen mit den Teilnehmenden über Rahmendaten und Verbindlichkeit. Sie achten darauf, dass diese Absprachen eingehalten werden und ein verläss­ licher Lernraum entsteht. Die Erwartungssicherheit im Hinblick auf Möglichkeiten und Grenzen der Selbsterkundung bei Übungen, in der Praxis und Supervision wie auch in der dafür vorgesehenen Selbsterfahrung muss gegeben sein.

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Teilnehmende müssen wissen, wie sie sich ins Gespräch bringen können, wenn ihnen das als wichtig erscheint und sie müssen wissen, wie sie sich auch wieder zurückziehen können. Sie müssen lernen, wie sie sich gegenseitig wertschätzend, empathisch und echt Feedback geben können. Der Kursleitung kommt hier eine besondere und komplexe Rolle zu. Vor allem, was sie sagt, wirkt am meisten ihr Tun und ihr Modell auf die Teilnehmenden. An der Leitung erkennen sie, wie Kongruenz, Akzeptanz und Empathie sich anfühlen und welche Wirkung sie haben. Wie die Leitung mit Konflikten umgeht, wie viel Freiheit sie gewährt und wie zuverlässig sie auf die Einhaltung des Rahmens achtet, wirkt sich unmittelbar auf die Herausbildung der bera­terischen und seelsorglichen Haltung der Teilnehmenden aus. In Zweifels­ fällen in der Praxis werden sie sich daran erinnern, wie ihre Kursleitung diesen Zusammenstoß und jenes Missverständnis bearbeitet hat, wie sie mit eigenen Fehlern und denen der Teilnehmenden umgeht. Werden eigene Fehler der Leitung vertuscht und die der Teilnehmenden führen zur Blamage? Solche Verhaltensweisen stören das Vertrauensverhältnis oder zerstören es sogar. Auch im Fehlermanagement gilt Offenheit für Kritik und Wertschätzung für die Person als vertrauensbildende Kommunikationskultur. Vertrauen im Ausbildungsverhältnis lebt von der Kontrakttreue der Kursleitung. Der Kontrakt beinhaltet, dass die Teilnehmenden das Erlernen des PzA wünschen und sich dazu auf den Weg machen, im Hinblick auf die Kursleitung beinhaltet er, dass sie die geeigneten Theorien und Methoden anbietet, die es den Teilnehmenden ermöglichet, die erwünschte Kompetenz zu erwerben. In diesem Lernzusammenhang entsteht meist ein besonderes Feld an Person-Nähe, Solidarität und Sympathie unter den Teilnehmenden, in die auch die Kursleitung leicht integriert wird. Hier muss die Kursleitung darauf achten, wie viel Nähe und auch Distanz zu den Teilnehmenden notwendig ist. Leicht kann bei entsprechender Bedürftigkeit Empathie als Sympathie oder Liebe gedeutet werden. Unter Umständen kann auch die Kursleitung in die Situation geraten, sich erotisch angezogen zu fühlen. Dennoch ist die Grenze aufrecht zu erhalten, dass die Kursleitung bei ihrer Rolle bleibt und nicht anderen attraktiven Zielen folgt. Auch, wenn Kursteilnehmende regredieren, in der Leitung den besseren Vater oder die bessere Mutter erkennen als den oder die sie hatten, den interessanteren Mann, die attraktivere Frau zu finden glauben, als den oder die sie haben, sollte die Kursleitung nicht in symmetrische Reaktionen geraten, sondern bei ihrer Rolle bleiben. Die Kursleitung hat die Aufgabe asymmetrisch und stabil bei ihrem Auftrag und im Kontrakt zu bleiben, egal, welche Projektionen sie erreichen. Auch hier ist wieder die Supervision, in der solche Situationen zur Sprache kommen, in Erinnerung zu rufen. Wichtig ist es jedoch auch, solche Situationen

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mit Wertschätzung, Takt und Gradlinigkeit gleichermaßen zu bewältigen und die vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre wiederherzustellen. Auch hier liegt ein wichtiger Punkt des Modelllernens: Ähnliches kann auch den Teilnehmenden in ihrer Praxis leicht geschehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich jemand in die einfühlsame junge Pastorin verliebt, der junge Priester zum Sehnsuchtsobjekt von Gemeindegliedern wird oder die interessante, methodengewandte Diakonin Neid erweckt. Das sind Reaktionen, die erkannt werden sollten und die möglichst ohne Blaming oder unnötigen Streit bearbeitet werden sollten. Grenzüberschreitungen in der Ausbildung haben jedoch u. U. eine lawinenartige Wirkung der Fortsetzung. Untersuchungen zeigen, dass grenzenmissachtende Therapeuten ihre Grenzverletzungen wiederholen und als Ausbilder wahrscheinlich einen Multiplikatoreneffekt generieren (Schuppli-Delpy, 2007, Anhang S. 1f und 5 f.).

6  Rollenklarheit versus Kollusion der Bedürftigkeiten Ein Seelsorgegespräch, eine Beratungsreihe, ein Coaching- oder Supervisionsprozess dient konsequent dem Wachstum der hilfesuchenden Person. Zur Personzentrierten Gesprächskultur gehört – wie wohl zu jedem Ansatz von Beratung –, dass die Gesprächspartnerinnen sich auf die Rolle des Seelsorgers verlassen können. Im Prozess der Gespräche entsteht Vertrauen in die Person und Rolle des Seelsorgers und es wächst aufseiten des Seelsorgers immer mehr Zutrauen zur Arbeit des Hilfesuchenden an sich selbst. Insofern ist das Seelsorge- und Beratungsverhältnis ein Vertrauensverhältnis, in dem die ratsuchende Person der Seelsorgerin ihre Gedanken und Gefühle anvertraut in der Annahme, dass sie vertrauenswürdig ist und bleibt. Die Vertrauenswürdigkeit erweist sich in der Einhaltung der Schweigepflicht und darin, dass die Seelsorgerin nichts für sich erwartet oder nimmt, sei es eine besondere Anerkennung, sei es Geld, seien es Komplimente, seien es Berührungen oder seien es sogar Freundschafts- oder Liebesbeziehungen. Im Fall von Beratung, Coaching oder Supervision gilt das vertraglich vereinbarte Honorar als zu entrichten. Alles weitere Nehmen aufseiten des Beraters hat die Tendenz über die Grenzen zu gehen und die Vertrauensbeziehung zu stören oder gar zu zerstören, in jedem Fall jedoch die asymmetrischen Gewichte in Richtung Symmetrie zu verschieben. Viele Beispielgeschichten zeigen die zum Teil desaströsen Folgen, die Grenzüberschreitungen haben können (Burbach, 2015, S. 64 ff.). Was veranlasst jedoch Beraterinnen die Grenzen des Beratungssettings, evtl. sogar schleichend und zunächst unbemerkt, zu verlassen? Grundsätz-

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lich gehört es zur Weiterbildung einer Seelsorgerin, eines Beraters, ein sicheres inneres Gefühl für die eigene Rolle und die Beratungsbeziehung zu haben. Viele Geschichten deuten daher darauf hin, dass es Bedürftigkeit ist, die Beraterinnen dazu verführt, ihre Rolle zu verlassen. Dass kann z. B. das Bedürfnis nach mehr Erfolg, Ansehen, mehr Liebe, mehr Zuneigung oder mehr Macht sein. Meist sind es veränderte Lebensumstände oder auch Krisen des Beraters, die die innere Balance, die das asymmetrische Beratungsverhältnis erfordert, aus dem Lot bringen. Das Bedürfnis nach Nahrung für die innere Bedürftigkeit oder gar Leere, das Unerfüllt-Sein verleiten dann u. U. zur Grenzüberschreitung. Vielleicht ist es auch die Begegnung mit einem besonders attraktiven Menschen, die zur Verführung wird und eine bisher nicht erfahrene Sehnsucht und Unausgefülltheit angesichts dessen, was ein Ratsuchender repräsentiert, ins Bewusstsein des Beraters treten lässt. Die besondere menschliche Nähe, die in diesem professionellen Setting unter Umständen leichter zu erreichen ist als im privaten Bereich, könnte auch ein zur Grenzüberschreitung führendes Motiv sein. Zum Erhalt der Professionalität von Therapeuten, Seelsorgerinnen und Beratern gehört deshalb die Supervision, die solche Bedürfnisse erkennt, es gehört jedoch auch dazu, diese Bedürfnisse in solchen Beziehungen zu leben, die dafür vorgesehen sind. Im anderen Fall entsteht eine Kollusion der Bedürftigkeiten. Zu den Beobachtungen an sich selbst, die einen Seelsorger aufmerken lassen sollten, gehört, dass er sich z. B. verstärkt über seine Kleidung, seine Wirkung Gedanken macht, wenn er eine bestimmte Klientin erwartet, Duzen in Kontexten, in denen dies nicht üblich ist, Kontakte zu unterhalten außerhalb des professionellen Rahmens. Wenn die Beraterin feststellt, dass sie dabei ist, über eigene Eheprobleme etc. zu sprechen, ist es in jedem Fall Zeit, sich Unterstützung für die eigenen Belange zu suchen.

7  Die schillernde Person des Täters oder der Täterin Zur Dynamik der Grenzgänge und Grenzüberschreitungen gehört als besonders dynamisierendes Element die Person des Täters oder der Täterin. Sie ist gekennzeichnet durch die sogenannte double-face-Struktur. Da gibt es auf der einen Seite die nette, verständnisvolle, zugewandte, lobende und unterstützende Person, die andere positiv anerkennt, die Gutes tut und guttut. Der geniale Pädagoge, der sich so für die Kinder einsetzt, wie Gerold Becker, der engagierte Kollege, der auch Gespräche außerhalb der normalen Zeiten anbietet, der Hilfsbedürftige besonders unterstützt und das bis in den privaten Rahmen. Geschätzt, anerkannt, angepasst oft überangepasst werden die Täter beschrieben (Tschan, 2005, S. 193;

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Schlör, 2015). Und auf der anderen Seite zeigt sich die Person unverständlich, gewaltsam, abwertend, Geheimnisse machend und einfordernd teilweise auch grausam. Diese Seite jedoch kennen nur der Täter selbst und das Opfer, alle anderen wissen nichts davon. Im hier beschriebenen Kontext besteht immer eine nahe Beziehung zwischen Täter und Opfer, Geheimnisse gehören schon zum Setting der Beziehung. Primär ist die Vertraulichkeit einseitig, das heißt die Beraterin, der Seelsorger (bis hin zum Beichtvater) garantiert, dass er die in diesem Setting ihm anvertrauten Dinge vertraulich behandelt. Vertraulichkeit aufseiten des Klienten ist eigentlich kein Teil des Kontrakts; dennoch wird das oft so empfunden und manchmal gibt es auch angemessene Empfehlungen die Themen der Beratung nicht sofort mit Angehörigen oder von der Thematik betroffenen Personen zu besprechen. Das erleichtert es dem Täter: aus »Ich bin verschwiegen« wird »WIR haben ein Geheimnis«. Und im Rahmen dieser ausgedehnten Geheimnisse kann auch die dunkle Seite des double-face Täters geheim bleiben. Diese Spaltung innerhalb der Person des Täters setzt sich oft in der Umgebung fort. Kollegen und Umgebung können sich eine Grenzverletzung bei ihm überhaupt nicht vorstellen, manche würden für ihn die Hand ins Feuer legen, dem Opfer wird nicht geglaubt; andere glauben dem Opfer und es entstehen zwei Fronten. Unter Kolleginnen, in Berufsverbänden, Organisationen, Kirchengemeinden und in Supervisionsgruppen sollte diese Spaltungsthematik bedacht und begleitet werden. Sie gilt im Übrigen, aufgrund der Erfahrungen in Systemen, auch für falsche Anschuldigungen. In den Settings der Beratung, Supervision und in Ausbildungsbezügen bleibt mit Werner Tschan (2005, S. 273) festzuhalten und jeder Personzentrierte Seelsorger und jede Seelsorgerin müssen sich immer wieder vergegenwärtigen: »In dem Moment, in dem wir unsere Berufszulassung annehmen, geben wir bestimmte persönliche Freiheiten zugunsten den Anforderungen unseres Berufsstandes auf.«

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Stichwortregister

Achtsamkeit 46, 56, 175, 177, 180 ff., 274, 361, 444, 446 Achtung 30, 228, 244 f., 337 f. Aggression 54, 236, 267, 286 Akkomodation 62 Aktualisierungstendenz 20 ff., 27, 29, 34 f., 56, 59, 62, 82, 85, 93, 95, 97, 109, 134, 137, 142, 163 f., 228, 331, 362, 375 f. Vertrauenswürdigkeit der Aktualisierungstendenz 22 Akzeptanz 26, 28 ff., 43, 53 f., 56, 62, 77, 84, 90, 92 f., 96, 100, 124, 138, 155, 167, 175, 177, 181 ff., 191, 194, 217, 287, 294 f., 308, 315, 341, 345, 347, 349, 357, 365, 376, 379, 397, 429, 450, 460 Angst 27, 31, 35, 47, 52, 59, 154, 172, 205, 219, 236, 239, 243, 254, 283, 285, 300, 303, 339, 341, 347, 350, 353, 357, 408, 410 Anthropologie 10, 20, 23, 46, 96, 98, 101 ff., 109, 112, 115 f., 119 f., 126 ff., 227 f., 230, 426 anthropologische Grundstruktur 147 Antwort 39, 46, 73, 115, 158, 186, 190, 203, 206 f., 210, 213, 230, 255 f., 262 ff., 284, 287, 333, 364, 381, 408, 424, 450 Arbeitswelt 277, 378, 381, 435 ff., 441 Assimilation 62, 263 Asymmetrie 55, 194, 255, 330, 453, 458, 460 ff. Auferstehung 105, 127, 328, 446 Ausbildung 80, 172, 217, 222 f., 324, 335, 368, 396, 400 f., 405 ff., 414 ff., 423, 428 ff., 436 ff., 443, 446 f., 449, 451 f., 459, 461 Authentizität 29, 79, 124, 146, 164, 174, 179, 194 f., 212, 243, 276 f., 289, 327 f., 348, 378 f., 383, 388, 442, 449 Autonomie 62, 64, 80, 117, 155, 175, 191, 271, 321, 357, 458 Autopoisesis 62, 189

bedingungslos 30 f., 68, 74, 124, 245, 275, 348, 365, 459 Begegnung 19 f., 22, 24 f., 28 ff., 50 f., 56, 62 ff., 96, 100 f., 105 f., 108 f., 125 f., 141, 143 ff., 154, 159, 165, 176, 194, 203, 209 ff., 227 ff., 234, 241, 244, 253, 260, 262, 285, 289 ff., 307 f., 312, 316, 326, 332 ff., 339, 342 f., 345 f., 348, 352, 358 f., 361 ff., 396, 405 f., 408, 421, 426 f., 450, 457, 462 Begleitung 11 f., 35, 64, 197, 204, 218, 221, 236 ff., 242, 282, 285, 287, 290, 292, 297, 314 f., 325, 337 f., 340, 344 f., 350, 387, 392 ff., 415, 419 Begleiter*in 18, 218, 243, 285, 287 ff., 312, 315, 338, 341, 344, 393 ff., 398 ff., 424, 448, 450 Behaviorismus 113 Beheimatung 222 f., 229 Bejahung 30, 124, 146 Beobachtung 31, 51 f., 55, 138, 145, 188, 193, 211, 242, 250, 255, 313, 379, 385, 420, 432, 462 Beobachter*in 187 ff., 193, 195, 439 Beratung 9 ff., 15, 17 ff., 24, 27, 29, 31 f., 43 f., 47 f., 51, 57, 64, 68, 120, 130, 139, 141, 153, 159 f., 167, 186 ff., 193, 196, 201, 204, 213, 225 f., 231, 236 ff., 244 ff., 266 f., 269 f., 273 f., 276, 278 ff., 294 f., 297, 299 ff., 317, 319 f., 322 f., 326, 355 ff., 361, 385 ff., 407, 409, 433, 436, 439, 453 ff., 459, 461, 463 Beratungsgespräch 28 f., 45, 147, 272, 275, 277 f., 318 f., 408, 410, 453 Bewusstsein 23, 25 ff., 34, 53, 56, 60 ff., 83 f., 86, 89, 104, 125, 155, 160 ff., 164, 166, 178, 221, 279, 375, 457, 462 Beziehung 10, 25, 28, 32, 36, 42 ff., 47 f., 50, 54 ff., 58, 62 ff., 68, 72 ff., 83, 85 f., 88, 92 f., 95, 99 ff., 107 ff., 113 f., 116, 121, 124 f., 139,

Stichwortregister

144 ff., 150, 155 f., 162 f., 171, 175 f., 180 f., 183 f., 189, 191, 195, 197, 204, 209 f., 212, 217, 226, 228 f., 233 f., 238 ff., 257, 260, 273, 278, 284 ff., 288 ff., 292, 297, 301, 308, 311, 314 f., 319, 330, 332 ff., 342 ff., 355 ff., 362 ff., 367 f., 379, 396, 401, 416, 426 f., 444, 446, 448 ff., 454, 462 f. Beziehungsangebot 43, 88, 92 f., 95, 182, 258, 345, 349, 351, 379 f., 383, 448 Beziehungsangewiesenheit 86, 102, 109 f., 379 Beziehungsgeschehen 88, 213, 343 Beziehungsgestaltung 28, 45, 51, 59, 63, 82 f., 88, 93 ff., 177, 182, 212, 233, 273, 319, 375, 380, 439 Bezogenheit (soziale) 152, 155, 273, 373, 378 Bezugsrahmen 33 f., 64, 321, 365, 372 f., 379, 439 Bildung 69, 77, 135, 138, 225, 242, 273, 416 Bindung 26, 58, 176, 181, 299, 357 f., 393 f., 416 Böse 23, 57 ff., 79, 86, 97, 108, 302, 309, 314 Boshaftigkeit 23 Bühne 33, 195 ff., 371 ff. Christologie 102, 115 f., 126 Coaching 9, 12, 34, 51, 64, 269, 273 f., 279, 281, 319, 371 ff., 385, 387 ff., 391, 431 ff., 453, 455, 461 Coach 23, 51, 56, 61, 279, 375 f., 385, 389, 431, 433 f., 440 Counseling 68, 219 Curriculum 12, 386, 391, 405 f., 418, 436 ff. Depression 41, 155, 172, 181, 231, 238, 282 ff., 289 ff., 297, 318, 331, 355, 407, 418 Destruktivität 11, 23, 25, 51 ff., 56 ff., 136 ff., 309, 314 Dialog 10, 42, 48, 52, 96, 100, 128, 131, 133, 147, 158 ff., 170, 186, 198 f., 212, 266, 376, 388, 390, 415, 441 dialogisches Prinzip 137 dynamisches Prinzip 22 Echtheit 29 f., 32, 60, 68, 96, 124 ff., 146, 193 ff., 241, 286, 288 f., 307 f., 310, 313, 326, 334 f., 346, 349, 353, 358, 368, 417, 427, 429, 449 f., 457 ff. Einfühlung 33, 35 Embodiment 179 Emotion 42, 52, 57, 93, 136 f., 139, 141, 162,

465 173, 179, 181, 184, 197 f., 310, 330, 333 f., 347, 388 Emotionsregulation 94 Empathie 29, 33 ff., 40, 43, 56, 62, 65, 68, 75, 88 ff., 94, 96, 124 f., 138, 146 f., 151, 153, 157, 163 f., 167, 177 f., 181, 193 ff., 198, 240, 260 f., 263, 286, 288 f., 291, 307 f., 310, 313, 327 ff., 335, 339 f., 345, 349, 362, 365, 376, 384, 386, 390, 398, 407 f., 417, 429, 443, 448 ff., 457 f., 460 emotionale Empathie 88, 94 kognitive Empathie 88 Empirie 10, 23 f., 51, 68 ff., 73 ff., 77, 80, 102, 109, 112, 138, 153, 176, 178, 185, 219, 255, 280, 291, 401, 449 Empowerment 24, 40, 65, 323, 432 Encounter-Gruppen 225, 362, 365 Entfremdung 86, 102, 108, 110, 114, 134, 251, 333 f. Entwicklung 10, 20, 27, 31 f., 44, 51, 53 f., 57, 59, 61 ff., 68 f., 72, 79, 82, 88, 97 f., 101 ff., 105, 110, 112 ff., 121, 123, 134, 136 ff., 141, 149 f., 152, 155 f., 161, 163, 165, 186, 193, 203, 210, 212, 244, 268, 276, 291 f., 309, 318 f., 324, 326, 329, 334, 358 f., 362, 364, 377, 379, 396, 406, 415, 417, 427, 441, 443, 447, 458 Erfahrung 9, 11, 13, 18 ff., 23 ff., 38 ff., 42 ff., 48, 51 ff., 67, 70 ff., 80, 83 ff., 91, 93 ff., 104 f., 107, 109, 112, 118, 122, 128, 131, 136, 139 ff., 150, 152 ff., 158 f., 161, 164, 174, 176, 179, 185, 190, 192, 203, 211, 217 ff., 225 ff., 243, 252 f., 255, 259, 264, 267, 271, 276, 281 ff., 290, 292 f., 295 ff., 300, 303, 310 ff., 314 ff., 321, 323, 325, 327, 332 ff., 337, 340 f., 343, 345 f., 348, 351 f., 356 f., 359, 363, 365, 371 ff., 375 ff., 381 ff., 389, 392 ff., 397, 401 f., 406 ff., 410, 412, 423 f., 426, 429 f., 434 f., 438, 441 ff., 446, 448 f., 451, 453, 457 ff., 462 f. organismische Erfahrung 21, 59 ff., 83 ff., 88, 141 f., 377 Erkenntnis 10, 12, 28 f., 35, 41, 45, 52, 58, 82, 91, 102, 106, 116 ff., 128 f., 131, 138, 143, 147, 149 f., 188, 223, 225 f., 273, 284, 288, 308, 339, 344, 388, 407, 415, 443 Erkenntnistheorie 134, 186 f., 190 f., 193, 196, 198 Erlebnis 21, 23, 27, 29, 33 f., 36, 51 f., 54, 57 f., 60 f., 63, 89 ff., 97, 100, 128, 140 f., 147, 149 ff., 154, 156, 160 f., 163 f., 166 ff.,

466 174, 181 f., 191, 193, 195 f., 227, 241, 281, 283, 285 f., 293, 314, 320, 362, 365 ff., 372, 375 f., 379, 382 f., 394, 406, 426, 429, 434, 439, 441 ff., 453, 457, 459 Erziehung 67, 135, 138, 225 f., 242, 291, 300, 415, 454 Ethos 215, 262, 275, 341, 435 Evangelium 116, 204, 206, 208 ff., 237, 243, 246, 249, 324 f., 362, 401 f., 424 existenzielle (Lebens-)Frage 27, 221, 236, 239, 326, 331, 334 f., 339, 359 Exploration 44, 167 f., 379, 382 f., 389 Facilitator*in 171, 225 f., 363 ff. Familie 12, 24, 34, 37, 42, 66, 101, 186 f., 220 f., 229, 274, 277, 300 ff., 312 ff., 318, 343, 355 ff., 416, 424, 453 Faszination der Lebenskraft 20 felt sense 41, 181 felt shift 41 Fluss 22, 60, 153, 266, 314, 426 Focusing 41, 171, 179, 181 ff., 300 Fortbildung 228, 230 f., 313, 386, 411 Fragment 104 ff., 110, 112, 122 Frauenbild 278 Freiheit 30, 44, 77 f., 80, 103 f., 107 f., 110, 117, 123, 127, 129, 135 f., 142, 205, 214, 216, 221 ff., 229, 244, 295, 379, 394, 460, 463 Fremdheit 252, 254, 258 f., 261 ff. Fremdes 31, 50, 123, 250 ff., 261 ff., 333, 399 Fremdsprache 252, 262 Freude 33, 35, 89, 157, 199, 205, 220, 223, 259, 271, 283 f., 311, 314, 316 Führungsstil 278 Fully Functioning Person 28, 63, 79, 85, 98, 100, 121 f., 124, 142 Ganzheitlichkeit 21, 97, 109, 113, 115, 129, 179, 181, 208, 277, 345, 405, 409 Gast 256 ff., 260 f., 337, 448 f., 451 Gastfreundschaft 11, 249, 256 ff., 264 Gastgeber 258, 260, 264, 449, 451 Gefühl 24, 26 ff., 31 f., 35 f., 38, 40 f., 52 ff., 56, 58, 60, 73, 75, 77, 85, 87, 89, 91 ff., 98, 124 f., 138, 141, 150, 152 ff., 170, 173, 178, 182, 184, 196 f., 221, 226, 238, 241, 243, 253, 273, 283 ff., 290, 298 ff., 302 f., 312, 318, 320, 328 f., 333 ff., 338, 340 f., 345 ff., 350, 353, 355, 357, 371, 388, 393, 407 f., 410, 457 f., 461 f.

Stichwortregister

Gender 259, 266 ff., 275, 279 ff. Gender Mainstreaming 269, 280 f. Genderperspektive 269 gendersensibel 274 f. Gerichtetheit 20, 154 Geschichtlichkeit 96, 101, 110 Geschlecht 266 ff., 273, 275, 279 ff. geschlechtersensibel 266 Gesprächsführung 51, 60, 172 f., 183, 212, 306, 386, 397, 406 f., 409, 420 f., 453 Gesprächskultur 28, 57, 311, 461 Gesprächspsychotherapie 68, 79, 172 ff. Gestalttherapie 42, 113, 358 Gewahrsein 83 f., 163 f., 341, 457 Gewahrwerdung 51, 53, 59 f., 98, 160, 170, 195, 373, 375 f. Gewissen 115, 137 f., 214, 216, 416 Glaube 76 ff., 96, 105, 114, 116 f., 125, 127 f., 159, 211, 217, 237, 242 f., 282, 289 f., 295, 297, 300, 306 f., 313, 325 f., 334 ff., 344, 361, 394, 397, 416 Gottebenbildlichkeit (Imago Dei) 10, 96 ff., 102, 104, 109, 115, 289 f. Grenze 11, 23, 47 f., 57, 75, 135, 146, 164, 168, 170, 188, 193 ff., 240, 246, 252, 258 ff., 262 f., 270, 292, 297, 311, 316, 340, 347 f., 353, 357, 385, 409, 416 f., 421, 445, 454 ff., 459 ff. Grenzerfahrung 221, 341, 406 Grenzüberschreitung 12, 453 f., 456, 461 f. Grundannahmen (Personzentriert) 9 f., 17, 19, 51, 82, 96, 100, 113, 116, 121, 136, 139, 143, 145, 173, 180, 186 f., 193, 198, 241, 244 Grundkategorien 133 Gutsein des Menschen 24, 138, 244 Habitus 322, 433 ff., 437, 444 ff., 449 f., 452 Haltung 11 f., 20, 24, 28 ff., 41, 43, 45 f., 48, 51, 53, 61, 65, 71 f., 75, 80, 114, 124, 138, 167, 177 f., 182 ff., 191 f., 194 f., 198, 212 f., 215 f., 225, 228, 233, 237, 239 f., 242 ff., 260, 266, 271, 275, 285 f., 289, 306 ff., 313, 316, 324, 326 f., 332 f., 335, 337 ff., 342, 346, 352, 362, 368, 375 f., 385 ff., 389 ff., 393 f., 397, 405 f., 408, 413, 417, 420 f., 426 f., 437, 444, 446 ff., 453, 458 ff. Haltungsmerkmale 11, 19, 29, 44, 371, 408 Handlung 32, 37, 89, 135, 141, 147, 162, 174, 354, 454 f. Helfen 218

Stichwortregister

Hermeneutik 174, 195, 223, 423, 426 Herzensbildung 229, 412 Hirnforschung 276 Hoffnung 125, 127, 159, 205, 224, 230, 243, 245, 287, 289, 291 f., 298, 301, 327, 336, 342, 364, 452 Hospiz 221, 239, 336 ff., 340, 342, 405, 443 Identität 103, 105 f., 109, 135 f., 148, 196, 199, 210, 222 f., 277, 338, 443 formale Identität 135 f. Individuum 18, 22, 59, 63 f., 72, 78, 84, 89 ff., 97 f., 103, 107, 122, 135 f., 138, 140 f., 156, 189, 217 f., 222 f., 280, 302, 321 ff., 362 individuell 21, 114, 133, 135 f., 138 f., 147, 156, 187 f., 190 f., 198, 218, 237, 239, 242, 266, 268, 273 ff., 278 f., 322 f., 325, 329, 338, 357, 383, 435, 439 Inkongruenz 27 ff., 31, 43, 47, 60, 64, 74, 86 ff., 97, 106, 109, 160, 163, 239, 242, 260, 266, 270, 278, 281, 376 f., 382, 409, 411 Inkongruenzerfahrung 18, 272, 375 f., 433 Inkongruenzform 377 Institutionalisierung 222 f. Interpathie 261, 263 Intervention 51, 183 f., 190, 193 f., 219, 240, 242, 349, 353, 366, 380, 389, 434 Interventionsform 320 Introjekt 57 Kern des Menschen 52 Kern-Selbst 150 f. Klang 49 f., 55, 64, 157, 188 Kollusion 31, 37, 461 f. Kommunikation 21, 25, 48, 73 f., 94, 157 ff., 192, 194, 218, 221, 224, 227, 229, 231, 237, 240, 251, 271, 273, 306, 333 f., 349, 358, 361, 363, 366, 372, 383 f., 386, 388, 414, 429 Konflikt 18, 27, 42, 266, 271, 306, 311, 314, 355 f., 358, 363, 373, 379 f., 387, 389, 395, 412, 428, 434, 460 Wurzelkonflikt 163 Kongruenz 27, 29, 60, 83 ff., 88 f., 92, 94, 98, 125, 163, 167, 176, 335, 343, 353, 362 f., 365, 368, 376, 378, 382 ff., 386, 391, 394, 398 f., 408, 442, 448, 450, 460 Konstruktivismus 187 ff., 192 f. Konstruktivität 11, 23 f., 31, 51 ff., 55 ff., 63, 75, 77, 85 f., 88, 96 f., 103, 106, 136 f., 231, 238, 240 ff., 261, 270, 286, 331, 358, 380, 386, 390, 409, 426, 380, 442

467 Kooperation (verstehende) 190, 193 f., 221, 326, 412, 419, 429 Kreuz 105, 315, 327 f., 445 Krise 18 f., 27, 77, 105, 127, 130, 230, 239, 241, 245, 289 f., 351 ff., 356 f., 359, 407, 411, 462 Krisenintervention 260 Kultur 11, 28, 46, 48, 58, 107, 117, 210 f., 235, 246, 249 f., 252 f., 256, 258 ff., 265, 267 f., 274, 294, 301 ff., 441 Lebenswelt 36, 99, 109, 253, 258, 265, 322, 325, 359, 375, 407, 446, 457 Lehrsupervision 440, 443, 453 Leid 87, 92, 104, 230, 255, 284, 299, 303, 316, 333, 336 f., 339 f., 342, 396, 445 f., 452 Lernen 36, 69, 71 f., 75, 77, 135, 141 f., 173, 179, 219, 225, 227, 255, 279, 311, 327, 384, 405 f., 409, 426 ff., 438, 441 f., 459 Liebe 31, 42, 64, 91, 95 f., 124, 137, 144, 194, 245, 255, 284, 288 ff., 306, 312, 316, 337, 344, 359 f., 394, 402, 408, 415, 417, 445, 452, 460, 462 Lösung 23, 42, 44, 72, 127, 190, 198, 232, 234, 241, 307, 341, 374, 377, 382, 386, 390, 408, 432, 459 Lösungsstrategie 141, 196 ff. Männerbild 276 ff., 281 Maske 63, 372 Mediation 387 Menschenbild 10 f., 19, 46, 49 ff., 55, 61, 64 f., 76, 79 f., 86, 96 f., 100, 102, 106 f., 109 f., 112, 126, 131, 133 f., 136 f., 142, 144, 148, 173 ff., 178 f., 182, 184 f., 227, 238, 240, 244, 312, 321, 339, 365, 371, 379, 386, 407, 420, 458 Mitgefühl 91 f., 177 f., 181, 185, 216, 276, 336, 340, 342 Mitgefühlsmeditation 91 f. Mitleid 137, 457 Modul 231 f., 409 f., 433, 459 Mut 29, 31, 110, 185, 242 f., 259 f., 286 f., 289, 292, 311, 326, 348, 427 Muttersprache 221, 224, 252 f., 422, 425 Narrativ 153 Natur des Menschen 53, 59, 96 f., 107, 109, 134, 138 f., 179, 243 Naturzustand 133 ff., 138 Neuropsychologie 82 Neurowissenschaft 64, 79, 82, 85, 88, 90, 95, 438

468 Not 176, 216, 241 ff., 246, 314, 344, 349 f., 353, 396 f., 445 Now-Moment 153 Offenbarung 50, 102, 110, 117, 126, 165, 289, 295, 298, 300, 399 f. Organisation 34, 75, 150, 155, 227, 236, 241, 245 f., 267, 277 f., 280 f., 299 f., 305, 309, 326, 330, 332, 366, 372, 377 f., 380, 382 ff., 387, 390, 431 f., 434 f., 437, 439, 441, 463 Organisationsberatung 9, 187, 308, 432, 439 Organisationsentwicklung 9, 12, 308, 385, 390 f., 431, 439 Organisationskultur 280, 374, 380, 431, 435 Organisationspsychologie 381, 439 Organismus 20 ff., 26 f., 53, 56, 58 ff., 82, 84, 86, 88, 90 f., 93, 95, 97 f., 104, 123, 134, 136, 138, 149, 160, 164, 309, 331, 362 ff., 368, 377 organismischer Bewertungsprozess 85 Pädagogik 10, 67, 131, 136, 138, 141, 148, 187, 226, 230, 319, 415, 417 Pädagog*in 47, 131, 134 f., 462 Pastoralpsychologie 47, 219, 255, 414, 417 ff., 456 Perfektibilität 134, 136, 138 f. Person 9, 18 f., 23, 25 ff., 30 f., 33, 35 ff., 42, 44 f., 48, 50 f., 53 ff., 57 ff., 69, 74 f., 79, 85 ff., 98, 100 f., 104, 106 ff., 111, 121 f., 124 f., 129, 133, 140 ff., 144 ff., 151, 160 ff., 166 ff., 173 ff., 178 f., 181 ff., 190 f., 193 ff., 209 f., 216, 227, 231, 239 ff., 244 ff., 252, 256, 266, 268, 273 ff., 279, 281, 286, 289, 303, 305 ff., 312, 315, 322 f., 333, 335, 340, 345, 352 f., 361, 365 ff., 371 ff., 382, 389, 394 ff., 399, 405, 408, 412, 416, 419, 426 f., 429, 431 ff., 439, 441 f., 447 f., 450, 452 ff., 459 ff. bedeutende Person 26, 86, 312 persona 63 Personalität 103 f. Personwerdung 306 Personal 24, 330, 372, 377, 419 Personalarbeit 431 Personalberatung 371, 377 Personalentwicklung 431, 439 Personalismus (dialogischer) 101, 142, 147 Persönlichkeit 20 ff., 25, 29, 44, 52 f., 56, 68 f., 92, 97, 103 f., 106, 109 f., 124, 126, 129,

Stichwortregister

138, 140, 142, 271, 308, 336, 362, 366, 391, 416 ff., 426, 458 Persönlichkeitsentwicklung 27, 31, 68, 70, 73 f., 234, 266, 364 Persönlichkeitstheorie 68, 83, 163 Schichten der Persönlichkeit 22, 52, 92, 126, 138 Potenzial 53, 61 ff., 86, 147, 154, 157 f., 168, 184, 198, 301, 312, 323, 363, 367, 383 f., 459 Potenzialität 21, 61 ff., 136 f., 139, 434 Priestertum 205, 210, 415 gemeinsames Priestertum aller Gläubigen 205, 210 Problem 72, 78, 81, 100, 114, 176, 183, 186, 190 f., 207, 238 f., 242, 294, 299, 301, 329, 356, 376, 378, 380, 382, 409, 411, 435, 443 Profession 23 f., 32, 37, 393, 400, 432, 436 f., 443 Professionalisierung 320 f., 400 Professionalität 30, 319, 321, 336, 400, 462 Prozess des Werdens 333 Prozesskompetenz 239, 241 Prozessorientierung 438 Psychoanalyse 10, 44 f., 67, 74 f., 110, 113, 142, 163, 186, 419 Psychologie 42, 64, 66 ff., 72, 82, 112 f., 115 ff., 120 f., 126 ff., 160, 167, 173 f., 187, 206, 210, 219, 240, 365, 381, 394, 407, 415, 417, 425 Psychotherapie 68, 70, 73 ff., 83, 88, 90, 139, 149, 172 ff., 177 ff., 184 f., 283, 285, 287 f., 298, 322, 335, 362, 393 ff., 407, 414, 436, 439, 449, 455 Quellcode 60 f., 139, 377 Reflexion 22, 29, 47, 70 f., 75, 131, 155, 219, 232, 269, 311, 378, 380, 396, 407, 420, 434, 438, 441 ff. Reformation 78, 214, 216, 424 f. Relationalität 96, 99 ff. Religion 38, 46 f., 77, 107, 249 f., 257, 273, 294 f., 302 f., 333, 336, 393, 444 Religiosität 114, 170, 291, 313, 444 Resonanz 10, 34, 36, 44 f., 49 f., 55 f., 59, 62 f., 90 f., 144, 149, 157 f., 164, 167, 192 ff., 278 f., 290, 332 f., 335, 361, 365, 379, 383 Respekt 30 f., 54, 121, 157, 164, 175, 185, 194, 284 f., 289, 347, 356, 379, 397, 448 ff.

Stichwortregister

Ressource 18, 21, 39, 43, 72, 125, 157, 178, 197 f., 222, 288, 321, 334 f., 339, 344, 349, 353 f., 357 ff., 374, 380, 383, 406, 426, 428, 430, 435, 446, 459 ressourcenorientiert 190, 198, 431, 433 Ritual 37, 169 f., 290, 302 f., 325, 327 ff., 334, 345, 353 Rolle 11, 19, 25 f., 37, 44 f., 63, 84, 93, 95, 97, 100, 112, 119, 129, 147, 151, 178, 183, 193, 196, 204, 207, 218, 233, 238 f., 257, 271, 274, 276 ff., 281, 285, 290, 295, 306 ff., 312, 315 f., 344 f., 352, 366, 368, 371 ff., 382, 389 f., 396, 400, 414, 420, 424, 430, 432, 436 f., 439 ff., 449 f., 452, 459 ff. Säugling 26, 32, 58, 150 f. Schichtenmodell 52 f., 56, 136, 140, 142 Schmerz 31, 33, 42, 87, 89 ff., 127, 145, 172, 190, 259, 291, 293, 333, 337 ff., 408 Schöpfung 99, 156, 205 Schöpfer 99 f., 392, 398 Schöpfungsordnung 259 Schuld 127, 214, 283, 285, 290, 299, 315, 344, 357, 359, 425, 429 Schuldgefühl 272, 290 f., 344 Schweigen 40 f., 257, 342, 355, 395, 401 Schweigepflicht 297, 303, 456, 461 Schwingung 50, 56 Seele 103, 109, 115, 146, 160 f., 165 f., 169 f., 199, 237, 243, 258, 287, 312, 315, 328, 345, 397 f., 424, 430 seelische Gesundheit 84 Seelsorge 9 ff., 15, 17 ff., 24, 27, 29, 31 f., 43 f., 46 f., 51, 64, 70, 75 f., 79 f., 88, 96, 106, 110, 117, 120, 130, 138 f., 147, 153 f., 159 ff., 168, 187, 198, 201, 203 f., 206 ff., 236 ff., 242 ff., 249, 255, 258, 260, 264 ff., 269, 273 f., 276, 279 ff., 285, 287 ff., 297, 305 ff., 310 ff., 317, 322, 324, 326, 329 ff., 343 ff., 349 ff., 355, 361, 364 f., 368, 393, 396 f., 401, 403, 405 f., 408 ff., 412 ff., 417, 421 ff., 453, 455, 459, 461 Seelsorgebewegung 46, 218 ff., 424 Seelsorgekonzeption 209 f. Selbst 10, 22 f., 25 ff., 31, 35, 44, 46, 53 f., 57 ff., 70, 86 f., 94, 97 f., 100, 106 ff., 110 f., 121 ff., 126, 129, 135 f., 138 f., 141, 145, 147, 149 ff., 157, 161, 164, 171, 175 f., 193, 197, 268, 273, 279, 331, 345, 358, 375 ff., 408, 418, 430, 457, 459 Selbstaktualisierung 32, 96, 98, 100 f., 104, 111, 145, 147, 174, 195, 270, 273, 307, 326, 335, 365, 382, 388

469 Selbstaktualisierungstendenz 27, 57, 103, 109, 193, 309, 331 Selbstbewusstsein 212, 442 Selbstbild 25 ff., 29, 44, 46, 87, 277, 286 f., 314, 316 Selbstempfinden 26, 149 f., 153 (Selbst-)Entfremdung 86, 102, 108, 110, 114, 134, 251, 333 f. Selbsterfahrung 21, 97, 106, 109, 151, 219, 238, 279, 307, 386, 388, 406, 409 f., 433 ff., 441 f., 459 Selbsterhalt 27 Selbsterkenntnis 26, 32, 35 f., 40, 45, 139, 243 Selbsterlösung 96, 126 f. Selbstexploration 34 f., 39, 43, 45, 322, 381 f. Selbstideal 26, 28, 307 Selbstkonzept 21, 25 ff., 32, 54, 59 ff., 97, 106, 136, 141 f., 148, 160, 163 f., 193, 196 f., 199, 260, 266, 270 f., 273, 279, 307, 375 ff., 380, 382, 432, 448, 453 Selbstliebe 137 Selbstperspektive 89 Selbstreflexion 32, 44, 75, 190, 306 f. Selbstsein 24, 153 Selbststruktur 25 ff., 52 Selbstwahrnehmung 41, 46, 177, 241, 433, 442 Selbstwerdung 10, 40, 63 ff., 110, 121 Selbstwirksamkeit 311, 333, 381 Selbstzweifel 27, 238 Sozialität 23, 57, 64, 135, 137 f. Sozialkompatibilität 24 Soziologie 68, 117, 206, 219, 417, 447 Spiegelneuronen 151 Spiritual Care 334 Spiritualität 80, 123, 128, 167 f., 207, 209, 237, 245, 292, 299, 324 ff., 333 ff., 337, 339, 344, 359, 361, 402, 409, 412, 416, 418, 420, 429 f., 444 ff., 449 ff. Sprache 9, 12, 36 f., 42 f., 46, 48, 122, 128, 135, 143, 149, 152, 154 f., 157 f., 163, 168, 171, 211, 223 f., 241, 244, 250, 252 f., 256, 260, 262 f., 279, 306, 319, 323, 334, 337, 366, 394, 417, 426, 433, 446 f., 449 f., 460 Stellvertretung 12, 264, 289 ff., 334, 339, 451 f. Stress 39, 93, 356 Struktur 54 f., 60, 108, 114, 137, 145, 186 ff., 191, 194, 196, 270, 281, 283, 290, 295, 308 f., 311, 319, 380, 389, 414, 440 f., 452, 462 innere Struktur 53 f., 154, 196

470 Subjekt 36, 105, 137, 140, 143, 149, 162, 187 f., 193, 255, 321, 437 Substanzhaftigkeit 50, 56, 62, 64, 196, 198 Suizid 282 f., 407, 418, 430 Sünde 106, 108, 110, 128, 214, 290, 333, 445 Sünder*in 97, 108 Supervision 9, 12, 29, 31 f., 34, 43, 47, 51, 64, 80, 187, 217, 219, 238, 269, 273 f., 281 f., 293, 300, 307, 341, 378 ff., 393, 395 f., 401, 409, 411 f., 431 ff., 450, 453 ff., 459 ff. Symbiose 26, 145 Symbol 37, 48, 108, 160, 162, 168, 170 f., 223, 242, 290, 328 Symbolisierung 27, 34, 54, 56, 83 f., 167 ff., 363 System 42, 45, 50, 63, 69, 85 f., 89, 95, 114, 142, 147, 150, 181, 187 ff., 193 ff., 223, 226 f., 249 f., 269, 278, 298, 302, 308 f., 312 f., 330 ff., 334 f., 371 f., 374, 376 f., 431 ff., 463 Subsystem 20 ff., 27, 59, 195, 323 Systemik 11, 36, 42, 44, 82, 186 ff., 242, 246, 358, 372 f., 381, 390, 409, 418 f., 428, 433, 439, 441 Team 42, 306, 312 f., 327, 337, 375, 378, 383, 387 ff., 418, 428, 430, 433, 439 ff. Teamcoaching 270 f., 432 Teamdynamik 380, 383 Themenzentrierte Interaktion 113 Theologie 10 f., 19, 38, 46 f., 76, 80, 96, 99, 103, 105, 107 f., 110, 112, 114 ff., 125 ff., 206, 208 f., 219, 222 f., 256 f., 264, 337, 364, 417, 425 f. Therapie 9, 11, 19 f., 27, 29, 42, 47, 52, 67, 69, 72 ff., 80, 124, 154, 172 ff., 225 f., 319, 322, 344 f., 358, 362, 364, 433, 455 Therapeut*in 18 f., 23 f., 27 ff., 43 ff., 47, 54, 56, 71, 74 f., 78, 90, 93, 121, 124 f., 159, 163, 169, 171 f., 175 ff., 180, 182, 185, 189 ff., 193 ff., 285 f., 304, 346, 396, 448, 455, 457 f., 461 f. Tiefenpsychologie 10, 149, 156, 160 f., 164, 166, 168 ff., 178 f. Tod 58, 69 f., 105, 107, 123, 127 f., 130, 151, 154, 214 ff., 220, 239, 252, 262, 291, 303, 327 f., 331, 333, 339, 344 f., 350 f., 401, 424, 429, 445 f., 450 Transzendenz 118 f., 123, 165, 170 f., 256, 264, 451

Stichwortregister

Trauer 27, 42, 144, 159, 205, 220, 236, 239, 243, 300, 318, 329, 337, 339, 345, 350, 407 f., 418 Trauma 255, 262, 301, 334, 351, 353, 407 Trinität 364 Trinitätstheologie 99 Umwelt 22, 53, 59 ff., 97, 99, 102, 109 f., 113, 140 f., 189, 195, 239, 244, 322, 377, 437, 448 Umwelteinflüsse 22 Unbewusstes 54, 142, 149, 156, 158, 160 f., 163 f., 166, 168 ff., 260 Urgrund 167, 337 Verantwortung 30 f., 76, 107, 110, 118, 127, 183, 214, 216 f., 219, 221, 229, 241, 246, 276, 280, 302, 309 f., 329, 372, 381, 395, 419, 424, 431, 438, 442 Verbalisierung 31, 34 ff., 38 ff., 194, 197, 272, 275, 334 f., 388, 406, 408 Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte 35 f., 94, 180, 193, 195, 197 Vergebung 127, 178, 315, 359 Verhalten 25, 28 f., 31, 40 f., 57, 59, 61, 69, 72, 86, 92, 107, 123, 128, 151, 174, 178, 182 f., 211, 244, 271 f., 276 ff., 281, 306 f., 311, 315, 331, 351 f., 357, 363, 365, 375, 389, 394, 416, 447 Verhaltenstherapie 11, 74, 172 f., 178, 180 f., 358 Verschwiegenheit 71, 217 Verstehen 28, 34 ff., 39, 43, 47, 54, 61, 70, 74, 76, 89 ff., 94, 107, 120, 125, 173 ff., 184, 194, 199, 240, 249, 251, 259, 261 ff., 286, 289, 314, 335, 345, 347, 358, 364, 376, 379 f., 382, 439, 448, 459 einfühlendes Verstehen 36, 125, 240, 358, 376 empathisches Verstehen 74, 91, 94, 459 Vertrauen 26, 30, 34, 59, 61, 65, 93 f., 97, 149, 175, 237, 240 f., 243, 258, 261, 286, 297 f., 308 ff., 314, 316, 319 f., 343, 345 f., 348, 357, 364, 373, 394, 427, 435, 448, 460 f. Vertraulichkeit 463 Vikariat 422 ff., 426 f. Vitalität 50, 57, 431 Vitalkraft 57 Vollkommenheit 21, 298, 342 Vervollkommnung 136, 138 f.

Stichwortregister

Vorwärtsgerichtetsein 22, 52, 56 f., 59, 96, 109, 126, 136, 138, 376, 458 Wachstum 18, 20 f., 105, 130, 142, 308, 357, 365 f., 383, 411, 416, 446, 461 Wachstumsfähigkeit 59 Wachstumskraft 20 f., 104, 109, 136, 149, 459 Wachstumsprozess 51, 140, 362 Wachstumsquellen 34 Wachstumstendenz 20, 22 Weiterbildung 9, 31, 36, 42, 46, 220, 280, 306 f., 403, 433, 436 ff., 440, 459, 462 Werk 12, 30, 106, 110, 119, 122 f., 142 f., 223, 315, 352, 365, 401 Wertneutralität 191, 194 Wertschätzung 23, 30 ff., 68, 70, 80, 86, 88 f., 91 f., 106, 124 f., 138, 163, 191, 193 ff., 207, 217, 226, 237 f., 240, 244, 260, 285, 288 f., 306 ff., 316, 327 f., 335, 347 f., 352, 356,

471 358, 362, 365 f., 379, 383 f., 386 ff., 408, 427, 448 ff., 459 ff. Wesen des Menschen 51, 56 f., 61 ff., 134, 358, 360 Wesenskern 190, 196 Wirklichkeit 28, 66, 85, 87, 101, 115, 118, 129, 146, 168, 170, 188 ff., 193, 208, 211, 228, 267, 280, 288, 300, 314, 347, 349, 358, 397, 439, 441 Würde 30, 59, 64, 97, 115, 127, 135, 228, 271, 289, 335, 338, 342, 452 Wurzelgrund 51, 53, 137 f., 245 Wut 27, 31, 263, 272, 286, 291, 315, 335, 344, 453 Zorn 31, 291, 303 Zuhören 80, 177, 241, 286, 320, 338 f., 350 aktives Zuhören 286, 338 Zweifel 27, 30, 77, 217, 226, 334, 353, 402

Literatur

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Abel, Peter, Dr., Leiter der Arbeitsstelle für pastorale Fortbildung und Beratung im Bistum Hildesheim Ball, Mattias, Dr., Referat Leitung und Beratung, Institut für Fort- und Weiterbildung in der Diözese Rottenburg-Stuttgart Begemann, Verena, Prof. Dr. phil., Dipl. Sozialpäd./-arbeiterin, Professorin für Ethik und Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Hannover, Schwerpunkt u. a. Ethosbildung, Hospiz und Palliative Care Burbach, Christiane, Prof. Dr., Professorin für Praktische Theologie i. R., Hochschule Hannover, Ausbilderin für Personzentrierte Beratung und Seelsorge, Lehrsupervisorin Domröse, Sonja, Pastorin und Kommunikationsmanagerin in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Ausbilderin für Personzentrierte Beratung und Seelsorge, Coach Greunig, Ilka, Pastorin der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Psychiatrieseelsorgerin, Ausbilderin für Personzentrierte Beratung und Seelsorge Hemeier, Christin, MA Sozial- und Organisationspädagogin, Freiberufliche Trainerin und Coach für Kommunikation und Gesprächsführung, Pädagogische Mitarbeiterin im Bereich Migration an der Georg-von-Langen Schule Jäggi, Mathias, Dipl. Theol./Dipl. Caritaswissenschaftler, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Hochschule für Soziale Arbeit, Lehrbeauftragter im Modul Kasuistik Kempen, Martin, Dr. theol., Dipl. Päd., Pastoralpsychologe Bistum Würzburg, Diözesanbeauftragter für Supervision und Coaching Kern, Ernst, Dr., Dipl. Psych., Leitender Psychologischer Psychotherapeut, Psychiatrische Klinik Sonnenberg, Leiter einer Borderline-Station (Dialektisch-Behaviorale Psychotherapie), Körperpsychotherapie, Borderline, Persönlichkeitsstörungen, Trauma, Sucht Kießling, Klaus, Prof. Dr. Dr. Dr. h. c., Direktor des Instituts für Pastoralpsychologie und Spiritualität sowie des Seminars für Religionspädagogik, Katechetik und Didaktik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Frankfurt Sankt Georgen Kingreen, Jan, Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Dogmatik an der HU Berlin, ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Lebensberatung im Berliner Dom, systemischer Berater Kingreen, Sarah-Magdalena, Assistentin am Lehrstuhl für Antikes Christentum an der Humboldt-­ Universität zu Berlin, Personzentrierte Seelsorgerin, ehrenamtl. Seelsorgerin im Kirchenkreis Potsdam-West Kingreen, Tilman, Leiter der Arbeitsstelle für Personalberatung und Personalentwicklung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Ausbilder für Personzentrierte Beratung und Seelsorge, Supervisor und Coach Lademann-Priemer, Gabriele, Dr., Religionswissenschaftlerin, Pastorin i. R. der Evangelisch-­ lutherischen Kirche in Norddeutschland (bis 2011 Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungs-

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

fragen, Spezialgebiet afrikanische Religionen und Kulturen), Beratung von kirchlichen und staatlichen Stellen im Umgang mit Migrant*innen Lux, Michael, Dipl. Psych. und Diplom-Psychogerontologe, Gesprächspsychotherapeut, Neurologisches Rehabilitationszentrum Quellenhof Bad Wildbad, Sana Kliniken AG, Personzentrierte Psychotherapie, Klinische Neuropsychologie Moser, Martin, Dipl. Theol., Dipl. Päd., Referat Pastoralpsychologie im Institut für Pastorale Bildung, Leiter des Referats Pastoralpsychologie im Erzbistum Freiburg, Ausbilder für Personzentrierte Beratung und Seelsorge, Lehrsupervisor Noordveld, Diederik, Dr. theol., Pastor, theologischer Referent und Personzentrierter Seelsorger in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers Oberheide, Franziska, Pastorin der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Schulpastorin Ev. IGS Wunstorf, Personzentrierte Seelsorgerin und Beraterin Schlechtriemen, Michael, Dipl. Päd., selbstständiger Berater, Supervisor, Trainer und Organisationsberater, Ausbilder für Personzentrierte Beratung, Coaching und Supervision Schlör, Joachim, Dr. Phil., Dipl. Theol., Dozent für Pastoralpsychologie im Priesterseminar und in der Ausbildungsleitung der Pastoralassistenten und Pastoralassistentinnen in der Diözese Rottenburg-­Stuttgart Schubert, Claudia, Pastorin in der Arbeitsstelle für Personalberatung sowie in der Zachäus-­ Kirchengemeinde in Hannover, Ausbilderin für Personzentrierte Beratung und Seelsorge, Coach Schmidt, Joachim, Dr., Stiftungsdirektor, Stiftung Katholische Freie Schule der Diözese Rottenburg-­ Stuttgart Schweingel, Ulrich, Pastor i. R. der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Ausbilder für Personzentrierte Seelsorge und Beratung, Lehrsupervisor Steinmeier, Anne M., Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Theologische Fakultät Institut für Systematische Theologie, Praktische Theologie und Religionswissenschaft Vogt, Dietmar, Pastor, Beauftragter für Personzentrierte Seelsorge im Zentrum für Seelsorge der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, evangelischer Krankenhausseelsorger im Marien Hospital Papenburg Aschendorf, Ausbilder für Personzentrierte Beratung und Seelsorge, Coach Westerhold, Oliver, Dipl. theol., Pfarrer in der Diözese Rottenburg-Stuttgart Willemer, Karsten, Dipl. Theol., Diplom-Diakoniewissenschaftler, Pastor der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Personzentrierter Seelsorger, Notfallseelsorger Wörsdörfer, Petra, Dipl. Päd., Selbständig als Supervisorin, Coach, Organisationsberaterin (Supervision, Coaching, Weiterbildung, Coaching- und Supervisionsausbildung, Führungskräfte­ qualifizierung) Zeh, Ursula, M.A./Antioch Univ.(Ohio), Ehe-, Familien- und Lebensberaterin, Krankenhausseelsorgerin, Hörgeschädigtenseelsorgerin, Diözesanfachreferentin der Psychologischen Beratung bei Ehe- und Partnerschafts-, Familien- und Lebensfragen des Erzbistums Bamberg