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German Pages 623 [706] Year 2013
Thomas Gaertner, Barbara Gansweid, Hans Gerber, Friedrich Schwegler, Ulrich Heine (Hrsg.) Die Pflegeversicherung
Thomas Gaertner, Barbara Gansweid, Hans Gerber, Friedrich Schwegler, Ulrich Heine (Hrsg.)
Die Pflege versicherung Handbuch zur Begutachtung, Qualitätsprüfung, Beratung und Fortbildung 3., aktualisierte, überabeitete und umfassend erweiterte Auflage
Herausgeber Dr. med. Thomas Gaertner Leiter Stabs- und Servicebereich Wissen und Kommunikation MDK Hessen Zimmersmühlenweg 23 · 61440 Oberursel E-Mail: [email protected] Dr. med. Barbara Gansweid Leiterin Fachreferat Pflege Leiterin Sozialmedizinische Expertengruppe „Pflege“ der MDK-Gemeinschaft (SEG 2) MDK Westfalen-Lippe Hermannstraße 1 · 33602 Bielefeld E-Mail: [email protected]
Dr. med. Hans Gerber Leitender Arzt / Leiter Sozialmedizinische Expertengruppe ‚Pflege‘ der MDK-Gemeinschaft (SEG 2) MDK Bayern Haidenauplatz 1– 5 · 81667 München E-Mail: [email protected] Dr. med. Friedrich Schwegler Grundsatzreferent Pflegeversicherung MDK Nordrhein Cäcilienkloster 6 · 50676 Köln E-Mail: [email protected] Dr. med. Ulrich Heine Geschäftsführer MDK Westfalen-Lippe Roddestraße 12 · 48153 Münster E-Mail: [email protected]
Das Buch enthält 25 Abbildungen und 63 Tabellen. Im Hinblick auf einen verständlichen und flüssigen Sprachstil wurde an verschiedenen Stellen im Text auf die Ausformulierung in der weiblichen Sprachform verzichtet. ISBN: 978-3-11-030287-5 e-ISBN: 978-3-11-030362-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe der Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG Einbandabbildung: Yuri Arcurs/Hemera/Thinkstock ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Geleitwort Die Neuauflage des Handbuchs „Die Pflegeversicherung“ erscheint, nachdem der Bundesgesundheitsminister in der beendeten Legislaturperiode das „Jahr der Pflege“ ausgerufen hatte und das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz in Kraft getreten ist. Trotz vielversprechender Absichten der Politik, insbesondere hinsichtlich der Verständigung auf einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dessen Umsetzung, sind tiefgreifende und notwendige Anpassungen der sozialen Pflegeversicherung ausgeblieben. Die neue Bundesregierung wird somit Antworten auf drängende Fragen zur Absicherung des Risikos von Pflegebedürftigkeit und der nachhaltigen Finanzierung der Pflegeversicherung finden müssen. Dennoch sind durch die Verabschiedung des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes im Jahr 2012 einige Neuerungen in leistungs- und vertragsrechtlicher Sicht sowie zur Sicherstellung der Qualität in Pflegeeinrichtungen umgesetzt worden. Als wesentlicher Akteur der „Pflegeselbstverwaltung“ hat der GKV-Spitzenverband aufgrund veränderter gesetzlicher Grundlagen unter anderem die Begutachtungs-Richtlinien, die Richtlinien zur Dienstleistungsorientierung im Begutachtungsverfahren und die Richtlinien zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen erstellt bzw. überarbeitet. Ein anderer wesentlicher Akteur im Bereich der sozialen Pflegeversicherung ist die MDK-Gemeinschaft unter Federführung der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2) mit ihren vielfältigen Aufgaben im Bereich der Pflegebegutachtung und der Qualitätsprüfung von Pflegeeinrichtungen. Sie hat aufgrund ihres sachverständigen Versorgungsauftrages wesentlichen Anteil an der Umsetzung sowie Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung und reflektiert ihren Erfahrungsschatz zum Wohle der Solidargemeinschaft unter anderem in Form eines solchen Handbuchs. Bereits die ersten Auflagen des Handbuchs zur Begutachtung, Qualitätsprüfung, Beratung und Fortbildung im Rahmen der Pflegeversicherung haben sich als umfassender und informativer Ratgeber zu allen Fragen der sozialen Pflegeversicherung etabliert. Dass dieses Nachschlagewerk jeweils schnell vergriffen war, zeigt das große Interesse an dem in diesem Buch zusammengefassten Sachverstand zu allen Fragen des Elften Sozialgesetzbuchs und dessen praktischer Umsetzung. Ich freue mich daher über die nunmehr dritte und in Teilen ergänzte Auflage des Handbuchs. Das Themenspektrum wurde um wichtige Fragen der Pflegeversicherung ergänzt. Neben sinnvollen inhaltlichen Vertiefungen einzelner Abschnitte wurden unter anderem Ausführungen zu Aspekten der Versorgung pflegebedürftiger Menschen und zur Situation pflegebedürftiger Menschen neu in das Werk aufgenommen. Das vorliegende Handbuch ist aus Sicht des GKV-Spitzenverbandes eine informative, umfassende und praxisrelevante Handlungsgrundlage. Es ist unverzichtbar für alle Akteure im Bereich der sozialen Pflegeversicherung. Gernot Kiefer Vorstand GKV-Spitzenverband
Grußwort Die wegweisenden Untersuchungen von Salomon Neumann und Rudolf Virchow aus der Mitte des 19. Jahrhunderts belegten die wechselseitige Bedingtheit von psychosomatischem Wohlergehen und sozialer Lage. Diese Interdependenz wird mittels moderner epidemiologischer Analysen und der öffentlichen Berichterstattung seitens der Institutionen im Gesundheitswesen zunehmend differenzierter verstanden. Die Einsichten in die im wahrsten Sinne des Wortes Not-wendigkeiten des Einzelnen und die Erkenntnis des gesellschaftlichen Reformbedarfs prägen über ihre naturwissenschaftliche Grundlegung hinaus die Auffassung von Medizin als einer sozialen Wissenschaft – in spezifischer Ausprägung als soziale Medizin in ihren Ursprüngen europaweit und als Sozialmedizin seit den 1960er Jahren in der prosperierenden Bundesrepublik. Kranksein und gerade auch Hilfebedürftigkeit gelten nicht mehr ausschließlich als private Angelegenheiten, als Erscheinungsformen persönlichen Schicksals oder als Folgen individueller Lebensformen. Gesundheit wird als öffentliches Gut, Prävention und Behandlung von Krankheiten als sozialstaatliche Obliegenheit und Hilfe bei Pflegebedürftigkeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden. Diese Paradigmen konturieren zeitgemäße Sozialmedizin. Als integrative Disziplin befasst sie sich sowohl in Forschung und Lehre als auch in der Praxis mit gesundheitsförderlichem Handeln im Gleichklang von Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität. Im interdisziplinären Verbund entfaltet Sozialmedizin eine systemgestaltende Kraft und begleitet methodenbasiert den gesellschaftlichen Wandel. Das Leistungsspektrum des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ist dem Bereich der angewandten Sozialmedizin zuzurechnen. Als sozialmedizinische Sachverständigeninstitution modernen Zuschnitts ist er Teil der Solidargemeinschaft aus gesetzlicher Kranken- und sozialer Pflegeversicherung. Von seinem Status her ist der MDK neutral und unabhängig. Die Gutachterinnen und Gutachter sind bei ihren Beratungs- und Begutachtungsaufgaben gemäß dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ausschließlich ihrem Gewissen unterworfen. Mit Inkrafttreten des Pflege-Versicherungsgesetzes im Jahr 1994 zeigte der MDK von Anfang an als Dienstleister sowie als kompetenter Kooperationspartner bei den die Pflegebedürftigkeit und die Qualitätssicherung betreffenden Forschungsprojekten sein breitgefächertes Profil. Parallel dazu hat er seine Tätigkeit im Hinblick auf die systemkonstitutive und -konstruktive Funktion gezielt reflektiert und wissenschaftlich begleitet analysiert. So erschien bereits im Dezember 1995 ein gemeinsam vom Institut für Gesundheitsrecht und -politik in Tübingen, von der Fachhochschule Frankfurt am Main, vom Berufsverband der Sozialversicherungsärztinnen und -ärzte Deutschlands und vom MDK Hessen editierter Band mit dem Titel: „Begutachten, forschen, Qualität sichern. Pflegeversicherung: Aspekte der Aufgabenteilung zwischen Pflege und Medizin“. Weitere Publikationen in vielfältigen wissenschaftlichen Formaten folgten beständig und erfreulicherweise bis heute.
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Grußwort
Die vorliegende dritte Auflage des Handbuchs zur Pflegeversicherung ist Ausdruck der Identifikation der MDK-Gemeinschaft samt deren Kompetenzeinheiten, ihrer Auftraggeber (Kranken- und Pflegeversicherung) und ihrer Kooperationspartner mit einem anspruchsvollen Versorgungsauftrag sowie einer verantwortungsbewussten und einrichtungsübergreifenden Zusammenarbeit zum Nutzen der Solidargemeinschaft. Es ist nicht zuletzt implizit ein Plädoyer zum Ausbau und zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Dieses Handbuch kann und soll ein Baustein sein zur Gewährleistung einer möglichst einheitlichen Pflegebegutachtung in Deutschland. Gleichzeitig soll es die notwendige, weil alltäglich wichtige Kommunikation für die Versicherten erleichtern. Diese Patienten- bzw. Versichertenorientierung der Medizinischen Dienste ist durchaus zeitgemäß und wird erwartet. Die Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) begrüßt die Herausgabe dieses ganz im Sinne der Interdisziplinarität entstandenen und der institutionenübergreifenden Betrachtungsweise verpflichteten Werkes ausdrücklich. Es trägt substantiell dazu bei, unser soziales und solidarisches Sicherungssystem im Ganzen und die soziale Pflegeversicherung im Besonderen besser zu verstehen und mithin wertzuschätzen als eine unsere Demokratie konsolidierende Errungenschaft, die nicht unreguliert dem Kräftespiel auf dem Gesundheitsmarkt überantwortet werden darf. Den Herausgebern, den Autoren und dem Verlag sei herzlich gedankt mit dem Wunsch für einen großen, interessierten Leserkreis. Dr. med. Gert v. Mittelstaedt Präsident der DGSMP
Vorwort „Ohne hilfsbereite Menschen bleibt das beste Gesetz ein kaltes Gehäuse und eine leerlaufende Maschine.“ [Norbert Blüm, 1997] Im Jahr 1995 wurde die soziale Pflegeversicherung als vorerst letzter eigenständiger Zweig der Sozialversicherung in Deutschland eingeführt. Subsidiär sollen ihre Leistungen den Pflegebedürftigen helfen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Gemäß dem Sozialgesetzbuch wird die pflegerische Versorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden. Insofern bietet die Pflegeversicherung allein keine vollständige Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos. In gemeinsam getragener Verantwortung sollen Länder, Kommunen, Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) die Bereitschaft zu einer humanen Pflege und Betreuung durch Angehörige, Nachbarn sowie Pflegekräfte und Selbsthilfegruppen stärken und fördern. In den zurückliegenden Jahren wurde zum einen durch Gesetzesreformen das Leistungsspektrum der Pflegeversicherung den Erfordernissen der Pflegebedürftigen – aber auch denen der Pflegenden – angepasst. Zu erwähnen wären hier nach Inkrafttreten des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes im Jahr 2012 beispielsweise die Leistungsanpassungen für die Betreuung von Menschen, die an Demenz leiden. Aber auch die Problematik der Pflegebedürftigkeit wurde stärker als zuvor im öffentlichen Bewusstsein verankert. Trotz einiger bürokratischer Hürden ist es nicht nur gelungen, das Verständnis für die Situation pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen zu vertiefen, sondern auch in großem Umfang die unverzichtbare tätige private wie ehrenamtliche Mithilfe speziell im ambulanten Bereich zu intensivieren. Der MDK hat sich mit Inkrafttreten des Pflege-Versicherungsgesetzes im Jahr 1994 der solidarischen Verpflichtung konsequent und engagiert gestellt. Er nimmt mit seinen jährlich mittlerweile rund 1,6 Millionen Pflegebegutachtungen, mehr als 23 Tausend Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen, den breitgefächerten Fortbildungsveranstaltungen sowie den Beratungen sowohl der Pflegekassen als auch der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen einen beachtlichen sozialmedizinischen Versorgungsauftrag wahr. Auf dieser positiven Bilanz aufbauend hat sich der MDK als unabhängige und unparteiische Sachverständigeninstanz maßgeblich an der Ausdifferenzierung der Pflegeversicherung, an der Richtlinienentwicklung, an der Qualitätssicherung sowie an der Erarbeitung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs beteiligt. Dabei stand er stets im intensiven Austausch und konstruktiven Dialog mit den an der pflegerischen Versorgung beteiligten Institutionen und führenden Forschungszentren. In dieser kreativen Atmosphäre reifte der Entschluss, gemeinsam mit kompetenten Vertreterinnen und Vertretern dieser Einrichtungen die Neuauflage des Handbuchs zu gestalten. Die aktuellen gesetzlichen Regelungen und das Aufgabenspektrum des
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Vorwort
MDK sollten dabei gleichermaßen Berücksichtigung finden wie der gegenwärtige Forschungsstand zum weiten Feld der pflegerischen Versorgung, ihrer Qualität, ihrer Transparenz, ihren Herausforderungen und ihren Perspektiven. Diesem Vorhaben hat sich der Verlag von der ersten Planungsstufe an äußerst aufgeschlossen gezeigt. Dazu galt es die pflegefachlichen, medizinischen, gesundheitswissenschaftlichen, rechtlichen, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen, epidemiologischen, ethischen und genderspezifischen Aspekte in ihren aktuellen Bezügen darzustellen. Im Vergleich zu den beiden vorangegangen Ausgaben haben Umfang und Gehalt dadurch nochmals beträchtlich zugenommen. Dem Charakter als Handbuch zur Pflegeversicherung wird damit in hohem Grade entsprochen. Die Realisierung eines solchen Buchprojekts, gerade auch wenn es interdisziplinär und interinstitutionell konzipiert ist, bedarf einer vertrauensvollen Kooperation, einer verlässlichen Koordinierung und einer eingespielten Logistik. Daher gilt unsere Anerkennung zunächst einmal den Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft zur Mitwirkung, ihre wertvollen Beiträge und nicht zuletzt ihre durch die abzuwartenden Novellierungen der Richtlinien notgedrungener Maßen strapazierte Geduld bis zum Erscheinen des Buchs. Verlagsseitig hat Frau Dr. Britta Nagl das Projekt vorbildlich betreut und Frau Anne Hirschelmann die Herstellung umsichtig disponiert. Projektbegleitend hat Frau Birgit Tauschke vom MDK Bayern die redaktionelle Arbeit mit großem Engagement sachkundig unterstützt und Frau Lydia Frank vom MDK Hessen mit ihrer verbindlichen Art routiniert den reibungslosen Informationsfluss zwischen den Beteiligten garantiert. Ihnen allen möchten wir danken. Thomas Gaertner Barbara Gansweid Hans Gerber Friedrich Schwegler Ulrich Heine
Inhaltsverzeichnis 1 Sozialgeschichtliche Aspekte und ordnungspolitische Reformen der Pflegeversicherung 1 2 Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich 2.1 Zielgruppen und Lebenssituationen 15 2.2 Strukturelle Merkmale 20 2.3 Prüfung der Zugangsberechtigung oder Bedarfseinschätzung? 2.4 Methoden zur Bestimmung des Leistungsanspruchs 23 2.5 Fazit 28
15
22
29 3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung 3.1 Menschenrechte in der Pflege und Pflegeversicherung 29 3.2 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs 35 3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)? 45 3.4 Evidence-based Nursing – zur ethischen Bedeutung personenbezogener Pflegeforschung für die Pflegepraxis 61 3.5 Systemimmanente Prinzipien und Funktion der sozialen Pflegeversicherung 77 3.6 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualitätsprüfung, Beratung und Fortbildung im Auftrag der sozialen Pflegeversicherung 81 3.7 Kompetenzbündelung und Fortbildung beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung 100 111 4 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung 4.1 Leistungen bei häuslicher Versorgung des Pflegebedürftigen 4.2 Leistungen für Pflegepersonen 121 4.3 Leistungen für Pflegesettings bei stationärer Versorgung des Pflegebedürftigen 122 4.4 Beratung der Pflegebedürftigen 123 5 Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung 5.1 Gesetzliche Grundlagen 125 5.2 Systemunterschiede 126 5.3 Versicherungsleistungen 127 5.4 Verfahrensfragen 130
125
113
XII
Inhaltsverzeichnis
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI 133 6.1 Terminologie: Grundbegriffe zum Begutachtungsverfahren nach SGB XI 133 6.2 Richtlinien nach dem SGB XI und deren Zielsetzungen 137 6.3 Merkmale der Pflegebedürftigkeit 141 6.4 Klassifizierung der Pflegebedürftigkeit in Pflegestufen 144 6.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit 148 6.6 Typologie der Begutachtung nach SGB XI 166 6.7 Erheblich oder in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz bei Erwachsenen unter besonderer Berücksichtigung der Demenz 172 6.8 Pflegebegutachtung von Kindern 182 6.9 Erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz bei Kindern 186 6.10 Bundesweite Ergebnisse der Begutachtung nach § 18 SGB XI 192 6.11 Qualitätssicherungsverfahren der Begutachtung gemäß SGB XI 195 6.12 Dienstleistungsorientierung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Begutachtungsverfahren 207 211 7 Rehabilitation und Pflegebedürftigkeit 7.1 Bedeutung der Rehabilitation zur Vermeidung oder Verminderung von Pflegebedürftigkeit 211 7.2 Abklärung der Indikation zu Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Rahmen der Pflegebegutachtung 221 7.3 Besonderheiten der geriatrischen Rehabilitation 229 7.4. Rehabilitation bei Demenz 235 243 8 Besonderheiten bei der Pflegebegutachtung 8.1 Begutachtungen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 8.2 Epidemiologische Aspekte zur Pflegesituation von Migrantinnen und Migranten 248 8.3 Zur Praxis der Pflegebegutachtung von Migrantinnen und Migranten 254 8.4 Die Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern 261
243
267 9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments 9.1 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens 267 9.2 Gesamtüberblick über die Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments 277
Inhaltsverzeichnis
9.3 Entwicklung eines neuen Begutachtungsassessments 9.4 Anpassung des neuen Begutachtungsverfahrens an die Begutachtung von Kindern 289
XIII
279
295 10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege 10.1 Entwicklung der Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen 295 10.2 Gesetzliche Grundlagen der Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen 299 10.3 Qualitätsprüfungen in Einrichtungen der ambulanten und stationären Pflege 308 10.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen 311 10.5 Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (QSQP) 319 10.6 Qualitätsindikatoren in der ambulanten und stationären Pflege 329 10.7 Neue Ansätze zur Beurteilung von Ergebnisqualität in der Langzeitpflege 337 10.8 Qualität in der Pflege – die deutsche Perspektive 346 10.9 Expertenstandards in der Pflegeversicherung 354 10.10 Erfahrungen aus der stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V in der Pflege 362 10.11 Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen gemäß § 47a SGB XI 374 383
11 11.1 11.2
Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung Beratung der Pflegekassen 383 Beratung von Pflegeeinrichtungen 390
12 12.1 12.2
393 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger Arzneimittelversorgung von Pflegebedürftigen 393 Palliativversorgung: Medizinische Grundlagen und pflegerelevante Aspekte 403 Hospizkultur als Grundlage der Sterbebegleitung in der ambulanten und stationären Pflege 420 Spezialisierte ambulante Palliativversorgung und stationäre Hospizversorgung 426
12.3 12.4
13 13.1
439 Verletzungen von Rechten Pflegebedürftiger Gewalt gegen Senioren im öffentlichen Raum und in Heimen. Strafrechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen sowie Präventionsansätze 439
XIV 13.2
13.3 13.4
Inhaltsverzeichnis
Misshandlung und Vernachlässigung alter Menschen in häuslicher Pflege. Zum Gesetzgebungsbedarf im Familien- und Sozialrecht 453 Freiheitsberaubung aus Fürsorge?! – Die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen in der Pflege 462 Prävention von Gewalt gegen ältere und pflegebedürftige Menschen. Das Europäische Projekt MILCEA und seine Konsequenzen 470
14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes bei der Pflegebegutachtung, den Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen sowie der Beratung nach SGB XI 481 14.1 Datenschutz bei der Pflegebegutachtung 483 14.2 Datenschutz bei den Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen 495 14.3 Sonstige Geschäftsprozesse mit datenschutzrechtlicher Relevanz 499 15 15.1 15.2 15.3 15.4
501 Situation der Pflegenden Professionalisierung der Pflege – Weiterentwicklung der Pflegeberufe 501 Fachkräftesituation und Arbeitszufriedenheit in der ambulanten und stationären Pflege 506 Der Pflegende im Spannungsfeld von Berufsethos und Eigeninteresse 513 Frauen in informeller Pflegeverpflichtung 524
545 16 Ausblick 16.1 Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen unter demographisch-epidemiologischen Aspekten 545 16.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung 553 16.3 Erwartungen an eine Pflegereform – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung 565 577 17 Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI 17.1 Aussagen zum Begriff der Pflegebedürftigkeit (§ 14 SGB XI) im Sinne von Definitionen 577 17.2 Präzisierungen zu der Verrichtung „Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung“ 582 17.3 Aussagen zu Formen der Hilfe 586 17.4 Aussagen zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz 591
Inhaltsverzeichnis
17.5 17.6 17.7 17.8 17.9 Anlage
Aussagen zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit bei Kindern 592 Aussagen zu krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen 594 Entscheidungen zu Personen mit Mukoviszidose 597 Entscheidungen zu Personen mit dialysepflichtiger Niereninsuffizienz 601 Entscheidungen zu beatmungspflichtigen Personen 602 605
Autorenverzeichnis
629
Literaturverzeichnis
633
Sachverzeichnis
671
XV
Abkürzungsverzeichnis A ABDEL ABUEL ADL AEDL AG AG AGGIR AIDS AkdÄ AKoMeD AOK AQUA ATL AWBZ ÄZQ B BA BaFin BAGSO BÄK BESD BGB BGH BGT BIP BISAD BIVA BKiSchG BL-AG BLGS BMA BMAS BMBF BMFSFJ BMG BMGS BMJ BPSD BQS BRD BRi BSG BSHG BSI BVerfG
Anleitung (bei Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens) Aktivitäten, Beziehungen und existenzielle Erfahrungen des Lebens Abuse and health among elderly in Europe Activities of Daily Living Aktivitäten und existenzielle Erfahrungen des Lebens Amtsgericht Arbeitsgruppe Autonomie Gérontologie Groupes Iso-Ressources Acquired Immune Deficiency Syndrome Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft Auftragsdatenbank der Kompetenz-Einheiten der Medizinischen Dienste Allgemeine Ortskrankenkasse Angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen Aktivitäten des täglichen Lebens Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin Beaufsichtigung (bei Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens) Bundesausschuss der Lehrerinnen und Lehrer für Pflegeberufe e.V. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesarbeitsgemeinschaft für Seniorenorganisationen Bundesärztekammer BEeurteilung von Schmerzen bei Demenz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Betreuungsgerichtstag Bruttoinlandsprodukt Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit Demenz Betreuungsangebote im Alter und bei Behinderung e.V. Bundeskinderschutzgesetz Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der Pflegeberufe Bundesverband Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesministerium für Gesundheit Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung Bundesministerium der Justiz Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung Bundesrepublik Deutschland Begutachtungs-Richtlinien Bundessozialgericht Bundessozialhilfegesetz Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Bundesverfassungsgericht
XVIII CAT CBO CDU CHSRA COPSOQ CRD CSU DAK DAlzG DBfP DBR DBT DCS DEK DemTect® Destatis DFG DFGT DFK DGN DGP DGPPN DGSMP DHL® DHPV Die-RiLi DIMDI DIN DIP DLA DNEbM DNQP DRG DRV DV DZA e.V. EAPC EbHC EBM EbM EbN EbP EbPI EDV EFQM EG
Abkürzungsverzeichnis
Cambridgeshire Assessment Tool Centraal BegeleidingsOrgaan Christlich Demokratische Union Deutschlands Center for Health Systems Research & Analysis Copenhagen Psychosocial Questionnaire Centre for Reviews and Dissemination Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. Deutsche Angestellten Krankenkasse Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe Deutsche Bildungsrat für Pflegeberufe Deutscher Bundestag Daten Clearing Stelle Pflege für ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen Dekubitusprophylaxe Demenz-Detektion Statistisches Bundesamt Deutsche Forschungsgesellschaft Deutscher Familiengerichtstag Deutsches Forum für Kriminlaprävention Deutsche Gesellschaft für Neurologie Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e.V. Deutsche Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdruckes e.V./Deutsche Hochdruckliga e.V. Deutscher Hospiz- und Palliativverband e.V. Dienstleistungs-Richtlinien Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information Deutsches Institut für Normung e.V. Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. Disability Living Allowance Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege Diagnosis Related Groups (diagnosebezogene Fallgruppen) Deutsche Rentenversicherung Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. Deutsches Zentrum für Altersfragen eingetragener Verein European Association for Palliative Care Evidence-based Health Care (evidenzbasierten Gesundheitsversorgung auf der Systemebene) Einheitlicher Bewertungsmaßstab Evidenzbasierte Medizin Evidence-based Nursing (Evidenzbasierte Pflege) Evidenzbasierten Praxis Evidenzbasierte Patienteninformation Elektronische Datenverarbeitung European Foundation for Quality Management Europäische Gemeinschaft
Abkürzungsverzeichnis
EN EP EQisA ESQS ET 6-6 EU EuGH EUMASS EWR EWSA F.A.Z. FACE FACS FamFG FDP FEM FIM® FPfZG FTDD FuWRi G-BA GdB GES GG GKV GKV-SV GKV-WSG GMG GRADE GSbG GUS HeimG HGBP HIV HoLDe HON HOPE HRi HTA i. m. i.V.m. IADL ICD
ICD-10
XIX
Europa Norm Europäisches Parlament Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe Externe stationäre Qualitätssicherung Entwicklungstest sechs Monate bis sechs Jahre Europäische Union (European Union) Europäischer Gerichtshof (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften) European Union of Medicine in Assurance and Social Security Europäischer Wirtschaftsraum Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss Frankfurter Allgemeine Zeitung Functional Assessment of the Care Environments Fair Access to Care Services Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Freie Demokratische Partei Freiheitsentziehende Maßnahmen Functional Independence Measure Familienpflegezeitgesetz Test zur Früherkennung der Demenz mit Depressionsabgrenzung Fort- und Weiterbildungsrichtlinien Gemeinsamer Bundesausschuss Grad der Behinderung Griffiths Entwicklungsskalen Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Gesetzliche Krankenversicherung Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz GKV-Modernisierungsgesetz Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation Gesellschaft für Systemberatung im Gesundheitswesen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Heimgesetz Hessisches Gesetz über Betreuungs- und Pflegeleistungen Humanes Immundefizienz-Virus Hospiz, Lebenswelt und Demenz Health on the Net Hospiz- und Palliativerhebung Härtefall-Richtlinien Health Technology Assessment intramuskulär in Verbindung mit Instrumental Activities of Daily Living International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems – Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Tenth Revision – Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision
XX
Abkürzungsverzeichnis
ICD-10-GM
International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Tenth Revision, German Modification – Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification ICF International Classification of Functioning, Disability and Health – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit ICIDH International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps – Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen ICIDH-2 International Classification of Impairments, Activities, and Participation – Internationale Klassifikation der Schäden, Aktivitäten und Partizipation ICN International Council of Nursing ICOH International Commission for Occupational Health IfD Institut für Demoskopie (Allensbach) IfSG Infektionsschutzgesetz InfoMeD Informations-Datenbank der Medizinischen Dienste InfoMeD-KK Informations-Datenbank der Medizinischen Dienste für die Kranken- und Pflegekassen ICOH International Commission for Occupational Health ILO International Labour Organization IPP Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen IPW Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld IQWiG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik ISO International Organization for Standardization IT Informationstechnologie K. d. ö. R. Körperschaft des öffentlichen Rechts K.Q.P. Kontinuierliche Qualitätsprüfung KAN KwaliteitsAcademie Nederland KC Kompetenz-Centrum (der MDK-Gemeinschaft und des GKV-Spitzenverbandes) KCG Kompetenz-Centrum Geriatrie KCO Kompetenz-Centrum Onkologie KCPP Kompetenz-Centrum für Psychiatrie und Psychotherapie KCQ Kompetenz-Centrum Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement KDA Kuratorium Deutsche Altershilfe KE Kompetenz-Einheit (der MDK-Gemeinschaft) KiBG Kinder-Berücksichtigungsgesetz KKH Kaufmännische Krankenkasse KFN Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen e.V. KTQ Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen LA Lebensaktivitäten LG Landgericht LPR NRW Landespräventionsrat Nordrhein-Westfalen MB/PPV Musterbedingungen für die private Pflege-Pflichtversicherung MBO-Ä (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte MD Medizinische Dienste MdB Mitglied des Bundestages MDK Medizinischer Dienst der Krankenversicherung
Abkürzungsverzeichnis
MDS
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Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (vormals: Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V.) MDS Minimum Data Set MIDOS Minimales Dokumentationssystem für Palliativpatienten MILCEA Monitoring in Long-Term Care MiMi Mit Migranten für Migranten MISSOC Mutual Information System on Social Protection („Gegenseitiges Informationssystem für soziale Sicherheit“) MMSE Mini-Mental State Examination MuG Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der ambulanten und vollstationären Pflege NANDA North American Nursing Diagnosis Association NBA Neues Begutachtungsassessment NEAIS The National Elder Abuse Incidence Study NEXT Nurses‘ early exit study NHS National Health Service NOAT Northamptonshire Overview Assessment Tool NOC Nursing Outcomes Classififation NOG GKV-Neuordnungsgesetz NPUAP National Pressure Ulcer Advisory Panel OECD Organisation for Economic Co-operation and Development ÖGKV Österreichischer Gesundheits- und Krankenpflegeverband OLG Oberlandesgericht OPS Operationen- und Prozedurenschlüssel PC Personal Computer – Einzelplatzrechner PCT Palliative Care-Team PEA Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz PEDI Pediatric Evaluation of Disability Inventory PflEG Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz PflegeVG Pflege-Versicherungsgesetz PflegeZG Pflegezeitgesetz PflRi Pflegebedürftigkeits-Richtlinien PfWG Pflege-Weiterentwicklungsgesetz PIN Persönlichen Identifikationsnummer PKS Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes PKV Private Krankenversicherung PNG Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz POA Present On Admission PPV Private Pflege-Pflichtversicherung PQsG Pflege-Qualitätssicherungsgesetz PTVA Pflege-Transparenzvereinbarung ambulant PTVS Pflege-Transparenzvereinbarung stationär PURFAM Potentiale und Risiken in der familialen Pflege alter Menschen PV Pflegeversicherung PVB Tarifstufe der Pflegepflichtversicherung für Personen mit Beihilfeanspruch PVN Tarifstufe der Pflegepflichtversicherung für Personen ohne Beihilfeanspruch PYLL Potential Years of Life Lost QM Qualitätsmanagement
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Abkürzungsverzeichnis
QPR Qualitätsprüfungs-Richtlinien QSKH-RL Richtlinie über Maßnahmen der Qualitätssicherung in Krankenhäusern QSQP Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI QS-Ri QP Qualitätssicherungs-Richtlinien Qualitätsprüfung RAI 2.0 Resident Assessment Instrument, Version 2.0 RAI HC Resident Assessment Instrument – Home Care RAI® Resident Assessment Instrument RCN Royal College of Nursing RCT Randomized Controlled Trial (randomisiert-kontrollierte Studie) Reha Rehabilitation RiStBV Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren RL Richtlinie(n) ROT Realitätsorientierungstherapie RVO Reichsversicherungsordnung s. c. subcutan SAPV Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung SAPV-RL Spezialisierte Ambulante Palliativversorgungs-Richtlinie SBK Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SEG Sozialmedizinische Expertengruppe (der MDK-Gemeinschaft) SEG 2 Sozialmedizinische Expertengruppe „Pflege“ SET Selbst-Erhaltungs-Therapie SGB Sozialgesetzbuch SGG Sozialgerichtsgesetz SiliA Sicher leben im Alter SINDBAD Sozialmedizinische Informationsdatenbank für Deutschland SMD Sozialmedizinischer Dienst SOEP Sozio-oekonomisches Panel SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPV Soziale Pflegeversicherung SSRI Serotonin-selektiven Reuptake Inhibitoren STEP Standardised Assessment of Elderly People in Primary Care StGB Strafgesetzbuch STMAS Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung StPO Strafprozessordnung StRi Statistik-Richtlinien SVR Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen TFDD Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung TLS Transport Layer Security (Transportschichtsicherheit) TNS Taylor Nelson Sofres tnz trifft nicht zu TQM Total Quality Management TÜ Teilweise Übernahme (bei Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens) U Unterstützung (bei Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens) UGu-RiLi Unabhängige Gutachter-Richtlinien USB Universal Serial Bus (serielles Bussystem) ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft VÜ Vollständige Übernahme (bei Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens) VPN Virtual Private Network (geschlossenes Rechnernetz) VVG Versicherungsvertragsgesetz
Abkürzungsverzeichnis
WEAAD WHO WIdO WLAN WR WSI YLD ZE ZePB ZEW ZQP
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World Elder Abuse Awareness Day World Health Organization – Weltgesundheitsorganisation Wissenschaftliches Institut der AOK Wireless Local Area Network – drahtloses lokales Netzwerk Wissenschaftsrat Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler Stiftung Years Lived with Disability Zusatzentgelt Zentrum für Pflegeforschung und Beratung Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH Zentrum für Qualität in der Pflege
1 Sozialgeschichtliche Aspekte und ordnungs politische Reformen der Pflegeversicherung Thomas Gaertner Eine allgemeingültige Bestimmung des Wesens des Menschen stößt in einer liberalen und multikulturell formierten Gesellschaft auf Schwierigkeiten. Keines der tradierten Deutungsmuster des Menschseins1 bleibt substantiell unwidersprochen, keines kann alleinige Geltung beanspruchen, keines kann daher in einem demokratischen und sozialen Staat2 zur ausschließlichen Legitimation des Sozialsystems dienen. Die Herausstellung der Hilfsbedürftigkeit im Sinne eines umfassenden Angewiesenseins auf fremde – gegenseitige oder instrumentelle – Hilfe als wesenhaftes Merkmal des Menschen ist Ausdruck einer bestimmten Anschauung, nämlich der Interpretation des Menschen als Mängelwesen. Hilfsbedürftigkeit kann somit nicht als allgemein verbindlich soziale Interventionen und Institutionen begründend herangezogen werden [Ladeur 2006]. Folgerichtig erscheint der Terminus Hilfsbedürftigkeit weder im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) noch im Sozialgesetzbuch (SGB). Demgegenüber bietet der kontextabhängig auszulegende Begriff der Hilfebedürftigkeit – in sozialrechtlichen Verfügungen operationalisiert als Hilfebedarf bzw. weiterhin spezifiziert als Pflegebedarf – grundgesetzkonforme, die Menschenwürde verbürgende Handlungsoptionen. Nur als unterstützendes Angebot tangiert wohlfahrtsstaatliche Hilfe nicht das Recht jedes Einzelnen „auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (Art. 2 Abs. 1 GG). In diesem Sinne hat das Subsidiaritätsprinzip3 seine konstitutive Bedeutung als übergeordnetes Wirkprinzip des Systems der sozialen Sicherung [Brennecke 2004, Gansweid 2005, Kesselheim 2000]. Im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) findet dies seinen Nie-
1 Exemplarisch herausgegriffen seien: vernunftbegabtes Wesen – gemeinschaftgestaltendes Wesen (zoon logon echon – zoon politikon, Aristoteles), Ebenbild Gottes (jüdisch-christliche Tradition), Maschinenmensch (L‘Homme Machine, Julien Offray de La Mettrie 1748), abschätzendes Tier an sich (Friedrich Nietzsche 1887), Mängelwesen (Arnold Gehlen 1940), Wesen der Selbstinterpretation (selfinterpreting animal, Charles Taylor 1985). 2 „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1 GG). 3 Das Subsidiaritätsprinzip erhält seine Bedeutung gerade nicht ausschließlich dadurch, dass ihm zufolge bei Überforderung Einzelner oder gesellschaftlicher Gruppen staatliche Institutionen unterstützend oder ausgleichend eingreifen. Essentiell ist seine sozialphilosophische Intention, dass sowohl in Bezug auf das Individuum wie auch auf Gemeinschaften die Ausbildung persönlicher Kompetenzen und der konstruktive Einsatz unmittelbaren Potentials den Vorrang haben vor kompensatorischen Eingriffen oder regulativer Einflussnahme behördlicher Instanzen.
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derschlag im § 6 Eigenverantwortung und § 8 Gemeinsame Verantwortung, beide in Übereinstimmung mit der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) vom 21.11.1986. Sie bestimmt nämlich als zwei der fünf prioritären Handlungsfelder: gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen sowie persönliche Kompetenzen entwickeln. Erst in zweiter Instanz hat dann die gemäß dem Solidarprinzip4 gestaltete Sozialversicherung einzutreten. Deren Maximen werden im § 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) einleitend wie folgt festgelegt: „Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen“. Abhängigkeit bedeutet, den Anforderungen des täglichen Lebens selbständig und aus eigener Kraft nicht mehr gewachsen zu sein.5 Anhaltende Abhängigkeit von pflegerischen Maßnahmen kann den Persönlichkeitsrechten entgegenstehen und Autonomieverlust besiegeln [Niehoff 2005]. Zur Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos wurde daher als eigenständiger Zweig der Sozialversicherung die soziale Pflegeversicherung (SPV) geschaffen. Sie wurde organisatorisch unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) angesiedelt. Als Solidargemeinschaft ist somit auch die soziale Pflegeversicherung nach § 70 SGB V den allgemeinen Grundsätzen der Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit verpflichtet. Gerade dem Humanitätsaspekt wird im § 8 Abs. 2 SGB XI besonders Rechnung getragen: „Sie unterstützen und fördern darüber hinaus die Bereitschaft zu einer humanen Pflege … wirken so auf eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung hin.“ Dem übergeordnet fanden das Subsidiaritäts- sowie das Solidarprinzip unmissverständlich ihren Niederschlag in der sozialgesetzlich formulierten Zielsetzung der Pflegeversicherung (§ 2 SGB XI): „Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.“
4 Die Höhe des Beitrags zur Sozialversicherung richtet sich nach den jeweiligen beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten. Unabhängig davon haben alle Versicherten als Solidargemeinschaft den gleichen Anspruch auf angemessene Leistungen. 5 Demgegenüber zeichnet sich eine autonome Person nach einer gängigen Auffassung gerade dadurch aus, nicht nur über den eigenen, mit selbsterwogenen Entwürfen zur Deckung gebrachten Aktionsradius persönlich frei entscheiden zu können, sondern auf der Grundlage solcher Erwägungen außerdem handlungsfähig zu sein [Beauchamp/Childress 1979/2013].
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Die soziale Pflegeversicherung ist Teil der deutschen Sozialversicherung, die in Etappen entstanden ist. So wurde zunächst im Anschluss an vornehmlich im 18. und 19. Jahrhundert in England und Frankreich geleistete morbiditätsbezogene epidemiologische Untersuchungen und Entwicklungen eines paternalistischen Wohlfahrtsgedankens auch in Deutschland Krankheit als gesellschaftliches Problem medizinisch-wissenschaftlich betrachtet. In der Bewegung der „sozialen Medizin“ der Jahre 1848/49 fanden diese Erkenntnisse durch Vertreter wie Salomon Neumann (1819–1908) und Rudolf Virchow (1821–1902), von 1880–1893 Mitglied des Reichstags, politisch motivierten Ausdruck [Hurrelmann et al. 2012]. Zu Beginn des Jahres 1881 wurde dann ein erster Entwurf eines Sozialversicherungsgesetzes vorgelegt, in dem es hieß: „dass der Staat sich in höherem Maße als bisher seiner hilfsbedürftigen Mitglieder annehme, ist nicht bloß eine Pflicht der Humanität und des Christentums, von welchem die staatlichen Einrichtungen durchdrungen sein sollen, sondern auch eine Aufgabe staatserhaltender Politik“. Die sich daran anschließende Sozialgesetzgebung zur Absicherung der großen Lebensrisiken intendierte somit gerade auch die Herstellung des inneren Friedens. Zur Eröffnung des 5. Deutschen Reichstags am 17.11.1881 verlas dann der damalige Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck die sogenannte und wohl auch von ihm redigierte Kaiserliche Botschaft Wilhelms I. Sie leitete die eigentliche deutsche Sozialgesetzgebung ein. Diesem staatlichen Fürsorgeprogramm zur institutionellen Absicherung der Arbeiter gegen die Risiken und Folgen von Betriebsunfällen, Krankheit sowie Alter oder Invalidität wird in der kritisch-historischen Geschichtsschreibung nicht unwidersprochen der Charakter einer sozial-politischen Magna Charta zugestanden [Lüschen 2000]. Sie markiert aber eine deutliche Akzentverschiebung sozialstaatlichen Verständnisses, insbesondere im Vergleich zu den sozialpolitischen Entwicklungen in Großbritannien und Frankreich.6 Nach den Ankündigungen in der Kaiserlichen Botschaft nahm dann während der Jahre 1883 bis 1891 die soziale Gesetzgebung im Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, im Unfallversicherungsgesetz und im Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersabsicherung Gestalt an. Dies war auch für das Ausland vorbildlich. Im Verlauf von mehr als hundert wechselvollen Jahren führte die Gesetzgebung über die Zusammenfassung in der Reichsversicherungsordnung (RVO) vom Jahre 1911 zur Grundlage des gegenwärtigen Wohlfahrtsstaates. Das System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) basiert als Teil eines gesellschaftlichen Netzwerks auf
6 Auf den Erfahrungen mit der aufkommenden Industrialisierung beruhten die Annahmen der Planbarkeit von Zukunft, der rationalen Erfassbarkeit der Phänomene und ihrer Rekonstruktion nach Zwecken. „Deutschland, genauer: Preußen mit seiner rigiden militärisch-bürokratischen Staatlichkeit, ist folgerichtig zu dem Land geworden, das die Sozialpolitik im modernen Sinn ausgebildet hat: als sozialphilosophisches Konzept wie als politische Institution“ [Metz 2008].
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– dem Prinzip der Versicherung, – dem Prinzip der Verknüpfung von staatlicher Rahmengesetzgebung und sozialer Selbstverwaltung und – dem Prinzip der organisatorischen Vielfalt der Versicherungsarten und -träger. Das bundesdeutsche Sozialversicherungssystem auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft ist so zu einem konstitutiven Element unserer heutigen Gesellschaft geworden. Seine Zweige sind selbstverwaltete Institutionen mit der Intention einer solidarisch organisierten Selbsthilfe. Produktiv und perspektivisch tragend wird in diesem Kontext ein modernes Verständnis von Institutionen. Demnach sind sie keine „stahlharten Gehäuse“ und erst recht keine „Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber), sondern ausgehend von einem Leitproblem konstruktive Transmissionsmedien kreativen Werdens zur Zeitigung sozialer Effekte [Seyfert 2011]. Bereits im Jahr 1953 findet sich in dem Essay „Empirisme et subjectivité“ von Gille Deleuze: „Die Institution setzt keine Grenzen wie das Gesetz, sondern ist im Gegenteil ein Handlungsmodell … eine positive, auf indirekt wirkende Mittel aufbauende Erfindung … Das Soziale selbst ist schöpferisch, erfinderisch, positiv“ [Deleuze 1997]. Neben den Sozialleistungsträgern der Kommunen ruht das System der sozialen Sicherung der BRD somit auf den folgenden historisch gewachsenen fünf Säulen: 1. gesetzliche Krankenversicherung (Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB V vom 20.12.1988) 01.12.1884 Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15.06.1883 2. gesetzliche Unfallversicherung (Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VII vom 07.08.1996) 01.10.1885 Unfallversicherungsgesetz vom 06.07.1884 3. gesetzliche Rentenversicherung (Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VI vom 18.12.1989) 01.01.1891 Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 28.05.1889 4. Arbeitsförderung (Drittes Buch Sozialgesetzbuch – SGB III vom 24.03.1997)/ Grundsicherung für Arbeitslose (Zweites Buch Sozialgesetzbuch – SGB II vom 24.12.2003) 16.07.1927 Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 4. soziale Pflegeversicherung (Elftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XI vom 26.05.1994) 01.01.1995 Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit vom 26.05.1994 Zur Etablierung einer Pflegeversicherung kam es erst nach einer mehr als zwei Jahrzehnte währenden politischen Auseinandersetzung [Frerich/Frey 1996]. Die gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit zu ihrer Einführung ergab sich letztendlich aufgrund der volkswirtschaftlichen Folgen des sozio-demographischen Wandels. Kennzeichen waren die Zunahme der Lebenserwartung mit konsekutivem Pflegebedarf, die Erosion der die häusliche Pflege tragenden familiengebundenen Strukturen, eine sich verschärfende Finanzierungsproblematik der stationären Pflege sowie nicht zuletzt die
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sozialrechtlich konfliktträchtige Abgrenzung von Leistungen der Sozialhilfe gegenüber den Leistungen der Krankenkassen bei Schwerpflegebedürftigkeit. Um „eine umfassende Lösung der Pflegeproblematik herbeizuführen“, legte die Regierungskoalition der CDU/CSU und der F.D.P. in der 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages (1990–1994) einen Gesetzentwurf vor. Grundlegend war die Qualifizierung von Pflegebedürftigkeit als ein „unabhängig vom Lebensalter bestehendes allgemeines Lebensrisiko“, das zwar keiner „allgemeinen Versicherung“ wie bei der Krankenversicherung, jedoch einer Unterstützung bedurfte, um die „aus der Pflegebedürftigkeit entstehenden Belastungen zu mildern“ (BT-Drs. 12/5 262). Nach heftigen parlamentarischen Debatten und zähen Verhandlungen im Vermittlungsausschuss wurde das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG) am 24.05.1994 verabschiedet. Gegenstand der Kontroversen war nicht zuletzt die Finanzierungsfrage. Konträre Positionen wurden vor allem im Hinblick auf die Lohnnebenkosten vertreten: Kapitaldeckungsverfahren versus Umlageverfahren, Privatversicherung versus Sozialversicherung, arbeitnehmerseitige versus paritätische Finanzierung. Ein Kompromiss wurde in einer umlagefinanzierten Sozialversicherung mit eingeschränkt paritätischer Finanzierung gefunden. So wurde als sozialgeschichtliches Novum in der BRD erstmals nach dem Grundsatz vom Umbau des Sozialstaates mittels Kompensation vorgegangen. Als Ausgleich für die aus den Arbeitgeberbeiträgen entstehenden Belastungen der Wirtschaft haben die Länder mit dem Buß- und Bettag einen landesweiten gesetzlichen Feiertag aufgehoben, der stets auf einen Werktag fällt. Lediglich im Freistaat Sachsen wurde dieser Feiertag beibehalten; ausgleichend zahlen dort allerdings die Arbeitnehmer einen höheren Eigenanteil. Mit Wirkung vom 01.01.1995 wurde die soziale Pflegeversicherung als vorerst letzte Säule der Sozialversicherung stufenweise etabliert [Jung 1997]. Einige organisationsrechtliche Vorschriften wurden bereits am 01.06.1994 wirksam, wie die Vorschriften über die Anschubfinanzierung für die Pflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern (Art. 52 PflegeVG) und die Vorschriften über die Ermächtigung der Krankenkassen zu vorbereitenden Arbeiten (Art. 46 PflegeVG). Im weiteren Verlauf wurde über die Jahre die Pflegeversicherung weiterentwickelt und den sich verändernden Anforderungen angepasst. Aktuell bestimmen die Belastungen durch die Zunahme von Pflegebedürftigen mit demenziellen Erkrankungen und die Notwendigkeit zur Schaffung eines den gegenwärtigen Kenntnisstand berücksichtigenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs den vordringlichen Handlungsbedarf. Das Pflege-Versicherungsgesetz sichert keine umfassende Versorgung im Sinne einer Vollversicherung gegen das Risiko individueller Hilfebedürftigkeit. Es soll allerdings wesentlich dazu beitragen, einen Teil des pflegebedingten Hilfebedarfs zu kompensieren. Zudem sollen dadurch Privatpersonen wie kommunale Haushalte finanziell entlastet und die Beanspruchung von Sozialhilfe reduziert werden. In gemeinsamer Verantwortung zur Beteiligung leistet die Pflegeversicherung also nur einen ergänzenden Beitrag zur in gemeinsamer Verantwortung getragenen gesamt-
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gesellschaftlichen Aufgabe der pflegerischen Versorgung der Versicherten7 (Teilabsicherung). Dazu gehört auch, dass durch die unterstützenden Leistungen des PflegeVersicherungsgesetzes die Möglichkeiten zur häuslichen Pflege besser ausgeschöpft werden können. Die Anspruchsvoraussetzungen sind gebunden an Art und Häufigkeit der Verrichtungen, bei denen Hilfebedarf besteht, Zuordnung der Verrichtungen zum Tagesablauf und an den Zeitaufwand. Berücksichtigungsfähig ist nur der Hilfebedarf bei gesetzlich definierten Verrichtungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung. Das Pflege-Versicherungsgesetz enthält als Artikel 1 das Sozialgesetzbuch (SGB) – Elftes Buch (XI) – Soziale Pflegeversicherung. Es umfasst die Regelungen sowohl zur sozialen Pflegeversicherung als auch zur sogenannten privaten Pflege-Pflichtversicherung (PPV). In den Schutz der sozialen Pflegeversicherung sind kraft Gesetzes alle einbezogen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Wer bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert ist, muss gemäß § 1 Abs. 2 SGB XI eine private Pflegeversicherung abschließen, daher die Bezeichnung private Pflege-Pflichtversicherung. Die Leistungen der PPV müssen denen der SPV gleichwertig sein. Allerdings tritt an die Stelle der Sachleistungen die Kostenerstattung. Das Gesetz zur Qualitätssicherung und zur Stärkung des Verbraucherschutzes in der Pflege (Pflege-Qualitätssicherungsgesetz – PQsG) vom 21.06.2001, das Gesetz zur Ergänzung der Leistungen bei der häuslichen Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz – PflEG) vom 14.12.2001, das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz – PfWG) vom 28.05.2008 und das Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungsgesetz –PNG) vom 23.10.2012 sind wesentliche Eckpfeiler der Reformbestrebungen der Pflegeversicherung. Sie stellen ordnungspolitische Reaktionen auf Forderungen zur Qualitätsverbesserung, zur Sicherstellung der Versorgung, zur Transparenz sowie zur Dienstleistungsorientierung dar. Einige wichtige Stationen zur dynamischen Entwicklung der SPV, ihrer gesetzlichen Grundlagen und Vorschriften werden nachfolgend im Überblick aufgeführt. 26.05.1994 Verabschiedung des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG)
7 § 8 SGB XI „Gemeinsame Verantwortung (1) Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. (2) Die Länder, die Kommunen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen wirken unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes eng zusammen, um eine leistungsfähige, regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander abgestimmte ambulante und stationäre pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.“
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07.11.1994 Beschluss der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeits-Richtlinien – PflRi) gemäß § 17 SGB XI in Verbindung mit § 213 SGB V als Grundlage der Begutachtung 01.01.1995 Beginn der Beitragszahlungen 01.04.1995 Beginn der Leistungen zur häuslichen Pflege (1. Stufe) 29.05.1995 Beschluss der Begutachtungsanleitung „Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ als Richtlinie nach § 282 Satz 3 SGB V 10.07.1995 Richtlinien zur Anwendung der Härtefallregelungen des § 36 Abs. 4 und des § 43 Abs. 3 SGB XI (Härtefall-Richtlinien, geändert durch Beschlüsse vom 19.10.1995, 03.07.1996 und 28.10.2005) 10.07.1995 Gemeinsame Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität und Qualitätssicherung einschließlich des Verfahrens zur Durchführung von Qualitätsprüfungen nach § 80 SGB XI in der ambulanten Pflege 18.08.1995 Gemeinsame Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität und Qualitätssicherung einschließlich des Verfahrens zur Durchführung von Qualitätsprüfungen nach § 80 SGB XI in der Kurzzeitpflege 21.12.1995 Ergänzungsbeschluss zu den Pflegebedürftigkeits-Richtlinien 07.03.1996 Gemeinsame Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität und Qualitätssicherung einschließlich des Verfahrens zur Durchführung von Qualitätsprüfungen nach § 80 SGB XI in vollstationären Pflegeeinrichtungen 14.06.1996 Erstes Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch: – Schaffung eines Leistungsanspruchs für Pflegebedürftige in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB XI – Festlegung des für die einzelnen Pflegestufen jeweils mindestens benötigten Zeitaufwands in Bezug auf die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung gemäß § 15 Abs. 3 SGB XI – § 53a SGB XI Zusammenarbeit der Medizinischen Dienste 01.07.1996 Beginn der Leistungen zur stationären Pflege (2. Stufe) mit Ergänzung der Begutachtungsanleitung durch eine „Vorläufige Begutachtungshilfe zur Einführung der 2. Stufe des Pflege-Versicherungsgesetzes“ 21.03.1997 Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) aufgrund der §§ 17, 53a Nr. 1, 2, 4 und 5 SGB XI in Verbindung mit § 213 SGB V als Ersatz der Begutachtungsanleitung „Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ 12.09.1997 Erste bundesweite verbindliche MDK-interne Qualitätssicherungsmaß nahme „ambulanter“ und „stationärer“ Pflegegutachten zunächst gemäß BRi Abschnitt E 29.04.1998 Gemeinsame Auslegungshinweise der Spitzenverbände der Pflegekassen, des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V. und des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) zur Anwendung der Richt-
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linien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) 29.05.1998 Zweites Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Die BRi ersetzen die vorläufige Begutachtungshilfe; mit Einführung der Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung für die Verrichtungen der Grundpflege zunächst befristet bis zum 31.12.1999, einmal verlängert bis zum 31.12.2002. Die zeitliche Befristung der Anwendung der Zeitorientierungswerte wurde vom Bundesministerium für Gesundheit mit Schreiben vom 23.10.2002 aufgehoben. 05.06.1998 Drittes Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch: Festschreibung der Leistungsbeträge der Pflegekassen für die stationäre Pflege im § 43 SGB XI vom 01.01.1998 bis 31.12.1999. 01.01.1999 Inkrafttreten der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die von den Medizinischen Diensten für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung zu übermittelnden Berichte und Statistiken vom 08.12.1997 21.07.1999 Viertes Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch: – Unterhaltsrechlichte Berücksichtigung des Pflegegeldes: Damit wird sichergestellt, dass die Pflegeperson das Pflegegeld möglichst ungeschmälert erhält. – Zahlung des Pflegegeldes im Sterbemonat, damit wird sichergestellt, dass zu viel gezahltes Pflegegeld im Sterbemonat nicht zurückzufordern ist. Diese Regelung ist mit der Regelung bei den Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar. – Finanzierung der Pflegeeinsätze durch die Pflegekassen. Vom 01.08.1999 an werden die Kosten für die Pflegeeinsätze, die bei Pflegegeldleistungen abgerufen werden müssen, von der Pflegekasse getragen. – Verhinderungspflege (z.B. bei Urlaub oder Krankheit der eigentlichen Pflegeperson) durch Familienangehörige oder durch Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben. Unter bestimmten Voraussetzungen können auch Familienangehörige bei Ausübung der Verhinderungspflege Leistungen bis zum Höchstbetrag von 1.432 Euro mit der Pflegekasse abrechnen. – Erhöhung der leistungsrechtlichen Höchstbeträge in der Tages- und Nachtpflege. – Wegfall der Wartezeit bei Inanspruchnahme der Kurzzeitpflege. Bisher musste für die Inanspruchnahme der Kurzzeitpflege grundsätzlich eine Pflege von einem Jahr vorausgegangen sein. Diese Voraussetzung ist nun entfallen. 24.09.1999 Genehmigung (bzw. Zustimmung) des „gestrafften“ Gutachtenformulars und der Ausfüllhinweise dazu durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in Ergänzung der BRi 22.12.1999 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsreformgesetz) 22.08.2001 Verabschiedung der neuen Richtlinien über die Grundsätze der Fortund Weiterbildung im Medizinischen Dienst (Fort- und Weiterbildungsrichtlinien – FuWRi) vom 22.08.2001
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23.10.2001 Gesetz zur Umstellung von Gesetzen und anderen Vorschriften auf dem Gebiet des Gesundheitswesens auf Euro (Achtes Euro-Einführungsgesetz) 01.01.2002 Inkrafttreten des Gesetzes zur Qualitätssicherung und zur Stärkung des Verbraucherschutzes in der Pflege (Pflege-Qualitätssicherungsgesetz – PQsG) vom 09.09.2001 01.01.2002 Inkrafttreten des Heimgesetzes (HeimG) in der Fassung vom 05.11.2001 (Drittes Gesetz zur Änderung des Heimgesetzes – Heimgesetz-Novelle) 01.01.2002 Inkrafttreten des Gesetzes zur Ergänzung der Leistungen bei häuslicher Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz – PflEG) vom 14.12.2001 01.01.2002 Inkrafttreten der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) in der Fassung vom 22.08.2001 01.08.2002 Verfahren zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz vom 22.03.2002 vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) genehmigt 24.07.2003 Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzes und anderer Gesetze 01.01.2004 Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) vom 14.11.2003 01.01.2005 Inkrafttreten der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Qualitätssicherung der Begutachtung und Beratung für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung in der Fassung vom 23.09.2004 01.01.2005 Inkrafttreten des Gesetzes zur Berücksichtigung von Kindererziehung im Beitragsrecht des sozialen Pflegeversicherung (Kinder-Berücksichtigungsgesetz – KiBG) vom 15.12.2004 28.10.2005 Ergänzungsbeschlüsse zu den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Anwendung der Härtefallregelungen (Härtefall-Richtlinien – HRi) vom 10.07.1995 (zuvor geändert durch Beschlüsse vom 19.10.1995 und vom 03.07.1996) 01.04.2008 Soweit nichts Abweichendes bestimmt, Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.03.2007 01.07.2008 Inkrafttreten des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz – PfWG) vom 28.05.2008 mit u.a.: – Anhebung des Beitragssatzes von 1,7 auf 1,95 Prozent – schrittweise Anhebung von Sachleistungen in der ambulanten, teil- und vollstationären Pflege – Erhöhung des Pflegegeldes – zusätzlicher Betreuungsbetrag für Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz und zwar auch für Personen, die nicht die Pflegestufe I erreichen – Finanzierung zusätzlichen Personals für Demenzkranke bei vollstationärer Pflege – Schaffung von Pflegestützpunkten – Anspruch auf individuelle und umfassende Pflegeberatung (Fallmanagement)
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– Förderung von betreuten Wohnformen und Wohngemeinschaften – Pflegezeit: maximal sechsmonatige unbezahlte Freistellung von der Arbeit für Arbeitnehmer, die Angehörige pflegen (nur in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten) – verbindliche Standards für Pflegequalität – Intensivierung der Qualitätsprüfungen in den Pflegeeinrichtungen mit Aufbereitung von Veröffentlichung der Prüfberichte des Medizinischen Dienstes (MDK) in allgemein verständlicher Sprache – Entscheidung über beantragte Pflegeleistungen innerhalb von fünf Wochen (§ 18 Abs. 3 Satz 2 SGB XI) – Portabilität der Alterungsrückstellungen in der privaten Pflegeversicherung – Möglichkeit zur Einstellung von Betreuungsassistenten – Förderung niedrigschwelliger Angebote, ehrenamtlicher Strukturen und der Selbsthilfe 01.07.2008 Inkrafttreten des Gesetzes über die Pflegezeit (Pflegezeitgesetz – PflegeZG) vom 28.05.2008 17.12.2008 Beschluss der Vereinbarung nach § 115 Abs. 1a Satz 6 SGB XI über die Kriterien der Veröffentlichung sowie die Bewertungssystematik der Qualitätsprüfungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung sowie gleichwertiger Prüfergebnisse in der stationären Pflege – Pflege-Transparenzvereinbarung stationär (PTVS) 29.01.2009 Beschluss der Vereinbarung nach § 115 Abs. 1a Satz 6 SGB XI über die Kriterien der Veröffentlichung sowie die Bewertungssystematik der Qualitätsprüfungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung sowie gleichwertiger Prüfergebnisse von ambulanten Pflegediensten – Pflege-Transparenzvereinbarung ambulant (PTVA) 29.01.2009 Vorlage des Berichts des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs (einschließlich der Vorstellung des neuen Begutachtungsverfahrens) 13.07.2009 Inkrafttreten der geänderten Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 08.06.2009 28.07.2011 Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze. Im Artikel 6 werden die Änderungen des Elften Buches Sozialgesetzbuch aufgeführt. Dies betrifft die Einbeziehung des Prüfdienstes des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. in die Qualitätsprüfungen nach § 112ff. SGB XI sowie die Zuständigkeit der Schiedsstelle nach § 113b SGB XI für die Transparenzvereinbarungen nach § 115 SGB XI. 06.12.2011 Gesetz über die Familienpflegezeit (Familienpflegezeitgesetz – FPfZG) 23.10.2012 Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz – PNG) mit u.a.: – weitere Verbesserung der Versorgung Demenzkranker – Flexibilisierung der Leistungen – mehr Service, Beratung, Transparenz
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– Stärkung des Grundsatzes Rehabilitation vor Pflege – Förderung neuer Wohnformen 16.04.2013 Inkrafttreten der Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 08.06.2009, geändert durch Beschluss vom 16.04.2013 11.06.2013 Inkrafttreten der Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Zusammenarbeit der Pflegekassen mit anderen unabhängigen Gutachtern (Unabhängige Gutachter-Richtlinien – UGu-RiLi) nach § 53b SGB XI vom 06.05.2013 10.07.2013 Inkrafttreten der Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Dienstleis tungsorientierung im Begutachtungsverfahren (Dienstleistungs-Richtlinien – DieRiLi) nach § 18b SGB XI vom 10.07.2013 24.07.2013 Inkrafttreten der Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitäts sicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (Qualitätssicherungs-Richt linien Qualitätsprüfung –QS-Ri QP) vom 06.05.2013 Gemäß § 10 SGB XI hat die Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes im Abstand von drei und ab 2011 im Abstand von vier Jahren über die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in Deutschland zu berichten. Am 16.01.2008 billigte das Kabinett den vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) erstellten Vierten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung. Der Bericht zieht auf der Grundlage der Leistungsdaten und wegen der Schaffung von 300 000 Arbeitsplätzen in der Pflege ein durchweg positives Resümee. Wegen der im Rahmen der Pflegereform vorgesehenen Leistungsverbesserungen wurde schon zu diesem Zeitpunkt mit der Anhebung des Beitragssatzes kalkuliert. Am 20.12.2011 beschloss das Kabinett den vom BMG erstellten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland („Fünfter Bericht“). Er enthält einen Überblick über die Ergebnisse einer Studie zur Wirkung des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes von Ende 2009 bis Mitte 2010. Daraus geht hervor, dass mit 66 Prozent zwar die große Mehrheit der Pfleghaushalte mit Umfang und Höhe der Leistungen nach SGB XI zufrieden ist, wobei jedoch der Anteil im Vergleich zu den Studienergebnissen aus dem Jahr 1998 rückläufig ist. Insbesondere die Höhe des Pflegegeldes wird als zu niedrig angesehen. Die mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz eingeführte individuelle und umfassende Pflegeberatung hatten bis zum Frühjahr 2011 erst 10 Prozent der Pflegebedürftigen in Anspruch genommen. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wurden sowohl bei ambulant als auch bei vollstationär versorgten Pflegebedürftigen nur in geringem Umfang bei der Pflegebegutachtung durch den MDK empfohlen. Über die Interpretation von Leistungsdaten hinaus bedürfen funktionelle und struktur-innovative Modifikationen des Sozialsystems allerdings eines kritischen Bewusstseins, einer sorgfältigen Planung und einer unabhängigen Versorgungsforschung. Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) leisten dazu mit ihren Qualitätsprüfungen in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen einen
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1 Sozialgeschichtliche Aspekte und ordnungspolitische Reformen
maßgeblichen Beitrag. Die Ergebnisse werden im Abstand von drei Jahren zusammengefasst dargestellt. Im August 2007 wurde bereits der 2. Bericht des MDS nach § 118 Abs. 4 SGB XI den Spitzenverbänden der Pflegekassen und dem BMG vorgelegt. Daraus geht deutlich und nachvollziehbar hervor, „dass die Pflege nach wie vor ein Qualitätsproblem hat, aus dem sich ein erheblicher Optimierungsbedarf in den ambulanten Pflegediensten und stationären Pflegeeinrichtungen ergibt“ [MDS 2007]. Ergänzt werden diese Erhebungen durch gezielte Analysen einzelner Medizinischer Dienste, wie beispielsweise zur Ernährungssituation der Pflegebedürftigen [Deitrich et al. 2003]. Im 3. Bericht des MDS zur Pflegequalität vom April 2012 konnten verglichen mit den Vorberichten bereits Fortschritte bei der Ernährung und der Flüssigkeitsversorgung sowie im Umgang mit an Demenz leidenden Menschen konstatiert werden, wohingegen das Vorgehen bei Dekubitusprophylaxe in weiten Bereichen weiterhin unzureichend erschien [MDS 2012a]. Die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen für den Erhalt und die Weiterentwicklung des Sozialstaates werden aus vielen Gründen als sich zunehmend verschlechternd beurteilt. Aufgrund der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen wird die Finanzierbarkeit des medizinischen, zunehmend aber auch des pflegerischen öffentlichen Versorgungssystems einer kritischen Bewertung unterzogen sowie Alternativen der Steuerung und Finanzierung erörtert, insbesondere da die in den letzten Jahrzehnten erlassenen Gesetze und Einzelbestimmungen zur Reform, Strukturverbesserung und Neuordnung des Gesundheitswesens die kontinuierlich steigenden Ausgaben nicht dauerhaft beeinflussen konnten. Mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz (2. NOG) wurden die Grundlagen für Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der ambulanten medizinischen Versorgung geschaffen. Bei der Änderung des SGB XI per Gesetz vom 14.12.2001 ist ein entsprechender Passus auch für die SPV als § 8 Abs. 3 eingefügt worden. Für diese Modellvorhaben ist eine wissenschaftliche Begleitung und Auswertung vorzusehen. Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) vom 26.03.2007 ermöglicht zudem, dass Pflegekassen mit zugelassenen Pflegeeinrichtungen und weiteren Vertragspartnern nach § 140b Abs. 1 SGB V Verträge zur integrierten Versorgung schließen oder derartigen Verträgen mit Zustimmung der Vertragspartner beitreten können (§ 92b SGB XI). Am 01.11.1993 trat der von den zwölf Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft (EG) geschlossene Vertrag von Maastricht über die Schaffung einer Europäischen Union (EU) mit einer einheitlichen Währung in Kraft. Die nationalen Systeme der sozialen Sicherung werden vom Prozess der europäischen Einigung nicht unbeeinflusst bleiben. Grenzüberschreitende Versorgungsprojekte, beispielsweise zur akut-stationären und rehabilitativen Versorgung in der Oberrheinregion, werden bereits durchgeführt und unter Beteiligung des MDK begleitet und ausgewertet [Simoes et al. 2009]. Im Rahmen sogenannter „EU-Twinning-Projekte“ entstehen staatsübergreifende Partner-/Patenschaften zwischen den Behörden zum Aufbau von öffentlichen Strukturen im Einklang mit vorbildlicher europäischer Verwaltungspraxis. Bei dem Projekt „Enhancing Anticorruption Activities in Poland“ ist auch der
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MDK maßgeblich im Expertengremium beteiligt. Über die Regelungen der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) hinaus hat Deutschland bereits jetzt mit weiteren Staaten Europas sowie Afrikas, Asiens und Amerikas Vereinbarungen zur sozialen Absicherung ausländischer Arbeitnehmer und Touristen getroffen. Die durch die sogenannte Globalisierung der Märkte notwendig gewordene internationale Ausrichtung der Sozialversicherungssysteme ist schon jetzt mit gesundheitspolitischen Anpassungsbestrebungen zur Harmonisierung der Verfahren und Vereinheitlichung der Ansprüche verbunden. Eine Distanzierung von den oben genannten Grundprinzipien nach dem Motto vom „Umbau des Sozialstaates“ jedoch, etwa im Sinne einer Kommerzialisierung des Gesundheitswesens nach dem amerikanischen Muster des managed care mit Steuerung der medizinischen Versorgung nach marktwirtschaftlichen Regeln der Gewinn-Maximierung (health care industry), bedeutete Systembruch und Abkehr von der sozialpolitischen Ausrichtung solidarischer Prägung [Gaertner et al. 1999]. In Anbetracht der internationalen FinanzmarktKrise dürfte das Vertrauen in die Selbstregulierungs- und Selbstheilungskräfte des Marktes erschüttert sein.8 Damit ist evident, dass gerade die pflegerische Versorgung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe bleiben muss. Andererseits bedarf es im wohlfahrtsstaatlich organisierten Sozialgefüge des Interessenabgleichs von potentiell Machbarem, finanziell Möglichem und sozial Notwendigem [Hensen/Hensen 2008]. Im Spannungsfeld zwischen Eigenverantwortung und Subsidiarität, persönlichen Freiheitsrechten und Solidaritätsverpflichtung, Gesundheitsleistungen und Krankenbehandlung, wirtschaftlicher Planbarkeit und Hegemonie des Marktes wägt der MDK als unabhängige und unparteiische Sachverständigeninstitution das sozialmedizinisch Sinnvolle ab [Gaertner/Jansen 2009]. Dabei gilt es zu bedenken, dass sich unter sozialstaatlichen Bedingungen maßgebende Moralvorstellungen wandeln. So wurde auf der Grundlage des World Value Survey (Weltweite-Werte-Umfrage), einer seit 1981 regelmäßig in mittlerweile 62 Staaten durchgeführten Erhebung, vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH (ZEW) Mannheim untersucht, inwieweit die Hypothese der selbstzerstörerischen Kräfte des Wohlfahrtsstaates empirisch zu belegen ist. Die Analyse über den Zeitraum von 1981 bis 2004 bezog sich auf Staaten der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Demnach tendieren insbesondere der Ausbau sozialer Transferleistungen, die Zunahme von Arbeitslosigkeit sowie Veränderungen der sittlichen Haltung nachfolgender Generationen langfristig zur Erosion des Sozialstaates und leisten einer ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen Vorschub [Heinemann 2008].
8 „Der Markt ist keine ewige Naturordnung, sondern eine immer wieder neu geschaffene Illusion, deren Schein sich in periodischen Zusammenbrüchen von Volkswirtschaften und diversen Crashs zeigt“ [Brodbeck 2000].
2 Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich Klaus Wingenfeld In den meisten Ländern Europas existieren bereits seit vielen Jahren Bemühungen, die sozialen Sicherungssysteme auf die Herausforderungen der demographischen Entwicklung vorzubereiten. Die Frage der Langzeitversorgung pflegebedürftiger Menschen nimmt in diesem Zusammenhang einen besonderen Stellenwert ein. Dabei sind die sozialpolitischen Strategien, für die sich die einzelnen Länder entschieden haben, sehr unterschiedlich. Zum Teil wurden Strukturen vorhandener Sicherungssysteme weiterentwickelt, um sie an die besondere Situation pflegebedürftiger Menschen anzupassen. Zum Teil wurden jedoch, wie beispielsweise im Falle der Pflegeversicherung in Deutschland, gänzlich neue und eigenständige Systeme aufgebaut. Kennzeichnend für den aktuellen Stand der Entwicklung in Europa ist eine ausgeprägte Heterogenität. Zugangsvoraussetzungen, Zielgruppen, Entscheidungsprozesse bei der Leistungsbewilligung, Art und Umfang der geleisteten Unterstützung und viele andere Merkmale unterscheiden sich zwischen den Ländern zum Teil ganz erheblich. In einigen europäischen Ländern, etwa in Großbritannien, sind aber auch innerhalb des nationalen Kontextes große (regionale) Unterschiede festzustellen. Es ist daher schwierig, einen Gesamtüberblick über die Situation der Langzeitpflege in Europa zu erlangen. Verschiedene internationale Organisationen und Projekte haben sich in der Vergangenheit darum bemüht, in dieser Hinsicht mehr Transparenz zu schaffen [vgl. z.B. OECD 2005 und MISSOC 2013]. Sprachbarrieren, kulturelle Besonderheiten und die zum Teil komplizierten Einzelregelungen, die man in den verschiedenen Ländern vorfindet, setzen diesen Bemühungen jedoch Grenzen. Das Ziel der folgenden Ausführungen besteht darin, charakteristische Strukturen aufzuzeigen und anhand von Beispielen zu illustrieren, auf welch unterschiedliche Art und Weise der Zugang zu Leistungen der Langzeitversorgung in Europa geregelt ist.
2.1 Zielgruppen und Lebenssituationen Der Begriff Langzeitversorgung steht in der internationalen Diskussion im Mittelpunkt, wenn es um die Versorgung von dauerhaft pflegebedürftigen Menschen geht. Angesprochen ist damit die gesundheitliche Versorgung und soziale Unterstützung von Personen, die aufgrund einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung auf personelle Hilfe angewiesen sind, um die Folgen gesundheitlicher Störungen bzw. die Folgen funktioneller Beeinträchtigungen bewältigen zu können [WHO 2003]. Die in Deutschland gängige Unterscheidung zwischen Pflegebedürftigkeit und Behinderung kommt in den meisten anderen Ländern weniger zum Tragen, wenn
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2 Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich
von Langzeitversorgung oder Langzeitpflege gesprochen wird. Im modernen, in der internationalen Diskussion maßgeblichen Begriffsverständnis gehören ältere, infolge von Krankheit hilfebedürftige Menschen ebenso zu der Bevölkerungsgruppe, für die Leistungen der Langzeitversorgung vorgesehen sind, wie Menschen, die von Geburt an mit einer Behinderung leben. Ungeachtet dieses gemeinsamen Grundverständnisses sind bei der Frage, welche Bevölkerungsgruppen vom jeweiligen Sicherungssystem berücksichtigt werden und in welchen Lebenssituationen Leistungen gewährt werden, in den europäischen Ländern sehr unterschiedliche Lösungen vorzufinden. Die folgende tabellarische Übersicht bietet eine allgemeine Charakterisierung der Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen im Rahmen der Langzeitversorgung (s. Tab 2.1). Tab. 2.1: Übersicht über Langzeitpflegeregelungen in der EU [Angaben nach MISSOC 2013]. Land
Rechtsgrundlage
Personengruppe/ Kriterien für Leistungsanspruch
Belgien
keine besondere Gesetzgebung auf Bun- Personen, die Hilfe bei grundlegenden desebene, aber bestimmte Vorschriften Aktivitäten des täglichen Lebens benötigen zur Kranken- und Invaliditätsversicherung und sozialen Mindestsicherung
Bulgarien
Gesetzbuch der Sozialversicherung, Sozialhilfegesetz und Gesetz über die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen
keine Definition der Pflegebedürftigkeit in nationaler Gesetzgebung, Leistungsanspruch ist an Definitionen von Behinderung und Krankheit gebunden
Dänemark
Gesetz über Leistungen der sozialen Dienste, Gesetz über Sozialwohnungen
Beeinträchtigung körperlicher und geistiger Fähigkeiten, besondere soziale Probleme; individuelle Bedarfseinschätzung
Estland
Sozialhilfegesetz
Unfähigkeit, den Alltag unabhängig zu bewältigen
Finnland
Gesetze über Volksrenten, Invaliditätsbeihilfe, Leistungen für Menschen mit Behinderung, Sozialfürsorge und medizinische Grundversorgung
Personen, die ständig und regelmäßig Betreuung und Pflege benötigen, Definition ist abhängig vom jeweiligen Gesetz und von Vorschriften der jeweiligen Gemeinde
Frankreich
Vorschriften des Sozialgesetzbuchs und des Gesetzbuchs über Sozialhilfe und Familien
Bedarf an personeller Hilfe bei grundlegenden Aktivitäten des alltäglichen Lebens, Ausgleich einer Behinderung
Griechenland
keine gesonderte Gesetzgebung
dauerhafter Bedarf an Unterstützung durch andere Personen aufgrund bestimmter Gesundheitsstörungen (z. B. Tetraplegie)
2.1 Zielgruppen und Lebenssituationen
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Land
Rechtsgrundlage
Personengruppe/ Kriterien für Leistungsanspruch
Irland
Gesundheitsgesetz, Gesetz über die Unterstützung in Pflegeheimen, Gesetz über die soziale Sicherheit
keine einheitliche Definition von Pflege bedürftigkeit, Unterschiede je nach Rechtsvorschrift bzw. Versorgungsbereich (häusliche oder stationäre Pflege)
Italien
Gesetz über Invalidenleistungen für Zivilpersonen, Gesetz über Mobilitätsunter stützung, Rahmengesetz über Behinderung; regionale Gesetzgebung und kommunale Vorschriften
Menschen mit Behinderungen sowie generell Personen, die zur Fortbewegung auf personelle Hilfe angewiesen sind oder der ständigen Hilfe bei Verrichtungen des täglichen Lebens bedürfen, entscheidend ist der Grad der Behinderung
Lettland
Gesetz über soziale Dienste und Sozialhilfe
Personen, die nicht fähig sind, für sich selbst zu sorgen und ohne Unterstützung Alltagsaktivitäten auszuüben
Litauen
Gesetz über staatliche Sozialhilfeleistun- langfristiger Bedarf an gesundheitlicher gen, verschiedene Gesetze zur Regelung Versorgung, Pflege und sozialen Dienstdes Gesundheitswesens leistungen (letzteres im Falle einer schweren Behinderung)
Luxemburg
Gesetz zur Pflegeversicherung
Personen, die aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung bei Körperpflege, Ernährung und Mobilität der Hilfe bedürfen
Malta
Gesetz über soziale Sicherheit, Verord nungen zur Versorgung in Einrichtungen
keine genaue Definition, Berücksichtigung von Altersgrenzen und besonderen Bedarfslagen (z. B. Selbstgefährdung)
Niederlande
Allgemeines Gesetz über außergewöhn liche Krankheitskosten
Personen mit langem Krankenhausaufenthalt, hilfebedürftige ältere Menschen, Menschen mit Behinderung
Österreich
Bundespflegegeldgesetz und verschiedene andere Rechtsgrundlagen für Sachleistungen; Sozialhilfegesetze der Bundesländer
Pflegegeld: ständiger Betreuungs- und Hilfebedarf von mehr als 60 Stunden im Monat, Sachleistungen: Bedarf an mobilen, ambulanten, teilstationären und stationären Diensten
Polen
Gesetze über die öffentlich finanzierte Gesundheitsversorgung, über Familienleistungen, über berufliche und soziale Rehabilitation und die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen
bettlägerige und chronisch Kranke mit Defiziten bei der Selbstpflege und einem Bedarf an Rund-um-die-Uhr-Versorgung; Rentner, die auf ständige fremde Hilfe angewiesen sind; schwerbehinderte Personen, die nicht oder nur mit ständiger personeller Hilfe in einer geschützten Werkstatt tätig sein können
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2 Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich
Land
Rechtsgrundlage
Personengruppe/ Kriterien für Leistungsanspruch
Portugal
Rechtsverordnungen der Sozialversicherung und des Nationalen Gesundheitsdienstes
Personen, die Aktivitäten des alltäglichen Lebens nicht eigenständig ausführen können und dauerhaft Hilfe benötigen
Rumänien
Gesetz über den Schutz und die Förderung keine Definition der Pflegebedürftigkeit; der Rechte von Menschen mit Behinderun- Menschen mit Behinderung, ältere Mengen, Gesetz über Sozialhilfe für Rentner schen
Schweden
Gesetz über soziale Dienste
kein eigenständiges System für Pflegebedürftigkeit
Slowakei
mehrere Sozialgesetze
uneinheitliche Definitionen; Menschen mit Behinderung, Personen mit schlechtem Gesundheitszustand und Personen, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind; beurteilt werden mehr als 20 Aktivitäten
Slowenien
keine besondere Gesetzgebung zur Pflegebedürftigkeit; verschiedene Vorschriften, die über zahlreiche Gesetze verstreut sind
Kriterien in Abhängigkeit von der Leistungsart; wichtigstes Kriterium: Personen, die bei Verrichtungen des täglichen Lebens auf ständige Hilfe angewiesen sind
Spanien
Gesetz zur Förderung der persönlichen Autonomie und der Hilfe für pflege bedürftige Personen
Personen, die mindestens einmal täglich Unterstützung bei der Ausführung wesentlicher alltäglicher Aktivitäten benötigen
Tschechische Gesetze über soziale Dienste, öffentRepublik liche Krankenpflege, Gesetz über die Öffentliche Krankenversicherung, Gesetz über n ichtstaatliche Einrichtungen des Gesundheitswesens
Ungarn
Bedarf an Unterstützung der Selbstpflege sowie an Krankenpflege, die im Rahmen der Langzeitpflege geleistet wird; eine erwachsene Person gilt als pflegebedürftig, wenn tägliche Unterstützung (ggf. Beaufsichtigung) bei 12 von 36 getesteten Bedürfnissen erforderlich ist
Gesetz über Sozialverwaltung und Sozial- keine gesonderte Definition von Pflegebehilfe dürftigkeit; Anspruchsvoraussetzungen variieren je nach Leistung und Personengruppe, z. B.: ältere Menschen mit Unterstützungsbedarf unter 4 Stunden täglich: nur Anspruch auf häusliche Pflege, Leistungsanspruch von Menschen mit Behinderung in Abhängigkeit von der Art der Funktionsstörung, Sondervorschriften für wohnungslose Menschen usw.
2.1 Zielgruppen und Lebenssituationen
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Land
Rechtsgrundlage
Personengruppe/ Kriterien für Leistungsanspruch
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland
Gesetz über Gesundheit und soziale Pflege, Gesetz über Beiträge und Leistungen der sozialen Sicherheit
Personen mit Bedarf an Pflege und/oder Bewegungshilfe aufgrund von körperlicher oder geistiger Behinderung, „Soziale Pflege“ in der Zuständigkeit der Kommunen: abweichende regionale Regelungen über Anspruchsvoraussetzungen, gesonderte Regelung der langfristig erforderlichen Krankenpflege
Zypern
Gesetze über Sozialhilfe und soziale Dienste, Gesetze über Heime für ältere Menschen und Personen mit Behin derungen
keine gesonderte Definition der Pflegebedürftigkeit bzw. des Leistungsanspruchs, individuelle Einschätzung des Leistungsbedarfs
In einigen Ländern findet man die Festlegung von Altersgrenzen, die darüber entscheiden, welche Leistungen aus welchem Sicherungssystem beansprucht werden können. Diese Altersgrenzen liegen meist bei 65 Jahren (beispielsweise in Belgien, Slowenien oder Großbritannien), vereinzelt auch bei anderen Werten (beispielsweise in Frankreich bei 60 Jahren). Ist die jeweilige Altersgrenze noch nicht erreicht, können pflegebedürftige Menschen Leistungen in Anspruch nehmen, die zum Teil den Leistungen in der Behindertenhilfe in Deutschland, zum Teil aber auch den Leistungen der hiesigen Krankenversicherung ähneln. Die meisten Systeme in Europa verzichten allerdings auf eine altersabhängige Zuordnung. Dann hängt es mitunter von regionalen Gegebenheiten oder der gesundheitlichen Situation im Einzelfall ab, welche Sicherungssysteme als zuständig gelten. Etwas mehr Einheitlichkeit existiert im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit der gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Im Grundverständnis der Langzeitversorgung wird vorausgesetzt, dass Beeinträchtigungen dauerhaft vorliegen müssen, um einen Leistungsanspruch zu begründen, wobei häufig die auch in Deutschland geläufige Dauer von mindestens einem halben Jahr, manchmal aber auch etwas kürzere Phasen (drei Monate) als Mindestwerte festgelegt sind. Im Hinblick auf die Frage der Anrechnung von eigenem Einkommen oder Vermögen (analog zur deutschen Situation in der Sozialhilfe) sind die europäischen Länder ebenfalls verschiedene Wege gegangen. Zum Teil werden Leistungen völlig losgelöst von der finanziellen Situation der Antragsteller gewährt, zum Teil ist eine Prüfung der finanziellen Verhältnisse oder eine Eigenbeteiligung an den Ausgaben obligatorisch. Manchmal wird die Gewährung von Hilfen bzw. das Ausmaß der bewilligten Hilfen davon abhängig gemacht, in welchem Umfang Familienangehörige den individuellen Unterstützungsbedarf abdecken können. Je nach nationaler Regelung ist die Erfassung und Bewertung der entsprechenden Informationen (bis hin zur Einkommenssituation) Bestandteil des Verfahrens, mit dem die Leistungsberechtigung überprüft wird.
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2 Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich
2.2 Strukturelle Merkmale In den allermeisten europäischen Ländern gibt es mehrere Systeme, die Hilfen zur Bewältigung des Lebens mit dauerhafter Pflegebedürftigkeit gewähren. Die oben angesprochene Unterscheidung von Zielgruppen in Abhängigkeit vom Alter geht in der Regel mit entsprechenden parallelen Versorgungsstrukturen einher, die jeweils auf bestimmte Personengruppen ausgerichtet sind. Aber auch dort, wo diese Unterscheidung nicht erfolgt, existieren häufig mehrere Möglichkeiten der Unterstützung. Die Situation in Deutschland, die sich durch ein Nebeneinander von Pflegeversicherung, Krankenversicherung, Eingliederungshilfe und anderen sozialen Hilfen unterschiedlichster Art auszeichnet, ist in dieser Hinsicht gar nicht so untypisch. Auch in anderen europäischen Ländern findet man vergleichbare Strukturen. In Großbritannien beispielsweise sind im Bereich der Langzeitversorgung drei Hauptstränge zu unterscheiden [Colombo et al. 2011]: – Leistungen aus dem Programm „Disability Living Allowance” (DLA) für Menschen mit Behinderungen im Alter unter 65 Jahren, ergänzend hierzu gibt es auch ein entsprechendes Programm für Menschen mit Behinderungen, die diese Altersgrenze überschritten haben („Attendance Allowance“) – Leistungen für Menschen mit dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die von den lokalen Behörden organisiert werden (nach den nationalen Grundsätzen „Fair Access to Care Services” – FACS) und die allen erwachsenen pflegebedürftigen Menschen offenstehen – Leistungen der Langzeitpflege, die als Unterstützung durch das staatliche Gesundheitswesen NHS (National Health Service) gewährt werden (NHS Continuing Healthcare), diese Leistungen sind für Personen vorgesehen, deren Bedarfsschwerpunkt bei Hilfen zur Krankheitsbewältigung liegt Aufgrund der eher unbestimmten staatlichen Vorgaben zur Abgrenzung dieser Bereiche und der großen Gestaltungsmöglichkeiten, die den lokalen Behörden bei der Entscheidung über Art und Umfang der Leistungen zukommt, existiert in Großbritannien ein regional äußerst heterogenes System der Hilfen für pflegebedürftige Menschen, das in den vergangenen Jahren immer mehr in den Fokus einer kritischen Diskussion geraten ist1. Aber auch für andere Länder fällt es mitunter schwer, Zuständigkeiten und Wirkungsbereiche der jeweiligen Sicherungssysteme nachzuvollziehen. Eine umfangreiche OECD-Studie unterscheidet grob drei Wege zur Sicherstellung von Leistungen der Langzeitversorgung [vgl. zum Folgenden Colombo et al. 2011]. Einen ersten Typus
1 Im Frühjahr des Jahres 2013 sind in Großbritannien Veränderungen der Sozialgesetzgebung in Kraft getreten, deren Reichweite noch schwer abschätzbar ist.
2.3 Prüfung der Zugangsberechtigung oder Bedarfseinschätzung?
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bilden Systeme mit universaler Absicherung, die in Form eines singulären Programms organisiert sind. Diesem Typus werden drei Modelle zugeordnet: – Modelle, in denen die Versorgung Pflegebedürftiger einheitlich als integraler Bestandteil des sozialen Sicherungssystems (in Teilen auch der öffentlichen Gesundheitsversorgung) organisiert ist und allen Menschen offensteht, die aus gesundheitlichen Gründen auf Unterstützung angewiesen sind (zu diesem Modell zählt die OECD-Studie Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland) – Modelle der Sozialversicherung, in denen die Langzeitversorgung wie in Deutschland im Rahmen eines gesonderten, eigenständigen Sicherungssystems organisiert ist2 – Modelle, in denen die Langzeitpflege komplett in die Verantwortung des Gesundheitswesens gelegt wird (z.B. das öffentliche System der Gesundheitsversicherung in Belgien) Den zweiten Typus bilden gemischte Systeme, in denen Leistungen der Langzeitversorgung durch unterschiedliche Programme und Sicherungssysteme abgedeckt werden (z.B. Schottland, Italien, Irland, Frankreich oder Polen). Ansätze dieser Art lassen sich nur schwer in Gruppen einteilen. Typischerweise wird die formelle pflegerische Versorgung in diesem Fall über das Gesundheitswesen sichergestellt, während personale Assistenz bei Alltagsverrichtungen von einem gesonderten System abgedeckt wird. Leistungen werden in einigen Ländern mit gemischtem System in Teilbereichen einkommensabhängig gewährt. Der dritte Typus schließlich fasst Systeme zusammen, in denen Leistungen der Langzeitversorgung grundsätzlich nur einkommensabhängig zur Verfügung stehen. Diese Lösung ist in Europa jedoch eine Ausnahme. Die OECD-Studie nennt in diesem Zusammenhang lediglich Slowenien.
2.3 Prüfung der Zugangsberechtigung oder Bedarfseinschätzung? Entsprechend der oben umrissenen Strukturen existiert eine große Vielfalt unter den Ansätzen, mit denen der Zugang zu den jeweiligen Sicherungssystemen geregelt wird. Die nationalen Besonderheiten – rechtliche Regelungen, Methoden, Organisationsformen, Zuständigkeiten usw. – machen es schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen. Dies wird auch dadurch erschwert, dass Informationen über die jeweiligen
2 Ob diese Charakterisierung für Deutschland zutreffend ist, kann bezweifelt werden. Berücksichtigt man neben der Pflegeversicherung auch die verschiedenen Formen der langfristigen Unterstützung pflegebedürftiger Menschen durch die Sozialhilfe, so kann auch im Falle des deutschen Systems eher von einem gemischten Modell ausgegangen werden.
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2 Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich
Begutachtungsformen bzw. Assessmentinstrumente häufig nur in der Sprache des Landes verfügbar sind, aus denen die betreffenden Instrumente stammen. Die Methoden, die bei der Ermittlung des Leistungsanspruchs zum Einsatz kommen, unterscheiden sich in ihrer grundsätzlichen Funktion: Sie zielen entweder darauf ab, die Berechtigung zum Zugang zu Leistungen zu prüfen, oder ihre Funktion besteht darin, den individuellen Bedarf als Grundlage für die Entscheidung über zu gewährende Leistungen zu ermitteln. Ob ein Instrument die eine oder andere Funktion erfüllen soll, hat großen Einfluss auf dessen Inhalte und methodische Eigenschaften. Bei der Einschätzung zur Klärung der Zugangsberechtigung wird in der Regel mit standardisierbaren Informationen und konkret definierten Kriterien gearbeitet. Sie beschreiben persönliche Voraussetzungen oder Situationen, in denen die entsprechenden Leistungen in Anspruch genommen werden können. Im Englischen wird dafür der Begriff eligibility verwendet, was in wörtlicher Übersetzung so viel bedeutet wie Berechtigung. Dem gegenüber stehen Verfahren, mit denen der Unterstützungsbedarf erfasst werden soll, also die als notwendig erachteten Leistungen, wobei zunächst offenbleibt, ob diese notwendigen Leistungen in Gänze durch das jeweilige Sicherungssystem finanziert werden sollen. Zum Teil wird erst dann von einem Bedarf ausgegangen, wenn die individuellen Möglichkeiten (z.B. die finanziellen Mittel und die personellen Ressourcen in der sozialen Umgebung) nicht ausreichen, um grundlegende Lebensvoraussetzungen aufrechtzuerhalten. In jüngerer Zeit wurde die Vorstellung dieser Lebensvoraussetzungen um den Gedanken der Teilhabe erweitert. In immer mehr Ländern werden die verschiedenen Aspekte des Lebens, die als grundlegend angesehen werden, unter dem Oberbegriff Teilhabe an der Gesellschaft zusammengefasst. Dementsprechend können bei der Begutachtung bzw. Einschätzung zwei unterschiedliche Fragen im Mittelpunkt stehen: 1. Erfüllt die Person bzw. erfüllt ihre aktuelle Lebenssituation die Kriterien, die als Zugangsvoraussetzungen definiert sind? Um diese Frage zu beantworten, ist es nicht erforderlich, alle einzelnen gesundheitlichen Probleme und Beeinträchtigungen zu erfassen. Ein Assessmentverfahren, das lediglich den Zugang zu Leistungen regeln soll, kann daher ggf. (je nach definierten Zugangskriterien) recht schlank ausfallen. Die Aufdeckung der wichtigsten Risiken und zentralen Bedarfslagen oder der charakteristischen Beeinträchtigungen kann ausreichen, wenn sie gleichzeitig eine gewisse Abstufung des Grads der Beeinträchtigung ermöglicht. 2. Welcher Bedarf einer Person ist durch die Leistungen des jeweiligen Sicherungssystems abzudecken? In diesem Fall muss die Gesamtheit des individuellen Bedarfs in den Blick genommen werden. Andernfalls könnten zentrale Aspekte unberücksichtigt bzw. die gewährten Hilfen unzulänglich bleiben.
2.4 Methoden zur Bestimmung des Leistungsanspruchs
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Das deutsche Begutachtungsverfahren nach dem SGB XI ist aus diesem Blickwinkel ein Instrument zur Abklärung von Zugangsvoraussetzungen und kein Instrument zur Abklärung des individuellen Leistungsbedarfs, wenngleich der Zeitaufwand, der zur Unterstützung bei der Durchführung von Alltagsverrichtungen erforderlich ist, im Mittelpunkt der Begutachtung steht. Entscheidend ist jedoch, dass das Ergebnis lediglich dazu verwendet wird, eine Pflegestufe und damit die Leistungsbeträge zu ermitteln, die der Pflegebedürftige in Form von Geld- oder Sachleistungen beanspruchen kann (=Leistungsberechtigung), und zwar unabhängig davon, wie hoch sein Bedarf tatsächlich ist. Bei der Begutachtung geht es nicht um die Frage, welche Leistungen durch Pflegedienste oder andere Leistungserbringer entsprechend des Bedarfs erforderlich (und somit zu finanzieren) sind.
2.4 Methoden zur Bestimmung des Leistungsanspruchs Im Großen und Ganzen kann man vier Ansätze unterscheiden, mit denen in den verschiedenen europäischen Ländern die Bestimmung des Leistungsanspruchs erfolgt: 1. die Schätzung des Zeitaufwands, der für die benötigte Unterstützung aufzuwenden ist (zur Ermittlung einer Pflegestufe3) 2. die Beurteilung der gesundheitlichen Probleme und der Selbständigkeit im Umgang mit Krankheitsfolgen (zur Ermittlung einer Pflegestufe oder zur Bedarfseinschätzung) 3. die Ableitung von Bedarf aus einem individuellen Versorgungsplan bzw. die Identifizierung nicht abgedeckter Bedarfslagen 3. die Zuordnung von Leistungsansprüchen anhand allgemeiner Richtlinien ohne Nutzung eines methodisch exakt definierten Verfahrens (zur Ermittlung einer Pflegestufe) In Deutschland, Österreich, Luxemburg und in einigen anderen Ländern wird auf den zur Versorgung notwendigen Zeitaufwand als Maßstab für Leistungsansprüche Bezug genommen. Bei der Ermittlung des Zeitaufwands werden bestimmte Alltagsaktivitäten berücksichtigt. In Deutschland hat die Begrenzung des relevanten Zeitaufwands auf die im SGB XI aufgeführten Alltagsverrichtungen schon zu Beginn der Pflegeversicherung eine kontroverse Diskussion ausgelöst, die im Jahr 2006 bekanntlich den Anstoß zur Vorbereitung eines neuen sozialrechtlichen Verständnisses von Pflegebedürftigkeit gab [BMG 2009a]. In Österreich hat man zur Vermeidung von systema-
3 Der Begriff Pflegestufe wird hier und im Folgenden für jede Form der Klassifizierung verwendet, mit der die Höhe von Leistungsansprüchen festgelegt wird. In anderen Ländern werden natürlich jeweils andere Begriffe benutzt. Das Wort Pflegestufe ist streng genommen ein Kunstbegriff und daher gar nicht übersetzbar.
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2 Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich
tischen Benachteiligungen vor einigen Jahren Erschwerniszuschläge für bestimmte Personengruppen definiert, u.a. für Demenzkranke. Auf den bei der Begutachtung festgestellten Zeitaufwand wird dann ein bestimmter, gesetzlich festgelegter Zeitumfang aufgeschlagen, wodurch die betreffenden Personen eine höhere Stufe erreichen. In der Autonomen Provinz Bozen (Italien) werden Leistungsansprüche ebenfalls auf der Grundlage einer Einschätzung notwendiger Pflegezeiten festgelegt, allerdings versucht man die Engführung auf Alltagsaktivitäten dadurch zu vermeiden, dass auch die für die psychosoziale Unterstützung erforderlichen Zeiten berücksichtigt werden [Wingenfeld/Büscher 2009]. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist Zeit ein ungeeignetes Maß, um Bedarf nach einheitlichen Maßstäben zu erfassen [Wingenfeld et al. 2011]. Im Alltagsverständnis erscheint Zeit als etwas Vertrautes, viele Entscheidungsträger und insbesondere die Politik gehen nicht zuletzt aufgrund dieses alltäglichen Verständnisses davon aus, Zeit sei eine zuverlässige Größe zur Abschätzung des individuellen Bedarfs. Es existieren jedoch keine Maßstäbe, nach denen entschieden werden könnte, wie viel Zeit für diese oder jene Tätigkeit als ausreichend zu betrachten ist. Außerdem üben viele Faktoren und Bedingungen, die in keinem Zusammenhang mit Beeinträchtigungen der Pflegebedürftigen stehen, Einfluss auf den Zeitumfang aus. Das Ausmaß der Abhängigkeit von personeller Hilfe (dependency) ist in vielen Ländern ein zentrales Konzept für die Begutachtung im Bereich der Langzeitpflege. Die meisten international anerkannten Einschätzungsinstrumente operieren mit diesem Konzept, und auch nationale Vorschriften definieren Grade der Abhängigkeit von personeller Hilfe. In Spanien werden drei Grade der Abhängigkeit von Personenhilfe unterschieden und auf der Basis eines Assessments erfasst, das mit einer Punkteskala arbeitet. In der Tschechischen Republik unterscheidet man vier Stufen, wobei die Stufenzuordnung von der Anzahl der Aktivitäten abhängig gemacht wird, bei denen personelle Unterstützung benötigt wird. In manchen Ländern wird das Merkmal Unselbständigkeit mit weiteren Beeinträchtigungen kombiniert, um zu einer Stufenunterscheidung zu kommen (z.B. Portugal: demenzielle Erkrankung und Bettlägerigkeit als Zusatzkriterien) [vgl. MISSOC 2013 und Colombo et al. 2011]. Anspruchsvolle Instrumente fokussieren dabei nicht nur Alltagsverrichtungen, sondern beispielsweise auch soziale Aktivitäten, die Nutzung von Dienstleistungen, Kommunikation, Umgang mit psychischen Problemlagen, die Organisation alltäglicher Routinen usw. [ausführlich dazu: Wingenfeld et al. 2011]. Beispiele für solche Instrumente, die im europäischen Raum zur Anwendung kommen, sind: – CAT (Cambridgeshire Assessment Tool) – EASYcare – FACE for Older People (Functional Assessment of the Care Environments) – MDS Home Care Version (Minimum Data Set, RAI) – NOAT (Northamptonshire Overview Assessment Tool) – STEP (Standardised Assessment of Elderly People in Primary Care) – AGGIR (Autonomie Gérontologie Groupes Iso-Ressources, Frankreich)
2.4 Methoden zur Bestimmung des Leistungsanspruchs
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Manche dieser Instrumente werden nur dazu genutzt, einen Überblick über die aktuelle Situation zu erhalten, andere gestatten eine differenzierte Einschätzung von Beeinträchtigungen, Funktionseinbußen oder Risiken. Typischerweise stehen folgende Dimensionen im Mittelpunkt einer komplexen Einschätzung: – Mobilität (einschließlich Transfer) – Selbständigkeit bei Alltagsverrichtungen (self care, personal care) – Kognition – Kommunikation – Verhalten – emotionaler Zustand, Psyche – soziale Beziehungen – Tagesstrukturierung – Bedarf im Zusammenhang mit direkten Krankheitsfolgen und der Durchführung von Therapien – hauswirtschaftliche Versorgung – instrumentelle Aktivitäten wie Umgang mit Geld, Telefonbenutzung, Bedienung einer Notrufanlage etc. Die aufgeführten, fachlich eher anspruchsvollen Instrumente sind häufig für die Nutzung im Versorgungsalltag vorgesehen, also nicht ausschließlich für die Klärung von Leistungsansprüchen. Nur wenige Instrumente sind – wie beispielsweise das französische Instrument AGGIR – so konstruiert, dass sie auch eine Quantifizierung (beispielsweise in Form eines Punktwertes) und damit eine Beschreibung eines Grads der Pflegebedürftigkeit ermöglichen. In Sicherungssystemen, die mit Pflegestufen oder einer vergleichbaren Klassifikation von Leistungsansprüchen arbeiten, müssen zur Feststellung einer Pflegestufe daher weitere Kriterien bemüht werden. Ein dritter Ansatz beruht auf der Vorstellung, dass individueller Bedarf auf Grundlage eines individuellen Versorgungsplans bestimmt werden muss. Aus dieser Perspektive sind Einschätzungsinstrumente nur ein Hilfsmittel zur Zusammenstellung von Informationen, die als Grundlage für Entscheidungen über die Versorgung bzw. die individuelle Hilfeplanung benötigt werden. Sie fungieren dann jedoch nicht als Instrumente zur Überprüfung von Zugangsberechtigungen. Es ist dann im Grunde nicht so wichtig, welches Instrument verwendet wird, solange es nur all diejenigen Bereiche berücksichtigt, für die bei Bedarf Leistungen bereitgestellt werden. Eine Variante dieses Konzepts findet sich beispielsweise in den Niederlanden. Die Bestimmung des Leistungsanspruchs im Rahmen des AWBZ-Sicherungssystems (Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten) umfasst hier vier Schritte: 1. Einschätzung der gesundheitlichen Situation, der Beeinträchtigungen, der Funktionsstörungen, der Lebens- und Versorgungsumgebung sowie der Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen 2. Identifizierung der Ressourcen, über die die pflegebedürftige Person verfügt
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2 Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich
3. Ermittlung der Unterstützung, die von informellen Helfern (Angehörigen, Nachbarn etc.) geleistet wird 4. Bestimmung der Bedarfslagen, die nicht durch die eigenen Ressourcen bzw. die Ressourcen der Umgebung abgedeckt sind, der ungedeckte Bedarf ist letztlich der Bezugspunkt für die Entscheidung, welche Leistungsansprüche geltend gemacht werden können Im Unterschied zu anderen Ansätzen berücksichtigt dieser Prozess externe Faktoren. Die Entscheidung über Leistungsansprüche beruht also nicht allein auf personellen Merkmalen, sondern auch auf der Beschaffenheit der materiellen und sozialen Umgebung des Antragstellers. Der vierte Ansatz, auf den an dieser Stelle hingewiesen werden soll, umfasst verschiedene Methoden der Zuordnung von Leistungsansprüchen anhand allgemeiner Richtlinien, ohne dass ein bestimmtes, exakt definiertes Einschätzungsverfahren vorgeschrieben ist. Zwei Beispiele seien an dieser Stelle kurz benannt. In Schweden obliegt die Verantwortung zur Sicherstellung einer ausreichenden Unterstützung für pflegebedürftige Menschen den örtlichen Behörden. Zur Abklärung des individuellen Bedarfs erfolgen Einschätzungen durch Sozialarbeiter und spezialisierte Pflegekräfte, deren Einschätzungen wiederum durch bestimmte Gremien auf örtlicher Ebene überprüft werden. Diese Gremien entscheiden letztlich darüber, welche Leistungen dem Antragsteller bewilligt werden. Die Entscheidung kann durchaus von der Einschätzung der vorangegangenen Assessments abweichen. Es gibt einige allgemeine rechtliche Vorgaben zur Regelung des Verfahrens, bei denen allerdings auf Vorschriften zur Nutzung bestimmter Assessmentinstrumente verzichtet wird. Als zweites, etwas komplizierteres Beispiel sei auf Großbritannien hingewiesen. Wie bereits erwähnt, existieren in Großbritannien parallele Systeme, deren Verwaltung unterschiedlichen Behörden auf unterschiedlichen Ebenen obliegt. Ein wichtiges Standbein bildet dabei die örtliche Ebene. Die landesweit geltenden rechtlichen Vorschriften unterscheiden vier Risikosituationen (critical, substantial, moderate und low), die erste Hinweise darauf geben, in welchem Umfang ein Bedarf ggf. geltend gemacht werden kann. Die vier Grade drücken aus, wie hoch das Risiko für den Verlust von Selbständigkeit und andere Probleme ist, falls keine dem individuellen Bedarf entsprechende Unterstützung geleistet wird. Diese Situationen sind allerdings nicht exakt definiert, sondern werden durch qualitative Beschreibungen spezifiziert. Beispielsweise trifft die Beurteilung substantial u.a. dann zu, wenn die betreffende Person derzeit oder zukünftig nicht in der Lage ist, den Großteil der Alltagsaktivitäten auszuführen. Wo genau die Grenze liegt oder welche Aktivitäten damit angesprochen sind und welche nicht, wird nicht definiert. Bei der Feststellung, welche Risikosituation vorliegt, haben die zuständigen Mitarbeiter und Behörden daher einen relativ großen Spielraum zur Auslegung der rechtlichen Vorgaben. Die örtliche Ebene entscheidet außerdem auf der Grundlage des aktuell verfügbaren Budgets selbst darüber,
2.4 Methoden zur Bestimmung des Leistungsanspruchs
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für welche Stufen Leistungen gewährt werden. Häufig bleibt der Kreis der Leistungsberechtigten offenbar auf Personen mit den Stufen critical oder substantial begrenzt. Wird aufgrund dieser ersten Einstufung ein Leistungsbedarf angenommen, folgt eine differenzierte Bedarfseinschätzung, für die unterschiedliche Assessmentinstrumente eingesetzt werden dürfen. Welche Instrumente in Betracht kommen, wurde vor einigen Jahren im Rahmen des sogenannten Single Assessment Process festgelegt, mit dem insgesamt sechs Assessment Tools akkreditiert wurden [Department of Health 2007]. Im Verlauf der Bedarfseinschätzung erfolgt auch eine Überprüfung der Einkommenssituation, um später festlegen zu können, wie hoch der Eigenanteil des Antragstellers zur Finanzierung der Leistungen sein soll. Mit dem Abschluss des Assessments sind die konkreten Leistungsansprüche jedoch noch nicht festgelegt. Das Ergebnis der Einschätzung wird vielmehr durch ein dazu berufenes Gremium auf örtlicher Ebene überprüft. Erst diese Überprüfung entscheidet darüber, welche konkreten Leistungen finanziert werden. Für Personen, die aufgrund komplexerer gesundheitlicher Problemlagen auf gesundheitliche Versorgung angewiesen sind, besteht in Großbritannien die zusätzliche Möglichkeit, Leistungen des staatlichen Sicherungssystems NHS in Anspruch zu nehmen. Das entsprechende Bewilligungsverfahren wird zum Teil bereits während eines Krankenhausaufenthaltes in Gang gesetzt. Es handelt sich, wie bereits angedeutet, um einen Leistungsbereich, der losgelöst von den Behörden auf örtlicher Ebene existiert. Auch in diesem Fall gibt es keine Regelung, die ein bestimmtes Einschätzungsinstrument verbindlich vorschreiben würde. Empfohlen wird die Nutzung einer bestimmten Checkliste, die extra zu diesem Zweck entwickelt wurde. In der Regel nimmt ein Arzt die Einschätzung vor. Wird anhand der Checkliste im Grundsatz bestätigt, dass die Zugangsvoraussetzungen erfüllt sind, folgt ein ergänzendes Assessment durch einen hierzu ausgebildeten Mitarbeiter des NHS, bei dem wieder konkrete methodische und inhaltliche Vorgaben fehlen. Recht weite Verbreitung gefunden hat das Decision Support Tool, das die Einschätzung des Verhaltens, der Kognition, der psychischen und emotionalen Probleme, der Kommunikation, der Mobilität, ausgewählter medizinischer Probleme und verschiedener weiterer Sachverhalte ermöglicht. Nur der Vollständigkeit halber sei auf die britischen Unterstützungsprogramme für Menschen mit Behinderungen hingewiesen, bei denen der Zugang zu den Leistungen wieder ganz anderen Regeln folgt. Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass in Großbritannien ein großes Bedürfnis nach Vereinfachung und Vereinheitlichung dieser Verfahrensweisen entstanden ist.
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2 Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich
2.5 Fazit Die Sicherungssysteme, die in den europäischen Ländern von pflegebedürftigen Menschen in Anspruch genommen werden können, weisen im Hinblick auf Zugangskriterien, Leistungsvoraussetzungen, Verfahren zur Abklärung von Leistungsansprüchen sowie Art und Umfang der Leistungen große Unterschiede auf. Teilweise handelt es sich um Systeme, die eher auf den jeweiligen nationalen Strukturen sozialer Hilfen aufbauen, teilweise um Systeme, die eher einen ausdifferenzierten Zweig der Gesundheitsversorgung darstellen. Es kommt vor, dass beide Formen (wie in Großbritannien) nebeneinander existieren und die Gestaltungsverantwortung unterschiedlichen staatlichen Ebenen überlassen bleibt. Eigenständige Sozialversicherungen wie die Pflegeversicherung in Deutschland finden sich bislang noch selten. In den vorangegangenen Ausführungen wurde die Frage ausgeblendet, wie sich die Systeme zur Sicherung der Langzeitversorgung finanzieren. Auch in dieser Hinsicht gibt es eine große Vielfalt, in der alle denkbaren Varianten vorkommen – von der rein steuerlichen Finanzierung über allgemeine Versicherungsbeiträge wie in Deutschland bis hin zur privaten Vorsorge und verschiedensten Mischformen [Colombo et al. 2011]. Aufbau und Funktionsweise der Methoden und Instrumente, mit denen die Leistungsberechtigung überprüft und die Höhe der Leistungen bestimmt werden, variieren zwischen den Ländern ebenfalls sehr stark. Auch hier gibt es ein breites Spektrum, das von standardisierten Verfahren mit abschließend definierten Kriterien bis hin zu allgemeinen Richtlinien reicht, die großen Interpretationsspielraum lassen. Welche Anforderungen an Instrumente gestellt werden und welche Instrumente zugelassen werden, hängt sehr stark davon ab, ob – wie im Falle der deutschen Pflegeversicherung – der Leistungszugang und die Leistungshöhe direkt ermittelt oder ob der Leistungsbedarf erst im Rahmen einer individuellen Versorgungsplanung eingeschätzt werden soll. Ein europäischer Entwicklungstrend auf dem Feld der Begutachtung ist aufgrund der beschriebenen Vielfalt schwer auszumachen. Insbesondere in den Ländern, in denen Leistungen ohne ein Pflegestufensystem oder eine vergleichbare Klassifizierung gewährt werden, ist die Frage nach den „richtigen“ Instrumenten eher von nachgeordneter Bedeutung. Dort, wo es Klassifizierungen gibt, besteht allerdings ein gewisser Trend zur Nutzung von Kriterien oder Instrumenten, mit denen der Grad der Selbständigkeit und/oder der Grad funktioneller Beeinträchtigungen pflegebedürftiger Menschen abgebildet werden kann [vgl. Wingenfeld et al. 2011]. Insofern ist der Übergang von der Messung von Pflegezeiten bei Alltagsverrichtungen hin zur umfassenden, methodisch fundierten Beurteilung von Selbständigkeit, der für die deutsche Pflegeversicherung seit mehreren Jahren angestrebt wird [vgl. BMG 2009a], ein Entwicklungsschritt, der sicherlich auch in anderen europäischen Ländern mit Interesse verfolgt wird.
3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung 3.1 Menschenrechte in der Pflege und Pflegeversicherung Valentin Aichele Menschenrechte bieten als Fundamentalnormen Orientierung für menschliches und organisatorisches Handeln. Mit dieser Funktion haben sie Relevanz in allen Lebensund Arbeitsbereichen. Dies gilt auch für den ambulanten, teilstationären und stationären Bereich der Altenpflege (einschließlich der Kurzzeitpflege) mit den dort tätigen Personen. In gleicher Weise werden damit die Führungskräfte und Mitarbeitenden der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) angesprochen. Beziehen sie menschenrechtliche Normen bewusst in das professionelle Handeln ein, eröffnet dies große Chancen für die Pflege, insbesondere für Begutachtung, Qualitätsprüfung, Beratung und Fortbildung. Die Lebenslage „Pflegebedürftigkeit“ ist gekennzeichnet durch einseitige Abhängigkeitsverhältnisse der pflegebedürftigen Person. Auch wenn in dieser Lebenssituation die Geltung der Menschenrechte zwar theoretisch eine Selbstverständlichkeit ist, stellt ihre angemessene Beachtung die Praxis jedoch immer wieder vor große Herausforderungen. Gerade die Achtung und Gewährleistung der fundamentalen Rechte des Menschen erfordert an den Orten, an denen Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf leben, besondere Anstrengungen aller Beteiligten.
3.1.1 Menschenrechtliche Grundlagen Alle, die mit Menschen in der Pflege thematisch oder praktisch zu tun haben, verfügen über ein Vorverständnis dessen, was Menschenwürde und Menschenrechte sind. Dennoch seien an dieser Stelle die menschenrechtlichen Grundlagen kurz in Erinnerung gerufen. Die Menschenrechte finden ihren Grund in der Menschenwürde [Bielefeldt 2008]. Die Menschenwürde erhebt den gleichen grundlegenden Achtungsanspruch für alle Menschen und ist in jedem Menschen gleichermaßen zu respektieren. Der Respekt für die Menschenwürde zeigt sich im Allgemeinen darin, dass jeder Mensch als Subjekt freier Selbstbestimmung und freier Mitbestimmung geachtet wird. Die Menschenrechte gelten gemeinhin als Ausdruck des grundlegenden inhärenten Achtungsanspruchs des Menschen als Würdenträger. Die Menschenrechte gelten für alle Menschen gleichermaßen. Das Geschlecht einer Person, ihre ethnische Herkunft, ihre Religion oder ihr Alter beispielsweise, insbesondere ob oder in welchem Umfang sie Hilfe- oder Pflegebedarf hat, macht für die Anerkennung dieser Rechte keinen Unterschied. Die Menschenrechte stehen für die
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
fundamentalen Rechte eines Menschen, die er unabhängig von sozialen Rollen oder Leistungen allein aufgrund seines Menschseins hat. Die Menschenrechte haben mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 sowie in zahlreichen internationalen Übereinkommen und auch in Verfassungen eine fortschreitende rechtliche Ausgestaltung und damit auch Konkretisierung erfahren.1 Gerade die menschenrechtlichen Übereinkommen verbriefen die Menschenrechte und erzeugen in diesem Zuge auch staatliche Verpflichtungen für ihren Schutz. Nichtstaatliche Akteure stehen, vermittelt über diese Übereinkommen, nicht direkt in der rechtlichen Pflicht, sind aber nach allgemeiner Auffassung von der moralischen Verantwortung gegenüber den Menschenrechten nicht entbunden. Die Achtung der Menschenwürde und das damit gekoppelte Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen universellen Menschenrechten bilden auch die Grundlage der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz bringt das bereits im Artikel 1 unmissverständlich zum Ausdruck: 1. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. 2. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Auf dieser Grundlage entfaltet sich die gesamte Rechtsordnung mit den einschlägigen gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften auf den Ebenen von Bund und Ländern. Das Gesetzesrecht buchstabiert – wenn auch nicht explizit und auch nicht immer hinreichend – die menschenrechtlichen Rechtsansprüche in Bezug auf unterschiedliche Rechtsverhältnisse aus.2 Hinter all diesen Regelungen steht im Grunde der Anspruch, den Menschen immer auch als Subjekt freier Selbstbestimmung und Mitbestimmung zu erkennen und zu achten.
1 Zentral für die völkerrechtliche Absicherung sind der „Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ und der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“. Beide Übereinkommen sind im Zusammenhang der Vereinten Nationen entstanden und 1966 von der Generalversammlung verabschiedet worden. Mit der Ratifikation durch Deutschland ist die deutsche Staatsgewalt mit ihren Organen, insbesondere auch die Körperschaften des öffentlichen Rechts, an diese Normen gebunden. 2 So gibt es hierzulande zahlreiche Regelungen in Bezug auf ältere Personen, die wegen des speziellen lebensalterlichen Bezugs als „Recht der älteren Menschen“ zusammengefasst werden können. Das Recht älterer Menschen bezieht sich beispielsweise auf die Bereiche Unterhalt, Familie, Betreuung, Gesundheit und Pflege. Es gehören außerdem dazu die Regelungen zum Schutz der körperlichen Integrität (etwa des Strafrechts) oder zum Schutz personenbezogener Daten (nach den Datenschutzgesetzen), um hier nur einige wesentliche Regelungsbereiche zu nennen [Igl/Klie 2007].
3.1 Menschenrechte in der Pflege und Pflegeversicherung
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Die staatliche Gewalt ist über die Verfassung und aufgrund menschenrechtlicher Übereinkommen an diesen grundlegenden Achtungsanspruch gegenüber den Menschenrechten gebunden. Gerade wenn ein Mensch hilfe- und pflegebedürftig ist, kann es aufgrund seiner Lebenssituation erforderlich sein, zusätzliche und spezifische Maßnahmen zu ergreifen, um seine allgemeinen Rechte zu sichern. Insbesondere ist die so genannte menschenrechtliche Schutzpflicht des Staates darauf gerichtet, dass gerade nichtstaatliche Akteure wie Angehörige, Nachbarn, Pflegekräfte oder Leiterinnen und Leiter von Pflegeeinrichtungen in die fundamentalen Rechte älterer Personen nicht eingreifen. So kann beispielsweise die staatliche Befugnis, private Leistungsträger im Bereich der ambulanten sowie stationären Pflege zu kontrollieren – etwa auch in Form unangemeldeter beratungsorientierter Prüfungen –, unmittelbar auf die staatliche Schutzpflicht zurückgeführt werden. Die Rechtsgewährleistungen halten den Staat überdies an, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Menschenrechte von pflegebedürftigen Personen in all ihren unterschiedlichen Lebenslagen hinreichend zum Tragen kommen beziehungsweise praktisch gelebt werden können. So geht es bei der Pflege deshalb nicht allein darum, was gemäß des Pflege-Versicherungsgesetzes, insbesondere des Sicherstellungsauftrages der Pflegeversicherung, an Leistungen erwartet werden kann. Es geht vielmehr um die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Systems, das hinreichend gewährleistet, den fundamentalen Rechten aller hilfe- und pflegebedürftigen Menschen in ihrer konkreten Lebenssituation Geltung zu verschaffen.
3.1.2 Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen Seit einiger Zeit ist die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ (Charta) in der fachlichen und öffentlichen Diskussion [BMfSFJ/BMG 2006]. Die Charta ist ein Dokument, das die fundamentalen Rechte von hilfe- und pflegebedürftigen Personen in allgemein verständlicher Sprache zusammenfasst. Sie informiert hilfeund pflegebedürftige Personen über ihre Rechte. Für andere ermöglicht sie, sich die Perspektive eines pflegebedürftigen Menschen – wie durch die „Rechtsbrille“ – schnell und themenbezogen zu vergegenwärtigen. Mit den von ihr angesprochenen Inhalten zu Fragen der körperlichen Integrität, Wohnen, Gesundheit, Privat- und Intimsphäre, Nichtdiskriminierung etc. weist die Charta enge Bezüge zu den international verbrieften Menschenrechten auf [Schneider 2006]. Sie soll deshalb in den Mittelpunkt der weiteren Ausführungen gestellt werden. Gerade für die Begutachtung, Qualitätsprüfung, Beratung und Fortbildung bietet die Charta vielfältige Ansatzpunkte. Die Charta geht auf eine Arbeitsgruppe des „Runden Tisches Pflege“ zurück, der im Herbst 2003 von zwei Bundesministerien einberufen worden war [BMfSFJ/BMG 2006]. Ziel des Runden Tisches Pflege war, die Lebenssituation hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in Deutschland zu verbessern. An der Ausarbeitung der Charta haben Vertreterinnen und Vertreter aus Verbänden der Leistungserbringer und Kost-
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
enträger, aus Ländern und Kommunen, aus Verbraucher- und Selbsthilfeorganisationen, Berufsverbänden sowie aus Praxis und Wissenschaft mitgewirkt. Als Ergebnis dieses Arbeitsprozesses wurde die Charta im Herbst 2005 der Öffentlichkeit vorgestellt [Sulmann/Tesch-Römer 2007]. Der Charta kommt im Wesentlichen eine Erinnerungs- und Klärungsfunktion zu. Sie schafft keine neuen Rechte, sondern sie erinnert an den Bestand der anerkannten Rechte und klärt über die mit den Rechten verbundenen Verpflichtungen anderer Akteure auf. Artikel für Artikel stellt sie dar, welche Erwartungen hilfe- und pflegebedürftige Menschen von Rechts wegen an ihre soziale Umwelt herantragen und damit auch einfordern können. Sie verfolgt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern bleibt auf der Verpflichtungsseite vielfach exemplarisch. Artikel 1 der Charta bekräftigt das Recht eines jeden hilfe- und pflegebedürftigen Menschen auf Hilfe zur Selbsthilfe und auf Unterstützung, um ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben führen zu können; Artikel 2 bestätigt das fundamentale Recht von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen, vor Gefahren für Leib und Seele geschützt zu werden; Artikel 3 der Charta ruft das Recht eines jeden hilfeund pflegebedürftigen Menschen auf Wahrung und Schutz seiner Privat- und Intimsphäre in Erinnerung; Artikel 4 buchstabiert das Recht auf eine an dem persönlichen Bedarf ausgerichtete, gesundheitsfördernde und qualifizierte Pflege, Betreuung und Behandlung aus; Artikel 5 bezieht sich auf das Recht auf umfassende Informationen über Möglichkeiten und Angebote der Beratung, der Hilfe und Pflege sowie der Behandlung; Artikel 6 stellt fest, dass jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch das Recht auf Wertschätzung, Austausch mit anderen Menschen und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hat; Artikel 7 betrifft das Recht, entsprechend der eigenen Kultur und Weltanschauung zu leben und seine Religion auszuüben; Artikel 9 unterstreicht das Recht eines jeden hilfe- und pflegebedürftigen Menschen, in Würde zu sterben. Zwar ist die Charta als Dokument rechtlich nicht verbindlich, sie verweist aber in weiten Teilen auf unmittelbar geltendes Recht, mit dessen Hilfe die fundamentalen Rechte – wenn vielleicht auch für die Praxis nicht hinreichend – bereits verbindlich abgesichert sind. Vor diesem Hintergrund hat die unter den Fachverbänden öffentlich diskutierte Frage, ob die Charta gezeichnet und damit als wichtiger Maßstab akzeptiert werden kann, in der Öffentlichkeit zu Recht große Irritationen ausgelöst. Denn diese Akteure sind bereits heute – im Rahmen des geltenden Rechts und im Rahmen ihrer Zuständigkeiten – rechtlich gebunden, die in der Charta dargestellten Rechte zu gewährleisten. Soweit die Charta menschenrechtliche Aspekte abdeckt, die im deutschen Recht auf die einfachgesetzliche oder untergesetzliche Ebene herunter gebrochen sind, scheint die Vorstellung grundsätzlich problematisch, die Verantwortung für diese Rechte ins eigene Belieben stellen zu wollen. Menschenrechte stehen grundsätzlich nicht zur Disposition. Eine Entscheidung gegen die Charta ist damit nicht denkbar.
3.1 Menschenrechte in der Pflege und Pflegeversicherung
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3.1.3 Konkrete Anwendungsbeispiele Die Charta dient hilfe- und pflegebedürftigen Personen, sich über ihre fundamentalen Rechte einen schnellen Überblick zu verschaffen. Einrichtungen ziehen sie bereits zur Beratung und zum Beschwerdemanagement als Instrument heran. Darüber hinaus sind für ambulante, teilstationäre und stationäre Pflegeeinrichtungen (eingeschlossen Kurzzeitpflege) konkrete Anwendungsansätze denkbar. Diese Ansätze werden teilweise auch schon in die Praxis umgesetzt. So kann die Charta beispielsweise als Instrument der Organisations- und Personalentwicklung genutzt werden. Im Rahmen von Qualitätsmanagement kann sie Anstoß und Grundlage wichtiger Fortentwicklungen sein. Hieraus ergibt sich etwa die Möglichkeit, die eigenen Strukturen und Prozesse zu optimieren und mit Blick auf die Ergebnisse konkrete Anforderungen zu bekräftigen oder auch Prioritäten neu zu setzen. Ambulante, teilstationäre und stationäre Einrichtungen sollten die Charta als Gegenstand für Aus-, Fort- und Weiterbildungen für die Mitarbeitenden sowie Führungskräfte verwenden. Sie kann überdies dem individuellen Heim- oder Leistungsvertrag als Anhang angefügt werden. Auch die Leitbilder können im Anschluss an entsprechende personale und organisatorische Veränderungen auf die Inhalte der Charta hin ausgerichtet und fortentwickelt werden. Die Arbeit mit der Charta kann nachgewiesenermaßen zu vielfältigen Veränderungen in der Organisation führen und insbesondere zum Aufbau einer an den fundamentalen Rechten der Person ausgerichteten Organisation beitragen. Um Wege und Methoden hinsichtlich der Anwendung der Charta in stationären Pflegeeinrichtungen systematisch zu erarbeiten und konkrete Handlungsansätze zu sammeln, wurde in Deutschland ein Praxisprojekt durchgeführt, dessen Ergebnisse nunmehr in einem Projektbericht zusammengestellt sind [KCR 2008a]. Aus diesem Projekt ist zudem eine Arbeitshilfe hervorgegangen [KCR 2008b]. Ein gutes Beispiel für den „rechtebasierten Ansatz in der Altenpflege“ (unabhängig von der Charta) entwickelte beispielsweise das Alterszentrum Kehl (Baden). Dort führten gemeinsame Lern- und Arbeitsprozesse zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern, Beschäftigten und Besucherinnen und Besuchern zu einem „Fragen-Antwort-Katalog“, mit dem die Achtung des Selbstbestimmungsrechts und die Wahrung des Persönlichkeitsrechts der Bewohnerinnen und Bewohner in verschiedenen Themenfeldern, beispielsweise in Bezug auf Gesundheit, Ernährung oder körperliche Integrität, exemplarisch auf den Punkt gebracht werden. Diese Fragen und Antworten wurden auf Plakate übertragen, die allen vorgestellt worden sind und im Haus aushängen. Beispielsweise stellt Eva Hasier (88 Jahre) auf einem Plakat fest: „Ich nehme heute meine Medikamente nicht ein!“ Darauf lautet die allgemein akzeptierte Antwort: „Wir respektieren Ihren Wunsch, weil wir davon ausgehen, dass Sie selber für Ihre Gesundheit verantwortlich sind.“ Oder Herbert Kenz (90 Jahre) sagt: „Nehmen Sie doch bitte dieses schreckliche Bettgitter weg, so was brauche ich nicht!“. Die Antwort darauf:
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
„Die Entscheidung, ob Sie diese Gitter wollen oder nicht, treffen Sie selber. Wir zeigen Ihnen die Vor- und Nachteile beider Lösungen auf. Ihre Entscheidung respektieren wir ohne Vorbehalte.“ Der Prozess im Alterszentrum Kehl, der zu den Plakaten führte, war sehr wichtig, um im Ergebnis eine nachhaltige „bewohnerorientierte Haltung“ im Hause aufzubauen. Der Katalog dient heute allen im Haus als Handlungsorientierung [Wernli 2008]. Solche Entwicklungen können von den Medizinischen Diensten aufgegriffen werden. Der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V. (MDS) hat seinerzeit beispielsweise angekündigt, die Charta bei der Bewertung von Qualität in der Pflege einzubeziehen [MDS 2007]. So ist sicherlich von hoher Relevanz, ob eine Einrichtung – gegebenenfalls durch die Umsetzung der Charta – begonnen hat, die fundamentalen Rechte von pflegebedürftigen Frauen und Männern zum Ausgangspunkt seiner Arbeitsabläufe und zur Bezugsgröße seiner Organisation zu machen, um so diesen Rechten in der Praxis besser Rechnung zu tragen. Im Rahmen der Beratung durch die Medizinischen Dienste kann beispielsweise auch auf die oben exemplarisch skizzierten Ansätze Bezug genommen werden. Deshalb ist es erforderlich, dass sich Mitarbeitende und Führungskräfte der Medizinischen Dienste und der Krankenund Pflegekassen mit den Inhalten der Charta und den Umsetzungsfragen vertraut machen und auch Schulungs- und Fortbildungskonzepte für diesen Personenkreis auf der Basis der Charta entwickelt und als ständiges Programm angeboten werden. Die Umsetzung eines rechtebasierten Ansatzes in der Altenpflege erfordert aber auch auf der konzeptionellen Ebene weitere Schritte. Noch wenig erkannt ist beispielsweise die Anforderung, das vorherrschende Verständnis von Pflegequalität in Deutschland aus der menschenrechtlichen Perspektive fortzuentwickeln [Aichele 2006]. Die derzeit für die Begutachtung und Qualitätsprüfung genutzten Indikatoren geben bislang nicht hinreichend über die menschenrechtliche Dimension in der Pflege Auskunft.3 Beispielsweise spiegeln die Indikatoren die Selbstbestimmungsaspekte hinsichtlich Wohnen, Essen, Gesundheit und Mobilität oder auch GenderGesichtspunkten in der Pflege nicht angemessen wider [Backes 2005]. Es gilt deshalb, die Liste der Indikatoren in Bezug auf Struktur, Prozess und Ergebnis – auf der Grundlage der verbindlich vorgegebenen Normstruktur der Menschenrechte – um solche Indikatoren zu erweitern oder zu ergänzen, die aus menschenrechtlicher Sicht aussagekräftig sind. Es geht – um es kurz zu sagen – um die Entwicklung menschenrechtsbasierter Indikatoren für die Altenpflege.
3 Siehe beispielsweise die „Qualitätsprüfungs-Richtlinien“ der Spitzenverbände der Pflegekassen und des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) mit den dazugehörigen Erhebungsbögen für die Prüfung der Qualität in der ambulanten und stationären Pflege.
3.2 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs
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3.1.4 Zusammenfassende Bemerkungen Menschenrechte sind Grundsätze zur positiven Orientierung für menschliches und organisatorisches Handeln. Menschenrechte prinzipiell haben diese Orientierungsfunktion. Die Herausforderung für alternde Gesellschaften besteht darin, die fundamentalen Rechte der hilfe- und pflegebedürftigen Frauen und Männer in ihrer konkreten Situation mit Leben zu erfüllen und konsequent zur Geltung zu bringen. Instrumente wie die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ beispielsweise unterstreichen die Wichtigkeit, den Menschen mit seinen fundamentalen Rechten in den Mittelpunkt der Pflege zu stellen. Die aktuellen Entwicklungen hinsichtlich der Charta zeigen für die Praxis der ambulanten, teilstationären und stationären Pflege (einschließlich Kurzzeitpflege) in Deutschland vielfältige Handlungsansätze auf. Hiermit verbinden sich große Chancen für das zentrale Anliegen der Menschenrechte.
3.2 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs Martina Süß Das folgende Kapitel gibt einen Einblick in die theoretischen Grundlagen der Pflege als wissenschaftliche Fachdisziplin. Nach Skizzierung ihrer Entwicklung und Systematisierung wird der aktuelle Kenntnisstand am Beispiel von vier ausgewählten, auch in Deutschland etablierten Pflegemodellen zusammengefasst. Nach einem Blick auf den aktuellen Stand in Deutschland wird abschließend die Bedeutung der Pflegetheorien bei der Bewertung des Hilfebedarfs gemäß den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches im Kontext der Begutachtungspraxis herausgearbeitet.
3.2.1. Theorieentwicklung in der Pflege Die erste theoriegeleitete Betrachtungsweise auf Phänomene in der Pflege ist mit dem Namen der britischen Krankenpflegerin Florence Nightingale verknüpft. Sie wurde in den Kaiserswerther Anstalten in Deutschland ausgebildet. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte sie als Aufgabe der Pflege die Unterstützung natürlicher Heilungsprozesse und die Einflussnahme auf Umweltbedingungen mit dem Ziel, die Gesundheit des Patienten zu fördern. Die Sorge für Sauberkeit, frische Luft und ausreichende Ernährung wurde Kernelement des pflegerischen Auftrags. Die grundlegende Bedeutung dieser gesundheitsfördernden Aspekte wird unter Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Rahmenbedingungen um die Jahrhundertwende nachvollziehbar.
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Die weitere Entwicklung theoretischer Fundamente in der Pflege war in der Folge kein linearer Prozess. Vielmehr war sie, gleichermaßen wie andere humanwissenschaftliche Disziplinen, abhängig von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie dem Stand fachlicher Erkenntnisse und Visionen. Zur Systematisierung unterschiedlicher Pflegemodelle hat sich die Betrachtung von Afaf I. Meleis weitgehend durchgesetzt [Meleis 1997, Meleis 1999]. Die Professorin für Pflegewissenschaften in San Francisco unterscheidet zwischen Bedürfnistheorien, Interaktionstheorien, humanistischen sowie ergebnisorientierten Theorien. Theoriebildung ist ein dynamisches Prozessgeschehen. Zwangsläufig weist diese Systematik daher Überschneidungen auf und spiegelt verschiedene, zeitlich parallel verlaufende Entwicklungsphasen wider.
3.2.1.1 Bedürfnistheorien Bedürfnistheoretische Ansätze in der Pflege haben bis heute, zumindest im deutschsprachigen Raum, den höchsten Stellenwert. Sie haben ihren Ursprung in der von Virginia Henderson begründeten Denkschule der „14 Grundbedürfnisse“ des Menschen [Henderson 1960]. Ihre Definition der Pflege aus dem Jahre 1960 ist die wohl weltweit bekannteste: „Die einzigartige Aufgabe der Krankenpflege ist es, den Einzelnen, krank oder gesund, bei der Durchführung jener Tätigkeiten zu helfen, die zur Gesundheit oder Rekonvaleszenz (oder zum friedlichen Tod) beitragen, die er ohne Hilfe selbst durchführen würde, wenn er die dazu notwendige Kraft, den Willen oder das Wissen hätte. Dieses ist auf eine Weise zu tun, die dem Patienten die schnellstmögliche Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit erlaubt.“ Das International Council of Nursing (ICN) übernahm diese Definition des Fachgebiets und leitete sie an die Mitgliedsorganisationen in den verschiedenen Ländern weiter [Henderson 1977].
3.2.1.2 Interaktionstheorien Die Protagonistinnen der Interaktionsmodelle definieren Pflege primär als eine dynamische Beziehung zwischen Pflegekraft und Patient. Danach wird der Heilungs- und Pflegeprozess unmittelbar durch die Qualität der aufgebauten Beziehung beeinflusst. Hildegard E. Peplau ist die wohl bekannteste Vertreterin dieser Richtung [Peplau 1994]. Die enge Anlehnung ihrer Theorie an die in den 50er Jahren modernen Denkschulen in Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie ist deutlich. Peplaus Beitrag, insbesondere zur psychiatrischen Pflege, war und ist groß. Ihre konsequente Betrachtung von Pflege als zielorientiertem Problemlösungs- und Interaktionsprozess hat weit über die unmittelbaren Versorgungssysteme psychiatrisch erkrankter Menschen hinaus an Bedeutung gewonnen. Peplaus Pflegetheorie dient in modifizierter Form
3.2 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs
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noch heute zahlreichen psychiatrischen Einrichtungen außerhalb Deutschlands als pflegerische Arbeitsgrundlage.
3.2.1.3 Humanistische Theorien Modelle dieser Richtung beschreiben Pflege als eine Einheit aus Betreuung, Fürsorge und Versorgung. Die deutliche Anlehnung an moralische Grundwerte und philosophische Betrachtungen, insbesondere aus der Phänomenologie, ist unverkennbar. Auch der Einfluss des Psychologen Carl Rogers ist deutlich. Pflegerisches Handeln erfährt seine Prägung durch Kongruenz, Empathie und gegenseitige Wertschätzung. Eine auch in Deutschland bekannte Vertreterin dieser Denkschule ist Patricia Benner. Sie beschäftigt sich u.a. mit dem systematischen Erwerb von Pflegekompetenz im praktischen Handlungsbezug [Benner 1984].
3.2.1.4 Ergebnisorientierte Theorien Charakteristisch für diese Denkschule ist die Beschreibung von Pflegeergebnissen mit Begriffen wie Anpassung, Gleichgewicht, ausgewogenes Verhaltenssystem, Stabilität, Energieerhalt und harmonisches Zusammenspiel mit der Umgebung. Das Ziel von Pflege wird in diesem Kontext als die Wiederherstellung einer harmonischen Beziehung zwischen dem (kranken) Individuum und seiner Umwelt betrachtet. Bekannteste Vertreterinnen sind Martha E. Rogers sowie Myra E. Levine [Schaeffer et al. 2008]. Da die Evaluation der Pflegeergebnisqualität in diesen Modellen besonders problematisch ist, sind sie bislang kaum von praktischer Relevanz.
3.2.2 Pflegeprozess als theoretisches Kernelement Das Verständnis von Pflege als Problemlösungsprozess begann sich in Deutschland erst seit Mitte der 80er Jahre allmählich durchzusetzen. Prozessorientiertes Handeln setzt systematisches Vorgehen bei der Einschätzung der subjektiven Bedürfnislage eines Patienten voraus. Dieser Einschätzung, dem Assessment, folgen in weiteren Schritten Zielsetzung, Planung und Ausführung von Pflegemaßnahmen sowie die Evaluation. Die Betrachtung der Pflege als Prozess korrespondiert mit dem Regelkreismodell der Kybernetik. Als fächerübergreifende Methode bezeichnet Kybernetik im weitesten Sinne die Wissenschaft von sich selbst regulierenden Systemen, die für ihre Funktion relevante Daten erheben und zur Planung weiterer Schritte auswerten. Die Anwendung des Regelkreismodells im Pflegealltag dient der Systematisierung und Professionalisierung pflegerischen Handels. Entscheidende Merkmale des Pflegeprozesses sind: 1. Berücksichtigung der aktuellen Situation des Patienten
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
2. Flexibilität in der Regulierung des Geschehens unter Berücksichtigung von Rahmenbedingungen, Zielvorgaben und Ergebnissen Voraussetzung für die sinnvolle Umsetzung des Regelkreismodells sind die nachfolgenden Grundannahmen: – Pflege ist planbar – Pflege ist zielorientiert – Pflege ist lösungsorientiert – Pflege ist systematisch durchführbar – Pflege ist nachvollziehbar, begründbar und dokumentierbar – Pflege ist überprüfbar und veränderbar Die Implementierung des Pflegeprozesses als elementares Instrumentarium zur Sicherstellung professioneller Pflege ist mittlerweile auch in Deutschland weit fortgeschritten. Alle nachfolgend ausgewählten und beschriebenen Theorien und Modelle basieren auf der Betrachtung von Pflege als steuerbarem Prozessgeschehen.
3.2.3 Bedürfnisorientierte Modelle Die nachfolgend aufgeführten, besonders im deutschsprachigen Raum verbreiteten Modelle sind den Bedürfnistheorien zuzuordnen.
3.2.3.1 Modell des Lebens – LA (Lebensaktivitäten) Das Modell von Nancy Roper, Winifred W. Logan und Alison J. Tierney wurde in Edinburg, Schottland erarbeitet und ist damit eines der wenigen nicht in den USA entwickelten Pflegemodelle [Roper et al. 1987]. Danach ist es Aufgabe der Pflege, den Patienten bei der Wiederherstellung oder dem Erhalt größtmöglicher Unabhängigkeit in der individuellen Lebensgestaltung zu unterstützen. Für die Gestaltung des Pflegeprozesses ist es daher von großer Wichtigkeit, die Lebensweise, Erfahrungen und Erwartungen des Patienten zu kennen. Das Modell berücksichtigt fünf Komponenten: – Lebensaktivitäten – Lebensspanne – Abhängigkeits-/Unabhängigkeits-Kontinuum – Faktoren, welche die Lebensaktivitäten beeinflussen – Individualität im Leben Die Lebensaktivitäten stehen unter dem Einfluss körperlicher, psychologischer, soziokultureller, umgebungsabhängiger und politisch-ökonomischer Faktoren. Die Gesamtheit der Lebensaktivitäten wird als Raster für die Einschätzung sowie zur
3.2 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs
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Struktur für Planung, Durchführung und Auswertung der Pflege verwendet. Die einzelnen 12 Lebensaktivitäten sind: 1. Für eine sichere Umgebung sorgen 2. Kommunizieren 3. Atmen 4. Essen und Trinken 5. Ausscheiden 6. Sich Sauberhalten und Kleiden 7. Körpertemperatur regulieren 8. Sich bewegen 9. Arbeiten und spielen 10. Sich als Mann oder Frau fühlen und verhalten 11. Schlafen 12. Sterben Jede einzelne Lebensaktivität wird bei dem Patienten unter dem Aspekt der Abhängigkeit/Unabhängigkeit betrachtet. Der Grad der Abhängigkeit steht in unmittelbarer Beziehung zur Lebensspanne (Alter) sowie den genannten Faktoren, die die Lebensaktivität beeinflussen. Übergeordnetes Pflegeziel ist es, Abhängigkeiten zu reduzieren und maximale Unabhängigkeit des Patienten wieder herzustellen. Ist dies z.B. aufgrund chronischer Erkrankungen, Behinderungen oder in der Sterbephase nicht mehr möglich, so gilt es, den Patienten zu unterstützen, die Individualität im Leben unter den besonderen, unabänderlichen Gegebenheiten weiterhin zu erfahren und zu gestalten. Das Modell ist in der Praxis gut anwendbar und weit verbreitet. Oft werden jedoch lediglich die 12 Lebensaktivitäten als Strukturierungshilfe der Pflegeplanung herausgegriffen. Die dialektische Beziehung der fünf Komponenten wird häufig nicht ausreichend gewürdigt und in konkretes Pflegehandeln eingebunden.
3.2.3.2 Modell der Aktivitäten, Beziehungen und existenziellen Erfahrungen des Lebens – ABEDL Das Strukturmodell der fördernden Prozesspflege wurde von Monika Krohwinkel aus ihrem Modell der Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens (AEDL) weiterentwickelt. In Untersuchungen zur häuslichen Pflegesituation in den Jahren 1995 bis 1999 konstatierte sie die herausragende Bedeutung der Beziehungen und Kontakte in Pflegesituationen. Diesem Aspekt hat sie in ihrem modifizierten Modell mehr Gewicht gegeben [Krohwinkel 2007]. Weiterhin orientiert sie sich aber deutlich an dem Modell des Lebens nach Roper, Logan und Tierney [Roper et al. 1987]. Das ABEDL-Strukturierungsmodell enthält folgende Kategorien mit aktuell angepassten Begriffen [Krohwinkel 2007]: 1. Kommunizieren können
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Sich bewegen können Vitale Funktionen des Lebens aufrechterhalten können Sich pflegen können Sich kleiden können Ausscheiden können Essen und trinken können Ruhen, schlafen, entspannen können Sich beschäftigen, lernen, sich entwickeln zu können Die eigene Sexualität leben können Für eine sichere/fördernde Umgebung sorgen können Soziale Kontakte, Beziehungen und Bereiche des Lebens sichern und gestalten können 13. Mit existenziellen Erfahrungen des Lebens umgehen können Das ursprüngliche Modell ist im Rahmen des ersten pflegespezifischen Forschungsprojektes in Deutschland entstanden. Grundlage war die Pflege von Patienten mit Hemiparese [Krohwinkel 1992]. Das Modell der A(B)EDL ist heute in Deutschland vergleichsweise weit verbreitet. Ähnlich wie bei dem Modell des Lebens werden aber auch hier gelegentlich Einzelelemente isoliert verwendet und das Gesamtprofil des Modells nicht hinreichend in die Praxis transferiert.
3.2.3.3 Modell der Aktivitäten des täglichen Lebens – ATL Das Pflegekonzept der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) wurde von Liliane Juchli entwickelt [Juchli 1973]. Sie hat Assessments aus der Gerontologie in die Pflege übertragen und aufbereitet. Basis ihrer ATL sind die „Acitvities of Daily Living – ADL“ [Katz et al. 1963] sowie die „Self-Maintaining and Instrumental Activities of Daily Living – IADL“ [Lawton/Brody 1969]. Beide Instrumente dienen der standardisierten Erfassung und Bewertung von Fähigkeiten in Bezug auf Alltagsaktivitäten. Juchlis Anliegen war primär die inhaltliche und didaktische Aufbereitung theoretischer und praktischer Anforderungen in der Pflege zur Verbesserung der Ausbildung. Die Entwicklung einer Pflegetheorie war nie ihre Absicht. Sie bezieht sich explizit auf die Arbeiten von Virginia Henderson, Nancy Roper sowie auf die Bedürfnistheorie des Psychologen Abraham H. Maslow. Pflege wird als Beziehungs- und Problemlösungsprozess beschrieben. Pflegerische Aufgabe ist die Unterstützung des Patienten bei den Aktivitäten des täglichen Lebens, orientiert an seinen individuellen Bedürfnissen und Wünschen. Die Bezeichnungen der ATL wurden seit dem Jahr 1973 mehrmals sprachlich überarbeitet. Die aktuelle Terminologie lautet [Kellnhauser et al. 2004]: 1. Wach sein und Schlafen 2. Sich bewegen 3. Sich waschen und kleiden 4. Essen und Trinken
3.2 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs
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5. Ausscheiden 6. Körpertemperatur regulieren 7. Atmen, Puls und Blutdruck 8. Sich sicher fühlen und verhalten 9. Raum und Zeit gestalten – arbeiten und spielen 10. Kommunizieren 11. Kind, Frau, Mann sein 12. Sinn finden im Werden-Sein-Vergehen Die ATL dienen als Hilfe zur systematisierten Erfassung von pflegerischem Hilfebedarf und damit als Grundlage zur Pflegeplanung. Die enge Verknüpfung von theoretischen Kenntnissen und Pflegepraxis sowie die Verbreitung des von Juchli erarbeiteten Standardwerks als Lehrbuch für die Ausbildung in den Pflegeberufen führten zu einem hohen Bekanntheitsgrad dieses Modells im deutschsprachigen Raum.
3.2.3.4 Theorie der Selbstpflege Dorothea E. Orem publizierte erstmals im Jahre 1971 ihre „Self-care deficit nursing theory“. In den deutschen Übersetzungen wird von „Selbstfürsorgedefizit-Theorie“ oder auch von „Selbstpflege- und Selbstpflegedefizit- Theorie“ gesprochen. Sie stützt sich auf handlungs- und systemtheoretische Hintergründe [Dennis 2001]. Dementsprechend sei autonomes menschliches Handeln darauf gerichtet, den individuellen Selbstpflegebedarf zu erfüllen. Der Mensch strebt innerhalb seines Bezugssystems ein Gleichgewicht zwischen Selbstpflegebedürfnissen und Selbstpflegefähigkeit an. Gesundheitliche Beeinträchtigungen können zu einer Erhöhung der Selbstpflegebedürfnisse oder/und zu einer Reduzierung der Selbstpflegefähigkeit führen. Zur Wiederherstellung des angestrebten Gleichgewichtes ist das Defizit in der Selbstpflegefähigkeit zu kompensieren und die Anpassung/Wiederherstellung der Selbstpflegefähigkeit des Patienten zu fördern. Dies geschieht durch Familienangehörige, Freunde oder Pflegekräfte. Dabei richtet sich professionelles Pflegehandeln auf die Sicherstellung der therapeutisch notwendigen Pflege und in diesem Kontext gleichermaßen auf die Beratung und Unterstützung der Bezugspersonen des Patienten sowie die Koordination und Gestaltung des erforderlichen systemischen Bezugsrahmens. Orems Pflegetheorie wurde vergleichsweise gut akzeptiert und hat einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Die Theorie ist unspezifisch und damit vielseitig anwendbar. Terminologie und einzelne Elemente dieser Theorie sind auch in pflegerischen Handlungsfeldern in Deutschland vereinzelt implementiert worden. Die umfassende Anwendung dieser Theorie erfordert allerdings eine hohe Transferleistung von Pflegenden, da hier anders als bei den drei zuvor beschriebenen Modellen keine konkrete Strukturierungshilfe in Form eines Kriterienkataloges zur Erfassung des Hilfebedarfs sowie zur Ableitung pflegerischer Ziele und Maßnahmen vorgegeben wird.
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
3.2.4 Aktueller Stand der Theorieentwicklung in Deutschland Nicht nur in Deutschland ist nach Jahren der Euphorie eine Theoriemüdigkeit eingetreten. Davon betroffen ist sowohl die Weiterentwicklung der Theorien als auch die Implementation in konkretes Pflegehandeln. Kurz gesagt – die Erwartungen an Pflegetheorien sind nicht erfüllt worden [Friesacher 2011, Moers et. al. 2011, Schaef fer/Wingenfeld 2011, Schmidli-Bless/Ricka 2011]. Dies liegt nach Einschätzung der Experten insbesondere an der Tatsache, dass Pflegetheorien nur einen sehr geringen Beitrag zur Lösung drängender Praxisprobleme leisten können. Zunehmender ökonomischer Druck auf Pflege und Medizin führt in allen Institutionen der Gesundheitsversorgung zu Arbeitsverdichtung bei reduzierten Personalressourcen. Nicht nur die reglementierten kürzeren Verweilzeiten im Krankenhaus und die Lücken in der ambulanten Anschlussversorgung gehen auf Kosten einer umfassenden und prozessorientierten Pflege und Begleitung der Patienten. Pflegetheorien und -modelle bieten hier zurzeit keine praktikablen Lösungsansätze. Hinzu kommt die fehlende Kompatibilität der Modelle aus den USA mit dem deutschen System der Gesundheitsversorgung. Auch dieses Hindernis wird seit Jahren beklagt. Analog zu der Entwicklung in den USA etwa ab Ende 1980 zeigt sich auch in Deutschland in den letzten Jahren eine Konzentration auf Strategien der induktiven Theoriebildung. Damit einher geht der Versuch, den Praxisanforderungen in relativ kurzer Zeit mit anwendungsorientierten Ergebnissen gerecht zu werden. Im Zentrum stehen nunmehr Theorien oder Modelle mit mittlerer und kleiner Reichweite, die größere Nähe zur Pflegepraxis erkennen lassen. Gestützt auf empirische Methoden werden Ursachen und Wirkungszusammenhänge fokussiert auf definierte Zielgruppen und Pflegeprobleme oder Risiken, wie z.B. Mangelernährung, Versorgung chronischer Wunden, Interaktion mit Demenzkranken, beschrieben. Einen Schwerpunkt aktueller Forschungen bildet Evidence-based Practice and Nursing, mit dessen Instrumenten, Verfahren und Ergebnissen die Erwartung der Entwicklung einer generalisierten Theorie mit großer Reichweite allerdings nicht verbunden werden kann. Rückblickend auf die letzten Jahre in Deutschland stehen folgende Themen und Forschungsarbeiten im Fokus des pflegewissenschaftlichen Diskurses: – Klassifikationsversuche von Pflegephänomenen und Pflegehandeln, Definition von Pflegediagnosen wie z.B. NANDA (North American Nursing Diagnosis Association) und ICNP (Internationale Klassifikation für die Pflegepraxis) [ICN 1999] – Begleitforschung zur Novellierung von gesetzlichen Rahmenbedingungen z.B. zur Definition des Begriffes der Pflegebedürftigkeit zur Ableitung des individuellen Bedarfs an Pflege- und Betreuungsleistungen, Entwicklung und Evaluation von Qualitätsindikatoren zur Abbildung von Pflegeergebnissen – Entwicklung und Einführung von Leitlinien und Standards, insbesondere der nationalen Expertenstandards [DNQP 2007]
3.2 Pflegetheorien und Bewertung des Hilfebedarfs
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– Pflegekonzepte zu verschiedenen klinischen Themen wie z.B. chronische Wunden, Demenz, Prophylaxen – Organisationsentwicklung z.B. zur Gestaltung von Arbeitsprozessen oder zur Entwicklung von Kennzahlen – Anwendbarkeit von Methoden aus anderen Disziplinen wie z.B. der qualitativen Sozialforschung, Systemtheorie, Phänomenologie – Curriculumentwicklung für Aus- und Weiterbildung – Gestaltung und Profilierung von pflegewissenschaftlichen Studiengängen Zu diesen Fragestellungen haben sich zahlreiche Projekte und Modellvorhaben auf unterschiedlichen Handlungsebenen etabliert. Parallel wurden in Einrichtungen der ambulanten und stationären Altenpflege insbesondere bedürfnisorientierte Modelle, wenn auch mit unterschiedlicher Komplexität in der konkreten Umsetzung, weitgehend eingeführt. Der Weiterentwicklung und Implementierung von wissenschaftlich evaluierten Standards in die pflegerische Praxis ist mit der Novellierung des SGB XI im Juli 2008 (§ 113a) auch durch den Gesetzgeber ein hohes Maß an Verbindlichkeit zugeschrieben worden.
3.2.5 Pflegetheorien in der Begutachtungspraxis Im Kontext fortschreitender Theorieentwicklung hat ein grundständiger Paradigmenwechsel in Pflegeverständnis und Selbstbild stattgefunden. Professionelle Pflege hat sich Aufgabenfelder, beispielsweise im Bereich der Gesundheitsförderung, Prävention, Rehabilitation und Beratung erschlossen. Entgegen dieser Entwicklung wird in der Sozialgesetzgebung Pflege weiterhin als eine Art finale Dienstleistung definiert, die dann einsetzt, wenn Maßnahmen zur Prävention, Krankenbehandlung und Rehabilitation den Eintritt der Pflegebedürftigkeit nicht mehr verhindern können. Weiterhin wird gemäß § 14 Abs. 4 SGB XI zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit der Hilfebedarf lediglich bei definierten Verrichtungen in vier Bereichen des täglichen Lebens, nämlich Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftlicher Versorgung, bewertet. Durch diese Verengung fließen grundlegende pflegetheoretische Erkenntnisse nicht in die Begutachtung ein. Der Verzicht, Lebenswirklichkeit und reale Bedürfnislage des Pflegebedürftigen umfassend widerzuspiegeln, ist gesundheitspolitisch und leistungsrechtlich begründet. So fokussieren dann auch folgerichtig die „Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches“ auf die Erhebung und Bewertung des Hilfebedarfs bei den oben genannten vier Bereichen. In der ursprünglichen Version des Gutachtenformulars war noch die Beschreibung der „Fähigkeiten in Bezug auf die Aktivitäten des täglichen Lebens“ in Anlehnung an Juchli vorgesehen. Der Ausprägungsgrad von Selbständigkeit bei 11 Aktivitäten wurde unter Berücksichtigung von im Gutachtenformular vorab beschriebenen funktionel-
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
len Einschränkungen als „pflegebegründende Befunde“ festgestellt. Abschließend war der individuelle Hilfebedarf in Zusammenhang mit den vom Gesetzgeber vorgegebenen Verrichtungen nach § 14 Abs. 4 SGB XI vom Gutachter unter Berücksichtigung des erforderlichen Zeitaufwandes zu bewerten. Als Ergebnis der Prüfung wurde das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit beurteilt und eine Zuordnung hinsichtlich der Pflegestufen vorgenommen. Aktuell wird bei der Begutachtung ein standardisiertes Gutachtenformular „Formulargutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ (s. Anlage) eingesetzt, das im weitesten Sinne den Begriff der „Selbstpflege“, in Anlehnung an die Theorie von Dorothea E. Orem, verwendet. Die Erfassung und Beurteilung von Schädigungen, Beeinträchtigungen und ausdrücklich auch der Ressourcen wird durchgängig in ihren Auswirkungen auf die relevanten Verrichtungen in Zusammenhang mit Bewegen, Waschen und Kleiden, Ernähren sowie Ausscheiden bezogen. In einem folgenden Schritt wird der Zeitbedarf für konkrete Verrichtungen unter Berücksichtigung der erforderlichen Hilfeform sowie möglicher individueller Faktoren bewertet und die Pflegestufe entsprechend den gesetzlichen Kriterien empfohlen. Zur Feststellung der Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI wendet der Gutachter ein strukturiertes Screening mit nachfolgendem Assessment an. Bei diesem Verfahren wird festgestellt, ob die Alltagskompetenz des Versicherten in erheblichem oder erhöhtem Maße eingeschränkt ist. Auch wenn der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht, hat der Versicherte bei positivem Ergebnis des Assessments Anspruch auf zusätzliche Betreuung in Form von zweckgebundenen und qualitätsgesicherten Leistungen. Zusammenfassend wird mit dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI im Kontext des Pflegeprozesses ein Beitrag zum pflegerischen Assessment geleistet. Ausgehend von den im Gutachten beschriebenen Phänomenen kann eine individuelle Pflegeplanung vorgenommen werden. Die Festlegung von Pflegezielen und die Auswahl geeigneter Maßnahmen unter Berücksichtigung der individuellen Ausprägung von Selbstpflegefähigkeit und Bedürfnissen sind weitere Schritte im Pflegeprozesses, die aber im Gutachten nicht abgebildet werden können. Die gutachterliche Empfehlung an die Pflegekassen in Form des sogenannten „individuellen Pflegeplans“ unter Punkt 6 des Formulars ist kein Ersatz für eine differenzierte individuelle Pflegeplanung. Hier werden mögliche Maßnahmen zur Reduzierung des Hilfebedarfs oder zur Verbesserung der Pflegesituation insgesamt genannt. Die prozessorientierte, individuelle Pflegeplanung aber soll alle Lebensbereiche des Menschen und die Biographie umfassend berücksichtigen. Sie bezieht sich auf eine pflegetheoretische Basis und kann nur von Pflegefachkräften geleistet werden. Voraussetzung ist jedoch neben der pflegefachlichen Kompetenz vor allem auch die Kontinuität in der pflegerischen Beziehung. Nur damit ist das Erkennen von individuellen Bedürfnissen und die Einschätzung der Ressourcen des zu pflegenden Menschen möglich.
3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)?
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Bei der Erstellung eines Gutachtens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI bleiben daher für die Gestaltung des Pflegeprozesses wichtige Detailinformationen sowie die Analyse vorliegender Probleme und Phänomene zwangsläufig unberücksichtigt. Die Begutachtung hat keine individuelle Pflegeplanung zum Ziel, sondern beantwortet die Frage, ob und in welchem Umfang dem Versicherten Leistungen aus dem SGB XI oder ggf. auch SGB V zustehen und aus fachlicher Sicht empfohlen werden.
3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)? Katrin Balzer, Gabriele Meyer und Sascha Köpke 3.3.1 Einleitung Das British Medical Journal fragte vor einigen Jahren seine Leserinnen und Leser, was sie als größten medizinischen Fortschritt seit dem 19. Jahrhundert beurteilen würden [Ferriman 2007]. Unter den 15 wichtigsten Errungenschaften rangierte gemäß der Abstimmung immerhin auf Platz acht die Evidenzbasierte Medizin (EbM), obwohl Sackett und Kollegen ihr grundlegendes Werk zur EbM erst 1991 veröffentlicht haben [Sackett et al. 1991]. Zunächst war es ein kleiner Kreis von Medizinern, der sich für die Methoden der klinischen Epidemiologie begeisterte und faire Therapievergleiche forderte. EbM ist international lange über diesen kleinen Kreis hinaus gewachsen. Der Gesetzgeber hat in Deutschland im Sozialgesetzbuch eine Patientenversorgung nach den Grundsätzen der EbM festgelegt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) und andere richtungsweisende Gremien für die Zuteilung und das Entgelt von Gesundheitsleistungen sind per Gesetz gehalten, auf der Basis der besten Evidenz zu entscheiden. Die EbM-Methoden wurden auf andere Gesundheitsprofessionen übertragen und haben sich somit auch als Evidenzbasierte Pflege (Evidence-based Nursing – EbN) sprachlich etabliert. Die Beherrschung der Methoden der EbM/EbN ist unerlässlich, um eine verantwortliche Position im Gesundheitswesen zeitgemäß ausüben zu können. Das Wissen in der Gesundheitsversorgung hat eine äußerst kurze Halbwertzeit. Der ehemalige Dekan der Harvard Medical School, Sydney Burwell, formulierte trefflich: „Half of what you are taught as medical students will have been shown in ten years to be wrong. And the trouble is none of your teachers know which half” [Adhikari et al. 2006]. Eine durch EbN gekennzeichnete Pflegepraxis ist definiert durch das Zusammenspiel des derzeit besten Wissens aus der Forschung zur Beantwortung einer definierten Fragestellung – auch als „externe Evidenz“ bezeichnet –, der klinischen Expertise der Pflegenden, den gegebenen Ressourcen und Rahmenbedingungen und nicht zuletzt durch das Bündnis mit dem Patienten und seinen Präferenzen und Werten [DiCenso et al. 2005]. Die klinischen Erfahrungen der Pflegenden (oder anderer Professionel-
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
ler) sowie die sich aus der klinischen Situation sowie den Bedürfnissen und Werten des Patienten ergebenden individuellen Präferenzen werden auch mit dem Begriff der „internen Evidenz“ gefasst [Behrens/Langer 2006]. EbN wird im deutschsprachigen Raum seit vielen Jahren diskutiert [Behrens/ Langer 2004, Schlömer 2000]. Lehr- und Handbücher zu EbN als wichtige Instrumente der Dissemination wurden publiziert [Behrens/Langer 2006, 2010]. Das Deutsche Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) hat seit zehn Jahren einen Fachbereich für Pflege, dessen Akteure an verschiedenen Instituten EbN-Kurse anbieten. Die evidenzbasierte (Pflege-)Praxis geht weit über die Integration von Leitlinien hinaus. Derzeit kann in Deutschland sicher nicht einmal ansatzweise von einer strukturierten Umsetzung einer evidenzbasierten Versorgung die Rede sein. Zu finden sind eher einzelne, kaum miteinander verzahnte Aktivitäten, ohne dass die notwendigen personellen und strukturellen Voraussetzungen gegeben sind.
3.3.2 Mythen und Trugschlüsse rund um die evidenzbasierte Praxis Von Beginn an wurde die Idee der EbM/EbN von kritischen bis hin zu ablehnenden Einwänden begleitet. Die kritischen Stimmen kommen aus unterschiedlicher Richtung: von Vertretern der Versorgungspraxis und des Einrichtungsmanagements ebenso wie aus der Wissenschaft. Sie beziehen sich auf konzeptionelle Grundprinzipien der EbM/EbN, aber auch auf Fragen der Machbarkeit und mögliche Konsequenzen, sei es in sozialer, ethischer oder ökonomischer Hinsicht. So vielstimmig die Einwürfe sind, so wichtig ist eine genaue Betrachtung jedes einzelnen Kritikpunkts, denn letztlich können sich dahinter Hinweise auf vermeintliche oder tatsächliche Grenzen und Hürden bei der Realisierung einer Evidenzbasierten Praxis (EbP) verbergen. Nachfolgend werden einige zentrale Vorbehalte näher erörtert. Der Begriff der EbP wird dabei als gemeinsame Klammer für das evidenzbasierte pflegerische, ärztliche oder therapeutische Handeln im Versorgungsalltag verwendet. Vorbehalte, die die Umsetzung der EbP in der täglichen Versorgung betreffen, stehen im Vordergrund.
Vorbehalt 1: Die EbP konzentriert sich einseitig auf wissenschaftliche Erkenntnisse und lässt wichtige andere Wissensressourcen außer Acht. Mit Blick auf oben genannte Definition der EbP sollte es auf der Hand liegen, dass evidenzbasiertes Handeln im Versorgungsalltag weitaus mehr erfordert als die stupide Anwendung von Forschungsergebnissen. Dennoch findet sich in der Literatur immer wieder der Vorwurf, dass EbP andere, für die Entscheidung über die individuell angemessenen Pflege- oder Behandlungsstrategien ebenso wichtige Wissensquellen vernachlässige [Holmes et al. 2006, Madden 2012, Smith 1996]. Als vermeintlich überlegene Alternativen werden Modelle basierend auf Intuition und Reflexion indi-
3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)?
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vidueller klinischer Erfahrungen („reflective practice“) [Rolfe 2005] oder einer auf die Besonderheiten des Einzelfalls fokussierenden Praxis („cognition-based practice“) [Kiene 2005] ins Feld geführt. Über die Motive der verfälschenden Reduktion des Begriffs Evidenz auf die externe Evidenz soll an dieser Stelle nicht sinniert werden. Wichtiger scheint es zu sein, die wechselseitige Abhängigkeit, aber auch die Notwendigkeit beider Kategorien von Evidenz – der externen wie der internen Evidenz – in der täglichen Versorgung deutlich herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt der EbP steht die Frage nach der klinischen Entscheidung, das heißt: Was ist zu tun – oder auch zu unterlassen? Diese Frage stellt sich in der pflegerischen Versorgung genauso wie in der ärztlichen oder physiotherapeutischen Behandlung. Angenommen, bei einer neu in ein Pflegeheim gezogenen hochbetagten Frau mit stark beeinträchtigter Mobilität wird ein erhöhtes Sturzrisiko festgestellt. Aufgrund fortgeschrittener Arthrose in den Hüft- und Kniegelenken und allgemeiner körperlicher Schwäche hat die Frau in den vergangenen Monaten ihr Bett kaum mehr verlassen, ist aber in der Lage, mit Hilfe aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen. Die verantwortliche Pflegefachkraft steht nun vor der Aufgabe, passende sturzprophylaktische Maßnahmen auszuwählen. Hier nun sind – je nach Ausmaß der Evidenzbasierung – sehr unterschiedliche Szenarien denkbar. Szenario 1: Alle im Expertenstandard „Sturzprophylaxe in der Pflege“ [DNQP 2013] potenziell als hilfreich aufgeführten Maßnahmen werden ohne weitere Erörterung initiiert, unter anderem soll die Bewohnerin fortan an der regelmäßigen Bewegungsgruppe teilnehmen. Szenario 2: Die Pflegefachkraft informiert die Bewohnerin über das Sturzrisiko und sagt ihr, dass sie unbedingt geschlossene Hausschuhe anstelle der gewohnten Pantoffeln tragen müsse. Ihrer pflegerischen Erfahrung nach seien Pantoffeln eine der häufigsten Sturzursachen bei älteren Menschen. Die Bewohnerin möchte jedoch nicht auf ihre vertrauten Schuhe verzichten. Die Pflegende entgegnet, dass sie, die Bewohnerin, dann eben selbst die Verantwortung für etwaige Stürze trage. Szenario 3: Die Pflegefachkraft informiert die Bewohnerin über das Sturzrisiko und erläutert ihr, welche Gründe in ihrem Fall besonders zu dem Sturzrisiko beitragen, etwa die stark eingeschränkte Beweglichkeit, und was gegebenenfalls vorbeugend getan werden könnte (z.B. Physiotherapie und vermehrtes Aufstehen mit pflegerischer Hilfe, Anpassung des Schuhwerks). Hierbei weist sie sie auch darauf hin, dass nach aktuellen Forschungsergebnissen unklar sei, ob und wie sicher sich Stürze und ihre Folgen durch diese Maßnahmen tatsächlich verhindern ließen, und dass es bei der Bewegungsförderung darauf ankäme, das individuell passende Belastungsniveau zu finden und eine Überbeanspruchung zu vermeiden. Die Bewohnerin betont, dass sie sich in ihren gewohnten Pantoffeln sehr sicher fühle und keine anderen Schuhe tragen möchte – seit vielen Jahren nutze sie kein anderes Schuhwerk mehr. Gern wäre sie aber etwas beweglicher und selbständiger. Die Pflegefachkraft antwortet, dass sie ebenfalls den Eindruck habe, dass sich die Bewegungsfähigkeit von ihr, der Bewohnerin, noch etwas stabilisieren und vielleicht auch verbessern ließe – bei positiver Entwicklung könnte sie sogar noch etwas unabhängiger werden. Gemeinsam verstän-
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
digen sie sich darauf, dass die Bewohnerin künftig öfter am Tag mit Hilfe aufsteht und der Hausarzt um ein Rezept für Physiotherapie gebeten wird. Wenngleich alle drei Szenarien die Praxis mehr oder weniger vereinfachend nachzeichnen, sollte offensichtlich sein, dass weder die schematische Anwendung von Aussagen des Expertenstandards (oder einer Leitlinie) in Szenario 1 noch die rein von den subjektiven Theorien der Pflegefachkraft geleitete Handlungsmaxime in Szenario 2 dem gleichkommt, was unter EbP zu verstehen ist. Die einseitige Ausrichtung des pflegerischen Handelns nach der externen Evidenz im ersten Szenario ist aus zweierlei Gründen problematisch: Einerseits werden die den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Sturzprophylaxe innewohnenden Unsicherheiten [Balzer et al. 2012, Balzer et al. 2013a] vernachlässigt, andererseits wird nicht geklärt, inwieweit die genannten Maßnahmen aus der Sicht der betroffenen Bewohnerin überhaupt infrage kommen. Auch in Szenario 2 bleibt der bewohnerseitige Beitrag zur internen Evidenz unberücksichtigt. Die hier dominierenden individuellen Erfahrungen der Pflegefachkraft sind im hohen Maße verzerrungsanfällig, weil sie hauptsächlich an deren subjektive Wahrnehmungen und Bewertungen gebunden sind. Als alleinige Grundlage, ohne die Reflexion vor dem Hintergrund systematisch gesammelter und geprüfter Erfahrungen „unabhängiger Dritter“, also den Befunden aus der Forschung, erlauben sie keine profunde Einschätzung der Erfolgschancen der aufgezeigten Handlungsoptionen. Szenario 3 mag als idealistisch erscheinen, doch illustriert es den Kern der EbP. Erst die Verknüpfung der drei zentralen Handlungsgrundlagen – externe Evidenz, Erfahrungen und Überzeugungen der Pflegefachkraft sowie Erfahrungen, Gewohnheiten und Werte der Bewohnerin – macht es möglich, auf die Frage nach dem Tun und Unterlassen jene Antwort zu finden, die in dieser Situation vermutlich die größte Aussicht auf Erfolg hat. Klinische Handlungsentscheidungen beinhalten stets Vermutungen und Voraussagen über eine bis dato unbekannte Zukunft der betroffenen Person und stellen somit Entscheidungen unter Unsicherheit dar. In den beiden erstgenannten Szenarien wäre das Risiko relativ hoch, dass die ausgewählten Maßnahmen wirkungslos blieben, entweder wegen Akzeptanzproblemen aufseiten der Bewohnerin und/oder mangelnder prophylaktischer Effekte der Maßnahmen an sich. Auch ein erhöhtes Schadensrisiko (gegenüber Szenario 3) wäre nicht auszuschließen, etwa bei unzureichender individueller Anpassung des körperlichen Trainings (Szenario 1). Das Risiko solcher ungünstigen Handlungsfolgen so gering wie möglich zu halten und den nach Maßgabe des allgemeinen Wissensstandes und des individuellen Falls größtmöglich zu erwartenden Nutzen für das subjektive Wohl der adressierten Person zu erzielen, das ist die Leitidee der EbP, beispielhaft dargestellt in Szenario 3. EbP erfordert, bestehende Unsicherheiten im allgemein zugänglichen Fachwissen sowie im persönlichen, impliziten Wissen der handelnden Akteure anzuerkennen und in der individuellen Versorgungssituation soweit wie möglich und von der betroffenen Person gewünscht zu reduzieren. Dies kann weder ohne noch allein mit Bezug auf externe Evidenz gelingen.
3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)?
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Vorbehalt 2: EbP bedeutet Versorgung nach „Kochbuch“ und untergräbt die klinische Entscheidungsfreiheit bzw. die professionelle Autonomie oder Kunst. Dieses gerade von Vertretern der Versorgungspraxis oft geäußerte Argument ist eng verwandt mit dem ersten Vorbehalt. Doch im Unterschied zur einseitigen Auslegung von EbP als „Handeln basierend auf externer Evidenz“ stellt es nicht primär die konzeptionellen Prinzipien der EbP infrage, sondern kritisiert diese im Hinblick auf ihre möglichen Folgen, hier für das berufliche Selbstverständnis der professionellen Akteure. Danach stößt die EbP im Versorgungsalltag an drei zentrale Grenzen: Erstens sei sie kaum vereinbar mit dem Handeln der Pflegenden, Ärzte oder Therapeuten, das stets den Anforderungen der individuellen Patienten- oder Bewohnersituation verpflichtet ist. Daraus folgt zweitens, dass sie nicht konform gehe mit den Rechten und Pflichten dieser Berufe. Und drittens wird impliziert, dass es im Versorgungsalltag Wege der Entscheidungsfindung gebe, die einer EbP-geleiteten Entscheidungsfindung im Ergebnis überlegen sind. Dass erstere Grenze eine Scheingrenze darstellt und der proklamierte Widerspruch zwischen EbP und Einzelfallbezug einer definitionsgemäßen Auslegung der EbP nicht standhält, sollte die bisherige Diskussion bereits deutlich gemacht haben. EbP bedeutet geradezu das Gegenteil einer Medizin, Pflege oder Therapie nach „Kochbuch“. Denn ob und wie die externe Evidenz in einer individuellen Versorgungssituation zum Tragen kommt, hängt insbesondere von den Bedingungen des Einzelfalls ab, d.h. von den Bedürfnissen und gesundheitlichen Problemen der betroffenen Person sowie ihrer Wahrnehmung und Bewertung durch den professionellen Akteur [Sackett et al. 1996]. Letzterer ist es, dem die Verantwortung für die Herausbildung der internen Evidenz und die Ermöglichung einer evidenzbasierten Entscheidung obliegt – im Dialog mit der betroffenen Person und unter offener, kritischer Vergegenwärtigung der externen Evidenz [Behrens/Langer 2010]. Oder anders gesagt: „Die Evidenz trifft keine Entscheidungen …“ [Raspe 2007]. Dies gilt selbstverständlich auch für die Anwendung evidenzbasierter Empfehlungen aus Leitlinien oder Expertenstandards, die zwar das klinischen Handeln leiten sollten, jedoch keinesfalls einzelfallunabhängige Gültigkeit haben. Auch der zweite Aspekt lässt sich kaum halten. Die oben beschriebene Verantwortung der professionellen Akteure macht offensichtlich, dass diesen bei der Realisierung einer EbP eine zentrale Rolle zukommt. Ihr berufliches Können und Handeln bildet, zusammen mit den Sichtweisen und Erwartungen der Betroffenen, die „letzte Instanz“ in der Umsetzung der EbP in einer individuellen Behandlungssituation. Dieses Können schließt ein breites Spektrum an Kenntnissen, Fähigkeiten und auch Einstellungen ein. Kenntnisse der aktuellen externen Evidenzlage gehören hierzu genauso wie die individuellen klinischen Erfahrungen sowie die Fähigkeit und Bereitschaft, die oder den Betroffenen adäquat über Vor- und Nachteile zur Verfügung stehender Handlungsoptionen zu informieren, seine oder ihre Bedürfnisse und Präferenzen in Erfahrung zu bringen und gleichberechtigt in die Entscheidung einzubinden.
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Für den Bereich der Medizin ist an anderer Stelle bereits dokumentiert, dass das Gebot der EbP und die damit verbundenen Anforderungen an das ärztliche Können integrativer Bestandteil der Handlungsnormen dieser Berufsgruppe sind [Raspe 2007]. In Abbildung 3.1 ist beispielhaft für die Pflegeberufe dargestellt, inwieweit Inhalte des Ethikkodex des International Council of Nurses (ICN) bzw. der in drei Bundesländern bereits verfügbaren Berufsordnungen für Pflegefachkräfte4 Bezüge zur EbP aufweisen. Wie aus dieser Übersicht hervorgeht, besteht sowohl aus der beruflichen Binnen- (ICN 2012) als auch aus der Außenperspektive (Berufsordnungen) eine mehrfache Überschneidung zwischen den beruflichen Pflichten von Pflegefachkräften und den Anforderungen an ihr Können und Handeln gemäß der EbP. Bleibt schließlich drittens die in Zweifel stehende Überlegenheit der evidenzbasierten Entscheidungsfindung im Vergleich zu einer Versorgungspraxis, die weniger explizit Gebrauch macht von den Prinzipien der EbP. Nach den Prinzipien der EbP gilt auch für die EbP selbst, dass die Folgen ihrer Umsetzung für die Adressaten der Versorgungsprozesse systematisch zu überprüfen sind. Obgleich einzelne beweiskräftige Arbeiten zeigen, dass Veränderungen hin zu einer stärkeren Evidenzbasierung der Entscheidungsfindung im Versorgungsalltag nicht nur machbar sind, sondern auch die patienten- oder bewohnerrelevanten Ergebnisse verbessern können [z.B. van Gaal et al. 2011, Köpke et al. 2012], ist derzeit noch ein Manko an Evaluationen der verbreiteten EbP-Aktivitäten zu konstatieren. Dies gilt sowohl für Fort- und Weiterbildungsangebote in diesem Bereich [Meyer et al. 2013] als auch für Implementierungsinstrumente und -hilfen wie Leitlinien, Expertenstandards oder Patienteninformationen. Ein Grund für die bisher nur zögerlichen Evaluationsanstrengungen mögen die methodischen Herausforderungen (s. Vorbehalt 4) und der damit verbundene Bedarf an Forschungsressourcen sein. Dies entbindet jedoch nicht von der Pflicht, die EbP an ihren eigenen Anforderungen zu messen, d.h., ihre „Wirkungen und Nebenwirkungen“ zu kontrollieren.
4 Berufsordnung für Gesundheits- und Krankenpflegerinnen, Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger im Lande Bremen vom 01. Oktober 2004. Gesetzblatt der Freien Hansestadt Bremen (Brem.Gbl.) Nr. 53, 14.10.2004, S. 516–519 Berufsordnung für Gesundheits- und Krankenpflegerinnen, Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger sowie Altenpflegerinnen und Altenpfleger (Pflegefachkräfte-Berufsordnung) vom 29. September 2009. Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt (HmGVBl.) Nr. 43, 02.10.2009, 339–342 Berufsordnung für Pflegefachkräfte im Saarland vom 28. November 2007. Amtsblatt des Saarlandes (Amtsbl.), 13.12.2007, S. 2 466–2 469
3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)?
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Anforderungen an das pflegeberufliche Handeln laut EbP-Prinzipien (Auswahl)
Entwicklung, Erwerb und Integration des aktuell besten Fachwissens zum Nutzen und Schaden pflegerischer Interventionen
ICN Code of Ethics for Nurses (ICN 2012) (ausgewählte Inhalte)
- “The nurse carries personal responsibility and accountability ... for maintaining competence by continual learning.” - “The nurse ... ensures that use of technology and scientific advances are compatible with the safety, dignity and rights of people.” - “The nurse is active in developing a core of research-based professional knowledge that supports evidence-based practice.”
- “The nurse ensures that the individual receives accurate, sufficient and timely information in an culturally appropriate manner on which to base consent for care and related treatment.” - “The nurse ... ensures that use of technology and scientific advances are compatible with the safety, dignity and rights of people.”
Berufsordnungen für Pflegefachkräfte in Bremen (Brem. GBl. 14.10.2004, S. 516-519), Hamburg (HmGVBl. 2.10.2009, S. 339-342) und im Saarland (Amtsbl. 13.12.2007, S. 2466-2469)
- Entwicklung und Überprüfung der pflegerischen Handlungen auf der Basis anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse (Bremen, Saarland) - Verwendung geeigneter Einschätzungsverfahren und Behandlungsmethoden (Hamburg) - Evaluation, Sicherung und Entwicklung der Qualität der Pflege (Bremen, Saarland) - Eigenverantwortung für den Kompetenzerhalt, inklusive Aktualisierung der fachlichen Kompetenz im Hinblick auf wissenschaftliche Erkenntnisse, neue Verfahren und Methoden der evidenzbasierten Pflege (Hamburg)
- Respekt der Sebstständigkeit, der Würde und des Selbstbestimmungsrechts pflegebedürftiger Personen (Bremen, Hamburg, Saarland) - verständliche, angemessene und individualisierte Information pflegebedürftiger Personen über festgestellten Unterstützungsbedarf, notwendige pflegerische Maßnahmen inklusive alternativer Pflege- und Versorgungsformen (Bremen, Hamburg) - Ermöglichung der informierten Mitentscheidung und Mitwirkung durch die Betroffenen hinsichtlich pflegerischer Belange (Bremen, Saarland)
Ausgewählte Inhalte
Ermittlung und Integration der Bedürfnisse, Werte und Präferenzen der Betroffenen Evidenzbasierte Information der Betroffenen und gemeinsame Entscheidungsfindung
Abb. 3.1: Anforderungen an das pflegeberufliche Handeln und ihre Bezüge zur EbP [eigene Darstellung].
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Vorbehalt 3: EbP ist vor allem ein Instrument für die Kostenreduktion im Gesundheitswesen und ein Deckmantel für die Rationierung und Rationalisierung von Leistungen. Sie hemmt den Fortschritt in der Gesundheitsversorgung, indem sie den Zugang zu innovativen Therapien und Hilfsmitteln erschwert und ist aus diesen Gründen unethisch. Dieser Vorbehalt begründet sich auf Hinweisen, wonach Vertreter der Versorgungspraxis die Forderung nach evidenzbasiertem Handeln vor allem als Direktive „von oben“ wahrnehmen, verbunden mit der Sorge, dass die EbP vorrangig dazu diene, Kosten zu sparen [Raspe 2007]. Hierauf ist zu entgegnen, dass diese Wahrnehmung im Widerspruch zur Kernidee der EbP steht, die eben darauf ausgerichtet ist, Betroffenen jene Behandlung oder pflegerische Unterstützung zukommen zu lassen, die ihnen in ihrer individuellen Situation und unter den gegebenen Rahmenbedingungen den größtmöglichen Nutzen verspricht. Ebenso korrespondiert diese Wahrnehmung nicht mit der offensichtlichen Überschneidung der EbP-Prinzipien mit dem professionellen (Selbst-)Verständnis der Pflege oder der Medizin (s. Vorbehalt 2). Dass die EbP dennoch eher als ein von außen kommender, nicht dem eigenen Berufsbild entspringender Anspruch wahrgenommen wird, mag unter anderem daran liegen, dass ihre Kernideen in Deutschland zunächst stark über den Weg gesetzlich fixierter Anforderungen an die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechend dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) verbreitet wurden [Raspe 2007]. Auch im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) findet sich mehrfach die Forderung, dass die Leistungen der Pflegeversicherung „wirksam und wirtschaftlich“ zu erbringen seien (u.a. § 4 Abs. 3) bzw. dem „allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse“ (u.a. § 11 Abs. 1) zu entsprechen haben. Darüber hinaus fiel die Einführung des EbP-Begriffes in der (zunächst medizinischen) Fachöffentlichkeit in den 1990er Jahren zeitlich zusammen mit einer zunehmenden öffentlich-politischen Diskussion der vermeintlichen Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen, insbesondere unter Verwendung von Begriffen wie „Rationierung“ und „Rationalisierung“. Das Ziel einer evidenzbasierten Versorgung ist es nicht, Kosten zu sparen. Entscheidungen über die Kostenerstattung für eine Behandlung oder ein Hilfsmittel werden in der Regel auf übergeordneter administrativer Ebene getroffen, d.h. nicht bezogen auf den Einzelfall und nicht unmittelbar in einer Versorgungssituation. Sie fallen damit hauptsächlich in den Bereich der evidenzbasierten Gesundheitsversorgung auf der Systemebene („Evidence-based Health Care – EbHC). Eine Entscheidungshilfe hierbei sind sogenannte „Health Technology Assessments“ (HTA). Diese beinhalten die systematische Bewertung der klinischen und gesundheitsökonomischen Effekte sowie der ethischen, sozialen und juristischen Implikationen der infrage stehenden Intervention [Velasco et al. 2002]. Die gesundheitsökonomische Bewertung hängt dabei wesentlich von den ermittelten klinischen Effekten, also von den zu erwartenden positiven und ungünstigen Auswirkungen auf die patientenbzw. bewohnernahen Zielgrößen, ab. Das heißt, die Kosten spielen keine alleinent-
3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)?
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scheidende Rolle und sind nachrangig gegenüber den Effekten auf patienten- bzw. bewohnerrelevante Zielgrößen. In Deutschland werden HTA vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und dem Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) durchgeführt und/oder beauftragt. Die HTA des IQWiG dienen dem G-BA als Grundlage für Entscheidungen über die Kostenerstattung und Ausgestaltung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V). Das Leistungsangebot nach SGB XI unterliegt dagegen hauptsächlich den direkten Entscheidungen der Legislative sowie den Richtlinien und Empfehlungen des GKV-Spitzenverbands. Teilweise wurden und werden von diesen Institutionen Modell- oder Forschungsprojekte gefördert, deren Ergebnisse die Ausgestaltung oder weitere Entwicklung von Leistungen der Pflegeversicherung fördern sollen. Beispielhaft genannt seien vom Spitzenverband geförderte Projekte zur Weiterentwicklung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs [BMG 2009a, 2009b] oder zur Evaluation der neu etablierten Betreuungskräfte nach § 87b [GKV-Spitzenverband 2012]. Ohne hier näher auf die einzelnen Arbeiten eingehen zu können, lässt sich festhalten, dass die dort dargestellten empirischen Befunde auf keine Kostenersparnis hindeuten – sofern denn Kostenaspekte berücksichtigt wurden. Erfahrungen aus einem vom DIMDI beauftragten HTA zur Qualität der (fach-)ärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern zeigen, dass in Reaktion auf jüngere Reformen des SGB V (u.a. § 119b SGB V, §§ 140a-b SGB V) und des SGB XI (u.a. § 12 Abs. 2 SGB XI, § 92b SGB XI) von unterschiedlichsten Kosten- und Einrichtungsträgern Modellprojekte zur Erprobung neuer Versorgungsstrukturen initiiert wurden, ohne dass aussagekräftige Begleitevaluationen geplant und/oder berichtet wurden [Balzer et al. 2013b]. Eine empirisch belastbare Abschätzung der Folgen solcher Strukturanpassungen für die bewohnerrelevante Ergebnisqualität und für die Kosteneffektivität ist damit nicht möglich. Bedenken hinsichtlich einer einseitigen Generierung und Nutzung externer Evidenz zugunsten gesundheitsökonomischer Effekte scheinen somit insgesamt unberechtigt zu sein. Zu kritisieren ist vielmehr die in Teilen unzureichende Evidenzbasierung von Entscheidungen auf der Gesundheitssystemebene, d.h., die Investierung öffentlicher Mittel in Strukturanpassungen, deren patienten- bzw. bewohnerbezogene wie auch gesundheitsökonomische Effekte unklar sind und infolge unzureichender Evaluation vermutlich unklar bleiben. Dieses Manko widerspricht dem gesetzlich verankerten Wirksamkeits- und Wirtschaftlichkeitsgebot. Als ein weiteres Argument für die vermeintliche Kostenreduktion durch EbP bzw. EbHC wird mitunter die verzögerte oder vorerst ausgebliebene regelhafte Kostenerstattung für neu entwickelte Mittel und Verfahren angeführt. Nach diesen Sichtweisen dient EbP nicht nur als „Kosten-“, sondern auch als „Innovationsbremse“, die dazu führt, dass den Betroffenen vermeintlich hilfreiche Behandlungs- oder Unterstützungsangebote „vorenthalten“ werden [Madden 2012]. Gegenstand dieser Debatten sind meist Mittel oder Verfahren, deren (Zusatz-)Nutzen für die Betroffenen nicht ausreichend empirisch belegt ist. Wenngleich jede Nutzenbewertung, auch die nach
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den Maßstäben der EbP und EbHC, nicht frei von Werturteilen und folglich anfällig für (notwendige) Kritik ist, muss an dieser Stelle einmal mehr auf die Kernidee der EbP verwiesen werden. Der direkt nachgewiesene, adressatenrelevante Nutzen und die belegte Sicherheit einer Intervention stehen danach über indirekt abgeleiteten Nutzenerwartungen, etwa auf der Basis theoretischer Überlegungen oder Untersuchungen zu Surrogatparametern. Danach gilt eine vermeintliche Innovation erst dann als Fortschritt, wenn sie sehr wahrscheinlich zu einem für die Zielgruppe relevanten Zusatznutzen führt und ihr Schadensrisiko eine akzeptable Grenze nicht überschreitet [Raspe 2007]. Die Erfahrung, dass vermeintlich innovative oder segensreiche Mittel und Methoden in der Praxis nicht immer hauptsächlich Gutes tun, ist eine der „Ur-Triebkräfte“ der EbP [Köbberling 2007]. Im Bereich der Pflege stellen die als eher schädigend enttarnte Praxis des Eisens und Föhnens [Behrens/Langer 2010] oder die wegen unzureichender Nutzenbelege nicht mehr empfohlene Anwendung von Dekubitusrisikoskalen [Balzer/Kottner 2011] typische Beispiele für eine potenziell gefährliche oder zumindest ineffektive Pflege infolge unzureichender Berücksichtigung der zu erwartenden Effekte auf die Gesundheit der Pflegebedürftigen dar. Daneben gibt es mehrere Beispiele für – auch pflegerelevante – Mittel und Behandlungsverfahren, bei denen nach wie vor eine Kluft zwischen verfügbaren direkten Nutzenbelegen und den von Herstellern, Vertreibern und Anwendern angenommenen positiven Effekten besteht. Dies betrifft vor allem Hilfsmittel, da für diese bisher im Unterschied zu Arzneimitteln Nachweise der klinischen Effektivität und Sicherheit nicht verpflichtend sind. Beispielhaft genannt seien Mittel der Wundversorgung [Madden 2012]. Aber auch für etliche pflegerische, vielerorts mit Verve, Engagement und beträchtlichen Ressourcen eingeführte Interventionskonzepte, wie z.B. Kinästhetik oder Basale Stimulation, mangelt es noch an robusten Belegen dafür, dass sie die intendierten Wirkungen zeigen. Verringern lässt sich diese Kluft zwischen Erwartungen und messbarer Wirklichkeit nur durch aussagekräftige Studien, die glaubwürdige Belege für den Nutzen auf patienten- oder bewohnerrelevante Zielgrößen liefern. In der Gesamtschau ergeben sich bei der Betrachtung der Kosten- und Fortschrittsdebatte durch die „EbP-Linse“ keine Anhaltspunkte für Verletzungen ethischer Grundprinzipien. Im Gegenteil, die theoretischen Kernideen der EbP und EbHC sowie die auf dieser Grundlage entwickelten Instrumente, wie z.B. HTA, evidenzbasierte Leitlinien oder Patienteninformationen, sind gerade darauf ausgerichtet, ethisch problematische Versorgungssituationen, etwa durch (vorzeitige) Anwendung unzureichend wirksamer Interventionen oder durch Ungleichheiten in verfügbaren Versorgungsangeboten, zu vermeiden [Muir-Gray 2006]. Dass sich ihre Maximen nicht ohne Konflikte und Aushandlungsprozesse umsetzen lassen und dabei auch der Gefahr der Fehlinterpretationen [Raspe 2007] unterliegen, ist weder überraschend noch zu unterschätzen. Allerdings ist es ungerechtfertigt, die EbP wegen dieser Herausforderungen – mit der sich schließlich jede Theorie für das professionelle (ergo: menschliche) Handeln konfrontiert sieht – als „unethisch“ zu titulieren und von ihren Zielen abzulassen.
3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)?
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Vorbehalt 4: Im Hinblick auf die externe Evidenz zählen für die EbP vorrangig die Ergebnisse randomisiert-kontrollierter Studien (RCT). Solcherart Studien sind für nichtmedikamentöse Interventionen wie zum Beispiel pflegerische Maßnahmen kaum durchführbar, da diese viel zu komplex sind, um experimentell untersucht werden zu können. Damit fehlt eine wichtige Voraussetzung, um beispielsweise in der Pflege evidenzbasiert arbeiten zu können. Dieser traditionell stark der Pflege verbundene [z.B. Holmes 2006, Moers et al. 2011], aber auch in der Medizin anzutreffende [z.B. Malterud 2001, von Wichert 2005] Vorbehalt beruht auf Auffassungen und Auslegungen, die nicht dem aktuellen Selbstverständnis der EbP entsprechen. Die erste Fehlwahrnehmung bezieht sich auf die Rolle der RCT. Richtig ist, dass diese Art von Studien bzw. die Synthese von mehreren RCT in Form systematischer Übersichtsarbeiten nach den Maßstäben der klinischen Epidemiologie am besten geeignet sind, valide und statistisch sichere Erkenntnisse über den wahrscheinlichen Nutzen und Schaden einer Intervention hervorzubringen [Meyer 2009]. Es sind jedoch mehrere Einschränkungen zu berücksichtigen. Erstens ist ein RCT nicht per se beweiskräftig. Verzerrungsrisiken in jedem Schritt der Studiendurchführung können die Beweiskraft dieses Studientyps genauso unterminieren wie eine zu geringe Stichprobengröße, unzureichende klinische Relevanz der untersuchten Zielgröße oder eine unklare theoretische Plausibilität oder Umsetzung der untersuchten Interventionen [CRD 2009]. Das heißt zweitens, dass RCT zwar prinzipiell eine sehr verlässliche Erkenntnisquelle für die Beantwortung der Frage nach dem Nutzen darstellen, aber nicht in jedem Fall alternativlos sind. Liegen keine oder nur sehr wenige RCT vor oder sind diese aufgrund bestimmter Bedingungen (z.B. Maßnahmen bereits in der Routineversorgung eingeführt oder Zielgrößen mit sehr geringen Ereignisraten) nicht durchführbar, sind alternative Evaluationsansätze in Betracht zu ziehen. Infrage kommen unter anderem Daten aus kontrollierten Vergleichen ohne Randomisierung [Reeves et al. 2011], Beobachtungs- und Registerstudien [Balshem et al. 2011, Rawlins 2008] oder die Verknüpfung von Daten aus verschiedenen Studientypen mittels sogenannter „evidence linkages“ [Sawaya et al. 2007, Schünemann et al. 2012]. Letzterer Ansatz scheint beispielsweise nach derzeitigem Methodenrepertoire am ehesten verlässliche Schätzungen darüber zu erlauben, inwieweit bestimmte Formen der Dekubitusrisikoeinschätzung die Dekubitusinzidenz beeinflussen können [Balzer et al. 2013c]. Drittens ist zu berücksichtigen, dass das RCT oder äquivalente Evaluationsansätze nur einen – wenngleich essenziellen – Teil der Frage nach dem zu erwartenden Nutzen und Schaden beantwortet. Für die Gesamtbewertung der vorliegenden externen Evidenz, etwa im Rahmen der Erstellung evidenzbasierter Leitlinien nach den Kriterien der GRADE Working Group (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation), sind valide Informationen zu weiteren Teilaspekten vonnöten. Hierzu gehören beispielsweise Daten zu den Präferenzen der Betroffenen und zur Akzeptanz einer Intervention oder zum Ressourcenverbrauch [Andrews et al. 2013]. Diese Informationen lassen sich nicht ausschließlich auf dem Wege eines RCT generieren, sondern erfordern andere Studientypen, darun-
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
ter auch qualitative Studien oder Surveys. Nicht irgendeine metaphysische Präferenz für einen bestimmten Studientyp ist also Maßstab für die Auswahl und die Bewertung eines Studientyps, sondern das deklarierte Erkenntnisinteresse. Die zweite Fehlwahrnehmung stellt grundsätzlich die Durchführbarkeit eines RCT zur Evaluation komplexer Interventionen, wie sie z.B. pflegerische Maßnahmen typischerweise darstellen, infrage. Hierauf ist ebenso prinzipiell zu entgegen, dass der Grad der Komplexität einer Intervention nicht entscheidend dafür ist, ob sich ein RCT durchführen lässt oder nicht. Die wesentlichen Merkmale (und Stärken) dieses experimentellen Evaluationsansatzes, d.h. die zufallsgestützte Zuordnung zu den Studienarmen (Randomisierung) und der Vergleich mit einer Kontrollintervention, bleiben von der Komplexität der zu untersuchenden Intervention unberührt. Die Herausforderungen betreffen vor allem die Entwicklung, Planung und Pilotierung und schließlich die Umsetzung der Interventionen vor dem bzw. während des RCT. Komplexe Interventionen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie aus mehreren potenziell wirksamen Elementen bestehen, die überdies meist miteinander und/oder mit diversen Kontextfaktoren interagieren [Craig et al. 2008]. Typische Beispiele dafür sind Informations-, Beratungs- oder Schulungsinterventionen, die Implementierung von Leitlinien oder auch Anpassungen auf der Strukturebene wie z.B. die Etablierung von Pflegenden mit erweiterten Kompetenzen. Sollen die Ergebnisse von RCT zu solchen Interventionen beweiskräftig sein, d.h. möglichst sichere Rückschlüsse auf die Wirksamkeit erlauben, sind valide Informationen zu den theoretischen Grundlagen der Interventionskomponenten und ihres Zusammenspiels, zur Umsetzung und zu möglichen Einflussfaktoren erforderlich. Dies verlangt einen mehrstufigen Forschungsprozess, bei dem das RCT eine Teilstudie neben vorbereitenden Übersichtsarbeiten und Untersuchungen zu Akzeptanz und Machbarkeit, begleitenden Prozessevaluationen und, je nach Ergebnissen, weiterführenden Studien zu langfristigen Implementierungsstrategien darstellt. Methodische Rahmenmodelle für die Planung, Durchführung und Berichterstattung solcher Forschungsvorhaben sind verfügbar [Craig et al. 2008, Möhler et al. 2012] und sollten die künftige Entwicklung und Evaluation von pflegerischen oder anderen nicht-pharmakologischen Interventionen im Gesundheitswesen leiten. Die dritte Fehlwahrnehmung beinhaltet gleich mehrere mit den Prinzipien der EbP unvereinbare Interpretationen. Weder ist, wie oben dargestellt, die externe Evidenz ausschließlich an das Vorhandensein von RCT gebunden, noch ist evidenzbasiertes Handeln nur dann möglich, wenn beweiskräftige Nutzenbelege vorliegen. Evidenzbasiert zu handeln, heißt, Unsicherheiten laut aktuell besten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kennen, anzuerkennen, dem Gegenüber in einer individuellen Versorgungssituation transparent zu machen und bei der (gemeinsamen) Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Unsicherheiten hinsichtlich der Wirksamkeitsbelege können selbst dann bestehen, wenn eine große Anzahl an RCT vorliegt, diese aber ein uneinheitliches Ergebnisbild, unklare oder ernste Verzerrungsrisiken und/ oder andere methodische Unsicherheiten aufweisen [Balshem et al. 2011, CRD 2009].
3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)?
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Die Studienlage zu den Effekten motorischen Trainings auf das Sturzrisiko älterer Menschen ist ein eindrückliches Beispiel hierfür [Balzer et al. 2012, Balzer et al. 2013a]. Obwohl für einzelne Teilpopulationen, wie z.B. Senioren in der eigenen Häuslichkeit, inzwischen über 30 RCT zu diesem Thema vorliegen, sind klare Schlussfolgerungen kaum möglich. Zu groß sind die Unterschiede zwischen den Studien hinsichtlich des Gesundheitszustands der beteiligten Senioren, der Form, Intensität und Dauer des evaluierten Trainings und sonstiger Studienbedingungen. Hinzu kommen oft methodische Schwächen der einzelnen Studien [Balzer et al. 2012, Balzer et al. 2013a]. Umgekehrt bedeutet das Fehlen von RCT oder ein Mangel an beweiskräftigen Belegen aus wenigen und/oder methodisch unzulänglichen RCT nicht, dass damit eine potenzielle Wirksamkeit widerlegt ist und entsprechende Interventionen gänzlich ignoriert werden können. So wird es, um beim Beispiel der Sturzprophylaxe zu bleiben, der pflegefachliche Sachverstand auch trotz fehlender RCT erfordern, bei sturzgefährdeten älteren Menschen auf potenziell gefahrenträchtiges Schuhwerk zu achten und nichtdirektiv die jeweils individuell beste Lösung auszuloten, unter Anerkennung und Offenlegung bestehender Unsicherheiten hinsichtlich zu erwartender Effekte. Ebenso ist es plausibel, die Überprüfung und Anpassung der Medikation bei sturzgefährdeten älteren Menschen zu empfehlen [Panel on Prevention of Falls in Older Persons et al. 2011], wenngleich sich die Erkenntnisse zur Wirksamkeit nur auf wenige, methodisch unsichere RCT und hauptsächlich auf die nachgewiesene Risikoerhöhung in Verbindung mit bestimmten (psychotropen) Medikamenten, also auf indirekte Belege, stützen. Diese Beispiele zeigen, dass RCT weder notwendig noch hinreichend für die Realisierung einer EbP sind. Sie sind erstrebenswert zur Limitierung der Unsicherheiten im Bereich des allgemeinen Fachwissens – dies umso mehr, da davon ausgegangen wird, dass die Qualität dieser externen Evidenz mitbestimmt, in welchem Maße Pflegende, Ärzte und andere an der Versorgung beteiligte Berufsgruppen tatsächlich evidenzbasiert handeln [Rycroft-Malone et al. 2013].
Vorbehalt 5: Eine EbP ist im Alltag der Versorgungspraxis, die oft rasche Entscheidungen erfordert und diversen Einflüssen unterliegt, meist nicht realisierbar. Zahlreiche kaum zu überwindende Barrieren verhindern die erfolgreiche Implementierung von Evidenz in die Praxis. Auch der Vorbehalt, dass eine dynamische klinische Praxis keine Zeit für eine vermeintlich aufwändige EbP zulässt, basiert grundsätzlich auf einer Fehlinterpretation von EbP und deren eigentlicher Motivation, nämlich der Lösung klinischer Probleme, mit denen Pflegende und andere an der Versorgung Beteiligte in der Praxis konfrontiert werden. Anders als bei der EbHC geht es also darum, klinische Fragestellungen, die sich aus der Interaktion mit den Patienten bzw. Bewohnern ergeben, zu beantworten und diese als Grundlage für gemeinsame Entscheidungsprozesse heranzuziehen. Selbstverständlich gibt es Entscheidungen, die keinen Aufschub erlauben und
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daher eventuell vorerst weniger auf Grundlage externer Evidenz denn auf Grundlage interner Evidenz von den Betroffenen und professionellen Akteuren getroffen werden müssen, unter Berücksichtigung der gegebenen Rahmenbedingungen. Dies widerspricht keineswegs den Prinzipien der EbP. Zu fordern ist selbstverständlich, dass sobald wie möglich die beste verfügbare externe Evidenz einbezogen wird. Eine historische Anekdote ist hierbei die Idee eines „Evidence Carts“, also eines „EvidenzVisitenwagens“ von Sackett und Straus [1998]. Dieser sollte Ärzten ermöglichen, die klinischen Fragestellungen, die sich während der Visite ergeben, mithilfe einer Onlinerecherche in den wichtigsten medizinischen Datenbanken zu beantworten. Ein, zumal in Deutschland, natürlich nicht zu realisierender Feldversuch. Sackett und Kollegen haben jedoch bereits in einem frühen Artikel zur EbM dargestellt, dass selbst im hektischen klinischen Alltag eine gezielte Suche und Bewertung der relevanten externen Evidenz und damit eine EbP möglich ist [Sackett et al. 1996]. Auch wenn sich seither die zur Verfügung stehende Evidenz potenziert hat, so stehen Pflegenden, Ärzten und Therapeuten neben Leitlinien doch zunehmend hochwertige Evidenzsynthesen, z.B. in Form von Cochrane-Reviews oder HTA-Berichten, zur Verfügung. Natürlich mangelt es nicht an Barrieren bei der Einführung einer EbP. In den letzten Jahren wurde hierzu eine Reihe von Übersichtsarbeiten publiziert, die diese Problematik aus dem Blickwinkel unterschiedlicher klinischer Disziplinen beleuchten. Für den Bereich der Pflege haben beispielsweise Solomons und Spross [2011] wichtige Barrieren in einer Übersichtsarbeit dargestellt. Die Autoren identifizieren hierbei vier Arten von Barrieren der Einführung einer EbP, die wir andernorts ausführlicher erörtert haben [Meyer/Köpke 2012]: 1) Strategische Barrieren beinhalten den häufig beklagten Zeitmangel sowie eine fehlende Infrastruktur zur Realisierung einer EbP. 2) Kulturelle Barrieren beschreiben die mangelnde Bereitschaft oder Autorität von Entscheidungsträgern zur Einführung einer EbP. Hierzu gehören unter anderem die fehlende Wertschätzung für die Wissenschaft und das Gefühl, wissenschaftliche Ergebnisse seien ohne Relevanz für die Praxis. Diese Barrieren sind für die Pflegepraxis auch in Erhebungen aus dem deutschsprachigen Raum gezeigt worden [Breimaier et al. 2011]. 3) Technische Barrieren beschreiben vor allem die fehlende Expertise im Umgang mit medizinischen Datenbanken. Diese Erschwernis kommt hierzulande durch die Sprachbarriere gegenüber den englischsprachigen Datenbanken sicher noch stärker zum Tragen. 4) Strukturelle Barrieren beschreiben z.B. fehlende Zugangsmöglichkeiten zu Quellen externer Evidenz [Solomons/Spross 2011]. Prinzipiell ist zu erwarten, dass die dargestellten Barrieren hierzulande angesichts fehlender Wissenschaftsbasierung in der Pflegeausbildung und -praxis besonders ausgeprägt sind. Ein kürzlich durchgeführter eigener Survey unter Pflegenden zeigt zwar eine durchaus positive Einstellung gegenüber einer EbP, verdeutlich jedoch in
3.3 Was ist Evidenzbasierte Pflege(-praxis)?
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besonderem Maße die hier dargestellten Barrieren [Köpke et al. 2013]. So stellt sich vor allem der fehlende Zugang zu externer Evidenz als Barriere einer EbP dar. Während Forschungsergebnisse mehrheitlich als wichtige Grundlage der Pflegepraxis anerkannt werden, mangelt es an Zugriffsmöglichkeiten bzw. dem Wissen um verfügbare Zugangswege. Nur wenige Befragte beschreiben wissenschaftliche Literatur als aktuelle Grundlage ihrer Praxis. An diesen Barrieren gilt es anzusetzen, will man eine EbP gewährleisten. Ausgehend von den identifizierten Barrieren schlagen Solomons/Spross [2011] in ihrer Übersichtsarbeit mehrere Maßnahmen zur Einführung einer EbP vor (s. Tab. 3.1). Diese Empfehlungen basieren jedoch nicht auf hochwertigen Studien. Ein aktuelles Cochrane-Review zur Wirksamkeit von infrastrukturellen Maßnahmen im Pflegebereich [Flodgren et al. 2012] identifizierte z.B. nur eine kleine Studie geringer Qualität. Insofern lässt sich oben genannter Vorbehalt derzeit nicht eindeutig zurückzuweisen. Jedoch bedeutet dies nicht, dass sich angesichts bestehender Barrieren Anstrengungen zur Ermöglichung einer EbP erübrigen. Im Gegenteil, vermehrte Anstrengungen, begleitet von hochwertigen Studien, sind vonnöten, um Strategien zur Überwindung bestehender Barrieren zu entwickeln und zu evaluieren. Tab. 3.1: Strategien zur Überwindung von Barrieren der Implementierung einer EbP [Solomons/ Spross 2011 nach Meyer/Köpke 2012]. Barriere
Lösungsvorschlag
Strategisch
Integration von EbP-„Philosophie“ und -Kompetenzen in die Arbeitsplatzbeschreibung und Beschreibung von Aufstiegsangeboten Einräumen von zeitlichen Ressourcen in den täglichen Arbeitsauflauf zur Lektüre und Entwicklung von Konzepten für einen Praxiswandel EbP-Training
Kulturell
EbP-Experten („Champions“) zur Kultivierung eines Interesses an EbP Jährliches wissenschaftliches Symposium
Technisch
Training in den Schritten der EbP in verschiedenen zeitlichen Formaten und Sozialformen (Gruppentraining, individuelles Training, Manuale zur Selbstaneignung) Enger Kontakt zu Bibliothekaren
Strukturell
Journal Club Wissenschaftliche Workshops Konsultation von Pflegewissenschaftlern, engerer Kontakt zur Pflegewissenschaft
EbP = Evidenzorientierte Praxis
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Vorbehalt 6: Patienten bzw. Bewohner leiden besonders unter einer EbP, da ihre Wahlmöglichkeiten eingeschränkt sind und ihnen nur noch wenige „evidenzbasierte“ Optionen zur Verfügung stehen. Immer wieder sorgen spektakuläre Protestaktionen von Patientenorganisation für Aufsehen. So forderte z.B. im Jahr 2006 der Deutsche Diabetikerbund trotz einer negativen Bewertung durch das IQWiG die Bereitstellung sogenannter Insulinanaloga, mit dem Argument, der Bericht des IQWiG blende die Versorgungsrealität aus und konzentriere sich ausschließlich auf „medizinische Evidenz“ [Graetzel 2006]. Der Blick auf die vermeintliche „Versorgungsrealität“ erfolgte hier jedoch wohl durch eine stark Industriegefärbte Brille. Dennoch gelang es mit dem Argument, den Patienten würde etwas vorenthalten, eine große Menge an Betroffenen zu mobilisieren. Angesichts der vorliegenden Evidenz zum nicht vorhandenen Nutzen der Insulinanaloga im Vergleich zu herkömmlichen Insulinen titelte die Süddeutsche Zeitung in einem Bericht prägnant „Demonstration der Diabetiker – Zuckerkranke fordern teures Insulin ohne Zusatznutzen“ [Graetzel 2006]. Ein weiteres Beispiel liefert der Fall der britischen Ärztin Jane Keidan, die in England eine Kampagne zur Finanzierung des Brustkrebsmedikaments Herceptin anführte, da in den Medien für die Herceptin-Behandlung eine Halbierung der Rezidivrate berichtet wurde. Als sie selber als Betroffene vor der Entscheidung stand, das Medikament zu nehmen, entschied sie sich dagegen. Keidan war inzwischen auf der Basis neutraler Informationen bewusst geworden, dass nach Studienlage nur bei fünf von 100 Frauen ein Rezidiv verhindert werden kann, jedoch bei ebenso vielen behandelten Frauen mit schweren Herzschäden zu rechnen ist [Mühlhauser et al. 2010]. Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass viele der vermeintlichen Behandlungsoptionen Scheinoptionen sind, hinter denen häufig bestimmte Interessen, z.B. der pharmazeutischen Industrie, stehen. Es besteht hier stets die Gefahr, dass sich Patienten(verbände) auf Grundlage verzerrt dargestellter Informationen und aus Mangel an Wissen instrumentalisieren lassen. Eine EbP mag für den Patienten bzw. Bewohner und für die Praktiker vielleicht bedeuten, dass weniger Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen, darunter sollten jedoch idealtypisch keine Optionen sein, für die ein Nutzennachweis fehlt. Der Einbezug von Patienten und Bewohnern ist ein zentraler Aspekt einer EbP. Echte Partizipation kann jedoch nur gelingen, wenn den Patienten und Bewohnern relevante, unverzerrte und verständliche Informationen zur Verfügung stehen [ICN 2008]. Dies gilt natürlich gleichermaßen für die professionellen Akteure, die ebenso häufig Fehlinformationen und Täuschungen unterliegen. Kriterien für eine sogenannte evidenzbasierte Patienteninformation (EbPI) wurden kürzlich auch hierzulande publiziert [Klemperer et al. 2010] und inzwischen liegen für viele Erkrankungen evidenzbasierte Informationen und Entscheidungshilfen vor. Es steht außer Frage, dass Patienten und Bewohner ein Recht darauf haben, informierte Entscheidungen auf der Basis der besten verfügbaren Evidenz zu treffen. Dem wurde kürzlich auch gesetzgeberisch mit dem „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz)“ Rechnung getragen, wenngleich hier noch wichtige Aspekte einer EbPI fehlen [DNEbM 2013a].
3.4 Evidence-based Nursing
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3.3.3 Schlussfolgerungen Zusammenfassend bedeutet eine EbP also keineswegs eine Einschränkung der Patienten- und Bewohnerrechte, sondern einen verstärkten Einbezug dieser in Entscheidungen zu pflegerischen und medizinischen Maßnahmen und somit eine Stärkung ihrer Position. Dementsprechend heißt es auch im „Vision und Mission Statement“ des DNEbM [2013b]: „Alle Patientinnen und Patienten, Bürgerinnen und Bürger erhalten eine gesundheitliche Versorgung, die auf bester Evidenz und informierten Entscheidungen beruht … Wir setzen uns ein für die informierte und partizipative Entscheidungsfindung, damit Bürgerinnen und Bürger sowie Patientinnen und Patienten sich entsprechend ihrer Präferenzen für oder gegen präventive, diagnostische und therapeutische Maßnahmen entscheiden können.“ EbP ist emanzipatorisch, denn sie emanzipiert Pflegende, Ärzte und Therapeuten sowie Patienten bzw. Bewohner und ermöglicht beiden Seiten, in eine Beziehung zu treten, die nicht durch ausgeprägte Hierarchie und Abhängigkeit geprägt ist.
3.4 Evidence-based Nursing – zur ethischen Bedeutung personenbezogener Pflegeforschung für die Pflegepraxis Johann Behrens und Gero Langer 3.4.1 Einleitung „Evidence-based Nursing“ ist das Etikett der neueren Versorgungsforschung (health service research), unter dem eine alte Doppel-Frage der Pflegeprofession aktuell erörtert wird: Wieweit kann ich unter Handlungsdruck bei pflegerischen Entscheidungen, Management-Entscheidungen oder edukativen Entscheidungen auf „geprüfte“ Erfahrungen Dritter (= „externe Evidence“) bauen? Und wieweit muss ich es, bin also ethisch gegenüber den Pflegebedürftigen verpflichtet, das beste verfügbare Wissen zu finden und mit meinen einzigartigen Klienten daraus interne Evidence in der individuellen Begegnung aufzubauen? Die erste Frage führt zur skeptischen Erkenntnis der Grenzen, aber auch der Nützlichkeit der wissenschaftlich kontrollierten Erfahrungen Dritter. Die zweite Frage führt zur Reflexion des Arbeitsbündnisses mit Klienten, wie es für Professionen typisch ist. „Evidence-based Nursing“ ist also keine spezielle Forschungsmethode, sondern bezeichnet ein Ethos professionellen Handelns in der Begegnung mit individuellen Klienten. Dabei verdankt sich schon das Etikett „Evidence-based Nursing“ der tiefen Skepsis gegenüber „Eminence based Nursing“. „Eminence based Nursing“ wäre die Art von Pflege-Wissenschaft, die Professoren/innen – und andere eminent wichtige Persönlichkeiten – unprüfbar von ihren Lehrstühlen und Chefsesseln herab in Lehrbüchern und Vorschriften verkünden. „Evidence-based“ ist dagegen der Beleg, den jede
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Pflegeschülerin, jede Pflegebedürftige selber nachprüfen kann. Nicht der Lehrstuhl, nicht die hierarchische Position macht die Wahrheit, sondern die zwischenmenschliche Nachprüfbarkeit des Belegs durch jedermann und jedefrau5. Diese Vorstellung hat bekanntlich vor 500 Jahren Melanchthon an der Universität Wittenberg vertreten und aus einem Liebesgedicht von Horaz „sapere aude“ zitiert, „trau Dich zu wissen“: Prüfe selber nach. Du musst Dich nicht auf die Eminenz des Priesters verlassen. Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen. Technisch erleichtert wurde dieses „sapere aude“ durch den Buchdruck, der Bibeln anscheinend fast überall einsehbar machte. Und heute ist Evidence-based Nursing (EbN) nicht ohne das Internet vorstellbar, das scheinbar alle Behauptungen der Welt überall abrufbar macht – und damit nach Techniken der Nachprüfung und der Auswahl verlangt. Fragestellungen, Methoden und Antworten des Evidence-based Nursing sind weit älter als der Begriff „Evidence-based Nursing“, der erst seit längstens 25 Jahren als grundlegendes Konzept der Versorgung forciert durch antiautoritäre kanadische und britische Pflege-Studenten/innen Verbreitung fand. Die inhaltlichen Argumente wurden in Deutschland und in den angelsächsischen Ländern viel früher entfaltet. Der Hallesche Philosoph, Theologe und Pädagoge Schleiermacher hat für die Pädagogik schon fast alle Elemente entwickelt, die wir heute als charakteristisch für EbN ansehen. Ein Handlung (z.B. der schulische Unterricht) ist nur zu rechtfertigen, wenn die Mehrzahl der „Behandelten“ mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in den Genuss der Früchte ihrer Lernmühen kommt (Schleiermacher gab noch zu, dass Schule nicht nur Freude, sondern auch Mühe, Zeitaufwand und Qual ist). In diesem Argument Schleiermachers ist auch schon das Denken in numbers needed to treat vorgebildet. Denn die statistisch-probabilistische Frage nach der „number needed to treat“ – die Zahl derer, die sich einer Be-Handlung unterziehen müssen, damit ein einziger von ihr Nutzen hat – hat bereits Schleiermacher als ethisch äußerst relevant eingeführt: Da empirisch zu viele Kinder sich der Schule unterziehen müssten, ohne selber den Nutzen davon zu tragen, hielt Schleiermacher eine Schulpflicht für ethisch nicht zu
5 Aus diesem Grunde verwenden wir auch den englischen Begriff evidence und nicht den deutschen Begriff „Evidenz“. Beide Begriffe bezeichnen oftmals fast Entgegengesetztes. Das deutsche Wort Evidenz ist sehr von Evidenzerlebnissen geprägt. Als evident erlebe ich, was mir so klar vor Augen liegt, dass ich keiner weiteren Untersuchung, keines Beweises mehr bedarf. Evidenzerlebnisse kann ich ganz für mich allein haben, sie müssen nicht intersubjektiv überprüfbar sein, um für mich evident zu sein. Evidence hingegen bedarf des intersubjektiv überprüfbaren und überprüften Belegs oder Beweises. Das Leben bietet uns glücklicherweise beides: Evidenzerlebnisse und Evidence. Man sollte sie nicht verwechseln. Das Wort Evidence muss auch nicht ins Deutsche übersetzt werden. Denn wir sind es gewohnt, englische Worte neben deutschen zu verwenden und sie nicht zu verwechseln. So gerate ich als gebürtiger Hamburger nicht in Todesangst, wenn ein Kollege sagt oder schreibt, er wolle jetzt einen Hamburger essen gehen. Nicht einmal, wenn er das Wort Hamburger nicht kursiv schreibt, gerate ich in Todesangst.
3.4 Evidence-based Nursing
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rechtfertigen. Bei einer number needed to treat größer als 1 ist es ethisch umso wichtiger, dass sich der pädagogisch, therapeutisch oder pflegerisch Be-Handelte selbstbestimmt für die Maßnahme entscheidet. Die folgenden Abschnitte 3.4.2 und 3.4.3 haben die Aufgabe einer ersten lebensweltlichen Einführung in das Verhältnis von interner und externer Evidence. Die Abschnitte 3.4.4 und 3.4.5 führen dann historisch ein in die Änderungen in unserem Verständnis von interner Evidence und in die kurze Geschichte unseres Verständnisses von Organisationen als Interventionen.
3.4.2 Kontemplative oder Handlungswissenschaften?: Der Grund legende Ansatz der Pflegewissenschaft Für das Verständnis der vielleicht wichtigsten Errungenschaft in der jüngsten Geschichte von Evidence-based Nursing, nämlich die Unterscheidung zwischen externer und interner Evidence, ist eine sehr alte wissenschaftstheoretische Debatte unverzichtbar. Sie kann hier nur kurz umrissen werden. Die Wissenschaftlichkeit der Pflegewissenschaft ist wie die der Medizin seit langem und bis heute umstritten. Als Aristoteles in der Nikomachischen Ethik versucht, sich zu versichern, was Wissenschaft überhaupt sei, beginnt er abgrenzend bei dem, was für ihn ganz offenbar keine Wissenschaft ist: der Medizin. Warum ist Medizin keine Wissenschaft? Nicht etwa deshalb, weil – wie heute oft rezipiert wird – bei dem damaligen Stand der Gesundheitswissenschaften Heilkundige für Aristoteles erfolglose Scharlatane sind. Aristoteles geht im Gegenteil von zahlreichen Heilerfolgen der heilkundigen Berufe aus. Die Medizin ist für Aristoteles vielmehr deswegen keine Wissenschaft, weil sie sich nicht um das Allgemeine, sondern um individuelle Entscheidungen im Einzelfall individueller Personen (Patienten und Nutzer von Vorsorge-Empfehlungen) kümmert. Als Wissenschaft gelten für Aristoteles und viele seiner Nachfolger dagegen nur kontemplative Wissenschaften (wie heute Biologie und Soziologie), die nicht den Einzelfall, sondern das Allgemeine anzielen. Die aristotelische Auffassung von Wissenschaft schlägt sich noch zweieinhalb Jahrtausende später in der Selbstreflexion der Medizin nieder, wenn der berühmte Internist Gross mit dem Methodiker Löffler in ihrem Standardwerk „Prinzipien der Medizin“ folgenden „Merksatz“ feststellen [Gross/Löffler 1997]: „In der Medizin sind Wissenschaft, Kunst und Handwerk untrennbar verbunden. Wenn auch die Forschungsergebnisse mehr wissenschaftlicher Natur sind, der Umgang mit den Kranken mehr eine Kunst, so handelt es sich dabei um Akzente.“ Auch die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) verstehen unter „Grundlagenforschung“ vielfach eigentlich Biologie. Wenn die Medizin und die Pflegewissenschaft ihren Wissenschaftscharakter aber nur auf kontemplative Grundlagenwissenschaften wie die Biologie bezögen, dann stellten sie sich selbst dar als Anwendung der Grundlagenfä-
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cher, ohne selbst Wissenschaft zu sein. Warum sollte aber angewandte Biologie nicht „angewandte Biologie“ heißen, sondern „Medizin“? Und warum sollten angewandte Soziologie und Biologie „Pflegewissenschaft“ heißen statt angewandte Soziologie und angewandte Biologie? Auch die Zuflucht zu den Begriffen „Handwerk“ und „Kunst“, die Gross und Löffler im Zitat eben nahmen, führt nicht weit. Handwerker lassen nicht gerne – wie Dachdecker und Reparateure von Geschirrspülmaschinen in einer Befragung durch den Verfasser bewiesen – ihre Arbeit als unwissenschaftlich oder außerwissenschaftlich bezeichnen. Im Gegenteil legen sie Wert auf die Feststellung, dass ihr Handwerk auf dem aktuellen Stand der physikalischen Wissenschaft fußt. Und selbst Kunsthochschulen mit einer hoch ausdifferenzierten Fächervielfalt wie die Burg Giebichenstein kennen und lehren die Kunstrichtung „Umgang mit Patienten“ nicht. Deshalb können die Begriffe „Handwerk“ und „Kunst“ nicht die Frage übertönen, ob es außer kontemplativen noch andere Wissenschaften gibt. Die Antwort heißt „ja“. Die therapeutischen Wissenschaften und die Pflegewissenschaft wie auch die Medizin sind Wissenschaften mit eigenen, von den kontemplativen Wissenschaften der Biologie und Soziologie trennbaren Gegenständen: Ihr Gegenstand ist die zukunftsunsichere, aber vernünftige innovative Einzelfallentscheidung im jeweiligen Feld – unter Handlungsdruck und Begründungszwang gemeinsam mit den je einzigartigen Klienten. Sie als „Künste“ statt als Handlungswissenschaften zu bezeichnen, macht ihre Praxis als „vernünftige“ undiskutierbar, unkritisierbar, unerforschbar. Sie sind „Handlungswissenschaften“. Dass sie eigene Handlungswissenschaften und nicht ausschließlich Anwendungen oder Ableitungen aus kontemplativen Wissenschaften sind, wird alltäglich bewiesen. Denn Krisenentscheidungen des multiprofessionellen therapeutischen Teams mit den Klienten im Einzelfall lassen sich nicht einfach aus kontemplativen Wissenschaften der Biologie und der Soziologie „ableiten“, dennoch sind sie nicht einfach Glückssache, Kunst oder Intuition jenseits aller wissenschaftlichen Vernunft. Sie sind mit eigenen Methoden wissenschaftlich untersuchbar und vernünftig begründbar in der Handlungswissenschaft des Aufbaus interner Evidence, die externe Evidence für den Einzelfall erst nutzbar macht. Das belegen alle Fachpflegenden jeden Tag: Wissen liegt typischerweise meist vor in so genannten Wahrscheinlichkeitsaussagen, also in belegten Häufigkeiten für Gruppen. Aus solchen Häufigkeiten kann man nie auf den Einzelfall schließen. Es bleibt eine nicht ableitbare Entscheidung zu treffen. Fachpflegende treffen diese Entscheidungen zusammen mit den Pflegebedürftigen häufig unter großem Zeitdruck und in großer Unsicherheit. Aber trotzdem beanspruchen Fachpflegende wie alle therapeutischen Professionen, selbst die schnell und intuitiv getroffene Entscheidung hinterher vernünftig und nachvollziehbar begründen zu können – und zwar den Pflegebedürftigen ebenso wie der Fachöffentlichkeit. Und die pflegebedürftigen Klienten/innen vertrauen darauf, dass die fachpflegerischen Vorschläge und Maßnahmen im Einzelfall nicht Glückssache sind oder Lotterie, sondern vernünftig begründet und beurteilt werden können. Sie vertrauen auf wissenschaftlich geprüfte Erfahrung und Sorgfalt gerade auch bei Entscheidungen unter Zeitdruck
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und Unsicherheit. Solche Einzelfallentscheidungen im Arbeitsbündnis mit Klienten/ innen sind in der Tat nicht der Gegenstand „kontemplativer“ Wissenschaften. Kein kontemplativ arbeitender Biologe hat sie mit der von ihm untersuchten einzelnen Zelle gemeinsam zu treffen. Solche vernünftig begründbaren Entscheidungen sind der Gegenstand von Handlungswissenschaften. Deswegen nutzt die Handlungswissenschaft Pflegewissenschaft die kontemplativen Wissenschaften Soziologie, Biologie und andere, aber sie hat einen eigenen Gegenstand: Die vernünftige Entscheidung in der Begegnung mit dem einzigartigen Klienten – unter Handlungsdruck und Zukunftsunsicherheit. Es ist die wichtigste Bedeutung von Evidence-based Nursing, dass sie für das tägliche Handeln der Pflegeprofession die Ressourcen und methodischen Probleme der Handlungswissenschaft Pflegewissenschaft reflektiert – und zwar in Verantwortung für ihre eigenen Wirkungen (verantwortungsethisch im Sinne Max Webers und vorher Schleiermachers). – EbN hat sich als Methode des health service research in nursing (Versorgungsforschung) entwickelt, die – verantwortungsethisch – die Wirkungen von Handlungen erkennen und beachten will. Es erstaunt nicht, dass sich die Entwicklung der Diskussion in unterschiedlichen Kontroversen entfaltete, auf die hier nur kurz eingegangen werden kann [Behrens/Langer 2006, 2010]. Das Verdienst aller Diskutanten von EbN ist, überhaupt die Unterscheidung von externer und interner Evidence rigoros zu treffen und nicht davon auszugehen, dass die Eminenz der Fachleute diese Unterscheidung überflüssig macht. Denn EbN unterscheidet konsequent die kontemplative Zusammenfassung der verlässlichen Erfahrungen Dritter (externe Evidence) von der handelnden Entscheidung im Einzelfall (Fallverstehen im Aufbau interner Evidence) und kann deswegen den wechselseitigen Prozess zwischen beiden wissenschaftlich bearbeiten. – Sowohl über externe als auch über interne Evidence ist in den vergangenen Jahren viel diskutiert worden. Handlungswissenschaftlich und für die Praxis ist das Verständnis interner Evidence noch wichtiger als das Verständnis externer Evidence.
3.4.3 Interne und externe Evidence: Der Unterschied und seine praktischen Folgen 3.4.3.1 Worin liegt der Unterschied? Die Unterscheidung zwischen externer und interner Evidence ist eigentlich ganz einfach zu treffen (s. Abb. 3.2): Externe Evidence umfasst alles, was ich aus der verlässlichen Erfahrung Dritter wissen kann. Interne Evidence umfasst im hier vertretenen Verständnis alles, was ich als Pflegebedürftiger nur von mir selbst wissen und in der Begegnung mit der Pflegeprofession klären kann (also Ziele, Empfindungen, „outcomes“, Qualität). Obwohl die Unterscheidung so einfach ist, verwechseln therapeutische und pflegerische Professionen beide Bereiche gern. Wenn ein Zahnarzt beim
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Bohren zum zuckenden Patienten sagt, das könne doch bei örtlicher Betäubung gar nicht weh tun, schließt er von der externen Evidence fälschlich auf die interne. Denn sein Satz meint: Nach aller wissenschaftlich kontrollierten Erfahrung (externe Evidence) hat das Millionen von Menschen nicht weh getan, folglich kann es auch dem gerade behandelten Patienten nicht weh tun. Dieser Schluss ist logisch offensichtlich ein Fehlschluss von externer auf interne Evidence. Weniger leicht erkennbare Fehlschlüsse von externer auf interne Evidence sind auch in der Fachpflege nicht unbekannt: Aus Untersuchungen zu typischen Stadien der Krankheitsverarbeitung, zu Bedürfnispyramiden, zur Lebensqualität (Onkologie) zu Selbstpflegefähigkeiten [Behrens et al. 2012] schließen Fachpflegende, dass ihre Klienten dieselben Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Lebensqualitätsverständnisse haben, könnten sie sich nur äußern (vgl. die Kritiken an dieser berühmten Position der Pflegetheoretikerin Virginia Henderson in Behrens et al. 2012).
3.4.3.2 Klärung des Verhältnisses von „externer“ und „interner“ Evidence Aber der Beitrag zur Forschungsmethodik ist in unseren Augen nicht der wichtigste Beitrag von Evidence-based Nursing, weswegen auf diese Methoden hier nicht weiter eingegangen, sondern auf Behrens/Langer [2006, 2010] verwiesen sei. Der nützlichste Beitrag von EbN ist vielmehr die Klärung des Verhältnisses von externer und interner Evidence, weil es professionsethische und organisatorische Entscheidungen und die Sicht auf das Arbeitsbündnis prägt. Pflegende und Therapeuten können meist nicht am Pflegebedürftigen oder Patienten, sondern nur mit ihm hilfreich wirken. Denn diese pflege- oder therapiebedürftigen Nutzer/innen sind nicht Konsumenten von ihnen unabhängig zu erstellenden Produkten, sondern durch ihre Nutzung erzeugen sie die Pflege- oder Therapieleistung. Fast jeden Tag sind – bewusst oder nicht – von Pflegebedürftigen und Pflegenden folgenreiche Entscheidungen über Be-Handlungen zu treffen, in der Regel unter zeitlichem Entscheidungsdruck und immer einem Rest Zukunftsungewissheit. Bei ihren Entscheidungen greifen Auftrag gebende Pflegebedürftige und Pflegende auf unterschiedlich verlässliche externe Evidence und unterschiedlich deutlich begriffene interne Evidence zurück. Externe Evidence, also Erfahrungen Dritter, liegen uns typischer Weise als Folgen von Behandlungen innerhalb von beobachteten Gruppen vor, also in gruppenspezifischen Häufigkeiten. Die Ergebnisse unterrichten uns darüber, zu welchen Folgen eine Behandlung bei Dritten geführt hat. Solche Häufigkeiten als Wahrscheinlichkeit in unserem Einzelfall interpretieren zu können, gibt die Statistik bekanntlich als logische Ableitung nicht her. Der Schluss von der beobachteten Häufigkeit auf unseren Einzelfall ist vielmehr eine Bewertung, die eine unausweichliche Entscheidung unter Ungewissheit darstellt. Externe Evidence informiert uns also bestenfalls darüber, was bei anderen wie geholfen hat. Nicht aus externer Evidence ableitbar ist hingegen, was mein Klient will und wessen er bedarf. Welche Aspekte der Lebensqualität für meinen
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Patienten relevant sind, kann nur im Gespräch mit diesem selbst erarbeitet werden. Deswegen kann z.B. eine Erhebung der Relevanz von Komponenten der Lebensqualität für den Durchschnitt einer Bevölkerung oder auch einer Gruppe von erkrankten Personen prinzipiell nicht die Erhebung dieser Relevanz im einzigartigen Fall meiner Klientin ersetzen (s. Abb. 3.2). Schon aus diesem einfachen Unterschied zwischen interner und externer Evidence ergeben sich weitreichende professionsethische, organisatorische und rechtliche Folgen. Externe Evidence Datenbank über erwiesene Wirksamkeit, z. B.: - Evidence based Nursing - Cochrane Library - Qualität technischer Geräte und Prozesse (klinisch-epidemiogische Studien) - Qualitative und quantitative soziologische Verlaufsstudien
Interne Evidence Arbeitsbündnis PflegebedürftigePflegende Entscheidung über Pflegeintervention oder Diagnoseverfahren
Zielklärung, Anamnese und Pflegediagnose: - Individual-biographische Zielsetzung des Klienten - Impairment (medizinisch) - Disability (ärztlich/pflegerisch) - Particiption (pflegerisch/ärztlich) - Verlaufsdokumentation
Ökonomische Anreize und Vorschriften Vorschriften / Faustregeln / Leitlininen / Richtlinien / Gesetzliche Regelungen Abb. 3.2: Evidencebasierte pflegerische professionelle Praxis: interne Evidence und externe Evidence, moralische und ökonomische Anreize bei pflegerischen Entscheidungen [Behrens/Langer 2006 und 2010].
Folgen Standards und Leitlinien, die im besten Fall ja nur Zusammenfassungen der aktuell gerade besten externen Evidence sein und die individuellen Ziele, Bedürfnisse und Empfindungen gar nicht abbilden können, können nie die Entscheidung im Einzelfall vorgeben. Wer Standards ungeprüft „anwendet“, handelt nicht evidencebasiert. Jede Pflegende ist gegenüber ihrer Klientin doppelt handlungs- und begründungsverpflichtet: zum einen auf ihre individuellen Ziele, Bedürfnisse und Empfindungen einzugehen und sie von dieser internen Evidence aus und zum anderen auf dem aktuellen Stand der externen Evidence zu informieren, zu beraten und in ihrem Auftrag zu behandeln – und dies nicht nur einmal zu Beginn einer Behandlung, sondern bei jeder Zustandsänderung, die eine neue Entscheidung nötig macht, wieder. Das ist
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leichter gesagt als getan (zur Umsetzung siehe Behrens/Langer 2010, Behrens et al. 2012). Professionelles Handeln findet überwiegend in organisatorischen Hierarchien statt, und viele Pflegende fühlen sich zwischen externer und interner Evidence einerseits, den Anweisungen ihrer Vorgesetzten andererseits hin- und hergerissen. So sehr es hier täglich knirscht, „prinzipiell“ ist dieser vermeintliche Widerspruch in den Organisationen des Gesundheitswesens – ganz im Unterschied zu anderen Produktions- und Dienstleistungsbereichen – eindeutig geklärt: Da alle Berufe und Organisationen im Gesundheitswesen sich auf Wissenschaft (externe Evidence) und Patientenorientierung (interne Evidence) berufen, verpflichten sich Vorgesetzte darauf, externer und interner Evidence zu folgen – auch wenn es eine Untergebene ist, die wegen ihres Kontakts zur Klientin und ihres Zugangs zur externen Evidence interne und externe Evidence schneller feststellt als sie selber. Diese Konstellation findet sich auch im Arbeits- und Haftungsrecht, worauf hier schon aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann, prinzipiell wieder: Keine weisungsabhängige Pflegende darf einer Anweisung, von der sie weiß, dass sie für ihre Klientin schlecht ist, einfach folgen. Hier gilt für Anweisungen dasselbe wie für Standards. Wenn eine Vorgesetzte sie z.B. anweist, das Druckgeschwür einer Pflegebedürftigen zu fönen und zu eisen – lange Zeit eine naturwissenschaftlich (pseudo-)begründete, von allen Fachautoritäten vertretene Praxis –, darf sie dieser Anweisung heute nicht einfach folgen. Bei der Herstellung von Kotflügeln und anderen Produktionen und Dienstleistungen, die sich nicht auf externe und interne Evidence berufen und wo man missratene Produkte in den Ausschuss geben kann, bevor sie man dem Kunden übergibt, kann man Anweisungen einfach folgen. Aus der unaufhebbaren Differenz von externer und interner Evidence folgt drittens, dass Evidencebasierung immer von den Bedürfnissen des individuellen Klienten her erarbeitet wird, sonst hat man gar keine Frage an die externe Evidence. Der erste Schritt dieses Prozesses – auch diesen Schritt hat die Pflege zuerst in die Evidencebasierung eingeführt – ist die Auftragsklärung, der Aufbau interner Evidence in der Begegnung mit dem Pflegebedürftigen. Diese Auftragsklärung klärt auch die innerorganisatorische Arbeitsteilung. Uns ist keine Einrichtung im Gesundheitswesen bekannt, in deren Leitbild steht, man wolle sich über die Bedürfnisse der Klienten hinwegsetzen und die externe Evidence missachten, um ungestört den eigenen Standards, Vorschriften und Interessen folgen zu können. Dann wird die Fragestellung der Pflegebedürftigen erarbeitet, die nun die Literaturrecherche nach externer Evidence, die Bewertung der Aussagefähigkeit dieser Studien allgemein und für die besondere Situation der individuellen Pflegebedürftigen leitet. Die Veränderung der Pflegepraxis und die Evaluation von Wirkungsketten (Qualitätsmanagement und EbN) sind die abschließenden Schritte auf der Spirale, die dem Pflegeprozess entspricht. Das Verhältnis von externer und interner Evidence hat erhebliche Folgen für die Aus-, die Fort- und die Weiterbildung in Pflege- und Gesundheitsberufen. Die Aneignung von Lehrbuchwissen mit Standardregeln reicht keineswegs und führt
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häufig zu einer unangemessenen, respektlosen Haltung gegenüber Klienten; stattdessen geht es darum, Fähigkeiten zu Erschließung externer und zum Aufbau interner Evidence mit den Klienten/innen zu erwerben. Hier sind von der Pflege eine Reihe von Beiträgen zur Entwicklung und Implementierung von Curricula für die Aus-, die Fort- und die Weiterbildung geleistet worden, die Effektivität und die Grenzen problemorientierten Lernens wurden z.T. erstmalig kontrolliert untersucht.
Hermeneutische Spirale im Arbeitsbündnis: Von der internen Evidence zur externen und zurück zur internen EbN unterscheidet also konsequent die kontemplative Zusammenfassung der verlässlichen Erfahrungen Dritter (externe Evidence) von der handelnden Entscheidung im Einzelfall (Fallverstehen interner Evidence) und kann deswegen den wechselseitigen Prozess zwischen beiden wissenschaftlich bearbeiten. Für die Pflegepraxis haben sich in den letzten Jahren weltweit die folgenden sechs Schritte herausgebildet von der internen Evidence zur Frage an die externe und zurück zur Integration in die interne (s. Abb. 3.3).
Aufgabenstellung
Evaluation
Fragestellung
Implementierung und Adaption
Literaturrecherche
Kritische Beurteilung
Abb. 3.3: Die sechs Schritte der EbN-Methode [Behrens/Langer 2004].
Wir können hier von einer hermeneutischen Spirale sprechen. Die Ziele und Wahrnehmungen sind nicht ein für alle Male gegeben. Sie hängen selber davon ab, was im Lichte kontrollierter Erfahrungen Dritter als mögliche Option erwogen werden könnte. Bei allen sonstigen Differenzen und Kontroversen ist klar: Wenn ich keine individuelle Klientenfrage habe – wobei der Klient ein Pflegebedürftiger ebenso wie eine ratsuchende internationale Organisation wie ein Ministerium sein kann –, habe ich gar keine Frage an die externe Evidence, also an die im Internet so reichlich vorhandene Literatur. EbN ist mehr als ein Verfahren, mit dem Gutachter Forschung beurteilen, ich beurteile Forschungsergebnisse immer von den Fragen meines Klienten aus. Die Schritte belegen klar, dass es sich bei Evidence-based Nursing um die handlungswissenschaftliche Reflexion der Mitglieder der Pflegeprofession über ihre pflegerische
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Praxis handelt. Daher wird bereits bei den ersten Einführungen in EbN weltweit Fall verstehend gearbeitet – mindestens mit Fallvignetten, besser – siehe unten Pflegepädagogik – mit tatsächlichen Fällen, die die Auszubildenden tatsächlich betreuen.
3.4.4 Wie sich das Verständnis interner und externer Evidence änderte 3.4.4.1 Interne Evidence vor zehn Jahren und heute Hier sind in den letzten zehn Jahren die möglicherweise nützlichsten Beiträge der Pflege zur allgemeinen Diskussion über Evidencebasierung geleistet worden. In den zehn Jahren hat sich die Vorstellung, was interne Evidence ist, sehr geändert. Vor zehn Jahren (und manchmal noch heute) wurde interne Evidence im Kopf des Therapeuten verortet und meinte dessen „individuelle klinische Expertise“. Dem Therapeuten stand im alten Konzept von Evidence-basierter Medizin (EbM) ein Patient oder Klient gegenüber, der über „Präferenzen“ (wie in der Wirtschaftswissenschaft der Konsument) verfügte und diese anmelden konnte. Nun gibt es zweifellos Nutzer, die als mündige Kunden in vielen Bereichen ihre Vorlieben (für bestimmte Behandlungen und Substanzen) kennen, und es ist eine Selbstverständlichkeit, ihnen mit Respekt zu begegnen. Aber in den Krisenschüben der Krankheit und Pflegebedürftigkeit hat man seine „Präferenzen“ nicht immer schon parat, sondern sucht das Gespräch und die Begegnung, in der man seine Bedürfnisse, Empfindungen und Ziele klären kann. Man will einerseits wissen, was möglich ist und wie es anderen damit ging (externe Evidence) – insofern gehen Informationen zur externen Evidence in alle Bedürfnisklärungen ein. Andererseits ist Information nicht alles, und die Informations-Asymmetrie zwischen Therapeuten und Klient ist gar nicht das wesentliche Merkmal ihres Verhältnisses. Das wird einem sofort klar an jedem Spezialisten, der an der Krankheit erkrankt, für die er Spezialist ist. Es mangelt ihm offensichtlich nicht an Informationen. Aber er braucht das Gespräch und die Begegnung mit einem Professionsangehörigen, auf den er nicht soviel Rücksicht nehmen muss wie auf einen nahen Familienangehörigen, um sich über seine Bedürfnisse klar zu werden und sich entscheiden zu können. Auf der anderen Seite der Spritze sieht die Welt ganz anders aus. Beim „Shared decision making“ geht es nicht so sehr um die Teilung der Entscheidung (die ja ohnehin beim Auftraggeber liegt, insofern ist der Begriff merkwürdig) oder nur der Information, sondern um Beistand („Teilen“) in der Angst. Daher nutzen wir heute den Begriff der „internen Evidence“ für die in der Begegnung zwischen Pflegebedürftigen und Therapeuten geklärten Bedürfnisse und Ziele der Pflegebedürftigen. Der Aufbau dieser internen Evidence bedarf selber einer großen Kompetenz, die unter Praxissupervision zu erwerben ist. Zuhören und das Stellen weniger einfacher Fragen sind schwer zu erwerben (vgl. ausführlich Behrens/Langer 2010). Es ist kein Zufall, dass es die Pflege war, die diese Frage zu erforschen begann. Mitglieder der Profession Pflege sind es traditionell, die die meiste Zeit mit Pflegebedürftigen und Patien-
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ten sprechen. Die „individuelle klinische Expertise“, die alle Fachpflegenden haben, ist eine Mischung aus ins Selbstverständliche abgesunkener externer Evidence, Berufs- und Begegnungserfahrung. Interne Evidence ist nicht nur im Kopf der Therapeutin oder Fachpflegenden, sondern systemisches Ergebnis der Beziehung zwischen Professionsmitgliedern und den einzigartigen Klienten/innen. Therapeut und Klient sind „Black Boxes“, zwischen denen beständig Kommunikation mit – ikonischen Zeichen (basale leibbezogene Erfahrungen wie Hunger, Schmerz, Lust) – indexikalischen Zeichen (Vorstellungen des Subjekts über Ursachen und Wirkung) und – symbolischen Zeichen (Sinnnarative der eigenen Existenz) im Sinne von Peirce fließt. Daher kann die Pflegewissenschaft sich auch Konstruktivismus, Bio-Semiotik und Systemtheorie, auch auf die Integrierte Medizin Thure von Uexkülls und Viktor von Weizsäckers beziehen.
3.4.4.2 Externe Evidence Was finden wir, wenn wir nach externer Evidence suchen? Beurteilung externer Evidence (Studienbeurteilung) ist eine wirkliche Herausforderung. Wir finden im Internet kaum bewältigbar viel. Jährlich werden 500 000 Studien veröffentlicht und Abermillionen von Berichten über sichere Heilungsmethoden. Im Internet ist die „Weltgesellschaft“ Wirklichkeit geworden. Berichte über traditionelle indische und chinesische heterodoxe Heilungserfolge sind ebenso nahe wie australische und solche aus Frankfurt-West. Noch vor 30 bis 25 Jahren folgte der Informationsfluss organisatorischen Hierarchien: Eine kleine Gruppe sich fortwährend vernetzender großer und kleiner Eminenzen an der Spitze von Organisationen hatten, ja lasen sogar Zeitschriften, tauschten sich auf Kongressen und Partys über wichtige Arbeiten junger Leute aus, sandten sich die Separata ihrer Veröffentlichungen, telefonierten mit ihren wichtigen Freunden, wenn sie nicht weiter wussten. Und dann teilten sie ihren Mitarbeiter/innen mit, was die Chefin/der Chef der Einrichtung an Studien für relevant erachtet und als die Methode des Hauses beschlossen hatte. In einer Kultur mündlicher Informationsweitergabe, ja selbst noch in einer Kultur teurer Bücher und noch teurerer Zeitschriften funktionierte diese eminenzbasierte, reputationsgesteuerte Vernetzung und Oligarchisierung von Informationen. Überkomplexität und Überfülle von Informationen waren kein wirkliches Problem, eher zu undurchlässige Filter. Mit dem Internet hat jedes Organisationsmitglied, aber auch jeder Klient Zugang zu Millionen von Informationen. Der Managementtheoretiker Peter F. Drucker spricht daher von der „next society“, die mit dem Computer aufkommt. Die durch die älteren Publikationskanäle gestützten oligarchischen Netze werden von einer Fülle von Vernetzungsmöglichkeiten unterspült. Wie trenne ich die Spreu vom Weizen, wie
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erkenne ich aussagekräftige Informationen über Erfahrungen Dritter? Das wird zu einem drängenden Problem in der Überfülle der Informationen. Wenn man sich nicht lieber gleich Gurus anvertraut, bedarf es der Raster, die einem helfen, die Spreu vom Weizen zu unterscheiden. Diese Raster waren zunächst in Gefahr, zu mechanisch auszufallen .Die Weltgesellschaft der Information erweist sich als hochselektiv. Hier hat die Pflege Beiträge zu Verbesserung von Suchrastern geleistet, viel ist noch zu tun [vgl. Behrens/Langer 2006]. Plötzlich stellt sich heraus, dass unter den Abermillionen Informationen für viele pflegerische Fragestellungen verlässliche externe Evidence kaum zu finden ist oder ganz fehlt. Das hat zum einen damit zu tun, dass finanzkräftige Interessen eher Studien finanzieren können als weniger finanzkräftige. So ist zu erklären, dass einer riesigen Menge von Arzneimittelstudien (mit oft zu kurzer Laufzeit für die Erfassung langfristiger Nebenwirkungen) ganz wenige randomisierte kontrollierte Studien gegenüberstehen, die medikamentöse gegen nicht-medikamentöse Verfahren testen. Vergleichsweise zu wenige Forschungsmittel fließen in die Physiotherapie, die Ergotherapie, die Pflege, die Psychotherapie. Aber es sind keineswegs nur die finanziellen Mittel, die verlässliche externe Evidence für komplexe pflegerische Handlungen rar machen. Eine ungewollte Nebenwirkung geht vom Forschungsprozess selber aus. Die Wirkung einzelner Verrichtungen ist in Vergleichsstudien leichter zu erfassen als die Wirkung komplexer Handlungsketten, wie sie für die Pflege typisch sind. Von der Orientierung an externer Evidence könnte daher die Gefahr ausgehen, die ohnehin schon zu sehr an der Einzelverrichtung orientierte Pflege in ihrer Verrichtungsorientierung noch zu bestärken. Aber ein „Nursing“ ohne „Caring“ ist keine evidencebasierte Pflege und wird professionsethisch den Klienten nicht gerecht. Deswegen hat die Pflege – beispielsweise in den deutschen Pflegeforschungsverbünden – begonnen, dieser Verkürzungsgefahr entgegenzuwirken und die Effekte komplexer pflegerischer Handlungsverläufe vergleichend zu prüfen und die Implementation als eigenen Forschungsbereich ernst zu nehmen, z.B. im Forschungsverbund „Evidence-basierte Pflege chronisch Kranker und Pflegebedürftiger in kommunikativ schwierigen Situationen“ [vgl. Schaeffer et al. 2008, Estabrooks et al. 2008, Hoben et al. im Druck].
3.4.5 EbM und Versorgungsforschung historisch und systematisch 3.4.5.1 Behandlungen, Organisationen und Gesundheitssysteme als Zweckgebilde (Interventionen) In Deutschland (eigentlich nur in Deutschland) werden nicht selten Methoden der Versorgungsforschung (wie „health service research“ in der Regel ins Deutsche übersetzt wird unter Tilgung des Wortes „service“) einerseits und Methoden Evidence erzeugender klinischer Forschung und Entscheidung andererseits gegenübergestellt. International ist diese Gegenüberstellung nicht nur unüblich, sondern sogar völlig
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unverständlich. EbM, EbN und alle anderen Zweige Evidencebasierter Praxis (EbP) sind als Kern des Health Service Research entstanden und teilen sich alle grundlegenden Konzepte und methodischen Probleme. Das lässt sich nicht nur für den Beginn des neueren Health Service Research in McMaster, Yale und Oxford zeigen, sondern für alle Zweige des health service research, und zwar sowohl historisch als auch systematisch.
3.4.5.2 Initialer Paradigmawechsel: Wirkungsnachweis außerhalb des Labors nötig Am Beginn des neueren health service research steht überall eine rigorosere, zumindest veränderte Anforderung an einen Wirkungsnachweis („lege artis“, „state of the art“) zur ethischen Begründung von Handlung. Die ältere Auffassung, gegen die sich health service research und in ihr EbM und EbN wandte, setzte ihr Vertrauen in ein physiologisches oder psychologisches Wirkungsmodell. Ein physiologisches oder psychologisches Wirkungsmodell, das sich im Labor oder in der psychotherapeutischen Einzelpraxis bewährt habe, reiche hin, um es bei Leidensdruck anzuwenden; Wirksamkeitsnachweisen darüber hinaus bedürfe es nicht. So wurde lange ein Dekubitalgeschwür mit Fönen und Eisen behandelt, weil ein anerkanntes physiologisches Wirkungsmodell zur Verfügung stand und die zuständigen Ordinarien dieses Verfahren für „lege artis“ hielten. Untersuchungen mit Vergleichsgruppen – eine Verblindung der Anwender ist bei Fönen und Eisen ohnehin nicht möglich – galten angesichts des Konsenses aller Experten und des so plausiblen physiologischen Wirkungsmodells nicht nur als überflüssig, sondern auch als extrem unethisch, weil man dazu einer Kontrollgruppe aus überflüssigem Forschungsehrgeiz ein bewährtes Verfahren gegen jede Ethik entziehen musste. Da Fönen und Eisen aufwändig sind, lag der Verdacht nahe, dass allein schon die Forderung, ein so praktisch bewährtes und physiologisch gut begründetes aufwändiges Verfahren gegen alle Ethik prüfen zu wollen, nur aus Gründen ökonomischer Rationierung erhoben sein könne. Als es dann doch zu methodisch keineswegs elaborierten Vergleichsstudien kam, waren die Belege nicht mehr zu ignorieren, dass es sich bei Fönen und Eisen um ein zwar mit Zuwendung, Liebe und Geduld durchgeführtes, gleichwohl besonders brutales und quälendes Verfahren der Körperverletzung und Schinderei (im wortwörtlichen Sinne) handelte.
3.4.5.3 Wirkung im health service research: Organisationen als Interventionen Nicht in der physiologischen Forschung, nicht in der Laborforschung, sondern im „health service research“ – einem Forschungszweig, der eigentlich für einen Biomediziner keineswegs reputierlich war – verbreitete sich die Auffassung, dass ein klinischer Wirkungsnachweis unverzichtbar sei, und zwar zunächst für einzelne Behandlungsinterventionen, dann für Organisationen und Gesundheitssysteme (s.u.). Diese neue Position provozierte die alte physiologische, am Laborexperiment orientierte
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Position besonders dadurch, dass sie den klinischen Wirkungsnachweis auch dann ernst nahm, wenn gar kein physiologisches oder psychologisches Wirkungsmodell zur Erklärung einer gefundenen klinischen Wirkung bereitstand. Berühmt wurden klinische Wirkungen homöopathischer Behandlungen, deren Dosis so gering war, dass eine physiologisch erklärbare Wirkung ausgeschlossen werden konnte. Die Pharmaforschung hatte sich vorher nicht zu dieser Provokation aufgeworfen. Für Pharmaka war ein vierstufiges Verfahren mit Doppelblindversuch etabliert worden, das aber immer auf dem physiologischen Wirkmodell, dem Labor, aufbaute [vgl. Behrens/Langer 2010]. Die Versorgungsforschung (health service research) beharrte nun darauf, dass es Wirkungen geben kann, für die es noch kein physiologisches Wirkungsmodell aus dem Labor gab – und dass umgekehrt Wirkungen nicht eintreten können, obwohl das physiologische oder psychologische Wirkungsmodell plausibel ist. Dieses Bestehen auf Wirkungsnachweisen in der Praxis war für keinen medizinischen „Grundlagen-Wissenschaftler“ besonders reputierlich. Die Grundlagenwissenschaft fand im Labor statt. Das Bestehen auf Nachweisen, dass eine Maßnahme auch tatsächlich hinreichend vielen Nutzer/innen zu gute kommt, ist zwar Jahrhunderte alt, aber nicht unbedingt in der Medizin. Schleiermacher, der Hallesche Konzeptgeber der Berliner Universitätsgründung, vertrat es besonders rigoros – aber als Pädagoge und Ethiker, nicht als Mediziner. Er ist der eigentliche Gründer evidencebasierter Versorgungsforschung. Die Gründungserzählung von EbM spielt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in McMaster bei Toronto. Dem Gründungsmythos zu Folge war es eine Gruppe antiautoritär maulender Medizinstudierender, die sich gegen den riesigen zu paukenden Lernstoff mit der Forderung wehrte, nur die Therapien lernen zu müssen, deren Wirkungs-Nachweise („Evidence“) sie selber prüfen könnten. So entstanden problemorientiertes Lernen und EbM als Methode des Health Service Research zusammen (nur die Hoffnung, dass das Studium weniger aufwändig würde, erwies sich als Illusion).
3.4.5.4 Evaluation von Einzelbehandlungen, von Organisationen und von Gesundheitssystemen Dieses Bestehen auf dem neuen Verständnis von Wirkungsnachweis breitete sich über die Evaluation von Einzelbehandlungen auf die Evaluation von Organisationen und Gesundheitssystemen aus. (Aus der Evaluation von Organisations-Interventionen war EbM und EbN übrigens entstanden, nicht aus den Pharma-Laboren.) Das sei im folgenden zunächst systematisch begründet, dann historisch beispielhaft an der International Commission for Occupational Health nachgewiesen, die nach fast 100-jährigem Bestehen in den neunziger Jahren ihr scientific committee for occupa tional health service research gründete.
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Die systematische Begründung Die systematische Begründung setzt bei den sozialwissenschaftlich abgeklärten grundlegenden Eigenschaften von Organisationen (und Systemen) an. Organisationen (und Systeme) unterscheiden sich dadurch von anderen sozialen Gebilden, z.B. Familien, Stämmen, Liebschaften, dass sie zu einem Zweck ausdifferenziert „gegründet“ worden sind. Organisationen sind Interventionen. Sie können spätestens seit Schleiermacher ihre Existenz nur rechtfertigen, wenn sie ihre tatsächliche zweckentsprechende Wirkung mit hinreichender empirischer Evidence in hinreichend vielen Fällen nachweisen können. Darin liegt kein Organisations-Idealismus: Innerhalb von Organisationen können die Mitglieder zwar alle möglichen Ziele und vom Organisationszweck abweichende Bedürfnisse verfolgen, aber eine Organisation ist in ihrer Existenz nicht mehr legitimierbar, sobald sie den Organisationszweck erkennbar verletzt. So verliert eine Klinik, in der die Patienten durch Klinikepidemien dauerhaft immer kränker werden (solche Kliniken gibt es), an Existenzberechtigung, es mag in dieser Klinik noch so gemütlich sein – nicht nur für das Personal, auch für die Patienten. Eine solche Einrichtung müsste ihren Zweck wechseln (in z.B. Freizeitclub), um ihren gemütlichen Betrieb aufrecht halten können; als Klinik ist sie nicht aufrecht zu erhalten. Die Mitglieder und die Hierarchie der neuen Organisation Freizeitclub könnten durchaus dieselben bleiben wie die der alten Klinik, der Zweck und damit die Organisation müssen sich erneuern. Solche Organisationszweckwechsel einer Einrichtung und damit ihre Neugründung als Organisation kennen wir viele. So ist bekanntlich die Organisation Klinik häufig entstanden aus einer Organisation, deren Zweck es war, Vagabunden und Herumlungerer, Tobsüchtige und Querulanten, ansteckend Kranke und Mittellose, Prostituierte, arme Alte und hilflose Kranke, Waisen und Witwen, Diebe und Kleptomanen wegzusperren und mit eigener Arbeit zu versorgen. Mit diesen Zucht- und Schutzhäusern würde heute niemand eine Klinik in eins setzen, selbst wenn die Gebäude und die Wärter („Krankenwärter“) noch die gleichen wären. Die Klinik hat einen anderen Zweck als das Zuchthaus, also ist sie eine andere Organisation. Eine Organisation ist eine begründungsbedürftige und nur durch ihre nachweisbaren zweckentsprechenden Wirkungen begründbare Intervention, wie das Schleiermacher zuerst für die Organisation Schule rigoros dargelegt hat. Nicht nur die einzelne Unterrichtsmaßnahme in einer Schule, sondern die Schule überhaupt bis hin zur Schulpflicht ist Schleiermacher zufolge eine begründungsbedürftige (rechtfertigungsbedürftige) Intervention. Im selben Sinne sind ganze Gesundheitssysteme Interventionen, die nur durch ihre hinreichend häufige zweckentsprechende Wirkung zu rechtfertigen sind. So ist das Gesundheits-Schutz-System eines Landes mit allen „Arbeitsschutz“Einrichtungen, angefangen von Gesetzen und Vorschriften bis hin zu Organisationen, eine Intervention, wie sie sich seit Schleiermacher nur rechtfertigen kann mit ihren hinreichend häufig eingetretenen Wirkungen [vgl. mit Literatur Behrens/Langer 2010].
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Der historische Verlauf Die Verbreitung dieses Typs evidencebasierter Versorgungsforschung lässt sich historisch exemplarisch gut an der mehr als 100-jährigen Entwicklung der International Commission for Occupational Health (ICOH) ablesen. Die ICOH, die heute Occupational Health Service Professionals nahezu aller Länder umfasst, eng mit der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization –WHO) und der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization – ILO)zusammenarbeitet, wurde vor mehr als 100 Jahren gegründet, als die vielen Todesfälle beim Bau der Alpentunnel die Steuerungsfähigkeit eines National-Staates zu widerlegen schien. Das Scientific Committee for Occupational Health Service Research and Evaluation, also zu deutsch die auf die Gesundheit der Arbeitenden bezogene Versorgungsforschung, wurde nach gescheiterten Versuchen Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger Jahre von der Generalversammlung akzeptiert; die Gründung ging mehrheitlich von Psychologen/innen, Soziologen/innen, Therapeuten/innen, Pflegefachkräften und einigen Arbeitsmedizinern/innen insbesondere Schwedens (Karolinska), Finnlands (Helsinki), der Niederlande (Amsterdam) und Deutschlands (Bremen) aus. Sie führte zu einem Paradigmenwechsel in der Evaluationsforschung. Reichte es bis dahin, dass ein gesundheitliches Problem mit Arbeitsbedingungen korrelierte, um Einrichtungen und Maßnahmen des Gesundheitsschutzes zu begründen, so wurde diese Haltung jetzt mit dem soziologischen Begriff der bloß „Symbolischen Politik“ kritisiert – als bloße Demonstration, dass irgendetwas getan würde, ohne Berücksichtung der tatsächlichen Wirkung. Zweifellos erfüllt in der Politik die Symbolische Politik die gleiche segensreiche Funktion wie das Placebo in der Medizin (Droge Arzt – Droge politisches Kümmern/ Letzt-Zuständigkeit), aber Interventionen mit spezifischen Effekten sind unverzichtbar [vgl. Menckel/Westerholm 1999, Behrens/ Langer 2010]. Viele Maßnahmen dienten, so wurde von der einschlägigen Versorgungsforschung kritisiert, eher der Haftungsentlastung von Unternehmen und Versicherungen, als dass sie tatsächlich die Gesundheit der Beschäftigten wirkungsvoll verbesserten. Diesem Fehler entspräche das Vorherrschen formativer Evaluationen – also nur Evaluation der Umsetzbarkeit, der Akzeptanz und der Einhaltung der Maßnahmen – statt summativer Evaluationen der tatsächlichen Wirkungen („outcomes“). Völlig falsch sei die Ansicht, man könne über die Strukturqualität einer Gesundheitseinrichtung oder über die Prozessqualität einer Maßnahme irgendetwas aussagen, ohne die Wirkung, das Ergebnis zu kennen. Vielmehr kann nur in Kenntnis der Wirkung ein Prozess ausgewählt werden. Und nur in Kenntnis eines wirkungsvollen Prozesses kann die für diesen Prozess nötige Struktur ausgewählt werden [Menckel/ Westerholm 1999, Behrens et al. 1997]. Das Verständnis, health service research habe auch ganze nationale Gesundheitssysteme als Interventionen im Hinblick auf ihre „outcomes“ zu vergleichen, wurde in der Versorgungsforschung dadurch nahegelegt, ja nahezu erzwungen und zugleich ermöglicht, dass die Gesundheitsschutzsysteme sich bei gleichem Ziel in den euro-
3.4 Evidence-based Nursing
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päischen Ländern sehr unterscheiden. Beim Internationalen Jubiläumskongress zu 100 Jahren ICOH im Jahr 2006 in Mailand bekam jeder Teilnehmer ein Buch zu „Evidence based Occupational Health Service“ geschenkt. Es war selbstverständlich geworden, dass Evidencebasierte Praxis (EbP) keine spezielle Richtung in der Versorgungsforschung war, sondern alle Methoden der Versorgungsforschung beinhaltete und die Ethik der Versorgungsforschung zusammenfasste.
3.4.6 Fazit Historisch ist EbP aus der Health Service Research (Versorgungsforschung incl. Service) entstanden, und auch systematisch sind EbP und Health Service Research nicht zu trennen. Der initiale Paradigmawechsel beider war die Einsicht, dass ein theoretisch plausibles physiologisches, psychologisches oder soziologisches Wirkungsmodell nicht die Erhebung der tatsächlichen (häufigen) systemischen Wirkungen bei den Nutzer/innen ersetzen kann – geschweige denn die therapeutischen Handlungswissenschaften begründen können, die sich von den im aristotelischen Sinne kontemplativen Wissenschaften der Biologie und der Soziologie unterscheiden. Empirie und Probabilismus sind für jeden Laborforscher, das wusste auch der hundertjährige Schäfer, ein extrem komplexer und geradezu unbequemer Weg, sich der wahren Wirkung zu nähern. Health Service Research erweiterte, das war die zweite paradigmatische Errungenschaft, die Suche nach WirkungsEvidence von der einzelnen Behandlungsmaßnahme auf die Suche nach der Wirkung von Organisationen und von ganzen nationalen Gesundheitssystemen – völlig zu Recht, denn diese Einrichtungen sind spätestens seit der Renaissance, eigentlich seit Rom und Solon von Athen menschliche „Zweckgebilde“, die sich Schleiermacher zufolge allein aus ihrer Zweckerfüllung („outcome“) rechtfertigen lassen. Das heißt offensichtlich, dass EbM (und EbN, EbP) nie auf RCTs und Cochrane Reviews allein reduzierbar war oder ist, denn für nationale Gesundheitssysteme sind RCts schwer realisierbar. Aber alle, die von „Wirkung“ und von „Evaluation“ sprechen, haben dieselben methodischen Herausforderungen zu bewältigen – ob es sich um klinische Epidemiologen/innen, um Versorgungsforscher/innen, um hermeneutische Interpreten/innen handelt. Jede Selbsttäuschungsgefahr verlangt eine andere Bewältigung. Es gibt kein Verfahren, das alle Selbsttäuschungsgefahren („bias“) zugleich bewältigt.
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
3.5 Systemimmanente Prinzipien und Funktion der sozialen Pflegeversicherung Thomas Gaertner Das Pflege-Versicherungsgesetz soll die pflegerische Versorgung der Bevölkerung als eine rechtlich festgeschriebene gemeinschaftliche Aufgabe den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen angepasst sicherstellen. Das Elfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) als dessen Kernstück enthält die grundlegenden Regelungen für die Pflegeversicherung (PV), unterschieden nach sozialer Pflegeversicherung (SPV) und nach privater Pflege-Pflichtversicherung (PPV). Die SPV ist aber nicht nur für die Bereit- bzw. Sicherstellung, sondern ebenso für die Qualitätssicherung der ambulanten und stationären pflegerischen Versorgung verantwortlich. Sie hat zudem zur Verhütung des Eintritts von Pflegebedürftigkeit der Versicherten und zur sozialen Sicherung der nicht erwerbsmäßig Pflegenden beizutragen. Zur Aufrechterhaltung und Optimierung der Pflege der Versicherten ist sowohl die Koordination pflegerischer Maßnahmen der einzelnen Leistungsträger als auch die Kooperation aller Berufsgruppen des Gesundheits- und Sozialsystems einschließlich der Beratung der Beteiligten unabdingbar. Die damit zusammenhängende integrative Funktion soll die Pflegeversicherung übernehmen. Sie hat somit in der ihr übertragenen Verantwortung den Auftrag mit Aspekten zur Vorbeugung, Versorgung, Planung, Gestaltung, Sicherstellung, Prüfung, Steuerung und Beratung. Dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend ist in gemeinsamer Verantwortung die pflegerische Versorgung der Bevölkerung eine übergeordnete gesamtgesellschaftliche Aufgabe (§ 8 SGB XI). So ergänzen bei häuslicher und teilstationärer Pflege die Leistungen der Pflegeversicherung die Pflege und Betreuung des Pflegebedürftigen durch das soziale Umfeld und entlasten bei teil- und vollstationärer Pflege die Pflegebedürftigen von pflegebedingten Aufwendungen (Teilabsicherung). Dabei haben die Pflegekassen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegebedürftigen nach § 4 SGB XI darauf hinzuwirken, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht werden und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden (Wirtschaftlichkeitsgebot). Die soziale Pflegeversicherung wurde zur „sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“ nach dem Solidarprinzip konzipiert. Unter den Schutz der SPV fallen verpflichtend alle gesetzlich Krankenversicherten. Träger der SPV sind die Pflegekassen. Ihre Aufgaben werden von den Krankenkassen wahrgenommen. Die Pflegeversicherung hat die Aufgabe, denjenigen Versicherten Hilfe zu leisten, die wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit auf solidarische Unterstützung angewiesen sind (§ 1 SGB XI). Die zu bemessenden Beiträge der versicherungspflichtig Beschäftigten werden in der Regel jeweils zur Hälfte von ihnen selbst und ihren Arbeitgebern getragen (paritätische Umlagefinanzierung).
3.5 Systemimmanente Prinzipien und Funktion der sozialen Pflegeversicherung
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Das Erste Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat die sozialen Rechte zum Gegenstand. Es ist als allgemeinverbindlicher Teil den anderen Büchern vorangestellt. Dort werden die sozialen Leistungsarten unterschieden in Dienst-, Sach- und Geldleistungen. Sie werden als Sozialleistungen bezeichnet. Die Abgrenzung der Zuständigkeit der Leistungsträger ergibt sich aus den besonderen Teilen des Gesetzbuchs. Zu nennen ist hier beispielsweise die Unterscheidung der häuslichen Krankenpflege und Haushaltshilfe durch die gesetzliche Krankenversicherung gemäß dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) gegenüber den Leistungen bei häuslicher Pflege durch die soziale Pflegeversicherung gemäß SGB XI. Als Leistungen der sozialen Pflegeversicherung werden nach § 21a SGB I aufgeführt: 1. Leistungen bei häuslicher Pflege a) Pflegesachleistung b) Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen c) häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson d) Pflegehilfsmittel und technische Hilfen 2. teilstationäre Pflege und Kurzzeitpflege 3. Leistungen für Pflegepersonen, insbesondere a) soziale Sicherung b) Pflegekurse 4. vollstationäre Pflege Nach den allgemeinen Vorschriften des SGB XI sollen die Leistungen der Pflegeversicherung „den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, körperliche, geistige und seelische Kräfte der Pflegebedürftigen wieder zu gewinnen und zu erhalten“ (Selbstbestimmung). Dabei ist auf die religiösen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen Rücksicht zu nehmen. Die Versicherten sollen eigenverantwortlich dazu beitragen, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden (Eigenverantwortung). Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen vorrangig dafür eingesetzt werden, dass die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können (Vorrang der häuslichen Pflege). Dies wird unterstützt durch Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegepersonen, zusätzliche Leistungen bei Pflegezeit sowie Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen (§§ 44–45 SGB XI). Es ist darauf hinzuwirken, den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden (Vorrang von Prävention und medizinischer Rehabilitation). Als Träger der Pflegeversicherung ist bei jeder Krankenkasse eine Pflegekasse eingerichtet. Pflegekassen sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, deren Organe mit denen der gesetzlichen Krankenkassen identisch sind. Die Landesverbände der Krankenkassen nehmen die Aufgaben auf Landesebene wahr. Die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen tragen je die Hälfte der Umlagefinanzierung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Der
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband – GKV-SV) nimmt die Aufgaben des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen wahr (§§ 46, 52–53 SGB XI). Er erlässt gemäß § 53a SGB XI nach Zustimmung des BMG verbindliche Richtlinien 1. über die Zusammenarbeit der Pflegekassen mit den Medizinischen Diensten, 2. zur Durchführung und Sicherstellung einer einheitlichen Begutachtung, 3. über die von den Medizinischen Diensten zu übermittelnden Berichte und Statistiken, 4. zur Qualitätssicherung der Begutachtung und Beratung sowie über das Verfahren zur Durchführung von Qualitätsprüfungen und zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen, 5. über Grundsätze zur Fort- und Weiterbildung. Das Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung ist hinsichtlich der Grundlagen der Beitragsberechnung im Wesentlichen dem der gesetzlichen Krankenversicherung angeglichen. Jedoch wurde der Beitragssatz durch den Gesetzgeber festgesetzt. Seit der Pflegereform beträgt der bundeseinheitliche Beitragssatz mit Ausnahme einiger Personenkreise unter Berücksichtigung der Bemessungsgrenze vom 01.07.2008 an 1,95 Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder (§§ 54–55 SGB XI). Im Gegensatz zum Risikostrukturausgleich der Krankenkassen werden über den bundesweiten Finanzausgleich zwischen den Pflegekassen die tatsächlichen Ausgaben ausgeglichen. Dies ist Ausdruck des politischen Willens, einen Wettbewerb zwischen den Pflegekassen zu vermeiden und verleiht dem Wirtschaftlichkeitsgebot besondere Bedeutung (§ 66 SGB XI). Die Pflegekassen haben die Aufgabe zur Beratung und Aufklärung der Versicherten hinsichtlich ihrer Eigenverantwortung für eine der Pflegebedürftigkeit vorbeugende Lebensführung sowie hinsichtlich der mit der Pflegebedürftigkeit zusammenhängenden Fragen. Auf eine Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen haben die Pflegekassen hinzuwirken. Seit dem 01.01.2009 haben Personen, die Leistungen nach dem SGB XI erhalten, Anspruch auf individuelle Pflegeberatung bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Sozialleistungen sowie sonstigen Hilfsangeboten, die auf die Unterstützung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder Betreuungsbedarf ausgerichtet sind (§ 7a SGB XI). Weiterhin sind die Pflegekassen für die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung ihrer Versicherten verantwortlich. Sie sind dabei zur engen Zusammenarbeit mit allen an der pflegerischen, gesundheitlichen und sozialen Versorgung Beteiligten verpflichtet. Sie haben darauf hinzuwirken, dass Mängel der pflegerischen Versorgung beseitigt werden und stellen insbesondere sicher, dass im Einzelfall ärztliche Behandlung, medizinische Behandlungspflege, rehabilitative Maßnahmen, Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung nahtlos und störungsfrei ineinandergreifen (Koordination). Besondere Bedeutung erhalten in diesem Zusammenhang seit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes am 01.07.2008 zusätzlich zur Pflegeberatung die integrierte Versorgung sowie die Pflegestützpunkte (§§ 92b–c SGB XI).
3.6 Sozialmedizinische Dimensionen
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3.6 Sozialmedizinische Dimensionen bei der Begutachtung, Qualitätsprüfung, Beratung und Fortbildung im Auftrag der sozialen Pflegeversicherung Thomas Gaertner Das Sozialgesetzbuch (SGB) enthält die rechtlichen Grundlagen der Obliegenheiten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) als der sozialmedizinischen Sachverständigeninstitution der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der sozialen Pflegeversicherung (SPV). Nach dem jeweiligen Bundesland ist der MDK in der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (K. d. ö. R.) bzw. eines eingetragenen Vereins (e.V.) organisiert. Vom Gesetzgeber werden dem MDK in funktionaler Hinsicht die Aufgaben der sozialmedizinischen Begutachtung, Qualitätsprüfung und Beratung im Auftrag der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sowie ihrer Verbände übertragen. Hinzu kommen die vom MDK durchgeführten Fortbildungsmaßnahmen, insbesondere die für die Sozialleistungsträger [Gaertner et al. 2001, Gaertner/van Essen 2012]. Unter strukturellen Aspekten ist der MDK also an der Mitgestaltung des staatlichen Systems der sozialen Sicherung beteiligt und verantwortlich für die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität des sozialmedizinischen sachverständigen Leistungsgeschehens. Der Medizinische Dienst ist Teil der GKV mit der ihr organisatorisch angelehnten SPV, die als Solidargemeinschaft somit auch nach § 70 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) den allgemeinen Grundsätzen der Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit verpflichtet ist. Der MDK erfüllt eigenverantwortlich seine hoheitlichen sozialmedizinischen Aufgaben im Auftrag der als Behörden geltenden gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen, die gemäß § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nach folgenden Untersuchungsgrundsätzen arbeiten: “(1) Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden. (2) Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. (3) Die Behörde darf die Entgegennahme von Erklärungen oder Anträgen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, nicht deshalb verweigern, weil sie die Erklärung oder den Antrag in der Sache für unzulässig oder unbegründet hält.“ Die Pflegekasse bedient sich als Behörde der Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält (§ 21 SGB X). Der MDK bezieht sich als ihr Sachverständigendienst auf durch die Pflegekasse zur Verfügung gestellte Beweismittel bzw. wird im Auftrag der nach den genannten
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Grundsätzen arbeitenden Pflegekassen tätig. Zu den Beweismitteln nach § 21 SGB X zählen insbesondere 1. Auskünfte jeder Art einholen, 2. Beteiligte anhören, Zeugen und Sachverständige vernehmen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverständigen und Zeugen einholen, 3. Urkunden und Akten beiziehen, 4. den Augenschein einnehmen. Die grundlegenden Regelungen für die Aufgaben des Medizinischen Dienstes beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit finden sich in § 18 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI): „Die Pflegekassen beauftragen den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder andere unabhängige Gutachter mit der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt. Im Rahmen dieser Prüfungen haben der Medizinische Dienst oder die von der Pflegekasse beauftragten Gutachter durch eine Untersuchung des Antragstellers die Einschränkungen bei den Verrichtungen im Sinne des § 14 Abs. 4 SGB XI festzustellen sowie Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der Hilfebedürftigkeit und das Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI zu ermitteln. Darüber hinaus sind auch Feststellungen darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind; insoweit haben Versicherte einen Anspruch gegen den zuständigen Träger auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation.“ Diesen Ansprüchen wird durch ein ausführliches Formulargutachen Rechnung getragen (s. Kap. 6.5). Die zu treffenden Empfehlungen können im Einzelfall in die Zuständigkeit anderer Sozialleistungsträger fallen. Daher muss das Gutachten sozialmedizinisch derart erstellt werden, dass es auch für deren Zwecke verwertbar ist. Für die Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger untereinander gilt (§ 96 Abs. 1 SGB X): „Veranlasst ein Leistungsträger eine ärztliche Untersuchungsmaßnahme oder eine psychologische Eignungsuntersuchungsmaßnahme, um festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Sozialleistung vorliegen, sollen die Untersuchungen in der Art und Weise vorgenommen und deren Ergebnisse so festgehalten werden, dass sie auch bei der Prüfung der Voraussetzungen anderer Sozialleistungen verwendet werden können. Der Umfang der Untersuchungsmaßnahmen richtet sich nach der Aufgabe, die der Leistungsträger, der die Untersuchung veranlasst hat, zu erfüllen hat. Die Untersuchungsbefunde sollen bei der Feststellung, ob die Voraussetzungen einer anderen Sozialleistung vorliegen, verwertet werden.“ Die grundlegenden Regelungen zur Durchführung und Ergebnismitteilung sowie zur Kostenregelung und Zusammenarbeit bei den Qualitätsprüfungen in Einrichtungen der ambulanten und stationären Pflege finden sich in den §§ 114ff. SGB XI. Dem-
3.6 Sozialmedizinische Dimensionen
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gemäß erteilen die Landesverbände der Pflegekassen dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, dem Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. im Umfang von 10 Prozent der in einem Jahr anfallenden Prüfaufträge oder den von ihnen bestellten Sachverständigen einen Prüfauftrag zur Durchführung einer Qualitätsprüfung. Dieser enthält Angaben zu Prüfart, -gegenstand und -umfang. Die für die wissenschaftlich fundierte, fachgebietsübergreifende und interdisziplinär angelegte Expertentätigkeit verantwortlichen Gutachterinnen und Gutachter des MDK sind aufgrund des auf die medizinische und pflegerische Versorgung ausgerichteten Aufgabenspektrums dem Bereich der angewandten Sozialmedizin zuzuordnen. Als Hauptaufgaben des MDK werden grundsätzlich unterschieden: Begutachtungen von Versicherten sind einzelfallbezogene sachverständige Stellungnahmen mit abschließender Beantwortung einer Frage, mit Bezug zum SGB XI unter anderem zu folgenden Anlassgruppen: Pflegebedürftigkeit, wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, Hilfsmittelversorgung, Heilmittel als Einzelleistung, präventive Maßnahmen, medizinische Rehabilitation, Ansprüche gegenüber Dritten einschließlich Behandlungsfehlern bzw. Pflegefehlern. Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen basieren in der Regel auf standardisierten Stichprobenerhebungen. Deren fachkundige Analysen mit Beratungsansatz führen zur Abgabe von Empfehlungen. Die Ergebnisse der vom MDK bundesweit durchgeführten Qualitätsprüfungen in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen werden im Abstand von drei Jahren in einem Qualitätsbericht zusammengefasst. Beratungen zu Grundsatz- und Versorgungsfragen sind grundsätzliche Stellungnahmen mit Abgabe von Empfehlungen hinsichtlich der Gestaltung der medizinischen bzw. pflegerischen Versorgung. Zu den Beratungen zählen auch die Mitwirkung bei der Entwicklung von Richtlinien, die sozialmedizinisch fach- und sachkundige Vertretung der Positionen der Pflegekassen sowie ihrer Verbände in Gremien und Ausschüssen auf Landes- und Bundesebene sowie die Herausgabe von Schriften. Fortbildungen für Sozialleistungsträger dienen in erster Linie der Koordinierung, Standardisierung und Harmonisierung des Leistungsgeschehens im Rahmen des Sicherstellungsauftrags gemäß § 12 SGB XI und der richtlinienkonformen Zusammenarbeit nach § 53a SGB XI.
Mit den sozialmedizinischen sachverständigen Stellungnahmen unterstützt der MDK die Pflegekassen und deren Verbände. Diese Beziehung wird erläutert in einem von der MDK-Gemeinschaft bereits im Jahr 1999 miterarbeiteten Positionspapier, in dem seinerzeit die Spitzenverbände der Krankenkassen „Rolle und Funktion des Medizinischen Dienstes im Verhältnis zu seinen Trägern“ in 11 Thesen darlegen. Danach begleitet und unterstützt der MDK als (sozial-)medizinische Sachverständigeninstitution in Dienstleistungsfunktion die Kranken- und Pflegekassen sowie ihre Verbände bei ihren Entscheidungsprozessen. Dies erfordert die Identifikation des Medizinischen Dienstes mit dem umfassenden Auftrag der GKV und SPV im gesundheitlichen Versorgungssystem, angefangen bei der Auftragsgestaltung bis hin zur Sicherstellung eines bedarfsgerechten pflegerischen Versorgungssystems. Der MDK wurde vom Gesetzgeber als kassenartenübergreifende Arbeitsgemeinschaft institutionalisiert, so wie dies sinnfällig wird in der Bezeichnung Medizinischer Dienst der Krankenversicherung – und eben nicht Krankenkassen [Gaertner et
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
al. 2006]. Der MDK wird in seiner Funktion zwar auftragsbezogen tätig, ist jedoch in seiner medizinisch-fachlichen Bewertung unabhängig und frei von Anbieterinteressen [von Mittelstaedt/Gaertner 2001]. Gewährleistet wird dies dadurch, dass die zur Finanzierung der Aufgaben des MDK erforderlichen Mittel von den Kranken- und Pflegekassen durch eine Umlage aufgebracht werden. Die Mittel sind im Verhältnis der Zahl der Mitglieder der einzelnen Kassen mit Wohnort im Einzugsbereich des Medizinischen Dienstes aufzuteilen. Neben der Unabhängigkeit ist ein weiteres Charakteristikum des Sachverständigenstatus die Weisungsfreiheit. In § 2 Abs. 4 der MBO-Ä ist nämlich folgendes festgesetzt: „Ärztinnen und Ärzte dürfen hinsichtlich ihrer ärztlichen Entscheidungen keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen“. Fernerhin gilt nach § 275 Abs. 5 SGB V: „Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sind die Gutachterinnen und Gutachter des MDK nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen.“ Dies bedeutet neben der Erfahrung im Sinne von Fachwissen und Sachkenntnis, der sorgfältigen Ermittlung der Tatbestände, der nachvollziehbaren Begründung der Ergebnisse insbesondere die Berücksichtigung des aktuellen Stands der Wissenschaft und Technik sowie ergänzend gemäß SGB die Beachtung der Richtlinien. Letztlich haben die Gutachter des Medizinischen Dienstes die Pflicht zur Unparteilichkeit. Das bedeutet Achtung auf Unbefangenheit sowie Wahrung der Objektivität, Unvoreingenommenheit und Neutralität [Gaertner/Gnatzy 2011]. Durch gestufte Prozesse können Begutachtungen und Beratungen, letztere insbesondere in Form der schriftlichen Grundsatzstellungnahmen, strukturiert und weitgehend standardisiert werden, so dass sie einen hohen Wirkungsgrad der praktischen sozialmedizinischen Leistungen gewährleisten (s. Abb. 3.4). Qualitätsprüfungen und die Durchführung von Fortbildungsmaßnahmen können methodologisch als Sonderformen der Beratung angesehen werden. Insbesondere die Durchführung der MDK-Qualitätsprüfungen in den Pflegeinrichtungen ist im Sinne von Ausführungsbestimmungen verbindlich geregelt. Die länderübergreifenden sozialmedizinischen Expertengruppen (SEG), Kompetenz-Centren (KC) sowie sozialmedizinische Foren der MDK-Gemeinschaft fördern bundesweit Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit und Qualitätssicherung dieser Arbeit einschließlich ihrer Evaluation (s. Kap. 3.7). Zu ihnen gehört auch die SEG 2 „Pflege“, die federführend beim MDK Bayern und MDK Westfalen-Lippe angesiedelt ist.
3.6 Sozialmedizinische Dimensionen
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Auftragserteilung durch eine der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen oder einen ihrer Verbände
SFB Einzelfall
Grundsatz
Kurzmitteilung
Kurzmitteilung
sozialmedizinische Begutachtung
sozialmedizinische Beratung
fallbezogene Fragestellung
grundsätzliche Problemlage
Untersuchung
Nachforschung/Probe
Bewertung/Erläuterung
Bewertung/Erläuterung
Beurteilung und Feststellung
Einschätzung/Ratschlag
sonstige Empfehlung(en)
sonstige Empfehlung(en)
Stellungnahme (i.d.R. schriftlich) Gutachten
Stellungnahme (mündlich oder schriftlich) z. B. Grundsatzgutachten
Mitteilung
Mitteilung
Abb. 3.4: Schritte zur Erstellung einer sozialmedizinischen sachverständigen Stellungnahme durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung („Erstattung eines Gutachtens“). Sie dient der rechtskonformen Darstellung einer anlassbezogenen Prüfung und der sozialgesetzlich geforderten Mitteilung vom Ergebnis (ergebnisorientierter „Dienstleistungsprozess“ als „Kuppelprodukt“ eines leistungsrechtlichen Verfahrens). SFB = Sozialmedizinische Fallberatung im Sinne einer „Steuernden Fachlichen Bearbeitung“.
3.6.1 Sozialmedizinisch-methodologische Grundlagen des Verfahrens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit Die Hilfebedürftigkeit eines Menschen nimmt bei seiner physiologischen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen ab und dann im Alter allmählich wieder zu. Das allgemeine Risiko der Zunahme des Hilfebedarfs und damit des Eintretens von Pflegebedürftigkeit besteht jedoch schicksalsbedingt grundsätzlich für jede Altersgruppe. Dem Pflegebedarf bei alten und hochbetagten Menschen wurde bei der Konzeption des Pflege-Versicherungsgesetzes sowie des auf dem SGB XI basierenden Verfahrens
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit Rechnung getragen. Aufgrund dieser initialen Zielsetzung der SPV wurde ihm die Typologie der Alterskrankheiten zu Grunde gelegt. Bei der Begutachtung bedürfen nicht-geriatrische krankheitsspezifische und behinderungstypische Folgeerscheinungen aus sozialmedizinischer Sicht einer entsprechenden Beachtung. Das Begutachtungsverfahren ist durch BegutachtungsRichtlinien präzisiert und konkretisiert [BRi 2013]. Dadurch wird die vielschichtige Konstellation der Hilfebedürftigkeit auf einen normativ beschränkten Katalog zu erhebender Tatsachen reduziert, um sozialgesetzlich konform das Konstrukt der Pflegebedürftigkeit beurteilen zu können. Mustergültig wäre ein Verfahren, methodisch allerdings nur eingeschränkt durchführbar, dass den Situationen in ihrer Mannigfaltigkeit gerecht würde und gleichzeitig mit vertretbarem Aufwand durchführbar wäre (s. Kap. 9). Ein solches standardisiertes Begutachtungsverfahren müsste die folgenden Qualitätskriterien erfüllen [Braatz/Gansweid 2005]: – Reliabilität (Reproduzierbarkeit der Untersuchung mit gleichem Ergebnis) – Validität (tatsächliche Messung des Hilfebedarfs) – Sensitivität (Erfassung Betroffener) – Spezifität (Ausschluss Nichtbetroffener) – Änderungssensitivität (Nachweis wichtiger Veränderungen) In besonderen Fällen kann bei der Analyse der Hilfebedürftigkeit, der Bewertung des Hilfebedarfs und der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit medizinisch-interdisziplinäre Zusammenarbeit bzw. zusätzlich fachspezifische Kompetenz („geeignete Fachkräfte“) unverzichtbar sein. Insbesondere das interdisziplinär angelegte Fachgebiet der Pädiatrie nimmt hinsichtlich der Hilfebedürftigkeit von Kindern eine Sonderstellung bei der Pflegebegutachtung ein [Arbeitsgruppe Kinderpflege 2000]. Dem wurde im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz durch eine Ergänzung im § 18 Abs. 7 SGB XI besonders Rechnung getragen: „Die Prüfung der Pflegebedürftigkeit von Kindern ist in der Regel durch besonders geschulte Gutachter mit einer Qualifikation als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder als Kinderärztin oder Kinderarzt vorzunehmen“ (s. Kap. 6.8). Der über den Hilfebedarf bei den gesetzlich definierten Verrichtungen der Grundpflege hinausgehende Betreuungsaufwand ist grundsätzlich kein Bestandteil der Teilabsicherung durch das Pflege-Versicherungsgesetz. Allerdings können Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) in häuslicher Pflege zusätzliche finanzielle Betreuungsleistungen zur Inanspruchnahme aktivierender und qualitätsgesicherter Betreuungsangebote erhalten, wenn neben dem Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung gegeben ist. Analog haben vollstationäre Pflegeeinrichtungen für die zusätzliche Betreuung und Aktivierung der pflegebedürftigen Heimbewohner mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung Anspruch auf Vereinbarung leistungsgerechter Zuschläge zur Pflege-
3.6 Sozialmedizinische Dimensionen
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vergütung. Leistungsberechtigt sind zu Pflegende mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, bei denen der MDK als Folge der Krankheit oder Behinderung Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens festgestellt hat, die dauerhaft zu einer erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz geführt haben. Das Begutachtungsverfahren ist in einer speziellen Richtlinie zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz und zur Bewertung des Hilfebedarfs geregelt (s. Kap. 6.7 und 6.9). Gemäß § 14 SGB XI sind pflegebedürftig diejenigen Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Gemäß den §§ 15 und 18 SGB XI hat der MDK die Voraussetzungen und das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit nach Stufen entsprechend qualitativ und quantitativ festgesetzter Merkmale zu prüfen. Die Prüfung der Pflegebedürftigkeit wird im Bedarfsfall ergänzt um Feststellungen über angemessene Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Die Referenz für die Operationalisierung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs bildete die ICIDH6 [Niehoff/Braun 2010, WHO 1980]. In Fortsetzung und Ergänzung der ICD,7 der Kernklassifikation der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO), war sie im Jahre 1980 unter Zugrundelegung des strukturellen und funktionalen Zusammenhangs des Behinderungsphänomens als Krankheitsfolge eingeführt worden. Der ICIDH lag das biomedizinische Krankheitsfolgenmodell der WHO zugrunde (s. Abb. 3.5). In weiten Bereichen der sozialmedizinischen Begutachtung insbesondere älterer Menschen liegen Erfahrungen mit der Anwendung der ICIDH als dem konzeptionellen Bezugssystem vor [Nüchtern 2001]. Dementsprechend werden bei der Pflegebegutachtung die krankheits- und/oder behinderungsbedingten Folgeerscheinungen, nämlich Schädigungen, Fähigkeitsstörungen, Ressourcen und Beeinträchtigungen der Aktivitäten, als einzelne Elemente betrachtet, als Dimensionen des
6 International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps (ICIDH): Der Titel der deutsprachigen Version lautet: „Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen“ [Matthesius et al. 1995]. 7 International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD): Deren aktuelle und ausführlichere Fassung ist die „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Tenth Revision“ (ICD-10) [WHO 1992]. Die deutsche Übertragung trägt den Titel „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision“ [www.dimdi.de].
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
ICIDH objektiviert und erlauben so bedarfsorientiert deren Einordnung, Beschreibung und Abschätzung. Krankheit oder Störung
Schädigung
Fähigkeitsstörung
Beeinträchtigung
Abb. 2.2: Krankheitsfolgenmodell der ICIDH (1980).
Abb. 3.5: Biomedizinisches Krankheitsfolgenmodell der ICIDH [WHO 1980].
Als Ausdruck der wissenschaftlichen Konsensbildung und aktuellen Revision der ICIDH wurde die ICF8 verabschiedet und veröffentlicht [WHO 2001]. Das biomedizinische Krankheitsfolgenmodell wurde erweitert, der Lebenshintergrund der Betroffenen (Kontext) mit einbezogen zum biopsychosozialen Krankheitsmodell ausgedehnt (s. Abb. 3.6). Die ICF ist mittlerweile weithin Grundlage der sozialmedizinischen Begutachtung, insbesondere bei der sachverständigen Beurteilung von Fragen zur medizinischen Vorsorge und (geriatrischen) Rehabilitation (s. Kap. 7) [Ewert et al. 2008, Grotkamp/Viol 2008]. Nach der ICF wird die Funktionsfähigkeit eines Menschen als dynamische Interaktion zwischen den Gesundheitsproblemen und den Kontextfaktoren angesehen. Mittels einer ressourcen- und defizitorientierten funktionellen Betrachtungsweise werden positive und negative Leistungsbilder erstellt und in Beziehung zu umweltbedingten sowie personbezogenen Kontextfaktoren gesetzt. Auf diese Weise werden Möglichkeiten der Betätigung (Aktivität) und Einschränkungen der Teilhabe (Partizipation) an der konkreten Lebenssituation objektiviert. Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Körperfunktionen und -strukturen
Umweltfaktoren
Aktivitäten
Partizipation [Teilhabe]
personenbezogene Faktoren
Abb. 3.6: Biopsychosoziales Krankheitsmodell mit Wechselwirkungen zwischen den Komponenten nach der ICF [WHO 2005].
8 International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF): Die Endfassung der deutschsprachigen Übersetzung (Stand Oktober 2005) trägt den Titel „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ [www.dimdi.de].
3.6 Sozialmedizinische Dimensionen
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Die sozialmedizinische Begutachtung von Versicherten im Auftrag der Pflegekassen zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI basiert sozialgesetzlich festgelegt wesentlich auf der Analyse der Hilfebedürftigkeit, der Bewertung des Hilfebedarfs sowie konkludierend auf der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit. Dies entspricht einer logischen Operation mit Erweis einer pragmatisch ausgerichteten Konsequenzrelation, also einer Folgerungsbeziehung mit Untersuchung und Feststellung der Voraussetzungen sowie abschließendem Fällen eines Schlussurteils. Die sozialmedizinische Prüfung der Voraussetzungen beruht auf der umfänglichen Analyse der Bedingungen und der Bewertung der Folgen im Sinne eines Kausalnexus, also dem folgerichtigen Begründungszusammenhang. Der zentrale Teil der Analyse selbst besteht aus der Erhebung und plausiblen Darstellung eines entsprechenden Verursachungsverhältnisses nach dem Ursache-Wirkungsprinzip (s. Tab. 3.2). Tab. 3.2: Biomedizinisches Krankheitsfolgenmodell/biopsychosoziales Krankheitsmodell und Konsequenzrelation beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI. ICIDHDimension
ICF-Kompo nenten
Manifestations Konsequenz Bezeichnung laut ebene relation utachtenformular G
Umweltfaktoren
Kontext (Lebens hintergrund)
Einfluss
Derzeitige Versorgungs- und Betreuungssituation, ambulante Wohnsituation
Disposition (Person)
Einfluss
Pflegerelevante Vorgeschichte (Anamnese), Allgemeinzustand/ Befund
Grund
Pflegebegründende Diagnose(n) ICD-10
Allenfalls implizit: person‑ personbezobezogene gene Faktoren Faktoren Krankheit oder Störung
Gesundheits Konstitution problem (Versicherter)
Schädigung KörperFähigkeitsstörung strukturen Körper funktionen
Struktur Ursache (Soma/Psyche) Funktion (Individuum)
Schädigungen und Ressourcen in Bezug auf den Stütz- und Bewegungsapparat, innere Organe, Sinnesorgane und Nervensystem/ Psyche sowie Alltagskompetenz
Beeinträchtigung
Aktion (Subjekt)
Beeinträchtigung der Aktivitäten in Bezug auf Stütz-und Bewegungsapparat, innere Organe, Sinnesorgane und Nervensystem/ Psyche sowie Alltagskompetenz Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens: Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Grundpflege) Form der Hilfe
Aktivitäten
Partizipation Integration [Teilhabe] (Situation)
Wirkung
Einschränkung der Alltags kompetenz
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
ICIDHDimension
ICF-Kompo nenten
Manifestations Konsequenz Bezeichnung laut ebene relation utachtenformular G Kompensation (Gesellschaft)
Folge
Grundpflege sowie hauswirtschaftliche Versorgung Zeitaufwand pro Tag in Minuten
Substitution Schlussurteil Pflegebedürftigkeit: (Solidargemeinnein schaft) Pflegestufe I–III außergewöhnlich hoher Pflege aufwand
Dieses deskriptiv-analytische Verfahren ist nicht primär diagnoseorientiert, sondern ermöglicht eine Abschätzung individueller erkrankungs- bzw. behinderungsbedingter Auswirkungen. Die selektiv finale Betrachtungsweise einzelner Folgeerscheinungen, insbesondere des Schweregrads der Fähigkeitsstörung allein, erlaubt allerdings keine Beurteilung der Beeinflussbarkeit des Hilfebedarfs bzw. der Indikation medizinischer, insbesondere rehabilitativer Maßnahmen, so wie es ausdrücklich im Sozialgesetz vorgesehen ist. Nur die umfassende Interpretation der Komplexität und Mehrdimensionalität des Erkrankungsgeschehens von den Grundlagen der Krankheitsursachen bis hin zu den ökologischen, sozialen und individuellen Kontextfaktoren, wie z.B. auch sogenannter Nebenerkrankungen, gestatten eine medizinisch fundierte Einschätzung des Interventionspotentials und eine plausible Indikationsstellung. Von der Zielsetzung her sind diese Anforderungen, wie sie in der ICIDH in den Kategorien zur Einschätzung der Prognose und auch in der ICF ihren Ausdruck finden, im Gesetzestext und in den Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit enthalten. Beim gegenwärtigen Begutachtungsverfahren müssen auf dieser Grundlage sowohl das erhaltene Aktivitätspotential als auch die individuellen Aktivitätseinbußen geprüft und benannt werden. In Abhängigkeit von deren Ätiologie und Pathogenese sowie von deren Prognose werden folglich auch die Empfehlungen pflegerelevanter Maßnahmen entscheidend mitbestimmt. Der Begriff der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI zielt auf eine an gewisse Bedingungen geknüpfte, anhaltende sowie erhebliche bis hochgradige Hilfebedürftigkeit und die dadurch hervorgerufene Beeinträchtigung von Aktivität und Partizipation (Teilhabe). Relevanz besitzen die Beeinträchtigungen, die sich bei den im § 14 SGB XI definierten „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens“ in den Bereichen der Grundpflege sowie der hauswirtschaftlichen Versorgung ergeben. Bemessungsgröße sind dabei folglich nicht Art und Schwere der vorliegenden Krankheiten und Behinderungen, sondern das zeitliche Ausmaß des daraus resultierenden Fremdhilfebedarfs. Art und Umfang der Hilfe bei den Verrichtungen sind die im Rahmen der Begutachtung festzustellenden Tatsachen und die Bewertung des Hilfebedarfs anhand des Zeitaufwandes führt zur Klassifizierung in Pflegestufen.
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Bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI werden im Formulargutachten (s. Anlage) die Krankheiten und/oder Behinderungen in Form der pflegebegründenden Diagnosen aufgeführt und nach der ICD-10 klassifiziert. Ihr Vorhandensein stellt die notwendige Grund(-bedingung) des Kausalnexus dar. Die Diagnosen mit ihrem pathognomonischen Hintergrund sind zwar bedeutsam für die Prognostizierung von Hilfebedürftigkeit, erlauben allein aber keine ausreichende Objektivierung der Erscheinungsformen zur graduellen Beurteilung der Pflegebedürftigkeit. Die Problematik der Differenzierung zwischen Hilfebedarf und Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf, zum Beispiel bei Menschen mit demenziellen bzw. psychischen Erkrankungen, veranschaulicht das [Braatz/Gansweid 2005]. Die daraus hervorgehenden, erhobenen Schädigungen (und Fähigkeitsstörungen) bezeichnen die Ursachen. Die insofern abzuleitenden Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Ressourcen im Hinblick auf mögliche wiederherzustellende Fähigkeiten entsprechen der Wirkung. Ihre Beschreibung nach strukturell-funktionalen Entitäten erfolgt in Bezug auf Stütz- und Bewegungsapparat, innere Organe, die Sinnesorgane sowie Nervensystem/Psyche. Die Auswirkungen der Funktionseinschränkungen bestimmen das Abhängigkeitsprofil von fremder bzw. instrumenteller Hilfe als Ausdruck des Verlustes an individueller Selbständigkeit (Hilfebedürftigkeit). Gemäß SGB XI werden berücksichtigt die Auswirkungen auf die primär die physische Unabhängigkeit bzw. Mobilität beeinflussenden, zusammenfassend als Selbstpflege bezeichneten folgenden Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL):9 Bewegen, Waschen/ Kleiden, Ernähren und Ausscheiden. Bei demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung wird zusätzlich hinsichtlich der Beeinträchtigungen der Orientierung und der sozialen Integration qualitativ das Maß ihrer Auffälligkeit sowie daraus resultierender Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf ermittelt. Dies dient als Voruntersuchung zur Feststellung erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (Screening). Bei positivem Ergebnis wird anschließend mittels einer neuro-psychischen Beurteilung und qualitativen Bewertung des allgemeinen Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarfs schematisiert anhand von 13 Kriterien gutachterlich die dauer-
9 Die ersten relevanten Arbeiten zur Aufwandserhebung und Bewertung des Assistenzbedarfs bei den basalen Alltagsaktivitäten erschienen in den 1960er Jahren: Activities of Daily Living – ADL [Katz et al. 1963] und Instrumental Activities of Daily Living – IADL [Lawton/Brody 1969]. Diese Konzepte zur Bestandsanalyse wurde weiterentwickelt und im Kompetenzmodell zur Pflege erweitert, um Kreativität, soziales Rollenverhalten, Umweltfaktoren und Selbstwahrnehmung berücksichtigen zu können [Katz et al. 1970, Lawton 1999]. Auf gerontologische Analysen gestützt wurden in der Folge drei funktionelle Bereiche unterschieden: die Grundaktivitäten des täglichen Lebens, die Hauswirtschaft und der kognitive Komplex [Wolinsky et al. 1992, 1993]. Im Hinblick auf ihre Funktion als standardisierbare Assessmentverfahren des Pflegebedarfs sind die darauf aufbauenden Prozeduren zu unterscheiden von Modellen zur Planung pflegerischer Maßnahmen. Einzelheiten finden sich im Kapitel „Pflegetheorie und Bewertung des Hilfebedarfs“.
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
hafte Erheblichkeit der eingeschränkten Alltagskompetenz geprüft (Assessment). Die getroffenen Feststellungen haben keinen Einfluss auf die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit, sondern dienen der Abklärung eines Anspruchs auf zusätzliche finanzielle Betreuungsleistungen. Aus den Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Ressourcen resultieren notwendige Hilfeleistungen. Unter Berücksichtigung umfeldbedingter und persönlicher Faktoren werden sie als Hilfebedarf bewertet. Somit ist nicht die Hilfebedürftigkeit, die sich aus den somato-psychischen Beeinträchtigungen ergibt, sondern der Hilfebedarf, der zusätzlich durch spezifisch-variable Kontextfaktoren mitbestimmt wird, Folge des Kausalnexus. Er wird bei den einzelnen Verrichtungen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) sowie der hauswirtschaftlichen Versorgung nach Form der Hilfe, Häufigkeit und Zeitdauer als Gesamtergebnis der Untersuchung veranschlagt. Im Formulargutachten wird er im Anschluss an die tabellarische Darstellung von PEA-Screening und -Assessment ausgewiesen. Die Beschaffenheit des Hilfebedarfs wird durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst und ist weder eine statische Größe noch ein unidirektionaler Prozess. In Anlehnung an das biopsychosoziale Krankheitsmodell der WHO ist der Hilfebedarf als Resultante einer dynamisch-spezifischen Wechselwirkung und komplexen Beziehung zwischen den Gesundheitsproblemen sowie den umweltbezogenen und persönlichen Kontextfaktoren verstanden eine funktionale Größe. Interventionen bezüglich dieser Faktoren können diese selbst, das Gesundheitsproblem, die anderen Komponenten, Körperfunktionen und -strukturen sowie Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe), also folglich auch Erheblichkeit der Pflegebedürftigkeit beeinflussen. Die Pflegebedürftigkeit ist ein sozialgesetzlicher Begriff mit leistungsrechtlicher Konsequenz. Ihre Beurteilung ergibt sich aus dem gutachtlichen Nachweis eines festgelegten Ausmaßes notwendigen persönlichen Hilfebedarfs. Pflegebedürftigkeit bezeichnet die daraus abzuleitende, nach den Ausschlusskriterien der Erheblichkeit zu kategorisierende, systembedingte leistungsrechtliche Konklusion. Der Pflegebedürftigkeitsstatus nach SGB XI ist das Ergebnis der zeitlichen Bewertung des Hilfebedarfs und wird im Hinblick auf die drei Pflegestufen bzw. einen außergewöhnlich hohen Pflegeaufwand gutachterlich als Schlussurteil festgestellt.
3.6.2 Die Funktion des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit Die Beteiligung des MDK am Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit („Pflegebegutachtung“) ist, wie aus § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB XI hervorgeht, gesetzlich vorgeschrieben: „Die Pflegekassen beauftragen den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder andere unabhängige Gutachter mit der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt“. In der Folge des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes (PNG) aus dem Jahr
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2012 wurde mit Inkrafttreten der „Unabhängige Gutachter-Richtlinien (UGu-RiLi)“ nach § 53b SGB XI am 11.06.2013 den Pflegekassen die Möglichkeit gegeben, Gutachteraufträge insbesondere in den Fällen drohender Fristüberschreitungen nicht nur an den Medizinischen Dienst, sondern auch an andere unabhängige Gutachterinnen und Gutachter vergeben zu können (s. Kap. 6.2). Dabei soll dann die Antragstellerin/ der Antragsteller auf Leistungen gemäß SGB XI durch die Pflegekasse das Angebot zur Auswahl einer anderen unabhängigen Gutachterin bzw. eines anderen unabhängigen Gutachters aus drei Vorschlägen erhalten. Das Verfahren wird gemäß § 17 SGB XI durch die Begutachtungs-Richtlinien konkretisiert. Sie sind für die Medizinischen Dienste als Begutachtungsgrundlage bundeseinheitlich verbindlich. So wie die Gesetze werden auch die Richtlinien durch höchstrichterliche Urteile ausgelegt. Mit den Richtlinien über die Zusammenarbeit der Krankenkassen mit den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung liegt eine auch auf den Geltungsbereich des SGB XI übertragbare Arbeitsgrundlage vor [MDS 1990]. Das Verfahren wird durch einen Antrag der Pflegebedürftigen bei der Pflegekasse eingeleitet. Der Antrag kann formlos und, wenn der Versicherte selbst dazu nicht mehr in der Lage ist, durch Bevollmächtigte und Betreuer gestellt werden. Dabei ist das Datum der Antragstellung maßgeblich mitentscheidend über den Leistungsbeginn. Nach Erhalt des Antrags werden die Anspruchsvoraussetzungen durch die Pflegekasse „von Amts wegen“ geprüft. Gemäß § 7 SGB XI haben der behandelnde Arzt, das Krankenhaus, die Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen sowie die Sozialleistungsträger mit Einwilligung des Versicherten unverzüglich die zuständige Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abzeichnet oder voraussichtlich vorliegt. Die rechtsverbindliche Feststellung der Pflegebedürftigkeit, der Pflegestufe und sonstiger daraus resultierender Ansprüche ist grundsätzlich Aufgabe der Pflegekasse. Nach § 18 SGB XI hat sie zuvor vom Medizinischen Dienst oder von anderen unabhängigen Gutachtern prüfen zu lassen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind. Bei der Bearbeitung eines Antrags auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung versetzt die sozialmedizinische sachverständige Stellungnahme („Pflegegutachten“) die Pflegekasse in die Lage, eine Leistungsentscheidung zu treffen. Zielsetzung des Gutachtens ist eine für die Sachbearbeiterin bzw. den Sachbearbeiter der Pflegekasse verständlich formulierte Beurteilung des Zustands sowie der Prognose des individuellen Hilfebedarfes in den Bereichen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung. Entsprechend des leistungsrechtlich relevanten Vorrangs von Prävention und medizinischer Rehabilitation gegenüber Pflegemaßnahmen gemäß § 31 SGB XI prüft der Medizinische Dienst auf der Grundlage des § 18 SGB XI zudem auch die Indikationen präventiver, kurativer und rehabilitativer Maßnahmen und die Notwendigkeit der Versorgung mit Hilfsmitteln und technischen Hilfen. Auf der Grundlage von Anamnese, Befund, Diagnose, Therapie und Prognose sowie der Versorgungs- und Betreu-
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ungssituation des Pflegebedürftigen hat der MDK Empfehlungen zum individuellen Pflegeplan abzugeben. In Form des sogenannten Pflegegutachtens teilt der MDK der Pflegekasse seine Beurteilung einschließlich der Empfehlungen mit. Die Indikationsstellung zur medizinischen Rehabilitation trifft der MDK nach den medizinischen Kriterien Rehabilitationsbedürftigkeit, -fähigkeit, -ziele und -prognose [MDS 2012c]. Wenn offensichtlich ist, dass die Anspruchsvoraussetzungen der Pflegebedürftigkeit nicht vorliegen, kann die Pflegekasse ausnahmsweise auf eine Beauftragung des MDK zur Begutachtung verzichten. Im Sinne des weitergehenden Prüfauftrages entbindet dies aber die Pflegekasse nicht von der Beteiligung des Medizinischen Dienstes hinsichtlich der Beurteilung der Notwendigkeit der oben aufgeführten interventionellen und versorgungstechnischen Maßnahmen sowie inhaltlicher Fragen der Pflege. Die zentrale Funktion des MDK im Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit beruht also im wesentlichen auch darauf, dass entsprechend des gesetzlich geforderten Vorrangs präventiver und rehabilitativer Maßnahmen zur Vermeidung des Eintritts von Pflegebedürftigkeit der Auftrag der Pflegekasse über die reine Beurteilung des Hilfebedarfs hinausgeht und die Empfehlungen in den Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes gegenüber der Pflegekasse Auswirkungen auf die Leistungspflicht anderer Sozialleistungsträger haben. Der Zielbereich der sozialmedizinischen Stellungnahmen des MDK ist somit der gesetzlich oder satzungsmäßig festgelegte Leistungsauftrag aller Träger der sozialen Sicherung [Müller-Held et al. 1992]. Der MDK hat die Erstuntersuchung, aber auch die in angemessenen Zeitabständen zu wiederholenden Folgeuntersuchungen im Wohnbereich des Versicherten vorzunehmen, da der kontextbedingte Hilfebedarf in beträchtlichem Ausmaß von der Ausgestaltung des Wohnumfelds abhängt. Neben der Prüfung des gesundheitlichen Zustands des Versicherten und der Möglichkeiten seiner medizinischen Rehabilitation dient die Untersuchung in der häuslichen Umgebung der Prüfung der Notwendigkeit des Einsatzes von Hilfsmitteln, technischen Hilfen, der Prognose des Hilfebedarfes sowie der Feststellung des Zeitpunktes einer eventuell erforderlichen Wiederholungsbegutachtung. Eine Veränderung des Wohnumfeldes kann Einfluss auf den zu berücksichtigenden Hilfebedarf haben. Ausnahmsweise kann aus sozialmedizinischer Sicht eine Folgeuntersuchung des Pflegebedürftigen in dessen Wohnbereich entfallen und eine Beurteilung des Hilfebedarfs aufgrund der Aktenlage erfolgen, wenn z.B. die Änderung des Hilfebedarfs aufgrund der Prognose krankheitsbedingter Behinderungen, wie bei progressiv verlaufenden Erkrankungen, gutachterlich plausibel erscheint (§ 18 Abs. 2 SGB XI). Befindet sich ein Antragsteller vorübergehend in einer kurativen oder rehabilitativen Einrichtung und liegen Hinweise vor, dass zur Sicherstellung der ambulanten oder stationären Weiterversorgung und Betreuung eine Begutachtung in der Einrichtung erforderlich ist, ist die Untersuchung unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb einer Woche dort durchzuführen. Etwa ein Viertel der Anträge bei der Pflegekasse bezieht sich auf Leistungen der vollstationären Pflege [Brucker/Seidel 2013]. Beim Übergang von häuslicher in voll-
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stationäre Pflege behält der Pflegebedürftige die ihm zuerkannte Pflegestufe bei. Bei der Begutachtung im häuslichen Umfeld sind dessen Gegebenheiten Grundlage der Pflegestufenempfehlung. Befindet sich der Antragsteller zum Zeitpunkt der Begutachtung bereits in der vollstationären Pflegeeinrichtung und verfügt nicht mehr über eine eigene Wohnung, so dient die in den Richtlinien definierte Standardwohnsituation, die sogenannte durchschnittliche häusliche Wohnsituation, als Bemessungsgrundlage. Dies soll, unabhängig von der Ausstattung der Pflegeeinrichtung, eine vergleichbare Beurteilung der Pflegebedürftigkeit und deren Einstufung gewährleisten (§ 18 Abs. 3 SGB XI). Der Gutachter des Medizinischen Dienstes hat durch eigene Untersuchung mit kritischer Prüfung medizinischer Unterlagen den Status der Pflegebedürftigkeit zu erheben und deren Prognose abzuschätzen. Dies betrifft Einschränkungen bei gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. Sofern der Antragsteller nicht schon mit seinem Antrag entsprechende ärztliche Atteste vorgelegt hat, soll der MDK mit schriftlicher Einwilligung des Versicherten ärztliche Auskünfte und Unterlagen über die für die Begutachtung der Pflegebedürftigkeit wichtigen Vorerkrankungen sowie Art, Umfang und Dauer des Hilfebedarfs einholen. Die Antragsformulare der Pflegekassen enthalten in der Regel bereits einen Passus hinsichtlich der Einwilligungserklärung zur Auskunftserteilung. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sozialgesetzlich festgelegt ist, dass – Pflege- und Krankenkassen sowie Leistungserbringer nach § 18 Abs. 5 SGB XI verpflichtet sind, dem MDK die für die Begutachtung erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen, – Unterlagen, die der Versicherte über seine Mitwirkungspflicht nach den §§ 60 und 65 SGB I hinaus seiner Krankenkasse selbst überlassen hat, an den MDK nur weitergegeben werden, soweit der Versicherte eingewilligt hat und – das Recht des Pflegebedürftigen zur Akteneinsicht und deren Umfang gemäß § 25 SGB X geregelt ist. Nach § 18 Abs. 7 SGB XI gilt: „1 Die Aufgaben des Medizinischen Dienstes werden durch Ärzte in enger Zusammenarbeit mit Pflegefachkräften und anderen geeigneten Fachkräften wahrgenommen. 2 Die Prüfung der Pflegebedürftigkeit von Kindern ist in der Regel durch besonders geschulte Gutachter mit einer Qualifikation als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder als Kinderärztin oder Kinderarzt vorzunehmen. 3 Der Medizinische Dienst ist befugt, den Pflegefachkräften oder sonstigen geeigneten Fachkräften, die nicht dem Medizinischen Dienst angehören, die für deren jeweilige Beteiligung erforderlichen personenbezogenen Daten zu übermitteln. 4 Für andere unabhängige Gutachter gelten die Sätze 1 bis 3 entsprechend.“ Der MDK hat bei der Datenübermittlung im Rahmen der Beauftragung von Honorargutachtern (sogenannten „externen“ Fachkräften) für den notwendigen Schutz personenbezogener Daten Sorge zu tragen (s. Kap. 14). Für die „jeweilige Beteiligung“ von Pflegefachkräften beim Verfahren zur
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Feststellung der Pflegebedürftigkeit antwortete die Bundesregierung im Oktober 1996 auf eine Anfrage der SPD im Bundestag: „Im Mittelpunkt des Begriffes Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI steht der Hilfebedarf bei den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens … Die hier notwendigen Hilfeleistungen können Pflegekräfte häufig besser begutachten als die ärztlichen Mitarbeiter in den Medizinischen Diensten … Allerdings gehört zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit auch die Klärung der Frage, ob der Hilfebedarf als Folge einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung entstanden ist und ob der Hilfebedarf auf Dauer in erheblichem oder höherem Maße bestehen wird. Bei der Beantwortung dieser Fragen ist die Beteiligung von Ärzten notwendig. Der Medizinische Dienst entscheidet im Einzelfall unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Unterlagen, welcher Gutachter den Versicherten in seinem Wohnbereich untersucht. Die Zusammenarbeit von Ärzten und Pflegekräften bei der Aufgabenerfüllung des Medizinischen Dienstes ist auch von der Bundesregierung gewollt.“ Einer seinerzeit für den Medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V. (MDS) erstellten juristischen Expertise würde idealerweise sicherlich am ehesten entsprochen, wenn Arzt und Pflegefachkraft gemeinsam die Besuche bei den Antragsstellern durchführen würden [Igl 1995]. Bezüglich der Bedeutung des Gutachtens als wissenschaftlich fundierte und theoretisch zu verantwortende Leistung soll auf die unterschiedlichen Voraussetzungen von Arzt und Pflegefachkraft sowohl hinsichtlich der Legitimation als auch der Kompetenz sowie der daraus erwachsenen Konsequenzen auf folgenden Gebieten hingewiesen werden [Piechowiak 1997]: – Begutachtung als Bestandteil der beruflichen Ausbildung – Durchführen der Untersuchung – Stellen von Diagnosen – Erheben kurativer Defizite – Feststellen pflegerischer Mängel – Stellen von Indikationen – Aussagen zur Prognose Bei fachübergreifenden Fragestellungen kann es notwendig sein, neben der für das Gutachten konstitutiven ärztlichen Kernkompetenz additiv weiterführende Sachkenntnis hinzuzuziehen. In der medizinischen gutachtlichen Praxis wird dies durch Veranlassung von und Bezugnahme auf Konsiliargutachten bzw. ergänzende Stellungnahmen sichergestellt. Die Begutachtung selbst ist jedoch kein Ausbildungsbestandteil für Pflegekräfte, d.h. als genuin medizinisches Gutachten kann auch das Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI auf der Grundlage einer medizinischen Untersuchung (§ 18 Abs. 2 SGB XI) nur ärztlich verantwortet werden.
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3.6.3 Die Rolle des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe Die spezifische Aufgabe des MDK als Begutachtungs- und Beratungsinstitution besteht in der Analyse bzw. Erörterung medizinischer und/oder hilfebedarfsadaptierter Frage- oder Problemstellungen in Form sozialmedizinischer sachverständiger Stellungnahmen. Diese dienen als Grundlage für fundierte sozialrechtliche Entscheidungen [Lotz-Schürmann/Rebscher 1992]. Im Hinblick auf den einzelfallbezogenen Charakter der Begutachtung und die grundsätzliche Bedeutung der Beratung kann man Qualitätsprüfungen und Fortbildungen als Sonderformen der Beratung betrachten. Mit den jährlich mittlerweile rund 1,5 Millionen Pflegebegutachtungen, den mittlerweile nahezu 23 000 Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen, den mehreren Tausend Beratungsleistungen einschließlich der Mitwirkung bei der Erstellung von Richtlinien sowie den Fortbildungs- bzw. Schulungsveranstaltungen nimmt der MDK einen maßgeblichen und umfassenden Versorgungsauftrag im sozialen Gefüge der BRD wahr [Gaertner et al. 2006, Gerber 2005, Gerber/Gansweid 2008]. Einzelheiten werden im Kapitel 6.10 dargestellt. Alle diese Stellungnahmen sind sachverständige Leistungen mit auftragsbezogener Anwendung fachwissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrung (Kernkompetenz). Am Anfang eines Vorgangs, einem Bestandteil eines mehrstufigen Entscheidungsprozesses des Auftraggebers, steht die anlassbezogene Präzisierung des Auftrags. Abgeschlossen wird das Sachverständigenverfahren durch die (Ergebnis-) Mitteilung als eigentlichem Resultat der gesamten Stellungnahme. Diese ist nach den Maßgaben des Sozialgesetzbuches sowie den Anforderungen an Dokumentationsund Geheimhaltungspflicht, insbesondere bei den Gutachten mit konkretem Versichertenbezug, zu erstellen. Durch Aufklärung und Beratung über eine gesunde, der Pflegebedürftigkeit vorbeugende Lebensführung haben die Pflegekassen die Eigenverantwortung ihrer Versicherten zu unterstützen und auf die Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen hinzuwirken (§ 6 SGB XI). Der MDK nimmt dabei eine wesentliche Funktion im Rahmen der Planung zur Durchführung der Pflege ein, indem er notwendige grundund/oder behandlungspflegerische Maßnahmen anregt und ggf. weitere Maßnahmen wie die der medizinischen Rehabilitation empfiehlt (s. Kap. 7.2). Dabei handelt er im Auftrag der Pflegekassen. Wie bereits dargestellt, sind aktive Eingriffe in die Behandlung den Gutachterinnen und Gutachtern des MDK nicht gestattet. Diese haben jedoch therapeutische Defizite eindeutig zu dokumentieren und nicht zuletzt „Feststellungen darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind“ (§ 18 SGB XI). In diesem Zusammenhang weist der MDK die Pflegekassen fallspezifisch auf die Notwendigkeit professioneller ambulanter,
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
teilstationärer und stationärer Pflegeleistungen hin und empfiehlt Hilfestellungen für pflegende Angehörige. Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ist im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe (§ 8 SGB XI). Unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes sollen Länder, Kommunen, Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen eng zusammenwirken, um eine leistungsfähige pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Dazu gehören der Ausbau notwendiger pflegerischer Versorgungsstrukturen sowie die Stärkung der Bereitschaft zu einer humanen Pflege und Betreuung durch Pflegekräfte sowie Angehörige, Nachbarn und Selbsthilfegruppen. So soll auf eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung hingewirkt werden. Verantwortlich für die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung der Versicherten sind die Pflegekassen (§ 12 SGB XI). Zur Durchführung der Ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben sollen sie örtliche und regionale Arbeitsgemeinschaften bilden. Der MDK berät diese Arbeitsgemeinschaften zum Problem der pflegerischen Versorgung, Vertragsgestaltung mit Leistungsanbietern, grundsätzlicher Versorgung mit Pflegehilfsmitteln und technischen Hilfen. Eine wichtiges Aufgabengebiet der Medizinischen Dienste betrifft die Qualitätssicherung und den Schutz der Pflegebedürftigen gemäß §§ 112–120 SGB XI. Dazu gehören im Einzelnen: – Beratung der Pflegeeinrichtungen in Fragen der Qualitätssicherung – Beteiligung bei der Vereinbarung von Maßstäben und Grundsätzen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität – Beteiligung bei der Entwicklung und Aktualisierung wissenschaftlich fundierter und fachlich abgestimmter Expertenstandards – Durchführung der Qualitätsprüfungen in den Pflegeeinrichtungen bezüglich Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualität – Berichterstattung zur Entwicklung der Pflegequalität und der Qualitätssicherung – Beteiligung bei der Erstellung von Richtlinien über die Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität Die Bundesregierung ist nach § 109 Abs. 2 SGB XI ermächtigt, jährlich eine Bundesstatistik zur Situation Pflegebedürftiger und ehrenamtlich Pflegender anzuordnen. Auskunftspflichtig ist der Medizinische Dienst gegenüber den statistischen Ämtern der Länder gemäß den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes über die von den Medizinischen Diensten für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung zu übermittelnden Berichte und Statistiken (s.a. Kap. 6.2). Die Erhebungen können folgende Sachverhalte umfassen: 1. Ursachen von Pflegebedürftigkeit 2. Pflege- und Betreuungsbedarf der Pflegebedürftigen 3. Pflege- und Betreuungsleistungen durch Pflegefachkräfte, Angehörige und ehrenamtliche Helfer
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Maßnahmen zur Prävention und medizinischen Rehabilitation Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Pflegequalität Bedarf an Pflegehilfsmitteln und technischen Hilfen Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes
Außerdem hat der MDK die Sachverhalte gleichzeitig den für die Planung und Investitionsfinanzierung der Pflegeeinrichtungen zuständigen Landesbehörden mitzuteilen. Die Länder können zusätzliche Erhebungen über Sachverhalte des Pflegewesens als Landesstatistik anordnen. Nach den Statistik-Richtlinien gemäß § 53a SGB XI erstattet der MDK Berichte, die auf den Auswertungen der im Rahmen der Pflegebegutachtung und der Qualitätssicherung gewonnenen Daten basieren. Diese sozialmedizinischen sachverständigen Stellungnahmen unterstützen gesundheitspolitische Entscheidungen zur Sicherstellung der Versorgung Pflegebedürftiger in Deutschland. Weiterhin übernimmt der MDK Aufgaben bei der regionalen Planung und Koordination einer wirtschaftlichen pflegerischen Infrastruktur, z.B. als Mitglied von Pflegekonferenzen auf Bundes-, Landes- und Regionalebene. So berät er die Entscheidungsträger unter anderem bei der Festsetzung von Kapazitäten für die ambulante, teilstationäre und stationäre pflegerische Versorgung. Dabei unterstützt der MDK beratend die Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassen bei der Vertragsgestaltung mit Leistungsanbietern durch sachverständige Stellungnahmen zur fachlichen Eignung der Leistungserbringer, wie ambulante Pflegedienste, Pflegeheime, Pflegetagesstätten etc. In den einzelnen Bundesländern sind bereits Modellprojekte unter Beteiligung des MDK initiiert. Ihre Auswertungen sollen die Grundlagen für die Weiterentwicklung der pflegerischen Infrastrukturen sowie für individuelle leistungsrechtlich relevante Entscheidungen bilden. Der MDK ist zudem bei der Beratung der Pflegekassen bei sogenannten Pflegesatzverhandlungen beteiligt. In diesen Teilbereichen des Aufgabenspektrums des MDK kommt so die initiative und interventive Komponente der angewandten Sozialmedizin im Rahmen des sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags zur Entfaltung. Als moderne Dienstleistungsinstitution des Solidarsystems unterstützt der MDK dem Wirtschaftlichkeitsgebot folgend die bedarfsgerechte Versorgung der Pflegebedürftigen und den verantwortungsvollen Einsatz finanzieller Mittel der Versichertengemeinschaft [Gaertner et al. 2001]. In diesem Zusammenhang müssen mit dem Hinweis auf mögliche Qualitätsverbesserungen der Versorgung Forderungen nach der auf Evidenzbasierter Medizin (EbM) gestützten Vorgehensweise unter ökonomischen und erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten kritisch erwogen werden [Niehoff 2001, Rogler/Schölmerich 2000]. Insbesondere für eine evidenzbasierte Pflege stellt der Mangel an verfügbaren Forschungsergebnissen eine noch ungelöste Aufgabe dar [Schiemann/Büscher 2000].
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3.7 Kompetenzbündelung und Fortbildung beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Thomas Gaertner und Martin Rieger Gemäß § 1 Abs. 3 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) sind die Pflegekassen Träger der sozialen Pflegeversicherung. Die Aufgaben der Pflegekassen werden von den Krankenkassen wahrgenommen. Somit ist die soziale Pflegeversicherung der gesetzlichen Krankenversicherung zugeordnet, und die allgemeinen Grundsätze der Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit gemäß § 70 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sind auch für die Pflegeversicherung bindend. Analog gilt dies auch für die daraus ableitbaren wie auch ausdrücklich sozialgesetzlich formulierten Pflichten zur Fortbildung der Leistungserbringer, der Helfenden, der Sozialleistungsträger sowie des Medizinischen Dienstes. Im Folgenden steht der Begriff Fortbildung kontextabhängig auch als Sammelbegriff für sämtliche Bildungsmaßnahmen in Form von Schulungen, Lehrgängen bzw. Seminaren sowie Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen. Für die Leistungserbringer gemäß SGB V ist neben der berufsfachlichen Qualifikation (Aus- und Weiterbildung) und den verpflichtenden Qualitätssicherungsmaßnahmen die fachliche Fortbildung ausdrücklich vorgeschrieben, z.B. bei der hausarztzentrierten (§ 73b) und vertragsärztlichen (§ 95d) Versorgung, der Heilmittelerbringung (§ 124), der Hilfsmittelversorgung (§ 126) oder der häuslichen Krankenpflege (§ 132a), der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (§ 132d) sowie der Versorgung durch zugelassene Krankenhäuser (§ 137). Bei ambulanten Pflegeeinrichtungen (Pflegedienste) und stationären Pflegeeinrichtungen (Pflegeheime) ist Voraussetzung für die Anerkennung als verantwortliche Pflegefachkraft, dass zusätzlich zur entsprechenden Berufserfahrung im erlernten pflegefachlichen Ausbildungsberuf eine Weiterbildungsmaßnahme für leitende Funktionen mit einer Mindeststundenzahl, die 460 Stunden nicht unterschreiten soll, erfolgreich durchgeführt wurde (§§ 71f. SGB XI). Im Rahmen der Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen muss sich aus einem Konzept für niedrigschwellige Betreuungsangebote ergeben, dass eine angemessene Schulung und Fortbildung der Helfenden sowie eine kontinuierliche fachliche Begleitung und Unterstützung der ehrenamtlich Helfenden in ihrer Arbeit gesichert sind (§ 45c SGB XI). Fach- und sachbezogene Bildungsmaßnahmen der Sozialleistungsträger gehö ren zum Verantwortungsbereich der Landesverbände der Kranken-/ Pflegekassen (§§ 52f. SGB XI). So haben die Landesverbände die Mitgliedskassen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen zu unterstützen, unter anderem durch Beratung und Unterrichtung, Förderung und Mitwirkung bei der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung der bei den Mitgliedskassen Beschäftigten sowie durch Arbeitstagungen (§ 211 Abs. 2 SGB V). Die Fortbildungsobliegenheiten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung sind aus den im Sozialgesetzbuch festgelegten Aufgaben des GKV-Spitzenverbandes, der gleichzeitig der Spitzen-
3.7 Kompetenzbündelung und Fortbildung beim Medizinischen Dienst
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verband Bund der Pflegekassen ist, abzuleiten (§ 282 SGB V, § 53a SGB XI). Zielsetzung ist die koordinierte Durchführung der Aufgaben, die Zusammenarbeit der Medizinischen Dienste in medizinischen und organisatorischen Fragen: Dies wird präzisiert in den Richtlinien – über die Zusammenarbeit der Pflegekassen mit den Medizinischen Diensten, – zur Sicherstellung einer einheitlichen Begutachtung, – zur Qualitätssicherung der Begutachtung und Beratung, – über das Verfahren zur Durchführung von Qualitätsprüfungen und zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen sowie – über Grundsätze zur Fort- und Weiterbildung. Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung wiederum haben den MDS (s.u.) bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zu unterstützen (§ 282 SGB V). Daraus ergeben sich für die Medizinischen Dienste interne Fortbildungsverpflichtungen sowie im Auftrag der Kranken-/Pflegekassen sowie ihrer Verbände insbesondere für Sozialleistungsträger externe Fortbildungsaufgaben. Letztere stellen neben den Begutachtungen, Qualitätsprüfungen und Beratungen ein weiteres Aufgabengebiet des MDK dar.
3.7.1 Kompetenzbündelung in der MDK-Gemeinschaft Das Aufgabenspektrum des Medizinischen Dienstes ist fachgebietsübergreifend und interdisziplinär angelegt. Organisatorisch erfordert dies sowohl eine Abstimmung der Leistungsprozesse innerhalb des einzelnen Landes-MDK als auch bundesweit verbindliche Standards zum Vorgehen innerhalb der MDK-Gemeinschaft. Inhaltlich bedarf es, anknüpfend an Fachwissen, Sachkenntnisse und Zusatzqualifikationen der MDK-Mitarbeiter, neben der berufsständisch verpflichtenden weiterhin auch einer tätigkeitsspezifischen kontinuierlichen Fortbildung. Notwendige Normierung des Leistungsgeschehens und geregelter Wissenserwerb werden durch die nachfolgend skizzierten Einrichtungen der Medizinischen Dienste zur Koordination und Kompetenzbündelung unterstützt. So hat der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) in Ergänzung zu und mit Unterstützung aus den Medizinischen Diensten in den Bundesländern folgende Aufgaben: – Beratung des GKV-Spitzenverbandes – Koordination und Unterstützung der Zusammenarbeit der Medizinischen Dienste – Sicherstellung einer bundesweit einheitlichen Begutachtung Zur Mitwirkung bei diesen Aufgaben wurden zusätzlich die sogenannten KompetenzEinheiten (KE) eingerichtet. Zu Themenfeldern, für die aufgrund einer hohen inhaltlichen Komplexität eine Zusammenführung und Bündelung des speziellen medizinischen Fachwissens angezeigt ist, wurden Kompetenz-Centren (KC) eingerichtet. Sie bilden eine der beiden Gruppen der Kompetenz-Einheiten. Als gemeinsame Ein-
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
richtungen der Medizinischen Dienste und des GKV-Spitzenverbandes dienen sie der Sicherstellung der fachlichen Zusammenarbeit und der Bündelung der Fachkompetenz. Aufgabengebiete der KCs sind Versorgungsstrukturfragen und Systemberatung. Sie stellen ihre Expertise nicht nur auftragsgebunden den Sozialleistungsträgern zur Verfügung, sondern wirken MDK-intern sowohl aktiv als auch beratend bei der Wissensvermittlung mit. Die folgenden vier Kompetenz-Centren wurden eingerichtet: – Kompetenz-Centrum Geriatrie (KCG) beim MDK Nord – Kompetenz-Centrum Onkologie (KCO) beim MDK Nordrhein – Kompetenz-Centrum für Psychiatrie und Psychotherapie (KCPP) beim MDK Mecklenburg-Vorpommern in Kooperation mit dem MDK Hessen – Kompetenz-Centrum Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement (KCQ) beim MDK Baden-Württemberg Die Sozialmedizinischen Expertengruppen (SEG) bilden die zweite Gruppe der Kompetenz-Einheiten. Sie bearbeiten sozialmedizinische Fragestellungen, die sich auf die Kernaufgaben des MDK in der Begutachtung, Qualitätsprüfung und Beratung beziehen. Ihre zentrale Aufgabe ist es, unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts und des Wandels der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen bundesweit eine einheitliche Vorgehensweise zu antizipieren und zu etablieren. Zu den gegenwärtig sechs sozialmedizinischen Expertengruppen zählen: – SEG 1 „Leistungsbeurteilung/Teilhabe“ (MDK Niedersachsen) – SEG 2 „Pflege“ (MDK Bayern und MDK Westfalen-Lippe) – SEG 4 „Vergütung und Abrechnung“ (MDK Baden-Württemberg) – SEG 5 „Hilfsmittel und Medizinprodukte“ (MDK Hessen) – SEG 6 „Arzneimittelversorgung“ (MDK Westfalen-Lippe) – SEG 7 „Methoden- und Produktbewertungen“ (MDS) Die SEG 3 „Versorgungsstrukturen“ wurde im Jahr 2009 aufgelöst und ihre Aufgaben auf die übrigen Expertengruppen verteilt. Zusätzlich zur Erarbeitung und Herausgabe von Handlungsanweisungen unter anderem in Form von Studienheften, Begutachtungsleitfäden, ergänzende Begutachtungsleitfäden und Grundsatzstellungnahmen werden von den Kompetenz-Einheiten Fachtagungen veranstaltet. Diese dienen gleichermaßen dem Meinungsaustausch wie der MDK-internen wie externen Fort- und Weiterbildung. Themen von Expertentagen der SEG 2 waren beispielsweise: Demenz – Herausforderung für die Pflege, neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff, Transparenz der Pflegequalität, Hüftprotektoren bei Sturzgefährdung älterer Menschen sowie Subsidiaritätsprinzip bei Pflegehilfsmitteln (gemeinsam mit der SEG 5) oder Medikation und ihre Interaktion im Alter (gemeinsam mit der SEG 6). In den Regularien für die Arbeit der Kompetenz-Einheiten der MDK-Gemeinschaft ist dazu festgehalten [MDS 2008a]: „Jede Kompetenz-Einheit führt in der Regel einmal jährlich eine öffentliche Tagung durch, zu der auch Ansprechpartner von Krankenkassen bzw. von Kassenverbänden sowie Vertreter der Leistungserbringer eingeladen werden können. Gemeinsame
3.7 Kompetenzbündelung und Fortbildung beim Medizinischen Dienst
103
Tagungen mehrerer Kompetenz-Einheiten sind möglich, wenn dies der Bearbeitung eines Themas dienlich ist.“ Zusätzlich zu den Kompetenz-Einheiten fördern Foren den strukturierten Dialog in fachlich außergewöhnlichen oder nicht alltäglichen Themenfeldern. Sie bearbeiten grundsätzlich keine Aufträge von Kranken- und Pflegekassen. Folgende Foren wurden bislang eingerichtet: – Forum „MedJur“ (MDK Nordrhein) – Forum „Zahnmedizin“ (MDK Bayern) – Forum „Wissensmanagement“ (MDS) Schließlich dienen noch Medizinische Arbeitsgruppen als ständige Einrichtungen dem fachlichen Austausch und der gemeinsamen Bearbeitung von MDK-übergreifenden fachlichen sowie organisatorischen Fragestellungen. Unter anderem haben folgende Arbeitsgruppen (AG) Bezug zur Pflegeversicherung: – AG Ü1 des Forum MedJur: Sie befasst sich mit ausgewählten medizinisch-juristischen Fragen und Problemstellungen. Sie erarbeitete z.B. einen Leitfaden für die Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen/Pflegekassen und MDK bei drittverursachten Gesundheitsschäden, insbesondere bei Behandlungs- und Pflegefehlern. – AG Ü2 Qualitätssicherung Pflegebedürftigkeit: Sie beschäftigt sich mit der Festlegung einheitlicher Prüfkriterien und inhaltlicher Schwerpunkte der MDK-internen und MDK-übergreifenden Qualitätssicherung der Pflegegutachten. Darüber hinaus wird durch die Arbeitsgruppe eine Auswertung vorgenommen und ein zusammenfassender Jahresbericht über die Qualitätssicherungsmaßnahmen verfasst. Bezugspunkt sind die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Qualitätssicherung der Begutachtung und Beratung für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung vom 23.09.2004 [MDS 2004]. – AG Ü3 Qualitätssicherung der Qualitätsprüfung: Sie sichert die Qualität der Qualitätsprüfungen in einem modularen Aufbau durch Audits, Qualitätssicherung der Prüfberichte und durch strukturierte Kundenbefragungen. Gesetzliche Grundlage sind die Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (Qualitätssicherungs-Richtlinien Qualitätsprüfung – QS-Ri QP) vom 06.05.2013. – AG SAPV und stationäre Hospizversorgung der SEG 2
3.7.2 Basisqualifikationen Ausschlaggebend bei den mehr als 2 000 ärztlichen Mitarbeitern des MDK ist die Doppelkompetenz von mindestens einer Fachgebietsbezeichnung (Facharzt) und der Zusatzbezeichnung Sozialmedizin (rund zwei Drittel aller Ärzte beim MDK). Hinzu kommen langjährige Berufserfahrung, ausgewiesene Methodenkompetenz sowie
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
im Laufe der Zeit erworbene sektorenübergreifende gesundheitssystemspezifische Kenntnisse. Der MDK unterstützt die gemäß der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) verpflichtende Fortbildung: „Ärztinnen und Ärzte, die ihren Beruf ausüben, sind verpflichtet, sich in dem Umfange beruflich fortzubilden, wie es zur Erhaltung und Entwicklung der zu ihrer Berufsausübung erforderlichen Fachkenntnisse notwendig ist.“ Daher wird seitens des MDK der Erwerb der Fortbildungszertifikate der zuständigen Landesärztekammern gezielt gefördert. Die Weiterbildung in Sozialmedizin erfolgt in aller Regel im Laufe der ersten Beschäftigungsjahre durch MDK-interne Weiterbildungsermächtigte und begleitendes Absolvieren der Weiterbildungskurse einschließlich der Abschlussprüfung bei den Landesärztekammern. So heißt es in einem Positionspapier der Leitenden Ärztinnen und Ärzte zur fachlichen Fortbildung aus dem Jahre 2005: „Ergänzend zur ärztlichen Fortbildung unterstützen die Leitenden Ärztinnen und Ärzte im Medizinischen Dienst die fachliche, insbesondere sozialmedizinische berufliche Weiterbildung der ärztlichen Gutachterinnen und Gutachter“ [Kohlhaußen 2005]. Ergänzt wird dies durch fachgebietsübergreifende Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zur Professionalisierung der Methodenkompetenz wie Qualitätsmanagement, Evidenzbasierte Medizin (EbM), Verfahrens- und Methodenbewertungen (Health Technology Assessment – HTA), Public Health, medizinische Informatik oder Krankenhausbetriebswirtschaftslehre. Die über 2 000 Pflegefachkräfte sind ausgebildete Gesundheits- und Kranken-, Alten- oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/-pflegerinnen. In Zusammenarbeit mit den Ärzten liegt ein Schwerpunkt ihres Hauptaufgabengebietes in der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß § 18 SGB XI. Einen zweiten Schwerpunkt bilden die Qualitätsprüfungen gemäß § 114 SGB XI in den Einrichtungen der ambulanten und stationären Pflege sowie die Beratungen dieser Einrichtungen. Hier werden im Qualitätsmanagement besonders fortgebildete Pflegefachkräfte eingesetzt. Bezüglich der Fortbildungsverpflichtung für Pflegekräfte gibt der ICNEthikkodex für Pflegende10 (s. Kap. 15.3) die folgende Orientierung: „Die Pflegende ist persönlich verantwortlich und rechenschaftspflichtig … für die Wahrung ihrer fachlichen Kompetenz durch kontinuierliche Fortbildung.“ Die umfassende ärztliche und pflegefachliche Kompetenz wird durch Beschäftigung von u.a. Apothekern, Orthopädietechnikern, Psychologen und Zahnärzten ergänzt.
10 Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe ist Mitglied im Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger (International Council of Nurses – ICN), der ältesten weltweiten Vereinigung nationaler Krankenpflegeverbände. Er wurde im Jahr 1899 gegründet und hat seinen Sitz in Genf. Im Jahr 1953 wurde vom ICN der Ethik-Kodex für Pflegende (Code of Ethics for Nurses) verabschiedet und im Jahr 2006 letztmals überarbeitet.
3.7 Kompetenzbündelung und Fortbildung beim Medizinischen Dienst
105
3.7.3 MDK-spezifische überregionale Fortbildungsmaßnahmen Die Fort- und Weiterbildung der gutachterlich tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird entsprechend den Richtlinien der Spitzenverbände der Kranken- und Pflegekassen über die Grundsätze der Fort- und Weiterbildung im Medizinischen Dienst (Fort- und Weiterbildungsrichtlinien –FuWRi) vom 22.08.2001 begleitet durch Mentoren sowie speziell ausgerichtete sozialmedizinische Lehrveranstaltungen [MDS 2008b, MDS 2013]. Deren Organisation und Koordination übernimmt der MDS mit seinem Fachgebiet „Fort- und Weiterbildung“. Dabei werden fachbezogen die Kompetenz-Einheiten beteiligt. In der Einarbeitungsphase wechseln sich nach einer Einführungsveranstaltung Präsenzseminare, praktische Tätigkeit („training on the job“) und strukturiertes Selbststudium ab. Mit inhaltlicher Abstimmung innerhalb der sozialmedizinischen Expertengruppen ist dazu eine Reihe von Studienheften entstanden, die systematische und strukturierte Informationen über die verschiedenen Arbeitsgebiete wie beispielsweise Pflegeversicherung, geriatrische Rehabilitation und Hilfsmittel enthalten. Die anschließende Phase der sogenannten permanenten Fortbildung ist u.a. gekennzeichnet durch MDK-interne und nachfolgend aufgeführte MDK-übergreifende Fortbildungsveranstaltungen: – Fachseminare, z.B. zu Vorsorge und Rehabilitation, Geriatrie und Pflege, Leistungsbeurteilung – Spezialseminare, z.B. zu Hilfsmitteln, Onkologie, Behandlungsfehlern – Multiplikatorenseminare, z.B. zu den Novellierungen der Begutachtungs-Richtlinien, Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, häuslicher Krankenpflege, Rehabilitation – Workshops, z.B. zu MDK-Prüfanleitung gemäß §§ 112/114 SGB XI, Beratung nach Qualitätsprüfungs-Richtlinien, Pflege-Qualitätssicherungsgesetz – Lehrgänge, z.B. zum TQM-Auditor und über Dementia-Care-Mapping
3.7.4 EDV-gestützter Wissenstransfer Neben der seminargestützten Bildungsarbeit wurde seit einigen Jahren eine internetbasierte Fortbildungs- und Kommunikationsplattform etabliert [Steidle 2005]. Unter der Bezeichnung „MD-Campus 2.0“ steht sie den Nutzern der MDK-Gemeinschaft als eine sogenannte virtuelle Akademie zur Verfügung. Neben Lernszenarien (Blended-Learning-Kurse) und Mediathek sind der dritte Hauptbereich des MD-Campus die Diskussions- und Arbeitsforen (Online-Foren). Fachgruppenspezifisch findet in den mittlerweile zwölf Foren ein intensiv genutzter Austausch zur Klärung aktueller Fragestellungen und Probleme statt [MDS 2008c]. Vom Jahr 2013 an bietet der MDS zudem über das Internet vermittelte Seminare zu ausgewählten, aktuellen Themen an. Diese sogenannten Webinare ermöglichen es den Teilnehmern, mittels einer interaktiv ausgestalteten Videoübertragung vom
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3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Arbeitsplatz aus die Präsentation des Referenten zu verfolgen. Im Anschluss daran besteht für die Teilnehmer die Möglichkeit, Fragen zu stellen und sich per internetbasierter Kommunikation in Echtzeit („chat“) mit anderen Webinar-Teilnehmern auszutauschen. Als Ergänzung zum überregionalen Fortbildungsangebot ist beim MDS die Stabsstelle „Wissensmanagement“ angesiedelt. Sie koordiniert die Arbeit des Forums Wissensmanagement der MDK-Gemeinschaft. Zudem werden bei der Stabsstelle die Auftragsdatenbank der Kompetenz-Einheiten der Medizinischen Dienste (AKoMeD) sowie die zentrale Informations-Datenbank der Medizinischen Dienste (InfoMeD) gepflegt. Gemäß dem von den Leitenden Ärztinnen/Ärzten und den Geschäftsführern verabschiedeten Beschlusspapier zur informationellen Transparenz vom Mai/Juni 2003 dienen diese beiden Wissensdatenbanken der Sicherstellung einer bundesweit einheitlichen Begutachtung. In InfoMeD befinden sich fast 3 000 Dokumente. Dazu gehören gemeinsame Empfehlungen und Hinweise, Gerichtsurteile, Gesetzestexte, offizielle Verlautbarungen, Richtlinien, Grundsatzstellungnahmen und Methodenbewertungen. Die Datensätze werden nach dem von den Leitenden Ärztinnen/Ärzten und den Geschäftsführern abgestimmten Konzept zur Aktualisierung der InfoMeD-Wissensdaten vom Juni 2002 kontinuierlich gepflegt. Das Konzept wurde im Jahr 2008 redaktionell überarbeitet und aktualisiert. Mehr als 80 Prozent des Gesamtbestandes von InfoMeD stehen in einer speziell aufbereiteten Informationsdatenbank den Kranken- und Pflegekassen (InfoMeD-KK) zur Verfügung. Mehr als 50 Prozent des Datenbestandes sind als Sozialmedizinische Informationsdatenbank für Deutschland (SINDBAD) öffentlich zugänglich. Diese Datenbank hat das Zertifikat der Stiftung Health on the Net (HON) erhalten und erfüllt demnach alle Kriterien des weitverbreitetsten ethischen Verhaltenskodexes für gesundheitsbezogene und medizinische Webseiten.
3.7.5 MDK-interne Fortbildungsmaßnahmen Neben den überregionalen finden auch in den einzelnen Medizinischen Diensten der Bundesländer eigene, zum Teil von den Landesärztekammern zertifizierte Veranstaltungen zur Fort- und Weiterbildung statt. Dazu zählen zum Teil auch die für die externen Gutachterinnen und Gutachter angebotenen Schulungen zur Durchführung der Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuchs. In einigen Medizinischen Diensten werden Hospitationen in Einrichtungen des Gesundheitswesens gezielt gefördert und sind sogar Bestandteil von Zielvereinbarungen. Außerdem führen viele Medizinische Dienste regelmäßig Fachtagungen für ihre Mitarbeiter durch. Ein Teil der Medizinischen Dienste evaluiert die Fortbildungsmaßnahmen und fasst die Ergebnisse in einem jährlich erscheinenden Fortbildungsbericht zusammen. Viele Medizinische Dienste unterhalten zudem umfangreiche Fachbibliotheken.
107
3.7 Kompetenzbündelung und Fortbildung beim Medizinischen Dienst
3.7.6 Fortbildungsveranstaltungen der Medizinischen Dienste für die Sozialleistungsträger Der MDK als Teil der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung wird grundsätzlich nur im Auftrag der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sowie ihrer Verbände sachverständig tätig. Die MDK-Expertise als wissenschaftlich begründete Leistung entfaltet ihren gutachtlichen bzw. empfehlenden Mitteilungscharakter als Bestandteil der Überprüfung des Leistungsanspruchs durch den Sozialleistungsträger [Gaertner et al. 2001]. Die leistungsrechtliche Entscheidung obliegt abschließend der Kranken- bzw. Pflegekasse. Um das medizinische Fachwissen und die sozialmedizinische Sachkenntnis des MDK effizient nutzen zu können, bedarf es der Koordination der Zusammenarbeit zwischen Sozialleistungsträgern und Medizinischen Diensten. Dazu gehört neben der Abstimmung der Leistungsprozesse auch die Vermittlung medizinischen einschließlich pflegerischen Grundwissens sowie sozialmedizinischer Kenntnisse mit ihren sozialrechtlichen Implikationen. Zur Harmonisierung des Auftragsgeschehens und Optimierung der Fallaufbereitung gibt es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kranken- und Pflegekassen ein speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Fortbildungsangebot zum gesamten Versorgungsspektrum der GKV und SPV (s. Abb. 3.7). Medizinrecht Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Rehabilitation Außervertragliche Leistungen Hilfsmittel Urologie Augenheilkunde Geriatrie Palliativmedizin Pflege Chirurgie Dermatologie Sonstige Themenwünsche der Auftraggeber Onkologie Sozialmedizinische Aspekte ausgewählter Erkrankungen Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Vergütung und Abrechnung Krankenhaus 0
2 2 2 3 3 3 5 5 8 8 9 9 12 14 21 26 44
10
20
30
40
Abb. 3.7: Anzahl der insgesamt 176 beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern während des Jahres 2012 durchgeführten Fortbildungsveranstaltungen nach Themenkomplexen.
108
3 Grundlagen und Ziele der sozialen Pflegeversicherung
Mit Blick auf die Pflegeversicherung bieten die einzelnen Medizinischen Dienste zum Teil modular aufgebaute Fortbildungsveranstaltungen u.a. zu folgenden Themenkomplexen an: – Begutachtung bei Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI – Begutachtung nach Aktenlage oder Widerspruchsbegutachtung für die soziale Pflegeversicherung – Pflegebedürftigkeit bei Kindern mit Verhaltensstörungen, z.B. bei Autismus oder AD(H)S – Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern – Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen gemäß §§ 112ff. SGB XI – Direktberatung in der Pflegeversicherung – Dekubitus: Abgrenzung Pflegefehler versus Komplikation – Psychische Erkrankungen – Sturzprophylaxe – Nationaler Expertenstandard – Auswirkungen des Pflege- Weiterentwicklungsgesetzes – Pflege im Hospiz – Fallsteuerung in der Pflegeversicherung – Fallsteuerung in der häuslichen Kranken- und Intensivpflege – Modernes Wundmanagement Infolge des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (§ 7a SGB XI) haben ab dem 01.01.2009 Leistungsbezieher/Pflegebedürftige gemäß SGB XI Anspruch auf umfassende Pflegeberatung im Sinne eines individuellen Fallmanagements. Diese Pflegeberatung soll grundsätzlich durch Pflegefachkräfte, Sozialversicherungsfachangestellte oder Sozialarbeiter durchgeführt werden, die eine Zusatzqualifikation entsprechend den Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes erworben haben [GKV-Spitzenverband 2008]. Einige Medizinische Dienste befassen sich bereits mit derartigen Qualifikationsmaßnahmen. Die Medizinischen Dienste engagieren sich auch hinsichtlich der Gestaltung von Kongressen und deren Ausrichtung auf Spezifika der sozialmedizinischen Sachverständigentätigkeit. Dazu zählen u.a. die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e.V. (DGSMP), der Hauptstadtkongress, der Europäische Gesundheitskongress und der Kongress der EUMASS (European Union of Medicine in Assurance and Social Security). Der sachkundigen Fortbildung dienen weiterhin wissenschaftliche Publikationen sowie redaktionelle Mitarbeit bei Fachzeitschriften. Dazu zählen z.B. Das Gesundheitswesen, Die Rehabilitation, Der medizinische Sachverständige sowie Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. Die Bildungsarbeit wird abgerundet durch die Herausgabe des MDK-Forums, des viermal jährlich erscheinenden Magazins der MDK-Gemeinschaft, den Versand von Newslettern sowie die Edition themenspezifischer Schriften einzelner Medizinischer Dienste. Über die bereits oben genannten Informationsdatenbanken InfoMeD-KK und SINDBAD hinaus gestalten die Medizinischen Dienste in
3.7 Kompetenzbündelung und Fortbildung beim Medizinischen Dienst
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ihren Internetauftritten speziell auf die Sozialleistungsträger, deren Versicherte und die Leistungserbringer zugeschnittene Seiten. Dort findet man nicht nur ausführliche Angaben zum Fortbildungsprogramm, sondern zielgruppenspezifisch aufbereitete Mitteilungen zu aktuellen Entwicklungen im Gesundheitswesen, Hinweise zum Begutachtungsverfahren sowie sozialmedizinische Basisinformationen.
4 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung Friedrich Schwegler und Karlheinz Großgarten In Deutschland ist die Sozialstaatlichkeit in Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) verankert. Die grundgesetzliche Sozialstaatlichkeit fordert nicht die Bildung eines zentral gesteuerten Versorgungsstaates, sondern eines freiheitlichen Sozialstaates, der für jedermann menschenwürdige Lebensbedingungen schafft und erhält. Aus dem Sozialstaatsprinzip folgt, dass laut Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die staatliche Gemeinschaft in der Regel die Lasten mitträgt, die aus einem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal entstanden sind und nur zufällig einen bestimmten Personenkreis treffen (BVerfG 13.01.1976 – 1 BvR 631/69). Daher sind die klassischen Systeme der sozialen Sicherung gegen die Lebensrisiken Alter, Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit (die vier „alten“ Säulen des sozialen Sicherungssystems) durch das Sozialstaatsprinzip legitimiert. Eines der zentralen Themen in der Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland – wie in vielen anderen Ländern in Europa und Übersee – war in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Absicherung des Lebensrisikos der Pflegebedürftigkeit. In vielen Ländern wurden hierfür gesetzliche Regelungen getroffen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Pflegeversicherung als fünfte Säule des Sozialversicherungssystems eingeführt. Die durch die gesetzlichen Regelungen in den einzelnen Ländern aufgebrachten Geldmittel werden den Bürgern als Geldleistungen, als Leistungen professioneller Dienste oder durch eine institutionalisierte Versorgung zur Verfügung gestellt. Die steuerfinanzierten oder wie in Deutschland durch eine Sozialversicherung aufgebrachten Finanzmittel dienen dem Ausgleich von privaten Pflegerisiken und Ressourcenausstattungen. Die Geldmittel sollen die Lebenschancen bei dem Risiko Pflegebedürftigkeit angleichen, das häufig die Leistungspotentiale der Einzelnen übersteigt. Die Versorgung der Pflegebedürftigen hängt damit weniger von privaten bzw. familiären „Zufälligkeiten“ ab [Dallinger/Theobald 2008]. Mit dem Vorhandensein einer Pflegeversicherung ist die Versorgung Pflegebedürftiger nicht mehr allein der Familie zugewiesen, sondern wurde Gegenstand sozialpolitischer Regulation. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird unterschieden zwischen formeller Pflege durch ambulante und stationäre Dienstleistungen sowie informeller Pflege im Rahmen der Familie oder anderer Helfer mit finanzieller Unterstützung durch Leistungen der Pflegeversicherung. In Deutschland werden die zur Verfügung gestellten Finanzmittel überwiegend als Geldleistungen für die informelle Pflege genutzt (s.a. Kap. 6.10). Es war eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers, bei Einführung der Pflegeversicherung Finanzmittel für informelle Pflegesettings zur Verfügung zu stellen, um damit familiale Pflegeformen zu stärken. Dies steht im Gegensatz zu skandinavischen Versorgungssystemen, die ganz überwiegend durch Leistungen der formellen Pflege geprägt sind und dadurch einen deutlich defamilialisierten Charakter erhalten
112
4 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
[Leitner 2003]. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass durch die Vergabe von Finanzmitteln für die informelle Pflege in Deutschland auch die Entwicklung eines „grauen Pflegemarktes“ möglich war, auf dem Pflegekräfte aus den mittel- und osteuropäischen Ländern unter den Bedingungen von neuen Arbeitsformen für pflegenahe und pflegerische Dienstleistungen eingesetzt werden [Kondratowitz 2005, Reichert 2009]. Interessant bei der Betrachtung der Leistungen der Pflegeversicherung ist deren volkswirtschaftliche Bedeutung in Deutschland. Die Bruttowertschöpfung der Pflegewirtschaft stieg von 1996 bis 2008 um mehr als 50 Prozent, dies bedeutet für diesen Zeitraum ein durchschnittliches Wachstum von 5,7 Prozent pro Jahr. Die durchschnittliche Wachstumsrate der Gesamtwirtschaft betrug in diesem Zeitraum lediglich 1,9 Prozent pro Jahr [Ostwald 2010]. Die Bruttowertschöpfung der Gesundheitswirtschaft nahm im Zeitraum von 1997 bis 2005 um durchschnittlich 3,26 Prozent pro Jahr zu, wobei die Zahlen in diesem Bereich sehr stark von der Pflegewirtschaft bestimmt waren. Die Wachstumsrate der Gesamtwirtschaft war im genannten Zeitraum mit 1,51 Prozent pro Jahr um etwa die Hälfte niedriger [Rothgang/Larisch 2011]. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind ergänzende Leistungen für die Versorgung der Pflegebedürftigen, sie sind gestaffelt nach dem Ausmaß der Pflegebedürftigkeit (pflegebedingte Aufwendungen). Die Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung sind von den Pflegebedürftigen sowohl bei häuslicher als auch bei teilstationärer und vollstationärer Pflege immer selbst zu tragen. In teilstationären und stationären Pflegesettings umfassen die Leistungen auch die soziale Betreuung des Pflegebedürftigen und die Behandlungspflege. Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit und damit die Höhe der Leistungen wird durch die Einstufung des Pflegebedürftigen in eine Pflegestufe nach § 18 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) oder andere unabhängige Gutachter festgestellt (s. Kap. 6.5). Die Pflegestufe ist somit ein Faktor für die Höhe des Leistungsbetrages. Ein weiterer Faktor für die Höhe der Leistungen ist neben der Pflegestufe auch, ob die Pflege in häuslicher Umgebung oder in einer stationären bzw. teilstationären Einrichtung erfolgt. Seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 wurde der gesellschaftliche Beitrag honoriert, den pflegende Angehörige oder andere Helfer leisten [Metzing/ Schnepp 2008]. Es werden mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen durch Angehörige oder andere Helfer gepflegt [Reichert 2009, Enste 2011]. Beim Ausgleich der durch die Pflege eines Pflegebedürftigen entstehenden Aufwendungen im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung werden im SGB XI Geldleistungen und Sachleistungen unterschieden. Geldleistung erfolgt bei informeller Pflege im Rahmen der Familie oder durch andere Helfer, d.h., der Pflegebedürftige erhält den der festgestellten Pflegestufe entsprechenden Geldbetrag und organisiert und bezahlt damit seine Pflege selbst. Für pflegende Angehörige werden Beiträge zur Renten- und Unfallversicherung über-
4.1 Leistungen bei häuslicher Versorgung des Pflegebedürftigen
113
nommen. Zusätzlich wurden Entlastungsangebote geschaffen für Erholungs- bzw. Urlaubszeiten. Sachleistung erfolgt bei formeller Pflege durch einen ambulanten Pflegedienst, mit dem die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat. Die vom Leistungserbringer geleistete Pflege wird bis zur Höhe der festgestellten Pflegestufe direkt mit der Pflegekasse abgerechnet. Neben den Leistungen für Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung können Personen mit mindestens erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (s. Kap. 6.7 und 6.9) zusätzliche Betreuungsleistungen nach § 45b SGB XI in Anspruch nehmen. Die Kosten hierfür werden ersetzt (Erstattungsleistungen), höchstens jedoch 100 Euro monatlich (Grundbetrag) oder 200 Euro monatlich (erhöhter Betrag). Die Höhe der Leistungsbeträge in den einzelnen Pflegestufen ist gesetzlich festgelegt. Die mit Einführung der Pflegeversicherung (ambulant 01.04.1995, stationär 01.07.1996) festgelegten Beträge waren bis zum 30.06.2008 gültig, in diesem Zeitraum erfolgte keine Anpassung der Beträge. Dieser Sachverhalt führte zu einer Unterfinanzierung der Pflegeleistungen [Häcker 2007]. Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) am 01.07.2008 wurden die Leistungsbeträge erstmalig angehoben. In den Jahren 2010 und 2012 sind weitere Anhebungen erfolgt. Ab dem Jahr 2014 ist eine Dynamisierung der Leistungsbeträge vorgesehen. Trotz der erfolgten Anhebungen der Leistungen wird das deutsche Pflegesystem im EU-Vergleich als unterdurchschnittlich finanziert angesehen [Schulz 2012]. Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) wurden zum 01.01.2013 neue Leistungen eingeführt (§§ 123ff. SGB XI).
4.1 Leistungen bei häuslicher Versorgung des Pflegebedürftigen 4.1.1 Pflegesachleistungen (§ 36 SGB XI) Sind die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI erfüllt, besteht bei häuslicher Pflege Anspruch auf Sachleistung (häusliche Pflegehilfe) zur Durchführung grundpflegerischer und hauswirtschaftlicher Leistungen (s. Tab. 4.1). Leistungserbringer sind ambulante Pflegeeinrichtungen. Bei Pflege in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, in Einrichtungen der sozialen und beruflichen Rehabilitation sowie Krankenhäusern ist ein Bezug von Pflegesachleistungen ausgeschlossen. In seltenen Fällen können auch Einzelpersonen Leistungserbringer sein, mit denen die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat. Solche Verträge mit Einzelpersonen (§ 77 SGB XI) sind in der Praxis noch selten, sollen jedoch in Zukunft an Bedeutung zunehmen.
114
4 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
Tab. 4.1: Pflegesachleistungen bei häuslicher Pflege nach Pflegestufe in Euro pro Monat. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Härtefall
450
1.100
1.550
1.918
4.1.2 Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen (§ 37 SGB XI) Anstelle der Pflegesachleistung können Pflegebedürftige Pflegegeld beantragen, sofern der Pflegebedürftige hierdurch die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellen kann. Anspruchsvoraussetzungen der Pflegebedürftigen für den Bezug von Pflegegeld sind also nicht allein eine häusliche Versorgungssituation, sondern zusätzlich eine dem erforderlichen Pflegeumfang gerecht werdende pflegerische Versorgungsqualität. Der Pflegebedürftige muss die häusliche Versorgungsqualität durch Abrufen einer Beratung nachweisen (§ 37 Abs. 3 SGB XI). Im Regelfall erfolgt sie durch einen Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes, der einen Versorgungsvertrag mit der Pflegekasse hat. Die Beratung muss bei Pflegestufe I und II halbjährlich, bei Pflegestufe III vierteljährlich erfolgen. Der MDK-Gutachter ist bei Anträgen auf Geldleistungen verpflichtet, die ausreichende Sicherung der häuslichen Pflegesituation zu beurteilen und gegebenenfalls auf Veränderungen und Hilfen hinzuwirken. Der Anspruchsumfang staffelt sich entsprechend der festgestellten Pflegestufe (s. Tab. 4.2). Tab. 4.2: Pflegegeldleistungen für selbst beschaffte Pflegehilfen nach Pflegestufe in Euro pro Monat. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Härtefall
235
440
700
–
Im Gegensatz zu den Pflegesachleistungen wird die Zahlung des Pflegegeldes oder des anteiligen Pflegegeldes bei Bezug von Kombinationsleistungen (s. folgender Abschnitt) in den ersten vier Wochen einer stationären Krankenhausbehandlung oder einer stationären medizinischen Rehabilitationsmaßnahme fortgeführt.
4.1.3 Kombination von Geldleistung und Sachleistung: Kombinationsleistung (§ 38 SGB XI) Wird der Gesamtwert der einem Pflegebedürftigen zustehenden Pflegesachleistung (Pflegeeinsätze) nur teilweise in Anspruch genommen, kann daneben ein anteiliges
4.1 Leistungen bei häuslicher Versorgung des Pflegebedürftigen
115
Pflegegeld bezogen werden. Der Entscheid des Pflegebedürftigen über die Anteilsverhältnisse ist sechs Monate bindend.
4.1.4 Zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen (§ 38a SGB XI) Pflegebedürftige haben Anspruch auf einen pauschalen Zuschlag in Höhe von 200 Euro monatlich, wenn sie in einer ambulant betreuten Wohngruppe in einer gemeinsamen Wohnung mit häuslicher pflegerischer Versorgung leben und Leistungen nach § 36, § 37 oder § 38 SGB XI beziehen. In der Wohnung müssen mindestens drei Pflegebedürftige leben und die Wohngruppe muss von einer Pflegekraft betreut werden, die organisatorische, verwaltende und pflegerische Tätigkeiten durchführt.
4.1.5 Häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson (§ 39 SGB XI) Für längstens vier Wochen im Kalenderjahr gewährt die Pflegekasse bei Verhinderung der Pflegeperson einem Pflegebedürftigen die Kosten einer notwendigen Ersatzpflege. Voraussetzung ist, dass die Pflegeperson den Pflegebedürftigen vor der erstmaligen Verhinderung mindestens sechs Monate in seiner häuslichen Umgebung gepflegt hat. Erfolgt diese Ersatzpflege durch nahe Angehörige (bis zum 2. Grad verwandt oder verschwägert), entsprechen die Leistungen dem Betrag des Pflegegeldes der festgestellten Pflegestufe (s. Tab. 4.3). Entstehen für diesen Personenkreis zusätzliche Kosten, die den Betrag des Pflegegeldes übersteigen (z.B. durch Anreise von einem anderen Wohnort oder durch Übernachtungskosten in einem Hotel), können diese Kosten bis zu einem Höchstbetrag von 1.550 Euro erstattet werden. Tab. 4.3: Verhinderungs-Pflege durch nahe Angehörige (bis zum 2. Grad verwandt oder verschwägert): Geldleistungsbeträge nach Pflegestufe in Euro pro Jahr. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Härtefall
235
440
700
–
Wird die Ersatzpflege durch andere Personen durchgeführt, können Kosten, die der Pflegeperson nachweislich entstehen, bis zu einem Höchstbetrag von 1.550 Euro von der Pflegekasse übernommen werden (s. Tab. 4.4). Durch die Neuregelungen des PNG wird ab 01.01.2013 die Hälfte des bisher bezogenen Pflegegeldes bei einer Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI für bis zu vier Wochen je Kalenderjahr fortgewährt.
116
4 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
Tab. 4.4: Verhinderungs-Pflege durch andere Personen: Geldleistungsbeträge nach Pflegestufe in Euro pro Jahr. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Härtefall
bis 1.550
bis 1.550
bis 1.550
–
4.1.6 Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen (§ 40 SGB XI) und Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 33 SGB V) Pflegebedürftige haben Anspruch auf eine Versorgung mit Pflegehilfsmitteln. Diese dienen der Erleichterung der Pflege, der Linderung von Beschwerden des Pflegebedürftigen oder der Ermöglichung einer selbständigeren Lebensführung. Pflegehilfsmittel sind im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes unter den Produktgruppen 50 bis 54 gelistet (s. http://www.gkv-spitzenverband.de). Es handelt sich um folgende Produktgruppen: 50 (Pflegehilfsmittel zur Erleichterung der Pflege), 51 (Pflegehilfsmittel zur Körperpflege/Hygiene), 52 (Pflegehilfsmittel zur selbständigeren Lebensführung/Mobilität), 53 (Pflegehilfsmittel zur Linderung von Beschwerden) und 54 (Zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel). Es werden für den Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel und technische Pflegehilfsmittel unterschieden. Aufwendungen für zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel (z.B. Einmalhandschuhe, Betteinlagen) dürfen 31 Euro pro Monat nicht überschreiten. Technische Pflegehilfsmittel sollen vorrangig leihweise überlassen werden, ansonsten werden 90 Prozent der Kosten übernommen, der Rest muss als Eigenbeteiligung vom Pflegebedürftigen übernommen werden (jedoch höchstens 25 Euro). Eine Eigenbeteiligung ist bei Pflegebedürftigen unter 18 Jahren nicht erforderlich. Pflegebedürftige haben Anspruch auf eine Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 33 SGB V). Sie dienen dem Erfolg der Krankenbehandlung, der Vorbeugung einer drohenden Behinderung oder dem Ausgleich einer Behinderung. Hilfsmittel sind im Hilfsmittelverzeichnis unter den Produktgruppen 01 bis 33 gelistet. Hilfsmittel haben häufig auch den Effekt einer Erleichterung der Pflege. Die Versorgung mit Hilfsmitteln zu Lasten der Krankenversicherung hat jedoch immer Vorrang vor der Versorgung mit Pflegehilfsmitteln zu Lasten der Pflegeversicherung. Hilfsmittel der Produktgruppen 04 (Badehilfen), 18 (Kranken-/Behindertenfahrzeuge), 19 (Krankenpflegeartikel), 20 (Lagerungshilfen), 22 (Mobilitätshilfen), 33 (Toilettenhilfen) sowie Produktgruppe 50 der Pflegehilfsmittel (Pflegehilfsmittel zur Erleichterung der Pflege) dienen neben den in § 37 SGB XI genannten Zielen auch der Erleichterung der Pflege. Hilfsmittel der genannten Produktgruppen werden deshalb als doppelfunktionale Hilfsmittel definiert, bei denen eine gemeinsame anteilige Kostenerstattung von Krankenkassen und Pflegekassen erfolgt. Die Genehmigung der Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Festlegung der doppelfunktionalen Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittel sowie zur
4.1 Leistungen bei häuslicher Versorgung des Pflegebedürftigen
117
Bestimmung des Verhältnisses zur Aufteilung der Ausgaben zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung vom 17.04.2012 durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) stand bei Drucklegung des Buches noch aus. Die Pflegekasse kann Maßnahmen zur Verbesserung des häuslichen Wohnumfeldes des Pflegebedürftigen unterstützend finanzieren, wenn hierdurch die häusliche Pflege ermöglicht, erheblich erleichtert oder eine möglichst selbständige Lebensführung des Pflegebedürftigen wieder hergestellt wird. Dabei sind alle Maßnahmen, die zum Zeitpunkt der Zuschussgewährung (und damit auf der Grundlage des zu diesem Zeitpunkt bestehenden Hilfebedarfs) zur Wohnumfeldverbesserung erforderlich sind, als eine Verbesserungsmaßnahme anzusehen. Zur Berechnung des Zuschussbetrages, der 2.557 Euro je Maßnahme nicht übersteigen darf, werden die Kosten der Maßnahme sowie ein angemessener Eigenanteil in Abhängigkeit vom Einkommen des Pflegebedürftigen herangezogen. Einen Überblick über den möglichen Umfang von Wohnumfeld verbessernden Maßnahmen gibt das gemeinsame Rundschreiben der Spitzenverbände der Pflegekassen und des GKV-Spitzenverbandes zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des Pflege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG) vom 17.07.2008 zu § 40 Abs. 4 SGB XI. Durch die Neuregelungen des PNG haben ab dem 01.01.2013 auch Pflegebedürftige, die in einer gemeinsamen Wohnung leben, diese Ansprüche. Die Zuschüsse für Maßnahmen zur Verbesserung des gemeinsamen Wohnumfeldes dürfen einen Betrag in Höhe von 2.557 Euro je Pflegebedürftigem nicht übersteigen. Der Gesamtbetrag je Maßnahme ist auf 10.228 Euro begrenzt und wird bei mehr als vier Anspruchsberechtigten anteilig auf die Versicherungsträger der Anspruchsberechtigten aufgeteilt.
4.1.7 Leistungen für Pflegebedürftige bei teilstationärer Pflege: Tages- und Nachtpflege (§ 41 SGB XI) Eine Versorgung in einer teilstationären Pflegeeinrichtung ist angezeigt, wenn Pflegebedürftige tagsüber oder auch nachts der Pflege bedürfen und sie im häuslichen Umfeld tageweise nicht sichergestellt werden kann oder eine tageweise Entlastung der Pflegeperson erforderlich ist. Neben den pflegebedingten Aufwendungen, den Aufwendungen der sozialen Betreuung und den Aufwendungen für die in der Einrichtung notwendigen Leistungen der medizinischen Behandlungspflege ist auch die notwendige tägliche Beförderung der Pflegebedürftigen von der Wohnung zur Einrichtung und zurück mit den Leistungen zur teilstationären Pflege abgegolten. Die teilstationäre Pflege ist – im Gegensatz zur Verhinderungspflege oder Kurzzeitpflege – nicht befristet. Der Anspruchsumfang staffelt sich entsprechend der festgestellten Pflegestufe (s. Tab. 4.5).
118
4 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
Tab. 4.5: Geldleistungsbeträge bei teilstationärer Pflege (Tages- und Nachtpflege) nach Pflegestufe in Euro pro Monat. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Härtefall
450
1.100
1.550
–
Bei voller Ausschöpfung der Leistungen der Tages- und Nachtpflege können nach den Vorgaben des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes zusätzlich 50 Prozent an ambulanter Pflegesachleistung oder Kombinationsleistung in Anspruch genommen werden. Neben der vollen Inanspruchnahme von Pflegegeld können 50 Prozent der Leistungen an Tages- und Nachtpflege in Anspruch genommen werden.
4.1.8 Kurzzeitpflege (§ 42 SGB XI) Kann die häusliche Pflege für einige Wochen nicht oder nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht für Pflegebedürftige ein bis auf vier Wochen pro Kalenderjahr befristeter Anspruch auf vollstationäre Pflege. Dies gilt für eine Übergangszeit im Anschluss an eine stationäre Behandlung des Pflegebedürftigen oder aber in sonstigen Krisensituationen wie z.B. bei Erkrankung der häuslichen Pflegeperson. Kurzzeitpflege ist im Gegensatz zur Verhinderungspflege (§ 39 SGB XI) auch ohne vorherige sechsmonatige häusliche Pflege möglich. Der Anspruchsumfang beträgt maximal 1.550 Euro pro Jahr und beinhaltet neben den pflegebedingten auch die Aufwendungen der sozialen Betreuung und die in der Einrichtung notwendigen Leistungen der medizinischen Behandlungspflege (s. Tab. 4.6). Tab. 4.6: Geldleistungsbeträge bei Kurzzeitpflege nach Pflegestufe in Euro pro Jahr. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Härtefall
bis 1.550
bis 1.550
bis 1.550
–
Die Hälfte des vor der Inanspruchnahme der Kurzzeitpflege nach § 42 SGB XI bezogenen Pflegegeldes wird während einer Kurzzeitpflege für bis zu vier Wochen je Kalenderjahr fortgewährt. Nach den Neuregelungen des PNG kann Kurzzeitpflege auch in stationären Einrichtungen der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation erfolgen, wenn die Pflegeperson diese Leistungen in Anspruch nimmt und gleichzeitig eine Unterbringung und Pflege des Pflegebedürftigen erforderlich ist.
4.1 Leistungen bei häuslicher Versorgung des Pflegebedürftigen
119
4.1.9 Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in ambulanter und teilstationärer Pflege (§ 45b SGB XI) Nach dem Inkrafttreten des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes (PflEG) am 01.04.2002 erhielten seit diesem Zeitpunkt Pflegebedürftige der Stufen I bis III in ambulanter und teilstationärer Pflege zusätzliche Betreuungsleistungen in Höhe von bis zu 460 Euro pro Jahr, wenn zusätzlich zum Hilfebedarf in der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung aufgrund einer demenzbedingten Fähigkeitsstörung, einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung gutachterlich festgestellt ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung gemäß den Kriterien nach § 45a SGB XI gegeben war. Dieser Betreuungsbetrag für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) ist zweckgebunden für qualitätsgesicherte Betreuungsleistungen einzusetzen und dient der Erstattung von Aufwendungen im Zusammenhang mit Inanspruchnahme von Leistungen 1. der Tages- und Nachtpflege, 2. der Kurzzeitpflege, 3. der zugelassenen Pflegedienste hinsichtlich besonderer Angebote der allgemeinen Anleitung und Betreuung oder 4. der nach Landesrecht anerkannten niedrigschwelligen Betreuungsangebote, die nach § 45c SGB XI gefördert oder förderungsfähig sind. Mit dem Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes am 01.07.2008 wurden die Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in ambulanter und teilstationärer Pflege deutlich angehoben und sind nicht mehr vom Vorliegen einer Pflegestufe abhängig. Für Versicherte mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (§ 45a SGB XI) werden seit dem 01.07.2008 zusätzliche Betreuungsleistungen bis zu einem Grundbetrag von 100 Euro pro Monat gezahlt. Bei höhergradiger Ausprägung des erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs (s. Kap. 6.7) werden Leistungen bis zu einem erhöhten Betrag von 200 Euro pro Monat gezahlt.
4.1.10 Anschubfinanzierung zur Gründung von ambulant betreuten Wohngruppen (§ 45e SGB XI) Zur Förderung der Gründung von ambulant betreuten Wohngruppen wird Pflegebedürftigen, die Anspruch auf Leistungen nach § 38a SGB XI haben und die an der gemeinsamen Gründung beteiligt sind, für die altersgerechte oder barrierearme Umgestaltung der gemeinsamen Wohnung zusätzlich zu dem Betrag nach § 40 SGB XI einmalig ein Betrag von bis zu 2.500 Euro gewährt. Der Gesamtbetrag ist je Wohn-
120
4 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
gruppe auf 10.000 Euro begrenzt und wird bei mehr als vier Anspruchsberechtigten anteilig auf die Versicherungsträger der Anspruchsberechtigten aufgeteilt.
4.1.11 Übergangsregelungen zur Verbesserung der Pflegeleistungen für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (§ 45a SGB XI) bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungsgewährung auf Grund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs regelt (§ 123 SGB XI) Durch die Neuregelungen des PNG werden ab 01.01.2013 zusätzliche Leistungen für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, die ambulant betreut werden, eingeführt. Erstmals haben diese Anspruch auf Geld- oder Sachleistungen, auch wenn sie die Voraussetzungen der Pflegestufe I noch nicht erfüllen. Für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz in den Pflegestufen I und II erhöhen sich diese Ansprüche. Zu den Leistungen im Einzelnen siehe Tabelle 4.7. Tab. 4.7: Leistungen im Rahmen der Übergangslösung zur Verbesserung der Pflegeleistungen für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) nach § 123 SGB XI in Euro pro Monat. PEA ohne Pflegestufe PEA bei Pflegestufe I
PEA bei Pflegestufe II
Sachleistung nach § 45 b 100 oder 200
100 oder 200
100 oder 200
Pflegegeld
120
235 + 70
440 + 85
Pflegesachleistung
225
450 + 215
1.100 + 150
4.1.12 Übergangsregelung zur Verbesserung der häuslichen Betreuung von Pflegebedürftigen bis zum Inkrafttreten eines Gesetzes, das die Leistungs gewährung auf Grund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs regelt (§ 124 SGB XI) Pflegebedürftige der Pflegestufen I bis III sowie Versicherte, die wegen erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz die Voraussetzungen des § 45a SGB XI erfüllen, haben nach den §§ 36ff. SGB XI und § 123 SGB XI einen Anspruch auf häusliche Betreuung. Sie können im Rahmen der Leistungsgrenzen nach §§ 36ff. SGB XI und § 123 SGB XI ergänzend zur Grundpflege und zur hauswirtschaftlichen Versorgung erbracht werden. Sie umfassen die Unterstützung von Aktivitäten im häuslichen Umfeld, die dem Zweck der Kommunikation und der Aufrechterhaltung sozialer Kontakte dienen. Außerdem dienen sie der Unterstützung bei der Gestaltung des häuslichen Alltags, insbesondere beinhalten sie Hilfen zur Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Tagesstruktur, zur Durchführung bedürfnisgerechter Beschäftigungen und zur Einhaltung eines bedürf-
121
4.2 Leistungen für Pflegepersonen
nisgerechten Tag-/Nacht-Rhythmus. Die häusliche Betreuung kann von mehreren Pflegebedürftigen oder Versicherten mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz als gemeinschaftliche häusliche Betreuung im häuslichen Umfeld einer oder eines Beteiligten oder seiner Familie als Sachleistung in Anspruch genommen werden.
4.2 Leistungen für Pflegepersonen 4.2.1 Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegeperson (§ 44 SGB XI) Bei häuslicher Pflege eines Pflegebedürftigen durch eine selbst beschaffte Pflegeperson werden für sie von den Pflegekassen Leistungen gewährt. Die Pflegekasse des Pflegebedürftigen entrichtet Beiträge an den für die Pflegeperson zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, sofern gemäß § 44 SGB XI die Pflegeperson regelmäßig nicht mehr als 30 Stunden pro Woche erwerbstätig ist und die Pflegeperson einen oder mehrere Pflegebedürftige wenigstens 14 Stunden lang wöchentlich in dessen häuslicher Umgebung pflegt. Die Höhe der Beiträge ist in § 166 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) näher geregelt (s. Tab. 4.8). Für die Beitragsbemessung ist der wöchentliche zeitliche Pflegeaufwand der Pflegeperson(en) in Stufen von mindestens 14, 21 und 28 Pflegestunden pro Woche gegliedert. Die Pflegeperson, für die nach diesen Maßgaben Beiträge entrichtet werden, ist während ihrer pflegerischen Tätigkeit gesetzlich unfallversichert. Tab. 4.8: Höhe der Rentenversicherungsbeiträge für Pflegepersonen in Euro pro Monat. Pflege wöchentlicher stufe Zeitaufwand
Ausgangswert in Prozent der Bezugsgröße
alte Bundesländer
neue Bundesländer
BemessungsBeiträge grundlage 2012 2012
BemessungsBeiträge grundlage 2012 2012
I
mindestens 14 Stunden
26,7
700,00
137,20
597,33
117,08
II
mindestens 14 Stunden
35,6
933,33
182,93
796,44
156,10
mindestens 21 Stunden
53,3
1.400,00
274,40
1.194,67
234,15
mindestens 14 Stunden
40
1.050,00
205,80
896,00
175,62
mindestens 21 Stunden
60
1.575,00
308,70
1.344,00
263,42
mindestens 28 Stunden
80
2.100,00
411,60
1.792,00
351,23
III
122
4 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
4.2.2 Leistungen für Pflegepersonen während der Pflegezeit (§ 44a SGB XI) Bei Beschäftigten, die nach § 3 Pflegezeitgesetz (PflegeZG) für längstens sechs Monate vollständig von der Arbeitsleistung freigestellt werden, wird die Zahlung von Zuschüssen zur Kranken- und Pflegeversicherung geleistet.
4.2.3 Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen (§ 45 SGB XI) Zur Förderung und Stärkung des sozialen Engagements, zur Verbesserung und Erleichterung der Pflege und Betreuung, zur Verminderung der aus der Pflegetätigkeit resultierenden körperlichen und seelischen Belastungen und zur Vermittlung eigenständiger pflegerischer Fertigkeiten bieten die Pflegekassen Schulungskurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen an.
4.3 Leistungen für Pflegesettings bei stationärer Versorgung des Pflegebedürftigen 4.3.1 Vollstationäre Pflege (§ 43 SGB XI) Pflegebedürftige haben Anspruch auf Pflege in vollstationären Einrichtungen, wenn häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich ist oder wegen der Besonderheit des einzelnen Falles nicht in Betracht kommt. Die Pflegekasse übernimmt die pflegebedingten Aufwendungen, die Aufwendungen der sozialen Betreuung und die Aufwendungen für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege (s. Tab. 4.9). Tab. 4.9: Geldleistungsbeträge bei vollstationärer Pflege nach Pflegestufe in Euro pro Monat. Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Härtefall
1.023
1.279
1.550
1.918
4.3.2 Leistungen in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen (§ 43a SGB XI) Diese Einrichtungen dienen der beruflichen und sozialen Eingliederung, der schulischen Ausbildung und der Erziehung behinderter Personen. Die Pflegekasse übernimmt für Pflegebedürftige in diesen Einrichtungen die pflegebedingten Aufwendungen bis in Höhe von 10 Prozent des vereinbarten Heimentgeltes, höchstens jedoch monatlich 256 Euro.
4.4 Beratung der Pflegebedürftigen
123
4.3.3 Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in stationärer Pflege (§ 87b SGB XI) Mit dem Inkrafttreten des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes am 01.07.2008 werden nach § 87b SGB XI auch Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in stationärer Pflege gewährt. Die Voraussetzungen für die Gewährung sind auch im stationären Bereich die in § 45a SGB XI aufgeführten Kriterien. Die Höhe der Vergütungszuschläge, die die Pflegeeinrichtungen für Betreuungsleistungen von Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz erhalten, wird bei den Vergütungsverhandlungen zwischen den Leistungserbringern und den Kostenträgern vereinbart. Die Richtlinien nach § 87b Abs. 3 SGB XI zur Qualifikation und zu den Aufgaben von zusätzlichen Betreuungskräften in Pflegeheimen (Betreuungskräfte-Rl) vom 19. August 2008 in der Fassung vom 6. Mai 2013 regeln die Aufgaben und Qualifikationen von zusätzlich in vollstationären Pflegeeinrichtungen einzusetzenden Betreuungskräften. Diese sollen „in enger Kooperation und fachlicher Absprache mit den Pflegekräften und den Pflegeteams die Betreuungs- und Lebensqualität von Heimbewohnern verbessern, die infolge demenzbedingter Fähigkeitsstörungen, psychischer Erkrankungen oder geistiger Behinderungen dauerhaft erheblich in ihrer Alltagskompetenz eingeschränkt sind und deshalb einen hohen allgemeinen Beaufsichtigungsund Betreuungsbedarf haben. Ihnen soll durch mehr Zuwendung, zusätzliche Betreuung und Aktivierung eine höhere Wertschätzung entgegen gebracht, mehr Austausch mit anderen Menschen und mehr Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werden.“ Nach der Betreuungskräfte-Rl ist für die berufliche Ausübung der zusätzlichen Betreuungsaktivitäten kein therapeutischer oder pflegerischer Berufsabschluss erforderlich. Neben der persönlichen Eignung ist zudem ein Orientierungspraktikum zu absolvieren, das einer modular aufgebauten Qualifizierungsmaßnahme vorangeht [GKV-Spitzenverband 2008].
4.4 Beratung der Pflegebedürftigen Neben den in den Kapiteln 4.3.1 bis 4.3.3 dargestellten finanziellen Leistungen der Pflegeversicherung für die Pflegebedürftigen und die Pflegepersonen bestehen seit dem Inkrafttreten des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes am 01.07.2008 auch weitreichende Beratungs- und Koordinierungspflichten durch die Mitarbeiter der Pflegekassen.
124
4 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
4.4.1 Pflegeberatung (§ 7a SGB XI) Pflegebedürftige, die Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, haben Anspruch auf Beratung durch einen Pflegeberater. Die Beratung umfasst vor allem folgende Punkte: 1. Systematische Erfassung und Analyse des Hilfebedarfs unter Berücksichtigung der Feststellungen im Pflegegutachten des MDK 2. Erstellung eines individuellen Versorgungsplans mit den im Einzelfall erforderlichen Sozialleistungen und sonstigen Hilfen 3. Hinzuwirken auf die Durchführung der im Versorgungsplan festgelegten Maßnahmen 4. Überwachung der Durchführung des Versorgungsplanes 5. Auswertung von komplexen Fallgestaltungen des Hilfeprozesses Die Pflegeberater sind Mitarbeiter der Pflegekassen. Ihre Qualifizierung wird entsprechend den Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes aus dem zweiten Halbjahr 2007 und 2008 durchgeführt. Der Anspruch auf Pflegeberatung für die Versicherten besteht seit dem 01.01.2009.
4.4.2 Beratungsgutscheine für Pflegeberatung (§ 7b SGB XI) Mit Inkrafttreten des PNG hat die Pflegekasse dem Antragsteller unmittelbar nach Eingang eines erstmaligen Antrags auf Leistungen der Pflegeversicherung einen konkreten Beratungstermin anzubieten, der spätestens innerhalb von zwei Wochen nach Antragseingang durchzuführen ist. Ist dies nicht möglich, erhält der Antragsteller einen Beratungsgutschein, in dem Beratungsstellen benannt sind, bei denen er zu Lasten der Pflegekasse innerhalb von zwei Wochen nach Antragseingang eingelöst werden kann.
4.4.3 Pflegestützpunkte (§ 92c SGB XI) Zur wohnortnahen Beratung, Versorgung und Betreuung der Versicherten richteten die Pflegekassen und Krankenkassen Pflegestützpunkte ein nach Maßgabe der zuständigen obersten Landesbehörden. Die Einrichtung von Pflegestützpunkten und deren Struktur erfolgte dementsprechend sehr unterschiedlich in den einzelnen Bundesländern. Aufgaben der Pflegestützpunkte sind: 1. Umfassende und unabhängige Auskunft und Beratung zu den Rechten und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch und zur Auswahl und Inanspruchnahme der vorgesehenen Sozialleistungen und sonstigen Hilfen 2. Koordinierung der Hilfs- und Unterstützungsangebote 3. Vernetzung aufeinander abgestimmter pflegerischer und sozialer Versorgungsund Betreuungsangebote
5 Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung Ulrike Diedrich
5.1 Gesetzliche Grundlagen Mit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 1995 verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die gesamte Bevölkerung gegen das finanzielle Risiko bei Pflegebedürftigkeit abzusichern. Diese Absicherung erfolgte nicht ausschließlich in öffentlich rechtlicher Form sondern – neben der Errichtung eines weiteren eigenständigen Zweiges der Sozialversicherung – durch die Schaffung einer privaten Pflege-Pflichtversicherung. Personen, die eine private Krankenversicherung (PKV) abgeschlossen haben, die mindestens den Anspruch auf allgemeine Krankenhausleistungen umfasst, oder die ab 01.01.2009 zur Erfüllung der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einer privaten Krankenversicherung beigetreten sind, müssen sich bei demselben oder einem anderen privaten Krankenversicherungsunternehmen gegen das finanzielle Risiko bei Pflegebedürftigkeit absichern (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 und § 23 Abs. 1 SGB XI). Darüber hinaus wurden dem System der privaten PflegePflichtversicherung Personen zugewiesen, die ihren Krankenversicherungsschutz nicht zwangsläufig aus einer privaten Krankenversicherung herleiten. Dazu gehört, wer nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen Anspruch auf Beihilfe oder durch ein Dienstverhältnis z.B. als Berufssoldat(in) oder Polizeibeamte(r) Anspruch auf freie Heilfürsorge hat, sofern nicht eine Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung besteht. Ebenso wurden die Mitglieder der Postbeamtenkrankenkasse und der Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten zum Abschluss einer Pflegeversicherung verpflichtet. Für die Übernahme des Pflegerisikos dieser ehemals bundeseigenen Sozialeinrichtungen wurde eigens eine „Gemeinschaft privater Versicherungsunternehmen“ gegründet. Die Pflicht zum Abschluss einer Versicherung kannte man bis dahin nur aus dem Bereich der Sachversicherung, z.B. als Haftpflichtversicherung für Halter eines Kraftfahrzeuges. Für die privaten Krankenversicherungsunternehmen war sie deshalb auch mit einer besonderen kalkulatorischen Herausforderung verbunden. Für ausnahmslos alle privat krankenversicherten Personen mussten bei der Einführung der privaten Pflege-Pflichtversicherung einheitliche Versicherungsleistungen zur Verfügung stehen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Krankheitszustand, auch für diejenigen, die bereits pflegebedürftig waren, ohne bislang Beitragszahlungen entrichtet zu haben. Dieser Kontrahierungszwang ergibt sich aus § 110 SGB XI, wonach es den Unternehmen der privaten Pflege-Pflichtversicherung untersagt ist, Vorerkrankungen auszuschließen, längere Wartezeiten als in der sozialen Pflegeversicherung
126
5 Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung
zu verlangen, Prämien nach Geschlecht zu staffeln und den Höchstbeitrag der sozialen Pflegeversicherung zu überschreiten. In der sozialen Pflegeversicherung werden einkommensabhängige Beiträge erhoben, die unmittelbar im Umlageverfahren für die Finanzierung der laufenden Leistungsausgaben verwendet werden. Bei der privaten Pflege-Pflichtversicherung handelt es sich dagegen um ein Kapital- oder auch Anwartschaftsdeckungsverfahren. Maßgeblich dafür ist das Eintrittsalter in die Versicherung. Weitere Risikofaktoren durften bei Einführung der Pflegeversicherung nicht berücksichtigt werden. Um den bei Eintritt festgelegten Beitrag lebenslang konstant halten zu können, sehen die Kalkulationsvorschriften der privaten Pflege-Pflichtversicherung neben dem altersabhängigen Risikobeitrag einen zusätzlichen Sparbeitrag vor. Dieser wird verzinslich angelegt und dient dazu, den Beitrag trotz des sich während der Laufzeit der Versicherung statistisch ständig verschlechternden Risikos konstant zu halten. Anders als in der sozialen Pflegeversicherung bilden die Versicherten der privaten Pflege-Pflichtversicherung durch diese Zusatzbeiträge eine Alterungsrückstellung für später eintretende Pflegekosten. Die Beiträge enthalten darüber hinaus noch einen Umlageanteil, aus dem die Pflegekosten der bereits Pflegebedürftigen und pflegenahen Jahrgänge sowie die Beitragsbegrenzungen und die Beitragsfreiheit der Kinder finanziert werden. Der in § 111 SGB XI vorgeschriebene branchenübergreifende Risikoausgleich ist der unterschiedlichen Alters- und Risikostruktur privat versicherter Personen geschuldet und versetzt auch die Unternehmen mit einem vergleichsweise „alten“ Versichertenbestand in die Lage, ihren vertraglichen Verpflichtungen auf Dauer nachzukommen. Zur Abwicklung dieses Ausgleichs wurde unter der Geschäftsführung des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts („Pflege-Pool“) errichtet, der jedes Versicherungsunternehmen beizutreten hat, das die private Pflege-Pflichtversicherung betreiben will. Einzelheiten des Ausgleichsverfahrens sind im Gesellschaftervertrag geregelt und unterliegen der Zustimmung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) [Besche 2009].
5.2 Systemunterschiede Durch die gesetzlich vorgegebenen sozialen Elemente wie Kontrahierungszwang und Risikoausgleich sind die Bedingungen der privaten Pflege-Pflichtversicherung denen einer Sozialversicherung in erheblichem Umfang angenähert worden. Anders als in der sozialen Pflegeversicherung bedarf es in der privaten Pflege-Pflichtversicherung aber des Abschlusses eines Versicherungsvertrages. Dieser muss Vertragsleistungen vorsehen, die nach Art und Umfang den Leistungen der sozialen Pflegeversicherung gleichwertig sind (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1, § 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB XI, Art. 42 Abs. 1 Satz 3 und 3 PflegeVG). Wenngleich der Vertragsabschluss gesetzlich vorgeschrieben ist, erfolgt er dennoch nach allgemein zivilrechtlichen Grundsätzen.
5.3 Versicherungsleistungen
127
Die Bestimmungen für die Leistungsgewährung der privaten Pflege-Pflichtversicherung sind demzufolge im Versicherungsschein und den dazugehörigen Versicherungs- und Tarifbedingungen niedergelegt. Sie finden sich in den vom Verband der privaten Krankenversicherung e.V. vorgegeben „Musterbedingungen für die private Pflege-Pflichtversicherung“ (MB/PPV) und dem Tarif PV und werden von allen Versicherern einheitlich verwendet. Der Tarif PV hat zwei Tarifstufen. Die Tarifstufe PVN umfasst den Leistungsanspruch für Personen ohne, die Tarifstufe PVB den Leistungsanspruch für Personen mit Beihilfeanspruch.
5.3 Versicherungsleistungen 5.3.1 Vertragliche Grundlagen Gegenstand, Umfang und Geltungsbereich des Versicherungsschutzes regelt § 1 der Versicherungsbedingungen (MB/PPV). Danach leistet der Versicherer „im Versicherungsfall in vertraglichem Umfang Ersatz von Aufwendungen für Pflege oder ein Pflegegeld sowie sonstige Leistungen“ (§ 1 Abs. 1 Satz 1 MB/PPV). „Versicherungsfall ist die Pflegebedürftigkeit der versicherten Person“ (§ 1 Abs. 2 Satz 1). In § 1 Abs. 2–5 MB/PPV werden die Kriterien von „Pflegebedürftigkeit“ als „Versicherungsfall“ und die Abgrenzung der Pflegestufen analog zum Gesetzestext definiert. Weitere Anspruchsvoraussetzungen (Beginn des Versicherungsschutzes und Wartezeit) regeln die §§ 2 und 3 MB/PPV. Alle in § 28 Abs. 1 SGB XI aufgeführten Leistungsarten sowie der zusätzlich in § 28 Abs. 1a genannte Anspruch auf Pflegeberatung gemäß § 7a SGB XI finden sich wieder unter § 4 Abs. 1–18 MB/PPV. Die Gegenüberstellung in Tabelle 5.1 setzt die vertraglichen Grundlagen der Leistungsvoraussetzungen und des Leistungsumfanges für Versicherte der PPV in Beziehung zu der jeweiligen gesetzlichen Regelung im SGB XI. Tab. 5.1: Vertragliche Grundlagen der Leistungsvoraussetzungen sowie des Leistungsumfanges für Versicherte der privaten Pflege-Pflichtversicherung (Tarif PV) und entsprechende gesetzliche Regelung für die soziale Pflegeversicherung im SGB XI. MB/PPV – Musterbedingungen für die private Pflege-Pflichtversicherung. MB/PPV 2009 und Tarif PV
SGB XI
§ 1 Abs. 2–5
§ 14
Begriff der Pflegebedürftigkeit
§ 1 Abs. 6–8
§ 15
Stufen der Pflegebedürftigkeit
128
5 Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung
§ 4 Abs. 1 (Tarif PV Nr. 1) § 4 Abs. 2 und 4 (Tarif PV Nr. 2.1 und 2.2) § 4 Abs. 6 (Tarif PV Nr. 1 und 2) § 4 Abs. 7 (Tarif PV Nr. 4)
§ 36
B
§ 4 Abs. 8 und 9 (Tarif PV Nr. 1 und 5)
§ 41
Tagespflege und Nachtpflege
C
§ 4 Abs. 10 (Tarif PV Nr. 6)
§ 42
Kurzzeitpflege
D
§ 4 Abs. 11 und 12 § 43 (Tarif PV Nr. 7.1 bis 7.3) § 87 a § 43 a
Vollstationäre Pflege
E
§ 4 Abs. 13 (Tarif PV Nr. 8)
§ 44
Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegeperson
F
§ 4 Abs. 14 (Tarif PV Nr. 9)
§ 44 a
zusätzliche Leistungen bei Pflegezeit
G
§ 4 Abs. 15 (Tarif PV Nr. 10)
§ 45
Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen
H
§ 4 Abs. 16 und 17 (Tarif PV Nr. 11.1 und 11.2)
§ 45 a–b
Leistungen für Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsaufwand
§ 87 b
Vergütungszuschläge für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinem Betreuungsaufwand in vollstationären Pflegeeinrichtungen
§ 7 a
Pflegeberatung
A
I
§ 4 Abs. 18
Pflegesachleistungen
§ 37 Abs. 1 Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen Abs. 3 Beratungseinsatz § 38 Kombination von Geldleistung und Sachleistungen (Kombinationsleistung) § 40 Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen
Berechnung und Zahlung des Heimentgeltes Pflege in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen
5.3.2 Leistungsrechtliche Besonderheiten An Stelle des Sachleistungsprinzips in der sozialen Pflegeversicherung tritt in der privaten Pflege-Pflichtversicherung bei Inanspruchnahme eines nach § 72 SGB XI anerkannten Pflegedienstes oder bei vollstationärer Pflege in einer anerkannten Einrichtung die Kostenerstattung gegen Vorlage entsprechender Rechnungen. Die Kostenerstattung für häusliche Pflege erstreckt sich auch auf anerkannte Einzelpflegekräfte gemäß § 77 Abs. 1 SGB XI. Letztere können auch von Trägern der privaten Pflege-Pflichtversicherung zugelassen werden.
5.3 Versicherungsleistungen
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An das Pflegehilfsmittelverzeichnis der sozialen Pflegeversicherung sind die Unternehmen der privaten Pflege-Pflichtversicherung nicht gebunden. Das Pflegehilfsmittelverzeichnis der privaten Pflege-Pflichtversicherung beruht auf einer Vereinbarung der beteiligten Versicherungsunternehmen. Vor dem Hintergrund einer uneinheitlichen Vertragsgestaltung im Leistungsbereich der privaten Krankenversicherung dient es dem Ziel, die häusliche Versorgung pflegebedürftiger Versicherter durch die Bereitstellung von Hilfsmitteln sicherzustellen, sofern sie die Pflege erleichtern, zur Linderung von Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbständigere Lebensführung ermöglichen. Die Pflegeberatung gemäß § 7a SGB XI soll in der privaten Pflege-Pflichtversicherung regelmäßig dort erfolgen, wo die Pflege durchgeführt wird. Zur Sicherstellung des Anspruchs auf Pflegeberatung gründete der Verband der privaten Krankenversicherung e.V. eigens ein Beratungsunternehmen, die COMPASS Private Pflegeberatung GmbH, auf dessen Angebote die Versicherten bereits bei der ersten Kontaktaufnahme mit dem Versicherer hingewiesen werden sollen. Die Inanspruchnahme ist für die Versicherten kostenlos. Versicherten, die Pflegestützpunkte im Sinne von § 92c SGB XI in Anspruch nehmen, können die durch den PKV-Verband mit den Trägern der Pflegestützpunkte vereinbarten Vergütungssätze erstattet werden. Kosten anderer Anbieter sind dagegen nicht erstattungsfähig. Ein weiterer in § 28 SGB XI definierter Leistungsanspruch betrifft das trägerübergreifende persönliche Budget im Sinne von § 35a SGB XI. Es wurde vor dem Hintergrund der Leistungsansprüche behinderter Menschen gegenüber mehreren Kostenträgern mit dem Ziel der Schaffung eines einzigen Ansprechpartners eingeführt. Das persönliche Budget wird von den (Sozial-)Leistungsträgern trägerübergreifend als Komplexleistung erbracht. Der Bescheid wird von einem der Beteiligten im Auftrag und Namen der anderen beteiligten Leistungsträger erlassen. Unternehmen der privaten Pflege-Pflichtversicherung können aber weder derartige Verwaltungsakte erlassen noch können sie per Verwaltungsakt zu einer Leistung verpflichtet werden. Dennoch brauchen PPV-Versicherte nicht auf das persönliche Budget zu verzichten, sondern müssen lediglich einen beteiligten Sozialversicherungsträger als Beauftragten für den Verwaltungsakt wählen. Die Leistungen der PPV können dann bei der Ermittlung des Budgets berücksichtigt und nach dem Kostenerstattungsprinzip zur Verfügung gestellt oder mit Genehmigung des Versicherten an Beauftragte ausgezahlt werden.
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5 Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung
5.4 Verfahrensfragen 5.4.1 Begutachtung Für die Begutachtungen von Antragstellern der privaten Pflege-Pflichtversicherung ist der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) nach dem Gesetz nicht zuständig. In § 23 Abs. 6 SGB XI findet sich lediglich die Vorgabe: „Das private Krankenversicherungsunternehmen oder ein anderes die Pflegeversicherung betreibendes Versicherungsunternehmen sind verpflichtet, für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie für die Zuordnung zu einer Pflegestufe dieselben Maßstäbe wie in der sozialen Pflegeversicherung anzulegen (…)“. Wer diese Feststellung zu treffen hat, ist in den Versicherungsbedingungen unter § 6 Abs. 2 Satz 1 und 3 MB/PPV geregelt. Danach sind „Eintritt, Stufe und Fortdauer der Pflegebedürftigkeit, die Eignung, Notwendigkeit und Zumutbarkeit zur Beseitigung, Minderung und Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit, die Voraussetzungen des zusätzlichen Betreuungsbedarfs und die Notwendigkeit der Versorgung mit beantragten Pflegehilfsmitteln (…) durch einen vom Versicherer beauftragten Arzt festzustellen“. Weiter heißt es: „Mit der Durchführung kann der medizinische Dienst der privaten Pflegepflichtversicherung beauftragt werden“. Die gesetzlichen Regelungen nach § 23 Abs. 6 SGB XI sowie § 111 SGB XI in Verbindung mit § 110 SGB XI erfordern jedoch möglichst einheitliche Feststellungen der Leistungsvoraussetzungen. Vor dem Hintergrund des Risikoausgleichs wurde deshalb im November 1994 ein eigener medizinischer Dienst, die Medicproof GmbH, gegründet und die Gesellschafter der Pflege-Pool-GbR verpflichtet, die Medicproof GmbH mit den Feststellungen von Leistungsvoraussetzungen in der privaten PflegePflichtversicherung zu beauftragen. Damit ist gewährleistet, dass die Feststellungen nach einheitlichen Standards und durch von den Versicherungsunternehmen unabhängige Gutachter erfolgen. Hauptaufgabe der Medicproof GmbH ist demzufolge die Organisation und Abwicklung aller in der privaten Pflege-Pflichtversicherung anfallenden Begutachtungen mit dem Ziel einer bundesweit und versicherungsübergreifend einheitlichen Beurteilung. Diese Beurteilung erfolgt auf der Grundlage der diesbezüglichen Vorgaben in den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi). Zur Erstellung der Gutachten bedient sich das Unternehmen eines bundesweiten Netzes freiberuflich tätiger Ärzte und Pflegefachkräfte. Alle Gutachter haben sich bezüglich der Beurteilung von Leistungsvoraussetzungen vertraglich auf die Beachtung der Begutachtungs-Richtlinien verpflichtet. Eine vertragliche Vereinbarung besteht auch in Bezug auf die Bearbeitungszeit, so dass die in § 18 Abs. 3 SGB XI geregelten Fristen einzuhalten sind. Inhalt und Gliederung des Medicproof-Gutachtenformulars sind dem „Formulargutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ (s. Anlage)
5.4 Verfahrensfragen
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entsprechend den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit in der aktuellen Fassung angepasst. Die Bearbeitung durch die Gutachter erfolgt mit einer eigens dafür entwickelten Software. Die Unterschiede zum Begutachtungsverfahren in der sozialen Pflegeversicherung ergeben sich im Wesentlichen aus der Rechtsform des Gutachtens. Das private Versicherungsverhältnis unterliegt den Regeln des Zivilrechts, insbesondere dem Versicherungsvertragsgesetz. Die für die private Pflege-Pflichtversicherung erstellten Gutachten wertet das Bundessozialgericht demzufolge als Schiedsgutachten im Sinne von § 84 Versicherungsvertragsgesetz (vgl. BSG-Urteile vom 22.08.2001, Az.: B 3 P 21/00 R und B 3 P 4/01 R). Durch ein Schiedsgutachten soll außergerichtlich und dennoch rechtsverbindlich die für zwei Vertragsparteien verbindliche gutachtliche Klärung eines bestimmten Sachverhaltes herbeigeführt werden. In Bezug auf die private Pflege-Pflichtversicherung geht es um Klärung des Sachverhaltes, ob und wenn ja, in welchem Umfang Pflegebedürftigkeit gemäß MB/PPV vorliegt. Ein Schiedsgutachten gilt als verbindlich, außer wenn dargestellt werden kann, dass es offenbar erheblich von der wirklichen Sachlage abweicht. Diese Entscheidung des Bundessozialgerichts steht im Zusammenhang mit der Auslegung einer Leistungszusage im Bereich der privaten Pflege-Pflichtversicherung als „deklaratorisches Schuldanerkenntnis“. Hier ist das Bundessozialgericht der Auffassung, dass die Erklärung eines privaten Versicherungsunternehmens, Leistungen gemäß den Feststellungen im ärztlichen Gutachten zu erbringen, bindend ist, weil dadurch die beim Antragsteller bis dahin bestehende Unsicherheit über den Leistungsanspruch beseitigt wurde. Die Unternehmen der privaten Pflege-Pflichtversicherung sind demnach sowohl an die gutachterliche Feststellung als auch an ihre einmal ergangene Leistungszusage gebunden. Das gilt grundsätzlich auch für den Versicherungsnehmer.
5.4.2 Einwendungen Die Durchführung eines förmlichen Widerspruchsverfahrens als Voraussetzung für eine Klage ist in der privaten Pflege-Pflichtversicherung, anders als in der Sozialversicherung, nicht vorgeschrieben. Versicherte können daher gegen die Leistungsmitteilung des Versicherungsunternehmens sofort Klage erheben. Durch die Einholung einer „zweiten Meinung“ in Form eines „zweiten“ Schiedsgutachtens lässt sich die gerichtliche Auseinandersetzung allerdings oft vermeiden und Klärung herbeiführen. Die Parteien einigen sich in solch einem Fall darauf, ein weiteres Schiedsgutachten einzuholen, welches das vorherige ersetzt. Eine vom Vorgutachten abweichende Entscheidung erfordert aber immer eine eingehende Auseinandersetzung mit den Einwänden des Versicherten und mit den Feststellungen des Vorgutachters im Vorgutachten. Zweitbegutachtungen erfolgen regelmäßig im Rahmen eines weiteren Besuchs vor Ort und nicht nach Aktenlage.
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5 Besonderheiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung
5.4.3 Sozialgerichtsbarkeit Die Klärung der Frage, welcher Rechtsweg für Streitigkeiten zwischen Versicherten der privaten Pflege-Pflichtversicherung und den Versicherungsunternehmen zuständig ist, war nach Einführung des Pflege-Versicherungsgesetzes nicht unproblematisch. Da die Versicherten in der privaten Pflegeversicherung mit Blick auf Leistungsumfang und Versicherungsbedingungen im Wesentlichen den Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung gleichgestellt sind, ergeben sich bei der Auslegung und Anwendung des Pflege-Versicherungsgesetzes identische Fragen. Ein einheitlicher Rechtsweg erleichterte die Herausbildung einer einheitlichen Rechtsprechung für beide Bereiche. Die ursprüngliche, nicht ganz eindeutige Regelung des § 51 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), nach der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auch über Streitigkeiten entscheiden, die „in Angelegenheiten nach dem SGB XI entstehen“, wurde deshalb zum 02.01.2002 konkretisiert durch § 51 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG, nach der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig sind für „öffentlichrechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der sozialen Pflegeversicherung und der privaten Pflegeversicherung (SGB XI), auch soweit durch diese Angelegenheiten Dritte betroffen werden“. Zur schnellen Durchsetzung von Beitragsansprüchen gegenüber Versicherten wurde außerdem mit § 182a SGG die Möglichkeit eines Mahnverfahrens in der Sozialgerichtsbarkeit geschaffen. Zu beachten ist jedoch, dass bei Streitigkeiten der privaten Pflege-Pflichtversicherung das Verfahrensrecht der Sozialversicherung keine Anwendung findet. Es gelten die zivilrechtlichen Grundsätze des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und das Versicherungsvertragsgesetz. Es gibt folglich auch kein Widerspruchsverfahren (s.o.) und die Ansprüche verjähren innerhalb von drei Jahren, gerechnet vom Ende des Jahres der Rechnungsstellung (Entstehung des Anspruchs) [Besche 2009].
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI 6.1 Terminologie: Grundbegriffe zum Begutachtungsverfahren nach SGB XI Thomas Gaertner und Brigitte Seitz Die Pflegebegutachtung ist zentraler Bestandteil des Verfahrens zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Die Begutachtung umfasst – die Ermittlung der Bedingungen des unmittelbaren Umfeldes, – die Prüfung der Voraussetzungen mit einfacher Untersuchung und Inaugenscheinnahme des Versicherten im Hinblick auf seine Beeinträchtigungen und Ressourcen sowie Bewertung des Hilfebedarfs bezüglich Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung, – als Ergebnis die Beurteilung von Pflegebedürftigkeit samt deren Feststellung mit Zuordnungsempfehlung von Pflegestufen durch den MDK sowie – das Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI, – Feststellungen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind. Die Prüfung der Voraussetzungen erfolgt in Anlehnung an die Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH) und die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) nach dem biomedizinischen Krankheitsfolgenmodell bzw. dem biopsychosozialen Krankheitsmodell der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) (s. Kap. 3.6). Der terminologische Bezugsrahmen ergibt sich aus dem Sozialgesetzbuch, den Begutachtungs-Richtlinien bzw. der Rechtsprechung. Dabei bezeichnet Hilfebedürftigkeit die objektivierbare Abhängigkeit von instrumenteller oder Fremdhilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. Hilfebedarf ist die quantifizierte Hilfebedürftigkeit, d.h. die gutachtliche Bewertung der Fremdhilfe nach Zeitaufwand, der auf Dauer bestehen wird. Die Begriffe – Beaufsichtigung, Betreuung, Erziehung, Tagesstrukturierung, Eingliederung, Pflege, Unterbringung, Versorgung und Verpflegung – bezeichnen Erscheinungsformen des Angewiesenseins auf Fremdhilfe. Dazu gehört neben der persönlich erbrachten Hilfe auch der Ausgleich durch Hilfsmittel und behindertengerechte Ausstattung. Die Leistungen des SGB XI sollen gemäß den
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
§§ 4 und 8 SGB XI familiär, nachbarschaftlich, ehrenamtlich und durch Selbsthilfegruppen erbrachte Leistungen der Pflege und Betreuung ergänzen und dazu beitragen, „eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung“ zu schaffen. Begrifflich gefasst wird dies als das informelle Netz der Hilfe durch das soziale Umfeld. (Grund-)Pflegebedarf ist der Teil des Hilfebedarfs, der sich auf die Grundpflege erstreckt. Entsprechend den Begutachtungs-Richtlinien gilt: „Der für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu einer Pflegestufe maßgebliche Hilfebedarf bei den u. g. Verrichtungen nach Art, Häufigkeit, zeitlichem Umfang und Prognose ergibt sich aus – der individuellen Ausprägung von Schädigungen und Beeinträchtigungen der Aktivitäten durch Krankheit oder Behinderung, – den individuellen Ressourcen, – der individuellen Lebenssituation (z.B. umweltbezogene Kontextfaktoren wie Wohnverhältnisse, soziales Umfeld), – der individuellen Pflegesituation (z.B. personbezogene Kontextfaktoren wie Lebensgewohnheiten) unter Zugrundelegung der Laienpflege. Es ist ausschließlich auf die Individualität des Pflegebedürftigen abzustellen. Die Individualität der Pflegeperson bzw. -personen wird nicht berücksichtigt. Für die Feststellung des individuellen Hilfebedarfs ist eine Gesamtbetrachtung durch den Gutachter notwendig. Dabei werden die erbrachte Hilfeleistung und der individuelle Hilfebedarf ins Verhältnis gesetzt und zusammenfassend bewertet, d.h., es wird ermittelt, ob die erbrachte Hilfeleistung dem individuellen Hilfebedarf entspricht.“ Weiterhin gilt nach § 14 SGB XI: „1. Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. 2. Krankheiten oder Behinderungen im Sinne des Absatzes 1 sind: a) Verluste, Lähmungen oder andere Funktionsstörungen am Stütz- und Bewegungsapparat, b) Funktionsstörungen der inneren Organe oder der Sinnesorgane, c) Störungen des Zentralnervensystems wie Antriebs-, Gedächtnis- oder Orientierungsstörungen sowie endogene Psychosen, Neurosen oder geistige Behinderungen. 3. Die Hilfe im Sinne des Absatzes 1 besteht in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtung im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen.
6.1 Terminologie: Grundbegriffe zum Begutachtungsverfahren nach SGB XI
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4. Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Absatzes 1 sind: a) im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung, b) im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, c) im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, Anund Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung, d) im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.“ Im SGB XI werden die Bereiche der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität als Grundpflege zusammengefasst [Gerber/Gansweid 2008]. Sie sind zu differenzieren vom Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Entsprechend der BSG-Rechtsprechung bedeutet Regelmäßigkeit, dass ein Hilfebedarf mindestens einmal pro Woche besteht. Die Dauer des Hilfebedarfs ist unter Berücksichtigung des Einsatzes kurativer und rehabilitativer Maßnahmen auf mindestens 6 Monate zu prognostizieren, es sei denn, die verbleibende Lebensspanne ist voraussichtlich kürzer. Für die Leistungsgewährung im Sinne einer solidarischen Unterstützung nach dem SGB XI müssen Pflegebedürftige hinsichtlich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung den Zustand der Schwere gemäß § 1 Abs. 4 SGB XI erfüllen. Er wird nach § 15 SGB XI der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige), der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) oder der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) zugeordnet. Darüber hinaus können nach dem § 36 Abs. 4 bzw. § 43 Abs. 3 SGB XI in besonderen Situationen bei Vorliegen eines außergewöhnlich hohen Pflegeaufwandes, der das übliche Maß der Pflegestufe III übersteigt, als Ausnahmeregelung Pflegebedürftige zur Vermeidung von Härten als Härtefall anerkannt werden. Darüber hinaus werden noch nach § 45a–b SGB XI zusätzliche Betreuungsleistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) in ambulanter und teilstationärer Pflege erbracht. Dies betrifft Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, bei denen im Rahmen der Begutachtung nach § 18 SGB XI als Folge der oben genannten Krankheit oder Behinderung Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens festgestellt wurden, die dauerhaft zu einer erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz geführt haben. Dabei haben auch Personen, die diese Kriterien aufweisen, einen Anspruch auf zusätzliche Betreuungsleistungen, selbst wenn ihr Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung noch nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht hat. Zur Bewertung der Erheblichkeit der Einschränkungen der Alltagskompetenz wurde ein Assessment-Verfahren entwickelt, das im Rahmen der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI zur Anwen-
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
dung kommt. Dieses Verfahren bildet auch die Grundlage für Vergütungszuschläge für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf in vollstationären Pflegeeinrichtungen nach § 87b SGB XI. Pflegepersonen im Sinne nach § 19 SGB XI sind Personen, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen in seiner häuslichen Umgebung pflegen. Ambulante Pflegeeinrichtungen (Pflegedienste) sind selbständig wirtschaftende Einrichtungen, die unter ständiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft Pflegebedürftige in ihrer Wohnung pflegen und hauswirtschaftlich versorgen (§ 71 Abs. 1 SGB XI). Stationäre Pflegeeinrichtungen (Pflegeheime) sind selbständig wirtschaftende Einrichtungen, in denen Pflegebedürftige unter ständiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft gepflegt werden, ganztägig (vollstationär) bzw. nur tagsüber oder nur nachts (teilstationär) untergebracht und verpflegt werden können (§ 71 Abs. 2 SGB XI). Als Pflegefachkräfte gelten nach den jeweiligen rechtlichen Ausbildungs- und Rahmenbestimmungen Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger, Altenpfleger sowie unter bestimmten Bedingungen Heilerzieher. Näheres regelt § 71 Abs. 3 SGB XI. Verfügt der Antragssteller zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht mehr über eine eigene Wohnung und soll dauerhaft stationär gepflegt werden, ist gemäß den Begutachtungs-Richtlinien bei der Bemessung des zeitlichen Mindestaufwandes für den festgestellten Hilfebedarf eine durchschnittliche häusliche Wohnsituation zu Grunde zu legen. Sie ist wie folgt gekennzeichnet [BRi 2013]: 1. Lage der Wohnung in der ersten Etage, ohne Aufzug und nicht ebenerdig erreichbar, 2. Anzahl von vier Räumen je Wohnung, aufgeteilt in zwei Zimmer, Küche, Diele und Bad, 3. Zweipersonenhaushalt sowie 4. keine „behindertengerechte Ausstattung“, Zentralheizung, Standardküche oder Kochnische mit Elektro- oder Gasherd, Standard-WC, Bad und Waschmaschine. Bei der Erfassung von Art und Häufigkeit des Hilfebedarfs bei den Verrichtungen sind die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend, die Beurteilung des zeitlichen Umfangs orientiert sich an der Laienpflege. Die Beziehung auf diese Referenzsituation soll bei der Ermittlung des individuellen pflegerischen Hilfebedarfs eine einheitliche Begutachtung stationär versorgter Pflegebedürftiger gewährleisten. Der Begriff medizinische Behandlungspflege umfasst Maßnahmen der ärztlichen Behandlung, die dazu dienen, Krankheiten zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern und die üblicherweise an Pflegefachkräfte delegiert werden können [Gerber/Gansweid 2008]. Im ambulanten Bereich sind diese Leistungen zu Lasten der Krankenkasse verordnungsfähig nach § 37 SGB V, sofern sie nicht von einer im Haushalt lebenden Person übernommen werden können. In voll- und teilstationären Pflegeeinrichtungen sind gemäß §§ 41–43 SGB XI die Aufwendungen für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege in den pauscha-
6.2 Richtlinien nach dem SGB XI und deren Zielsetzungen
137
len Leistungsbeträgen zu Lasten der Pflegekasse enthalten. Im Ausnahmefall besteht gemäß § 37 Abs. 2 SGB V auch in zugelassenen Pflegeeinrichtungen nach § 43 SGB XI ein Anspruch gegenüber der Krankenkasse, wenn auf Dauer ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege besteht. Der Begriff soziale Betreuung wird im SGB XI in leistungsrechtlichem Zusammenhang mit der teilstationären, Kurzzeit- und vollstationären Pflege gemäß den §§ 41–43 SGB XI genannt. So ist z.B. die Berücksichtigung des Kommunikationsbedarfs vom Gesetzgeber nicht in den Katalog des § 14 Abs. 4 SGB XI aufgenommen worden, bei der stationären Pflege gehört er aber als Bestandteil der sozialen Betreuung zu den Leistungen der Pflegeversicherung. Der Begriff erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf ist von Bedeutung bei der Feststellung von erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. In der ambulanten Pflege können gemäß § 45b SGB XI Pflegebedürftige mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz je nach Umfang des erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs zusätzliche Betreuungsleistungen als Sachleistungen in Anspruch nehmen. Zusätzlich werden ab dem 01.01.2013 Pflegegeld oder Pflegesachleistungen gemäß § 123 SGB XI gewährt (s. Kap. 6.7). Für Pflegebedürftige mit mindestens erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz können vollstationäre Pflegeeinrichtungen Vergütungszuschläge nach § 87b SGB XI vereinbaren. Entsprechend den Begutachtungs-Richtlinien ist unter aktivierender Pflege eine Pflegepraxis zu verstehen, die die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Menschen fördert (ressourcenorientierte Selbstpflege). Aktivierende Pflege soll dazu beitragen, trotz des Hilfebedarfs möglichst weitgehend Selbständigkeit zu fördern, zu erhalten bzw. wiederherzustellen.
6.2 Richtlinien nach dem SGB XI und deren Zielsetzungen Barbara Gansweid Hinsichtlich des Leistungsanspruches nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) sind § 14 „Begriff der Pflegebedürftigkeit“ und § 15 „Stufen der Pflegebedürftigkeit“ zentrale Bestandteile des Pflege-Versicherungsgesetzes, die u.a. durch die Vorschriften zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI und durch die Härtefallregelung des § 36 SGB XI ergänzt und durch Richtlinien konkretisiert werden. Nach dem SGB XI erlässt der Spitzenverband Bund der Pflegekassen (vormals: Spitzenverbände der Pflegekassen) die Richtlinien für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung (SPV). Diese Richtlinien bedürfen der Zustimmung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG). Sie sind für die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) verbindlich. Tabelle 6.1 gibt einen Überblick über die im SGB XI benannten und für die Begutachtung relevanten Richtlinien.
138
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Tab. 6.1: Wichtige Richtlinien für die Erstellung sozialmedizinischer Expertisen nach SGB XI. Bezeichnung der Richtlinien
Bezug zum SGB
Richtlinien über die Zusammenarbeit der Krankenkassen mit den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung vom 27. August 1990
§ 282 Abs. 2 Satz 3 SGB V
Kapitel verweis 6.2
Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die § 17 SGB XI in VerbinAbgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflege- dung mit § 213 SGB V stufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeits-Richtlinien – PflRi) vom 07.11.1994, geändert durch Beschlüsse vom 21.12.1995, vom 22.08.2001 und vom 11.05.2006
6.2
Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 08.06.2009, geändert durch Beschluss vom 16.04.2013
§§ 17, 53a SGB XI
6.2
Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Anwendung der Härtefallregelungen (Härtefall-Richtlinien – HRi) vom 10.07.1995, geändert durch Beschlüsse vom 19.10.1995, vom 03.07.1996 und vom 28.10.2005
§ 17 SGB XI in Verbindung mit § 213 SGB V
6.2
Richtlinie zur Feststellung von Personen mit erheblich einge schränkter Alltagskompetenz und zur Bewertung des Hilfebedarfs vom 22.03.2002, geändert durch Beschlüsse vom 11.05.2006 und 10.06.2008
§§ 45a Abs. 2, 45b Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit § 122 Abs. 2, § 53a Nr. 2 SGB XI sowie § 213 SGB V
6.7.4
Richtlinien nach § 87b Abs. 3 SGB XI zur Qualifikation und zu den Aufgaben von zusätzlichen Betreuungskräften in Pflegeheimen (Betreuungskräfte-Rl) vom 19. August 2008 in der Fassung vom 6. Mai 2013
§ 87b Abs. 3 SGB XI
4.3.3
Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Qualitäts sicherung der Begutachtung und Beratung für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung vom 23.09.2004
§ 53a Satz 1 Nr. 1 und 4 SGB XI in Verbindung mit § 213 SGB V
6.11
Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Dienstleistungsorientierung im Begutachtungsverfahren (Dienstleistungs-Richtlinien – Die-RiLi) nach § 18b vom 10.07.2013
§ 18b SGB XI
6.12
Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Zusammenarbeit der § 53b SGB XI Pflegekassen mit anderen unabhängigen Gutachtern (Unabhängige Gutachter-Richtlinien – UGu-RiLi) nach § 53b SGB XI vom 06.05.2013
6.2
6.2 Richtlinien nach dem SGB XI und deren Zielsetzungen
Bezeichnung der Richtlinien
Bezug zum SGB
139
Kapitel verweis
Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Festlegung der doppel§ 40 Abs. 3 SGB XI funktionalen Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittel sowie zur Bestimmung des Verhältnisses zur Aufteilung der Ausgaben zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung vom 17.04.2012 (zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches Genehmigung des BMG noch ausstehend)
4.1.6
Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Verordnung § 37b SGB V von spezialisierter ambulanter Palliativversorgung (Spezialisierte Ambulante Palliativversorgungs-Richtlinie/SAPV-RL) vom 20. Dezember 2007, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2008, S. 911, zuletzt geändert am 15. April 2010, veröffentlicht im Bundesanzeiger S. 2 190, in Kraft getreten am 25. Juni 2010
12.4
Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes über die von den Medizini§ 53a Nr. 1 und 3 schen Diensten für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung zu SGB XI in Verbindung übermittelnden Berichte und Statistiken (Statistik-Richtlinien – mit § 213 SGB V StRi) vom 06.02.2012 Diese Richtlinien ersetzen die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die von den Medizinischen Diensten für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung zu übermittelnden Berichte und Statistiken vom 08.12.1997 in der Fassung vom 17.09.2007
3.6.3
Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes über die Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität nach § 114 SGB XI (Qualitätsprüfungs-Richtlinien – QPR) vom 11. Juni 2009 in der Fassung vom 30. Juni 2009
10.1
§§ 114a Abs. 7 SGB XI in Verbindung mit § 53a SGB XI
Richtlinien der GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung § 53a Satz 1 Nr. 4 der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (Qualitätssicherungs- SGB XI Richtlinien Qualitätsprüfung – QS-Ri QP) vom 06.05.2013, in Kraft getreten am 24. Juli 2013 Richtlinien der Spitzenverbände der Kranken- und Pflegekassen über die Grundsätze der Fort- und Weiterbildung im Medizinischen Dienst (Fort- und Weiterbildungsrichtlinien – FuWRi) vom 22.08.2001
§ 282 Satz 3 SGB V und § 53a Nr. 1, 5 SGB XI in Verbindung mit § 213 SGB V
10.5.5
3.7.3
Die Richtlinien über die Zusammenarbeit der Krankenkassen mit den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung wurden nach § 282 Satz 3 SGB V am 27.08.1990 beschlossen. Sie bilden das Fundament und die verbindliche Norm für die Effizienz und Effektivität der Begutachtung und Beratung des MDK im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen und somit seit Einführung der Pflegeversicherung auch im Auftrag der Pflegekassen. Die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfah-
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
ren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeits-Richtlinien – PflRi) wurden zusammengefasst am 07.11.1994 beschlossen und mehrfach angepasst. Die Pflegebedürftigkeits-Richtlinien wurden zunächst durch die Begutachtungsanleitung „Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ vom 29.05.1995 konkretisiert. Diese wurde zum 01.06.1997 durch die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 21.03.1997 ersetzt. Sie enthalten Ausführungen zur Durchführung und Sicherstellung einer bundeseinheitlichen Begutachtung. Die Begutachtungs-Richtlinien dienen der Vereinheitlichung des Verwaltungsvollzugs und sind Grundlage für die gutachterlichen Feststellungen. Sie unterliegen jedoch der Überprüfung durch die Gerichte. Das Bundessozialgericht (BSG) hat die jeweiligen Richtlinien mit ihren Regelungen in der bisherigen Rechtsprechung in wesentlichen Punkten bestätigt. An einzelnen Punkten erfolgten Konkretisierungen/ Ergänzungen und Änderungen, die Berücksichtigung in der jeweiligen Überarbeitung der Richtlinien fanden. Auf relevante BSG-Entscheidungen wird im Kapitel „Wichtige Urteile des Bundessozialgerichts zum SGB XI“ dieses Buches eingegangen. Nach Inkrafttreten des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes 2008 (PfWG) erschienen in aktualisierter Fassung dann die Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 08.06.2009. Sie setzten insbesondere die begutachtungsrelevanten Themen aus dem PfWG um, nahmen einige Präzisierungen vor und modifizierten das Gutachtenformular „Formulargutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ (s. Anlage). In sie flossen die in der Begutachtungspraxis bis dato gewonnenen Erfahrungen, die BSG-Rechtsprechung sowie Präzisierungen einzelner Begutachtungskriterien ein. Durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz 2012 (PNG) wurden erneute Anpassungen der Begutachtungs-Richtlinien erforderlich. Ihre aktuelle Bezeichnung lautet: Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 08.06.2009, geändert durch Beschluss vom 16.04.2013. Die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Anwendung der Härtefallregelungen (Härtefall-Richtlinien – HRi) des § 36 Abs. 4 und § 43 Abs. 3 SGB XI vom 10.07.1995 wurden durch Beschlüsse vom 03.07.1996 sowie vom 28.10.2005 geändert und vom damals zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) beziehungsweise zuletzt vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) genehmigt. Die Härtefallregelung darf für nicht mehr als drei Prozent aller versicherten Pflegebedürftigen der Pflegestufe III, die häuslich gepflegt werden, und nicht mehr als fünf Prozent aller versicherten Pflegebedürftigen der Pflegestufe III, die stationär gepflegt werden, Anwendung finden. Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz wurden die Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Dienstleistungsorientierung im Begutachtungsverfahren im § 18b SGB XI (Dienstleistungs-Richtlinien – Die-RiLi) eingeführt, die am 10.07.2013 in
6.3 Merkmale der Pflegebedürftigkeit
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Kaft getreten sind. Die Dienstleistungs-Richtlinien nach § 18b SGB XI enthalten Regelungen zu – allgemeinen Verhaltensgrundsätzen für alle unter der Verantwortung der Medizinischen Dienste am Begutachtungsverfahren Beteiligten, – der Pflicht der Medizinischen Dienste zur individuellen und umfassenden Information des Versicherten über das Begutachtungsverfahren, insbesondere über den Ablauf, die Rechtsgrundlagen und Beschwerdemöglichkeiten, – zur regelhaften Durchführung von Versichertenbefragungen sowie – zu einem einheitlichen Verfahren zum Umgang mit Beschwerden, die das Verhalten der Mitarbeiter der Medizinischen Dienste oder das Verfahren bei der Begutachtung betreffen. Des Weiteren traten durch das PNG veranlasst am 11.06.2013 die Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Zusammenarbeit der Pflegekassen mit anderen unabhängigen Gutachtern (Unabhängige Gutachter-Richtlinien – UGu-RiLi) nach § 53b SGB XI vom 06.05.2013 in Kraft. Sie regeln insbesondere – die Anforderungen an die Qualifikation und die Unabhängigkeit der Gutachter, – das Verfahren, mit dem sichergestellt wird, dass die von den Pflegekassen beauftragten unabhängigen Gutachter bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit und bei der Zuordnung zu einer Pflegestufe dieselben Maßstäbe wie der Medizinische Dienst der Krankenversicherung anlegen, – die Sicherstellung der Dienstleistungsorientierung im Begutachtungsverfahren und – die Einbeziehung der Gutachten der von den Pflegekassen beauftragten Gutachter in das Qualitätssicherungsverfahren der Medizinischen Dienste.
6.3 Merkmale der Pflegebedürftigkeit Barbara Gansweid 6.3.1 Verrichtungen des täglichen Lebens nach SGB XI Bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit gemäß Elftem Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) ist der Hilfebedarf bei den 21 im § 14 SGB XI definierten gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens zu berücksichtigen. Die Verrichtungen werden eingeteilt in die drei Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Grundpflege) sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (s. Tab. 6.2). Über diesen Katalog hinausgehende Hilfestellungen im Ablauf des täglichen Lebens, wie z.B. die Förderung der Kommunikation oder allgemeine Betreuung, die nicht auf eine Verrichtung bezogen ist, finden bei der Hilfebedarfsbemessung keine Berücksichtigung. Behinderungen, die durch Hilfsmittel ausgegli-
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
chen werden, begründen keinen berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf im Sinne des SGB XI. Tab. 6.2: Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen des täglichen Lebens nach § 14 SGB XI. Körperpflege
Waschen Duschen Baden Zahnpflege Kämmen Rasieren Darm-/Blasenentleerung
Ernährung
Mundgerechte Zubereitung der Nahrung Nahrungsaufnahme
Mobilität
Aufstehen/Zubettgehen An-/Auskleiden Gehen Stehen Treppensteigen Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung
Hauswirtschaftliche Versorgung
Einkaufen Kochen Reinigung der Wohnung Spülen Wechseln/Waschen der Wäsche/Kleidung Beheizen der Wohnung
Auch Hilfebedarf bei den Verrichtungen nach § 14 SGB XI, der zwar nicht täglich, aber „regelmäßig“, d.h. mindestens einmal pro Woche anfällt, wird zeitlich berücksichtigt und auf den Tagesdurchschnitt umgerechnet. Weniger als einmal pro Woche anfallender Hilfebedarf kann bei der Feststellung nicht berücksichtigt werden. Folgende Aktivitäten zählen u.a. nicht zu den berücksichtigungsfähigen Verrichtungen des täglichen Lebens: – Fahrten zur Schule oder Behindertenwerkstatt – Spaziergänge oder Besuch kultureller Veranstaltungen – Maßnahmen zur Durchführung der beruflichen und gesellschaftlichen Eingliederung – Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation – allgemeine Beaufsichtigung Anzumerken ist, dass ein unabhängig von den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen erforderlicher allgemeiner Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf
6.3 Merkmale der Pflegebedürftigkeit
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(z.B. eines Menschen mit geistiger Behinderung) zur Vermeidung einer möglichen Selbst- oder Fremdgefährdung bei der Feststellung des Hilfebedarfs ebenso wenig zu berücksichtigen ist wie Maßnahmen der Behandlungspflege mit Ausnahme der verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen.
6.3.2 Formen der Hilfeleistung Entsprechend § 14 Abs. 3 SGB XI wird die Hilfe bei den Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens unterschieden in: – Unterstützung (U) – teilweise Übernahme (TÜ) – vollständige Übernahme (VÜ) – Anleitung (A) – Beaufsichtigung (B) Die Form und das Ausmaß notwendiger Hilfeleistungen lassen sich aus den Ressourcen bzw. den Beeinträchtigungen der zu begutachtenden Person ableiten. Dem Erhalt oder der Wiederherstellung verloren gegangener Fähigkeiten dient die aktivierende Pflege. Diese kann mehr Zeit in Anspruch nehmen als die vollständige Übernahme der jeweiligen Verrichtung durch die Pflegeperson. Die gutachterliche Feststellung des Hilfebedarfes richtet sich nach dem medizinisch und pflegerisch notwendigen Umfang der Pflege, der nicht immer mit der tatsächlich durchgeführten Leistung übereinstimmt. Eventuelle Über- bzw. Unterversorgungen sind im Gutachten entsprechend zu kommentieren. Wird nachweislich aktivierend gepflegt, ist der daraus resultierende Pflegeaufwand als Bestandteil des medizinisch und pflegerisch Notwendigen zu werten. Bei der Beaufsichtigung steht zum einen die Sicherheit beim konkreten Handlungsablauf der Verrichtungen im Vordergrund. Beaufsichtigung ist z.B. beim Rasieren erforderlich, wenn durch unsachgemäße Benutzung der Klinge oder des Stroms eine Selbstgefährdung gegeben ist. Zum anderen kann es um die Kontrolle darüber gehen, ob die betreffenden Verrichtungen in der erforderlichen Art und Weise durchgeführt werden. Anleitung bedeutet, dass die Pflegeperson bei einer konkreten Verrichtung den Ablauf der einzelnen Handlungsschritte oder den ganzen Handlungsablauf anregen, lenken oder demonstrieren muss. Dies kann insbesondere dann erforderlich sein, wenn der Antragsteller trotz vorhandener motorischer Fähigkeiten eine konkrete Verrichtung nicht in einem sinnvollen Ablauf durchführen kann. Zur Anleitung gehört auch die Motivierung des Antragstellers zur selbständigen Übernahme der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens. Unterstützung bedeutet, den Antragsteller durch die Bereitstellung sächlicher Hilfen in die Lage zu versetzen, eine Verrichtung selbständig durchzuführen. Teilweise Übernahme bedeutet, dass die Pflegeperson den Teil der Verrichtungen des täglichen Lebens übernimmt, den der Antragsteller selbst nicht ausführen kann. Vollständige
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Übernahme bedeutet, dass die Pflegeperson die gesamte Verrichtung ausführt, da der Antragsteller diese selbst nicht ausführen kann.
6.4 Klassifizierung der Pflegebedürftigkeit in Pflegestufen Barbara Gansweid Die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) oder andere unabhängige Gutachter haben nach § 18 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt. Die wichtigsten Abgrenzungskriterien sind die Häufigkeit der Pflegeeinsätze im Tagesablauf und der Mindestzeitaufwand. Geringfügige Hilfeleistungen oder vorübergehender Hilfebedarf unter sechs Monaten können nicht zur Anerkennung von Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI führen. Hinsichtlich der Bemessung des Zeitaufwandes bei den einzelnen Verrichtungen wird der zeitliche Umfang der Laienpflege als Maßstab selbst dann zugrunde gelegt, wenn die Pflege in der Verantwortung von Pflegefachkräften durchgeführt wird. Die Erfassung von Art und Häufigkeit des Hilfebedarfes erfolgt aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten. Nicht maßgebend ist, wo der Hilfebedarf anfällt und wer die Hilfeleistungen erbringt. Da der Zeitaufwand der pflegerischen Maßnahmen durch den Einsatz von Pflegehilfsmitteln oder auch durch bauliche Besonderheiten beeinflusst werden kann, sind diese Umstände im Einzelfall entsprechend zu berücksichtigen. Grundlage für die gutachterliche Entscheidung zum Vorliegen einer Pflegestufe ist der § 15 SGB XI. Je nach Ausmaß der Pflegebedürftigkeit wird der Pflegebedürftige einer von drei Pflegestufen zugeordnet. Bei einem Hilfebedarf unterhalb der Pflegestufe I sind die Voraussetzungen von Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI nicht erfüllt.
6.4.1 Pflegestufen Gemäß § 15 SGB XI gilt: „(1) Für die Gewährungen von Leistungen nach diesem Gesetz sind pflegebedürftige Personen (§ 14) einer der folgenden drei Pflegestufen zuzuordnen: 1. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. 2. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität mindestens
6.4 Klassifizierung der Pflegebedürftigkeit in Pflegestufen
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dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. 3. Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. (2) Bei Kindern ist für die Zuordnung der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend. (3) Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss im Tagesdurchschnitt 1. in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen, 2. in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen, 3. in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen.“ Eine Voraussetzung für die Zuerkennung aller Pflegestufen ist, dass der Antragsteller mehrfach in der Woche Hilfen bei hauswirtschaftlicher Versorgung benötigt. Der hierbei anfallende Zeitaufwand kann in Pflegestufe I mit bis zu 45 Minuten und bei der Pflegestufe II und III mit bis zu je einer Stunde für die Pflegestufenfindung berücksichtigt werden. Dennoch ist Zeitaufwand für den tatsächlich anfallenden Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung individuell abzuschätzen und ggf. auch ein höherer Aufwand im Gutachten anzugeben, da dieser für die Ermittlung des rentenversicherungsrelevanten Pflegeaufwandes für die jeweiligen Pflegepersonen ausschlaggebend sein kann. Dass für die Zuerkennung der Pflegestufe I Hilfebedarf mindestens bei zwei Verrichtungen jeden Tag anfallen muss, ist zwischenzeitlich höchstrichterlich bestätigt worden. Diese Bedingung muss auch bei in Schüben verlaufenden Erkrankungen erfüllt sein. Wenn während des Schubes zwar ein hoher Hilfebedarf besteht, außerhalb des Schubes täglicher Hilfebedarf jedoch nicht gegeben ist, liegt Pflegebedürftigkeit nicht vor. Bei täglich vorliegendem, jedoch vom Ausmaß her schwankendem Hilfebedarf muss der wöchentliche Zeitaufwand im Mittel pro Tag über den oben genannten Grenzen liegen. Für die Anerkennung einer Pflegestufe muss der entsprechende Hilfebedarf auf Dauer bestehen, das heißt voraussichtlich für mindestens sechs Monate vorliegen. „Voraussichtlich“ weist darauf hin, dass der Gutachter eine Pflegestufe empfehlen kann, wenn er prospektiv abschätzen kann, dass der Hilfebedarf der jeweiligen Pflegestufe mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens für sechs Monate bestehen wird.
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Pflegebedürftigkeit auf Dauer ist auch gegeben, wenn der Hilfebedarf deshalb nicht sechs Monate andauert, weil die verbleibende Lebensspanne voraussichtlich weniger als sechs Monate beträgt. Bei der Abschätzung des 6-Monatszeitraums ist der medizinische Eintritt der Pflegebedürftigkeit bezüglich der Pflegestufe maßgebend und nicht der Zeitpunkt der Antragstellung oder der Begutachtung. Ist zum Zeitpunkt der Begutachtung prognostisch abzuschätzen, dass z.B. der Hilfebedarf der Pflegestufe I mit großer Wahrscheinlichkeit nur vorübergehend, z.B. für die Dauer von etwa drei Monaten wegen einer Mobilitätsbeeinträchtigung nach einem Knochenbruch vorliegen wird, hat der Gutachter der Pflegekasse die Ablehnung des Antrages zu empfehlen. Personen, die bis zum 31.03.1995 Leistungen der Schwerpflegebedürftigkeit nach § 53ff. SGB V erhalten hatten, wurden ohne erneute Antragstellung mit Wirkung vom 01.04.1995 der Pflegestufe II zugeordnet. Der Schwerpflegebedürftigkeitsbegriff des § 53 SGB V beruhte auf einer anderen Grundlage als der des SGB XI. Hieraus ergab sich vor allem in der Anfangszeit die Notwendigkeit, bei einer abweichenden Pflegestufenempfehlung im Rahmen einer Wiederholungsbegutachtung zu prüfen, ob im Vergleich zur Vorbegutachtung eine wesentliche Änderung des Befundes und/oder des Hilfebedarfs eingetreten war und dies gutachterlich zu dokumentieren und zu begründen. Wenn keine Änderungen des Hilfebedarfs nachweisbar waren, bestand im Sinne einer Besitzstandswahrung weiterhin der Anspruch auf Leistungen der Pflegestufe II, auch wenn nach den Kriterien des SGB XI nur die Voraussetzungen für Pflegestufe I vorlagen. Hinsichtlich der Schwerstpflegebedürftigkeit hat die Vorgabe im Gesetz: „rund um die Uhr“ mehrfach zu höchstrichterlichen Entscheidungen geführt. Die grundsätzlichen Vorgaben der Begutachtungs-Richtlinien wurden bestätigt. Für den „nächtlichen Hilfebedarf“ gilt: „Es muss bei der Pflegestufe III Hilfebedarf aus dem grundpflegerischen Bereich jederzeit gegeben sein“, wobei der Tag mit 06.00 Uhr bis 22.00 Uhr und die Nacht von 22.00 Uhr bis 06.00 Uhr definiert wird. Die Verrichtungen müssen grundsätzlich jede Nacht anfallen, wobei Ausnahmen bis zu zweimal wöchentlich zugelassen werden. Die ständige Einsatzbereitschaft (Rufbereitschaft) von Pflegepersonen reicht nicht aus. Es muss tatsächlich Hilfe geleistet werden, wie z.B. Umlagern. Der Gutachter hat zudem zu beurteilen, ob eine in der Nacht durchgeführte Pflegehandlung auch zwingend zu diesem Zeitpunkt erforderlich ist oder ggf. auch am Tag durchgeführt werden könnte, wie z.B. manche Leistungen der Körperpflege.
6.4.2 Härtefallregelung Bei der gutachterlichen Feststellung eines außergewöhnlich hohen Pflegeaufwandes, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt, können bei Pflegesachleistungen oder vollstationärer Pflege Pflegebedürftige zur Vermeidung von Härten als Ausnahmeregelung zusätzliche Leistungen erhalten (§ 36 Abs. 4, § 43 Abs. 3 SGB XI).
6.4 Klassifizierung der Pflegebedürftigkeit in Pflegestufen
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Gemäß den Härtefall-Richtlinien besteht ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand, wenn neben dem Hilfebedarf der Pflegestufe III alternativ mindestens eines der beiden folgenden Merkmale erfüllt wird: – Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität ist mindestens sechs Stunden täglich, davon mindestens dreimal in der Nacht, erforderlich. Bei Pflegebedürftigen in vollstationären Pflegeeinrichtungen ist auch die auf Dauer bestehende medizinische Behandlungspflege zu berücksichtigen. oder – Die Grundpflege kann für den Pflegebedürftigen auch des Nachts nur von mehreren Pflegekräften gemeinsam (zeitgleich) erbracht werden. Der Gutachter hat festzustellen, ob ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand vorliegt, wobei jedes der beiden Merkmale für sich bereits die Voraussetzungen einer qualitativ und quantitativ weit über das übliche Maß der Grundvoraussetzungen der Pflegestufe III hinausgehenden Pflegeaufwandes erfüllt. Die Entscheidung, ob der Pflegebedürftige zur Vermeidung von Härten als Ausnahmeregelung zusätzliche Leistungen erhält, trifft die Pflegekasse. Zum Beispiel kommen solche Leistungen in vollstationärer Pflege nur in Betracht, wenn der Bewohner zur Deckung seines Hilfebedarfs zusätzliche Kosten aufbringen muss. Das kann der Fall sein, wenn sich eine Einrichtung auf Bewohner mit besonders hohem Pflegebedarf spezialisiert und z.B. für Menschen im Wachkoma den mit der Versorgung verbundenen personellen Mehraufwand von vorneherein einkalkuliert und der Pflegesatz daher deutlich über dem der Pflegestufe III liegt. Diese Regelung gilt auch für eine wirtschaftlich getrennt geführte, selbständige Abteilung einer Pflegeeinrichtung.
Befristung von Leistungen „Versicherte erhalten die Leistungen der Pflegeversicherung auf Antrag. Die Leistungen werden ab Antragstellung gewährt, frühestens jedoch von dem Zeitpunkt an, an dem die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Wird der Antrag später als einen Monat nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit gestellt, werden die Leistungen vom Beginn des Monats der Antragstellung an gewährt. Eine Befristung der Leistungen ist möglich, wenn nach gutachterlicher Einschätzung zu erwarten ist, dass sich der Hilfebedarf, z.B. durch therapeutische oder rehabilitative Maßnahmen, pflegestufenrelevant verringert. Die Befristung kann wiederholt werden und schließt Änderungen bei der Zuordnung zu einer Pflegestufe, bei der Anerkennung als Härtefall sowie bei bewilligten Leistungen im Befristungszeitraum ein. Der Befristungszeitraum darf insgesamt die Dauer von drei Jahren nicht überschreiten. Um eine nahtlose Leistungsgewährung sicherzustellen, hat die Pflegekasse vor Ablauf einer Befristung rechtzeitig zu prüfen und dem Pflegebedürftigen sowie der ihn betreuenden Pflegeeinrichtung
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
mitzuteilen, ob Pflegeleistungen weiterhin bewilligt werden und welcher Pflegestufe der Pflegebedürftige zuzuordnen ist“ (§ 33 Abs. 1 SGB XI).
Pflegestufenänderung Im Sinne eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung kann die Pflegekasse bei Änderung der Verhältnisse den Versicherten auf der Grundlage eines Gutachtens einer anderen Pflegestufe zuordnen (§ 48 Abs. 1 SGB X). Bei der gutachtlichen Beurteilung der Pflegestufen sind bei Minderung oder Erhöhung des Hilfebedarfs die wesentlichen Änderungen der die Pflegestufe begründenden Voraussetzungen nachvollziehbar darzulegen. Auch für die Pflegestufenänderung gilt der Grundsatz, dass der der jeweiligen Pflegestufe entsprechende Hilfebedarf auf Dauer, das heißt für mindestens sechs Monate, vorliegen muss. Insbesondere bei der Empfehlung einer niedrigeren Pflegestufe ist im Abgleich zum Vorgutachten zu beschreiben, welche Schädigungen oder Beeinträchtigungen sich verbessert haben, so dass der Pflegebedürftige selbständiger geworden ist. Eine Verringerung des Hilfebedarfs kann auch durch Adaptation, Hilfsmittelnutzung oder wohnumfeldverbessernde Maßnahmen begründet sein.
6.4.3 Pflegestufenfeststellung bei Kindern „Bei Kindern ist für die Zuordnung der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend“ (§ 15 Abs. 2 SGB XI). Es wird dementsprechend zwischen altersgemäßem Hilfebedarf und krankheitsbedingtem Mehrbedarf unterschieden. Der altersübliche Pflegeaufwand ist jedoch keine feste Größe, da auch die Entwicklung gesunder Kinder eine große Variationsbreite aufweist. Eine Pauschalierung ist zur Sicherstellung einer Begutachtung nach einheitlichen Maßstäben notwendig. In den Begutachtungs-Richtlinien wird deshalb eine Tabelle mit dem Hilfebedarf bei den einzelnen Verrichtungen vorgegeben, den erfahrungsgemäß fast alle der altersentsprechend entwickelten Kinder in den verschiedenen Altersstufen benötigen. Den Besonderheiten der Feststellung des Hilfebedarfs bei Kindern ist in diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet.
6.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit Barbara Gansweid Feststellung der Pflegebedürftigkeit Die Pflegekassen haben gemäß § 18 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) oder andere unabhängige Gutachter prüfen zu lassen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt
6.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit
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sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt. Im Rahmen dieser Prüfung hat der Medizinische Dienst „durch eine Untersuchung des Antragstellers die Einschränkungen bei den Verrichtungen im Sinne des § 14 Abs. 4 SGB XI festzustellen sowie Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der Hilfebedürftigkeit und das Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a zu ermitteln. Darüber hinaus sind auch Feststellungen darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind; insoweit haben Versicherte einen Anspruch gegen den zuständigen Träger auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“ (s.a. Kap. 7.2). Nach Antragsstellung auf Leistungen der Pflegeversicherung durch den Versicherten stellt die Pflegekasse die für die Begutachtung erforderlichen Unterlagen/ Informationen bereit und erteilt dem zuständigen MDK den Auftrag, eine Begutachtung nach § 18 SGB XI durchzuführen. Grundsätzlich erfolgt diese Begutachtung anhand des Formulars „Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“. Zur Beschleunigung des Begutachtungsverfahrens ist die Pflegekasse dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz entsprechend zukünftig nicht mehr verpflichtet, vor Weitergabe der Unterlagen an den MDK die leistungsrechtlichen Voraussetzungen zu prüfen. Im Regelfall soll dem Antragsteller spätestens fünf Wochen nach Eingang des Antrags bei der zuständigen Pflegekasse die Entscheidung der Pflegekasse mitgeteilt werden. Sofern sich im Verfahren eine Verzögerung ergibt, ist der Grund im Gutachtenformular (s. Anlage) erläuternd auszuweisen [BRi 2013]. Als Verzögerungsgründe sind in den Begutchtungs-Richtlinien genannt: – der Wohnsitz des Antragstellers ist nicht im Inland, – Antragsteller im Krankenhaus/Reha-Einrichtung, – wichtiger Behandlungstermin des Antragstellers, – Antragsteller umgezogen, – Antragsteller verstorben, – Termin von Antragsteller abgesagt (sonstige Gründe), – beim angekündigten Hausbesuch nicht angetroffen, – Hausbesuch musste abgebrochen werden wegen Gewaltandrohung oder ähnlich schwerwiegender Gründe, – Hausbesuch musste abgebrochen werden wegen Verständigungsschwierigkeiten (z.B. Muttersprache). Für bestimmte Fallgestaltungen gelten gesetzliche Begutachtungsfristen für den MDK. Eine unverzügliche Begutachtung, spätestens innerhalb einer Woche nach Eingang des Antrages bei der zuständigen Pflegekasse ist erforderlich, wenn – sich der Antragsteller im Krankenhaus oder in einer stationären Rehabilitationseinrichtung befindet
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– und Hinweise vorliegen, dass zur Sicherstellung der ambulanten oder stationären Weiterversorgung und Betreuung eine Begutachtung in der Einrichtung erforderlich ist – oder die Inanspruchnahme von Pflegezeit nach dem Gesetz über die Familienpflegezeit (Familienpflegezeitgesetz – FPfZG) gegenüber dem Arbeitgeber der pflegenden Person angekündigt wurde – oder mit dem Arbeitgeber der pflegenden Person eine Familienpflegezeit nach § 2 Abs. 1 FPfZG vereinbart wurde; – sich der Antragsteller in einem Hospiz befindet oder – der Antragsteller ambulant palliativ versorgt wird. „Eine Begutachtung innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei der zuständigen Pflegekasse ist erforderlich, wenn der Antragsteller sich in häuslicher Umgebung befindet, ohne palliativ versorgt zu werden, und die Inanspruchnahme von Pflegezeit nach dem Pflegezeitgesetz gegenüber dem Arbeitgeber der pflegenden Person angekündigt oder mit dem Arbeitgeber der pflegenden Person eine Familienpflegezeit nach § 2 Abs. 1 Familienpflegezeitgesetz vereinbart wurde. In diesen Fällen hat der MDK den Antragsteller unverzüglich schriftlich darüber zu informieren, welche Empfehlung im Hinblick auf das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit er an die Pflegekasse weiterleitet (für die Information können die in den Anlagen 6 und 7 beigefügten Formulare verwendet werden). In den vorgenannten Fällen der verkürzten Begutachtungsfrist muss die Empfehlung des MDK zunächst nur die Feststellung beinhalten, ob Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI vorliegt. Die abschließende Begutachtung – insbesondere zur Pflegestufe – ist dann unverzüglich nachzuholen“ [BRi 2013]. Der MDK hat den Versicherten, dessen Angehörige und Lebenspartner über den Anspruch auf Übermittlung des MDK-Gutachtens nach § 18 Abs. 3 Satz 9 SGB XI aufzuklären und die Pflegekasse über den Wunsch des Versicherten zu informieren.
Professionen der Gutachter Bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI sind sowohl ärztliche als auch pflegerische Fragestellungen zu beantworten. Der Besuch in der häuslichen Umgebung wird in der Regel von einem Gutachter durchgeführt. Vor jeder Begutachtung ist festzulegen, welcher Gutachter das Gutachten erstellt. Wenn keine oder nur ungenügende Informationen über rein ärztliche Sachverhalte vorliegen, wird eher ein Arzt beauftragt, ansonsten kann sowohl ein Arzt als auch eine Pflegefachkraft den Besuch durchführen. Die teilweise erhobene Forderung nach einem fachärztlichen Gutachter ist zu relativieren, da es primär um die Feststellung des individuellen Hilfebedarfs bei den definierten Verrichtungen geht und weniger um diagnostische oder therapeutische Maßnahmen. Die Begutachtung der Pflegebedürftigkeit von
6.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit
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Kindern ist in der Regel von besonders geschulten Gutachtern mit der Qualifikation als Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder als Kinderarzt vorzunehmen.
Begutachtungsort Der Versicherte ist nach § 18 Abs. 2 SGB XI grundsätzlich in seinem Wohnbereich zu untersuchen. Die besonderen häuslichen Gegebenheiten, die Auswirkungen auf den Hilfebedarf haben, sind zu berücksichtigen. Der Besuch ist vorher anzukündigen. Wenn sich der Versicherte zum Zeitpunkt der Antragstellung noch im Krankenhaus oder in einer Rehabilitationsklinik befindet und aufgrund einer nicht sichergestellten Weiterversorgung eine Begutachtung im Krankenhaus erforderlich wird, kann in dieser Situation das häusliche Umfeld nicht mit berücksichtigt werden. Auch kann das Maß an Hilfebedürftigkeit im Rahmen der akuten Behandlungsphase in der ungewohnten „Umgebung Krankenhaus“ erhöht sein, so dass eine exakte Festlegung der Pflegestufe erheblich erschwert ist. Des Weiteren ist es in dieser akuten Phase manchmal schwierig, abzuschätzen, ob Pflegebedürftigkeit auf Dauer vorliegt. In diesen Fällen muss zunächst nur die Feststellung getroffen werden, ob mindestens erhebliche Pflegebedürftigkeit besteht. Die Ermittlung der Pflegestufe erfolgt dann nach der Krankenhausentlassung mittels Haus- bzw. Heimbesuchs.
Formulargutachten Das Gutachtenformular „Formulargutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ (s. Anlage) besteht – neben einigen verwaltungs- und verfahrenstechnischen Angaben – aus drei sozialmedizinisch-pflegefachlichen Abschnitten, die inhaltlich aufeinander aufbauen: Erhebung der Ist-Situation, gutachterliche Wertung und Empfehlungen. Diese sind gegliedert in acht Unterpunkte. In den Punkten 1–3 werden 1. die derzeitige Versorgungs- und Betreuungssituation aufgenommen und erläutert, 2. die pflegerelevante Vorgeschichte erhoben und Fremdbefunde ausgewertet, 3. Schädigungen/ Beeinträchtigungen der Aktivitäten/ Ressourcen in Bezug auf Stütz- und Bewegungsapparat, innere Organe, Sinnesorgane, Nervensystem und Psyche beschrieben, die pflegebegründenden Diagnosen festgelegt und ggf. Screening und Assessment zur Feststellung der eingeschränkten Alltagskompetenz angeschlossen. In den Punkten 4–5 erfolgen die Festlegung des Hilfebedarfs und die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit sowie die Angabe der Pflegestufe. Die Punkte 6–8 sind Empfehlungen vorbehalten. Im Erhebungsabschnitt (derzeitige Versorgungs- und Betreuungssituation und pflegerelevante Vorgeschichte) werden zunächst Angaben aus der Sicht des Antrag-
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
stellers, der Angehörigen, der Pflegeperson und/oder der zuständigen Pflegefachkraft sowie Fremdbefunde dokumentiert. Sodann erhebt der Gutachter eigene Befunde (Schädigungen/Beeinträchtigungen der Aktivitäten/Ressourcen in Bezug auf Stützund Bewegungsapparat, innere Organe, Sinnesorgane, Nervensystem und Psyche). Aus der Bewertung von erhaltenen Informationen und selbst erhobenen Befunden leitet er den individuellen Hilfebedarf nach Form, Häufigkeit und zeitlichem Umfang ab. Im Anschluss wird das Ergebnis der Prüfung mitgeteilt mit Aussagen – zum Vorliegen der Voraussetzungen für Pflegebedürftigkeit und Beginn, – zur Pflegestufe, – zum Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz, zu deren Abstufung und zum Zeitpunkt des Eintritts, – zum Umfang der Pflegetätigkeit der jeweiligen Pflegeperson(en). Im Empfehlungsteil des Pflegegutachtens werden im Sinne einer sozialmedizinischen Stellungnahme auf der Grundlage erkannter Probleme Aussagen – zu präventiven Leistungen, – zu Heilmitteln, – zu einer Leistung der medizinischen Rehabilitation, – zur Hilfs-/Pflegehilfsmittelversorgung, – zu wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, – zur Verbesserung/Veränderung der Pflegesituation getroffen. Das Gutachten schließt mit allgemeinen Empfehlungen und Erläuterungen für die Pflegekasse und einer Aussage zur Prognose über die weitere Entwicklung der Pflegebedürftigkeit und zur Notwendigkeit sowie zum Zeitpunkt der Wiederholungsbegutachtung ab. Die Strukturierung der Begutachtung soll nun im Folgenden am Aufbau des „Gutachtens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ erläutert werden. Die erste Seite enthält Angaben zum Antragsteller, zur Untersuchung und zur beantragten Leistung.
1 Derzeitige Versorgungs- und Betreuungssituation 1.1 Ärztliche/Medikamentöse Versorgung Erhoben werden u.a. Angaben – zur Frequenz der haus- und fachärztlichen Haus- und/oder Praxisbesuche, – zur medizinischen Notwendigkeit der Begleitung des Versicherten durch die Pflegenden zu Arztbesuchen, – zur aktuellen medikamentösen Therapie und zu Besonderheiten bei ihrer Verabreichung, ggf. durch Fremdhilfe. Die Angaben zu diesem Punkt sind insofern von entscheidender Bedeutung, da im Verlauf der Begutachtung zu prüfen ist, ob die ärztliche Betreuung und ggf. medizi-
6.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit
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nische Versorgung ausreichend ist bzw. welche Maßnahmen der Pflegekasse zu empfehlen sind, damit diese sichergestellt werden kann. 1.2 Verordnete Heilmittel Zu diesem Punkt sind ebenfalls die Häufigkeit ärztlich verordneter Heilmittel (physikalische Therapien, Ergotherapie, Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie, podologische Therapie) zu erheben. Es ist zu beurteilen, inwieweit der Versicherte in der Lage ist, diese selbständig bzw. mit Fremdhilfe wahrzunehmen. Mögliche Auswirkungen auf den Hilfebedarf lassen sich hieraus im Hinblick auf Wege- und Wartezeiten ableiten. 1.3 Hilfsmittel/Nutzung Alle vorhandenen Pflege-/Hilfsmittel einschließlich der technischen Hilfen und Verbrauchsgüter sind anzugeben. Es ist darzustellen, ob der Antragsteller durch Hilfsmittel in die Lage versetzt wird, Verrichtungen ganz oder teilweise selbständig durchzuführen. 1.4 Umfang der pflegerischen Versorgung und Betreuung Differenziert nach häuslicher Krankenpflege gemäß § 37 SGB V, der Pflege durch Angehörige/Bekannte, der Pflege durch ambulante Pflegeeinrichtungen bzw. der Pflege durch stationäre Pflegeeinrichtungen sind alle Pflege- und Betreuungsleistungen nach Angaben der Betroffenen zu dokumentieren. Es ist auch anzugeben, ob eine Betreuung in tagesstrukturierenden Einrichtungen erfolgt oder ob der Antragsteller in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft mit mindestens zwei anderen pflegebedürftigen Personen lebt. Für die Prüfung der rentenrechtlichen Voraussetzungen seitens der Pflegekasse ist die Selbsteinschätzung des zeitlichen Pflegeaufwandes der einzelnen Pflegepersonen in Stunden pro Woche zu erheben. Die wöchentlichen Pflegezeiten sind wie folgt zu verschlüsseln: 1 = Pflegezeit unter 14 Stunden, 2 = Pflegezeit 14 bis unter 21 Stunden, 3 = Pflegezeit 21 bis unter 28 Stunden, 4 = Pflegezeit 28 Stunden und mehr.
2 Pflegerelevante Vorgeschichte und Befunde Das Pflegegutachten ist hinsichtlich seiner Aussagekraft ein eigenständiges Dokument. Die für die Pflegebegutachtung entscheidenden Fakten aus der Anamnese, den medizinischen Berichten, den Pflegedokumentationen und der Befunderhebung müssen daher angemessen dokumentiert werden. Bei erneuten Begutachtungen sind die wesentlichen Angaben des Vorgutachtens zusammenzufassen und durch eine ausführliche Zwischenanamnese zu ergänzen, dabei ist insbesondere darzulegen, worauf Veränderungen im Hilfebedarf zurückgeführt werden.
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2. 1 Pflegerelevante Aspekte der ambulanten Wohnsituation Eine aussagekräftige Beschreibung des Wohnumfeldes ist erforderlich, da dieses den Hilfebedarf sowohl hinsichtlich der Grundpflege als auch der hauswirtschaftlichen Versorgung beeinflussen kann. Insbesondere ist anzugeben, ob der Antragsteller allein bzw. in Gemeinschaft mit anderen Personen lebt. Der Umfang der Darstellung der Wohnsituation kann sich an den offensichtlichen Aktivitätseinschränkungen orientieren. Obligat sind Angaben zu: Art und Lage der Wohnung (z.B. Einfamilienhaus, 3-Zimmerwohnung im 2. Stockwerk), Lage von Bad/Toilette/benutzten Räumen (z.B. nur über Treppen erreichbar). Befund- bzw. situationsbezogene Erschwernisse, wie Ausstattung des Bettes, Schwellen, Türbreiten, beengte räumliche Verhältnisse, Erreichbarkeit von Lichtschaltern, lose Teppiche, Heizungsanlage, Fahrstuhl, sind zu beschreiben. 2.2 Fremdbefunde Im Falle professioneller Pflege bildet die Einsichtnahme in die Pflegedokumentation für den Gutachter eine wichtige Informationsquelle. Neben ärztlichen Berichten stellen insbesondere die Berichte von Rehabilitationseinrichtungen und die Entwicklungsberichte für behinderte Kinder und Jugendliche aussagekräftige Dokumente dar. 2.3 Pflegerelevante Vorgeschichte (Anamnese) Der Verlauf der pflegebegründenden Krankheiten und Behinderungen soll im Überblick geschildert werden. Erkrankungen, die sich nicht auf den Hilfebedarf auswirken, sollen entsprechend ihrer Bedeutung für die Gesamteinschätzung der Situation und eventueller Rehabilitationsmöglichkeiten dargestellt werden. Nach bereits erfolgten Rehabilitationsmaßnahmen und ihrem Erfolg aus Sicht des Betroffenen sowie nach den wesentlichen aktuellen Problemen in der Selbstversorgung ist zu fragen. Bei Kindern ist darzulegen, seit wann der Hilfebedarf das altersübliche Maß übersteigt, denn nicht bei jeder Erkrankung oder Behinderung im Kindesalter ist der Hilfebedarf bereits mit Erkrankungsbeginn erhöht.
3 Gutachterlicher Befund 3.1 Allgemeinzustand/Befund Die Schilderung des ersten Eindrucks wird ergänzt durch entsprechende Angaben zu Allgemeinzustand, Bewusstseinslage, Körpergröße, Körpergewicht und Kräfteverfassung des Patienten. Anhand der Untersuchung zum Ernährungs- und Pflegezustand sowie des Verhaltens des Versicherten bei der Kontaktaufnahme können bereits zu Beginn der Begutachtung wichtige Informationen gewonnen werden. Hier sind auch eventuelle freiheitseinschränkende Maßnahmen zu beschreiben, die der Gutachter feststellt.
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3.2 Beschreibung von Schädigungen/Beeinträchtigungen der Aktivitäten in Bezug auf Stütz- und Bewegungsapparat, innere Organe, Sinnesorgane, Nervensystem und Psyche In Abhängigkeit von den geklagten Beschwerden, von den Angaben zum Hilfebedarf und vom Allgemeinzustand des Antragstellers ist vom Gutachter der notwendige Untersuchungsumfang bei der Erhebung der speziellen körperlichen Befunde einzuschätzen. Der Gutachter muss sich von den Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivitäten und den vorhandenen Ressourcen selbst ein Bild machen. Eine Untersuchung ist nur in dem Umfang erforderlich, wie sie für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit notwendig ist. Eine Schädigung ist charakterisiert durch einen beliebigen Verlust oder eine Normabweichung in der psychischen, physiologischen oder anatomischen Struktur oder Funktion. Sie ist unabhängig von der Ätiologie und umfasst die Existenz oder das Auftreten einer Anomalie, eines Defektes oder Verlustes eines Gliedes, Organs, Gewebes oder einer anderen Körperstruktur, auch eines Defektes in einem funktionellen System oder Mechanismus des Körpers einschließlich des Systems der geistigen Funktionen. Schädigungen am Stütz- und Bewegungsapparat sind z.B. – Verlust von Gliedmaßen/Kontrakturen/Gelenkfehlstellungen/Paresen (schlaff/ spastisch), – Bewegungsstörungen wie z.B. Athetosen/Akinesien/Gleichgewichtsstörungen/ Sensibilitätsstörungen/Tremor. Schädigungen an den inneren Organen sind z.B. – Schädigung der Herzkreislauf- und Atmungsfunktion (z.B. Zyanose/Luftnot in Ruhe oder unter Belastung/Oedeme/Herzrhythmusstörungen/Brustschmerz/ Husten/Auswurf), – Schädigung der Magen-Darm-Funktion (z.B. Übelkeit/Erbrechen/Verstopfung/ Durchfall/Stuhlinkontinenz/Schluckstörungen/Störungen der Nahrungsverwertung), – Schädigung der Harnausscheidungsfunktion (z.B. Miktionstörung/Inkontinenz). Eine große Bedeutung erhält die sorgfältige Befundbeschreibung eventuell vorliegender Druckgeschwüre (Dekubitalulzera), z.B. als Indikator für die Qualität und Sicherstellung der Pflege. Im Empfehlungsteil des Gutachtens sind ggf. zur Entstehung und Behandlung Aussagen zu treffen. Schädigungen an den Sinnesorganen sind z.B. Sehkraftminderung/Blindheit oder Schwerhörigkeit/Taubheit. Neurologische Schädigungen sind z.B. Bewegungsstörungen, Tremor, Paresen sowie Veränderungen der Stamm- und Extremitätenmuskulatur. Daneben sollte der Gutachter aber auch beurteilen, ob Störungen wie z.B. Aphasie, Apraxie, Agnosie oder Neglect vorliegen. Grundlage der Beschreibung der Schädigungen bildet der
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psychopathologische Befund, ggf. ergänzt durch Elemente aus psychometrischen Testverfahren (z.B. MMSE, FTDD, DemTect). Psychische Schädigungen äußern sich z.B. in Störungen des Bewusstseins, der Perzeption und Aufmerksamkeit, des Erinnerungsvermögens, der emotionalen Funktion und Willensfunktion oder der Intelligenz und des Denkens. Eine Beeinträchtigung der Aktivitäten ist Folge einer Schädigung und stellt jede Einschränkung oder jeden Verlust der Fähigkeit, Aktivitäten in der Art und Weise oder in dem Umfang auszuführen, die für einen Menschen als normal angesehen werden kann, dar. Sie betrifft komplexe oder integrierte Aktivitäten, wie sie von einer Person oder dem Körper als Ganzem erwartet werden und wie sie sich als Aufgabe, Fähigkeit und Verhaltensweise darstellt. Die Beeinträchtigung der Aktivitäten stellt eine Normabweichung dar, die sich in der Leistung der Person, im Gegensatz zu der des Organs oder des Organismus, ausdrückt. Ressourcen sind vorhandene Fähigkeiten, Kräfte und Möglichkeiten, die einem kranken, behinderten oder alten Menschen helfen, sein Leben und seine Krankheit oder Behinderung zu bewältigen. Ressourcen sollen bei der Pflege erkannt und gefördert werden, um die Selbständigkeit so lange und so weit wie möglich zu erhalten. Durch eine genaue Befunderhebung sind die sich aus den Schädigungen ergebenden Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Ressourcen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Verrichtungen des täglichen Lebens aufzuzeigen. Es ist zu prüfen, inwieweit der Antragsteller selber Angaben machen kann, ob er sich in seiner Wohnung zurechtfindet, ob er Aufforderungen erfassen und umsetzen kann. Hilfreich ist es, den Antragsteller den Tagesablauf schildern zu lassen und sich einzelne alltagrelevante Verrichtungen exemplarisch demonstrieren zu lassen. Im Rahmen der Begutachtung im ambulanten Bereich sollte der Gutachter gemeinsam mit dem zu untersuchenden Antragsteller alle Räume aufsuchen, in denen regelmäßig grundpflegerische Verrichtungen durchgeführt werden. Die in diesem Zusammenhang festgestellten Ressourcen sind ebenso zu dokumentieren. Bei erneuten Begutachtungen müssen diese Befunde die Beurteilung des Erfolgs von Rehabilitations- und Pflegemaßnahmen ermöglichen. Falls sich hieraus ein veränderter Hilfebedarf ergibt, dienen diese Befunde als Beleg für die Begründung einer veränderten Pflegeeinstufung. Aus diesem Vorgehen ergibt sich für den Gutachter ein positives/negatives Leistungsbild des Antragstellers hinsichtlich dessen Hilfebedarfs, der unter Punkt 4 nach Art und Umfang zu bewerten ist. Bei Vorliegen von demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung muss das Screening- und ggf. Assessment-Verfahren durchgeführt werden (s. Kap. 6.7 und 6.9). 3.3 Pflegebegründende Diagnose(n) Die für die Pflegebedürftigkeit relevanten Diagnosen sind in der Reihenfolge ihrer Wertigkeit für die Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe unter Angabe der
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resultierenden Funktionsstörung aufzuführen und nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) zu verschlüsseln. Darüber hinaus sind diejenigen klinischen Diagnosen zu erwähnen, die für eventuell notwendige Maßnahmen gemäß der Empfehlungen unter Punkt 6 des Gutachtenformulars bedeutsam sind.
4 Pflegebedürftigkeit Im Gutachtenformular wird die Grundpflege entsprechend dem § 14 SGB XI in folgende Bereiche unterteilt: – Körperpflege – Ernährung – Mobilität In tabellarischer Form wird der Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege strukturiert erfasst bezüglich: – des Vorhandenseins des Hilfebedarfs – der Form der Hilfe, differenziert nach den Kriterien Unterstützung, teilweise Übernahme, vollständige Übernahme, Beaufsichtigung und Anleitung – der Häufigkeit pro Tag bzw. Woche – des daraus resultierenden Zeitaufwands in Minuten pro Tag Für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit ist zwar allein der im Einzelfall bestehende individuelle Hilfebedarf des Versicherten maßgeblich. Zur Vereinheitlichung wurden jedoch für die im SGB XI genannten Verrichtungen der Grundpflege in den Begutachtungs-Richtlinien Zeitorientierungswerte festgesetzt. Sie sind keine verbindlichen Vorgaben, sondern haben Leitfunktion. Der Gutachter ist nicht davon entbunden, bei jedem Antragsteller den individuellen Zeitaufwand festzustellen. Insbesondere sind Abweichungen durch die Pflege erschwerende oder erleichternde Faktoren zu berücksichtigen. Bei der Festsetzung der Zeitorientierungswerte wurde eine vollständige Übernahme der jeweiligen Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft zugrunde gelegt. So können z.B. Maßnahmen im Sinne einer aktivierenden Pflege einen deutlich höheren Zeitaufwand erfordern als die teilweise oder vollständige Übernahme der jeweiligen Verrichtung durch die pflegende Person. Abweichungen von den Zeitorientierungswerten oder außergewöhnlich hohe Frequenzen einzelner Pflegeverrichtungen bedürfen der Erläuterung. Die Vor- und Nachbereitung zu den Verrichtungen ist als Hilfeleistung im Sinne des SGB XI bei den Zeitorientierungswerten bereits berücksichtigt. Die Pflege erschwerende oder erleichternde Faktoren sind aufzuführen und bei den Verrichtungen entsprechend zu berücksichtigen. Als Auszug aus den Begutachtungs-Richtlinien seien beispielhaft aufgeführt:
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Pflege erschwerende Faktoren: – hohes Körpergewicht – Kontrakturen/Einsteifung großer Gelenke – hochgradige Spastik – Erforderlichkeit der mechanischen Harnlösung oder der digitalen Enddarmentleerung – Schluckstörungen/Störungen der Mundmotorik – Atemstörungen – Abwehrverhalten/fehlende Kooperation mit Behinderung der Übernahme (z.B. bei geistigen Behinderungen/psychischen Erkrankungen) – pflegebehindernde räumliche Verhältnisse, die durch wohnumfeldverbessernde Maßnahmen nicht zu beheben sind – zeitaufwendiger Hilfsmitteleinsatz (z.B. bei fahrbaren Liftern, Decken-, WandLiftern) – verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen Pflege erleichternde Faktoren: – pflegeerleichternde räumliche Verhältnisse – Hilfsmitteleinsatz Auch verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen sind als Erschwernisfaktoren zu werten, wenn sie bei bestehendem Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege nach § 14 Abs. 4 SGB XI zusätzlich notwendig sind. Der Zeitaufwand für die Grundpflege einschließlich verrichtungsbezogener krankheitsspezifischer Pflegemaßnahmen ist als Summenwert für die jeweilige(n) Verrichtung(en) zu erfassen. Nur wenn rund um die Uhr erforderliche häusliche Krankenpflege (§ 37 SGB V) durchgeführt wird, ist zu dokumentieren, welcher Zeitaufwand auf die jeweilige krankheitsspezifische Pflegemaßnahme entfällt. Im Rahmen der Feststellung des nächtlichen Hilfebedarfs bei der Grundpflege sind diejenigen Verrichtungen der Grundpflege zu dokumentieren, bei denen nachts, das heißt zwischen 22.00 und 06.00 Uhr, Hilfe erforderlich ist. Der Gutachter hat die Angaben des Versicherten bzw. der pflegenden Person auf Plausibilität zu prüfen. Bei Feststellung der Pflegestufe III in vollstationärer Pflege ist auch der Umfang der regelmäßig und auf Dauer anfallenden behandlungspflegerischen Maßnahmen zu prüfen, der bei der Ermittlung des Zeitaufwandes zur Feststellung eines außergewöhnlich hohen Pflegeaufwandes mitberücksichtigt werden kann. Auch der Hilfebedarf, der sich aus den Einschränkungen bei den einzelnen Verrichtungen der hauswirtschaftlichen Versorgung ergibt, ist zu ermitteln. Er ist bezüglich seines Vorhandenseins und seiner Häufigkeit wöchentlich unter Angabe von Hinweisen oder Bemerkungen anzugeben. Es ist der tatsächlich anfallende individuelle Hilfebedarf zu bewerten und der Zeitaufwand in Stunden pro Woche abzuschätzen.
6.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit
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Besonderheiten der Feststellung des Hilfebedarfs und Beispiele zu einigen Verrichtungen Maßstab für die Feststellung des Hilfebedarfs sind die Fähigkeiten zur Ausübung der Verrichtungen und nicht Art oder Schwere vorliegender Erkrankungen oder Schädigungen. Entscheidungen in einem anderen Sozialbereich über das Vorliegen einer Behinderung (z.B. GdB) haben keine bindende Wirkung für die Feststellung des Hilfebedarfs und die sich daraus ergebende Pflegebedürftigkeit. Angaben des Antragstellers und der Pflegeperson(en) zur Pflegesituation werden durch den Gutachter aufgenommen. Widersprüche in den Angaben machen eine differenzierte Befragung erforderlich. Getrennte Befragungen von Antragstellern und pflegenden Personen können sinnvoll sein. Die Beziehung von Krankheit/Behinderung zu feststellbaren Beeinträchtigungen und zum Hilfebedarf ist in der Regel wenig problematisch. Die Ermittlung kann im Einzelfall schwierig sein, wenn sich der Hilfebedarf nicht direkt beobachten lässt, z.B. bei nächtlicher Hilfe wegen Unruhezuständen. Teilweise kann sich der Gutachter den Ablauf von Verrichtungen aus ethischen Gründen nicht demonstrieren lassen. Bei Pflegebedürftigen mit zerebralen Abbauprozessen bestehen häufig Dissimulationstendenzen. Aus Schamhaftigkeit oder Fehleinschätzung werden Defizite nicht zugegeben. Stellungnahmen von Hausärzten oder Krankenhausberichte geben in der Regel nur geringe Hinweise auf den konkreten Hilfebedarf bei den gesetzlich definierten Verrichtungen. Krankenhausberichte sind zumeist sehr diagnosebezogen. Bei Stellungnahmen von Hausärzten fällt auf, dass der Rollenwechsel vom Behandler zum objektiven Sachverständigen manchen behandelnden Ärzten schwerfällt. Auch können Interessenkollisionen auftreten. Der Hausarzt sollte in seinem Attest objektive Befunde angeben und Beeinträchtigungen der Aktivitäten beschreiben, sich aber nicht auf eine Pflegestufe festlegen.
Die Ermittlung des Zeitaufwandes Bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit ist die sachverständige Schätzung des Zeitaufwandes für die notwendigen Pflegeleistungen bei den definierten Verrichtungen von ausschlaggebender Bedeutung. Es ist der Zeitaufwand zugrunde zu legen, den eine durchschnittliche nicht als Pflegefachkraft ausgebildete Laienpflegeperson benötigen würde. Die Individualität der Pflegeperson darf keine Berücksichtigung finden. Da eine Vielzahl von Variablen zu bedenken ist, kann es sich bei der Festlegung des Zeitaufwandes nur um eine Abschätzung handeln. Wissenschaftlich abgesicherte Standards für Pflegezeiten existieren nicht. Pflege durch Laien muss auch gegenüber der professionellen Pflege nicht verlängert sein. Viele Pflegezeiten (z.B. beim Essen) sind eher von der Kooperation des Pflegebedürftigen und den Behinderungen (z.B. Schluckstörung) abhängig als von der Person, die pflegt. Im Jahr 1997 wurden zur Vereinheitlichung der Begutachtungen
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„Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung“ in die Begutachtungs-Richtlinien aufgenommen. Durch das Bundesministerium für Arbeit (BMA) wurden zwei Studien zur Evalu ation der Orientierungswerte für die Pflegezeitbemessung in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse haben gezeigt, dass in der häuslichen Pflege eine überaus große Variabilität der Zeitdauer gleich benannter Handlungen zu finden ist. Sie haben darüber hinaus gezeigt, dass es wenige systematische Einflussfaktoren auf die Variabilität gibt. Es lassen sich weder eindeutige haushaltsspezifische, noch von der Pflegeperson abhängige Einflüsse auf die Zeiten klar identifizieren. Auch innerhalb des Haushalts sind die Zeiten bei gleichen Pflegehandlungen unterschiedlich lang. Die Zeitdauer ist also nicht nur von Haushalt zu Haushalt, sondern auch von Situation zu Situation unterschiedlich [MDS 2002]. Die Häufigkeit der Verrichtungen ist neben der Pflegezeit je Verrichtung ein entscheidendes Merkmal für den Hilfeumfang. Es gibt keine allgemein gültigen Standards darüber, wie häufig man sich am Tage wäscht, kämmt oder Mahlzeiten zu sich nimmt bzw. die Toilette aufsucht. Nach den Begutachtungs-Richtlinien sind die Häufigkeiten für die Verrichtungen abhängig von individuellen Lebensgewohnheiten und Mindesthygieneanforderungen. Der Gutachter hat sich nach allgemeiner Lebenserfahrung sowie kulturell bedingten und letztlich gesellschaftlich akzeptierten Normen zu richten, die die mögliche Bandbreite der berücksichtigungsfähigen Anzahl der einzelnen täglichen Verrichtungen eingrenzen. 4.1 Körperpflege Beim Waschen/Duschen/Baden sind Vor- und Nachbereitungszeiten sowie die Hautpflege als integraler Bestandteil mit zu berücksichtigen. Das tägliche Pflegebad wegen einer Hauterkrankung ist ebenso wie die anschließend notwendige Hautbehandlung zu berücksichtigen, da die Durchführung dieser krankheitsspezifischen Pflegemaßnahme objektiv notwendig im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Verrichtung vorgenommen werden muss. Das Haarewaschen ist als Bestandteil einer Ganzkörperwäsche, des Duschens oder des Badens zu berücksichtigen, auch wenn es nicht täglich erfolgt. Die Zahnpflege umfasst die Vorbereitung und Durchführung der Reinigung der gesamten Mundhöhle und ggf. des Zahnersatzes. Maßnahmen zur Förderung der Darmentleerung sowie die Stomaversorgung sind bei der Hilfebedarfsbemessung unter dem Punkt Darmentleerung ebenso zu berücksichtigen wie die regelmäßige Einmalkatheterisierung unter dem Punkt Blasenentleerung. 4.2 Ernährung Alle Hilfestellungen bei der Nahrungsaufnahme einschließlich notwendiger Aufforderungen zur bedarfsgerechten Aufnahme der Nahrung in fester, breiiger und flüssiger Form (Essen und Trinken), die eine Überwachung und/oder Erledigungskontrolle erfordern, sind beim Hilfebedarf zu berücksichtigen, wenn der Antragsteller aufgrund fehlender Einsichtsfähigkeit dazu nicht in der Lage ist. Die Vorbereitungen
6.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit
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der Mahlzeiten sind nicht der Ernährung zuzuordnen, sie sind Teil des Bereiches der hauswirtschaftlichen Versorgung wie das Zubereiten von Diäten, einschließlich des anhand der Diätvorschriften vorzunehmenden Messens und Zuteilens der zubereiteten Nahrung. Das Zubereiten belegter Brote gehört somit auch nicht zur mundgerechten Zubereitung, sondern zur Hauswirtschaft. Beaufsichtigung bei übermäßiger Nahrungsaufnahme ist ebenfalls nicht zu berücksichtigen. Die regelmäßigen Insulingaben sowie die Blutzuckermessungen sind Bestandteil der Behandlungspflege. Die erforderliche mundgerechte Zubereitung der Nahrung ist anrechnungsfähig. Sie ist auf jene Maßnahmen beschränkt, die der essfertigen Zubereitung nachfolgen und den Zweck haben, die zubereitete Nahrung so aufzubereiten, dass der Pflegebedürftige sie greifen, zum Mund führen, zerkauen und schlucken kann. 4.3 Mobilität Hilfestellung beim selbständigen Aufstehen und Zubettgeben umfasst auch die eigenständige Entscheidung, zeitgerecht das Bett aufzusuchen bzw. zu verlassen. Ebenso sind Lagerungsmaßnahmen oder das Wiederzubettbringen orientierungsloser Menschen berücksichtigungsfähig. Wenn es erforderlich ist, die Kleidung bereitzulegen, z.B. aufgrund geistiger Behinderung oder Blindheit, ist dieses als Unterstützung zu berücksichtigen. An- und Auskleiden im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit ist nicht einzubeziehen. Das Gehen, Stehen und Treppensteigen ist nur innerhalb der Wohnung im Zusammenhang mit den definierten Verrichtungen dem Hilfebedarf nach SGB XI zuzuordnen. In stationären Einrichtungen orientiert sich die Bedarfsfeststellung an einer „durchschnittlichen häuslichen Wohnsituation“. So wird jeder Weg pauschal mit 8 m bemessen und das Treppensteigen kann nicht gewertet werden. Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung kann nur im Zusammenhang mit Maßnahmen berücksichtigt werden, die unmittelbar für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause notwendig sind und das persönliche Erscheinen erfordern, wie z.B. das Aufsuchen von Ärzten oder Therapeuten oder die Inanspruchnahme von vertragsärztlich verordneten Therapien. Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung kann nur angerechnet werden, wenn solche Maßnahmen in der Gesamtheit regelmäßig (mindestens einmal wöchentlich) und auf Dauer (mindestens für sechs Monate) anfallen und aus physischen und psychischen Gründen personelle Hilfe notwendig ist. Wenn ein Beaufsichtigungsbedarf besteht, sind neben den Fahrzeiten auch die zwangsläufig anfallenden Warte- und Begleitzeiten der Begleitperson anzurechnen, sofern diese dadurch zeitlich und örtlich gebunden ist. Wenn ein Hilfe- oder Beaufsichtigungsbedarf besteht, ist dieser zu berücksichtigen, unabhängig davon, wer diese Hilfen erbringt bzw. ob die Kosten von einem Sozialversicherungsträger getragen werden (z.B. Hilfe beim Treppensteigen, Ein- oder Aussteigen durch den Taxifahrer oder durch das Personal bei Krankenfahrten).
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4.4 Hauswirtschaftliche Versorgung Das Einkaufen, auch für die Beschaffung spezieller Diätnahrungsmittel, ist Bestandteil der hauswirtschaftlichen Versorgung. Hilfe beim Einkaufen wird bei den hauswirtschaftlichen Verrichtungen und nicht beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung berücksichtigt. Das Kochen umfasst den gesamten Vorgang der Nahrungszubereitung. Portionsgerechte Vorgabe bzw. Portionieren ist nicht unter der Grundpflege (mundgerechte Zubereitung der Nahrung) zu subsumieren, sondern unter der Zubereitung von Lebensmitteln im Bereich der Hauswirtschaft. Unter der Hauswirtschaft ist auch das Reinigen der Wohnung, das Spülen, das Wechseln und Waschen der Kleidung sowie das Beheizen individuell nach den Gegebenheiten zu berücksichtigen. Es sind dabei nur die Tätigkeiten anzurechnen, die sich auf den Antragsteller selbst beziehen.
5 Ergebnis Der Ergebnisabschnitt des Pflegegutachtens bildet die für die Pflegekasse relevante Entscheidungsgrundlage zu Art und Umfang der Leistungsgewährung für den Pflegebedürftigen und ggf. die Pflegeperson. Es ist unter Punkt 5.1 anzugeben, ob der von den Pflegepersonen unter Punkt 1.4 geltend gemachte zeitliche Pflegeaufwand mit dem gutachterlich festgestellten Zeitaufwand des Hilfebedarfs nach den Maßgaben des SGB XI übereinstimmt. Dabei ist bei mehreren Pflegepersonen eine gutachterliche Bewertung des wöchentlichen Pflegeaufwandes für jede einzelne Pflegeperson vorzunehmen und Unstimmigkeiten zwischen angegebenem und festgestelltem Pflegeaufwand zu kommentieren, sodass die Pflegekasse gemäß § 44 SGB XI die leistungsrechtliche Voraussetzung zur sozialen Sicherung der Pflegepersonen prüfen kann. Als zentrales Ergebnis der analysierenden und bewertenden Begutachtung erfolgen unter Punkt 5.2 die Angaben zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI. Sind die festgelegten Voraussetzungen erfüllt, ist auf der Grundlage der entsprechenden sozialgesetzlichen Kriterien die Pflegestufe I, II oder III und ggf. das Vorliegen eines außergewöhnlich hohen Hilfebedarfes anzugeben. Weiterhin ist festzustellen, seit wann Pflegebedürftigkeit in der aktuell festgestellten Ausprägung vorliegt. Wenn die Pflegebedürftigkeit nicht durch eindeutig zuzuordnende Ereignisse ausgelöst wird, ist eine gutachterlich begründete Abschätzung des Beginns der festgestellten Pflegestufe notwendig. Die Beurteilung bedarf einer sachverständigen Begründung und/oder Erläuterung. Ein bloßes Abstellen auf das Datum der Antragstellung ist nicht zulässig. Unter Punkt 5.3 geben Hinweise auf Ursachen der Pflegebedürftigkeit aufgrund eines Unfalls, einer Berufserkrankung oder eines Versorgungsleidens der Pflegekasse die Möglichkeit, bei einem anderen Leistungsträger Ersatzansprüche geltend zu machen.
6.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit
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Die Beantwortung der Frage unter Punkt 5.4, ob die häusliche Pflege in geeigneter Weise sichergestellt sei, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Bei der begründeten Feststellung eines Defizits der häuslichen Pflege hat sich der Gutachter an Folgendem zu orientieren: – der Situation des Pflegebedürftigen – den Belastungen und der Belastbarkeit der Pflegeperson – dem sozialen Umfeld der konkreten Pflegesituation – der Wohnsituation einschließlich möglicher Wohnumfeldverbesserungen des Antragstellers Der Gutachter hat zu bedenken, dass er bei der Begutachtung des Antragstellers unter Berücksichtigung der Qualität der häuslichen Pflege die familiären Verhältnisse einer tiefgreifenden Bewertung unterzieht. Er darf jedoch trotz der gesetzlich verbrieften Bedeutung der häuslichen Pflege das Wohl des Pflegebedürftigen nicht aus den Augen verlieren. Ist dies nach den oben dargestellten Kriterien durch die häusliche Pflege nicht in geeigneter Weise sichergestellt, kann der Gutachter durch Angabe entsprechender Empfehlungen der Pflegekasse Hinweise geben, durch geeignete Maßnahmen Abhilfe zu leisten. Solche Maßnahmen sind z.B. das Angebot von Pflegekursen für Pflegende, der Hinweis auf ergänzende Hilfen oder die Unterstützung der Laienpflege durch professionelle Pflege (Kombinations-/Sachleistung). Daraus ergibt sich, dass die gutachterlichen Empfehlungen weitreichende Konsequenzen für den Pflegebedürftigen in Form eines Entzugs der gewohnten Geldleistung und für die Pflegeperson in Form versagter Rentenversicherungsansprüche haben können. Die Frage unter Punkt 5.5 nach der Erfordernis der vollstationären Pflege ist nur dann zu prüfen und dezidiert zu begründen, wenn ein Antrag auf vollstationäre Pflegeleistung gestellt wurde und Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI vorliegt. Sind die Möglichkeiten der ambulanten Pflege, der teilstationären oder Kurzzeitpflege erschöpft, kann vollstationäre Pflege nach den Begutachtungs-Richtlinien insbesondere erforderlich sein bei: – Fehlen einer Pflegeperson – fehlender Pflegebereitschaft möglicher Pflegepersonen – drohender oder bereits eingetretener Überforderung von Pflegepersonen – drohender oder bereits eingetretener Verwahrlosung des Pflegebedürftigen – Eigen- und Fremdgefährdungstendenzen des Pflegebedürftigen – räumlichen Gegebenheiten im häuslichen Bereich, die keine häusliche Pflege ermöglichen und durch Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes nicht verbessert werden können Die Prüfung der Notwendigkeit kann entfallen bei: – Vorliegen von Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe III) – Versicherten, die bereits vor dem 01.04.1996 in einer vollstationären Pflegeeinrichtung lebten
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Besonderheiten bei der Begutachtung in vollstationären Pflegeeinrichtungen Für die Begutachtung von Versicherten in stationären Pflegeeinrichtungen gelten im Wesentlichen die für die Begutachtung in der Privatwohnung ausgeführten Grundsätze. Auch hier sollen die Informationen durch Angehörige und Pflegende sowie ggf. Betreuer berücksichtigt und die Angaben in der Pflegedokumentation gewürdigt werden. Besonders zu beachten ist jedoch, dass nicht die tatsächlichen räumlichen Gegebenheiten in der Pflegeeinrichtung Grundlage der gutachterlichen Hilfebedarfsermittlung sind, sondern die „durchschnittliche häusliche Wohnsituation“ als fiktiver Maßstab zugrunde zu legen ist (s. Kap. 6.1).
6 Empfehlungen an die Pflegekasse/individueller Pflegeplan Pflegebedürftigkeit ist regelmäßig kein unveränderbarer Zustand, sondern ein Prozess, der durch aktivierende Pflege, Maßnahmen der Krankenbehandlung, Leistungen mit präventiver und rehabilitativer Zielsetzung oder durch medizinische Rehabilitation beeinflussbar ist. Hier hat der Gutachter unter Würdigung der Ergebnisse der Pflegebegutachtung für den häuslichen und stationären Bereich in den Punkten 6.1 bis 6.4 Stellung zu nehmen, ob über die derzeitige Versorgungssituation hinaus präventive Maßnahmen, Heilmittel als Einzelleistungen oder eine Leistung der medizinischen Rehabilitation oder sonstige Therapien erforderlich sind (s. Kap. 7). Es ist ggf. auch zu begründen, warum rehabilitative Leistungen nicht in Betracht kommen. Die vorstehenden Feststellungen werden in einer gesonderten Rehabilitationsempfehlung zusammengefasst, die die Pflegekasse dem Antragsteller zusammen mit dem Bescheid zur Verfügung stellt (s. Kap. 7.2). 6.5 Hilfsmittel-/Pflegehilfsmittelversorgung In jedem Einzelfall ist die Möglichkeit der Verbesserung der Versorgung zu prüfen. Ausgehend von der derzeitigen Versorgung sind differenzierte Empfehlungen abzugeben. Die leistungsrechtliche Abgrenzung, ob es sich bei der vorgeschlagenen Versorgung durch den Gutachter um ein Hilfsmittel nach § 33 SGB V oder um ein Pflegehilfsmittel nach § 40 SGB XI handelt, obliegt der Kranken- bzw. Pflegekasse. Für die leistungsrechtliche Entscheidung benötigt die Kranken-/Pflegekasse detaillierte Angaben, bei welchen Aktivitäten und zu welchem Zweck das vorgeschlagene Produkt genutzt werden soll. Es ist darzustellen, in welcher Art und in welchem Umfang der Antragsteller das Produkt selbstbestimmt und selbständig nutzen kann oder ob die Nutzung ausschließlich durch die Pflegeperson erfolgen muss. 6.6 Technische Hilfen und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen Die Pflegekassen können finanzielle Zuschüsse für Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des Pflegebedürftigen gewähren. Dies gilt beispielsweise für technische Hilfen im Haushalt, wenn dadurch im Einzelfall die häusliche Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbständige Lebens-
6.5 Die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit
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führung des Pflegebedürftigen wiederhergestellt wird. Der Gutachter hat hierzu Empfehlungen auszusprechen. Einzelheiten ergeben sich aus dem „Gemeinsamen Rundschreiben der Spitzenverbände der Pflegekassen und des GKV-Spitzenverbandes zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des PflegeVG zu § 40 Abs. 4 SGB XI“ in der jeweils gültigen Fassung. 6.7 Verbesserung/Veränderung der Pflegesituation Der Gutachter hat konkrete Maßnahmen vorzuschlagen (z.B. hauswirtschaftliche Versorgung, Grundpflege, Behandlungspflege). So können sich Empfehlungen zur Veränderung der pflegerischen Situation des Antragstellers sowohl – auf die organisatorische (z.B. Gestaltung des Tagesablaufes, Essenszeiten, Weckzeiten), – auf die räumliche (z.B. Anordnung des Bettes und der Möbel im Zimmer, lose Teppiche) und – inhaltliche Aspekte bezüglich einzelner Pflegeleistungen (z.B. Prinzip der „aktivierenden Pflege“), – aber auch auf bestimmte Personengruppen (z.B. altersverwirrte, hemiplegische, inkontinente Menschen) beziehen. Dabei ist den individuellen Wünschen der Antragsteller Rechnung zu tragen. Liegt eine Überforderungssituation der Pflegeperson oder -personen vor oder droht diese, sind Vorschläge zur Entlastung zu machen (z.B. Tages- und Nachtpflege, Kurzzeitpflege, vollstationäre Pflege, Pflegekurs). Liegen Hinweise auf eine defizitäre Pflege vor, sind diese darzustellen und geeignete Maßnahmen zu empfehlen. Werden „freiheitseinschränkende“ Maßnahmen notwendig, so erwachsen daraus besondere Sorgfaltspflichten (z.B. aufgrund erhöhten Dekubitusrisikos, Aspirations- und Verletzungsgefahr). In jedem Fall hat der Gutachter besonders sorgfältig zu prüfen, ob eine defizitäre Pflegesituation vorliegt bzw. droht, auch wenn – wie im stationären Bereich erforderlich – eine richterliche Genehmigung vorliegt und ggf. andere geeignetere Maßnahmen zu empfehlen.
7 Zusätzliche Empfehlungen/Erläuterungen für die Pflegekasse In diesem Abschnitt können für die Situation des Antragstellers relevante Sachverhalte erwähnt werden, die über die eigentliche, der Begutachtung zugrunde liegende Fragestellung hinausgehen oder die aufgrund der Systematik an anderer Stelle im Gutachten nicht aufgenommen werden können. 8 Prognose/Wiederholungsbegutachtung Die Begutachtung des Pflegebedürftigen ist in angemessenen Abständen zu wiederholen. Dem Gutachter kommt die wichtige Aufgabe zu, die weitere Entwicklung der Hilfebedürftigkeit auf Grundlage der festgestellten Erkrankungen und Behinderun-
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gen prognostisch einzuschätzen und daraus Notwendigkeit und Termin für eine Wiederholungsuntersuchung abzuleiten.
6.6 Typologie der Begutachtung nach SGB XI Thomas Gaertner und Brigitte Seitz Das Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit umfasst nach § 18 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) den gesamten Verwaltungsakt 1. von der Antragstellung des Versicherten bei der Pflegekasse 2. und der Weiterleitung des Antrags zur Beauftragung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung 3. über seine Prüfung der Leistungsvoraussetzungen 4. und mittels seiner Stellungnahme die Übermittlung der Ergebnisse und Empfehlungen an die Pflegekasse 5. bis hin zur Entscheidung über den Antrag seitens der Pflegekasse unter maßgeblicher Berücksichtigung des Gutachtens des MDK 6. und Mitteilung ihrer Leistungsentscheidung an den Versicherten (rechtsmittelfähiger Bescheid). Gemäß § 36 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) muss der Bescheid der Pflegekasse eine schriftliche Belehrung über „den Rechtsbehelf und die Behörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, deren Sitz, die einzuhaltende Frist und die Form“ enthalten. In der Regel beträgt diese Frist einen Monat. Fehlt die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid, verlängert sich die Einspruchsfrist auf ein Jahr nach Erteilung des Bescheids. Ein solcher Verwaltungsakt wird für die Beteiligten bindend, wenn nicht erfolgreich dagegen Rechtsbehelf eingelegt wird. Für die förmlichen Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte gelten, wenn der Sozialrechtsweg gegeben ist, das Sozialgerichtsgesetz (SGG), wenn der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist, die Verwaltungsgerichtsordnung. Rechtsbehelfe sind der Widerspruch und die Klage. Die Begutachtung des Versicherten dient der Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie der Feststellung einer möglichen Einschränkung der Alltagskompetenz. Das Pflegegutachten wird in der Regel als ausführliches Formulargutachten (s. Anlage) erstattet. Zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gehört die Prüfung von deren Voraussetzungen und die Empfehlung der Stufe. Weiterhin enthält das Gutachten die sozialgesetzlich geforderte Mitteilung vom Ergebnis der Prüfung. Sie basiert auf der pflegerelevanten Erhebung der Eigen- und Fremdanamnese sowie der Inaugenscheinnahme des Versicherten in seinem Wohnbereich. Die Untersuchung dient der 1. Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs des vorliegenden Hilfebedarfs mit Krankheit und Behinderung,
6.6 Typologie der Begutachtung nach SGB XI
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2. Feststellung des Hilfebedarfs bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens unter Berücksichtigung vorliegender Krankheiten oder Behinderungen, 3. Ermittlung von Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der Hilfebedürftigkeit, 4. Ermittlung des Vorliegens einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz, 5. Erfassung von Hinweisen auf Maßnahmen zur Prävention von Pflegebedürftigkeit und der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Zu den Ergebnissen der Begutachtung zählen die 1. Feststellung der Pflegebedürftigkeit mit Empfehlung der Pflegestufe, 2. Feststellung einer Einschränkung der Alltagskompetenz, 3. Angabe, ob die häusliche Pflege in geeigneter Weise sichergestellt ist, 4. Angabe, ob ggf. vollstationäre Pflege notwendig ist, 5. Empfehlung zu Art und Umfang von Pflegeleistungen, 6. Empfehlung eines individuellen Pflegeplans, 7. gesonderten Rehabilitationsempfehlungen (Zuweisungsempfehlung) mit Feststellungen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind, 8. Empfehlungen zu technischen Hilfen und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, 9. Empfehlungen zu Verbesserung/Veränderung der Pflegesituation, 10. Aussagen zu Prognose/Wiederholungsbegutachtung, 11. Stellungnahme zum Umfang der pflegerischen Tätigkeit der Pflegeperson(en).
6.6.1 Arten der Begutachtung/Gutachtenarten In Abhängigkeit vom Auftrag der Pflegekasse werden die Arten der Begutachtung nach dem der Fragestellung zu Grunde liegenden Anlass differenziert. Die Gutachtenarten ergeben sich aus den Festlegungen im Handbuch MDK-übergreifendes Berichtswesen in der 11. Fassung vom 25.11.2011. Die Erstbegutachtung dient prinzipiell der Feststellung der Pflegebedürftigkeit oder der Feststellung der erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz aufgrund eines Antrages des Versicherten. In diesem Fall hat das Recht, Leistungen der Pflegekasse in Anspruch zu nehmen, noch nicht vorgelegen. Zu den Erstgutachten zählen: – Stellungnahmen bei Anträgen auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit, wenn bisher noch keine Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI festgestellt wurde – die erste Stellungnahme bei Anträgen auf Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen nach § 40 SGB XI und bei sonstigen Fragen
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
– Stellungnahmen bei Anträgen auf Leistungen nach § 45a SGB XI, wenn bisher noch keine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz festgestellt wurde – Stellungnahmen bei Anträgen auf Leistungen nach § 87b SGB XI, wenn bisher ein erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf noch nicht festgestellt wurde. Eine Begutachtung bei Änderungsantrag (Änderungsbegutachtung) dient der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit hinsichtlich der festgestellten Pflegestufe bei bereits anerkannter Pflegebedürftigkeit aufgrund eines Höherstufungs- bzw. Rückstufungsantrags (Höherstufungsbegutachtung bzw. Rückstufungsbegutachtung) des Versicherten. Dieser Antrag kann jederzeit unabhängig vom Zeitpunkt der Vorbegutachtung gestellt werden, wenn die Ansicht vertreten wird, dass der Hilfebedarf seitdem richtungsweisend zu- oder abgenommen hat. Für die Darstellung der Prüfung der Voraussetzungen gelten die bereits für die Wiederholungsbegutachtung formulierten Anforderungen. Zu den Gutachten nach Änderungsantrag zählen Stellungnahmen bei Anträgen auf Änderung einer Pflegestufe und/oder Leistungsberechtigung wegen erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. Eine Wiederholungsbegutachtung dient der Überprüfung der Pflegebedürftigkeit hinsichtlich des Bestandes bzw. des Wechsels der festgestellten Pflegestufe aufgrund der Empfehlung des MDK im Vorgutachten, der Sachkenntnis der Pflegekasse oder gemäß der Vorschrift des § 18 Abs. 2 SGB XI, die Untersuchung in angemessenen Zeitabständen zu wiederholen. Grundsätzlich erfolgt eine Wiederholungsbegutachtung durch den MDK nach Auftrag durch die Pflegekasse. In der Regel richtet sich die Pflegekasse bei der Beauftragung zu einer Wiederholungsbegutachtung nach dem vom MDK empfohlenen Termin im Vorgutachten. Sie ist jedoch verpflichtet, bei Anzeichen einer pflegestufenrelevanten Änderung des Hilfebedarfes den MDK oder andere unabhängige Gutachter (ab. 01.06.2013) mit der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit zu beauftragen. Hinweise erhält sie aufgrund der Benachrichtigungspflicht gemäß § 7 Abs. 2 SGB XI mit Einwilligung des Versicherten vom behandelnden Arzt, vom Krankenhaus, von den Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen sowie von den Sozialleistungsträgern. Weitere Hinweise zur Pflegesituation erhält die Pflegekasse vom Pflegedienst, dessen Einsatz der Pflegebedürftige zur Sicherung der Qualität der häuslichen Pflege und der regelmäßigen Hilfestellung und Beratung der häuslich Pflegenden im Rahmen des § 37 Abs. 3 SGB XI abzurufen hat. Weiterhin kann z.B. eine erneute Begutachtung im Anschluss an eine rehabilitative Maßnahme sinnvoll sein, wenn deren erfolgreiche Durchführung eine richtungsweisende Verringerung des Hilfebedarfs herbeigeführt haben könnte. Vom Wiederholungsgutachten ist das im Rahmen der Folgebegutachtung zu erstellende Folgegutachten abzugrenzen. Es bezeichnet die einer „fallabschließenden“ Stellungnahme folgende weitere Stellungnahme in demselben Leistungsfall bei Anträgen auf Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen oder bei sonstigen Fragen.
6.6 Typologie der Begutachtung nach SGB XI
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Eine Begutachtung im Widerspruchsverfahren dient der Überprüfung des Widerspruchs gegen die Entscheidung der Pflegekasse (Widerspruchsbegutachtung). Zum Widerspruch ist grundsätzlich nur der Versicherte, dessen gesetzlicher Betreuer oder eine bevollmächtigte Person seines Vertrauens berechtigt. Werden aufgrund der Einwände des Versicherten im Anhörungs- oder im Widerspruchsverfahren Sachverhalte deutlich, die ggf. eine erneute Begutachtung erforderlich machen, beauftragt die Pflegekasse damit den zuständigen MDK. Dieser hat unter Würdigung der vorgebrachten Einwände zu entscheiden, ob ggf. unter Beteiligung weiterer Fachkräfte der Sachverhalt auf der Grundlage der Aktenlage entschieden werden kann oder aber eine erneute Untersuchung des Versicherten notwendig ist. Zu den Anlässen eines Widerspruchsgutachtens zählen: – Widerspruch des Versicherten gegen die Entscheidung der Pflegekasse – Einspruch des Versicherten gegen bevorstehende Entscheidung der Pflegekasse (Anhörungsverfahren) – Aufträge im Zusammenhang mit einem Sozialgerichtsverfahren Die Bemessung des Hilfebedarfes und die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit haben, wie bereits im Abschnitt Wiederholungsbegutachtung beschrieben, unter Berücksichtigung des Vorgutachtens plausibel erörternd und begründend erläuternd zu geschehen. Sollte sich zwischen Vorbegutachtung, Widerspruch und erneuter Begutachtung eine Verschlechterung ergeben haben, so ist darzulegen, ab wann ggf. die Voraussetzung einer höheren Pflegestufe gegeben war. Aufgrund der vorliegenden Unterlagen haben zunächst die beteiligten Gutachter zu beurteilen, ob sie aufgrund neuer Aspekte zu einem anderen Ergebnis als im Vorgutachten kommen. Revidieren diese Gutachter ihre Entscheidung nicht, ist ein Zweitgutachten von einem anderen Gutachter zu erstellen. Bei der Zweitbegutachtung ist die zwischenzeitliche Entwicklung zu würdigen, der Zeitpunkt eventueller Änderungen der Pflegesituation gegenüber dem Erstgutachten zu benennen und ggf. auf die jeweilige Begründung des Widerspruchs einzugehen [BRi 2013].
6.6.2 Formen der Begutachtung Bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit werden in Abhängigkeit von der Entscheidungsgrundlage nach Art und Umfang der Tatsachenerhebung die beiden folgenden Formen der Begutachtung („Regelbegutachtungen“) unterschieden („Erledigungsart“).
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Begutachtung mit Hausbesuch Die Begutachtung erfolgt im Regelfall durch umfassende Untersuchung mit persönlicher Befunderhebung im Wohnbereich des Antragstellers. Dies gilt für Anträge auf häusliche und vollstationäre Pflege gleichermaßen. Die Gesamtheit der eigenermittelten und der fremderhobenen Fakten bilden die Grundlage der gutachterlichen Stellungnahme. Für diese Form der Begutachtung ist das Formulargutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI vorgegeben [BRi 2013]. Die Begutachtung zur Analyse entscheidender medizinischer und pflegerischer Befunde wird ergänzt um die Aufnahme der Versorgungs- und Betreuungssituation. Dazu gehört wesentlich eine Begehung des Wohnumfeldes zur Ermittlung pflegerelevanter Aspekte der Wohnsituation (Kontext – Umweltfaktoren). Die Begutachtung des Antragstellers in seinem Wohnumfeld stellt die Norm dar. Davon kann nur in begründeten Fällen abgewichen werden. In besonderen Fällen kann eine Einschränkung des Untersuchungsumfangs indiziert sein, wenn aufgrund der Erkrankung oder des Allgemeinzustandes des Antragstellers insbesondere eine umfassende körperliche Untersuchung nicht zuzumuten ist und eine Beurteilung der Pflegebedürftigkeit mit ausreichender Sicherheit auf der Grundlage der festgestellten Fakten sowie ggf. einer orientierenden Untersuchung gewährleistet ist bzw. nur bestimmte Leistungen (isolierter Antrag auf Feststellung einer Einschränkung der Alltagskompetenz) beantragt wurden.
Begutachtung nach Aktenlage Begutachtungen nach Aktenlage können in den Fällen durchgeführt werden, in denen eine persönliche Untersuchung des Antragstellers im Wohnbereich – nicht möglich ist (insbesondere, wenn der Antragsteller vor der persönlichen Befunderhebung verstorben ist), – im Einzelfall nicht zumutbar ist (z.B. ggf. bei stationärer Hospizversorgung, ambulanter Palliativpflege), – im Einzelfall bei erneuter Begutachtung, wenn ausnahmsweise bereits aufgrund einer eindeutigen Aktenlage feststeht, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Pflegestufe vorliegt, ob und ggf. in welchem Maße eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz vorliegt und ob und in welchem Umfang geeignete therapeutische bzw. rehabilitative Leistungen in Betracht kommen. Die sogenannte „Aktenlage“ bildet immer nur einen Ausschnitt von dokumentierten Fakten im Sinne einer fremden (Vor-)Auswahl und muss vom erfahrenen Gutachter hinsichtlich ihrer Verwertbarkeit kritisch analysiert werden. Zur gutachtlichen Beurteilung der Pflegebedürftigkeit gemäß § 18 Abs. 2 SGB XI aufgrund einer eindeutigen Aktenlage ohne Untersuchung des Pflegebedürftigen im Wohnbereich bedarf es daher in der Regel aussagekräftiger Informationen zum Hilfebedarf, einer eindeuti-
6.6 Typologie der Begutachtung nach SGB XI
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gen Dokumentation pflegerischer Maßnahmen und umfassender ärztlicher Berichte zu den vorliegenden, den Hilfebedarf begründenden Erkrankungen. Zur Vervollständigung der Unterlagen ist ggf. seitens des MDK eine Kontaktaufnahme mit dem Antragsteller, den Angehörigen, den Pflegepersonen, den Pflegeinstitutionen und den behandelnden Ärzten notwendig. Bei einem Erstantrag auf Leistungen der Pflegeversicherung wird eine Begutachtung auf Grundlage der Akten nur selten in Betracht kommen, da für die Beurteilung von Pflegebedürftigkeit die Ausgestaltung des Wohnumfelds berücksichtigt werden muss. Darüber hinaus sind im Gutachten Feststellungen zu treffen zur Sicherstellung der Pflege, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind. Des Weiteren sind Empfehlungen abzugeben, ob technische Hilfen und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen bzw. Maßnahmen zu Verbesserung/Veränderung der Pflegesituation notwendig sind. Ohne Kenntnisse der aktuellen Pflegesituation können diese Feststellungen in der Regel nicht getätigt werden.
6.6.3 Typen der Gutachten Formulargutachten Hierbei handelt es sich um das nach den Begutachtungs-Richtlinien erstellte Formulargutachten „Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ (s. Anlage), so wie es bereits ausführlich im vorausgegangenen Kapitel erläutert wurde [BRi 2013]. Dieses Gutachten wird generell bei Begutachtung im Hausbesuch verwendet. Bei speziellen Fragestellungen oder besonderen Sachverhalten kann es angezeigt sein, die Abfassung des Gutachtens nach der oben aufgeführten Systematik zu modifizieren, wenn die Aussagekraft und die Nachvollziehbarkeit des erstellten Gutachtens dadurch nicht beeinträchtigt werden.
Gutachten nach Aktenlage Gutachten nach Aktenlage werden auf Basis des „Formulargutachtens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ erstellt, müssen jedoch nicht alle Gutachtenfelder berücksichtigen. Für die unterschiedlichen Situationen der Aktenlagebegutachtung sind in den Begutachtungs-Richtlinien Mindestinhalte für Gutachten nach Aktenlage definiert worden.
Gutachten bei isolierter Feststellung einer Einschränkung der Alltagskompetenz In den Fällen der beantragten isolierten Feststellung einer Einschränkung der Alltagskompetenz kann sich der Gutachter – auf Basis des „Formulargutachtens zur
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI“ – auf die Beschreibung von Schädigungen/Beeinträchtigungen der Aktivitäten/Ressourcen insbesondere in Bezug auf Nervensystem und Psyche, die Benennung der Diagnosen und das Screening und Assessment zur Feststellung einer eingeschränkten Alltagskompetenz beschränken. Bei Antragstellern, die nicht bereits als pflegebedürftig mindestens im Sinne der Pflegestufe I anerkannt sind, reicht die Angabe aus, ob ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung besteht.
Gutachten in Fällen mit verkürzter Bearbeitungs-/Begutachtungsfrist Im Regelfall ist dem Antragsteller spätestens fünf Wochen nach Eingang des Antrags bei der zuständigen Pflegekasse die Entscheidung der Pflegekasse mitzuteilen. Für bestimmte Fallgestaltungen, z.B. zur Sicherstellung der weiteren Pflege beim Übergang aus einer Krankenhausbehandlung, bei Beantragung von Pflegezeit oder bei ambulant palliativer Versorgung gelten verkürzte Begutachtungsfristen. In diesen Fällen muss zunächst nur die Feststellung getroffen werden, ob mindestens erhebliche Pflegebedürftigkeit besteht. Diese gutachterliche Stellungnahme ist mit in den Begutachtungs-Richtlinien definierten Mindestangaben zum medizinisch-pflegerischen Sachverhalt und zum Hilfebedarf zu begründen, die aus den Fremdbefunden abgeleitet werden (Einzelheiten s. Kap. 6.5).
Sonstige Gutachtentypen Für andere Fragestellungen im Zusammenhang mit Leistungen der Pflegeversicherung finden andere Gutachtenformen Verwendung, zum Beispiel bei der – Beurteilung der Indikation wohnumfeldverbessernder Maßnahmen, – Beurteilung der Indikation von Pflegehilfsmitteln, – Beurteilung zu Fragen der Abgrenzung von häuslicher Krankenpflege gemäß SGB V, – Beurteilung des rentenrelevanten Pflegeaufwandes von Pflegepersonen, – Beurteilung zu gezielten Fragen im Widerspruchs- oder Sozialgerichtsverfahren.
6.7 Erheblich oder in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz bei Erwachsenen unter besonderer Berücksichtigung der Demenz Sandra Bischof, Bernhard Fleer, Christoph Jonas Tolzin und Friedrich Schwegler Beim Inkrafttreten der Pflegeversicherung 1995 waren Versicherte als pflegebedürftig definiert worden, die „wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krank-
6.7 Erheblich oder in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz
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heit oder Behinderung … der Hilfe bedürfen“. Als Beispiele für geistige und seelische Erkrankungen wurden im Gesetzestext aufgeführt: „Störungen des Zentralnervensystems wie Antriebs-, Gedächtnis- oder Orientierungsstörungen sowie endogene Psychosen, Neurosen oder geistige Behinderungen.“ Aufgrund dieses Gesetzestextes musste davon ausgegangen werden, dass neben den somatischen Krankheitsbildern die psychiatrischen Erkrankungen und Behinderungen gleichermaßen von den Leistungen der Pflegeversicherung partizipieren würden. In der Begutachtungspraxis zeigte sich, dass bei dem gewählten verrichtungsbezogenen Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI, trotz des Einschlusses der psychiatrischen Erkrankungen im Gesetzestext, Leistungen der Pflegeversicherung bei somatischen Erkrankungen und Behinderungen leichter zu erlangen waren als bei (geronto-) psychiatrischen Erkrankungen. Es zeigte sich weiter, dass bei bestimmten Krankheits- und Behinderungskonstellationen, wie z.B. bei Formen von leichter oder mittelschwerer Demenz Leistungen aus der Pflegeversicherung nicht zu erlangen waren, obwohl aufgrund der Zunahme dieser Erkrankungen immer deutlicher die gesellschaftliche Notwendigkeit zur Unterstützung der Folgen dieser Krankheitsbilder gesehen wurde. Der Gesetzgeber hat deshalb mit dem Inkrafttreten des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes (PflEG) am 01.04.2002 den Begriff der „Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz“ in die Pflegeversicherung eingeführt und Leistungen bereitgestellt für einen vom Verrichtungsbegriff (s. Kap. 6.3.1) unabhängigen Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf dieses Personenkreises. Er umfasst Personen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen. Mit dem Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) am 01.07.2008 wurden die Leistungen der Pflegeversicherung für Personen mit erheblich oder in erhöhtem Maße eingeschränkter Alltagskompetenz deutlich angehoben. Die gewährten Leistungen wurden geteilt für niedrigeren (erheblich eingeschränkt) in einen Grundbetrag und für höheren Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf (in höherem Maße eingeschränkt) in einen erhöhten Betrag (s. Kap. 4.3). Für Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen mit eingeschränkter Alltagskompetenz können die Pflegeeinrichtungen seit dem 01.07.2008 nach § 87b SGB XI Vergütungszuschläge aus der Pflegeversicherung erhalten, wobei jedoch nicht zwischen Grundbetrag und erhöhtem Betrag unterschieden wird. Die Höhe des Betrages, der den Pflegeeinrichtungen zur Verfügung gestellt wird für Betreuungsleistungen von Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, wird bei den Vergütungsverhandlungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern ausgehandelt. Nach dem Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz – PNG) erhalten Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz bei häuslicher Versorgung ab 01.01.2013 im Rahmen einer Übergangsregelung weitere Pflegegeld- oder Pflegesachleistungen (s. Kap. 4.1). Der weitaus größte Teil der Personen mit erheblich oder in erhöhtem Maße eingeschränkter Alltagskompetenz leidet an demenzbedingten Fähigkeitsstörungen.
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Der sehr viel kleinere Teil dieses Personenkreises umfasst die Pflegebedürftigen mit psychiatrischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen. Es sollen deshalb zunächst die Demenzerkrankungen und deren Bedeutung für die Pflegebegutachtung dargestellt werden.
6.7.1 Demenz Der Gesetzgeber hat in § 45a SGB XI als krankheitsbedingte Voraussetzung nicht „Demenz“ im Sinne einer ärztlich diagnostizierten und ausbehandelten Krankheit definiert, sondern spricht ausdrücklich von „demenzbedingten Fähigkeitsstörungen“. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass bei sehr vielen Patienten mit demenziellen Symptomen wegen der eingeschränkten Therapiemöglichkeiten keine weitere ärztliche Diagnostik durchgeführt wird und somit auch keine Therapie erfolgt. Um daher nicht einen Großteil der Versicherten mit dieser Symptomatik von einem Leistungsbezug auszuschließen, ist nach den Vorgaben des SGB XI das Vorliegen von demenzbedingten Fähigkeitsstörungen ausreichend, es muss keine ärztlich abgesicherte Diagnose und/oder Therapie vorliegen. Ungeachtet dieses gesetzgeberischen Pragmatismus sollten Patienten mit einer demenziellen Symptomatik immer einer fachärztlichen Diagnostik zugeführt werden, um eine möglichst frühzeitige Diagnostik der Erkrankung zu erreichen und eine Ausschöpfung der zur Zeit noch in geringem Umfang, aber immerhin vorhandenen Therapieoptionen nicht zu versäumen. Zur Diagnostik der Demenz, den verschiedenen Demenzformen und Demenzstadien wird auf die einschlägigen Lehrbücher der Psychiatrie und Gerontopsychiatrie verwiesen. Für den Gutachter von Bedeutung ist die Unterscheidung akuter organischer Psychosyndrome von chronisch organischen Psychosyndromen. Die akut organischen Psychosyndrome zeichnen sich aus durch eine rasch einsetzende und wieder abklingende Symptomatik, die meist reversibel ist. Von einem akuten organischen Psychosyndrom spricht man beispielsweise bei einem Delir oder bei einem affektiven Durchgangssyndrom nach einer Operation. Demgegenüber zeichnen sich chronisch organische Psychosyndrome durch einen schleichenden Beginn der Symptomatik aus. Sie verlaufen andauernd, fortschreitend und sind meist nicht reversibel. Zu den chronisch organischen Psychosyndromen zählen die Demenzen. Das Demenzsyndrom ist charakterisiert durch eine erworbene Beeinträchtigung des Gedächtnisses, vor allem der Lernfähigkeit für neue Informationen und Reproduktion von Erinnerungen sowie durch den zunehmenden Verlust früherer intellektueller Fähigkeiten, hierbei vor allem den Verlust des abstrakten Denkens, des Urteilsvermögens und der Konzentrationsfähigkeit. Das Demenzsyndrom zeigt keine Bewusstseinseintrübungen. Im Verlauf der Entwicklung eines Demenzsyndroms kommt es zu Persönlichkeitsveränderungen bezüglich der Motivation, der emotionalen Kontrolle und des Sozialverhaltens. Der Demenzbegriff ist sehr weit und umfas-
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send und zeichnet sich aus durch ein vielgestaltiges Symptomenbild. Der heutige Begriff Demenz ist weitgehend deckungsgleich mit dem traditionellen Begriff „hirnorganisches Psychosyndrom“. Um von einer Demenz sprechen zu können, müssen Störungen des Gedächtnisses, des Denkvermögens, der Urteilsfähigkeit und des Ideenflusses über eine Mindestdauer von sechs Monaten bestehen. Die Symptomatik muss so ausgeprägt sein, dass dadurch Alltagsaktivitäten deutlich beeinträchtigt sind. Das Bewusstsein ist in der Regel nicht getrübt. Die wichtigsten Demenzformen sind die Alzheimer Demenz mit rund 80 Prozent der Fälle sowie die zerebrovaskuläre Demenz mit etwa 16 Prozent der Fälle [Jellinger/ Rösler 2000]. Auf die verbleibenden 4 Prozent fallen seltene Formen der Demenz. Es werden verschiedene Subtypen der Demenz unterschieden: die kortikale Demenz, frontotemporale Demenz und subkortikale Demenz. Bei einer vorrangig kortikalen Demenz treten Symptome wie Störung von Gedächtnis und Denkvermögen, Sprachstörungen, Störung in der Ausführung von Bewegung und Handlungen sowie in der räumlichen Leistung bei geringer Veränderung der Persönlichkeit auf. Demgegenüber kommt es bei einer eher frontal betonten Demenz zu einem ausgeprägten Wandel der Persönlichkeit und zu Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens sowie des planenden und organisierenden Denkens. Vergleichsweise gut sind bei diesen Betroffenen die Fähigkeit des Gedächtnisses, die Orientierungsfähigkeit und die räumliche Leistung erhalten. Wenn die Verlangsamung des psychischen Tempos (inklusive Denktempo und geistige Flexibilität) im Vordergrund steht, handelt es sich in der Regel um eine vorrangig subkortikale Demenz. Leitsymptome einer demenziellen Erkrankung sind zunächst uncharakteristische Anfangssymptome wie Konzentrationsschwäche, Vergesslichkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Abnahme von Initiative und Interesse sowie Vernachlässigung von Routinetätigkeiten. Unbehandelt und im Weiteren dann obligat liegen ausgeprägte Merkfähigkeitsstörungen des Kurz- und später auch des Langzeitgedächtnisses vor. Beispielsweise werden Fragen häufig wiederholt, Antworten schnell vergessen. Ein sehr gravierendes Merkmal ist auch das Verlegen von Gegenständen. Im weiteren Verlauf kann es dazu kommen, dass eine Desorientiertheit zu Ort, Zeit und später auch zu Personen besteht. Es können neuropsychologische Symptome wie Agnosie, Apraxie, später auch Agraphie oder Alexie hinzutreten. Häufig beobachtet man Denkstörungen mit Verlangsamung, Umständlichkeit, zähflüssigen Gedankenablauf, inhaltliche Einengung, Beeinträchtigung der Urteils- und Abstraktionsfähigkeit und Konzentrationsstörungen. Bei einem Großteil der Patienten, die klinisch auffällig werden, was häufig eine akute Krankenhauseinweisung zur Folge hat, sind Symptome wie Antriebslosigkeit, Unruhe, Wahnstörungen und Halluzinationen vordergründig. Auch eine zunehmende Vernachlässigung der persönlichen Hygiene wird beobachtet und die Zuspitzung von charakterlichen Eigentümlichkeiten.
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
6.7.2 Psychische Erkrankungen Unter diese Personengruppe fallen alle Pflegebedürftigen, die an Folgen von psychischen Erkrankungen leiden, in § 14 SGB XI werden genannt endogene Psychosen und Neurosen. Diese Erkrankungen sind im Gegensatz zu den demenziellen Erkrankungen in der Regel ärztlich diagnostiziert und über lange Zeit therapiert. Meist kommt es erst nach längerer Krankheits- und Behandlungsdauer zu Beeinträchtigungen bei der Alltagsbewältigung, die dann einen Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf im Sinne des SGB XI auslösen.
6.7.3 Geistige Behinderungen Unter diese Personengruppe fallen alle Pflegebedürftigen, die an den Folgen einer angeborenen oder früh erworbenen Minderung der intellektuellen Leistungsfähigkeit leiden, die zu einer verzögerten oder unvollständigen Entwicklung der geistigen Fähigkeiten führt. Auch diese Erkrankungen sind im Gegensatz zu den demenziellen Erkrankungen in der Regel ärztlich diagnostiziert und über lange Zeit therapiert. In diesen Fällen kann es schon im Kindesalter zu einem deutlich erhöhten Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf im Vergleich zu einem gleichaltrigen, altersentsprechend entwickelten gesunden Kind kommen.
6.7.4 Begutachtung von Personen mit erheblich oder in erhöhtem Maße eingeschränkter Alltagskompetenz Begutachtungsrelevant ist die Richtlinie zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz und zur Bewertung des Hilfebedarfs vom 22.03.2002, geändert durch Beschlüsse vom 11.05.2006 und 10.06.2008. Bei demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung muss im Rahmen der Pflegebegutachtung zunächst das sogenannte Screening durchgeführt werden. Hierbei müssen Auffälligkeiten bei den folgenden psychosozialen Aktivitäten des täglichen Lebens geprüft werden: – Orientierung – Antrieb/Beschäftigung – Stimmung – Gedächtnis – Tag-/Nachtrhythmus – Wahrnehmung und Denken – Kommunikation/Sprache – Situatives Anpassen – Soziale Bereiche des Lebens wahrnehmen
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Besteht in einem oder mehreren der Punkte eine Auffälligkeit, die jedoch nicht zu einem regelmäßigen und dauerhaften Bedarf an Beaufsichtigung und Betreuung führt, wird die Begutachtung zur eingeschränkten Alltagskompetenz an diesem Punkt beendet und gutachterlich ein Bedarf verneint. Regelmäßig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass grundsätzlich ein täglicher Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf besteht, dessen Ausprägung sich unterschiedlich darstellen kann. So kann bei bestimmten Krankheitsbildern in Abhängigkeit von der Tagesform zeitweilig eine Beaufsichtigung ausreichen oder auch eine intensive Betreuung erforderlich sein. Ein Bedarf an Beaufsichtigung und Betreuung kann auch aus der Unfähigkeit resultieren, körperliche und seelische Gefühle oder Bedürfnisse wie Schmerzen, Hunger, Durst, Frieren und Schwitzen wahrzunehmen oder zu äußern, z.B. bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz oder im Wachkoma. Besteht hingegen aufgrund von Auffälligkeiten in einem oder mehreren der Punkte ein regelmäßiger Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf über mehr als sechs Monate, muss an das Screening die Durchführung des sogenannten Assessments angeschlossen werden. In diesem Assessment werden die in § 45a SGB XI vom Gesetzgeber festgelegten Kriterien geprüft: 1. Unkontrolliertes Verlassen des Wohnbereiches (Weglauftendenz) 2. Verkennen oder Verursachen gefährlicher Situationen 3. Unsachgemäßer Umgang mit gefährlichen Gegenständen oder potenziell gefährdenden Substanzen 4. Tätlich oder verbal aggressives Verhalten in Verkennung der Situation 5. Im situativen Kontext inadäquates Verhalten 6. Unfähigkeit, die eigenen körperlichen und seelischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen 7. Unfähigkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schützenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststörung 8. Störungen der höheren Hirnfunktionen (Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, herabgesetztes Urteilsvermögen), die zu Problemen bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen geführt haben 9. Störung des Tag-/Nacht-Rhythmus 10. Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren 11. Verkennen von Alltagssituationen und inadäquates Reagieren in Alltagssituationen 12. Ausgeprägtes labiles oder unkontrolliert emotionales Verhalten 13. Zeitlich überwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit aufgrund einer therapieresistenten Depression Eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz liegt dann vor, wenn mindestens zwei Items mit ja beantwortet werden, davon mindestens ein ja aus den Bereichen 1–9. Bei Vorliegen dieser Konstellation besteht Anspruch auf den Grundbetrag.
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Eine in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz liegt vor, wenn zusätzlich zu den oben genannten Voraussetzungen mindestens bei einem der Items 1, 2, 3, 4, 5, 9 oder 11 ein ja angegeben wird. Bei Vorliegen dieser Konstellation besteht Anspruch auf den erhöhten Betrag. Die Leistungen bei erheblich oder in erhöhtem Maße eingeschränkter Alltagskompetenz erhalten auch Personen, die einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung haben, der nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht. Zu den Leistungen im Einzelnen siehe Kapitel 4.
6.7.5 Besonderheiten der Begutachtungspraxis bei Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz Die Begutachtung von Menschen mit psychischen Störungen oder mit geistigen Behinderungen weist Besonderheiten im Vergleich zur Begutachtung von anderen Antragstellern auf. Diese Besonderheiten sind eine Herausforderung für den Gutachter sowohl im Hinblick auf die Vorbereitung der Begutachtung als auch auf die Gestaltung der Begutachtungssituation. Menschen mit psychischen Störungen bzw. geistigen Behinderungen sind häufig noch motorisch in der Lage, Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder teilweise selbst durchzuführen. Die psychischen bzw. geistigen Beeinträchtigungen der Aktivitäten führen im Lebensalltag der Betroffenen aber dazu, dass die Verrichtungen – trotz vorhandener motorischer Fähigkeiten – nicht mehr selbständig durchgeführt bzw. koordiniert werden können. So können z.B. Menschen mit einer Demenzerkrankung bestimmte Abläufe nicht mehr bzw. nur noch eingeschränkt koordinieren. Dies führt u.a. dazu, dass Aktivitäten wie die Körperpflege zwar begonnen, aber nicht oder nur mit mehrfachen Unterbrechungen zu Ende geführt werden. Darüber hinaus wird bei vielen psychischen Störungen die Notwendigkeit der Durchführung von Verrichtungen nicht mehr erkannt; ein zielgerichtetes Handeln ist oft nicht mehr möglich. Verhaltensstörungen und kognitive Einbußen beeinflussen die Alltagskompetenz des Menschen oft weit vor dem Vorliegen einer Pflegestufe. Der Hilfebedarf liegt dabei vorrangig im Bereich der so genannten allgemeinen Beaufsichtigung und Betreuung, ohne dass dies sich zunächst pflegestufenrelevant auswirkt. In Kombination mit einer teilweise fehlenden Krankheitseinsicht haben die o. g. Einschränkungen mitunter drastische Folgen für den Pflege- und Betreuungsalltag und führen zu einer erheblichen Belastung der pflegenden Angehörigen. Hierzu gehören zum Beispiel nächtliche Unruhe, Wanderungstendenz (Weglaufen), abwehrendes Verhalten und andere herausfordernde Verhaltensweisen, die besonders belastend für die Betroffenen selbst sind, aber auch für die pflegenden Angehörigen. Die beschriebenen typischen kognitiv-psychischen Einbußen führen zum Teil sehr früh zu einem spezifischen Hil-
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febedarf bei der Kommunikation, beim Beziehungsaufbau sowie bei der Gewährleistung von Sicherheit und erfordern spezielle Formen der Betreuung und Pflege.
6.7.5.1 Besonderer Unterstützungs- und Hilfebedarf Menschen mit psychischen Störungen bzw. geistigen Behinderungen benötigen besonders häufig Hilfeleistungen wie Unterstützung, Beaufsichtigung und Anleitung für die Durchführung der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. Ohne ausreichende Kenntnis der unterschiedlichen Inhalte dieser Hilfeformen kann es zu Missverständnissen bei Pflegepersonen oder Pflegekräften im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI kommen. Die genannten Hilfeformen sind in den Begutachtungs-Richtlinien wie folgt definiert. Unterstützung bedeutet, dass sich der Pflegebedürftige z.B. selbständig waschen kann, die Pflegeperson aber das Waschwasser/die Waschutensilien bereit stellen und die Materialien nach erfolgtem Waschvorgang wieder wegräumen muss. Auch das Bereitlegen geeigneter Kleidungsstücke gehört in die Kategorie der Unterstützung, wenn der Pflegebedürftige sich ansonsten selbständig anziehen kann. Bei der Beaufsichtigung steht zum einen die Sicherheit beim konkreten Handlungsablauf der Verrichtungen im Vordergrund, z.B. zur Verhinderung einer Selbstgefährdung beim Umgang mit dem Nassrasierer. Zum anderen kann hierbei aber auch die Kontrolle darüber erfolgen, ob die betroffenen Verrichtungen in der erforderlichen Art und Weise ausgeführt werden. Bei der Beaufsichtigung sind notwendige Hilfeleistungen aufgrund z.B. schwankender Tagesform meist in unterschiedlichem Umfang erforderlich. Laut Begutachtungs-Richtlinien reicht eine Aufsicht mit gelegentlicher Aufforderung zur Durchführung der Verrichtung nicht aus. Es muss eine konkrete Überwachung und/ oder Erledigungskontrolle erforderlich sein, die die Pflegeperson zeitlich und örtlich bindet, wie bei unmittelbarer personeller Hilfe (z.B. wenn der Pflegebedürftige den Waschvorgang oder seine Mahlzeit unterbricht und weggeht oder sich abwehrend gegenüber der Pflegeperson verhält, die Pflegeperson ein Gespräch mit ihm führt und ihn evtl. beruhigt, damit er die Körperpflege oder die Nahrungsaufnahme fortsetzt). Anleitung bedeutet, dass die Pflegeperson bei einer konkreten Verrichtung den Ablauf der einzelnen Handlungsschritte oder den ganzen Handlungsablauf anregen, lenken oder demonstrieren muss. Dies kann dann erforderlich sein, wenn der Pflegebedürftige trotz vorhandener motorischer Fähigkeiten eine konkrete Verrichtung nicht in einem sinnvollen Ablauf durchführen kann. Zur Anleitung gehört laut Begutachtungs-Richtlinien auch die Motivierung des Antragstellers zur selbständigen Übernahme der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens. Beaufsichtigung und Anleitung zielen darauf, dass die Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in sinnvoller Weise vom Pflegebedürftigen selbst durchgeführt werden. Damit sollen – körperliche, psychische und geistige Fähigkeiten gefördert und erhalten werden,
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– Selbst- oder Fremdgefährdung vermieden werden, – Ängste, Reizbarkeit oder Aggressionen abgebaut werden. Beaufsichtigung und Anleitung sind somit wichtige Bestandteile einer aktivierenden Pflege. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass diese Hilfeformen nur dann sinnvoll sind, wenn der Pflegebedürftige noch über entsprechende Ressourcen (z.B. in den Bereichen Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit) verfügt, damit keine Überforderungssituationen entstehen. So kann beispielsweise eine „intensive Anleitung“ eines Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenz eine solche Überforderungssituation hervorrufen, die dann zu einer Verstärkung abwehrenden oder unruhigen Verhaltens des zu Pflegenden führen kann. Laut Begutachtungs-Richtlinien müssen die Hilfeformen in Verbindung mit den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen stehen, damit der entsprechende Zeitbedarf zur Bestimmung der Pflegebedürftigkeit Berücksichtigung finden kann.
6.7.5.2 Vorbereitung der Begutachtung Bei Menschen mit psychischen Störungen bzw. geistigen Behinderungen ist es besonders wichtig, dass zur Vorbereitung der Begutachtung vor Ort in den Unterlagen alle begutachtungsrelevanten Informationen vorliegen (z.B. Diagnose, Behandlungszeitraum, Angaben zu Pflegeperson bzw. Betreuer). Die Anwesenheit einer Pflegeperson bzw. eines Betreuers spielt in der Begutachtung dieser Menschen eine wichtige Rolle. Jeder Pflegebedürftige hat laut Begutachtungs-Richtlinien ein Anrecht auf die Anwesenheit einer Person seines Vertrauens bei der Begutachtung. Dies hat für Menschen mit psychischen Störungen eine besondere Bedeutung, da diese aufgrund der charakteristischen Beeinträchtigungen der Aktivitäten gerade im Bereich der Kommunikation oft hilflos sind und deshalb Beistand zur Wahrnehmung ihrer Interessen benötigen. Darüber hinaus ist es für den Gutachter besonders bei Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz sehr wichtig, eine Pflegeperson/Pflegekraft anzutreffen, die verlässliche Angaben zur Pflegesituation machen kann. Der Betroffene selbst kann dies häufig nicht. Dies resultiert zum einen aus kognitiven Beeinträchtigungen, aber auch aus dem Versuch, gegenüber der ihm fremden Begutachtungsperson die Fassade eines aktiv handelnden und selbständigen Menschen aufrecht zu erhalten. So schämen sich Menschen mit Demenz häufig für ihre Defizite und geben Selbständigkeit in Bereichen an, in denen sie Hilfe benötigen. Andere überschätzen ihre Fähigkeiten und fühlen sich selbständiger, als sie es tatsächlich in der Realität sind. Hinzu kommt eine häufig wechselnde Tagesform. Zusätzlich kann die Begutachtungssituation erschwert werden durch abwehrendes Verhalten des Pflegebedürftigen, weil die Begutachtungssituation nicht richtig eingeschätzt werden kann und eine Konfrontation mit den eigenen Defiziten angstauslösend wirkt.
6.7 Erheblich oder in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz
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6.7.5.3 Durchführung der Begutachtung Voraussetzung zur Beurteilung und Begutachtung einer Person mit eingeschränkter Alltagskompetenz ist ein solides Fachwissen über die entsprechenden Krankheitsbilder/ Behinderungen sowie über den angemessenen pflegefachlichen Umgang damit. Zudem benötigt der Gutachter ein gutes Einfühlungsvermögen in die jeweilige Situation vor Ort. Die Gestaltung einer entspannten Begutachtungssituation ist von besonderer Bedeutung, wobei eine gelungene Kommunikation und Beziehungsaufnahme zwischen allen Beteiligten hier an erster Stelle steht. Grundsätzlich sollten Pflegeperson und Pflegebedürftiger gemeinsam angesprochen werden und nicht etwa ausschließlich die Pflegeperson. Hierbei ist zu beachten, dass sowohl dem Pflegebedürftigen als auch der Pflegeperson die Möglichkeit zu einem vertraulichen Gespräch mit dem Gutachter gegeben werden sollte. Dies ist mitunter in der Praxis schwierig umzusetzen, da Angst und Misstrauen gegenüber fremden Personen auch zur Symptomatik einer Demenzerkrankung gehören können. Hilfreich kann für den Gutachter die Anwendung einer validierenden Kommunikationsform sein, indem er z.B. desorientierten Menschen mit Respekt und Einfühlungsvermögen entgegentritt und sich auf ihre Realität einlässt. Hiermit ist nicht etwa das inhaltliche Eingehen auf Wahninhalte gemeint, sondern das Eingehen auf die emotionalen Aspekte der wahrgenommenen Realität.
6.7.5.4 Typische Konfliktsituationen bei der Begutachtung Es ist zu beachten, dass bei einer validierenden Gesprächshaltung beim Angehörigen der falsche Eindruck entstehen kann, der Gutachter glaube dem Pflegebedürftigen, der angibt, selbständig zu sein und wolle den Hilfebedarf nicht beachten, den die Angehörigen schildern. Zu häufigen Missverständnissen und Diskussionen führt auch der oben dargestellte verrichtungsbezogene Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI. Angehörige von Menschen mit Demenz beschreiben den Pflege- und Betreuungsaufwand oft im Sinne einer 24-Stunden-Pflege. Der Gutachter des MDK sieht in der Begutachtungssituation sehr wohl den hohen Gesamtaufwand für die häusliche Pflege und Betreuung, kann aber – wie oben beschrieben – aufgrund der gesetzlichen Grundlagen und auf der Basis der Begutachtungs-Richtlinien nur einen Teil davon berücksichtigen. Für die Angehörigen kann dabei gerade in einer häufig emotional angespannten Pflegesituation an der Grenze der eigenen Belastbarkeit der Eindruck entstehen, der Gutachter wolle oder könne den hohen Gesamtbedarf der Pflege und Betreuung nicht wahrnehmen oder beurteilen. Pflegende Angehörige haben häufig den unausgesprochenen und möglicherweise uneingestandenen Wunsch, vom Gutachter als Experten für die Pflege ihrer Angehörigen wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Der Gutachter sollte sensibel für diese Wünsche sowie insbesondere auch Überforderungssituationen sein, in denen sich pflegende Angehörige immer wieder oder sogar fortwährend befinden. Dem Gutachter kommt hier die Aufgabe zu, Selbsthilfegruppen und Möglichkeiten
182
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
der Entlastung zu empfehlen. Das setzt jedoch voraus, dass der Gutachter informiert ist über die örtliche Pflege- und Unterstützungsinfrastruktur. Der sensible und würdigende Umgang mit Angehörigen ist auch geeignet, bereits im Vorfeld des schriftlichen Bescheides der Pflegekasse viele Missverständnisse und Unklarheiten auszuräumen.
6.8 Pflegebegutachtung von Kindern Barbara Gansweid und Martina Stahlberg 6.8.1 Besonderheiten der Ermittlung des Hilfebedarfs Die Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI gelten auch für Kinder. Die zeitliche Bewertung des Hilfebedarfs bezieht sich daher auch bei Kindern ausschließlich auf die gesetzlich definierten Verrichtungen des täglichen Lebens in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Mobilität und Hauswirtschaft [Braun et al. 2006]. Die Begutachtung von Kindern unterscheidet sich von der bei Erwachsenen u.a. dadurch, dass der altersentsprechende Hilfebedarf, den auch ein gesundes Kind gleichen Alters benötigt, keine Berücksichtigung findet. Grundlage zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI ist der Vergleich zur Versorgungssituation eines gleichaltrigen gesunden Kindes. Berücksichtigungsfähig ist dabei nur der krankheits- oder behinderungsbedingte zeitliche Mehraufwand für die Hilfestellungen bei der Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftlicher Versorgung. Im ersten Lebensjahr liegt Pflegebedürftigkeit nur ausnahmsweise vor, da auch gesunde Säuglinge einen sehr hohen Hilfebedarf haben. Es ist besonders zu begründen, wenn dennoch eine Pflegestufe festgestellt wird. Ein solcher Ausnahmefall kann z.B. bei S äuglingen mit multiplen Fehlbildungen vorliegen, bei denen vor allem die Nahrungsaufnahme erheblich erschwert und um Stunden zeitaufwendiger sein kann und/oder zusätzliche Körperpflege bzw. Lagerungsmaßnahmen anfallen.
6.8.2 Vorbereitung des Besuchs Eltern von chronisch kranken oder behinderten Kindern sind in der Regel sehr gut über die Erkrankung ihrer Kinder informiert. Daher sollte der Gutachter in der Lage sein, auch seltene Krankheitsbilder bezüglich Auswirkungen, Therapiemöglichkeiten und Prognose einordnen und den Eltern als kompetenter Gesprächspartner begegnen zu können. Um ein möglichst vollständiges Bild vom Entwicklungsstand, von der Behinderung oder der chronischen Erkrankung zu bekommen, sollten ärztliche Befundberichte von den Eltern zur Begutachtung zur Einsicht zur Verfügung gestellt werden. Auf diesen Sachverhalt sollten die Eltern bei der Hausbesuchsanmeldung
6.8 Pflegebegutachtung von Kindern
183
hingewiesen werden. Benötigt der Gutachter zur Einschätzung des krankheitsbedingten Hilfebedarfs zusätzliche Befundberichte, können diese von den behandelnden Ärzten angefordert werden. Dies führt allerdings in der Regel zu einem verzögerten Gutachtenabschluss.
6.8.3 Durchführung der Begutachtung Die Prüfung der Pflegebedürftigkeit von Kindern ist in der Regel durch besonders geschulte Gutachter mit einer Qualifikation als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder als Kinderärztin oder Kinderarzt vorzunehmen. Der Gutachter erhebt vor Ort von den Eltern/Pflegepersonen die Angaben zur Anamnese und Versorgungssituation. Hier sind Empathie und Fingerspitzengefühl erforderlich, um im Gespräch den Eltern einerseits das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Leistungen als sinnvoll und notwendig anerkannt werden, andererseits aber auch klar abzugrenzen, dass nicht alles im Rahmen der Pflegeversicherung anerkannt werden kann. Der Gutachter muss aber auch Zugang zu dem Kind finden, um sich ein eigenes Bild über dessen Schädigungen, Beeinträchtigungen und Ressourcen machen zu können. Auch hier ist eine einfühlsame Vorgehensweise erforderlich, da kleine und insbesondere kranke Kinder oft sehr ängstlich auf fremde Personen reagieren und sich gegen eine Untersuchung wehren, weil sie bereits unangenehme oder schmerzhafte Erfahrungen gemacht haben. Es empfiehlt sich einen spielerischen Zugang zu suchen, sich je nach Alter des Kindes anhand des Umgangs mit einem Spielzeug, mit Malutensilien oder Schulsachen einen Eindruck von den geistigen und manuellen Fähigkeiten des Kindes zu verschaffen. Exemplarische grundpflegerische Verrichtungen sollte sich der Gutachter demonstrieren lassen, um ein eigenes Bild vom zeitlichen Umfang der pflegerischen Versorgung zu gewinnen. Bei geistig behinderten Kindern muss man sich in der Begutachtungssituation ein Bild über das Ausmaß der Retardierung sowie über die Minderung der Intelligenz machen. Vieles davon lässt sich aus den Schilderungen der Eltern zur Vorgeschichte und zum Verhalten des Kindes ableiten. Bei Kleinkindern lässt sich der Entwicklungsstand mit dem standardisierten Denver-Test beurteilen, der auch bei nicht behinderten Kindern zur Anwendung kommt.
6.8.4 Besonderheiten bei der Beurteilung von Pflegebedürftigkeit bei Kindern Zur Zeitbemessung des Hilfebedarfs sind bei Kindern Besonderheiten zu beachten. Der altersgemäße Hilfebedarf, den auch ein gesundes Kind gleichen Alters benötigt, darf keine Berücksichtigung finden. Bei kranken oder behinderten Kindern erfolgt im Bereich der Grundpflege und der Hauswirtschaft nur die Erfassung und Dokumenta
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
tion des krankheits- bzw. behinderungsbedingten Mehrbedarfs für die jeweiligen Verrichtungen. Gesunde und altersentsprechend entwickelte Kinder erlernen im Laufe ihrer Entwicklung die einzelnen Verrichtungen in unterschiedlichem Alter und mit einer teils sehr großen Variationsbreite. Gleichwohl ist aus Gründen der Begutachtung nach einheitlichen Maßstäben eine Pauschalierung notwendig. Deshalb wird in einer Tabelle der Begutachtungs-Richtlinien für die einzelnen Verrichtungen (§ 14 SGB XI) der Hilfebedarf angegeben, den erfahrungsgemäß fast alle der altersentsprechend entwickelten und gesunden Kinder bei diesen Verrichtungen benötigen. Ausgehend von diesem pauschalierten Maßstab des altersgemäßen Hilfebedarfs kann bei kranken oder behinderten Kindern der krankheits- bzw. behinderungsbedingte Mehrbedarf für die jeweiligen Verrichtungen im Bereich der Grundpflege und der Hauswirtschaft erfasst und dokumentiert werden. Der grundpflegerische Hilfebedarf bei den definierten Verrichtungen nach § 14 Abs. 4 SGB XI ist streng zu trennen von Behandlungspflege, medizinisch indizierten therapeutischen und pädagogisch-fördernden Maßnahmen, die zeitlich nicht berücksichtigt werden dürfen. Bei kranken und behinderten Kindern muss zusätzlich zur Pflege häufig viel Zeit für therapeutische Maßnahmen wie Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage (nach Bobath/Vojta), Beschäftigungstherapie und Logopädie aufgebracht werden. So ist es erklärlich, dass Eltern, die „rund um die Uhr“ mit in pädagogische und therapeutische Maßnahmen involviert sind, die Feststellung der höchsten Pflegestufe erwarten. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist dann ein ruhiges ausführliches erklärendes Gespräch in der Begutachtungssituation erforderlich. Bei den belasteten und oft sehr engagierten Eltern sollte nicht der Eindruck entstehen, ihr Einsatz würde nicht entsprechend anerkannt, gewürdigt oder gar seine Notwendigkeit in Frage gestellt werden. Überschneidungen zwischen Therapie und berücksichtigungsfähiger aktivierender Pflege kann es z.B. bei Gehübungen geben, die als Training nicht berücksichtigt werden können, wenn sie unabhängig von den definierten Verrichtungen des täglichen Lebens ausgeführt werden. Diese Maßnahmen gehen auch dann nicht in die Bewertung ein, wenn dadurch im Laufe der Zeit eine Minderung des Hilfebedarfs erreicht werden könnte. Gehen zum Waschen, zur Toilette oder zu den Mahlzeiten hingegen kann im Sinne der aktivierenden Pflege vollständig bewertet werden, auch wenn es übend und damit zeitaufwendig und ggf. pflegestufenrelevant ist. Grundsätzlich sind verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen anzurechnen, die zwangsläufig im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit den nach § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführten Verrichtungen anfallen und in den Richtlinien bei den einzelnen Verrichtungen konkret genannt sind. Viele Kinder erhalten über lange Zeit regelmäßige vertragsärztlich verordnete Heilmittel wie Krankengymnastik, Ergotherapie und logopädische Behandlung. Dies kann zur Anrechnung von Wegezeiten bei der Verrichtung „Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung“ führen, sofern derartige Wege regelmäßig voraussichtlich für die Dauer von mindestens 6 Monaten einmal pro Woche oder öfter anfallen.
6.8 Pflegebegutachtung von Kindern
185
Neben den Wegezeiten sind bei kleinen oder geistig behinderten Kindern meist auch die Warte- und Begleitzeiten während der Behandlung zu berücksichtigen. Hinzu kommen regelmäßige Arztbesuche, die zeitlich zu Buche schlagen, wenn weiter entfernte Spezialambulanzen aufgesucht werden müssen. Die regelmäßigen Wegeund Wartezeiten zu Therapien und Arztbesuchen können an den einzelnen Tagen mehrere Stunden in Anspruch nehmen, dies relativiert sich jedoch bei der Umrechnung auf den Tagesdurchschnitt. In manchen Fällen können die Wegezeiten jedoch auch stufenrelevant sein. Wege zum Kindergarten, in die Schule oder Wege zur Freizeitgestaltung dürfen bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit keine Berücksichtigung finden, auch wenn für diese Wege regelmäßiger Hilfebedarf gegeben ist. Einen ganz wesentlichen Faktor bei der Betreuung eines gesunden, altersgemäß entwickelten Kindes und noch viel mehr eines kranken oder behinderten Kindes stellt die allgemeine Beaufsichtigung dar. Oft ist diese Beaufsichtigungsnotwendigkeit durchaus aus medizinischen Gründen gegeben, wie zum Beispiel bei an Epilepsie oder Diabetes mellitus erkrankten Kindern. Laut den Begutachtungs-Richtlinien ist die allgemeine Beaufsichtigung und Präsenznotwendigkeit außerhalb der definierten Verrichtungen der Grundpflege bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit jedoch nicht zu berücksichtigen. Der Hilfebedarf von Kindern in der Hauswirtschaft ist individuell festzustellen. Hierbei kann es sich um die hauswirtschaftlichen Leistungen handeln, die unmittelbar aus der Krankheit/Behinderung resultieren (häufigeres Waschen der Kleidung z.B. wegen Erbrechen oder vermehrtem Schwitzen). Es kann sich auch um Leistungen handeln, die üblicherweise ein gesundes Kind im Haushalt leisten könnte, die durch das kranke oder behinderte Kind aber nicht erbracht werden können (z.B. Abtrocknen des Geschirrs, Tisch decken). Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass gesunde Kinder bis zur Vollendung des 8. Lebensjahres keine nennenswerten hauswirtschaftlichen Leistungen erbringen. Dennoch zeigen die Erfahrungen bei der Begutachtung, dass ein Mehrbedarf in der Hauswirtschaft in aller Regel erfüllt ist. Dies rechtfertigt es, bei bestehendem Mehrbedarf mit Hinweis auf das Alter des Kindes (unter 8 Jahren) nicht im Einzelnen den Mehrbedarf im Gutachten zu dokumentieren. In diesem Fall kann bei bestehendem Grundpflegemehrbedarf, der die Kriterien der Pflegestufe I erfüllt, ein hauswirtschaftlicher Mehrbedarf von wenigstens 45 Minuten pro Tag zugrunde gelegt werden. Bei einem Grundpflegemehrbedarf, der die Kriterien der Pflegestufen II oder III erfüllt, kann ein hauswirtschaftlicher Mehrbedarf von wenigstens 60 Minuten zugrunde gelegt werden. Bei Kindern über acht Jahren kann unter den oben genannten Voraussetzungen ein Grundbedarf an Haushaltsaufwand von 30 Minuten bei der Pflegestufe I und von 45 Minuten bei Pflegestufe II und III unterstellt werden. Darüber hinaus gehender Mehraufwand im Haushalt muss konkret zeitlich nachgewiesen und begründet werden, damit dieser Zeitaufwand zur Erfüllung der Voraussetzungen für die jeweilige Pflegestufe herangezogen werden kann. Für die Anerkennung der Rentenversi-
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6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
cherungszeiten der Pflegeperson ist der gesamte krankheits- und behinderungsbedingte Haushaltsmehrbedarf berücksichtungsfähig. Bei Kindern sollen aufgrund der entwicklungsbedingten Veränderung in der Regel Wiederholungsbegutachtungen nach zwei Jahren durchgeführt werden. Wenn die altersgemäß erwarteten Entwicklungsfortschritte nur zögernd oder gar nicht eintreten, wird die Diskrepanz zu gleichaltrigen gesunden Kindern deutlich größer. Es ist von der Prognose abhängig, in welchem Abstand ein Termin für eine erneute Begutachtung empfohlen wird. Bei malignen Erkrankungen ist im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung entscheidend, ärztliche Befundberichte und Behandlungsprotokolle der geplanten zytostatischen, operativen oder Strahlentherapie einzusehen, um einen sinnvollen Zeitpunkt für eine Wiederholungsbegutachtung abschätzen zu können. Unabhängig von der gutachterlichen Beurteilung liegt es im Ermessen der Pflegekasse, aus gegebenem Anlass auch vorzeitig eine Wiederholungsbegutachtung festzusetzen. Auch können die Angehörigen einen Antrag auf Höherstufung stellen, wenn sich der Pflegeaufwand signifikant verändert hat.
6.9 Erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz bei Kindern Brigitte Seitz und Hans-Christoph Vogel Die zur Feststellung einer eingeschränkten Alltagskompetenz gültigen Kriterien gelten für Erwachsene wie Kinder gleichermaßen. Die 13 Items des Assessments (s. Kap. 6.7) zielen jedoch primär auf eine im Laufe des Lebens erworbene Alltagskompetenz und damit auf Erwachsene ab. Grundsätzlich ist die im Laufe des Lebens erworbene Alltagskompetenz, die aufgrund einer Demenzerkrankung, einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung eingeschränkt ist oder verloren geht, nicht mit der erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz eines behinderten/kranken Kindes vergleichbar. Dennoch kann auch bei Kindern aufgrund von geistiger Behinderung, psychischer Erkrankung oder schnellem geistigem Abbau z.B. durch neurodegenerative Erkrankungen ein über das übliche Maß an Beaufsichtigung und Betreuung hinausgehender Aufwand für die E ltern entstehen, der sehr belastend sein kann. Bei der Beurteilung der erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz von Kindern muss daher der Vergleich mit einem gesunden gleichaltrigen Kind erfolgen. Dies setzt Kenntnisse der normalen Entwicklungsschritte eines Kindes voraus. Dabei sind die Spannbreiten in der Entwicklung gesunder Kinder zu berücksichtigen. Bei der Adaptierung des Assessments wurde davon ausgegangen, dass – auch bei Kindern eine im Vergleich zu Gleichaltrigen erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz vorliegen kann, – eine erheblich eingeschränkte nicht kindgerechte Alltagskompetenz für die Eltern sehr belastend sein kann,
6.9 Erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz bei Kindern
187
– in Ausnahmefällen die Kriterien der erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz auch bei einem geistig schwer behinderten Säugling vorliegen können, wie dies z.B. bei speziellen Syndromen wie Pätau-, Edwards-, Cri-du-chat-Syndrom, bei schweren Perinatalschäden, bei schnellem geistigem Abbau durch neurodegenerative Erkrankungen der Fall ist, – im Entwicklungsverlauf auftretende vorübergehende Auffälligkeiten bei geistig altersgerecht entwickelten Kindern nicht berücksichtigt werden können (z.B. Schlafstörungen, Trotzverhalten im Vorschulalter, soziale und/oder familiäre Interaktionsstörungen, die im Zusammenhang mit einer somatischen Erkrankung auftreten). Die nachstehenden Ausführungen zu den einzelnen Assessment-Merkmalen sind wissenschaftlich nicht untermauert, sondern basieren auf langjährigen praktischen Erfahrungen von Pädiatern, Gesundheits- und Kinderkrankenschwestern/-pflegern. Es wurde eine Hilfestellung für die in der Kinderbegutachtung tätigen Gutachter erarbeitet, wohl wissend, dass es bei wissenschaftlicher Prüfung zu graduellen Abweichungen bezüglich der Einschätzung der Entwicklungsschritte kommen kann.
6.9.1 Anwendung des Assessments nach § 45a SGB XI bei Kindern unter 12 Jahren Bei der Anwendung dieser Hilfestellung ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein Verhalten, das als krankheitswertig oder pathologisch anzusehen ist, einen zusätzlichen Beaufsichtigungs- oder Betreuungsbedarf im Sinne des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes nach sich zieht. Maßgebend ist dabei der Vergleich mit einem gleichaltrigen altersnormal entwickelten Kind. Es ist folgendes zu berücksichtigen: – Kinder unter 1 Jahr entwickeln zwar keine Alltagskompetenz im eigentlichen Sinne, können aber aufgrund eines von der altersgerechten Entwicklung abweichenden Verhaltens einen erheblich gesteigerten Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf haben. – Kinder unter 3 Jahren müssen praktisch dauernd beaufsichtigt werden, weil sie noch keinerlei Gefahrenverständnis besitzen. – Kinder zwischen 3 und 6 Jahren können kurzfristig (etwa 15–60 Minuten) in entsprechend vorbereiteten Bereichen ohne direkte Aufsicht spielen, benötigen aber zeitnah einen Ansprechpartner. – Kinder im Schulalter können je nach Alter mehrere Stunden täglich eigenverantwortlich allein bleiben. Sie brauchen zu festen Zeiten oder per Telefon einen Ansprechpartner, um schwierige Situationen zu beherrschen. Folgende Entwicklungsschritte eines altersgerecht entwickelten Kindes bzw. Besonderheiten sollte der Gutachter bei der Beurteilung der Assessment-Merkmale berück-
188
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
sichtigen, wobei die Aufzählung anhand der 13 Bereiche nicht als abschließend betrachtet werden kann: 1. 2. –
Unkontrolliertes Verlassen des Wohnbereiches (Weglauftendenz) ab 3 Jahren: Einfache, eingeübte Regeln können befolgt werden. Verkennen oder Verursachen gefährdender Situationen ab 4 Jahren: Gefährdungen, die von Treppen und Fenstern ausgehen können, sind bekannt. – ab 6 Jahren: Der in einer längeren Anlaufphase trainierte Schulweg wird allein bewältigt. Das Kind kennt grundlegende Regeln im Straßenverkehr. Situationsabhängig kann unüberlegtes, impulsives Verhalten vorkommen. 3. Unsachgemäßer Umgang mit gefährlichen Gegenständen oder potenziell gefährdenden Substanzen – ab 3 Jahren: Das Kind kennt grundlegende Gefahren im Alltag (Backofen, Herdplatte). Es lernt aus Erfahrung, es kann abstrahieren und lernt abhängig von der Anleitung. Gefährliche Gegenstände oder potenziell gefährdende Substanzen sind ihm zunehmend bekannt. – ab 6 Jahren: Das Kind kennt die Gefahren bei Einsatz/Verwendung von z.B. kochendem Wasser, elektrischen Geräten, Werkzeugen, Feuer. 4. Tätlich oder verbal aggressives Verhalten in Verkennung der Situation – unter 1 Jahr: Selbststimulationen und Bewegungsstereotypien sind als pathologisch zu werten, wenn sie nicht regelmäßig durch äußere Reize unterbrochen werden können. Jede Art von Autoaggression ist als pathologisch anzusehen. – ab 2 Jahren: Gehäufte aggressive Übergriffe Personen gegenüber und/oder immer wiederkehrendes Zerstören von Gegenständen haben Krankheitswert. 5. Im situativen Kontext inadäquates Verhalten – unter 1 Jahr: Pausenloses unbegründetes Schreien („zerebrales“ schrilles Schrei en) verursacht mehr als altersüblichen Beaufsichtigungsbedarf. – ab 1 Jahr: Ständige motorische Unruhe und/oder umtriebiges Verhalten sind pa thologisch. – ab 2 Jahren: Gesunde Kinder spielen bereits längere Zeit ohne ständige Anleitung. – ab 3 Jahren: Der bestimmungsgemäße Gebrauch von Gegenständen des täglichen Lebens ist dem gesunden Kind bekannt und wird im Spiel imitiert. Als pathologisch anzusehen ist ein inadäquates Spielverhalten: Spielzeug wird z.B. nur zerstört, Rollenspiele oder ein Nachahmen von Alltagssituationen finden nicht statt. Einnässen und Einkoten in die Wohnräume sind nicht mehr zu erwarten. – ab 5 Jahren: Fortbestehende Distanzlosigkeit Fremden gegenüber ist als pathologisch zu werten. – Hinweis: Hier ist auszuschließen, dass das inadäquate Verhalten in Zusammenhang mit mangelndem Krankheitsgefühl, fehlender Krankheitseinsicht oder therapieresistentem Wahnerleben und Halluzinationen steht, da dies unter Item 11 dokumentiert wird.
6.9 Erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz bei Kindern
189
6. Unfähigkeit, die eigenen körperlichen und seelischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen – unter 1 Jahr: Der gesunde Säugling drückt Grundbedürfnisse und Stimmungen über Gestik und Mimik aus, verbale Interaktionen kommen schrittweise im Kleinkindalter hinzu. Bereits bei geistig behinderten Säuglingen kann Selbstverstümmelung aufgrund mangelnden Schmerzempfindens auftreten (z.B. hereditäre sensomotorische Neuropathie Typ IV). – ab 2 Jahren: Unmäßige bzw. unkontrollierte Nahrungsaufnahme (außerhalb der Mahlzeiten) bei fehlendem Sättigungsgefühl (z.B. Prader-Willi-Syndrom) erfordert erhöhte Beaufsichtigung. – ab 5 Jahren: Die eigenen körperlichen Bedürfnisse werden z.B. nicht wahrgenommen, wenn das Kind die Toilette nur dann aufsucht, wenn es ausdrücklich dazu aufgefordert wird. 7. Unfähigkeit zu einer erforderlichen Kooperation bei therapeutischen oder schützenden Maßnahmen als Folge einer therapieresistenten Depression oder Angststörung Da sich das Item ausschließlich auf die benannten Diagnosen und deren Therapieresistenz bezieht, muss eine entsprechende Stellungnahme eines Kinder- und Jugendpsychiaters vorliegen. 8. Störungen der höheren Hirnfunktionen (Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, herabgesetztes Urteilsvermögen), die zu Problemen bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen geführt haben – ab 2 Jahren: Einfache Gebote und Verbote können verstanden und befolgt werden. Bei geistig behinderten Kindern ist das Antrainieren sozialer Alltagsleistungen zeitintensiv, mühsam und nur durch ständig wiederholendes Üben möglich. Erfolg stellt sich mit deutlicher Zeitverzögerung im Vergleich zu gesunden Kindern ein. – ab 3 Jahren: Gesunde Kinder sind in Kindertageseinrichtungen zunehmend gruppenfähig und können längere Zeit unter Aufsicht mit Gleichaltrigen spielen. Sie können sich einordnen und Konflikte austragen. – ab 4 Jahren: Gesunde Kinder übernehmen unter Anleitung kleine Hilfen im Haushalt, z.B. Abräumen des Tisches, Aufräumen der Spielsachen. – ab 6 Jahren: Hinweise auf Einschränkungen der sozialen Kompetenz geben z.B. die Betreuungs- und Schulform und Schulzeugnisse insbesondere aus Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen. Der Umgang mit Geld z.B. bei kleineren Einkäufen kann bewältigt werden. – ab 8 Jahren: Eigene Taschengeldverwaltung ist möglich. Das Kind kennt die Uhrzeit; es kann öffentliche Verkehrsmittel nach entsprechendem Einüben selbständig nutzen. Verabredungen mit und Aufsuchen von Freunden erfolgen selbständig. – ab 10 Jahren: Selbständige Orientierung im weiteren Wohnumfeld (Stadt) ist nach entsprechender Übung möglich.
190
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
9. Störungen des Tag-/Nacht-Rhythmus unter 1 Jahr: Es entwickelt sich ein fester Rhythmus mit/ohne Mittagsschlaf mit verlässlichen Durchschlafperioden (90 Prozent der gesunden Säuglinge schlafen nachts mit 5 Monaten durch). Lediglich phasenhafte Schlafstörungen, z.B. bei akuten Erkrankungen, Umgebungswechsel oder psychosozialen Belastungen können bei behinderten Kindern nicht berücksichtigt werden. 10. Unfähigkeit, eigenständig den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren ab 10 Jahren: Gesunde Kinder können ihren Tagesablauf eigenverantwortlich nach entsprechender Anleitung strukturieren, z.B. Körperpflege durchführen, Essenszeiten einhalten. Hinweis: Hier sind nur Fähigkeitsstörungen zu berücksichtigen, die nicht bereits unter Item 7 oder 8 erfasst worden sind. 11. Verkennen von Alltagssituationen und inadäquates Reagieren in Alltagssituationen Hinweis: Hier geht es um Verhaltensstörungen, die in Item 5 nicht erfasst und durch nicht-kognitive Störungen bedingt sind. Solche Störungen können vor allem bei Menschen mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis sowie auch bei demenziell erkrankten und (seltener) depressiven Menschen auftreten. Das Verkennen von Alltagssituationen und inadäquates Reagieren in Alltagssituationen muss die Folge von mangelndem Krankheitsgefühl, fehlender Krankheitseinsicht, therapieresistentem Wahnerleben und therapieresistenten Halluzinationen sein, welche nervenärztlich/psychiatrisch gesichert sind. Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen trifft Item 11 für Kinder kaum zu. 12. Ausgeprägtes labiles oder unkontrolliert emotionales Verhalten ab 6 Jahren: Mit Erreichen des Schulalters ist ein emotional angepasstes Verhalten in Anforderungssituationen zu erwarten. Pathologisch sind Verhaltensweisen wie z.B. dauerhaft überschießende Trotzreaktionen, übermäßige Rückzugstendenzen, Vermeidungsverhalten oder unkontrolliertes Weinen. 13. Zeitlich überwiegend Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Hilflosigkeit oder Hoffnungslosigkeit aufgrund einer therapieresistenten Depression Da sich das Item ausschließlich auf die benannte Diagnose und deren Therapieresistenz bezieht, muss eine entsprechende Stellungnahme eines Kinder- und Jugendpsychiaters vorliegen.
6.9.2 Anwendung und Bewertung des Assessments anhand von Beispielen Zu beachten ist, dass, wenn das entsprechende Item auf Grund des Alters noch nicht zu berücksichtigen ist, mit »nein« zu schlüsseln ist. Grenzbereiche zwischen den Altersgruppen sollten im Hinblick auf die voraussichtliche Entwicklung bei definierten Krankheitsbildern prospektiv-kritisch gewertet werden.
6.9 Erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz bei Kindern
191
Beispiel 1 Fallbeschreibung: 2-jähriges Kind mit Down-Syndrom, psychomotorische Entwicklungsverzögerung, kaum kooperativ, motorische Unruhe, das Kind muss mehr als altersüblich beaufsichtigt werden, es reagiert wenig auf Verbote und Gebote, Essprobleme mit rezidivierendem Erbrechen bei operierter Duodenalstenose, gelegentliche Ein- und Durchschlafstörungen. Bewertung: Ein „ja“ ist zu schlüsseln bei Item 5 und Item 8, da eine ständige motorische Unruhe besteht und kaum auf Gebote und Verbote reagiert wird. Somit besteht bei dem Kind eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz. Beispiel 2 Fallbeschreibung: 11-jähriges ehemaliges Frühgeborenes mit geistiger Behinderung, Sehbehinderung bei retrolentaler Fibroplasie, Ess-Störung mit Polyphagie bei Kurzdarmsyndrom, stark impulsgesteuert, aggressiv, zum Teil distanzlos, unberechenbares Verhalten in Alltagssituationen, das Kind besucht die Schule für lernbehinderte Kinder, zu der es begleitet werden muss (Einschätzung im Zeugnis: keine Gruppenfähigkeit). Bewertung: Ein „ja“ ist zu schlüsseln bei Item 1, Item 2, Item 3, Item 4, Item 5, Item 6, Item 8 und Item 10, da auch einfache Regeln nicht befolgt werden, Gefährdungen und grundlegende Gefahren im Alltag nicht erkannt werden und ein unberechenbares Verhalten in Alltagssituationen besteht, aggressives Verhalten vorkommt, eine Distanzlosigkeit Fremden gegenüber gezeigt wird, eine Essstörung vorhanden ist, eine Einschränkung der sozialen Kompetenz besteht (nicht gruppenfähig) und der Tagesablauf nicht eigenverantwortlich strukturiert werden kann. Es besteht bei dem Kind eine in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz. Beispiel 3 Fallbeschreibung: 8 Monate altes Mädchen, infantile Zerebralparese bei Gehirnfehlbildung, ausgeprägte optische und akustische Wahrnehmungsstörungen, reagiert ausschließlich auf taktile Reize, Schreiphasen tags und nachts, gestörte Mundmotorik mit gravierenden Essproblemen, häufiges Spucken und Erbrechen, keine Fähigkeit zur selbständigen Beschäftigung, autoaggressiv, persistierende Stereotypien. Bewertung: Ein „ja“ ist zu schlüsseln bei Item 4, Item 5, Item 6 und Item 9, da persistierende Stereotypien und autoaggressives Verhalten vorhanden sind, Wahrnehmungsstörungen bestehen, unbegründete Schreiphasen auftreten und der Tag-/Nacht-Rhythmus gestört ist. Es besteht bei dem Kind eine in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz.
192
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
6.10 Bundesweite Ergebnisse der Begutachtung nach § 18 SGB XI Friedrich Schwegler In Deutschland ist die Zahl der Pflegebedürftigen in der Pflegeversicherung (soziale Pflegeversicherung und private Pflege-Pflichtversicherung) seit deren Einführung kontinuierlich angestiegen. Die folgenden Angaben sind dem Statistischen Jahrbuch 2011 des Statistischen Bundesamtes entnommen. Tab. 6.3: Anzahl der Leistungsbezieher in den Jahren 1996, 1999, 2005, 2007 und 2011 in Millionen. Jahr
Anzahl
1996 1999 2005 2007 2011
1,55 1,83 1,95 2,03 2,50
Tab. 6.4: Verteilung der Pflegestufen in der Pflegeversicherung in den Jahren 2005 bis 2011 in Prozent. Jahr
Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
2005
52
35
13
2006
52
35
13
2007
53
34
13
2011
55
33
12
Tab. 6.5: Verteilung der Leistungen in der sozialen Pflegeversicherung in den Jahren 2005 bis 2011 in Prozent. Jahr
ambulante Versorgung (einschließlich teilstationärer und Kurzzeitpflege)
stationäre Versorgung
2005
67
33
2006
67
33
2007
67
33
2011
70
30
6.10 Bundesweite Ergebnisse der Begutachtung nach § 18 SGB XI
193
Tab. 6.6: Ambulante Versorgung von Pflegebedürftigen durch Angehörige bzw. durch Pflegedienste im Jahr 2005 und 2011 in Prozent. ausschließliche Versorgung durch Angehörige
Versorgung durch Pflegedienste (einschließlich Kombinationsleistungen)
2005
68
32
2011
67
33
Tab. 6.7: Anteile der Versorgung von Pflegebedürftigen in häuslicher Umgebung bzw. in stationären Pflegeeinrichtungen in Abhängigkeit vom Alter der Versicherten im Jahr 2011 in Prozent. Altersspanne
Versorgung in häuslicher Umgebung
Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen
65–70
77
23
70–75
75
25
75–80
73
27
80–85
70
33
85–90
63
37
90 Jahre und mehr
54
46
Von den Medizinischen Diensten durchgeführte Begutachtungen Im Gegensatz zu den Zahlen des Statistischen Bundesamtes, die alle Leistungsbezieher in einem Jahr umfassen, beziehen sich die Zahlen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) auf die Anzahl der pro Jahr durchgeführten Begutachtungen in der sozialen Pflegeversicherung. Die folgenden Angaben sind den Pflegeberichten des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) entnommen. Die Jahre 1995 und 1996 spiegeln im ambulanten Bereich die Einführungsphase der Pflegeversicherung wider. Seit 2000 hat sich die Anzahl der Begutachtungen in diesem Bereich bei mehr als einer Million eingependelt und bis 2011 kontinuierlich gesteigert. Tab. 6.8: Anzahl der vom MDK durchgeführten Pflegebegutachtungen in den Jahren 1995 bis 2011. Jahr
Begutachtungen
davon ambulant
stationär
1995
1 705 617
1 705 617
–
1996
1 661 115
1 007 583
653 532
194
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Jahr
Begutachtungen
davon ambulant
stationär
2000
1 271 580
984 024
287 556
2005
1 306 653
996 234
310 419
2011
1 338 165
1 023 696
314 469
Bei den Begutachtungen werden grundsätzlich Erst- und unterschiedliche Arten der erneuten Begutachtung unterschieden (s. Kap. 6.6.1). Zu den Erstbegutachtungen zählen alle Begutachtungen von Versicherten, die erstmals begutachtet werden sowie Begutachtungen von Antragstellern, bei denen in einer vorherigen Begutachtung keine Pflegebedürftigkeit festgestellt werden konnte. Änderungsbegutachtungen sind Begutachtungen von Versicherten, die bereits eine Pflegestufe haben und bei ihrer Pflegekasse einen Antrag auf eine höhere oder (in seltenen Fällen) eine niedrigere Pflegestufe gestellt haben. Wiederholungsbegutachtungen sind solche, bei denen der MDK-Gutachter eine erneute Begutachtung zu einem späteren Zeitpunkt empfohlen hat, weil es wahrscheinlich ist, dass sich die Pflegestufe in absehbarer Zeit verändern wird. Widerspruchsbegutachtungen sind Begutachtungen von Versicherten, die gegen den Bescheid der Pflegekasse (Ergebnis der Begutachtung) einen Widerspruch eingelegt haben und deshalb erneut begutachtet werden. Die Gesamtzahl von weit mehr als 20 Millionen seit dem Jahr 1995 durchgeführten Begutachtungen nach § 18 SGB XI zeigt einerseits, dass es sich bei der Pflegebegutachtung nach § 18 SGB XI um einen umfangreichen und umfassenden Versorgungsauftrag handelt. Die Qualitätssicherung der Begutachtung hat deshalb in den MDK einen sehr hohen Stellenwert (s. Kap. 6.11). Andererseits wurde durch die hohe Zahl von durchgeführten Begutachtungen ein immenser Erfahrungsschatz in der Pflegebegutachtung nach SGB XI angesammelt, sodass – trotz des erst wenig mehr als zehnjährigen Bestehens der Pflegeversicherung – eine gefestigte Begutachtungspraxis erreicht worden ist. Tab. 6.9: Begutachtungen der MDK für die soziale Pflegeversicherung im Jahr 2011 nach Begutachtungsarten. Begutachtungsart
ambulant in Prozent
stationär in Prozent
Erstbegutachtungen
58,2
33,4
Änderungsbegutachtungen
25,9
52,4
Wiederholungsbegutachtungen
8,6
9,7
Widerspruchsbegutachtungen
7,4
4,5
6.11 Qualitätssicherungsverfahren der Begutachtung gemäß SGB XI
195
Tab. 6.10: Ergebnisse der Erstbegutachtungen der MDK für die soziale Pflegeversicherung im Jahr 2011 in Prozent. beantragte Leistung
nicht pflege bedürftig
unterhalb Pflegestufe 1
Pflegestufe 1
Pflegestufe 2
Pflegestufe 3
ambulante Pflege
8,6
25,7
49,6
13,0
3,0
stationäre Pflege
4,2
12,9
46,4
28,2
8,2
6.11 Qualitätssicherungsverfahren der Begutachtung gemäß SGB XI Paul-Ulrich Menz und Dorit Büchner Qualitätsbegriff Unter der Qualität einer Sach- oder Dienstleistung versteht man deren Güte bezüglich ihrer Eignung für den Empfänger. Die DIN EN ISO 8402 definiert deshalb Qualität als die Gesamtheit von Merkmalen und Merkmalswerten einer Einheit im Hinblick auf deren Eignung, festgelegte und vorausgesetzte Erfordernisse zu erfüllen. Dieser wertneutrale und positivistische Qualitätsbegriff ist für eine Qualitätsbeurteilung von Dienstleistungen beziehungsweise Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) geeignet [Lorenz 2000]. Die Notwendigkeit für eine Überprüfung der Praxis der Pflegebegutachtung wurde hierbei früh erkannt [Seger 1997]. Deshalb thematisierten bereits kurz nach Inkrafttreten des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) mehrere Veröffentlichungen Ansätze für Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung [Kliebsch et al. 1997, Michel et al. 1999].
Rechtliche Grundlagen Die Qualitätssicherung der Begutachtung und Beratung der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) in den Bundesländern und des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) der Knappschaft-Bahn-See, nachfolgend als Medizinische Dienste (MD) bezeichnet, basiert auf den Regelungen des § 53a SGB XI. Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung am 01. 07 2008 erhielt der Spitzenverband Bund der Pflegekassen für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung das Recht, Richtlinien zur Qualitätssicherung der Begutachtung und Beratung sowie über das Verfahren zur Durchführung von Qualitätsprüfungen zu erlassen. Diese Aufgabe erfüllten zuvor die Spitzenverbände der Pflegekassen.
196
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Für die Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung der MD galten bis zum Inkrafttreten eigenständiger Richtlinien die Regelungen des Abschnittes E „Qualitätssicherungsverfahren“ innerhalb der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI. Seit dem Jahr 2005 wird diese Qualitätssicherung entsprechend den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Qualitätssicherung der Begutachtung und Beratung für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung vom 23.09.2004 durchgeführt.
6.11.1 Interne und übergreifende Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung Meilensteine und Entwicklung Bereits im Jahr 1996 gab es erste Ansätze zur Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung. Sie wurden mit dem Inkrafttreten der Begutachtungs-Richtlinien im Jahr 1997 in ein strukturiertes Prüfverfahren überführt. Auf diese Weise sollte eine einheitliche Begutachtungspraxis der MD im Rahmen der geltenden Richtlinien gewährleistet werden. Ab diesem Zeitpunkt sind die internen und übergreifenden Maßnahmen der MD zur Qualitätssicherung ihrer Pflegebegutachtungen bundesweit in einer abgestimmten Konzeption verknüpft. Sie erfolgen somit seither nach einheitlichen Prüfkriterien. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt hierbei auf der internen Qualitätssicherung. Die korrekte und einheitliche Umsetzung der vereinbarten Prüfkonzeption sowie der in diesem Rahmen definierten Qualitätsanforderungen stellt eine zusätzliche übergreifende Qualitätssicherung aller MD untereinander sicher. Zur Qualitätssicherung seiner Pflegebegutachtung bildete jeder MD eine Arbeitsgruppe von Pflegefachkräften und Ärzten, die in der Pflegebegutachtung besonders qualifiziert sind. Diese Gruppe prüft seither intern im jeweiligen MD jährlich bereits an die Pflegekassen übersandte Pflegegutachten anhand der für alle MD verbindlichen Vorgaben eines bundesweit konsentierten Prüfverfahrens. Die Anzahl der auf diese Weise bezüglich ihrer Qualität zu prüfenden Gutachten wurde zuvor entsprechend den Vorgaben des zugrunde liegenden Prüfverfahrens definitiv festgelegt. Die zu prüfenden Gutachten wurden hierbei anfangs einmalig innerhalb eines extern zufällig ausgewählten Ziehungsintervalls gezogen und dann bewertet. Ein fester Anteil der so geprüften Gutachten geht seither zusätzlich in eine übergreifende Qualitätsprüfung der MD ein. Sie erfolgt nach denselben Kriterien wie die interne Prüfung. Die Qualitätsbeurteilungen der internen und externen Prüfungen werden am Ende jedes Prüfjahres zusammengeführt, analysiert und jedem MD zurückgemeldet. Unter Leitung des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Pflegekassen wurde seinerzeit außerdem eine MD-übergreifende Arbeitsgruppe „Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung“ gebildet. Sie setzte sich aus den Leitern oder einem hierfür jeweils ausdrücklich benannten Mitglied der oben genannten internen Arbeitsgruppen der MD sowie Vertretern der Spitzenverbände der Pflegekassen zusammen. Die Aufgabe dieser übergreifenden Gruppe bestand von Beginn an in der Festlegung
6.11 Qualitätssicherungsverfahren der Begutachtung gemäß SGB XI
197
einheitlicher Prüfkriterien und inhaltlicher Schwerpunkte der internen und übergreifenden Qualitätsprüfung der Pflegebegutachtung. Außerdem wertete sie die jährlich von den MD über ihre übrigen internen Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung erstellten Berichte aus. Jeder Prüfzyklus endete mit der Erstellung eines Jahresberichtes über die internen und übergreifenden Qualitätssicherungsmaßnahmen der MD und die Ergebnisse der skizzierten zweiphasigen Qualitätsprüfung der Pflegegutachten. Ebenso wird und wurde hierin über die hierdurch gewonnen Erkenntnisse berichtet. Diese Berichte liegen seit 1997 vor. Sie können über den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) bezogen werden. Auf ihn ging mit der Pflegereform 2008 die Leitung der Arbeitsgruppe „Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung“ über. Seither trat anstelle der Vertreter der Spitzenverbände der Pflegekassen ein Vertreter des GKV-Spitzenverbandes. Durch die jährlichen Qualitätsprüfungen und die hiermit verbundenen Auswertungen im Hinblick auf zahlreiche qualitätsrelevante Aspekte der Pflegebegutachtung konnten mit Hilfe des seit 1997 etablierten Prüfverfahrens wichtige Erkenntnisse sowohl zur Verbesserung der Prüfsystematik als auch der Pflegebegutachtung als solcher gewonnen werden. Diese konnten mit nachweisbarem Erfolg durch Schulungen oder andere gezielte, beispielsweise organisatorische Maßnahmen in die tägliche Begutachtungspraxis der MD eingebracht oder zur Fort- und Weiterentwicklung des Prüfverfahrens genutzt werden. Bis zum Jahr 2000 war die Qualitätsprüfung der Pflegebegutachtung vor allem auf die formale Korrektheit der Pflegebegutachtung ausgerichtet. Aufgrund der hiermit erreichten und dokumentierten Qualitätsverbesserungen sowie der in diesem Rahmen gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen konnte der zugrunde liegende Prüfmodus im Jahr 2001 auf eine primär inhaltliche Qualitätsbewertung umgestellt werden. Seither verfolgt das Prüfverfahren primär das Ziel, im Sinne eines umfassenden Qualitätsmanagements, die Ergebnisqualität der Pflegebegutachtung bundesweit noch weiter fortzuentwickeln. Dieser Modifikation des Verfahrens ging eine Analyse der Anforderungen, die Versicherte, deren Angehörige, Juristen, Kassenmitarbeiter oder Gutachter anderer Institutionen an ein Pflegegutachten gemäß SGB XI stellen, voraus. Die Qualitätsbewertung der Pflegegutachten ist seither auf die folgenden drei übergreifenden Prüfbereiche ausgerichtet [Fleer/Kowalski 2013]: Im Prüfbereich Transparenz wird die Anschaulichkeit der gutachterlichen Darstellung in wesentlichen Punkten des Gutachtens nach Haus-/Einrichtungsbesuch anhand folgender Items beurteilt: – Versorgungssituation – Pflegerelevante Vorgeschichte – Schädigungen – Beeinträchtigung der Aktivitäten/Ressourcen
198
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Demgegenüber werden im Prüfbereich Kompetenz die gutachterlichen Bewertungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen in allen beurteilungsrelevanten Aspekten des Gutachtens zusammenfassend bewertet. Der Begriff der Kompetenz zielt in diesem Zusammenhang auf die Fähigkeit des Gutachters ab, die entscheidungsrelevanten Sachverhalte richtig und vollständig zu erfassen, darzustellen, zu werten und daraus logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Bei den Qualitätsprüfungen der Gutachten nach Haus-/Einrichtungsbesuch werden folgende Items beurteilt: – Verständlichkeit der Sprache – Sachkunde – Empfehlungen zu Leistungen zur medizinischen Rehabilitation – Sonstige Empfehlungen Im Prüfkriterium der Nachvollziehbarkeit werden die gutachterlichen Feststellungen zum Vorliegen von Pflegebedürftigkeit, zu Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) sowie zur Pflegezeit der Pflegeperson pro Woche im Hinblick darauf geprüft, ob die Entscheidungen des Gutachters in ihrer Gesamtheit nachvollziehbar und unter Beachtung der aktuellen Regelungen des SGB XI korrekt sind. Das Gutachten nach Haus-/Einrichtungsbesuch wird anhand folgender Items bewertet: – Hilfebedarf – Zeitaufwand – PEA/Einschränkung der Alltagskompetenz – Pflegezeit pro Woche Im Jahr 2003 erfolgte eine Modifikation im Prüfbereich Nachvollziehbarkeit. Seither wird hier anhand von zwei Prüfkriterien differenziert bewertet, ob die Ableitung des im zu prüfenden Gutachten festgestellten Hilfebedarfes durch den Gutachter sowohl bezüglich seiner Notwendigkeit als auch des hiermit verbunden Zeitaufwandes nachvollziehbar und sachlich korrekt dargestellt ist. Zuvor hatte eine Analyse der Qualitätsprüfungen der beiden vorherigen Jahre ergeben, dass die Nachvollziehbarkeit der Empfehlungen des Gutachters zur individuellen Pflegebedürftigkeit eines Antragstellers sowohl davon abhängig ist, ob der qualitative (notwendige Hilfen) als auch der hieraus resultierende quantitative Hilfebedarf (Zeitaufwand für die jeweiligen Hilfen) vom Gutachter richtig erkannt, bewertet und dokumentiert wird. Im selben Jahr erforderte eine kurz zuvor erfolgte Änderung des SGB XI außerdem eine Erweiterung der Qualitätsprüfung um ein Prüfkriterium zur Beurteilung der sachgerechten Anwendung des „Verfahrens zur Feststellung von Personen mit einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz“. Ein Jahr später wurde der Prüfmodus in ein kontinuierlicheres Verfahren überführt. Dies bedeutete, dass jeder MD seither pro Quartal jeweils ein Viertel seiner jährlich insgesamt intern einer Qualitätssicherung zu unterziehenden Pflegegutachten zu bewerten hat. Bis dahin war zur Qualitätsprüfung der Pflegegutachten eine jährliche
6.11 Qualitätssicherungsverfahren der Begutachtung gemäß SGB XI
199
Stichprobenziehung mit definierten Ein- und Ausschlusskriterien innerhalb eines zufällig ausgewählten vorgegebenen Zeitraums von vier Wochen praktiziert worden. Die Prüfgutachten mussten hierbei aus der Menge aller bereits abgeschlossenen und den Pflegekassen übersandten Pflegegutachten in der Regel noch „händisch“ gezogen und anonymisiert werden. In den MD erfolgte die Ziehung dieser Stichprobe dabei jeweils nach einem Verfahren, das eine Randomisierung gewährleistete. Der Stichprobenumfang für die interne Prüfung betrug für jeden MD hierbei jeweils 0,5 Prozent seines Pflegebegutachtungsaufkommens im vorherigen Jahr. Ebenso erfolgten die übergreifenden Prüfbewertungen bis dahin im Rahmen einer mehrtägigen Tagung der übergreifenden Arbeitsgruppe. Mit der Umstellung auf ein kontinuierlicheres Verfahren folgte der Prüfmodus der Weiterentwicklung der internen Qualitätsprüfung der Pflegebegutachtung in mehreren MD. Dort war im Rahmen der Weiterentwicklung des eigenen internen Qualitätsmanagements und aufgrund häufig verbesserter EDV-technischer Möglichkeiten zwischenzeitlich bereits auf eine deutlich höhere Prüffrequenz umgestellt worden. Zum Teil erfolgte hierbei sogar eine EDV-basierte tägliche Qualitätsprüfung von Pflegegutachten. Die geforderte minimale jährliche Stichprobengröße von 0,5 Prozent blieb bei dieser Modifikation unverändert. Eine höhere Stichprobengröße war jedoch möglich. Seither unterziehen viele MD intern eine deutlich höhere Anzahl von Pflegegutachten einer internen Qualitätssicherung. Zum Teil erreicht der jährliche Stichprobenumfang hierbei sogar das Vier- bis Fünffache der minimal geforderten Stichprobengröße. Die praktische Ausgestaltung einer zufälligen Stichprobenziehung obliegt somit seither den einzelnen MD, die Berechnung der Mindestgröße der Stichprobe unverändert dem MDS. Die Größe der jährlichen Stichprobe wird dabei auf Grundlage der Meldungen der MD laut Pflegestatistik-Richtlinie berechnet. Die Koordinierung des Verfahrens erfolgt ebenfalls weiterhin durch den MDS. Der nun etablierte mindestens vierteljährliche Prüfmodus ermöglichte eine zeitnahere Reaktion auf mit Hilfe der Qualitätsprüfung gewonnene Erkenntnisse. Das geänderte Verfahren bewährte sich in den folgenden Jahren. Es wird deshalb, bis auf geringe organisatorische und inhaltliche Modifikationen, bis heute im Wesentlichen unverändert fortgeführt. Ein Vorreiter für diese Entwicklung war der MDK WestfalenLippe. Er entwickelte und testete bereits im Jahr 2000 einen EDV-gestützten automatisierten Prüfalgorithmus zur kontinuierlichen Qualitätsprüfung von Pflegegutachten (K.Q.P.). Er basierte von Beginn an auf den Anforderungen der MD-übergreifenden Qualitätsprüfung und erleichterte die zufällige Ziehung der zu prüfenden Pflegegutachten erheblich. Der zugrunde liegende Ziehungsalgorithmus wurde in den folgenden Jahren von immer mehr MD genutzt. Ende 2008 prüften mehr als drei Viertel aller MD ihre Pflegegutachten auf diese Weise. Bis zum Jahr 2006 flossen lediglich Pflegegutachten nach einem Einrichtungsoder Hausbesuch in die übergreifende Qualitätsprüfung ein. Seit dem Jahr 2007 wurden aufgrund verbesserter EDV-technischer Möglichkeiten der Stichprobenziehung auch Pflegegutachten nach Aktenlage in die Prüfungen einbezogen.
200
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
Zum Prüfjahr 2009 ergab sich die Notwendigkeit, in Anbetracht der in der damaligen Pflegereform enthaltenen weiteren Differenzierung und Ausweitung von Sachleistungen für Personen mit einer „eingeschränkten Alltagskompetenz“, dieser Entwicklung auch innerhalb der Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung Rechnung zu tragen. Dies führte dazu, dass die Qualitätsbeurteilung der Nachvollziehbarkeit um ein drittes Prüfkriterium erweitert werden musste. In diesem Rahmen erfolgte fortan, im Gegensatz zur den bisherigen Prüfungen, nicht nur eine Überprüfung der korrekten Anwendung des Verfahrens zur Identifikation des berechtigten Personenkreises, sondern zugleich eine differenzierte Bewertung der Nachvollziehbarkeit und korrekten Beurteilung der diesbezüglich relevanten Sachverhalte respektive der hieraus resultierenden Empfehlungen des Gutachters. Zugleich wurden zwei PrüfItems gestrichen. Dabei handelt es sich um die Prüfkriterien „Wohnsituation“ im Bereich Transparenz und „Prognose“ im Bereich Kompetenz. Diese Entscheidung fiel vor dem Hintergrund, dass hier in Anbetracht diesbezüglich seit Jahren dokumentierter sehr guter Qualitätsbewertungen bei einer Fortführung der Prüfung der beiden Kriterien kein neuer Erkenntnisgewinn oder kein hieraus resultierender Handlungsbedarf mehr zu erwarten war. Stattdessen wurde ein Prüfkriterium integriert, durch das ein neuer inhaltlicher Schwerpunkt in der Qualitätsprüfung bezüglich der Empfehlungen und Beurteilungen des Gutachters im Hinblick auf die Notwendigkeit von Rehabilitationsleistungen gesetzt wurde. Im selben Jahr wurde außerdem das Element der Konsensuskonferenz im Prüfverfahren erstmals etabliert, um dem Wunsch der übergreifenden Prüfer nach einem direkten Austausch in der praktischen Anwendung der Prüfanleitung im Hinblick auf besondere Fallkonstellationen gerecht zu werden. Einen besonderen Schwerpunkt bildete hierbei insbesondere die Erörterung und Überprüfung von Pflegegutachten mit einer stark abweichenden Qualitätsbeurteilung in der internen und externen Qualitätsprüfung. Dieses Element wurde in den folgenden Jahren konzeptionell und inhaltlich fortentwickelt. Das aktuelle Konzept ist im Verfahren 2012 dargestellt. Mit Beginn des Prüfjahres 2012 wurde im Bereich der Nachvollziehbarkeit schließlich eine Qualitätsbewertung der Empfehlungen des Gutachters im Hinblick auf die Schlüssigkeit seines Abgleichs der Angaben des Antragsstellers oder seiner Pflegepersonen zum Umfang ihrer pflegerischen Versorgung und Betreuung (Pflegeaufwand nach Angaben der Pflegepersonen) einerseits mit dem im Gutachten festgestellten Hilfebedarf und den hieraus resultierenden Angaben zu den für die aufgeführten Pflegepersonen ausgewiesenen rentenversicherungsrechtlich berücksichtigungsfähigen Pflegezeiten andererseits eingeführt. Diese Änderung erfolgte, da sich gezeigt hatte, dass die hiermit verbundenen Aussagen im Gutachten in den letzten Jahren sowohl für die Leistungserbringer als auch die Pflegepersonen eine zunehmende Bedeutung erlangten und es deshalb zu diesem Punkt auch vermehrt Rückfragen bei den MD gab.
6.11 Qualitätssicherungsverfahren der Begutachtung gemäß SGB XI
201
Verfahren 2012 Der Schwerpunkt der Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung der MD liegt unverändert im Bereich der internen Qualitätsprüfung. Jeder MD prüft in diesem Rahmen mindestens 0,5 Prozent seiner ambulanten und stationären Pflegegutachten anhand des hierfür von der MD-übergreifenden Arbeitsgruppe „Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung“ für das Prüfjahr 2012 festgelegten Verfahrens. Die aktuelle Stichprobengröße des einzelnen MD errechnet sich hierbei aus der Anzahl seiner Pflegebegutachtungen im Jahr 2011. Pro Quartal ist jeweils ein Viertel der im Prüfjahr minimal zu prüfenden Gutachten zu bewerten. Die Ziehung dieser Gutachten kann in einem monatlichen oder vierteljährlichen Rhythmus erfolgen. Der hierfür gewählte Ziehungsalgorithmus muss eine zufällige Ziehung gewährleisten. Von den bereits intern geprüften Pflegegutachten ist im folgenden Quartal von jedem MD eine zuvor festgelegte Anzahl von Gutachten in eine übergreifende Qualitätsprüfung einzubringen. In Abhängigkeit von ihrer Größe haben große Medizinische Dienste 24 und kleine 12 zufällig ausgewählte Prüfgutachten dem MDS vierteljährlich zur übergreifenden Qualitätsbewertung zu übermitteln. Die interne Prüfbewertung ist ebenfalls zu übersenden. Der MDS verteilt die übergreifend zu prüfenden Gutachten, die so genannte identische Stichprobe, danach nach dem Zufallsprinzip an die Qualitätsprüfer der anderen MD. Die internen Prüfbewertungen verbleiben beim MDS. Jeder MD benannte für diese übergreifende Prüfung einen hierfür geeigneten Prüfer oder Ansprechpartner. Die Prüfer der übergreifenden Prüfung bewerten noch im selben Quartal die ihnen übersandten Pflegegutachten. Dies erfolgt ebenfalls entsprechend der im Jahr 2012 geltenden Prüfsystematik. Wie sich aus den vorherigen Ausführungen ergibt, ist den übergreifenden Prüfern unbekannt, welche Qualitätsbewertung die Gutachten in der internen Prüfung erhielten. Eine Verblindung der Prüfung ist somit sichergestellt. Am Ende ihrer Prüfung übermitteln die übergreifenden Prüfer die Ergebnisse ihrer Qualitätsbewertungen zusammen mit den Prüfgutachten wiederum dem MDS. Dieser führt die Ergebnisse beider Prüfungen zusammen. Er teilt jedem MD zudem mit, welche Bewertungen dessen Gutachten in der übergreifenden Prüfung erhielten. Die MD können auf diese Weise im Rahmen ihrer internen Qualitätssicherung die Ergebnisse dieser Prüfung mit ihrer eigenen Beurteilungen vergleichen, analysieren, bewerten und in Abhängigkeit von den hierdurch gewonnenen Erkenntnissen bei Bedarf gezielte Maßnahmen für eine weitere Verbesserung ihrer Pflegebegutachtung ableiten. Auf diese Weise wird das Prüfverfahren permanent evaluiert und eine einheitliche Umsetzung der Prüfkonzeption sichergestellt. Die Ergebnisse der beiden Prüfphasen werden zusätzlich von der Arbeitsgruppe „Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung“ analysiert und bewertet. Hierbei liegt ein Schwerpunkt dieser Tätigkeit in einer gezielten Analyse besonders stark abweichender Prüfbewertungen. Dabei handelt es sich um alle Gutachten, deren Qualität intern als gut und extern als verbesserungsfähig bewertet wurde. Dasselbe gilt für den gegenteiligen Fall. Diese Analyse erfolgt im Prüfjahr 2012 erneut im Rahmen von zwei Konsensuskonferenzen. In diese gehen alle Prüfgutachten eines Prüfhalbjahres
202
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
mit einer entsprechend differierenden Qualitätsbewertung ein. Die aus dem Prüfjahr 2012 und den beiden Konsensuskonferenzen resultierenden Erkenntnisse sollen von der MD-übergreifenden Arbeitsgruppe wiederum dazu genutzt werden, die aktuelle Prüfkonzeption weiterzuentwickeln. Diesbezüglich wird insbesondere zu prüfen sein, ob hier weitere Verbesserungen, Präzisierungen oder Modifikationen im Prüfjahr 2013 notwendig, möglich oder sinnvoll sind, um die Qualitätssicherung der Pflegebegutachtungen der MD noch effektiver zu gestalten. Das Verfahren endet mit der Erstellung des jährlichen Abschlussberichtes über die Ergebnisse der MD-internen und MD-externen Qualitätsprüfungen. In Abbildung 6.1 ist der Ablauf des Prüfverfahrens noch einmal schematisch dargestellt. Ablaufprogramm der Qualitätssicherung von Pflegegutachten Pflegegutachten für die MD-interne Prüfung
MD-interne Prüfung
Anzahl
MD-übergreifende Prüfung Anzahl
Januar Februar März
1/4 von 0,5 v. H. des letztjährigen Begutachtungsvolumens
April Mai Juni
1/4 von 0,5 v. H. des letztjährigen Begutachtungsvolumens
24 (12)
Juli August September
1/4 von 0,5 v. H. des letztjährigen Begutachtungsvolumens
24 (12)
Oktober November Dezember Januar Februar März April Mai
1/4 von 0,5 v. H. des letztjährigen Begutachtungsvolumens
24 (12)
24 (12)
Abschlussbericht
Abb. 6.1: Ablauf des Prüfverfahrens zur Qualitätssicherung von Pflegegutachten.
Bewertungsschema Im Rahmen der Qualitätsprüfung der Pflegebegutachtungen der MD hat jeder Prüfer für die von ihm zu prüfenden Gutachten der Stichprobe für jedes einzelne Prüfkriterium bzw. Prüf-Item eine Qualitätsbewertung abzugeben. Dies erfolgt unter Nutzung eines standardisierten Beurteilungsbogens. Grundlage hierfür ist die zum Zeitpunkt der Erstellung des zu prüfenden Gutachtens jeweils gültige Prüfanleitung. Sie wurde von der bereits genannten Arbeitsgruppe „Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung“ erarbeitet. Die Anleitung wird jährlich aktualisiert. Der Prüfer muss eine gra-
6.11 Qualitätssicherungsverfahren der Begutachtung gemäß SGB XI
203
duierte Bewertung abgeben. Das Bewertungsschema ist 4-stufig und unterteilt sich in die Bewertungsstufen A bis D. Die den Bewertungen zugrunde liegende Systematik ist der Tabelle 6.11 zu entnehmen. Tab. 6.11: Vier-stufiges Bewertungsschema der Prüfkriterien der Qualitätsprüfung von Pflegegutachten gemäß SGB XI. Stufe
Bewertung
A
Qualitätsanforderungen umfassend erfüllt
B
Qualitätsanforderungen noch erfüllt, Verbesserungsmöglichkeiten bestehen
C
Qualitätsanforderungen nicht ausreichend erfüllt, es bestehen Unklarheiten bzw. Defizite
D
Qualitätsanforderungen nicht erfüllt, es bestehen grundsätzliche und/oder gravierende Mängel
Ergebnisse und Evaluation Das Verfahren der Qualitätssicherung der Begutachtungen der MD im Rahmen des SGB XI wurde von Beginn an methodisch und organisatorisch so gestaltet, dass es nach wissenschaftlich anerkannten Verfahren evaluiert werden konnte. Dieses Procedere verfolgte die Zielsetzung, das neue Prüfinstrument so fortzuentwickeln, dass dessen Prüfkriterien personenunabhängig (reliabel) einsetzbar sind. Die jährlichen Qualitätsprüfungen beinhalteten deshalb mehrfach eine Reliabilitätsprüfung. So bildeten zum Beispiel 19 Pflegegutachten, die bereits im Vorjahr in eine entsprechende Prüfung eingegangen waren, im Jahr 2003 die Basis für eine erneute Prüfung der Reliabilität. In diesem Rahmen wurden die genannten Gutachten parallel von zehn Prüfern beurteilt. Eine „Verblindung“ der Untersuchung war hierbei selbstverständlich sichergestellt. Gegenstand der Prüfung war die Frage, ob bei identischen Pflegegutachten mehrere Prüfer zur selben Beurteilung gelangen. Es zeigte sich, dass es den Prüfern mit dem Prüfverfahren möglich war, Gutachten von guter (Qualitätsanforderungen erfüllt) und von schlechter Qualität (Qualitätsanforderungen nicht bzw. nicht ausreichend erfüllt) eindeutig zu unterscheiden. Für diese Entscheidung war das Prüfinstrument somit reliabel. Die Analyse der Ergebnisse der Qualitätsprüfungen im Jahr 2003 belegte außerdem eine Einheitlichkeit in der Anwendung des Prüfinstrumentariums. Mit einer Ausnahme, dem Prüf-Item für das Verfahren zur Identifikation von Personen mit einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz, stimmten bei dieser Untersuchung in über 85 Prozent der geprüften Gutachten die Ergebnisse der internen und der übergreifenden Qualitätsbeurteilung respektive der externen Gutachter untereinander überein. Die Prüfung ergab zudem in allen Bereichen positive Qualitätsaspekte, da bei allen vergleichbaren Items im Vorjahresvergleich jeweils Qualitätsverbesserun-
204
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
gen dokumentiert wurden. Diese Tendenz hatte sich bereits in den Vorjahren gezeigt. Sie setzte sich in den folgenden Jahren fort. In diesem Rahmen ergab sich gleichfalls eine verbesserte Übereinstimmung für das im Jahr 2003 zunächst auffällige Prüf-Item bezüglich der Identifikation von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. Zuvor war aufgrund der skizzierten Erkenntnisse aus der Prüfung 2003 hierzu in allen MD noch einmal eine entsprechende Schulung erfolgt. Die jährlichen Qualitätsprüfungen konnten nach einer Neukonzeption und Erweiterung des Prüfkriteriums zur Qualitätsbeurteilung der gutachtlichen Feststellungen und Empfehlungen im Hinblick auf das Vorliegen und die Ausprägung einer eingeschränkten Alltagskompetenz im Sinne des Pflege-Versicherungsgesetzes im Jahr 2009 gleichfalls aufzeigen, dass hier in einigen Bereichen noch Potential für Verbesserungen bestand. Die in diesem Rahmen gewonnenen Erkenntnisse konnten im folgenden Jahr unter anderem in ein entsprechendes Fortbildungsangebot des MDS für alle Medizinischen Dienste einfließen. Diese skizzierten Ergebnisse führten dazu, dass das dargestellte Prüfkonzept nahezu unverändert in den Jahren 2004 bis 2009 eingesetzt werden konnte. Zwischenzeitliche Modifikationen waren lediglich erforderlich, um einzelne Prüfkriterien zu präzisieren oder besser von anderen Prüfbereichen abgrenzen zu können und um auf eine aktuelle Änderung der Begutachtungs-Richtlinien zu reagieren. Aktuell weist der jüngste, für das Prüfjahr 2012 veröffentlichte Bericht des MDS über die Ergebnisse der MD-internen und MD-übergreifenden bundesweiten Qualitätsprüfungen der Pflegebegutachtung für den genannten Prüfzeitraum für alle Prüf-Items eine positive interne Qualitätsbewertung von mindestens 95,6 Prozent aus. Außerdem ist diesem Bericht zu entnehmen, dass im Jahr 2011 die Übereinstimmungsquote zwischen der internen und der externen Qualitätsbewertung der geprüften Pflegegutachten sehr hoch war. Sie lag bei allen zu prüfenden Kriterien zwischen 94,1 Prozent und 99,4 Prozent. Im Vergleich zum Prüfjahr 2010 zeigte sich diesbezüglich insbesondere nochmals eine verbesserte Übereinstimmung im Bereich der Qualitätsbewertungen im Hinblick auf die Nachvollziehbarkeit der Bewertungen und Empfehlungen des Gutachters. Sie stieg im genannten Zeitraum um rund drei Prozent im Bereich der Qualitätsbewertungen des vom Gutachter festgestellten Hilfebedarfs und Zeitaufwandes. Die Übereinstimmungsquote im Hinblick auf die Qualitätsbewertung der Darlegungen des Gutachters zum Vorliegen und zur Ausprägung einer Einschränkung der Alltagskompetenz im Sinne des Pflegegesetzes konnte sogar um knapp zwei Prozent gesteigert werden [Fleer/Kowalski 2013]. Die Begutachtung mittels eines Haus-/Einrichtungsbesuches stellt den Regelfall zur Erstellung eines Pflegegutachtens dar. Nur bei definierten Fallkonstellationen können Gutachten nach Aktenlage auf Grundlage vorliegender Unterlagen (z.B. Arztberichte und Krankenhausentlassberichte) angefertigt werden. Sie werden in allen genannten Fällen erstellt, wenn aus den hierzu vorliegenden Unterlagen die zur Beurteilung einer Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI relevanten Sachverhalte eindeutig hervorgehen. Gutachten nach Aktenlage werden auch erstellt, wenn
6.11 Qualitätssicherungsverfahren der Begutachtung gemäß SGB XI
205
der Antragsteller zwischen Antragstellung und Begutachtung bereits verstorben ist. Vereinbarungsgemäß gehen die Gutachten nach Aktenlage für verstorbene Versicherte wegen der sehr unterschiedlichen Qualität der verfügbaren Unterlagen nicht in die Qualitätsprüfung ein. In Anbetracht der vereinbarten Prüfsystematik und der hier geforderten Ziehungsmodalitäten (Zufallsstichprobe) sowie der Tatsache, dass nur die in der Prüfanleitung genannten Gutachten nach Aktenlage in die Qualitätsprüfung einzubeziehen sind, war die Anzahl entsprechender Gutachten in der übergreifenden Prüfung im Prüfjahr nur sehr gering. Es liegen deshalb hierzu auch keine gesonderten Auswertungen vor, da diese beim geringen Stichprobenumfang nicht hinreichend aussagefähig wären. Die dargestellten Ergebnisse belegen kontinuierliche und anhaltende Verbesserungen im Bereich der bundesweiten Pflegebegutachtungen der MD sowie der diesbezüglichen Gutachtenqualität.
Ausblick Die Qualitätsparameter des Prüfverfahrens lassen methodisch gesichert Aussagen über die Qualität der Pflegebegutachtungen der MD zu. Das Prüfkonzept von Transparenz, Kompetenz und Nachvollziehbarkeit wird deshalb bis auf Weiteres im Bereich des SGB XI eine wesentliche Grundlage der Qualitätssicherung der Pflegebegutachtung der MD sein. Die Analysen der Ergebnisse der internen und übergreifenden Qualitätsprüfung von Pflegegutachten werden ohne Zweifel auch in Zukunft Ausgangspunkt für Qualitätsverbesserungen innerhalb der Pflegebegutachtung sein. Im Sinne einer Defizit- bzw. Optimierungsanalyse können sie zugleich Hinweise auf Bereiche innerhalb der Pflegebegutachtung geben, in denen angestrebten Qualitätsstandards noch nicht völlig entsprochen wird. Das etablierte Prüfverfahren bietet zudem die Grundlagen für ein weiteres internes oder überreifendes Benchmarking. Schon jetzt steht fest, dass die mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) einhergehenden Änderungen im Leistungsrecht ab dem Jahr 2013 eine weitere Anpassung der Prüfsystematik erfordern werden. Aktuell erfolgt aus demselben Grund bereits eine Überarbeitung der Begutachtungs-Richtlinien. Sie wird mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichfalls zumindest inhaltliche Anpassungen der bisherigen Prüfkriterien erfordern. Derzeit ist nicht absehbar, in welchem Umfang aus diesen Gründen Modifikationen oder Weiterentwicklungen der allgemeinen Prüfsystematik und -konzeption sowie der zugehörigen Begutachtungsanleitungen notwendig sein werden. Ebenso wird zu prüfen sein, ob die außerhalb des direkten Leistungsrechtes liegenden neuen Anforderungen und Regelungen des PNG Auswirkungen auf das skizzierte Qualitätssicherungsverfahren der MD haben oder sich hierdurch vielleicht sogar völlig neue Chancen und Perspektiven für eine noch effektivere Qualitätssicherung der Pflegebegutachtungen der MD ergeben.
206
6 Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI
6.11.2 Interne Qualitätssicherungsmaßnahmen der Medizinischen Dienste Die Qualitätsprüfung von Pflegegutachten ist nur ein Teilaspekt des umfassenderen Qualitätsmanagements aller MD zur Sicherstellung und Fortentwicklung einer bundesweit einheitlichen Pflegebegutachtung von hoher Qualität. Deshalb flankieren die MD die zuvor beschriebenen Aktivitäten durch zahlreiche weitere interne Maßnahmen der Qualitätssicherung. Diese sind sehr vielfältig. Hierbei sind häufig strukturelle und regionale Besonderheiten zu beachten. Deshalb können die im Folgenden genannten diesbezüglichen Aktivitäten in ihrer konkreten Ausgestaltung variieren. An dieser Stelle soll deshalb hierzu nur eine stichpunktartige und exemplarische Übersicht gegeben werden, um das Spektrum aller diesbezüglichen Aktivitäten zu illustrieren: – strukturierte Einarbeitung neuer Pflegegutachter anhand von verbindlich fixierten Konzepten – zentrale Einführungsseminare und Hospitationen zur Heranführung an die Pflegebegutachtung – regelmäßige fachspezifische Fortbildungen aller in die Pflegebegutachtung eingebundenen Ärzte und Pflegefachkräfte – Durchführung von Qualitätszirkeln zu aktuellen oder kontrovers diskutierten Fragestellungen in der Pflegebegutachtung – Pflegebegutachtung von Kindern durch fachlich hierfür besonders qualifizierte Gutachter – Einsatz von EDV-Programmen zur inhaltlichen Plausibilitätsprüfung von Pflegegutachten, mit denen noch vor Abschluss des Gutachtens Plausibilitätsverstöße erkannt und einer Korrektur zugeführt werden können – Aufbau und Pflege spezifischer Literatur- und Wissensdatenbanken – Sicherstellung der Einhaltung der Härtefall-Richtlinien durch ein Review – Qualifizierung von Pflegegutachtern zu Qualitätsmanagern und TQM-Auditoren – strukturierte Rückmeldung der Ergebnisse der Qualitätsprüfungen an die Gutachter – Implementierung eines Qualitätsmanagementsystems nach dem EFQM-Modell für Excellence oder der DIN EN ISO 9001 – Kundenbefragungen zur Zufriedenheit mit der Pflegebegutachtung durch den MDK bei Versicherten und Pflegekassen (s.a. Kap. 6.12)
6.12 Dienstleistungsorientierung des Medizinischen Dienstes
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6.12 Dienstleistungsorientierung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Begutachtungsverfahren Paul-Ulrich Menz und Martin Rieger Der Eintritt von Pflegebedürftigkeit stellt für Betroffene und Angehörige einen tiefen biographischen Einschnitt dar. Dies betrifft nicht nur die persönliche Lebensplanung und -gestaltung, sondern insbesondere auch die praktische Bewältigung der üblichen Anforderungen des Alltags. Zum Zeitpunkt der Antragstellung sind die Möglichkeiten und Grenzen der Leistungen der Pflegeversicherung sowie anderer Hilfs- und Unterstützungsangebote häufig nur in Ansätzen bekannt. Somit sind die Pflegebedürftigen meist nicht nur durch die aktuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen selbst, sondern auch durch die zu diesem Zeitpunkt häufig ungeklärte zukünftige Versorgungs- und Betreuungssituation sowie weitere hiermit verbundene organisatorische und soziale Fragen erheblich belastet. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) trägt diesem Sachverhalt bei seinen Begutachtungen zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit (Pflegebegutachtung) innerhalb der vorgegebenen organisatorischen und gesetzlichen Grenzen durch seine Dienstleistungsorientierung Rechnung. Aus Sicht des MDK muss eine fachlich kompetente und respektvolle Begutachtung verbunden werden mit einer sachgerechten Beratung des Pflegebedürftigen, seiner Angehörigen oder anderer Pflegepersonen über mögliche Erleichterungen und Hilfen in der nun veränderten Lebenssituation. Dabei ist auf geeignete Hilfsmittel, örtliche Pflege- und Unterstützungsangebote und mögliche Anpassungen des persönlichen Wohnumfeldes hinzuweisen. Dies gilt insbesondere bei Erstbegutachtungen in der schwierigen Phase zu Beginn einer Pflegebedürftigkeit. Als wesentlichen Baustein hierfür sah der MDK von Beginn an die Fachkompetenz seiner Gutachter an. Deshalb setzen die MDK ausschließlich examinierte Pflegefachkräfte und Ärzte mit langjähriger Berufserfahrung als Gutachter ein. Zudem verfügen diese Gutachter in der Regel über detaillierte Kenntnisse der örtlichen und regionalen Pflege- und Versorgungsstrukturen. Neben der fachlichen Kompetenz ist der respektvolle und wertschätzende Umgang mit den Pflegebedürftigen und deren Angehörigen und Pflegepersonen für die Gutachter des MDK eine Selbstverständlichkeit, wie dies bereits im Kodex für die Gutachter der MDK-Gemeinschaft aus dem Jahr 1998 zum Ausdruck kommt. In diesem Kodex sind des Weiteren die spezifischen Grundsätze einer unabhängigen, neutralen und objektiven Begutachtung, des Datenschutzes und der Verschwiegenheit festgehalten. Darüber hinaus unterstützt der MDK seine Gutachter neben fachspezifischen Fortbildungen auch durch Seminare zur Stärkung der Kommunikationskompetenz in schwierigen Begutachtungssituationen. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen ist neben einer kompetenten und empathischen Begutachtung wesentlich, dass die Begutachtung rechtzeitig angekündigt wird und die Leistungsentscheidung zeitgerecht erfolgt. Damit sich der Antragsteller
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bzw. dessen Angehörige und Pflegepersonen adäquat auf ihre Pflegebegutachtung vorbereiten können, erfolgen die Begutachtungen des MDK immer nach vorheriger Anmeldung. Die Hausbesuche werden in der Regel schriftlich mit Benennung des Gutachters, seiner Qualifikation und des geplanten Begutachtungszeitraums rechtzeitig angekündigt. Mit der Bitte um Bestätigung des Termins wird den Betroffenen die Möglichkeit gegeben, individuelle Wünsche beispielsweise zum Zeitpunkt der Begutachtung oder zur Beteiligung von Angehörigen und Pflegediensten zu äußern. Häufig wird der Termin für den Hausbesuch auch telefonisch vereinbart, insbesondere, wenn dieser nur außerhalb der regulären Arbeitszeiten im MDK abends oder am Wochenende stattfinden kann. Mit der Terminankündigung des Besuchs ist dem Antragsteller das vorgesehene Datum der Begutachtung mit einem Zeitfenster von maximal zwei Stunden, die voraussichtliche Dauer der Begutachtung, der Name des Gutachters sowie Grund und Art der Begutachtung mitzuteilen [BRi 2013]. Zudem erhalten die Antragssteller auch Informationen über den Ablauf der geplanten Begutachtung, über die zur Begutachtung erforderlichen Unterlagen und gegebenenfalls einen Fragebogen zur aktuellen Pflege- und Versorgungssituation. Auf diese Weise soll den Betroffenen die Möglichkeit eröffnet werden, sich in Ruhe auf den bevorstehenden Hausbesuch vorzubereiten und sich mit ihren Angehörigen oder Pflegepersonen bereits vorab Gedanken über den derzeitigen Hilfebedarf, die notwendigen Hilfeleistungen und noch offene Fragen zur Begutachtung zu machen. Im Schreiben zur Terminankündigung werden auch Ansprechpartner für eventuelle Rückfragen oder kurzfristige Terminabsagen genannt. Im Vorfeld der Begutachtung ist der Antragsteller über die Möglichkeit zu informieren, „dass er sich bei Verständigungsschwierigkeiten in der Amtssprache Unterstützung durch Angehörige/Bekannte mit ausreichenden Sprachkenntnissen oder durch einen Übersetzer für den Zeitraum der Begutachtung heranziehen sollte. (Dies kann z.B. im Rahmen der Terminankündigung durch Übersendung eines Flyers mit Informationen zur Begutachtung erfolgen.) Der Antragsteller hat sicherzustellen, dass eine Verständigung in der Amtssprache möglich ist. Dessen ungeachtet ist das Recht des Antragstellers auf barrierefreie Kommunikation zu gewährleisten“ [BRi 2013]. Erhielt der MDK davon Kenntnis, dass im Einzelfall eine spezifische Behinderung, beispielsweise eine Gehörlosigkeit, besteht, wird zudem auf entsprechende besondere Angebote oder Unterstützungsmöglichkeiten hingewiesen, z.B. Gebärdendolmetscher. Parallel hierzu informieren die Medizinischen Dienste die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen im Internet ausführlich über die praktische Durchführung der Begutachtung, über die aktuellen Leistungen und Anspruchsvoraussetzungen der Pflegeversicherung sowie über weitere im Kontext mit einer Pflegebegutachtung häufig auftretende Fragen. Im Rahmen der Begutachtung beraten die Gutachter des MDK in Kenntnis der individuellen Erkrankungen, Funktionseinschränkungen und Pflegesituation sowie gegebenenfalls bestehender Pflegeerschwernisse darüber, welche Hilfsmittel, Unter-
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stützungsangebote oder Betreuungsmöglichkeiten im Einzelfall sinnvoll sind. Diese Beratung erfolgt sowohl in Hinblick auf den Pflegebedürftigen als auch dessen Angehörige und Pflegepersonen. Falls möglich werden hierbei auch geeignete Kontaktdaten oder Ansprechpartner genannt. Soweit dies im Einzelfall bereits möglich ist, wird der Antragsteller am Ende der Begutachtung über das Ergebnis und über in diesem Zusammenhang evtl. notwendige Wiederholungsbegutachtungen oder auch seine Widerspruchsmöglichkeiten informiert. Sofern ein Pflegebedürftiger, dessen Betreuer, Pflegepersonen oder Angehörige mit einer Begutachtung des MDK bzw. den hiermit in Verbindung stehenden Dienstleistungen des MDK nicht zufrieden sind, haben sie selbstverständlich die Möglichkeit, sich zu beschweren. Hierzu steht nicht nur die jeweilige Rechtsaufsicht, sondern auch der MDK selbst zur Verfügung. Hierüber informieren die Medizinischen Dienste sowohl im Rahmen ihrer Begutachtungen als auch auf ihren Internetseiten. Entsprechende Reklamationen werden von den MDK zeitnah geprüft und hierzu schriftlich oder persönlich eine Rückmeldung oder Erläuterung gegeben, sofern der Beschwerdeführer nicht ausdrücklich ein anderes Prozedere wünscht. Unabhängig hiervon praktizieren alle Medizinischen Dienste kontinuierlich eine Qualitätssicherung ihrer Pflegebegutachtung und ihrer Pflegegutachten zur Verbesserung ihres Dienstleistungsangebotes. Hier fließen nicht nur die aktuellen Erkenntnisse aus Anregungen oder Kritik der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen aus dem Beschwerdemanagement ein, sondern auch aus anderen Rückmeldungen. Versicherten-/Kundenbefragungen sind in den Diensten in unterschiedlichem Umfang eingeführt, z.B. mittels interner oder externer Befragungen oder internetbasierter Feedbackmöglichkeiten. Eine Teilnahme hieran ist dabei in der Regel sowohl anonym als auch unter Namensnennung möglich. Die bislang durchgeführten Befragungen ergaben hierbei insgesamt ein positives Feedback zur Kompetenz und wertschätzenden sowie beratenden Durchführung der Pflegebegutachtungen. Der Dienstleistungsgedanke war in den MDK bereits von Beginn der Pflegebegutachtung an etabliert. Die im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz eingeführte Verpflichtung des GKV-Spitzenverbandes zur Verabschiedung von bundesweit gültigen Richtlinien zur Dienstleistungsorientierung im Begutachtungsverfahren dient der Vereinheitlichung der Verhaltensgrundsätze in allen Medizinischen Diensten. Damit soll die Transparenz des Begutachtungsverfahrens weiter erhöht werden. Die Dienstleistungs-Richtlinien sind auch von den anderen von den Pflegekassen beauftragten unabhängigen Gutachtern anzuwenden. Die ausformulierten und durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zu genehmigenden Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Dienstleistungsorientierung im Begutachtungsverfahren (Dienstleistungs-Richtlinien – Die-RiLi) nach § 18b SGB XI vom 10.07.2013 enthalten Regelungen zu – allgemeinen Verhaltensgrundsätzen für alle unter der Verantwortung der Medizinischen Dienste am Begutachtungsverfahren Beteiligten,
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– der Pflicht der Medizinischen Dienste zur individuellen und umfassenden Information des Versicherten über das Begutachtungsverfahren, insbesondere über den Ablauf, die Rechtsgrundlagen und Beschwerdemöglichkeiten, – zur regelhaften Durchführung von Versichertenbefragungen sowie – zu einem einheitlichen Verfahren zum Umgang mit Beschwerden, die das Verhalten der Mitarbeiter der Medizinischen Dienste oder das Verfahren bei der Begutachtung betreffen.
7 Rehabilitation und Pflegebedürftigkeit 7.1 Bedeutung der Rehabilitation zur Vermeidung oder Verminderung von Pflegebedürftigkeit Stefan Gronemeyer In dem folgenden Beitrag sollen die Voraussetzungen und Einflussfaktoren hinsichtlich der Umsetzung des sozialversicherungsrechtlichen Grundsatzes Rehabilitation vor und bei Pflege beschrieben werden. Dies bietet dem Leser eine kompakte Darstellung der Hintergründe, die zu dem heutigen Stand der sozialrechtlichen Vorgaben geführt haben. Gleichzeitig werden die heutigen Aufgaben und die Herausforderungen der Zukunft angerissen, die in den nachfolgenden Buchbeiträgen vertieft werden.
Rehabilitation vor und bei Pflege: Sozialrechtliche Voraussetzungen für die Umsetzung Schon mit der Einführung der Pflegeversicherung durch das Pflege-Versicherungsgesetz von 1993 wurde der Vorrang von Prävention und Rehabilitation vor der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen als wichtiges Ziel der Gesundheitspolitik gesetzlich festgeschrieben. Verschiedene Vorschriften im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) verpflichten die Pflegekassen, die Krankenkassen, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), aber auch die Versicherten, an der Umsetzung des Grundsatzes Rehabilitation vor und bei Pflege aktiv mitzuwirken. So wurden die Pflegekassen verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die zuständigen Leistungsträger – in der Regel die Krankenkassen – alle geeigneten Maßnahmen einleiten, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu vermindern. Ausdrücklich wird im Gesetz klargestellt, dass dies auch nach dem Eintritt von Pflegebedürftigkeit gilt (§ 5 SGB XI). Beim Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit wurde dem MDK unter anderem die Aufgabe zugewiesen, Feststellungen zum Rehabilitationsbedarf zu treffen und diese der Pflegekasse mitzuteilen (heute § 18 SGB XI). Die Versicherten wurden ihrerseits verpflichtet, an Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung der Pflegebedürftigkeit, einschließlich Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation, aktiv mitzuwirken, unabhängig davon, ob bereits Pflegebedürftigkeit festgestellt wurde (§ 6 SGB XI). Der Gesetzgeber ging bei diesen Regelungen davon aus, dass Maßnahmen der Prävention und Rehabilitation sowohl unter humanen Aspekten, als auch wegen ihrer positiven wirtschaftlichen Folgen im Sinne der Vermeidung einer Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme einen hohen Stellenwert haben und dass es in vielen Fällen auch nach eingetretener Pflegebedürftigkeit noch möglich ist, damit das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit zu verringern [DBT 1993].
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Stärker als zum Zeitpunkt der Einführung der Pflegeversicherung sind seit der Jahrtausendwende die dynamisch verlaufenden Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland und deren weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen in das öffentliche Bewusstsein und in das Zentrum der gesundheitspolitischen Debatte gerückt. Wesentlich von diesen Veränderungen betroffen ist die Gesundheitsversorgung einschließlich der Pflege. Durch die seit Jahrzehnten rückläufige Entwicklung der Geburtenzahlen und die kontinuierlich ansteigende Lebenserwartung kommt es zu einer Zunahme des Anteils älterer Menschen. Nach der elften koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung ist im Jahr 2030 eine Zunahme der Gruppe der 60-Jährigen und Älteren um fast 8 Millionen im Vergleich zum Jahr 2005 zu erwarten, was einer Zunahme von fast 40 Prozent entspricht. Jeder dritte Einwohner in Deutschland würde dann zu dieser Altersgruppe zählen [Destatis 2006]. Da die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Krankheiten, Behinderungen und Pflegebedürftigkeit stark altersabhängig ist, ist mit der Zunahme älterer Menschen auch mit einem Anstieg von Krankheitsfällen und der Zahl Pflegebedürftiger zu rechnen. Wenngleich das Ausmaß der Entwicklungen aufgrund unterschiedlicher Vorausberechnungsmethoden und prognostischer Annahmen nicht exakt vorhersagbar ist, gilt die Tatsache, dass es zur Zunahme pflegebedürftiger Menschen kommen wird, als unstrittig. Je nach gewählter Vorausberechnungsmethode gehen Prognosen zur Entwicklung der Pflegebedürftigen in Deutschland davon aus, dass es bis zum Jahr 2030 zu einer Zunahme um 40 – 50 Prozent kommen wird. Dies entspräche einem Anstieg von derzeit ungefähr 2,37 Millionen auf 2,95 bis 3,36 Millionen Pflegebedürftige [BMG 2010]. Der erwartete Anstieg pflegebedürftiger Personen stellt Politik und Gesellschaft vor die Aufgabe, die Sozialsysteme, insbesondere die soziale Pflegeversicherung, so weiterzuentwickeln, dass auch künftig die notwendige Versorgung gewährleistet ist. Vor diesem Hintergrund wird seit mehr als 10 Jahren verstärkt danach gefragt, wie die Vorschriften im SGB XI zur Vermeidung oder Verminderung von Pflegedürftigkeit durch Prävention und Rehabilitation umgesetzt werden. Das Interesse der Fachöffentlichkeit und insbesondere auch der Politik richtet sich dabei häufig auf die Frage, in welchem Umfang der MDK im Rahmen der Pflegebegutachtung präventive oder rehabilitative Maßnahmen empfiehlt und wie diese umgesetzt werden. Entsprechende Untersuchungen zur Begutachtungspraxis zeigten, dass die Gutachterinnen und Gutachter des MDK bei etwa 12 bis 15 Prozent der Antragsteller Empfehlungen für präventive oder rehabilitative Maßnahmen aussprechen, wobei darin sowohl die Anwendung von Heilmitteln wie Krankengymnastik oder Ergotherapie, Leistungen der medizinischen Rehabilitation und nicht näher bezeichnete präventive Maßnahmen eingeschlossen waren [Lürken 2001, Küpper-Nybelen 2006]. Hinsichtlich der Umsetzung der Empfehlungen wurde festgestellt, dass z.B. empfohlene Heilmittel bei jedem zweiten bis dritten Versicherten tatsächlich auch erbracht wurden. Die Anzahl der Empfehlungen des MDK für präventive und rehabilitative Maßnahmen wurde von den Autoren derartiger Untersuchungen und in der Öffentlichkeit stets als zu gering
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bewertet. Dies, obgleich bisher keine validen Angaben dazu vorliegen, wie hoch der Anteil der Antragsteller ist, bei denen solche Maßnahmen erfolgversprechend wären. Dessen ungeachtet ist zu konstatieren, dass die Umsetzung des Grundsatzes Rehabilitation vor und bei Pflege seit seiner Verankerung im SGB XI überwiegend als unzureichend wahrgenommen wird, was in zahlreichen Expertisen unterschiedlicher Institutionen zum Ausdruck kommt [SVR 2001, SVR 2003, Weidner 2004, DBT 2010]. Dabei werden unter anderen folgende Probleme als Ursachen diskutiert [SVR 2003]: – Negative Einstellungen gegenüber den Rehabilitationsmöglichkeiten bei Pflegebedürftigen: Wenn bei Professionellen im Gesundheitswesen, den Versicherten oder deren Angehörigen Pflegebedürftigkeit nur als Zustand irreversibler und im Verlauf progredienter Hilflosigkeit angesehen wird, geht dies in der Regel mit einer Geringschätzung der Rehabilitationsmöglichkeiten von Pflegebedürftigen einher und führt zu einem therapeutischen Nihilismus. Rehabilitation wird in diesem Fall als eine Intervention gesehen, die allenfalls vor dem Eintritt von Pflegebedürftigkeit, aber nicht danach eine Aussicht auf Erfolg hat. Der sozialrechtliche Grundsatz Rehabilitation vor und bei Pflege wird hier verkürzt auf das Vor und damit falsch ausgelegt. Diese Haltung widerspricht zahlreichen heute verfügbaren wissenschaftlichen Daten zu den Erfolgen rehabilitativer Maßnahmen bei Pflegebedürftigen. Auch entspricht diese Einstellung nicht den Rechtsvorschriften, die, wie bereits erwähnt, präventive und rehabilitative Leistungen ausdrücklich auch für Pflegebedürftige vorsehen, wenn sie im Einzelfall indiziert sind. Die Ablehnung entsprechender Leistungen allein mit der Begründung, dass Pflegebedürftigkeit besteht, ist daher unzulässig. – Unzureichendes Lehrangebot zu den Möglichkeiten präventiver und rehabilitativer, insbesondere geriatrischer Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung von Pflegebedürftigkeit in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pflegeberufen, Ärzten und anderen Gesundheitsberufen: Als Folge unzureichender Qualifikation werden Defizite bei der Feststellung des Rehabilitationsbedarfs und damit bei einem adäquaten Rehabilitationszugang Pflegebedürftiger gesehen. – Falsche ökonomische Anreize insbesondere zwischen Pflege- und Krankenkassen: Als Hemmnis wird hier oft die Tatsache angeführt, dass von einer erfolgreich durchgeführten Rehabilitation zu Lasten der Krankenkasse nicht diese, sondern die Pflegekasse durch eingesparte Pflegeleistungen profitiert. – Widersprüchliche Motivationsanreize für Leistungsempfänger und Leistungserbringer: Wird durch eine erfolgreiche Rehabilitation der Hilfebedarf eines Versicherten nachhaltig reduziert, reduzieren sich natürlich auch die Leistungen der Pflegeversicherung. Gleiches gilt beispielsweise für eine stationäre Pflegeeinrichtung, wenn eine erfolgreich erbrachte rehabilitative Pflege zur Senkung der Pflegestufe führt. Die allgemein kritische Bewertung der Umsetzung des Grundsatzes Rehabilitation vor und bei Pflege und insbesondere die vorstehend beschriebenen Ursachenanalysen
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haben zu anhaltenden gesetzgeberischen Initiativen geführt, um die Rehabilitationschancen Pflegebedürftiger zu stärken. Insbesondere folgende Reformgesetze der jüngeren Vergangenheit haben neue Vorschriften mit dem Ziel einer verbesserten Umsetzung von Rehabilitation vor und bei Pflege in das Sozialgesetzbuch implementiert.
GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 Ursprünglich war vorgesehen, die rehabilitative Versorgung pflegebedürftiger oder von Pflegebedürftigkeit bedrohter Menschen dadurch zu stärken, dass ausschließlich geriatrische Rehabilitationsleistungen von einer so genannten Ermessensleistung in eine Pflichtleistung der Krankenkassen überführt werden. Letztlich wurden durch das Gesetz alle Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Pflichtleistungen umgewandelt. Dadurch können die Krankenkassen auch für diese Leistungen ggf. Zahlungen aus dem so genannten Risikostrukturausgleich erhalten, wovon ein höherer Anreiz für die Krankenkassen erwartet wird, diese Leistungen zu erbringen. Außerdem wurde klargestellt, dass auch Leistungen der mobilen Rehabilitation als Sonderform der ambulanten Rehabilitation regelhaft von den Krankenkassen zu tragen sind. Diese Rehabilitationsform gilt als besonders geeignet für die Rehabilitation Pflegebedürftiger, insbesondere, wenn kognitive Einschränkungen vorliegen. Sie kann auch in Pflegeeinrichtungen erbracht werden. In einer weiteren Änderung wurde geregelt, dass der MDK Anträge auf Vorsorge- oder Rehabilitationsleistungen nicht mehr generell, sondern nur noch in Stichproben prüft.
Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 Der bisherige Empfehlungscharakter der Feststellungen des MDK zur Notwendigkeit von Leistungen der medizinischen Rehabilitation im Rahmen der Pflegebegutachtung wurde durch diese Reform grundlegend geändert. Die Feststellung des MDK, dass bei einem Antragsteller der Pflegeversicherung Leistungen der medizinischen Rehabilitation angezeigt sind, löst seither ein Antragsverfahren auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation entsprechend den Vorschriften des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX) aus, sofern der Versicherte dem zugestimmt hat. Das heißt, die Stellungnahme des MDK entspricht faktisch einem Rehabilitationsantrag, über den die Krankenkasse innerhalb der im SGB IX vorgesehenen Fristen zu entscheiden hat. Eine weitere Begutachtung vor der Durchführung der Rehabilitationsmaßnahme ist dabei ausdrücklich nicht vorgesehen. Diese neue Vorschrift hat die Vorgaben für die Pflegebegutachtung der MDK hinsichtlich der Feststellungen zum Rehabilitationsbedarf deutlich verändert. Da in der Pflegebegutachtung fast ausschließlich Pflegefachkräfte eingesetzt werden, die definitive Indikationsstellung zu einer Leistung der medizinischen Rehabilitation aber eine ärztliche Aufgabe ist, wurde in den Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit ein so genanntes zweistufiges Verfahren vorgegeben. Danach hat die
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Pflegefachkraft obligatorisch einen ärztlichen MDK-Gutachter einzubeziehen, wenn sie im Rahmen der Begutachtung Hinweise auf Rehabilitationsbedarf im Sinne einer Leistung der medizinischen Rehabilitation festgestellt hat. Wird der Rehabilitationsbedarf durch den ärztlichen MDK-Gutachter bestätigt, erfolgt die entsprechende Empfehlung an die Pflegekasse. Durch weitere Ergänzungen wurde in dem Gesetz klargestellt, dass der MDK bei jeder Begutachtung von Pflegebedürftigkeit Feststellungen zum Rehabilitationsbedarf zu treffen hat. Weiterhin gelten seit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz finanzielle Anreize für Pflegeinrichtungen, die es durch aktivierende und rehabilitative Maßnahmen erreichen, dass bei einem Pflegebedürftigen die Pflegestufe reduziert werden kann. Krankenkassen haben Strafzahlungen an die Pflegekasse zu zahlen, wenn sie notwendige Rehabilitationsleistungen nicht erbringen. Mit diesen Regelungen hat der Gesetzgeber die oben dargestellten Anreiz- und Motivationsprobleme aufgegriffen.
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz 2012 Auch die vorerst letzte Pflegereform hat neue Vorschriften in das SGB XI eingefügt, die den Grundsatz Rehabilitation vor und bei Pflege in seiner praktischen Umsetzung stärken und die Möglichkeiten des Einzelnen, davon Gebrauch zu machen, verbessern sollen. Im Wesentlichen dient dazu eine gesonderte Rehabilitationsempfehlung, die der MDK jetzt bei jeder Begutachtung von Pflegebedürftigkeit zu erstellen hat und die dem Versicherten unabhängig von dem eigentlichen Pflegegutachten über die Pflegekasse regelmäßig übermittelt wird (s. Kap. 7.2). Diese Rehabilitationsempfehlung enthält nicht nur Feststellungen dazu, welche präventiven oder rehabilitativen Maßnahmen ggf. empfohlen werden, sondern informiert auch über die Gründe, wenn keine derartigen Empfehlungen ausgesprochen werden. Durch die gesonderte Rehabilitationsempfehlung und eine ebenfalls vorgeschriebene Erläuterung der Empfehlung durch die Pflegekasse soll das Begutachtungsverfahren hinsichtlich der Rehabilitationsaspekte für die Versicherten transparenter werden. Ausdrücklich soll damit aber auch erreicht werden, dass den Feststellungen zur Rehabilitation im Begutachtungsverfahren insgesamt mehr Beachtung zukommt. Neu eingeführt wurde auch eine Berichtspflicht der Pflegekassen gegenüber dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) über die Umsetzung der MDK-Empfehlungen zur medizinischen Rehabilitation. Danach berichten die Pflegkassen für die Jahre 2013 bis 2015 über die Anzahl der Empfehlungen zur medizinischen Rehabilitation, die Anzahl der daraus erfolgten Anträge an den Rehabilitationsträger und deren Genehmigung sowie die Anzahl der durchgeführten medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen. Die dargestellten Gesetzesinitiativen, die alle innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraumes von nur fünf Jahren umgesetzt wurden, machen deutlich, dass präventiven und rehabilitativen Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung von Pflegebedürftigkeit eine hohe gesellschaftliche Bedeutung zukommt. Vor dem
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Hintergrund der erwarteten demographisch bedingten Zunahme von Pflegebedürftigkeit und einem zumindest bisher ausbleibenden erkennbaren Anstieg der Rehabilitationsmaßnahmen für Pflegebedürftige ist fest davon auszugehen, dass das Thema weiter an Bedeutung und Aufmerksamkeit gewinnen wird. Insbesondere durch die Berichtspflicht der Pflegekassen nach § 18a Abs. 2–3 über die Anzahl der Rehabilitationsempfehlungen und die durchgeführten Maßnahmen ist sichergestellt, dass der Erfolg oder Misserfolg der eingeleiteten Reformen bewertet werden wird. Flankiert werden die Bemühungen zur Verbesserung der Teilhabe Pflegebedürftiger auch durch den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, der auch die Umsetzung des Grundsatzes Rehabilitation vor und bei Pflege und die bessere Verzahnung aller Akteure und Leistungen bei der Bereitstellung von rehabilitativen und pflegerischen Angeboten proklamiert [BMAS 2011]. Die vorstehend beschriebenen aktuellen sozialrechtlichen Vorgaben weisen den Kranken- und Pflegekassen und dem MDK klare Aufgaben zu, die es umzusetzen gilt. Um dies zu gewährleisten, werden die Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit jeweils entsprechend angepasst und Schulungsmaßnahmen für die Mitarbeiter durchgeführt.
Einflussfaktoren der rehabilitativen Versorgung Pflegebedürftiger Auch wenn die gesetzlichen Reformen der letzten Jahre stark auf die Aufgabenwahrnehmung von MDK und Pflegekassen abgestellt haben, sollen hier weitere Einflussfaktoren auf die Verbesserung der rehabilitativen Versorgung Pflegebedürftiger zumindest erwähnt werden. Ohne die Bedeutung der medizinischen Rehabilitation abwerten zu wollen, ist zu fragen, ob die bei allen Initiativen zur Verbesserung der Rehabilitationschancen Pflegebedürftiger zunehmend festzustellende Fokussierung auf die komplexen Leistungen der medizinischen Rehabilitation nicht dazu führt, dass andere wirksame Interventionen, die den Hilfebedarf verringern und die Teilhabe verbessern können, vernachlässigt werden. Dies gilt insbesondere für solche Maßnahmen, bei denen die Therapieeinheiten zwar nicht so hochfrequent abgegeben werden wie in der medizinischen Rehabilitation, dafür aber über einen längeren Zeitraum, wie z.B. in der Heilmittelanwendung oder der Durchführung aktivierender und rehabilitativer Pflege. Insbesondere darf bei der Pflegebegutachtung nicht vergessen werden, dass die Gutachter nicht nur den Bedarf an Leistungen der medizinischen Rehabilitation zu prüfen haben, sondern alle Maßnahmen einbeziehen müssen, die zur Vermeidung oder Verminderung der Pflegebedürftigkeit in Frage kommen können. Deshalb soll das Spektrum der wesentlichen Kategorien von Maßnahmen, die der Gutachter empfehlen kann, hier dargestellt werden.
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Portfolio der präventiven und rehabilitativen Maßnahmen Der MDK hat im Rahmen der Pflegebegutachtung bei Bedarf sämtliche präventiven oder rehabilitativen Maßnahmen zu empfehlen, die zur Beseitigung oder Minderung der Pflegebedürftigkeit geeignet sind. Nach dem Gesetzestext müssen die empfohlenen Maßnahmen „notwendig“ und „zumutbar“ sein (§ 18 Abs. 6 SGB XI). Eine wesentliche Voraussetzung, um dieser Aufgabe nachzukommen, besteht darin, dass die in Rede stehenden Maßnahmen hinsichtlich ihrer Art und der Zugangswege konkret beschrieben werden können. Dies ist notwendig, da die Erkennung der Bedürftigkeit eines Versicherten für eine bestimmte Maßnahme daran geknüpft ist, dass diese Maßnahme eindeutig definiert werden kann. Dies ist auch die Voraussetzung dafür, dass eine Maßnahme vom MDK empfohlen werden kann. Im Bereich der rehabilitativen Maßnahmen lassen sich vergleichsweise konkrete Begriffsdefinitionen darstellen, da hier eine Reihe von GKV-Leistungen gesetzlich verankert ist. Für den Bereich der präventiven Maßnahmen erfolgt der Versuch einer Begriffsdefinition, da hier der konzeptionelle und sozialrechtliche Rahmen für den betroffenen Personenkreis deutlich weniger vorgegeben ist als bei den rehabilitativen Maßnahmen. Präventive Maßnahmen Was im Kontext des Pflege-Versicherungsgesetzes unter präventiven Maßnahmen zu verstehen ist, ist seitens des Gesetzgebers nicht näher definiert. Präventionsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nach § 20 SGB V oder Vorsorgeleistungen nach § 23 SGB V sind nicht ausgeschlossen. Faktisch entsprechen diese Angebote von ihrer inhaltlichen Ausrichtung als Gesundheitskurse oder Kuren aber in der Regel nicht den Bedürfnissen pflegebedürftiger oder von Pflegebedürftigkeit bedrohter Personen. Um welche sonstigen präventiven Maßnahmen kann es also gehen? Das Thema Prävention ist im Kontext der pflegerischen Versorgung zwar nicht neu, dennoch fehlt es bislang an einem einheitlichen Konzept sowie Aufgabenund Tätigkeitsbeschreibungen für pflegerische Präventionsansätze [Hasseler 2006, Brucker et al. 2004]. Während die Umsetzung des pflegerischen Präventionsansatzes teilweise in der Durchführung einer aktivierenden Pflege gesehen wird [Korporal/ Dangel 2001], gehen andere Begriffsdefinitionen darüber hinaus. Nach Garms-Homolová lassen sich verschiedene Präventionsstrategien beschreiben [Garms-Homolová 2008]. Ausgehend von der Unterscheidung einer individuumsbezogenen, einer verhältnisbezogenen, einer settingbezogenen und einer gesellschaftlichen Präventionsstrategie können danach sehr unterschiedliche spezifische Präventionsmaßnahmen, insbesondere für Hochbetagte, definiert werden. Dazu gehören z.B. Impfungen (Primärprävention) genauso wie Seh- und Hörtests oder Untersuchungen des Zahn- und Mundstatus (Sekundärprävention) wie auch Sturzprävention, Prävention von Druckgeschwüren, akuter Verwirrtheit und der Chronifizierung von Schmerz. Quasi als Endpunkt der genannten vorzubeugenden Gesundheitsrisiken stellt das Risiko der Unterbringung in einer stationären Pflegeeinrichtung ein eigenständiges Risiko dar, das es durch Prävention zu vermindern gilt. Andere Autoren sehen auch Beratungs-
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ansätze wie präventive Hausbesuche oder Beratungsbesuche nach § 37 Abs. 3 SGB XI als Möglichkeit an, präventionsorientierte Unterstützungsprogramme zu implementieren [Brucker et al. 2004]. Es wird deutlich, dass den zahlreichen pflegepräventiven Ansätzen nur wenige konkret definierte oder gar verordnungsfähige präventive Maßnahmen gegenüber stehen, weshalb eine Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen gefordert wird, um die Prävention in der Pflege zu stärken [Hasseler 2006]. Rehabilitative Maßnahmen Rehabilitative Maßnahmen sind gegenüber präventiven Maßnahmen wesentlich eindeutiger zu beschreiben und sozialrechtlich einzuordnen. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gemäß § 40 SGB V und § 26 SGB IX. Dies sind zeitlich in der Regel auf drei Wochen (stationäre Rehabilitation) oder 20 Behandlungstage (ambulante Rehabilitation) befristete Leistungen. Dabei werden unter ärztlicher Leitung nach einem Rehabilitationsplan vor allem medizinische, psychologische und edukative Maßnahmen sowie verschiedene Heilmittel eingesetzt. Entscheidende Merkmale der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind Komplexität, Interdisziplinarität, Finalität und Individualität [G-BA 2004/2009]. Zielstellung ist die Sicherung der Teilhabe. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation können ambulant, stationär oder mobil, d.h. in der gewohnten Umgebung des Rehabilitanden, durchgeführt werden. Werden Heilmittel, die grundsätzlich auch Bestandteil von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sein können (z.B. Physiotherapie oder Ergotherapie), als Einzelleistungen erbracht, sind sie nicht als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 40 SGB V einzustufen, auch wenn sie mit rehabilitativer Zielsetzung, d.h. zur Verbesserung der Teilhabe, verordnet wurden. Dennoch zählen Einzelleistungen mit rehabilitativer Zielsetzung (Heilmittel) zu den rehabilitativen Maßnahmen, die seitens des MDK im Rahmen der Pflegebegutachtung empfohlen werden können. Im Gegensatz zu den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind dabei allerdings keine so differenzierten Indikationskriterien zu beachten. Die Empfehlung von Einzelleistungen durch den MDK ist hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen auch nicht mit den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu vergleichen. Bei letzteren gelten die Feststellungen des MDK als Indikationsstellung (Zuweisungsempfehlung), die umzusetzen ist. Bei seinen Feststellungen zu Heilmitteln ist der MDK nicht verpflichtet, eine konkrete Indikationsstellung vorzunehmen. Es handelt sich hier um Empfehlungen. Eine Empfehlung von Heilmitteln mit rehabilitativer Zielsetzung kommt in Betracht, wenn nicht von einem komplexen Behandlungsbedarf auszugehen ist und dementsprechend keine multimodale Behandlung durch ein interdisziplinäres Team erforderlich ist. Neben den dargestellten rehabilitativen Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation und der Heilmittel mit rehabilitativen Zielsetzungen als Einzelleistung existieren weitere rehabilitative Konzepte zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit in
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unterschiedlichen institutionellen Kontexten. Zu nennen sind niedrigschwellige regionale Rehabilitationsangebote im Rahmen von Verträgen zur integrierten Versorgung unter Einbindung von Hausärzten oder nicht einheitlich definierte Pflegekonzepte wie der rehabilitativen oder der therapeutischen Pflege.
Verbesserung der Evidenz für die Allokation von Maßnahmen Zur Frage der Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen zu Vermeidung oder Verminderung von Pflegebedürftigkeit liegt mittlerweile eine Vielzahl von Einzelstudien, systematischen Reviews und HTA-Berichten vor, die allgemein positive Effekte der Maßnahmen belegen [Schulz 2008, Lübke 2011]. Dies gilt auch für geriatrische Rehabilitationsmaßnahmen bei Patienten mit der Nebendiagnose Demenz, die in der Gruppe der Pflegebedürftigen überproportional häufig anzutreffen ist. Auch diese Patienten profitieren in Abhängigkeit vom Schweregrad der Demenzerkrankung von der Rehabilitationsmaßnahme [Korczak et al. 2012]. Problematisch bei der Bewertung des Forschungsstandes ist allerdings immer wieder die Heterogenität der Interventionen, Studiendesigns und der Ergebnisparameter. Insbesondere fehlen oft teilhabebezogene Endpunkte bzw. entsprechende valide Assessmentinstrumente. Derartige Probleme beeinträchtigen auch die Aussagekraft zahlreicher durchgeführter Modellprojekte zur Erprobung neuer Rehabilitationsansätze wie z.B. der mobilen Rehabilitation [Lübke 2011]. Wegen der Unterschiedlichkeit der Gesundheitsprobleme sowie der Aktivitäts- und Teilhabebeeinträchtigungen auf Seiten der Pflegebedürftigen und der Unterschiedlichkeit der zur Verfügung stehenden Rehabilitationsangebote (präventiv, rehabilitativ-monomodal, rehabilitativ-multimodal) besteht dringender Bedarf an wissenschaftlicher Evidenz zur Frage einer sachgerechten, d.h. auf bestimmte Patientengruppen genau zugeschnittenen Allokation von Leistungen. Es ist davon auszugehen, dass, wenn das Wissen darüber, welche Leistungen welchen Patienten am besten helfen, sich verbessert, auch die gutachterlichen Empfehlungen präziser ausfallen. Wenn genau bekannt wäre, welche Leistungen bei welchen Patienten erfolgreich wären, könnte dies einen Impuls darstellen, diese Leistungen häufiger zu empfehlen. Hier müssen Rehabilitations- und Pflegewissenschaft weitere Erkenntnisse generieren.
Professionalisierung der Feststellung des Rehabilitationsbedarfs Die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs Pflegebedürftiger ist nicht allein Sache des MDK. Vielmehr sind hier insbesondere die Ärzte in der ambulanten Versorgung sowie im Krankenhaus in der Verantwortung. Für den ambulanten Bereich gelten in diesem Zusammenhang die Rehabilitations-Richtlinie und die Heilmittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Für die Verordnung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation müssen niedergelassene Ärzte, im Gegensatz zu Krankenhausärzten, eine besondere Qualifikation nachweisen. Trotz dieser seit
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dem Jahr 2004 geltenden sogenannten Qualitätsoffensive bei den Vertragsärzten ist ein deutlicher Anstieg der Rehabilitationsanträge für Pflegebedürftige bisher nicht erkennbar. Ob dies an einer, trotz der Reha-Qualifikation, mangelnden Kenntnis über die Indikationsstellung bei Pflegebedürftigen liegt oder ob die klassische medizinische Rehabilitation an den Bedürfnissen der von den Hausärzten betreuten Pflegebedürftigen vorbei geht oder welche anderen Gründe dafür vorliegen, ist unklar. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass weiterhin bestehende Informationsdefizite über den Nutzen rehabilitativer Maßnahmen bei Pflegebedürftigen einer breiteren Verordnungspraxis entgegenstehen. Wie bereits dargestellt, spielt in der Pflegebegutachtung des MDK die Qualifikation der Pflegefachkräfte im Hinblick auf die Feststellung von Rehabilitationsbedarf eine entscheidende Rolle. Auch wenn die Medizinischen Dienste hier seit Jahren entsprechende praxisorientierte Schulungsmaßnahmen durchführen, besteht in der Ausbildung der Pflegeberufe diesbezüglich Entwicklungsbedarf. Lösungsansätze hängen daher auch von Weiterentwicklungen im Selbstverständnis und der Ausbildung der Pflegeberufe ab. Für in der Begutachtung tätige Pflegefachkräfte bedeutet dies, dass sich das pflegerische Berufsbild über den hergebrachten Schwerpunkt der bestmöglichen pflegerischen Versorgung von Individuen hinaus weiter entwickeln muss. Dabei geht es vor allen darum, neben dem Individuum auch die pflegerische Versorgung von Bevölkerungsgruppen in den Blick zu nehmen. Derartige Ansätze finden sich beispielsweise in Konzepten wie dem so genannten Public Health Nursing. Zu den Aufgaben der in den USA tätigen Public Health Nurses gehören z.B. die Evaluation von Gesundheitsrisiken in definierten Populationen und die Bestimmung von Prioritäten für gezielte Interventionen [Hasseler 2006]. Übertragen auf die Pflegebegutachtung könnte sich eine derartige Ausrichtung pflegefachlicher Begutachtung in der professionellen Erkennung versorgungsrelevanter Risiken in der Bevölkerungsgruppe der Antragsteller der Pflegeversicherung hinsichtlich des Risikos der Pflegeabhängigkeit und Institutionalisierung ausdrücken. Zum Instrumentarium sollten dann auch vertiefte Kenntnisse über die regional verfügbaren präventiven und rehabilitativen Interventionsangebote zur Vermeidung des Risikos gehören.
Fazit Die wesentlichen Voraussetzungen und Einflussfaktoren hinsichtlich der Umsetzung des sozialversicherungsrechtlichen Grundsatzes Rehabilitation vor und bei Pflege lassen sich heute wie folgt zusammenfassen: – Der Anspruch pflegebedürftiger oder von Pflegebedürftigkeit bedrohter Menschen auf präventive und rehabilitative Leistungen zur Vermeidung oder Verminderung der Pflegebedürftigkeit ist geltendes Recht. Damit hat jeder, der in diesem Kontext Aufgaben in der Pflegeversicherung wahrnimmt, dieser Vorgabe im Rahmen der ihm zugewiesenen Aufgaben gerecht zu werden.
7.2 Abklärung der Indikation zu Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
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– Die Umsetzung des Grundsatzes Rehabilitation vor und bei Pflege ist bisher hinter den Erwartungen zurückgeblieben, auch wenn nicht bekannt ist, wie groß ein adäquater Erwartungswert sein sollte. Vor dem Hintergrund der prognostizierten Zunahme der Pflegebedürftigen wird die Thematik weiter an Bedeutung gewinnen. – Generell negative Einstellungen gegenüber den Rehabilitationschancen Pflegebedürftiger, die sich z.B. darin ausdrücken, dass bei der Beurteilung des Rehabilitationsbedarfs das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit oder die Diagnose einer demenziellen Erkrankung per se als Gründe für eine Ablehnung rehabilitativer Maßnahmen herangezogen werden, sind unprofessionell und widersprechen der wissenschaftlichen Datenlage. – Es besteht ausreichende wissenschaftliche Evidenz über die grundsätzliche Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung von Pflegebedürftigkeit. Forschungsbedarf besteht bezüglich einer zielgenaueren Allokation von Leistungen. – Eine zu starke Fokussierung auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation kann zu einer Vernachlässigung anderer wirksamer Angebote mit rehabilitativer Zielsetzung führen und sollte vermieden werden. – Die Qualifikation der Gesundheitsberufe für die Feststellung von Rehabilitationsbedarf bei Pflegebedürftigen sollte durch Maßnahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung verbessert werden.
7.2 Abklärung der Indikation zu Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Rahmen der Pflegebegutachtung Christel Stegemann und Barbara Gansweid Im Rahmen der Pflegebegutachtung sind Empfehlungen abzugeben zu eventuell notwendigen präventiven Leistungen, Heilmittelversorgungen und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Letztere ist eine wesentliche, unverzichtbare Komponente des medizinischen Versorgungssystems. Rehabilitation ist als komplexe interdisziplinäre Leistung abzugrenzen von Heilmitteln als Einzelleistungen der ambulanten Krankenbehandlung und von medizinischen Vorsorgeleistungen.
Prävention Im Rahmen der Prävention werden Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention unterschieden. Primärprävention zielt darauf ab, die Neuerkrankungsrate (Inzidenzrate) von Krankheiten zu senken. Sie dient der Förderung und Erhaltung der Gesundheit durch Maßnahmen, die Individuen und Personengruppen betreffen wie gesunde Ernährung, körperliche Aktivität, Impfungen gegen Infektionskrankheiten und Besei-
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tigung von Gesundheitsrisiken im umwelt- und personbezogenen Kontext. Krankheiten liegen noch nicht vor, Risikofaktoren können erkennbar sein. Sekundärprävention zielt darauf ab, die Krankenbestandsrate (Prävalenzrate) durch Verkürzung der Krankheitsdauer, d.h. durch Krankenbehandlung zu verringern. Ihr dienen Frühdiagnostik und Frühtherapie mit dem Ziel, das Fortschreiten des Krankheitsprozesses zu verhindern bzw. dessen Umkehr zu bewirken sowie die Beschwerden zu verringern. Dadurch sollen Schädigungen beseitigt bzw. verringert und Beeinträchtigungen der Aktivitäten oder Teilhabe vermieden werden. Krankheiten liegen bereits vor, Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe sind jedoch noch nicht eingetreten. Tertiärprävention ist weitgehend mit dem Begriff der Rehabilitation identisch. Hieraus ergibt sich, dass Primär- und Sekundärprävention Vorsorgeleistungen sind und demnach von rehabilitativen Leistungen abzugrenzen sind. Grundlage der sozialmedizinischen Begutachtung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ist die Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation vom Oktober 2005 mit Aktualisierungen vom Februar 2012. Medizinische Vorsorgeleistungen nach § 23 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) werden erbracht, um 1. eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen, 2. einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken, 3. Krankheiten zu verhüten oder deren Verschlimmerung zu vermeiden oder 4. Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Beispielsweise können im Rahmen von medizinischen Vorsorgeleistungen ambulante Vorsorgeleistungen in anerkannten Kurorten von den Krankenkassen erbracht werden oder auch Behandlung mit Unterkunft und Verpflegung in einer Vorsorgeeinrichtung (Vertrag nach § 111 SGB V). Wird im Kontext der Pflegebegutachtung festgestellt, dass die Pflegeperson durch die Situation stark, vielleicht sogar bis zur Überforderung, belastet ist, dass ihre Gesundheit gefährdet ist oder bereits eine Erkrankung vorliegt, sollte auch an gesundheitsfördernde Maßnahmen wie medizinische Vorsorgeleistungen gedacht, ein entsprechender Hinweis gegeben werden. In diesem Zusammenhang ist auf die Ergänzung in § 42 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) hinzuweisen, die die Möglichkeit eröffnet, bei stationären Leistungen zur medizinischen Vorsorge von häuslich Pflegenden auch die Pflegebedürftigen in der Einrichtung mit aufzunehmen.
Heilmittel Grundlage der Verordnung von Heilmitteln ist die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Ver-
7.2 Abklärung der Indikation zu Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
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sorgung (Heilmittel-Richtlinie/HeilM-RL), die in der aktuellen Fassung am 01.07.2011 in Kraft getreten ist. Demgemäß werden Heilmittel als ein Bestandteil der Krankenbehandlung untergliedert in die einzelnen Maßnahmen der physikalischen Therapie, der podologischen Therapie, der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie und der Ergotherapie. Heilmittel können nach den in der Heilmittel-Richtlinie näher definierten Voraussetzungen zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden, sie sind nur nach Maßgabe der Heilmittel-Richtlinie verordnungsfähig. Der indikationsbezogene Katalog verordnungsfähiger Heilmittel, der Bestandteil der Richtlinie ist, beschreibt die Indikationen, bei denen Heilmittel verordnungsfähig sind, die Art der verordnungsfähigen Heilmittel bei diesen Indikationen und die Menge der verordnungsfähigen Heilmittel je Diagnosegruppe sowie die Besonderheiten bei Wiederholungsverordnungen (Folgeverordnungen). Heilmittel können auch mit einer rehabilitativen Zielsetzung verordnet werden, ersetzen aber nicht das komplexe interdisziplinäre Angebot einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation.
7.2.1 Grundlagen der medizinischen Rehabilitation Das moderne Verständnis von Rehabilitation geht über das biomedizinische Krankheitsverständnis, d.h. einen an der Ätiologie, Pathogenese, Diagnose und Heilung bei kausaler Behandlung, d.h. bei Behandlung der zugrunde liegenden Ursachen orientierten Ansatz, hinaus. Rehabilitation berücksichtigt die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Gesundheitsproblemen einer Person – beschrieben in Form von Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivitäten sowie der Teilhabe – und den maßgeblichen Lebensumständen dieser Person – beschrieben als Kontextfaktoren. Ihr Ziel ist die bestmögliche Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben für die von Krankheit und deren Auswirkungen betroffenen Menschen. Dieser Rehabilitationsansatz erfordert die Anwendung von komplexen Maßnahmen auf medizinischem, pädagogischem, beruflichem und sozialem Gebiet unter Beachtung der jeweils individuellen Erfordernisse. Fortschrittlicher medizinischer Rehabilitation liegt – wie bei zeitgemäßer Pflege und der Pflegebegutachtung auch – das biopsychosoziale Krankheitsmodell der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) von Funktionsfähigkeit und Behinderung zu Grunde (s. Kap. 3.6). Danach sind Gesundheit und Krankheit als Ergebnis der Wechselwirkungen nicht nur biologischer, sondern auch psychischer und sozialer Vorgänge zu verstehen. Die Gesundheitsprobleme einer Person und deren Auswirkungen in einer konkreten Lebenssituation werden nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Behinderung der WHO (International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF) erfasst. Ihr allgemeines Ziel ist es, in einheitlicher und standardisierter Form eine Sprache und einen Rahmen zur Beschreibung von Gesundheits- und mit Gesundheit zusammenhängenden Zuständen zur Verfügung zu stellen. Sie ermöglicht eine Beschreibung
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von Krankheitsauswirkungen unter den Gesichtspunkten des Körpers (Funktion und Struktur), des Individuums (Aktivitäten) und der Gesellschaft (Teilhabe) unter Berücksichtigung von Lebensumständen und personbezogenen Merkmalen, die mit diesen Komponenten der Gesundheit in Wechselwirkung stehen (Kontextfaktoren). Mit Hilfe der ICF können verschiedene Aspekte eines Gesundheitsproblems systematisch miteinander verknüpft werden (Modell der Wechselwirkung). Damit ist die ICF für die Rehabilitation ein unverzichtbares konzeptionelles und begriffliches Bezugssystem geworden. Zu den Beeinträchtigungen der Teilhabe gehört auch die Pflegebedürftigkeit. Diese ist dabei nicht grundsätzlich als ein unveränderlicher Zustand anzusehen, sondern als ein Prozess, der möglicherweise durch aktivierende Pflege, Maßnahmen der Krankenbehandlung, Leistungen mit präventiver und rehabilitativer Zielsetzung oder durch medizinische Rehabilitation zu beeinflussen ist. Im Rahmen der Pflegebegutachtung nach SGB XI ist daher unter Würdigung der Befunde dazu Stellung zu nehmen, ob über die derzeitige Versorgungssituation hinaus präventive Maßnahmen, rehabilitative Einzelleistungen der Krankenbehandlung (physikalische Therapie, Ergotherapie, Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie, ärztliche Therapie) oder Leistungen der medizinischen Rehabilitation (ambulant oder stationär) erforderlich sind. Die Indikation zur medizinischen Rehabilitation nach § 40 SGB V ist gegeben, wenn die im weiteren Text erläuterten vier Kriterien erfüllt sind. Nach der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Rehabilitations-Richtlinie), in der aktuellen Fassung in Kraft getreten am 19.06.2009, ist Voraussetzung für die Verordnung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation das Vorliegen der medizinischen Indikation. Hierzu sind im Sinne eines vorläufigen rehabilitationsmedizinischen Assessments abzuklären: – Rehabilitationsbedürftigkeit – Rehabilitationsfähigkeit – Rehabilitationsziel(e) – Rehabilitationsprognose Rehabilitationsbedürftigkeit besteht, wenn aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Schädigung voraussichtlich nicht nur vorübergehende alltagsrelevante Beeinträchtigungen der Aktivität vorliegen, durch die in absehbarer Zeit eine Beeinträchtigung der Teilhabe droht oder Beeinträchtigungen der Teilhabe bereits eingetreten sind und über die kurative Versorgung hinaus der mehrdimensionale und interdisziplinäre Ansatz der medizinischen Rehabilitation erforderlich ist. Rehabilitationsfähigkeit liegt vor, wenn ein Versicherter aufgrund seiner somatischen und psychischen Verfassung die für die Durchführung und Mitwirkung bei der Leistung zur medizinischen Rehabilitation notwendige Belastbarkeit und Motivation oder Motivierbarkeit besitzt.
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Rehabilitationsziele bestehen darin, möglichst frühzeitig voraussichtlich nicht nur vorübergehende alltagsrelevante Beeinträchtigungen der Aktivitäten zu beseitigen, zu vermindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten oder drohende Beeinträchtigungen der Teilhabe abzuwenden, manifeste Beeinträchtigungen der Teilhabe zu beseitigen, zu vermindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten. Realistische, für den Versicherten alltagsrelevante Rehabilitationsziele leiten sich vor allem aus den Beeinträchtigungen der Aktivitäten oder der Teilhabe ab. Bei der Formulierung der Rehabilitationsziele ist der Versicherte zu beteiligen. Allgemeine Ziele der Rehabilitation können sein: – Vollständige Wiederherstellung der ursprünglichen Struktur und Funktion oder des ursprünglichen Niveaus der Aktivitäten (Restitutio ad integrum) – Größtmögliche Wiederherstellung der ursprünglichen Struktur/Funktion oder des Ausgangsniveaus der Aktivitäten (Restitutio ad optimum) – Ersatzstrategien bzw. Nutzung verbliebener Funktionen oder Aktivitäten (Kompensation) – Anpassung von Umweltbedingungen und Lebensbereichen an die bestehenden Beeinträchtigungen der Aktivitäten oder der Teilhabe (Adaptation) – Einleitung einer Anpassung und Umstellung personbezogener Faktoren, die die Beeinträchtigungen negativ beeinflussen (Umstellung von Lebensgewohnheiten, Verhaltens- und Einstellungsänderungen, positive Krankheitsverarbeitung, Selbsthilfe) – Einleitung von Maßnahmen zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Rehabilitation Aus den bei der Pflegebegutachtung festgestellten Beeinträchtigungen der Aktivitäten können im Einzelfall realistische, alltagsrelevante Rehabilitationsziele zur Verbesserung der Selbständigkeit bzw. zur Verminderung des personellen Hilfebedarfs formuliert werden, wie beispielsweise: – Erreichen der Stehfähigkeit – Erreichen des Bett-Rollstuhl-Transfers – Verbesserung der Rollstuhlfähigkeit – Erreichen des Toilettenganges/persönliche Hygiene – Selbständige Nahrungsaufnahme – Selbständiges An- und Auskleiden – Gehfähigkeit über mehrere Treppenstufen – Gehfähigkeit innerhalb und außerhalb der Wohnung – Krankheitsbewältigung oder Erlernen von Ersatzstrategien – Tagesstrukturierung Im Rahmen der Begutachtung kommt diesen Zielen eine besondere Bedeutung im Hinblick darauf zu, eine drohende Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, eine bestehende Pflegebedürftigkeit zu beseitigen oder zu mindern oder einer Verschlimmerung entgegenzuwirken. Dabei kann es sowohl um die Reduktion des Hilfebedarfs innerhalb
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der festgestellten Pflegestufe als auch um eine Verringerung des Hilfebedarfs von einer höheren zu einer niedrigeren Pflegestufe gehen. Rehabilitationsprognose ist eine medizinisch begründete Wahrscheinlichkeitsaussage für den Erfolg der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auf der Basis der Erkrankung oder Behinderung, des bisherigen Verlaufs, des Kompensationspotentials oder der Rückbildungsfähigkeit unter Beachtung und Förderung individueller Kontextfaktoren über die Erreichbarkeit eines festgelegten Rehabilitationsziels durch eine geeignete Leistung zur medizinischen Rehabilitation in einem notwendigen Zeitraum. Voraussetzung für eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation ist die Zustimmung des Versicherten. Der Rehabilitand soll durch die Rehabilitation wieder befähigt werden, gleichberechtigte Teilhabe möglichst in der Art und dem Ausmaß auszuüben, die für den persönlichen Lebenskontext dieses Menschen als typisch erachtet werden. Dies geschieht vor allem durch das Zurückdrängen alltagsrelevanter Beeinträchtigungen der Aktivitäten (Interventionsebene). Die Wünsche des Rehabilitanden sind dabei zu berücksichtigen und mit den professionellen Zielen des Rehabilitationsteams abzugleichen. Da im Rahmen der Pflegebegutachtung der Wunsch, Pflegeleistungen zu erhalten, besteht, können im Einzelfall die Motivation des Antragstellers und der Pflegepersonen negativ beeinflusst sein, wenn sie befürchten müssen, dass nach erfolgreicher Rehabilitation die Pflegestufe wieder entzogen werden könnte. Diesbezüglich ist auf die Mitwirkungspflicht der Versicherten nach § 6 SGB XI hinzuweisen. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden nach rehabilitationswissenschaftlichen Konzepten erbracht. Dabei werden die Prinzipien Komplexität, Interdisziplinarität und Individualität zugrunde gelegt. Das Konzept hat den spezifischen Anforderungen der zu behandelnden Rehabilitanden zu entsprechen. Es umfasst: 1. insbesondere die Rehabilitationsdiagnostik, die die Schädigungen der Körperfunktionen und Körperstrukturen, Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe sowie die Kontextfaktoren mit ihrem fördernden oder hemmenden Einfluss beschreibt und bewertet, 2. den Rehabilitationsplan mit Beschreibung des Rehabilitationsziels, 3. die Rehabilitationsdurchführung und ihre Überprüfung sowie 4. die Dokumentation des Rehabilitationsverlaufs und der -ergebnisse. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 40 SGB V (ambulant und stationär) werden in Rehabilitationseinrichtungen erbracht, die nach § 107 Abs. 2 SGB V fachlich-medizinisch unter ständiger ärztlicher Verantwortung und unter Mitwirkung von besonders geschultem Personal darauf eingerichtet sind, den Gesundheitszustand der Patienten nach einem ärztlichen Behandlungsplan vorwiegend durch Anwendung von Heilmitteln einschließlich Krankengymnastik, Bewegungstherapie, Sprachtherapie oder Arbeits- und Beschäftigungstherapie, ferner durch andere geeig-
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nete Hilfen, auch durch geistige und seelische Einwirkungen, zu verbessern und den Patienten bei der Entwicklung eigener Abwehr- und Heilungskräfte zu helfen. Um dem Anspruch auf Komplexität und Interdisziplinarität in der Praxis gerecht zu werden, ist ein Rehabilitationsteam erforderlich. Dieses setzt sich entsprechend den spezifischen Anforderungen aus Ärzten und nicht-ärztlichen Fachkräften wie z.B. Physiotherapeuten/Krankengymnasten, Masseuren und Medizinischen Bademeistern, Ergotherapeuten, Logopäden/Sprachtherapeuten, klinischen Psychologen, Sozialarbeitern/Sozialpädagogen, Sportlehrern/Sport-Therapeuten, Diätassistenten, Gesundheits- und Krankenpflegern und Medizintechnikern zusammen. In regelmäßigen Teamsitzungen werden die individuellen Rehabilitationsziele und -prozesse überprüft und angepasst. Vor Beginn der Rehabilitation sollten die akut-medizinische Diagnostik abgeschlossen und eine adäquate Diagnostik der Begleiterkrankungen erfolgt sein. Der Arzt in der Rehabilitationseinrichtung muss über die Ergebnisse der Voruntersuchungen informiert sein. Die Rehabilitationseinrichtung muss neben einer Basisdiagnostik auch eine indikationsspezifische Schädigungsdiagnostik vorhalten. Spezifisch ist die Durchführung der so genannten Rehabilitationsdiagnostik zur Erfassung der nicht nur vorübergehenden alltagsrelevanten Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe. Zur standardisierten Messung o. g. Beeinträchtigungen können verschiedene Assessments zum Einsatz kommen wie der Barthel-Index, die Functional Independence Measure (FIM) oder der Timed Up and Go-Test. Für jeden Rehabilitanden ist ein individueller Rehabilitationsplan zu erstellen, der die Zielsetzungen der verschiedenen Therapiebereiche mit einschließt und sich an einer langfristigen Strategie zur Bewältigung der (chronischen) Erkrankung/ des Gesundheitsproblems orientiert. Der Rehabilitationsplan muss den regionalen Gegebenheiten bezüglich der Therapieangebote Rechnung tragen. Er ist vom Arzt unter Mitwirkung der anderen Mitglieder des Rehabilitationsteams zu erstellen und im Laufe der Behandlung der aktuellen Situation anzupassen. Der Rehabilitand und ggf. seine Angehörigen/Bezugspersonen sind bei der Erstellung des Rehabilitationsplans bzw. dessen Anpassung zu beteiligen. Der Rehabilitationsplan soll auch weiterführende Maßnahmen umfassen, d.h., neben der ggf. erforderlichen Anregung von Leistungen zur Teilhabe auch die Beratung bei einer notwendigen Wohnungsumgestaltung, bei der Auswahl von Hilfsmitteln und bei der Gestaltung der häuslichen Versorgung. Darüber hinaus sollte Kontakt zu relevanten Selbsthilfegruppen vermittelt werden. Im Bedarfsfalle sind Besuche im Wohnumfeld durchzuführen. Die Pflegepersonen sind, soweit erforderlich, in die Rehabilitation einzubeziehen, ggf. ist eine regelmäßige Einbeziehung einer Bezugsperson erforderlich. Zeigt sich während der Therapie, dass bestimmte Störungen von Körperfunktionen/-strukturen nicht behandelbar sind, ist eine Verminderung bzw. Verhütung einer Verschlimmerung der Beeinträchtigungen der Aktivitäten durch Kompensation, Erwerben von neuen Kenntnissen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen anzustreben.
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7.2.2 Prüfung der Indikation zur medizinischen Rehabilitation im Rahmen der Pflegebegutachtung Im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit ist gemäß § 18 Abs. 6 SGB XI in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Indikation für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation besteht, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, eine bestehende Pflegebedürftigkeit zu beseitigen oder zu mindern oder einer Verschlimmerung entgegenzuwirken. Der pflegeversicherungsrechtliche Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ (§ 5 und § 31 SGB XI) bedarf der gesetzes- und richtlinienkonformen Bewertung im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Der gemeinsamen Verantwortung von Ärzten und Pflegefachkräften für das Gutachtenergebnis wird im MDK durch eine strukturierte Kooperation der beteiligten Gutachter Rechnung getragen. Kommt die begutachtende Pflegefachkraft auf der Grundlage der erhobenen Informationen zu der Einschätzung, dass eine Rehabilitationsindikation bestehen könnte, erfolgt die diesbezügliche Begutachtung durch einen Arzt des MDK. Dabei wird nach ärztlicher Klärung der Frage der Rehabilitationsbedürftigkeit die Frage geprüft, ob das individuelle Zustands- und Verhaltensprofil Rehabilitationsfähigkeit erkennen lässt und der bisherige Verlauf eine positive Rehabilitationsprognose wahrscheinlich macht. Erst aus einer Gesamtbetrachtung kann der ärztliche Gutachter auf der Grundlage der von der Pflegefachkraft erfassten Informationen die Rehabilitationsindikation stellen und eine Zuweisungsempfehlung abgeben. Es ist anzugeben, ob eine geriatrische oder indikationsspezifische Rehabilitation oder eine spezielle Maßnahme für Kinder und Jugendliche erforderlich ist und ob diese ambulant (ggf. mobil) oder stationär durchgeführt werden kann. Sofern erkennbar ist, dass Leistungen zur Teilhabe anderer Rehabilitationsträger erfolgreich sein könnten, ist dies zu dokumentieren. Wird keine Leistung zur medizinischen Rehabilitation eingeleitet, sind die dafür ausschlaggebenden Gründe zu benennen und ggf. andere Empfehlungen auszusprechen, z.B.: – Die aktuellen Leistungen der vertragsärztlichen Versorgung und/oder aktivierend-pflegerischen Maßnahmen erscheinen ausreichend, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu vermindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten. – Es wird empfohlen, mit dem behandelnden Arzt abzuklären, ob weitere zu benennende Maßnahmen der vertragsärztlichen Versorgung eingeleitet werden können. – Es wird empfohlen, die Pflege in Abstimmung mit den Pflegenden aktivierender auszugestalten. – Es ergeben sich zwar Hinweise für die Empfehlung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation, der Antragsteller/Betreuer möchte davon jedoch derzeit keinen Gebrauch machen.
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– Es ergeben sich zwar Hinweise für die Empfehlung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation, aktuell liegt jedoch keine ausreichende Rehabilitationsfähigkeit vor. – Die Wirkung einer abgeschlossenen Rehabilitationsmaßnahme soll abgewartet werden. – Es wird derzeit keine realistische Möglichkeit gesehen, durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu vermindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten. Die vorstehenden Feststellungen sind in einer gesonderten Rehabilitationsempfehlung gemäß den Begutachtungs-Richtlinien zu dokumentieren und zusammen mit dem Pflegegutachten an die Pflegekasse zu senden. Die Gesundheitsreform des Jahres 2007 und das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz aus dem Jahr 2008, aber auch die vorliegenden Entwürfe zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und neuen Begutachtungsassessment (s. Kap. 9) haben die Thematik aufgegriffen mit dem Ziel, Hürden für die Nutzung von Rehabilitationsmaßnahmen abzubauen und dem Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ stärker zur Durchsetzung zu verhelfen [Wingenfeld et al. 2008, Wolf/Matthesius 1998]. Im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz 2012 wurde geregelt, dass jedem Antragsteller mit der Mitteilung der Entscheidung über die Pflegebedürftigkeit auch die gesonderte Rehabilitationsempfehlung des MDK zugesendet wird. Die Pflegekasse soll gemäß § 18a SGB XI umfassend und begründet dazu Stellung nehmen, inwieweit auf der Grundlage der Empfehlung des MDK die Durchführung einer Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation angezeigt ist. Die Pflegekasse hat den Antragsteller zusätzlich darüber zu informieren, dass mit der Zuleitung einer Mitteilung über den Rehabilitationsbedarf an den zuständigen Rehabilitationsträger ein Antragsverfahren auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation entsprechend den Vorschriften des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX) ausgelöst wird, sofern der Antragssteller in dieses Verfahren einwilligt. Die Empfehlungen sind auch abzugeben, wenn der Versicherte bei der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung erklärt hat, dass er die Empfehlungen derzeit nicht aufgreifen möchte. Er erhält dadurch die Möglichkeit, sich noch einmal mit dieser Frage auseinanderzusetzen.
7.3 Besonderheiten der geriatrischen Rehabilitation Norbert Lübke Das Merkmal „geriatrisch“ lässt sich im Sinne der ICF als ein personbezogener Kontextfaktor verstehen. Dieser Faktor beschreibt den Umstand erheblich eingeschränkter Reservekapazitäten eines Menschen. Hauptursache dieser eingeschränkten Reserven sind einerseits normale, altersphysiologische Organ- und Gewebeveränderungen,
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andererseits durch Vorerkrankungen bereits bestehende Schädigungen und Beeinträchtigungen [Lübke 2009]. Hierdurch unterliegt dieser Personenkreis einem hohen Risiko, bereits durch vergleichsweise geringfügige zusätzliche Gesundheitsprobleme dauerhaft wesentliche Beeinträchtigungen bisher noch möglicher alltagsrelevanter Aktivitäten bis hin zur Pflegebedürftigkeit zu erleiden bzw. diese zu vergrößern. In der Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation wurde versucht, den Begriff des „geriatrischen Patienten oder Rehabilitanden“ noch genauer zu operationalisieren [MDS 2012c]. Als Kriterien für den „geriatrischen Patienten“ wurde dort die Kombination eines höheren Lebensalters und einer geriatrietypischen Multimorbidität festgelegt. Als höheres Lebensalter wurden in der Regel 70 Jahre festgelegt, wobei Abweichungen nach unten bei ausgeprägter geriatrietypischer Multimorbidität zulässig sind. Als Multimorbidität wird das Vorliegen verschiedener Schädigungen von Körperstrukturen oder -funktionen bei mindestens zwei behandlungsbedürftigen Erkrankungen gewertet. Als weitere Konkretisierung gilt die Geriatrietypik dieser Multimorbidität. Diese liegt nach der Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation bei Kombination eines gegenüber nicht-geriatrischen Patienten relativ hohen Risikos einer Einschränkung der Selbständigkeit im Alltag bis hin zur Pflegebedürftigkeit mit Schädigungen und Beeinträchtigungen im Sinne eines geriatrischen Syndroms vor. Als Schädigungen und Beeinträchtigungen im Sinne eines geriatrischen Syndroms werden konkret benannt: – Immobilität – Sturzneigung und Schwindel – Kognitive Defizite – Inkontinenz (Harninkontinenz, selten Stuhlinkontinenz) – Dekubitalulzera – Fehl- und Mangelernährung – Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt – Depression, Angststörung – Chronische Schmerzen – Sensibilitätsstörungen – Herabgesetzte körperliche Belastbarkeit/Gebrechlichkeit – Starke Sehbehinderung – Ausgeprägte Schwerhörigkeit Ferner werden als weitere für ein geriatrisches Syndrom relevante Sachverhalte alternativ genannt: – Mehrfachmedikation – Herabgesetzte Medikamententoleranz – Häufige Krankenhausbehandlung (Drehtüreffekt)
7.3 Besonderheiten der geriatrischen Rehabilitation
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Wenngleich fachlich auch der spezifisch geriatrische Gehalt einiger dieser Merkmale hinterfragt werden könnte, ist es das Verdienst dieser Operationalisierung, erstmals Kriterien für den Begriff „geriatrisch“ entwickelt und zwischen Kostenträgern, Medizinischen Diensten und Fachgesellschaften für die sozialmedizinische Begutachtung zumindest im Teilbereich der medizinischen Rehabilitation konsentiert zu haben. Zusammenfassend kann umso eindeutiger von einem geriatrischen Patienten ausgegangen werden, je älter, multimorbider und vielfältiger geriatrietypisch beeinträchtigt er ist. Betrachtet man die Altersstruktur sowie Art und Umfang der Beeinträchtigungen der Versicherten, die für die soziale Pflegeversicherung zu begutachten sind, so ist zum ganz überwiegenden Teil von geriatrischen Patienten auszugehen.
7.3.1 Geriatrische Rehabilitation Auch für die geriatrische Rehabilitation müssen grundsätzlich die Kriterien der Rehabilitationsbedürftigkeit, -fähigkeit, eines alltagsrelevanten Rehabilitationsziels sowie einer positiven Rehabilitationsprognose erfüllt sein. Die Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation spezifiziert diese Kriterien für die geriatrische Rehabilitation allerdings [Penz 2009]. So benennt sie als geriatrietypische Indikatoren für Rehabilitationsbedürftigkeit bspw. Einschränkungen beim Essen und Trinken, in der persönlichen Hygiene, in der Mobilität, in der Kommunikation, in der Gestaltung einer angemessenen Beschäftigung und der Gestaltung und Aufrechterhaltung der sozialen Integration. Das Vorliegen einer Pflegestufe, der Aufenthalt in einem Pflegeheim, eine amtlich bestellte Betreuung oder die Verwendung von Hilfsmitteln stellen keine Ausschlusskriterien dar, sondern belegen sogar eher die Rehabilitationsbedürftigkeit. Für die Rehabilitationsfähigkeit gelten in der Geriatrie niedrigschwelligere Einschlusskriterien als in der indikationsspezifischen Rehabilitation. Es genügen im Kern die Stabilität der Vitalparameter, die medizinische, pflegerische und therapeutische Behandelbarkeit der Erkrankungen des Patienten durch die Rehabilitationseinrichtung und eine physische und psychische Belastbarkeit des Patienten, die die mehrmals tägliche aktive Beteiligung an den Rehabilitationsmaßnahmen ermöglicht. Begleiterkrankungen und Komplikationen einschließlich kognitiver Beeinträchtigungen gelten nur insoweit als Ausschlusskriterien als sie diese aktive Teilnahme verhindern. Auch für alltagsrelevante Rehabilitationsziele enthält die Richtlinie konkrete Beispiele wie das Erreichen der Stehfähigkeit, des Bett-Rollstuhl-Transfers, der Rollstuhlfähigkeit etc. Hierbei ist zu beachten, dass bisweilen markant erscheinende Rehabilitationsziele keine Alltagsrelevanz haben können, wie z.B. das Erlernen des Treppensteigens bei einem Patienten der im Pflegeheim mit entsprechenden Fahrstühlen lebt. Andere, relativ gering erscheinende Ziele können jedoch von größter Alltagsrelevanz sein. So kann die Möglichkeit des Bett-Stuhl-Transfers mit einer statt
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zwei Hilfskräften darüber entscheiden, ob der Betroffene unter realen Versorgungsbedingungen für den Rest seines Lebens faktisch ans Bett gebunden bleibt oder nicht. Eine positive Rehabilitationsprognose gilt auch als gegeben, wenn das alltagsrelevante Rehabilitationsziel „lediglich“ durch Kompensation, also das Erlernen von Umwegstrategien bzw. den Ausbau verbliebener Teilfunktionen oder die Einleitung von Adaptationsmaßnahmen z.B. durch Hilfsmittel erreichbar scheint.
7.3.2 Sonderform: Mobile geriatrische Rehabilitation Grundsätzlich ist auch in der Geriatrie die Vorrangigkeit ambulanter vor stationären Rehabilitationsmaßnahmen zu prüfen. Im Wesentlichen setzt eine ambulante Erbringung die notwendige Mobilität des Rehabilitanden, die Erreichbarkeit der Einrichtung in einer zumutbaren Fahrtzeit sowie die Sicherstellung der notwendigen medizinischen und pflegerischen Versorgung zu Hause voraus. Ferner muss die Schädigung bzw. Beeinträchtigung mit den Mitteln der ambulanten Einrichtung adäquat behandelbar sein. Eine Sonderform der ambulanten Rehabilitation stellt die mobile geriatrische Rehabilitation dar, für die spezifische Indikationskriterien gelten. Hierunter versteht man die Erbringung der Rehabilitationsmaßnahme im gewohnten Lebensumfeld der Rehabilitanden, d.h., das Rehabilitationsteam sucht für die Therapien den Rehabilitanden auf. Sie ist nach den entsprechenden Rahmenempfehlungen der Spitzenverbände der GKV vom 01.05.2007 bisher ausschließlich für geriatrische Patienten gedacht, die in den etablierten ambulanten oder stationären Rehabilitationsstrukturen nicht rehabilitierbar sind und somit unterversorgt wären [Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen 2007]. Es handelt sich hierbei insbesondere um kognitiv beeinträchtigte Patienten, die sich in einer nicht gewohnten räumlichen und sozialen Umgebung nicht zurechtfinden und daher dort rehabilitativ nicht führbar sind. Diese Personengruppe zeichnet sich somit dadurch aus, dass für sie die notwendige Rehabilitationsfähigkeit und eine positive Rehabilitationsprognose lediglich bei Erbringung der Rehabilitationsmaßnahme im gewohnten Lebensumfeld (das im Einzelfall auch das Pflegeheim sein kann) bestehen. Des Weiteren nennen die Rahmenempfehlungen Patienten mit erheblichen Schädigungen der Sprech- und Sprach- bzw. Seh- und Hörfunktion, bei denen im häuslichen Bereich durch Anwesenheit von Angehörigen oder durch technische Hilfen etablierte Kompensations- und Adaptationsmöglichkeiten als Voraussetzung für eine positive Rehabilitationsprognose zur Verfügung stehen. Als zusätzliche Vorteile dieser Rehabilitationsform lassen sich das Training unter den konkreten Bedingungen des Lebensumfeldes und der unmittelbare Einbezug von Angehörigen oder Bezugspersonen in die notwendigen Unterstützungs- resp. Pflegemaßnahmen nennen. Limitierend kann das begrenzte Setting rehabilitativer Behandlungsmöglichkeiten durch fehlende Transportabilität mancher in der Rehabilitation zum Einsatz kommender Geräte oder Verfahren sein. Wenngleich sich der Ausbau
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mobiler Rehabilitationsangebote derzeit bundesweit noch zögerlich gestaltet, könnte dieser Sonderform der geriatrischen Rehabilitation bei der Rehabilitationsabklärung im Rahmen der Pflegebegutachtung nach SGB XI aufgrund der kognitiven Beeinträchtigungen vieler dieser Antragsteller eine besondere Bedeutung zukommen.
7.3.3 Geriatrische Rehabilitationsindikation im Rahmen der Pflegebegutachtung Über die formalen Besonderheiten geriatrischer Rehabilitation, wie sie in der Begutachtungs-Richtlinie Vorsorge und Rehabilitation ausgeführt sind, hinaus gibt es einige weitere Aspekte, die typischerweise im Hinblick auf eine Rehabilitationsempfehlung bei geriatrischen Patienten bedacht werden müssen. So entwickeln sich z.B. Schädigungen mit Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe bei dieser Patientengruppe oft schleichend und über viele Jahre. Selbst wenn ein akutes Krankheitsereignis auftritt, können nachfolgend verbliebene Beeinträchtigungen oft nicht allein diesem Ereignis zugeschrieben werden, sondern es überlagern sich häufig bereits vorbestehende und durch das Akutereignis hinzugekommene Behinderungen. Der Bezugspunkt für das im günstigsten Fall wieder erreichbare Maß an Selbständigkeit nach einer akuten Erkrankung ist bei geriatrischen Patienten oft nicht ein unbeeinträchtigter funktionaler Vorstatus, sondern ein mitunter schon jahrelang eingeschränkter Aktivitäts- und Teilhabestatus. Um die Chancen rehabilitativer Maßnahmen realistisch einschätzen zu können, sind daher in der Regel Zusatzinformationen erforderlich, welche Beeinträchtigungen in welchem Umfang seit wann bestehen. Ferner ist zu klären, welche Maßnahmen mit rehabilitativer Zielsetzung etwa als (Früh-)Rehabilitationsmaßnahme oder Heilmittelerbringung wann und mit welchem Erfolg bereits durchgeführt worden sind. Gemäß dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz von 2012 (PNG) wird im Rahmen der Pflegebegutachtung durch den MDK eine gesonderte Rehabilitationsempfehlung erstellt (s. Kap. 7.2). Diese soll konkrete und für den Antragsteller nachvollziehbare Aussagen über für ihn notwendige und empfehlenswerte Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation, aber auch über die Gründe, die gegebenenfalls einer Rehabilitationsempfehlung entgegenstehen, enthalten. Der Wunsch nach Erhalt von Pflegeleistungen oder andere Gründe können im Einzelfall die Motivation der Versicherten zu rehabilitativen Maßnahmen mindern. Hiervon sollten aber Depressionen, mit denen in dieser Patientengruppe ebenfalls in nicht unerheblichem Umfang zu rechnen ist [Fischer et al. 2002], als Ursache einer Rehabilitationsverweigerung abgegrenzt bzw. bei entsprechendem Verdacht eine Abklärung angeregt werden. Eine erste Abklärung kann auch begleitend im Rahmen einer geriatrischen Rehabilitation erfolgen, wenn die depressiven Störungen nicht so schwer sind, dass sie die aktive Teilnahme an Rehabilitationsmaßnahmen verhindern.
234
7 Rehabilitation und Pflegebedürftigkeit
7.3.4 Geriatrische Rehabilitation bei Demenz Des Weiteren ist im Rahmen einer Pflegebegutachtung gehäuft mit begleitenden kognitiven Beeinträchtigungen zu rechnen. Grundsätzlich ist auch dies in der geriatrischen Rehabilitation eher ein häufiges als ein Ausnahmephänomen. Erhebungen hierzu gehen von bis zu 40 Prozent kognitiv beeinträchtigter Rehabilitanden in geriatrischen Rehabilitationseinrichtungen aus. Hierbei stellen allerdings nahezu immer Beeinträchtigungen durch andere Gesundheitsstörungen die rehabilitationsbegründende Hauptdiagnose und die Demenz eine Nebendiagnose dar. Dennoch konnten auch für diese Gruppen deutliche Rehabilitationserfolge nachgewiesen werden, die zumindest für Patienten mit leicht- bis mittelschwerer Demenz kaum hinter denen nicht kognitiv beeinträchtigter Rehabilitanden zurückstehen [Gassmann 2007, DIMDI 2012]. Vertiefend zu diesem Aspekt sei auf den nachfolgenden Beitrag (s. Kap. 7.4) verwiesen.
7.3.5 Erfolge geriatrischer Rehabilitation Abschließend sei angemerkt, dass es entgegen vielfacher Meinung durchaus Daten für Erfolge geriatrischer Rehabilitationsmaßnahmen gibt. So konnte Nosper beispielsweise in einer Untersuchung in Rheinland-Pfalz nachweisen, dass die geriatrische Rehabilitation bei Schlaganfallpatienten nicht nur signifikante Verbesserungen in der Selbständigkeit (gemessen mit dem FIM) erzielte, sondern hierbei trotz älterer und stärker beeinträchtigter Patienten ihre Ergebnisse in kürzerer Zeit und damit effizienter erbrachte als dies in einem Vergleichskollektiv der neurologischen Rehabilitation der Fall war [Nosper et al. 2003]. Die Zwischenergebnisse einer Studie der Universität Bielefeld unter Beteiligung des MDK Westfalen-Lippe weisen darauf hin, dass der Effekt einer Rehabilitation weniger in der unmittelbaren Minderung bzw. Vermeidung einer Pflegestufe als vielmehr in einer deutlichen Verzögerung einer Erhöhung der Pflegestufe zu liegen scheint [Wingenfeld 2003a]. Die Schleswig-Holstein-Studie konnte im Rahmen einer 15-monatigen Nachbeobachtung die Nachhaltigkeit geriatrischer Behandlung gegenüber einer nicht geriatrisch behandelten Kontrollgruppe im Hinblick auf die Vermeidung von Hospitalisierung in Pflegeheimen nachweisen und hierbei auch deren erhebliche gesundheitsökonomische Kosteneffizienz trotz höherer Kosten für den initial rehabilitativen Behandlungsmehraufwand belegen [GSbG 1995]. Darüber hinaus konnte der Nutzen und die Wirksamkeit geriatrischer Interventionsprogramme auch in vielen internationalen randomisiert kontrollierten Studien nachgewiesen werden [Bachmann et al. 2010, Meier-Baumgartner et al. 2002, Stuck et al. 1993].
7.4. Rehabilitation bei Demenz
235
7.3.6 Fazit Der ganz überwiegende Teil der Antragsteller auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erfüllt die Kriterien des Merkmals „geriatrisch“. Eine ggf. bestehende Rehabilitationsindikation ist daher auch unter den niedrigschwelligeren Kriterien für eine geriatrische Rehabilitation und – insbesondere bei kognitiv eingeschränkten Patienten – unter Erbringung der Leistung im gewohnten Lebensumfeld (mobile geriatrische Rehabilitation) zu prüfen. Entscheidend bleibt aber auch für die geriatrische Rehabilitation die Frage, ob ein alltagsrelevantes Rehabilitationsziel erkennbar ist, das nur durch die Erbringung einer solchen komplexen Rehabilitationsmaßnahme in dem in der Regel hierfür zur Verfügung stehenden Zeitraum mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erreichbar erscheint. Ist ein solches Ziel allerdings erkennbar, sollte der Versicherte nach Ausschluss etwaiger sonstiger Hindernisse zu einer solchen Maßnahme motiviert und eine entsprechende Empfehlung abgegeben werden.
7.4. Rehabilitation bei Demenz Norbert Rösler und Bernhard Fleer In der gesellschaftlichen Diskussion hat das Thema Demenzerkrankungen und Pflegebedürftigkeit angesichts der demographischen Entwicklung zunehmende Relevanz. Wenngleich in der Öffentlichkeit viel über diese Krankheitsgruppe berichtet wird, bestehen weiterhin erhebliche Informationsdefizite der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen hinsichtlich Krankheitsverlauf, Behandlung, adäquatem Umgang mit den Problemen der Angehörigen und Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten. Viele pflegende Angehörige wenden sich häufig erst dann an Institutionen oder Beratungsstellen, wenn sich die Situation im häuslichen Umfeld krisenhaft zugespitzt hat und die Angehörigen an ihrer Belastbarkeitsgrenze angelangt sind. Darüber hinaus ist die Versorgungsrealität in den Pflegeheimen vielerorts zu wenig auf Menschen mit Demenz ausgerichtet, obwohl über die Hälfte der in Pflegeheimen lebenden Bewohner an einer Demenz leidet. Hinweise auf Defizite in der Versorgung von Menschen mit Demenz finden sich bezogen auf das medizinische, pflegerische und soziale Versorgungssystem. Einerseits liegen vielfältige Erkenntnisse über eine frühzeitige und angemessene Diagnostik, Differentialdiagnostik und Therapie vor, andererseits mangelt es häufig an der Umsetzung dieses Wissens in die Versorgungsrealität. Eine Verbesserung der Versorgungssituation wird daher gefordert, wobei auch Fragen zur Rehabilitation bei Demenz wachsende Bedeutung erlangen.
236
7 Rehabilitation und Pflegebedürftigkeit
7.4.1 Neuromedizinische Grundlagen Nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) ist Demenz ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störungen vieler höherer kortikaler Funktionen einschließlich Gedächtnis mit Störungen u.a. bei der Aufnahme und Wiedergabe neuerer Informationen, Auffassung, Denken, Orientierung, Lernfähigkeit, Rechnen, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewusstsein ist nicht getrübt. Die kognitiven Beeinträchtigungen werden gewöhnlich von Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation begleitet, gelegentlich treten diese auch eher auf. Die Störung muss seit mindestens sechs Monaten und nicht nur im Rahmen eines Delirs bestehen. Die Symptomatik ist so ausgeprägt, dass dadurch Alltagsaktivitäten deutlich beeinträchtigt sind. Klinisch lässt sich der kortikale vom subkortikalen Demenztyp unterscheiden. Die kortikale Demenz geht typischerweise mit Störungen der kortikalen Hirnleistungen wie deklaratives Gedächtnis, Sprache, Handeln, visuospatiale Leistungen einher. Der wichtigste Vertreter dieses Subtyps ist die Alzheimer-Krankheit. Bei der subkortikalen Demenz, die z.B. bei der subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie vorkommt, stehen Verlangsamung, Aufmerksamkeits- und Antriebsstörung im Vordergrund [Wallesch/Förstl 2005]. Es werden folgende Demenzstadien unterschieden, die fließend ineinander übergehen: leicht: mit leichten, aber messbaren Schwierigkeiten beim Lernen, gesteigerter Vergesslichkeit, Schwierigkeiten in der Organisation komplexerer Leistungen, aber erhaltener Fähigkeit, unabhängig zu leben. mittelgradig: mit schweren Defiziten des Neugedächtnisses sind die betroffenen Menschen nicht mehr imstande, weitgehend unabhängig zu leben, wobei einfache, gewohnte Leistungen immer noch erbracht werden können. schwer: mit aufgehobenem Neugedächtnis, fragmentiertem Altgedächtnis und der Unfähigkeit, auch einfache Tätigkeiten selbstverantwortlich auszuführen [Förstl 2006]. Neben dieser kognitiven Symptomatik sind nicht-kognitive Hirnfunktionsbereiche wie Affektivität, Wahrnehmung und Persönlichkeitsmerkmale betroffen. Deshalb treten häufig Angst, Aggressivität, depressive Symptome, Halluzinationen, Schlafstörungen, Unruhe und Wahninhalte auf, die sowohl eine starke Belastung für die betreuenden Angehörigen als auch eine Verschlechterung der Lebensqualität der betroffenen Menschen bedeuten. Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Ursache einer Demenz im höheren Lebensalter (über 60 %). Die neurobiologischen Korrelate der Alzheimer-Krankheit mit Amyloidablagerungen, Neurofibrillenveränderungen, immunologischen Prozessen und Beeinträchtigungen mehrerer Neurotransmittersysteme sind hochkomplex und führen über einen ausgeprägten Synapsenverlust zur Unterbrechung kortikokortikaler, limbischer und kortikosubkortikaler Verbindungen [Jellinger/Rösler 2000],
7.4. Rehabilitation bei Demenz
237
zudem lassen sich Bezüge zwischen psychosozialer Umwelt, Biographie und neuronaler Funktion beschreiben [Bauer 2002]. Der hinsichtlich seiner primären Ursache bisher letztlich ungeklärte Prozess beginnt Jahre bis Jahrzehnte vor der klinischen Manifestation der Erkrankung, wobei das Lebensalter der wichtigste Risikofaktor ist. Nach ICD-10 ist für die wahrscheinliche Diagnose einer Alzheimer-Krankheit neben der Erfüllung der allgemeinen Demenzkriterien ein schleichender Beginn der Symptomatik mit langsamer Verschlechterung, der Ausschluss von Hinweisen auf andere Ursachen des Demenzsyndroms sowie das Fehlen eines plötzlichen Beginns oder neurologischer Herdsymptome in der Frühphase der Erkrankung erforderlich. Andere Erkrankungen mit demenziellem Syndrom sind frontotemporale Demenzformen, Lewy-Körperchen-Krankheit sowie Demenz bei Parkinson-Syndrom, vaskuläre Demenzen (subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie, MultiinfarktDemenz, strategischer Hirninfarkt), infektiöse und nicht-infektiöse entzündliche Erkrankungen (Vaskulitiden, HIV-Demenz, Multiple Sklerose), nutritiv-toxisch, metabolisch oder traumatisch bedingte Demenzen. Die Erkennung so genannter sekundärer Demenzformen (etwa 10 %) ist bei meist behandelbarer Ursache sehr wichtig. Neuronale Plastizität bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, funktionelle und morphologische Modifikationen als Reaktion auf Strukturläsionen oder veränderte Umweltbedingungen zu entwickeln. Dabei wirksame Mechanismen sind u.a. Vikariation, wobei die Funktion eines geschädigten Hirnareals durch eine andere Hirnregion übernommen wird, Plastizität kortikaler Repräsentationsfelder durch Stimulation, Erfahrung und Lernen sowie synaptische Plastizität mit Steigerung der synaptischen Übertragungsstärke oder in Form der Langzeitpotenzierung als Grundlage für die Gedächtnisbildung [Nelles 2004]. Auch bei Überlegungen hinsichtlich nicht-medikamentöser Therapiekonzepte für Demenzkranke ist dabei stadienabhängig die Hypothese von Bedeutung, dass sich die Reparatur- und Regenerationsmechanismen im Gehirn durch gezielte Aktivierung, positive psychosoziale Interaktion und Stimulation anregen lassen [Stief/Schreiter-Gasser 2004], wobei es Hinweise für die Überlegenheit einer multimodalen gegenüber einer unimodalen Aktivierung gibt [Oswald 2004]. Erste experimentelle Studien beim Menschen haben zudem gezeigt, dass sich durch Aktivität oder Ernährungsumstellung eine Ausschüttung neurotropher Faktoren, eine Zunahme des Volumens der grauen Hirnsubstanz in gedächtnisrelevanten Arealen und eine verbesserte kognitive Funktion erreichen lässt [Steiner et al. 2011].
7.4.2 Sozialmedizinische Überlegungen Derzeit ist von etwa einer Million demenzkranker Menschen in Deutschland und von jährlich etwa 200 000 Neuerkrankungen auszugehen. Inzidenz und Prävalenz steigen mit zunehmendem Lebensalter steil an; so leiden unter den 65- bis 69-jährigen Menschen weniger als zwei Prozent, bei den 90-jährigen und älteren Menschen über 30 Prozent an einer Demenz. Sie ist die wichtigste Ursache für Pflegebedürftigkeit im
238
7 Rehabilitation und Pflegebedürftigkeit
Alter und der wichtigste Grund für eine Heimaufnahme; über 60 Prozent der Heimbewohner sind von einer Demenz betroffen. Die durchschnittliche Krankheitsdauer vom Beginn der klinischen Symptomatik an gerechnet wird mit 4,7 bis 8,1 Jahren für die Alzheimer-Krankheit und mit etwa einem Jahr weniger für vaskuläre Demenzen angegeben [Weyerer 2005]. Nach § 11 Abs. 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, wobei die Leistungen unter Beachtung des SGB IX erbracht werden. In § 40 SGB V wird festgelegt, dass die Krankenkasse aus medizinischen Gründen erforderliche ambulante oder stationäre Rehabilitationsleistungen erbringt, wenn bei Versicherten eine ambulante Krankenbehandlung nicht ausreicht. Nach § 18 SGB XI haben die Pflegekassen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) oder andere unabhängige Gutachter prüfen zu lassen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt; im Rahmen dieser Prüfungen sind auch Feststellungen darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind; in § 31 SGB XI wird der Vorrang der Rehabilitation vor Pflege beschrieben. Aus Sicht der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG) muss der Begriff der Rehabilitation demenzspezifisch definiert werden. Das Ziel dabei ist, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen und noch vorhandene Fähigkeiten zu stabilisieren; letztendlich soll durch eine rehabilitative Leistung eine Verzögerung des Eintritts der Pflegebedürftigkeit erreicht werden [von Lützau-Hohlbein 2004]. Demenz kann nach dem biopsychosozialen Krankheitsfolgenmodell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als ein funktioneller, interaktiver und prozesshafter Vorgang auf den Ebenen Gehirn, Persönlichkeit und Umwelt verstanden werden [Hirsch 2008]. Rehabilitative Ansätze bei Demenz lassen sich dabei als Teile eines Prozesses auffassen, der sowohl Defizite als auch Ressourcen der betroffenen Menschen berücksichtigt [Stief/Schreiter-Gasser 2004]. Rehabilitation nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) schließt dabei alle Maßnahmen ein, die darauf gerichtet sind, zu verhüten, dass eine Fähigkeitsstörung eine Beeinträchtigung verursacht sowie alle Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, das Ausmaß von Fähigkeitsstörungen oder Beeinträchtigungen zu verringern. In der Rehabilitations-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses finden sich Definitionen zu den Begriffen der Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationsprognose, die bei der sozialmedizinischen Begutachtung rehabilitativer Leistungen für demenzkranke Menschen Anwendung finden [G-BA 2004/2009]. Eine positive Rehabilitationsprognose kann beispielsweise dann
7.4. Rehabilitation bei Demenz
239
vorliegen, wenn Adaptations- oder Kompensationsmöglichkeiten oder eine alltagsrelevante Besserung der Selbsthilfefähigkeit erreichbar erscheinen. Die sozialmedizinische Indikationsstellung ergibt sich aus der zusammenfassenden individuellen Bewertung der Schädigungen sowie der resultierenden Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren) nach ICF [Leistner/Matthesius 2005].
7.4.3 Gegenwärtig diskutierte nicht-medikamentöse Therapieansätze Derzeit liegt kein nach den Maßstäben der evidenzbasierten Medizin umfassend evaluiertes Rehabilitationskonzept für Demenzkranke vor. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat in einer Nutzenbewertung (Januar 2009) Hinweise für sowohl nützliche als auch schädliche Effekte einzelner nicht-medikamentöser Strategien (Angehörigentraining, emotions-, aktivierungsorientierte, kognitive Verfahren) beschrieben, den langfristigen Nutzen der untersuchten Behandlungsstrategien als nicht belegt eingeschätzt und zusätzliche randomisierte Studien für wünschenswert erachtet [IQWiG 2009]. Vor diesem einschränkenden Hintergrund kann eine Reihe nicht-medikamentöser Therapieansätze benannt werden, die einerseits als Elemente der ambulanten Behandlung im Wohnumfeld und andererseits auch in einem rehabilitativen Kontext aktuell diskutiert werden [Stief/Schreiter-Gasser 2004, Romero 2005, Schmitt/Frölich 2007, Böhme 2008, Steiner et al. 2011]. Nach der S3-Leitlinie „Demenzen“ – herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) am 23.11.2009 – sollen etablierte diagnostische und therapeutische Verfahren einschließlich Frührehabilitationsprogrammen im Falle körperlicher Erkrankungen Demenzkranken aller Schweregrade bei entsprechender Zielformulierung nicht vorenthalten werden [DGPPN/DGN 2009]. Spezifische Behandlungsprogramme bewirken bei leicht- bis mittelgradig betroffenen Demenzkranken ähnliche bis nur mäßig geringfügigere Therapieerfolge hinsichtlich Mobilität und Selbstversorgungsfähigkeit wie bei kognitiv Gesunden (Empfehlungsgrad B, Evidenzebene IIb). Hauptziele nichtmedikamentöser Therapie bei Menschen mit einer Demenz sind: – bestmögliche Erhaltung alltagspraktischer Fähigkeiten – bestmögliche Erhaltung kognitiver Kompetenz – bestmögliche Erhaltung sozialer Kompetenz – psychisches Wohlbefinden mit bestmöglicher Reduktion neuropsychiatrischer Symptomatik – physisches Wohlbefinden Beim Konzept der kognitiven Rehabilitation werden neben individuellen kognitiven Zielen (z.B. Lernen alltagsrelevanter Personennamen) andere individuelle
240
7 Rehabilitation und Pflegebedürftigkeit
Bedürfnisse berücksichtigt. Da es keine Studie gibt, die einen anhaltenden Nutzen von Gedächtnisübungen bei Demenzkranken nachweist, werden keine vorgegebenen Trainingsprogramme verwendet, vielmehr werden kognitive und emotionale Reaktionen der betroffenen Menschen und ihres sozialen Umfeldes in holistischer Weise integrativ berücksichtigt, wobei das Üben alltagspraktischer Fähigkeiten wichtig ist, um die Selbständigkeit so lange wie möglich wie zu erhalten. Gedächtnistherapie bei leichter bis mittelgradiger Alzheimer-Demenz kann erfolgreich sein, wenn sie auf individuelle, alltagsrelevante Problembereiche zugeschnitten ist und sich auf vorhandene kognitive Ressourcen stützt [Werheid/Thöne-Otto 2006]. Zu den Zielen psychotherapeutischer Hilfen gehört es, stressgenerierende Erfahrungen (z.B. Überforderung oder interpersonelle Konflikte) zu reduzieren. Beispiele sind Gruppenpsychotherapie und kognitive bewältigungsorientierte Verhaltenstherapie zur Modifikation dysfunktionaler Kognitionen und zur Beeinflussung spezieller Verhaltensprobleme. Die Realitätsorientierungstherapie (ROT) dient der Förderung der Orientierungsfähigkeit und der sozialen Kompetenzen. Sie nutzt direkt übende Verfahren in Kombination mit allgemeiner kognitiver Stimulation und der Einführung externer Hilfen, z.B. akustischer und visueller Orientierungshilfen. Das Konzept der Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) empfiehlt individuelle Auswahl von Erinnerungen, systematische Beschäftigung mit diesen Erinnerungen ohne Trainingscharakter und Hilfen zur subjektiven Stimmigkeit der Erinnerungen. SET beinhaltet die Erwartung, dass Erfahrungen, die im Einklang mit den jeweiligen Selbst-Strukturen des betroffenen Menschen bleiben und damit diese bestätigen und stabilisieren, zum Wohlbefinden und zur Reduktion der psychopathologischen Symptome beitragen. Das in diesem Zusammenhang vorgeschlagene multimodale Gesamtprogramm umfasst darüber hinaus Schwerpunkte zur Diagnoseüberprüfung, für medikamentöse Behandlung, Entspannung, erlebnisorientierte Freizeitgestaltung, Gymnastik, Kunsttherapie, Musiktherapie, soziale Aktivitäten, Sportspiele, stützende Gespräche sowie Hilfen zur Wissensvermittlung und Entlastung der Angehörigen [Romero 2004]. Das Verfahren der Validationstherapie, das verbale und nonverbale Kommunikationstechniken beinhaltet, wird vorrangig bei Menschen mit schwerer Demenz eingesetzt. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Gültigkeit der subjektiven Welt des dementen Menschen, wodurch die interpersonelle Kommunikation erleichtert werden kann. Als weitere nicht-medikamentöse Therapieelemente werden Biographiearbeit, Ergotherapie, Ernährungsweise und körperliche Aktivität, Kunsttherapie, Logopädie, Milieutherapie, Musiktherapie, Physiotherapie, multisensorische Stimulation, Tanztherapie, therapeutischer Humor und tierunterstützte Therapie genannt. Interventionen, bei denen Hilfen für betreuende Angehörige mit Informationen über die Krankheit und die Versorgungsangebote vermittelt werden, können dazu beitragen, mit dem dementen Menschen besser zu kommunizieren und die Aufnahme
7.4. Rehabilitation bei Demenz
241
in ein Pflegeheim zu verzögern. Angehörigen-Interventionsprogramme können dabei Dysstress-Reaktionen von Angehörigen verringern, günstige Auswirkungen auf die Befindlichkeit der dementen Menschen entwickeln und eine erweiterte Inanspruchnahme ambulanter und sozialer Hilfen unterstützen [Romero et al. 2007].
7.4.4 Fazit und Perspektive Von zentraler Bedeutung bei demenziellen Erkrankungen ist neben der Nutzung präventiver Möglichkeiten die frühzeitige Diagnosestellung und Therapieeinleitung. Erforderlich ist die Koordination und Kooperation der verschiedenen Bereiche der kurativen Medizin, der medizinischen Rehabilitation und der Pflege sowie weiterer Angebote (z.B. Selbsthilfegruppen), um eine Verbesserung der Versorgungssituation von Menschen mit demenziellen Erkrankungen zu erreichen. Ein nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin umfassend evaluiertes Rehabilitationskonzept für Demenzkranke liegt bisher nicht vor, so dass an der ICF orientierte wissenschaftliche Studien zu diesem Thema erforderlich sind.
8 Besonderheiten bei der Pflegebegutachtung 8.1 Begutachtungen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) Friedrich Schwegler Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 05.03.1998 (sogenanntes Molenaar-Urteil: Rechtssache C-160/96) wurde den im EWR lebenden Anspruchsberechtigten das Recht auf Leistungen aus der deutschen sozialen Pflegeversicherung zugesprochen. Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) besteht aus den Staaten der Europäischen Union und der Europäischen Freihandelszone (Norwegen, Liechtenstein und Island sowie die Schweiz, auch wenn diese nicht als Vollmitglied, sondern mit einem Beobachterstatus1 im EWR vertreten ist). Die Pflegekassen wurden durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs verpflichtet, die Begutachtung der im EWR lebenden Anspruchsberechtigten zu organisieren. Hierzu gehören folgende Personengruppen: – Deutsche Staatsbürger, die ihren Wohnsitz im EWR außerhalb von Deutschland haben und pflegebedürftig im Sinne des SGB XI werden. – Bürger aus Staaten des EWR, die durch ihre Tätigkeit in Deutschland sozialversicherungspflichtig waren, nach Beendigung ihrer Tätigkeit wieder in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind („Arbeitsmigranten“) und dort pflegebedürftig im Sinne des SGB XI werden. – Sogenannte Grenzgänger: sie wohnen in an Deutschland angrenzenden Staaten, haben durch eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit in Deutschland Ansprüche auf Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung erworben, wenn sie pflegebedürftig im Sinne des SGB XI werden [EP 1997]. Die im Ausland lebenden Versicherten bleiben weiter Mitglied in der Geschäftsstelle ihrer Pflegekasse, die zuletzt während ihres Aufenthaltes in Deutschland für sie zuständig war. Lediglich drei Pflegekassen führen zentrale Geschäftsstellen für im Ausland lebende Versicherte: die AOK in Bonn, die DAK in Köln und die KKH in Hannover. Im Ausland lebende Versicherte stellen ihre Anträge auf Pflegeleistungen bei ihrer in Deutschland zuständigen Geschäftsstelle. Von ihr werden alle Anträge an die örtlich für diese Geschäftsstelle zuständige MDK-Dienststelle weitergeleitet. Von dort werden die Anträge an den nach den MDS/MDK-Vereinbarungen für Auslandsbegutachtungen zuständigen MDK weitergeleitet (s. Tab. 8.1 bis 8.3).
1 In einer Volksabstimmung hat die Schweizer Bevölkerung einen Beitritt zum EWR abgelehnt. Für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten gilt im EWR die Verordnung (EG) Nr. 883/04. Die Gültigkeit dieser Verordnung wird auch von der Schweiz anerkannt.
244
8 Besonderheiten bei der Pflegebegutachtung
Tab. 8.1: Begutachtungen durch MDK-Gutachter in EWR-Staaten, die an Deutschland angrenzen. Land
MDK Gutachter aus
Belgien
MDK Nordrhein MDK Rheinland-Pfalz
Dänemark
MDK Nord
Frankreich
MDK Baden-Württemberg MDK im Saarland
Luxemburg
MDK Rheinland-Pfalz
Niederlande
MDK Nordrhein MDK Westfalen-Lippe MDK Niedersachsen
Österreich, grenznahe Gebiete von Bayern und Teile von Liechtenstein
MDK Bayern
Polen
MDK Berlin-Brandenburg e.V. MDK Sachsen-Anhalt e.V. MDK Mecklenburg-Vorpommern e.V.
Schweiz
MDK Baden-Württemberg
Tschechien
MDK im Freistaat Sachsen e.V.
Tab. 8.2: Begutachtungen durch externe Vertragspartner in EWR-Staaten, die nicht an Deutschland angrenzen. Land
Externe Vertragspartner
Partner-MDK
Griechenland
Gutachter mit Wohnsitz in Griechenland
MDK Baden-Württemberg
Italien (mittlerer und südlicher Landesteil)
Gutachter mit Wohnsitz in Italien
MDK Bayern
Malta
Gutachter mit Wohnsitz in Italien
MDK Bayern
Österreich, grenzferne Gebiete von Bayern und Teile von Liechtenstein
Gutachter mit Wohnsitz in Österreich
MDK Bayern
Portugal
Gutachter mit Wohnsitz in Spanien oder Portugal
MDK Hessen
Slowenien
Gutachter mit Wohnsitz in Österreich
MDK Bayern
Spanien
Gutachter mit Wohnsitz in Spanien
MDK Hessen
Ungarn
Gutachter mit Wohnsitz in Österreich
MDK Bayern
Zypern
Gutachter mit Wohnsitz in Griechenland
MDK Baden- Württemberg
8.1 Begutachtungen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)
245
Tab. 8.3: Begutachtungen durch MDK-Gutachter in EWR-Staaten, die nicht an Deutschland angrenzen. Land
MDK-Gutachter vom
Estland
MDK Berlin-Brandenburg e.V. MDK Sachsen-Anhalt e.V. MDK Mecklenburg-Vorpommern e.V.
Finnland
MDK Niedersachsen
Großbritannien
MDK Nordrhein MDK Westfalen-Lippe
Irland
MDK Nordrhein
Island
MDK Westfalen-Lippe
Italien (nördlicher Landesteil)
MDK Bayern
Lettland
MDK Berlin-Brandenburg e.V. MDK Sachsen-Anhalt e.V. MDK Mecklenburg-Vorpommern e.V.
Litauen
MDK Berlin-Brandenburg e.V. MDK Sachsen-Anhalt e.V. MDK Mecklenburg-Vorpommern e.V.
Norwegen
MDK Nord
Schweden
MDK Berlin-Brandenburg e.V.
Slowakei
MDK im Freistaat Sachsen e.V.
Durchführung der Begutachtung In den Staaten des EWR gibt es keine Einrichtungen, die mit dem MDK in Deutschland vergleichbar wären. Um die Pflegebegutachtung in den Staaten des EWR nach den für die MDK in Deutschland verbindlichen Richtlinien sicherzustellen, wurden unter Federführung des MDS und Beteiligung der MDK folgende Vereinbarungen für Auslandsbegutachtungen getroffen. In den an Deutschland angrenzenden Ländern Belgien, Dänemark, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich (einschließlich Teile von Liechtenstein), Polen, Schweiz und Tschechien führt ein MDK eines angrenzenden Bundeslandes die Begutachtung der Antragsteller durch (s. Tab. 8.1). In nicht an Deutschland angrenzenden Ländern des EWR mit hohem Gutachtenaufkommen wie Griechenland, Italien, Portugal und Spanien werden ortsansässige beidsprachige Gutachter als Kooperationspartner durch einen dem jeweiligen Land zugeordneten Partner-MDK in Deutschland mit der Prüfung der Pflegebedürftigkeit betraut (s. Tab. 8.2). Der Kooperationspartner erstellt nach einem Hausbesuch beim Antragsteller einen sogenannten Begutach-
246
8 Besonderheiten bei der Pflegebegutachtung
tungsbericht. Auf der Basis dieses Begutachtungsberichtes wird vom zuständigen Partner-MDK ein Pflegegutachten nach § 18 SGB XI erstellt. In nicht an Deutschland angrenzenden Ländern des EWR mit niedrigem Gutachtenaufkommen wie Großbritannien, Irland, Island, den skandinavischen Ländern, den baltischen Ländern, Malta, Zypern, Slowenien, Ungarn und Slowakei werden Gutachter aus dem MDK entsandt, der nach den gemeinsamen Regelungen MDS/ MDK für eines der genannten Länder zuständig ist (s. Tab. 8.3).
Leistungen der Pflegeversicherung im EWR In den Ländern des EWR erhalten die Pflegebedürftigen nach entsprechender Einstufung Pflegegeld entsprechend den Vorgaben des § 37 SGB XI. Ein Anspruch auf Sachleistungen besteht bei im Ausland lebenden Pflegebedürftigen nicht. Dieser Sachverhalt wurde durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg im Juli 2012 bestätigt (Rechtssache C-562/10).
Anzahl der Begutachtungen und der Pflegegeldempfänger im EWR Im Jahr 2011 erfolgten insgesamt 1 885 Begutachtungen von Antragstellern, die in EWR-Staaten außerhalb von Deutschland lebten. Die Begutachtungszahlen 2011 waren nahezu unverändert wie in den Jahren 2010 und 2009. Im Jahr 2008 (mit dem bislang höchsten Auftragsvolumen) wurden zum Vergleich 2 413 Begutachtungen durchgeführt, in den Jahren zuvor lag die Anzahl der Begutachtungen deutlich niedriger. Das Gutachtenaufkommen im Jahr 2011 aus den EWR-Ländern mit den meisten Gutachtenaufträgen ist in Tabelle 8.4 zusammengefasst. In den übrigen Ländern des EWR lag die Anzahl der Gutachtenaufträge im Jahr 2011 jeweils unter 20 [MDS 2012b]. Tab. 8.4: Anzahl der Pflegebegutachtungen in Ländern des EWR in den Jahren 2008 und 2011. Land
Anzahl der Begutachtungen 2008
2011
Spanien
744
556
Österreich
614
448
Griechenland
331
241
Italien
132
101
Frankreich
118
101
Portugal
84
66
Polen
84
66
Belgien
56
65
8.1 Begutachtungen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)
Land
247
Anzahl der Begutachtungen 2008
2011
Ungarn
50
62
Niederlande
34
30
Slowenien
38
28
Tschechien
30
27
Schweiz
29
26
Die Anzahl der Pflegegeldempfänger im EWR wird statistisch nicht erfasst. Nach den Angaben im „Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland“ vom Dezember 2011 wird die Anzahl der Pflegegeldempfänger im EWR auf etwa 5 000 Leistungsempfänger geschätzt [BMG 2011].
Durchführung der Begutachtungen Die Durchführung der Begutachtungen in den Staaten des EWR ist gekennzeichnet durch stark ausgeprägte unterschiedliche landestypische Voraussetzungen. In einigen Staaten besteht ein dichtes Netz von Gesundheitseinrichtungen mit entsprechender engmaschiger ärztlicher Versorgung, während in anderen Staaten die Gesundheitseinrichtungen noch nicht flächendeckend aufgebaut sind und die ärztliche Versorgung deshalb lückenhaft ist. Dementsprechend zeigen sich auch große Unterschiede in den pflegerischen Angebotsstrukturen und in der Versorgung mit Hilfsmitteln, die sich in diesen Gutachten widerspiegeln. Durch das weite Auseinanderliegen der Wohnorte der Antragsteller, die großen zurückzulegenden Entfernungen zur Durchführung der Hausbesuche und die in Teilen anderen verwaltungstechnischen Abläufe der Pflegebegutachtungen im Europäischen Wirtschaftraum (Erläuterungen s.o.) sind die Laufzeiten bei diesen Gutachten länger als bei Begutachtungen in Deutschland. Als Schwierigkeiten bei den Begutachtungen in EWR-Staaten kommen häufig noch fehlende ärztliche/pflegerische Informationen hinzu bzw. die vorliegenden Informationen liegen in der Landessprache vor und müssen erst ins Deutsche übersetzt werden. Die bei den Pflegegutachten in Deutschland gesetzlich vorgegebene Frist von fünf Wochen vom Auftragseingang bis zur Bescheiderteilung der Pflegekasse (s. Kap. 6.5) kann bei den Begutachtungen in den EWR-Staaten nur sehr schwer erreicht werden.
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8 Besonderheiten bei der Pflegebegutachtung
8.2 Epidemiologische Aspekte zur Pflegesituation von Migrantinnen und Migranten Susanne Glodny und Yüce Yilmaz-Aslan Im Jahr 2011 lebten etwa 81,8 Millionen Menschen in Deutschland. Davon hatten rund 16,0 Millionen (19,5 %) einen Migrationshintergrund. Laut Definition des Statistischen Bundesamtes handelt es sich bei diesen Menschen um „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ [Destatis 2012]. Historisch gesehen lassen sich verschiedene Phasen der Zuwanderung feststellen. Aufgrund der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zur Unterstützung der deutschen Wirtschaft kamen vom Jahr 1955 bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 vornehmlich Arbeitsmigrantinnen und -migranten, sogenannte „Gastarbeiter“, aus den Mittelmeeranrainerstaaten, z.B. Spanien, Italien, Griechenland und der Türkei. Im Rahmen des Familiennachzugs folgten ihre Angehörigen. Aussiedlerinnen und Aussiedler sowie jüdische Zuwanderer migrierten aus der ehemaligen Sowjetunion, Polen und Rumänien nach Deutschland. Bedingt durch die politische Situation im Herkunftsland (z.B. Krieg) kommen zudem Flüchtlinge und Asylsuchende nach Deutschland. Saisonarbeiter, aber auch IT-Fachkräfte und Bildungsausländer stellen weitere Migrantengruppen dar. Die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ist folglich heterogen und umfasst viele Ethnien, unterschiedliche Kulturen wie auch verschiedene religiöse Ausrichtungen. Zudem weist sie eine andere Altersstruktur als die Gruppe der Menschen ohne Migrationshintergrund auf. Das mittlere Alter von Menschen ohne Migrationshintergrund liegt bei 46,1 Jahren. Im Vergleich dazu beträgt das Durchschnittsalter von Migrantinnen und Migranten 35,2 Jahre. Etwa 8 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund sind 65 Jahre oder älter (Menschen ohne Migrationshintergrund: 23 %). Aufgrund der demographischen Situation sowie der gesundheitlichen Belastungen im Laufe des Arbeitslebens ist davon auszugehen, dass der Pflegebedarf in der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund innerhalb der nächsten Jahre steigen wird [Razum et al. 2008].
8.2.1 Die Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten Eine Migration in ein anderes Land kann Chancen bieten, aber auch Risiken beinhalten: auf gesundheitlicher wie auch auf sozioökonomischer Ebene. Migranten, die aus Ursprungsländern mit einer schlechteren Ernährungs-, Umwelt- und Versorgungslage kommen, „importieren“ diesen Zustand in das Zielland, weisen aber häufig geringere
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Risiken (z.B. für Herz-Kreislauferkrankungen) auf. Aufgrund der Auswahl gesunder Arbeitskräfte im Herkunftsland waren die Arbeitsmigrantinnen und -migranten der ersten Generation vergleichsweise gesünder als die Bevölkerung Deutschlands. Dieser als „Healthy migrant effect“ bezeichnete Selektionsvorteil nahm aufgrund schwerer Arbeitsbedingungen mit Schicht- und Akkordarbeit in Bezug auf die Morbidität ab. Geriatrische wie auch psychische Erkrankungen, z.B. Demenzerkrankungen, manifestieren sich bei Migranten früher als bei Deutschen [Dietzel-Papakyriakou/Olbermann 2001, Razum et al. 2004, Steinhoff/Wrobel 2004]. Migranten sind häufiger in ärztlicher Behandlung, wobei vornehmlich Herz-Kreislaufbeschwerden und Rheuma angegeben wurden. Zudem sinkt die Gesundheits- und Lebenszufriedenheit älterer Migrantinnen und Migranten mit zunehmendem Alter, u.a. aufgrund von Einsamkeit und fehlender sozialer Integration. Häufig nehmen Migranten im Zielland einen niedrigeren sozialen Status ein. Dieser ist assoziiert mit schlechteren Wohn-, Arbeits- und Bildungsverhältnissen. Eine Trennung von Familienangehörigen, ggf. ein unsicherer Aufenthaltsstatus, Probleme der sprachlichen Verständigung und der kulturellen Adaption und die Nichtumsetzbarkeit ursprünglicher Rückkehrpläne führen zu weiteren Belastungen [Fabian/Straka 1993, Razum et al. 2004]. Bindungen und Beziehungen zur Heimat werden in Form der Pendelmigration aufrechterhalten. Besonders ältere Migrantinnen und Migranten sind häufiger von Altersarmut betroffen, da sie sich aufgrund kürzerer Beitragszeiten und geringerer Löhne nur eine niedrige Rente erarbeiten konnten [Razum et al. 2008]. Die Pflege pflegebedürftiger Angehöriger wird in Migrantenfamilien vornehmlich zu Hause durchgeführt. Allerdings wird die Betreuung pflegebedürftiger Familienmitglieder langfristig vor Schwierigkeiten gestellt. Eine geographische Fragmentierung, die zunehmende Zahl berufstätiger Frauen und die sinkende Zahl jüngerer Familienmitglieder führen dazu, dass die Pflegesituation erschwert wird bzw. eine adäquate Pflege nicht mehr alleine durch die Angehörigen geleistet werden kann. Allerdings werden Unterstützungsangebote, z.B. in Form von ambulanten Pflegediensten oder einer stationären Unterbringung, kaum genutzt [Korporal/Dangel 2006]. Im Folgenden wird speziell auf die Situation türkischstämmiger Migrantinnen und Migranten eingegangen. Vorbehalte, subjektive Diskriminierung, ein divergierendes Gesundheits- bzw. Pflegeverständnis und mangelnde Zeit für die Umsetzung der Pflege können auf Seiten der türkischstämmigen Pflegebedürftigen bzw. der Pflegenden ebenso vorliegen wie auf Seiten der professionell Pflegenden im Gesundheitswesen. Zudem werden türkischstämmige Pflegebedürftige und ihre Angehörigen durch Informationsdefizite, gesellschaftliche Sanktionen und Schwellenängste abgehalten, Hilfsangebote zu nutzen. Seitens der Professionellen im Gesundheitswesen kann eine fehlende Kultursensibilität den Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund erschweren und zu Missverständnissen führen [Glodny/Razum 2008].
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8.2.2 Interkulturelle Öffnung Im Rahmen der interkulturellen Öffnung soll Migrantinnen und Migranten ein gleichberechtigter Zugang zum Gesundheitssystem ermöglicht werden. Um diese Zielgruppe zu erreichen, wird von den Professionellen im Gesundheitssystem vermehrt ein „zugehender Ansatz“ statt der bisherigen „Komm-Struktur“ umgesetzt. Im Jahr 2002 hat erstmals der „Arbeitskreis Charta für kultursensible Altenpflege“ ein Memorandum für den Bereich der Altenhilfe formuliert und eine Handreichung zur kultursensiblen Altenpflege erstellt [Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenpflege 2002]. Weitere Handbücher und ähnliche Hilfen wurden im Bereich der kultursensiblen Aus-/Fort- und Weiterbildung von Pflegekräften in den Folgejahren veröffentlicht [Hielen/Tyll 2003, BMFSFJ 2005]. Zudem hat die Zahl von Pflegekräften mit Migrationshintergrund zugenommen, so dass die Pflegesituation zukünftig nicht nur für die Migrantinnen und Migranten, sondern auch mit ihnen gestaltet werden kann. Im MiMi-Projekt „Mit Migranten für Migranten“ werden z.B. Migrantinnen und Migranten zu Themen des deutschen Gesundheitssystems geschult und geben anschließend ihr Wissen als Gesundheitsmediatorinnen und -mediatoren in ihrer Muttersprache im Rahmen von Vorträgen und Schulungen weiter. In einigen größeren Städten Deutschlands gibt es bereits multikulturelle bzw. transkulturelle Pflegedienste, die sich vornehmlich um pflegebedürftige Menschen mit Migrationshintergrund kümmern. Als stationäre Einrichtung wurde 1997 das multikulturelle Seniorenheim „Haus am Sandberg“ in Duisburg gegründet und im Jahr 2006 das türkische Altenheim in Berlin „Türk Huzur“. Des Weiteren werden vereinzelt spezielle Angehörigenpflegekurse für Migrantinnen und Migranten durchgeführt, allerdings häufig in deutscher Sprache [Glodny 2008]. Im Projekt „saba“ werden pflegebedürftige und pflegende türkischstämmige Menschen über einen zugehenden Ansatz kontaktiert. Das Akronym „saba“ steht für den türkischen Ausdruck „evde sağlık ve bakım“ und bedeutet „Gesundheit und Pflege zu Hause“. Im Rahmen von Angehörigentreffen in türkischer Sprache wird über einen Informations- und Erfahrungsaustausch eine Verbesserung der häuslichen Pflege angestrebt und die Intervention anschließend evaluiert [Glodny/Razum 2008].
Fazit Trotz dieser Bemühungen sind Migrantinnen und Migranten von der Altenhilfe schwer zu erreichen und es bestehen weiterhin Barrieren, die eine Inanspruchnahme von Hilfsangeboten und -leistungen verhindern oder erschweren. Im Bereich der interkulturellen Öffnung der Altenhilfe sollten weiterhin Projekte entwickelt werden, die zu einer verbesserten Erreichbarkeit von Migrantinnen und Migranten führen und Barrieren auf Seiten der beteiligten Akteure abbauen. Eine Evaluation zur Bewertung der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit sollte sich anschließen.
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8.2.3 Migrantinnen und Migranten als Antragsteller und Leistungsempfänger im Rahmen der Pflegeversicherung Aktuell liegen kaum Zahlen zum Pflegebedarf bzw. Pflegebedürfnis von Migrantinnen und Migranten in Deutschland vor. Angaben zum Migrationshintergrund werden bisher weder für die Pflegekassen noch im Rahmen eines Begutachtungsverfahrens zur Feststellung einer Pflegebedürftigkeit erfasst. In einer Pilotstudie zum Projekt „saba“ wurden türkischstämmige Antragstellerinnen und Antragsteller unter Anwendung eines Namensalgorithmus [Razum et al. 2000, 2001] aus einem Datensatz des MDK Westfalen-Lippe – unter Einhaltung der Datenschutzbestimmungen – eruiert. Im Zeitraum vom Januar 2001 bis einschließlich August 2005 wurden insgesamt 581 616 Begutachtungen in der Region Westfalen-Lippe durchgeführt, davon 1,4 Prozent an türkischstämmigen Personen. Unterschiede zwischen türkischstämmigen und nichttürkischstämmigen Antragstellern zeigten sich u.a. im Bereich der beantragten Leistungen, in der Altersverteilung und im Anteil der Männer unter den Antragstellern. Der Männeranteil unter den Begutachtungen an türkischstämmigen Personen betrug 56 Prozent, während er bei nicht-türkischstämmigen Personen bei 34 Prozent lag. Das mittlere Alter bei Eintritt in die Pflegebedürftigkeit betrug 40,9 Jahre für türkischstämmige Personen und 76,3 Jahre für nicht-türkischstämmige Personen. Dieses lässt sich damit erklären, dass in den oberen Altersklassen kaum ältere türkischstämmige Pflegebedürftige zu finden sind und folglich der Mittelwert stark durch pflegebedürftige Kinder beeinflusst wird. Türkischstämmige Versicherte beantragten in 91 Prozent der Begutachtungen Pflegegeld. Ein Antrag auf Pflegesachleistungen oder Kombinationsleistungen wurde von sieben Prozent gestellt. Nur zwei Prozent der türkischstämmigen Personen stellten einen Antrag auf Leistungen zur vollstationären Unterbringungen. Im Gegensatz dazu beantragten die nicht-türkischstämmigen Personen in 42 Prozent der Fälle Pflegegeld, zu 29 Prozent Pflegesachleistungen und Kombinationsleistungen und zu 29 Prozent Leistungen zur stationären Unterbringung [Okken 2007]. Diese Daten bestätigen, dass die Pflege türkischstämmiger Pflegebedürftiger vornehmlich zu Hause von den Angehörigen ohne Hilfe durch professionelle Pflegedienste durchgeführt wird.
Eindrücke während der Hausbesuche im Rahmen von Pflegebegutachtungen für das Projekt „saba“ Im Rahmen des Projektes „saba“ zur Verbesserung der häuslichen Pflegesituation türkischer Migrantinnen und Migranten wurden von einer MDK-Gutachterin Pflegebegutachtungen bei dieser Personengruppe durchgeführt. Dieses geschah in Begleitung einer türkischsprachigen Mitarbeiterin, die eine Übersetzungsfunktion übernahm. Hierdurch konnten Kommunikationsprobleme zwischen Patientinnen bzw. Patienten und der Gutachterin reduziert werden. Insgesamt 29 türkische Pflegebedürf-
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tige waren zu einer Teilnahme am Projekt „saba“ bereit und wurden im häuslichen Umfeld begutachtet. Sie waren hinsichtlich ihres Alters und ihrer zugrundeliegenden Erkrankungen sehr heterogen. Die Gruppe umfasste sowohl ältere Pflegebedürftige als auch pflegebedürftige Kinder. Während der Begutachtungsbesuche wurden verschiedene Problemlagen und Zugangsbarrieren für die Inanspruchnahme von zustehenden Leistungen beobachtet und identifiziert. Diese, so wie wesentliche Eindrücke, werden im Folgenden aus Sicht der türkischsprachigen Mitarbeiterin skizziert. Unsicherheit, Sorge und Ängste. Die begutachteten Personen wie auch ihre Angehörigen zeigten während der Besuche eine unsichere und ängstliche Haltung. Obwohl ihnen schriftlich versichert worden war, dass die Pflegebegutachtung ausschließlich zu Forschungszwecken durchgeführt wird, d.h. außerhalb der regulären, rechtlich bindenden Begutachtung stattfindet und daher keinen Einfluss auf ihre aktuellen Leistungsbezüge hat, fragten sie während der Begutachtungen in ihrer Muttersprache mehrmals, ob sie negative Auswirkungen auf ihre Pflegestufe erwarten müssten. Darüber hinaus wurde die Angst geäußert, dass die pflegebedürftigen Angehörigen dem heimischen Umfeld entrissen werden könnten. Sprache. Geringe Sprachkenntnisse werden in der Literatur oft als Problem für die formelle Pflege von türkischen Migranten genannt [Zielke-Nadkarni 1999, Raven/ Huismann 2000]. Sprachbarrieren behindern manchmal die Kommunikation zwischen Gutachterinnen/Gutachtern und türkischen Migrantinnen/Migranten in der Pflegesituation. Diese Problematik wurde auch bei den Begutachtungen im Rahmen des Projekts „saba“ beobachtet, vor allem bei älteren Pflegebedürftigen und Angehörigen. Obwohl viele Personen relativ gute Deutschkenntnisse hatten, antworteten sie zum Teil auf Türkisch. Dieses begründeten sie damit, dass sie ihre Anliegen besser in ihrer Muttersprache ausdrücken könnten. Kultur. Die Äußerungen der Angehörigen zeigten, dass für sie die Pflege – in Analogie zur Literatur [Tüsün 2002] – eine selbstverständliche Aufgabe ist, die sie als gottgewollt ansehen und so lange wahrnehmen wollen, wie dies möglich ist. Fehlende Informationen. Informationsdefizite wurden während der Begutachtungsbesuche sowohl im rechtlichen als auch im fachlichen Bereich der Pflege festgestellt. Anhand der Fragen und Aussagen der Pflegebedürftigen wie auch der Pflegenden war zu erkennen, dass der allgemeine Informationsstand in Bezug auf Leistungen, z.B. über das Erstellen eines Antrages auf Geldleistungen, relativ hoch war. Obwohl manche Personen sprachliche Probleme haben oder sogar Analphabeten sind, finden sie in ihrem Netzwerk kompetente Personen, die diese Prozeduren für sie durchführen können. Informationslücken bestehen insbesondere im Wissen über den Anspruch auf Hilfsmittel. So wird der erste Schritt, d.h. die Beantragung einer Pflegestufe, meistens durchgeführt. Weitere Schritte allerdings, wie z.B. die Inanspruchnahme von Pflegekursen oder die Wahrnehmung professioneller Hilfe, unterbleiben. Dementsprechend verfügten die begutachteten türkischstämmigen Personen nicht über alle benötigten Pflegehilfsmittel.
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Pflegerische Versorgung von Pflegebedürftigen. Der Bereich der Grundpflege ist bei türkischen Migrantinnen und Migranten als gut zu bewerten. Es ist jedoch zu beachten, dass Versorgungsprobleme eher in der medizinischen Versorgung liegen, die als unzureichend beschrieben werden muss [Yilmaz 2008]. So wird besonders bei Wunden von Pflegebedürftigen oft nicht die richtige Versorgungsmethode angewandt. Die Angehörigen wissen dabei in der Regel nicht, wie sie mit dieser Problematik umgehen sollen. Dieses konnte vor allem bei älteren pflegenden Angehörigen beobachtet werden. Situation der pflegenden Angehörigen. Bei allen Hausbesuchen war festzustellen, dass die Pflege von einer weiblichen Person übernommen wird. Die anderen Familienangehörigen hatten eher eine unterstützende Rolle. Pflegende Angehörige, besonders Mütter pflegebedürftiger Kinder, übernehmen nicht nur solche Tätigkeiten, welche die pflegebedürftige Person allein nicht mehr ausüben kann. Auch Aufgaben, die von den Pflegebedürftigen selbst erledigen werden könnten, werden von den pflegenden Personen übernommen. Insgesamt war eine sehr starke emotionale Bindung zwischen den Pflegebedürftigen und den pflegenden Angehörigen zu beobachten. Die Übernahme aller Tätigkeiten durch die pflegenden Angehörigen führt bei den Pflegebedürftigen allerdings vermutlich zu einer starken Abhängigkeit. Darüber hinaus war festzustellen, dass insbesondere ältere pflegende Angehörige Unterstützung in der Pflegesituation benötigen, da sie die Pflegeaufgaben aufgrund ihres Alters nicht bzw. nicht mehr alleine bewältigen können. Belastungen der pflegenden Angehörigen. Die geschilderten Eindrücke bestätigen Ergebnisse aus der Literatur, dass die Pflege für die pflegenden Angehörigen zu körperlichen und psychischen Belastungen führen kann [Raven/Huismann 2000, Tüsün 2002, Yilmaz 2008]. Ältere pflegende Angehörige berichten, dass diese Belastungen bei ihnen zu gesundheitlichen Problemen führen. Außerdem kann angenommen werden, dass die durch die Pflegesituation bedingte permanente Vereinnahmung auf lange Sicht zur Isolation der Pflegenden führt und als psychische Belastung empfunden wird. Die Situation jüngerer pflegender Angehöriger scheint im Vergleich dazu weniger belastend zu sein. Aus den Beobachtungen ist zu schließen, dass sie die Pflege besser organisieren können und auch Unterstützung von anderen Angehörigen bekommen. Darüber hinaus nehmen Mütter von pflegebedürftigen Kindern im Vergleich zu älteren Pflegenden Betreuungsleistungen stärker in Anspruch, um Freiräume für sich zu schaffen.
8.2.4 Fazit Pflegebegutachtungen von Migrantinnen und Migranten sind häufig geprägt bzw. erschwert aufgrund von Kommunikationsschwierigkeiten. Diese betreffen Sprachbarrieren wie auch kulturelle Unterschiede. Informationsdefizite u.a. in rechtlichen wie auch in pflegerelevanten Bereichen erschweren Migrantinnen und Migranten häufig
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den Zugang zu Leistungen und Hilfsmitteln. Im Falle von geringen Deutschkenntnissen würde der Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern die Verständigung während einer Pflegebegutachtung erheblich vereinfachen und die Bildung einer Vertrauensbasis erleichtern. Ängste und Unsicherheiten könnten abgebaut und Fragen zur Pflegesituation direkt geklärt werden. Eine spezielle Qualifizierung im Bereich der interkulturellen Kommunikation unter Berücksichtigung kultureller Besonderheiten, z.B. im Bereich der Gesundheitsvorstellungen, würde es den Gutachterinnen und Gutachtern ermöglichen, sensibel auf die besondere Lebenslage der Versicherten mit Migrationshintergrund zu reagieren.
8.3 Zur Praxis der Pflegebegutachtung von Migrantinnen und Migranten Diane Hollenbach, Sylke Butenuth-Thör und Friedrich Schwegler Deutschland war über mehrere Jahrhunderte hinweg ein klassisches Auswanderungsland, wobei es auch in geringerem Umfang zu Einwanderungen nach Deutschland kam (z.B. Einbürgerung der Hugenotten oder der Salzburger Protestanten in Preußen). Ziele der Auswanderungen in den vergangenen Jahrhunderten waren neben Russland („Wolgadeutsche“) auch der gesamte osteuropäische Raum („Banater Schwaben“, „Siebenbürger Sachsen“) und Amerika, hier vor allem die Vereinigten Staaten von Nordamerika (USA), aber auch Südamerika. Die Auswanderung von Deutschen in großem Umfang in die USA dauerte noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an. Bedingt durch den raschen Wiederaufbau der Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg kam es als Folge des „Wirtschaftswunders“ zu einem Arbeitskräftemangel in Westdeutschland. Seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden deshalb in großem Umfang Arbeitskräfte aus den südeuropäischen Ländern angeworben (Italien, Spanien, Jugoslawien, Griechenland), wenig später vor allem auch aus der Türkei. Da sich Deutschland in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in seinem Selbstverständnis nicht als Einwanderungsland ansah, war es zu dieser Zeit gesellschaftlicher Konsens, dass die in den südeuropäischen Ländern und der Türkei angeworbenen Arbeitskräfte einige Jahre in Deutschland arbeiten und dann in ihre Heimat zurückkehren würden. Folge dieses Konsenses war, dass keine Bemühungen erfolgten, diese Arbeitskräfte, sogenannte „Gastarbeiter“, und deren Angehörige in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Inzwischen leben die damals angeworbenen Arbeitskräfte und ihre Angehörigen in zweiter und dritter Generation in Deutschland. Es wird heute anstatt von dem inzwischen als abwertend empfundenen Begriff „Gastarbeiter“ von Immigranten oder von Mitbürgern mit Migrationshintergrund gesprochen.
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Eine weitere Einwanderungswelle in Deutschland erfolgte Anfang der 1990er Jahre durch Flüchtlinge aus den durch Krieg gezeichneten Gebieten des zerfallenden Jugoslawien. Eine dritte große Einwanderungswelle setzte nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Verlust ihrer Machstellung in ihren Satellitenstaaten ein. Es sind etwa ab Mitte der 1990er Jahre viele Spätaussiedler aus Rumänien, Polen und den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland übergesiedelt. Ende der 1990er Jahre kam es in Deutschland zu einem Wandel in der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber den Mitbürgern mit Migrationshintergrund und es wurden erhebliche Anstrengungen zu ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft unternommen. So wurden z.B. mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die im Januar 2000 in Kraft trat, Elemente des »ius soli«, d.h. des Territorialprinzips, in das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht eingeführt. Zwischen 2000 und 2006 wurden knapp über eine Million Menschen eingebürgert. Die Personen türkischer Herkunft bildeten in diesen Jahren die größte Gruppe unter den Eingebürgerten. Im Jahr 2011 lebten in Deutschland rund 16,0 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, entweder, weil sie selbst zugewandert sind oder, weil sie in Migrantenfamilien in Deutschland aufgewachsen sind. Insgesamt haben rund 19,5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen direkten bzw. indirekten Migrationshintergrund [Destatis 2012]. Hiervon hat die Mehrheit, nämlich etwa 8,6 Millionen Menschen, einen deutschen Pass. Spätaussiedler und ihre Familien machen die größte Zuwanderergruppe aus, gefolgt von den türkischen bzw. den italienischen Migranten und deren Kindern. Das mittlere Alter von Menschen ohne Migrationshintergrund liegt in Deutschland bei 45,9 Jahren. Im Vergleich dazu beträgt das Durchschnittsalter von Migrantinnen und Migranten 35 Jahre. Etwa 8 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund sind 65 Jahre oder älter [Destatis 2011]. Der Anteil der über 65-jährigen Bevölkerung mit Migrationshintergrund zählt zu der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit sind Pflege und Migration zu einem zentralen gesellschaftlichen Thema in Deutschland geworden. Immer mehr Zuwanderer suchen in dem Kontext sich wandelnder Gesellschafts- und Familienstrukturen auch nach neuen Unterstützungskonzepten.
Kulturelle, religiöse, ethnische und sprachliche Identitäten der wichtigsten Migrationsgruppen Migranten mit islamischen Identitäten: Der Islam (wörtlich übersetzt: Unterwerfung unter Gott/völlige Hingabe an Gott) ist mit rund 1,2 bis 1,6 Milliarden Anhängern nach dem Christlichen Religionen (etwa 2,2 Milliarden Anhänger) und vor dem Hinduismus (rund 900 Millionen Anhänger) die zweitgrößte Weltreligion. Seine Anhänger bezeichnen sich im deutschsprachigen Raum als Muslime oder Moslems. Der Islam ist eine monotheistische Religion, die sich vom Polytheismus und auch von christlichen Vorstellungen wie der Dreifaltigkeit
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und der Menschwerdung Gottes abgrenzt. Bestimmendes Element ist die Lehre vom tauhad, der Einheit Gottes. Das Wort Allah, (wörtlich übersetzt: der einzige Gott) gilt in den muslimisch geprägten Ländern als das Wort für „Gott“. Die erste Quelle, auf die der Islam gründet, ist der Koran, der für die Gläubigen als das unverfälschte Wort Gottes die ranghöchste Quelle des Glaubens darstellt. Der Islam hat weit über die Religion hinaus eine prägende Kraft für die Kulturen und gesellschaftlichen/familiären Verhältnisse in den von ihm geprägten Staaten. Der Islam ist in vielen Ländern des Nahen Ostens, Nordafrikas, Zentral- und Südostasiens verbreitet. Das bevölkerungsreichste muslimische Land ist Indonesien. Muslimisch geprägte Länder in Europa sind die Türkei, Albanien, Bosnien und Herzegowina, der Kosovo und Mazedonien.
Migranten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion: Als Russlanddeutsche werden im Allgemeinen die Nachfahren deutscher Auswanderer bezeichnet, die sich während des 18. und 19. Jahrhunderts im russischen Zarenreich ansiedelten. Die Einwanderer aus Deutschland stammten meist aus eher ärmlichen Verhältnissen und wurden durch günstig erscheinende Ansiedlungsbedingungen ins russische Reich gelockt. Nachdem zunächst relativer Wohlstand bei den Deutschen in Russland herrschte, kam es im weiteren Verlauf zu erheblichen rechtlichen Beschneidungen und zur Aberkennung der zugestandenen Privilegien. Es erfolgten in großem Umfang Umsiedlungen der deutschen Bevölkerungsgruppen. Ihren Höhepunkt fanden die Verfolgungen in den stalinistischen Säuberungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. In Schnellverfahren wurden die Verhafteten entweder zum Tode verurteilt oder zu langer Strafarbeit in Arbeitslagern. Mit der Auflösung der Sowjetunion Ende des Jahres 1991 und der Bildung unabhängiger Staaten begann für die Russlanddeutschen ein neues Kapitel ihrer Geschichte. Unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Umbruchsituation und ethnisch begründeter Benachteiligungen in einigen asiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion kam es seit Ende der achtziger Jahre zu zahlenmäßig großen Umsiedlungen in die Bundesrepublik Deutschland. Aus humanitären Gründen sowie aufgrund ihres besonderen Verfolgungsschicksals wurden zwischen 1950 und 2005 mehr als 2,3 Millionen Russlanddeutsche und ihre russischen Ehepartner in der Bundesrepublik aufgenommen. In Bezug auf ihre religiöse Herkunft stellt sich folgendes Bild dar: Etwa 60 Prozent der Russlanddeutschen entstammen evangelisch-lutherischen, 20 bis 25 Prozent katholischen, 15 bis 20 Prozent mennonitischen und baptistischen Familien. Neben den Russlanddeutschen kam es seit dem Zerfall der Sowjetunion auch zu einer zahlenmäßig bedeutenden Zuwanderung von russischen Juden.
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Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien: Die Bevölkerungsstruktur des ehemaligen Jugoslawien ist ethnisch, sprachlich und religiös sehr heterogen. Aus dem ehemaligen Jugoslawien sind sieben selbständige Nachfolgestaaten entstanden. Die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien in den Jahren 1991 bis 1996 wurden mit dem Ziel geführt, durch „ethnischen Säuberungen“ Nationalstaaten mit homogener Bevölkerungsstruktur zu schaffen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. In allen Nachfolgestaaten wohnen nach wie vor neben der Hauptbevölkerungsgruppe große ethnische Minderheiten. Die sieben Nachfolgestaaten sind: Serbien: Sprache: serbisch/serbokroatisch; kyrillische Schrift; Religion: serbischorthodox Kroatien: Sprache: kroatisch/serbokroatisch; lateinische Schrift; Religion: katholisch Bosnien-Herzegowina: Sprache: bosnisch/serbokroatisch; lateinische Schrift; Religion: moslemisch Mazedonien: Sprache: mazedonisch; kyrillische Schrift; Religion: moslemisch und mazedonisch-orthodox Slowenien: Sprache: slowenisch, lateinische Schrift; Religion: katholisch Montenegro: Sprache: serbokroatisch; kyrillische Schrift; Religion: serbisch-orthodox Kosovo: Sprache: albanisch; kyrillische Schrift; Religion: moslemisch Die Immigration von Bewohnern des ehemaligen Jugoslawiens nach Deutschland erfolgte in zwei Zeiträumen. In den Jahren 1965 – 1975 waren es Wirtschaftsmigranten, sogenannte „Gastarbeiter“, die sich soziokulturell deutlich von den Bürgerkriegsflüchtlingen unterschieden, die in den Jahren 1991 – 1996 nach Deutschland flüchteten.
8.3.1 Die Lebens- und Gesundheitssituation von Migranten Zahlreiche nationale und internationale Studien stellten bereits fest, dass sich die Gesundheit von Migranten und Nicht-Migranten systematisch unterscheidet. Insgesamt betrachtet beruhen gesundheitliche Differenzen bei Migranten und Nichtmigranten auf verschiedenen Ursachen. Sie können durch „mitgebrachte“ Gesundheitsrisiken, beibehaltene Ernährungs- und Verhaltensweisen, selektive Auswahlprozesse (Healthy-Migrant-Effect) und Auswirkungen gesundheitsbelastender Lebens- und Arbeitsweisen im Herkunfts- und Zielland begründet sein. Zudem erfahren Migranten im Aufnahmeland häufig erhöhte Stressbelastungen, weil ungewohnte klimatische, soziale und kulturelle Bedingungen Anpassungsreaktionen seitens der Migranten erfordern [Hull 1979, Kasl/Berkman 1985, King/Locke 1987, Kliewer 1992, Shuval 1982]. Migrantinnen und Migranten weisen im Vergleich zur deutschen Bevölkerung zudem ein anderes Nutzungsverhalten des öffentlichen Gesundheitswesens auf. So werden z.B. häufiger Rettungsstellen statt Hausärzte aufgesucht, die dann vermehrt
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in den Abend- und Nachtstunden sowie am Wochenende in Anspruch genommen werden. Auch bestehen Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung bestimmter Gruppen von Migranten [Schenk 2007]. Auf der Angebotsseite stehen eine ethnozentrische Ausrichtung und oft fehlende interkulturelle Kompetenz des Personals der uneingeschränkten Verfügbarkeit von Gesundheitsversorgung für Migranten entgegen [Integrationsbeauftragte 2003, 2007, 2010, Schenk 2007]. Aber auch die Migranten können infolge fehlender Sprachkenntnisse, mangelnder Informationsbeschaffung und geringem Vertrauen gegenüber öffentlichen Einrichtungen die verfügbare Gesundheitsversorgung nicht vollständig nutzen. Kulturelle Unterschiede wie unterschiedliches Krankheitsverständnis oder erhöhtes Schamgefühl verstärken dies noch [Integrationsbeauftragte 2003, Integrationsbeauftragte 2007, Integrationsbeauftragte 2010, RKI 2008].
8.3.2 Migrantinnen und Migranten im System der deutschen Pflegeversicherung Im Rahmen des „Arbeitskreises Charta für eine kultursensible Altenpflege“ erschienen mehrere Veröffentlichungen, die für die verantwortlichen Akteure in der Pflege eine notwendige „interkulturelle Öffnung“ zum Ziel haben [Glodny et al. 2009]. In diesem Arbeitskreis sind Verbände, Migrantenorganisationen und Institutionen aus den Arbeitsfeldern der Altenhilfe und Migrationsarbeit zusammengeschlossen [BaricBüdel et al. 2009]. Die interkulturelle Öffnung wird als wichtig angesehen, um Pflegekräfte, aber auch beteiligte Akteure, z.B. im Begutachtungsverfahren, bei den Pflegekassen zu sensibilisieren. Stigmatisierungen und mögliche Ängste vor Fremd- und Andersartigkeit sollen so bereits im Vorfeld einer möglichen Entstehung vermieden werden [Arbeitskreis „Alt werden in der Fremde“ 2005, Kuckert 2003]. Insgesamt ist festzustellen, dass sich (bisher) nur wenige Pflegeanbieter bzw. Träger von Pflegeheimen interkulturell geöffnet haben bzw. auch Migrantinnen und Migranten als zukünftige Nachfragende sehen [BMG 2011]. Das Versorgungssystem ist auf diese Probleme bislang nicht hinreichend ausgerichtet. Um ihnen gerecht zu werden, sind – im Sinne der interkulturellen Öffnung der Pflegeversorgung – verstärkte Bemühungen zur Erleichterung des Zugangs zu Leistungsangeboten, zur Anpassung bestehender Angebote an die besonderen Belange und Bedarfssituationen von pflegebedürftigen Migranten erforderlich. So sind nur selten Infotafeln in der (türkischen) Muttersprache sowie entsprechende kulturelle, mediale und ernährungsbezogene Angebote zu sehen, die die Aufmerksamkeit der zukünftig größer werdenden Zielgruppe erreichen könnten [Baric-Büdel et al. 2009]. Die Notwendigkeit einer kultursensiblen Ausgestaltung der Altenhilfe rückt jedoch zunehmend ins öffentliche Bewusstsein [u.a. Ministerium für Arbeit und Soziales Baden-Württemberg 2009]. Konkrete Ansatzpunkte hierzu sind die Qualifizierung und Weiterbildung des Pflegeperson als zu Fragen der Migration, der Lebenssituationen und Altersbilder sowie die vermehrte Einstellung von muttersprachlichen Pflegekräften.
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Aufgrund fehlender quantitativer Erkenntnisse zu pflegebedürftigen Personen mit Migrationshintergrund wurden im Rahmen der von TNS Infratest Sozialforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) durchgeführten repräsentativen „Studie zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz“ explizit Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund in Privathaushalten, bei ambulanten Pflegediensten und in vollstationären Pflegeeinrichtungen befragt [BMG 2011, Kuhn 2010]. So haben etwa 8 Prozent der Pflegebedürftigen in Privathaushalten einen Migrationshintergrund nach der Definition des Statistischen Bundesamtes. Darunter sind insgesamt lediglich 25 Prozent mit einer ausschließlich ausländischen Staatsbürgerschaft [BMG 2011]. Bei der Eingruppierung in Pflegestufen zeigen sich Unterschiede zwischen Pflegebedürftigen mit und ohne Migrationshintergrund. So sind 54 Prozent der Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund in die Stufe I eingeordnet, während der Anteil bei Personen ohne Migrationshintergrund 59 Prozent beträgt. Dagegen ist in der Pflegestufe III der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund im Vergleich zur Personengruppe ohne Migrationshintergrund überproportional hoch (15 % zu 9 %). Es zeigt sich ebenfalls, dass der Anteil Alleinlebender bei Personen mit Migrationshintergrund (21 %) erheblich kleiner ist als bei Personen ohne Migrationshintergrund (35 %) [BMG 2011]. Es werden auch Erkenntnisse bestätigt, dass Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund in Privathaushalten mit höherer Wahrscheinlichkeit ausschließlich Pflegegeld beziehen und seltener Sach- und Kombinationsleistungen in Anspruch nehmen als Personen ohne Migrationshintergrund. Auch der Wunsch, dass die pflegebedürftige Person nicht von Fremden gepflegt werden soll, wird bei Personen mit Migrationshintergrund häufiger erwähnt als bei Personen ohne Migrationshintergrund [BMG 2011]. Insgesamt ist bei Personen mit Migrationshintergrund eine im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund größere Distanz zur Nutzung professioneller Pflege festzustellen [BMG 2011]. Bei den ambulant betreuten Pflegebedürftigen weisen insgesamt etwa sieben Prozent einen Migrationshintergrund auf. Dieser Anteil macht bei den vollstationär Versorgten rund neun Prozent aus [BMG 2011].
8.3.3 Begutachtung von Migrantinnen und Migranten im Rahmen der Pflegeversicherung Entsprechend den Vorgaben des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes und des PflegeNeuausrichtungs-Gesetzes ist den Bedürfnissen nach einer kultursensiblen Pflege und damit auch einer kultursensiblen Begutachtung Rechnung zu tragen. So unterschiedlich die kulturellen Identitäten, Religionen und auch sozioökonomischen Voraussetzungen der Migranten sind, so heterogen gestalten sich auch die einzelnen Vorstellungen und Verständnisse zum Thema Altern und Pflege. Unter bewusster Vermeidung aller stereotypen Vorurteile sind doch einige Besonderheiten bei allen Migrationsgruppen erkennbar.
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8 Besonderheiten bei der Pflegebegutachtung
In fast allen Migrationsfamilien besteht ein konservatives, häufig stark religiös geprägtes Verständnis von Familie mit patriarchalisch geprägten Strukturen. Familiär-religiösen Pflichten werden sogar Lebenskonzepte (Beruf, Karriere) untergeordnet. Vor allem ältere Migranten erwarten, dass die Familienangehörigen die Pflege übernehmen. Geschieht dies nicht, wird es als Pflichtverletzung angesehen und es entsteht ein hoher innerfamiliärer Druck. Hieraus können chronische Überforderungen der Pflegepersonen resultieren. Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund haben ein mehr traditionelles Verständnis der eigenen Körperlichkeit mit einem ausgeprägten Schamgefühl. Teile des Körpers, insbesondere des Genitalbereiches, bei einer Begutachtung zu zeigen, ist mit großem Unbehagen verbunden, insbesondere, wenn es sich um einen gegengeschlechtlichen Gutachter handelt. Zu diesem Bereich gehört auch das Unbehagen, über körperliche Ausscheidungen bzw. deren Funktionsstörungen zu sprechen. Viele Migranten haben ein kulturell anderes Gesundheits- und Krankheitsverständnis. Das führt dazu, dass z.B. Demenzerkrankungen, aber auch psychische Erkrankungen ein Tabuthema sind, über das nicht oder nur mit Unbehagen gesprochen wird. Oftmals besteht bei Migranten als Folge mangelnder Kenntnisse des deutschen Gesundheitssystems oder auf Grund historischer Erfahrungen ein Misstrauen gegenüber den Gutachtern als „Behördenvertreter“ oder „Vertreter von staatlichen Organisationen“. Das herausragendste Problem in der Pflegebegutachtung von Menschen mit Migrationshintergrund ist die auf Grund fehlender Sprachkenntnisse oft nur mangelhaft mögliche Kommunikation zwischen Migranten und Gutachtern. Dies belastet die Begutachtungssituation und verhindert möglicherweise den Aufbau von gegenseitigem Verständnis und Vertrauen.
Hieraus folgt für die Begutachtungen: – Bei der Begutachtung von Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund ist es in besonderem Maße wichtig, eine gemeinsame sprachliche Basis zu finden. Die Kommunikation muss an die Sprachkenntnisse und den Informationsstand der Pflegebedürftigen angepasst werden. Lässt sich keine gemeinsame sprachliche Basis finden, ist eine Übersetzung über einen Familienangehörigen oder eine andere Vertrauensperson anzustreben. Ist eine solche Möglichkeit nicht gegeben, muss gegebenenfalls eine erneute Begutachtung mit einem Berufsdolmetscher vereinbart werden. Eine gemeinsame sprachliche Basis ist auch deshalb besonders wichtig, um gegenseitiges Vertrauen in der Begutachtungssituation aufzubauen. – Bei unbekannten, vielleicht befremdlich wirkenden Gewohnheiten von Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund sollte kein Unverständnis gegenüber dem Antragsteller gezeigt werden.
8.4 Die Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern
261
– Ein vorsichtiges Herangehen an das Tabuthema körperliche Ausscheidungen ist notwendig. – Ein vorsichtiges Nachfragen in Bezug auf demenzielle Veränderungen oder psychische Erkrankungen ist notwendig, gegebenenfalls sollte hier eine Einbeziehung der Angehörigen oder einer anderen Vertrauensperson erfolgen. – Auch in sensiblen Bereichen muss ein vorsichtiges, aber beharrliches Nachfragen nach notwendigem Hilfebedarf erfolgen. – Es ist auf Wunsch sicherzustellen, dass Pflegebedürftige von gleichgeschlechtlichen Gutachtern besucht werden.
8.4 Die Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern Cornelia Michalke und Wolfgang Seger Patientensicherheit und Fehlermanagement sind im Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenkende Themen. Patientensicherheit wird definiert als die „Abwesenheit unerwünschter Ereignisse“. Ein unerwünschtes Ereignis wird definiert als „ein schädliches Vorkommnis, das eher auf der Behandlung denn auf der Erkrankung beruht. Es kann vermeidbar oder unvermeidbar sein.“ Ein Fehler wird definiert als „eine Handlung oder ein Unterlassen, bei dem eine Abweichung vom Plan, ein falscher Plan oder kein Plan vorliegt. Ob daraus ein Schaden entsteht, ist für die Definition des Fehlers irrelevant“ [Jonitz et al. 2010]. In Abgrenzung zum ärztlichen Behandlungsfehler wird unter einem Pflegefehler ein Fehler aus dem Verantwortungsbereich der Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege verstanden. Pflegefehler in der sog. Grundpflege werden als Verstöße gegen pflegerische Standards und Leitlinien, Pflegefehler in der sogenannten Behandlungspflege als Verstöße gegen ärztliche Anordnungen bzw. deren unsachgemäße Ausführung definiert. In einer Anfang 2012 durchgeführten Studie (Pflege-Thermometer) wurden insgesamt 535 leitende Intensivpflegende aus Krankenhäusern der gesamten Bundesrepublik befragt. Unter anderem wurde nach beobachteten Mängeln in der Patientenversorgung gefragt. Folgende Mängel wurden nach Aussage der befragten Leitungen innerhalb der letzten sieben Arbeitstage „selten“, „häufiger“ oder „oft“ beobachtet: – Mängel bei der Händehygiene – Mängel bei Desinfektionsmaßnahmen – Mängel bei Verbandswechseln – Folgenloser Medikationsfehler – Mängel bei der Ganzkörperpflege – Mängel bei der Mundpflege – Mängel bei der Unterstützung der Nahrungsaufnahme – Medikationsfehler mit Folgen
262
– – – – – – –
8 Besonderheiten bei der Pflegebegutachtung
Vermeidbare freiheitseinschränkende Maßnahmen Mängel bei der Überwachung desorientierter Patienten Mängel bei der Tubuspflege Mängel bei der zeitnahen Reaktion auf Alarm bei… Mängel bei der emotionalen Begleitung Mobilisationsmängel Mängel bei Patientenlagerungen
Nur etwa jede fünfte Leitung schätzte die Schichtbesetzungen so ein, dass eine Sicherheit der Patienten zu jedem Zeitpunkt gegeben war. Die Forderung nach der Umsetzung nationaler und internationaler Betreuungsquoten wurde durch die Ergebnisse der Studie unterstützt [Isfort et al. 2012]. In einer vom Zentrum für Pflegeforschung und Beratung der Hochschule Bremen durchgeführten Studie wurden aus einer Liste mit 21 potenziellen Fehlerursachen hoher Arbeitsanfall, Personalmangel und Überarbeitung am häufigsten ausgewählt [Habermann/Cramer 2010]. Dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) werden Pflegemängel und durch Pflegemängel oder -fehler verursachte Gesundheitsschäden hingegen erst bekannt, wenn ein Vorwurf erhoben wurde. Diese Gesundheitsschäden sind nur die „Spitze des Eisbergs“. Ebenso wie in der Medizin bleiben unbeleuchtet [SVR 2003]: – vom Versicherten vermutete, aber nicht verfolgte Schäden – von Experten erkennbare körperliche, psychische oder soziale Schäden – nicht erkannte körperliche Schäden – nicht erkannte psychische oder soziale Schäden Die haftungsrechtliche Relevanz von Standards und Leitlinien ist umstritten. Dennoch bilden sie selbst bei noch fehlender Evidenz den jeweils aktuellen Wissensbestand einer Disziplin, somit einen Sorgfaltsmaßstab ab. Wann immer also von diesem Sorgfaltsmaßstab abgewichen wird, ist eine fachgerechte Begründung erforderlich. Da ein Fehler-/Sorgfaltsmangelvorwurf immer nur retrospektiv anhand der Dokumentation beurteilt werden kann, ist es notwendig, diese Abweichungen nachvollziehbar zu dokumentieren.
8.4.1 Begutachtungsverfahren und Gutachten Ein Vorwurf kann gemäß § 116 SGB X von der Kranken-/Pflegekasse und gemäß § 115 Abs. 3 S. 7 SGB XI vom Versicherten bzw. Bevollmächtigten erhoben werden. Nach § 116 SGB X gehen bei drittverursachten Gesundheitsschäden die Ansprüche der geschädigten Versicherten gegenüber den Verursachern auf die Krankenkassen über, wenn von ihnen aufgrund des Schadens Leistungen erbracht werden. Gemäß § 66 SGB V und § 115 Abs. 3 S. 7 SGB XI besteht für die Kranken- und Pflegekassen
8.4 Die Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern
263
die Möglichkeit, ihre Versicherten bei der Verfolgung der Schadenersatzansprüche zu unterstützen. Das Verfahren der Begutachtung bei vermeintlichen Pflegefehlern ist mit dem Verfahren der Begutachtung bei vermeintlichen Behandlungsfehlern identisch (s. Abb. 8.1). Es wurde im Leitfaden für die Zusammenarbeit zwischen den Kranken-/ Pflegekassen und MDK bei drittverursachten Gesundheitsschäden, insbesondere bei Behandlungs- und Pflegefehlern geregelt [MDS 2009]. Pflegefehlervorwurf seitens des Versicherten bzw. der Kranken- / Pflegekasse
Kranken- / Pflegekasse beschafft: – Schweigepflichtentbindungserklärung – Herausgabegenehmigung – Krankenakten / Dokumentation ambulant / stationär Vorklärung SFB Weiterverfolgung sinnvoll: weitere Unterlagen beschaffen Geschäftsbereich Behandlungsfehler Weiterleitung an spezielle Ärzte / Pflegekräfte Erstellung eines Gutachtens – Gegenlesen (andere Profession) Gutachten an auftraggebende Kasse
Gutachtenkopie z. Kts. an Geschäftsbereich Behandlungsfehler
Abb. 8.1: Flussdiagramm zum Verfahren der Begutachtung bei vermeintlichen Pflegefehlern.
Für die Beschaffung der Unterlagen sind die Kranken- und Pflegekassen zuständig. Zu den erforderlichen Unterlagen zählen: – Schweigepflichtentbindungserklärung und Herausgabegenehmigung – Stellungnahme des Versicherten/Betreuers zum Vorwurf und Verlauf – Gezielte Fragestellung nach Art des Pflegefehlers – Fallbezogene Dokumentation der Einrichtung in Kopie – Bestätigung der Einrichtung über Vollständigkeit der Unterlagen
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8 Besonderheiten bei der Pflegebegutachtung
Der Vorwurf wird in einer eigens eingerichteten MedJur-Fallberatung vorgeprüft. Sie erfolgt gemeinsam mit einem in der Behandlungs- und Pflegefehlerbegutachtung erfahrenen Gutachter und einem besonders geschulten Kassenmitarbeiter. Stellt sich heraus, dass der Vorwurf unbegründet ist oder kein Gesundheitsschaden vorliegt, wird der Vorgang abgeschlossen. Pflegefehler liegen beispielsweise nicht vor, wenn Mobilisierung oder Lagerung trotz Information und Motivation abgelehnt wurden, der Dekubitus auf krankheitsbedingt massiven Durchblutungsstörungen beruht oder eine stationäre Behandlung von Erbrechen und Durchfall nach ärztlicher Konsultation erfolgte. Ergeben sich allerdings aus den Unterlagen Verdachtsmomente auf mögliche Sorgfaltsmängel, wird ein Gutachtenauftrag erteilt. Zu den grundsätzlichen Fragen eines Begutachtungsauftrages zählen: 1. Liegt ein Gesundheitsschaden vor? 2. Liegt ein Sorgfaltsmangel/Pflegefehler vor? 3. Besteht zwischen Gesundheitsschaden und Sorgfaltsmangel/ Pflegefehler ein kausaler Zusammenhang? 4. Welches sind die Schadensfolgen? Auch der Aufbau eines Gutachtens ist im Leitfaden zur Begutachtung vermeintlicher Behandlungs- und Pflegefehler geregelt: – Benennung des Gutachtenauftrags. Dieser beinhaltet die von der Kasse gestellten Fragen – Beschreibung der zur Begutachtung vorliegenden Unterlagen – Darstellung des Sachverhalts: – Aus Sicht des Versicherten (unkommentierte Wiedergabe des Vorwurfs) – Nach Aktenlage (vorliegende Dokumentation) – Auf der Basis ggf. vorliegender Fremdgutachten – Beurteilung des Gutachters: kritische Würdigung des Sachverhalts – Zusammenfassung und Beantwortung der gestellten Fragen – Literaturverzeichnis Aufgabe des Gutachters ist es, Dritte in den Stand zu versetzen, die Tatsachen und Zusammenhänge verstehen zu können. Eine rechtliche Bewertung ist zu vermeiden. Zur Begutachtung vermeintlicher Pflegefehler wurden von einzelnen Medizinischen Diensten Arbeitshilfen entwickelt. Aspekte der Beurteilung sind zum einen die nachvollziehbare Dokumentation des Problemlösungsprozesses (Pflegeprozess), zum anderen die Beurteilung, ob der zum Zeitpunkt des Vorfalls gültige Sorgfaltsmaßstab eingehalten wurde. Die Beurteilung hat immer „ex ante“ zu erfolgen, d.h., der Gutachter „darf im Nachhinein nicht wissender sein wollen, als er selbst tatsächlich in der damaligen Situation unter den gegebenen Umständen gewesen wäre“ [MDS 2009]. Standards, Leitlinien, Qualitätsniveaus und Grundsatzstellungnahmen aktuelleren Datums können somit nicht zur Beurteilung älterer Fälle herangezogen werden. Nicht selten werden Gesundheitsschäden interdisziplinär verursacht. Um
8.4 Die Begutachtung bei vermuteten Pflegefehlern
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sicherzustellen, dass alle pflegerisch und medizinisch relevanten Aspekte sach- und fachgerecht beurteilt werden, wird ein Gutachten grundsätzlich von der zweiten Profession gegengelesen.
8.4.2 Begutachtungsergebnisse des MDK Niedersachsen 2010–2011 Im Jahre 2008 beschloss die MDK-Gemeinschaft, eine einheitliche Datenbank aufzubauen. Bei der Datenerfassung werden folgende Fehlerarten unterschieden: – Diagnosestellung – Diagnostische Eingriffe – Therapeutische Eingriffe – Therapiemanagement – Aufklärung – Pflegerische Maßnahmen – Organisationsmangel – Dokumentationsmangel – Medizinproduktemangel In dem Zeitraum von 2010–2011 wurden insgesamt 320 Aufträge abgeschlossen, in denen sich der Vorwurf gegen pflegerische Maßnahmen richtete. Der Dekubitus ist die herausragende Vorwurfsdiagnose. Alle weiteren Vorwürfe werden in der Datenbank als „sonstige Pflegefehler“ erfasst. Hierzu zählen z.B. Sturzfolgen und Ernährungsmängel. In 192 Fällen konnte kein Pflegefehler festgestellt werden, in 40 Fällen wurde ein Pflegefehler ohne Schaden, in 46 Fällen ein Pflegefehler mit Schaden festgestellt und die Kausalität bestätigt. In 15 Fällen war keine Entscheidung möglich und in 27 Fällen wurden weitere Ermittlungen empfohlen (s. Tab. 8.5). Aufgrund von anfänglichen Änderungen der Erhebungssystematik kann eine detailliertere Analyse der Vorwürfe erst ab 2012 erfolgen. Tab. 8.5: Ergebnisse der Begutachtungen zu Pflegefehlern. Auftragszahlen der Jahre 2010–2011 beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Niedersachsen (n = 320). Ergebnis
n
Prozent
Pflegefehler mit Schaden
46
14
Pflegefehler ohne Schaden
40
13
Kein Pflegefehler
192
60
Keine Entscheidung möglich
15
5
Weitere Ermittlungen
27
8
Gesamt
320
100
9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments 9.1 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeits begriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens Matthias von Schwanenflügel und Christian Berringer Der Begriff der Pflegebedürftigkeit im SGB XI und das darauf basierende Begutachtungsverfahren werden bereits seit Einführung der Pflegeversicherung kritisch diskutiert. Pflegebedürftigkeit sei, so der Kern der Kritik, im SGB XI zu eng, zu verrichtungsbezogen und zu einseitig somatisch definiert. Dadurch würden wesentliche Aspekte, wie beispielsweise die Kommunikation und soziale Teilhabe, ausgeblendet und der Bedarf an allgemeiner Betreuung, Beaufsichtigung und Anleitung bei Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz zu wenig berücksichtigt. Diese Ausgrenzung anderer Problem- und Bedarfslagen führe insbesondere dazu, dass die wachsende Zahl Hilfebedürftiger mit demenziellen Erkrankungen oder anders verursachten Einschränkungen der Alltagskompetenz keine adäquate Unterstützung durch Leistungen der Pflegeversicherung erhalte. Vielmehr verursache der im SGB XI derzeit geltende Pflegebedürftigkeitsbegriff (§ 14 SGB XI) erhebliche Defizite bei der Versorgung dieser Personengruppe. Auch die Ermittlung des Pflegebedarfs bei Kindern gilt noch immer als unbefriedigend. Vor diesem Hintergrund wurde im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 festgelegt, dass mittelfristig eine Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorbereitet werden soll.1 Erste Maßnahmen wurden durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG), das zum 01.07.2008 in Kraft getreten ist, auf den Weg gebracht: So wurden die Leistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz auf bis zu 100 bzw. 200 Euro im Monat erhöht (§ 45b SGB XI). Leistungsberechtigt sind seitdem auch Personen, die zwar eine verminderte Alltagskompetenz aufweisen und einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung, aber nicht im Ausmaß der Pflegestufe I (§ 45a Abs. 1 SGB XI). Ferner wurde geregelt, dass die Prüfung der Pflegebedürftigkeit von Kindern in der Regel durch Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder durch Kinderärzte vorzunehmen ist. Die Komplexität der Überarbeitung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erlaubte es aber nicht, bereits im Rahmen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes einen neuen Begriff zu etablieren. Über die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs kann nur auf einer pflegewissenschaftlich fundierten Grundlage entschieden werden. Vor diesem Hinter-
1 Koalitionsvertrag vom 11.11.2005, Zeile 4519.
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9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
grund hatte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) einen Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des Begutachtungsverfahrens einberufen, der am 13.11.2006 konstituiert wurde. Auftrag des Beirats ist es, als Grundlage einer zukünftigen politischen Entscheidung über eine Änderung des geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des damit verbundenen Begutachtungsverfahrens konkrete und wissenschaftlich fundierte Vorschläge und Handlungsoptionen zu erarbeiten. Dabei ist auch die Frage zu klären, wie sich Änderungen finanziell auf die Pflegeversicherung und andere Sozialleistungsbereiche auswirken. Der Beirat wurde gebeten, bis Ende 2008 seine Vorschläge dem Bundesministerium für Gesundheit zu unterbreiten. Vorsitzender des Beirats war am Anfang Wilhelm Schmidt (Präsident des Deutschen Vereins2) und ab dem 29.04.2008 Dr. Jürgen Gohde (Vorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe). Mitglieder im Beirat sind Vertreter der Betroffenenverbände, Vertreter der Leistungs- und Kostenträger, der Leistungserbringerverbände, Wissenschaftler, Vertreter der Länder sowie Vertreter von Bundesministerien. Der Beirat hat auf Vorschlag des Vorsitzenden ein Präsidium gebildet. Des Weiteren wurde eine Arbeitsgruppe zur Erarbeitung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs unter Leitung von Prof. Dr. jur. Peter Udsching (Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht – BSG) eingerichtet. Die Arbeit des Beirats wurde unterstützt durch die im Rahmen von Modellvorhaben nach § 8 Abs. 3 SGB XI erarbeiteten pflegewissenschaftlichen Studien zu einem neuen Begutachtungsinstrument. Die jeweiligen Projektnehmer wurden in öffentlichen Ausschreibungsverfahren ermittelt. Die Erarbeitung dieser Studien wurde von einem Steuerungskreis unter Federführung des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen begleitet. Der erste Diskussions- und Erkenntnisschritt war die Erörterung des Berichtes „Recherche und Analyse von Pflegebedürftigkeitsbegriffen und Einschätzungsinstrumenten“ des Instituts für Pflegewissenschaften der Universität Bielefeld, vorgelegt am 28.02.2007. Ausgehend von den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Recherche sowie Analyse und Bewertung von Begutachtungs- bzw. Einschätzungsinstrumenten und Pflegebedürftigkeitsbegriffen auf nationaler und internationaler Ebene wurden Hinweise für die Neufassung eines Pflegebedürftigkeitsbegriffs entwickelt, sowie die Frage, welche Instrumente oder welche Instrumentenkombinationen einen zielführenden Beitrag zur Entwicklung eines neuen Begutachtungsinstruments leisten können, ergebnisorientiert dargestellt. Darüber hinaus werden inhaltliche und methodische Anforderungen benannt, die bei der Entwicklung eines neuen Begutachtungsinstruments beachtet werden sollten. Auf der Grundlage dieser Studie hat sich der Beirat auf seiner Sitzung am 20.03.2007 entschieden, ein neues Begutachtungsinstrument zu entwickeln und zu erproben. Die Analyse und der Vergleich der bestehenden Begutachtungsverfahren
2 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. – DV.
9.1 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
269
haben gezeigt, dass keines dieser Verfahren in seiner derzeitigen Fassung geeignet ist, um einem weitgefassten Pflegebedürftigkeitsbegriff gerecht zu werden. Auf der Grundlage dieser Entscheidung wurden durch den Beirat Leitfragen für die Ausschreibung der Entwicklung und Erprobung eines neuen, modulhaft zu gestaltenden Begutachtungsinstruments formuliert. Die Erarbeitung des neuen Begutachtungsinstruments (Hauptphase 1) sowie dessen praktische Erprobung (Hauptphase 2) wurden europaweit ausgeschrieben und der Auftrag erging dann im Juli 2007 an das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld (IPW), den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (MDK WL), den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) und das Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen (IPP), die als Arbeitsgemeinschaft ein gemeinsames Angebot zu dieser Ausschreibung unterbreitet hatten. Zur Durchführung des Auftrages hat die Arbeitsgemeinschaft folgende Aufgabenverteilung vereinbart: die Erarbeitung des neuen Begutachtungsinstruments erfolgte gemeinsam durch das Institut für Pflegewissenschaft und den MDK Westfalen-Lippe, dessen praktische Erprobung (Hauptphase 2) wurde durch das Institut für Public Health und Pflegeforschung und den MDS durchgeführt. Der Beirat hat den Abschlussbericht der Hauptphase 1 am 07.03.2008 ohne wesentliche Änderungen entgegengenommen. Das neue Begutachtungsinstrument beruht auf einer umfassenden Berücksichtigung von Pflegebedürftigkeit. Im Unterschied zum jetzigen Begutachtungsverfahren ist der Maßstab zur Einschätzung von Pflegebedürftigkeit nicht die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten oder der Gestaltung von Lebensbereichen. Das neue Begutachtungsinstrument umfasst acht Module. Neben diesen Modulen umfasst die Begutachtung auch Fragen zu besonderen pflegerischen Bedarfskonstellationen, zur Einschätzung des Rehabilitationsbedarfs und zu präventionsrelevanten Risiken. Der Entwurf des Begutachtungsinstruments unterscheidet fünf Abstufungen (Bedarfsgrade). Am 01.03.2008 begann die Hauptphase 2 des Gesamtprojektes. In dieser Phase sollten Eignung und mögliche Konsequenzen des in der Hauptphase 1 entwickelten Begutachtungsinstruments mit wissenschaftlichen Methoden auf Grundlage empirischen Datenmaterials evaluiert werden. Die beiden Hauptzielsetzungen der Hauptphase 2 waren die wissenschaftliche Beurteilung der Güte des neuentwickelten Begutachtungsinstrumentes und die Abschätzung möglicher inhaltlicher und finanzieller Folgen, die sich aus einer Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der Neukonzeption des Begutachtungsinstruments ergäben. Der Abschlussbericht zur Hauptphase 2 wurde am 31.10.2008 durch die Projektnehmer eingereicht und im Rahmen der Klausurtagung des Beirats am 6./7.11.2008 vorgelegt. Zusammenfassend empfehlen die Projektnehmer das entwickelte Instrument als zielführend, geeignet und praktikabel zur Begutachtung von Menschen mit möglicher Pflegebedürftigkeit
270
9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
im Sinne eines erweiterten und pflegewissenschaftlich angemessenen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. In der Arbeitsgruppe „Pflegebedürftigkeitsbegriff“ unter Leitung von Prof. Dr. Peter Udsching war Ausgangspunkt der Diskussion die Notwendigkeit einer Änderung des zurzeit im SGB XI festgelegten Begriffs der Pflegebedürftigkeit, da dieser Begriff hilfebedürftige Menschen ungleich erfasst. Die Arbeitsgruppe hat sich dafür ausgesprochen, den Pflegebedürftigkeitsbegriff möglichst weit zu fassen und ihn modulhaft aufzubauen, um für ein nachfolgendes Gesetzgebungsverfahren Entscheidungsalternativen zu eröffnen. An die Stelle des Kriteriums Zeit soll eine detaillierte Analyse menschlicher Fähigkeiten und Verhaltungsweisen treten, bei der die jeweiligen Einschränkungen je nach Schweregrad mit Punkten bewertet werden. Aus der gewichteten Gesamtzahl der Punkte ergibt sich das Ausmaß des Angewiesenseins auf personelle Hilfe und damit zugleich die Höhe des Anspruchs auf Leistungen der Pflegeversicherung. Der Grad der Einschränkung der Selbständigkeit soll bei den einzelnen Aktivitäten nach einer vierstufigen Skala erfasst werden. Ein begleitender Gutachtenauftrag zu den „Möglichkeiten der Berücksichtigung von RAI 2.0 und/oder RAI HC bei der Erarbeitung eines zukünftigen Begutachtungsinstruments“ erging im Juli 2007 an Frau Prof. Dr. phil. Vjenka Garms-Homolová. Der Auftrag sah vor, zwei Instrumente des interRAi-Assessmentsystems fachlich einzuschätzen und die Fragen zu beantworten, die sich aus dem Recherchebericht des IPW vom 23.03.2007 ergaben. Nach Auffassung des Steuerungskreises ergaben sich aus dem Gutachten jedoch keine neuen zu berücksichtigenden Gesichtspunkte im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Adaption oder Modifikation des interRAi-Assessmentsystems bei der Entwicklung eines neuen Begutachtungssystems. Im Rahmen der Fachkonferenz am 08.11.2007 wurde dieses Gutachten auch von Frau Prof. Garms-Homolová öffentlich vorgestellt und diskutiert. Im weiteren Beratungs- und Diskussionsprozess innerhalb des Beirats kristallisierte sich die Notwendigkeit der zusätzlichen Klärung von strukturellen und finanziellen Folgen eines neues Pflegebedürftigkeitsbegriffs und Begutachtungsverfahrens für die Sozialhilfe heraus. Ausgangspunkt der Diskussion war, dass die Erprobung des neuen Assessmentverfahrens bislang ausschließlich bei SGB XI-Antragsstellern erfolgte. Im Verlauf der Diskussion des Beirats wurde deutlich, dass einzelne Gruppen von möglichen Leistungsbeziehern eines zukünftigen Pflegebedürftigkeitsbegriffes nicht bei den Berechnungen erfasst worden sind. Hier sind vor allem die potenziellen Antragsteller zu nennen, die bisher keinen Antrag auf Pflegeleistungen gestellt hatten. Im Übrigen wurde deutlich, dass die Auswirkungen auf die Sozialhilfeträger bisher nicht thematisiert worden sind. Daraufhin verständigte sich der Beirat, der Beantwortung dieser Fragestellungen durch eine Erweiterung des laufenden Modellprojektes Rechnung zu tragen. Die Anfertigung einer Studie zu den fiskalischen Auswirkungen des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs auf die Sozialhilfeträger erfolgte durch die Vergabe eines Zusatzauftrags durch den GKV-Spitzenverband gemäß § 8 Abs. 3 SGB XI an den MDS. Der Erweiterungsauftrag zielte darauf ab, abzuschätzen,
9.1 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
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in welchem Umfang mit zusätzlichen Leistungsbeziehern zu rechnen ist, die bisher keinen Antrag nach dem SGB XI gestellt haben und davon erfasst sind. Weiterhin sollten die fiskalischen Auswirkungen für die Pflegeversicherung und die Sozialhilfeträger untersucht werden. Die Projektnehmer haben die entsprechende Studie am 08.01.2009 vorgelegt. Die wissenschaftliche Diskussion im Beirat wurde im Rahmen von drei Fachkonferenzen sowie eines Workshops beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge begleitet und fortgesetzt. Die erste Fachkonferenz fand unmittelbar nach der Einberufung des Beirats am 14.12.2006 statt,3 die zweite am 08.11.2007. In diesem Rahmen fand – neben der Präsentation der erwähnten Studie von Prof. Dr. GarmsHomolová zu zwei Instrumenten des interRAI-Assessmentsystems – insbesondere auch eine Debatte über das die Arbeit des Beirats kritisch begleitende Memorandum „Die Quadratur des Kreises in der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit“ statt. Der Workshop wurde am 02.06.2008 zur Vorbereitung der weitergehenden Befassung des Beirats über die leistungsrechtlichen und systematischen A uswirkungen eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs durchgeführt. Die dritte Fachkonferenz erfolgte am 09.03.2009 nach Übergabe des ersten Berichts an Bundesministerin Ulla Schmidt. Es wurde eine erste Bilanz gezogen und ein Blick auf die weitere Arbeit geworfen. Nach einem Zwischenbericht des Vorsitzenden an Bundesministerin Ulla Schmidt zur Vorbereitung des Endberichts des Beirats bat diese den Beirat in der Sitzung vom 15.10.2008 um einen ergänzenden Bericht bis Ostern 2009. Der Beirat wurde beauftragt, auf der Grundlage der Ergebnisse und Empfehlungen des bisher geplanten Endberichts mögliche Strategien und konkrete Umsetzungsschritte der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens in das SGB XI zu prüfen, mögliche Alternativen zu bewerten und entsprechende Empfehlungen zu erarbeiten. In seinem Bericht an Bundesministerin Ulla Schmidt, den der Beirat am 26.01.2009 einstimmig beschlossen hat, hebt er hervor, dass sein wesentliches Ziel die Verbesserung und Veränderung der Lebenslagen von Menschen mit Pflegebedarf, die in ihrer Selbständigkeit beeinträchtigt sind, ist. Der Bericht betont, dass – der geltende Pflegebedürftigkeitsbegriff im SGB XI pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen nicht gerecht werde, – ein differenzierter, an Lebenslagen orientierter, auf den Grad der Selbständigkeit abstellender Pflegebedürftigkeitsbegriff notwendig sei, – das von dem Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe entwickelte und vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen und dem MDS erprobte neue Begutachtungsinstrument vom Beirat empfohlen werde,
3 Die Referate der Fachtagung sind im Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit 2/2007 veröffentlicht.
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9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
– es der Arbeitsgruppe zur Formulierung eines Pflegebedürftigkeitsbegriffs gelungen sei, für die gesetzliche Neuregelung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs einen geeigneten Formulierungsvorschlag vorzulegen, der das neue Begutachtungsinstrument umsetzt, – die Notwendigkeit von gesetzlichen Anpassungen in leistungsrechtlichen Vorschriften bestehe, – die Notwendigkeit der Prüfung leistungsrechtlicher Folgen eines erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriffs auf andere Sozialleistungssysteme (z.B. Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe nach SGB XII) besteht. Im Übrigen nimmt der Beirat die im Rahmen des Endberichts der Hauptphase 2 vorgelegten Modellrechnungen zur Kenntnis und sieht sie als hilfreiche Datengrundlage für die erforderlichen politischen Entscheidungen an. Der Bericht wurde am 29.01.2009 an Bundesministerin Ulla Schmidt übergeben [BMG 2009a]. Zur Erarbeitung des Zusatzauftrages hat der Beirat drei Arbeitsgruppen gebildet, die erste befasst sich mit möglichen Szenarien zur Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die zweite mit dem notwendigen Bestandsschutz für Leistungsbezieher und die dritte mit konkreten Umsetzungsfragen bei der Umsetzung eines neuen Begutachtungsverfahrens. Der zweite Bericht, der sogenannte Umsetzungsbericht des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vom 20.05.2009, wurde der Bundesministerin Ulla Schmidt übergeben [BMG 2009b]. Die Länder haben auf der Grundlage eines Beschlusses der Arbeits- und Sozialministerkonferenz gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gebildet, die mögliche Implikationen auf das SGB XII beleuchten und bewerten soll. Zusammenfassend zeichnet sich die Arbeit des Beirats durch ein hohes Maß an Transparenz und eine breite Diskussionskultur aus. Es wurden im Laufe der Diskussion neu aufkommende Probleme nicht ignoriert, sondern aktiv bearbeitet unter Zugrundelegung wissenschaftlicher Expertise. Es ist beachtlich, dass der Beirat trotz seiner Heterogenität den ersten Bericht einstimmig verabschiedet hat. Beide Berichte des Beirats wurden nach Abschluss seiner Arbeiten dem Bundeskabinett sowie dem Deutschen Bundestag zur Kenntnis zugeleitet.
Fortführung der Arbeiten für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff im Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs Die Notwendigkeit einer Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs wurde im Koalitionsvertrag vom 26.10.2009 aufgegriffen und dazu festgehalten „Wir wollen eine neue, differenziertere Definition der Pflegebedürftigkeit. Damit schaffen wir mehr Leistungsgerechtigkeit in der Pflegeversicherung. Es liegen bereits gute Ansätze vor, die Pflegebedürftigkeit so neu zu klassifizieren, dass nicht nur körperliche Beeinträchtigungen, sondern auch anderweitiger Betreuungsbedarf (z.B. aufgrund
9.1 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
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von Demenz) berücksichtigt werden können. Wir werden die Auswirkungen dieser Ansätze auf die Gestaltung der Pflegeversicherung und auch die Zusammenhänge mit anderen Leistungssystemen überprüfen.“ In der fachlichen Auseinandersetzung mit den Berichten und Empfehlungen des Beirates zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes von 2009 wurde jedoch deutlich, dass auch auf deren Basis noch eine Reihe von fachlichen, administrativen und rechtstechnischen Fragen zu klären ist, bevor die Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erfolgen kann. Parallel zu dem Reformschritt des PflegeNeuausrichtungs-Gesetzes (PNG) vom 23. Oktober 2012 (BGBl. I, S. 2246) wurde daher durch das Bundesministerium für Gesundheit ein Expertenbeirat einberufen, der die Aufgabe hatte, die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs fachlich fundiert vorzubereiten. Der „Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ stand in seiner Besetzung in Kontinuität zum Vorgängergremium; er wurde aus jeweils einem Experten/einer Expertin maßgeblicher Organisationen in der Pflege sowie aus Einzelsachverständigen gebildet. Die Bundesministerien für Gesundheit (BMG), für Arbeit und Soziales (BMAS) sowie für Frauen, Senioren, Familie und Jugend (BMFSFJ) waren ebenso wie die Länder mit Gaststatus im Expertenbeirat vertreten. Der Expertenbeirat nahm am 01.03.2012 unter dem gemeinsamen Vorsitz von Wolfgang Zöller, MdB, Beauftragter der Bundesregierung für Belange der Patientinnen und Patienten, und K.-Dieter Voß (bis zum 31.03.2010 Vorstand des GKV-Spitzenverbands) seine Arbeit auf. Er wurde fachlich und organisatorisch in seiner Arbeit durch eine Geschäftsstelle beim Bundesministerium für Gesundheit unterstützt. Der Bundesminister für Gesundheit bat den Expertenbeirat, konkrete Vorschläge zu den noch offenen Fragen vorzulegen. Dazu gehört auch ein realistischer, zügiger Zeitplan für die einzelnen Schritte (road map). Dabei arbeitete der Expertenbeirat auch vor dem Hintergrund, dass durch das PNG mit Blick auf eine spätere Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs in Übergangsregelungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz und im Bezug auf häusliche Betreuung ambulante Pflegesachleistungen und Pflegegeld bereits ab dem 01.01.2013 wesentliche Verbesserungen erfahren haben. Im Rahmen des Auftrags an den Expertenbeirat ging es insbesondere um folgende Punkte: Aktualisierung der Datengrundlagen, leistungsrechtliche Auswirkungen eines neuen Begriffs, Übergangsregelungen, Klärung von noch offenen Fragestellungen zum neuen Begutachtungsverfahren (Neues Begutachtungsassessment – NBA), Anpassung von Vertrags- und sonstigen Regelungen sowie die Wechselwirkungen zu anderen Sozialleistungssystemen (Vermeidung von „Verschiebebahnhöfen“). Die Vorschläge des Expertenbeirats sollen dazu geeignet sein, dass deren Umsetzung schnell und reibungslos erfolgen kann. Zur Bearbeitung dieser Themenfelder und Aufgabenstellungen setzte der Expertenbeirat vier Arbeitsgruppen ein: – AG 1 Leistungsrecht und Schnittstellen – AG 2 Einführung des neuen Begutachtungsverfahrens
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9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
– AG 3 Leistungserbringerrecht – AG 4 Überleitungsregelungen Wie auch der Beirat 2006–2008 wurde der Expertenbeirat in seinen Beratungen durch mehrere wissenschaftliche Expertisen unterstützt. Der Bericht des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wurde am 27.06.2013 vorgelegt [Expertenbeirat 2013]. Mit dem Abschlussbericht wird auf der Grundlage des Neuen Beguatchtungsassessments ein Konzept für die gesetzgeberische Einführung des neuen Begriffs der Pflegebedürftigkeit vorgelegt. Ihm sind die folgende Zusammenfassung und Empfehlungen vorangestellt: 1. Der Expertenbeirat empfiehlt die Schaffung eines neuen Begriffs der Pflegebedürftigkeit, der fünf Pflegegrade anstelle der bisherigen drei Pflegestufen umfasst. Die neuen Pflegegrade sind maßgebend für die Höhe der Sach- und Geldleistungen. Sie erlauben unter Berücksichtigung des Teilleistungssystems der Pflegeversicherung eine differenziertere Einstufung von erwachsenen Pflegebedürftigen und pflegebedürftigen Kindern und führen zu mehr Gerechtigkeit. 2. Der neue Begriff der Pflegebedürftigkeit bezieht neben den bereits seit 1995 begünstigten, vorrangig körperlich Betroffenen auch pflegebedürftige Menschen mit kognitiven Erkrankungen und psychischen Störungen gleichberechtigt mit ein. Anstelle der bisherigen Sonderleistungen der §§ 45b, 123 SGB XI haben zukünftig alle Pflege-bedürftigen, die den gleichen Pflegegrad haben, die gleichen Leistungsansprüche. 3. Grundlage für die Einstufung in Pflegegrade und die Gleichbehandlung aller Pflegebedürftigen ist das neue Begutachtungsassessment (NBA). Es ist modular aufgebaut und misst den Grad der Selbständigkeit in den pflegerelevanten Bereichen des täglichen Lebens. Die bisherige Beschränkung auf nur bestimmte, körperbezogene Verrichtungen entfällt. Auch die Scheingenauigkeit der bisherigen Zeitmessung wird überwunden; die Zeitmessung entfällt ersatzlos. 4. Die Bedarfslagen pflegebedürftiger Kinder, die für den Lebens- und Versorgungsalltag von pflegebedürftigen Kindern und ihren Eltern von besonderer Bedeutung sind und bei der heutigen Begutachtung für die Pflegestufen größtenteils unberücksichtigt bleiben, werden mit dem NBA besser erfasst. Damit verbessert sich die Einstufung pflegebedürftiger Kinder. Für Kinder von 0–18 Monaten wird eine pauschale Einstufung, die der Höhe nach zwischen Pflegegrad 2 und 3 liegen wird, empfohlen, so dass in dieser Zeit nur eine Begutachtung erforderlich ist. 5. Das neue Begutachtungsassessment gibt Hinweise auf Rehabilitations- und Präventionsbedarfe und stellt eine verbesserte Grundlage für die Versorgungsberatung und -planung dar. 6. Neben der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung bleibt die häusliche Betreuung Leistung der Pflegeversicherung. Zukünftig wird sie regelhaft zur gleichwertigen „3. Säule“ der Leistungen der Pflegeversicherung.
9.1 Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
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7. Häusliche Betreuungsleistungen stehen auch zukünftig allen Pflegebedürftigen gleichermaßen zu, auch den vorrangig körperlich beeinträchtigten Pflegebedürftigen. 8. In der vollstationären Versorgung bleiben die zusätzlichen Betreuungsangebote (bisher: § 87b SGB XI) ihrem Leistungsvolumen und ihrer Wirkung nach erhalten. Sie stehen zukünftig allen Pflegebedürftigen zur Verfügung und kommen daher auch den vorrangig körperlich beeinträchtigten Pflegebedürftigen zugute. 9. In der ambulant-häuslichen Versorgung erhalten zukünftig alle Pflegebedürftigen Zugang zu Entlastungsangeboten, die unbürokratisch im Wege der Kostenerstattung abrechenbar sind. 10. Die bisherigen Leistungsarten der Pflegeversicherung (ambulante Sachleistungen, Geldleistungen, Kombinationsleistungen, vollstationäre Sachleistungen) bleiben ebenso erhalten wie weitere Leistungen für besondere Bedarfe (z.B. Hilfsmittel). Die zukünftigen Leistungsinhalte korrespondieren mit dem erweiterten Verständnis von Pflegebedürftigkeit. 11. Zur Frage einer Grundlage für die Leistungsbemessung hat der Beirat intensiv die Möglichkeiten und Grenzen einer Orientierung am tatsächlichen Gesamtaufwand für Pflege und Betreuung beraten. Eine zuverlässige Ermittlung des Gesamtaufwands ist aus methodischen Gründen nicht möglich, da es keine wissenschaftlich gesicherten, objektiven Kriterien zur Bewertung gibt. Zudem sind die Versorgungssituationen und damit die Gesamtaufwände beim gleichen Grad der Beeinträchtigung insbesondere in der ambulant-häuslichen Versorgung je nach Wohn- und familiärer Situation sehr unterschiedlich. In der stationären Versorgung, in der die Rahmenbedingungen der Versorgung stärker vereinheitlicht sind, können mit empirischen Studien zum professionellen Pflegeaufwand Hinweise gewonnen werden, die die fachliche Begründung von Leistungshöhen und -spreizungen unterstützen können. 12. Der Expertenbeirat stellt fest, dass es keine kurzfristig umsetzbare Möglichkeit gibt, Leistungshöhen und -spreizungen aus dem NBA empirisch zu begründen. Der mit dem NBA ermittelte Grad der Selbständigkeit (Pflegegrad) entspricht dem Ausmaß der Abhängigkeit von Personenhilfe und ist ein Ausgangspunkt für die Gestaltung der Leistungsbeträge. Darüber hinaus empfiehlt der Expertenbeirat, die zukünftigen Leistungsbeträge der Pflegeversicherung an fachlich begründeten, pflegepolitischen Zielsetzungen zu orientieren (z.B. die weitere Stärkung der ambulant-häuslichen Versorgung, die stärkere leistungsrechtliche Berücksichtigung höherer Betroffenheit in den oberen Pflegegraden sowie die Abwendung pflegebedingter Sozialhilfeabhängigkeit). 13. Der Expertenbeirat spricht sich mit weit überwiegender Mehrheit dafür aus, dass das bisherige Leistungsniveau auf dem Stand des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes bei der Gestaltung neuer Leistungsbeträge bei Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht unterschritten wird. Durch fachlich begründete
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9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
Anpassungen der Leistungsbeträge können die finanziellen Auswirkungen auf die Pflegeversicherung variieren. 14. Zur Beschreibung der möglichen Auswirkungen einer Einführung des neuen Begriffes der Pflegebedürftigkeit auf die Soziale Pflegeversicherung und die Versicherten hat der Expertenbeirat beispielhafte Berechnungen durchführen lassen, die für die Analyse der Verwirklichung einzelner fachpolitischer Ziele besonders illustrativ sind. Die Beispielsrechnungen verstehen sich als analytische Werkzeuge zur Unterstützung von gesetzgeberischen Entscheidungen über das zukünftige Leistungsrecht bei Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, ohne dass der Beirat sich ausdrücklich für ein Beispiel oder eine Kombination entscheidet. Mit den Beispielsrechnungen wird die Politik in die Lage versetzt, eine konkrete Entscheidung über die finanzielle Ausstattung der Sozialen Pflegeversicherung bei Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu treffen. 15. Durch die Einstufung in die neuen Pflegegrade erfährt die große Mehrheit der zukünftigen Leistungsbezieher deutliche Verbesserungen, insbesondere die kognitiv und psychisch beeinträchtigten Pflegebedürftigen werden bei den Leistungsbeträgen gleich gestellt. 16. Der Expertenbeirat legt ein konkretes Überleitungskonzept für bisherige Leistungsbezieher vor. Für diese wird eine unbürokratische, formale Überleitung zum Stichtag der Umstellung empfohlen, ohne dass ein neuer Antrag oder eine neue Begutachtung erforderlich sind. 17. Bisherige Leistungsbezieher, die bei formaler Überleitung einen niedrigeren Leistungsbetrag als bisher erhalten würden, erhalten Bestandsschutz in Höhe des bisherigen Leistungsanspruchs. Der Expertenbeirat favorisiert für die Ausgestaltung der formalen Überleitung für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz mehrheitlich die Variante 2 („doppelter Stufensprung“). Mit dieser Variante würden Bestandsschutzregelungen für diesen Personenkreis weitgehend entbehrlich, da mit der Überleitung eine Besserstellung der Mehrheit dieser gegenwärtigen Leistungsbezieher erfolgt. 18. Der Expertenbeirat empfiehlt mehrheitlich, keine Befristung des Bestandsschutzes vorzusehen. Soweit sich der Gesetzgeber für eine Befristung des Bestandsschutzes entscheidet, empfiehlt der Expertenbeirat, dass dieser nicht kürzer als drei Jahre sein soll. 19. An der Schnittstelle zu den Leistungen der Hilfe zur Pflege werden sich Verschiebungen der Leistungszuständigkeiten ergeben. Die Schnittstellen zur Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen werden sich weiter verschärfen. Sie sind im Rahmen der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu lösen. 20. Notwendige Änderungen im Vertrags- und Vergütungsrecht werden unter Berücksichtigung des Gesamtzeitplans für die Umstellung dargestellt. 21. Für die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird ein konkreter Um-setzungsplan („Road map“) präsentiert, der von der konkreten gesetzlichen
9.2 Gesamtüberblick über die Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
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Einführung des neuen Begutachtungsverfahrens über die notwendigen Änderungen im Vertrags– und Vergütungsrecht alle zentralen Umsetzungsschritte enthält und 18 Monate umfasst.
9.2 Gesamtüberblick über die Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments Ulrich Heine Im Rahmen der Vorbereitungen zur Reform der Pflegeversicherung hat das BMG im November 2006 einen Beirat mit der Aufgabe betraut, den aktuellen sozialrechtlichen Begriff der Pflegebedürftigkeit zu überprüfen und eine Empfehlung zu dessen Neufassung zu erarbeiten. Bereits im Vorfeld verständigten sich das BMG und die Spitzenverbände der Pflegekassen darauf, eine wissenschaftliche Studie zu initiieren, die zur Begleitung dieses Prozesses die benötigten Beratungs- und Entscheidungsgrundlagen bereitstellen sollte. Ein entsprechender Projektauftrag erging an das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld (IPW), das seinen Ergebnisbericht zum 28.02.2007 vorlegte [Wingenfeld et al. 2007]. Dem IPW-Projekt kam die Funktion einer Vorstudie zu, der zwei weitere Arbeitsphasen folgen sollten. In einer sich anschließenden ersten Hauptphase sollte ein neues Begutachtungsinstrument erarbeitet und in einer zweiten Hauptphase praktisch erprobt werden. Vor diesem Hintergrund hatten die Spitzenverbände der Pflegekassen ein Projekt „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen bundesweit einheitlichen und reliablen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“ ausgeschrieben, das die Entwicklungs- und Erprobungsaufgaben für die oben genannten Hauptphasen des Prozesses konkretisiert. Aufgrund der gemeinsamen Einschätzung, dass die Bewältigung dieser Aufgaben der Einbeziehung unabhängiger pflegewissenschaftlicher Expertise ebenso wie der Berücksichtigung des breiten Erfahrungshintergrundes der Medizinischen Dienste bedurfte, haben sich das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld, der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (MDK WL), der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V. (MDS) und das Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen (IPP) gemeinsam an dieser Ausschreibung beteiligt und den Zuschlag erhalten. Im Zeitraum vom 01.08.2007 bis zum 29.02.2008 haben das IPW und der MDK WL das neue Begutachtungsverfahren erarbeitet. Die Hauptphase 1 endete am 29.02.2008 mit der Abgabe des Abschlussberichtes [Wingenfeld et al. 2008]. Die anschließende Erprobung des neuen Instrumentes erfolgte unter der Leitung des MDS in acht Medizinischen Diensten bei insgesamt etwa 1 500 erwachsenen Antragstellern und bei 240 Kindern. Die Daten der Studie wurden vom IPP ausgewertet. Die Ergebnisse flossen in
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9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
den gemeinsamen Abschlussbericht der Hauptphase 2 ein, der am 31.10.2008 vorgelegt wurde [Windeler et al. 2008]. Hauptziel der zweiten Hauptphase war es, die Gütekriterien Reliabilität und Validität des Neuen Begutachtungsassessments und seine praktische Eignung für die Begutachtung zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit zu überprüfen. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich um ein völlig neu entwickeltes Instrument handelte, wurden hervorragende Ergebnisse erzielt. Der Grad der Zuverlässigkeit (Reliabilität) wurde ermittelt, indem bei einem Teil der Probanden zeitnah eine zweite Begutachtung durch einen anderen Gutachter durchgeführt wurde. Dabei wurde eine gute Übereinstimmung der Ergebnisse festgestellt. Die Prüfung der Validität bezog sich auf die Zuverlässigkeit des Instrumentes, kognitive Beeinträchtigungen erfassen zu können. Ein Vergleich mit dem anerkannten Referenzverfahren zur Erfassung kognitiver Störungen TFDD (Test zur Früherkennung von Demenz mit Depressionsabgrenzung) ergab sehr gute Werte. Damit erreicht das neue Instrument eines der angestrebten Ziele, die Beeinträchtigungen von Menschen mit demenziellen Erkrankungen zuverlässig abzubilden. Die Studie der Hauptphase 2 war allerdings auf Personen beschränkt, die Leistungen nach SGB XI beantragt hatten. Daher konnte in dieser Studie nicht ermittelt werden, wie sich das neue Begutachtungsverfahren und ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff auf die Personen auswirkt, die bislang keinen Antrag nach dem SGB XI gestellt hatten, weil sie nach dem bisherigen Verfahren keine Erfolgsaussichten sahen, Leistungen aus der Pflegeversicherung zu erhalten. Unterrepräsentiert waren außerdem Bezieher von Eingliederungshilfe und Bewohner von Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen. Die Frage nach den Auswirkungen für die Sozialhilfeträger war nicht Gegenstand der zweiten Hauptphase. Um diese Fragen beantworten zu können, wurde im Sommer 2008 ein Ergänzungsprojekt entwickelt und vereinbart. In diesem Zusammenhang wurde das neue Begutachtungsverfahren vom MDK WL bei 242 Bewohnern von Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen durchgeführt. Die Ergebnisse der Hauptphase 2 und der Ergänzungsstudie [Rothgang et al. 2009] wurden in die weiteren Beratungen und Empfehlungen des Beirats einbezogen (s. Kap. 9.1). In Fortsetzung der Arbeit des bis Mai 2009 tagenden „Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Frühjahr 2012 einen neuen „Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ einberufen, u.a. mit der Aufgabe, Empfehlungen zu leistungsrechtlichen Fragen zu entwickeln, die der Gesetzgeber bei der Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu klären hat. In diesem Zusammenhang wurden das IPW und der MDK WL um die Durchführung einer Studie gebeten, um durch verschiedene Analysen die Entwicklung von Empfehlungen zur leistungsrechtlichen Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu unterstützen. Insbesondere sollten zusätzliche empirische Untersuchungen weiteres Material zur Untermauerung von Empfehlungen liefern.
9.3 Entwicklung eines neuen Begutachtungsassessments
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IPW und MDK WL haben sich zur Durchführung des Projekts, für das nur ein sehr enger Zeitrahmen zur Verfügung stand, bereit erklärt und entsprechende Datenerhebungen vorgenommen. Daneben wurden Auswertungen sowie Sekundäranalysen einschlägiger Datenbestände aus den vorherigen Erhebungen vorgenommen. Die Ergebnisse sind in den Abschlussbericht des Expertenbeirates eingeflossen.
9.3 Entwicklung eines neuen Begutachtungsassessments Barbara Gansweid, Klaus Wingenfeld und Andreas Büscher In diesem Beitrag wird das neue Begutachtungsinstrument zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit („Neues Begutachtungsassessment“ – NBA) vorgestellt und erläutert, das im Rahmen des Modellprojekts „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen bundesweit einheitlichen und reliablen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“ gemeinsam vom Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld (IPW) und vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (MDK WL) entwickelt wurde. Da zum Zeitpunkt der Entwicklung des NBA noch keine Festlegung über den neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit getroffen war, orientierten sich die Entwicklungsarbeiten an den pflegewissenschaftlich erarbeiteten „Elementen eines Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ aus der IPW-Studie, die vom Beirat des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs akzeptiert worden waren. Danach ist eine Person „als pflegebedürftig zu bezeichnen, wenn sie infolge fehlender personaler Ressourcen, mit denen körperliche oder psychische Schädigungen, die Beeinträchtigung körperlicher oder kognitiver/psychischer Funktionen, gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen kompensiert oder bewältigt werden könnten, dauerhaft oder vorübergehend zu selbständigen Aktivitäten im Lebensalltag, selbständiger Krankheitsbewältigung oder selbständiger Gestaltung von Lebensbereichen und sozialer Teilhabe nicht in der Lage und daher auf personelle Hilfe angewiesen ist“ [Wingenfeld et al. 2007]. Das Instrument berücksichtigt dementsprechend sowohl körperliche Beeinträchtigungen als auch kognitive/psychische Einbußen und Verhaltensauffälligkeiten, die einen spezifischen Unterstützungsbedarf nach sich ziehen. Es trägt somit dazu bei, die für das heutige Begutachtungsverfahren und die geltenden Vorschriften des SGB XI charakteristische Engführung auf Hilfebedarf bei ausgewählten Alltagsverrichtungen zu überwinden. Ein weiterer, wesentlicher Unterschied zum bisherigen Begutachtungsverfahren besteht darin, dass als Maßstab zur Einschätzung von Pflegebedürftigkeit nicht die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten oder der Gestaltung von Lebensbereichen verwendet wird.
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9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
9.3.1 Aufbau des neuen Begutachtungsinstruments Im Begutachtungsverfahren werden verschiedene Informationen erfasst, die für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit, aber auch aus anderen formalen und inhaltlichen Gründen benötigt werden. Entsprechend ist das neue Begutachtungsinstrument in vier Abschnitte untergliedert: 1. Informationserfassung: Dieser erste Abschnitt des in der Erprobung verwendeten Gutachtenformulars weist viele Gemeinsamkeiten mit dem gegenwärtigen Begutachtungsverfahren auf. Zur Informationserfassung gehören allgemeine Angaben zur Person des Antragstellers und zur Begutachtungssituation, Informationen zur Versorgungssituation und zur Pflegeperson bzw. den Pflegepersonen sowie Angaben zu Erkrankungen, Funktionseinschränkungen und bisherigen gesundheitlichen Problemen. Die begutachteten Personen sollen hier darum gebeten werden, ihre Situation in ihren eigenen Worten zu schildern und die aus ihrer Sicht vorrangigen Problemstellungen und notwendigen Maßnahmen darzustellen. 2. Befunderhebung: Ebenfalls ähnlich wie im derzeitigen Verfahren erfolgt eine Befunderhebung, bei der die Gutachter sich neben der Prüfung verfügbarer Vorbefunde oder anderer Informationen ein eigenes Bild von den Schädigungen und Beeinträchtigungen des Pflegebedürftigen machen. Dazu wird eine persönliche Untersuchung des Antragstellers mit Beobachtung alltagspraktischer Tätigkeiten durchgeführt. Bei Bedarf wird die Befunderhebung durch standardisierte Testverfahren oder Elemente daraus ergänzt und abgerundet. 3. Einschätzung der Pflegebedürftigkeit: Die Feststellung der Pflegebedürftigkeit erfolgt im dritten Teil, dem eigentlichen NBA. Darin wird der Grad der Selbständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten und der Gestaltung von Lebensbereichen in insgesamt acht Bereichen („Modulen“) erhoben, einschließlich der Selbständigkeit bei außerhäuslichen sozialen Aktivitäten und der Haushaltsführung. Diese beiden Bereiche werden jedoch nicht zur Feststellung der Pflegestufe herangezogen. Die Module bilden den Kern des neuen Begutachtungsverfahrens und enthalten alle Merkmale, die in die Bestimmung des Grades der Pflegebedürftigkeit einfließen. Dieser Teil umfasst ferner Fragen zu besonderen pflegerischen Bedarfskonstellationen, zur Einschätzung des Rehabilitationsbedarfs und zu präventionsrelevanten Risiken. 4. Empfehlungen: Der abschließende Teil des Formulars bietet Raum für Empfehlungen zur Versorgungssituation. In zusammenfassender Form werden hier Empfehlungen zur Prävention und Rehabilitation sowie zu anderen Fragen, beispielsweise zur Stabilisierung der häuslichen Versorgungssituation oder zur Verbesserung der Hilfsmittelversorgung, ausgesprochen.
9.3 Entwicklung eines neuen Begutachtungsassessments
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9.3.2 Anforderungen an das NBA Die Entwicklung des NBA war von verschiedenen Anforderungen geprägt, die sich im Aufbau und der Art der Darstellung niedergeschlagen haben. Der vorrangige Zweck des Instruments besteht in der Ermittlung von Leistungsansprüchen. Aus dieser zentralen Funktion lassen sich verschiedene Anforderungen wie z.B. die quantifizierende Darstellung von Pflegebedürftigkeit ableiten. Entsprechend wird das Ergebnis der Einschätzung durch das NBA in Form eines Punktwerts ausgedrückt. Daneben sollen die Ergebnisse des neuen Begutachtungsverfahrens als Grundlage für die individuelle Pflegeplanung Anwendung finden können. Schließlich war bei der Instrumentenentwicklung die Vorgabe zu beachten, dass die Dauer der Begutachtung (Dauer des Hausbesuchs) sich im Rahmen von 60 Minuten bewegen sollte. All diese Anforderungen hatten Konsequenzen für die inhaltliche und formale Gestaltung des neuen Instruments. So wäre es im Hinblick auf die Nutzung der Einschätzungsergebnisse für die individuelle Pflegeplanung wünschenswert, wenn das Instrument Pflegebedürftigkeit möglichst detailliert erfassen und beschreiben würde. Dies ist im vorgegebenen Zeitrahmen von maximal 60 Minuten häufig jedoch nicht möglich. Abgesehen davon, dass der für die Einschätzung selbst tatsächlich verfügbare Zeitumfang niedriger liegt, haben die Gutachter die Selbständigkeit, die Pflegeprobleme, die Ressourcen, die Versorgungsmerkmale und weitere Aspekte des Lebens einer Person zu beurteilen, die ihnen fremd ist. Dabei sind auch spezifische Aspekte der Versorgungssituation zu berücksichtigen, etwa die Hilfsmittelversorgung oder ein ggf. ungedeckter Rehabilitations- oder Präventionsbedarf. Eine Erfassung sämtlicher Aspekte der individuellen Pflegebedürftigkeit kann daher im vorgegebenen Zeitrahmen nicht erfolgen. Für die primäre Funktion des Begutachtungsinstruments, der Zuordnung von Leistungsansprüchen, ist eine solch detaillierte Erfassung auch nicht erforderlich. Hierfür sind lediglich diejenigen Aspekte von Interesse, die für den Grad der Beeinträchtigung von Selbständigkeit von wesentlicher Bedeutung sind. Darin liegt auch ein Unterschied zum gegenwärtigen Begutachtungsverfahren: Da dieses mit dem Maßstab „notwendiger Zeitaufwand“ operiert, ist es unbedingt erforderlich, sämtliche Aspekte der jeweiligen Alltagsverrichtung zu berücksichtigen. Blieben Teilaspekte außer Betracht, käme dies der Vernachlässigung eines bestehenden Bedarfs zum Nachteil des Antragstellers gleich, da ein für die Versorgung notwendiger Zeitaufwand unberücksichtigt bliebe. Weil dieser Unterschied für das Verständnis des neuen Verfahrens von großer Bedeutung ist, sei er anhand eines Beispiels illustriert. Bei der Alltagsverrichtung „Waschen“ werden im derzeitigen Begutachtungsverfahren neun Teilhandlungen differenziert (Ganzkörperwäsche, Teilwäsche Oberkörper, Teilwäsche Unterkörper, Teilwäsche Hände/Gesicht, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren). Das neue Instrument beschränkt sich hingegen auf vier Merkmale, es fasst die Teilhandlungen der Aktivität „sich waschen“ stärker zusammen. So wird etwa die Selbständigkeit beim Rasieren, Kämmen und bei der Zahnpflege oder Prothesenreinigung mit einem
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9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
einzigen Merkmal erfasst. Dies ist möglich, weil die genannten Handlungen einen vergleichbaren Schwierigkeitsgrad aufweisen und weil es bei der Einschätzung eben nicht um die Frage nach dem notwendigen Zeitaufwand, sondern um die Frage nach der selbständigen Ausführung dieser Handlungen geht. Der Einschätzungsteil des neuen Begutachtungsinstruments enthält rund 90 Merkmale („Items“). Damit wird ein Differenzierungsgrad erreicht, der eine Kompromisslösung zwischen den beiden zentralen Funktionen (Feststellung von Leistungsansprüchen, Ergebnisnutzung bei der Hilfe-/Pflegeplanung) und der vorgegebenen Begutachtungsdauer von einer Stunde darstellt.
9.3.3 Die modulare Struktur des NBA Die Aktivitäten, Fähigkeiten und Lebensbereiche, anhand derer der Grad der individuellen Beeinträchtigung der Selbständigkeit ermittelt wird, finden sich als acht Module im neuen Begutachtungsinstrument wieder: 1. Mobilität: Dieses Modul bezieht sich auf die Selbständigkeit bei der Fortbewegung über kurze Strecken und bei Lageveränderungen des Körpers. 2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten: In diesem Modul geht es weniger um Aktivitäten als um Funktionen, die jedoch für eine selbständige Lebensführung von hoher Wichtigkeit sind. Dazu gehören: Gedächtnis, Wahrnehmung, Denk- und Urteilsvermögen sowie Kommunikation. 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: Dieser Bereich ist Bestandteil eines jeden Assessments zur Erfassung von Pflegebedürftigkeit, da die hier angesprochenen Problemlagen mit einem hohen Maß an personeller Abhängigkeit einhergehen. Angesprochen sind u.a. selbst- und fremdgefährdendes Verhalten sowie psychische Probleme wie Ängstlichkeit, Panikattacken oder Wahnvorstellungen. 4. Selbstversorgung: In diesem Modul wird die Selbständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten zur Selbstversorgung wie z.B. Körperpflege, sich kleiden, Essen und Trinken sowie Ausscheidungen erhoben. 5. Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen und Belastungen: Krankheitsbewältigung bei chronischer Krankheit wird in diesem Modul verstanden als Aktivität, die für die autonome Lebensführung entscheidende Bedeutung hat. Dazu zählen Anforderungen und Belastungen infolge von Krankheit oder Therapiemaßnahmen, z.B. Medikamenteneinnahme, Wundversorgung, Umgang mit körpernahen Hilfsmitteln oder Durchführung zeitaufwändiger Therapien innerhalb und außerhalb der häuslichen Umgebung. 6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte: Dazu gehören die Einteilung von Zeit, Einhaltung eines Rhythmus von Wachen und Schlafen, die Gestaltung verfügbarer Zeit und die Pflege sozialer Beziehungen.
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7. Außerhäusliche Aktivitäten: Hierzu zählt die Teilnahme an sozialen und im weitesten Sinne kulturellen Aktivitäten einschließlich der außerhäuslichen Mobilität. 8. Haushaltsführung: Dazu gehören hauswirtschaftliche Tätigkeiten und die Regelung der für die alltägliche Lebensführung notwendigen geschäftlichen Belange wie die Nutzung von Dienstleistungen, der Umgang mit Behörden und die Regelung finanzieller Angelegenheiten. Diese modulare Struktur spiegelt ein modernes Verständnis von Pflegebedürftigkeit wider, welches auch in anderen pflegewissenschaftlichen Assessmentinstrumenten und Klassifikationssystemen angelegt ist. Der Bereich der Mobilität wird in nahezu allen komplexeren Assessmentinstrumenten als eigenständiger Bereich berücksichtigt. Beeinträchtigungen der Mobilität sind häufig auslösend für die Abhängigkeit von personeller Hilfe und daher zentral bei der Bestimmung von Pflegebedürftigkeit. In der Logik der auf Aktivitäten des täglichen Lebens basierenden Pflegetheorien finden sich entsprechende Aspekte unter der Bezeichnung „Bewegung“ bzw. „sich bewegen“. Auch in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [WHO 2001] oder der Systematik der Pflegeergebnisklassifikation hat die Mobilität eine zentrale Bedeutung [Johnson et al. 2005]. Das Modul 2 umfasst die für die selbständige Lebensführung ebenfalls zentralen kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten. Als Funktionen bzw. Fähigkeiten sind sie in etablierten Modellen, Klassifikationen und Instrumenten ebenfalls ausgewiesen. Das Minimum Data Set des RAI HC 2.0 beispielsweise subsumiert solche Fähigkeiten unter dem Titel „Kognitive Fähigkeiten“ [Garms-Homolová 2002]. In der ICF sind sie Bestandteil der Klassifikation der Körperfunktionen (Funktionen der Orientierung, des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und des Denkens). Bei einer Berücksichtigung der wesentlichen Aspekte von Pflegebedürftigkeit ist die Erfassung von Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen (Modul 3) unabdingbar. Sie findet sich auch in anderen Einschätzungsinstrumenten. Die Selbstversorgung (Modul 4) ist ebenfalls ein wichtiger Bereich für die Einschätzung von Pflegebedürftigkeit. Die dazu gehörigen Aspekte finden sich in anderen Instrumenten zum Teil als „Aktivitäten des täglichen Lebens“ oder „ADL“ wieder oder werden häufig ebenfalls unter der Bezeichnung „Selbstversorgung“ („self care“) ausgewiesen. Die Inhalte dieses Moduls weisen eine hohe Übereinstimmung mit den Inhalten anderer Instrumente und auch der ICF auf. Neu und für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit bislang ungewöhnlich sind die Inhalte des Moduls 5, die auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit den verordnungsfähigen Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach dem SGB V aufweisen. Intendiert ist hier jedoch ebenfalls die Erfassung von Selbständigkeit bei der Durchführung der krankheitsbedingt notwendigen Aktivitäten. Andere pflegerische Assessmentverfahren erfassen in diesem Bereich in der Regel die Perspektive der professionellen Pflege, indem die einzelnen Aspekte nicht im Sinne der Selbständigkeit einer Person,
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sondern als professionell anzugehende Problemlagen aufgefasst werden, z.B. als Hautprobleme oder Störungen vitaler Funktionen. Die Selbständigkeit im Bereich der krankheitsbedingten Anforderungen und Belastungen kann auch durch fehlendes Wissen der erkrankten Person beeinträchtigt sein, worauf u.a. in der Pflegeergebnisklassifikation Nursing Outcomes Classification (NOC) hingewiesen wird [Johnson et al. 2005]. Im Modul 6 werden zentrale Aspekte der Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte thematisiert, ein Bereich, der im Rahmen der Kritik am geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriff regelmäßig als wichtig benannt wurde. Das Modul 7 befasst sich mit der Teilnahme an sozialen und im weitesten Sinne kulturellen außerhäuslichen Aktivitäten. In den Begrifflichkeiten der ICF gehört dieser Aspekt zu den „bedeutenden Lebensbereichen“ (z.B. Bildung oder Arbeit) oder zum Gemeinschafts-, sozialen und staatsbürgerlichen Leben. Das Modul umfasst nur wenige Items, da die Fähigkeit zur Teilnahme an oder zur Durchführung von außerhäuslichen Aktivitäten größtenteils nicht vom Charakter dieser Aktivität, sondern vom Grad der Selbständigkeit zur Durchführung der Aktivität abhängt. Die Haushaltsführung in Modul 8 umfasst sowohl hauswirtschaftliche Tätigkeiten als auch die Fähigkeit, im Bedarfsfall Dienstleistungsangebote nutzen zu können. In den meisten pflegetheoretischen Arbeiten spielt dieser Aspekt, sofern er überhaupt berücksichtigt wird, nur eine randständige Rolle. Tatsächlich geht es bei den notwendigen Hilfen in diesem Bereich nicht in erster Linie um pflegerische, sondern um hauswirtschaftliche oder soziale Hilfen. Aus der Perspektive des Pflegebedürftigen handelt es sich allerdings um elementare Aspekte, weil von der Fähigkeit zur selbständigen Haushaltsführung in hohem Maße abhängt, ob eine Person in der Lage ist, weiterhin in der eigenen Wohnung zu verbleiben.
9.3.4 Bewertung der Selbständigkeit Im Gegensatz zum bisherigen Begutachtungsverfahren wird das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nicht mehr nach dem Zeitaufwand bemessen, „den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt“ (§ 15 Abs. 3 SGB XI). Neuer Maßstab für die Einschätzung von Pflegebedürftigkeit ist der Grad der Selbständigkeit bei den ausgewählten Aktivitäten und Lebensbereichen, die in den einzelnen Modulen festgelegt sind. Es wird eingeschätzt, ob eine Person grundsätzlich in der Lage ist, eine Aktivität selbständig durchzuführen (z.B. Treppen steigen). Dabei ist es unerheblich, ob diese Aktivität tatsächlich notwendig ist (z.B. wenn das Haus oder die Wohnung keine Treppen hat). Selbständigkeit ist im NBA definiert als die Fähigkeit einer Person, die jeweilige Handlung bzw. Aktivität allein, d.h. ohne personelle Hilfe durchzuführen. Wer in der Lage ist, eine Aktivität mit technischer oder anderer materieller Hilfe durchzuführen,
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gilt als selbständig. Die Bewertung des Grades der Selbständigkeit bei Aktivitäten erfolgt in den Modulen 1, 4, 6 und 8 mittels einer vierstufigen Skala mit den Ausprägungen: – selbständig: Die Person kann eine Aktivität in der Regel selbständig durchführen, wobei die Durchführung erschwert, verlangsamt oder nur unter Nutzung von Hilfsmitteln möglich sein kann. Entscheidend ist, dass die Person (noch) keine personelle Hilfe benötigt. Vorübergehende oder nur vereinzelt auftretende Beeinträchtigungen werden dabei nicht berücksichtigt. – überwiegend selbständig: Dabei kann die Person den größten Teil der Aktivität selbständig durchführen. Personelle Hilfe ist nur in geringem Maße erforderlich, z.B. in Form von motivierenden Aufforderungen, Impulsgebung, Richten/ Zurechtlegen von Gegenständen oder punktueller Übernahme von Teilhandlungen der Aktivität. – überwiegend unselbständig: Die Person kann eine Aktivität nur zu einem geringen Anteil selbständig durchführen, ist aber aufgrund vorhandener Ressourcen in der Lage, sich zu beteiligen. Die personelle Hilfe kann in Form ständiger Anleitung oder aufwändiger Motivation auch während der Aktivität notwendig sein, wobei Teilschritte der Handlung übernommen werden müssen. – unselbständig: Die Person kann eine Aktivität in der Regel nicht selbständig durchführen oder steuern, auch nicht in Teilen. Es sind kaum oder keine Ressourcen vorhanden. Die Abhängigkeit von personeller Hilfe bezieht sich auf nahezu alle Aktivitäten und Handlungen. Für die Module 2, 3, 5 und 7 wurden modifizierte Formen dieser vierstufigen Skala entwickelt. Im Modul 2 ist einzuschätzen, ob die entsprechenden Fähigkeiten vorhanden, größtenteils vorhanden, in geringem Maße vorhanden oder nicht vorhanden sind. Im Modul 3 ist die Häufigkeit des Auftretens von bestimmten Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen einzuschätzen. Die vierstufige Ausprägung ist hier: nie, selten (ein- bis zweimal innerhalb von zwei Wochen), häufig (zweimal oder mehrmals wöchentlich, aber nicht täglich) und täglich. Die Häufigkeit des Vorkommens einer Aktivität spielt auch im Modul 5 eine wesentliche Rolle. Hier wird bei den einzelnen Items zuerst gefragt, ob die Aktivität vorkommt. Wenn eine Aktivität vorkommt, wird die Häufigkeit der erforderlichen Hilfe durch eine andere Person erfragt (Häufigkeit pro Tag, Woche oder Monat). Im Modul 7 erfolgt die Einschätzung anhand vorgegebener Antwortmöglichkeiten, die inhaltlich der vierstufigen Standardskala zur Selbständigkeit entsprechen. Um der Anforderung Rechnung zu tragen, das Instrument für Gutachter und Versicherte gleichermaßen anwendungsfreundlich zu gestalten, wurden kurze und unkomplizierte Formulierungen sowie gleichförmige Skalen gewählt. Sowohl der Pretest als auch die breiter angelegte Praxiserprobung des Instruments haben gezeigt, dass die Einschätzung mit dem NBA gut durchführbar ist [Windeler et al. 2008].
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9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
9.3.5 Bewertungssystematik Um als Grundlage für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die darauf basierende Zuordnung von Leistungsansprüchen Anwendung zu finden, benötigt ein Begutachtungsinstrument eine zusammenfassende Bewertung der erhobenen Informationen. Im Falle des NBA liefert die Begutachtung zunächst für jedes Modul ein Teilergebnis. Dieses Teilergebnis ergibt sich aus der Einschätzung anhand der im vorhergehenden Abschnitt erläuterten Skalen. Die Ergebnisse der Einschätzung werden für jedes Modul gesondert, aber einheitlich anhand einer fünfstufigen Skala dargestellt. Diese Skala bildet je nach Modul entweder den Grad der Beeinträchtigung von Selbständigkeit, von kognitiven Fähigkeiten oder von Selbststeuerungskompetenz ab. Unterschieden werden die Abstufungen: – 0 = selbständig (keine Beeinträchtigung) – 1 = geringe Beeinträchtigung – 2 = erhebliche Beeinträchtigung – 3 = schwere Beeinträchtigung – 4 = völliger/weitgehender Verlust der Selbständigkeit oder Fähigkeit Die Teilergebnisse der Module werden zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit anschließend in einem Gesamtergebnis zusammengeführt und als Punktwert auf einer Skala zwischen 0 und 100 dargestellt. Unter Bezug auf die bereits erwähnten „Elemente eines Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ aus der IPW-Studie ist Pflegebedürftigkeit im NBA definiert als „gesundheitlich bedingte Beeinträchtigung der Selbständigkeit, die personelle Hilfe in den folgenden Bereichen erforderlich macht“ [Wingenfeld et al. 2008]: – Mobilität – Bewältigung psychischer Anforderungen und Problemlagen – Selbstversorgung (regelmäßige Alltagsverrichtungen) – Bewältigung krankheits-/behandlungsbedingter Anforderungen und Belastungen sowie – Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte Für das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit sind also die Module 1 bis 6 des NBA maßgeblich (der Bereich „Bewältigung psychischer Anforderungen und Problemlagen“ spricht die in den Modulen 2 und 3 erfassten Merkmale an). Die Module 7 und 8 bleiben bei der Ermittlung der Pflegebedürftigkeit und einer Differenzierung von Pflegestufen außer Betracht, da es sich bei den dabei notwendigen personellen Hilfen vom Charakter her nicht notwendigerweise um pflegerische Hilfen handelt. Beeinträchtigungen in diesen Bereichen weisen außerdem eine starke Korrelation mit den anderen Merkmalen auf. Sie liefern daher keine Mehrinformation für die Unterscheidung von Graden der Selbständigkeit. Die einzelnen Module fließen nicht zu gleichen Anteilen in die Gesamtbewertung ein, sondern werden gewichtet (s. Tab. 9.1).
9.3 Entwicklung eines neuen Begutachtungsassessments
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Tab. 9.1: Anteilige Gewichtung der einzelnen Module beim Neuen Begutachtungsassessment (NBA) in Prozent. Modul 1
Mobilität
10
Module 2 u. 3
Kognition und Verhalten
15
Modul 4
Selbstversorgung
40
Modul 5
Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen
20
Modul 6
Gestaltung des Alltagslebens, soziale Kontakte
15
Das Modul 1 liefert maximal 10 Punkte, die Module 2 und 3 zusammen 15 Punkte usw. Es ist also ein maximaler Wert von 100 Punkten zu erreichen, wobei dieser Wert bei einer Person ermittelt würde, die in allen Bereichen die höchst mögliche Beeinträchtigung zeigt. In die Gewichtung sind verschiedene Überlegungen eingeflossen: – Der Bereich der Selbstversorgung (Modul 4) deckt viele der Aktivitäten ab, die derzeit im SGB XI für die Bemessung von Leistungsansprüchen relevant sind. Es handelt sich allerdings auch unabhängig davon um einen für die Ausprägung von Pflegebedürftigkeit zentralen Bereich, der entsprechend hoch zu gewichten ist. – Beeinträchtigungen der Mobilität (Modul 1) durchziehen ähnlich wie kognitive Einbußen alle anderen Lebensbereiche und sind auch unabhängig von anderen alltäglichen Verrichtungen Auslöser für Unterstützungsbedarf. Die Ergebnisse einer Studie zur Leistungsstruktur in stationären Pflegeeinrichtungen [Wingenfeld/Schnabel 2002] zeigen ein Verhältnis von in etwa 4:1 des Leistungsaufwands für Hilfen bei der Selbstversorgung (Modul 4) und des Aufwands für Unterstützung bei der Mobilität. – Die Module 2, 3 und 6 werden mit einem Anteil von zusammen 30 Prozent gewichtet. Diese auf der Grundlage eines durchgeführten Pretests vorgenommene Festlegung hat sich bei der praktischen Erprobung des Instruments als angemessen herausgestellt. Dadurch ist gewährleistet, dass die in diesen Modulen angesprochenen Aspekte in Zukunft adäquat bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit berücksichtigt werden, ohne gleichzeitig eine zu starke Verschiebung zu Lasten von Personen, die ausschließlich unter körperlichen Einbußen leiden, vorzunehmen. – Die Selbständigkeit im Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen fließt mit 20 Prozent in das Gesamtergebnis ein. Sie beträgt damit die Hälfte des Punktwertes des Moduls 4. Damit kann die Bedeutung chronischer Krankheiten für pflegebedürftige, meist ältere Menschen angemessen berücksichtigt werden. Eine höhere Gewichtung erscheint schon allein aufgrund des Umstandes, dass Pflegebedürftige in diesem Bereich sehr heterogene Bedarfsla-
288
9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
gen zeigen und damit möglicherweise schwer begründbare Unterschiede entstehen würden, nicht angezeigt. Entsprechend der Darstellung des Grades der Beeinträchtigung von Selbständigkeit auf einer fünfstufigen Skala je Modul haben die Entwickler des NBA aus inhaltlichen und methodischen Erwägungen vorgeschlagen, bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit in Zukunft fünf Grade der Pflegebedürftigkeit zu unterscheiden: – Grad 1: geringe Beeinträchtigung der Selbständigkeit – Grad 2: erhebliche Beeinträchtigung der Selbständigkeit – Grad 3: schwere Beeinträchtigung der Selbständigkeit – Grad 4: schwerste Beeinträchtigung der Selbständigkeit – Grad 5: besondere Bedarfskonstellation Der niedrigste Grad ist u.a. für Personen vorgesehen, die im derzeitigen System die Pflegestufe I oft nicht erreichen, obwohl sie aus fachlicher Sicht als pflegebedürftig gelten müssen. Der höchste Grad der Pflegebedürftigkeit ist für jene Personen vorgesehen, die nicht nur weitreichende Selbständigkeitsverluste, sondern gleichzeitig einen Bedarf an ungewöhnlich intensiver pflegerischer Versorgung aufweisen. Die Darstellung des Begutachtungsergebnisses in Form eines Punktwerts erlaubt jedoch auch andere Festlegungen auf eine höhere oder geringere Anzahl von Graden der Pflegebedürftigkeit.
9.3.6 Weitere Verwendungsmöglichkeiten des NBA Neben dem primären Ziel der Ermittlung von Leistungsansprüchen können die auf der Grundlage des NBA erhobenen Informationen auch für andere Zwecke genutzt werden: – Aussagen zur Rehabilitationsbedürftigkeit: Das Instrument sieht eine Überprüfung der Rehabilitationsbedürftigkeit und weitere Schritte zur Abklärung des Bedarfs an medizinischer Rehabilitation vor. Diese Abklärung erfolgt wesentlich systematischer als im Rahmen des heutigen Begutachtungsverfahrens. Die Gutachter werden durch einen formalisierten Fragenkatalog dazu angehalten, Hinweise zur Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationsprognose zu erfassen. Dazu soll in den Modulen 1, 2, 4 und 5 die Entwicklungstendenz der Selbständigkeit bzw. Fähigkeiten eingeschätzt werden, d.h., es soll angegeben werden, ob und ggf. wie ein höherer Grad an Selbständigkeit wiedererlangt werden kann (bzw. ob es Möglichkeiten gibt, einer Verschlechterung entgegenzuwirken). Auf dieser Grundlage und unter Berücksichtigung der Rehabilitationsfähigkeit soll eine explizite Empfehlung zur Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen formuliert werden. Bei negativer Entscheidung sind vom Gutachter entsprechende Begründungen gefordert.
9.4 Anpassung des neuen Begutachtungsverfahrens an die Begutachtung von Kindern
289
– Bedarf an Prävention: Neben den Informationen aus den einzelnen Modulen werden systematisch Risiken erfasst, die einen spezifischen Präventionsbedarf begründen können. Dazu gehören krankheitsbedingte Risiken, Umweltfaktoren und verhaltensbedingte Risiken. – Hilfsmittelversorgung: Ähnlich wie im heutigen Begutachtungsverfahren wird der Status der Hilfsmittelversorgung erfasst und eine explizite Einschätzung vorgenommen, inwieweit der Hilfsmittelbedarf gedeckt ist. Dokumentiert wird darüber hinaus, ob vorhandene Hilfsmittel tatsächlich genutzt werden und ob ein Bedarf an Anleitung zur Hilfsmittelnutzung besteht. – Aufstellung eines Pflege- oder Hilfeplans: Die Ergebnisse der Begutachtung lassen sich bei der Aufstellung eines Hilfe- oder Pflegeplans nutzen, obwohl, wie bereits erwähnt, nicht alle relevanten Informationen erfasst werden. Allerdings werden über das NBA deutlich mehr Informationen erhoben als durch die heute vielfach üblichen Formen der pflegerischen Einschätzung in Pflegeeinrichtungen.
9.3.7 Fazit Das NBA bedeutet in vielfacher Hinsicht eine qualitative Weiterentwicklung der Pflegebegutachtung. Die häufig diskutierten Probleme des eingeengten, vorwiegend somatisch fixierten Begriffs der Pflegebedürftigkeit werden durch das umfassendere und pflegewissenschaftlich begründete Verständnis von Pflegebedürftigkeit weitestgehend überwunden und in einer praktikablen Form aufbereitet. Die Abkehr vom Faktor Zeit und die Hinwendung zur Beeinträchtigung der Selbständigkeit als Maßstab führt zu einer objektiveren Betrachtung der Pflegebedürftigkeit, da der Zeitfaktor eine von vielen Faktoren beeinflusste Größe darstellt, die Beeinträchtigung der Selbständigkeit hingegen ein weitgehend kontextunabhängiges Phänomen. Abschließend kann festgehalten werden, dass ein praktikables und methodischen Gütekriterien entsprechendes Instrument entwickelt wurde, das sich für verschiedene Zwecke in der pflegerischen Versorgung in Deutschland nutzen lässt.
9.4 Anpassung des neuen Begutachtungsverfahrens an die Begutachtung von Kindern Volker Meintrup, Sieglinde Eckardt, Christa Büker, Barbara Gansweid und Klaus Wingenfeld Die Einschätzung der Pflegebedürftigkeit bei Kindern folgt den Prinzipien der Erwachsenenbegutachtung. Auf die Entwicklung einer eigenen, modifizierten Version des Begutachtungsinstruments wurde verzichtet, da sich im Verlauf der Entwicklungs-
290
9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
arbeiten herausstellte, dass die für Erwachsene relevanten Items mit nur wenigen Anpassungen auch Geltung für Kinder und Jugendliche beanspruchen können. Der wesentliche Unterschied besteht vielmehr darin, dass bei Kindern in der Bewertung allein die Abweichung von der Selbständigkeit gesunder Kinder zugrunde gelegt wird. Hierzu wird nach bestimmten Regeln der vorhandene Grad der Selbständigkeit erfasst und mit der altersentsprechenden Entwicklung verglichen. Nach Darlegung einiger grundsätzlicher Aspekte der kindlichen Entwicklung soll im Folgenden die Vorgehensweise in der Anpassung des Verfahrens an die Kinderbegutachtung sowie bei der Berechnung der Pflegestufe bei Kindern näher erläutert werden. Abschließend werden erste Erfahrungen in der Anwendung des neuen Verfahrens berichtet.
9.4.1 Grundsätzliche Aspekte der kindlichen Entwicklung Ein wesentliches Merkmal der normalen kindlichen Entwicklung ist die Variabilität aller Entwicklungsschritte. Dies erschwert es, altersgemäße Norm- oder Schwellenwerte festzulegen. Die Variabilität eines Entwicklungsmerkmals wird sowohl durch die genetische Anlage als auch durch Umweltfaktoren bestimmt [Largo 2000]. Nach Michaelis et al. differenziert sich die Variabilität in [Michaelis et al. 1993]: – Interindividuelle Variabilität: nicht vorhersagbarer individueller Verlauf – Individuelle Variabilität: Herausbildung einzelner Funktionen oder Entwicklungsbereiche zu unterschiedlichen Zeitpunkten (z.B. rasche motorische, aber langsame sprachliche Entwicklung) – Inkonsistenzen: Überspringen von Entwicklungsschritten (z.B. Krabbeln) oder zeitlich begrenzter Rückfall in eine frühere Entwicklungsstufe (Regression) – Interkulturelle Variabilität: Entwicklungsunterschiede unterschiedlicher Kulturkreise – Geschlechtsunterschiede: schnellere Sprach- und Sozialentwicklung der Mädchen, schnellere somatische Entwicklung der Jungen [Largo 2004] Diese Variabilitäten sind bei der Festlegung altersentsprechender Fähigkeiten und Selbständigkeiten zu berücksichtigen, um nicht Gefahr zu laufen, Kinder ungerechtfertigt als auffällig einzustufen und unnötige diagnostische, therapeutische oder pädagogische Maßnahmen einzuleiten. Zur Entwicklungsbeurteilung von Kindern zwischen null und sechs Jahren stehen verschiedene methodische Ansätze zur Verfügung [Michaelis 2004]. Neben einer sorgfältigen Anamneseerhebung kommen diverse Screeningverfahren und Entwicklungstests zum Einsatz. Im Fokus der Diagnostik stehen vor allem die Entwicklungsbereiche Körper- und Handmotorik, kognitive Fähigkeiten, Sprach- bzw. Sprechfähigkeit und die soziale Kompetenz. In den letzten Jahren rückte außerdem die Bedeutung der emotionalen Kompetenz für die Gesamtentwicklung eines Kindes stärker in den Fokus der Entwicklungspädiatrie [Michaelis 2004]. Durch zahlreiche Untersuchun-
9.4 Anpassung des neuen Begutachtungsverfahrens an die Begutachtung von Kindern
291
gen ist belegt, dass die meisten Eltern ihre Kinder und deren entwicklungsabhängige Fähigkeiten sehr gut beschreiben können, wenn ihnen die Fragen dazu präzise und in laienverständlicher Form gestellt werden [Schlack 2004].
9.4.2 Vorgehensweise bei der Anpassung des Verfahrens Bei der Anpassung des Neuen Begutachtungsassessments galt es insbesondere, der kindlichen Entwicklung Rechnung zu tragen. Ausgangspunkt bildete eine Literaturrecherche und -analyse zur allgemeinen kindlichen Entwicklung und speziell zum Entwicklungsverlauf in den einzelnen Items des Begutachtungsinstruments. In einem nächsten Schritt erfolgte die Ermittlung und Festlegung von Altersgrenzen mit der jeweiligen Zuordnung zu einem Selbständigkeitsgrad.
9.4.2.1 Literaturanalyse zum Entwicklungsverlauf in den einzelnen Items Zur Beantwortung der Frage, welche der im Begutachtungsinstrument enthaltenen Aktivitäten und Lebensbereiche in welchem Alter selbständig durchgeführt werden können, erfolgte eine Recherche relevanter nationaler und internationaler Literatur in ausgewählten Datenbanken (Fachdatenbanken der Medizin, Psychologie und Pädagogik sowie der Gesundheits-, Pflege- und Sozialwissenschaften). Die anschließende Literaturanalyse wurde ergänzt durch die Fachexpertise einiger Kinderärzte und Pflegefachkräfte aus verschiedenen Medizinischen Diensten im Rahmen einer Fokusgruppendiskussion zum neuen Instrument für die Kinderbegutachtung. Die Analyse zielte darauf ab, zu den im Neuen Begutachtungsassessment verwendeten Items eine auf empirischen Untersuchungen basierende Aussage zu treffen, wann die entsprechende Aktivität üblicherweise selbständig von einem Kind durchgeführt wird bzw. die entsprechende Fähigkeit ausgebildet ist. Ausnahmen bildeten die altersunabhängigen Module 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) und 5 (Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen). Ferner wurde das Modul 8 (Haushaltsführung) ausgespart.
9.4.2.2 Ermittlung von Altersgrenzen Altersgrenzen wurden zu sämtlichen Items der Module Mobilität, kognitive Fähigkeiten und Kommunikation, Selbstversorgung und Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte festgelegt. Zur Festlegung dieser Grenzen wurde auf die aktuellen Erkenntnisse der Entwicklungspädiatrie zur „normalen“ Entwicklung von Kindern zurückgegriffen [u.a. Haug-Schnabel 2007, Largo 2004, Michaelis/Niemann 2004, Schlack 2004]. Anhand verschiedener etablierter Entwicklungstests und Screeninguntersuchungen, darunter die Denver Entwicklungsskala [Flehmig 2007], der Entwicklungstest ET 6-6 [Petermann et al. 2006] und die Griffith Entwicklungsskalen [Brandt/
292
9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
Sticker 2001], sowie unter Einbeziehung des Grenzsteinprinzips [Michaelis 2004] konnten zu zahlreichen Items entsprechende empirische Belege identifiziert werden, wann die meisten gesunden Kinder Selbständigkeit in dem jeweiligen Item erlangen. Maßgebliche Belege lieferte auch das Pediatric Evaluation of Disability Inventory (PEDI) [Haley et al. 1998] als ein sehr umfassendes Assessmentverfahren mit engem Bezug zu kindlichen Alltagssituationen. Die Festlegung der jeweiligen Altersgrenzen im neuen Begutachtungsinstrument für Kinder gründet sich bis auf wenige Ausnahmen auf die Angaben, nach denen mindestens 75 Prozent (PEDI) bzw. 90 Prozent (sonstige Verfahren) der gesunden Kinder die jeweilige Fähigkeit erworben und den entsprechenden Entwicklungsschritt vollzogen haben.
9.4.2.3 Zuordnung der Altersgrenzen zum Selbständigkeitsgrad Wie in der Erwachsenenbegutachtung erfolgt die Bewertung der Selbständigkeit bei Kindern anhand der vierstufigen Skala mit den Ausprägungen „selbständig“, „überwiegend selbständig“, „überwiegend unselbständig“ und „unselbständig“. Dementsprechend musste für jedes Item des Erhebungsbogens in der Bewertungssystematik festgelegt werden, in welchem Alter diese Stufen der Selbständigkeit erreicht werden. Es zeigen sich bei den einzelnen Items sehr unterschiedliche Zeitspannen zwischen diesen Selbständigkeitsstufen. Insbesondere in den ersten 18 Lebensmonaten liegen relevante Entwicklungsschritte nur wenige Wochen oder Monate auseinander. In der Gesamtbetrachtung wird erkennbar, dass die meisten kindlichen Entwicklungsschritte bis zum Alter von sechs Jahren vollzogen sind. Die höchste Altersgrenze der in dem neuen Begutachtungsverfahren berücksichtigten Items liegt bei elf Jahren.
9.4.3 Berechnung eines Grads der Pflegebedürftigkeit Die ermittelten Altersstufen der kindlichen Entwicklung finden sich im NBA automatisch hinterlegt wieder, so dass der Gutachter keine Überlegungen anstellen muss, ob ein Kind altersgemäß entwickelt ist oder nicht. Seine Aufgabe ist es lediglich, analog zur Erwachsenenbegutachtung die festgestellten Beeinträchtigungen und den Grad der Selbständigkeit zu dokumentieren. Der Umgang mit den Altersstufen in der Bewertungssystematik zur späteren Berechnung der Pflegestufe soll für den Bereich der Mobilität anhand eines Beispiels erläutert werden: Ein zwölf Monate altes Kind mit einer schweren körperlichen und geistigen Behinderung kann sich aus eigener Kraft kaum bewegen, es kann lediglich in Bauchlage den Kopf von der Unterlage anheben. Ansonsten muss es komplett gelagert, gehoben und getragen werden. – Das Kind ist bei dem Item Stabile Sitzposition halten als „unselbständig“ einzustufen. Altersgemäß müsste es schon in der Lage sein, die stabile Sitzposition zu halten (s. Tab. 9.2). Ebenso wie bei einem Erwachsenen werden bei diesem Kind
9.4 Anpassung des neuen Begutachtungsverfahrens an die Begutachtung von Kindern
–
–
–
–
293
drei von drei Punkten gewertet, da entwicklungsbedingt für dieses Item „selbständig“ definiert und hinterlegt ist. Beim Positionswechsel im Bett kann das Kind schon geringfügig mithelfen, da es hierbei den Kopf anheben kann und somit als „überwiegend unselbständig“ einzustufen ist. Somit weicht sein Selbständigkeitsgrad in der Bewertung um zwei Stufen vom alterstypischen Entwicklungsstand „selbständig“ ab. Es werden hier zwei von maximal drei Punkten gewertet. Das Item Aufstehen aus sitzender Position wird als „unselbständig“ und mit drei Punkten bewertet, da ein Kind sich in der Regel mit elf Monaten zum Stehen alleine hochziehen kann. Bei der Fortbewegung innerhalb des Wohnbereiches wäre ein „überwiegend unselbständig“ altersgemäß; da das Kind aber völlig „unselbständig“ ist, weicht sein Abhängigkeitsgrad hier um eine Stufe vom altersgemäßen Level ab; es erhält bei diesem Item einen von maximal drei Punkten. Beim Treppensteigen sind alle Kinder unter 15 Monaten unselbständig, hier gibt es keine Abweichung in der Selbständigkeit und demnach keinen Punkt.
Tab. 9.2: Selbständigkeitsgrade im Item „Stabile Sitzposition halten“ beim Neuen Begutachtungsassessment. Item
0 selbständig
1 überwiegend selbständig
2 überwiegend unselbständig
3 unselbständig
Stabile Sitzposition halten
ab 9 Monaten
von 8 Monaten bis < 9 Monaten
von 6 Monaten bis < 8 Monaten
< 6 Monate
Insgesamt erhält dieses Kind neun Punkte im Bereich der Mobilität, womit auf der fünfstufigen Bewertung der Mobilität das Ergebnis „schwerwiegende Beeinträchtigung“ (im Vergleich zu einem altersentsprechend entwickelten Kind) vorläge. Wie erkennbar wird, handelt sich in der Ermittlung der Pflegestufe bei Kindern um ein durchaus kompliziertes Berechnungsverfahren. Dies führt jedoch aufgrund der Hinterlegung der Altersstufen im Begutachtungsinstrument nicht zu einer Beeinträchtigung der Praktikabilität des Instruments in der konkreten Begutachtungssituation.
9.4.4 Erste Erfahrungen in der praktischen Anwendung In den ersten Anwendung bei 41 Kindern im Pretest und bei 227 Kindern in der Hauptphase 2 waren sowohl Pädiater und Gesundheits- und Kinderkrankenschwestern sowie auch andere in der Kinderbegutachtung geschulte und langjährig tätige Pfle-
294
9 Weiterentwicklung des Begutachtungsassessments
gefachkräfte als Gutachter/innen eingebunden. Die Eltern zeigten eine hohe Bereitschaft zur Durchführung eines zusätzlichen Begutachtungsverfahrens. Aus ihrer Sicht wurden im Vergleich zum bisherigen Verfahren relevante Aspekte insbesondere zur individuellen psychosozialen Situation und zu besonderen Problemlagen (z.B. ausgeprägte Spastik) in der Versorgung ihrer kranken und behinderten Kinder erfasst sowie die Belastungen durch die krankheitsbedingten Anforderungen angemessener berücksichtigt. Inzwischen wurde der Einsatz des NBA bei Kindern auch außerhalb Deutschlands erprobt [vgl. Wingenfeld 2012]. Im Rahmen einer Studie in der Autonomen Provinz Bozen (Italien), in die rund 100 Kinder einbezogen waren, erwies sich das NBA auch unter den Bedingungen eines anders beschaffenen Systems der Pflegesicherung als zuverlässig und praktikabel. Auch einzelne Merkmale der methodischen Güte wurden noch einmal bewertet. So führte eine Testung der Urteilerübereinstimmung, bei der zwei Personen unabhängig voneinander die Beurteilung desselben Kindes vornahmen, zu einem sehr guten Ergebnis. Bei insgesamt elf Testungen kam es nur zu marginalen Unterschieden zwischen den jeweiligen Einschätzungsergebnissen. Es handelt sich hierbei zwar um eine kleine Stichprobe, doch bleibt bemerkenswert, dass die Verwendung des NBA offenbar auch außerhalb des Kontextes der deutschen Pflegeversicherung zuverlässig möglich ist. Die Erprobungsergebnisse zeigen, dass das „Neue Begutachtungsassessment“ als Einstufungsverfahren im Pflegesicherungssystem der Autonomen Provinz Bozen ohne nennenswerte Modifikationen einsetzbar wäre. Ein grundlegendes Problem der Kinderbegutachtung kann allerdings weder mit dem NBA und noch mit einem anderen Instrument gelöst werden. Angesprochen ist damit die Einstufung sehr junger Kinder im Alter von bis zu 16 oder 18 Monaten. Sie sind bei vielen Aktivitäten vollkommen abhängig von ihren Eltern und weisen stets einen sehr hohen altersbedingten Bedarf auf, neben dem der Bedarf aufgrund gesundheitlicher Störungen wenig ins Gewicht fällt. Einstufungsergebnisse sind bei diesen Kindern außerdem sehr kurzlebig, denn die meisten von ihnen machen, auch wenn sie von chronischen Krankheiten oder Behinderungen betroffen sind, in relativ kurzer Zeit spürbare Entwicklungsfortschritte. Der Grad der Selbständigkeit und auch der Umfang des Bedarfs verändern sich innerhalb weniger Monate erheblich, weshalb ein Begutachtungsergebnis streng genommen in sehr kurzen Zeitabständen überprüft werden müsste. Dies ist allerdings nicht praktikabel. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob bei sehr jungen Kindern nicht, wie von den Entwicklern des NBA empfohlen wurde, eine vereinfachte Prüfung des Anspruchs auf Leistungen der Pflegeversicherung erfolgen sollte.
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege 10.1 Entwicklung der Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen Hans Gerber und Friedrich Schwegler Mit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 wurde dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) die Aufgabe übertragen, als externe Qualitätssicherungsmaßnahme im Auftrag der Landesverbände der Pflegekassen Qualitätsprüfungen in ambulanten Pflegediensten und stationären Pflegeeinrichtungen durchzuführen. Als Grundlage zur Beurteilung der Qualität der Pflege wurden nach den Vorgaben des SGB XI Vereinbarungen zwischen den Bundesverbänden der Kostenträger und den Bundesverbänden der Leistungserbringer getroffen, die so genannten „Gemeinsamen Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität und Qualitätssicherung nach § 80 SGB XI“. Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes zum 01.07.2008 wurde durch § 113 SGB XI eine neue gesetzliche Grundlage für diese Vereinbarungen geschaffen. Als Vereinbarungspartner sind der Spitzenverband Bund der Pflegekassen, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände und die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene festgelegt. Verabschiedet wurden bisher die nun als Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) in der – ambulanten Pflege vom 27.05.2011, – stationären Pflege vom 27.05.2011, – teilstationären Pflege (Tagespflege) vom 10.12.2012 bezeichneten Vereinbarungen. Alle drei Vereinbarungen konnten erst nach einer Entscheidung der Schiedsstelle (s. Kap. 10.2) in Kraft treten. Eine weitere Vereinbarung für die Kurzzeitpflege ist in Vorbereitung. Die früheren „Gemeinsamen Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität und Qualitätssicherung nach § 80 SGB XI“ wurden damit als Basis für die Qualität und Qualitätssicherung in Pflegeeinrichtungen abgelöst. In der Anfangsphase der Prüftätigkeit des MDK wurden durch die Landesverbände der Pflegekassen vor allem Aufträge für Anlassprüfungen nach Beschwerden und sonstigen Hinweisen erteilt. Insgesamt war die Anzahl der durch die Medizinischen Dienste durchgeführten Qualitätsprüfungen im Vergleich zu heute gering. Unter Nutzung der Erfahrungen mit der Umsetzung des MDK-Konzeptes wurde in den darauf folgenden Jahren eine „MDK-Anleitung zur Prüfung der Qualität nach § 80 SGB XI“, getrennt für die ambulante und die stationäre Pflege, entwickelt, die
296
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
im Jahr 2000 das bisherige MDK-Konzept ablöste und eine erste Schwerpunktverlagerung von der Struktur- hin zur Prozess- und Ergebnisqualität bedeutete. Darüber hinaus war damit eine noch stringentere Ausrichtung der Qualitätsprüfungen am allgemeinen Stand des medizinisch-pflegerischen Wissens verbunden. Mit dem zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität am 01.01.2002 in Kraft getretenen Pflege-Qualitätssicherungsgesetz (PQsG) wurde die Verantwortung der Pflegeeinrichtungen für die eigene interne Qualitätssicherung und der Medizinischen Dienste für die externe Qualitätssicherung hervorgehoben. Die neuen umfangreicheren Prüfanforderungen erforderten eine Anpassung und Erweiterung der Prüfanleitung. Nach umfangreichen Vorarbeiten der Spitzenverbände der Pflegekassen und der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ der MDK-Gemeinschaft (SEG 2) sowie mit Unterstützung von externen Pflegeexperten wurden in der Folgezeit Qualitätsprüfungs-Richtlinien (QPR) erarbeitet, die zum 01.01.2006 in Kraft traten und die bisherige MDK-Anleitung ersetzten. Als Richtlinien haben die QPR einen für alle am Prüfgeschehen Beteiligten verbindlichen Charakter und regeln im Detail die Prüftätigkeit des MDK. In ihnen werden sowohl die allgemeinen Anforderungen an die Durchführung der Qualitätsprüfungen festgelegt, z.B. die Prüffrequenz, die Zusammensetzung und Qualifikation der Prüfteams etc., als auch detaillierte inhaltliche Vorgaben zum Prüfinstrumentarium gemacht. Die Schwerpunktsetzung wurde weiter auf die Ergebnisqualität verlagert, jedoch auch Fragen zur hauswirtschaftlichen Versorgung integriert und die verstärkte Einbeziehung von Fragen zur sozialen Betreuung der Bewohner in stationären Einrichtungen sowie die vermehrte Berücksichtigung von Fragen zur Hygiene sowohl in stationären als auch in ambulanten Pflegeeinrichtungen vorgenommen. Die Qualitätsprüfungs-Richtlinien hatten in den Medizinischen Diensten eine weitere Normierung und Vereinheitlichung der Prüfinhalte und -abläufe zur Folge und gingen mit der flächendeckenden Einführung einer EDV-gestützten Prüftätigkeit und Bewertungssystematik einher. Diese Maßnahmen förderten die Vergleichbarkeit der Prüfergebnisse der einzelnen Einrichtungen in hohem Maße. Die Qualitätsprüfungen nach § 80 und später nach § 114 SGB XI der Medizinischen Dienste dienten von Anbeginn als externe Qualitätssicherung des einrichtungsinternen Qualitätsmanagements der ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen. Sie haben einen beratungsorientierten Prüfansatz, nach dem die externe Qualitätssicherung als eine Einheit von Prüfung, Empfehlung und Beratung gesehen und umgesetzt wird. Entsprechend diesem Prüfansatz unterstützen die durch den MDK durchgeführten externen Qualitätsprüfungen nach § 80, später nach § 114 SGB XI die internen Qualitätssicherungsmaßnahmen der Pflegeeinrichtungen und geben Impulse für ggf. erforderliche Qualitätsverbesserungen. Die Qualitätsprüfungen umfassen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Nur durch diese Gesamtbetrachtung aller drei Dimensionen der Qualität ist eine zutreffende Bewertung der Prüfergebnisse möglich. Die mit den MDK-Anleitungen zur Verfügung gestellten Erhebungsinstrumente ermöglichen die Überprüfung dieser drei
10.1 Entwicklung der Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen
297
Qualitätsdimensionen. Zur Beurteilung der Ursachen von Mängeln in der Ergebnisqualität müssen wesentliche Elemente der Struktur- und Prozessqualität mit in die Betrachtung einbezogen werden. Aus dem dargestellten Aufgabenverständnis ergeben sich für die Medizinischen Dienste besondere fachliche Anforderungen hinsichtlich der Kompetenz seiner Prüfteams. Die Akzeptanz der Qualitätsprüfungen hängt ganz wesentlich von der Fachkompetenz sowie der Vorgehensweise der Prüfteams in diesem Aufgabenfeld ab. Bei der Auswahl der für diese Aufgabe einzusetzenden Mitarbeiter stehen Kriterien wie pflegefachliche Kompetenz, langjährige Berufserfahrung, insbesondere in Leitungsfunktionen, und Kenntnisse im Bereich des Qualitätsmanagements im Vordergrund. Nach den QPR müssen die Mitglieder der Prüfteams über umfassende pflegefachliche Kompetenz, Führungskompetenz und Kenntnisse im Bereich der Qualitätssicherung verfügen. Mindestens ein Mitglied des Prüfteams muss über eine Auditorenausbildung oder eine vom Inhalt und Umfang her gleichwertige Qualifikation verfügen. Bis zum 30.06.2008 sah das SGB XI folgende Prüfungsarten vor: Stichprobenprü fungen, Anlassprüfungen und Wiederholungsprüfungen. Während Anlassprüfungen, wie der Name sagt, nach Beschwerden oder anderen Hinweisen von den Landesverbänden der Pflegekassen beauftragt wurden, erfolgten die Stichprobenprüfungen nach einer Zufallsauswahl aus der Gesamtheit der im Zuständigkeitsbereich des jeweiligen MDK gelegenen zugelassenen Pflegeeinrichtungen. Die Wiederholungsprüfungen bezogen sich auf die Überprüfung der Ergebnisse nach vorangegangenen Stichproben- oder Anlassprüfungen. Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) zum 01.07.2008 wurde die Prüftätigkeit des MDK erheblich ausgeweitet und neu geregelt. Jede zugelassene Pflegeeinrichtung ist regelmäßig im Abstand von höchstens einem Jahr einer Qualitätsprüfung zu unterziehen (Regelprüfung). Sämtliche Qualitätsprüfungen im stationären Bereich sind unangemeldet durchzuführen. Prüfungen im ambulanten Bereich sind dagegen seit Inkrafttreten des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes (PNG) im Jahr 2012 – vorrangig aus organisatorischen Gründen – am Tag zuvor anzukündigen. Unterschieden wird zwischen Regelprüfungen, Anlassprüfungen und Wiederholungsprüfungen (s. Kap. 10.2). Als weitere Neuerung des Pflege-NeuausrichtungsGesetzes ist in § 114 SGB XI festgelegt, dass sich der Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. im Umfang von zehn Prozent aller in einem Jahr anfallenden Prüfaufträge an den Qualitätsprüfungen zu beteiligen hat. Darüber hinaus können die Landesverbände der Pflegekassen neben dem MDK und dem Prüfdienst des Verbandes der privaten Pflegeversicherung e.V. auch andere Sachverständige mit der Durchführung von Qualitätsprüfungen beauftragen. Die Anforderungen an die Qualifikation der anderen unabhängigen Sachverständigen finden sich in der Anlage 1 zu den oben genannten Maßstäben und Grundsätzen.
298
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
Tab. 10.1: Anzahl der durch den MDK durchgeführten Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen in Deutschland (Berechnung auf der Basis der bundesweit an den MDS gemeldeten Qualitätsprüfungen). Jahr
Anzahl der Qualitätsprüfungen
1997/1998
1 469
1999
2 488
2000
3 355
2001
3 460
2002
4 402
2003
3 907
2004
4 326
2005
4 425
2006
4 083
2007
4 129
2008
5 291
2009
8 101
2010
13 094
2011
22 700
2012
23 193
Gesamt
108 423
Zur internen Qualitätssicherung der von den Medizinischen Diensten durchgeführten Qualitätsprüfungen wurde ein MDK-internes und übergreifendes Qualitätsmanagement eingeführt, das modular aufgebaut ist. Die Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach § 114ff. SGB XI (Qualitätssicherungs-Richtlinien Qualitätsprüfung – QS-Ri QP) traten am 06.05.2013 in Kraft. Als Qualitätssicherungsmaßnahmen sind vorgesehen: MDK-übergreifende und externe Audits, schriftliche Befragungen der Auftrag gebenden Landesverbände der Pflegekassen und der geprüften Pflegeeinrichtungen sowie Plausibilitätsprüfungen der Prüfberichte vor. Bei der Weiterentwicklung der Prüfinstrumente sind die jeweils aktuellen Erkenntnisse der Wissenschaft und die Erfahrungen von Qualitätsexperten aus dem Bereich des Prüfwesens zur Durchführung von Qualitätsprüfungen zu berücksichtigen.
10.2 Gesetzliche Grundlagen der Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen
299
10.2 Gesetzliche Grundlagen der Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen Hans Gerber Die Vorschriften zur Sicherung und Entwicklung der Qualität in der Pflege sind seit Inkrafttreten des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes (PQsG) am 01.01.2002 im Elften Kapitel des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) zusammengefasst. Mit dem zum 01.07.2008 in Kraft getretenen Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wurden sie ergänzt und neu strukturiert. Damit wurden Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung entsprechend ihrer Bedeutung für eine Leistungserbringung nach dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse sowie entsprechend ihrer Bedeutung für die Akzeptanz der Pflegeversicherung durch die pflegebedürftigen Menschen umfassend geregelt. Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG), das zum 30.10.2012 in Kraft trat, wurden weitere Detailänderungen vorgenommen. Die in den §§ 112 bis 115 SGB XI formulierten Vorschriften führen den mit dem Pflege-Qualitätssicherungsgesetz und Pflege-Weiterentwicklungsgesetz eingeleiteten Prozess der Weiterentwicklung der Pflegequalität fort. In den Regelungen werden Vorschläge des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen aus seinem Gutachten aus dem Jahr 2005 zur Koordination und Qualität im Gesundheitswesen umgesetzt. Darin wird beispielsweise gefordert, die Professionalität in der Pflege zu erhöhen und die Einrichtungen zu einer nutzerfreundlicheren Informationspolitik zu verpflichten. Die Weiterentwicklung von Pflegequalität stützt sich hierbei insbesondere auf folgende drei Säulen: 1. die Entwicklung und Fortschreibung von Qualitätsinhalten in der Pflege durch Expertenstandards (§ 113a SGB XI) 2. die stärkere Anerkennung des internen Qualitätsmanagements und eine größere Transparenz der Ergebnisse (besonders §§ 114 Abs. 3 und 115 Abs. 1a SGB XI) 3. die Weiterentwicklung der Prüfverfahren des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung und anderer Prüfinstitutionen sowie die Transparenz der dabei gewonnenen Ergebnisse (§§ 114, 114a und 115 SGB XI) Im Einzelnen sind folgende Vorschriften zur Qualitätssicherung hervorzuheben:
§ 112 SGB XI Qualitätsverantwortung Die Träger der Pflegeeinrichtungen bleiben, unbeschadet des Sicherstellungsauftrages der Pflegekassen, verantwortlich für die Qualität der Leistungen ihrer Einrichtungen einschließlich der Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität. Die Pflegeeinrichtungen sind verpflichtet, Maßnahmen der Qualitätssicherung sowie ein Qualitätsmanagement auf der Basis der Maßstäbe und Grundsätze nach § 113 SGB XI
300
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
durchzuführen, Expertenstandards nach § 113a SGB XI anzuwenden sowie bei Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI mitzuwirken. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) berät die Pflegeeinrichtungen in Fragen der Qualitätssicherung mit dem Ziel, Qualitätsmängeln rechtzeitig vorzubeugen und die Eigenverantwortung der Pflegeeinrichtungen und ihrer Träger für die Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität zu stärken.
§ 113 SGB XI Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität Die früher in § 80 enthaltene Regelung zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität durch die Vereinbarung von Maßstäben und Grundsätzen wurde mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz inhaltlich erweitert und in § 113 SGB XI eingefügt, um den engen Zusammenhang mit den weiteren Vorschriften der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in den folgenden Paragraphen zu betonen. Gemeinsam und einheitlich haben der Spitzenverband Bund der Pflegekassen, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände und die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und die Qualitätssicherung in der ambulanten und stationären Pflege sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements zu vereinbaren. Hierbei sind der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen, der Verband der privaten Krankenversicherung e.V., die Verbände der Pflegeberufe auf Bundesebene, die maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten Menschen sowie unabhängiger Sachverständiger zu beteiligen. Die Maßstäbe und Grundsätze sind für alle Pflegekassen und deren Verbände sowie für die zugelassenen Pflegeeinrichtungen unmittelbar verbindlich. Die Grundsätze und Maßstäbe haben insbesondere auch Anforderungen zu regeln 1. an eine praxistaugliche, den Pflegeprozess unterstützende und die Pflegequalität fördernde Pflegedokumentation, die über ein für die Pflegeeinrichtungen vertretbares und wirtschaftliches Maß nicht hinausgehen dürfen, 2. an Sachverständige und Prüfinstitutionen nach § 114 Abs. 4 im Hinblick auf ihre Zuverlässigkeit, Unabhängigkeit und Qualifikation, 3. an die methodische Verlässlichkeit von Zertifizierungs- und Prüfverfahren nach § 114 Abs. 4, die den jeweils geltenden Richtlinien des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen über die Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität entsprechen müssen sowie 4. an ein indikatorengestütztes Verfahren zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität im stationären Bereich, das auf der Grundlage einer strukturierten Datenerhebung im Rahmen des internen Qualitätsmanagements eine Qualitätsberichterstattung und die externe Qualitätsprüfung ermöglicht.
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§ 113a SGB XI Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege Die Entwicklung und Aktualisierung wissenschaftlich fundierter und fachlich abgestimmter Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege ist durch die Vertragsparteien nach § 113 SGB XI sicherzustellen. Die methodischen Anforderungen und die Sicherstellung der pflegefachlichen Qualität des Verfahrens an die Entwicklung von Expertenstandards sind in einer Verfahrensordnung geregelt. Der Begriff „Expertenstandard“ ist in der pflegewissenschaftlichen Fachwelt und in der Pflegepraxis eingeführt. Seit langem zeichnet sich ab, dass in den Pflegeberufen dem verbindlichen Instrument „Standard“ der Vorzug gegeben wird, während die Medizin in der „Leitlinie“ das besser geeignete Instrument sieht. Beide Instrumente dienen der Qualitätsentwicklung in der Praxis und dem Theorie-PraxisTransfer. Expertenstandards als Ergebnis eines fachlich organisierten und konsensorientierten Diskussionsprozesses stellen ein ausgesprochen wichtiges Instrument der internen Qualitätsentwicklung in der Pflege dar. Sie tragen für ihren Themenbereich zur Konkretisierung des allgemein anerkannten Standes der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse bei, der nach dem SGB XI dem pflegerischen Handeln und der Qualitätsverantwortung der Pflegeeinrichtungen und ihrer Träger (§ 11) und dem Sicherstellungsauftrag der Pflegekassen (§ 69) zugrunde liegt. Die Beachtung des aktuellen Erkenntnisstandes ist von Bedeutung, z.B. bei Pflegefehlern, die zu haftungsrechtlichen Folgen führen können. Die Diskussion um die Qualitätsentwicklung in der Pflege und die Frage nach verlässlichen Grundlagen einer qualitätsgestützten Pflege hat gezeigt, dass in der Praxis wissenschaftlich fundierte und fachlich abgestimmte Expertenstandards dringend benötigt werden. Die Expertenstandards sind im Bundesanzeiger veröffentlicht und für alle Pflegekassen und deren Verbände sowie für die zugelassenen Pflegeeinrichtungen unmittelbar verbindlich.
§ 113b SGB XI Schiedsstelle Qualitätssicherung Die Schiedsstelle Qualitätssicherung wurde von den Vertragsparteien nach § 113 SGB XI eingerichtet. Sie besteht aus Vertretern des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen und der Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene in gleicher Zahl sowie einem unparteiischen Vorsitzenden und zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern. Die unparteiischen Mitglieder sowie deren Stellvertreter werden von den Vertragsparteien gemeinsam bestellt. Der Schiedsstelle Qualitätssicherung obliegen folgende Aufgaben: – Sie setzt den Inhalt von Vereinbarungen über Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität fest, wenn sich die Vertragsparteien darüber ganz oder teilweise nicht einigen können (§ 113 Abs. 3). – Sie entscheidet im Streitfall, ob zu einem Thema ein Expertenstandard erarbeitet bzw. überarbeitet werden soll und ob ein Expertenstandard als beschlossen gilt,
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wenn ein Beschluss von den Vertragsparteien nicht herbeigeführt werden konnte (§ 113a Abs. 1), und – sie legt die Kriterien der Veröffentlichung der Prüfergebnisse bezüglich der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität fest, wenn die Vertragspartner diese nicht fristgerecht festlegen (§ 115 Abs. 1a). – Sie kann von einem Vereinbarungspartner außerdem angerufen werden, wenn zur Anpassung der Vereinbarungen über die Kriterien der Veröffentlichung einschließlich der Bewertungssystematik an den medizinisch-pflegefachlichen Fortschritt innerhalb von sechs Monaten ab schriftlicher Aufforderung eines Vereinbarungspartners zu Verhandlungen eine einvernehmliche Einigung nicht zustande kommt. Die Frist entfällt, wenn der Spitzenverband Bund der Pflegekassen und die Mehrheit der Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene nach einer Beratung aller Vereinbarungspartner die Schiedsstelle einvernehmlich anrufen. Gegen die Entscheidung der Schiedsstelle ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben. Ein Vorverfahren findet nicht statt; die Klage gegen die Entscheidung der Schiedsstelle hat keine aufschiebende Wirkung.
§ 114 SGB XI Qualitätsprüfungen In § 114 sind die grundsätzlichen Anforderungen an das Prüfverfahren geregelt. Die Erteilung eines Auftrages zur Durchführung einer Qualitätsprüfung erfolgt durch die Landesverbände der Pflegekassen an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, den Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. im Umfang von zehn Prozent der in einem Jahr anfallenden Prüfaufträge oder an einen von ihnen bestellten Sachverständigen. Der Prüfauftrag enthält Angaben zur Prüfart, zum Prüfgegenstand und zum Prüfumfang. Die Prüfung erfolgt als Regelprüfung, Anlassprüfung oder Wiederholungsprüfung. Die Pflegeeinrichtungen haben die ordnungsgemäße Durchführung der Prüfungen zu ermöglichen. Ab dem 01.01.2014 sind vollstationäre Pflegeeinrichtungen darüber hinaus verpflichtet, die Landesverbände der Pflegekassen unmittelbar nach einer Regelprüfung darüber zu informieren, wie die ärztliche, fachärztliche und zahnärztliche Versorgung sowie die Arzneimittelversorgung in den Einrichtungen geregelt sind. Sie sollen insbesondere hinweisen auf 1. den Abschluss und den Inhalt von Kooperationsverträgen oder die Einbindung der Einrichtung in Ärztenetze sowie 2. den Abschluss von Vereinbarungen mit Apotheken. Wesentliche Änderungen hinsichtlich der ärztlichen, fachärztlichen und zahnärztlichen Versorgung sowie der Arzneimittelversorgung sind den Landesverbänden der Pflegekassen innerhalb von vier Wochen zu melden.
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Die Landesverbände der Pflegekassen veranlassen in zugelassenen Pflegeeinrichtungen bis zum 31.12.2010 mindestens einmal und ab dem Jahre 2011 regelmäßig im Abstand von höchstens einem Jahr eine Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder durch von ihnen bestellte Sachverständige (Regelprüfung). Zu prüfen ist, ob die Qualitätsanforderungen nach SGB XI und nach den auf dieser Grundlage abgeschlossenen vertraglichen Vereinbarungen erfüllt sind. Die Regelprüfung erfasst insbesondere wesentliche Aspekte des Pflegezustandes und die Wirksamkeit der Pflege- und Betreuungsmaßnahmen (Ergebnisqualität). Sie kann auch auf den Ablauf, die Durchführung und die Evaluation der Leistungserbringung (Prozessqualität) sowie die unmittelbaren Rahmenbedingungen der Leistungserbringung (Strukturqualität) erstreckt werden. Die Regelprüfung bezieht sich auf die Qualität der allgemeinen Pflegeleistungen, der medizinischen Behandlungspflege, der sozialen Betreuung einschließlich der zusätzlichen Betreuung und Aktivierung im Sinne des § 87b SGB XI, der Leistungen bei Unterkunft und Verpflegung (§ 87 SGB XI), der Zusatzleistungen (§ 88 SGB XI) und der nach § 37 SGB V erbrachten Leistungen der häuslichen Krankenpflege. Sie kann sich auch auf die Abrechnung der genannten Leistungen erstrecken. Zu prüfen ist auch, ob die Versorgung der Pflegebedürftigen den Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention nach § 23 Abs. 2 des Infektionsschutzgesetzes entspricht. Die Landesverbände der Pflegekassen haben im Rahmen der Zusammenarbeit mit den nach heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörden nach § 117 SGB XI vor einer Regelprüfung insbesondere zu erfragen, ob Qualitätsanforderungen nach diesem Buch und den auf seiner Grundlage abgeschlossenen vertraglichen Vereinbarungen in einer Prüfung der nach heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörde oder in einem nach Landesrecht durchgeführten Prüfverfahren berücksichtigt worden sind. Hierzu können auch Vereinbarungen auf Landesebene zwischen den Landesverbänden der Pflegekassen und den nach heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörden sowie den für weitere Prüfverfahren zuständigen Aufsichtsbehörden getroffen werden. Um Doppelprüfungen zu vermeiden, haben die Landesverbände der Pflegekassen den Prüfumfang der Regelprüfung in angemessener Weise zu verringern, wenn 1. die Prüfungen nicht länger als neun Monate zurückliegen, 2. die Prüfergebnisse nach pflegefachlichen Kriterien den Ergebnissen einer Regelprüfung gleichwertig sind und 3. die Veröffentlichung der von den Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität, insbesondere hinsichtlich der Ergebnis- und Lebensqualität, gemäß § 115 Abs. 1a gewährleistet ist. Die Pflegeeinrichtung kann verlangen, dass von einer Verringerung der Prüfpflicht abgesehen wird. Liegen den Landesverbänden der Pflegekassen Ergebnisse zur Prozess- und Strukturqualität aus einer Prüfung vor, die von der Pflegeeinrichtung oder dem Einrichtungsträger veranlasst wurde, so haben sie den Umfang der Regel-
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prüfung in angemessener Weise zu verringern. Voraussetzung ist, dass die vorgelegten Prüfergebnisse nach einem durch die Landesverbände der Pflegekassen anerkannten Verfahren zur Messung und Bewertung der Pflegequalität durch unabhängige Sachverständige oder Prüfinstitutionen entsprechend den von den Vertragsparteien nach § 113 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 und 3 SGB XI festgelegten Anforderungen durchgeführt wurde, die Prüfung nicht länger als ein Jahr zurückliegt und die Prüfungsergebnisse gemäß § 115 Abs. 1a SGB XI veröffentlicht werden. Eine Prüfung der Ergebnisqualität durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder den Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. ist stets durchzuführen. Bei Anlassprüfungen geht der Prüfauftrag in der Regel über den jeweiligen Prüfanlass hinaus; er umfasst eine vollständige Prüfung mit dem Schwerpunkt der Ergebnisqualität. Im Zusammenhang mit einer zuvor durchgeführten Regel- oder Anlassprüfung kann von den Landesverbänden der Pflegekassen auf Kosten der Pflegeeinrichtung eine Wiederholungsprüfung veranlasst werden, um zu überprüfen, ob die festgestellten Qualitätsmängel durch die nach § 115 Abs. 2 SGB XI angeordneten Maßnahmen beseitigt worden sind. Auf Antrag und auf Kosten der Pflegeeinrichtung ist eine Wiederholungsprüfung von den Landesverbänden der Pflegekassen zu veranlassen, wenn wesentliche Aspekte der Pflegequalität betroffen sind und ohne zeitnahe Nachprüfung der Pflegeeinrichtung unzumutbare Nachteile drohen.
§ 114a SGB XI Durchführung der Qualitätsprüfungen § 114a regelt das Prüfverfahren im Detail. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung, der Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. und die von den Landesverbänden der Pflegekassen bestellten Sachverständigen sind berechtigt und verpflichtet, an Ort und Stelle zu überprüfen, ob die zugelassenen Pflegeeinrichtungen die Leistungs- und Qualitätsanforderungen nach dem SGB XI erfüllen. Prüfungen in stationären Pflegeeinrichtungen sind grundsätzlich unan gemeldet durchzuführen. Qualitätsprüfungen in ambulanten Pflegeeinrichtungen sind am Tag zuvor anzukündigen. Im Rahmen der Qualitätsprüfungen hat eine Beratung der Pflegeeinrichtungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, den Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. bzw. die bestellten Sachverständigen stattzufinden. Damit wird verdeutlicht, dass Qualitätsprüfungen sich nicht in der Bestandsaufnahme der Qualität der Pflege und in einer Auflistung potenzieller Defizite erschöpfen dürfen, sondern Stärken und Schwächen der Pflegeeinrichtungen darstellen und vor allem auch auf Verbesserungspotentiale hinweisen sollen, um die Qualität in der Pflege kontinuierlich zu steigern. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung, der Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. und die von den Landesverbänden der Pflegekassen bestellten Sachverständigen sind berechtigt, bei teil- und bei vollstationärer Pflege zum Zwecke der Qualitätssicherung die Grundstücke und Räume der Pflegeeinrichtungen jederzeit zu betreten, dort Prüfungen und Besichtigungen vorzuneh-
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men, sich mit den Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen, vertretungsberechtigten Personen und Betreuern in Verbindung zu setzen sowie die Beschäftigten und die Interessenvertretung der Bewohnerinnen und Bewohner zu befragen. Prüfungen und Besichtigungen zur Nachtzeit sind nur zulässig, wenn und soweit das Ziel der Qualitätssicherung zu anderen Tageszeiten nicht erreicht werden kann. Soweit Räume einem Wohnrecht der Heimbewohner unterliegen, dürfen sie ohne deren Einwilligung nur betreten werden, soweit dies zur Verhütung drohender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist; das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 des Grundgesetzes) wird insoweit eingeschränkt. Bei der ambulanten Pflege sind die Prüfer berechtigt, die Qualität der Leistungen des Pflegedienstes mit Einwilligung des Pflegebedürftigen auch in dessen Wohnung zu überprüfen. Die nach heimrechtlichen Vorschriften zuständige Aufsichtsbehörde soll an den Prüfungen beteiligt werden, soweit dadurch die Prüfung nicht verzögert wird. Die Prüfungen beinhalten auch die Inaugenscheinnahmen des gesundheitlichen und pflegerischen Zustands von Pflegebedürftigen. Sowohl Pflegebedürftige als auch Betreuer, Angehörige, Beschäftigte der Pflegeeinrichtungen sowie Mitglieder der heimrechtlichen Interessensvertretungen können dazu befragt werden. Bei der Beurteilung der Pflegequalität sind die Pflegedokumentation, die Inaugenscheinnahme der Pflegebedürftigen und Befragungen der Beschäftigten der Pflegeeinrichtungen sowie der Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der vertretungsberechtigten Personen angemessen zu berücksichtigen. Die Teilnahme an Inaugenscheinnahmen und Befragungen ist freiwillig. Die Einwilligung des Pflegebedürftigen oder des hierzu Berechtigten bedarf der Schriftform und muss in einer Urkunde oder auf andere zur dauerhaften Wiedergabe in Schriftzeichen geeignete Weise abgegeben werden. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung, der Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. und die von den Landesverbänden der Pflegekassen bestellten Sachverständigen sind befugt, sich an Überprüfungen von zugelassenen Pflegeheimen zu beteiligen, soweit sie von der nach heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörde nach Maßgabe heimrechtlicher Vorschriften durchgeführt werden. Sie haben in diesem Fall ihre Mitwirkung auf den Bereich der Qualitätssicherung nach dem SGB XI zu beschränken. Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung und der Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. berichten dem Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zum 30.06.2011, danach in Abständen von drei Jahren, über ihre Erfahrungen mit der Anwendung der Beratungs- und Prüfvorschriften, über die Ergebnisse ihrer Qualitätsprüfungen sowie über ihre E rkenntnisse zum Stand und zur Entwicklung der Pflegequalität und der Qualitätssicherung. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) führt die Berichte der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung, des Prüfdienstes des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. und seine eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen zur Entwicklung der Pflegequalität und der Qualitätssicherung zu einem Bericht
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zusammen und legt diesen innerhalb eines halben Jahres dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen, dem Bundesministerium für Gesundheit, dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und den zuständigen Länderministerien vor. Über die Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität beschließt der Spitzenverband Bund der Pflegekassen unter Beteiligung des MDS und des Prüfdienstes des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. Richtlinien. Verschiedene im Gesetz benannte Organisationen und Verbände sind hierbei zu beteiligen. Diese Qualitätsprüfungs-Richtlinien (QPR) traten am 01.07.2009 in Kraft. Sie bilden für alle Beteiligten eine wichtige Grundlage für die bundesweit einheitliche Durchführung der Qualitätsprüfungen. Die QPR sind regelmäßig an den medizinisch-pflegefachlichen Fortschritt anzupassen.
§ 115 SGB XI Ergebnisse von Qualitätsprüfungen Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung, der Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. und die von den Landesverbänden der Pflegekassen bestellten Sachverständigen haben das Ergebnis einer jeden Qualitätsprüfung sowie die dabei gewonnenen Daten und Informationen den Landesverbänden der Pflegekassen und den zuständigen Trägern der Sozialhilfe sowie nach den heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörden und bei häuslicher Pflege den zuständigen Pflegekassen mitzuteilen. Die Landesverbände der Pflegekassen haben sicherzustellen, dass die von Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität, insbesondere hinsichtlich der Ergebnis- und Lebensqualität, für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen verständlich, übersichtlich und vergleichbar sowohl im Internet als auch in anderer geeigneter Form kostenfrei veröffentlicht werden. Hierbei sind die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung und des Prüfdienstes des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. sowie gleichwertige Prüfergebnisse zugrunde zu legen (s. Kap. 10.4); sie können durch in anderen Prüfverfahren gewonnene Informationen, die die von Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität, insbesondere hinsichtlich der Ergebnis- und Lebensqualität, darstellen, ergänzt werden. Ab dem 01.01.2014 haben die Landesverbände der Pflegekassen zusätzlich sicherzustellen, dass auch die Informationen über die Regelungen zur ärztlichen, fachärztlichen und zahnärztlichen Versorgung sowie zur Arzneimittelversorgung in vollstationären Einrichtungen im Internet und in anderer geeigneter Form kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Die Informationen sind außerdem an gut sichtbarer Stelle in der Pflegeeinrichtung auszuhängen. Soweit bei einer Prüfung Qualitätsmängel festgestellt werden, entscheiden die Landesverbände der Pflegekassen nach Anhörung des Trägers der Pflegeeinrichtung und der beteiligten Trägervereinigung unter Beteiligung des zuständigen Trägers der Sozialhilfe, welche Maßnahmen zu treffen sind, erteilen dem Träger der Einrichtung hierüber einen Bescheid und setzen
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ihm darin zugleich eine angemessene Frist zur Beseitigung der festgestellten Mängel. Werden festgestellte Mängel nicht fristgerecht beseitigt, können die Landesverbände der Pflegekassen den Versorgungsvertrag kündigen. Bei Feststellung schwerwiegender, kurzfristig nicht behebbarer Mängel in der stationären Pflege sind die Pflegekassen verpflichtet, den betroffenen Heimbewohnern auf deren Antrag eine andere geeignete Pflegeeinrichtung zu vermitteln, welche die Pflege, Versorgung und Betreuung nahtlos übernimmt. Bei schwerwiegenden Mängeln in der ambulanten Pflege kann die Pflegekasse dem Pflegedienst die weitere Betreuung des Pflegebedürftigen vorläufig untersagen.
§ 117 Zusammenarbeit mit den nach heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörden Die Landesverbände der Pflegekassen sowie der Medizinische Dienst der Krankenversicherung und der Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. arbeiten mit den nach heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörden bei der Zulassung und der Überprüfung der Pflegeeinrichtungen eng zusammen, um ihre wechselseitigen Aufgaben nach dem SGB XI und den heimrechtlichen Vorschriften insbesondere durch 1. regelmäßige gegenseitige Information und Beratung, 2. Terminabsprachen für eine gemeinsame oder arbeitsteilige Überprüfung von Pflegeeinrichtungen und 3. Verständigung über die im Einzelfall notwendigen Maßnahmen wirksam aufeinander abzustimmen. Dabei ist sicherzustellen, dass Doppelprüfungen nach Möglichkeit vermieden werden. Zur Erfüllung der Aufgaben sind die Landesverbände der Pflegekassen und der MDK verpflichtet, in den Arbeitsgemeinschaften nach den heimrechtlichen Vorschriften mitzuwirken. Erkenntnisse aus der Prüfung von Pflegeeinrichtungen sind vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, dem Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. oder von den sonstigen Sachverständigen oder Stellen, die Qualitätsprüfungen nach dem SGB XI durchführen, unverzüglich der nach heimrechtlichen Vorschriften zuständigen Aufsichtsbehörde mitzuteilen, soweit sie zur Vorbereitung und Durchführung von aufsichtsrechtlichen Maßnahmen nach den heimrechtlichen Vorschriften erforderlich sind.
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10.3 Qualitätsprüfungen in Einrichtungen der ambulanten und stationären Pflege Winfried Fischer und Hans Gerber Die Landesverbände der Pflegekassen entscheiden über die Auftragserteilung an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und die Art der Prüfung. Der Prüfauftrag wird schriftlich von den Landesverbänden der Pflegekassen der zuständigen Stelle des jeweiligen MDK erteilt. Für die Regelprüfungen existieren in einigen Ländern bereits Sammelaufträge, welche die Planung und notwendige Abstimmung der Prüftermine mit der Heimaufsicht nach § 117 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) erleichtern. Dem Prüfauftrag sind relevante Unterlagen wie Strukturdaten, vorliegende Maßnahmenbescheide, eventuelle Beschwerden über die zu prüfende Pflegeeinrichtung, Versorgungsverträge, Leistungs- und Qualitätsmerkmale (§ 84 Abs. 5 SGB XI), Vergütungsvereinbarungen etc. beizufügen. Die MDK-Prüfteams bestehen aus Pflegefachkräften und Ärzten. Der multidisziplinäre Ansatz bei der Qualitätsprüfung hat sich insbesondere im stationären Bereich und bei Pflegediensten mit spezifischen pflegefachlichen Schwerpunkten (z.B. Intensivpflege) bewährt. Mindestens ein Mitglied des Prüfteams verfügt über eine Auditorenausbildung oder eine vergleichbare Qualifikation. Neben der klassischen pflegerischen und ärztlichen Grundqualifikation sowie Weiterbildung in Qualitätsmanagement verfügen die Prüfer über pflegefachliche und sozialmedizinische Zusatzqualifikationen. Unter anderem sind Weiterbildungen aus den Bereichen Anästhesie und Intensivmedizin, Psychiatrie, Gerontopsychiatrie, Pflegedienst- und Heimleitung sowie Studienabschlüsse in den Bereichen Pflegewissenschaft, -management und -pädagogik vertreten. Die Aufträge werden vom jeweiligen MDK in einer Datenbank erfasst und dem für die Koordination und Durchführung der Prüfung verantwortlichen „Auditor Pflege“ zugeordnet. An ihn werden die Prüfungsunterlagen weitergeleitet. Der Bearbeitungsstatus des Auftrags wird durchgehend dokumentiert, um die Nachvollziehbarkeit des gesamten Bearbeitungsverlaufes zu gewährleisten. Zur Vorbereitung gehören die Zusammenstellung eines Prüfteams und die Terminfestlegung in Absprache mit dem Auftraggeber und der Heimaufsicht. Der für den Auftrag zuständige Auditor ist für die Durchführung der Prüfung und für den Prüfbericht verantwortlich. Teilweise werden Prüfungen im stationären Bereich mit Beteiligung der Heimaufsicht durchgeführt. Aus Gründen der Objektivität und übergreifenden Vergleichbarkeit der Prüfergebnisse empfiehlt sich die Bildung wechselnder Prüfteams. Prüfungen in stationären Pflegeeinrichtungen erfolgen grundsätzlich unangemeldet. Bei ambulanten Pflegediensten sind Prüfungen seit Inkrafttreten des PflegeNeuausrichtungs-Gesetzes (PNG) am Tag zuvor anzukündigen. Zutrittsrechte zur Nachtzeit sind auf die Prüfungsgegenstände beschränkt, die tagsüber nicht beurteilt werden können, wie zum Beispiel die personelle Besetzung in der Nacht. Soweit
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Räume einem Wohnrecht der Heimbewohner unterliegen, dürfen sie ohne deren Einwilligung nur betreten werden, soweit dies zur Verhütung drohender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Bei der Prüfung ambulanter Pflegeeinrichtungen sind die Prüfer berechtigt, die Qualität der Leistungen des Pflegedienstes mit der Zustimmung des Pflegebedürftigen in dessen Wohnung zu beurteilen. Die im Regelfall ein- bis zweitägige Qualitätsprüfung vor Ort besteht im Wesentlichen aus fünf Phasen, wobei die Prüfung der Ergebnisqualität von zentraler Bedeutung ist. Im Rahmen eines Einführungsgesprächs werden der Einrichtung Informationen über Anlass und Ablauf der Prüfung und die durch das Prüfteam geplante Vorgehensweise erläutert. In dieser Phase ist es besonders wichtig, der Einrichtung Verständnis für die Zusatzbelastung zu signalisieren und die Leitungskräfte und Mitarbeiter in eine verbindliche Tagesplanung einzubeziehen. Dabei hat die Sicherstellung der Pflege und Betreuung der Bewohner die höchste Priorität. Zu Beginn der Prüfung sind Fragen zu erforderlichen Unterlagen und Informationen genauso zu klären wie Pausenzeiten und der voraussichtliche Abschluss der Prüfung. Der Aufbau von Vertrauen und die Schaffung von Klarheit und Struktur sind die wichtigsten Ziele dieser Phase. Die Überprüfung der versichertenbezogenen Prozess- und Ergebnisqualität bildet den zentralen Bereich jeder Qualitätsprüfung. Hierzu erfolgt eine Befragung und Inaugenscheinnahme des gesundheitlichen und pflegerischen Zustands einer Stichprobe von Pflegebedürftigen. Bei der Auswahl der Stichprobe sind einige Regeln zu beachten. Die teilnehmenden Pflegebedürftigen werden im Rahmen einer von der Größe der geprüften Einrichtung abhängigen Stichprobe ausgewählt. Im ambulanten Bereich werden ausschließlich Personen einbezogen, welche Sachleistungen aus dem SGB XI sowie ggf. SGB V-Leistungen erhalten. Bei Einrichtungen mit weniger als 50 Pflegebedürftigen beträgt die Stichprobe fünf Pflegebedürftige. Bei mehr als 50 Pflegebedürftigen beträgt die Stichprobe 10 Prozent, jedoch nicht mehr als 15 Personen (s. Kap. 10.4). Die in die Prüfung einbezogenen Pflegebedürftigen werden nach den Pflege-Transparenzvereinbarungen entsprechend der Verteilung der Pflegestufen in der Einrichtung und innerhalb der Pflegestufen zufällig ausgewählt. Abweichend hiervon erfolgt durch eine Schiedsstellenentscheidung ab 01.01.2014 im Rahmen von Änderungen der Pflege-Transparenzvereinbarung stationär (PTVS) sowie der Überarbeitung der Qualitätsprüfungs-Richtlinien (QPR) die Stichproben ermittlung nach folgendem Verfahren: In der zu prüfenden stationären Pflegeeinrichtung werden unabhängig von der Größe der Einrichtung jeweils drei Bewohner aus jeder der drei Pflegestufen zufällig ausgewählt und in die Prüfung einbezogen. Sofern weniger als drei Personen einer Pflegestufe in die Prüfung einbezogen werden können, ist dies schriftlich zu begründen. Fallen in die Zufallsstichprobe Versicherte der privaten Pflegepflichtversicherung, sind diese in die Prüfung einzubeziehen. Ist der in die Prüfung einbezogene Bewohner aufgrund kognitiver oder anderer Ursachen nicht auskunftsfähig, wird dies im Prüfbericht vermerkt. Eine ergänzende Einbezie-
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hung von Bewohnern ausschließlich zur Durchführung der Befragung erfolgt nicht. Diese Anforderungen zur Stichprobenbildung gelten analog für die Kurzzeitpflege und die teilstationäre Pflege. Bei Qualitätsprüfungen in ambulanten Pflegediensten bleibt es bis auf Weiteres bei der ursprünglichen Vorgehensweise. Bei anlassbezogenen Prüfungen wird nach Möglichkeit der Beschwerdeführer mit einbezogen. Die Inaugenscheinnahme des gesundheitlichen und pflegerischen Zustandes der Pflegebedürftigen setzt das Einverständnis derselben bzw. ihrer gesetzlich bestellten Betreuer voraus. Seit Inkrafttreten des Pflege-NeuausrichtungsGesetzes muss das Einverständnis schriftlich (als Urkunde bzw. in Textform) erfolgen. Informationen der Pflegefachkräfte sowie nonverbale Zeichen der Abwehr oder Zustimmung des Pflegebedürftigen sind zu beachten. Nach der Inaugenscheinnahme der Pflegebedürftigen und einem Gespräch mit den zuständigen Mitarbeitern der Einrichtung werden im Abgleich mit den Informationen aus den Pflegedokumentationen unter Anwendung der standardisierten Prüfkriterien die wesentlichen Ergebnisse einer Qualitätsprüfung generiert. Die Zufriedenheitsbefragung wird bei den auskunftsfähigen Pflegebedürftigen der Stichprobe durchgeführt. Sofern Pflegebedürftige z.B. auf Grund von Demenz erkrankungen nicht befragt werden können, sind andere Pflegebedürftige mit der gleichen Pflegestufe nach dem Zufallsprinzip für die Befragung auszuwählen. Die Prüfung der einrichtungsbezogenen Struktur- und Prozessqualität mit Befragung der Führungsebene nimmt die notwendigen organisatorischen Voraussetzungen für Qualität in den Fokus. Nach Befragung der Leitungsebene mit Einsicht in qualitätsrelevante Unterlagen und Prüfung der Ergebnisqualität kann der Prüfer gezielt Abläufe und Strukturen hinterfragen und positive Ergebnisse sowie Verbesserungs- und Lösungsmöglichkeiten im Dialog herausarbeiten. Im Abschlussgespräch werden der Leitungsebene die wichtigsten Ergebnisse in zusammengefasster Form mitgeteilt. Dies schließt die Beurteilung der Entwicklung in Bezug zur Vorprüfung ein. Stärken und Besonderheiten der Einrichtung wie auch ihre Schwächen sind jeweils zu benennen und mit einer angemessenen Gewichtung und auch Begründung zu versehen. Dabei sollten der Einrichtung Entwicklungsperspektiven aufgezeigt werden – unter Hinweis auf vorhandene Ressourcen. Abschließend bittet das Prüfteam um eine Stellungnahme der Einrichtung, wie der Verlauf und die Ergebnisse der Prüfung von den Mitarbeitern der Einrichtung wahrgenommen wurden. Neben anderen Rückmeldungen ist dies ein unverzichtbarer Bestandteil für die Weiterentwicklung der Prüfabläufe wie auch des Prüfinstruments. Nach Abschluss der Prüfung wird unter Federführung des koordinierenden Auditors vom Prüfteam ein Prüfbericht unter Verwendung eines einheitlichen EDVgestützten Berichtsformulars erstellt. Im Prüfbericht sind die personenbezogenen Daten anonymisiert. Der Bericht enthält neben einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und einem Empfehlungsteil eine Anlage, in welcher die Bewertungen und Erläuterungen aller Prüfer detailliert nachvollzogen werden können. Neben der Einrichtung erhalten die Landesverbände der Pflegekassen und die zuständigen Sozi-
10.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen
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alhilfeträger, bei stationären Einrichtungen auch die Heimaufsicht, ein Exemplar des Prüfberichts. Die Landesverbände der Pflegekassen entscheiden, ob und ggf. welche Maßnahmen zur Mängelbeseitigung erforderlich sind. Die Pflegeeinrichtung kann im Rahmen einer Anhörung durch die Landesverbände der Pflegekassen eine Stellungnahme abgeben.
10.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen Hans Gerber Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) wurde im Jahr 2008 der vielfach erhobenen Forderung nach mehr Transparenz und Vergleichbarkeit der Ergebnisse von Qualitätsprüfungen Rechnung getragen. Insbesondere für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen, aber auch für jeden interessierten Bürger werden seitdem vor allem im Internet die erbrachten Leistungen von Pflegeeinrichtungen und deren Qualität veröffentlicht. Die Hauptgrundlage der Veröffentlichungen bilden die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) und des Prüfdienstes des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. sowie – soweit vorhanden – andere gleichwertige Prüfergebnisse. Die Veröffentlichung der Prüfergebnisse haben nach § 115 Abs. 1a SGB XI die Landesverbände der Pflegekassen sicherzustellen. Die einheitlichen Kriterien einer Veröffentlichung einschließlich einer Bewertungssystematik sind dagegen durch den Spitzenverband Bund der Pflegekassen, die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) in den Jahren 2008/2009 in den Pflege-Transparenzvereinbarungen festgelegt worden. Entsprechend den gesetzlichen Vorgaben wurden unter Leitung des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen die Pflege-Transparenzvereinbarungen stationär (PTVS) am 17.12.2008 und ambulant (PTVA) am 29.01.2009 mit den Vertragspartnern vereinbart unter Beteiligung des MDS und der maßgeblichen Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der Selbsthilfe der pflegebedürftigen und der behinderten Menschen und Verbraucherorganisationen auf Bundesebene sowie des Verbandes der privaten Krankenversicherung und der Verbände der Pflegeberufe auf Bundesebene [Grote 2008, PTVA 2009, PTVS 2008]. In den Transparenzvereinbarungen sind die Kriterien der Veröffentlichung festgelegt, die Auswahl der in die Prüfungen einzubeziehenden Pflegebedürftigen und weitere für die Bewertungssystematik und die Darstellung der Prüfergebnisse grundlegenden Vorgaben geregelt. Bestandteil der Vereinbarungen sind jeweils die vier folgenden Anlagen, in denen detaillierte Vorgaben zur Veröffentlichung beschrieben sind:
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Anlage 1 Kriterien der Veröffentlichung Anlage 2 Bewertungssystematik für die Kriterien Anlage 3 Ausfüllanleitungen für die Prüfer Anlage 4 Darstellung der Prüfergebnisse
Für die Veröffentlichung der Prüfergebnisse in stationären Pflegeeinrichtungen werden 82 Transparenzkriterien, für die Veröffentlichung von Prüfergebnissen aus ambulanten Pflegediensten werden 49 Kriterien herangezogen. Bei stationären Pflegeeinrichtungen werden die 82 Transparenzkriterien in folgende fünf Qualitätsbereiche aufgeteilt: 1. Pflege und medizinische Versorgung 2. Umgang mit demenzkranken Bewohnern 3. Soziale Betreuung und Alltagsgestaltung 4. Wohnen, Verpflegung, Hauswirtschaft und Hygiene 5. Befragung der Bewohner Die 49 Transparenzkriterien aus Prüfungen in ambulanten Pflegeeinrichtungen gliedern sich in folgende vier Qualitätsbereiche: 1. Pflegerische Leistungen 2. Ärztlich verordnete pflegerische Leistungen 3. Dienstleistung und Organisation 4. Befragung der Kunden Sämtliche Transparenzkriterien wurden in die Erhebungsbögen für die MDK-Qualitätsprüfungen eingearbeitet. Der Schwerpunkt der Prüfungen wurde noch mehr als bisher auf die Ermittlung der Ergebnisqualität gelegt. Die Grundlage der Prüfung der Ergebnisqualität bildet eine nach folgendem einheitlichen Vorgehen auszuwählende Stichprobe von Pflegebedürftigen. Nach den Pflege-Transparenzvereinbarungen werden die in die Prüfung einzubeziehenden Pflegebedürftigen entsprechend der Verteilung der Pflegestufen in der Pflegeeinrichtung und innerhalb der Pflegestufen zufällig ausgewählt. Es werden 10 Prozent der Pflegebedürftigen, jedoch mindestens 5 und höchstens 15 Pflegebedürftige in die Prüfung einbezogen (s. u.). Die Veröffentlichung der Prüfergebnisse erfolgt in einer bundesweit einheitlichen Darstellungsform (s. Abb. 10.1) in zwei Ebenen. In der ersten Darstellungsebene erscheinen die Prüfergebnisse der Qualitätsbereiche, das Gesamtergebnis, mögliche Ergebnisse gleichwertiger Prüfungen sowie der Landesvergleichswert bereits geprüfter Einrichtungen (s. Tab. 10.2). In der zweiten Darstellungsebene werden die Prüfergebnisse zu den einzelnen Bewertungskriterien dargestellt (s. Tab. 10.3). Von den Feldern der einzelnen Qualitätsbereiche gelangt der Benutzer über eine Verlinkung von der Darstellungsebene 1 zu den Einzelergebnissen dieses Qualitätsbereiches auf der Darstellungsebene 2.
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10.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen
Qualität der stationären Pflegeeinrichtung Seniorenresidenz „Sicherer Anker“ Seestraße 9, 12345 Hafenstadt · Tel: 0123/45678 · Fax: 0123/45679 [email protected] · www.sicherer-anker.de
Gesamtergebnis Pflege und medizinische Versorgung
Umgang mit demenzkranken Bewohnern
Soziale Betreuung und Alltagsgestaltung
Wohnen, Verpflegung, Hauswirtschaft und Hygiene
MDKPrüfung
3,5 ausreichend
Gleichwertige Prüfung
3,1 3,9 3,2 2,6 befriedigend ausreichend befriedigend befriedigend
4,5 mangelhaft
3,4 2,9 befriedigend befriedigend
Rechnerisches Gesamtergebnis
3,5 ausreichend
Befragung der Bewohner
Landesdurchschnitt 3,3 befriedigend
3,2 befriedigend
1,6 gut
1,8 gut
Erläuterungen zum Bewertungssystem
Kommentar der Pflegeeinrichtung
Vertraglich vereinbarte Leistungsangebote
Weitere Leistungsangebote und Strukturdaten
MDK-Prüfung am Anzahl der versorgten Bewohner: Anzahl der in die Prüfung einbezogenen Bewohner: Anzahl der befragten Bewohner: Die Pflegeeinrichtung hat eine Wiederholungsprüfung beantragt: Pflegeheime im Bundesland: davon geprüft:
15.06.2009 100 15 10 Ja 1.800 411
Gleichwertige Prüfung am Anzahl der versorgten Bewohner: Anzahl der in die Prüfung einbezogenen Bewohner: Anzahl der befragten Bewohner:
14.06.2009 100 14 11
Weitere Prüfergebnisse
Abb. 10.1: Beispiel für Veröffentlichung des Prüfergebnisses von einer stationären Pflegeeinrichtung im Internet (Darstellungsebene 1).
314
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
Tab. 10.2: Beispiel für eine Internetdarstellung einer geprüften stationären Pflegeeinrichtung (Darstellungsebene 1). 1. Qualität der Pflegeeinrichtung
12. Erläuterungen zum Bewertungssystem hier
2. Seniorenresidenz „Letzter Anker“
13. Vertraglich vereinbarte Leistungsangebote hier 14. Weitere Leistungsangebote und Strukturdaten hier
3. Seestr. 9
12345 Hafenstadt
4. Telefon: 02222/999999
Fax: 02222/899999
5. Email: letzterAnker@ xls.de
Internet:
7. Anzahl der in die Prüfung einbezogenen Bewohner: 12 7.1 Anzahl der befragten Bewohner: 11
15. MDK-Qualitätsprüfung: Datum 16. Gleichwertige Prüfung: Datum 17. Weitere Prüfergebnisse hier 18. Kommentar der Pflegeeinrichtung hier 19. Die Pflegeeinrichtung hat eine Wieder holungsprüfung durch den MDK beantragt: Ja & Nein &
Tab. 10.3: Muster für die Darstellung des Qualitätsbereichs 2 (Umgang mit demenzkranken Bewohnern) einer stationären Pflegeeinrichtung (Darstellungsebene 2). 2. Darstellungsebene Beispiel: Qualitätsbereich „Umgang mit demenzkranken Bewohnern“ 36
Wird bei Bewohnern mit Demenz die Biographie des Heimbewohners beachtet und bei der Tagesgestaltung berücksichtigt?
2,5
37
Werden bei Bewohnern mit Demenz Angehörige und Bezugspersonen in die Planung der Pflege einbezogen?
3,0
38
Wird bei Bewohnern mit Demenz die Selbstbestimmung in der Pflegeplanung berücksichtigt?
1,8
39
Wird das Wohlbefinden von Bewohnern mit Demenz im Pflegealltag ermittelt und dokumentiert und werden daraus Verbesserungsmaßnahmen abgeleitet?
3,0
40
Sind zielgruppengerechte Bewegungs- und Aufenthaltsflächen vorhanden (auch nachts)?
5,0
41
Sind gesicherte Aufenthaltsmöglichkeiten im Freien vorhanden?
1,0
42
Gibt es identifikationserleichternde Milieugestaltung in Zimmern und Aufenthaltsräumen?
1,0
43
Wird mit individuellen Orientierungshilfen, z.B. Fotos, gearbeitet?
2,5
44
Werden dem Bewohner geeignete Angebote gemacht, z.B. zur Bewegung, Kommunikation oder zur Wahrnehmung?
5,0
45
Gibt es bedarfsgerechtes Speisenangebot für Bewohner mit Demenz?
1,0
Bewertungsergebnis für den Qualitätsbereich
2,6
10.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen
315
Sowohl die Qualitätsbereiche als auch die Einzelkriterien sind nach einem fünfstufigen Notensystem von „sehr gut“ bis „mangelhaft“ bewertet, wobei auch die erste Stelle nach dem Komma noch berücksichtigt wird. Darüber hinaus wird in der ersten Ebene eine Gesamtnote dargestellt, die einer Landesvergleichsnote aus bereits geprüften Pflegeeinrichtungen gegenüber gestellt wird und erstmalig dann ausgewiesen wird, wenn mindestens 20 Prozent aller ambulanten bzw. stationären Pflegeeinrichtungen im Bundesland durch den MDK geprüft wurden. Die Bewertung der Kriterien der Bewohner- bzw. Pflegebedürftigenbefragung wird separat dargestellt und fließt in die Gesamtnote nicht mit ein, da sich in wissenschaftlichen Untersuchungen zeigte, dass befragte Pflegebedürftige häufig ihre eigene Situation zu positiv darstellen, woraus bei einer Miteinbeziehung dieser Noten eine zu positive Gesamtbewertung resultieren würde. Mit der Entscheidung für das Notensystem wird auf eine für den Nutzer bekannte Systematik zurückgegriffen, die häufig auch anderen Test- und Bewertungsverfahren zugrunde liegt. Die Bewertung erfolgt für jedes einzelne Kriterium. Als Hilfsmittel wird eine Skala von 0 bis 10 herangezogen. Dabei wird unterschieden nach Kriterien, die nur eine dichotome Bewertung zulassen und solchen, bei denen eine Bewertungsgraduierung möglich ist [Schmäing 2009]. Die Skalenwerte werden anhand einer Umrechnungstabelle in Noten überführt (s. Tab. 10.4). Auf einer dritten Darstellungsseite kann die Pflegeeinrichtung nach einem einheitlichen Schema eigene Angaben zu Strukturdaten oder zu vertraglich vereinbarten Angeboten veröffentlichen (s. Tab. 10.5). Tab. 10.4: Ergebnisdarstellung der Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen: Zuordnung der Noten zu den Skalenwerten. Bezeichnung der Note
Skalenwert
Sehr gut (1–1,4)
9,31 bis 10,00
Gut (1,5–2,4)
7,91 bis 9,30
Befriedigend (2,5–3,4)
6,51 bis 7,90
Ausreichend (3,5–4,4)
5,11 bis 6,50
Mangelhaft (4,5–5,0)
0,00 bis 5,10
316
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
Tab. 10.5: Darstellung von Eigenangaben der Pflegeeinrichtung zu Leistungsangeboten und Strukturdaten (Darstellungsebene 3). Ansprechpartner: Besonderheiten: Leistungsangebot ___ Einzelzimmer, davon mit ___ eigener/m Dusche/WC/Waschbecken ___ eigenem WC/Waschbecken ___ Doppelzimmer, davon mit ___ eigener/m Dusche/WC/Waschbecken ___ eigenem WC/Waschbecken
Pflegerische Schwerpunkte □ ________________________ □ ________________________ □ ________________________
□ Eigene Möbel können mitgebracht werden □ Haustiere können mitgebracht werden:
Kooperationen mit medizinischen Einrichtungen □ niedergelassene Ärzte: ______________ □ Krankenhäuser: ____________________ □ __________________________________
Preise (durchschnittlicher Gesamtpreis/Monat)
Mitarbeiterinnen & Mitarbeiter
Pflegestufe 0: ____, davon Anteil Pflegekasse ______ Pflegestufe 1: ____, davon Anteil Pflegekasse ______ Pflegestufe 2: ____, davon Anteil Pflegekasse ______ Pflegestufe 3: ____, davon Anteil Pflegekasse ______ Härtefall: ____, davon Anteil Pflegekasse ______
Gesamtmitarbeiteranzahl in Vollzeitstellen: __________ Fachkräfteanteil in Pflege und Betreuung: __________ Weitere Fachkräfte mit Zusatzqualifikationen (Art & Anzahl): □ __________________________________ □ __________________________________ □ __________________________________ Auszubildende (alle Berufe): _____________________________________
In die Entwicklung des deutschen Transparenzkonzepts flossen Anregungen und Vorerfahrungen aus verschiedenen Ländern und aus anderen Bereichen des Gesundheitswesens ein. In Australien werden z.B. Prüfergebnisse der zuständigen Akkreditierungsagentur schon seit mehreren Jahren im Internet veröffentlicht. Eine wichtige Anregung für das deutsche Transparenzkonzept war, dass bereits auf der ersten Seite des veröffentlichten Berichtes ein Gesamtergebnis dargestellt wird. So erhält der Verbraucher auf den ersten Blick eine Einschätzung und kann sich bei Bedarf darüber hinaus über Detailergebnisse informieren. Allerdings zeigt sich, dass Prüftiefe und Prüfbreite bei den australischen Prüfungen deutlich geringer ausfallen als beim deutschen System. Die Prüfungen dort konzentrieren sich im Wesentlichen auf Zufriedenheitsbefragungen der Pflegebedürftigen. So erklärt es sich, dass die Mehr-
10.4 Transparenz der Ergebnisse von Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen
317
zahl der geprüften Pflegeeinrichtungen in Australien sehr gute Ergebnisse ausweist. Ein weiterer Grund für die überwiegend guten bis sehr guten Ergebnisse mag darin liegen, dass die Prüfkriterien maßgeblich von den Trägern der Pflegeeinrichtungen festgelegt wurden. In den USA werden seit langem die Ergebnisse von Pflegeheimvergleichen veröffentlicht. Es wird die Qualität einer stationären Pflegeeinrichtung in Relation zu den anderen Heimen desselben Bundesstaates und zu den gesamten USA dargestellt. Der Nutzer kann dadurch erkennen, ob eine Pflegeeinrichtung über oder unter dem Durchschnitt liegt. Diese Anregung wurde im deutschen Transparenzkonzept mit aufgenommen. In Großbritannien werden ebenfalls die Prüfergebnisse veröffentlicht und in Form einer Vierergraduierung dargestellt. Dieses Vorgehen ermöglicht eine Darstellung der Pflegequalität im Sinne eines Sterne- oder Ampelsystems. Diese Darstellungsweise wurde auch für das deutsche Transparenzkonzept erwogen, jedoch nach eingehender Diskussion zu Gunsten eines Notensystems wieder verworfen. Neben dem Studium ausländischer Qualitätsdarstellungen wurden im Vorfeld auch inländische Qualitätsberichtssysteme einer Analyse hinsichtlich übertragbarer Elemente unterzogen. So existiert im deutschen Krankenhausbereich ein Verfahren, das die Krankenhäuser verpflichtet, strukturierte Qualitätsberichte zu veröffentlichen. Die Berichte werden von den Krankenhäusern selbst erstellt, finden allerdings bei Patienten wenig Akzeptanz, da die Darstellung zu wenig laienverständlich ist. Auch in stationären Rehabilitationseinrichtungen erfolgt nach dem so genannten „QS-Reha-Verfahren“ eine Qualitätsdarstellung. Anders als bei den MDK-Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen werden hier die Ergebnisse überwiegend aus schriftlichen Befragungen und Selbstauskünften der Rehabilitationseinrichtungen erhoben [Brüggemann 2008]. Die deutschen Pflege-Transparenzvereinbarungen wurden in dem Wissen geschlossen, dass es zum Vereinbarungszeitpunkt keine pflegewissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über valide Indikatoren der Ergebnisund Lebensqualität der pflegerischen Versorgung in Deutschland gab. Die Vereinbarungen waren deshalb von Anfang an als vorläufig zu betrachten und dienten der vom Gesetzgeber gewollten schnellen Verbesserung der Transparenz für die Verbraucher über die Pflege, soziale Betreuung und die Versorgung Pflegebedürftiger. Unter den Vertragspartnern bestand Einvernehmen, dass die Transparenzvereinbarungen anzupassen sind, sobald pflegewissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über Indikatoren vorliegen. Von Beginn an standen Teile der Pflege-Transparenzvereinbarungen im Mittelpunkt kontroverser Diskussionen und auch gerichtlicher Auseinandersetzungen. Insbesondere die Bewertungssystematik und die Pflegenoten waren Inhalte der Kritik. Durch die Darstellung einer Gesamtnote wurde befürchtet, dass dieser Gesamtnote eine zu große Bedeutung beigemessen werden könnte und dies zu einer Nivellierung unterschiedlicher Noten bei den einzelnen Transparenzkriterien führt. Beispielsweise könnten schlechte Noten im pflegerischen Bereich durch gute Strukturbewertungen teilweise kompensiert werden. Daher wurde besonderer Wert darauf
318
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
gelegt, dass in der ersten Ebene neben der Gesamtnote auch die einzelnen Bereichsnoten und die Note der Bewohnerzufriedenheit dargestellt werden. Erheblichen Diskussionsbedarf hat auch die Zuordnung der sich ergebenden Skalenwerte zu den Noten ausgelöst (s. Tab. 10.4). Vielfach wurde die Befürchtung geäußert, dass die auf diese Weise ermittelten Noten zu einer zu guten Darstellung der Situation in den Pflegeeinrichtungen führen werden. Dies kommt u.a. dadurch zum Ausdruck, dass z.B. ein Skalenwert von 4,5 noch der Note „ausreichend“ zugeordnet wird. Ein weiterer Kritikpunkt bestand in der Vorgabe, dass die Pflegebedürftigen nach dem Zufallsprinzip für die Stichprobe auszuwählen sind. Dadurch ist nicht immer gewährleistet, dass Personen mit pflegerischen Problemkonstellationen wie Dekubitus oder Sondenernährung in die Stichprobe eingehen und daher der Umgang einer Pflegeeinrichtung mit solchen Problemen nicht ausreichend geprüft und dargestellt werden kann. Mitte 2010 wurden, nicht zuletzt unter dem Druck einer zunehmend kritischeren medialen Berichterstattung, die Verhandlungen der Vertragspartner zur Überarbeitung der Transparenzvereinbarungen wieder aufgenommen. Da bis zum Jahr 2012 keine Einigung zu einer Umgestaltung der Vereinbarungen erzielt werden konnte, wurde vom GKV-Spitzenverband im Juli 2012 die Schiedsstelle Qualitätssicherung nach § 113b SGB XI angerufen. Im Juni 2013 wurden die Schiedsstellenverhandlungen zur Anpassung der Pflege-Transparenzvereinbarung „stationär“ nach § 115 Abs. 1a SGB XI abgeschlossen mit im Wesentlichen folgenden Ergebnissen [GKVSpitzenverband 2013]: – Die Stichprobenbildung in den zu prüfenden stationären Pflegeeinrichtungen wird dahingehend modifiziert, dass künftig jeweils drei Bewohner aus jeder der drei Pflegestufen zufällig ausgewählt und in die Prüfung einbezogen werden. Sofern aus einer Pflegestufe weniger als drei Bewohner in die Prüfung einbezogen werden können, sind bei der Bewertung eines Transparenzkriteriums für die fehlenden Werte die Mittelwerte aus den vorhandenen Daten der Pflegestufe zu nutzen. Kann aus einer Pflegestufe kein Bewohner in die Prüfung einbezogen werden, sind für die fehlenden Werte die Mittelwerte aus den Daten der beiden anderen Pflegestufen zu nutzen. – Die Bewertungssystematik ändert sich in der Form, dass die Prüfergebnisse der bewohnerbezogenen Kriterien mit Anteilswerten ausgewiesen werden (z.B. vollständig erfüllt bei „X“ von „Y“ Bewohnern). Die jeweiligen Qualitätsbereiche und das Gesamtergebnis werden unverändert mit Noten bewertet. Die Notenskala von fünf Noten wird beibehalten, allerdings mit einer künftig metrischen Skalierung und einem einheitlichen Skalenabstand. – Mehrere Transparenzkriterien (z.B. „Werden Sturzereignisse dokumentiert?“ oder „Wird das individuelle Kontrakturrisiko erfasst?“) werden aus dem Katalog der zu veröffentlichenden Transparenzkriterien gestrichen. Einige andere Kriterien werden durch Umformulierungen präzisiert. Das Kriterium „Entspricht die Bedarfsmedikation der ärztlichen Anordnung?“ wird neu aufgenommen.
10.5 Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (QSQP)
319
– Die auf der Grundlage der Schiedsstellenergebnisse geänderte Pflege-Transparenzvereinbarung „stationär“ tritt zum 01.01.2014 in Kraft. Sie soll insbesondere dazu beitragen, dass die Qualitätsunterschiede zwischen den stationären Pflegeeinrichtungen differenzierter dargestellt werden können, für den Nutzer die Vergleichbarkeit zwischen den Einrichtungen verbessert und die Rechtssicherheit der Prüfungen erhöht wird.
10.5 Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (QSQP) Friedrich Schwegler und Hans Gerber Die zur Durchführung der Qualitätsprüfungen nach § 114 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) erarbeiteten MDK-Prüfkonzepte (1996) bzw. MDK-Anleitungen (2000) dienten auch zur Qualitätssicherung dieser Prüfungen, da auf der Grundlage dieser Konzepte bzw. Anleitungen bundesweite Schulungsmaßnahmen mit dem Ziel der einheitlichen Umsetzung durch die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) durchgeführt wurden. Gleichzeitig dienten sie auch zur Qualitätssicherung der Prüftätigkeit in den einzelnen Medizinischen Diensten. Durch die Verabschiedung der Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes über die Prüfung der in Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität nach § 114 SGB XI (Qualitätsprüfungs-Richtlinien – QPR) im Jahr 2005 wurden die Qualitätsprüfungen auf eine durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) autorisierte, verbindliche Grundlage gestellt, die auch als Basis für eine systematische MDK-übergreifende Qualitätssicherung herangezogen wurden. Um hierfür eine Ausgangsbasis zu schaffen, wurden Workshops und Multiplikatorenseminare unter Beteilung von Mitarbeitern aller Medizinischen Dienste durchgeführt. Durch das am 01.07.2008 in Kraft getretene Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) gewannen die Qualitätsprüfungen des MDK insbesondere durch Einführung eines jährlichen Prüfrhythmus und die Veröffentlichung der Prüfergebnisse im Internet (s. Kap. 10.4) erheblich an Bedeutung. Durch die jährlich über 20 000 durchzuführenden Qualitätsprüfungen und den inhaltlich gestiegenen Prüfumfang waren wesentlich mehr Mitarbeiter als bisher für dieses Tätigkeitsfeld erforderlich. Durch diese geänderten Rahmenbedingungen waren auch die Anforderungen an eine bundesweit einheitliche Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI (QSQP) gestiegen. Notwendig war daher eine Weiterentwicklung der bislang in den einzelnen MDK erfolgten Qualitätssicherung, der mit der Erarbeitung eines Konzeptes für eine bundeseinheitliche Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen Rechnung getragen wurde.
320
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
10.5.1 Konzept für eine bundeseinheitliche Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen Das Konzept für die MDK-interne und MDK-übergreifende Qualitätssicherung ist modular aufgebaut und umfasst folgende drei Module: Modul 1 beinhaltet das Auditverfahren. Ziel dieses Instrumentes ist es, mit MDKübergreifenden Audits die Durchführung der Qualitätsprüfungen vor Ort zu bewerten. Insbesondere können hierbei das Vorgehen der Prüfer direkt während der Qualitätsprüfungen beobachtet sowie die Bewertungen der Prüfer inhaltlich überprüft werden. Modul 2 beinhaltet eine Qualitätssicherung der Prüfberichte mit dem Ziel, die Qualität der MDK-Prüfberichte zu sichern und zu verbessern sowie eine einheitliche qualitätsgesicherte Praxis der Berichterstellung zu gewährleisten. Anhand von zentralen Qualitätskriterien kann damit eine vergleichbare Bewertung der Prüfberichte in Hinblick auf ihre Plausibilität bzw. Qualität erfolgen. Modul 3 umfasst standardisierte Kundenbefragungen, mit deren Hilfe Vorschläge und Hinweise zur Verbesserung der Qualitätsprüfungen identifiziert werden können. Es sind drei schriftliche Befragungen vorgesehen: a) Befragung der Landesverbände der Pflegekassen nach Erhalt eines Prüfberichtes b) Befragung der Pflegeeinrichtungen nach Durchführung einer Qualitätsprüfung durch den MDK c) Befragung der Pflegeeinrichtungen nach Erhalt des Prüfberichtes Die Kombination der genannten Module ermöglicht eine aufeinander abgestimmte MDK-interne und MDK-übergreifende Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen auf unterschiedlichen Ebenen und aus verschiedenen Blickwinkeln.
10.5.2 Modul 1: Das Auditverfahren Das zentrale Instrument des Qualitätssicherungssystems der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI ist das Audit. Es erfolgt als eine beobachtende Begleitung der Qualitätsprüfung durch einen in Qualitätsprüfungen erfahrenen Auditor im Sinne eines Witness-Audits (engl. witness „Zeuge“), wie es in Akkreditierungs-/Zertifizierungssystemen üblich ist. Der Auditor greift dabei nicht in das Prüfgeschehen ein, sondern führt als Beobachter der Situation eine Parallelerhebung sämtlicher Transparenzkriterien und weiterer Details zum Prüfgeschehen durch. Die von der Einrichtung vorgelegten Unterlagen sieht der Auditor parallel zu den Prüfern ein. Im Rahmen der körperlichen Befunderhebung begleitet der Auditor die zuständigen Prüfer bei der Inaugenscheinnahme von insgesamt zwei Pflegebedürftigen (Bewohnern/Kunden). Er nimmt auch hier eine parallele Erhebung der entsprechenden Prüfkriterien vor. Dabei sollte einer der beiden Pflegebedürftigen mindestens der Pflegestufe II zugeordnet sein, und mindestens bei einem der Pflegebedürftigen sollte eine erheblich
10.5 Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (QSQP)
321
eingeschränkte Alltagskompetenz vorliegen. Diese Auswahl ist erforderlich, um im Rahmen des Audits eine möglichst große Anzahl bewertbarer Kriterien erfassen zu können. Auf der Grundlage dieser Erhebungen beurteilt der begleitende Auditor für jedes der zu prüfenden Kriterien, ob eine Übereinstimmung zwischen der Bewertung des Prüfteams und seiner Entscheidung besteht. Zur Dokumentation seiner Bewertungen steht dem Auditor eine standardisierte Audit-Checkliste zur Verfügung. Basierend auf den Erfahrungen aus gegenseitigen MDK-übergreifenden Hospitationen und MDK-internen kollegialen Begleitungen erfolgte von einem Projektteam „Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen“ (QSQP) der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2) die Entwicklung des Instrumentes Auditverfahren. Die Entwicklung wurde durch das Kompetenz-Centrum der MDK-Gemeinschaft „Qualitätssicherung/Qualitätsmanagement“ (KCQ) fachlich begleitet. Teilweise waren auch das Europäische Institut zur Zertifizierung von Managementsystemen und Personal (EQ ZERT) und die BSI Group Deutschland GmbH beratend als externe Qualitätssicherungsinstitutionen in den Prozess der Konzeptentwicklung eingebunden. Eine erste Evaluation des Auditkonzeptes im Hinblick auf seine Praktikabilität erfolgte im Jahr 2010 als Pretest bei sechs Qualitätsprüfungen in verschiedenen Medizinischen Diensten. Von allen beteiligten Auditoren wurde das Instrument als gut geeignet bewertet. Im Jahr 2011 wurde eine erweiterte Pilotphase mit insgesamt 57 Audits durchgeführt, die eine Hälfte davon in stationären Pflegeeinrichtungen, die andere Hälfte bei Qualitätsprüfungen von ambulanten Pflegediensten. Die Zahl 57 erklärt sich auf folgende Weise: In der MDK-Gemeinschaft waren im Jahr 2011 rund 550 Mitarbeiter mit Qualitätsprüfungen betraut. Eine Qualitätsprüfung wird nach den Vorgaben der Qualitätsprüfungs-Richtlinien von einem Prüfteam, bestehend aus zwei Prüfern, durchgeführt, d.h., bei einer Prüfung können zwei Prüfer auditiert werden. Unter der Prämisse, dass im Jahr 2011 in jedem MDK mindestens ein Audit bei einer ambulanten und ein Audit bei einer stationären Qualitätsprüfung durchgeführt werden sollte und der weiteren Vorgabe, dass pro Jahr mindestens 20 Prozent der dort tätigen Prüfer einem Audit unterzogen werden sollen, ergibt sich rechnerisch die Gesamtzahl von 57 Audits pro Jahr. Als Bezugsgröße wurden die Qualitätsprüfer gewählt, da bei vermeintlich einheitlichen Prüfvorgaben eine Varianz der Prüfergebnisse vor allem durch die Bewertungen der Prüfer zustande kommen kann. In einem Losverfahren wurden die Zuordnungen für eine gegenseitige Auditierung ermittelt, d.h. welche Medizinischen Dienste bei welchen MDK Audits durchführen bzw. welche Dienste von welchen MDK auditiert werden. Das Losverfahren wurde so gestaltet, dass Mehrfachauditierungen eines MDK durch denselben MDK in einem Kalenderjahr vermieden wurden. Die Erfahrungen und Ergebnisse aus den im Jahr 2011 durchgeführten Audits wurden im Projektteam QSQP der SEG 2 analysiert, aufgearbeitet und in Projektberichten dokumentiert. Im Zentrum der Datenauswertung stand die Frage nach den Übereinstimmungen zwischen den Bewertungen der Prüffragen zur Transparenz durch das auditierte Prüfteam und der Bewertung durch den Witness-Auditor. Entspre-
322
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
chend wurde für jedes Transparenzkriterium berechnet, in wie viel Prozent der Fälle zwischen dem Urteil des Auditors und des Prüfers eine Übereinstimmung bestand. Anhand der Quoten dieser prozentualen Übereinstimmung wurden diejenigen Kriterien identifiziert, bei denen häufiger Nichtübereinstimmungen auftraten. Die Ursachen für nichtübereinstimmende Bewertungen wurden dann auf der Grundlage der Erläuterungen in der Auditcheckliste und des Prüfberichts näher analysiert. Erst auf dieser Grundlage konnten gezielte Maßnahmen einer Qualitätsverbesserung, wie z.B. der Prüfgrundlagen, eingeleitet werden. Um hierzu die Voraussetzungen zu schaffen, wurde wie folgt vorgegangen: Alle differierenden Bewertungen in den Auditberichten wurden vom Projektteam analysiert. Hierfür wurden neben den Freitexten in den Auditchecklisten auch die Prüfberichte herangezogen. In einem ersten Schritt wurde geprüft, welcher Beurteilung bei korrekter Anwendung der Prüfvorgaben zu folgen war. Dabei wurde auch festgehalten, wenn trotz unterschiedlicher Bewertung der Prüffrage beiden Beurteilungen aus Sicht der Prüfsystematik gefolgt werden konnte. In diesen Fällen war von besonderem Interesse, worin die Gründe hierfür lagen. So kam das Projektteam QSQP der SEG 2 beispielsweise bei dem Transparenzkriterium 14 ambulant (Frage 11.3 Werden die vereinbarten Leistungen zur Mobilität und deren Entwicklung nachvollziehbar durchgeführt?) in den meisten Fällen zu dem Schluss, dass beide Bewertungen korrekt sein könnten, da die zugrunde liegende Prüffrage und die Ausfüllanleitung nicht ausreichend präzise formuliert sind und aus diesem Grund Interpretationsspielräume zulassen, denn diese Prüffrage berücksichtigt nicht die landesspezifischen leistungsrechtlichen Vorgaben. Zusammenfassend kam das Projektteam QSQP der SEG 2 zu dem Schluss, dass ein Präzisierungsbedarf bei bestimmten Transparenzfragen bestand. Es ist bei der Präzisierung mit einem längeren Verfahren der Vertragspartner nach § 113 SGB XI zu rechnen. Um bei dieser Fragestellung eine kurzfristige Qualitätsentwicklung im Hinblick auf eine einheitliche Bewertung der Prüffrage gewährleisten zu können, wurde empfohlen, eine Entscheidung der MDK-übergreifenden Arbeitsgruppe Ü3 „Qualitätssicherung der Qualitätsprüfung“ (s. Abschn. 10.5.6) herbeizuführen, wie bis zur Entscheidung der Vertragspartner oder der Schiedsstelle mit dieser Fragestellung umzugehen ist. In Fällen, in denen systematische Abweichungen vom Prüfverfahren festgestellt wurden, erhielt der entsprechende MDK den Hinweis mit der Bitte, die Ursachen dieser Abweichungen im Rahmen seines internen Qualitätsmanagements zu analysieren und abzustellen. Im Jahr 2012 wurden 30 MDK-übergreifende Audits bei stationären Qualitätsprüfungen durchgeführt, im Jahr 2013 werden 60 MDK-übergreifenden Audits durchgeführt (30 in ambulanten Pflegeeinrichtungen, 30 in stationären Pflegeeinrichtungen).
10.5 Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (QSQP)
323
10.5.3 Modul 2: Qualitätssicherung der Prüfberichte Der nach Durchführung einer Qualitätsprüfung erstellte Prüfbericht muss die Pflegeeinrichtungen in die Lage versetzen, festgestellte Qualitätsmängel nachvollziehen zu können. Zugleich muss er es den Landesverbänden der Pflegekassen ermöglichen, einen begründeten Maßnahmenbescheid zu erteilen. Außerdem ist er die Grundlage für die Erstellung des Transparenzberichtes durch die „Daten Clearing Stelle (DCS) Pflege für ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen“ (s. Kap. 10.4). Ein Prüfbericht kann diese Funktionen erfüllen, wenn er vollständig, sachlich und fachlich korrekt, verständlich und nachvollziehbar/plausibel ist. Die Prüfung der Qualität des Prüfberichts umfasst entsprechend dieser Anforderung die übergeordneten Bewertungsbereiche: – Vollständigkeit (3 Items) – sachlich-fachliche Korrektheit (3 Items) – Verständlichkeit (2 Items) – Nachvollziehbarkeit/Plausibilität (4 Items) Im Bewertungsbereich „Vollständigkeit“ werden folgende drei Items geprüft: 1. Abweichungen vom Prüfverfahren sind begründet. 2. In der Zusammenfassung ist zu den wesentlichen Aspekten zur Durchführung der Prüfung und zu den Prüfergebnissen eine Aussage vorhanden. 3. Im Prüfbericht sind alle „nein“ Beurteilungen mit Freitext erläutert. Im Bewertungsbereich „Sachlich/Fachliche Korrektheit“ werden folgende drei Items geprüft: 1. Die Zusammenfassung enthält keine persönliche Wertung. 2. In den Anlagen sind die Erläuterungen zu den Beurteilungen fachlich korrekt begründet. 3. Im Prüfbericht und in den Anlagen ist die Einhaltung des Datenschutzes gewährleistet. Im Bewertungsbereich Verständlichkeit werden folgende zwei Items geprüft: 1. Die Verwendung von Abkürzungen erfolgt nach Duden und/oder nach Erläuterung bzw. Abkürzungsliste. 2. Grammatik und Orthographie sind korrekt. Im Bewertungsbereich „Nachvollziehbarkeit/ Plausibilität“ werden folgende vier Items abgeprüft: 1. Die Zusammenfassung beschreibt nachvollziehbar das Gesamtbild der Einrichtung, wie es sich aus dem Prüfbericht ergibt. 2. In den Empfehlungen zur Beseitigung von Qualitätsdefiziten sind die Maßnahmen eindeutig aus den Defiziten abgeleitet.
324
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
3. Im Erhebungsbogen der einbezogenen Pflegebedürftigen besteht kein Widerspruch zwischen der Ist-Erhebung und der Risikobewertung. 4. Im Prüfbericht sind die Bewertungen mit „nein“ nachvollziehbar begründet. Die Bewertung der Items erfolgt in vier Kategorien: erfüllt, überwiegend erfüllt, überwiegend nicht erfüllt und nicht erfüllt. Trifft ein Item nicht zu, wird mit tnz („trifft nicht zu“) bewertet. Die Kategorien für die Bewertungen erfüllt, überwiegend erfüllt, überwiegend nicht erfüllt und nicht erfüllt sind im Prüfbogen für die Prüfung des Prüfberichts definiert. Die Erarbeitung des Prüfinstrumentes „Qualitätssicherung des Prüfberichtes“ erfolgte durch das Projektteam QSQP der SEG 2. Grundlagen waren die in den Qualitätsprüfungs-Richtlinien und in den MDK-Anleitungen definierten und für die Berichterstellung relevanten Qualitätsanforderungen. Zusätzlich flossen die Erfahrungen der MDK-Gemeinschaft aus der Qualitätssicherung der Pflegebegutachtungen nach § 18 SGB XI in die Entwicklung dieses Instruments ein. Weiterhin wurden die Erkenntnisse berücksichtigt, die von MDK-Mitarbeitern im Erfahrungsaustausch mit den Mitarbeitern der Pflegekassen und den Mitarbeitern von Pflegeeinrichtungen gewonnen wurden, die sich insbesondere auf die Nutzbarkeit und Praxistauglichkeit der Prüfberichte bezogen. Auf diesen Grundlagen wurden die für die Berichterstellung zur Qualitätsprüfung nach §§ 114ff. SGB XI relevanten Qualitätsanforderungen erarbeitet. Das auf diese Weise entwickelte Prüfinstrumentarium wurde mehrfachen Praxistests unterzogen. Hierfür erprobte das Projektteam QSQP der SEG 2 verschiedene Versionen des Instruments zur Überprüfung der Qualität anhand von mehreren Prüfberichten. Im Fokus der Evaluation standen die folgenden Aspekte: Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der erarbeiteten Qualitätsmerkmale, Anforderungen an die Definitionen der Merkmale und die Erläuterungen der jeweiligen Merkmalsausprägungen. Die Ergebnisse der einzelnen Praxistests wurden in den Arbeitssitzungen des Projektteams diskutiert und es fand eine mehrfache Modifikation des Instrumentes statt. Dabei wurden insbesondere die Erläuterungen der Merkmalsausprägungen der einzelnen Qualitätskriterien präzisiert. Die Entwicklung der Bewertungssystematik erfolgte im Anschluss an das erläuterte Vorgehen. Da die vier Bewertungsbereiche des Instruments (Vollständigkeit, sachlich/fachliche Korrektheit, Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit/Plausibilität) unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte abbilden, sind diese nur schwer vergleichbar. Es erscheint demnach nicht sinnvoll, einen Gesamtwert zu errechnen, der die „Gesamt-Qualität“ eines Prüfberichts widerspiegelt. Vielmehr soll die Qualität eines Prüfberichts durch die vier Bereichswerte repräsentiert werden. Das vorgestellte Instrumentarium hat im Rahmen der Praxistests des Projektteams QSQP der SEG 2 seine Praxistauglichkeit bewiesen. Eine flächendeckende Erprobung dieses Instrumentariums ist bislang weder in einem MDK noch MDK-übergreifend durchgeführt worden. Eine solche Erprobung wird nach Inkrafttreten der
10.5 Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (QSQP)
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Qualitätssicherungs-Richtlinien (s. Abschn. 10.5.5) und nach Entscheidung durch die Arbeitsgruppe Ü3 (s. Abschn. 10.5.6) erfolgen.
10.5.4 Modul 3: Standardisierte Kundenbefragung Kundenbefragungen sind eine Methode, um Informationen über die Zufriedenheit und die Erwartungen von Kunden über ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung zu erhalten. Kundenbefragungen können daher auch Bestandteil des Qualitätsmanagementsystems eines Dienstleistungsunternehmens sein, mit deren Hilfe Vorschläge und Hinweise zur Verbesserung der Dienstleitung identifiziert werden können [Bruhn 2006, Scharnbacher/Kiefer 2003, Weinreich/von Lindern 2008]. Es sind drei schriftliche Befragungen vorgesehen: 1. Befragung der Landesverbände der Pflegekassen nach Erhalt eines Prüfberichtes des MDK Durch die Befragungen der Landesverbände der Pflegekassen nach Erhalt des Prüfberichtes erhalten die Medizinischen Dienste Informationen über die Zufriedenheit der Landesverbände der Pflegekassen mit den Prüfberichten und Hinweise zum praktischen Nutzen der Berichte für die Pflegekassen. 2. Befragung der Pflegeeinrichtungen nach Durchführung einer Qualitätsprüfung durch den MDK Durch die Befragungen der Pflegeeinrichtung nach Durchführung der Qualitätsprüfung durch den MDK erhalten die Medizinischen Dienste Informationen von den geprüften Pflegeeinrichtungen über die Zufriedenheit mit der Durchführung der Qualitätsprüfungen und den praktischen Nutzen dieser Prüfungen für die betreffende Einrichtung. 3. Befragung der Pflegeeinrichtungen nach Erhalt des Prüfberichtes des MDK Durch die Befragungen der geprüften Pflegeeinrichtungen nach Erhalt des Prüfberichtes erhalten die Medizinischen Dienste Informationen über die Zufriedenheit der geprüften Pflegeeinrichtungen mit den Prüfberichten und Hinweise zum praktischen Nutzen der Berichte für die betreffenden Einrichtungen. Die Befragung der Landesverbände erfolgt anhand folgender Fragen: 1. Erhalten Sie die Prüfberichte fristgerecht? 2. Ist der Umfang der Prüfberichte angemessen? 3. Ist der Aufbau der Prüfberichte nachvollziehbar? 4. Erhält der Leser mit der Zusammenfassung der Prüfberichte über die Prüfergebnisse einen guten Überblick? 5. Ist die detaillierte Darstellung der Einzelergebnisse in den Prüfberichten hilfreich? 6. Sind die Inhalte der Prüfberichte insgesamt eindeutig? sachlich? nachvollziehbar? 7. Sind die Sprache und Formulierungen in den Prüfberichten verständlich?
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10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
8. Sind die formulierten Maßnahmen/Empfehlungen in den Prüfberichten eindeutig? sachlich? nachvollziehbar? als Basis für die Bescheide geeignet? 9. Werden relevante Problemstellungen in den Prüfberichten deutlich? 10. Sind Sie insgesamt mit der Qualität der Prüfberichte zufrieden? Die Befragung der Pflegeeinrichtungen nach Durchführung einer Qualitätsprüfung durch den MDK erfolgt anhand folgender Fragen: 1. Wie haben Sie die Qualitätsprüfung insgesamt erlebt? positiv? indifferent? negativ? 2. Angaben zur geprüften Einrichtung: ambulanter Pflegedienst – vollstationäre Pflegeeinrichtung – Kurzzeitpflege – Tagespflege – Hospiz; Prüfdauer in der Einrichtung: ein Tag – zwei Tage – mehr als zwei Tage (Diese Frage wird gestellt, da die Befragungen anonym durchgeführt werden.) 3. Das Einführungsgespräch war aus Ihrer Sicht: informativ? strukturiert? hilfreich? 4. Der Umgang mit den in die Prüfung einbezogenen Bewohnern/Pflegebedürftigen war aus Ihrer Sicht: respektvoll? einfühlsam? fachkompetent? 5. Der Umgang mit den Mitarbeitern der Pflegeeinrichtung war aus Ihrer Sicht: respektvoll? auf Augenhöhe? 6. Das Abschlussgespräch war aus Ihrer Sicht: informativ? strukturiert? beratungsorientiert? 7. Die vorläufigen Empfehlungen waren aus Ihrer Sicht: nachvollziehbar? 8. Der praktische Nutzen der Prüfung für die Qualitätsentwicklung in Ihrer Einrichtung war: hoch? eher hoch? eher gering? gering? 9. Die Prüfung war aus Ihrer Sicht insgesamt: beratungsorientiert? strukturiert? fachkompetent? Die Befragung der Pflegeeinrichtungen nach Erhalt des Prüfberichtes umfasst folgende Fragen: 1. Angaben zu Ihrer Pflegeeinrichtung und zur Prüfung: 1.1. Angaben zur geprüften Einrichtung: ambulanter Pflegedienst – vollstationäre Pflegeeinrichtung – Kurzzeitpflege – Tagespflege – Hospiz (Diese Frage wird gestellt, da die Befragungen anonym durchgeführt werden.) 1.2. Sie haben den Prüfbericht erhalten: innerhalb von drei Wochen – mehr als drei Wochen nach der Prüfung 2. Prüfbericht: 2.1. Ist der Aufbau des Prüfberichtes nachvollziehbar? 2.2. Erhält der Leser mit der Zusammenfassung des Prüfberichtes einen guten Überblick über die Prüfergebnisse? 2.3. Ist die detaillierte Darstellung der Einzelergebnisse zum Prüfbericht hilfreich? 2.4. Sind die Feststellungen im Prüfbericht insgesamt richtig? 2.5. Sind Sprache und Formulierungen im Prüfbericht verständlich?
10.5 Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (QSQP)
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2.6. Sind die Aussagen im Prüfbericht sachlich? eindeutig? 2.7. Sind die Empfehlungen zur Beseitigung von Qualitätsdefiziten verständlich? 2.8. Stimmen die Inhalte der Beratung im Rahmen der Qualitätsprüfung mit den im Prüfbericht gegebenen Empfehlungen überein? 2.9. Kann der Prüfbericht als Grundlage für Qualitätsverbesserungsmaßnahmen in der Pflegeeinrichtung genutzt werden? 2.10. Sind Sie insgesamt mit der Qualität des Prüfberichtes zufrieden? Bei allen Fragen der drei Fragebögen (Ausnahmen: Frage 1 Pflegekassen; Frage 1 und 2 Pflegeeinrichtungen und Frage 1.1 und 1.2 Prüfbericht) sind vierstufig aufgeteilte Antwortmöglichkeiten gegeben: trifft zu – trifft überwiegend zu – trifft überwiegend nicht zu – trifft nicht zu. Kundenbefragungen wurden in der MDK-Gemeinschaft erstmals im MDK Nordrhein Ende 2005/Anfang 2006 durchgeführt. Die Fragebögen wurden auf empirischer Grundlage und unter Berücksichtigung von Fachliteratur entwickelt [Schwegler 2006, MDS 2007]. Die Erfahrungen aus diesem „Pretest“ wurden in das Projektteam QSQP der SEG 2 eingebracht. Die in den Fragebögen des MDK Nordrhein beinhalteten Fragen wurden im Projektteam überarbeitet und angepasst. Insbesondere wurde auch ein dritter Fragebogen entwickelt, der die Befragung der Pflegeeinrichtung mit der Zufriedenheit des Prüfberichtes beinhaltet. Die überarbeiteten bzw. der neu entwickelte dritte Fragebogen wurden inzwischen in mehreren Medizinischen Diensten (z.B. MDK Westfalen-Lippe, MDK Bayern, MDK Sachsen, MDK Mecklenburg-Vorpommern, MDK Thüringen) getestet. Hierbei zeigte sich grundsätzlich die Praxistauglichkeit und Nützlichkeit des Befragungsinstrumentariums. Bei der auf jeweilige Einzelprüfberichte ausgerichteten Befragung der Landesverbände der Pflegekassen ergaben sich jedoch Hinweise, dass eine summarische Befragung der Landesverbände der Pflegekassen effektiver und ausreichend ist. Die Erfahrungen der MDK aus der Erprobung der Fragebögen flossen wieder in das Projektteam ein und führten zu Modifikationen von einzelnen Fragen. Aufgrund der Erfahrungen aus der Befragung der Landesverbände der Pflegekassen wurde dieser Fragebogen dahingehend modifiziert, dass eine summarische Befragung der Landesverbände der Pflegekassen möglich ist. Der MDK Westfalen-Lippe führt die Befragungen der Pflegeeinrichtungen nach Durchführung der Qualitätsprüfungen und nach Erhalt des Prüfberichtes seit dem Jahr 2009 kontinuierlich und fortlaufend durch. Die regelhafte Implementierung der Befragungen in den anderen MDK wird nach Inkrafttreten der QualitätssicherungsRichtlinien (s. Abschn. 10.5.5) erfolgen.
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10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
10.5.5 Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI Die in den Abschnitten 10.5.2 bis 10.5.4 dargestellten drei Module sind in leicht modifizierter Form als Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen nach §§ 114ff. SGB XI (Qualitätssicherungs-Richtlinien Qualitätsprüfung – QS-Ri QP) am 06.05.2013 in Kraft getreten.
10.5.6 Arbeitsgruppe Ü3 „Qualitätssicherung der Qualitätsprüfung“ Nach Beendigung der Tätigkeit des Projektteams QSQP der SEG 2 im Jahr 2012 eine MDK-übergreifende Arbeitsgruppe Ü3 „Qualitätssicherung der Qualitätsprüfung“ ihre Tätigkeit zur kontinuierlichen Weiterentwicklung und Evaluation eines bundeseinheitlichen Prüfverfahrens zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen aufgenommen. Die Arbeitsgruppe Ü3 besteht neben Vertretern des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) aus Vertretern des GKV-Spitzenverbandes, sechs Vertretern der die Aufgaben der Landesverbände der Pflegekassen wahrnehmenden Verbände und Kassen unterschiedlicher Kassenarten (§ 52 SGB XI) aus unterschiedlichen Bundesländern und je einem Vertreter der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung. Die Leitung der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2) ist in der übergreifenden Arbeitsgruppe beratend beteiligt. Jeder Medizinische Dienst benennt einen verantwortlichen Mitarbeiter für die Koordination und Durchführung der Qualitätssicherungsmaßnahmen für den Bereich der Qualitätsprüfungen. Die übergreifende Arbeitsgruppe wird vom MDS in enger Abstimmung mit dem GKV-Spitzenverband geleitet und tagt regelmäßig, mindestens aber zweimal im Jahr. Bei der kontinuierlichen Weiterentwicklung und Evaluation des bundeseinheitlichen Prüfverfahrens zur Qualitätssicherung durch die Arbeitsgruppe Ü3 werden die aktuellen Erkenntnisse aus der Wissenschaft und die Erfahrungen von Qualitätsexperten aus dem Bereich des Prüfwesens berücksichtigt. Dazu werden Vertreter der Wissenschaft und Qualitätsexperten aus dem Bereich des Prüfwesens beauftragt, sich an der Erarbeitung bzw. Weiterentwicklung der einzelnen Prüfinstrumente zu beteiligen, sie neu zu konzipieren oder bereits entwickelte Prüfinstrumente zu untersuchen. Zur Entwicklung bzw. Weiterentwicklung der Prüfinstrumente ist auch vorgesehen, das Wissen von Organisationen und Verbänden einzubeziehen, die über Erfahrungen mit der Qualitätssicherung verfügen. Dazu wird ein Begleitgremium eingesetzt werden, das sich aus zwei Vertretern der Wissenschaft/Qualitätsexperten aus dem Bereich des Prüfwesens, einem Vertreter des Verbraucherschutzes, zwei Vertretern von Betroffenenorganisationen, einem Vertreter des Bundesministeriums für Gesundheit, zwei Vertretern der Leistungserbringerverbände, sechs Vertretern der
10.6 Qualitätsindikatoren in der ambulanten und stationären Pflege
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die Aufgaben der Landesverbände der Pflegekassen wahrnehmenden Verbände und Kassen unterschiedlicher Kassenarten (§ 52 SGB XI) aus unterschiedlichen Bundesländern, zwei Vertretern des GKV-Spitzenverbandes, vier Vertretern der Medizinischen Dienste aus der übergreifenden Arbeitsgruppe sowie zwei Vertretern des MDS zusammensetzen soll. Die Leitung der SEG 2 ist ebenfalls im Begleitgremium beteiligt. Das Begleitgremium wird vom GKV- Spitzenverband in enger Abstimmung mit dem MDS geleitet und tagt je nach Bedarf, mindestens aber einmal im Jahr. Es wird über den Stand der Entwicklung der Prüfinstrumente und den jeweils vorliegenden aktuellen Abschlussbericht einschließlich der zugrunde gelegten Prüfinstrumente informiert. Die Mitglieder des Begleitgremiums haben Gelegenheit, über ihre Erfahrungen mit den Qualitätsprüfungen zu berichten und Anregungen zur Weiterentwicklung der Prüfinstrumente zu geben. Die Anregungen werden bei der Weiterentwicklung der Prüfinstrumente durch die übergreifende Arbeitsgruppe berücksichtigt. Die Arbeitsgruppe Ü3 „Qualitätssicherung der Qualitätsprüfung“ wird jährlich für den Berichtszeitraum eines Kalenderjahres bis zum 31.05. des Folgejahres einen Abschlussbericht erstellen über die Ergebnisse der durchgeführten Qualitätssicherungsmaßnahmen der Medizinischen Dienste. In ihm werden die Ergebnisse der MDK-übergreifenden Audits, der Befragungen der Pflegeeinrichtungen und der Landesverbände der Pflegekassen sowie der Plausibilitätsprüfungen der Prüfberichte dargestellt werden.
10.6 Qualitätsindikatoren in der ambulanten und stationären Pflege Eckart Schnabel 10.6.1 Einführung Seit der Einführung der Pflegeversicherung steht das Thema „Qualitätssicherung“ auf der Agenda der verschiedenen Akteure im Pflegesektor. Viele Träger, Dienste und Einrichtungen haben sich seit Mitte der 90er Jahre mit vielfältigen Aktivitäten und Initiativen dieses Themas angenommen und ihre Qualitätsentwicklung vorangetrieben. Angesichts der Vielfalt an Vorstellungen, Konzepten und Modellen ist es jedoch nicht gelungen, einen einheitlichen und verbindlichen Qualitätsbegriff zu schaffen, der die unterschiedlichen Akteursperspektiven zu einem Konsens zusammen führt. Angesichts dieses Umstands erstaunt es auch nicht, dass der Fokus der praktischen Aktivitäten nach wie vor auf der Struktur- und Prozessqualität liegt, also auf den Rahmenbedingungen der Erbringung von Leistungen als auch im Hinblick auf die fachlichen Grundlagen der Durchführung. Die Ergebnisqualität hingegen ist, auch wenn sie in der fachwissenschaftlichen Aufmerksamkeit deutlich an Bedeutung gewonnen hat, in der praktischen Arbeit häufig vernachlässigt. Hier besteht auch keine Überein-
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kunft dahingehend, welche Wertigkeit die verschiedenen Dimensionen eines potenziellen Ergebnisses haben sollen. Besonders deutlich wird dies in der Diskussion um die Lebensqualität, die in vielen Konzepten mehr Lippenbekenntnis als ein fachlich fundiertes, in ihren Dimensionen operationalisiertes und in der alltäglichen Arbeit implementiertes Konstrukt darstellt. Mangelt es schon bei den Ergebnissen pflegerischer Interventionen häufig an geeigneten Nachweisen und verlässlichen Indikatoren, so gilt dies umso mehr für die Lebensqualität, vor allem in der Bewertung aus der Perspektive der Pflegebedürftigen. Zwar wurde vielerorts versucht, diese Perspektive über Zufriedenheitsbefragungen stärker zu berücksichtigen, die offensichtlich zu Tage getretenen großen Unterschiede zwischen fachlicher Kritik einerseits und überwiegend hohen Zufriedenheitswerten andererseits offenbaren jedoch mehr die methodischen Unzulänglichkeiten der Erhebungen, als dass sie wirkliche Hinweise über die Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse pflegebedürftiger Menschen oder zu Ergebnissen von Interventionen zu generieren vermögen. Die Entwicklung transparenter, wissenschaftlich fundierter und verlässlicher Qualitätsindikatoren in der Pflege erweist sich vor diesem Hintergrund als eine Notwendigkeit, der in Deutschland erst in jüngster Vergangenheit Bedeutung beigemessen wird. Nach der Definition des Center for Health Systems Research & Analysis (CHSRA) sind Qualitätsindikatoren „Marker, die gute oder schlechte Pflegequalität oder -ergebnisse anzeigen. Sie stellen den ersten bekannten systematischen Versuch dar, das klinische und psychosoziale Profil von Bewohnern stationärer Einrichtungen standardisiert, vergleichsweise preiswert und regelmäßig über einen längeren Zeitraum zu erheben …“ [CHSRA 2012].
10.6.2 Reform der Pflegeversicherung Mit der vorletzten Reform des Pflege-Versicherungsgesetzes rückte die Ergebnisqualität und damit auch die Perspektive von Nutzern/innen deutlicher in den Fokus der Qualitätsdiskussion. Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, das zum 01.07.2008 in Kraft getreten ist, zeigt, dass neben der Pflege- auch die Lebensqualität der Betroffenen stärker in den Blick genommen wird. In diesem Zusammenhang erweist es sich als notwendig, praxisrelevante und nachvollziehbare Kriterien der Ergebnisqualität zu entwickeln und für die Prüfpraxis aufzubereiten, um etwa, wie laut Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vorgesehen, Qualitätsberichte von Prüfinstanzen über die Leistungen von vollstationären Pflegeeinrichtungen öffentlich bereit zu stellen. Dabei sollen diese Berichte für die Verbraucher/innen bzw. Nutzer/innen von Leistungen vor allem dazu dienen, vorhandene Einrichtungen vergleichen zu können und damit verlässliche Entscheidungshilfen zur Verfügung zu haben. Dass das Gesetz die Dimension der Lebensqualität und Kriterien der Ergebnisqualität in den Fokus der Qualitätsberichterstattung rückt, ist auch im Sinne der Nutzer/innen sowie der Leistungserbringer. Vor diesem Hintergrund besteht dringender Handlungsbedarf, denn weder gibt
10.6 Qualitätsindikatoren in der ambulanten und stationären Pflege
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es einen wissenschaftlich gesicherten Konsens zu Indikatoren der Ergebnisqualität in der Pflege, noch liegen wissenschaftlich fundierte wie konsentierte Kriterien für die Pflege- und Lebensqualität von Bewohner/innen in Pflegeheimen vor. Des Weiteren ist das Thema Risikoadjustierung, um einen angemessenen Leistungsvergleich zwischen den Heimen zu ermöglichen, in der Entwicklung von Qualitätsindikatoren für die Messung von Ergebnisqualität in der stationären Langzeitpflege von hoher Bedeutung. Die notwendige Entwicklung entsprechender Kriterien und Indikatoren erscheint auch geeignet, die gegenwärtige Prüfpraxis noch stärker wissenschaftlich zu fundieren. Die zum 01.01.2009 in Kraft getretene Vereinbarung nach § 115 Abs. 1a Satz 6 SGB XI über die Kriterien der Veröffentlichung sowie die Bewertungssystematik der Qualitätsprüfungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung sowie gleichwertiger Prüfergebnisse in der stationären Pflege markiert die ersten Schritte auf dem Weg zu einer wissenschaftlich gestützten Indikatorenentwicklung und ist in dem Wissen getroffen worden, dass es derzeit keine pflegewissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über valide Indikatoren der Ergebnis- und Lebensqualität der pflegerischen Versorgung in Deutschland gibt. Diese Vereinbarung ist deshalb als vorläufig zu betrachten und dient der vom Gesetzgeber gewollten schnellen Verbesserung der Transparenz für die Verbraucher über die Pflege, soziale Betreuung und Versorgung in Pflegeheimen. Unter den Vertragsparteien besteht Einvernehmen, diese Vereinbarung anzupassen, sobald pflegewissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über Indikatoren der Ergebnis- und Lebensqualität vorliegen. Mit der Studie „Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe“ [Wingenfeld et al. 2011] liegt nun eine Arbeit vor, die erste Befunde für den Bereich der stationären Pflege präsentiert. Es ergibt sich jedoch noch eine Vielzahl von Fragen im Hinblick auf die vorgenommene Auswahl von Indikatoren, methodische Fundierung und wissenschaftliche Güte, die Implementation sowie Schlussfolgerungen für das Verhältnis von internem Qualitätsmanagement und externer Qualitätssicherung. Im Zuge der Umsetzung des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes und Erweiterung des § 113 SGB XI ‚Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität‘ sind die Vereinbarungspartner aufgefordert, die Anforderungen „an ein indikatorengestütztes Verfahren zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität im stationären Bereich, das auf der Grundlage einer strukturierten Datenerhebung im Rahmen des internen Qualitätsmanagements eine Qualitätsberichterstattung und die externe Qualitätsprüfung ermöglicht“, zu regeln. Damit wird deutlich, welche Herausforderungen sich für die weitere Qualitätsentwicklung in der Pflege ergeben: die Entwicklung von wissenschaftlich fundierten Indikatoren, die sich gleichermaßen für die interne Qualitätsentwicklung eignen als auch die externe Qualitätssicherung auf eine solide Basis stellen. Letzteres erscheint umso wichtiger, als mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz und dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) den Anforderungen an den Nachweis von Ergebnis- und
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Lebensqualität sowie der Transparenz für Nutzer und ihre Angehörige ein höherer Stellenwert als bisher zugemessen werden.
10.6.3 Entwicklung von Indikatoren Die Qualitätsdiskussion in der Pflege orientiert sich in Deutschland seit langem an der bekannten Unterscheidung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität nach Avedis Donabedian. Der Fokus vieler Qualitätsinitiativen liegt dabei häufig vor allem auf der Struktur- und Prozessqualität. Dies steht zum einen im Zusammenhang mit der Professionalisierung in der Pflege, die insbesondere in den 90er Jahren den Fokus auf Qualifikationserfordernisse beim Pflegepersonal fokussierte und als Praxiswissenschaft vor allem auf die Qualitätssteigerung pflegerischer Prozesse zielte. Zum anderen vollzieht sich der für eine stärkere Ergebnisorientierung notwendige Perspektivwechsel zu einer nutzerorientierten und den Nutzer mit einbeziehenden Pflege in Deutschland nur langsam, vor allem, was die Berücksichtigung von Aspekten der Lebensqualität angeht. Hier besteht deutlicher Nachholbedarf und die Notwendigkeit, Aspekte der Lebensqualität zu berücksichtigen, dies zeigt sich nicht zuletzt an der bereits 2005 vom „Runden Tisch Pflege“ erarbeiteten Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in der jene Aspekte betont werden, die in der empirischen Lebensqualitätsforschung eine bedeutende Rolle spielen wie etwa Autonomie, Würde, Privatheit, Sicherheit [BMFSFJ/BMG 2006]. Die Indikatorenentwicklung muss sich also inhaltlich auf zwei Bereiche beziehen. Zum einen muss der Fokus auf zentrale Versorgungsbereiche und -probleme gerichtet werden, um eine Qualitätseinschätzung der pflegerischen Versorgung zu ermöglichen. Diese sogenannten „klinischen“ Qualitätsindikatoren beziehen sich vorrangig auf den funktionalen Status des Pflegebedürftigen, d.h., seine Performanz im Bereich der Alltagsverrichtungen, der Mobilität und im kognitiven Status. Hautstatus (z.B. Dekubitus), Kontinenz, Stürze oder Schmerzstatus bilden ebenfalls relevante Bereiche für Indikatoren ab. Psychosoziale oder Verhaltensdimensionen (wie z.B. Depression) sind ebenfalls zu berücksichtigen. Diese Indikatoren können in der Regel über standardisierte Assessment-Instrumente erhoben werden. Dies bietet den Vorteil, dass die Einschätzungen hinsichtlich der Qualität der Versorgung mit der individuellen Pflegeprozessplanung verknüpft werden und regelmäßig aktualisiert werden können. In der Pflegepraxis hat sich in diesem Zusammenhang häufig gezeigt, dass Pflegedokumentation und Pflegeprozess auf der einen und die Qualitätsaktivitäten auf der anderen Seite parallel verlaufen, ohne die jeweiligen Befunde und Ergebnisse aufeinander zu beziehen und für die Qualitätsentwicklung der Dienste und Einrichtungen nutzbar zu machen. Qualitätsentwicklung der Gesamtorganisation und nutzerbezogene Befunde werden damit voneinander abgekoppelt. In der Konsequenz ergeben sich Transparenzdefizite, da eine Einschätzung der tatsächlichen bewohnerbezogenen Prozesse nicht oder nur
10.6 Qualitätsindikatoren in der ambulanten und stationären Pflege
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unzureichend in die Gesamtbeurteilung mit einfließt. Auch wird der mit einer zuverlässigen Datenerhebung, -übermittlung, -aufbereitung und -auswertung verbundene Aufwand in der Diskussion häufig unterschätzt. Neben den klinischen Qualitätsindikatoren ist die Erfassung der Lebensqualität unerlässlicher Bestandteil eines umfassenden Indikatoren-Sets. Der Begriff „Lebensqualität“ bezeichnet dabei ein mehrdimensionales Konstrukt, das sowohl die objektiven Lebensbedingungen und die Lebenslage als auch die wahrgenommene Lebensqualität, häufig auch bezeichnet als subjektives Wohlbefinden, umfasst. Die Erfassung des Wohlbefindens erweist sich insbesondere bei pflegebedürftigen Menschen aus folgenden Gründen als zentrale Kategorie. Zum einen sind die Möglichkeiten der Gestaltung und Beeinflussung der objektiven Lebensbedingungen aufgrund des Settings, aber auch wegen vorhandener Einbußen, als gering einzustufen. Die „Zufriedenheit“ als eine im Rahmen von Qualitätssicherung häufig erhobene kognitive Kategorie der Lebensqualität ermöglicht zudem aufgrund einer Vielfalt methodischer Probleme wenig Einblicke in die tatsächliche Lebensqualität. Störeinflüsse wie soziale Erwünschtheit oder Anspruchsminderung, das Zufriedenheitsparadox als auch die Asymmetrie zwischen sogenannten ,unvoiced complaints‘ und dem tatsächlichen Befinden [Staudinger 2000] stellen hohe methodische Herausforderungen an die Durchführung entsprechender Erhebungen dar. In der Vergangenheit haben die hohen Zufriedenheitswerte vieler Nutzerbefragungen diese Unzulänglichkeiten illustriert [Wingenfeld 2003b]. Mit dem Fokus auf das individuelle Wohlbefinden geraten hingegen Aspekte der Lebensqualität, die sich nur selten in Qualitätsprogrammen wieder finden, ins Blickfeld. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich die individuell wahrgenommene Lebensqualität nicht nur auf relevante Lebensbereiche bezieht, sondern auch immaterielle und kollektive Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit oder auch das Ausmaß individuell wahrgenommener Autonomie mit einbezieht. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, als die Lebensqualität von Heimbewohnern und Heimbewohnerinnen, deren Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre objektive Lebensumwelt begrenzt sind, stark über diese immateriellen Werte wie etwa Würde, Privatheit oder Sicherheit definiert wird. Auch soziale Beziehungen, bedeutsame Aktivitäten, Vergnügen und auch Spiritualität sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung [s.a. Kane et al. 2003]. An die zukünftige Entwicklung von Indikatoren werden eine Reihe von Anforderungen gestellt, um eine wissenschaftliche Fundierung zu gewährleisten, Transparenz und Vergleich zu ermöglichen und den Pflegebedürftigen eine angemessene Versorgung und Betreuung zukommen zu lassen. 1. Auch im Bereich der Pflege setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die Entwicklung von Qualitätskriterien und -indikatoren evidenzbasiert erfolgen muss, d.h., sich am bestverfügbaren Wissen orientieren muss: Evidenzbasierung ist der „gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten“ [DNEbM 2007]. Die damit verbunde-
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nen Fragen und Grundsätze sind auch für die pflegerische Versorgung relevant. Auch hier geht es um die Frage, welcher nachweisbare Nutzen mit unterschiedlichen Interventionen verbunden ist und woran er gemessen werden soll. Da im Kontrast zum Gesundheitssystem nicht die Kuration im Vordergrund steht, muss hier eine Verständigung über adäquate Ziele erfolgen und wie der ‚Nutzen‘ entsprechend auch über Indikatoren abgebildet werden kann. 2. Die Indikatorenentwicklung sollte interdisziplinär erfolgen. Neben der Pflegewissenschaft sollten hier auch die Gerontologie, die Medizin, Gesundheitswissenschaft und Sozialarbeit mit einbezogen werden, um nicht nur ausgewählte Bereiche der Lebenswelt der Pflegebedürftigen zu fokussieren, sondern diese möglichst umfassend abzubilden. Monodisziplinäre Ansätze, die häufig auch von einer gewissen Abschottung gegenüber anderen, für den Gegenstand relevanten Disziplinen geprägt sind, erscheinen nicht zielführend. Die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes ergibt sich auch vor dem Hintergrund des Anspruchs an eine sektorenübergreifende Qualitätssicherung, die aufgrund der unterschiedlichen Systeme als eine langfristige Herausforderung zu sehen ist. 3. Im Hinblick auf die Verbesserung der pflegerischen Versorgung sollte die Indikatorentwicklung mit der dienste- und einrichtungsbezogenen Organisationsentwicklung verknüpft werden. Hinweise über die angesprochenen Dimensionen der Pflege- und Lebensqualität erscheinen dabei geeignet, Reorganisationsprozesse nicht anhand häufig formaler Qualitätsmanagementtools, sondern unter der expliziten Berücksichtigung der Bewohner- und Mitarbeiterperspektive zu initiieren. Indikatoren müssen in diesem Zusammenhang auch adaptierbar, kommunizierbar und im Pflegealltag umsetzbar sein. Dies bedeutet vor allem, dass sie aus vorhandenen Daten generierbar sein sollten. Auch müssen Ergebnisse eindeutig interpretierbar zuzuordnen sein, etwa der einzelnen Person, dem Team oder der Organisation. Der damit insgesamt verbundene Aufwand sollte nicht unterschätzt werden. Indikatoren, die für einen Einrichtungsvergleich und für die weitere Erhöhung von Nutzertransparenz geeignet erscheinen, müssen nicht notwendig jene sein, die für die einrichtungsbezogene Organisationsentwicklung relevant sind. Die kontinuierliche Erhebung, Auswertung und weitere Verarbeitung von Daten stellt insgesamt hohe Anforderungen an die Einrichtungen. 4. Die Indikatoren müssen wissenschaftlichen Gütekriterien entsprechen: Objektivität, Reliabilität und Validität. Die Reliabilität („Zuverlässigkeit“) kennzeichnet den Grad der Genauigkeit, mit dem das geprüfte Merkmal gemessen wird. Zur Prüfung bieten sich verschiedene statistische Verfahren an: neben der Berechnung der internen Konsistenz (Cronbach‘s Alpha) ist insbesondere die Retest-Reliabilität von Bedeutung. Sie gibt an, inwieweit die Ergebnisse, die zu zwei Zeitpunkten bei einer Person erhoben wurden, miteinander korrelieren. Die Validität eines Verfahrens gibt Aufschluss darüber, wie gut das Instrument das misst, was es zu messen vorgibt („Gültigkeit“). Hier sind vor allem die Inhalts- und Übereinstimmungsvalidität von Bedeutung, die Aussagen über die Qualität des Ins-
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truments und die Frage, ob alle relevanten Dimensionen der Ergebnisqualität erfasst werden, zulassen. Für die Prüfung der Übereinstimmungsvalidität werden andere bereits etablierte Verfahren eingesetzt, die ähnliche, aber nicht identische Merkmale messen. Auch die Sensitivität und die Spezifität der Indikatoren sind wichtige Kriterien für die Beurteilung der Güte von Indikatoren. 5. Von besonderer Bedeutung vor allem im Hinblick auf den geplanten Vergleich von Diensten und Einrichtungen ist die Risikoadjustierung (auch Risikobereinigung) von Indikatoren. Sie ist unabdingbar, sollen Daten und Informationen verschiedener Institutionen im Qualitätsprozess miteinander verglichen werden. Unter einer Risikoadjustierung ist der Ausschluss der Faktoren zu verstehen, die nicht von der Leistung der Einrichtungen abhängen, aber dennoch das Maß des Indikators beeinflussen (z.B. Alter, Vorerkrankungen, Profil der Pflegebedürftigkeit). Durch die „Neutralisierung“ im Sinne einer Risikoadjustierung soll vermieden werden, dass z.B. Einrichtungen mit einer weit überwiegenden Mehrheit von Bewohnern/innen mit einem hohen Pflege- und Betreuungsbedarf bzw. Auffälligkeiten (wie z.B. einem besonders hohen Anteil an Menschen mit schweren demenziellen Erkrankungen) in der Bewertung der Ergebnisqualität schlechter abschneiden als diejenigen mit einer Bewohnerstruktur mit weniger Pflege- und Betreuungsbedarf. Die Bildung von risikostandardisierten Fallkonstellationen, die Stratifizierung von Subgruppen als auch die Standardisierung von Ergebnissen stellen wichtige Methoden der Risikoadjustierung dar. 6. Eine besondere Anforderung besteht darin, Transparenz, Verständlichkeit und Handhabbarkeit der Indikatoren und eines zu entwickelnden Instrumentes zu gewährleisten. Dies gilt nicht nur für die Anwendbarkeit durch die Dienste und Einrichtungen, sondern ist insbesondere für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen von großer Bedeutung, um sie auf der Suche nach geeigneten Angeboten bestmöglich zu unterstützen und ihnen verlässliche Informationen an die Hand zu geben.
10.6.4 Ausblick Die Diskussion um empirisch fundierte und verlässliche Qualitätsindikatoren hat Deutschland etwa im Vergleich zu den USA später erreicht und gewinnt nun mehr und mehr an fachöffentlicher Aufmerksamkeit. Sie stellen einen bedeutenden Ansatz dar, um Qualität wirksam und wissenschaftlich fundiert zu messen und für die Qualitätsentwicklung von Diensten und Einrichtungen, einen Dienste- und Einrichtungsvergleich als auch für die Information von Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und der Öffentlichkeit nutzbar zu machen. Die damit verbundenen Anforderungen sind hoch, womit gleichermaßen hohe methodische Hürden bei der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung von Indikatoren als auch jene angesprochen sind, die sich aus den umfangreichen organisatorischen Anpassungen für die Dienste und Einrich-
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tungen als den für die Aufbereitung von Ergebnissen für die öffentliche Darstellung Verantwortlichen ergeben: „Outcomes als Indikatoren für die Pflegequalität können auch zu falschen Darstellungen oder Missverständnissen in der Öffentlichkeit führen, nämlich dann, wenn die komplexen Ursachenzusammenhänge nicht verstanden werden.“ [Donabedian 1992]. Auch garantieren Indikatoren allein noch keine Qualität, sondern sind in einem übergreifenden Kontext von Qualitätssicherung und -entwicklung zu betrachten. Erfahrungen etwa aus den USA zeigen dabei, dass die Entwicklung, Implementation und fortlaufende Weiterentwicklung von Indikatoren große Anstrengungen erfordert, die nur im Rahmen eines mehrjährigen, langfristig angelegten Prozesses zu bewältigen sind. Übergreifendes Ziel muss dabei die Verbesserung des Gesamtsystems im Sinne der pflegebedürftigen Menschen sein. Neben Anforderungen wie Effektivität, fachliche Angemessenheit und Effizienz geraten dabei auch zunehmend Parameter in den Blick, die über eine rein auf die Pflege gerichtete Betrachtungsweise hinausgehen. Im Rahmen eines mittlerweile etablierten notwendigen Fokus auf die Lebensqualität sind Parameter wie etwa das im Rahmen der Beurteilungen Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) der Performanz von Gesundheitssystemen berücksichtigte Kriterium der Responsivität hilfreich Die Responsivität eines Versorgungssystems wird daran gemessen, inwieweit zentrale Aspekte der Lebensqualität wie etwa Respekt, Vertrauen und Sicherheit in der Versorgung von Patienten oder Pflegebedürftigen Berücksichtigung finden. Darin spiegelt sich ein Ansatz, der die Qualität und deren Beurteilung in der Interaktion zwischen Pflegebedürftigen und Leistungserbringern ansiedelt und Auskunft darüber gibt, wie „ansprechempfindlich“ die Versorgung im Hinblick auf die Umsetzung genannter Kriterien ist. Die Entwicklung von wissenschaftlich fundierten Indikatoren markiert einen weiteren wichtigen Schritt in der Qualitätsentwicklung von Diensten und Einrichtungen für pflegebedürftige Menschen. Für sie bedeutet Qualität aufgrund des chronischen, in den meisten Fällen unumkehrbaren Verlaufs ihrer Krankheiten vor allem die Erhaltung von Lebensqualität. Auch in diesem Bereich müssen weitere Anstrengungen unternommen werden, sowohl im Hinblick auf die Verbesserung der Forschungs- und Erkenntnislage insgesamt, die Entwicklung aussagekräftiger Indikatoren zu diesem Bereich als auch auf eine stärkere Berücksichtigung im Pflegealltag.
10.7 Neue Ansätze zur Beurteilung von Ergebnisqualität in der Langzeitpflege
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10.7 Neue Ansätze zur Beurteilung von Ergebnisqualität in der Langzeitpflege Klaus Wingenfeld Die Beurteilung von Ergebnisqualität in der Pflege mit Hilfe standardisierter Methoden steht in Deutschland noch am Anfang. Zwar werden Pflegeergebnisse schon seit vielen Jahren durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) bei externen Qualitätsprüfungen bewertet, allerdings nicht mit Hilfe von Qualitätsindikatoren, sondern in Form von stichprobenhaften Einzelfallprüfungen. Beurteilt wird, ob die gesundheitliche Situation und der „Pflegezustand“ des betreffenden Pflegebedürftigen dem entsprechen, was man bei einer fachgerechten Versorgung erwarten darf, und ob durch fachliche Versäumnisse eine Gefährdung oder Schädigung eingetreten ist. Davon abgesehen steht bei externen Qualitätsprüfungen die Bewertung von Strukturen und Prozessen im Vordergrund. Eine systematische Beurteilung von Ergebnisqualität mit Hilfe definierter Kennzahlen war bislang nicht vorgesehen. Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz aus dem Jahr 2012 hat sich die Situation jedoch grundlegend geändert. Den neuen Vorschriften zufolge sollen in die zukünftigen „Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität“, die zwischen den Vertragspartnern nach § 113 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI)1 zu vereinbaren sind, entsprechende Regelungen aufgenommen werden. Vorgeschrieben ist damit ein „indikatorengestütztes Verfahren zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität im stationären Bereich, das auf der Grundlage einer strukturierten Datenerhebung im Rahmen des internen Qualitätsmanagements eine Qualitätsberichterstattung und die externe Qualitätsprüfung ermöglicht“ (§ 113 Abs. 1 SGB XI). Der Gesetzgeber hat damit den Vorschlag aus einem Forschungs- und Entwicklungsprojekt aufgegriffen, das im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in den Jahren 2009 und 2010 durchgeführt wurde [Wingenfeld et al. 2011]. Die Projektergebnisse lieferten ein praktisch erprobtes Indikatorenset mit den dazugehörigen Erfassungsmethoden, mit denen sich Ergebnisqualität auf einer wissenschaftlichen Grundlage messen und vergleichend beurteilen lässt. Damit wurde der seit vielen Jahren erhobenen Forderung, sich stärker auf Versorgungsergebnisse zu konzentrieren, Rechnung getragen und die Voraussetzung für einen großen Entwicklungsschritt im heutigen System der Qualitätsbeurteilungen geschaffen.
1 Vertragspartner nach § 113 SGB XI sind der Spitzenverband Bund der Pflegekassen, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände und die Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene.
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10.7.1 Ergebnisqualität Unter Ergebnissen der Pflege (im Englischen: „outcomes“) versteht man Veränderungen der Gesundheit, des Verhaltens oder des Erlebens der Patienten bzw. Bewohner, die maßgeblich durch die pflegerische Versorgung bewirkt werden [Arling et al. 2005]. Der Hautzustand gehört ebenso dazu wie das Gesundheitsverhalten oder krankheitsbedingte emotionale Belastungen. Auch die Beurteilung der Pflege durch den Leistungsnutzer wird in der internationalen Diskussion der Ergebnisqualität zugerechnet. Es geht also um die Frage, was Pflege bei ihren Adressaten bewirkt und wie sie von ihnen bewertet wird. In Deutschland werden mitunter auch Endpunkte des Handelns von Pflegenden unter dem Begriff Ergebnis zusammengefasst, beispielsweise das dokumentierte Ergebnis einer pflegerischen Einschätzung. Im Vordergrund der internationalen Diskussion – in der Pflegewissenschaft, der Medizin und den Gesundheitswissenschaften – steht jedoch die Frage nach dem Zustand des Pflegebedürftigen und seiner Beurteilung [Davies 2005]. Kennzahlen für Ergebnisqualität haben häufig die Form eines Anteilswertes. Gängige Indikatoren in der vollstationären Pflege sind z.B.: – Anteil der Bewohner mit einem in der Einrichtung entstandenen Dekubitus, – Anteil der Bewohner, deren Selbständigkeit bei Alltagsverrichtungen sich verringert hat, – Anteil der Bewohner, bei denen freiheitsbegrenzende Maßnahmen zum Einsatz kommen. Über die meisten Erfahrungen mit der indikatorengestützten Beurteilung von Qualität verfügen die USA. Kennzahlen für Ergebnisqualität nehmen dort in der öffentlichen Qualitätsberichterstattung einen wichtigen Stellenwert ein. Mit dem „Nursing Home Compare“ existiert seit dem Jahr 2002 ein Internetangebot, mit dem Qualitätsindikatoren und weitere Informationen zu Pflegeeinrichtungen allen interessierten Nutzern zugänglich gemacht werden [Mukamel et al. 2009]. Für die Nutzer besteht die Möglichkeit, Einrichtungen innerhalb eines bestimmten Umkreises zu vergleichen. Ähnlich wie im Falle der Pflege-Transparenzvereinbarungen zielt dieses Informationsangebot darauf ab, Leistungsnutzern bzw. potenziellen Leistungsnutzern sowie Beratern eine Basis für informierte Entscheidungen oder Empfehlungen zur Verfügung zu stellen. Die Indikatoren, die zur Erfassung von Ergebnisqualität Verwendung finden, müssen eine ganze Reihe inhaltlicher und methodischer Anforderungen erfüllen. Dazu gehört zunächst einmal die Anforderung, dass der betreffende Sachverhalt durch die Pflege maßgeblich beeinflussbar ist, d.h. eine hinreichende Pflegesensitivität aufweist [vgl. Phillips et al. 2008]. Es gibt viele weitere Faktoren, die auf den Gesundheitszustand, den Grad der Pflegebedürftigkeit, das Verhalten und Erleben von Patienten und Bewohnern einwirken. Beispiele hierfür sind die ärztliche Versorgung, verschiedene Erkrankungen, das Wissen und die Erfahrung des Pflegebedürftigen selbst, das Handeln von Angehörigen und die finanzielle Situation. Deshalb
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müssen Indikatoren so gewählt werden, dass sie möglichst wenig durch solche externe Faktoren beeinflusst werden können. Völlig auszuschließen ist dieser Einfluss nicht. Entscheidend ist, dass die Pflege maßgeblichen Einfluss hat. So kann die Entstehung eines Dekubitus während der Versorgung in einer stationären Pflegeeinrichtung nicht in jedem Einzelfall, aber doch bei der Mehrheit der Bewohner verhindert werden [DNQP 2010]. Bei der Ausprägung von Schmerzen hingegen ist eher die ärztliche Behandlung der entscheidende Faktor. Allerdings gibt es erhebliche nationale Unterschiede in der Frage, wie eng oder wie weit maßgeblicher pflegerischer Einfluss definiert wird. In den USA wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass eine Veränderung der Schmerzsituation von Heimbewohnern als Ergebnis pflegerischen Handelns zu verstehen ist – eine Sichtweise, die in der deutschen Diskussion nur schwer Akzeptanz findet. Abgesehen von der zentralen Frage nach dem Stellenwert des pflegerischen Einflusses spielen methodische Anforderungen bei der Indikatorenentwicklung eine große Rolle. Damit angesprochen sind unter anderem die folgenden Punkte [vgl. dazu Davies 2005]: – Interrater-Reliabilität: Wenn die Datenerhebung zur Erfassung eines Indikators durch zwei verschiedene Personen erfolgt, darf es nicht zu großen Abweichungen kommen. – Sensitivität: Die Erfassung des Indikators sollte mit den Methoden, die zur Verfügung stehen, unproblematisch möglich sein. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Schwachstellen der Versorgung übersehen oder Unterschiede in der Qualität zwischen Einrichtungen nicht sichtbar werden. – Messbarkeit und Verfügbarkeit der benötigten Daten: Die Erfassung von Ergebnisqualität muss praktikabel, also mit einem vertretbaren Arbeitsaufwand möglich sein. Es darf bei der Erhebung oder Beschaffung der Daten keine grundlegenden Zugangsprobleme geben. – Vergleichbarkeit: Die Vergleichbarkeit der Ergebnisse verschiedener Einrichtungen ist eine der größten Herausforderungen auf dem Feld der Beurteilung von Ergebnisqualität. Wenn die Bewohnerstruktur von Pflegeeinrichtungen stark voneinander abweicht (z.B. im Hinblick auf die Mobilität oder die kognitiven Fähigkeiten der Bewohner), ist Vergleichbarkeit möglicherweise nicht gewährleistet. Zur Vermeidung von Verzerrungen infolge einrichtungsindividueller Besonderheiten werden verschiedene Methoden der Risikoadjustierung eingesetzt [vgl. Mukamel/Spector 2000]. Zum Teil kommen statistische Verfahren der Risikoadjustierung zur Anwendung, die allerdings selten die gewünschte statistische Genauigkeit garantieren können. Eine Alternative bildet die Beschränkung auf bestimmte (vergleichbare) Bewohnergruppen. So ist es beispielsweise sinnvoll, bei der Frage nach dem Einsatz von Fixierungsmaßnahmen im Heimbereich nur solche Bewohnergruppen zu berücksichtigen, die erhebliche kognitive Beeinträchtigungen aufweisen.
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Eine besondere methodische Herausforderung stellt die Einbeziehung der Nutzerperspektive dar, d.h. des subjektiven Erlebens und der Bewertung durch die Patienten oder Bewohner. Schon seit vielen Jahren gibt es Zufriedenheitsbefragungen in der Pflege, ihre Ergebnisse haben sich allerdings als wenig aussagekräftig erwiesen. Auch Befragungen, die nicht Zufriedenheitsaussagen, sondern andere Aspekte erfassen, führen häufig zu einseitig positiven Ergebnissen, die mit anderen Qualitätsparametern nicht im Einklang stehen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass Menschen, die von der Hilfe anderer abhängig sind, generell zu positiven Bewertungen der geleisteten Hilfe neigen [Wingenfeld 2003b]. Noch schwieriger wird die Erfassung der Nutzerperspektive, wenn das Ziel darin besteht, die Lebensqualität von Patienten oder Bewohnern zu messen. Es gibt unterschiedliche Definitionen von Lebensqualität und keine einheitlichen Maßstäbe zu deren Beurteilung [Baartmans 2002]. Außerdem stellt sich hier erneut die Frage, auf welche Aspekte der Lebensqualität die Pflege einen maßgeblichen Einfluss hat. Und schließlich gibt es in der Langzeitpflege eine große Gruppe alter Menschen, die unter demenziellen Erkrankungen leidet und bei entsprechenden Befragungen keine Angaben machen kann. Im Heimbereich ist das inzwischen die Mehrheit der Bewohner. Die Suche nach geeigneten Indikatoren für die Ergebnisqualität ist also relativ kompliziert, und so ist es nicht verwunderlich, dass auf diesem Gebiet weltweit ein großer Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht. Einige wenige Länder (beispielsweise die USA oder die Niederlande) verfügen inzwischen über eine öffentliche Qualitätsberichterstattung, die auf solchen Indikatoren beruht. In Deutschland steht die Entwicklung ebenso wie in vielen anderen Ländern noch sehr am Anfang.
10.7.2 Die Entwicklung eines Indikatorensets zur Beurteilung der Ergebnisqualität Im Jahr 2008 erteilten das BMG und das BMFSFJ den Auftrag zur Durchführung des Projekts „Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe“. Mit diesem Projekt sollten geeignete Indikatoren und Erhebungsmethoden zur Erfassung von Ergebnisqualität entwickelt werden. Es wurde gemeinsam von zwei Forschungsinstituten durchgeführt: dem Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld (IPW) und dem Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG). An das Projekt richtete sich die Erwartung, dass die Ergebnisse in verschiedenen Bereichen verwendbar sind. Die Qualitätsindikatoren sollten sich sowohl bei externen Qualitätsprüfungen als auch im internen Qualitätsmanagement der Einrichtungen nutzen lassen. Die erste Projektphase umfasste vor allem Entwicklungsarbeiten. Auf der Basis ausgedehnter Literatur- und Materialrecherchen und unter Einbeziehung verschiedener Expertengruppen wurde geprüft, welche Indikatoren und Methoden zur Erfassung von Ergebnisqualität sich in Forschung und Praxis bewährt haben. Außerdem
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erfolgten schriftliche Befragungen und Gruppendiskussionen mit den 46 stationären Pflegeeinrichtungen, die sich zur Teilnahme an dem Projekt bereit erklärt hatten. In diesem diskursiven Prozess standen die Validität, Relevanz und Praktikabilität möglicher Indikatoren im Mittelpunkt. Für jeden Indikator, der im Verlauf der ersten Recherchen identifiziert worden war, waren anhand von Forschungsergebnissen bzw. aus der Sicht der einbezogenen Experten und Einrichtungen folgende Fragen zu beantworten: – Bildet ein Indikator tatsächlich Ergebnisqualität ab, d.h. Sachverhalte, die maßgeblich durch das Handeln (oder Nicht-Handeln) der Mitarbeiter einer Einrichtung beeinflusst werden? – Stellt der Sachverhalt, den ein Indikator zum Ausdruck bringt, für die Heimbewohner, aber auch für das Versorgungssystem als Ganzes eine relevante Größe dar? – Ist davon auszugehen, dass die zur Ermittlung des Indikators benötigten Informationen ohne größere Probleme zugänglich sind und sich mit vertretbarem Aufwand erheben lassen? – Ist davon auszugehen, dass der betreffende Sachverhalt auch im Rahmen einer externen Prüfung nachvollzogen werden kann? Die anfänglich sehr umfangreiche Liste potenzieller Indikatoren für Ergebnisqualität reduzierte sich im Verlauf dieses Prozesses. Die verbliebenen Indikatoren wurden anschließend in den 46 stationären Pflegeeinrichtungen erprobt; bei der nachfolgenden Auswertung wurden weitere Indikatoren als nicht oder nur begrenzt verwendbar eingestuft. Verschiedene Indikatoren erfüllten nicht die Anforderungen, die bei Ergebnisindikatoren zu beachten sind. Das gilt beispielsweise für das Thema Schmerz bzw. die Veränderung der Schmerzsymptomatik. In diesem Fall war die Anforderung „maßgeblicher Einfluss der Einrichtung“ nicht erfüllt. Zum Teil reichten die zur Verfügung stehenden Methoden nicht aus. Die Frage beispielsweise, ob eine Kontraktur vorliegt oder nicht, konnte von den Pflegenden häufig nicht sicher beantwortet werden. Ergebnisse der Projektarbeiten sind unter anderem ein Indikatorenset und verschiedene Erhebungsinstrumente zur Erfassung der Informationen, die zur Berechnung der Indikatoren benötigt werden. Beispiele für solche Indikatoren sind: – Anteil der Bewohner, bei denen sich die Mobilität innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten nicht verschlechtert (oder verbessert) hat, – Anteil der Bewohner mit einer unbeabsichtigten Gewichtsabnahme von mehr als 10 Prozent ihres Körpergewichtes in den vergangenen sechs Monaten, – Anteil der Bewohner, die sich von den Mitarbeitern respektvoll behandelt fühlen. Eine besondere Herausforderung bei der Beurteilung von Ergebnisqualität bildet die Frage nach den Bewertungsmaßstäben: Was ist ein gutes Ergebnis, wo beginnt ein schlechtes? Welche Dekubitushäufigkeit ist z.B. als Alarmzeichen zu bewerten? Weil hierzu keine absoluten Maßstäbe existieren, erfolgt in nationalen Systemen der Qua-
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litätssicherung (z.B. in den USA) eine Bewertung anhand von Durchschnittswerten. Im Projekt wurde ein Vorschlag für eine ähnliche, vergleichende Qualitätsbeurteilung entwickelt. Die Indikatoren sagen also etwas darüber aus, ob eine Einrichtung besser oder schlechter ist als der Durchschnitt. Um Vergleiche durchführen zu können, erfolgt bei manchen Indikatoren eine Beschränkung der Bewertung auf bestimmte, vergleichbare Bewohnergruppen („Stratifizierung“). Damit wird z.B. ausgeschlossen, dass solche Einrichtungen benachteiligt werden, die besonders viele Bewohner mit stark ausgeprägten gesundheitlichen Beeinträchtigungen versorgen.
10.7.3 Qualitätsbereiche Die im Projekt entwickelten Indikatoren wurden in fünf Bereiche unterteilt (jeder der Bereiche umfasst mehrere Indikatoren): – Bereich 1: Erhalt und Förderung der Selbständigkeit – Bereich 2: Schutz vor gesundheitlichen Schädigungen und Belastungen – Bereich 3: Unterstützung bei spezifischen Bedarfslagen. Die zur Darstellung dieser Indikatoren benötigten Daten wurden in Form von Stichtagserhebungen in den 46 beteiligten Einrichtungen erfasst. – Bereich 4: Wohnen und (hauswirtschaftliche) Versorgung – Bereich 5: Tagesgestaltung und soziale Beziehung. Die Indikatoren in diesen Bereichen wurden vorrangig über eine Bewohner- und Angehörigenbefragung erfasst. Ergänzend wurde eine Methode zur Beurteilung von Ergebnissen der Angehörigenarbeit entwickelt. Auf Grundlage einer schriftlichen Angehörigenbefragung wird der Anteil der Angehörigen ermittelt, die die Zusammenarbeit mit der Einrichtung positiv bewerten. Für jeden Indikator ist genau festgelegt, nach welchen Regeln das Ergebnis berechnet und beurteilt werden soll und welche Bewohner in die Berechnungen einzubeziehen sind. So bleiben Bewohner in der Sterbephase aus den Berechnungen generell ausgeschlossen, weil bei ihrer Unterstützung andere Prioritäten gesetzt werden müssen und ihre gesamte gesundheitliche Situation nicht mit der von anderen Bewohnern verglichen werden kann.
10.7.4 Ergebnisse des Qualitätsvergleichs: Beispiele Einer der wichtigsten Indikatoren – wichtig aus fachlicher Sicht und wichtig für die Lebensqualität der Bewohner – ist der Indikator Erhalt oder Verbesserung der Mobilität. Anhand von insgesamt fünf Kriterien wird die Selbständigkeit bei der Fortbewegung über kurze Strecken und die Eigenbeweglichkeit in liegender Position erfasst.
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Nach sechs Monaten erfolgt beim betreffenden Bewohner eine zweite Einschätzung, und es wird festgestellt, ob sich die Mobilität verbessert oder verschlechtert hat bzw. ob sie stabil geblieben ist. Da die Chancen des Mobilitätserhalts bei kognitiv beeinträchtigten Bewohnern wesentlich ungünstiger sind als bei nicht beeinträchtigten, wird der Indikator für diese beiden Bewohnergruppen getrennt ausgewiesen. In der Gruppe der Bewohner, die keine oder nur geringe kognitive Einbußen aufwiesen, lag der Anteil der Bewohner mit Erhalt oder Verbesserung der Mobilität bei durchschnittlich 66 Prozent. Bei den Bewohnern mit mindestens erheblichen kognitiven Einbußen belief sich der Anteil hingegen auf lediglich 40 Prozent. Die Beurteilung der Qualität erfolgt anhand der Frage, wie weit eine Einrichtung mit ihrem Ergebnis vom Durchschnitt entfernt liegt. Nach bestimmten Regeln wurden hierfür Grenzwerte festgelegt. Gelingt es einer Einrichtung, bei Bewohnern mit mindestens erheblichen kognitiven Einbußen einen Anteil von mehr als 54 Prozent zu erreichen, so wird ihre Ergebnisqualität beim Mobilitätserhalt als überdurchschnittlich gut bewertet. Umgekehrt gilt die Qualität in Einrichtungen mit einem Anteil unter 26 Prozent als unterdurchschnittlich. In ähnlicher Weise werden auch die anderen Indikatoren berechnet und vergleichend beurteilt, so auch der Indikator Dekubitus entstehung. Berechnet wird hier der Anteil der Bewohner, die in der Einrichtung (also nicht im Krankenhaus oder vor dem Heimeinzug) einen Dekubitus 2. bis 4. Grades entwickelt haben. Auch in diesem Fall erfolgt eine Unterteilung von Risikogruppen, diesmal anhand der Frage, wie selbständig der Bewohner bei Lageveränderungen des Körpers in liegender Position ist. Diese Abgrenzung hat sich bei der praktischen Erprobung sehr gut bewährt und bewies eine außerordentlich hohe Trennschärfe. Bei Bewohnern mit geringem Risiko kam es nur in rund 2 Prozent der Fälle zur Entstehung eines Dekubitus. In aller Regel handelte es sich nur um einen Bewohner je Einrichtung. Bei Bewohnern mit hohem Risiko lag der Anteil hingegen bei rund 9 Prozent. Unter den zehn Einrichtungen, in denen im Unterschied zu den übrigen Heimen Vollerhebungen durchgeführt wurden, befanden sich sechs, die keinen einzigen neuen Dekubitusfall in der Gruppe mit dem hohen Risiko aufwiesen. Spitzenreiter war eine Einrichtung mit einer Rate von 35 Prozent, d.h. bei jedem dritten Bewohner der Risikogruppe ist hier im Zeitraum von sechs Monaten ein Dekubitus entstanden. Nachfolgende Studien mit noch größeren Stichproben haben diese Ergebnisse bestätigt: Die Anteilswerte lagen sehr nahe bei den Zahlen aus dem Entwicklungsprojekt, und auch die Streuung der Ergebnisse, ohne die ein Qualitätsvergleich unmöglich wäre, war in ausreichendem Maße vorhanden.
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10.7.5 Umsetzung Eine zuverlässige indikatorengestützte Qualitätsbeurteilung setzt einen Verzicht auf Stichprobenverfahren voraus. Aufgrund der kleinen Grundgesamtheit, die die Bewohnerschaft einer Pflegeeinrichtung jeweils darstellt, führen selbst Stichprobenumfänge von 20 Prozent oder 30 Prozent zu ungenauen Ergebnissen, wodurch ein seriöser Vergleich zwischen den Einrichtungen nicht mehr möglich ist. Zur Vermeidung von Ungenauigkeiten und zufallsbedingten Verzerrungen muss daher die Gesamtheit der Bewohner einer Einrichtung einbezogen werden. Dies wiederum ist nur möglich, wenn die Daten von den Einrichtungen selbst bereitgestellt werden. Für externe Prüfungen wäre der Aufwand viel zu hoch. Im Projekt wurde daher ein Vorschlag für ein neues Zusammenspiel von internem Qualitätsmanagement und externen Prüfungen formuliert: – Im Rahmen des internen Qualitätsmanagements erfolgt zu vorgegebenen Zeitpunkten im Abstand von sechs Monaten eine Erfassung aller Informationen, die zur Darstellung der Indikatoren benötigt werden (Zusammenstellung von Daten aus der Routinedokumentation und Einschätzung von ausgewählten Aspekten der Pflegebedürftigkeit). Die Informationen werden an eine zentrale Stelle weitergeleitet, statistisch geprüft und ausgewertet. Auf dieser Grundlage lassen sich dann vergleichende Qualitätsbeurteilungen erstellen, die auch veröffentlicht werden können. – Da eine reine Selbsteinschätzung der Einrichtungen für eine öffentliche Qualitätsberichterstattung nicht ausreicht, wäre eine externe Kontrolle der Verlässlichkeit der Datenerfassungen in den Einrichtungen durch externe Prüfungen notwendig. Externe Prüfer hätten also die Richtigkeit der Daten stichprobenartig zu kontrollieren. Hierzu würden Stichprobengrößen, wie sie für die heutigen Qualitätsprüfungen nach § 14 SGB XI festgelegt sind, ausreichen. Der Mehraufwand für das interne Qualitätsmanagement und für externe Prüfungen wäre überschaubar. Zahlreiche Informationen, die benötigt werden, sind bereits heute Bestandteil der Routinedokumentation und auch Gegenstand der gegenwärtigen Qualitätsprüfungen – beispielsweise Informationen in den Bereichen Dekubitusentstehung, Gewichtsverlust, Stürze oder Schmerzmanagement. Eine inhaltliche Ausweitung externer Prüfungen wäre in diesen Fällen nicht erforderlich. Anders verhält es sich jedoch mit jenen Indikatoren, bei denen eine Einschätzung der Selbständigkeit und Fähigkeiten der Bewohner erforderlich ist. Die Indikatoren der Bereiche 4 und 5, die über eine Bewohnerbefragung erfasst werden, dürfen nicht von der Einrichtung selbst erhoben werden. Aus zahlreichen Studien zur Nutzerperspektive ist bekannt, dass unter diesen Umständen nicht verlässlich zu erfassen ist, wie die Bewohner die Einrichtung und die Versorgung tatsächlich beurteilen. Es kommen mehrere Alternativen in Betracht. Hierzu müssen noch konkretisierende Festlegungen erfolgen. Auch stellt sich die Frage, ob die sehr
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aufwändige Bewohnerbefragung ggf. in einem zweijährigen Rhythmus durchgeführt werden könnte.
10.7.6 Perspektiven Mit dem neuen Indikatorensystem käme man dem Ziel, Ergebnisqualität in den Mittelpunkt von Qualitätssicherung und Qualitätsbeurteilung zu stellen, nach vielen Jahren Diskussion einen großen Schritt näher. Der für die Bewohner wichtigste Effekt wäre die Stärkung und Verbesserung des internen Qualitätsmanagements [Gebert/ Kneubühler 2003], das für eine nachhaltige Sicherung von Qualität im Lebensalltag der Bewohner von elementarer Bedeutung ist. Zu erwarten wäre außerdem eine Verschiebung der Aufmerksamkeit: Gute Beurteilungen der Ergebnisqualität lassen sich nur erreichen, wenn es gelingt, die gesundheitliche Situation des Bewohners tatsächlich zu stabilisieren bzw. zu verbessern. Analoges gilt nicht für die Bewertung von Strukturen und Prozessen. Auch für die Weiterentwicklung externer Prüfungen nach SGB XI bietet der Ansatz neue Perspektiven. Er eröffnet die Möglichkeit, entsprechend der Vorgaben des Gesetzgebers Ergebnisqualität in den Fokus zu nehmen. Der Beratungsauftrag könnte im Falle der Umsetzung des neuen Ansatzes neue Impulse erhalten. Zu berücksichtigen ist, dass die Beurteilung von Ergebnisqualität die Prüfung von Strukturen und Prozessen nicht überflüssig macht. Es stellt sich allerdings die Frage nach dem konkreten Zusammenspiel: Einrichtungen mit herausragenden Ergebnissen im Bereich der Dekubitusvermeidung daraufhin zu prüfen, ob sie eine fachgerechte Dekubitusprophylaxe betreiben, wäre nicht ganz folgerichtig. Ein neustrukturiertes Profil des Prüfkataloges und eine Konzentration auf das Wesentliche könnten dazu beitragen, die vielerorts schwierige Arbeitssituation der MDK-Prüfer zu entspannen und ihre Tätigkeit qualitativ aufzuwerten. Beurteilungen der Ergebnisqualität sind, wie das Beispiel USA zeigt, für den Nutzer oder potenziellen Nutzer einer Einrichtung, seine Angehörigen, aber auch für Berater eine sehr hilfreiche Information. Sie sind im Grundsatz unproblematisch im Rahmen einer öffentlichen Qualitätsberichterstattung verwendbar. Durch die PflegeTransparenzvereinbarungen ist in Deutschland eine Infrastruktur vorhanden, die für diesen Zweck sicherlich genutzt werden könnte. So sind wesentliche Voraussetzungen zur Umsetzung der neuen, durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz geschaffenen Vorschriften, die ein indikatorengestütztes Verfahren zur Beurteilung von Ergebnisqualität verlangen, bereits erfüllt. Ergebnisqualität ist in allen Bereichen der Pflege von zentraler Bedeutung, kann aber nicht überall mit den gleichen Mitteln erfasst werden. In der ambulanten Pflege ist der starke Einfluss der pflegenden Angehörigen zu berücksichtigen. Auch im Krankenhaus herrschen aufgrund der geringen Verweilzeiten besondere Bedingungen; hier wird – abgesehen von zahlreichen Indikatoren zur ärztlichen Versorgung –
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bislang lediglich die Dekubitusentstehung mit Hilfe von Indikatoren dargestellt. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Messung von Ergebnisqualität zukünftig in allen Handlungsfeldern der Pflege mehr Bedeutung erlangt, denn die Grenzen der Beurteilung von Prozessen und Strukturen, die heute noch im Mittelpunkt stehen, sind inzwischen unübersehbar.
10.8 Qualität in der Pflege – die deutsche Perspektive Monika Kücking 10.8.1 Ausgangslage Das Wissen über Qualitätserfordernisse in der Pflege nimmt kontinuierlich zu: so steigt die Zahl der Lehrstühle und Studiengänge der Pflegewissenschaften und deren Absolventen als Multiplikatoren weiter an, Wissen über gute Pflege verbreitet sich. Expertenstandards werden aktualisiert und neue Themen in den Entwicklungsprozess einbezogen. Auch die Transparenzkriterien haben dazu, ungeachtet bestehender Kritik, einen Beitrag geleistet, denn jede Einrichtung wird jährlich geprüft und die Ergebnisse veröffentlicht. Damit haben die Einrichtungen ein eigenes Interesse daran, bei den veröffentlichten Ergebnissen gut abzuschneiden. Gleichzeitig zeigen empirische Befunde, dass es schlechte Pflege in Deutschland immer noch in einem zu großen Maße gibt [MDS 2012a]. Damit zeigt sich im Ergebnis ein widersprüchlicher Befund. In der Fachöffentlichkeit steht die notwendige Diskussion um geeignete Instrumente der Qualitätsprüfung im Vordergrund. Dabei kommt die Klärung der Frage, was gute Pflege inhaltlich leisten soll und wie dies ressourcenschonend zu erreichen ist, häufig zu kurz. Außerdem werden Anforderungen an Pflegeeinrichtungen, die mit Qualitätsprüfungen begründet werden, per se als unnötiger Bürokratieaufwand diskreditiert – und damit gleichzeitig unterstellt, dass gute Pflege nicht geleistet werden kann, weil zu viel dokumentiert werden muss. Wie der Qualitätszyklus nach Donabedian im Zusammenhang von Schicht-/bzw. Personalwechsel ohne Dokumentation umgesetzt werden könnte und dass Dokumentation auch Ausdruck und Notwendigkeit professionellen Pflegehandelns ist, kommt in der Diskussion häufig zu kurz. Bereits mit der Einführung der sozialen Pflegeversicherung wurden gesetzlich Elemente der Qualitätsentwicklung und -sicherung implementiert, denn von Beginn an gehörte die Sicherung der Qualität in der Betreuung und Versorgung pflegebedürftiger Menschen zu den zentralen pflegepolitischen Herausforderungen. Seit der Einführung der sozialen Pflegeversicherung hat sich eine breite Pflegequalitätsdiskussion in Deutschland entwickelt, die auch zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der verschiedenen gesetzlichen Instrumente geführt hat.
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Mit der Einführung der Pflegeversicherung hatte der Gesetzgeber bereits dezidierte Vorstellungen davon, wie die Qualitätsentwicklung in der Pflege erfolgen solle. In § 80 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI), später § 113 SGB XI, legte er z.B. fest, dass die Vereinbarungspartner, also die Verbände der Pflegekassen auf Bundesebene, die kommunalen Träger und die maßgeblichen Verbände der Einrichtungen auf der Bundesebene gemeinsam die Grundsätze und Maßstäbe2 festzulegen hätten. Diesen Ansatz verfolgte er des Weiteren auch mit dem Auftrag an die Vereinbarungspartner, die Expertenstandards und die notwendigen Grundlagen für die Pflegetransparenz zu entwickeln. Mit den Maßstäben und Grundsätzen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität in den verschiedenen Versorgungsbereichen der Pflegeversicherung und den Expertenstandards zu ausgewählten Versorgungsfragen stehen Erkenntnisse zur Verfügung, wurden Festlegungen getroffen und Inhalte guter Qualität in der Pflege beschrieben. Mit den Qualitätsprüfungen steht darüber hinaus ein etabliertes Instrument zur Qualitätsprüfung zur Verfügung und mit den daraus entwickelten Pflegetransparenzvereinbarungen auch eine verständliche Darstellung ausgewählter Qualitätsergebnisse. Im SGB XI sind mehrere Instrumente zur Qualitätsentwicklung und -sicherung eingeführt sowie zum Teil mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz aus dem Jahre 2008 modifiziert und erweitert worden (s. Abb. 10.2). Diese befinden sich in einem unterschiedlichen Umsetzungsstand. Als Besonderheit der Pflegeversicherung in Deutschland darf gelten, dass mit den Qualitätsprüfungen, die der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) jährlich bei allen stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen durchführt und woraus ausgewählte Ergebnisse vergleichend im Internet veröffentlicht werden, extern ermittelte Ergebnisse von Qualitätsprüfungen vorliegen. Damit hebt sie sich deutlich von anderen Bereichen, z.B. der Krankenversicherung, ab, wo zwar zum Teil auch Instrumente der Qualitätsentwicklung und -sicherung existieren und Ergebnisse veröffentlicht werden, diese jedoch in der Regel nicht auf einer unabhängigen externen Prüfung beruhen.
2 In den Jahren 1995 bis 1996 wurden sukzessive die Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität und Qualitätssicherung einschließlich des Verfahrens zur Durchführung von Qualitätsprüfungen nach § 80 SGB XI in der ambulanten, stationären, teilstationären und Kurzzeitpflege (GuM) vereinbart. Im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 01.07.2008 wurden die Vertragsparteien beauftragt, neue Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der ambulanten und vollstationären Pflege (MuG) zu vereinbaren. Diese sind dann mit dem Schiedsspruch am 27.05.2011 in Kraft getreten.
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Akteure
GKVSpitzenverband Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen
Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe
Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände
Qualitätsgrundlagen
Qualitätsprüfung
Konsequenzen
Qualitätsprüfungen durch den MDK
Im Auftrag der Landesverbände der Pflegekassen mit Sanktionsmöglichkeiten
Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen
Veröffentlichung der „Pflegenoten“
Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements
Expertenstandards
Pflegetransparenzvereinbarungen
Träger der Pflegeeinrichtung auf Bundesebene
Anhörungsberechtigte Organisationen
Abb. 10.2: Gesetzliche Instrumente der Qualitätsentwicklung und -sicherung in der ambulanten und vollstationären Pflege nach SGB XI (eigene Darstellung).
10.8.2 Vereinbarungspartnermodell Eine zentrale Rolle kommt in diesem Konzept den Vereinbarungspartnern zu. Es setzt auf die gemeinsame Verantwortung der Akteure und nicht auf hoheitliche Vorgaben. Es hat zum Ziel, die Akzeptanz und Umsetzungsbereitschaft zur Qualitätsentwick-
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lung bei denjenigen zu erhöhen, die sich einer Prüfung unterziehen, da sie an der Ausgestaltung der Prüfgrundlagen mitgewirkt haben. Damit zeigt sich aber auch ein Dilemma: es ist immer eine Verständigung der Partner erforderlich. Eine methodisch noch so gut begründete, aber einseitige Festlegung ist kurzfristig kaum durchsetzungsfähig. Im Ergebnis wird also immer ein Kompromiss zwischen den Interessen der Leistungserbringer und der Pflegekassen stehen. Die Umsetzung eines wissenschaftlich sauber entwickelten Modells, das wissenschaftlich-methodischen Anforderungen genügt und in sich stimmig ist, kann unter solchen Rahmenbedingungen daher nur als langfristiger Prozess angelegt sein. Notwendige Kompromisse und Vereinbarungen im Entwicklungsprozess werden dabei unter den gegebenen Rahmenbedingungen zum Qualitätsentwicklungs- und -gestaltungsprinzip. Die Grenzen des Vereinbarungspartnermodells zeigen sich besonders dann, wenn sich die Vereinbarungspartner nicht einigen können. Ohne Konfliktlösungsinstrument scheiterten im Jahr 2010 die Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Pflegetransparenz an zwei kleinen Verbänden der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene. Diese Erfahrungen führten dazu, dass der Gesetzgeber mit der Novellierung des SGB XI im Rahmen des Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze vom 28.07.2011 bei Konflikten die Anrufung der Schiedsstelle ermöglicht. Inwieweit eine Schiedsstelle einseitig entscheiden und von Kompromisslösungen abweichen wird, bleibt abzuwarten. Damit zeigen sich aber auch die Grenzen des Modells der Vereinbarungspartnerschaft für die Qualitätsentwicklung und -sicherung. Ergänzend enthält das „Vereinbarungspartnerkonzept“ Anhörungs- und Beteiligungsrechte, die sicherstellen, dass die berechtigten Interessen Dritter Berücksichtigung finden. Bei den Qualitätsprüfungen (§§ 114ff. SGB XI) ersetzt das Anhörungsmodell das Vereinbarungspartnermodell. Bei der Entwicklung der Qualitätsprüfungs-Richtlinien legen die Pflegekassen gemeinsam mit dem Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) die Inhalte fest, wobei Anhörungsrechte z.B. der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene oder auch der Patientenorganisationen zu beachten sind. So ist sichergestellt, dass berechtigte Interessen der Beteiligten einfließen. Die abschließende Genehmigung liegt beim Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Das Vereinbarungspartnermodell stößt aber bei den Qualitätsprüfungen an seine Grenzen.
10.8.3 Transparenz und Nutzerorientierung Sowohl in der Kranken- als auch in der Pflegeversicherung werden Patienten, Nutzer, Versicherte und die Öffentlichkeit zunehmend als Adressaten für Qualitätsinformationen gesehen. Im Rahmen der Pflegetransparenzvereinbarung werden diese für die Pflegeeinrichtungen in einem externen Prüfprozess erhoben, adressatengerecht auf-
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bereitet und im Internet verfügbar gemacht („Pflegenoten“). Damit stehen von Pflegeeinrichtungen vergleichende Qualitätsinformationen zur Verfügung, die den Nutzern eine Orientierung und erste Hinweise bei der Suche nach geeigneten Einrichtungen und Diensten geben. Mit der vergleichenden Qualitätsinformation wird außerdem ein Wettbewerb zur Qualitätsverbesserung angestoßen. Auch wenn die Pflegenoten noch weiterentwickelt werden müssen, geben sie den Einrichtungen doch schon jetzt Anreize, sich stärker um die (geprüfte) Qualität zu kümmern. Als Wettbewerbsparameter erhält die Qualität mehr Gewicht, dies kommt den Bewohnern und Pflegebedürftigen zu Gute. Schlechte Einrichtungen werden identifizierbar und die Nutzer haben einen weiteren Entscheidungsparameter zur Wahl einer geeigneten Versorgung zur Verfügung. Erstmals standen damit für einen ganzen Sozialversicherungszweig extern erhobene Qualitätsdaten öffentlich und verständlich aufbereitet zur Verfügung. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Schaffung von Transparenz über die Qualität in der Pflege. In die Entwicklung des Instrumentes floss das Expertenwissen der Beteiligten ein. Von Beginn an wurde die Einführung evaluiert und die Ergebnisse zeigten schnell, dass es vor dem Hintergrund eines vergleichsweise kurzen Implementationszeitraumes einen Weiterentwicklungsbedarf gibt. Einrichtungen werben heute selbstverständlich mit ihrer Qualität. Sie haben ein originäres Interesse am Thema entwickelt und erkannt, dass die Qualität einer Einrichtung zunehmend ein wahrnehmbarer Faktor wird, der über den Markt einen steuernden Einfluss ausübt und in dem schlechte Einrichtungen auf absehbare Zeit vom Markt verschwinden werden. Diese Wirkungen können aufsichtsrechtliche Eingriffe ergänzen.
10.8.4 Weiterentwicklung Ergebnisqualität In konzeptioneller Hinsicht orientiert sich die Qualitätsdiskussion in der Pflege in Deutschland an der Unterscheidung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Nach Einführung der Pflegeversicherung lag der Fokus vieler Qualitätsinitiativen zunächst auf der Struktur- und Prozessqualität. Die mit dem Pflege-Weiterentwicklungs-Gesetz eingeführte gesetzliche Orientierung hin zu Ergebnisqualität setzt jedoch entsprechende Instrumente voraus. Eine stärkere Ergebnisorientierung erfordert methodisch fundierte Kriterien und Indikatoren, an denen sich Entwicklungen und der Erfolg von Interventionen messen lassen. Dies gilt insbesondere bei einer vergleichenden Betrachtung. Indikatoren für Ergebnisqualität in der Pflege existierten in Deutschland nicht, Erfahrungen aus anderen Ländern waren nicht ohne weiteres adaptierbar. Daher beauftragten das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zeitgleich mit dem Auftrag an die Vereinbarungspartner die Entwicklung eines ersten Indikatorensets. Inzwi-
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schen liegen die Ergebnisse vor, die nun wissenschaftlich überprüft und auf ihre Übertrag- und Umsetzbarkeit hin bewertet werden müssen, dieser Prozess steht noch am Anfang. Insofern muss es darum gehen, den wissenschaftlichen Anspruch mit realistischen und überschaubaren Zielen zu verbinden, damit auch in definierten Zwischenetappen Verbesserungen erreicht werden können. Qualität muss nachprüfbar und messbar sein. Die damit verbundenen Anforderungen sind hoch, braucht es dazu doch eine wissenschaftlich gestützte Entwicklung verlässlicher und praxistauglicher Indikatoren für die ambulante und stationäre Pflege. Hierzu liegen in Deutschland erste empirische Befunde vor. Erfahrungen aus anderen Branchen und Ländern zeigen dabei, dass die Einführung neuer Instrumente langfristige Prozesse erfordert, in denen neue Erkenntnisse sowohl kontinuierlich in die Verbesserung von Instrumenten als auch die nachhaltige Implementation einfließen. Vergleichbare Entwicklungen etwa in den USA haben einen Zeitraum von mindestens rund zehn Jahren in Anspruch genommen und sind noch nicht abgeschlossen. Die Notwendigkeit, den Qualitätsvergleich zwischen Einrichtungen methodisch noch besser zu fundieren, stellt dabei eine besondere Herausforderung dar. Auch die wirksame Verbindung von internem Qualitätsmanagement der Pflegeeinrichtungen und einer externen Qualitätssicherung erfordert besondere Anstrengungen. Diese Weiterentwicklung wird voraussichtlich mehrere Jahre in Anspruch nehmen.
10.8.5 Anforderungen an die Weiterentwicklung der Pflegequalität in Deutschland 1. Gemeinsames Qualitätsverständnis weiterentwickeln Es ist ein gemeinsames Qualitätsverständnis der Akteure erforderlich. Dabei muss es darum gehen, pflegewissenschaftliche Erkenntnisse sowie die Erfahrungen aus der Praxis und von Experten so zueinander in Beziehung zu setzen, dass ein konkretes gemeinsames Qualitätsverständnis entsteht. Dazu bedarf es unter anderem der Austarierung unterschiedlichster Anforderungen wie z.B. Anforderungen an die Versorgungssicherheit, die Beachtung der Selbstbestimmungsrechte der Pflegebedürftigen, die Einbeziehung pflegewissenschaftlich begründeter Pflegestandards und vieles andere mehr. Der Prozess der Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses von Qualität hat in Deutschland begonnen, er wird jedoch bisher nicht als gemeinsamer Diskussionsprozess verstanden, sondern findet innerhalb verschiedener wissenschaftlicher und Praxiszirkel statt, ohne dass ein übergreifender systematischer Austausch implementiert wäre. Eine Verständigung darüber erschiene auch geeignet, die Akzeptanz der Akteure, die für die Umsetzung des gemeinsamen Qualitätsverständnisses erforderlich ist, zu erhöhen.
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2. Inhalte guter Pflege evidenzbasiert weiterentwickeln – Vorarbeiten liegen vor Für die Entwicklung eines gemeinsamen Qualitätsverständnisses können verschiedene Qualitätskonzepte herangezogen werden. Zu entscheiden ist, welchen Beitrag welches Konzept liefern kann und ob und ggf. wie diese mit entsprechenden pflegerischen und anderen Anforderungen zusammenpassen. Vorarbeiten liegen vor, ein ausreichend konkretes gemeinsames Verständnis von guter Qualität in der Pflege fehlt jedoch noch. Mit einem solchen gemeinsamen Qualitätsverständnis wäre ein Soll beschrieben und konsentiert. Sofern methodische Limitationen bestehen und relevante Themen nicht mit einem methodisch abgeleiteten Instrument abbildbar sind, ist zu prüfen, wie diese Themen in den externen Prüfungen abbildbar sind. Qualität erfordert auch den Nachweis von Wirksamkeit. Viele Interventionen in der pflegerischen Betreuung und Versorgung bedürfen einer verstärkten Evidenzbasierung, also der Fundierung pflegerischer Entscheidungen durch das beste verfügbare Wissen. Die diesbezügliche Einschätzung muss sich vor allem am Ergebnis der Interventionen orientieren und den Nachweis erbringen, dass eine Verbesserung nicht nur der Pflege-, sondern auch der Lebensqualität erreicht wird. Qualität bedeutet für pflegebedürftige Menschen aufgrund des chronischen, in den meisten Fällen unumkehrbaren Verlaufs ihrer Krankheiten vor allem die Erhaltung von Lebensqualität. Neben der Sicherstellung einer fachlich guten und angemessenen Pflege und Betreuung müssen in diesem Bereich weitere Anstrengungen unternommen werden. Diese richten sich sowohl auf die Verbesserung der Forschungs- und Erkenntnislage insgesamt, die Entwicklung aussagekräftiger Indikatoren zu diesem Bereich als auch auf eine stärkere Berücksichtigung im Pflegealltag. 3. Eine unabhängige externe Qualitätsprüfung ist weiter erforderlich Gemeinsames Ziel sollte es sein, gute Qualität zu fördern und schlechte zu vermeiden. Hierzu muss Wissen vermittelt und müssen Kompetenzen entwickelt werden. Ein externer Blick ermöglicht außerdem Beratung im Sinne des gemeinsamen Qualitätsverständnisses. Dabei muss die Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege stärker als gemeinsame Aufgabe verstanden werden, bei der verschiedene Akteure ihre Rollen im Prozess der Qualitätsentwicklung, -erbringung und -überprüfung sowie der verständlichen Veröffentlichung von Ergebnissen zu einer bestmöglichen Qualität ausüben sollten. Inwieweit die reale Pflegequalität in den Einrichtungen diesem Soll entspricht, bedarf jedoch weiterhin einer Überprüfung mit geeigneten Instrumenten der Qualitätsprüfung, wenn man sicherstellen will, dass die Qualität tatsächlich auch erbracht wird. Diese aus dem gemeinsam definierten Bezugsrahmen heraus legitimierten Instrumente der Qualitätsprüfung definieren und begründen, was grundsätzlich einer Überprüfung unterliegen sollte. Nicht die Auswahl aus vorhandenen Daten und bestehenden Instrumenten, sondern ein enger Bezug zum Auftrag „gute Pflege“ sollte der Bezugspunkt sein.
10.8 Qualität in der Pflege – die deutsche Perspektive
353
4. Ergebnisqualität ist wichtig, muss aber um Prozess- und Strukturqualität ergänzt werden Die alleinige Fokussierung auf Ergebnisqualität greift zu kurz, gute pflegerische Ergebnisse sind nicht losgelöst von zu definierenden Prozessen und einer ausreichenden Struktur erzielbar. Wir brauchen weiterhin Aussagen zur Struktur- und Prozessqualität. Auch wird noch mehr Wissen zum Zusammenhang dieser unterschiedlichen Dimensionen benötigt, da kein eindimensionales Ableitungsverhältnis besteht. 5. Weiterentwicklung der methodischen Fundierung der eingesetzten Qualitätsinstrumente ist erforderlich Instrumente der Qualitätsprüfung müssen methodisch gut fundiert sein. Dabei steht Deutschland bei der Entwicklung von Ergebnisindikatoren erst am Anfang. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, methodisch gut fundierte Instrumente zu entwickeln, die belastbare, vergleichende Aussagen über die Qualität in der Pflege nach dem zuvor geklärten Verständnis und zu den relevanten Themenfeldern zulassen. Internationale Erfahrungen zeigen, dass dies mit Indikatoren gelingen kann. Erste Arbeiten in Deutschland zur Entwicklung von Ergebnisindikatoren zeigen Möglichkeiten, aber auch Grenzen auf. Beispielsweise sind bestimmte Themenfelder (z.B. Heimeinzug, Betreuung Sterbender etc.) nach Ansicht der Autoren gegenwärtig nicht über Indikatoren abbildbar [Wingenfeld et al. 2011]. 6. Qualitätsmanagement und Qualitätsprüfung folgen unterschiedlichen Zielsetzungen Deutlich wird, dass abhängig vom jeweiligen Ziel unterschiedliche Instrumente zum Einsatz kommen. Stehen die einrichtungsinternen Qualitätsprozesse im Vordergrund, dann sind Instrumente erforderlich, die die internen Prozesse optimieren. Sollen Aussagen zur Qualität der Pflege einrichtungsübergreifend gemacht werden oder gar geprüfte Qualität verständlich und transparent dargestellt werden, dann sind andere Instrumente wie Qualitätsprüfungen erforderlich. Während das Qualitätsmanagement den Einrichtungen hilft, interne Schwachstellen zu identifizieren und Verbesserungen im Prozess zu implementieren, erfordert der Vergleich von Einrichtungen Instrumente, die auf immer dem gleichen Maßstab und prinzipiell gleicher Datengrundlage beruhen, sodass das gleiche Instrumente zur Anwendung kommen kann. 7. Qualitätsmanagement hat ergänzende Funktion Neben den gesetzlichen Instrumenten existieren auch unterschiedliche freiwillige einrichtungsinterne Qualitätsmanagementinstrumente, die das Ziel verfolgen, die Qualität in den Einrichtungen zu managen und zu begleiten. In der Regel steht dabei die Verbesserung der Prozesse und Abläufe im Fokus. Zum Beispiel werden Zertifizierungen nach dem Qualitätsmanagementmodell der European Foundation for Quality Management (EFQM) oder nach dem Bewertungsverfahren der Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen (KTQ)
354
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
eingesetzt, um einen standardisierten Pflegeprozess einrichtungsbezogen zu definieren und die Einhaltung des Prozesses zu überprüfen, nicht jedoch, um die Inhalte guter Pflege vorzugeben. Daneben existieren auch eine ganze Reihe (träger-)interner Qualitätsmanagementsysteme, die eine einrichtungs- oder trägerbezogene einheitliche Vorgehensweise der Qualität definieren und so z.B. Vergleiche der Einrichtungen eines Trägers erlauben. Hier ist das Ziel eher ein Benchmarking. 8. Einheitliche Datengrundlage muss flächendeckend verfügbar sein Voraussetzung für die Anwendung solcher Instrumente der Qualitätsprüfung ist eine Datengrundlage, die in jeder Einrichtung vorhanden sein muss. Dabei zeigt das Projekt „Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe“ [Wingenfeld et al. 2011], dass dies auch mit Dokumentationsaufwand verbunden ist. Aber erst dann, wenn flächendeckend die erforderlichen Datengrundlagen vorliegen, kann ein auf internen Qualitätssicherungsdaten beruhendes Instrument für einrichtungsübergreifende Qualitätsvergleiche herangezogen werden. Dies ist aus heutiger Sicht eine Herausforderung, der sich alle Einrichtungen stellen müssten. Nicht alles, was im Rahmen eines Modellvorhabens unter besonderen Bedingungen (z.B. freiwillige Beteiligung besonders engagierter Einrichtungen) gelang, funktioniert flächendeckend in Deutschland. 9. Nutzerorientierung ist weiterhin leitend Mit den Maßstäben und Grundsätzen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität in den verschiedenen Versorgungsbereichen, der Pflegetransparenzvereinbarung sowie den Expertenstandards zu ausgewählten Versorgungsfragen steht insgesamt ein verlässliches Qualitätssicherungsverfahren zur Verfügung, das in den letzten Jahren auch zu einer stärkeren Transparenz und Nutzerorientierung im Pflegebereich geführt hat. 10. Sektorenübergreifende Perspektive einbeziehen Eine qualitativ hochwertige Versorgung erfordert die Initiative der verschiedenen Akteure im Pflegebereich. Die dafür notwendige Weiterentwicklung der Qualitätssicherung und -entwicklung in der Pflege ist als Prozess anzusehen, der sich langfristig auch auf eine sektorenübergreifende Perspektive richten muss.
10.9 Expertenstandards in der Pflegeversicherung Jörg Schemann 10.9.1 Rechtliche Einordnung Durch die Reform der sozialen Pflegeversicherung im Jahr 2008 (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz) traten zahlreiche Neuerungen im Bereich der Qualitätssicherung in
10.9 Expertenstandards in der Pflegeversicherung
355
Kraft. Ein Novum war die Einführung von Expertenstandards auf gesetzlicher Grundlage. Der neu geschaffene § 113a Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) sieht vor, dass die in § 113 SGB XI genannten Vertragsparteien, bestehend aus dem GKV-Spitzenverband, dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe, den kommunalen Spitzenverbänden und den Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene die Entwicklung und Aktualisierung von wissenschaftlich fundierten und fachlich abgestimmten Expertenstandards sicher zu stellen haben. Ergänzend ist festgelegt, dass in einer von den o. g. Vertragsparteien zu erstellenden Verfahrensordnung die methodische und pflegefachliche Qualität sowie die Transparenz des Verfahrens bei der Entwicklung und Aktualisierung zu regeln ist. Expertenstandards sind im Bundesanzeiger zu veröffentlichen. Die Vertragsparteien haben die Einführung von Expertenstandards in die Praxis zu unterstützen. Die Kosten der Entwicklung und Aktualisierung sind Verwaltungskosten und vom GKVSpitzenverband zu tragen. Die Verbände der privaten Krankenversicherung übernehmen zehn Prozent der Kosten, die für die Entwicklung bzw. Aktualisierung der Expertenstandards anfallen. Kommt eine Einigung der Vertragsparteien nicht zustande, kann jede Vertragspartei bzw. das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Benehmen mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) die Schiedsstelle nach § 113b SGB XI anrufen. Ein Beschluss der Schiedsstelle ersetzt Beschlüsse der Vertragsparteien. Die rechtliche Verbindlichkeit von Expertenstandards für Pflegeeinrichtungen ergibt sich neben § 113a Abs. 4 SGB XI aus dem § 112 SGB XI, der ergänzend festlegt, dass zugelassene Pflegeeinrichtungen verpflichtet sind, Expertenstandards nach § 113a SGB XI anzuwenden. § 72 SGB XI bestimmt, dass Versorgungsverträge nur mit Einrichtungen geschlossen werden dürfen, die sich u.a. verpflichten, Expertenstandards nach § 113a SGB XI anzuwenden. In den Qualitätsprüfungs-Richtlinien und ihren Anlagen (2009) bzw. den damit korrespondierenden Pflege-Transparenzvereinbarungen (2008 und 2009) ist der Sachverstand der vom Deutschen Netzwerk für Qualitätseinwicklung in der Pflege (DNQP) entwickelten Expertenstandards bereits teilweise eingeflossen. Darüber hinaus wurden Expertenstandards im Rahmen der Rechtsprechung von Gerichten berücksichtigt, u.a. bereits 2005 vom Bundesgerichtshof mit einem „Urteil zur Pflicht des Trägers eines Pflegewohnheims, die körperliche Unversehrtheit der Heimbewohner zu schützen und zur Beweislast für eine schuldhafte Pflichtverletzung der Pflegeperson als bei einem Unfall im Heim“ (AZ: III ZR 399/04) oder 2002 vom Bundessozialgericht mit einem „Urteil zur Versorgung von Heimbewohnern mit Antidekubitusmatratzen durch Krankenkassen“ (AZ: B 3 KR 9/02 R). Nach Theuerkauf (2013) haben sowohl die Expertenstandards nach § 113a SGB XI als auch die bisher vom DNQP entwickelten Expertenstandards die gleiche rechtliche Verbindlichkeit. In § 11 Abs. 1 Satz 1 und § 28 Abs. 3 SGB XI ist zur Leistungspflicht festgelegt, dass Pflegekassen und Leistungserbringer sicherzustellen haben, dass die Leistungen dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer
356
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
Erkenntnisse genügen müssen. Sofern also Expertenstandards dem Stand der Fachwissenschaft entsprechen und sie weiterhin allgemein anerkannt sind – wovon sowohl für die Expertenstandards des DNQP als auch für die Expertenstandards nach § 113a SGB XI auszugehen ist – entspricht der außerrechtlich durch die Pflegeberufe festgelegte Berufsstandard dem Sozialrechtsstandard. Auch das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB XI schränkt diese Leistungspflicht nicht ein [Theuerkauf 2013].
10.9.2 Was sind Expertenstandards? Das DNQP hat bereits im Jahr 1998 begonnen, sich mit der Entwicklung von Expertenstandards zu befassen. Grundlage war ein zuvor innerhalb des DNQP geführter Austausch über Instrumente der Qualitätssicherung sowie Strategien der Qualitätsentwicklung in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Berücksichtigung fanden auch Erfahrungen aus dem europäischen Ausland, wo man sich teilweise deutlich früher als in Deutschland mit Fragen der systematischen Qualitätsentwicklung in der Pflege befasste. Aus Großbritannien wurde dabei vom Royal College of Nursing (RCN) die Idee der von Experten auf Grundlage empirischer Erkenntnisse entwickelter Standards übernommen. Das Konzept der Konsentierung von Expertenstandards orientiert sich am Vorgehen in den Niederlanden, wo bereits im Jahr 1985 durch die KwaliteitsAcademie Nederland (KAN) des Centraal BegeleidingsOrgaan (CBO) ein Papier zum Thema Dekubitusprophylaxe von der Berufsgruppe der Pflegenden konsentiert wurde [Schiemann/Schemann 2004]. Entgegen der oft vertretenen Auffassung, dass Standards im Wesentlichen zur Vereinheitlichung von Arbeitsabläufen oder ihrer Dokumentation dienen, verfolgen Expertenstandards primär den Zweck, die Qualität der Pflege themenbezogen auf Ebene der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität zu definieren und Pflegefachkräften eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Das DNQP definiert Expertenstandards als „evidenzbasierte, monodisziplinäre Instrumente, die den spezifischen Beitrag der Pflege für die gesundheitliche Versorgung von Patienten/Patientinnen bzw. Bewohnern/Bewohnerinnen sowie ihren Angehörigen zu zentralen Qualitätsrisiken aufzeigen und Grundlage für eine kontinuierliche Verbesserung der Pflegequalität in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen bieten. Sie stellen ein professionell abgestimmtes Leistungsniveau dar, das dem Bedarf und den Bedürfnissen der damit angesprochenen Bevölkerung angepasst ist und Kriterien zur Erfolgskontrolle dieser Pflege mit einschließt. Expertenstandards geben die Zielsetzung komplexer, interaktionsreicher pflegerischer Aufgaben sowie Handlungsalternativen und Handlungsspielräume in der direkten Patienten-/Patientinnen- bzw. Bewohner-/Bewohnerinnenversorgung vor“ [DNQP 2011]. Damit gehen Expertenstandards hinsichtlich ihrer Reichweite, ihrer wissenschaftlichen Fundierung und ihrer Möglichkeiten im Rahmen der systematischen Qualitätsentwicklung weit über diejenigen Pflegestandards hinaus, die von Pflegepraktikern in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen
10.9 Expertenstandards in der Pflegeversicherung
357
entweder auf der Einrichtungsebene oder Stations- bzw. der Wohnbereichsebene entwickelt werden. Letzteren fehlt in der Regel die empirische Untermauerung, und sie haben nicht selten den Charakter einfacher Handlungsanweisungen. Auch der Gesetzgeber sieht in Expertenstandards ein herausragendes Instrument zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der Pflege. Der Begründung zum § 113a SGB XI ist zu entnehmen, „dass in der Praxis wissenschaftlich fundierte und fachlich abgestimmte Expertenstandards dringend benötigt werden“. Zunehmend werde deutlich, „dass das Instrument des Expertenstandards Unterstützung, Sicherheit und praktische Expertise im Pflegealltag vermittelt“ [DBT 2007]. Expertenstandards sind primär Instrumente des einrichtungsinternen Qualitätsmanagements. Adressaten sind in erster Linie Pflegefachkräfte, denen anhand des in den Expertenstandards berücksichtigen Expertenwissens themenbezogen eine wissenschaftlich fundierte Handreichung für die eigene berufliche Praxis gegeben werden soll. Dabei ist zu beachten, dass Expertenstandards zunächst nur einen wissenschaftlich fundierten Rahmen darstellen und die Empfehlungen auf die spezifischen Belange der Patienten und Bewohner bzw. die der Pflegeeinheit hin angepasst werden müssen. Die Einführung von Expertenstandards ist eine komplexe und anspruchsvolle Aufgabe. Den verschiedenen Hierarchieebenen in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen kommen dabei unterschiedliche Aufgaben zu. Von zentraler Bedeutung für den Erfolg bei der Einführung und Anwendung von Expertenstandards ist die Rolle des Einrichtungs- bzw. Pflegemanagements. Ihm fällt die Aufgabe zu, geeignete Rahmenbedingungen für die Implementierung zu schaffen. Dies bedeutet in vielen Fällen, den Pflegekräften eine fachkundige Unterstützung für inhaltliche und qualitätsmethodische Fragen bereitzustellen. Hierfür bieten sich Absolventen von Pflegestudiengängen bzw. entsprechend weitergebildete berufserfahrene Pflegekräfte an. Weiterhin ist es sinnvoll, Expertenstandards in bestehende Qualitätsmanagementsysteme wie beispielsweise die DIN EN ISO 9001 einzubinden. Während das Qualitätsmanagementsystem den organisatorischen Rahmen für die Qualitätsentwicklung in einer Einrichtung bildet, stellen die den Belangen der Einrichtung und ihren Pflegebedürftigen angepassten Standards die in fachlicher Hinsicht zu erfüllenden Qualitätsanforderungen dar. Im Jahr 2000 wurde der erste Expertenstandard – zum Thema Dekubitusprophylaxe – konsentiert. Seither wurden vom DNQP insgesamt sieben Expertenstandards entwickelt und teilweise aktualisiert. Mit Ausnahme des Expertenstandards Entlassungsmanagement in der Pflege, der Entlassungen von Patienten aus dem Akut- bzw. Rehaklinikbereich zum Gegenstand hat, haben alle anderen Expertenstandards aufgrund ihrer inhaltlichen Ausrichtung eine direkte Relevanz für zugelassene Pflegedienste und -einrichtungen. Bis heute konnten folgende sieben Expertenstandards entwickelt, konsentiert, modellhaft implementiert und teilweise aktualisiert werden [DNQP 2012]: – Dekubitusprophylaxe in der Pflege (1. Aktualisierung 2010)
358
– – – – – –
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
Entlassungsmanagement in der Pflege (1. Aktualisierung 2009) Schmerzmanagement in der Pflege (1. Aktualisierung 2011) Sturzprophylaxe in der Pflege (2006, Aktualisierung wird derzeit vorgenommen) Förderung der Harnkontinenz in der Pflege (2007) Pflege von Menschen mit chronischen Wunden (2009) Ernährungsmanagement in der Pflege (2010)
Darüber hinaus werden derzeit zwei Expertenstandards zum Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen und zur Förderung der physiologischen Geburt vom DNQP entwickelt.
10.9.3 Expertenstandards des DNQP und nach § 113a SGB XI – eine Gegenüberstellung Die Entwicklung und Einführung von Expertenstandards erfolgt auf Basis eines systematischen qualitätsmethodischen Vorgehens. Grundlage ist ein vom DNQP entwickeltes und im Jahr 2011 letztmalig aktualisiertes Methodenpapier, welches sich auf anerkannte Regeln der Standard- und Leitlinienentwicklung stützt und ergänzend auf Basis eigener Erfahrungen fortlaufend aktualisiert wird [DNQP 2011]. Das Vorgehen umfasst sechs Stufen mit jeweils eigenen Verfahrensschritten (s. Tab. 10.6). Tab. 10.6: Gegenüberstellung der Entwicklung und Aktualisierung von Expertenstandards, in Anlehnung an DNQP (2011) und Vereinbarung nach § 113a Abs. 2 Satz 2 SGB XI (2009). „DNQP“
„§ 113 a SGB XI“
Themenfindung
Vorschlagsrecht
Bildung einer unabhängigen Experten-AG
Beauftragung (Ausschreibung und Vergabe) durch Vertragsparteien nach § 113 SGB XI
Erarbeitung des Expertenstandard-Entwurfs (monodisziplinär, multisektoral)
Erarbeitung des Expertenstandard-Entwurfs durch AG (mono- oder multidisziplinär, monosektoral)
Konsensus-Konferenz
Fachkonferenz
Modellhafte Implementierung
Modellhafte Implementierung (inkl. Wirksamkeitsanalyse) Beschluss der Vertragsparteien nach § 113 SGB XI: Verabschiedung des Expertenstandards
Regelmäßige Aktualisierung
Aktualisierung
Die im Jahr 2009 von den Vertragsparteien nach § 113 SGB XI festgelegte und vom BMG genehmigte Vereinbarung nach § 113a Abs. 2 Satz 2 SGB XI (Vereinbarung nach
10.9 Expertenstandards in der Pflegeversicherung
359
§ 113a Abs. 2 Satz 2 SGB XI über die Verfahrensordnung zur Entwicklung von Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung in der Pflege vom 30.03.2009, im Folgenden Verfahrensordnung 2009 genannt) orientiert sich an dem vom DNQP herausgegebenen Methodenpapier in der Fassung von 2007 [GKV-Spitzenverband 2009]. Die Verfahrensordnung stellt sicher, „dass auch in Zukunft die Entwicklung von Expertenstandards auf hohem wissenschaftlichen Niveau erfolgt und die Transparenz der einzelnen Verfahrensschritte gegenüber der Fachöffentlichkeit gewährleistet ist“ [DNQP 2011]. Neu ist im Rahmen der modellhaften Implementierung neben der bereits vom DNQP durchgeführten Machbarkeitsstudie die regelhaft vorgesehene Wirksamkeitsanalyse der Expertenstandards (Effektivitäts- und Effizienzauswirkungen). Im Rahmen einer von Wolke und Allgeier [2012] durchgeführten Analyse der Wirksamkeit des Expertenstandards „Ernährungsmanagement“ konnten statistisch signifikante Effekte z.B. für das Risiko von Mangelernährung oder bei der Stabilisierung des Körpergewichts nachgewiesen werden. Erhoben werden sollen ebenfalls die Einführungs- und dauerhaften Umsetzungskosten der Standards (anfallende Personal- und Sachkosten). Weiterhin erfolgt die Erfassung und Evaluation des Zeit- und Ressourcenaufwands für die Implementierung insbesondere in Bezug auf notwendige Qualifizierungen der Mitarbeiter, Anforderungen an die Pflegedokumentation und den Hilfsmitteleinsatz (Verfahrensordnung 2009). Bisher wurden im Rahmen der modellhaften Implementierungen gemeinsam mit den beteiligten Einrichtungen Auditinstrumente entwickelt. Das Audit bezieht grundsätzlich die Datenquellen Pflegedokumentation, Patienten-/Bewohnerfragung und Personalbefragung in die Erhebung ein – das Audit zum Expertenstandard Dekubitusprophylaxe in der Pflege sieht ergänzend auch die Inspektion der Patienten/Bewohner vor (Auditfrage zu „E7: Hat der Patient einen Dekubitus, der seit Aufnahme in der Pflegeeinheit neu entstanden ist? Bitte Lokalisation und Grad angeben“) [Moers M et al. 2004]. Erhoben werden dabei immer die Ebene der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Die Ergebnisse der Audits geben für die Evaluation der eigenen Praxis im Rahmen des Pflegeprozesses sowie ergänzend für das interne Qualitätsmanagement wertvolle Hinweise über den Grad der Zielerreichung oder Verbesserungsnotwendigkeiten. Es ist zu prüfen, inwiefern diese Auditfragen auch geeignete Hinweise für die Qualitätsprüfung nach § 114 SGB XI und für eine Überarbeitung der Anlagen der Qualitätsprüfungs-Richtlinien geben können. Trotz weitreichender Übereinstimmung der Verfahrensweisen bei der Entwicklung bzw. Aktualisierung von Expertenstandards besteht derzeit keine Vorgabe zur Entwicklung von Auditinstrumenten. Aus vorgenannten Gründen sollte es Anliegen der Vertragspartner sein, im Rahmen der zukünftigen modellhaften Implementierungen die Entwicklung standardspezifischer Auditinstrumente fortzuführen.
360
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
10.9.4 Gegenwärtiger Stand und Ausblick Waren Expertenstandards bisher ein von der Berufsgruppe der Pflegenden getragenes Instrument der Qualitätsentwicklung, geht die Verantwortung für ihre Entwicklung und Aktualisierung nun – zumindest für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung – auf die Vertragspartner nach § 113 SGB XI über. Beschlüsse über die Themenwahl oder die Verbindlichkeit der Standards setzen den Konsens der Vertragspartner bzw. dort, wo Einigkeit nicht erreicht werden kann, einen Beschluss der Schiedsstelle nach § 113b SGB XI voraus. Der Entscheidung für einen ersten Expertenstandard waren intensive Beratungen der Vertragspartner vorausgegangen. Zur Identifikation eines geeigneten Themas wurden von den Vertragspartnern die im Gesetz genannten und zu beteiligenden Institutionen angeschrieben und um Themenvorschläge gebeten. Aus den vielen Vorschlägen wurden in Anlehnung an die Verfahrensordnung diejenigen Themen identifiziert, die sich prinzipiell für einen Expertenstandard eignen. Ergänzend wurde eine pflegewissenschaftliche Expertise vergeben, die klären sollte, welches der in die engere Wahl genommenen Themen eine herausragende Relevanz hat, bei dem aufgrund des Vorhandenseins eines Expertenstandards die Pflegepraxis profitiert und bei dem aufgrund hinreichend vorhandener wissenschaftlicher Erkenntnisse eine weitgehende empirische Fundierung des Expertenstandards möglich ist. Die beauftragen Gutachter sprachen sich unter Berücksichtigung der zuvor genannten Kriterien einhellig für die Entwicklung eines Expertenstandards „Erhaltung und Förderung der Mobilität“ aus, einem im ambulanten und stationären Bereich gleichermaßen relevanten Thema. Es ist davon auszugehen, dass Anfang des Jahres 2015 mit dem „Expertenstandard Erhaltung und Förderung der Mobilität“ ein erster modellhaft implementierter und hinsichtlich seiner Wirksamkeit evaluierter Expertenstandard gemäß § 113a SGB XI vorliegen wird. Weitere werden folgen. Die vom DNQP entwickelten Expertenstandards berücksichtigen wichtige Themen der täglichen Praxis in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen. Daher müssen auch zu diesen Themen, wie in der Gesetzesbegründung zum § 113a SGB XI vorgesehen, Expertenstandards verbindlich eingeführt werden. Hier böte sich ein zeitökonomisches Vorgehen mit der weitgehenden Übernahme der existierenden Expertenstandards unter Berücksichtigung urheberechtlicher Fragen an. Diese sollte, sofern notwendig, mit einer fachlichen Aktualisierung verbunden werden. Bei der zukünftigen Entwicklung und Aktualisierung von Expertenstandards ist eine Überforderung der Pflegeeinrichtungen zu vermeiden. Die Anpassung der Expertenstandards an die Belange der Einrichtungen und ihrer Patienten/Bewohner ist eine anspruchsvolle und zeitintensive Aufgabe. Der für die Einführung eines Expertenstandards benötigte Zeitumfang hängt einerseits vom jeweiligen Thema und den dazu vorliegenden Kenntnissen der Pflegefachkräfte, andererseits von Vorerfahrungen der Einrichtungen mit Qualitätsinstrumenten (z.B. der Anwendung von Scree-
10.9 Expertenstandards in der Pflegeversicherung
361
ning- und Assessmentinstrumenten) sowie entscheidend auch vom Vorhandensein einer kompetenten Projektbegleitung zur Unterstützung der Pflegefachkräfte in der Einführungsphase ab. Für die Implementierung hat sich ein vierphasiges Modell bewährt [DNQP 2011]. Es besteht aus – Fortbildungen zum Expertenstandard, – der Anpassung einzelner Standardkriterien an die Anforderungen der Zielgruppe und Einrichtung, – die Einführung und Anwendung des Expertenstandards und – die Datenerhebung mit standardisiertem Auditinstrument Die Maßstäbe und Grundsätze nach § 113 SGB XI beinhalten auf eher formaler Ebene Aussagen zur Qualität sowie zu Anforderungen für die Qualitätsentwicklung und das einrichtungsinterne Qualitätsmanagement von Pflegeeinrichtungen. Expertenstandards definieren die Qualität der Leistungen für das jeweilige Thema auf primär pflegefachlicher Ebene. Beide Instrumente orientieren sich dabei an den von Donabedian beschriebenen Dimensionen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität und ergänzen sich gegenseitig. Durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (2012) wurde den Vertragspartnern aufgetragen, im Rahmen der Maßstäbe und Grundsätze nach § 113 SGB XI „Anforderungen an ein indikatorengestütztes Verfahren zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität im stationären Bereich zu entwickeln, das auf Grundlage einer strukturierten Datenerhebung im Rahmen des internen Qualitätsmanagements eine Qualitätsberichterstattung und die externe Qualitätsprüfung ermöglicht.“ Es ist davon auszugehen, dass Expertenstandards eine große Bedeutung bei der Entwicklung von Qualitätsindikatoren in der Pflege zukommt. Bereits in dem von Wingenfeld et al. [2011] durchgeführten Projekt „Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe“ wurden Expertenstandards bei der Entwicklung von Indikatoren berücksichtigt. Elsbernd et al. [2010] gehen davon aus, dass Voraussetzung für die Entwicklung von Qualitätsindikatoren das Vorliegen von Standards zu den jeweiligen Themen ist. Auch das DNQP sieht in der Entwicklung von Qualitätsindikatoren auf Grundlage von Leitlinien und Standards den nächsten Schritt, sowohl für das interne Qualitätsmanagement als auch für externe Qualitätsvergleiche. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Evaluierungen keinen „Ersatz für differenzierte Qualitätsmessungen“ darstellen und auffällige Indikatorenausprägungen lediglich einen Hinweis auf Probleme geben, deren Vorliegen in einem weiteren Schritt zu untersuchen ist [DNQP 2011]. Hierfür kommt den zuvor angesprochenen standardspezifischen Auditinstrumenten eine zentrale Funktion zu. Neben der Entwicklung neuer sowie der Aktualisierung bestehender Expertenstandards und ihrer fortlaufenden Implementierung in die Pflegepraxis sollten Expertenstandards stärker als bisher für Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI und
362
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
die Qualitätsberichterstattung nach § 115 Abs. 1a SGB XI zugrunde gelegt werden. Gleichzeitig sollten Expertenstandards in die zukünftige Entwicklung von Qualitätsindikatoren einbezogen werden. Die Neufassung des § 113 SGB XI im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz mit daraus resultierenden Anpassungen der Maßstäbe und Grundsätze für den stationären Bereich sind hierfür eine gute Ausgangslage.
10.10 Erfahrungen aus der stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V in der Pflege Klaus Döbler Einleitung Für die Qualitätssicherung nach SGB XI ist eine externe Qualitätssicherung mittels Qualitätsprüfungen in den Pflegeeinrichtungen etabliert [MDS 2012a]. Es wird diskutiert, im Rahmen einer Weiterentwicklung zukünftig einen stärkeren Fokus auf die datengestützte Messung der Ergebnisqualität zu richten [Bonato 2012, Wingenfeld et al. 2011]. Langjährige Erfahrungen mit dem Konzept der Messung von Indikatoren der Ergebnisqualität in der Pflege gibt es in der externen stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V (ESQS)[BQS a, AQUA a]. Seit dem Jahr 2001 ist dieses Verfahren für alle deutschen Krankenhäuser verpflichtend. Im Folgenden sollen die Rahmenbedingungen, ausgewählte Ergebnisse und praktische Erfahrungen aus diesem Verfahren vorgestellt werden. Es wird diskutiert, inwieweit diese Erfahrungen ggf. für die Prüfung der Pflegequalität nach SGB XI genutzt werden können.
10.10.1 Rahmenbedingungen der externen stationären Qualitätssicherung (ESQS) Historie Die externe stationäre Qualitätssicherung in Deutschland hat ihren Ursprung in Initiativen wissenschaftlicher Fachgesellschaften, die bereits in den 1970er und 1980er Jahren indikatorengestützte Verfahren entwickelt haben. Als Pionierleistungen sind insbesondere die Perinatalerhebung sowie die Verfahren in der Chirurgie und Herzchirurgie zu nennen [Selbmann 1978, Schega 1979, Kalmár 1990]. Aufbauend auf die Mitte der 1990er Jahre eingeführte „Qualitätssicherung bei Fallpauschalen und Sonderentgelten“ wurde mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 ab 01.01.2001 eine gesetzliche Verpflichtung für alle Krankenhäuser zur Teilnahme an der bundeseinheitlichen Qualitätssicherung nach § 137 SGB V eingeführt [Beck 2006]. Verantwortliches Gremium der Selbstverwaltung war zunächst das Bundeskuratorium Qualitätssicherung, mit der Umsetzung wurde die eigens dazu gegründete Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung gGmbH (BQS) beauftragt [Beck 2006]. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004 ging die Verantwortlichkeit vom Bundeskuratorium Qualitätssicherung auf den
363
10.10 Erfahrungen aus der stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V
Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) über. Seit 2010 ist mit der Umsetzung anstelle der BQS das AQUA-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH (AQUA-Institut) in Göttingen beauftragt [G-BA a].
Durchführung Die Durchführung der ESQS ist in der „Richtlinie über Maßnahmen der Qualitätssicherung in Krankenhäusern“ des Gemeinsamen Bundesausschusses geregelt [G-BA 2006/2011]. Hauptziel der ESQS ist für den G-BA, „die medizinische und pflegerische Leistung der Krankenhäuser in Deutschland qualitativ zu verbessern und vergleichbar zu machen“ [G-BA b]. Es handelt sich um ein datengestütztes Verfahren, in dem auf der Grundlage bundeseinheitlicher Spezifikationen leistungsbereichsspezifische Datensätze erhoben werden. Die Daten werden nach bundeseinheitlichen Regeln ausgewertet. Ein Qualitätsvergleich findet auf der Grundlage der Ergebnisse von Qualitätsindikatoren statt. Qualitätsindikatoren und Datensätze werden bundeseinheitlich durch das AQUA-Institut entwickelt. Für das Jahr 2012 besteht eine Dokumentationspflicht für 30 Leistungsbereiche. Unterschieden werden 20 „indirekte“ und 10 „direkte“ Verfahren (s. Tab. 10.7). Bei indirekten Verfahren handelt es sich um Leistungsbereiche mit einer größeren Zahl teilnehmender Krankenhäuser. Bei diesen Verfahren ist die Landesebene in die Datenannahme und Analyse der Ergebnisse mit einbezogen. Direkte Verfahren beziehen sich auf Leistungsbereiche mit einer niedrigen Anzahl teilnehmender Krankenhäuser (Herzchirurgie, Transplantationsmedizin). Hier erfolgen Datenannahme und Ergebnisanalyse durch das AQUA-Institut auf der Bundesebene. Bei den indirekten Verfahren leitet die Landesebene die Daten der Krankenhäuser anonymisiert an das AQUA-Institut zur Erstellung einer Bundesauswertung weiter. Tab. 10.7: Leistungsbereiche der externen stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V (ESQS) für das Erfassungsjahr 2012 [G-BA b]. Nr.
Leistungsbereich
Verfahren Direkt
1
Ambulant erworbene Pneumonie
2
Aortenklappenchirurgie, isoliert
3
Cholezystektomie
x
4
Pflege: Dekubitusprophylaxe
x
5
Geburtshilfe
x
6
Gynäkologische Operationen
x
7
Herzschrittmacher-Aggregatwechsel
x
8
Herzschrittmacher-Implantation
x
Indirekt x
x
364
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
Nr.
Leistungsbereich
Verfahren Direkt
9
Herzschrittmacher-Revision/-Systemwechsel/-Explantation
10
Herztransplantation
11
Hüft-Endoprothesen-Erstimplantation
x
12
Hüft-Endoprothesenwechsel und -komponentenwechsel
x
13
Hüftgelenknahe Femurfraktur
x
14
Karotis-Revaskularisation
x
15
Knie-Totalendoprothesen-Erstimplantation
x
16
Knie-Endoprothesenwechsel und -komponentenwechsel
x
17
Kombinierte Koronar- und Aortenklappenchirurgie
18
Koronarangiographie und Perkutane Koronarintervention (PCI)
19
Koronarchirurgie, isoliert
20
Mammachirurgie
21
Lebertransplantation
x
22
Leberlebendspende
x
23
Nierentransplantation
x
24
Nierenlebendspende
x
25
Lungen- und Herz-Lungentransplantation
x
26
Pankreas- und Pankreas-Nierentransplantation
x
27
Neonatologie
x
28
Implantierbare Defibrillatoren - Implantation
x
29
Implantierbare Defibrillatoren - Aggregatwechsel
x
30
Implantierbare Defibrillatoren - Revision/Systemwechsel/Explantation
x
Indirekt x
x
x x x x
Für das Jahr 2011 waren über 300 Qualitätsindikatoren definiert [AQUA b]. Jedes Krankenhaus erhält eine Auswertung, in der seine eigenen Ergebnisse im Vergleich zu den anonymisierten Ergebnissen aller anderen Krankenhäuser seines Bundeslandes (bei den direkten Verfahren im Vergleich zu allen Krankenhäusern in Deutschland) sowie zum Bundesdurchschnitt dargestellt werden.
Interventionen bei Auffälligkeiten Für die überwiegende Zahl der Qualitätsindikatoren sind Referenzbereiche definiert [AQUA b]. Erreicht ein Krankenhaus bei einem Indikator mit seinem Ergebnis den
10.10 Erfahrungen aus der stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V
365
Referenzbereich nicht, gilt es als rechnerisch auffällig. Rechnerisch auffällige Ergebnisse werden von Expertengremien im Dialog mit den Krankenhäusern („Strukturierter Dialog“) analysiert. Werden dabei Qualitätsprobleme festgestellt, werden diese als „qualitativ auffällig“ gekennzeichnet und es werden erforderliche Verbesserungsmaßnahmen vereinbart [AQUA c].
Überprüfung der Datenqualität Die Datenqualität wird mittels eines strukturierten Verfahrens überprüft. Bei der Dateneingabe und bei der Datenentgegennahme erfolgt eine Plausibilitätskontrolle, nur plausible Datensätze werden angenommen und gehen in die Auswertungen ein. Weiterhin findet eine sogenannte „statistische Basisprüfung“ statt, bei der nach definierten Kriterien Auffälligkeiten (z.B. extrem häufig Angabe von Notfalleingriffen in der Herzchirurgie) erkannt und ggf. an die Krankenhäuser mit der Bitte um Überprüfung zurückgespiegelt werden. Darüber hinaus findet in jeweils zwei bis drei Leistungsbereichen pro Jahr bei einer Zufallsstichprobe von 5 Prozent der Krankenhäuser ein Datenabgleich vor Ort statt [AQUA d]. Die Vollzähligkeit der gelieferten Datensätze wird mit Hilfe einer sogenannten Sollstatistik geprüft. Grundlage der Sollstatistik ist die Prüfung aller abgerechneten vollstationären Fälle eines Krankenhauses mit Hilfe eines einheitlich spezifizierten Softwaretools, des sogenannten QS-Filters [AQUA e].
10.10.2 Qualitätssicherung Pflege in der ESQS Die Qualitätssicherung der Pflege ist seit dem Jahr 2001 im bundeseinheitlichen Verfahren der ESQS verankert. Die inhaltliche Ausrichtung der Erfassung der Pflegequalität hat sich allerdings zwischen 2001 und 2012 mehrfach verändert.
2001 bis 2003: Prozessqualität, leistungsbereichsspezifisch Von 2001 bis 2003 wurde ein pflegespezifischer Datensatz in den Leistungsbereichen der Herzchirurgie (Koronarchirurgie, Aortenklappenchirurgie, Kombinierte Aortenklappen- und Koronarchirurgie, Mitralklappenchirurgie), der Endoprothetik von Hüfte und Knie (Erstimplantation und Wechseloperation), der hüftgelenknahen Femurfrakturen sowie bei der Prostataresektion erhoben [BQS b]. Der inhaltliche Fokus lag in diesem Zeitraum auf der Erfassung der Prozessqualität. Tabelle 10.8 zeigt beispielhaft die Indikatoren und Ergebnisse für den Bereich der hüftgelenknahen Femurfrakturen aus dem Erfassungsjahr 2002. Die niedrigen Fallzahlen in der Auswertung sind Ausdruck der im Jahr 2002 vor allem wegen Softwareproblemen noch unvollständigen Erfassung [BQS c].
366
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
Tab. 10.8: Bundesauswertung Pflege bei hüftgelenknaher Femurfraktur Des Erfassungsjahres 2002 [BQS c]. Bundesauswertung 2002
Pflegeprozess Gesamt 2002
Modul 17/1 Schenkelhalsfraktur/pertrochantäre Fraktur Pflege – Basisauswertung
Anzahl
%
nein
777/7 908
9,83
durch Krankenschwester/-pfleger (Examinierung, 3-jährige Ausbildung)
6 349/7 908
80,29
durch Krankenpflegehelfer/-in (Examinierung, einjährige Ausbildung)
411/7 908
5,20
durch sonstiges Personal
371/7 908
4,69
nein
603/7 908
7,63
ja, mündlich
2 292/7 908
28,98
ja, schriftlich
5 013/7 908
63,39
nein
540/7 908
5,83
ja, mündlich
2 097/7 908
26,52
ja, schriftlich
5 271/7 908
66,65
nein
882/7 908
11,15
ja, mündlich
2 787/7 908
35,24
ja, schriftlich
4 239/7 908
53,60
nein
579/7 908
7,32
ja, mündlich
2 185/7 908
27,63
ja, schriftlich
5 144/7 908
65,05
Pflegeanamnese erhoben
Fähigkeiten und Ressourcen des Patienten erfasst
Pflegeprobleme des Patienten erfasst
Pflegeziele formuliert
Pflegemaßnahmen geplant
Beratung in Bezug auf das postoperative Verhalten für die Patienten/Angehörigen nein
888/7 908
11,23
mündlich
5 264/7 908
66,57
10.10 Erfahrungen aus der stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V
367
schriftlich
492/7 908
6,22
beides
1 264/7 908
15,98
Häufigkeit der Übereinstimmung der durchgeführten Pflegemaßnahmen mit der vorausgegangenen Planung nie
428/7 908
5,41
selten
76/7 908
0,96
manchmal
139/7 908
1,76
ziemlich oft
957/7 908
12,10
meistens
3 764/7 908
47,60
immer
2 544/7 908
32,17
Nie
382/7 908
4,83
Manchmal
682/7 908
8,62
Immer
6 844/7 908
86,55
Nein
1 050/7 908
13,28
ja, mündlich
3 402/7 908
43,02
ja, schriftlich
3 456/7 908
43,70
Dokumentation der Pflegemaßnahmen
Bewertung der Pflegeergebnisse
2004 bis 2006: Ergebnisqualität Dekubitusprophylaxe, leistungsbereichsspezifisch In diesem Zeitraum erfolgte die Erfassung der pflegerischen Qualität weiterhin leistungsbereichsspezifisch, angekoppelt an die medizinischen Leistungsbereiche in der Herzchirurgie, Endoprothetik und Unfallchirurgie [BQS d]. Allerdings erfolgte ein inhaltlicher Strategiewechsel. Die Erfassung der Prozessindikatoren wurde eingestellt. Stattdessen wurde als Ergebnisindikator für die Qualität der Dekubitusprophylaxe die Rate der während des stationären Aufenthalts neu entstandenen Dekubitalulzera gemessen. Eine Risikoadjustierung fand lediglich durch die Stratifizierung anhand der medizinischen Leistungsbereiche statt.
Ab 2007: Generalindikator Dekubitusprophylaxe Ab 01.01.2007 wurde die Bindung der Dokumentationspflicht an bestimmte Leistungsbereiche aufgegeben und stattdessen eine Dokumentationspflicht für alle Patienten mit einem Lebensalter über 75 Jahren im Sinne eines Generalindikators eingeführt. Das Ziel war eine „fachabteilungsübergreifende Querschnittbetrachtung“ des Versorgungsproblems Dekubitus [BQS e]. Die Eingrenzung auf Patienten von über 75 Jahren
368
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
erfolgte primär aufgrund der praktischen Erwägung, den Dokumentationsaufwand für die Krankenhäuser zu begrenzen. Handlungsleitend war, dass mit den älteren Patienten ein besonders dekubitusgefährdetes Kollektiv erfasst werden konnte. Die Dokumentationspflicht war darüber hinaus auf das jeweils erste Quartal eines Jahres begrenzt, um einerseits den Dokumentationsaufwand zu minimieren und dennoch eine ausreichend große Stichprobe zu erfassen. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung blieb unverändert bei der Erfassung der Inzidenz von Dekubitalulzera während des stationären Aufenthalts. Auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Recherche potentieller Einflussfaktoren, eines Pilottests mit über 100 Krankenhäusern und einer statistischen Überprüfung potentieller Einflussfaktoren wurde ein logistisches Regressionsmodell für die Risikoadjustierung entwickelt und neu eingeführt [BQS f]. Ausgewertet werden zwei Qualitätsindikatoren: 1. Veränderung des Dekubitusstatus während des stationären Aufenthalts bei Patienten ohne Dekubitus bei Aufnahme 2. Neu aufgetretene Dekubitalulzera Grad 4 Für den Indikator 1 werden die Kennzahlen „Neu aufgetretene Dekubitalulzera Grad 1–4“ und „Neu aufgetretene Dekubitalulzera Grad 2–4“ ausgewertet. Für die risikoadjustierten Raten dieser beiden Straten ist ein Referenzbereich bei jeweils dem 95 %-Perzentil festgelegt [AQUA a].
10.10.3 Ergebnisqualität Dekubitusprophylaxe in der ESQS Erfassung Die Erfassung erfolgt anhand der Gradeinteilung des Kodes L89.- des ICD-10-GM. Der Bezug auf die ICD-10 wurde gewählt, um eine einfache und im Krankenhaus für die Abrechnung standardisierte Dokumentation zu ermöglichen. Mit Hilfe von Ausfüllhinweisen wurde auf die Skala des NPUAP von 1989 (National Pressure Ulcer Advisory Panel) Bezug genommen (s. Tab. 10.9 [BQS g]. Abbildung 10.3 zeigt den ErfassungsDatensatz für das Jahr 2012 [AQUA f]. Tab. 10.9: Gradierung des Dekubitalulkus nach dem Kode L89.- des ICD-10-GM in Anlehnung an das National Pressure Ulcer Advisory Panel von 1989 (NPUAP) [BQS g]. Grad
Definition
Dekubitus 1. Grades Umschriebene Rötung bei intakter Haut Dekubitus 2. Grades Hautdefekt Dekubitus 3. Grades Tiefer Hautdefekt, Muskeln und Sehnen sind sichtbar und eventuell betroffen Dekubitus 4. Grades Tiefer Hautdefekt mit Knochenbeteiligung
10.10 Erfahrungen aus der stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V
369
MUSTER - Nicht zur Dokumentation verwenden
Datensatz Dekubitusprophylaxe DEK (Spezifikation 15.0 SR 3) BASIS
10-11
Genau ein Bogen muss ausgefüllt werden
10
1-6 1
Basisdokumentation Institutionskennzeichen
Dekubitusstatus bei Aufnahme Lagen bei Aufnahme ein oder mehrere Dekubitalulzera vor?
16>
0 = nein
wie lange?
17-18
1 = ja
17
wenn mindestens ein Dekubitalulkus vorlag
Betriebsstätten-Nummer
11>
Gradeinteilung des höchstgradigen Dekubitalulkus nach ICD-10-GM L89
3
1 = ja 1 = Dekubitus 1. Grades: Nicht wegdrückbare Rötung bei intakter Haut
§ 301-Vereinbarung: http://www.dkgev.de
2 = Dekubitus 2. Grades: Dekubitus (Druckgeschwür) mit Abschürfung, Blase, Teilverlust der Haut mit Einbeziehung von Epidermis und/oder Dermis oder Hautverlust o.n.A.
Schlüssel 1
5
3 = Dekubitus 3. Grades: Dekubitus (Druckgeschwür) mit Verlust aller Hautschichten mit Schädigung oder Nekrose des subkutanen Gewebes, die bis auf die darunterliegende Faszie reichen kann
Identifikationsnummer des Patienten
4 = Dekubitus 4. Grades: Dekubitus (Druckgeschwür) mit Nekrose von Muskeln, Knochen oder stützenden Strukturen (z.B. Sehnen oder Gelenkkapseln)
Geburtsdatum TT.MM.JJJJ
. 6
Aufnahmedatum Krankenhaus
. 7
5 = Dekubitus, Grad nicht näher bezeichnet: Dekubitus (Druckgeschwür) ohne Angabe eines Grades
.
TT.MM.JJJJ
7-11
12-18 12
.
Aufnahme Angabe zur Aufnahme
Entlassung Entlassungsdatum Krankenhaus TT.MM.JJJJ
. 13
.
Entlassungsgrund § 301-Vereinbarung § 301-Vereinbarung: http://www.dkgev.de
1 = Aufnahme von zu Hause ohne Versorgung durch eine ambulante Pflegeeinrichtung 2 = Aufnahme von zu Hause mit Versorgung durch eine ambulante Pflegeeinrichtung 3 = Aufnahme aus stationärer Pflegeeinrichtung
Schlüssel 2 14-16
Risikofaktoren bei Entlassung
4 = Verlegung aus anderem Krankenhaus
wenn Patien lebt
5 = Verlegung aus stationärer Rehabilitation
14>
9 = sonstiges
Ist der Patient zur Ausführung von Mikrobewegungen in der Lage? Ausfüllhinweis beachten
8-9 8
Risikofaktoren bei Aufnahme Ist der Patient zur Ausführung von Mikrobewegungen in der Lage?
0 = nein 1 = ja
Ausfüllhinweis beachten
15
0 = nein 1 = ja 9
Dekubitusstatus bei Entlassung Lagen bei Entlassung ein oder mehrere Dekubitalulzera vor?
0 = nein
Fachabteilung § 301-Vereinbarung
4
Dauer der Intensivbehandlung
Tage
http://www.arge-ik.de
2
wenn Feld 15 = 1
insulinpflichtiger Diabetes mellitus bei Aufnahme
kontinuierliche Intensivbehandlung >= 24 Stunden entspricht OPS 8-980
0 = nein 1 = ja
0 = nein 1 = ja
Abb. 10.3: Datensatz „Dekubitusprophylaxe“ 2012 [AQUA f].
wenn mindestens ein Dekubitalulkus vorlag 18>
Gradeinteilung des höchstgradigen Dekubitalulkus nach ICD-10-GM L89
1 = Dekubitus 1. Grades: Nicht wegdrückbare Rötung bei intakter Haut 2 = Dekubitus 2. Grades: Dekubitus (Druckgeschwür) mit Abschürfung, Blase, Teilverlust der Haut mit Einbeziehung von Epidermis und/oder Dermis oder Hautverlust o.n.A. 3 = Dekubitus 3. Grades: Dekubitus (Druckgeschwür) mit Verlust aller Hautschichten mit Schädigung oder Nekrose des subkutanen Gewebes, die bis auf die darunterliegende Faszie reichen kann 4 = Dekubitus 4. Grades: Dekubitus (Druckgeschwür) mit Nekrose von Muskeln, Knochen oder stützenden Strukturen (z.B. Sehnen oder Gelenkkapseln) 5 = Dekubitus, Grad nicht näher bezeichnet: Dekubitus (Druckgeschwür) ohne Angabe eines Grades
370
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
Ergebnisse Die Ergebnisentwicklung soll exemplarisch an dem Qualitätsindikator „Neu aufgetretener Dekubitus Grad 1 – 4“ dargestellt werden (s. Tab. 10.10). Die Ergebnisse für die Jahre 2007 – 2008 wurden dem von der BQS veröffentlichten Qualitätsreport, die Ergebnisse 2009 – 2010 dem Qualitätsreport des AQUA-Instituts entnommen [BQS h, AQUA g]. Tab. 10.10: Qualitätsindikator „Neu aufgetretene Dekubitalulzera Grad 1-4“, Ergebnisse 2007–2010 [BQS h, AQUA g]. (Anmerkung: Veränderungen bei den Fallzahlen können auf Veränderungen bei den Einschlusskriterien bezüglich des Entlassungsdatums der Patienten und auf den Einschluss von psychiatrischen Patienten ab dem Jahr 2008 zurückgeführt werden).
Gesamtrate Grundgesamtheit (Anzahl Fälle)
2007
2008
2009
2010
1,3 %
1,1 %
1,1 %
1,0 %
847 130
974 915
1 019 215
1 028 701
Bewertung der Ergebnisse Die Ergebnisse zeigen einen geringfügigen, aber kontinuierlichen Rückgang der Raten. Dies ist besonders bemerkenswert, da die BQS-Fachgruppe Pflege bereits für die Ergebnisse des Jahres 2008 eine erhebliche Unterdokumentation vermutet hat („Die risikoadjustierten Gesamtraten sind mit 0,7 Prozent der schwerwiegenden und 1,1 Prozent aller Dekubitalulzera weiterhin niedrig. Die Fachgruppe Pflege vermutet, dass Schnittstellenprobleme zwischen ärztlicher und pflegerischer Dokumentation sowie unterschiedliche EDV- beziehungsweise Dokumentationsstrukturen in den Krankenhäusern nach wie vor zu einer Unterdokumentation führen.“) [BQS h]. Eine praktisch identische Bewertung der Gesamtrate hat die Fachgruppe Pflege des AQUA-Instituts für die Ergebnisse des Jahres 2010 abgegeben („Die Gesamtrate aller neu aufgetretenen Dekubiti ist gegenüber dem Jahr 2009 etwas niedriger ausgefallen. Wie auch schon in den Jahren zuvor, geht die Bundesfachgruppe Pflege von einer erheblichen Unterdokumentation der Dekubiti aus. In der nationalen sowie internationalen Literatur wird von einem vier- bis fünffachen Vorkommen von Dekubiti im Krankenhaus berichtet.“) [AQUA g]. Es muss somit konstatiert werden, dass die berichteten Raten von den verantwortlichen Expertengruppen dauerhaft als invalide angesehen werden, so dass sich keine belastbare Aussage zur Qualität der Gesamtversorgung und der einzelnen Krankenhäuser treffen lässt. Die Sensitivität der eingesetzten Indikatoren ist (im Rahmen des Erfassungskonzepts) als sehr niedrig anzusehen. Die Analysen auffälliger Krankenhäuser (d.h. der Krankenhäuser, deren Ergebnisse den Referenzbereich nicht erreichen) im Rahmen des Strukturierten Dialogs
10.10 Erfahrungen aus der stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V
371
weisen darauf hin, dass auch die Spezifität der Indikatoren eingeschränkt ist. Bereits im Jahr 2007 hat die Fachgruppe Pflege der BQS dazu formuliert: „Der Strukturierte Dialog aus der Herzchirurgie in den vergangenen Jahren lieferte bereits eindeutige Hinweise auf diese Dokumentationsprobleme. Hier wurde wiederholt von Übertragungsfehlern von Patientenakten in die QS-Dokumentationssoftware oder von Schnittstellenproblemen zwischen erfassenden und dokumentierenden Personen als Begründung für Auffälligkeiten berichtet.“ [BQS i]. Von 292 im Jahr 2011 als rechnerisch auffällig gemeldeten Fällen wurden 40 nach Analyse als „qualitativ auffällig“ (d.h., dass in diesen Fällen ein Qualitätsproblem festgestellt wurde) eingestuft, davon 14 Fälle wegen fehlerhafter Dokumentation und 7 Fälle wegen mangelhafter Mitwirkung [AQUA c]. Für die Daten des Erfassungsjahres 2009 wurde eine Datenvalidierung im Leistungsbereich „Dekubitusprophylaxe“ auf der Grundlage einer Zufallsstichprobe durchgeführt, die Ergebnisse sind allerdings nicht im Einzelnen publiziert [AQUA h]. Die für die Kennzahl „Neu aufgetretener Dekubitus Grad 1-4“ dargestellten Bewertungen gelten analog auch für die Kennzahl „Neu aufgetretener Dekubitus Grad 2 – 4“ und den Indikator „Neu aufgetretene Dekubitalulzera Grad 4“.
10.10.4 Ausblick: Umstellung auf eine Erfassung primär mittels Abrechnungsdaten ab 2013 Aufgrund der wenig validen Ergebnisse bei gleichzeitig hohem Dokumentationsaufwand wurden bereits seit Jahren alternative Erfassungsoptionen geprüft. Ab 01.01.2013 wird die Erfassung der stationär neu aufgetretenen Dekubitalulzera mit Hilfe eines neuen Konzepts, das sich primär auf Abrechnungsdaten („administrative Routinedaten“) stützt, erfolgen. Eine Dokumentation soll nur noch dann erfolgen, wenn in den Abrechungsdaten des Krankenhauses gemäß § 301 SGB V der Kode L89.- (Dekubitus) identifiziert wird. Das heißt, eine Dokumentation ist nur noch für die Patienten erforderlich, bei denen ein Dekubitus kodiert wurde [AQUA i]. Die erforderlichen Daten für die Risikoadjustierung (die ja – um ein Risikoprofil für das Krankenhaus erstellen zu können – für alle im jeweiligen Krankenhaus behandelten Fälle und nicht nur die mit einem Dekubitus vorliegen müssen) werden mit Hilfe eines neuen technischen Tools („Risikostatistik“) ebenfalls aus den Abrechnungsdaten gewonnen [AQUA k]. Da anhand der verwendeten ICD-Kodes L89.- derzeit nicht unterschieden werden kann, ob der Dekubitus erst während des stationären Aufenthalts entstanden ist oder ggf. bereits bei Aufnahme bestand, muss diese Information weiterhin händisch eingegeben werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss unterstützt einen Antrag des AQUA-Instituts beim DIMDI (Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information), für den Kode L89.- ein Zusatzkennzeichen einzuführen, das kenntlich macht, ob der Dekubitus bereits bei Aufnahme bestand (POA = Present On Admis-
372
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
sion). Bei Einführung eines solchen Kennzeichens könnte ggf. vollständig auf eine händische Dokumentation verzichtet werden. Mit Hilfe dieses Konzepts kann auf die Eingrenzung der Erfassung auf ein Quartal und Patienten über 75 Jahre verzichtet werden und dennoch der Dokumentationsaufwand deutlich reduziert werden. Zudem wird postuliert, dass die Validität der Erfassung höher ist, da Dekubitalulzera zu einer Vergütungssteigerung führen können und daher für diese Fälle voraussichtlich auf eine entsprechende Kodierung nicht verzichtet wird. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass für die Fälle, für die ein Dekubitus nicht vergütungsrelevant ist, ggf. keine Kodierung erfolgt und somit nicht davon ausgegangen werden kann, dass tatsächlich alle Dekubitalulzera erfasst werden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Unschärfen dadurch entstehen können, dass bei Patienten, die mit einem oder mehreren Dekubitus aufgenommen werden und bei denen während des stationären Aufenthalts ein oder mehrere weitere Dekubitus entstehen, ggf. nur der „mitgebrachte“ Dekubitus kodiert wird. Ohnehin führt die Kodierung mehrerer Dekubitalulzera zu einer sehr erheblichen Komplexität in der Auswertung, da theoretisch für jeden einzelnen Dekubitus Aufnahme- und Entlassungsstatus berücksichtigt werden müssen. Hier findet sich auch in der aktuellen Auswertung bereits eine erhebliche Unschärfe.
10.10.5 Diskussion Erfahrungen aus der Qualitätssicherung Pflege nach SGB V Die Erfassung des Ergebnisindikators „Neu aufgetretene Dekubitalulzera während des stationären Aufenthalts“ mittels händischer Dokumentation ist als unpräzises und wenig effizientes Verfahren anzusehen. Die ermittelten Raten werden von den für die Qualitätssicherung benannten Fachexperten als erhebliche Unterdokumentation angesehen. Diese Einschätzung wird auch in einer aktuellen Studie ausdrücklich bestätigt [Lahmann et al. 2012]. 19 erkannte medizinisch-pflegerische Qualitätsprobleme bei über einer Million erfassten Fällen in über 1 700 Krankenhäusern sind zweifellos Ausdruck einer niedrigen Sensitivität. Auch die Spezifität des Indikators – von 292 angezeigten Auffälligkeiten wurden 19 als medizinisch-pflegerisches Qualitätsproblem eingestuft [AQUA c] – ist als höchst problematisch zu bewerten. Der Aufwand für die Erfassung von mehr als einer Million Fällen ist angesichts dieses „Ertrags“ als nicht gerechtfertigt anzusehen. Unklar bleibt, ob und ggf. in welchem Ausmaß die Erfassung in den Krankenhäusern zu einer gesteigerten Sensibilität im Umgang mit Dekubitalulzera oder bei der Dekubitusprophylaxe geführt haben. Ebenso bleibt unklar, inwieweit die Erfassung ggf. die Implementierung des Expertenstandards „Dekubitusprophylaxe“ unterstützt hat [DNQP 2010]. Die Umstellung der Erfassung zu einem primär auf Abrechnungsdaten gestützten Konzept erscheint vielversprechend. Eine weitergehende Bewertung wird auf Grundlage der ersten Ergebnisse im Jahr 2014 möglich sein.
10.10 Erfahrungen aus der stationären Qualitätssicherung nach § 137 SGB V
373
Übertragbarkeit der Erfahrungen auf die Qualitätssicherung nach SGB XI Für die Qualitätssicherung im Bereich des SGB XI wurde empfohlen, eine Datenerfassung entsprechend dem stationären Verfahren durchzuführen („analog AQUA“) [Bonato 2012]. Abgesehen von den bislang nicht überzeugenden Erfahrungen aus dem stationären Sektor erscheint eine Übertragung des stationären Erfassungskonzepts in den Kontext des SGB XI aus mehreren Gründen problematisch. Die Messung der Ergebnisqualität im Rahmen von stationären Aufenthalten ist aufgrund der Rahmenbedingungen praktisch und methodisch in mehrfacher Hinsicht einfacher umsetzbar, als dies im Setting der Pflege nach SGB XI der Fall ist. Im Mittelpunkt steht die Messung der Dekubitusinzidenz, d.h., es werden solche Dekubitalulzera erfasst, die während eines definierten Zeitraums neu auftreten. Anfang und Ende der Periode, für die die Inzidenz bestimmt werden soll, sind im stationären Verfahren durch die stationäre Aufnahme und Entlassung klar definiert und überschaubar. In Pflegeheimen oder in der ambulanten Pflege hingegen müssen andere Bezugszeiträume definiert werden. Wingenfeld et al. schlagen vor, retrospektiv die neu aufgetretenen Dekubitalulzera eines Halbjahres zu erfassen [Wingenfeld et al. 2011]. Um valide Daten zu erhalten, muss hierzu eine sehr präzise Dokumentation aller Dekubitalulzera über den gesamten Zeitraum gewährleistet sein. Für die Auswertung muss darüber hinaus ein Bezug zur Anzahl der Behandlungstage der jeweiligen Patienten innerhalb des Messzeitraums möglich sein. Zudem sollte eine Möglichkeit zur Vollzähligkeitskontrolle der einbezogenen Fälle geschaffen werden. Die Risikoadjustierung – also die Berücksichtigung patientenbedingter Faktoren, die nicht von der behandelnden Einrichtung beeinflusst werden können – stellt bereits im stationären Setting eine erhebliche Herausforderung dar, da eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigt werden muss und diese teilweise problematisch standardisiert zu erfassen sind. Für die kontinuierliche Betreuung im Pflegeheim sind die methodischen Anforderungen noch weitaus komplexer, da die Dynamik chronischer Krankheitsverläufe und interkurrente akute Erkrankungen berücksichtigt werden müssten. So kann sich beispielsweise die Mobilität von Patienten im Zeitverlauf (nicht nur unidirektional) verändern. Eine methodisch saubere Zuordnung des Zeitpunkts des Auftretens eines Dekubitus zu dem vor diesem Zeitpunkt bestehenden Gesundheitszustand erfordert eine außerordentlich aufwändige Dokumentation sowie ein entsprechend komplexes Datenmodell. Die von Wingenfeld et al. vorgeschlagene Form der Risikoadjustierung unter Berücksichtigung lediglich des Einflussfaktors der Mobilität ist als fraglich reliabel und eingeschränkt vollständig anzusehen [Wingenfeld et al. 2011, Reiter et al. 2007]. Aufgrund der hohen Dokumentationsbelastung wurde für das stationäre Verfahren ein Modell entwickelt, primär administrative Daten – Abrechnungsdaten – zu nutzen. Ein solches Vorgehen ist möglich, da eine standardisierte Abrechnung stationärer Fälle mittels des Datensatzes nach § 301 SGB V und eine standardisierte Dokumentation von Prozeduren- und Diagnosekodes gemäß der Deutschen Kodierrichtlinien erfolgt. Vergleichbar standardisierte und für die Zwecke der Qualitätssicherung
374
10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
relativ spezifische administrative Daten liegen für den Bereich des SGB XI nicht vor, so dass hier eine entsprechend aufwändige manuelle Dokumentation eingeführt werden müsste. Es erscheint empfehlenswert, für die Anforderung des SGB XI entsprechend adaptierte Konzepte in Modellversuchen zu erproben, bevor eine weitergehende Einführung konzipiert wird. Bundesweit verpflichtende und einheitliche Verfahren stellen besondere Anforderungen an die Praktikabilität und Validität der Indikatoren und des Erfassungskonzepts, für die die Erfahrungen aus Pilottests mit ausgewählten (und besonders motivierten) Teilnehmern, einer niedrigen Zahl eingeschlossener Fälle und dem fehlenden „Druck“ des Echtbetriebs (externe Qualitätskontrolle, ggf. mit Publikation von Ergebnissen) nur bedingt aussagekräftig sind.
10.11 Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen gemäß § 47a SGB XI Stephan Meseke 10.11.1 Einführung Die soziale Pflegeversicherung verzeichnete im Jahr 2012 nach der amtlichen Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit Leistungsausgaben in Höhe von rund 21,85 Milliarden Euro. Unter Berücksichtigung des demographischen Wandels in Deutschland werden sich diese Ausgaben in den kommenden Jahren weiter kontinuierlich erhöhen. Pflege ist damit zu einem ganz wesentlichen Teil der Gesundheitswirtschaft geworden. In immer kürzer werdenden Abständen bestimmen deshalb überregionale Berichte über Abrechnungsbetrug und Korruption auch die Schlagzeilen zum „Tatort Pflegeversicherung“3. Nach den Feststellungen des Zweiten Periodischen Sicherheitsberichts der Bundesregierung haben illegale Bereicherungen zum Nachteil der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung inzwischen nahezu den Charakter eines Systems (BT-Drs. 16/3930, S. 191, 211 f). Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) zum 01.01.2004 in den §§ 197a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), 47a SGB XI Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, dass die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen „Fehlverhalten im Gesundheitswesen“ nicht nur anlassbezogen, sondern regelmäßig und strukturiert und damit wirksamer verfolgen können. Die „Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheits-
3 Financial Times Deutschland vom 17.11.2011: Die Pflege-Connection; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.03.2012: Gepflegte Abzocke; Die Welt vom 03.06.2013: Pflege-Skandal weitet sich aus.
10.11 Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen
375
wesen“ stärken nach der Gesetzesbegründung „den effizienten Einsatz der Finanzmittel“ im Gesundheitswesen (BT-Drs. 15/1525, S. 99; S. 138 und S. 155). Die Vorschriften verpflichten nicht nur alle gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen, organisatorisch „verselbständigte Ermittlungs- und Prüfungsstellen“ zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen einzurichten. Die Ermittlungen und Prüfungen erstrecken sich auf den Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Organisation. Auch der Spitzenverband Bund der Kranken- und Pflegekassen (GKVSpitzenverband – GKV-SV) hat eine solche „organisatorische Einheit“ eingerichtet. Der gesetzlichen Vorgabe in § 47a Abs. 1 Satz 2 SGB XI entsprechend, bildet jede gesetzliche Kranken- und Pflegekasse stets eine gemeinsame Ermittlungs- und Prüfungsstelle. In der täglichen Praxis betreffen Sachverhalte häufig sowohl den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V) als auch den Bereich der sozialen Pflegeversicherung insgesamt (SGB XI). Der Gesetzeswortlaut fordert überdies keine Weisungsunabhängigkeit der Stellen. Deshalb spricht auch nichts dagegen, dass diese inhaltlich eigenverantwortlich arbeiten, aber dem Vorstand arbeits- und dienstrechtlich unterstellt bleiben. Denn schließlich ist der jeweilige Vorstand gemäß §§ 197a Abs. 5 SGB V, 47a SGB XI gegenüber dem Verwaltungsrat berichtspflichtig und für ordnungsgemäße Arbeit und Ergebnisse der jeweiligen Stelle verantwortlich.
10.11.2 Fehlverhalten im Gesundheitswesen als Rechtsbegriff Die Stellen haben gemäß §§ 197a Abs. 1 SGB V, 47a SGB XI allen Fällen und Sachverhalten nachzugehen, die auf „Unregelmäßigkeiten oder auf rechtswidrige oder zweckwidrige Nutzung von Finanzmitteln“ im Zusammenhang mit den Aufgaben der gesetzlichen Kranken- oder sozialen Pflegeversicherung hindeuten. Dabei ist völlig unerheblich, ob es sich um Fehlverhalten von Leistungserbringern, Versicherten, Arbeitgebern, Mitarbeitern einer gesetzlichen Kranken- und Pflegekasse oder des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) handelt. a) Der unscharfe Begriff „Unregelmäßigkeiten“ bei der Verwendung von Finanzmitteln ist nicht legaldefiniert. In der Literatur wird der Begriff teilweise eng ausgelegt, so dass nur vermögenswirksame „strafbare Handlungen“ erfasst werden sollen [Steinhilper 2010, Köhler 2009]. Für eine solche Auslegung sprechen jedenfalls die Entstehungsgeschichte bzw. der Wortlaut des § 197a Abs. 4 SGB V. In Betracht kommen dabei allerdings nicht nur die Korruptionsdelikte gemäß §§ 331ff. bzw. § 299 Strafgesetzbuch (StGB), sondern insbesondere die Vermögensstraftaten, namentlich Abrechnungsbetrug gemäß § 263 StGB und Untreue gemäß § 266 StGB. Doch Fehlverhalten im Gesundheitswesen lässt sich keinesfalls nur auf strafrechtsrelevante Fälle beschränken. Selbst wenn man den Begriff der Unregelmäßigkeiten nur im oben genannten Sinne auslegen würde, werden jedenfalls über die Alternative der „rechtswidrigen Nutzung von Finanzmitteln“ auch alle (nach dem
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10 Qualität in der ambulanten und stationären Pflege
geltenden Strafrecht straflosen) regelwidrigen Vermögensverfügungen zu Lasten der Finanzmittel im Gesundheitswesen erfasst. Dazu zählen einmal alle Verstöße gegen (sozial)gesetzliche Regelungen und Verbote, wie z.B. der erst kürzlich eingeführte § 128 SGB V. Darüber hinaus fallen auch alle Vertragsverstöße darunter, die in vielen Fällen entsprechende Vertragsstrafen nach sich ziehen können. Dagegen läuft die eigenständige Prüfung der „zweckwidrigen Nutzung von Finanzmitteln“ in der Praxis bislang weitgehend leer. Eine Zweckentfremdung von Finanzmitteln ist in der Regel immer auch rechtswidrig. b) Nach § 197a Abs. 2 SGB V, 47a SGB XI kann sich „jede Person“ mit Hinweisen an die Ermittlungs- und Prüfungsstellen wenden, also z.B. Pflegebedürftige oder deren Angehörige, Mitarbeiter von ambulanten Pflegediensten oder Pflegeheimen. Häufig entstammen die Hinweise aber auch einer Abrechnungsprüfung im Rahmen einer Qualitätsprüfung nach §§ 114ff. SGB XI durch den MDK. Die Stellen müssen externen, internen oder auch anonymen Hinweisen allerdings nur dann nachgehen, „wenn sie auf Grund der einzelnen Angaben oder der Gesamtumstände glaubhaft erscheinen“ und sofern diese „hinreichend substantiiert sind“. Daraus wird in der Literatur teilweise geschlossen, dass die Stellen ausschließlich dann tätig werden, wenn dort konkrete Hinweise auf Fehlverhalten eingehen. Sie seien lediglich „Anlaufstelle“ für Dritte. Nur eine reaktive Ermittlungs- und Prüfungstätigkeit sei vom Gesetzeswortlaut gedeckt [Steinhilper 2010, Köhler 2009]. Die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen verstehen Ihren gesetzlichen Auftrag demgegenüber ausdrücklich proaktiv. Ermittlungen und Prüfungen können selbstverständlich auch unabhängig von konkreten Hinweisen Dritter eingeleitet werden, z.B. aufgrund von Presse- oder Medienberichten. Auch die stichprobenartige oder sogar routinemäßige Prüfung der in der jeweiligen Organisation vorhandenen Abrechnungsdaten „von Amts wegen“ ist keinesfalls ausgeschlossen [Keller 2007, Schrodi 2011]. Die Stellen können ganz selbstverständlich jederzeit alle innerhalb ihrer jeweiligen Organisation vorhandenen personenbezogenen Daten auch zum Zwecke der Fehlverhaltensbekämpfung auswerten (lassen), § 67c Abs. 3, 67 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), § 35 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Die Ansicht, eine Kasse dürfe ihren eigenen Datenbestand nicht systematisch nach Auffälligkeiten in der Abrechnung durchsuchen, um auch dadurch Verdachtsmomente aufzuspüren, erscheint nicht nur praxisfern, sie widerspricht auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Wirtschaftskriminalität und Korruption im Gesundheitswesen stellen sich als klassische „Kontrolldelikte“ dar. Deshalb ist es mehr als konsequent, wenn die Krankenund Pflegekassen die gesetzliche Aufgabe der Fehlverhaltensbekämpfung in erster Linie als eine „Holschuld“ begreifen.
10.11 Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen
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10.11.3 Organisationsübergreifende Zusammenarbeit Die Stellen der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen arbeiten nicht nur untereinander zusammen, sondern zunehmend auch mit den nach Landesrecht bestimmten Trägern der Sozialhilfe, die für die Hilfe zur Pflege im Sinne des Siebten Kapitels des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII) zuständig sind. Die gesetzliche Zusammenarbeitsverpflichtung beinhaltet die anlassbezogene und mit zunehmender Tendenz auch institutionalisierte Übermittlung personenbezogener Daten. Im Ergebnis einer von den gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen seit langem eingeforderten gesetzlichen Klarstellung in §§ 197a Abs. 3a SGB V, 47a Abs. 1 SGB XI dürfen die Ermittlungs- und Prüfungsstellen seit dem 01.01.2012 endlich auch personenbezogene Daten, die von ihnen zur Erfüllung ihrer Aufgaben erhoben oder an sie weitergegeben oder übermittelt wurden, untereinander übermitteln, soweit dies für die Zwecke der Feststellung und Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen beim Empfänger erforderlich ist. Der Empfänger darf die personenbezogenen Daten natürlich auch nur zu diesem Zweck verarbeiten und nutzen. Durch die zulässige Zusammenführung der Abrechnungsdaten mehrerer Kranken- und Pflegekassen fällt auf, dass eine Pflegefachkraft eines ambulanten Pflegedienstes in vier Stunden insgesamt 200 Kilometer zurückgelegt und dabei 15 Pflegebedürftige betreut haben will. Bei einer normalen Abrechnungsprüfung jeder einzelnen Kasse wäre dieser Fehlverhaltensfall wohl niemals aufgedeckt worden. Erst der gezielte Abgleich der Abrechnungsdaten hat zur Aufdeckung geführt. Schon an diesem plastischen Beispiel wird deutlich, dass die Effektivität der Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen infolge der gesetzlichen Klarstellung maßgeblich gesteigert wurde. Im Ergebnis einer weiteren gesetzlichen Klarstellung, die erst zum 01.01.2013 mit einem neuen § 47a Abs. 2 SGB XI in Kraft getreten ist, dürfen die Stellen der Krankenund Pflegekassen nunmehr zusätzlich auch mit den nach Landesrecht bestimmten Trägern der Sozialhilfe personenbezogene Daten austauschen, soweit dies für die Feststellung und Bekämpfung von Fehlverhalten erforderlich ist. Die gesetzliche Klarstellung der Übermittlungsbefugnis von personenbezogenen Daten zwischen den Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen und dem nach Landesrecht bestimmten Träger der Sozialhilfe war vom GKVSpitzenverband und vom Bundesrat wiederholt eingefordert worden (BT-Drs. 17/9669, S. 59). Es bedurfte nicht nur geeigneter Regelungen, dass die zuständigen Sozialhilfeträger mit den Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen zusammenarbeiten und hierfür alle relevanten Daten austauschen können. Es war zugleich zwingend erforderlich, insoweit eine sichere Rechtsgrundlage zu schaffen. Auch die Träger der Sozialhilfe als Kostenträger für die Hilfe zur Pflege gemäß §§ 61ff. SGB XII sind zunehmend Sachverhalten ausgesetzt, die auf Unregelmäßigkeiten oder auf rechtswidrige Nutzung von Finanzmitteln im Zusammenhang mit ihrer Aufgabenerfüllung hindeuten. Aufgrund des ergänzenden Charakters der Hilfe zur
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Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII ergeben sich erhebliche Überschneidungen zwischen dem Aufgabenbereich der Pflegekassen und dem Aufgabenbereich der Träger der Sozialhilfe. Daher ist es sachgerecht, die nach Landesrecht bestimmten Träger der Sozialhilfe, die für die Hilfe zur Pflege zuständig sind, in die gemäß § 47a Abs. 1 Satz 1 SGB XI neu postulierte Zusammenarbeit einzubeziehen. Die Neuregelung des § 47a Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz SGB XI sollte aber noch durch geeignete Regelungen im SGB XII ergänzt werden, um eine effektive Zusammenarbeit zwischen Pflegekassen und Sozialhilfeträger zu gewährleisten. Damit die Zusammenarbeitsverpflichtung in der Praxis wirksam funktionieren kann, wäre es hilfreich, wenn dafür bei dem nach Landesrecht bestimmten Träger der Sozialhilfe im SGB XII die organisatorischen Voraussetzungen und förmlichen Zuständigkeiten geschaffen würden. Erst dann würde für die Pflegekassen klar, wer die „Befugten“ im Sinne des § 47a Abs. 2 Satz 6 SGB XI sein sollen. Für eine effektive Zusammenarbeit sollten schließlich auch bei den nach Landesrecht bestimmten Trägern der Sozialhilfe „organisatorische Einheiten“ eingerichtet werden, die den bereits bestehenden Stellen gemäß §§ 197a SGB V, 47a SGB XI vergleichbar sind. Die beschriebenen gesetzlichen Klarstellungen der Datenübermittlungsbefugnisse werden die Effektivität der Fehlverhaltsbekämpfung in der Pflegeversicherung nachhaltig verbessern. Sie beenden nicht nur jahrelange Rechtsunsicherheiten sowohl in der kassenartenübergreifenden Zusammenarbeit als auch in der Zusammenarbeit zwischen den Pflegekassen und dem Sozialhilfeträger. Erhebliche datenschutzrechtliche Unsicherheiten der Sozialhilfeträger bestanden in der Vergangenheit ganz offenkundig selbst im Falle von Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaften [Welke 2010].
10.11.4 Pflicht zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft Gemäß § 197a Abs. 4 SGB V, 47a SGB XI „sollen“ die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen die Staatsanwaltschaft unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern entsprechend § 121 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), unterrichten, wenn die Prüfung ergibt, dass ein Anfangsverdacht auf strafbare Handlungen mit nicht nur geringfügiger Bedeutung für die gesetzliche Kranken- und sozialen Pflegeversicherung bestehen könnte. Der Anfangsverdacht wird in der Praxis typischerweise in Bezug auf Vermögensstraftaten, wie Abrechnungsbetrug gemäß § 263 StGB, Untreue gemäß § 266 StGB sowie in Bezug auf Korruptionsdelikte gemäß §§ 331ff. StGB bzw. § 299 StGB bestehen. Damit gehen oft auch typische Begleitdelikte einher, wie z.B. Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB. Die Gesetzesbegründung stellt dazu klar: „Die Unterrichtung der Staatsanwaltschaft soll die Selbstreinigung innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung fördern. (…) Fälle von geringfügiger Bedeutung für die gesetzliche Krankenversicherung (Bagatellfälle) sind nicht mitteilungspflichtig, auch damit nicht ein
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allgemeines Klima des Misstrauens insbesondere in dem komplexen Verhandlungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung erzeugt wird“ (BT-Drs. 15/1525, S. 99; S. 138 und S. 155). a) Die Stellen prüfen deshalb stets zuerst, ob ein „Bagatellfall“ vorliegt. Dabei geht es um die Frage, ob überhaupt strafrechtliche Ermittlungen auf den Weg gebracht werden sollen. Von den Kranken- und Pflegekassen ist aber nur tatbestandliches Verhalten zu prüfen. Deshalb kann die Grenze zur Geringfügigkeit hier nur analog der zu § 248a StGB entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze gezogen werden, d.h. zwischen 30,00 und 50,00 Euro. Diese Wertgrenze wird aus der Ermittlungsperspektive einer großen Kranken- und Pflegekasse schnell erreicht sein. Aus der Ermittlungsperspektive einer kleineren Kasse stellt sich derselbe Sachverhalt aber möglicherweise als Fall mit nur geringfügiger Bedeutung dar. Da ein Leistungserbringer im Gesundheitswesen aber typischerweise mit mehreren Kassen abrechnet, kann sich ein Sachverhalt ganz anders darstellen, wenn mehrere Kassen ihre Abrechnungsdaten kassenartenübergreifend zusammenführen. Echte Bagatellfälle werden dann eher selten sein. b) Liegt kein Bagatellfall vor, prüfen die Stellen weiter, ob ein Anfangsverdacht auf strafbare Handlungen „bestehen könnte“. Diese Verdachtsvariante orientiert sich eng am Strafprozessrecht entsprechend § 152 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO), d.h., es müssen „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen“, die nach kriminalistischer Erfahrung die Begehung einer verfolgbaren Straftat möglich erscheinen lassen. Die Prüfung, ob die tatsächlichen Anhaltspunkte wahr sind, ist erst das Ziel des einzuleitenden Ermittlungsverfahrens und deshalb keine Voraussetzung für das Tätigwerden. Die im Schrifttum bislang überwiegend vertretene Meinung neigt dazu, den Körperschaften hier einen Ermessensspielraum einzuräumen [Steinhilper 2010]. Hat die Vorprüfung jedoch ergeben, dass kein „Bagatellfall“ vorliegt und ein Anfangsverdacht bestehen könnte, muss die Staatsanwaltschaft unterrichtet werden [Köhler 2009, Mühlhausen 2010]. Eine andere Auslegung lässt auch die Gesetzesbegründung nicht zu: „Unterbleibt eine solche Unterrichtung, kann eine Strafbarkeit nach § 258 StGB (Strafvereitelung) in Betracht kommen“ (BT-Drs. 15/1525, S. 99; S. 138 und S. 155). Die Unterrichtung der Staatsanwaltschaft muss dabei nicht notwendig eine förmliche Strafanzeige sein. In der Praxis erstellen die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen eine strukturierte Verdachtsmitteilung. c) Zu den typischen Fallgruppen des Abrechnungsbetrugs im Gesundheitswesen gehört ohne Zweifel die „Abrechnung von nicht (vollständig) erbrachten Leistungen“ [vgl. im Einzelnen Badle 2008]. Spezifisch für die Pflegeversicherung ist ferner die Fallvariante der „Abrechnung von durch nicht (ausreichend) qualifizierte Pflegekräfte erbrachten Leistungen“, vor allem im Rahmen der Verträge über die Versorgung mit häuslicher Krankenpflege (§ 132a Abs. 2 SGB V). Nach der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen kommt in diesem Zusammenhang die streng-formale Betrachtungsweise des Sozialversicherungsrechts zur Anwendung. Eine Leistung,
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selbst wenn sie tatsächlich erbracht wurde, ist sozialrechtlich nicht erstattungsfähig und damit zugleich als strafrechtlicher Vermögensschaden zu qualifizieren, wenn die Leistung nicht in allen Bereichen den gesetzlichen oder vertraglichen Bestimmungen genügt [vgl. im Einzelnen Welke 2011, a. A. Wischnewski/Jahn 2011].
10.11.5 Bewertung und Ausblick Die Stellen der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen stellen sich inzwischen als eine Infrastruktur dar, mit der es in zunehmendem Maße gelingt, Fehlverhalten im Gesundheitswesen nicht nur erfolgreich aufzudecken, sondern auch effektiv zu verfolgen und nachhaltig zu bekämpfen. Die Stellen haben dabei zunehmend den Anspruch, auch kassenartenübergreifend zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit gelingt erfahrungsgemäß immer dann am besten, wenn die Verdachtsmomente institutionalisiert zusammengeführt und gebündelt werden und wenn nach erfolgter Unterrichtung der Staatsanwaltschaft eine federführende Kranken- und Pflegekasse als koordinierender Ansprechpartner für die Ermittlungsbehörden und Gerichte zur Verfügung steht. Mit einer deutlich größeren Anzahl besonders qualifizierter Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften und Ermittlungsgruppen bei der Kriminalpolizei könnte Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen zukünftig aber noch wirksamer begegnet werden [Meier/Homann 2010]. Bei den Ermittlungsverfahren im Bereich des Gesundheitswesens handelt es sich im Allgemeinen um Wirtschaftsstrafverfahren, aber im Besonderen um eine absolute Spezialmaterie. Das zugrundeliegende Sozialversicherungsrecht ist komplex, da nicht nur die gesetzlichen, sondern auch die vertraglichen Vorgaben zu den Leistungs- und Abrechnungsbeziehungen im Gesundheitswesen zu beachten sind. Das Gesundheitswesen als Tatort ist in seiner Entwicklung außerdem extrem dynamisch, da sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen bekanntlich häufig ändern. Darauf müssen die Strafverfolgungsbehörden aber auch reagieren können. Voraussetzung ist deshalb eine zeitliche und personale Kontinuität in der Beschäftigung mit der sozialversicherungsrechtlichen Materie. Eine effektive und effiziente Sachbearbeitung wird dort erfolgen, wo sich Staatsanwälte über einen längeren Zeitraum mit dieser Spezialmaterie beschäftigen und die entsprechende Expertise aufbauen können. Viele Fälle von Fehlverhalten im Gesundheitswesen sind in der Vergangenheit erst durch interne Informationen couragierter Hinweisgeber aufgedeckt worden. Gegenwärtig gibt es aber keinen gesetzlich ausdrücklich verankerten Schutz von Hinweisgebern, die sich zur Beseitigung von gesetzes- oder vertragswidrigen innerbetrieblichen Zuständen durch Hinweise oder sonstige unterstützende Handlungen an die Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen gemäß §§ 197a Abs. 2 SGB V, 47a SGB XI oder sogar direkt an die Strafverfolgungsbehörden wenden.
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Die bestehende gesetzliche Regelungslücke führt zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit für Hinweisgeber. Ein klarer gesetzlicher Handlungsrahmen, unter welchen Umständen ein Hinweisgeber zunächst auf eine innerbetriebliche Abhilfe hinzuwirken hat und unter welchen Voraussetzungen bereits eine außerbetriebliche Anzeige von Missständen sachgerecht ist, ohne dass Hinweisgeber dadurch Sanktionen oder sonstigen Nachteilen ausgesetzt sein dürfen, existiert bisher nicht. Es ist daher für Hinweisgeber oft nicht erkennbar, ob eine Weitergabe von Hinweisen auf innerbetriebliche Missstände zugleich eine arbeitsrechtliche Pflichtverletzung darstellt. Viele Hinweise erfolgen daher nur anonym und können mangels konkreter Nachfragemöglichkeiten sehr häufig nicht gezielt weiterverfolgt werden. Anonyme Hinweisgeber stehen für ein mögliches Ermittlungsverfahren auch nicht als Zeugen zur Verfügung. Zur Herstellung des fehlenden gesetzlichen Handlungsrahmens sind deshalb Gesetzesänderungen erforderlich. Insbesondere muss für z.B. in einer Pflegereinrichtung tätige Arbeitnehmer deutlich werden, dass diese auch das Recht haben, sich repressionslos bei ihrem Arbeitgeber über gesetzes- oder vertragswidrige Zustände zu beschweren und bei Nichtabhilfe durch den Arbeitgeber eine außerbetriebliche Stelle zu informieren. Darüber hinaus bedarf es eines klaren gesetzlichen Regelungsrahmens für die Fälle, in denen eine vorherige innerbetriebliche Abhilfebeschwerde nicht mehr zumutbar erscheint. Unzumutbar ist eine innerbetriebliche Abhilfebeschwerde jedenfalls dann, wenn im Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit eine Straftat begangen wurde und zu befürchten ist, dass die innerbetriebliche Beschwerde deren Aufdeckung und Ahndung vereiteln kann oder aber wenn eine Straftat geplant ist, durch deren Nichtanzeige sich der Arbeitnehmer selbst der Strafverfolgung aussetzen würde.
11 Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung 11.1 Beratung der Pflegekassen Friedrich Schwegler Neben den Pflegebegutachtungen nach § 18 SGB XI und den Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI ist die Beratung des GKV-Spitzenverbandes als Spitzenverband Bund der Pflegekassen, der Landesverbände der Pflegekassen sowie einzelner Pflegekassen das dritte Hauptaufgabengebiet des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Für die Beratung des GKV-Spitzenverbandes ist der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) in Zusammenarbeit mit der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2) zuständig. Diese setzt sich aus Mitgliedern der Medizinischen Dienste der Länder und des MDS zusammen. Auf dieser Ebene sind die Beratungen in Grundsatzfragen angesiedelt, die in Kapitel 11.1.1 näher dargestellt werden. Die Beratung der einzelnen Landesverbände der Pflegekassen erfolgt durch den jeweiligen MDK im Bundesland. In diesen Bereich fallen vor allem die Beratungen zur Planung und Weiterentwicklung der Versorgungsstruktur sowie die Beratung im Rahmen der bestehenden Versorgungsstruktur. Dies wird in den Kapiteln 11.1.2 und 11.1.3, die Beratung der Pflegeeinrichtungen durch den MDK im Rahmen des § 112 SGB XI im Kapitel 11.2 dargestellt.
11.1.1 Beratung der Pflegekassen in Grundsatzfragen Im Bereich der Einzelfallbegutachtung nach § 18 SGB XI haben seit Inkrafttreten der Pflegeversicherung am 01.01.1995 medizinische Arbeitsgruppen aus Mitgliedern der MDK und des MDS (sogenannte M-Gruppen) als Beratungsauftrag der bis 30.06.2008 fungierenden Spitzenverbände der Pflegekassen Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches erarbeitet. Diese Begutachtungs-Richtlinien (BRi) sind als „Ausführungsbestimmungen“ des Gesetzestextes anzusehen. Nach Billigung der jeweiligen Fassung der „Richtlinien“ durch den Spitzenverband Bund der Pflegekassen (vormals Spitzenverbände der Pflegekassen) und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) erhalten sie Richtliniencharakter, dienen als Arbeitsanleitung für die Mitarbeiter der Medizinischen Dienste zur Durchführung der Einzelfallbegutachtung und sichern die Einheitlichkeit dieser Begutachtungen in Deutschland. Die Begutachtungs-Richtlinien wurden den gesetzlichen Vorgaben folgend regelmäßig aktualisiert und weiterentwickelt. Seit dem Januar 2004 ist die Medizinische
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Arbeitsgruppe M 2 abgelöst worden durch die Sozialmedizinische Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2). Die Etablierung der SEG 2 erfolgte auf Beschluss der Konferenz der Geschäftsführer der Medizinischen Dienste im Oktober 2003. Sie diente einer Straffung der Beratungstätigkeit der MDK durch eine hauptamtliche Leitung und durch Festlegung fester Zeitkontingente für die Mitarbeiter der SEG 2. Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) erfolgte im Jahr 2008 eine grundlegende Überarbeitung der Begutachtungs-Richtlinien zur Umsetzung der damals neuen gesetzlichen Bestimmungen. Hierbei ging es vor allem um die neuen Regelungen zur Beurteilung der Leistungen für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (s. Kap. 6.7) und der verstärkten Empfehlung von Rehabilitationsmöglichkeiten für Pflegebedürftige (s. Kap. 7). Neben diesen beiden Hauptpunkten erfolgten in kleinerem Umfang Klarstellungen einzelner Richtlinienpunkte. Die Gesamtüberarbeitung der Begutachtungs-Richtlinien wurde im Dezember 2008 durch die SEG 2 abgeschlossen. Nach Genehmigung durch den seit 01.07.2008 fungierenden GKV-Spitzenverband als Spitzenverband Bund der Pflegekassen und das BMG traten die Begutachtungs-Richtlinien in der Fassung vom 08.06.2009 zum 13.07.2009 in Kraft. Durch das am 30.10.2012 in Kraft getretene Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) wurde eine erneute Überarbeitung der Begutachtungs-Richtlinien erforderlich [BRi 2013]. Vor allem der Punkt „Stärkung des Grundsatzes Rehabilitation vor Pflege“ bedingte umfangreiche Änderungen der Richtlinien und des Formulargutachtens (s. Kap. 7 sowie Anlage). Schwerpunkte des PNG sind folgende Punkte: – weitere Verbesserung der Versorgung Demenzkranker – Flexibilisierung der Leistungen – mehr Service, Beratung, Transparenz – Stärkung des Grundsatzes Rehabilitation vor Pflege – Förderung neuer Wohnformen Zur Qualitätssicherung der Einzelfallbegutachtung wurde eine eigenständige „Richtlinie der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Qualitätssicherung der Begutachtung und Beratung für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung“ erarbeitet, die am 01.01.2005 in Kraft getreten ist. Die auf Grundlage dieser Richtlinie fortentwickelte Prüfanleitung für die MDK-internen und MDK-übergreifenden Prüfungen wird kontinuierlich weiterentwickelt und an die Begutachtungspraxis angepasst (Einzelheiten s. Kap. 6.11). Eine gewichtige Rolle im Rahmen der Beratung der Spitzenverbände der Pflegekassen spielte die Weiterentwicklung des im SGB XI definierten Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Es hatte sich im Laufe der Jahre gezeigt, dass dieser Pflegebedürftigkeitsbegriff zu somatisch geprägt war und die Folgen der in der Bevölkerung immer häufiger auftretenden Demenzerkrankungen bei den Begutachtungen nicht adäquat erfasst werden konnten. Es wurde deshalb bereits im Jahr 2000 eine MDK-Arbeitsgruppe und später ein Projektteam der SEG 2 zur Erarbeitung eines neuen Pflegebedürftig-
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keitsbegriffes eingesetzt. Fußend auf diesen Vorarbeiten wurde ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff erarbeitet und inzwischen erprobt (Einzelheiten s. Kap. 9). Die in der Legislaturperiode 2009 – 2013 erwartete gesetzliche Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes erfolgte nicht. Seit dem Frühjahr 2012 sind vom BMG wieder Arbeitsgruppen eingesetzt worden, um eine nochmalige Überarbeitung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes durchzuführen und Vorschläge zu seiner Konkretisierung und Umsetzung in der Praxis zu erarbeiten (s. Kap. 9). Im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz finden sich jedoch bereits Übergangsbestimmungen in den §§ 123 und 124, die auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff Bezug nehmen. Auch im Bereich der Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen nach §§ 112/114 SGB XI wurden von MDK-Arbeitsgruppen und Projektteams der SEG 2 Prüfanleitungen zur Durchführung dieser Prüfungen nach Beauftragung durch die Spitzenverbände der Pflegekassen erarbeitet. Auch diese Prüfanleitungen sind als „Ausführungsbestimmungen“ für die praktische Arbeit der MDK anzusehen. Sie wurden kontinuierlich den gesetzlichen Anforderungen angepasst. Die letzte Überarbeitung der Qualitätsprüfungsrichtlinien (QPR) erfolgte im Rahmen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes. Die überarbeiteten QPR mit den Anlagen Erhebungsbogen ambulant und stationär traten am 30.06.2009 in Kraft. Sie waren zu diesem Zeitpunkt vom BMG genehmigt worden und erhielten dadurch verbindlichen Richtliniencharakter. Auch in der Folgezeit wurden Projektteams eingesetzt, um Verbesserungen bei der Durchführung der Qualitätsprüfungen nach §§ 112, 114 zu erproben, z.B. wurde eine große Studie zum Umfang der erforderlichen Stichprobengröße bei den Qualitätsprüfungen durchgeführt (Einzelheiten s. Kap. 10). Ein weiteres Projektteam befasste sich mit der Standardisierung der Qualitätssicherungsmaßnahmen bei der Durchführung der Qualitätsprüfungen durch die MDK (Einzelheiten s. Kap. 10.5). Im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz wird in § 113 Abs. 1 Punkt 4 SGB XI die Entwicklung eines indikatorengestützten Verfahrens zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität im stationären Bereich gefordert, das auf der Grundlage einer strukturierten Datenerhebung im Rahmen des internen Qualitätsmanagements eine Qualitätsberichterstattung und eine externe Qualitätsprüfung ermöglicht. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches befasst sich ein Projektteam der SEG 2 mit der Entwicklung von Vorschlägen zur Einführung eines indikatorengestützten Verfahrens. Mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes am 01.07.2008 wurden im Bereich der Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI vom Gesetzgeber die Kostenträger (Pflegekassen) und die Spitzenverbände der Anbieter von Pflegeleistungen verpflichtet, Vereinbarungen für die Qualitätssicherung der Pflege in Deutschland auszuhandeln. Hierzu gehören: – Vereinbarungen über Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität (§ 113 SGB XI) – Erarbeitung von Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege (§ 113a SGB XI)
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– Vereinbarung über die Veröffentlichung von Ergebnissen der Qualitätsprüfungen (§ 115 SGB XI) Die Verhandlungen über die drei genannten Rahmenvereinbarungen für die Qualitätssicherung der Pflege werden auf Seiten der Pflegekassen vom GKV-Spitzenverband und auf Seiten der Leistungsanbieter von Vertretern der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtsverbände, der privaten Leistungsanbieterverbände, Vertretern der kommunalen Spitzenverbände und der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger geführt. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) nimmt beratend an diesen Verhandlungen teil. Die Vereinbarungen über die Veröffentlichung von Ergebnissen der Qualitätsprüfungen in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen wurden am 17.12.2008 für dem stationären Bereich (PTVS) und am 29.01.2009 für den ambulanten Bereich (PTVA) abgeschlossen (Einzelheiten s. Kap. 10.4). Die Verhandlungen der Vertragspartner nach § 113 SGB XI über Vereinbarungen von Maßstäben und Grundsätzen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität wurden am 27.05.2011 abgeschlossen mit folgenden Vereinbarungen: „Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der vollstationären bzw. der ambulanten Pflege“ (Einzelheiten s. Kap. 10). Zur Erarbeitung von weiteren Expertenstandards ist eine Koordinierungsstelle beim GKV-Spitzenverband eingerichtet worden, die ersten Ausschreibungen für die Themen der neu zu erstellenden Expertenstandards sind erfolgt (Einzelheiten s. Kap. 10.9). Die Medizinischen Dienste der einzelnen Bundesländer führen nach § 114 SGB XI die Qualitätsprüfungen in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen in ihrem Zuständigkeitsbereich durch. Die Ergebnisse dieser Qualitätsprüfungen werden nach § 114a Abs. 6 SGB XI beim MDS zusammengeführt, der aus diesen statistischen Angaben einen Bericht für die Pflegekassen, das BMG und die zuständigen Landesministerien erstellt. Der 3. Bericht des MDS nach § 114a Abs. 6 SGB XI zur „Qualität in der ambulanten und stationären Pflege“ ist im April 2012 erschienen. Zur Sicherung der Qualität in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen werden von der SEG 2 Grundsatzstellungnahmen zu speziellen Pflegeproblemen erarbeitet. Zurzeit liegen folgende Grundsatzstellungnahmen vor: – Grundsatzstellungnahme Dekubitusprophylaxe und Therapie. Essen 2001 – Grundsatzstellungnahme Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen. 2. Auflage. Essen 2013 – Grundsatzstellungnahme Pflegeprozess und Dokumentation. Essen 2005 – Grundsatzstellungnahme Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz in stationären Einrichtungen. Essen 2009
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11.1.2 Beratung der Pflegekassen zur Planung und Weiterentwicklung der Versorgungsstruktur Bis zum Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde die Versorgung alter pflegebedürftiger Menschen als Aufgabe der Familie angesehen. Nur in Ausnahmefällen erfolgte die Unterbringung Pflegebedürftiger in Alten- und Pflegeheimen, die entsprechend ihrer Ausnahmefunktion den Charakter von „Verwahranstalten“ hatten [Lohmann 1970]. Bedingt durch die in dieser Zeit einsetzende Modernisierung der deutschen Gesellschaft wurde in zunehmendem Maße die Versorgung Pflegebedürftiger nicht mehr als alleinige Aufgabe der Familie angesehen, sondern als gesamtgesellschaftliche Verpflichtung. Seit Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erfolgte in zunehmendem Umfang die Gründung von Alten- und Pflegeheimen. Ihr Charakter wandelte sich in den sechziger und siebziger Jahren zu „Pflegebedürftiger Patient wird behandelt“, danach in den achtziger und neunziger Jahren zu „Pflegebedürftiger Bewohner wird aktiviert“ und seit dem Ende der neunziger Jahre zu „Alte Menschen erleben Geborgenheit und Normalität“. Seit der Einführung der Pflegeversicherung am 01.01.1995 kam es zu einer deutlichen Umstrukturierung der Pflegesettings in Deutschland. Es kam zur Gründung zahlreicher ambulanter Pflegedienste, um einen möglichst langen Verbleib der Pflegebedürftigen in ihrer häuslichen Umgebung zu ermöglichen und um einen sofortigen Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung bei Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Die ambulanten Pflegesettings wurden unterstützt durch Entlastungsangebote für pflegende Angehörige (finanzielle Leistungen der Verhinderungspflege) und Möglichkeiten der Kurzzeitpflege bei befristeter Zunahme des Hilfebedarfs (akute Erkrankungen) oder unklarer Entwicklung des Hilfebedarfs. Eine weitere Ergänzung der ambulanten Pflegesettings erfolgte durch die Etablierung von Tagespflegeeinrichtungen. Seit der Einführung der Pflegeversicherung ist somit in Deutschland ein gut strukturiertes Angebot an ambulanten Pflegediensten und stationären Pflegeeinrichtungen entstanden. Eine weitere Differenzierung des Betreuungsangebotes und damit der Weiterentwicklung der Versorgungsstruktur ist aus folgenden Gründen wünschenswert: – Viele Versicherte sehen in der Versorgung in einer stationären Pflegeeinrichtung eine starke Einschränkung ihrer Selbstbestimmung und suchen deshalb Alternativen in Form von Betreutem Wohnen oder quartiernahen Hausgemeinschaften. Beide Formen der Versorgung bieten ein höheres Maß an Autonomie als stationäre Pflegeeinrichtungen, wobei jedoch Hilfe durch Pflegepersonen jederzeit angefordert und in Anspruch genommen werden kann. Für beide Pflegesettings gibt es die unterschiedlichsten Organisationsmöglichkeiten. – Die zunehmende Anzahl von Pflegebedürftigen mit Demenz erfordert eine weitere Ausdifferenzierung des Betreuungsangebotes, um den speziellen Anforderungen dieser Gruppe gerecht zu werden, sei es in stationären oder ambulanten
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11 Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung
Pflegesettings. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang in erster Linie die Betreuung dieser Patientengruppe in ambulanten oder stationären Hausgemeinschaften in den unterschiedlichsten Organisationsformen. In diesem Zusammenhang ist weiter zu nennen der Neubau von Einrichtungen oder die Anpassung bereits bestehender stationärer Einrichtungen durch Umbauten, die dem gesteigerten Bewegungsdrang eines Teils der demenzkranken Pflegebedürftigen Rechnung tragen (z.B. überdachte Räumlichkeiten mit der Möglichkeit zur uneingeschränkten Mobilität, geschützte Gartenbereiche) bzw. den geänderten Lebensumständen eines Teiles der demenzkranken Pflegebedürftigen Rechnung tragen (z.B. die Einrichtung von Wohnküchenbereichen, großen Aufenthaltsbereichen, Nachtcafés). Zu nennen sind weiter die Erprobung und Einführung neuer Betreuungsansätze für demenzkranke Pflegebedürftige durch Eingehen auf die besonderen Essgewohnheiten bzw. die Nahrungsverweigerung eines Teils der demenzkranken Pflegebedürftigen (Verlassen von festen Essenszeiten, Verzicht auf konventionelle Tischmanieren, Einsatz von neuen Speiseversorgungen wie „Fingerfood“) und die Berücksichtigung der besonderen terminalen Lebensumstände eines Teils der Demenzkranken durch Gruppenbetreuung (Konzept der Pflegeoase). Nicht zuletzt sind zu nennen die niedrigschwelligen Angebote zur Betreuung ambulant versorgter Demenzkranker. Durch die Erhöhung der Leistungen für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz seit Inkrafttreten des PflegeWeiterentwicklungsgesetzes ist es zu einem Ausbau dieser Angebote gekommen. Durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz kommt es zu einer weiteren Erhöhung der Leistungen für Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, sodass mit einem weiteren Ausbau dieser Angebote zu rechnen ist [DAlzG 2001, Held/ Ermini-Fünfschilling 2006, Schäufele et al. 2008]. Junge Behinderte, d.h. Behinderte mit angeborenen körperlichen und/oder geistigen Behinderungen, mit psychiatrischen Erkrankungen (Psychosen etc.) und neurologischen Erkrankungen (Multiple Sklerose etc.) werden überwiegend in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe betreut, haben mit zunehmendem Alter jedoch einen erhöhten und spezifischen Pflegebedarf, der in diesen Einrichtungen bzw. in allgemeinen Pflegeeinrichtungen nur unzureichend abgedeckt werden kann. Hier ist die Frage, ob die pflegerische Betreuung in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe ausgebaut, neue Betreuungseinrichtungen in Form von Spezialabteilungen in bestehenden Altersheimen oder völlig eigenständige Pflegeinrichtungen für diesen Personenkreis geschaffen werden sollen [KDA 2008]. Pflegebedürftige im Wachkoma nach schweren Schädel-Hirn-Verletzungen benötigen eine spezialisierte Versorgung in Spezialabteilungen. Bei instabil beatmungspflichtigen Pflegebedürftigen sind wegen der hohen technischen Anforderungen der Versorgung spezialisierte Einrichtungen erforderlich, sei es in stationären oder ambulanten Pflegesettings. Stabil beatmungspflichtige Pflegebedürftige können auch in nicht spezialisierten Pflegeeinrich-
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tungen versorgt werden, es sind dann jedoch spezielle personelle Anforderungen von diesen Einrichtungen zu erfüllen. Zur Erweiterung und Verbesserung der Versorgungsstruktur der oben genannten Gruppen von Pflegebedürftigen werden von Leistungsanbietern neue Konzepte vorgelegt, die umgesetzt werden sollen im Rahmen ambulanter Pflegedienste, in neuen stationären Pflegeeinrichtungen oder in Spezialabteilungen bestehender Einrichtungen. Die Beratungstätigkeit der Medizinischen Dienste besteht in einer gründlichen Prüfung der vorgelegten Konzepte, gegebenenfalls in der Ausarbeitung von Vorschlägen zu deren Verbesserung und in der Begleitung der Verhandlungen der Leistungsanbieter mit den Landesverbänden der Pflegekassen bis zum Abschluss eines Versorgungsvertrages. Es müssen unter anderem folgende Fragestellungen beurteilt werden: – Enthält die Konzeption tatsächlich neue Ansätze? – Welches Fachpersonal ist für die geplante Neukonzeption erforderlich? – Wie viel Personal für die Verwirklichung der Neukonzeption erforderlich?
11.1.3 Beratung der Pflegekassen im Rahmen der bestehenden Versorgungsstruktur Bei medizinisch-pflegefachlichen Fragestellungen im Rahmen der Versorgung von Pflegebedürftigen durch Pflegedienste oder in stationären Pflegeeinrichtungen von grundsätzlicher Bedeutung beraten die Medizinischen Dienste die Landesverbände der Pflegekassen oder einzelne Pflegekassen durch Erstellung von Stellungnahmen durch die SEG 2. Es liegen unter anderen Stellungnahmen zu folgenden Themen vor: – Stellungnahmen SEG 2 „Verbandwechsel bei suprapubischem Blasenkatheter“ – Stellungnahmen SEG 2 „PEG – Sondenversorgung im Rahmen der häuslichen Krankenpflege“ – Stellungnahmen SEG 2 „An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege“ – Stellungnahmen SEG 2 „Bewegungsübungen als Leistung der häuslichen Krankenpflege“ – Stellungnahme SEG 2 „Abgrenzung von Intensivpflegepatienten in der Häuslichkeit“ – Stellungnahme SEG 2 „Dekubitusbehandlung und Zeitaufwand“ – Stellungnahme SEG 2 „Häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB V in stationären Pflegeeinrichtungen“ – Stellungnahme SEG 2 „Rahmenkonzept für Einrichtungen zur stationären Versorgung von langzeitbeatmeten Kindern und Jugendlichen“ – Grundsatzstellungnahme SEG 2 „Bewegungsübungen als Leistungen der häuslichen Krankenpflege“
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11 Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung
11.2 Beratung von Pflegeeinrichtungen Friedrich Schwegler und Karlheinz Großgarten Die Pflegeeinrichtungen sind nach den Vorgaben des § 112 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) für die Qualität der Leistungen in ihren Einrichtungen verantwortlich. Dazu gehört auch die Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität. Die Pflegeeinrichtungen sind verpflichtet, die Qualitätssicherung und ihr Qualitätsmanagement (QM) nach den Vorgaben der „Maßstäbe und Grundsätze“ (§ 113 SGB XI) durchzuführen. Neben dieser Aufgabe zur internen Qualitätssicherung hat der Gesetzgeber die Pflegeeinrichtungen verpflichtet, bei Qualitätsprüfungen (§ 114 SGB XI) im Sinne einer externen Qualitätssicherung mitzuwirken. Diese Prüfungen werden durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und den Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. (PKV-Prüfdienst) durchgeführt. Ihre Funktion kann wie folgt zusammengefasst werden: 1. Externe Überprüfung eines einrichtungsinternen Qualitätssicherungssystems 2. Unterstützung der Einrichtungen bei der Weiterentwicklung der Pflegequalität 3. Überprüfung der Qualität der erbrachten Pflegeleistungen 4. Sicherstellung und Fortentwicklung eines Pflegestandards für die Pflegebedürftigen Der Sinn der externen Qualitätssicherung durch den MDK kann sich nicht auf die Durchführung der Qualitätsprüfung beschränken, sondern schließt nach Darstellung des Status quo auch die Beratung der Einrichtungen zur Verbesserung der Qualität ein. Die Beratungspflicht des MDK ist in § 112 Abs. 3 SGB XI geregelt. Dieser Paragraph hat folgenden Wortlaut: „Der MDK und der Prüfdienst der Privaten Krankenversicherung beraten die Pflegeeinrichtungen in Fragen der Qualitätssicherung mit dem Ziel, Qualitätsmängeln rechtzeitig vorzubeugen und die Eigenverantwortlichkeit der Pflegeeinrichtungen und ihrer Träger für die Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität zu stärken.“ Die Qualitätsprüfungen werden mit einem beratungsorientierten Ansatz durchgeführt. Bereits im Rahmen der Qualitätsprüfungen erfolgen sogenannte Impulsberatungen der Einrichtungen. Nach den Vorgaben des § 112 Abs. 3 SGB XI können Einrichtungen bei komplexen Fragestellungen auch Beratungen nach Durchführung von Qualitätsprüfungen oder unabhängig von Qualitätsprüfungen beim MDK, beim PKV-Prüfdienst oder bei unabhängigen Sachverständigen bzw. Prüfinstitutionen abrufen. Nach den Maßstäben und Grundsätzen für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der ambulanten und stationären Pflege dürfen die unabhängigen Sachverständigen bzw. die von den Prüfinstitutionen eingesetzten Prüfer in den letzten zwei Jahren vor Durchführung der Prüfung bei der Pflegeeinrichtung oder ihrer Trägerorganisation
11.2 Beratung von Pflegeeinrichtungen
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nicht beschäftigt gewesen sein und dort keine Beratung sowie internen Audits durchgeführt haben.
Impulsberatung Die so genannte Impulsberatung ist ein wichtiges Handlungsfeld der pflegefachlichen Gutachter und ergibt sich im Prüfgeschehen überall dort, wo es der Anlass, z.B. bei pflegerischer Unterversorgung, sofort gebietet. Impulsberatung entsteht also ad hoc aus dem Prüfgeschehen heraus. Ausgangspunkt typischer Beratungssituationen sind z.B. erkennbare Mängel in der Krankenbeobachtung mit unterbliebenen notwendigen individuellen Pflegemaßnahmen wie Prophylaxen oder die Symptomkontrolle mit gezielter Zusammenarbeit mit Ärzten und Therapeuten. Die zeitlich eng begrenzte Impulsberatung hat fachlich informativen Charakter. Es werden vorausschauend Informationen weitergegeben und Alternativen aufgezeigt, um den z.B. bei der Erhebung der Ergebnisqualität ggf. festgestellten potentiellen Risiken zu begegnen oder sofort notwendige pflegerische Interventionen einzuleiten.
Qualitätsentwicklungsberatung Aufgrund des Umfangs des Beratungsbedarfs und/oder der Komplexität der Sachverhalte ist häufig eine Impulsberatung im Zusammenhang mit einer Prüfung nicht ausreichend, sondern eine umfassende Qualitätsentwicklungsberatung erforderlich. Hierunter ist eine Beratung zum internen Qualitätsmanagement einer Einrichtung zu verstehen mit dem Ziel, beim Management einen systematischen Veränderungsprozess in Gang zu setzen. Die Qualitätsentwicklungsberatung soll der Einrichtung auf der Grundlage einer Ist-Analyse Informationen zur Weiterentwicklung des einrichtungsinternen Qualitätsmanagements geben und Lösungshilfen aufzeigen. Die Ist-Analyse kann entweder durch die Ergebnisse einer Qualitätsprüfung, durch eine Selbstevaluation oder aufgrund einer speziellen Fragestellung der Einrichtung zur Qualitätsentwicklung erfolgen. Die Qualitätsentwicklungsberatung richtet sich vorrangig an die Leitungsebene von Pflegeeinrichtungen (z.B. Heimleitung, Fachbereichsleitung, Wohnbereichsleitung, QM-Beauftragter des Trägers), die zum internen Qualitätsmanagement Beratungsbedarf haben. Themen der Beratung durch den MDK können z.B. sein: – Beratung des Pflegemanagements zu Fragen der Aufbau- und Ablauforganisation – Unterstützung bei der Erstellung einer Prioritätenliste für das Qualitätsmanagement – Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung – Initiale Moderation von Qualitätszirkeln zur Gestaltung erforderlicher Verbesserungsmaßnahmen – Unterstützung bei der Zielerreichungsanalyse von Verbesserungsprozessen – Beratung zum Pflegeprozess und zur Pflegedokumentation
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11 Beratung im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung
Fachberatung Die Fachberatung richtet sich insbesondere an fachlich (nicht in der Leitungsebene) tätige Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung. Bei dieser Beratungsform steht die Beratung zu einzelnen Fachthemen im Vordergrund, die meist vom Ratsuchenden definiert werden. Thema einer Fachberatung kann z.B. die Vermittlung des Fachwissens zur Implementierung der Expertenstandards in einer Einrichtung sein. Fachberatung kann auch einrichtungsübergreifend erfolgen, z.B. als Angebot in Seminarform oder in Form von Einzelvorträgen.
Qualifikation der Berater Die Durchführung der Beratungen erfolgt durch in der Praxis erfahrene pflegefachliche Gutachter mit umfassendem pflegefachlichem Wissen und professionellen Kenntnissen im Qualitätsmanagement. Sie verfügen über eine umfassende pflegefachliche Weiterbildung oder den Abschluss in einem pflegeorientierten Studiengang, eine Ausbildung zum Auditor sowie mehrjährige Erfahrung mit Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI. Einzelheiten sind in § 6 Anforderungen an die Qualifikation von unabhängigen Sachverständigen bzw. Prüfern von Prüfinstitutionen der Anlage nach Ziffer 5 (ambulant) bzw. 7 (stationär) der Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der ambulanten und stationären Pflege geregelt.
MDK-interne Qualitätssicherung der Beratungsleistungen Die Beratungsleistungen des MDK werden durch interne Qualitätssicherungsmaßnahmen begleitet. Hierzu können folgende Instrumente eingesetzt werden: – Sorgfältige und standardisierte Dokumentation der Beratungsergebnisse – Regelmäßige Besprechungen des Beraterteams mit dem Ziel einheitlichen Handelns sowie die Weitergabe relevanter Informationen zwischen den Mitarbeitern, die Beratungen durchführen – Fort- und Weiterbildung der in der Beratung tätigen Mitarbeiter – Nutzung von Informationsquellen zur Ermittlung der Kundenzufriedenheit (z.B. Befragungen) und Auswertung dieser Informationen – Statistische Auswertung der Beratungen, z.B. Anzahl der Beratungen, Zeitaufwand, Schwerpunkte der Problemstellungen
12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger 12.1 Arzneimittelversorgung von Pflegebedürftigen Friedrich Schwegler und Sabine Gey-Unger In der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland ist es in den letzten hundert Jahren zu ausgeprägten demographischen Veränderungen gekommen. Besonders auffällig sind eine deutliche Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen und damit eine Zunahme chronischer Erkrankungen alter Menschen. Alter ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Krankheit, es muss vielmehr unterschieden werden zwischen altersbezogenen Prozessen und pathologischen Prozessen oder einfacher ausgedrückt zwischen Altern und Krankheit [Böhm et al. 2009]. Trotz der Tatsache, dass Alter nicht gleichzusetzen ist mit Krankheit, treten chronische körperliche und psychische Erkrankungen mit zunehmendem Alter immer häufiger auf [Weyerer/Bickel 2006, Weyerer et al. 2008]. Durch diese Entwicklung kommt der Versorgung der chronischen Erkrankungen im Alter eine besondere Bedeutung zu [Kuhlmey/Schaeffer 2008]. Die medikamentöse Versorgung der altersbedingten chronischen Erkrankungen der Pflegebedürftigen spielt deshalb sowohl in den stationären als auch in den ambulanten Pflegeeinrichtungen eine große Rolle. Sie wird an Bedeutung in den kommenden Jahren weiter zunehmen [Beske 2010].
12.1.1 Informationsübermittlung in stationären Pflegeeinrichtungen Zu den wichtigsten Bereichen der Versorgungsqualität in einer stationären Pflegeeinrichtung zählt neben der Grundpflege (Ernährung und Flüssigkeitsversorgung, Körperpflege, Förderung und Erhaltung der Mobilität) und der sozialen Betreuung vor allem auch die zum Bereich der Behandlungspflege gehörende medikamentöse Versorgung der Pflegebedürftigen. Die Problematik dieses Versorgungsbereiches besteht darin, dass er nicht in der Eigenverantwortung der Pflegeeinrichtung liegt, sondern die behandelnden Ärzte der Versicherten die uneingeschränkt verantwortlichen Akteure sind. Die Pflegefachkräfte spielen aber eine gewichtige Mittlerrolle zwischen dem verordnenden Arzt und den behandelten Bewohnern. 1. Zum einen gehört hierher die Sicherstellung der korrekten Gabe der von den behandelnden Ärzten verordneten Medikamente. Ein Fehler in diesem Versorgungsbereich kann sich unmittelbar schädlich auf die Gesundheit der Versicherten auswirken, wenn z.B. falsche Medikamente gegeben werden, die Gabe von
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2.
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
Medikamenten nicht oder in falscher Dosierung erfolgt oder eine angeordnete Medikamentenumstellung nicht umgehend umgesetzt wird. Zum andern spielen die Pflegefachkräfte in stationären Pflegeeinrichtungen eine sehr wichtige Rolle bei der Krankenbeobachtung und der Übermittlung der Informationen über die Auswirkungen der Medikation an den Arzt. Dies insbesondere deshalb, weil es sich bei den stationären Pflegeeinrichtungen im Gegensatz zu den Krankenhäusern um arztferne Organisationsformen [Igl 2010] handelt. So sieht beispielsweise der Arzt nicht wie im Krankenhaus seinen Patienten jeden Tag. Der Pflegebedürftige wird in der Regel von seinem behandelnden Arzt in weit größeren Abständen in der Pflegeinrichtung besucht. Der Arzt ist deshalb neben der direkten Information durch seine Patienten auf die Informationen der Pflegefachkräfte angewiesen, insbesondere zu folgenden Fragen: Wie wirken die Medikamente bei dem Pflegebedürftigen? Zeigen sich Nebenwirkungen? Bestehen weiterhin Beschwerden, die daraufhin deuten, dass die Verordnung nicht ausreichend ist?
Dies dient insbesondere der Sicherstellung einer ausreichenden Schmerzmedikation bei chronischen Erkrankungen, aber neben der Schmerztherapie auch der Sicherstellung einer ausreichenden Medikation zur Symptomlinderung bei palliativer Pflege oder in der Sterbephase. Eine ganz entscheidende Bedeutung bekommt diese Informationsübermittlung bei Bewohnern, die sich selber nicht mehr ausreichend äußern können, so dass Rückschlüsse aus der kontinuierlichen Beobachtung des Versicherten gezogen werden müssen, wie z.B. bei dementen Bewohnern oder Bewohnern in der Palliativ- oder Sterbephase. Besonders zu beobachten sind auch Personen, die Psychopharmaka verordnet bekommen und bei denen es als Folge einer möglicherweise zu hohen Dosierung zu Gangunsicherheiten und Stürzen kommt oder die Mobilität sich dadurch kontinuierlich verschlechtert mit den daraus resultierenden möglichen Gesundheitsschäden für die Bewohner (Kontrakturen, Druckgeschwüre, Knochenbrüche). Eine gewichtige Rolle spielt diese Informationsübermittlung der Pflegefachkräfte auch, wenn im Rahmen eines interdisziplinären Dialogs zwischen Ärzten, Apothekern und Pflegefachkräften ein Weg gesucht werden soll, um bei der sehr häufigen Polypharmazie1 der Pflegebedürftigen zu einer Therapieoptimierung zu kommen.
1 Mit den synonym verwendeten Begriffen Polypharmazie; Polypharmakotherapie, Polymedikation und Multimedikation wird die dauerhafte bzw. über einen längeren Zeitraum bestehende gleichzeitige Anwendung von mehr als fünf Arzneimitteln bezeichnet.
12.1 Arzneimittelversorgung von Pflegebedürftigen
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12.1.2 Sicherstellung der korrekten Versorgung der Bewohner in stationären Pflegeeinrichtungen mit den verordneten Medikamenten Bei der Durchführung der Qualitätsprüfungen nach § 114 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) in stationären Pflegeeinrichtungen wird in Bezug auf die medikamentöse Versorgung der Bewohner geprüft, ob die Medikamentenversorgung den ärztlichen Anordnungen entspricht (Frage 12.3, Transparenzkriterium 3) und ob der Umgang mit Medikamenten sachgerecht ist (Frage 12.4. Transparenzkriterium 4). Zur Frage 12.3 wird vor allem die fachgerechte und vollständige Dokumentation geprüft. Zum sachgerechten Umgang mit Medikamenten (Frage 12.4) gehört beispielsweise, dass die gerichteten Medikamente mit den Angaben in der Pflegedokumentation übereinstimmen, die Medikamente bewohnerbezogen aufbewahrt oder bei Bedarf kühl gelagert werden. Im 3. Bericht des MDS zur Qualität in der ambulanten und stationären Pflege [MDS 2012a] wurden die Ergebnisse der von den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung (MDK) durchgeführten Qualitätsprüfungen für den Berichtszeitraum Juli 2009 bis Dezember 2010 ausgewertet. Demnach entsprach bei 81,5 Prozent (von 59 029) der in die Prüfung einbezogenen Bewohner die Medikamentenversorgung der ärztlichen Anordnung. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, dass bei fast einem Fünftel der Bewohner die in der Pflegedokumentation aufgeführten Medikamente nicht den ärztlichen Anordnungen entsprachen, d.h., es waren andere Präparate oder andere Dosierungen angegeben. Es bestand somit die Gefahr einer Fehlversorgung oder Falschmedikation. Bei 81,8 Prozent (von 58 919) war der Umgang mit Medikamenten sachgerecht. Dies bedeutet wiederum im Umkehrschluss, dass bei knapp einem Fünftel der Bewohner der Umgang mit Medikamenten nicht sachgerecht war, das heißt beispielsweise, die gerichteten Medikamente stimmten nicht mit den Angaben in der Dokumentation überein, die Medikamente wurden nicht bewohnerbezogen gelagert oder Betäubungsmittel wurden nicht ordnungsgemäß verschlossen und gesondert aufbewahrt. Auf der Fachtagung für Sozialpharmazie der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen am 24.05. und 25.05.2011 in Düsseldorf berichtete Stapel über eine Fehleranalyse beim Stellen von Arzneimitteln in stationären Pflegeeinrichtungen [Stapel 2011]. Demnach wurde bei 330 Medikationen 57-mal fehlerhaft gestellt, das entspricht einer Quote von 19 Prozent falscher Stellungen. Die Fehler setzten sich folgendermaßen zusammen: 16-mal fehlendes Arzneimittel, 11-mal fehlerhafter Zeitpunkt der Einnahme, 11-mal inkorrekte Tablettenteilung, 7-mal falsches Arzneimittel, 6-mal falsche Dosierung, 4-mal überzähliges Arzneimittel und 2-mal beschädigtes Arzneimittel. Die Schwierigkeiten bei der Sicherstellung der Medikamentenversorgung entsprechend den ärztlichen Anordnungen sind vielschichtig. Ein Punkt ist die Organisationsform der stationären Pflegeeinrichtung als arztferne Institution. Nach der Maxime, dass die Pflegeinrichtung die Wohnung des Pflegebedürftigen ist und keine Krankenhaus-ähnlichen Strukturen (z.B. durch die Beschäftigung von festange-
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
stellten Heimärzten) geschaffen werden sollen, hat jeder Bewohner seinen eigenen Hausarzt, der seine ärztliche Tätigkeit entsprechend seiner Individualität als niedergelassener Arzt durchführt und keine Einschränkungen durch Vorgaben der Pflegeeinrichtung akzeptiert, d.h., er führt eine eigene Dokumentation, hat seine eigenen Behandlungs- und Verordnungsgewohnheiten etc. Dies bedeutet, dass sich die Pflegefachkräfte einer stationären Pflegeinrichtung auf die „Stile, Gewohnheiten und Verordnungsweisen“ vieler Ärzte einstellen und sich daran anpassen müssen. Ein weiterer „Nachteil“ dieser arztfernen Organisationsform ist darin zu sehen, dass bei Verschlechterungen des Allgemeinzustandes eines Bewohners (Erbrechen, Fieber, anhaltender Durchfall) eine direkte Kommunikation der Pflegeeinrichtung mit dem behandelnden Arzt nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist. Es ist in diesen Fällen eine telefonische Kontaktierung des behandelnden Arztes notwendig. Wegen des laufenden Praxisbetriebs ist eine direkte Rücksprache mit ihm meist nicht möglich, es erfolgt eine Information über Praxismitarbeiter, und der Arzt meldet sich dann später fernmündlich und gibt eine Verordnung durch, oder es wird eine Verordnung gefaxt. Von den Mitarbeitern der stationären Pflegeinrichtungen ist eine hohe Flexibilität gefordert, um im Rahmen eines effektiven Medikamentenmanagements und in Kooperation mit allen an der Versorgung beteiligten Ärzten alle Anordnungen sowohl im normalen Tagesbetrieb als auch in Notfallsituationen mit möglicherweise kurzfristig erforderlich werdender Änderung der Medikation korrekt und sachgerecht umzusetzen. Der sachgerechte Umgang mit Medikamenten in stationären Pflegeeinrichtungen erfordert seitens der Pflegefachkräfte große Anstrengungen. Traditionell werden die am folgenden Tag zu verteilenden Medikamente häufig nachts gestellt. Die Konzentration ist nachts eingeschränkt, sie wird zudem noch gestört, wenn die Pflegefachkraft zu anderen Tätigkeiten während des Stellens der Medikamente gerufen wird. Es besteht Einigkeit darüber, dass ein Stellen der Medikamente im Tagdienst zu weniger Fehlern führt [Stapel 2011], aber auch hier muss für die nötige Ruhe der durchführenden Pflegefachkraft (Stellen der Medikamente in einem abgeschlossenen Raum) gesorgt werden und ein Abrufen der Pflegekraft für andere Tätigkeiten sollte unterbleiben. Grundsätzlich sollte eine Kontrolle der gestellten Medikamente durch eine zweite Pflegefachkraft vor der Verteilung der Medikamente erfolgen (Vier-AugenPrinzip). Als ein möglicher Ausweg aus der Problematik des nicht sachgerechten Umgangs mit Medikamenten wird die Verblisterung2 angesehen. Bei der patientenindividuellen Verblisterung werden Arzneimittel von einem externen Unternehmen für jeden Bewohner in der verordneten Dosierung gerichtet, einzeln verpackt sowie zur Vertei-
2 Verblisterung bedeutet Verpackung, Sortierung und Aufbewahrung von Arzneimitteln in sogenannten Blisterkarten (engl. blister „Blase“), einer aus Kunststofffolie gefertigten Sichtverpackung, in die Tabletten, Dragees und Kapseln eingeschweißt sind.
12.1 Arzneimittelversorgung von Pflegebedürftigen
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lung fertig an die Einrichtung geliefert und zwar in der Regel in Form von patientenbezogenen Wochenpackungen. Die Nachteile dieser Versorgung: vom Arzt verordnete halbe Tabletten können nicht verblistert werden, Tropfen können nicht verblistert werden, sodass zu dem eigentlich fertigen Medikamentensatz immer noch Zuarbeiten erforderlich sind, die wieder Irrtumspotentiale beinhalten. Auch ist durch die verblisternden Fremdfirmen nicht immer eine reibungslose und kurzfristige Nachlieferung von Medikamenten bei Umstellung der Medikation sichergestellt. Ein „psychologischer“ Nachteil der Verblisterung sollte nicht unterschätzt werden: die Medikamentenversorgung wird damit „outgesourct“, sie wird zwar nicht aus dem direkten Verantwortungsbereich der Pflegefachkräfte herausgenommen, erhält aber doch eine andere Qualität. Dies ist einer verantwortlichen und sachgerechten Handhabung der Medikation und der Kenntnis über deren Wirkungen und Nebenwirkungen nicht dienlich. Eine abschließende Beurteilung der Vorteile oder Nachteile der Verblisterung ist deshalb noch nicht möglich.
12 .1.3 Einzelne Schwerpunktbereiche bei der medikamentösen Versorgung von Bewohnern in stationären Pflegeeinrichtungen 12.1.3.1 Schmerzmittelversorgung bei Bewohnern von stationären Pflegeeinrichtungen In einer Literaturübersicht über das Auftreten und die Häufigkeit von Schmerzen bei Bewohnern von stationären Pflegeeinrichtungen [Takai et al. 2010] wird das Auftreten von Schmerzen als „common symptom“ angesehen als Folge der zunehmenden Prävalenz von altersbedingten Erkrankungen (z.B. Wirbelsäulenbeschwerden, Gelenkschmerzen, rheumatische Beschwerden, Schmerzen bei Osteoporose, periphere Durchblutungsstörungen). Eine adäquate Schmerzbehandlung wird als schwierig angesehen, da „Schmerz“ häufig noch als altersbedingt „normal“ angesehen wird, sowohl von Seiten der Bewohner als auch der Pflegefachkräfte. Es hat sich bei den Untersuchungen gezeigt, dass sich die Bewohner oftmals scheuen, Schmerzen zu äußern auf Grund ihrer anerzogenen Duldsamkeit oder einer befürchteten Stigmatisierung als Schmerzpatient. Die Häufigkeit des Auftretens von chronischen Schmerzen wird in der Literatur mit 50 bis 80 Prozent der Bewohner von stationären Pflegeeinrichtungen angegeben [Smalbrugge et al. 2007, Takai et al. 2010]. Von Kopf wird geschätzt, dass nur etwa 20 Prozent der Bewohner von stationären Pflegeeinrichtungen adäquat mit Schmerzmedikamenten behandelt werden [Kopf 2009]. Dräger et al. kommen in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die Daten auf eine Unterversorgung hinsichtlich der Schmerztherapie in deutschen Pflegeheimen schließen lassen [Dräger et al. 2010]. Um die Versorgung zu verbessern, sollten Pflegefachkräfte die Pflegebedürftigen gezielt nach Schmerzen fragen oder auf eine mögliche Begleitsymptomatik (z.B. Schlaflosigkeit, Lustlosigkeit oder Beeinträchtigung der Alltagsfunktionen) achten.
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
Wenn die Beurteilung der Schmerzen durch Befragung nicht ausreichend sichergestellt ist, sollte eine Einschätzung der Schmerzen anhand einer der gängigen Schmerzskalen (Visuelle Analog Skala, Smiley Analogue Skala, Numerische Rating Skala, Verbale Rating Skala, Wong Baker Skala etc.) erfolgen. Der Gebrauch solcher Skalen hat sich in der Praxis noch nicht durchgesetzt. Im 3. Bericht des MDS zur Qualität in der ambulanten und stationären Pflege findet sich die Angabe, dass eine systematische Schmerzeinschätzung nur bei 54,6 Prozent (12 020 von 22 007) der in die Prüfung einbezogenen Bewohner erfolgte, bei denen eine solche Einschätzung aufgrund bekannter chronischer Schmerzen erforderlich gewesen wäre [MDS 2012a]. Das oben Gesagte gilt in besonderer Weise auch bei Bewohnern, die dement sind und deshalb ihre Schmerzen nur unzureichend oder gar nicht mehr verbal äußern können. Die lange Zeit vertretene Auffassung, demente Bewohner würden keine Schmerzen haben oder sie weniger stark empfinden, ist durch neuere Forschungsergebnisse widerlegt [Winkler 2010]. Es gibt im Gegenteil Hinweise, dass demente Bewohner Schmerzen stärker empfinden als nicht demente Menschen und außerdem darunter leiden, dass sie ihren Schmerz nicht verständlich ausdrücken können. Die Schmerzäußerungen erfolgen deshalb inadäquat nonverbal, z.B. durch unartikuliertes Schreien, ausgeprägtes Grimassieren, übermäßiges Schwitzen, Tachykardie, Blutdruckentgleisung oder herausforderndes Verhalten. Die Erfassung der Schmerzen von dementen Bewohnern und die Wirkung einer Schmerzmedikation erfordert eine ständige aufmerksame Beobachtung durch die Pflegefachkräfte. Ist die Beobachtung nicht ausreichend schlüssig, sollten Schmerzskalen eingesetzt werden, z.B. die „BEeurteilung von Schmerz bei Demenz“ (BESD) oder das „Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit Demenz (BISAD)“ [Lukas 2008]. Trotz sorgfältiger Beobachtung und Einsatz von Schmerzskalen dürfen die Risiken einer Schmerztherapie bei einem dementen Bewohner nicht außer Acht gelassen werden: Fehlbehandlung, Eintritt von Nebenwirkungen oder Interaktionen, veränderte oder ausbleibende Therapieantwort. Diese Risiken sollten dennoch nicht dazu führen, dass gar keine oder eine unzureichende Schmerztherapie bei diesen Bewohnern erfolgt.
12.1.3.2 Medikation bei Pflegebedürftigen im Palliativstadium und in der Sterbephase in stationären Pflegeeinrichtungen In allen stationären Pflegeeinrichtungen werden Bewohner im Palliativstadium und in der Sterbephase betreut. Palliativpflege beginnt dann, wenn eine chronische Erkrankung der inneren Organe oder eine Karzinomerkrankung in das Stadium einer in absehbarer Zeit zum Tode führenden unheilbaren Krankheit übergeht. Die Bewohner brauchen in diesem Stadium eine umfassende körperliche, seelische, soziale und spirituelle Begleitung, Pflege und Behandlung [Heimerl 2011]. In den Fokus zu nehmen sind im Rahmen der in diesem Kapitel zu bearbeiteten Problematik der medikamentösen Versorgung eine umfassende Schmerzerfassung und die medikamentöse
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Linderung von Symptomen [Heimerl et al. 2006]. Hierzu ist wiederum die pflegefachliche Kompetenz der betreuenden Pflegefachkräfte durch Beobachtung und gegebenenfalls die Zuhilfenahme von Assessmentinstrumenten erforderlich, um als Mittlerin zwischen Arzt und Patient für den Bewohner eine adäquate Schmerzmedikation unter Einschluss einer Symptomlinderung zu erreichen. Bei der Begleitung der Bewohner in der Sterbephase sind durch die Pflegeeinrichtung vielfältige weitere Aufgaben zu bewältigen (ethische Konsile, Fallbesprechungen zur Krisenintervention etc. [Bödiker et al. 2010]). Daneben besteht aber auch weiterhin die Aufgabe der Pflegefachkräfte, im Zusammenwirken mit den behandelnden Ärzten dafür Sorge zu tragen, dass eine medikamentöse Linderung der Schmerzen der Sterbenden verbunden mit einer Reduzierung der Begleitsymptomatik erfolgt.
12.1.3.3 Psychopharmaka In den Bereichen der Medikation von Schmerzpatienten, von Palliativpatienten und den Patienten in der Sterbephase ist den Fachpublikationen zufolge und nach den praktischen Erfahrungen eher eine Unterversorgung in den stationären Pflegeeinrichtungen festzustellen. Bei der Versorgung von demenziell Erkrankten mit Psychopharmaka ist in stationären Pflegeeinrichtungen eher eine Überversorgung zu sehen [Glaeske/Schicktanz 2011]. Bei den demenziellen Erkrankungen zeigen sich neben den kognitiven Einschränkungen in den Bereichen Gedächtnis, Orientierung, Sprechen und Urteilsvermögen psychopathologische Veränderungen, die in der angelsächsischen Literatur zusammengefasst werden als „Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia (BPSD)“. Zu dieser heterogenen Gruppe von psychopathologischen Veränderungen gehören Aggressivität und Unruhe, Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Weglauftendenzen, Schlafstörungen und Angst. Die Prävalenz dieser Veränderungen schwankt in der Literatur sehr stark mit Angaben zum Auftreten zwischen 50 und 90 Prozent bei den an Demenz erkrankten Bewohnern in einer stationären Pflegeeinrichtung [Glaeske/Schicktanz 2011]. Die Auswirkungen der unter dem Begriff BDSP zusammengefassten psychopathologischen Veränderungen sind für die Pflegefachkräfte in stationären Pflegeeinrichtungen außerordentlich belastend. Die Verordnung von Psychopharmaka zur Linderung der belastenden Symptomatik ist nachvollziehbar, sollte jedoch nicht das Mittel der ersten Wahl sein. Es stehen mittlerweile umfassende innovative Pflegekonzepte für den Umgang mit psychopathologisch veränderten dementen Bewohnern zur Verfügung. Dazu zählen unter anderem geschützte Bereiche, in denen die Bewohner ohne Verletzungsgefahr ihrem Bewegungsdrang nachkommen können; niedrige Pflegebetten, um die Sturzgefahr aus dem Bett zu verringern und ein jederzeitiges Verlassen des Bettes zu ermöglichen; nächtliche Betreuungsangebote für Bewohner, die unter einer Tag-Nacht-Umkehr leiden. Bei Durchführung einer fachlich auf dem neuesten Stand der Pflegeforschung stehenden pflegerischen Versorgung dieser
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Bewohner kann der Einsatz von Psychopharmaka deutlich reduziert werden. Fossey et al. konnten nachweisen, dass unter dem Einfluss einer gesteigerten psychosozialen Betreuung eine Reduktion der Verordnung von Psychopharmaka um 20 Prozent erreicht werden konnte [Fossey et al. 2006].
12.1.3.4 Von der Polypharmazie zur Therapieoptimierung bei Bewohnern in stationären Pflegeeinrichtungen In der geriatrischen Literatur besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass eine Polypharmazie mit mehr als fünf Medikamenten bei alten Bewohnern nicht nur nicht sinnvoll ist, sondern mit einem Risiko für arzneimittelbezogene Probleme einhergeht [AGS 2012, Garfinkel et al. 2010, Marx et al. 2009, Siegmund-Schultze 2012, Wilm 2010, Glaeske/Schicktanz 2013]. An einer in der Zeit von Januar 2012 bis Juli 2013 vom Diözesancaritasverband Köln (wissenschaftliche Begleitung Institut für Pflegewissenschaft der Universität Bielefeld) durchgeführten Studie zur Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe (EQisA) beteiligten sich 37 stationäre Pflegeeinrichtungen vorwiegend im Landesteil Nordrhein des Landes Nordrhein-Westfalen. In die Erhebungen aus diesen 37 stationären Pflegeeinrichtungen konnten 3 456 Bewohner einbezogen werden. Hierbei zeigte sich zum Stichtag September 2012, dass je Bewohner eine durchschnittliche Anzahl von 7,4 Medikamenten verordnet war. Bei 68,5 Prozent der in die Erhebung einbezogenen Bewohner, d.h. mehr als zwei Drittel der Bewohner, waren mehr als fünf Medikamente pro Patient verordnet [Persönliche Mitteilung K. Wingenfeld]. Idealerweise bestünde eine Lösung dieser Problematik in der Bildung von interdisziplinären Arbeitsgruppen, in denen die in die medikamentöse Versorgung der Bewohner eingebundenen Ärzte, Apotheker und Pflegefachkräfte zusammenarbeiten [Wilm 2010]. In solchen Arbeitsgruppen können die Verordnungen für die einzelnen Bewohner besprochen und anhand der Beers-Liste [AGS 2012, Beers et al. 1991] oder der PRISCUS-Liste [Holt et al. 2010] potentiell inadäquate Medikamente für die betroffenen Bewohner abgesetzt werden. Des Weiteren könnte in solchen interdisziplinären Arbeitsgruppen unter Einbeziehung der Bewohner und/oder ihrer Angehörigen festgelegt werden, welche Medikamente im Einzelfall essenziell notwendig sind und auf welche im Sinne einer Therapieoptimierung verzichtet werden kann. Die Bildung solcher interdisziplinären Arbeitsgruppen ist in der Praxis mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Verbessert werden sollte jedoch auf jeden Fall – unabhängig von der Organisationsform – der fachliche Austausch zwischen den beteiligten Berufsgruppen.
12.1 Arzneimittelversorgung von Pflegebedürftigen
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12.1.4 Zur medikamentösen Versorgung von Pflegebedürftigen im ambulanten Bereich Auch in der ambulanten pflegerischen Versorgung gibt es die Unterscheidung zwischen der eigenverantwortlichen grundpflegerischen Versorgung der Pflegebedürftigen (Leistungen nach dem SGB XI) und der Behandlungspflege, die Pflegefachkräfte nach Delegation und Verordnung durch einen Arzt durchführen (Leistungen nach dem SGB V). Die Behandlungspflege gehört auch im ambulanten Bereich zu den arztfernen Versorgungsformen, unterscheidet sich jedoch vollständig von der Tätigkeit in stationären Einrichtungen. Der Pflegebedürftige wird von der Pflegefachkraft des ambulanten Pflegedienstes nicht über 24 Stunden begleitet und beobachtet, sondern sie sieht ihn auch nur bei ein oder zwei, höchstens drei Pflegeeinsätzen pro Tag. Damit sieht sie ihn aber immer noch häufiger als der Arzt, der seinen Patienten – in der Regel – nur alle drei bis vier Wochen sieht. Auch in dieser Konstellation hat die Pflegefachkraft deshalb eine wichtige Mittlerrolle zwischen Arzt und Patient. Auch in ambulanten Pflegeeinrichtungen führen die MDK Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI durch. Im Qualitätsbericht des MDS wurden die Ergebnisse der von den MDK durchgeführten Qualitätsprüfungen für den Berichtszeitraum Juli 2009 bis Dezember 2010 ausgewertet [MDS 2012a]. Für diesen Zeitraum konnte folgende Häufigkeit der Verordnungen von Behandlungspflege festgestellt werden: – Medikamentengabe (47,7 %) – Anlegen/Wechseln von Kompressionsverbänden/-strümpfen (21,2 %) – Injektionen (s. c./i. m.) (12,8 %) – Anlegen von Wundverbänden (7,0 %) – alle übrigen Verordnungen (11,3 %) Aus diesen Zahlen ergibt sich auch für den ambulanten Bereich, welche enorme Wichtigkeit der medikamentösen Versorgung der Versicherten zukommt. Auch hier bestehen zwei Aufgabenbereiche für die Pflegefachkräfte: 1. Sicherstellung der korrekten Versorgung mit den von den behandelnden Ärzten verordneten Medikamenten 2. Informationsübermittlung der Pflegefachkräfte an den Arzt Diese Informationsübermittlung ist bei allen Medikamentengaben wichtig (Liegt der Blutzuckerspiegel im vorgegeben Bereich? Ist die Blutdrucksenkung ausreichend?), erhält aber analog zur stationären Versorgung auch im ambulanten Bereich seine besondere Wertigkeit für eine ausreichende Schmerzmedikation bzw. eine sachgerechte Medikation bei palliativer Pflege oder in der Sterbephase. Eine gewichtige Rolle spielt diese Informationsübermittlung der Pflegefachkräfte auch, wenn im Rahmen eines interdisziplinären Dialogs zwischen Ärzten, Apothekern und Pflegefachkräften ein Weg gesucht werden soll, um bei der sehr häufigen Polypharmazie der Pflegebedürftigen zu einer Therapieoptimierung zu kommen.
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
Bei den Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI in ambulanten Pflegediensten wird allgemein betrachtet, ob bei der Durchführung von Behandlungspflege eine aktive Kommunikation der Pflegefachkraft mit dem verordnenden Arzt stattgefunden hat (Frage 10.1, Transparenzkriterium 27). Neben den routinemäßig erforderlichen Informationen ist eine aktive Kommunikation mit dem Arzt insbesondere bei Notfällen oder relevanten Gesundheitsveränderungen im Zusammenhang mit verordneten behandlungspflegerischen Maßnahmen notwendig. Nach den Angaben im 3. Bericht des MDS zur Qualität in der ambulanten und stationären Pflege war eine aktive Kommunikation bei 86,9 Prozent (16 682 von 19 204) dieser Pflegebedürftigen erfolgt [MDS 2012a]. Bei 13,1 Prozent (2 522 von 19 204) dieser Pflegebedürftigen war die erforderliche Kommunikation mit dem behandelnden Arzt nicht erfolgt. In diesen Fällen gab es aus der fachlichen Sicht der Prüfer des MDK Unklarheiten, die eine Kontaktaufnahme mit dem behandelnden Arzt erforderlich gemacht hätten. Beispielsweise wurde bei Veränderungen im Allgemeinzustand des Pflegebedürftigen (z.B. Schmerzentwicklung, relevante Gewichtsabnahme) kein Kontakt mit dem behandelnden Arzt aufgenommen. Bei der Medikamentengabe durch ambulante Pflegedienste wird geprüft, ob sie der ärztlichen Verordnung entspricht (Frage 10.16, Transparenzkriterium 19). Bei 21 445 Personen war eine Medikamentengabe verordnet. Bei 77,5 Prozent (16 630 von 21 445) dieser Pflegebedürftigen entsprach sie der ärztlichen Verordnung. Bei 22,5 Prozent (4 815 von 21 445) dieser Pflegebedürftigen entsprach die Medikamentengabe allerdings nicht der ärztlichen Verordnung, z.B. wurden Medikamente fehlerhaft dokumentiert oder mit einer falschen Dosierung gestellt. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Frage, warum es bei der Medikamentengabe durch Mitarbeiter von ambulanten Pflegediensten in immerhin mehr als einem Fünftel der Fälle zu einer unkorrekten Versorgung kam, liegen nicht vor. Von den in der Praxis Tätigen werden ein hoher Zeitdruck bei der Durchführung der Tätigkeit und Störungen durch die Umgebung genannt. Bei Fortbildungsmaßnahmen für die Mitarbeiter von ambulanten Pflegediensten sollte immer wieder auf das hohe Gefährdungspotential durch die unkorrekte Gabe von Medikamenten hingewiesen werden. In den Tourenplanungen für die Pflegefachkräfte sollte ausreichend Zeit für das Stellen der Medikamente eingeplant werden. Die Pflegefachkräfte selber sollten vor Ort für eine störungsfreie Durchführung der Tätigkeit sorgen. Analog der Situation von Bewohnern in stationären Pflegeeinrichtungen ist auch bei ambulant betreuten Pflegebedürftigen davon auszugehen, dass sie als Folge von altersbedingten Erkrankungen (z.B. Wirbelsäulenbeschwerden, Gelenkschmerzen, rheumatische Beschwerden, Schmerzen bei Osteoporose, periphere Durchblutungsstörungen) unter Schmerzen leiden. Die Datenlage lässt keine fundierte Aussage zu, ob bei den ambulant betreuten Pflegebedürftigen eine ausreichende Versorgung mit Schmerzmedikamenten erfolgt oder nicht. Bei Pflegebedürftigen, die chronische Schmerzen haben und bei denen eine ärztliche Verordnung für die Gabe von Schmerzmedikamenten vorliegt, wird in Rahmen
12.2 Palliativversorgung: Medizinische Grundlagen und pflegerelevante Aspekte
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der Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI überprüft, ob ein angemessenes pflegerisches Schmerzmanagement durchgeführt wird (Frage 10.21). Hierbei wird das Augenmerk darauf gerichtet, ob eine Schmerzeinschätzung durch den Pflegedienst durchgeführt wird. Nach den Angaben im Qualitätsbericht des MDS wäre bei 5 658 Personen eine Schmerzeinschätzung anhand einer Schmerzskala erforderlich gewesen [MDS 2012a]. Sie wurde lediglich bei 38,2 Prozent (2 146 von 5 658) der Pflegebedürftigen durchgeführt. Die Mitarbeiter der ambulanten Pflegedienste sind damit in mehr als der Hälfte der versorgten Versicherten nicht in der Lage, dem behandelnden Arzt Hinweise zur Wirksamkeit der Schmerztherapie oder einer erforderlichen Anpassung zu geben. Wünschenswert wäre hier eine Intensivierung des pflegerischen Schmerzmanagements durch die Mitarbeiter der betreuenden ambulanten Pflegedienste. Dies gilt insbesondere für die unter Schmerzen leidenden ambulant betreuten dementen Pflegebedürftigen. Das Problem der Polypharmazie besteht auch bei Pflegebedürftigen, die durch ambulante Pflegedienste betreut werden. Durch den fehlenden institutionellen Rahmen ist die Bildung von interdisziplinären Arbeitsgruppen im ambulanten Bereich noch sehr viel schwerer als in der stationären Altenpflege. Es gibt jedoch durchaus auch im ambulanten Bereich Beispiele für die Bildung von Arbeitsgruppen [Wilm 2010] unter Einbeziehung der Pflegebedürftigen und/oder ihrer Angehörigen. Auch wenn keine Möglichkeit zur Bildung von Arbeitsgruppen besteht, sollte der fachliche Austausch zwischen den beteiligten Berufsgruppen intensiviert werden.
12.2 Palliativversorgung: Medizinische Grundlagen und pflegerelevante Aspekte Lukas Radbruch, Roman Rolke, Helmut Hoffmann-Menzel und Martina Kern 12.2.1 Definition, Werte, Ziele Nach einer Definition der Weltgesundheitsorganisation dient Palliativmedizin „der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur“ [Sepulveda et al. 2002]. Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht das Sterben als einen normalen Prozess an. Sie will den Tod weder beschleunigen noch hinauszögern. Nach dieser Definition ist Palliativmedizin nicht auf das letzte Lebensstadium und auf sterbende Patienten beschränkt, sondern kann auch schon zu einem früheren Zeitpunkt eingesetzt werden, wenn noch palliative antineoplastische Therapien geplant werden. Palliativmedizin ist auch nicht auf Patienten mit einer Tumorerkran-
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
kung beschränkt, sondern kann auch bei Patienten mit anderen unheilbaren Erkrankungen angewandt werden: Patienten mit weit fortgeschrittenen Herz-, Lungen- oder Nierenerkrankungen, mit neurologischen Erkrankungen, multimorbide geriatrische Patienten oder Patienten mit Demenz [Radbruch et al. 2011]. Bei diesen Patienten stehen häufig andere Probleme im Vordergrund, wie z.B. die Diskussion um Einleitung und Fortsetzung einer maschinellen Beatmung wegen fortschreitender Lähmung der Atemmuskulatur bei Patienten mit amyotropher Lateralsklerose. Im angelsächsischen Sprachgebrauch wird Palliativmedizin oft auf die ärztlichen palliativmedizinischen Maßnahmen bezogen, während die Bemühungen des gesamten Teams von Ärzten, Pflegepersonal, Sozialarbeitern, Seelsorgern, Physiotherapeuten und ehrenamtlichen Helfern als „Palliative Care“ zusammengefasst werden. Im deutschen Sprachraum hat sich der Begriff Palliativversorgung für „Palliative Care“ durchgesetzt. Der Begriff der Hospizversorgung ist nicht eindeutig von der Palliativversorgung abgegrenzt. In Deutschland steht Hospizarbeit vor allem für Betreuungsleistungen, die ihre Wurzeln in einer Bürgerbewegung haben und stark auf ehrenamtlichem Engagement basieren, wohingegen Palliativversorgung – und noch spezifischer Palliativmedizin – als medizinischer Fachbereich angesehen wird. So wird in Deutschland die ambulante Palliativversorgung zunehmend durch ein interdisziplinäres Team durchgeführt, während der ambulante Hospizdienst vor allem psychosoziale Unterstützung durch Ehrenamtliche anbietet. Palliativversorgung und -medizin sind deutlich von der Palliativtherapie abzugrenzen, bei der onkologische Tumorbehandlungen (z.B. Bestrahlung, Chemotherapie) nicht mehr mit dem Ziel der Heilung (kurativ), sondern mit dem Ziel der Lebensverlängerung (palliativ) eingesetzt werden. Bei der Palliativversorgung können zwar auch solche Tumorbehandlungen eingesetzt werden, dies geschieht aber nicht mit dem Ziel der Lebensverlängerung, sondern der Verbesserung der Lebensqualität, wenn z.B. eine Strahlenbehandlung bei Knochenmetastasen die Knochenschmerzen lindern kann. In der Palliativmedizin und Palliativversorgung gelten eine Reihe von Grundwerten und -haltungen, die untrennbar mit dem Selbstverständnis der in ihnen tätigen Menschen verbunden sind. Dazu gehört die Anerkennung der Würde sowie der Autonomie der Patienten, ihrer Familien und Angehörigen. Unerlässlich sind des Weiteren eine individuelle Planung und Entscheidungsfindung für Therapie und Begleitung, ein im Rahmen der Möglichkeiten multi- und interprofessioneller Behandlungs- und Begleitungsansatz sowie ein ganzheitlicher Blick auf den Patienten, seine Bedürfnisse und die seines Umfeldes mit seinen Angehörigen. Palliativmedizin wahrt in besonderer Weise die Würde der ihnen in Therapie und Begleitung anvertrauten Menschen und soll in respektvoller, offener und sensibler Weise durchgeführt werden. Individuellen Eigenheiten und Bedürfnissen der Patienten soll mit größtmöglicher Akzeptanz begegnet werden. Dies gilt auch für kulturelle, religiöse, soziale und persönliche Gewohnheiten der Patienten.
12.2 Palliativversorgung: Medizinische Grundlagen und pflegerelevante Aspekte
405
Palliativmedizin erkennt jeden Menschen als autonomes und einzigartiges Wesen an. In allen Phasen von Therapie und Begleitung gilt es, den Willen des Patienten oder seiner rechtlichen Vertreter zu respektieren und soweit als möglich zu realisieren. Der Patient oder seine rechtlichen Vertreter erhalten zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit zur selbstbestimmten Zustimmung oder Ablehnung von Therapie- und Begleitungsangeboten. Palliativmedizin verlangt in besonderem Maße kommunikative Fähigkeiten, da sie Menschen in existenziellen Situationen unterstützt. Einfühlungsvermögen und präsente Aufmerksamkeit sind deshalb in diesem Kontext von noch größerer Bedeutung als in anderen Medizin-, Pflege- oder Versorgungsbereichen. Dies gilt sowohl für die Kommunikation mit den Patienten, mit Angehörigen, als auch innerhalb von Teams sowie zwischen den unterschiedlichen an Therapie und Begleitung beteiligten Berufsgruppen. Palliativmedizin und Palliativversorgung berücksichtigen in besonderer Weise Trauerreaktionen, die Patienten und Angehörige angesichts lebensbedrohlicher Erkrankungen erleben. Vom Zeitpunkt einer Diagnosestellung über den Krankheitsverlauf hinweg bis zum Tod und darüber hinaus werden angemessene Wege und Formen der Trauerbegleitung gesucht und eröffnet. Auch nach dem Versterben des Patienten werden für die Angehörigen Beratungs- und Unterstützungsangebote aufrecht erhalten oder angeboten.
12.2.2 Palliativversorgung in Deutschland Palliativmedizin ist keine Erfindung der Neuzeit. Die Betreuung von sterbenden Patienten gehörte schon früher zu den wichtigsten ärztlichen Aufgaben. Mit der Zunahme der medizinischen Erfolge und der Änderung der Einstellungen zu Tod und Sterben im letzten Jahrhundert wurden Patienten mit weit fortgeschrittenen und unheilbaren Krankheiten aber zunehmend isoliert und von der medizinischen Versorgung vernachlässigt. Erst in den letzten Jahren hat sich mit der von England ausgehenden Entwicklung der Palliativmedizin und der Hospizidee diese Entwicklung wieder umgekehrt. In Deutschland wurde die erste Palliativstation im Jahr 1983 in Köln eröffnet, das erste stationäre Hospiz 1986 in Aachen, und zeitgleich begann 1984 die ambulante Versorgung mit den ersten Sitzwachengruppen in Stuttgart. Nicht zuletzt die Förderungen der Deutschen Krebshilfe und verschiedene Initiativen der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, aber auch eine langsam zunehmende Akzeptanz der Aufgaben und Ziele der Palliativmedizin in der Öffentlichkeit und unter den onkologisch tätigen Ärzten führten dazu, dass nach der anfänglich langsamen Entwicklung in den letzten Jahren eine zunehmende Zahl von stationären und ambulanten Einrichtungen entstanden ist [Sabatowski et al. 2012].
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
Mittlerweile stehen in Deutschland 231 Palliativstationen, 195 stationäre Hospize und mehr als 1 500 ambulante Dienste und Initiativen für Palliativpatienten zur Verfügung (Stand 2011) [DHPV 2012]. In den Palliativstationen, die als eigene Bereiche im Krankenhaus integriert sind, erfolgt in der Regel eine Krisenintervention bei akuten Problemen, anschließend werden die Patienten zu Hause oder in einem Hospiz weiterversorgt. Die Finanzierung erfolgt pauschaliert über diagnosebezogene Fallgruppen (Diagnosis Related Groups – DRG) mit einem Zusatzentgelt (ZE 60: palliativmedizinische Komplexbehandlung) oder als Besondere Einrichtung nach einem Tagessatz) [Cremer-Schaeffer/ Radbruch 2012]. In den stationären Hospizen werden Palliativpatienten betreut, bei denen eine Versorgung in der häuslichen Umgebung nicht möglich und eine Krankenhauseinweisung nicht geboten ist, sei es wegen der Komplexität der Symptome oder wegen fehlender Ressourcen. Die Finanzierung erfolgt nach § 39a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zu 90 Prozent über die Kranken- und Pflegeversicherung, der Rest wird vom Hospiz z.B. über Spenden aufgebracht. Ambulante Hospizdienste ermöglichen eine psychosoziale Betreuung von Palliativpatienten in der häuslichen Umgebung durch ehrenamtliche Begleiter. Auch hier werden nach § 39a SGB V die hauptamtlichen Koordinierungskräfte durch einen Zuschuss der gesetzlichen Krankenkasse finanziert. Mit Inkrafttreten einer Neufassung des § 37b SGB V im Jahr 2007 haben Schwerstkranke und Sterbende unabhängig von ihrem Aufenthaltsort zu Hause oder in einer stationären Pflegeeinrichtung einen gesetzlichen Anspruch auf eine „Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung“ (SAPV), sofern sich die allgemeine palliativmedizinische Versorgung nicht mehr als ausreichend erweist. Die SAPV-Leistung umfasst neben dem pflegerischen und ärztlichen auch einen koordinativen Bereich. Sie muss beantragt und verordnet werden. Die SAPV wird in der Regel durch „Palliative CareTeams“ (PCTs) erbracht, in denen Ärzte, Pflegekräfte und weitere Berufsgruppen mit Ehrenamtlichen zusammen arbeiten. Die Palliativversorgung wird jedoch nicht nur von den spezialisierten Einrichtungen und Diensten erbracht. Die spezialisierte Palliativversorgung ist die zweite Stufe zur Versorgung von komplexen Symptomkonstellationen und Problemen. Einen palliativen Ansatz, zu dem das Erkennen von belastenden Symptomen und Problemen gehört, eine offene und ehrliche Kommunikation mit dem Patienten und den Angehörigen sowie Grundkenntnisse in der Symptomkontrolle sollten von allen Mitarbeitern im Gesundheitswesen angewendet werden, die in Kontakt mit schwerkranken und sterbenden Menschen kommen können. In Fachgebieten, in denen solche Kontakte häufiger zu erwarten sind, wie z.B. in der Onkologie oder Geriatrie, sollten darüber hinaus Kenntnisse und Fähigkeiten der allgemeinen Palliativversorgung vorliegen, wie sie z.B. für Ärzte in einer 40-stündigen Kursweiterbildung vermittelt werden. Während die allgemeine Palliativversorgung auch von einem einzelnen Arzt (z.B. als Hausarzt) oder einer Pflegekraft (z.B. im Pflegeheim) erbracht werden kann, ist
12.2 Palliativversorgung: Medizinische Grundlagen und pflegerelevante Aspekte
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die spezialisierte Palliativversorgung nur im multiprofessionellen Team möglich, mit Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern, Seelsorgern, Krankengymnasten, erweitert durch Angehörige weiterer Berufsgruppen (Logopäden, Apotheker usw.). Die allgemeine und spezialisierte Palliativversorgung ist aber in Deutschland bei weitem noch nicht flächendeckend umgesetzt. Vor allem in ländlichen Bereichen fehlen die spezialisierten Dienste und sind die Entfernungen bis zum nächsten Spezialisten zu weit. In Pflegeeinrichtungen werden die spezialisierten Dienste oft zu spät oder gar nicht hinzugezogen, obwohl dies in den gesetzlichen Regelungen ausdrücklich vorsehen ist. Die überwiegende Mehrzahl der Patienten in der Palliativversorgung leidet an einer Tumorerkrankung, während Patienten mit anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Herz-, Lungen- oder Nierenversagen oder neurologischen Erkrankungen bislang nur selten den Zugang zur Palliativversorgung finden, selbst wenn sie dies dringend benötigen. Auch bei vielen geriatrischen Patienten und Patienten mit Demenz ist in den letzten Phasen des Lebens eine Palliativversorgung erforderlich, wird aber viel zu selten veranlasst. Die Regelungen zur ambulanten und stationären Palliativversorgung unterscheiden sich zwischen den einzelnen Bundesländern und Kassenärztlichen Vereinigungen. Es fehlen bundeseinheitliche Regelungen z.B. zur SAPV, um bundesweit gleiche Standards in der Palliativversorgung umzusetzen.
12.2.3 Symptomkontrolle beim Patienten Eine Symptomkontrolle umfasst Maßnahmen zur Reduktion oder Vermeidung von Beeinträchtigungen, die die Lebensqualität des Patienten einschränken oder gefährden. Die Maßnahmen der Symptomkontrolle gelten vor allem folgenden Beeinträchtigungen: – Schmerzen – Symptome der Atmungsorgane, z.B. Luftnot – Symptome des Magen-Darm-Traktes, z.B. Übelkeit, Erbrechen, Obstipation und Diarrhö – Symptome von Kachexie, z.B. Müdigkeit und Schwäche – Psychische Symptome, z.B. Angst und Depression – Neurologische Symptome, z.B. Verwirrtheit und Gedächtnisstörungen – schlecht oder nicht heilende Wunden
12.2.4 Schmerztherapie Körperliche Schmerzen und die Angst vor diesen Schmerzen sind sehr belastend, und Schmerzfreiheit ist die am häufigsten genannte Bedingung für ein würdiges Sterben [Klindtworth et al. 2012].
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
Zur Behandlung von Tumorschmerzen liegen anerkannte Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization) vor [WHO 1996], auf denen auch die Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft fußen [AkdÄ 2007]. Diese Empfehlungen beruhen auf den folgenden Grundsätzen: – Patienten mit Tumorschmerzen sollen eine symptomatische Schmerztherapie erhalten. – Die Tumorschmerztherapie soll in erster Linie mit Schmerzmedikamenten erfolgen. – Die Schmerzmittel sollen vor allem durch den Mund appliziert werden. – Die Schmerzmedikation soll als Dauermedikation mit festen Einnahmezeiten und nicht nur nach Bedarf verabreicht werden. – Die Schmerzmittel soll entsprechend der Schmerzstärke und der Vorbehandlung nach einem analgetischen Stufenplan ausgewählt werden. – Zusätzlich zu den Analgetika können auch Koanalgetika oder adjuvante Medikamente bei entsprechender Indikation verabreicht werden. – Der Therapieerfolg soll kontrolliert und bei nicht ausreichender Wirkung der Therapieplan angepasst werden. – Die Schmerztherapie muss an die individuellen Bedürfnisse des Patienten angepasst werden. Die Zufuhr durch den Mund ist einfach und unkompliziert und belastet den Patienten nur wenig. Die Zufuhr über subkutane oder intravenöse Injektionen führt zu einem schnelleren Wirkeintritt, dies bietet bei einer Dauertherapie jedoch keinen Vorteil. Dieser Anwendungsweg sollte den Patienten vorbehalten bleiben, die keine Medikamente durch den Mund zu sich nehmen können. Eine Alternative zur oralen Applikation stellen die transdermalen Therapiesysteme dar, bei denen ein Opioid (Fentanyl oder Buprenorphin) aus dem Pflaster durch die Haut in den Blutkreislauf aufgenommen wird. Die Systeme sind in mehreren Wirkstärken verfügbar, so dass die Dosis gut an den Bedarf angepasst werden kann. Die transdermale Opioidtherapie ist vor allem für Patienten mit gleichbleibenden Schmerzen geeignet, da die Pflastersysteme sehr träge sind. Die langsame Resorption führt zu gleichmäßigen Wirkstoffspiegeln über die Applikationszeit von 2–3 Tagen, bedingt aber auch eine eingeschränkte Steuerbarkeit des Systems, da sich Dosisänderungen erst nach 12–24 Stunden auswirken. Erst nach einem Tag ist eine ausreichende Wirkstoffmenge im Körper, und auch bei Dosisänderungen kann erst nach einem oder mehreren Tagen die Wirkung bewertet werden. Vorteile des Systems sind die lange Wirkdauer von 3 bis 7 Tagen sowie die nichtinvasive Behandlung mit den Pflastern auch für Patienten mit Schluckstörungen. Tumorschmerzen sind in der Regel Dauerschmerzen und erfordern eine Dauermedikation. Die Applikationszeiten sollten der Wirkdauer der Analgetika angepasst werden. Mehr als die Hälfte der Tumorschmerzpatienten gibt zusätzlich zu den Dau-
12.2 Palliativversorgung: Medizinische Grundlagen und pflegerelevante Aspekte
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erschmerzen noch Schmerzattacken an. Zur Behandlung dieser Schmerzattacken („Breakthrough Pain“) sollte den Patienten eine Zusatzmedikation zur Verfügung stehen. Diese Zusatzmedikation kann ein schnell wirkendes Opioidpräparat sein, zum Beispiel als Morphintablette oder Lösung. In den letzten Jahren wurden auch neue Anwendungsformen, zum Beispiel als Opioidnasenspray, eingeführt, die in wenigen Minuten eine ausreichende Schmerzlinderung herbeiführen können. Solche schnellwirkenden Opioidpräparate können auch zur Dosisfindung bei der Einstellung der Therapie genutzt werden, bevor die Behandlung auf ein langwirkendes Medikament umgestellt wird. Die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) sind mehr ein didaktisches Modell als durch eine evidenzbasierte Zusammenstellung von Studienergebnissen entstanden. In mehreren großen Fallserien wurde jedoch die Effektivität der WHO-Empfehlungen bestätigt. In einer Untersuchung an der Schmerzambulanz der Kölner Universität wurde eine zufriedenstellende Schmerzlinderung bei mehr als 80 Prozent der in zehn Jahren behandelten Patienten erreicht [Zech et al. 1995]. Dennoch sollten die Empfehlungen bei Bedarf an die Bedürfnisse und Prioritäten des Patienten angepasst werden. Vorlieben oder Abneigungen des Patienten gegenüber Medikamenten oder Anwendungsformen können sonst dazu führen, dass eine angeordnete Therapie gar nicht erst begonnen oder nicht vertragen wird. Auch der im Folgenden dargestellte analgetische Stufenplan ist nicht unbedingt von Stufe zu Stufe zu befolgen. Bei starken Schmerzen können durchaus als erster Therapieansatz Opioide der Stufe 3 erforderlich sein, da nur so eine schnelle und ausreichende Schmerzlinderung möglich ist. Die Empfehlungen zur Tumorschmerztherapie können auf die Behandlung von Palliativpatienten mit anderen Erkrankungen übertragen werden. Auch bei Patienten mit fortgeschrittener HIV/AIDS-Infektion, mit Herz- oder Lungenerkrankungen im Endstadium oder mit neurologischen Erkrankungen, die unter Schmerzen leiden, ist eine orale Schmerzmedikation nach den Empfehlungen der WHO und der Arzneimittelkommission sinnvoll und effektiv. Auch bei diesen Patienten ist bei starken Schmerzen eine Opioidbehandlung als Dauertherapie notwendig.
12.2.4.1 Der analgetische Stufenplan Der Stufenplan zur Tumorschmerztherapie beschreibt die Steigerung der Schmerzmedikamente nach dem Bedarf der Patienten (s. Abb. 12.1).
410
12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
Opioide für mittlere bis starke Schmerzen (starke Opioide) Opioide für schwache bis mittlere Schmerzen (schwache Opioide) Nichtopioid-Analgetika
+Nichtopioid-Analgetika
+Nichtopioid-Analgetika
+ggf. Koanalgetika +ggf. Adjuvantien
+ggf. Koanalgetika +ggf. Adjuvantien
+ggf. Koanalgetika +ggf. Adjuvantien
Stufe 1
Stufe 2
Stufe 3
Abb. 12.1: Stufenschema zur Schmerztherapie nach den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Bei leichten Schmerzen können Nichtopioide eingesetzt werden. Während bei Knochen- oder Weichteilschmerzen die nichtsteroidalen Antiphlogistika (Ibuprofen, Diclofenac) wirksamer sind, kann bei viszeralen Schmerzen Metamizol vorteilhaft sein, da es gleichzeitig krampflösend auf die glatte Muskulatur der Eingeweide wirkt. Bei leichten bis mittleren Schmerzen oder unzureichender Wirksamkeit der Analgetika der Stufe 1 sollten die Nichtopioide mit einem Opioid der Stufe 2 kombiniert werden. In Deutschland werden in erster Linie Tramadol (bis 600 mg Tagesdosis) oder Tilidin/Naloxon (bis 600 mg Tagesdosis) eingesetzt. Bei mittleren bis starken Tumorschmerzen sind Opioide der Stufe 3 allein oder in Kombination mit Nichtopioiden (Stufe 1) indiziert (s. Tab. 12.1). Morphin ist in vielen verschiedenen Applikationsformen und für viele Applikationswege verfügbar und wird in den Therapieempfehlungen als Goldstandard der Tumorschmerztherapie angesehen. Neben Morphin können auf dieser Stufe jedoch auch Oxycodon, Hydromorphon, Levomethadon oder die Pflastersysteme mit Buprenorphin oder Fentanyl eingesetzt werden [Caraceni et al. 2012]. Oxycodon und Hydromorphon haben sich in der Praxis als gleichwertige, wenn auch teurere Alternativen zu Morphin durchgesetzt.
12.2 Palliativversorgung: Medizinische Grundlagen und pflegerelevante Aspekte
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Tab. 12.1: Übersicht über Opioide für mittlere bis starke Schmerzen. Opioid
Initialdosierung/Tag
Besonderheiten
Morphin
2 –60 mg retardiert
viele Applikationsformen, Zusatzmedikation bei Durchbruchschmerzen mit schnell freisetzendem oral oder subkutan appliziertem Morphin
Oxycodon
10 mg
auch in Kombination mit Naloxon verfügbar, Zusatz medikation mit Oxycodon (gleiche Applikationsform, biphasische Freisetzung mit schneller initialer Phase)
Hydromorphon 8 mg retardiert
Zusatzmedikation mit schnell freisetzendem Hydromorphon, entweder oral oder subkutan
Buprenorphin
35 µg/h Pflastersystem
Wirkdauer 72–96 Stunden (auch als System mit sieben Tagen Wirkdauer), langsame An- und Abflutung, Zusatzmedikation mit Buprenorphin sublingual oder subkutan
Fentanyl
12,5–25 µg/h
Wirkdauer 72 Stunden, Zusatzmedikation mit Applikationsformen zur sublingualen, buccalen, intranasalen Anwendung
L-Methadon
5–10 mg (Lösung)
Titration mit 2,5 mg alle vier Stunden bis Schmerz linderung ausreichend (nur von Spezialisten), Zusatz medikation mit 2,5 mg oral.
Die Pflastersysteme mit Fentanyl und Buprenorphin sind besonders geeignet für Patienten, die eine orale Medikation zum Beispiel wegen Tumorwachstums im MagenDarmtrakt nicht einnehmen können. Die Verordnung von Opioidpflastern erfolgt in Deutschland deutlich häufiger als in den Nachbarländern. Seit einigen Jahren werden in Deutschland deutlich mehr Opioidpflaster als oral einzunehmende Tabletten oder Lösungen verordnet. Ein großer Teil dieser Verordnungen für chronische Schmerzsyndrome wird außerhalb der Palliativmedizin verordnet, zum Beispiel bei chronischen Rückenschmerzen. Dennoch fällt auf, dass diese Pflastersysteme in Deutschland auch bei Palliativpatienten häufiger eingesetzt werden.
12.2.4.2 Koanalgetika Bei bestimmten Indikationen können zusätzlich zu den Schmerzmedikamenten des WHO-Stufenplans andere Medikamente erforderlich sein. Diese Medikamente, die oft für andere Indikationen zugelassen sind und bei denen die Schmerzlinderung sozusagen nur eine erwünschte Nebenwirkung ist, werden als Koanalgetika bezeichnet. Zu diesen Koanalgetika gehören Antidepressiva, Antikonvulsiva, Bisphosponate, Muskelrelaxantien und Steroide. Antidepressiva aktivieren deszendierende Nervenbahnen, die die Schmerzleitung auf Rückenmarksebene hemmen, Antikonvulsiva stabilisieren die Zellmembran der Nervenzellen. Beide Medikamentengruppen können
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
deshalb bei neuropathischen Schmerzen sinnvoll sein. Antidepressiva werden bei brennenden Dauerschmerzen und schmerzhaften Parästhesien bevorzugt, während Antikonvulsiva vor allem bei einschießenden, elektrisierenden Schmerzen eingesetzt werden. Bisphosphonate hemmen die Aktivität der Osteoklasten. Bei Patienten mit osteolytischen Metastasen wird das Wachstum dieser Metastasen gehemmt und dadurch eine Schmerzreduktion erreicht. Muskelrelaxantien können schmerzhafte Muskelverspannungen lindern, die zum Beispiel aufgrund einer tumorbedingten Fehlhaltung entstehen können. Steroide wirken entzündungshemmend, sie werden als Koanalgetika eingesetzt, wenn ein Zusammenhang zwischen der Schmerzsymptomatik und einem tumorbegleitenden Ödem vermutet wird, z.B. bei Infiltration von Nervengeflechten im Schulter- oder Beckenbereich, bei Tumorwachstum in den Spinalkanal, bei Leberkapselspannungsschmerz oder bei Hirndruck. Andere Wirkungen der Steroide wie Appetitsteigerung, Gewichtszunahme oder Euphorie werden von den Tumorpatienten oftmals als positiv empfunden.
12.2.4.3 Invasive Schmerztherapie und Nervenblockaden Wenn die Schmerztherapie auf oralem Weg oder mit Pflastersystemen nicht ausreichend wirksam, mit intolerablen Nebenwirkungen verbunden oder aus anderen Gründen nicht möglich ist, sind invasive Methoden erforderlich. Dazu können Medikamente über Katheter in den Rückenmarkskanal eingebracht werden, so dass sie in unmittelbarer Nähe der Schmerzleitungsbahnen wirken können. Opioide und andere Medikamente können auf diesem Weg eingesetzt werden. Allerdings wird diese Methode auch in spezialisierten Zentren zunehmend seltener eingesetzt. Ebenfalls kaum noch eingesetzt werden Blockaden an Nerven oder Nervenbahnen, die bei speziellen Schmerzsyndromen indiziert sein können. So wurden früher Oberbauchschmerzen bei Bauchspeicheldrüsenkrebs mit einer Zerstörung des Nervengeflechts um die Bauchschlagader (Plexus coeliacus) behandelt. Bei anhaltendem Tumorwachstum waren diese Nervenblockaden und Neurolysen allerdings in ihrer Wirkung oft beschränkt, und die Fortschritte der oralen Anwendungen in der Schmerzbehandlung lassen sie in aller Regel überflüssig werden.
12.2 Palliativversorgung: Medizinische Grundlagen und pflegerelevante Aspekte
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12.2.4.4 Nichtmedikamentöse Therapie Entsprechend dem Konzept des totalen Schmerzes sollte die medikamentöse Behandlung eigentlich immer durch nichtmedikamentöse Behandlungsverfahren ergänzt werden. Maßnahmen wie Waschungen, Aromatherapie, Entspannungsübungen oder Musiktherapie können die Wirksamkeit der Schmerzmedikation deutlich erhöhen. Die Zuwendung und auch die körperlichen Stimulationen bei diesen Verfahren tragen zur Schmerzlinderung bei, viele Patienten genießen die Berührungen. Für die körperlichen Schmerzen können Therapieverfahren wie Krankengymnastik, Physiotherapie oder Lymphdrainage sinnvoll sein. Bei spastischen Muskelschmerzen, die durch lange Bettlägerigkeit oder durch neurologische Erkrankungen verursacht werden, ist Krankengymnastik indiziert. Die Spannungsschmerzen, die durch ein Lymphödem ausgelöst werden, können durch eine medikamentöse Behandlung alleine nicht gelindert werden, nur die regelmäßige Lymphdrainage vermag hier eine Linderung zu bewirken. Bei Bauchschmerzen als Folge einer massiven Verstopfung mit aufgeschwollenem Bauch kann eine Kolonmassage, oft aber auch schon die Wärme eines Kirschkernkissens zur Schmerzlinderung beitragen.
12.2.5 Symptomkontrolle Ziel der Palliativmedizin ist neben der Schmerztherapie die Symptomkontrolle bei zahlreichen körperlichen oder psychischen Beschwerden im Rahmen weit fortgeschrittener und nicht mehr heilbarer Erkrankungen. Neben der klinischen Diagnostik und Kommunikation mit Patienten und ihren Angehörigen spielt dabei eine medikamentöse Behandlung zur Linderung von Beschwerden eine wichtige Rolle (s. Tab. 12.2). Tab. 12.2: Beispielliste essentieller Medikamente in der Symptomkontrolle. Schmerz
Dosierung
Besonderheiten und Nebenwirkungen
Morphin (MST)
30–60 mg retardiert initial bis 2.000 mg retardiert oral
Sedierung, Übelkeit, Obstipation, seltener Halluzinationen
Morphin (Sevredol, MSI)
(5–) 10–80 mg Sevredol oral, als unretardierte, rasch wirksame Zusatz(2,5–) 10–40 mg MSI s. c. medikation, keine Maximaldosis
Metamizol
3.000–6.000 mg/24h oral, s. Blutdruckabfall, vermehrtes Schwitzen c., i. v.
Ibuprofen
1.200–2.400 mg oral pro Tag Übelkeit, Nierenfunktion, Blutungsneigung
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
Luftnot
Dosierung
Besonderheiten und Nebenwirkungen
Morphin und alternative Opioide
2,5–5 mg oral/s. c. alle vier Sedierung, Übelkeit, Obstipation, Stunden, evtl. auch retardiert seltener Halluzinationen oral
Lorazepam
0,5–2,5 mg s. l.
Kumulation
Midazolam
2,5–5 mg s. c.
kurze Wirkdauer
Atemwegssekretion
Dosierung
Besonderheiten und Nebenwirkungen
Butylscopolamin (Buscopan)
20–40 mg s. c. alle vier Stunden
Sedierung
Übelkeit, Erbrechen
Dosierung
Besonderheiten und Nebenwirkungen
Metoclopramid (MCP, Paspertin)
3× 10 mg oral, s. c., i. v., maximal 60 mg/24h
extrapyramidalmotorische Störungen, Cave: gastrointestinale Stenosen!
Haloperidol (Haldol)
2–3× 0,5 mg bis 3× 1–5 mg
extrapyramidalmotorische Störungen, Sedierung
Obstipation
Dosierung
Besonderheiten und Nebenwirkungen
Macrogol (Movicol)
ein Beutel gelöst in ca. 200 ml nicht bei Ileus einsetzen Wasser oral
Picosulfat (Laxoberal)
10 – 40 Tropfen abends
nicht bei Ileus einsetzen
Zur Behandlung von Übelkeit werden Antiemetika wie Metoclopramid und niedrig dosierte Neuroleptika (z.B. Haloperidol) eingesetzt. Ergänzend können Steroide oder Cannabisderivate indiziert sein. Akupunktur oder Akupressur am Punkt Perikard 6 ist bei vielen Patienten wirksam und hat den Vorteil fehlender Nebenwirkungen. Wie bei anderen körperlichen Symptomen ist eine differenzierte Anamnese und Diagnostik sinnvoll. Überlauferbrechen im Rahmen einer gastrointestinalen Obstruktion ist gekennzeichnet durch wenig Übelkeit, aber (teilweise schwallartiges) Erbrechen nach der Nahrungsaufnahme. Hier sind motilitätsfördernde Antiemetika wie Metoclopramid kontraindiziert, da sie nur die Darmperistaltik gegen das Hindernis verstärken würden. Bei toxisch oder metabolisch induzierter Übelkeit ist Erbrechen die Ausnahme, aber anhaltende Übelkeit belastet den Patienten. Antiemetika, die an den Rezeptoren in der Chemotherapietriggerzone ansetzen (z.B. Haloperidol), können sehr effektiv sein. Eine prophylaktische Behandlung mit Laxantien sollte bei allen Patienten mit einer Opioiddauertherapie verordnet werden, um eine Obstipation zu vermeiden. Natriumpicosulfat oder Macrogol sind meist ausreichend wirksam. Ebenso wichtig ist aber eine ausreichende Prophylaxe der Obstipation durch nichtmedikamentöse Maßnahmen, in erster Linie körperliche Aktivität und ausreichende Flüssigkeitszufuhr, soweit dies dem körperlichen Zustand der Patienten nach in der Palliativversorgung noch möglich ist.
12.2 Palliativversorgung: Medizinische Grundlagen und pflegerelevante Aspekte
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Bei Patienten mit Luftnot bewirken Morphin oder andere Opioide in niedriger Dosierung eine schnelle Linderung. Die opioidbedingte Atemdepression senkt den Atemantrieb und vermindert die Atemarbeit. Die häufig gleichzeitig bestehende und die Atemnot verstärkende Angst sollte mit Benzodiazepinen, wie z.B. Lorazepam, behandelt werden. Bei einer Behinderung der Atmung durch einen Pleuraerguss kann die mechanische Entlastung durch Pleurapunktion oder Pleurodese sinnvoll sein. Die Gabe von Sauerstoff führt bei der Mehrzahl der Patienten nicht zu einer Linderung der Luftnot, da Luftnot eher durch eine Erhöhung des Kohlendioxids (Hyperkapnie) als durch einen Sauerstoffmangel (Hypoxie) verursacht wird. Eine Hypoxie infolge unzureichender Transportkapazität des Blutes bei ausgeprägter Anämie kann durch Transfusionen gelindert werden. Müdigkeit und Schwäche können durch die Reduktion des Allgemeinzustandes oder durch die Medikation ausgelöst werden. Eine Überprüfung des Medikamentenplans und Dosisreduktion oder Absetzen von nicht länger benötigten Medikamenten können die Müdigkeit deutlich verbessern. Bluttransfusionen können bei Patienten mit ausgeprägter Tumoranämie ebenfalls eine Linderung von Müdigkeit und Schwäche bewirken, dem gegenüber sind die Nachteile der Transfusion abzuwägen. Bei einzelnen Patienten können Amphetaminderivate sinnvoll sein. Auch hier sind nichtmedikamentöse Maßnahmen sinnvoll und wichtig. So ist ein leichtes körperliches Trainingsprogramm effektiv, bei Palliativpatienten mit sehr reduziertem Allgemeinzustand kann sich dieses Training allerdings auf kurze Gehstrecken oder sogar nur auf die Mobilisation an die Bettkante beschränken. Energiekonservierende Maßnahmen, z.B. als Aktivitätstagebuch oder -planung mit ausreichendem Wechsel von Aktivitäts- und Ruhephasen, können helfen, die verbleibenden Energiereserven sinnvoll einzusetzen. In der Finalphase sollte allerdings sorgfältig abgewogen werden, ob eine Behandlung von Müdigkeit und Schwäche sinnvoll ist oder doch eher den Patienten belasten würde, und ob hier nicht Müdigkeit und Schwäche den Patienten beim Sterben schützen können [Radbruch et al. 2008]. Angstzustände können vor allem nachts bei manchen Palliativpatienten unerträglich werden. Benzodiazepine und andere Sedativa sorgen für einen ruhigen Schlaf und verhindern quälerisches Grübeln. Viele Benzodiazepine haben jedoch lange Eliminationshalbwertzeiten und führen deshalb bei abendlicher Gabe zu einem Überhang bis in den nächsten Tag. Lorazepam wird wegen seiner guten anxiolytischen Eigenschaften und seiner relativ kurzen Wirkdauer bevorzugt. Nicht nur Angst, auch depressive Zustände treten bei Palliativpatienten häufig auf und können eine Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva oder den neueren (Serotonin-selektiven Reuptake Inhibitoren) SSRI-Antidepressiva erfordern. Allerdings ist die Einstellung langwierig, da die antidepressiven Effekte erst nach ein bis zwei Wochen verspürt werden, während Nebenwirkungen wie Müdigkeit oder Mundtrockenheit schon in den ersten Tagen die Patienten belasten können. In der antidepressiven Therapie sind deutlich höhere Dosierungen erforderlich, als wenn Anti-
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depressiva z.B. als Koanalgetika eingesetzt werden, und mit der Titration bis in den effektiven Dosisbereich kann die Einstellungsphase noch länger dauern.
12.2.6 Psychische Belastungen, soziale und spirituelle Bedürfnisse Die einschneidenden Veränderungen, die im Verlauf einer lebenslimitierenden Erkrankung ausgelöst werden, führen zu psychischen, sozialen und spirituellen Belastungen. Die Patienten verlieren ihre Rollenfunktion im Beruf und innerhalb ihrer Familie. Viele haben Angst vor dem weiteren Verlauf, dem Sterben und dem Tod. Sie fürchten sich davor, ihre Angehörigen zurückzulassen. Dazu kommt oft eine materielle Unsicherheit, wenn zusätzliche krankheitsbedingte finanzielle Belastungen die Finanzreserven aufzehren. Eine Auseinandersetzung mit diesen psychosozialen und spirituellen Problemen ist oft erst dann möglich, wenn existentiell bedrohliche Symptome wie Schmerzen, Luftnot oder Angstzustände ausreichend gelindert worden sind. Andererseits können psychosoziale oder spirituelle Probleme die körperlichen Symptome verstärken, und eine ausreichende Symptomkontrolle ist nur möglich, wenn diese Probleme identifiziert und bearbeitet werden. Die spirituellen Bedürfnisse der Patienten können sehr unterschiedlich sein. Spirituelle und religiöse Bedürfnisse sind nicht immer gleich zu setzen. Viele Menschen fühlen sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig, fühlen sich aber doch als spirituelle Menschen. Fragen nach dem Sinn des eigenen Lebens, dem Warum des Sterbens oder einem Leben nach dem Tod tauchen gerade in dieser besonderen Lebenssituation immer wieder auf. Immer mehr Menschen kommen aus anderen Kulturkreisen und nicht christlichen Religionen. Die Umgangsweise mit Sterben und Tod unterscheidet sich oft deutlich von der uns bekannten christlichen Kultur. Diese sollte dem Palliativteam bekannt sein und in die tägliche Arbeit integriert werden.
12.2.7 Ethische Probleme 12.2.7.1 Änderung und Begrenzung eines Therapieziels Die geplanten Maßnahmen zur Palliativversorgung müssen mit dem Patienten und seinen Angehörigen abgesprochen werden. Dabei ist zunächst wichtig, die Ziele, die der Patient selbst hat, zu erfragen. Für Patienten muss nicht unbedingt die möglichst vollständige Symptomlinderung im Vordergrund stehen. Andere Ziele, wie zum Beispiel möglichst schnell nach Hause zurückkehren zu können oder möglichst den klaren Verstand und volle Konzentrationskraft zu erhalten, können aus Sicht des Patienten wichtiger sein, so dass eine medikamentöse Symptomkontrolle nur soweit gewünscht wird, wie sie diese Ziele nicht gefährdet. Ängste und Barrieren gegen Morphin und andere Medikamente sind weit verbreitet. Für Patienten und Angehö-
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rige kann mit der Ankündigung einer Opioidtherapie Angst vor dem baldigen Tod aufkommen, wenn sie vorher von anderer Seite gehört haben, dass Morphin nur für Sterbende sei. Solche Ängste sollten vor Therapiebeginn angesprochen und möglichst ausgeräumt werden. Die Prioritäten des Patienten können auch den üblichen Erwartungen des Behandlungsteams widersprechen. Nach der üblichen Hypothese des Palliativteams sind Patienten über soziale Interaktionen wie Besuche, Unterhaltungen und auch körperliche Berührungen erfreut. Bei einigen Patienten besteht aber demgegenüber ein klarer Wunsch nach Rückzug und Ruhe, und auch die körperlichen Berührungen werden als störend empfunden. Dies rechtzeitig zu erkennen und auch solche Bedürfnisse zu akzeptieren, die den eigenen Vorstellungen und Werturteilen widersprechen, ist gerade für Palliativteams, die sich einem mitfühlenden und ganzheitlichen Behandlungsauftrag verpflichtet sehen, eine Herausforderung. Ungeklärte Themen können die palliativmedizinische Behandlung nicht nur in der Terminalphase erschweren. Ist der Patient über die Diagnose und Prognose seiner Erkrankung nicht aufgeklärt, lässt sich ein realistisches Therapieziel kaum formulieren. Grundsätzlich hat der Patient nicht das Recht, eine (nicht indizierte) Behandlung einzufordern. Liegt keine medizinische Indikation für eine Behandlung vor, kann diese Behandlung auch nicht angeboten werden. Die medizinische Indikation ist jedoch nicht eindeutig definiert und kann subjektiv gefärbt sein: je nach behandelndem Arzt (Fachrichtung, Berufserfahrung, persönliche Werte) wird eher für oder gegen eine Behandlung entschieden. Die Gefahr einer zu subjektiven Bewertung der Indikation kann durch Teambesprechungen oder Fallkonferenzen verringert werden. Wird die Indikation gestellt und die Behandlung dem Patienten angeboten, kann er diese Therapie jederzeit ablehnen, auch wenn er dadurch sein eigenes Leben gefährdet. Die Einstellungen von Patienten können sich im Verlauf einer Erkrankung dramatisch ändern. So können Patienten massive Einschränkungen der körperlichen oder kognitiven Funktionsfähigkeit akzeptieren, die sie früher nicht für lebenswert empfunden hätten. Sie können aber auch ihre Prioritäten so verändern, dass sie die verbleibende Lebenszeit in der Familie und zu Hause verbringen wollen. Bei Tumorpatienten kommt es häufig zum Konflikt zwischen der Einschätzung, dass weitere antineoplastische Behandlungen (Chemotherapie, Bestrahlung …) keine Aussicht auf Erfolg mehr haben, und dem verzweifelten Wunsch des Patienten und der Angehörigen nach einer Fortsetzung dieser Therapien. Chemo- und Strahlentherapie können allerdings auch bei Palliativpatienten sinnvoll sein, zum Beispiel, um durch Verringerung der Tumormasse die Symptomlast zu lindern. Dabei müssen allerdings die möglichen Vor- und Nachteile dieser Therapien kritisch gegenüber gestellt werden. In Ergänzung hierzu ist eine möglichst frühe Integration der Palliativversorgung in die onkologische Behandlung von Tumorpatienten wünschenswert. In einer neueren amerikanischen Studie wurde nachgewiesen, dass ein frühzeitiger Zugang zur Palliativversorgung nicht nur die Lebensqualität steigern, sondern auch die Kosten senken kann [Temel et al. 2010].
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12.2.7.2 Ernährung Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr haben für Patienten und Angehörige einen hohen Stellenwert. Essen und Nahrungszufuhr werden mit Gesundheit in Verbindung gebracht: wer nicht genug isst, kommt nicht zu Kräften und kann dann auch nicht gesund werden. Diese Vorstellung kann auch bei einer lebenslimitierenden Erkrankung nicht abgelegt werden. Bei vielen Patienten ist jedoch mit fortschreitendem Krankheitsverlauf die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme nur eingeschränkt oder ganz unmöglich. Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr können dann zur Belastung werden. Patienten verschlucken sich, sie sind enttäuscht, weil sie nicht genug essen können und haben Angst vor dem Verhungern oder Verdursten. Gerade in der letzten Lebensphase können Appetitlosigkeit und mangelndes Interesse an Flüssigkeitsaufnahme aber auch ein erstes, natürliches und zu respektierendes Zeichen eines beginnenden Sterbeprozesses sein. Eine Infusionstherapie führt meist nicht dazu, dass Patienten weniger Durst haben, denn oftmals ist Mundtrockenheit Ursache des Durstgefühls. Die Infusionstherapie kann aber bei Patienten in der Finalphase zu Ödemen und vermehrter Atemwegssekretion führen. Bei sterbenden Patienten sollte deshalb nicht in erster Linie eine Infusionstherapie erfolgen. Durst und Mundtrockenheit können durch gute Mundpflege gelindert werden, zum Beispiel mit Eiswürfeln aus Fruchtsaft, Tee oder gefrorenen Fruchtstückchen.
12.2.7.3 Finalphase In der Finalphase erhält die Symptomkontrolle ein besonderes Gewicht. Mit nachlassenden Organfunktionen müssen die Dosierungen der symptomatischen Medikation ggf. verringert werden, bei anderen Patienten führen Exazerbationen von Schmerzen oder anderen Symptomen dazu, dass die Dosierungen erhöht werden müssen. Wiederholte kurzfristige Überprüfungen der Medikation und die schnelle Anpassung der Dosierungen sind in dieser Phase bei der Mehrzahl der Patienten notwendig. Nicht mehr benötigte Medikationen, zum Beispiel zur Thromboseprophylaxe, sollten beendet werden, unnötige diagnostische (zum Beispiel Blutabnahmen) und therapeutische Maßnahmen (zum Beispiel Transfusionen) vermieden werden. Zur Behandlung häufiger und quälender Symptome in der Finalphase hat sich die Verordnung einer Bedarfsmedikation mit Morphin gegen Schmerzen, Butylscopolamin subkutan gegen Rasselatmung sowie Lorazepam sublingual gegen Luftnot und Angst bewährt. Neben der Symptomkontrolle dürfen auch in der Finalphase die spirituellen und psychosozialen Bedürfnisse des Patienten und seiner Angehörigen nicht vernachlässigt werden.
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12.2.7.4 Sterbehilfe Auch bei optimaler Ausnutzung aller palliativmedizinischen Möglichkeiten kann nicht verhindert werden, dass Patienten den Wunsch nach Sterbehilfe äußern. In den meisten Fällen, in denen Patienten oder Angehörige Sterbehilfe wegen intolerabler Schmerzen oder anderer Symptome einfordern, sind aber die Möglichkeiten der Symptomkontrolle noch nicht ausgeschöpft, und eine adäquate palliativmedizinische Versorgung lässt oft auch die Frage nach Sterbehilfe verstummen. Die Erfahrungen aus den Niederlanden weisen darauf hin, dass eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe dazu führen kann, dass palliativmedizinische Alternativen nicht mehr ausreichend verfolgt werden. In den Niederlanden, in Belgien und in Luxemburg ist die aktive Sterbehilfe seit einigen Jahren zulässig, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die Warnungen vor einem Missbrauch dieser Regelung nehmen zu. Eine aktive Sterbehilfe ist in Deutschland juristisch eindeutig untersagt und auch aus ethischer Sicht abzulehnen. Die passive Sterbehilfe, also die Unterlassung von Maßnahmen wie z.B. der Intubation und Beatmung mit dem Ziel, eine Verlängerung des Leidens zu verhindern, ist dagegen möglich, wenn eine sorgfältige Abwägung der Vor- und Nachteile erfolgt und der (mutmaßliche) Wille des Patienten berücksichtigt wird. Während die aktive Sterbehilfe bei Palliativpatienten eindeutig abgelehnt werden muss, kann eine potentielle Lebensverkürzung als Folge einer angemessenen medikamentösen Symptomkontrolle (indirekte Sterbehilfe) u.U. in Kauf genommen werden. So darf die Angst vor einer opioidbedingten Atemdepression nicht dazu führen, dass die benötigte Opioiddosis nicht gegeben wird [BÄK 2011]. Ziel der Therapie ist dabei aber immer die Symptomlinderung, nicht der Tod des Patienten. Bei einigen wenigen Patienten kann keine ausreichende Linderung der Beschwerden erreicht werden. Einen letzten Ausweg für diese Patienten stellt die Dauersedierung dar. Mit Benzodiazepinen oder anderen sedierenden Medikamenten können die Patienten so weit sediert werden, dass sie zwischen den Applikationen nur kurz oder gar nicht wach werden. Die Entscheidung zur Einleitung einer solchen palliativen Sedierung ist aber eine ethische und nicht nur eine rein medizinische Entscheidung, die entsprechende Kompetenzen in einem erfahrenen Palliativteam voraussetzt [AltEpping et al. 2010]. Die palliative Sedierung ist keine Sterbehilfe und führt bei fachgerechter Anwendung nicht zu einer Lebenszeitverkürzung. Eine kontinuierliche tiefe Sedierung sollte nur bei Patienten in der letzten Lebensphase mit einer erwarteten Prognose von wenigen Stunden oder Tagen durchgeführt werden. Eine vorübergehende palliative Sedierung zum Beispiel zur Erholung von belastenden Zuständen ist ebenfalls möglich. Die palliative Sedierung sollte nicht mit Opioiden durchgeführt werden, sondern mit gut steuerbaren Benzodiazepinen, zum Beispiel mit einer Medikamentenpumpe mit Midazolam. Die Begründung für die palliative Sedierung, der Entscheidungsprozess sowie Ziele der Sedierung, geplante Sedierungstiefe, Medikamente und vorgesehene Sedierungsdauer sollten dokumentiert werden.
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12.2.7.5 Dokumentation Die Dokumentation der Palliativversorgung ist aus medizinischer, pflegerischer, juristischer und ethischer Sicht und in besondere Weise aufgrund der Arbeit im multidisziplinären Team erforderlich. Aus medizinischer und pflegerischer Sicht unterstützt die Dokumentation die Therapieentscheidungen. Sie ist gemeinsame Aufgabe aller betreuenden Berufsgruppen und stellt eine Grundlage für Informationsaustausch und Kommunikation aller mitbetreuenden Personen jedes Patienten sowie an den Schnittstellen zwischen den Versorgungsbereichen dar. Aus ethischer Sicht schafft die Dokumentation die notwendige Transparenz der Indikation von Leistungen und deren Ergebnis. Darüber hinaus ist eine Dokumentation auch Bestandteil der gesetzlichen Vorgaben, zum Beispiel in der Kodierung der palliativmedizinischen Komplexbehandlung nach dem Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) als OPS 8-982 Palliativmedizinische Komplexbehandlung. Für die Erhebung und Erfassung der Symptome und Belastungen ist eine Bewertung aus der Erlebenswelt des Patienten erforderlich. Die Beurteilung der Symptome und der damit einhergehenden Beeinträchtigung sollte deshalb primär durch den Patienten selbst erfolgen und durch die Behandler dokumentiert werden, zum Beispiel mit dem Minimalen Dokumentationssystem für Palliativpatienten (MIDOS) [Stiel et al. 2010]. Aufgrund der oft fortgeschrittenen Krankheitssituation und kognitiven Störungen ist bei einem Teil der Patienten die Einschätzung der Symptome und psychosozialen Belastungen aber nicht möglich. Andere Patienten möchten nicht lange über ihre Beschwerden sprechen oder empfinden die Erhebung als zusätzliche Belastung. Für diese Patienten muss auf eine Fremdbeurteilung zurückgegriffen und dies in der Dokumentation kenntlich gemacht werden. Für die Dokumentation steht mit der Hospiz- und Palliativerhebung (HOPE) ein validiertes System zur Verfügung, das die Vorgaben zu einem Kerndatensatz der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin erfüllt [Stiel et al. 2012]. Mit dem Nationalen Hospiz- und Palliativregister (http://www.hospiz-palliativ-register.de/) steht ein Instrument zur Qualitätssicherung und zum Benchmarking zur Verfügung, mit dem die Qualität in den teilnehmenden Einrichtungen kontinuierlich weiter verbessert werden kann.
12.3 Hospizkultur als Grundlage der Sterbebegleitung in der ambulanten und stationären Pflege Gerda Graf Kranken- und Altenpflege ist eine handwerkliche Kunst, deren Blickrichtung nicht nur der originären Pflege gilt, sondern auch dem Wohlergehen mit Sicht auf die Bedürfnisse des Menschen. Diese Grundlage findet sich auch in unterschiedlichen Definitionen des Pflegeberufes wieder wie z.B. „Defining nursing“ des „Royal College
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of Nursing“ [RCN 2003]. In der Definition von Pflege und Pflegen findet sich die Anmerkung, dass Pflege die „Gesamtheit“ ausmacht. „Während einzelne Teile der Definition mit anderen Gesundheits-Berufen geteilt werden, liegt die Einmaligkeit von Pflege(n) in ihrer Kombination.“ In diesem Sinne wird Pflege nicht fragmentiert, sondern nähert sich dem Versprechen der Hospizkultur und rückt die Bedürfnisorientierung in den Mittelpunkt. Dem folgt auch der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) bei der Begutachtung nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI), wonach Pflege, soziale Belange, hauswirtschaftliche Dienstleistungen und medizinische Komponenten berücksichtigt werden. Hier zeigt sich, dass gerade in den vergangenen Jahren die Hospizidee mit Hilfe der Bürgerbewegung Hospiz zu einem Lernort wurde, der maßgeblichen Einfluss auf die Begleitung am Lebensende hatte. Die Hospizidee hat ihren Ursprung im frühen Christentum. Der Begriff Hospiz kommt aus dem Lateinischen „hospitium“ Herberge. Diese Herberge wurde als Gasthaus benutzt, um den Menschen auf den langen Reisen, aber auch den Kranken und Sterbenskranken Unterkunft zu gewähren. In der Zeit des Mittelalters wurden immer mehr Hospize gegründet, da durch die so genannten Pilgerreisen auch mehr Gasthäuser notwendig wurden, bis hin zur Gründung eines Hospitalordens. Der Begriff und die Häuser verschwanden im Zuge der aufkommenden Reformation. Vinzenz von Paul (1581–1660), Ordensgründer der Vinzentinerinnen, hat die Pflege und Umsorgung Sterbender und Kranker aus seinem christlichen Verständnis heraus mehr in den Mittelpunkt gerückt. Aus dieser Zeit stammt das „Hôtel-Dieu“ (die „Herberge Gottes“), das in der damaligen Zeit als Hospiz diente und in Paris heute noch zu besichtigen ist. In diesem „Hôtel-Dieu“ fanden nicht nur Kranke, sondern auch die Ärmsten Aufnahme und wurden medizinisch und pflegerisch betreut. Die neuzeitliche Entwicklung der Hospize ist im europäischen Raum auf Cicely Saunders (1918– 2005) zurückzuführen. Als Ärztin, Sozialarbeiterin und Krankenschwester gründete sie im Jahr 1967 das St.-Christopher’s-Hospice. Ihr fachlicher Hintergrund spiegelt sich in der Idee wider, die zum einen die körperlichen Aspekte berücksichtigt (palliative Medizin und palliative Pflege) und zum anderen die spirituelle und psychosoziale Begleitung (s. Abb. 12.2). „Es macht schutzbedürftige Menschen so verletzlich, dass sie glauben, sie wären eine Last für die anderen. Die Antwort ist eine bessere Betreuung der Sterbenden, um sie zu überzeugen, dass sie immer noch ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft sind.“ (Cicely Saunders – Quelle: The John C. Liebeskind History of Pain Collection)
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
Die Säulen der Hospizidee
Hospizidee
Psychosoziale Begleitung
Spirituelle Begleitung
Palliative Pflege
Palliative Medizin
Abb. 12.2: Hospizidee nach dem HoLDe®-Konzept (Quelle: Gerda Graf). Der Begriff HoLDe steht für Hospiz, Lebenswelt, Demenz.
Aus dem lebensbejahenden Grundsatz der Hospizkultur leitet sich die Aufgabe der palliativen Medizin und palliativen Pflege ab. Sie ist darauf ausgerichtet, Schmerzen und andere Symptome, die in der letzten Lebensphase auftreten können, zu behandeln und zu lindern, um die Lebensqualität sterbender Menschen zu verbessern. Den Wunsch zu erfüllen, den die meisten Menschen hegen, zu Hause in der vertrauten Umgebung zu sterben, ist dabei vorrangiges Ziel. Es folgt dem Grundsatz „ambulant vor stationär“, so dass Institutionen wie Hospize oder hospizlich geleitete Pflegeheime ergänzende Bestandteile der palliativen Arbeit sind. Hausärzte/-ärztinnen und Pflegekräfte können sich in Palliative Care in 160 Stunden qualifizieren, um die Bedürfnisorientierung der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen (vgl. Rahmenvereinbarung nach § 39a Abs. 2 Satz 7 SGB V zu den Voraussetzungen der Förderung sowie zu Inhalt, Qualität und Umfang der ambulanten Hospizarbeit vom 03.09.2002, i. d. F. vom 14.04.2010). Ein aktuelles Beispiel zeigt unseren Wissensstand in der Palliativen Medizin: Demenzerkrankte erhalten weniger Schmerzmedikation als andere Patienten [Osterbrink et al. 2012]. Das heißt, desorientierte Bewohner sind in der Regel in der Schmerzmedikation unterversorgt. Für die Zukunft wird hier der Aufgabenbereich von Palliativer Pflege und Palliativer Medizin um das Erkennen und Kontrollieren des Schmerzerlebens erweitert. Testverfahren wie der BESD-Bogen (BEurteilung von Schmerzen bei Menschen mit Demenz) können hier wertvolles Werkzeug sein, so dass der Leiden lindernde Aspekt Berücksichtigung findet. Die Psychosoziale Begleitung umfasst die emotionale Unterstützung des sterbenden Menschen und seiner Angehörigen und wird erfahrbar durch ehrenamtlich befähigte Hospizhelfer/-innen. Diese Ehrenamtlichen der Hospizdienste werden entsprechend der vier Säulen der Hospizidee in über 100 Stunden fortgebildet und absolvieren zusätzlich ein Praktikum, entweder im Pflegeheim, Krankenhaus oder Hospiz. Die Ehrenamtlichen sind in über 90 Prozent der Fälle weiblich und suchen
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z.B. nach Abschluss der Familienphase ein soziales Betätigungsfeld, entweder aus dem Dankbarkeitsakt dem Leben gegenüber oder aber aus einer Selbsterfahrung in Sterbeprozessen [Pfeffer et al. 2004]. Diese befähigten Ehrenamtlichen unterstützen die Betroffenen und die Nahestehenden nicht nur durch Gespräche, sondern auch durch die Begleitung unerledigter Dinge. Nach dieser Grundfortbildung gibt es für die Hospizhelfer/-innen die Möglichkeit, in weiteren 32 Stunden einen Befähigungskurs zur Begleitung von Demenzerkrankten zu absolvieren. Die Kommunikationsformen entsprechend der Validation werden ebenso erlernt wie auch begleitende Maßnahmen durch Musiktherapie. Die Vermittlung von Kenntnissen über das Krankheitsbild Demenz sind hilfreiche Lerninhalte, um nach der Fortbildung ehrenamtlich assistierend tätig zu werden, ob im Pflegeheim, Krankenhaus oder im häuslichen Bereich. Der Begriff der Spiritualität meint hier mehr als nur den Kulturkreis der Religion. Er bezieht sich auch auf die geistige Erfahrbarkeit, die sich auch an der Seins-Frage orientiert. Das Ziel der hospizlichen Bemühung, ein Leben in Würde bis zuletzt zu ermöglichen, orientiert sich an der jeweiligen Persönlichkeit des Sterbenskranken. Sie ist geprägt von einer extrinsischen Spiritualität, deren Kennzeichen die jeweilige Religiosität und das familiäre Umfeld sind, und einer intrinsischen Spiritualität, deren Geisteshaltung von innen kommt, d.h., neben den ritualisierten extrinsischen Faktoren (wie Gebet oder Gottesdienst) gibt es geistige Empfindungen, die von einer großen Ergriffenheit getragen sind (z.B. der/die Naturliebhaber/in – die blühende Blume), die in Abhängigkeit zur jeweiligen Person steht. Die spirituelle Begleitung ist gekennzeichnet durch die Hilfestellung bei der Suche nach sich selbst (Selbstwert, Selbstbewusstsein), bei der Begegnung mit sich (Lebensbilanz und Lebensbiographie) und beim Sich-Finden, wobei das SichFinden gleichzusetzen ist mit dem numinosen Etwas. Durch diese spirituelle Begleitung haben Menschen die Möglichkeit, ihr Leben zu erfahren. Die Beantwortung der Sinnfrage ist dabei nicht der vordringlichste Aspekt. Zur Begleitung gehört ebenso die Begleitung der trauernden Angehörigen. Hier gilt es, den Nahestehenden beizustehen, um das intrinsisch Spirituelle zu unterstützen. Schon Lévinas hat uns verdeutlicht, dass es in der Begegnung mit dem Menschen um die Annäherung an den Anderen geht [Lévinas 1982]. So ist auch Pflege am Lebensende zu verstehen, wobei sich die Qualität in Lebensqualität der verbleibenden Zeit, dem Lebenssinn im Sinne der Seins-Frage und dem Lebenswert des jeweiligen Sterbenskranken ausdrückt. Der Sterbenskranke, der keine Stimme und keine Kraft mehr hat, muss sich auf die Qualität der Pflege verlassen können. So ist Hospizkultur gleichsam die Grundlage eines Versprechens, für den Menschen bis zum Ende da zu sein. Die Haltung der Pflegenden berücksichtigt die Autonomie und das Würdeverständnis des zu Pflegenden. Die Wahrung der individuellen Bedürfnisse in den oben beschriebenen vier Dimensionen der Hospizidee, die Begleitung durch qualifizierte Ehrenamtliche und die Einbeziehung der Palliativmedizin sind qualitative Merkmale einer guten Sterbebegleitung. Die Organisationen, ob Pfle-
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geheime oder ambulante Pflegedienste, müssen sich mit Sterbebegleitung entsprechend einer hospizlichen Kultur nicht nur auseinandersetzen, sondern diese Form der Kultur als Auftrag integrieren. Nur so kann gewährleistet sein, dass die alltägliche Arbeit nicht auf die Verstetigung der Organisation ausgerichtet ist, das heißt, nicht nur Verwalten, sondern auch individuell am Lebensende für den Bewohner gestalten. Nur dann ist der Patient bzw. der Bewohner nicht nur Mittel zum Zweck, um die Organisation zu erhalten (siehe hierzu auch Würdeverständnis nach Kant). Im jeweiligen Leitbild findet sich die individuelle Sterbekultur der Organisation wieder. Dabei wird es notwendig sein, dass im Sinne eines Top-Down- und Button-UpProzesses die Organisation die Sterbekultur verinnerlicht. Die Integration von professionellem Anspruch und ehrenamtlicher Tätigkeit spiegelt den ethischen Stellenwert der alltäglichen Handlungen und Entscheidungen wider. Dabei kann das Ethische Konzil hilfreiches Instrument zur Entscheidungsfindung sein. Die existentiellen Erfahrungen des zu Pflegenden sowohl im Bereich der existenzgefährdenden Erfahrungen (z.B. Trennungen, Isolation usw.) wie auch die existenzfördernden Erfahrungen (Weltanschauung, Moral, Glaube usw.) runden das biographisch zu Dokumentierende und Überprüfbare ab. Der Begriff der Strukturqualität fragt im Rahmen der Sterbebegleitung nach der Vorhaltung personeller, sachlicher und organisatorischer Potentiale. Professionelle Sterbebegleitung ist in jeder Einrichtung notwendig. Hier ist ein Blick in den § 39a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) eine sichernde Maßnahme, um Voraussetzungen, Ablauforganisation, Dokumentation und Qualifikation der Mitarbeiter zu überprüfen. Fragen wie nach ausgebildeten Palliative Care Pflegefachkräften bedürfen einer entsprechend dem vorher beschriebenen Leitbild positiven Beantwortung, da ansonsten eine adäquate Sterbebegleitung ad absurdum geführt würde. Im Rahmen der Prozessqualität werden die tatsächlich erbrachten Qualitäten der Dienstleistung des Mitarbeiters im Zusammenwirken mit dem Patienten bzw. dem Bewohner gesehen. Sind notwendige Koordinationen erfolgt mit Hospizdiensten, Palliativärzten, welche Interventionen haben stattgefunden (z.B. gemeinsam mit den Angehörigen) und wurden Teilleistungen erbracht? Die Prozessqualität ist für jeden Sterbenden individuell – messbar an der körperlichen Befindlichkeit sowie der geistig-seelischen Bedürfnisbefriedigung. Die so genannte Ergebnisqualität meint die erreichte Qualität für Patient bzw. Bewohner über die unmittelbare Dienstleistung hinaus. Im Rahmen der Sterbebegleitung spricht Hospizkultur an dieser Stelle mehr von Erlebnisqualität statt Ergebnisqualität. Wie dieses menschliche Erleben gemessen werden kann, bleibt so lange verborgen, wie wir uns der Lernfähigkeit am Bewohner und Sterbenskranken gegenüber verschließen. Das Annehmen des Anderen eröffnet ethische Dimensionen, die von Pflegenden die Auseinandersetzung mit Angst, Hoffnung, Leid und das Mit-Leiden-Können auszuhalten erwartet. Ernst Bloch beschreibt es wie folgt: „Im Augenblick des Sterbens müssen wir uns, ob wir es wollen oder nicht, zurückgeben; das heißt, unser Ich den
12.3 Hospizkultur als Grundlage der Sterbebegleitung
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Anderen überantworten, denen – und es sind Milliarden – die nach uns kommen, weil sie und nur sie allein unser unvollendetes Sein vollenden können“ [Bloch 2007]. Daran, sich dem Anderen zu nähern, mitzuwirken ist die größte Kunst und auch ein gesellschaftlicher Auftrag, bei dem Kranken- und Altenpflege einen besonderen Beitrag leisten kann. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Organisation notwendenderweise den Anspruch (Leitbild), den die Organisation an sich selbst hat, beschreiben und offenkundig überprüfen lassen, an der hospizlichen und palliativen Haltung. Einer Haltung, die Sterbenskranke lebensbejahend integriert. Im Rahmen der Organisationsentwicklung gilt es, folgende Parameter zu überprüfen: – radikale Orientierung am Menschen, – Mitarbeiterorientierung, – Behandlungsteam, – Netzwerkbildung, – ethische Orientierung, – gesellschaftliche Wirkung. Hilfreich sind hier auch, um eine Organisation dementsprechend zu entwickeln, das Grundsatzpapier „Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen im hohen Lebensalter in Pflegeeinrichtungen“ [DGP/DHPV 2012] sowie die „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“ [DGP et al. 2011]. Die Gestaltung des Sterbeprozesses nach den individuellen Bedürfnissen des Bewohners am Beispiel Pflegeheim würde sich entsprechend Abbildung 12.3 darstellen lassen. Die unvermeidliche Tatsache des bald bevorstehenden Todes soll für uns alle Beweggrund sein, sich mit Art und Intensität desselben zu beschäftigen. Der uns anvertraute Sterbenskranke braucht im Sterbeprozess die Gewissheit, nicht zur Last der Gesellschaft zu werden, sondern eine Mitmenschlichkeit zu erfahren, die in eine überprüfbare, hospizliche Haltung mündet.
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12 Besondere Aspekte der Versorgung Pflegebedürftiger
Gibt es Bezugspersonen? Kann Begleitung geleistet werden? PalliativCare (befähigte Mitarbeiter)
Kann dies von der Heimseite geleistet werden?
Brauchen diese in der Sterbephase selbst Begleitung?
Recherche im Pflegedokumentationssystem Vollmacht Patientenverfügung
Hausarzt
Angehörige
Hospiz Koordinator / Bewohner
Pflegedienst- / Wohnbereichsleitung
Möchten diese die Sterbephase aktiv mitgestalten?
Können Angehörige von Seiten des Personals unterstützt werden?
- palliativmedizinische Kenntnisse - Kontakt zu medizinischen Palliativzentren (z. B. Aachen)
Einbeziehung Ehrenamtlicher - z. B. Hospizdienst integrieren
Kontakt in Bezug auf Dienstplangestaltung bzw. -änderung
Information an Priester bzw. Pfarrer, wenn Besuch gewünscht
Abb. 12.3: Hospizarbeit und Sterbeprozess im Pflegeheim nach dem HoLDe®-Konzept (Quelle: Gerda Graf).
12.4 Spezialisierte ambulante Palliativversorgung und stationäre Hospizversorgung Jutta Vogel-Kirklies und Thomas Gaertner Den stationären, teilstationären und ambulanten Hospizleistungen sowie der ambulanten Palliativversorgung im Rahmen der vertragsärztlichen Regelversorgung kommt mittlerweile eine immense Bedeutung als integraler Bestandteil der Gesundheitsversorgung zu. In ihrem Mittelpunkt steht, Schwerstkranken und Sterbenden, die in besonderem Maße auf Begleitung und Fürsorge angewiesen sind, ein Leben und Sterben in Würde zu ermöglichen, so wie es in der Charta zur Betreuung
12.4 Spezialisierte ambulante Palliativversorgung und stationäre Hospizversorgung
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schwerstkranker und sterbender Menschen dargelegt wird [BÄK et al. 2010, Nauck/ Dlubis-Mertens 2011]. Ihr zufolge sind die familialen Unterstützungsnetze für die Umsorgung schwerstkranker und sterbender Menschen nach wie vor insbesondere dann von außerordentlicher Bedeutung, wenn diese bis zum Tod in ihrer vertrauten Umgebung verbleiben möchten. Dieser Situation wurde seitens des Gesetzgebers bereits im Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.03.2007 Rechnung getragen mit dem Ziel, zusätzlich zu den oben genannten Versorgungsformen durch die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) die Möglichkeiten zur ambulanten Betreuung von Palliativpatienten auszubauen. Das Leistungsgeschehen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für den Leistungsbereich SAPV hat seit deren Einführung im Jahr 2007 kontinuierlich zugenommen, der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) verzeichnet im Auftrag der Krankenkassen nach § 275 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) eine steigende Zahl entsprechender Begutachtungsaufträge zur Sachverhaltsermittlung [Gronemeyer 2010]. Zur Vereinheitlichung des Begutachtungsverfahrens wurde auf Bundesebene eine Arbeitsgruppe „SAPV und stationäre Hospizversorgung“ der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege“ (SEG 2) der MDK-Gemeinschaft etabliert. Sie verfolgt darüber hinaus die aktuellen Entwicklungen, um diese sowohl in internen Diskussionen als auch beratend auf Systemebene weiter zu begleiten.
12.4.1 Spezialisierte ambulante Palliativversorgung Bei der SAPV handelt es sich um eine interdisziplinäre spezialisierte Leistung durch diesbezüglich besonders qualifizierte Palliativteams, die ärztliche und pflegerische Inhalte umfasst. Sie bezieht neben dem Palliativpatienten auch sein soziales Umfeld mit ein und wird bei Bedarf auch rund um die Uhr zur Verfügung gestellt. Voraussetzung sind bestimmte Problemkonstellationen, die aus der Intensität oder Komplexität des Krankheitsverlaufs resultieren und die Betreuung und Begleitung durch ein spezialisiertes Palliativteam notwendig werden lassen. Die SAPV-Leistungen umfassen Linderung von Symptomen, Beratung zu Therapieentscheidungen, Sterbebegleitung, Koordinierung einzelner Teilleistungen sowie zusätzlicher professioneller Hilfen wie beispielsweise psychosoziale und spirituelle Begleitung. Darüber hinaus gehende Begleitleistungen, wie etwa die Sterbebegleitung oder die Begleitung der Angehörigen, sind vom Leistungsanspruch nicht umfasst, können aber ergänzend, beispielsweise von ambulanten Hospizdiensten, erbracht werden. Die gegenüber anderweitigen ambulanten palliativen Versorgungsangeboten besonderen Anspruchsvoraussetzungen der SAPV sind im § 37b SGB V geregelt. Konkretisiert werden die Vorgaben durch die Richtlinie zur Verordnung von spezialisierter ambulanter Palliativversorgung vom 20.12.2007 (Spezialisierte Ambulante Pallia-
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tivversorgungs-Richtlinie – SAPV-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), in Kraft getreten am 12.03.2008, zuletzt geändert am 15.04.2010. Nach § 1 der SAPV-RL gilt als Ziel der SAPV: „… die Lebensqualität und die Selbstbestimmung schwerstkranker Menschen zu erhalten, zu fördern und zu verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod in ihrer vertrauten häuslichen oder familiären Umgebung zu ermöglichen. Im Vordergrund steht anstelle eines kurativen Ansatzes die medizinisch-pflegerische Zielsetzung, Symptome und Leiden einzelfallgerecht zu lindern … Die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Patientin oder des Patienten sowie die Belange ihrer oder seiner vertrauten Personen stehen im Mittelpunkt der Versorgung … Die SAPV ergänzt das bestehende Versorgungsangebot und kann als alleinige Beratungsleistung, additiv unterstützende Teilversorgung oder vollständige Patientenbetreuung erbracht werden“. Nach § 37b Abs. 1 SGB V gilt: „Versicherte mit einer nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung, die eine besonders aufwändige Versorgung benötigen, haben Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Die Leistung ist von einem Vertragsarzt oder Krankenhausarzt zu verordnen3.“ Die SAPV-RL konkretisiert in § 3 die Anforderungen an die Erkrankung: „ … (1) Eine Erkrankung ist nicht heilbar, wenn nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse Behandlungsmaßnahmen nicht zur Beseitigung dieser Erkrankung führen können. (2) Sie ist fortschreitend, wenn ihr Verlauf trotz medizinischer Maßnahmen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht nachhaltig aufgehalten werden kann. (3) Eine Erkrankung ist weit fortgeschritten, wenn die Verbesserung von Symptomatik und Lebensqualität sowie die psychosoziale Betreuung im Vordergrund der Versorgung stehen und nach begründeter ärztlicher Einschätzung die Lebenserwartung auf Tage, Wochen oder Monate gesunken ist. Insbesondere bei Kindern sind die Voraussetzungen für die SAPV als Krisenintervention auch bei einer länger prognostizierten Lebenserwartung erfüllt.“ In der Regel erhalten Kinder mit lebenslimitierenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen größtenteils bereits umfassende therapeutische und/oder psychosoziale Unterstützung. SAPV kann unter anderem im Rahmen einer im Einzelfall notwendigen Krisenintervention als zusätzlich phasenweise erforderliche Leistung indiziert sein, ohne eine entsprechende Alternative zu ersetzen. Die Notwendigkeit einer
3 Zur Vereinheitlichung kommt das Formular Muster 63 „Verordnung spezialisierter ambulanter Palliativversorgung (SAPV)“ zur Anwendung.
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Krisenintervention ist dabei in solchen Krankheitsphasen zu erwarten, welche einer besonders aufwändigen Versorgung, d.h. insbesondere eines multiprofessionellen, interdisziplinären und palliativen Ansatzes bedürfen und zusätzlich ein komplexes Symptomgeschehen im Sinne der SAPV-RL (s.u.) aufweisen. Die Betreuung und Führung dieser Kinder in Bezug auf das zugrunde liegende Krankheitsbild ist grundsätzlich eine Domäne fachpädiatrischer Spezialisten. Am 12.06.2013 wurden vom GKV-Spitzenverband, den Verbänden der Krankenkassen auf Bundesebene, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, dem Deutschen Hospiz- und PalliativVerband e.V. die „Empfehlungen zur Ausgestaltung der Versorgungskonzeption der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) von Kindern und Jugendlichen“ herausgegeben. Voraussetzung ist eine ordnungsgemäße ärztliche Verordnung (Muster 63), die der Genehmigung durch die Krankenkasse bedarf. Elemente des strukturierten Versorgungsprozesses durch das zielgruppenspezifische SAPV-Team sind: Kontaktaufnahme mit dem Patienten bzw. seinen Angehörigen und dem verordnenden Arzt, Beratung der an der Versorgung Beteiligten (Primärversorger, Angehörige und Patienten), Erstvisite beim Patienten in seinem häuslichen Umfeld, ressourcenorientierte Versorgungsplanung inklusive Notfallplanung und Krisenantizipation, Koordination zur Sicherstellung der individuellen, bedarfsgerechten und abgestimmten Versorgung sowie Teil- und Vollversorgung inklusive Hausbesuche im Verlauf. Die Dokumentation der SAPV hat mittels eines auf die Besonderheiten der Zielgruppe abgestimmtes (vorzugsweise elektronisches) Dokumentationssystem kontinuierlich zu erfolgen. Zudem hat das SAPV-Team ein internes Qualitätsmanagement durchzuführen. Die unter § 4 der SAPV-RL thematisierte besonders aufwändige Versorgung orientiert sich an dem „Vorliegen eines komplexen Symptomgeschehens, dessen Behandlung spezifische, palliativmedizinische und/oder palliativpflegerische Kenntnisse und Erfahrungen sowie ein interdisziplinär, insbesondere zwischen Ärzten und Pflegekräften im besonderen Maße abgestimmtes Konzept voraussetzt“. Bedarf an einer besonders aufwändigen Versorgung besteht, soweit die anderweitigen ambulanten Versorgungsformen sowie ggf. die Leistungen des ambulanten Hospizdienstes nicht oder nur unter besonderer Koordination ausreichen würden, um die Ziele nach § 1 SAPV-RL (menschenwürdiges Leben bis zum Tod in der vertrauten Umgebung, optimierte Symptomkontrolle etc.) zu erreichen. Als anderweitige ambulante Versorgungsformen im Bereich der Palliativversorgung können insbesondere folgende Angebote angesehen werden: – haus- und fachärztliche Versorgung einschließlich notwendiger Versorgung mit Arznei- und Verbandsmitteln sowie Heil- und Hilfsmittelversorgung – ambulante Versorgung durch Spezialambulanzen (§ 116b SGB V) – Versorgung durch ambulante Pflegedienste (häusliche Krankenpflege oder Leistungen nach SGB XI) – Betreuung durch ambulante Hospizdienste – Seelsorge
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– Versorgungsangebote, bei denen die ärztliche und pflegerische Versorgung durch Leistungserbringer erbracht wird, die über eine Basisqualifikation in Palliativversorgung verfügen Ein komplexes Symptomgeschehen liegt nach den SAPV-RL in der Regel dann vor – wobei die Auflistung als nicht abschließend zu betrachten ist –, „wenn mindestens eines der nachstehenden Kriterien erfüllt ist: – ausgeprägte Schmerzsymptomatik – ausgeprägte neurologische/psychiatrische/psychische Symptomatik – ausgeprägte respiratorische/kardiale Symptomatik – ausgeprägte gastrointestinale Symptomatik – ausgeprägte ulzerierende/exulzerierende Wunden oder Tumore – ausgeprägte urogenitale Symptomatik“ Zusammengefasst sind im Einzelfall SAPV-Leistungen indiziert, wenn – eine nicht heilbare, fortschreitende Erkrankung vorliegt, die so weit fortgeschritten ist, dass die Lebenserwartung nach begründeter Einschätzung des verordnenden Arztes auf Tage, Wochen oder Monate gesunken ist (insbesondere bei Kindern sind die Voraussetzungen für die SAPV als Krisenintervention auch bei einer länger prognostizierten Lebenserwartung erfüllt) und – der bisherige Verlauf gezeigt hat, dass die Ziele nach § 1 Absatz 1 der SAPV-RL im Rahmen der anderweitigen ambulanten Versorgungsformen nicht oder nur durch besondere Koordination erreicht werden können (besonders aufwändige Versorgung) und – wenn ein komplexes Symptomgeschehen vorliegt, dessen Behandlung spezifische palliativmedizinische und/oder palliativpflegerische Kenntnisse sowie ein interdisziplinär, insbesondere zwischen Ärzten und Pflegekräften in besonderem Maße abgestimmtes Konzept voraussetzt. Weiterhin gilt nach § 37b Abs. 1 SGB V: „Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung umfasst ärztliche und pflegerische Leistungen einschließlich ihrer Koordination insbesondere zur Schmerztherapie und Symptomkontrolle und zielt darauf ab, die Betreuung der Versicherten … in der vertrauten Umgebung des häuslichen oder familiären Bereichs zu ermöglichen; hierzu zählen beispielsweise Einrichtungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und der Kinder- und Jugendhilfe. Versicherte in stationären Hospizen haben einen Anspruch auf die Teilleistung der erforderlichen ärztlichen Versorgung im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung. Dies gilt nur, wenn und soweit nicht andere Leistungsträger zur Leistung
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verpflichtet sind. Dabei sind die besonderen Belange von Kindern zu berücksichtigen.“ Die international gebräuchlichen Definitionen der pädiatrischen Palliativversorgung verfolgen, im Gegensatz zur Erwachsenen-Palliativmedizin, weiterreichende Zielstellungen und eine umfassende Betrachtungsweise des gesamten Familiengefüges [WHO 2009]. Daran knüpft sich auch die Forderung nach einer möglicherweise phasenhaften, sich zum Teil über Jahre erstreckenden Versorgung an, da viele Erkrankungen im Kindesalter mit der Möglichkeit zu Todesnähe und Sterben potentiell progredient verlaufen und ein unheilbares oder fortgeschrittenes Stadium erreichen können [Zernikow/Hechler 2008, Zernikow 2013]. Des Weiteren haben nach § 37b Abs. 2 SGB V auch Versicherte in stationären Pflegeeinrichtungen einen Anspruch auf spezialisierte Palliativversorgung. Dabei ist vertraglich zu regeln, ob die Leistung durch Vertragspartner der Krankenkassen in der Pflegeeinrichtung oder durch Personal der Pflegeeinrichtung erbracht wird. Neben der Konkretisierung der leistungsrechtlichen Voraussetzungen (s.u.) bestimmt die SAPV-RL die Zusammenarbeit der SAPV-Leistungserbringer mit den bestehenden ambulanten Hospizdiensten und stationären Hospizen (integrativer Ansatz). Die Inhalte und der Umfang der SAPV-Leistungen werden in § 5 der SAPV-RL geregelt. Wesentlich erscheint, dass SAPV-Leistungen nur von Leistungsanbietern erbracht werden können, die den Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes nach § 132d Abs. 2 SGB V in der Fassung vom 05.11.2012 erfüllen. Diese betreffen 1. die sächlichen und personellen Anforderungen an die Leistungserbringung, 2. Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Fortbildung, 3. Maßstäbe für eine bedarfsgerechte Versorgung mit spezialisierter ambulanter Palliativversorgung. Die SAPV kann als zusätzliche Leistung neben den Leistungen der anderweitigen ambulanten Versorgungsformen verordnet werden. Ziel ist eine flexible Leistungsübernahme durch die spezialisierten Leistungserbringer, bei der die Intensität der Leistungen nach Bedarf erweitert oder reduziert werden kann. Im Einzelfall kann eine Weiterversorgung im Rahmen der anderweitigen ambulanten Versorgungsformen möglich sein. Inhaltlich kann die SAPV grundsätzlich alle Leistungen umfassen, die auch im Rahmen der anderweitigen ambulanten Versorgungsformen mit palliativer Zielsetzung erbracht werden könnten. Die SAPV geht allerdings über die anderweitigen ambulanten Versorgungsformen hinaus. Um dem individuellen und aktuellen Versorgungsbedarf Rechnung zu tragen, wird SAPV durchgeführt als: – Beratungsleistung – Koordination der Versorgung – additiv unterstützende Teilversorgung oder – vollständige Versorgung
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Sie wird nach Bedarf intermittierend oder durchgängig erbracht. Im Rahmen von Beratungsleistungen kommen beispielsweise zum Tragen: – Beratung, Anleitung und Begleitung der Patienten und ihrer Angehörigen zur palliativen Versorgung einschließlich Unterstützung beim Umgang mit Sterben und Tod – spezialisierte Beratung der betreuenden Leistungserbringer der Primärversorgung Die Koordination der spezialisierten palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Versorgung erfolgt unter Einbeziehung aller für die Versorgung eines Patienten notwendigen spezialisierten und nicht spezialisierten Leistungserbringer und Berufsgruppen im Rahmen einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Zu einem multiprofessionellen Netzwerk aus spezialisierten und nicht-spezialisierten Leistungserbringern können neben dem Palliativmediziner und der Pflegefachkraft mit Palliative Care-Weiterbildung weitere Pflegefachkräfte, Therapeuten (z.B. Physiotherapeuten), Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder Psychologen gehören. Hinzukommen kommen ehrenamtliche Mitarbeiter der Hospizgruppen. Die einzelnen Maßnahmen werden in der Regel von den Leistungserbringern der anderweitigen ambulanten Versorgungsformen erbracht. Im Rahmen der additiv unterstützenden Teilversorgung können einzelne oder mehrere Maßnahmen aus dem Leistungsumfang der SAPV (vgl. § 5 Abs. 3 SAPV-RL) durch den spezialisierten Leistungserbringer durchgeführt werden. Die palliativmedizinischen und/oder -pflegerischen Maßnahmen werden im Rahmen von Hausbesuchen direkt am Patienten erbracht. Außer dem spezialisierten Leistungserbringer sind noch weitere ärztliche oder pflegerische Leistungserbringer regelmäßig in die palliative Versorgung des Patienten einbezogen. Ein Teil der notwendigen palliativen Maßnahmen wird weiterhin im Rahmen der anderweitigen ambulanten Versorgungsformen erbracht. Bei der vollständigen Versorgung werden alle individuell notwendigen Maßnahmen aus dem Leistungsumfang der SAPV durch den spezialisierten Leistungserbringer durchgeführt. Additiv unterstützende Teilversorgung sowie vollständige Versorgung durch das SAPV-Team beinhalten somit die notwendigen spezialisierten palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Maßnahmen, die nach ihrer Art, Schwere und Komplexität eine Kompetenz erfordern, die der eines Arztes mit der Zusatzweiterbildung Palliativmedizin bzw. einer Pflegefachkraft mit einer curricularen Weiterbildung zu Palliative Care entspricht. Beispielhaft können inhaltlich angeführt werden: – die Festlegung eines speziellen palliativen Behandlungsplans zur Kontrolle des komplexen Symptomgeschehens (das Abstimmen des Behandlungsplans erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt) – die Erstellung eines speziellen palliativen medikamentösen Behandlungsplans nach festem Zeitintervall mit individueller Dosis und Dosisanpassung
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– die spezielle Aufklärung der Patienten und deren Angehörigen über Zustand, Prognose, mögliche Krisen und Verläufe (Antizipation) – die Unterstützung und Beratung bei Entscheidungen über kausale und symptomatische Therapien sowie über Therapieänderung einschließlich eventueller Therapiebegrenzung (Reanimation, Krankenhauseinweisung) – die palliative ärztliche Behandlung von ausgeprägten exulzerierenden Tumoren und Wunden – die Behandlung in der Finalphase und ggf. terminale Sedierung unter Berücksichtigung der ethischen Grundsätze und des Patientenwillens einschl. Begleitung der Sterbenden und der Angehörigen – die Sicherstellung der Umsetzung und Kontrolle der ärztlichen palliativmedizinischen Anweisungen – die Durchführung einer spezialisierten Schmerzbehandlung durch Medikamentengabe nach vorgegebenem ärztlichen Behandlungs- und Bedarfsplan – die Anleitung und Unterstützung von Angehörigen und involvierten Pflegefachkräften bei der Durchführung spezieller therapeutischer und palliativpflegerischer Maßnahmen
Alternative Versorgungsmöglichkeiten An dieser Stelle bleibt auf die bereits angeführte anderweitige ambulante Versorgung zu verweisen. Bei individueller Notwendigkeit und Indikation können ebenfalls zum Tragen kommen: – vollstationäre Pflege (§ 43 SGB XI) – stationäre Hospizpflege (§ 39a SGB V) – Krankenhausbehandlung inkl. Behandlung auf einer Palliativstation (§ 39 SGB V)
12.4.2 Stationäre Hospizversorgung Der Hospizbewegung in Deutschland liegen intersektorale sowie interdisziplinäre Begleitungs-, Behandlungs- und Betreuungsansätze zugrunde mit dem Ziel, Leid zu lindern und ein aktives Leben bzw. bestmögliche Lebensqualität in der letzten Lebensphase bis zum Tod zu realisieren. Dabei gehören Hospizvereine – basierend meist auf ehrenamtlichem Engagement – zu den tragenden Säulen der Palliativ- und Hospizversorgung. Im Vordergrund standen und stehen zwar weiterhin ambulante Versorgungs- und Betreuungsformen, in Einzelfällen kann jedoch aufgrund fehlender sozialer Netzwerkstrukturen oder deren Überforderung eine stationäre Versorgung in einem Hospiz indiziert sein. Nach § 39a SGB V werden ambulante und stationäre Hospizleistungen in Form der – ambulanten Hospizdienste, – Versorgung von Kindern durch ambulante Hospizdienste,
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– stationären und teilstationären Versorgung in Hospizen, – Versorgung in Kinderhospizen unterschieden. Stationäre Hospize stellen kleine eigenständige Einrichtungen (baulich, organisatorisch, wirtschaftlich mit separatem Personal und Konzept) mit familiärem Charakter, aber eigenständigem Versorgungsauftrag dar, wobei der sterbende Mensch (mit seinen Angehörigen) im Mittelpunkt steht. Die Betreuung erfolgt durch ein multiprofessionelles Team mit palliativmedizinischer und palliativpflegerischer Ausrichtung. Es ist ausgeschlossen, dass ein stationäres Hospiz Bestandteil einer stationären Pflegeeinrichtung ist. Während in stationären Pflegeheimen die auf Dauer angelegte pflegerische Versorgung im Vordergrund der Unterstützung steht, dominiert in einem stationären Hospiz die phasenhafte palliativmedizinische und palliativpflegerische Betreuung, Begleitung und Versorgung des Patienten. Stationäre Hospizversorgung beinhaltet somit unter bestimmten Voraussetzungen ein Betreuungsangebot für Menschen, bei denen die Symptomlinderung im Mittelpunkt steht, wobei aufgrund individueller Kontextfaktoren das Verbleiben in der Häuslichkeit – möglicherweise auch nur passager – nicht verwirklicht werden kann. Im Einzelfall kann durchaus auch eine Rückkehr in die häusliche Umgebung oder andere etablierte Versorgungsstrukturen angestrebt und realisiert werden. Die Anspruchsvoraussetzungen für stationäre Hospizleistungen sind im § 39a SGB V geregelt. Konkretisiert werden die Vorgaben durch Rahmenvereinbarung nach § 39a Abs. 1 Satz 4 SGB V über Art und Umfang sowie Sicherung der Qualität der stationären Hospizversorgung vom 13.03.1998 i. d. F. vom 14.04.2010 zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen mit den für die Wahrnehmung der Interessen der stationären Hospize maßgeblichen Spitzenorganisationen. Nach § 39a SGB V ist eine Finanzierung der stationären Hospizleistungen im vollen Umfang nicht vorgesehen. Gesetzlich festgesetzt ist eine Eigenbeteiligung des Hospizes in Höhe von 10 Prozent aller Kosten, die beispielsweise über Spenden oder ehrenamtliche Mitarbeiter finanziert werden können bzw. müssen. Die Krankenkassenverbände auf Landesebene schließen gemeinsam und einheitlich einen Vertrag nach § 5 der Rahmenvereinbarung, wenn ein Hospiz die darin genannten Voraussetzungen einschließlich der Qualitätsanforderungen erfüllt. Im Vertrag werden auch die individuellen Tagessätze des Hospizes festgesetzt. Die Höhe des Zuschusses zum Hospiz-Tagessatz ist in der Satzung der Krankenkasse festzulegen und darf einen Mindestbetrag nicht unterschreiten. Nach § 7 Abs. 6 Satz 2 der Rahmenvereinbarung dürfen von den Versicherten weder Eigenanteile gefordert noch Ihnen in Rechnung gestellt werden. Nach § 39a Abs. 1 SGB V gilt: „Versicherte, die keiner Krankenhausbehandlung bedürfen, haben im Rahmen der Verträge nach Satz 4 Anspruch auf einen Zuschuss zu stationärer oder teilstationärer Versorgung in Hospizen, in denen palliativ-medizinische Behandlung erbracht wird, wenn eine ambulante Versorgung im Haushalt oder der Familie des Versicher-
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ten nicht erbracht werden kann. Die Krankenkasse trägt die zuschussfähigen Kosten nach Satz 1 unter Anrechnung der Leistungen nach dem Elften Buch zu 90 vom Hundert, bei Kinderhospizen zu 95 vom Hundert …“ Entsprechend der Rahmenvereinbarung stellen stationäre Hospize ergänzend zur ambulanten Hospizbetreuung sowie zur Versorgung Sterbender in Pflegeheimen und in Krankenhäusern (insbesondere Palliativstationen) ein auf spezielle Erfordernisse zugeschnittenes Leistungsangebot dar, das wie die genannten Versorgungsformen auch „die Lebensqualität des sterbenden Menschen verbessert, seine Würde nicht antastet und aktive Sterbehilfe ausschließt“. In diesem Zusammenhang nimmt die enge Kooperation mit regionalen Netzwerkstrukturen (niedergelassene Vertragsärzte, Vertragskrankenhäuser, Protagonisten des Versorgungsspektrums) einen hohen Stellenwert ein. Die palliativmedizinische und palliativpflegerische Versorgung sowie soziale und geistig-seelische Betreuung kann mit dem Ziel der Entlastung und Unterstützung der Betroffenen auch – als besondere Form der vollstationären Versorgung – teilstationär realisiert werden. Als Grundvoraussetzung zur Versorgung in einem stationären Hospiz wird abweichend von den Ausführungen in der ersten Fassung der Rahmenvereinbarung aus dem Jahr 1998 und im Gegensatz zu der aktuellen SAPV-Richtlinie ein „weit fortgeschrittenes Krankheitsstadium“ oder ein „besonders aufwändiger Versorgungsbedarf“, ausgelöst durch ein komplexes Symptomgeschehen, ebenso wenig ausdrücklich gefordert wie das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI. Gemäß § 2 Abs. 1 der Rahmenvereinbarung gilt als Grundvoraussetzung für die Aufnahme in eine stationäre Hospizeinrichtung, dass „… a) die Patientin bzw. der Patient an einer Erkrankung leidet, – die progredient verläuft und – bei der eine Heilung ausgeschlossen und eine palliativ-medizinische und palliativ-pflegerische Versorgung notwendig oder von der Patientin bzw. dem Patienten erwünscht ist und – die lediglich eine begrenzte Lebenserwartung von Tagen, Wochen oder wenigen Monaten – bei Kindern auch Jahren – erwarten lässt, b) eine Krankenhausbehandlung im Sinne des § 39 SGB V nicht erforderlich ist und c) eine ambulante Versorgung im Haushalt oder in der Familie nicht ausreicht, weil der palliativ-medizinische und palliativ-pflegerische und/oder psychosoziale Versorgungsbedarf, der aus der Krankheit resultiert, die Möglichkeiten der bisher Betreuenden regelmäßig übersteigt. Damit sind neben den Angehörigen insbesondere die vertragsärztliche Versorgung, die Leistungen der häuslichen Krankenpflege, die Leistungen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, die Leistungen des ambulanten Hospizdienstes sowie Angebote durch weitere Berufsgruppen und (familien)ergänzende ambulante Versorgungsformen gemeint. Bei erkrankten Kindern kommt der Entlastung des Familiensystems bereits ab Diagnosestellung besondere Bedeutung zu …“
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Der Begriff „Kinder“ umfasst entsprechend einer Erläuterung der Präambel der Rahmenvereinbarung Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, wenn die Erkrankung im Kindes- oder Jugendalter aufgetreten ist und die Versorgung im Kinderhospiz gewünscht wird, im Einzelfall auch bei Auftreten der Erkrankung im jungen Erwachsenenalter. Auch wird im Unterschied zu Erwachsenen bei Kindern die Voraussetzung „begrenzte Lebenserwartung“ nicht in einem Zeitrahmen von „Tagen, Wochen oder wenigen Monaten“ definiert, sondern auf ein Intervall von „Jahren“ ausgedehnt. Wesentlich erscheint die Integration der Gesamtfamilie in das Versorgungskonzept, beginnend mit der Diagnosestellung beim Kind. Entsprechend § 2 Abs. 2 der Rahmenvereinbarung gilt bezüglich der typischen Krankheitsbilder: „Eine palliativ-medizinische und palliativ-pflegerische Versorgung in einem stationären Hospiz kommt – sofern die vorgenannten Grundvoraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind – insbesondere bei einem der folgenden Krankheitsbilder in Betracht: a) Krebserkrankungen, b) Vollbild der Infektionskrankheit AIDS, c) Erkrankungen des Nervensystems, d) chronische Nieren-, Herz-, Verdauungstrakt- oder Lungenerkrankungen. Insbesondere folgende Diagnosen begründen zusätzlich die palliativmedizinische und palliativ-pflegerische Versorgung von Kindern in Kinderhospizen: a) Stoffwechselerkrankungen, die schon im Kindes- oder Jugendalter in der Regel zum Tode führen, b) genetisch bedingte Erkrankungen, Immunerkrankungen und Fehlbildungen mit lebensverkürzender Prognose.“ Gemäß § 2 Abs. 3 der Rahmenvereinbarung liegt die Notwendigkeit einer stationären Hospizversorgung grundsätzlich bei Patientinnen und Patienten, die in einer stationären Pflegeeinrichtung versorgt werden, nicht vor (laut Rahmenvertrag nach § 75 Abs. 2 SGB XI ist die Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen integraler Bestandteil einer vollstationären Pflege). In Einzelfällen eröffnet sich jedoch die Möglichkeit, die Kriterien der oben ausgeführten individuellen Anspruchsberechtigung einer Überprüfung (ggf. unter Beteiligung des MDK) zu unterziehen und eine Verlegung zu veranlassen. Hinsichtlich der Dauer der beantragten stationären Hospizversorgung definiert § 2 Abs. 4 der Rahmenvereinbarung konkret zunächst einen Zeitraum von vier Wochen. Längere Aufenthalte bedürfen individueller Verlängerungsanträge mit entsprechenden transparenten und nachvollziehbaren Begründungen. In der Regel treten im weiteren Verlauf eines festgestellten Finalstadiums einer Erkrankung mit palliativer Versorgungsnotwendigkeit eines Patienten keine wesentlichen Veränderungen auf. Dennoch kann in Einzelfällen zu prüfen sein, ob der Zustand des Patienten und der Familie trotz des schweren Krankheitsbildes eine solche Stabilität erreicht hat, dass
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eine Entlassung nach Hause möglich ist. In diesem Zusammenhang können nach § 2 Abs. 5 der Rahmenvereinbarung auch Wiederaufnahmen innerhalb eines Jahres anberaumt werden. Ein Hospiz muss den dargestellten Versorgungsansprüchen in Bezug auf Struktur- und Prozessqualität Rechnung tragen können. Entsprechende Vorgaben finden sich in den §§ 3 und 4 der Rahmenvereinbarung. Als Hintergrundinformation ergibt sich im Überblick das folgende Leistungsspektrum in einem stationären Hospiz: – Unterkunft, Verpflegung und Leistungen entsprechend der stationären Pflegeeinrichtungen – allgemeine und spezielle palliativmedizinische/ -pflegerische Leistungen mit dem Ziel der Symptomlinderung – Miteinbeziehung der Angehörigen – Möglichkeiten der Kriseninterventionen (physisch und psychisch) – psychosoziale und seelsorgerische Begleitung – ärztliche Behandlung durch Vertragsarzt, ggf. additiv spezialisierte palliativärztliche Versorgung im Rahmen des § 37b SGB V (SAPV) bei schwerwiegenden palliativmedizinischen Problemen (s.a. RL § 1 Abs. 3 SAPV) Kinderhospize verfügen über zielgruppenspezifische charakteristische Strukturen, die gemäß der Präambel der Rahmenvereinbarung auf die besonderen Bedürfnisse und Wünsche von Kindern mit lebenslimitierenden Erkrankungen und ihren Familien bereits ab Diagnosestellung ausgerichtet sind. Es bestehen alters- und zielgruppenspezifische Anforderungen an die Art und Qualität der personellen, räumlichen und technischen Ausstattung, insbesondere auch konzeptionell im Hinblick auf die gemäß § 3 Abs. 3 und Abs. 9 der Rahmenvereinbarung betonte Notwendigkeit der Betreuung der gesamten Familie (Patient, Eltern, Geschwister) während des stationären Hospizaufenthaltes eines Kindes. Neben den spezifisch pädiatrisch palliativmedizinisch und -pflegerischen Anforderungen, die sich auch in der ausgeprägten Heterogenität der Krankheitsbilder im Vergleich zum Diagnosespektrum im Erwachsenenalter begründen, ist eine altersgerechte psychologische, psychosoziale sowie pädagogische Betreuung (ggf. auch der Geschwisterkinder) notwendig. Die stationäre Hospizversorgung stellt grundsätzlich ein ergänzendes Leistungsangebot dar. Liegen im Einzelfall die Anspruchsvoraussetzungen für eine stationäre Hospizaufnahme nicht vor, sind folgende alternative Versorgungsmöglichkeiten zu erwägen (Auflistung nicht abschließend): – Leistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) – teilstationäre Angebote (z.B. Tagespflege) – ambulanter Hospizdienst, Selbsthilfegruppen – vertragsärztliche Versorgung (§ 27 SGB V) – Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln (§ 31 SGB V) – Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln (§§ 32/33 SGB V) – häusliche Krankenpflege (§ 37 SGB V)
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– ambulante Behandlung am Krankenhaus (§ 116b SGB V) – Psychoonkologie – Seelsorge Bei individueller Notwendigkeit und Indikation können zudem zum Tragen kommen: – spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV nach § 37b SGB V) – Palliativstation eines Krankenhauses (§ 39 SGB V) Häufig wird ein Antrag auf stationäre Hospizversorgung am Ende eines Krankenhausaufenthaltes gleichzeitig mit einem Pflegeantrag zur Überleitung in eine vollstationäre Pflegeeinrichtung durch den Sozialdienst der Klinik initiiert (z.B. Anträge mit verkürzter Begutachtungsfrist nach § 18 Abs. 3 Satz 3 SGB XI). Der Gewährung von stationären Hospizleistungen liegt neben einem Kostenübernahmeantrag des Versicherten oder des gesetzlichen Vertreters bei der Krankenkasse eine ärztliche Notwendigkeitsbescheinigung zugrunde. Daneben kommen zwischen regionalen Krankenkassen und einzelnen Hospizen vereinbarte ergänzende Fragebögen oder kombinierte Antragsformulare zur Anwendung.
13 Verletzungen von Rechten Pflegebedürftiger 13.1 Gewalt gegen Senioren im öffentlichen Raum und in Heimen. Strafrechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen sowie Präventionsansätze Arthur Kreuzer 13.1.1 Grundsätzliches 13.1.1.1 Bedeutung der Thematik Schon einige Daten zur Bevölkerungsentwicklung deuten die quantitative Seite der Problematik an. Der Anteil älterer Menschen in unserer Gesellschaft wächst. Der Anteil im Rentenalter über 65 Jahren Stehender hat sich innerhalb von vier Jahrzehnten verdoppelt. Er macht jetzt etwa 20 Prozent aus. Gründe sind die durch verbesserte medizinische Versorgung und Ernährungslage gestiegene Lebenserwartung und die rückläufige Geburtenzahl. Unter den Senioren gibt es zudem immer mehr Hochaltrige und Pflegebedürftige. Von den über 85-Jährigen sind fast vier Fünftel pflegebedürftig. Etwa 70 Prozent von ihnen werden zu Hause, 30 Prozent in Pflegeeinrichtungen versorgt. Es sind überwiegend Frauen. Bis zum Jahr 2030 wird mit einem Anstieg von jetzt knapp 2,5 auf 3,4 Millionen pflegebedürftiger Menschen i. S. des Pflege-Versicherungsgesetzes gerechnet. Qualitativ kann man zu der Thematik feststellen, dass Ältere insgesamt seltener Gewaltopfer werden als junge Menschen und dass Gewalt oder Angst davor ihnen nicht als vorrangige Probleme erscheinen [Görgen et al. 2002, 2009, 2012]. Dennoch müssen wir uns ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen aus folgenden Gründen: – Ältere sind verletzlicher, opferanfälliger, und sie leiden schwerer unter Folgen von Gewalt in physischer, psychischer und sozialer Sicht. – Ältere werden zunehmend schutz- und hilflos, von anderen abhängig. – Gewalt gegen Ältere – bis hin zu Tötungen – bleibt ganz überwiegend im Dunkelfeld des Nicht-Erkannten, Nicht-Verfolgten, Nicht-Geahndeten. – Daraus folgt eine wachsende Fürsorgepflicht von Staat, Gesellschaft und sozialem Nahraum zur Prävention von Kriminalität, Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung gegenüber Älteren. Gerontologie, Kriminologie mit Viktimologie, Politik, Strafjustiz und Hilfsorganisationen nehmen sich seit einiger Zeit vermehrt dieser Thematik an. Gleichwohl mahnt etwa der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, dies sei „ein stark vernachlässigtes Thema, das immer noch verharmlost und verdrängt wird.“ Gleiches gilt für die Thematik der Finanzierung und sinnvollen Strukturierung von Altenpflege; es liegt auf der Hand, dass ausreichende Finanzierung Voraussetzung einer men-
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schenwürdigen Altenpflege und zugleich ein Beitrag zur Prävention von spezifisch aus defizitärer Ausstattung der Pflege resultierender Gewalt ist. So wurde öffentlich (Süddeutsche Zeitung vom 26.05.2009 S. 4) kritisiert: „Es war bei den Feiern für das 60 Jahre alte Grundgesetz viel vom Sozialstaat die Rede … Die Pflege alter Menschen aber spielte keine Rolle … Staat und Gesellschaft vernachlässigen die Sorge um hilflose Menschen, auch weil dies viel Geld kostet …“ Seit Langem wird gefordert, die entsprechenden Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser besser auszustatten mit spezifisch qualifizierten und vergüteten, zugleich in ihrem anspruchsvollen Arbeitsfeld gesellschaftlich anerkannten Pflegekräften. Es sind also weiterhin Problembewusstsein und die Suche nach geeigneten Präventionsstrategien auf allen Ebenen – vom Staat über Kommune, soziale Hilfestellen bis in das private Umfeld – zu fördern. Der Beitrag konzentriert sich auf strafrechtliche und andere kontrollorientierte Aspekte der Prävention, wissend, dass Strafrecht nur sekundär helfen kann. Zentral müssen in der Rechtsordnung das Zivil-, insbesondere Familien-, daneben das Sozialrecht präventiv überdacht werden (s Kap. 13.2) [Zenz 2007]. Gleiches gilt für Bemühungen amtlicher und ehrenamtlicher sowie privater Hilfe. Ergänzend kann die eher symbolische präventive Kraft des Strafrechts und seiner punktuellen Anwendung in Fällen gravierender Anlässe von Misshandlung und Vernachlässigung Älterer wirken, um Problem- und Wertbewusstsein zu stärken.
13.1.1.2 Wichtige Felder und Muster von Gewalt, Vernachlässigung, Misshandlung Zunächst ist als soziales Feld des Geschehens von Gewalt gegen Ältere der öffentliche Raum hervorzuheben. Beruhigend ist einerseits der Befund, dass Ältere hier insgesamt weit weniger betroffen sind als alle anderen, besonders junge Menschen. Das bestätigt sich in Studien zum polizeilich Verfolgten, also Hellfeld, ebenso wie solchen zum Dunkelfeld. Ältere bewegen sich nicht wie junge Menschen in delinquenzanfälligen Milieus und Gruppen und teilen nicht deren entsprechende Gestimmtheiten. Sie sind genügsamer und vorsichtiger. Sie meiden gefährliche Orte. Andererseits sind sie in zwei konkreten Deliktsbereichen opferanfälliger, nämlich bei Handtaschenraub und Trickdiebstahl. Und die Folgen solcher Taten treffen sie empfindlicher. Dazu gehört es auch, dass sie sich oftmals aus Kriminalitätsfurcht ganz dem öffentlichen Raum entziehen. Damit verlieren sie einen wichtigen Ort sozialer Teilhabe. Prävention gegenüber solcher Gewalt im öffentlichen Raum sollte – um wenige Stichworte und Beispiele zu nennen – darum bemüht sein, die Hilfs- und Anzeigebereitschaft bei Bürgern, die Augenzeugen entsprechender Gewalt werden, zu fördern. Nötig ist allgemeine präventive Aufklärung. Alten Gewaltopfern muss sich der Opferschutz privater und justizieller Stellen verstärkt und den Bedürfnissen der Senioren entsprechend zuwenden. Kommunen und karitative Einrichtungen können durch die Organisation besonderer Freizeit- und Kulturveranstaltungen sowie Fahrdienste dazu beitragen, dass Älteren der öffentliche Raum in einem Mindestmaß erhalten bleibt. Freilich gibt es auch dann viktimogene Situationen, etwa wenn für Senioren kom-
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merziell „Kaffeefahrten“ organisiert und zu betrügerischen Geschäften ausgenutzt werden; insoweit bewähren sich präventiv Anmeldepflichten für derartige Veranstaltungen, ferner stichprobenhafte verdeckte polizeiliche Ermittlungen ebenso wie journalistische investigative Erkundungen, die ausgeweitet werden sollten [Görgen et al. 2012, BMFSFJ 2009]. Nächstens ist das häuslich-familiäre Umfeld der Älteren als Ort möglicher Gewalt zu nennen. Alleinstehende Ältere werden gelegentlich Opfer aggressiver Haustürgeschäfte und Trickdiebstähle oder -einbrüche. Ebenso erliegen sie mitunter plumper „Internet-Abzocke“. Auch kommt es in Partnerbeziehungen von Senioren nicht selten zu gewaltsamen Übergriffen, zumeist jedoch erst in pflegerischen Beziehungen. Überhaupt ist das Feld der häuslichen oder Nahraum-Gewalt gegen Ältere vor allem zu orten in Pflegebeziehungen (s. Kap. 13.2) [BMFSFJ 1997]. Die Gewaltphänomene sind überwiegend ähnlich denen in stationärer (Heim-)Pflege. Gemeinsamkeiten finden sich bei Misshandlung und Vernachlässigung. Pflegedefizite bestehen namentlich in folgenden Bereichen: bei der Ernährungs- und Flüssigkeitsversorgung; beim Umgang mit Medikamenten; bei der Inkontinenz-Versorgung; in der Dekubitusprophylaxe und -therapie; bei freiheitsbeschränkenden oder freiheitsentziehenden Maßnahmen. Neben diesen vor allem physisch belastenden Defiziten sind namentlich aber auch psychische Beeinträchtigungen hervorzuheben, die mit respektlosem Umgang gegenüber Pflegebedürftigen zu tun haben. Zu nennen sind verbale Aggressionen, Demütigungen – nicht vereinbartes „Duzen“ etwa –, die Verletzung des Schamgefühls, zudem gegenüber Demenzkranken paternalistische und infantilisierende Verhaltensweisen. Mitunter wird von „verachtender Geringschätzung“ gesprochen. Gründe für Vernachlässigung und Misshandlung in häuslicher Pflege bestehen vor allem in der oft beobachtbaren Überforderung der meist ebenfalls älteren und weiblichen Pflegekräfte (Lebenspartnerinnen, Töchter und Schwiegertöchter), zumal, wenn zugehende ambulante Hilfen fehlen oder nicht ausreichen. Häufig fehlen körperliche Kraft, Wissen und Erfahrung zu entsprechender Pflege, außerdem Rekreationsmöglichkeiten. Hinzu kommen gelegentlich aus der Persönlichkeit und Biographie von Pflegenden und Gepflegten entspringende Konflikte oder Abhängigkeiten, die wechselseitig sein oder sich umkehren können (zur Kontrolle und Prävention s. Kap. 13.2). Weiter ist die stationäre Altenpflege in Pflegeeinrichtungen als Ort möglicher Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Über das Ausmaß solcher Phänomene gibt es keine exakten Erhebungen, doch verlässliche Erfahrungsberichte. Sie zeigen, dass es sich nicht nur um Einzelfälle, sondern teilweise verbreitetes Verhalten handelt, das auch systemimmanente Entstehungsgründe hat [Hirsch 2001]. Die Diskussion darf jedoch nicht übersehen, dass sich die meisten Älteren in Heimen wohl fühlen oder nur über periphere Defizite klagen oder solche der Vereinsamung, die mit der Heimpflege an sich nichts zu tun haben. Die bereits stichwortartig genannten Anlässe für Vernachlässigung und Misshandlung haben hier vor allem mit mangelnder Kompetenz oder auch Überforderung von Pflegekräften und pflegerischer Unterversorgung zu tun, außerdem mit struk-
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turellen Mängeln in einzelnen Heimen sowie mangelnder Kontrolle durch Heimleitung und Heimaufsicht. Insoweit sind insbesondere strukturelle Verbesserungen der Pflegesituation als Präventionsmaßnahmen zu nennen. Für einen internen Ausgleich bestimmter Defizite, die durch strukturelle Mängel bedingt sind, für innere Reformen aus eigener Kraft, ist vorrangig an eigenständige präventive Maßnahmen der Heime zu denken; sie können anknüpfen an die Erkenntnis, dass nicht nur Bewohner, sondern oft auch ebenso sehr Pflegekräfte unter Missständen leiden. Darüber hinaus sind außer der noch gesondert zu erörternden Ärzteschaft und Heimaufsicht folgende Maßnahmen vorzusehen, zu fördern oder wenigstens überlegenswert: Eine gestärkte Einrichtung gewählter Sprecher/Sprecherinnen; eine Förderung individueller Kontakte und Kommunikation der Angehörigen und sonst Nahestehenden zu den Heimbewohnern und -bewohnerinnen unter Einschluss ehrenamtlicher Betreuer und Betreuerinnen; die stete Betreuung durch Seelsorger aller Glaubensrichtungen; ein von unabhängigen Stellen zu berufendes kompetentes und hoch motiviertes Kontrollorgan im Sinne von Ombudsleuten für Seniorenpflegeeinrichtungen, denen jederzeitiger unangemeldeter Besuch von Pflegeeinrichtungen und einzelnen Heimbewohnern erlaubt ist. Noch weniger öffentlich bestellt ist das Feld der Vernachlässigung und Misshandlung von alten, namentlich demenzkranken Patienten in Krankenhäusern. Ältere werden ja oft nicht in spezifisch geriatrischen Abteilungen behandelt, sondern in für Ältere nicht entsprechend eingerichteten üblichen Fachabteilungen wie etwa der Unfallchirurgie. Die alten Patienten werden dort meist nur vorübergehend aufgenommen und fühlen sich besonders hilflos, muss doch heute ein Patient immer mitdenken, um Mängel zu vermeiden, die sonst wegen Unterversorgung von Pflegediensten fast unvermeidbar sind; sehr alten oder schon demenzkranken Patienten ist dies aber nicht mehr möglich. Oftmals lässt man sie beispielsweise ohne nötigen persönlichen Beistand in Gängen auf Untersuchungen warten. Man ist nicht vertraut mit ihren besonderen Bedürfnissen und Eigenheiten. Auch hier fehlt nötiges spezifisch ausgebildetes Fachpersonal [Bretschneider 2012]. Aufklärungsbroschüren wie die der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG) für „Patienten mit einer Demenz im Krankenhaus“ von 2008 sind ein erster wichtiger Schritt für sinnvolle Prävention [DAlzG 2008]. Nicht übergangen werden darf ein zwar seltener, aber doch gravierender, ganz überwiegend im Dunkelfeld verbleibender Bereich schwerster Gewalt, nämlich die oft serienmäßigen Tötungen von alten Menschen sowohl in der stationären Heimpflege durch dort Bedienstete als auch – insoweit selten – in der häuslichen Pflege durch ambulante Pflegekräfte, ebenso wie in Kliniken [Kreuzer 1992]. Spektakuläre Fälle vielfacher und mitunter jahrelanger Tötungen aus Habgier, Mitleid, Überforderung, falsch verstandener Sterbehilfe oder angemaßter medizinischer Kompetenz geraten immer wieder erst durch die Häufung entsprechender Fälle in den Verdachtsbereich und anschließend in die Strafverfolgung. Das Dunkelfeld bei vorsätzlichen und fahrlässigen Tötungen dürfte hier noch wesentlich größer sein als sonst bei Tötungsdelik-
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ten. Gründe dafür sind vielfältig: Die Versuchungssituationen und Tatgelegenheiten für entsprechend Tatgeneigte sind besonders groß, weil Täter, Tat und Opferwerden außerhalb üblicher Verdachtslagen liegen. Pflegende haben Dauerkontakt zu möglichen Opfern. Opfer sind arg- und wehrlos. Sie sind oftmals leicht manipulierbar, letztwillige Verfügungen zugunsten von Pflegenden vorzunehmen. Pflegende sind vielfach überfordert und fühlen sich durch einzelne Gepflegte oder Anlässe besonders herausgefordert. Sterben ist üblich in diesen Einrichtungen und löst an sich noch nicht Verdacht aus. Gelegentlich könnte es zu stillschweigender Übereinstimmung zwischen Heimbewohner und Pflegekraft oder zwischen diesen und Angehörigen im Sinne vorzeitiger Lebensbeendigung kommen. Tötungsmittel sind einfach und ähneln alltäglichen Handreichungen und Medikationen. Sie sind schwerlich nachweisbar. Oft mangelt es an hinreichender Kompetenz, Supervision, Aufsicht und Kontrolle. Eine subkulturelle Kumpanei von Bediensteten und Einrichtungen schottet gegen Bekanntwerden möglicher Verdachtsfälle ab. Todesfälle bei Senioren in der Pflege sind überdies bei gleicher Symptomatik ganz unterschiedlich deutbar; Definitionen reichen von natürlichem Tod über Unfall und Suizid bis zu Tötung auf Verlangen, fahrlässiger oder vorsätzlicher Tötung. Schließlich sind Obduktionen und entsprechende Erkenntnisse über Anlässe zur Obduktion selten, zumal nicht unabhängige und rechtsmedizinisch kompetente Ärzte mit der Todesfeststellung betraut sind. Zu präventiven Möglichkeiten und Verbesserungen des Erkennens und Verfolgens solcher Tötungen sind der frühe Austausch von Informationen zwischen beteiligten Stellen bei Verdachtsanzeichen und die Todesursachenfeststellung bei Älteren zu verbessern.
13.1.1.3 Zur Problematik der Begrifflichkeit Wenn man die Thematik erörtert, ist der allgemein gebrauchte Begriff der Gewalt in Frage zu stellen. Er ist „zur Skandalisierung gesellschaftlicher Sachverhalte wie kaum ein anderer geeignet“ [Görgen/Greve 2005]. Er weckt medial gut vermittelbar Betroffenheit und Problembewusstsein. Aber Wirkungen sind ambivalent. Präventiv erscheint er ungeeignet. Das haben wir in der Evaluation eines Modellprojekts zur Prävention von Gewalt gegen Ältere im persönlichen Nahraum und dabei namentlich bei der Einführung eines Krisen- und Beratungstelefons für Gewalt im Alter festgestellt. Er ist geeignet, einerseits bei engem Begriffsverständnis das weite Feld von Vernachlässigung und Misshandlung zu verkürzen auf strafrechtlich Relevantes, andererseits bei weitem Verständnis Pflegende ins Zwielicht zu bringen und zu entmutigen sowie das Ausmaß tatsächlicher und strafrechtlich als solche begreifbarer Gewalt weit zu überzeichnen und zu dramatisieren. Damit trägt er dazu bei, unnötig Ängste vor der Pflege im Alter zu wecken und Hilfestellen nicht in Anspruch zu nehmen, weil Hilfsanlässe mit Gewalt konnotiert werden, obwohl es ganz überwiegend um sozialarbeiterische Beratung und Unterstützung geht.
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Deswegen sollte die Begrifflichkeit bereichsspezifisch möglichst treffsicher gewählt werden. Das bedeutet, den Gewaltbegriff zu verwenden in einer engen Definition, wenn es um Strafgesetzes- und Rechtsprechungskontexte geht. In sozialarbeiterischen und pflegeberuflichen, auch in kriminologischen Kontexten ist die weite Begrifflichkeit von Vernachlässigung und Misshandlung („abuse and neglect of the elderly“) vorzuziehen. Bedingt durch die Weite zu erfassender Verhaltensweisen und durch bereichsspezifisch und professionsbezogen unterschiedliche Sichtweisen und Bedürfnisse wird es aber nicht zu einer schärferen und dennoch allgemeingültigen Begriffsbestimmung kommen können.
13.1.2 Anspruch auf gewaltfreie menschenwürdige Pflege Pflegebedürftige Menschen haben im Sinne der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes Anspruch auf menschenwürdige Pflege. Menschenwürde umfasst selbstverständlich Freiheit von Gewalt, geht darüber aber hinaus und bedeutet eine Pflege, die den zu Pflegenden achtet, ihm Respekt entgegen bringt, ihn nicht zum Objekt der Pflege macht. Dies brauchte nicht gesetzlich erneut und ausdrücklich festgestellt zu werden. Aber um der Bedeutung besonders in der Altenpflege willen könnte es angezeigt sein, es im Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) oder in einem Pflegegesetz oder im Sozialgesetzbuch dezidiert festzuhalten. Denn – so das Bundesverfassungsgericht – in Situationen der Hilfebedürftigkeit ist dem Staat die Wahrung der Würde des Menschen besonders anvertraut. Über das Ob, Wie und Wo einer solchen deklaratorischen gesetzlichen Bestimmung lässt sich trefflich streiten. So war vorgeschlagen worden, analog der ausdrücklichen Bestimmung über einen Anspruch von Kindern auf gewaltfreie Erziehung in § 1631 Abs. 2 BGB einen Anspruch auf gewaltfreie Pflege zu schaffen. Das hatte bereits der 16. Deutsche Familiengerichtstag 2005 empfohlen. Dem ist entgegen zu halten: Im BGB dies für Kinder ausdrücklich zu regeln, war nötig, da nur so das von der Rechtsprechung behauptete Gewohnheitsrecht auf maßvolle Züchtigung durch Erzieher beseitigt werden konnte. Ein Gewohnheitsrecht auf maßvolle Gewalt in der Pflege behauptet dagegen niemand, so dass es auch keines actus contrarius des Gesetzgebers bedarf. Außerdem ist elterliche Erziehung nicht vergleichbar der Pflege. Erziehung ist umfassend auf körperliche, geistige und seelische Entwicklung zu einer Persönlichkeit in unserer Gesellschaft gerichtet; mit der Altenpflege teilt sie nur den Teilaspekt eines Rechts auf Schutz vor Gewalt und auf Fürsorge. Überdies verkürzt die Formulierung eines Rechts auf gewaltfreie Pflege das weitergehende Anliegen, die Pflege menschenwürdig, d.h. auch mit Zuwendung, Empathie zu gestalten. Erst dies entspricht dem genannten Grundrechtsverständnis. Diesem Standpunkt wird allerdings entgegen gehalten, der Gewaltbegriff verdeutliche das Anliegen griffiger und politisch wirksamer. Im Hessischen Landespräventionsrat haben wir uns deswegen darauf verständigt, die gesetzliche Formulierung eines „Rechts auf gewaltfreie,
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menschenwürdige Pflege“ zu fordern. Wo das ausdrücklich erwähnt sein sollte, ob im vorrangig dafür bestimmten Familien- oder Sozialrecht, mag der Gesetzgeber entscheiden. Jedenfalls ist es legitim, trotz bereits klarer verfassungsrechtlicher Vorgabe für ein solches Recht, dieses bereichsspezifisch nochmals zu konkretisieren und zu betonen. Flankiert werden sollte dieses Recht durch einen gesetzlichen Anspruch auf umfassende Beratung über Möglichkeiten der Finanzierung und Durchführung oder ambulante Unterstützung der Pflege im häuslichen und stationären Bereich. Die Beratung sollte von den teilweise bereits eingerichteten Pflegestützpunkten oder -zentren regional angeboten und auch zugehend geleistet werden. Der Beratungsanspruch sollte für Pflegende und zu Pflegende gelten.
13.1.3 Verbesserungen des strafrechtlichen Seniorenschutzes Zentral muss die gesetzliche Grundlage für Vorsorge gegen Misshandlung und Vernachlässigung alter Menschen, insbesondere solcher in der häuslichen oder HeimPflege, im Familien- und Sozialrecht verankert sein. Ihre praktische Verwirklichung ist zuvörderst Aufgabe der staatlichen und kommunalen Behörden und Aufsichtsstellen, der öffentlichen, privaten und karitativen Beratungs- und Hilfsdienste, der Angehörigen und des sozialen Nahraums, also nicht zuletzt der Zivilgesellschaft. Am Rande kann das Strafrecht präventiv wirken zum Schutz von Senioren vor Vernachlässigung und Misshandlung. Es hat eine zwar begrenzte, schwer einschätzbare, dennoch unverzichtbare generalpräventive, normstärkende, wertverdeutlichende Kraft. Dies mag manchmal im bloß Symbolischen liegen. Nicht die Masse von Vernachlässigungen und Misshandlungen wird als Straftaten erfassbar und in Einzelfällen verfolgbar sein, sondern nur schwere Verstöße. Selbst davon wird das meiste nicht zu Verfolgung oder Bestrafung zwingen, weil es mit Überlastung von Pflegenden oder strukturellen Mängeln und Säumnissen der Pflegeeinrichtung oder Behörden zu tun hat. Es soll keineswegs um eine Stigmatisierung oder Kriminalisierung von Pflegepersonen gehen. Aber in Extremfällen dürfen und müssen Strafrecht und Strafverfolgung warnende Zeichen setzen. Das gilt vor allem für gravierende, nicht entschuldbare Vorfälle von Gewalt im engeren Sinn. Hier ist zu fragen, ob solche Vorfälle hinreichend strafgesetzlich erfasst sind. Für erhebliche Vernachlässigungen und Misshandlungen kommen vor allem folgende Straftatbestände in Frage: Bei körperlicher Gewalt gegen zu Pflegende kann es sich um vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung, nämlich körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung, nach §§ 223, 229 Strafgesetzbuch (StGB) handeln, auch um Nötigung nach § 240, bei vorsätzlichen oder fahrlässigen Tötungen um Mord, Totschlag oder fahrlässige Tötung nach den §§ 211ff., 222. Seelische Misshandlungen können als Misshandlung von Schutzbefohlenen nach § 225 geahndet werden. Falsche Medikationen sind wiederum eventuell als vorsätzliche oder fahrläs-
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sige Körperverletzung zu beurteilen, welche in Gestalt der „körperlichen Misshandlung“ definiert wird als übles, unangemessenes Behandeln, welches das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Auch Unterlassungen wichtiger Pflegemaßnahmen, etwa angezeigter Hilfen bei der Inkontinenz- oder Dekubitusbehandlung, lassen sich als Körperverletzungen, begangen durch pflichtwidriges Unterlassen von Pflegepersonen, ahnden. Unnötige mechanische oder medikamentöse Fixierungen lassen sich der Freiheitsberaubung nach § 239 zuordnen. Verbale Misshandlungen sind als Beleidigung nach § 185 deutbar. Finanzielle Ausbeutung kann Diebstahl nach § 242 oder Betrug nach § 263 StGB darstellen. Die entsprechenden Strafbestimmungen umfassen strafrechtlich schon in weitem Umfang Verhaltensweisen von Vernachlässigung und Misshandlung älterer Pflegebedürftiger. Im Detail könnten aber Erweiterungen oder Klärungen von Gesetzesbestimmungen überlegenswert sein. So ist zu erwägen, den doch sehr auf körperliche Beeinträchtigungen abstellenden Begriff der körperlichen Misshandlung auf seelische Misshandlungen ausdrücklich auszudehnen. Denn auch bei weiter Auslegung werden bislang seelische Beeinträchtigungen als solche grundsätzlich nicht erfasst, etwa bei bloßem Auslösen von Schmerz, Schrecken, Ruhestörung, Angst oder Panik; die psychische Beeinträchtigung müsse vielmehr das Opfer „in einen pathologischen, somatisch objektivierbaren Zustand versetzt haben“. Eine weitere Korrektur ist bei der gesetzlichen Fassung des Straftatbestandes der Misshandlung von Schutzbefohlenen in der Tatbestandsvariante der Gesundheitsschädigung durch böswillige Vernachlässigung der Sorgepflicht in § 225 Abs. 1 zu prüfen. Böswilligkeit setzt nämlich besonders verwerfliche Motive voraus, damit eine schwierige Persönlichkeitsuntersuchung; Gleichgültigkeit beispielsweise würde nicht genügen; Böswilligkeit wird deswegen selten nachweisbar sein. Man könnte dieses Merkmal durch ein schwächeres – etwa „grobe“ Vernachlässigung der Pflicht – ersetzen oder darauf ganz verzichten, statt dessen die Tathandlung einengend beschreiben im Sinne etwa „erheblicher“ Gesundheitsschädigung. Von praktisch größerer Bedeutung dürfte indes die Handhabung dieser Straftatbestände im justiziellen Alltag sein. Dort gilt es, verfolgungs- und bestrafungswürdige Verhaltensweisen zu scheiden von bagatellhaftem Unrecht, welches nicht eines nach außen wirksamen förmlichen Unwerturteils bedarf. Die Staatsanwaltschaft entscheidet, ob Anzeigeerstatter auf den Privatklageweg verwiesen werden, ob der nötige Strafantrag vorliegt, ob das Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen ist, ob das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen gebietet. Abgesehen von Fragen der Spezialisierung in der Behörde, der Eignung und Fortbildung im Blick auf besondere Probleme und Bedürfnisse in der Fürsorge für Ältere und Pflegebedürftige ist zu klären, wieweit formale gesetzliche oder administrative Regelungen dem Schutzbedürfnis besser gerecht werden könnten. Zu überlegen sind zwei Ansätze zur Intensivierung des Seniorenschutzes: Zum einen ist an eine vorsichtige Ausweitung von sogenannten bedingten Antragsdelikten zu denken. So kann bei leichter vorsätzlicher oder bei fahrlässiger Körper-
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verletzung nach den §§ 223 und 229 StGB trotz Fehlens des an sich nach § 230 vorausgesetzten Strafantrags verletzter Personen die Staatsanwaltschaft anklagen, wenn sie ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bejaht. In der Pflege befindliche Senioren werden beispielsweise aus Angst vor negativen Folgen in der Pflege oder aus Unkenntnis oder Unbeholfenheit zumeist keinen Strafantrag stellen, zumal oft die Täter jene Pflegepersonen sind, auf die Betroffene angewiesen sind. Dann kann es geboten sein, gleichwohl einzuschreiten. Anders ist es bei absoluten Antragsdelikten. Bei ihnen darf trotz öffentlichen Verfolgungsinteresses nicht eingeschritten werden ohne Strafantrag. Dazu gehören Beleidigung nach § 185 i.V.m. § 194, ferner Haus- und Familiendiebstahl bzw. Unterschlagung nach §§ 242, 246 i.V.m. 247. Es kann in manchen Fällen des Missbrauchs in einer Pflegebeziehung oder ihrer Ausnutzung zur Tat geboten sein, die Tat aus besonderem öffentlichem Interesse zu verfolgen. Deswegen ist zu prüfen, ob diese Delikte zu bedingten Antragsdelikten gemacht werden sollten. Zum anderen kann die Handhabung dieser Straftatbestände in Fällen der Misshandlung vor allem Älterer in der Pflege überprüft und modifiziert werden durch eine Ergänzung der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV). Bislang wird nämlich das besondere öffentliche Verfolgungsinteresse als seltene Ausnahme verstanden. Die Richtlinien könnten für bedingte Antragsdelikte, darüber hinaus für alle Straftaten in Pflegebeziehungen vorschreiben, besonders sorgfältig zu prüfen, ob nicht die besondere Lage Pflegebedürftiger aus generalpräventiven Gründen eine Verfolgung gebietet.
13.1.4 Verbesserungen bei Polizei und Justiz In der Strafverfolgung von Vorfällen der Vernachlässigung und Misshandlung Älterer bedarf es besonderer Kenntnisse und Sensibilität gegenüber Eigenheiten des Alters und Alterns sowie der Pflege von Senioren. Ganz allgemein sind im Sinne altersgerechter Strafverfolgung drei Ansätze verbesserter Handlungskompetenzen in diesem Bereich zu verfolgen: – eine Spezialisierung von Verfolgungsinstitutionen – eine entsprechende Fortbildung – schriftliche Handreichungen namentlich für Anfänger in entsprechenden Dezernaten. Bei der Polizei ließen sich zumindest in großstädtischen Strukturen bereits bestehende Spezialkommissariate für familiäre Gewalt auch mit dieser Problematik verbinden. Gleichfalls bestehen bei Staatsanwaltschaften oftmals schon Spezialdezernate für Aufgaben der Strafverfolgung bei innerfamiliärer Gewalt, meist verbunden mit Aufgaben bei der Verfolgung von Kindesmisshandlung. Zu prüfen ist, ob diese oder anders zugeschnittene Dezernate sich spezifisch auch um Phänomene der Gewalt,
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Vernachlässigung und Misshandlung Älterer im häuslichen und stationären Bereich kümmern sollten. In größeren Verfolgungsbehörden könnten sogar Spezialdezernate für Straftaten im Pflegebereich angezeigt sein. Da in der allgemeinen juristischen Ausbildung Besonderheiten des Umgangs mit alten Menschen und entsprechender Kriminalität und Prävention nahezu keine Bedeutung haben und der Ausbildungskanon ohnehin überfrachtet ist, kann es nur um das Bemühen gehen, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in diesem Aufgabenfeld besonders in der Einführungsphase und anhaltend durch Fortbildungsveranstaltungen kompetent zu machen. Möglichst regionale kurze Wochenend- oder Tagesveranstaltungen sollten dafür konzipiert werden. Dazu sollten Gerontologen, GerontoPsychiater, Experten der Pflegewissenschaft und -praxis sowie erfahrene Juristen und Kriminologen gewonnen werden. Fortbildungsveranstaltungen könnten überdies gemeinsam auch für Straf-, Familien- und Vormundschaftsrichter ausgerichtet werden. Ergänzt werden sollten diese Möglichkeiten der Spezialisierung und Fortbildung durch der Problematik spezifisch gewidmete Handreichungen für die unterschiedlichen Berufsgruppen. Hierbei könnte man diverse bereits entwickelte Ausarbeitungen sichten, überarbeiten, ergänzen und auf die jeweilige Berufsgruppe beziehen und dann über Landesbehörden gezielt an alle in Frage Kommenden verteilen. Sie sollten vertraut machen u.a. mit kritischen Situationen Älterer und zu Pflegender, mit Besonderheiten häuslich-familiärer und zugehender Pflege und der Pflege in Altersheimen, mit Rechtsfragen und typischen Situationen medikamentöser und mechanischer Fixierung, einschließlich der Fragen nach notwendiger Beteiligung von Betreuern und Gerichten, ferner mit Fragen der Diagnostik, der wichtigsten Symptome altersspezifischer Leiden, aber auch Misshandlungen und nicht zuletzt möglicher Prävention. Sie könnten zudem regional bedeutsame Hotlines, Dienste der Beratung, Hilfe, ambulante und stationäre Einrichtungen sowie Dienststellen bei Polizei und Justiz mit Ansprechpartnern namhaft machen. Solch schriftliches Informationsmaterial wäre zu konzipieren je eigens vor allem für entsprechende Sachbearbeitungsstellen in Polizei, Staatsanwaltschaft, Straf-, Familien- und Vormundschaftsgerichten, Bewährungs- und Opferhilfe, Einrichtungen der Altenpflege, darüber hinaus für betroffene Angehörige, Betreuer, ehrenamtlich in der Altenhilfe Tätige und die Senioren selbst.
13.1.5 Ärzteschaft als Schaltstelle für Prävention und Intervention Einer der wichtigsten Ansatzpunkte, Vernachlässigung und Misshandlung Älterer vor allem in der Pflege zu erkennen, darauf angemessen zu reagieren und dem vorzubeugen, liegt in der Ärzteschaft. Ärzte und Ärztinnen haben besondere Kompetenz, Symptome der Vernachlässigung und Misshandlung zu erkennen, in der Regel einen von Vertrauen und Schweigepflicht getragenen persönlichen, ja intimen Zugang zu den Patienten, die nötige Unabhängigkeit von Angehörigen und Pflegeeinrichtung
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sowie Möglichkeiten, erforderliche Hilfs- und Vorbeugemaßnahmen in die Wege zu leiten. Vier wesentliche Bereiche möglicher Schwierigkeiten, Konflikte und Hindernisse erscheinen dabei bedeutsam und klärungsbedürftig. Der erste aktuelle, dringend klärungsbedürftige Bereich ist die allzeit zu gewährleistende Erreichbarkeit ärztlicher, besonders auch fachärztlicher Beratung und Betreuung älterer Patienten in familiär-häuslicher Umgebung und vor allem in Pflegeeinrichtungen. Berichte, ärztliche Hausbesuche in Pflegeheimen unterblieben aus Kostengründen, sind alarmierend. Ein ärztlicher Verbandsvorsitzender mahnt: „Die berechtigten Proteste der niedergelassenen Fachärzte gegen eine untaugliche Honorarreform dürfen nicht zu Lasten der Gesundheit der Patienten gehen.“ Pflegeheimbewohner dürfen nicht darauf angewiesen sein, dass Heime den Transport zur Untersuchung bei dem Facharzt organisieren oder auf längere Sicht Fachärzte selbst in Heimen einstellen samt nötiger technischer und personeller Ausstattung. In großen Pflegeeinrichtungen mag das mitunter möglich und sinnvoll sein. Gerade so große Einrichtungen sind jedoch selten und nicht unbedingt wünschenswert. Außerdem würde dadurch die Pflege noch kostenträchtiger. Außerdem liefe dies auf eine Einschränkung der freien Arztwahl hinaus. Die kassenärztlichen Dienste sollten Sorge tragen dafür, dass fachärztliche Haus- und Heimbesuche hinreichend honoriert und regional strukturell abgesichert werden. Ein zweiter kritischer Bereich ist die Art und Weise des ärztlichen Handelns gegenüber alten Patienten. Zunächst sollte sich jeder Allgemein- oder Facharzt, der noch keine hinreichende Erfahrung mit alten, insbesondere pflegebedürftigen, womöglich schon von Demenz gezeichneten Patienten hat, anhand einschlägigen Informationsmaterials kundig machen über besondere Verhaltensregeln, die beispielhaft in der Broschüre der Deutschen Alzheimer Gesellschaft beschrieben sind. Sodann ist der Arzt gehalten, sich nicht auf Informationen über Patienten durch Pflegedienste oder Pflegeakten allein zu stützen. Immer ist eine zusätzliche persönliche Untersuchung und Überprüfung solcher Informationen Voraussetzung ärztlicher Entscheidungen über Diagnose und Therapie, auch wenn dies zeitaufwendig und wegen kognitiver Einschränkungen mancher Patienten erschwert ist. Ein dritter Problembereich betrifft die nötige Kooperation des Arztes mit Angehörigen der Patienten, Betreuern, Pflegepersonal und Betreuungsrichtern in rechtlich relevanten Fragen. Ärzte müssen insbesondere vertraut sein mit typischen Situationen, in denen Zustimmungen durch Betreuungsrichter vorausgesetzt werden. Oft fehlt hinreichende Kenntnis. Dafür sind rechtliche und technische Entwicklung mit verantwortlich, aber auch Gleichgültigkeit und tradierte Praktiken bei Beteiligten. Beispielhaft seien nur Fixierungen erwähnt. Sie sind rechtlich Freiheitsentziehung. Gerechtfertigt sind sie, wenn der Patient einsichtsfähig ist und zustimmt. Ist er dazu außerstande, bedarf es richterlicher Entscheidung. Auch der Betreuungsrichter muss sich für seine Entscheidung ein eigenes Bild verschaffen, sieht man von vorübergehenden und eiligen Fällen ab. Als Fixierung gilt es, wenn Patienten mechanisch durch ein Bettgitter ihre Bewegungsfreiheit verlieren oder wenn sie im Zimmer eingeschlos-
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sen werden. Unter den teils als solche rechtlich umstrittenen Situationen mechanischer oder technischer Fixierungen spielt angesichts technischen Fortschritts neuerdings beispielsweise der Einsatz von elektronischen Sicherungen wie „Hand- und Fußfesseln“ eine Rolle. Da diese Technik hier – anders als etwa bei Strafgefangenen und Bewährungshilfeprobanden – regelmäßig nicht der Sicherung vor Entweichen, sondern dem Eigenschutz älterer Heimbewohner bei fehlender Orientierung dient dadurch, dass man ihren Standort nach Verlassen der Einrichtung erkennt und sie findet, dürften regionale Justizpraktiken überzogen sein, zustimmungsbedürftige Fixierungen anzunehmen. Fixierung ist außerdem die gezielt medikamentös bewirkte Freiheitseinschränkung. Gerade diese Form wird jedoch gelegentlich als ärztliche Therapiemaßnahme von Ärzten oder Pflegepersonal verstanden, die deshalb nicht richterlicher Zustimmung bedürfe. Der Arzt kann aber nicht den Richter ersetzen. Schon gar nicht darf solche ärztliche Verordnung ruhigstellender, die Bewegungsfreiheit einschränkender Psychopharmaka bloßer Ersatz für Personalmangel im Pflegedienst oder für den Verzicht hinreichender technischer Ersatzmittel sein. So können etwa Fixierung oder Bettgitter aus Sorge vor einem Sturz aus dem Bett vermieden werden durch ein nächtlich bodennahes Bettlager. Heikel erscheint der vierte Problembereich einer möglichen Begrenzung ärztlicher Schweigepflichten in Fällen des Verdachts einer Misshandlung von Pflegepatienten. Ärzte haben nach § 203 StGB eine umfassende Pflicht zu schweigen über das ihnen in der Berufsausübung Anvertraute oder bekannt Gewordene. Diese strafrechtlich geschützte Pflicht ist prozessual in § 53 Strafprozessordnung (StPO) abgestützt durch ein Zeugnisverweigerungsrecht. Grund ist in erster Linie der Gesundheitsschutz. Könnte man sich nicht auf ärztliches Schweigen verlassen, würde manch ein Patient oder Angehöriger Ärzte meiden aus Sorge, mögliche Symptome einer Straftat würden an Verfolgungsbehörden gemeldet. Zu wenig werden in der ärztlichen Handhabung dieser Rechte deren Grenzen beachtet. Ärzte dürfen solche Verdachtsmomente melden, wenn sie von der Schweigepflicht entbunden werden. Darauf ist ärztlicherseits durch aufklärende Gespräche hinzuwirken. Kann ein alter Patient wegen Demenz darüber selbst nicht mehr entscheiden, ist sein Betreuer ausschlaggebend. Darüber hinaus dürfen und sollten Ärzte Hilfestellen informieren, wenn eine Notstandslage i.S.d. § 34 StGB besteht, etwa vermutete Gewalt gegen Patienten fortgeführt zu werden droht und anderweit keine Abhilfe möglich ist. Hier darf nach Abwägung der sich widerstreitenden Interessen die Hilfepflicht über die Schweigepflicht gestellt werden. Außerdem darf der Arzt in dringlichen Notlagen angesichts eines nicht entscheidungsfähigen Patienten von dessen mutmaßlicher Einwilligung ausgehen, wenn nicht entgegenstehende Erkenntnisse vorliegen und sich nur so Leben und Gesundheit des Patienten schützen lassen. Insoweit ist die Rechtslage einigermaßen geklärt. Umstritten sind hingegen bundesgesetzlich mögliche Ausweitungen der Melderechte. Es kann lediglich um Rechte des Arztes gehen, Hilfestellen einzuschalten in dringlichen Fällen, nicht um Anzeigerechte oder gar Anzeigepflichten. In der parallelen Situation des Schutzes von Kindern vor Misshandlung und Gewalt hat das
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seit 2012 geltende Kinderschutzgesetz eine solche Regelung nicht vorgesehen, jedoch die Fachressorts aufgefordert, einen Regelungsentwurf zu unterbreiten, der Rechtssicherheit schafft bei der Abwägung der Schweigepflicht von Berufsgeheimnisträgern mit dem Kinderschutz. Ähnliches sollte für gefährdete alte Pflegepatienten gelten. Dabei wird zu prüfen sein, ob eine solche die Schweigepflicht einschränkende gesetzliche Regelung tatsächlich von Ärzten beachtet werden würde und ob sie nicht kontraproduktiv wirken könnte; denkbar wäre es immerhin, dass beispielsweise Heimleitungen davon absehen, rechtzeitig ärztliche Hilfe anzufordern, wenn sie bei Verdacht von Misshandlung oder Versorgungsmängeln eine Information der Aufsichtsstellen und deren Intervention befürchten müssten.
13.1.6 Prävention durch Heimaufsicht, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung und den Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. Zur Analyse von immer wieder diskutierten Vorfällen physischer, psychischer und sexueller Misshandlungen in stationären Pflegeeinrichtungen bietet sich das heuristische Rahmenkonzept der Subkultur an. Pflegeheime können im Grundsatz subkulturelle Strukturen aufweisen. Sie sind dann tendenziell im Sinne von Irvin Goffman „totale Institutionen“. Sie können im Extremfall zu rechtsfreien, unkontrollierten Räumen werden, in denen unser Grundgesetz nur noch peripher beachtet wird [Kreuzer 2011]. Solche subkulturellen Strukturen verdichten sich allerdings nur gelegentlich zu Formen, welche Vernachlässigung von Menschenwürde und Misshandlung der Heimbewohner nach sich ziehen. Alte Bewohner sind eben oft von der Außenwelt abgeschnitten; mit der Aufnahmeprozedur verlieren sie viel an Privatheit, Persönlichkeit, Intimität; sie gelangen in eine institutionelle Routine und haben nur noch begrenzte Freiheiten, sind perspektivlos; sie sind angewiesen auf Pflegekräfte und Heimleitung. Diesen möglichen Missständen muss frühzeitig präventiv entgegen gewirkt werden. Dazu beizutragen ist vielen Gruppen und Rollenträgern aufgegeben: Selbsthilfeeinrichtungen von Heimbewohnern, Angehörigen und Angehörigensprechern, ehrenamtlichen Helfern, Seelsorgern, Ärzten, Auszubildenden, die eine vernünftige Sicht von außen nach innen und gelegentlich Eindrücke von innen nach außen tragen können, ferner der hier geforderten Einrichtung von Ombudsleuten. Besonders aber ist es Aufgabe der Heimaufsicht, die in landesgesetzlich vorgesehenen staatlichen oder kommunalen Strukturen organisiert ist. Ihr kommt entscheidende Bedeutung zu. Bewährt hat sich beispielgebend die hessische Heimaufsichtsstruktur. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern ist sie nicht kommunalisiert. Sie obliegt dem Hessischen Sozialministerium. Sie ist unabhängig von Kostenträgern. Das Regierungspräsidium Mittelhessen übt die fachliche Aufsicht aller regionalen Heimaufsichtsstellen
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aus. Diese richtet sich nach dem Ordnungsrecht. Sie ist multiprofessionell ausgestattet. Jedes Heim wird mindestens einmal jährlich, zumeist unangekündigt, besucht. Die Prüfung erfolgt nach einem Kriterienleitfaden. Daneben reagiert sie in konkreten Verdachtsfällen. Damit sichert sie eine umfassende Qualitätskontrolle. Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielen die Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Er ist der unabhängige und unparteiische Sachverständigendienst innerhalb der sozialen Pflegeversicherung. Im Auftrag der Landesverbände der Pflegekassen führt er zusammen mit dem Prüfdienst des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V. (PKV-Prüfdienst) mindestens einmal jährlich unangemeldet in allen zugelassenen Pflegeeinrichtungen umfassende Qualitätsprüfungen nach einheitlichen Kriterien durch. Deren Ergebnisse werden sowohl im Internet als auch in anderer geeigneter Form veröffentlicht. Zusätzlich werden bei Verdachtsmomenten oder sonstigen Auffälligkeiten anlassbezogen Qualitätsprüfungen durchgeführt, deren Ergebnisse ebenfalls veröffentlicht werden.
13.1.7 Vernetzung und Anpassung von Hilfsdiensten Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher staatlicher, kommunaler, karitativer und privater haupt- oder ehrenamtlicher Ansätze und Einrichtungen mit ebenso unterschiedlichen Zielsetzungen und Methoden der Beratung und Hilfe für Ältere und Pflegende sowie der Selbstorganisation von Senioren. Sie sind mitunter eingebettet in allgemeinere soziale Dienste, manchmal auch speziell auf Beratung und Hilfe für Senioren ausgerichtet. Weniger dürfte es an Einrichtungen solcher Art überhaupt fehlen, mehr an wechselseitiger Kenntnis, sinnvoller Koordination und Kooperation und hinreichender Erreichbarkeit für Betroffene. Verknüpfungen und Bündelungen der Angebote sind angezeigt. Ansatzweise geschieht dies schon dadurch, dass sich eine Bundesarbeitsgemeinschaft für Seniorenorganisationen (BAGSO) gegründet hat, auch durch die in Bundesländern vorgesehene flächendeckende Einrichtung von Pflegestützpunkten. Wahrscheinlich werden sich seniorenspezifische Sozialdienste nur stellenweise einrichten lassen. Zumeist wird es bei umfassender Zuständigkeit für Beratung und Hilfe im sozialen Bereich bleiben müssen. Gerade dann ist es wichtig, dass die jeweiligen Einrichtungen im Bedarfsfall Spezialisten aus anderen Einrichtungen einbeziehen oder auf sie hinweisen können, die besondere Erfahrung mit dem Recht, der Finanzierung und praktischen Verwirklichung von Hilfe für Senioren haben. Von den vielen noch unzureichend bewältigten Detailaufgaben solcher Dienste der Beratung und Hilfe seien beispielhaft nur zwei benannt. Zum einen erscheint es wünschenswert, dass diese Einrichtungen vermehrt auch Hilfe zur Selbsthilfe anbieten, indem etwa erfahrene haupt- oder ehrenamtlich tätige Helfer in der Pflege Älterer neue Pflegekräfte in die Tätigkeit einführen; eine solche Vermittlung von erfahrenen
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Helfern in der Einarbeitungsphase ist namentlich für häusliche Altenpflege durch Angehörige wünschenswert. Darüber hinaus sind Ansätze auszuweiten, dauerhaft tätigen Pflegekräften wiederum vor allem im häuslich-familiären Bereich Mentoren zu vermitteln, die im Einzelfall Rat und Hilfe geben können, wenn die privaten Pflegenden dessen bedürfen. Zum anderen ist ein noch unbestelltes Feld zu orten in Beratung und Hilfe für Senioren in Familien mit Migrationshintergrund. Das dürfte insbesondere gelten für solche aus uns nicht vertrauten Kulturen wie der islamischen Welt. Diese Familien scheuen oftmals deutsche Behörden und karitative Einrichtungen oder sind nicht damit vertraut, dass man Hilfsdienste auch kostenlos und vorbehaltlos aufsuchen kann. Es bedarf enger Kontakte mit entsprechenden Einrichtungen der Minderheiten, etwa Ausländerbeiräten, um sinnvolle Vermittlung von Rat und Hilfe möglich zu machen. Das gehört zu den allgemeinen Bestrebungen, Migranten zu integrieren.
13.2 Misshandlung und Vernachlässigung alter Menschen in häuslicher Pflege. Zum Gesetzgebungsbedarf im Familien- und Sozialrecht Gisela Zenz 13.2.1 Daten, Fakten, Forschung 13.2.1.1 Pflegebedürftigkeit und Pflegeleistungen Eine immer größere Zahl von Menschen erreicht ein immer höheres Alter in guter Gesundheit und Selbständigkeit. Zugleich steigt jedoch die Zahl insbesondere hochaltriger Menschen, die infolge von Kräfteverfall und Multimorbidität versorgungsabhängig oder pflegebedürftig werden. Zum Ende des Jahres 2011 waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 2,5 Millionen Menschen pflegebedürftig i. S. des Pflege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG) [Destatis 2012]. Bis zum Jahr 2030 wird mit einem Anstieg auf rund 3,4 Millionen gerechnet. Hinzukommen geschätzte 3 Millionen Menschen, die in der Familie versorgt werden, ohne Leistungen aus der Pflegeversicherung zu beziehen. Rund 30 Prozent der Pflegebedürftigen werden heute in Pflegeeinrichtungen versorgt, fast 70 Prozent von ihnen (1,7 Millionen) werden in der Familie gepflegt und von diesen wiederum zwei Drittel (also über 1 Million) allein durch Angehörige – überwiegend Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter, weitere 555 000 teils oder vollständig durch ambulante Pflegedienste. Aber auch der Anteil der pflegenden Männer ist gestiegen – von 17 Prozent in den 90er Jahren auf 29 Prozent im Jahr 2010. Die häusliche Pflege entspricht den Wünschen der meisten Betroffenen und ist auch sozialpolitisch erwünscht – weil sie wesentlich kostengünstiger ist als institutionelle Pflege.
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Ohne spezifische rechtliche Verpflichtung leisten also Angehörige die Pflege – oft über viele Jahre mit hohem persönlichem Einsatz. Darin zeigt sich eine Form von Familiensolidarität, die weit mehr gesellschaftliche Anerkennung verdient und weit mehr familienpolitischer Unterstützung bedarf als sie bis heute bekommt.
13.2.1.2 Misshandlung, Vernachlässigung – Häufigkeit? Wie für Kinder so besteht auch für pflegebedürftige alte Menschen als „systematisch Schwächere“ in Familie und Institutionen ein spezifisches Risiko, Opfer von Gewalt in Form von Misshandlung, Vernachlässigung oder finanzieller Ausbeutung zu werden. Da präzise Daten zu Häufigkeiten, Formen und Folgen noch weitgehend fehlen, wird das Opfer-Risiko in Öffentlichkeit und Politik noch immer unterschätzt. Experten aus einschlägigen Berufsfeldern, Verbänden und privaten Notruf-Initiativen weisen jedoch seit langem übereinstimmend darauf hin, dass Gewalt in diesem Zusammenhang keine seltene Ausnahme ist [Hirsch et al. 1999]. Es wird übereinstimmend angenommen und in ersten Studien bestätigt, dass zu den bekannt werdenden Fällen eine erhebliche Anzahl im Dunkelfeld hinzuzurechnen ist [DFK 2005, Wetzels/Greve 1996], weil die Erhebung zuverlässiger Daten auf extreme Schwierigkeiten stößt. Die Kriminologen Rabold und Görgen erläutern dies folgendermaßen: „Misshandlung und Vernachlässigung älterer Pflegebedürftiger können weder über behördliche Statistiken (Polizeistatistiken1) noch über Viktimisierungsbefragungen adäquat abgebildet werden … insbesondere die große Gruppe der demenziell Erkrankten wird hierdurch nicht erreicht. Pflegebedürftige müssen aber als eine im Hinblick auf Misshandlung und Vernachlässigung in hohem Maße vulnerable Gruppe betrachtet werden. Die Tatbegehungsmöglichkeiten gegenüber Personen, die sich allenfalls eingeschränkt … zur Wehr setzen können, sind besonders groß, das Entdeckungs- und Verfolgungsrisiko für einen Täter gering und ebenso die Optionen des Opfers, Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen. Die skizzierte Problematik ist besonders ausgeprägt im Hinblick auf Demenzkranke und dort, wo Pflege im privaten Raum stattfindet und formelle wie informelle Sozialkontrolle entsprechend gering sind“ [Rabold/Görgen 2007]. Erste exakte Studien zu dem besonders abgeschirmten Raum der häuslichen Pflege basieren auf der Befragung von Pflegenden (Angehörigen und professionellen Kräften ambulanter Pflegedienste) nach eigenem „problematischem Verhalten“ in den letzten zwölf Monaten. Danach wird über körperliche Misshandlungen von 8,5 Prozent der befragten Pflegekräfte, von 19,4 Prozent der pflegenden Angehörigen berichtet, über problematische mechanische oder medikamentöse Freiheits-
1 Zwar erfasst die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes (PKS) neben Delikten wie Körperverletzung und Betrug auch den Tatbestand der „Misshandlung Schutzbefohlener“ (§ 225 StGB), doch findet die Bestimmung auf ältere Opfer nur selten Anwendung; … zudem erlauben die Daten der PKS keine Differenzierung nach dem Alter der Betroffenen [Görgen 2004].
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einschränkungen in 13,4 bzw. 6 Prozent, über verbale Aggression oder psychische Misshandlung in 21,4 bzw. 47,6 Prozent! Insgesamt wurden problematische Verhaltensweisen in den letzten zwölf Monaten von 53,2 Prozent der befragten Angehörigen berichtet [Görgen et al. 2009]. Amerikanische und kanadische Studien kommen zu vergleichbaren Ergebnissen.
13.2.1.3 „Gewalt“ – Formen, Folgen, Risikofaktoren Was bei solchen Erhebungen unter „Gewalt“ verstanden wird, ist unterschiedlich. Erfasst werden meist neben körperlicher Misshandlung die Vernachlässigung elementarer Bedürfnisse in Bezug auf Ernährung, medizinische Versorgung und Pflege sowie emotionale Zuwendung. Massive oder andauernde verbale Aggression und Missachtung gehört ebenso hierher wie verschiedene Formen der mechanischen oder medikamentösen Einschränkung der Bewegungsfreiheit (Einschließung, Fixierung, Bettgitter, Sedativa), soweit sie nicht medizinisch indiziert und rechtlich legitimiert sind. Die Folgen für die Opfer reichen von schwerwiegenden körperlichen Verletzungen über psychosomatische Beschwerden und posttraumatische Belastungsstörungen bis hin zu Depressionen und Suizidrisiken [Wetzels/Greve 1996]. Als Risikofaktoren, die Gewalt in der Pflege begünstigen, gelten zum einen die „Überforderung“ der Pflegenden, also übermäßige körperliche und psychische Belastungen, diese aber vor allem in Kombination mit problematischen Formen der Bewältigung etwa durch Alkohol und Drogen, zum anderen mit sozialer Isolation und hohem Aggressionspotential. Eine erhebliche Rolle spielen aber auch verbale oder auch kraftvoll aggressive Abwehr- oder Verweigerungshaltungen auf Seiten der Pflegebedürftigen. Bei der Befragung von pflegenden Angehörigen berichteten 32,9 Prozent über verbal aggressives Verhalten und 17,1 Prozent über – teils häufige – kraftvolle körperliche Übergriffe seitens der Gepflegten [Görgen et al. 2006, Görgen et al. 2009]. Hier sind oft biographisch bedingte Familienkonflikte von Bedeutung – wie überhaupt die Qualität der Beziehung vor der Pflege [Görgen et al. 2009]. Aus Pflegeeinrichtungen wird ebenfalls darüber berichtet [Zeh et al. 2009] und darauf hingewiesen, dass schon der ständige Wechsel der Pflegepersonen im alltäglichen intimen Umgang gerade bei verwirrten Menschen häufig Widerstand erzeugt. Dies gilt erst recht, wenn Traumata aus der früheren Lebensgeschichte nicht bekannt sind und/ oder nicht berücksichtigt werden – z.B. durch den Einsatz ausschließlich weiblicher Pflegekräfte bei (den nicht wenigen) im Kriegszusammenhang vergewaltigten Frauen.
13.2.2 Rechtsschutz gegen Gewalt – Gesetze und Gesetzeslücken Grundrechte gelten für alle Menschen. Das heißt Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit stehen alten Menschen wie allen anderen zu. Der Staat ist in der Pflicht, das Erforderliche und Mögliche zu tun, um
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der Verletzung dieser Grundrechte in typischen Gefahrenlagen, wie sie hier erkennbar sind, vorzubeugen. Rechtliche Regelungen, die pflegebedürftigen alten Menschen Schutz vor Gewalt leisten können, gibt es auch durchaus, nämlich Hilfen, Kontrollen und Sanktionen im Bereich des Pflegeversicherungs- und Sozialhilferechts, des Betreuungsrechts, des Polizei- und Gewaltschutzrechts und des Strafrechts. Aber reichen sie aus? Wie effizient sind sie?
13.2.2.1 Unterstützung und Beratung Nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) leistet die Pflegeversicherung – im Bedarfsfall mit Ergänzung durch die Sozialhilfe – einen Beitrag zur Finanzierung der Pflege in entsprechenden Einrichtungen und auch zur häuslichen Pflege durch Angehörige und/oder ambulante Pflegedienste. Minimale Ergänzungen der Altersrente sind für pflegende Angehörige vorgesehen. Länger schon gibt es arbeitsrechtliche Regelungen zu „Auszeiten“ für die Pflege von Angehörigen (allerdings ohne Lohnausgleich – im Unterschied zu Elternzeiten). Neuerdings gibt es Möglichkeiten zur bis zu zweijährigen Reduzierung von Arbeitszeit für die Pflege von Angehörigen, aber ohne Rechtsanspruch und verbunden mit erheblichen finanziellen Verzichten. Beratungsansprüche wurden im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung erweitert und gesetzlich verankert („Pflegestützpunkte“ gemäß §§ 7, 7a SGB XI, die es allerdings noch bei weitem nicht flächendeckend gibt), und auch im Sozialhilferecht nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) finden sich verschiedene Angebote der Beratung und Unterstützung zur Pflege. Alle diese gesetzlichen Leistungen sollen der Überforderung von Pflegenden vorbeugen, sie entlasten und unterstützen und auf diese Weise auch zur Vermeidung von Gewalt und Vernachlässigung beitragen. Allerdings sind sie bislang keineswegs in ausreichender Weise verfügbar und beanspruchbar – anders als die diversen Hilfen zur Erziehung von Kindern, die im jeweils erforderlichen Umfang zur Verfügung zu stellen sind, wenn das Kindeswohl es erfordert – Eltern haben darauf einen Rechtsanspruch nach §§ 27ff. Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Außerdem können Hilfen nur da wirksam werden, wo sie – freiwillig – in Anspruch genommen werden und schließen fortbestehende Gewalt nicht in jedem Fall aus, wie wir auch aus der Jugendhilfe wissen. Dennoch müssen hier zuallererst Verbesserungen eingefordert werden.
13.2.2.2 Kontrolle Eine Kontrolle der häuslichen Pflege(-Qualität) gibt es nach dem Pflegeversicherungsrecht. Mitglieder ambulanter Pflegedienste besuchen zweimal im Jahr Pflegebedürftige, die in häuslicher Pflege Geld-Leistungen der Pflegeversicherung beziehen und berichten der Pflegekasse. Die Berichte fallen bekanntlich aber durchweg positiv aus, weil anders die – marktabhängigen – ambulanten Dienste um ihren Ruf fürchten
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müssten. Eher schon bieten sie ihre Hilfe an und werden selbst in der überprüften Familie tätig. Und obwohl dann stichprobenartige Besuche der Gepflegten durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung stattfinden, kommt es auch dann selten zur Anzeige von Missständen. Dies wohl auch, weil die Anzeigen zu einer Reduzierung der Versicherungsleistungen führen können, die zur Verbesserung der PflegeSituation kaum geeignet ist. Meist erfolgt freilich – soweit bekannt – keine solche, aber auch keine andere – etwa beratende – Reaktion. Die Weitergabe des „Falles“ an andere Beratungsstellen stößt mangels spezifischer datenschutzrechtlicher Regelungen verständlicherweise auf Unsicherheit. Speziell zum Schutz der Rechte handlungsunfähiger oder psychisch beeinträchtigter, etwa demenzkranker alter Menschen sind mit dem Betreuungsrecht persönliche Pflichten für gesetzliche Betreuer zur Gewährleistung des „Wohls der Betreuten“ und gerichtliche Kontrollen der Betreuungstätigkeit geschaffen worden. Meist werden aber – aus guten Gründen – Angehörige selbst als Betreuer bestellt – in rund 60 Prozent der Fälle [BGT 2011], so dass der Schutz-Auftrag im erforderlichen Fall der Misshandlung oder Vernachlässigung durch pflegende Angehörige ins Leere läuft. Die Kontrolle der Betreuer/innen wiederum durch das Betreuungsgericht ist wenig effizient – aufgrund von fehlenden Ressourcen an Zeit und spezifischer Qualifikation bei Betreuungsrichter/innen und Rechtspfleger/innen. Im Übrigen haben (und brauchen) bei weitem nicht alle körperlich Pflegebedürftigen auch eine rechtliche Betreuung, so dass dieser potentielle Rechtsschutz nicht das gesamte Feld der Pflege erfasst.
13.2.2.3 Intervention und Sanktion Polizeirechtliche Eingriffsmöglichkeiten zur „Gefahrenabwehr“ gibt es nur in schwerwiegenden Verdachtsfällen, und sie machen die Polizeibeamten, wenn sie überhaupt gerufen werden, durchweg hilflos. Häufig können oder wollen die „Opfer“ die Anzeige eines Nachbarn nicht bestätigen und selbst wenn, kann hier selten hilfreich gehandelt werden, zumal es meist keine gute Vernetzung mit Hilfeleistungseinrichtungen gibt. Die Maßnahmen nach dem seit dem Jahr 2001 geltenden zivilrechtlichen Gewaltschutzgesetz, das in erster Linie Frauen in Partnerschaften vor männlicher Gewalt schützen soll, können theoretisch auch für alte Menschen zur Anwendung kommen. Die möglichen Schutzmaßnahmen setzen freilich einen Antrag der verletzten oder bedrohten Person voraus und beschränken sich im Wesentlichen auf die Fernhaltung des Täters und greifen daher bei Gewalt in der Pflege ebenso wenig wie das allgemeine Polizeirecht. Zur Strafverfolgung, etwa im Rahmen der – selbstverständlich auch hier geltenden – Straftatbestände der Körperverletzung nach § 223ff. Strafgesetzbuch (StGB), Freiheitsberaubung oder speziell der Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB), kommt es kaum. Die „Opfer“ sind kaum jemals zur Anzeigeerstattung in der Lage, Außenstehende erfahren nicht davon oder scheuen sich vor der „Denunziation“ – so
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insbesondere Ärzte, die sich (wie auch lange im Kinderschutz) zu Unrecht auf eine im Notfall nicht geltende Schweigepflicht berufen. Und selbst wenn Anzeige erstattet wird, stellt das Verfahren immer eine erhebliche zusätzliche Belastung für die Betroffenen dar, und sie werden die – bestenfalls, d.h. bei vollem Beweis der Beschuldigungen – zu erwartende Folge einer Bestrafung der „Täter“, d.h. der Angehörigen, von denen sie abhängig sind, kaum als hilfreich empfinden können, geschweige denn die „Wegweisung“ der Täter/innen mit der Folge einer oft unerwünschten Übersiedlung ins Pflegeheim. Nur im äußersten Fall einer schwerwiegenden Misshandlung erscheinen diese Maßnahmen gerechtfertigt. Freilich bleibt das Strafrecht insoweit auch wichtig zur Verdeutlichung einer klaren Wertorientierung von Recht und Gesellschaft (vgl. zur strafrechtlichen Problematik ausführlich Kap. 13.1). Rechtsgrundlagen für eine nicht straf- sondern hilfeorientierte Intervention gegen den Willen pflegender Angehöriger mit entsprechenden Ermittlungs- und Maßnahmekompetenzen, wie wir sie aus dem familienrechtlichen Kinderschutz kennen, fehlen völlig. Es wird daher immer wieder beklagt, dass alle Beratungs- und HilfeBemühungen scheitern müssen, wenn die Pflegenden sie ablehnen und den Zugang zu dem/der Pflegebedürftigen verweigern.
13.2.2.4 Reformbedarf und politische Initiativen Festzuhalten bleibt, dass die vorhandenen Gewaltschutzregelungen nicht ausreichen, um pflegebedürftige alte Menschen in der Familie vor Gewalt im Sinne von Misshandlung und Vernachlässigung zu schützen. Sie müssen ergänzt werden durch rechtliche Rahmenbedingungen für frühe Prävention und helfende Intervention in der familialen Pflege. Wenn es um das „Wohl des alten Menschen“2 gehen soll, könnten Anregungen aus dem Kinderschutzrecht hilfreich sein, wo das „Kindeswohl“ seit langem im Zentrum aller Reformbemühungen steht. Anregungen aus dem Kinderschutzrecht müssten freilich zugleich notwendige Differenzierungen im Auge behalten. Mündige erwachsene Menschen haben im Unterschied zu Kindern das Recht auf selbstbestimmtes Leben, das auch Gefährdungen einschließen kann. Beachtung verdient zum anderen die Tatsache, dass das Spektrum möglicher Hilfen für alte Menschen im Vergleich zu Kindern spezifische Begrenzungen aufweist – sei es aufgrund zunehmender körperlicher und psychischer Einschränkungen oder auch wegen der besonderen Bedeutung der Kontinuitätsbedürfnisse, die den Übergang eines alten Menschen in eine neue Pflegesituation schwieriger machen als etwa den eines Kindes in eine Pflegefamilie. Unerlässlich im Sinne einer effizienten Prävention ist zudem die Sensibilisierung und Vernetzung der genannten Akteure und Institutionen [Ziller 1996], die Aufgaben
2 Riedel und Stolz sprechen von der „Altenwohlgefährdung“ in direkter Analogie zur Kindeswohl gefährdung [Riedel/Stolz 2008].
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im Rahmen des Gewaltschutzes haben oder übernehmen könnten, also Beratungsstellen privater und öffentlicher Träger einschließlich sozial- und gerontopsychiatrischer Zentren, Aufsichtsbehörden wie Heimaufsicht, Medizinischer Dienst der Krankenversicherung, aber auch Betreuungsbehörden, Polizei und Staatsanwaltschaften sowie Gerichte für Betreuungs-, Familien- und Strafsachen. Auch dazu können rechtliche Vorgaben helfen – wie die jüngste Entwicklung im Kinder- und Jugendhilferecht zeigt, wo etwa die Vernetzung von Schulen, Jugendämtern und Kinderärzten zur Abwehr von Kindeswohlgefährdungen durch Informationsrechte und -befugnisse sowie Beratungs- und Kooperationspflichten im Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG) vom 28.12.2011 präzise geregelt wurde. Präventions- und Interventionsmöglichkeiten sind freilich in Deutschland – anders als beispielsweise im europäischen Ausland, in Israel sowie in den USA [Wolf/ Pillemer 1989, Stiegel et al. 2006]3 und in Japan4 – erst in allerjüngster Zeit zum Thema wissenschaftlicher Untersuchungen5 sowie öffentlich geförderter Berichterstattung6 und Diskussion7 einschließlich diverser Modellprojekte8 geworden. In der politischen Diskussion wird das heikle Thema bis heute gemieden, und der Gesetzgeber, der den Schutz der Kinder vor Misshandlung und Vernachlässigung seit langem kontinuierlich entwickelt hat, schweigt. Dies, obwohl seit langem aus Wissenschaft und Praxis auf die entsprechende Problematik im hohen Alter hingewiesen und politischer Handlungsbedarf angemahnt wurde [Dieck 1987, Hirsch/Brendebach 1999, Fussek/Loerzer 2005, Riedel/Stolz 2008, Zenz 2008, Kreuzer 2010]. Politischer Druck scheint sich seit Ende der 90er Jahre aufzubauen durch die Arbeit von regionalen Gremien9, Landespräventionsräten (insbesondere in Nord-
3 Vgl. eine Übersicht in: Gewalt und Vernachlässigung gegenüber alten Menschen. Entstehungsbedingungen und Wege wirksamer Prävention [LPR NRW 2010]. 4 Nach langjähriger Vorbereitung ist in Japan am 01.01.2006 – erstmals auf nationaler Ebene – ein „Elder Abuse and Caregiver Support Law“ in Kraft getreten [Nakanishi et al. 2009]. 5 Z. B MILCEA „Monitoring in Long Term Care“ (Brucker, Essen); PURFAM „Potentiale und Risiken in der familialen Pflege alter Menschen“ (Zank/Schacke, Köln/Berlin); Redufix Ambulant = Projekt zur Reduzierung körpernaher Fixierung in häuslicher Pflege“ (Bredthauer/Klie, Frankfurt/Freiburg); SAFER CARE „Gewalt gegen Ältere erkennen und vermeiden“ (Blättner, Grewe, Fulda); SiliA „Sicher leben im Alter“ (Görgen, Münster). 6 So die Alten- und Familienberichte des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ 2003]. 7 Der „Runde Tisch Pflege“ verabschiedete 2005 die »Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen« [BMfSFJ/BMG 2006]. 8 Z.B. „Flagge zeigen“, Minden-Lübbecke; Pflege in Not, Berlin. 9 Z.B. der vom Bayerischen Landespflegeausschuss herausgegebene Leitfaden „Verantwortungsvoller Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege“ [STMAS 2010], der primär für Pflegeeinrichtungen gedacht ist, aber durchaus auch richtungsweisend für Krankenhäuser sein könnte.
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rhein-Westfalen und Hessen)10, Berufs- und Seniorenverbänden [Zenz 2006, BAGSO 2012]. Inzwischen häufen sich freilich auch Forderungen internationaler Gremien und Verbände wie etwa die Empfehlungen und dringlichen Appelle der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization) [WHO 2002] und der Europäischen Union [EWSA 2007] an die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten. Eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen bereitet eine Menschenrechtskonvention vor zum Schutz älterer Menschen vor Gewalt, nachdem bereits das „Übereinkommen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen“ 2008 (BGBl. 2008 II S. 1420) für eine Diskussion über Zwangsmaßnahmen gegenüber demenzkranken Menschen – auch im Rahmen des Betreuungsrechts – gesorgt hat. Vielleicht kann man also hoffen, dass endlich gesetzliche Regelungen mindestens für den Bereich auf den Weg gebracht werden, wo bislang der Rechtsschutz am wenigsten greift – nämlich bei Misshandlung und Vernachlässigung in der häuslichen Pflege. Immerhin sind dazu bereits erste konkrete rechtspolitische Vorschläge entwickelt worden, die im Folgenden zur Diskussion gestellt werden sollen.
13.2.3 Rechtspolitische Empfehlungen zum Schutz vor Gewalt in der häuslichen Pflege Empfehlungen an Gesetzgebung und Verwaltung speziell zum Problem der Gewalt gegenüber alten Menschen in häuslicher Pflege sind erstmals 2005 vom Deutschen Familiengerichtstag erarbeitet und veröffentlicht worden [Zenz 2006]. Der Landespräventionsrat Hessen hat diese Empfehlungen aufgegriffen, weiterentwickelt und an die hessischen Ministerien für Justiz und für Soziales sowie in das Bundesministerium der Justiz (BMJ) übermittelt. Die Empfehlungen zielen auf Möglichkeiten der Gewalt-Prävention ebenso wie auf solche der Intervention. Ihre wesentlichen Punkte sind die folgenden:
13.2.3.1 Frühe Prävention Neben der notwendigen Erweiterung von Beratungs- und Unterstützungsleistungen für pflegende Angehörige sollten speziell Ärzte als Vertrauenspersonen der Familien mit Einwilligung der Betroffenen den Kontakt zu einer Beratungsstelle/einem Pflegestützpunkt vermitteln (ähnlich schon §§ 7, 7a SGB XI, aber leider ohne „Verpflichtung“ – und ohne Abrechnungsziffer für Ärzte). Von dort sollte dann in aufsuchender
10 Z.B. der vom Landespräventionsrat Nordrhein-Westfalen (LPR NRW) herausgegebene Leitfaden „Gefahren für alte Menschen in der Pflege – Basisinformationen und Verhaltenshinweise für Professionelle im Hilfesystem, Angehörige und Betroffene“ [Graß/Walentich 2006], die Pflegeschäden aus Unkenntnis und Hilflosigkeit verhindern sollen.
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Beratung über zu erwartende Belastungen und Entlastungsmöglichkeiten aufgeklärt und beraten bzw. auf Wunsch auch Hilfe vermittelt werden. Damit soll unerwarteter Überforderung vorgebeugt werden.
13.2.3.2 Helfende Intervention Für die helfende – nicht straforientierte – Intervention bei einer Gefährdung des Wohls des/der Pflegebedürftigen bedarf es der Schaffung von materiellrechtlichen, verfahrensrechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen – vergleichbar den Rechten und Pflichten von Jugendämtern und Familiengerichten bei Kindeswohlgefährdung. Wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine pflegebedürftige Person zum Opfer von Gewalt wird und Hilfeangebote erfolglos sind, sollen Beratungsstellen – ähnlich wie heute Jugendämter in entsprechenden Fällen von »Kindeswohlgefährdung« – verpflichtet sein, das Familiengericht (oder das Betreuungsgericht?) anzurufen. Das Gericht hätte dann die Einleitung eines Verfahrens zu prüfen und Ermittlungen zur Einschätzung der Gefährdungssituation anzustellen. Im Bedarfsfall hätte es Hilfen, Beratung oder Mediation zu vermitteln oder sonstige Maßnahmen zu ergreifen, um die Gefährdung abzuwenden, wie zum Beispiel die Verpflichtung zu regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen oder auch ein Hausverbot für einen gewalttätigen Angehörigen. Auch die Übersiedlung in eine Pflegeeinrichtung oder eine Gastfamilie kann eine durchaus erwünschte und sinnvolle Hilfe sein. Erfahrungen mit „Gastfamilien“ für pflegebedürftige alte Menschen gibt es seit langem in den Niederlanden und inzwischen auch in Deutschland – u.a. in Hildesheim, MindenLübbecke, in der Ortenau und in Ravensburg.
13.2.3.3 Balance von Autonomie und Schutzbedarf Allerdings: alte Menschen sind keine Kinder. Sie haben das Recht, selbst über ihr Leben zu bestimmen und dabei auch Gefährdungen in Kauf zu nehmen. Gegen den entschiedenen Willen des betroffenen alten Menschen dürften daher helfende Interventionen nur in eng definierten Ausnahmefällen in Betracht kommen – vor allem dann, wenn aufgrund krankheitsbedingter Einschränkungen der Einsichts- oder Entscheidungsfähigkeit auch die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung angezeigt ist und der Betreuer an seiner Stelle zu seinem „Wohl“ mit Genehmigung des Betreuungsgerichts entscheiden kann.
13.2.3.4 Einsetzung einer Expertenkommission Der Hessische Landespräventionsrat hat schließlich ganz konkret gefordert:
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„Die vielfältigen klärungsbedürftigen Rechtsfragen in diesem Zusammenhang bedürfen der systematischen Bearbeitung durch eine spezifisch qualifizierte Gesetzgebungskommission.“ In der Tat: mit der Ausarbeitung von Gesetzgebungsvorschlägen, die die schwierige Balance zwischen Autonomie und Schutzbedarf versorgungsabhängiger Menschen wahren sollen und alte mit neuen Regelungen und Institutionen zu einem effizient vernetzten Gewaltschutzsystem verknüpfen müssen, sollte eine aus Praxis, Wissenschaft und Politik kompetent besetzte Expertenkommission beauftragt werden, die durch qualifizierte Begleitforschung unterstützt wird.
13.3 Freiheitsberaubung aus Fürsorge?! – Die Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen in der Pflege Andrea Berzlanovich, Sebastian Kirsch, Astrid Herold-Majumdar, Ottilie Randzio und Niko Kohls Der Einsatz freiheitsentziehender Maßnahmen (FEM) gegen/ohne den Willen Pflegebedürftiger ist eine spezielle Form von Gewalt in der Pflege. Obwohl diese Vorkehrungen meist zum Schutz bzw. zur Sicherheit der zu Pflegenden eingesetzt werden, stellen sie schwerwiegende Eingriffe in die Menschenrechte11 mit gravierenden Auswirkungen auf die Würde, Lebensqualität und Gesundheit der Betroffenen dar.
Anwendungsformen In der Pflege werden freiheitsentziehende Maßnahmen hauptsächlich bei Sturzgefährdung, unangepasstem Verhalten, motorischer Unruhe und zur Sicherung von medizinischen Behandlungen angewandt [Joanna Briggs Institute 2002, Hamers/ Huizing 2005, Evans et al. 2002]. Seltener werden sie zur Vermeidung von Selbstbeschädigungen und suizidalen Handlungen eingesetzt [Steinert et al. 2010, Kallert et al. 2007, Bowers et al. 2012]. Die Einschränkung des Bewegungsspielraums von Bewohner/ inne/ n und Patient/inn/en erfolgt meist durch mechanische Fixierungen. Am häufigsten werden dazu Bettgitter verwendet [Joanna Briggs Institute 2002, Hamers/Huizing 2005]. Diese zählen zu FEM, wenn sie ohne informierte Zustimmung oder gegen den Willen der Betroffenen hochgezogen werden. Andere körpernahe Fixierungen (Fixierungen im engeren Sinne) sind unter anderem Gurtsysteme, Bandagen, Schutzdecken und Vorsatztische [Joanna Briggs Institute 2002].
11 Unantastbarkeit der Menschenwürde, Art. 1 Grundgesetz; persönliche Freiheitsrechte, Art. 2 Grundgesetz.
13.3 Freiheitsberaubung aus Fürsorge?!
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Schlafmittel und Psychopharmaka sind freiheitsentziehend, wenn sie mit dem vorrangigen Ziel verabreicht werden, den Bewegungsdrang der zu Pflegenden soweit zu reduzieren, dass sich diese weder aus ihrem Stuhl oder Bett, aus ihren Räumlichkeiten noch aus der gesamten Einrichtung entfernen können. Die Gabe von Medikamenten zu therapeutischen Zwecken gilt hingegen nicht als FEM, auch wenn dabei als Nebenwirkung die Mobilität eingeschränkt wird. Das Einsperren von Betroffenen auf Stationen beziehungsweise in deren Zimmern gehört ebenso zu den FEM. Darüber hinaus existieren „versteckte“ oder „verdeckte“ Methoden wie die Wegnahme von Kleidung, Schuhen, Seh- und Gehhilfen und das Anbringen von speziellen Türschlössern, die die Pflegebedürftigen in ihrer Fortbewegung einengen sollen. Medikamentöse Fixierungen sowie verdeckte Methoden werden von Außenstehenden oftmals nicht bemerkt. Die betroffenen Personen sind bei derartigem Vorgehen nicht nur in ihrer Bewegungsfreiheit, sondern ebenso in ihrer Selbstbestimmung und Selbständigkeit massiv behindert. Umstritten ist die Zulässigkeit von Sende- oder Personenortungsanlagen. Die Sender lösen beim Verlassen der Einrichtungen Signale aus; über Ortungsanlagen werden Personen auch außerhalb der Einrichtungen kontrolliert. Diese elektronischen Vorkehrungen können als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen werden12, nach der überwiegenden Rechtsprechung sind sie genehmigungsfähig und -pflichtig.13,14 Auch andere Maßnahmen, die nicht offensichtlich freiheitsbeschränkend wirken, werden danach beurteilt, welchen Zweck sie verfolgen: Liegt ihre vornehmliche Zielrichtung darin, die Freiheit der Betroffenen einzugrenzen, sind sie stets genehmigungspflichtig [Joanna Briggs Institute 2002]. Die unterschiedlichen Anwendungsformen werden sehr konträr betrachtet bzw. wahrgenommen. Beispielsweise werden Bettgitter seitens der medizinischen und pflegerischen Fachkräfte häufig als empfehlenswerte Schutzvorrichtungen zur Verhütung von Stürzen steh- und gangunsicherer Personen gesehen, sind damit aber keinesfalls automatisch rechtlich legitimiert. Die Intention, Stürze allgemein zu vermeiden, rechtfertigt auch nicht per se den Einsatz von FEM. Außerdem wird in rezenten Studien angezweifelt, ob durch Fixierungen mit der daraus resultierenden Einschränkung der Mobilität tatsächlich eine relevante Sturzprophylaxe gegeben ist [Koczy et al. 2011]. Vielmehr besteht sogar zunehmende Evidenz einer erhöhten Sturzund Verletzungsgefahr aufgrund von FEM [Capezuti 2004].
12 AG Hannover, Beschluss vom 05.05.1992, 62 XVII L 8, BtPrax 1992, 113 = FamRZ 1992, 119 = BtE 1992/93, 74. 13 AG Bielefeld, Beschluss vom 16.09.1996, 2 XVII B 32, BtPrax 1996, 232 = BtE 1996/97, 76 = RdL 1997, 35. 14 LG Ulm, Beschluss vom 25.06.2008, 3 T 54/08; NJW-RR 2009, 225 = PflR 2009, 74.
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Gesundheitliche Risiken bei mechanischen Fixierungen Insbesondere körpernahe Fixierungen können bei regelmäßigem und dauerhaftem Gebrauch erhebliche gesundheitliche Komplikationen wie Entzündungen, Infektionen, Aufliegegeschwüre, Thrombosen, Stuhl- und Harninkontinenz hervorrufen. Die erzwungene Immobilität führt zu Muskelatrophien und kann vorbestehende Atrophien verstärken [Gastmans/Milisen 2006]. Dadurch wird die Steh- und Gehfähigkeit der Betroffenen nach der Fixierungsphase verschlechtert, so dass eine wirksame langfristige Sturzprophylaxe wesentlich erschwert oder gänzlich unmöglich wird. Begleitend treten oft Stress und Angstzustände auf. Qualitative Studien belegen beträchtliche Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, die Selbstwahrnehmung, die soziale Teilhabe sowie den Lebensmut [Haut et al. 2007]. Fixierte Pflegebedürftige fühlen sich oft gekränkt, erniedrigt und ausgeliefert. Sie ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück und entwickeln passiv-resignative Abwehrstrategien, die häufig als „Akzeptanz“ der FEM fehlinterpretiert werden [Hollweg 1994]. Nicht fach- und sachgerecht angewandte Fixierungen können Verletzungen unterschiedlicher Schweregrade (Hautabschürfungen, Hämatome, Weichteilquetschungen, Nervenschädigungen, Frakturen), gelegentlich sogar den Tod der Betroffenen zur Folge haben [Capezuti et al. 2007, Berzlanovich et al. 2012]. Selbst bei korrektem Anlegen von Gurtsystemen, jedoch nicht ausreichender Beobachtung und Betreuung der zu Pflegenden, sind tödliche Unfallgeschehen möglich [Berzlanovich et al. 2007].
Dilemmata für Pflegende Pflegende, die FEM anwenden, können gleichfalls in Dilemmata geraten, die schwer belastend sind: Einerseits wollen sie ihre Bewohner/ innen bzw. Patient/ inn/ en bestmöglich vor unfallbedingten Verletzungen bewahren und andererseits sind sie bestrebt, professionelle, die Selbstbestimmung, Lebensqualität und Mobilität fördernde Pflege zu gewährleisten. Überfordernde Situationen für die Pflegekräfte entstehen aber auch durch die ständige Nähe zu den fixierten Betroffenen, bei der die drastischen physischen, psychischen und sozialen Folgen von FEM unmittelbar spürbar sind [Strumpf/Evans 1998].
Rechtliche Aspekte der Entscheidung für/gegen FEM Der Gesetzgeber unterscheidet strikt zwischen einwilligungsfähigen und nicht einwilligungsfähigen Personen. Können Betroffene ihre Alltagsfähigkeiten und die gesundheitlichen Risiken – beispielsweise eines Sturzes – adäquat erfassen und die Nachteile einer eingeschränkten Bewegungsfreiheit samt den damit verbundenen Einbußen der eigenen Lebensqualität einschätzen, so entscheiden sie letztverantwortlich selbst über den Einsatz und die Dauer von FEM, selbst wenn die getroffene
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Risikoabwägung Dritten unvernünftig erscheinen mag. Eine zusätzliche gerichtliche Genehmigung oder Bestätigung ist nicht nötig. In Eil- und Notfällen (§ 34 StGB – Rechtfertigender Notstand oder § 32 StGB – Notwehr) hat das ärztliche und pflegerische Fachpersonal Entscheidungsbefugnisse, die aber nur kurzzeitige Eingriffe (keinesfalls länger als zwei Tage) „zur Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs oder einer anders nicht abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit“ rechtfertigen. Bei nicht einwilligungsfähigen Pflegebedürftigen ist die Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter/ innen zwingend vorgeschrieben. Die Bevollmächtigten/ Betreuer/ innen erklären dann das Einverständnis zur Anwendung von FEM anstelle der Betroffenen. Regelmäßige oder dauerhafte Fixierungen (ab drei Tagen), die in Pflege-/Altenheimen, Kliniken sowie in sonstigen Einrichtungen (betreute Wohngruppen oder Außenwohngruppen) vorgenommen werden, erfordern zusätzlich ein gerichtliches Genehmigungsverfahren nach § 1906 BGB Abs. 415, §§ 312 ff. FamFG16. Diese betreuungsgerichtlichen Genehmigungen sind bei regelmäßigem Einsatz von FEM gegen/ ohne den Willen der Betroffenen unumgänglich, um die Grundrechte der Betroffenen zu schützen und die Anwender/innen von FEM nicht strafrechtlichen Vorwürfen (Freiheitsberaubung, Nötigung, Körperverletzung) auszusetzen. Mit dem jeweiligen richterlichen Beschluss wird der vorausgegangene Entschluss des/der Betreuers/ Betreuerin oder Bevollmächtigten zur Anwendung von FEM abgelehnt oder genehmigt, deren Umsetzung jedoch nicht richterlich angeordnet. Die richterliche Entscheidung hat aufgrund der Schwere des Eingriffs den Charakter einer Rückendeckung für die Betreuerentscheidung, jedoch keinerlei selbständigen Anordnungsgehalt. Eine Verpflichtung zum Gebrauch der Sicherungsmaßnahmen entsteht aus der richterlichen Entscheidung also nicht. Die tatsächliche Erforderlichkeit von FEM sowie die zeitlichen Beobachtungsintervalle der Fixierten sind vom Gesundheitszustand und dem Befinden der Betroffenen abhängig. Im Allgemeinen wird darüber vor Ort von den zuständigen Pflegefachkräften gemeinsam mit den gesetzlichen Vertreter/inne/n entschieden. Jede Anwendung muss in ihrer Art, ihrem zeitlichen Umfang und ihrer Überwachung in einem Fixierungsprotokoll nachvollziehbar dokumentiert werden. Gemäß § 1906 BGB dürfen FEM nur eingesetzt werden, damit Pflegebedürftige sich keinen erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügen oder sich töten. Gleiches gilt bei notwendigen medizinischen Behandlungen/Eingriffen, die aufgrund des Verhaltens der Bewohner/innen beziehungsweise Patient/inn/en nur unter Zwang durchgeführt werden können.
15 Bürgerliches Gesetzbuch: Buch 4 – Familienrecht, Abs. 3 – Vormundschaft, Rechtliche Betreuung, Pflegeschaft (§§ 1773–1921). 16 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit: Buch 3 – Verfahren in Betreuungs- und Unterbringungssachen (§§ 271–341). Abschnitt 2 – Verfahren in Unterbringungssachen (§§ 312–339).
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Straf- und zivilrechtliche Konsequenzen für ärztliches und pflegerisches Personal Fixierungen erfüllen immer den Tatbestand der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB). Sie können ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn entweder (bei Einwilligungsfähigen) die Zustimmung der betroffenen Person vorliegt oder (bei nicht Einwilligungsfähigen) das Einverständnis der rechtlichen Betreuer/innen oder Bevollmächtigten mit einer zusätzlichen Genehmigung des Betreuungsgerichtes (BGH-Beschluss vom 27.06.2012 – Az. XII ZB 24/12) oder ein rechtfertigender Notstand gegeben sind. Auch der Vorwurf der Nötigung (§ 240 StGB) kann in Betracht kommen, insbesondere bei verdeckten Anwendungen. Führen nicht sach-/ fachgerecht angebrachte FEM zu gesundheitlichen Schäden oder zum Tod der Fixierten, liegen die Tatbestände von Körperverletzungs- bzw. Tötungsdelikten vor. Für Schäden aufgrund rechtswidrigen Einsatzes von FEM haften die Anwender/ innen zivilrechtlich (aus Heim- oder Behandlungsvertrag oder § 823ff. BGB – deliktische Haftung). Beispielsweise ist nach einem Urteil des OLG Köln (02.12.1992 – 27 U 103/91) insbesondere die Fixierung eines/einer nicht ausreichend medikamentös beruhigten psychiatrischen Risikopatienten/patientin ohne ständige visuelle und akustische Überwachung ein schadenersatzpflichtiger Behandlungsfehler. Im Gegensatz zu einer in Pflegeeinrichtungen weit verbreiteten Ansicht führt die Unterlassung von FEM dagegen nur in seltenen Ausnahmefällen zu einer Schadensersatzpflicht des Pflegeheims. In zwei Entscheidungen vom 28.04.2005, III ZR 399/04 und vom 14.07.2005, III ZR 391/04 hat sich der BGH mit der Inanspruchnahme von Heimträgern durch Krankenkassen für die durch Stürze verursachten Kosten der Krankenbehandlung befasst. Aus dem Heimvertrag ergibt sich die Vorgabe, Leistungen nach dem „Expertenstandard Sturzprophylaxe“ zu erbringen. Heime, Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen haben die gesetzliche Verpflichtung, eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten. Alle sinnvollen, möglichen und zumutbaren Alternativen müssen in die Überlegungen einbezogen werden. Geschuldet sind aber nur Maßnahmen, die in Pflegeheimen üblich, mit vernünftigem, finanziellem und personellem Aufwand realisierbar und für Heimbewohner/innen und das Pflegepersonal zumutbar sind. Dies erfordert eine gewissenhafte Güterabwägung einerseits zwischen Sicherheit und körperlicher Unversehrtheit, andererseits aber auch zwischen Menschenwürde, freier Entfaltung der Persönlichkeit sowie Fortbewegungsfreiheit. Dabei kann keine generelle Aussage getroffen werden, es sind immer die Umstände des Einzelfalles entscheidend. Da zudem die Beweislast für Fehler in der Regel die klagende Krankenkasse trifft, sind Verurteilungen von Einrichtungen bei bewusster Nichtfixierung seit dem Jahr 2005 sehr seltene Ausnahme geworden.
13.3 Freiheitsberaubung aus Fürsorge?!
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Eigene Initiativen zur Reduzierung von freiheitsentziehenden Maßnahmen in Bayern Nach § 317 FamFG hat das Betreuungsgericht in der Regel zu Beginn jedes Genehmigungsverfahrens einen Verfahrenspfleger – quasi als Pflichtverteidiger – zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung der Interessen der Betroffenen erforderlich ist. Zumeist wurden juristisch ausgebildete Verfahrenspfleger (z.B. Rechtsanwälte) ernannt. – Bei der Initiative „Werdenfelser Weg“, die nach einer oberbayerischen Region in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen benannt ist, (Konzept: Dr. Sebastian Kirsch, Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen; Josef Wassermann, Betreuungsstelle am Landratsamt), fällt die Wahl bewusst auf in der Pflege versierte Fürsprecher mit rechtlichen Verfahrenskenntnissen, die nicht aktiv in die Pflege der betroffenen Personen eingebunden sind [Berzlanovich et al. 2012]. Diese unparteiischen Fürsprecher können im gerichtlichen Auftrag jeden Fixierungsfall individuell auf fachlicher Augenhöhe mit den Pflegeverantwortlichen in den Altenpflegeeinrichtungen diskutieren. Zusammen mit den Betroffenen, Betreuer/ innen, Angehörigen sowie dem bestehenden multiprofessionellen Team (Bezugspersonen, Pflegekräfte, Ärzteschaft usw.) werden individuell Vorgehensweisen erarbeitet, die sowohl höchstmögliche Sicherheit bieten als auch psychisches Wohlbefinden, Lebensqualität und Bewegungsfreiheit gewähren. Damit sind alle am Verfahren Beteiligten in den Meinungsfindungsprozess Pro und Kontra FEM einbezogen; und sie übernehmen auch gemeinsam die Verantwortung. Durch die praktische Umsetzung des „Werdenfelser Wegs“ ist die Anzahl der Fixierungsanträge im Landkreis Garmisch-Partenkirchen um mehr als 70 Prozent gesunken. Die Verfahrensprozedur ist seit dem Jahr 2010 in weiten Regionen Südbayerns sowie Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens und auch in Großstädten wie Nürnberg, München, Bonn, Bochum und Essen übernommen worden [Berzlanovich et al. 2012]. In einigen Fällen steht der Tod betagter Heimbewohner/innen oder Patient/inn/en unmittelbar im Zusammenhang mit Pflegefehlern oder Aufsichtsmängeln und wäre zu verhindern gewesen. – Von 1997–2010 wurden im Institut für Rechtsmedizin München über 27 000 Obduktionen vorgenommen. Alle Todesfälle, die sich bei Gurtfixierungen ereignet hatten (n=26), wurden retrospektiv analysiert. Während in Gurtsystemen drei Patienten infolge eines natürlichen Todes und ein Betroffener durch Suizid starben, war bei 22 gleichfalls nicht unter Dauerbeobachtung stehenden Pflegebedürftigen der Todeseintritt eine direkte Folge der jeweiligen Fixierung. Der Tod war dabei entweder durch Strangulation, Kompression des Brustkorbs oder in Kopftieflage eingetreten. Bei fast allen Bewohner/inne/n und Patient/inn/ en wurden die Gurte fehlerhaft angelegt, zweimal sind behelfsmäßige Mittel zur Fixierung herangezogen worden [Berzlanovich et al. 2012]. Trotz korrekter Anwendung eines Bauchgurts kam es bei einer Heimbewohnerin aufgrund ihrer
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Gelenkigkeit und begünstigt durch ihre körperliche Konstitution zur Strangulation [Berzlanovich et al. 2007]. Zur Verhinderung derartiger Todesfälle wird daher auch aus gerichtsmedizinischer Sicht empfohlen, alle Möglichkeiten von Alternativen zu FEM auszuschöpfen. Falls körpernahe Fixierungen dennoch unvermeidbar sind, müssen diese vorschriftsmäßig angewandt und die Betroffenen verstärkt überwacht werden. Deutschlandweite flächendeckende Untersuchungen über die Anzahl der fixierten Bewohner/innen und über die Art der jeweils eingesetzten FEM in stationären Altenpflegeeinrichtungen sind bisher nicht verfügbar. Um valide Informationen über Anzahl und Art der jeweils eingesetzten Maßnahmen zu erhalten, wurden im Rahmen des Aktionsprogramms „Verantwortungsvoller Umgang mit FEM in der Pflege“17 Fragebogen- und Internetbasierte Stichtagserhebungen18 mit Unterstützung der jeweils zuständigen Ministerien in allen bayerischen, baden-württembergischen, hessischen und rheinland-pfälzischen Heimen durchgeführt. Was die Anwendung von FEM betrifft, hat in Bayern, wo die Befragung erstmals im Jahr 2008 und dann noch in den beiden Folgejahren stattfand, inzwischen ein Umdenken eingesetzt. So wurde im Jahr 2008 zum Stichtag jede/r vierte Heimbewohner/in fixiert, während es im Jahr 2010 „nur“ noch jede/r fünfte war [Berzlanovich et
17 Das Aktionsprogramm „Verantwortungsvoller Umgang mit FEM in der Pflege“ wurde am Department für Gerichtsmedizin der Medizinischen Universität Wien konzipiert (Leitung: Univ.-Prof. Dr. med. Andrea Berzlanovich) und vom Generation Research Programm (GRP) des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Ludwig Maximilians-Universität München mit finanzieller Förderung des PeterSchilffarth-Instituts für Soziotechnologie umgesetzt (Ausführung: PD Dr. phil. Dr. habil. med. Niko Kohls, Dipl.-Psych. Janosch Rieß, Dr. phil. Sebastian Sauer, Agnieszka Horsonek, Thomas Maier, Dr. med. Dipl-Ing. Herbert Plischke). Das Projekt wurde durch das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (Ltd. MR Sigrid König, Christian Müller), das Bayerische Ministerium für Justiz, das Rheinland-Pfälzische Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen (Birgit Husak-Lohest, Marion Hilden-Ahanda, Ingeborg Germann) sowie das Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz (Irmgard Böhm, Dr. Elisabeth Volk), das Hessische Sozialministerium (Dr. Dr. Frank Theisen, Nancy Gage-Lindner) und das Staatsministerium Baden-Württemberg, Referat „Stabsstelle der Staatsrätin für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesellschaftliche Werteentwicklung“ (Dr. Arndt Oschmann) unterstützt. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) in Bayern hat das Programm arbeitsteilig begleitet und war fachlich beratend tätig (Dr. med. Ottilie Randzio, Prof. Dr. rer. medic. Astrid Herold-Majumdar, Reiner Kasperbauer). 18 Die Umfragen erfolgten zeitnah zum „World Elder Abuse Awareness Day“ (15. Juni). Durch diese Terminwahl soll aufgezeigt werden, dass die Anwendung von FEM potenziell eine Form von Gewalt gegen pflegebedürftige, meist ältere Menschen darstellt. Rund um den 15. Juni werden jährlich in zahlreichen Ländern Aktionen und Veranstaltungen mit dem Ziel ausgerichtet, die Bevölkerung auf die Problematik der Misshandlung von älteren Menschen aufmerksam zu machen und über geeignete Handlungsweisen zu informieren. Das Aktionsprogramm „Verantwortungsvoller Umgang mit FEM in der Pflege“ versteht sich als Teil dieser weltweiten Initiative.
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al. 2010, Kohls et al. 2010]. Ausschlaggebend dafür sind u.a. vielfältige zielgerichtete Aktionen des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen. Dazu gehört die Implementierung des Leitfadens „Verantwortungsvoller Umgang mit FEM in der Pflege“ [http://www.stmas.bayern.de/pflege/dokumen tation/leitfaden.php], wodurch bereits im Jahr 2006 ein bedeutender Beitrag zur Reduktion von FEM in Bayern geleistet wurde [STMAS 2009]. Als weitere Informationsquelle dient eine Lehr-DVD, die im Jahr 2011 herausgegeben worden ist [http:// www.eure-sorge-fesselt-mich.de]. – Damit die Richterschaft an den Betreuungsgerichten stärker für die Problematik der FEM sensibilisiert wird und um aussagekräftige Daten über die genehmigten, angewendeten sowie auch abgelehnten FEM zu erhalten, wurden/werden Umfragen in allen bayerischen und rheinland-pfälzischen Betreuungsgerichten vorgenommen. Die vorliegenden Studienergebnisse weisen darauf hin, dass die gängige gerichtliche Genehmigungspraxis bei FEM sich kaum am aktuellen medizinischen und pflegewissenschaftlichen Forschungsstand [Hamers/Huizing 2005, Evans et al. 2002, Koczy et al. 2011] orientiert und Ablehnungen von FEM daher eher Ausnahmen darstellen [Berzlanovich et al. 2012]. Im Rahmen der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) werden durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) u.a. auch Fakten zur Anwendung von FEM bei den untersuchten Personen erhoben, jedoch nicht systematisch im Sinne der Versorgungsforschung aufgearbeitet. – Deshalb hat der MDK Bayern in den Jahren 2008 und 2009 stichtagsbezogene Angaben zum Einsatz von FEM bei Versicherten im ambulanten und stationären Bereich zusammen mit routinemäßig erfassten Daten ausgewertet. Am 15.06.2009 wurden 507 Versicherte (2008: n=513) begutachtet. Von den 112 (2008: n=296) stationären Bewohner/inne/n waren 29 Prozent (2008: 38 %) bzw. von den 389 (2008: n=217) ambulant versorgten Versicherten 8 Prozent (2008: 9 %) fixiert. Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz waren zu 20 Prozent (2008: 65 %) im ambulanten Bereich und zu 38 Prozent (2008: 79 %) in stationären Einrichtungen fixiert. 42 Prozent (2008: 35 %) waren pflegebedürftig in Stufe 1, 20 Prozent (2008: 32 %) in Stufe 2 und 4 Prozent (2008: 14 %) der Betroffenen in Stufe 3. Bettgitter waren die häufigste Fixierungsart (70 %). Bei Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz (nach PEA-Assessment des MDK) wurden statistisch nachweisbare Unterschiede zwischen dem ambulanten und stationären Bereich beobachtet. Zukünftige Studien sollen die Ursachen der Schwankungen näher beleuchten, um Aussagen zur wirksameren Reduktion von FEM zu gewinnen [Herold-Majumdar et al. 2010]. – Am 15.06.2010 wurden bei allen begutachteten Versicherten in Bayern, BadenWürttemberg und Hessen eingesetzte FEM sowie die entsprechenden Einwilligungen oder richterlichen Genehmigungen dazu erfasst. Insgesamt wurden 1 177 Versicherte zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit überprüft. Von den im stati-
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onären Bereich Versicherten waren 29,8 Prozent und von ambulant versorgten Versicherten 7,6 Prozent fixiert. Bei etwa 1/5 der stationären Betroffenen lag keine richterliche Genehmigung zur Durchführung der angewandten Maßnahme vor. 3/4 der fixierten Versicherten wurden 8 Stunden täglich und 1/4 sogar 24 Stunden Tag für Tag fixiert [Herold-Majumdar et al. 2011].
Schlussbemerkungen Damit ein sach- und fachgerechter Umgang mit FEM im Bereich der professionellen, aber auch der von Angehörigen mitgetragenen Pflege und Betreuung gewährleistet werden kann, ist eine verstärkte, kontinuierlich geführte, öffentliche Diskussion mit entsprechender Bewusstseinsbildung zu dieser sensiblen Thematik notwendig. Speziell in stationären Einrichtungen der Altenpflege tätige Pflegekräfte, Pflegedienst- und Heimleiter/innen, rechtliche Betreuer/innen sowie die Richter- und Ärzteschaft müssen auf die beträchtlichen gesundheitlichen Komplikationen und seelischen Qualen der Fixierten bei regelmäßigem und dauerhaftem Einsatz sowie auf die Gefahren insbesondere bei fehlerhafter, aber auch bei korrekter Anwendung von FEM mit Nachdruck aufmerksam gemacht werden. Das Problembewusstsein in Bezug auf FEM als eine Form der Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen muss bei allen Beteiligten weiter entwickelt und parallel dazu der Fokus darauf gelegt werden, gewaltfreie Alternativen zur Anwendung zu bringen. Effektive Konzepte zur sicheren Bewegungsförderung stehen bereits zur Verfügung [Herold-Majumdar 2010, Resnick et al. 2009]. In der professionellen Pflege gibt es beispielsweise mehrdimensionale Interventionen, um (geronto-)psychiatrische Patient/ inn/en ohne Anwendung von Zwangsmaßnahmen personenzentriert im Alltag zu begleiten und fachgerecht zu betreuen [Böhm 2001, Böhm 2002]. Nur durch sorgsame Mitverantwortung und stetige Reflexionsbereitschaft aller am Einsatz von FEM Beteiligten wird es gelingen, FEM auf ein unvermeidbares Mindestmaß zu beschränken und die Lebensqualität vieler Betroffener dauerhaft zu verbessern.
13.4 Prävention von Gewalt gegen ältere und pflegebedürftige Menschen. Das Europäische Projekt MILCEA und seine Konsequenzen Uwe Brucker und Andrea Kimmel Der Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt und Misshandlung haben in unserem Land einen hohen Stellenwert. Die öffentliche und veröffentlichte Aufmerksamkeit haben eine wirksame Prävention möglich gemacht: Fernsehsendungen, Schutzver-
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eine, Zufluchtshäuser für Frauen, Beratungsstellen, Jugendämter und Kinderschutzeinrichtungen gehören zur Selbstverständlichkeit in Deutschland. Aber auch alte und pflegebedürftige Menschen werden in einem Leben, das Pflegealltag genannt wird, Opfer von Gewalt. In Ländern mit vergleichbarer Bevölkerungs- und Altersstruktur ist die Prävention von Gewalt gegen alte und pflegebedürftige Menschen ein wichtiges Element einer demographiefesten Sozial- und Gesundheitspolitik. Hierzulande ist Gewalt gegen alte Menschen noch immer ein marginalisiertes Randthema. Was im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch in der Behindertenhilfe seit Jahrzehnten zur Selbstverständlichkeit geworden ist, stößt in Bezug auf alte Menschen in unserem Land noch immer an Tabu- und Verständnisgrenzen. Das Europäische Projekt MILCEA (Monitoring in Long-Term Care – Pilot Project on Elder Abuse) wurde vom Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) koordiniert und mit Mitteln der Europäischen Kommission gefördert. Projektpartner sind wissenschaftliche Institutionen in den Niederlanden, Luxemburg und Spanien sowie das Österreichische Rote Kreuz19. In diesem Projekt wurden Voraussetzungen erarbeitet, wie auch alte und pflegebedürftige Menschen in Zukunft vor Gewalt und Misshandlung geschützt werden können.
Risikofaktoren für Gewalt bei Pflegebedürftigkeit Pflegebedürftigkeit bedeutet, Eigenständigkeit und Selbstbestimmung zu verlieren; sowohl für den Gepflegten wie auch oft für den Pflegenden. Pflegebedürftigkeit heißt Abhängigkeit. Sie führt zu einer sozialen Beziehung, die von Machtgefälle geprägt und höchst vulnerabel ist. Gelingt die Pflegebeziehung, wird auf die Würde, die Selbstbestimmung und die Unversehrtheit des alten und pflegebedürftigen Menschen geachtet. Körperliche und psychische Gewalt, Vernachlässigung, finanzielle Ausbeutung, sexueller Missbrauch finden in solchen Beziehungen nicht statt. Und doch gibt es Gewalt; sie findet meist im Verborgenen sowohl in familiären wie in außerfamiliären Pflegearrangements statt. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Pflege ist eine hohe körperliche und seelische Belastung, die schnell überfordern kann und dann nicht selten in Gewalt endet. Diese Beschreibung soll die prekäre Situation erklären und sie nicht entschuldigen. Umgekehrt gibt es viele von Überforderung geprägte Pflegebeziehungen, die ohne Gewalt auskommen. Die Tendenz zu gewalttätigen Handlungen kann mit der Persönlichkeit und der Biographie des jeweiligen Täters zusammenhängen. Ein weiteres Risiko für Gewalt kann in einer problematischen Beziehung zwischen dem Pflegenden und der Pflegeperson begründet sein. Auch eine Suchterkrankung (Drogen- oder Alkoholsucht) des Pflegenden steigert das Risiko der Gewaltanwen-
19 Die Universität Maastricht, das Sozialministerium und das Institut Henri Tudor in Luxemburg, die Stiftung INGEMA in San Sebastian sowie das Generalsekretariat des Österreichischen Roten Kreuzes in Wien.
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dung. Ein besonders hohes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, haben Menschen mit Demenz. Ein zusätzliches Risiko stellt dabei das Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt mit dem Unterstützer dar. Als weitere Risikofaktoren werden in der Literatur die soziale Unterstützung, die Einkommensverhältnisse und die soziale Herkunft der Pflegeperson genannt [WHO 2011, Schempp et al. 2012]. Dabei spielen auch soziale und kulturelle Normen (wie z.B. Altersdiskriminierung) für die Tolerierung von Gewalt eine Rolle. Als Risikofaktoren für Gewalt in stationären Pflegeeinrichtungen gelten für das dort beschäftigte Personal dessen möglicherweise schlechte Qualifikation, fehlendes Feedback im Pflegealltag, Belastung durch Arbeitsmenge oder Arbeitsinhalt, Gewalttoleranz im Team. Behandeln Pflegefachkräfte Bewohner mit mangelndem Respekt und schätzen ihre Selbständigkeit eher gering ein, so ist das für die pflegebedürftigen Bewohner ebenfalls ein höheres Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Dem kann durch vielfältige Formen der Personalentwicklung und durch Personalmanagement entgegengewirkt werden, indem z.B. den Mitarbeitern Möglichkeiten der Reflexion der eigenen Arbeit durch Supervision oder kollegiale Beratung eingeräumt wird.
Prävalenz und Handlungsbedarf Häufigkeitsangaben für Fälle von Gewaltanwendung bei alten und pflegebedürftigen Menschen sind im Gegensatz zu anderen Themenbereichen, wie spezifischen somatischen Erkrankungen, kaum verfügbar, denn in den meisten europäischen Staaten – so auch in der Bundesrepublik Deutschland – gibt es keine Meldepflicht für Gewaltfälle, wie z.B. in den Vereinigten Staaten von Nordamerika (USA). Unterschiede in der Methodik der Datenerhebung machen zusätzlich differenzierende Auswertungen der ohnehin schon raren Daten schwierig. Vorliegende Prävalenzahlen sind untereinander nur schwer miteinander vergleichbar, denn bislang gibt es keine allgemeingültige Definition von Gewalt gegen ältere pflegebedürftige Menschen. Gewalt gegen ältere pflegebedürftige Menschen kann unterschiedliche Formen annehmen und von körperlicher und emotionaler Misshandlung bis zur finanziellen Ausbeutung älterer Menschen reichen. Die meisten Experten unterscheiden fünf Formen von Gewalt gegen Ältere: physische Gewalt (physical abuse), psychische Gewalt (psychological abuse), finanzielle Ausbeutung (financial abuse) und sexueller Missbrauch (sexual abuse). Nicht nur aktive Handlungen sind Ausdruck von Gewalt. In der Langzeitpflege ist besonders die Vernachlässigung (neglect) als eine Form von Gewalt relevant. Vernachlässigung bedeutet in diesem Zusammenhang die Unterlassung einer gebotenen Handlung, die zur Aufrechterhaltung des Wohlbefindens eines älteren Menschen dient. Das ist u.a. der Fall, wenn dem älteren Menschen Nahrung und Flüssigkeit vorenthalten werden [WHO 2008]. Es gibt insgesamt nur
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wenige Untersuchungen zur Häufigkeit von Gewalt, die diese Gewaltform berücksichtigen.20 Mit Blick auf die unzureichende Datenlage könnte man leicht den Eindruck gewinnen, das Problem Gewalt gegen ältere Menschen existiere nicht oder nehme eine nur untergeordnete Rolle ein. Tatsächlich sind die Misshandlung alter Menschen und Gewalthandlungen gegen sie ein Problem von erheblichem Ausmaß [Hirsch 2003]. Scheinbar kommt es hier zu einer Verwechslung von Ursache und Wirkung im Hinblick auf Datenlage und Lebens- und Leidenssituation von alten- und pflegebedürftigen Menschen, die Gewalt ausgesetzt sind. Es fehlt bisher an einem gesamtgesellschaftlichen Interesse für dieses Thema, damit sich Wissenschaft, Medien und die mit der Versorgung alter und pflegebedürftiger Menschen befassten Professionen und Institutionen mit diesem Gegenstand eingehend auseinandersetzen. Es geht um die Einschätzung, ob das Thema geeignet erscheint, als soziales Problem politische Relevanz zu verdienen. Hier spielen auch Einschätzungen der veröffentlichten Meinung eine Rolle, ob Gewalt eher als schicksalhaftes, aber auflagensteigerndes Einzelschicksal in den Medien abgehandelt werden soll oder ob von den Einzelfällen auf ein zu bearbeitendes strukturelles sozialpolitisches Problem zu schließen ist. Die Bagatellisierung, Marginalisierung, Verharmlosung oder das Nicht-zurKenntnis-nehmen-wollen von Gewalt ist in manchen Staaten national wahrnehmbar; im internationalen Kontext haben dieselben Regierungen das Problem anerkannt; im nationalen Diskurs jedoch nicht. Die Erklärung der Weltgesundheitsorganisation von Toronto aus dem Jahr 2002, in der von den Delegierten der Internationale Aktionsplan zum Altern verabschiedet wurde, beinhaltet auch Aktionen zur Eliminierung von „Gewalt, Vernachlässigung und Misshandlung“ alter Menschen, wozu auch die Verbesserung der internationalen Datenlage zur Prävalenz zählt [WHO 2002]. Aktuelle Daten zur Prävalenz von Elder Abuse in Europa listet der Bericht der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) zur Vermeidung von Gewalt gegen alte Menschen (2011). Demnach gibt es jährlich 8 300 Tötungsdelikte an Menschen, die 60 Jahre und älter sind, neun von zehn dieser Delikte finden in den europäischen Ländern mit niedrigen bis mittlerem Einkommen statt. 2 500 Menschen (30 %) davon sterben an Gewaltfolgen. In diesem Zusammenhang erscheint die Dunkelziffer sehr hoch. Zur Identifizierung der Todesursachen gerade bei alten und pflegebedürftigen Menschen wird eine Verbesserung der Feststellung der Todesursachen gefordert. 2,7 Prozent (das entspricht vier Millionen älteren Menschen in Europa) hatten im Jahr 2010 Erfahrung mit physischer Gewaltanwendung, 0,7 Prozent (das entspricht einer Millionen Menschen) mit sexuellem Missbrauch, 19,4 Prozent haben physische Gewalterfahrung (das entspricht 29 Millionen alten Menschen), und 3,8 Prozent (das
20 Zu den methodischen Problemen bei der Prävalenzdatenerhebung: Prevalence and Correlates of Elder Mistreatment in South Carolina [Amstadter et al. 2011].
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entspricht sechs Millionen alter Menschen) haben finanzielle Ausbeutung erfahren. Die Prävalenz ist erhöht, wenn die älteren Menschen Behinderungen aufweisen, kognitive Störungen haben und von fremder Hilfe abhängig sind [WHO 2011]. Die hier berichteten Untersuchungen spiegeln die Prävalenz von Gewalt gegen alte Menschen insgesamt wider. Alte Menschen, die auch noch pflegebedürftig sind, stellen einen Ausschnitt der betagten Bevölkerungsgruppe dar, der nach übereinstimmender Einschätzung der Literatur besonders vulnerabel und risikobehaftet ist, Opfer von Gewalt zu werden [Brucker 2011a]. Einigkeit besteht darin, dass die Fälle von Gewalt gegen alte Menschen, über die berichtet wird, lediglich den Gipfel eines Eisbergs ausmachen; auf einen registrierten Fall kommen etwa fünf Fälle, die im Dunkeln bleiben [NEAIS 1998]. In neueren Untersuchungen wird von einer Prävalenz von 10 Prozent der betroffenen Bevölkerungsgruppe berichtet: so differenziert die nationale Gewalterhebung der USA 1,6 Prozent physische Gewalt, 0,6 Prozent sexueller Missbrauch, 5,1 Prozent Vernachlässigung, 5,2 Prozent finanzielle Ausbeutung und 1,6 Prozent für andere Formen der Gewalt [Acierno et al. 2010]. In den Jahren 2009 und 2011 hat das METLife Mature Market Institute (MMI) aus den USA Daten über die finanzielle Ausbeutung älterer Erwachsener in den USA vorgelegt [MMI 2009, MMI 2011]. In einer konservativen Schätzung wird für das Jahr 2008 der jährliche Schaden bei den Opfern auf 2,6 Milliarden US-$ beziffert. In der Untersuchung von 2011 wird diese Zahl bereits mit 2,9 Milliarden Dollar nach oben korrigiert. Man geht davon aus, dass von fünf Fällen finanzieller Ausbeutung nur einer dokumentiert wird. Das METLife Mature Market Institute arbeitete heraus, dass 30–50 Prozent aller Gewalthandlungen gegen ältere Menschen mit finanzieller Ausbeutung zu tun haben. Doppelt so viele Frauen wie Männer sind Opfer finanzieller Ausbeutung, die größte Anzahl der Opfer fand sich in der Alterskohorte zwischen 80 und 89 Jahren. Das Opferprofil in diesem Alterssegment wird in der aktuellen Studie wie folgt beschrieben: das Opfer macht seine potentiellen Täter in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam, entweder bei Bankgeschäften, beim Einkaufen, in der Kirche oder beim Umherfahren in der Gemeinde, wobei leichte bis schwere kognitive oder körperliche Beeinträchtigungen wahrnehmbar sind. In fast allen Fällen gab es eine Kombination aus schwach eingeschätzter Selbständigkeit und auffälliger Ungeschütztheit, die sich im Leben der Opfer so vermischten, dass sich die Gelegenheiten für alle Tätertypen (von nächsten Familienangehörigen bis zum professionellen Straftäter) nahezu optimierten. 51 Prozent der Täter waren Fremde, gefolgt von Familienangehörigen und Freunden (34 %) Geschäftsleuten (12 %) und Unterschlagungen bei den Sozialversicherungskassen (4 %). Bemerkenswert ist zudem, dass mit den wenigsten (n = 3) Einzelfällen im Jahr 2010 der größte Schaden angerichtet wurde: 306 Millionen Dollar durch Betrug und Unterschlagung von Leistungen bei den Sozialversicherungen Medicaid und Medicare, auf Grund derer ältere Menschen Schaden nahmen. In der New York State Elder Abuse Prävalenzsstudie aus dem Jahr 2011 wird davon ausgegangen, dass auf einen gemeldeten und bei einer (dort vorhandenen) offiziel-
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len Stelle dokumentierten Fall von Gewalt fast 24 Fälle kommen, die nicht bekannt werden [NYS 2011]. Die ABUEL-Studie (Abuse and health among elderly in Europe) hat in einer multinationalen Querschnittstudie Gewalt gegen ältere Menschen in städtischen Regionen von sieben Europäischen Ländern untersucht [Soares et al.]: insgesamt lagen die Werte von physischer Gewalt bei 19,4 Prozent, die von physischer Gewalt bei 2,7 Prozent, die von sexuellem Missbrauch bei 0,7 Prozent, die von finanzieller Ausbeutung bei 3,8 Prozent und die von körperlichen Verletzungen bei 0,7 Prozent. Dabei zeigt sich, dass die Opfer in höherem Anteil männlich sind (außer bei sexuellem Missbrauch und Körperverletzungen). In einer der ersten deutschen Studien zu häuslichen Gewalt bei älteren Menschen [Brendebach/Hirsch 1999] wurde ein Anteil von 10,8 Prozent der über 60-Jährigen festgestellt, die innerhalb der letzten fünf Jahre in der Familie Opfer wurden (60- bis 74-Jährige: 13 %; 75-Jährige und Ältere: 7,5 %). Häufigste Formen sind körperliche und psychische Misshandlung, Vernachlässigung und finanzielle Schädigung. Überwiegend ist psychische Gewalt mit anderen Formen verbunden. Nachhaltig beeinträchtigt wurden durch Gewalthandlungen 39 Prozent der Betroffenen in Form von Ängsten, Gefühlen der Missachtung und Erniedrigung sowie finanziellen Nachteilen. Längerfristig kamen Strategien der Vermeidung oder des Kontaktabbruches zum Tragen. Als besondere Risikogruppen werden kranke und hilfebedürftige sowie (finanziell) abhängige und sozial isolierte Personen gesehen [Hirsch 2003]. Eine österreichische Studie unter älter als 60-Jährigen ergab eine Prävalenz von seelischer Gewalt von 19,3 Prozent, Vernachlässigung von 6,1 Prozent und finanzieller Ausbeutung von 4,7 Prozent [Lang/Enzenhofer 2011]. Görgen und Greve [2005] gehen von ein bis zehn Prozent Gewaltopfer bei über 65-Jährigen aus. Auch die Zahl der betreuungsgerichtlich genehmigten Fixierungen hat in Deutschland rasant zugenommen (mehr als 98 000 neue Genehmigungen im Jahr 2010; eine Zunahme um 252 Prozent seit dem Jahr 1998). Hauptbetroffene dieser „pflegerischen“ Maßnahmen sind Menschen mit Demenz [Brucker 2011b]. Im Bereich der häuslichen Pflege geht man von einer hohen Dunkelziffer aus. Eine Befragung von pflegenden Angehörigen [Görgen 2010] ergab u.a.: „In den letzten 12 Monaten wurden vorgenommen 47,6 Prozent psychische Misshandlungen, 19,4 Prozent physische Misshandlung“. Dabei wird auch von psychischen und physischen Übergriffen der zu Pflegenden berichtet. Angesichts der steigenden Zahl älter werdender Menschen, die pflegebedürftig werden, geben einzelne Untersuchungsergebnisse auf Grundlage von Projekten in den Ländern zwar Hinweise zum Thema. Allerdings werden nur systematische und regelmäßige Datenerhebungen auf der Grundlage eines national einheitlich verwendeten Datensatzes und einheitlicher Auswertungsroutinen zu Planungsdaten im Sinne von Routineinformationen führen. Dafür bedarf es in jedem Mitgliedsstaat auf nationaler Ebene gesetzgeberischer Regelungen, die für alle Regionen und Kommunen für die Anwendung, Weitergabe und Auswertung der Daten zu Gewalt gegen alte und pflegebedürftige Menschen bindende Wirkung entfalten [Clancy et al. 2011]. In
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13 Verletzungen von Rechten Pflegebedürftiger
der von der WHO im Jahr 2011 vorgelegten Studie zum Thema wird von der Anwendung von körperlicher Gewalt bei 4 Millionen (2,7 % >60 Jahre) Menschen im Jahr, von sexueller Gewalt bei einer Million (0,7 %), von psychischer Gewalt bei 29 Millionen (19,4 %) Menschen und von finanzieller Ausbeutung in 6 Millionen (3,8 %) Fällen bei alten Menschen berichtet.
Ziele des Projektes MILCEA Unumstritten ist die Notwendigkeit der Prävention. Dennoch gibt es in den europäischen Ländern bisher keinen systematischen Ansatz, um Gewalt gegen ältere Menschen in der Langzeitpflege identifizieren und verhindern zu können. An diesem Punkt knüpft das Projekt MILCEA (www.milcea.eu) an. Übergeordnetes Ziel der Projektpartner war es, Empfehlungen zu entwickeln, um ältere pflegebedürftige Menschen vor Gewalt schützen zu können. Diese Vorschläge sollten so gestaltet sein, dass sie die unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten europäischer Länder in der Langzeitpflege berücksichtigen und somit von allen Ländern in Europa genutzt werden können. Ein Beirat aus wissenschaftlichen Experten und Praktikern der Langzeitpflege hat in jedem der Partnerländer die Arbeiten während der gesamten Projektlaufzeit begleitet. Bevor Vorschläge zur Prävention von Gewalt gegen ältere pflegebedürftige Menschen entwickelt werden können, wurde zunächst der Status Quo in den beteiligten Ländern untersucht. Hierfür wurden wichtige Institutionen in der Langzeitpflege in den einzelnen Ländern genauer unter die Lupe genommen. Wichtigkeit wurde ihnen zugeschrieben, wenn sie aufgrund ihrer Funktion und Aufgabenzuweisung im System der Langzeitpflege häufig mit älteren pflegebedürftigen Menschen in Kontakt kommen und somit das Potential haben, Gewalt zu erkennen und zu verhindern. Untersucht wurden u.a. die Aufgabenstellung und die Rechtsgrundlagen dieser Akteure. Es wurde außerdem der Frage nachgegangen, ob diese Akteure bereits einen Auftrag haben, Gewalt zu erkennen und zu verhindern bzw. ob dieser Auftrag Teil ihres organisationalen Selbstverständnisses ist. Vertreter dieser Organisationen wurden dafür telefonisch zu folgenden Aspekten befragt: – Sind die Organisationen überhaupt in der Lage, Gewalt oder ein Gewaltrisiko zu erkennen? – Wie geschieht das? – Werden spezifische Screening- oder Assessment-Instrumente eingesetzt? – Was passiert, wenn der Verdacht von Gewalt vorliegt oder ein Risiko für Gewalt identifiziert worden ist? – Gibt es bereits definierte Vorgehensweisen (z.B. auf nationaler oder regionaler Ebene) für solche Fälle? – Wie sind die Organisationen miteinander vernetzt? – Werden wichtige Informationen weitergegeben, und an wen werden diese Informationen weitergegeben?
13.4 Prävention von Gewalt gegen ältere und pflegebedürftige Menschen
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Die Ergebnisse dieser Befragungen ermöglichten es, eine Bestandsaufnahme zu Maßnahmen der Gewaltprävention in den beteiligten Ländern vorzunehmen. Auf dieser Basis konnten in einem nächsten Schritt Stärken und Schwächen der Gewaltprävention in den jeweiligen Ländern identifiziert werden. Die Bestandsaufnahme zeigt: In keinem der beteiligten Länder gibt es eine Institution, die den unmittelbaren gesetzlichen Auftrag hat, Gewalt gegen ältere Menschen zu identifizieren und zu verhindern. Zudem sind die Verantwortlichkeiten zwischen den Akteuren in der Langzeitpflege hinsichtlich der Prävention von Gewalt nicht klar definiert und kommuniziert. Pflegekräfte und andere Professionen in der Langzeitpflege sind weder ausreichend sensibilisiert für das Thema Gewalt, noch kennen sie wichtige Indikatoren und Risikofaktoren von Gewalt. In wenigen Ländern erst (wie z.B. Spanien) finden Screening-Tools, die der Identifikation von Gewalt gegen ältere Menschen dienen, Anwendung. In Deutschland sind solche Instrumente bei den befragten Stellen nicht bekannt. Insgesamt sind in den Partnerländern die Strukturen, um Gewalt oder Gewaltrisiken in Pflegesituationen systematisch zu erkennen und zu erfassen, nur schwach ausgeprägt. Vor dem Aufbau von wirkungsvollen Strukturen zur Gewaltprävention bedarf es eines Bewusstwerdungsprozesses von allen unmittelbar und mittelbar in der Langzeitpflege tätigen Professionen, um die Relevanz des Themas Gewalt in der Langzeitpflege zu realisieren: Gewalt gegen ältere und pflegebedürftige Menschen darf nicht länger tabuisiert oder verharmlost werden. Die Verharmlosung des Themas hat viele Facetten: zum einen wird die Bedeutung des Themas „bei uns“ generell in Frage gestellt, oder aber die Wichtigkeit des Themas wird zwar eingeräumt, aber bestehender Handlungsbedarf auf kommunaler Ebene wird mit dem Verweis auf bestehende Strukturen und Aufgabenwahrnehmungen für erledigt erklärt. Der Hinweis von Kommunalpolitikern auf die Zuständigkeit des allgemeinen kommunalen Sozialdiensts übersieht, dass dieser vielerorts ohnehin nur Krisenintervention betreiben kann und zudem eine Zuständigkeit dafür nicht gesehen wird. „Das sind Erwachsene, gehen Sie zur Polizei.“ So der Hinweis von Sozialbehörden in unserer nicht repräsentativen Telefonumfrage. All dies zeugt von mangelhaft ausgeprägtem Bewusstsein für die Bedeutung des Themas in einer „alternden Gesellschaft“, lässt aber auch Rückschlüsse auf den politischen Stellenwert des Themas zu. Erst wenn das Bewusstsein in allen Entscheidungs- und Handlungsfeldern der Gesundheits- und Sozialpolitik wie auch insbesondere in der Altenhilfe und -pflege gegeben ist, können Gewalt oder ein Risiko für Gewalt erkannt und entsprechende Maßnahmen zum Schutz des pflegebedürftigen Menschen eingeleitet werden. Solange jedoch das Thema Gewalt in der Pflege nicht auf der politischen Agenda steht, wird ein solch systematischer Ansatz von Prävention nicht möglich sein. In den Ländern der Europäischen Union (EU) müssen daher erst mehrere Voraussetzungen erfüllt werden. Daneben bedarf es umfassender Informations- und Fortbildungskampagnen zum Thema Gewalt in der Langzeitpflege für alle medizinischen, sozialen und pflegerischen Berufe. Unabdingbar ist nach Einschätzung der Projekt-
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13 Verletzungen von Rechten Pflegebedürftiger
partner die Festlegung von Verantwortlichkeiten zur Prävention von Gewalt gegen Pflegebedürftige, um die zersplitterten Zuständigkeiten zu bündeln und Doppel- bzw. Mehrfachstrukturen zu vermeiden. Alle, die beruflich mit pflegebedürftigen alten Menschen arbeiten und die Pflegebedürftigen selbst müssen in Zukunft wissen, wer Ansprechpartner für Gewalt in der Pflege ist. In extremen Fällen muss es auch – ähnlich wie bei misshandelten Frauen – rechtliche Möglichkeiten geben, den Täter vom Opfer fernzuhalten. Dafür sollten bei den Familiengerichten spezielle richterliche Zuständigkeiten für Gewalt geschaffen werden, damit zügig Abhilfe geschaffen werden kann. Während in der professionellen Langzeitpflege Strukturen zur Gewaltprävention vorhanden sind, an denen die genannten Maßnahmen ansetzen können, stellt sich die Situation im häuslichen Bereich problematisch dar, wenn keine professionelle Pflege vor Ort ist. Bei Personen, die ausschließlich durch Angehörige gepflegt werden, gibt es in der Regel kaum Kontakt zu Institutionen der professionellen Langzeitpflege. Hier nehmen Hausärzte eine wichtige Funktion in der Gewaltprävention ein. Es ist deshalb wichtig, dass sich Hausärzte ihrer herausgehobenen Rolle in der Gewaltprävention bewusst werden. Sensibilisierungskampagnen zum Thema, Fortbildungen und die Schaffung einer breiten Fachöffentlichkeit versprechen mittelfristig Verbesserungen. Im informellen Bereich ist häufig die Belastung von Pflegenden Ursache für Gewalt. Hiergegen müssen die Beratungsdienste für Angehörige auf regionaler und lokaler Ebene stärker als bisher in das professionelle System der Langzeitpflege in zugehender Weise integriert werden.
Welche Schlussfolgerungen kann man aus diesem Projekt für Deutschland ziehen? Das Projekt MILCEA zeigt, dass die in der Langzeitpflege tätigen professionellen Akteure sich oftmals nicht des Problems Gewalt gegen ältere Menschen bewusst sind. Und wenn dort ein Bewusstsein für das Thema besteht, ist es eher allgemein und abstrakt, die eigene Zuständigkeit oder Verantwortung wird nicht gesehen und das eigene Handlungsumfeld wird als Ort, an dem Gewalt stattfinden könnte, ausblendet. Das liegt u.a. daran, dass auf der Systemebene weder verbindlich geregelte Zuständigkeiten im Falle von Gewalt existieren, noch vorliegende Instrumente zur Identifizierung von Gewalt oder einem Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, bekannt und im routinemäßigen Einsatz sind. Mit dem Verweis auf die bestehende Zuständigkeit der polizeilichen Vollzugsorgane, des allgemeinen Sozialdienstes, der Heimaufsichtsbehörde etc. wird auch ein darüber hinausgehender politischer Handlungsbedarf in Abrede gestellt, weil „bei uns“ ja alles bestens geregelt ist. Dies verlagert das Problem Gewalt gegen ältere pflegebedürftige Menschen einseitig in ein primär kriminologisches und vernachlässigt die Ursachen von Gewalt, die vor allem in nicht funktionierenden sozialen Beziehungen und Strukturen zu suchen sind. Die Polizei ist für die Beendigung einer akut bestehenden Gewaltsituation ein wichtiger Akteur. Allerdings bereits bei der Frage,
13.4 Prävention von Gewalt gegen ältere und pflegebedürftige Menschen
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wie es danach weitergehen soll bei Opfer und Täter, sind soziale und sozialpsychologische Kompetenzen und Zuständigkeiten gefragt. So gibt es in Deutschland keine Infrastruktur wie Akutbetten für Opfer von Gewalt aus Pflegebeziehungen (etwa analog den Frauenhäusern), wenn kurzfristig eine Trennung von Täter und Opfer notwendig wird. Oder der Hinweis (entweder im Pflegegutachten oder im Bericht der Beratung nach § 37 Abs. 3 SGB XI), dass „die häusliche Pflege nicht in geeigneter Weise sichergestellt ist“, führt bei den Sachbearbeitern der Pflegekassen zu vielfältigen und heterogenen Reaktionen. Dieser Hinweis („häusliche Pflege ist nicht sichergestellt“) kann ein Risikofaktor für Gewalt in der Pflege sein. Um das ausschließen zu können, bedarf es einer erneuten, fachlich und methodisch abgesicherten Beschäftigung mit diesem Pflegesetting. Doch dafür fehlen den Mitarbeitern der Pflegekassen nicht nur die bestehenden Instrumente, sondern auch regelmäßig verbindliche Verfahrensanweisungen, die Handlungssicherheit im weiteren Vorgehen geben. Die Gefahr besteht, dass sich die ungesicherte häusliche Versorgung fortsetzt, wenn eine Abklärung der Situation vor Ort durch die Pflegekasse ausbleibt. In den Niederlanden wurde im März 2011 ein Zehn-Punkte-Maßnahmenplan „Senioren in sicheren Händen“ veröffentlicht. Darin enthalten ist die Einrichtung einer landesweit einheitlichen Notruf-Hotline. In 35 festgelegten Kommunen sind Zufluchts- und Beratungszentren geschaffen worden, die für eine Region für Maßnahmen bei häuslicher Gewalt in Pflegesettings verantwortlich sind. Für das Jahr 2013 sind landesweite Aufklärungskampagnen geplant, ehrenamtliche Helfer werden geschult und für professionell Pflegende wird ab September 2012 ein E-Learning Programm zum Thema Gewalt gegen ältere und pflegebedürftige Menschen vorliegen.
Fazit Der im Projekt MILCEA vorgelegte Rahmenplan zur Prävention von Gewalt gegen alte und pflegebedürftige alte Menschen formuliert wichtige Forderungen an Politik und Öffentlichkeit, deren Realisierung so aussieht [Kimmel et al. 2012]: – Der Gesetzgeber schafft zeitnah klare und verbindliche Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. – Verantwortlichkeiten und Handlungsabläufe sind auf allen Ebenen verbindlich festgelegt. – Eine nationale Hotline wird eingerichtet, an die (Verdachts-) Fälle gemeldet werden können. – Das Thema ist in den Aus- und Fortbildungen aller Gesundheits- und Sozialberufe verankert. – Im Qualitätsmanagement aller Pflegeorganisationen ist das Thema genauso enthalten wie bei den externen Prüfungen von Heimaufsicht und Medizinischem Dienst der Krankenversicherung (MDK). – Erfahrungen aus dem Inland (Kinder- und Jugendhilfe, Frauenhäuser) und dem Ausland werden systematisch genutzt.
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13 Verletzungen von Rechten Pflegebedürftiger
– Personen und Organisationen, die mit alten und pflegebedürftigen Menschen arbeiten (beruflich oder ehrenamtlich), wissen, an wen sie sich mit ihren Wahrnehmungen wenden können. – Eine öffentliche Bewusstmachung des Themas findet statt, vergleichbar mit den erfolgreichen Anti-Aidskampagnen. – Regelmäßige Datenerhebung und -auswertung ist Voraussetzung für eine nationale Berichterstattung, aus der Präventionspläne abgeleitet werden. – Alte und pflegebedürftige Menschen werden einbezogen in die Planung und Ausgestaltung ihres Schutzes und Wohles. – Das Thema ist aus der verschämten „Schmuddelecke“ der öffentlichen Wahrnehmung herausgekommen21.
21 Aus der Presseerklärung des MDS vom 15.06.2012 anlässlich des World Elder Abuse Awareness Day (WEAAD).
14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes bei der Pflegebegutachtung, den Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen sowie der Beratung nach SGB XI Olaf Jansen, Thomas Gaertner und Wolfgang Gnatzy Die Ursprünge des Datenschutzes in Medizin und Pflege reichen weit zurück. Erste konkrete Hinweise zu einer der Grundsäulen des Datenschutzes, nämlich der Verschwiegenheitspflicht, finden sich bereits im Hippokratischen Eid, so benannt nach dem griechischen Arzt Hippokrates von Kós (um 460 bis 370 v. Chr.): „Was ich bei der Behandlung sehe oder höre oder auch außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen, werde ich, soweit man es nicht ausplaudern darf, verschweigen und solches als ein Geheimnis betrachten“ [Versicherungsnetz 2012]. Diese Hinweise antizipieren bereits insbesondere das, was heute nach § 203 Strafgesetzbuch (StGB) als Verletzung von Privatgeheimnissen unter Strafe gestellt bzw. gemäß den Pflichten gegenüber Patientinnen und Patienten standesrechtlich nach § 9 der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) begrifflich als Schweigepflicht“ gefasst wird [BÄK 2011]: „Ärztinnen und Ärzte haben über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Ärztin oder Arzt anvertraut oder bekannt geworden ist – auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus – zu schweigen.“ Des Weiteren ergibt sich aus dem § 9 MBO-Ä dann bezüglich der Aufgaben des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) im Auftrag der Pflegekassen die Verschwiegenheitsverpflichtung auch für die anderen Berufsgruppen, so natürlich auch für Pflegefachkräfte: „Ärztinnen und Ärzte haben ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Personen, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der ärztlichen Tätigkeit teilnehmen, über die gesetzliche Pflicht zur Verschwiegenheit zu belehren und dies schriftlich festzuhalten.“ Weiterhin haben Ärztinnen und Ärzte entsprechend der Dokumentationspflicht nach § 10 MBO-Ä „über die in Ausübung ihres Berufes gemachten Feststellungen und getroffenen Maßnahmen die erforderlichen Aufzeichnungen zu machen“. Für die durch die ärztliche Expertise getragenen sachverständigen Stellungnahmen des MDK gelten dann entsprechend § 10 MBO-Ä auch die Verpflichtungen zum Datenschutz und zur Datensicherheit: „Aufzeichnungen auf elektronischen Datenträgern oder anderen Speichermedien bedürfen besonderer Sicherungs- und Schutzmaßnahmen, um deren Veränderung, Vernichtung oder unrechtmäßige Verwendung zu verhindern. Ärztinnen und Ärzte haben hierbei die Empfehlungen der Ärztekammer zu beachten.“
482
14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
Die Notwendigkeit eines Beauftragten für den Datenschutz des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ergibt sich aus § 275 SGB V sowie aus dem jeweiligen Landesdatenschutzgesetz. Über die schriftlich fixierten Verpflichtungen zum Datenschutz, z.B. beim Abschluss des Arbeitsvertrags, hinaus fördert die Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen zum Datenschutz eine erhöhte Sensibilität und ein vertieftes Verständnis der Problematik bei der Verarbeitung von Sozialdaten. Datenschutz und Datensicherheitsmaßnahmen sind obligatorische Parallelprozesse der gutachtlichen Expertentätigkeit der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung. Dies betrifft sowohl die inhaltliche Sicht der Tätigkeit als auch die der mit der Tätigkeit verbundenen Abläufe und die mit diesen korrelierten Informationsbzw. Datenflüsse (prozessorientierte Sichtweise). Dabei gilt es zu bedenken, dass nicht nur die zu begutachtenden Versicherten bzw. Pflegebedürftigen, sondern alle am Geschäftsprozess Beteiligten aus datenschutzrechtlicher Sicht sowohl Gestalter als auch Betroffene sind. So gibt es nicht nur ein Recht auf den Schutz der persönlichen Daten des Versicherten, sondern beispielsweise auch im Hinblick auf Gutachter, Angehörige oder Pflegekräfte. Sozialdaten sind der höchsten Schutzstufe zuzurechnen (s. Tab. 14.1). Die Einteilung in Schutzstufen und Zuweisung der Daten in die entsprechende Schutzstufe richtet sich nach drei Kriterien: dem Charakter der zu schützenden Daten, dem Kontext dieser Daten und dem möglichen Bedrohungspotential für die betroffene(n) Person(en) beim Verlust der Daten gegenüber unbefugten Dritten [Abel 2012]. Die für die Tätigkeit des MDK relevanten Hinweise und Vorgaben zum Datenschutz und zur Datensicherheit finden sich in den Sozialgesetzbüchern I, V, X und XI (s. Tab. 14.2). Dementsprechend enthalten die jeweiligen Länderdatenschutzgesetze vergleichbare Regelungstatbestände. Tab. 14.1: Schutzstufen für personenbezogene Daten [zitiert nach Abel 2012]. Schutzstufe Beschreibung A
frei zugängliche Daten
B
personenbezogene Daten, deren Missbrauch zwar keine besondere Beeinträchtigung erwarten lässt, deren Kenntnisnahme jedoch an ein berechtigtes Interesse des Einsichtnehmenden gebunden ist
C
personenbezogene Daten, deren Missbrauch den Betroffenen in seiner gesellschaftlichen Stellung oder seinen wirtschaftlichen Verhältnissen beeinträchtigen kann (Ansehen)
D
personenbezogene Daten, deren Missbrauch die gesellschaftliche Stellung oder wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen erheblich beeinträchtigen kann (Existenz)
E
personenbezogene Daten, deren Missbrauch Gesundheit, Leben oder Freiheit des Betroffenen beeinträchtigen kann
Ist die Sensibilität der personenbezogenen Daten nicht bekannt, sollte immer von der höchsten Sensibilitätsstufe ausgegangen werden.
14.1 Datenschutz bei der Pflegebegutachtung
483
Tab. 14.2: Hinweise und Vorgaben zum Datenschutz in den Sozialgesetzbüchern I, V, X und XI. SGB
Paragraph und Titel
Wichtigste Regelungstatbestände
I
§ 35 Sozialgeheimnis
Definition des Sozialgeheimnisses und Sozialdatenschutzes Verarbeitung der Sozialdaten Verstorbener Gleichstellung zwischen Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und Sozialdaten
§ 36a Elektronische Kommunikation
Elektronischer Dokumentenaustausch unter Nutzung einer qualifizierten und zertifizierten elektronischen Signatur
V
§ 276 Zusammenarbeit
Aufbewahrungsfrist für Sozialdaten (maximal 5 Jahre)
X
§ 67 Begriffsbestimmungen
Definition der Sozialdaten Definition von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen Einsatz der Datenverarbeitung Definition besonderer Arten personenbezogener Daten
§ 78a Technische und Organisa torische Maßnahmen bis § 80 Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Sozialdaten im Auftrag
Organisatorische Vorkehrungen zum Schutz der Sozial daten, besondere Datenverarbeitungsarten, z.B. die Einrichtung automatisierter Abrufverfahren und die Auftragsdatenverarbeitung
§ 84 Berichtigung, Sperrung Löschung der Daten bei Unzulässigkeit der Speicherung und Löschung von Daten; Wider- und zur Aufgabenerfüllung nicht mehr vorhandener spruchsrecht Erforderlichkeit XI
§ 97 Personenbezogene Daten beim Medizinischen Dienst
Arbeit mit personenbezogenen Daten im Rahmen der Prüfungen, Beratungen und gutachterlichen Stellungnahmen nach den §§ 18, 40, 80, 112 bis 115, 117 und 118, Aufbewahrung (Archivierung) von Versichertenunterlagen
14.1 Datenschutz bei der Pflegebegutachtung Alle im Rahmen der Pflegebegutachtung erhobenen personenbezogenen Gesundheitsdaten sind datenschutzrechtlich der höchsten Schutzstufe zuzurechnen. Hierbei ist jede Aktivität des Begutachtungsprozesses betroffen, wobei man fünf Hauptereignisse unterscheiden kann: – Erhebung – Übermittlung (Transport bzw. Übertragung) – Bearbeitung/Verarbeitung, – Archivierung (Aufbewahrung bzw. Speicherung) – Vernichtung/Löschung
484
14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
14.1.1 Der Prozess der Pflegebegutachtung Die Übermittlung der Aufträge und Unterlagen geschieht sowohl per Postversand als auch elektronisch (Datenaustauschschnittstelle). Bei der elektronischen Datenübertragung ist der Einsatz einer leistungsfähigen Verschlüsselung unabdingbar, um ein Ausspähen der übertragenen Sozialdaten durch unbefugte Dritte zumindest zu erschweren, wenn nicht gar zu verhindern. Übliche, sicherungstechnisch zur Verfügung stehende Möglichkeiten sind eine Leitungsverschlüsselung (Tunnelung) und/ oder die Verschlüsselung der übertragenen Datenpakete. Für welches Verfahren man sich dann entscheidet, hängt, unabhängig von Performanceerwägungen und Investitionen sowie laufenden Kosten, maßgeblich von gesetzlichen Vorgaben oder Empfehlungen des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) bzw. des Bundes- oder der Landesdatenschutzbeauftragten und von der Einschätzung des Risikos eines Mittelsmannangriffs ab. Bei der Man-in-the-middle-Attacke handelt es sich um eine überwiegend bei der Nutzung des Internets verbreitete elektronische Angriffsform. Hierbei wird der Datenaustausch zwischen zwei Partnern unbemerkt vom Angreifer mitgeschnitten, um so an die Daten zu gelangen oder sogar den Datentransfer zu manipulieren. Der Einsatz einer leistungsfähigen Verschlüsselung erschwert die Durchführung von derlei Angriffen erheblich. Ein Datentransfer von Sozialdaten via Telefax ist problematisch, da Faxgeräte in der Regel keine verschlüsselte Übertragung gewährleisten entsprechend dem Abhören eines Telefonates. Hinsichtlich einer Übermittlung von Sozialdaten per E-Mail besteht ebenfalls die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch Unbefugte oder auch der Adressmanipulation auf dem Übertragungsweg. Eine E-Mail ist diesbezüglich mit einer Postkarte gleichzusetzen. Die Sicherheit einer E-Mail erhöht sich wesentlich durch die Nutzung einer leistungsfähigen Verschlüsselung, sei es bei Benutzung des Arbeitsplatz-PC oder auch des mobilen Gerätes [Bleich 2012, Bleich und Neuhaus 2012]. Verwendet man ergänzend noch eine sogenannte qualifizierte elektronische Signatur (zertifiziert durch ein Trust-Center), so lässt sich eine E-Mail dann im Streitfall auch nahezu uneingeschränkt als Beweismittel vor Gericht verwenden. Nach der Auftragserteilung der Pflegekasse nehmen im weiteren Verlauf des Geschäftsprozesses mit jeder Aktivität Umfang und Tiefe personenbezogener Daten – und hier insbesondere der Sozialdaten – stetig zu. Jeweils neu hinzukommende Daten sind im Flussdiagramm (s. Abb. 14.1) durch Unterstreichung kenntlich gemacht. Um einen Eindruck hinsichtlich der umfangreichen Erhebung, Nutzung und Speicherung von personenbezogenen Daten und insbesondere Sozialdaten zu vermitteln, werden, soweit erforderlich, bei der graphischen Darstellung auch den Begutachtungsprozess zwingend begleitende Aktivitäten einbezogen.
14.1 Datenschutz bei der Pflegebegutachtung
Eingang des Begutachtungsauftrags samt Anlagen beim MDK
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel
Postausgang und Archiv der Pflegekasse
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen*)
Sichtung der vorliegenden Unterlagen (ggf. unter Zugriff auf das MDK-Archiv)
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel, Unterlagen zum Versicherten aus dem MDK-Archiv
Versichertendatenbank/ -archiv des MDK (Gutachtenarchiv)
zum Versicherten bereits vorhandene sozialmedizinische Unterlagen
Vervollständigung der Unterlagen durch Auskünfte seitens der behandelnden Ärzte, insbesondere des Hausarztes, der Pflegenden, der Einrichtungen etc.
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel, Unterlagen zum Versicherten aus dem MDK-Archiv, Auskünfte
Anfrage seitens des MDK (schriftlich / fernmündlich)
Auskünfte
Festlegung der den Besuch durchführenden Person / -en sowie deren Beauftragung samt Übermittlung der Dokumente
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel, Unterlagen zum Versicherten aus dem MDK-Archiv, Auskünfte, Ressourcenliste
485
Ressourcenplanungssoftware und -datenbank
Optional Beauftragung Externer Gutachter**)
Aktenstudium seitens der den Besuch durchführenden Person / -en
Abb. 14.1: Geschäftsprozess Pflegebegutachtung im Einzelfall.
Versichertendatenbank / -archiv des MDK (Gutachtenarchiv)
486
14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel, Unterlagen zum Versicherten aus dem MDK-Archiv, Auskünfte, Ressourcenliste Ankündigung des Besuchs, Terminierung und Routenplanung
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel, Unterlagen zum Versicherten aus dem MDK-Archiv, Auskünfte, Ressourcenliste, Besuchsankündigung, Terminierung, Routenplanung
Besuchsankündigung, Terminierung, Routenplanung
Elektronisches Gutachtenformular ***) Durchführung des Besuchs (mit Einverständnis des Antragstellers einschließlich der Befragung von pflegenden Angehörigen, Lebenspartnern oder sonstigen Personen oder Dienste)
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel, Unterlagen zum Versicherten aus dem MDK-Archiv, Auskünfte, Ressourcenliste, Besuchsankündigung, Terminierung, Routenplanung, mittels Gutachtenformular erfasste Sozialdaten
Ggf. zusätzlicher Besuch eines Arztes
Elektronisches Gutachtenformular***)
Auswertung des Besuchs
Ggf. zusätzlicher Besuch oder Hinzuziehen von weiteren sachdienlichen Informationen
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel, Unterlagen zum Versicherten aus dem MDK-Archiv, Auskünfte, Ressourcenliste, Besuchsankündigung, Terminierung, Routenplanung, mittels Gutachtenformular erfasste Sozialdaten, weitere Informationen Gutachtenabschluss mit Abfassung und ggf. Ergänzung des Gutachtens / Plausibilitätsprüfung
Ergebnis der Plausibiliätsprüfung, Pflegegutachten
Abb. 14.1: Geschäftsprozess Pflegebegutachtung im Einzelfall (Fortsetzung).
14.1 Datenschutz bei der Pflegebegutachtung
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel, Unterlagen zum Versicherten aus dem MDK-Archiv, Auskünfte, Ressourcenliste, Besuchsankündigung, Terminierung, Routenplanung, mittels Gutachtenformular erfasste Sozialdaten, weitere Informationen, Pflegegutachten, Ergebnis der Plausibilitätsprüfung
Externer Gutachter
Auftrag, Stammdaten zum Versicherten, Vorgutachten, Ergebnisse der Plausibilitätsprüfung, Pflegegutachten****), Honorarrechnung
Abgabe des Gutachtens an den MDK
Begutachtungsauftrag samt Stammdaten und Anlagen, Laufzettel, Unterlagen zum Versicherten aus dem MDK-Archiv, Auskünfte, Ressourcenliste, Besuchsankündigung, Terminierung, Routenplanung, mittels Gutachtenformular erfasste Sozialdaten, weitere Informationen, Pflegegutachten, Ergebnis der Plausibilitätsprüfung
Pflegegutachten Prozessabschluss*****)
Archivirung des Gutachtens samt Unterlagen beim MDK
Versichertendatenbank / -archiv des MDK (Gutachtenarchiv)
487
Statistikdatensatz
Statistikdatenbank des MDK
Versand des Gutachtens an die Pflegekasse******)
Posteningang und Archiv der Pflegekasse
Datenlieferung an den MDS
Abb. 14.1: Geschäftsprozess Pflegebegutachtung im Einzelfall (Fortsetzung).
488
14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
Erläuterungen zum Ablaufdiagramm: *) **) ***) ****) *****)
Der Versand des Begutachtungsauftrags erfolgt elektronisch (-> Verschlüsselung). Hier wurden auf der Basis des Gutachtenformulars in den Richtlinien entsprechende Eingabemasken softwaremäßig nachgebildet. Der Versand kann elektronisch oder auf dem klassischen Postweg erfolgen. Mit der Freigabe des Gutachtens gilt der Begutachtungsprozess als erledigt. Der Versand kann elektronisch oder auf dem klassischen Postweg erfolgen.
Initiales Ereignis
Verzweigung / Aufteilung
Aktivität / Vorgang
Fließrichtung Aktivitäten / Ereignisse / Vorgänge
Datenbank / Archiv
Fließrichtung Dateien / Dokumente / Datensätze
Dateien / Dokumente / Datensätze
Abb. 14.1: Geschäftsprozess Pflegebegutachtung im Einzelfall (Fortsetzung).
Der Zugriff auf die Dateien des elektronischen Archivs beim MDK erfolgt vom ClientPC des Büroarbeitsplatzes aus. Zur Vervollständigung der Unterlagen können weitere Auskünfte bei den behandelnden Ärzten, den Pflegenden, den Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern sowohl schriftlich als auch telefonisch eingeholt werden. Nach Vervollständigung der Begutachtungsunterlagen erfolgen die Festlegung der den Besuch durchführenden Person sowie deren Beauftragung samt Übermittlung der für die Pflegebegutachtung erforderlichen Dokumente. Neben MDK-Mitarbeitern kann optional die Beauftragung externer Gutachter seitens des MDK erfolgen. Dabei kann der Versand der sozialmedizinischen Unterlagen elektronisch (Verschlüsselung erforderlich) oder auf dem Postweg erfolgen. Nach Aktenstudium seitens der den Besuch durchführenden Person erfolgen Ankündigung des Besuchs, Terminierung, Zusammenstellung einer Besuchstour und Routenplanung. Im Navigationssystem werden nur Orte und Straßennamen erfasst. Bei Nutzung einer Ressourcenplanungssoftware werden darüber hinaus noch weitere personenbezogene Daten verarbeitet und gespeichert, z.B. Name des Gutachters, Name des Versicherten, Art des Gutachtens (Erstbegutachtung, Widerspruchsbegutachtung etc.). Für den Transport und die „Zwischenarchivierung“ der Daten auf dem Laptop selbst empfiehlt sich der Einsatz einer Festplattenverschlüsselung. Beim Transport von Akten auf dem Weg zum Besuch oder bei der Aufbewahrung der Doku-
14.1 Datenschutz bei der Pflegebegutachtung
489
mente zu Hause im Rahmen des mobilen Arbeitens sind ebenfalls entsprechende Vorkehrungen zu treffen (s. Tab. 14.3). Tab. 14.3: Maßnahmenempfehlungen hinsichtlich des Datenschutzes und der Datensicherheit. Ereignis bzw. Aktivität
Maßnahme
Bearbeitung
keine Bearbeitung (des Auftrages) in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf öffentlichen Plätzen: z. B. keine Diktate in der Öffentlichkeit, kein Schreiben [am Laptop/ PDA/Netbook/Tablet-PC/iPad] in der Öffentlichkeit bei der bestehenden Möglichkeit einer Einsichtnahme in die Bildschirminhalte durch unbefugte Dritte Gebrauch eines passwortgeschützten/-gesteuerten Bildschirmschoners: Passwortlängenwahl nach den technischen Möglichkeiten der Software; mögliche technische Einstellungen des Bildschirmschoners wären: Aufruf der System-Anmeldemaske oder einer Animation nach einer gewissen Zeitspanne und Aufforderung zur Passworteingabe für das Weiterarbeiten am Laptop oder PC) kein offenes Liegenlassen von Unterlagen im Rahmen der Außendiensttätigkeit: Aufbewahrung im geschlossenen und nicht einsehbaren Kofferraum des Fahrzeugs, Abschließen des Fahrzeugs auch beim (kurzzeitigen) Verlassen, z. B. bei Tankstopps, Mitnahme der Unterlagen bei längerem Verlassen bzw. Abstellen des Fahrzeugs, Mitnahme der Unterlagen bei Aufsuchen des Speise- oder Bistrowagens im Zug datenschutzkonformes Telefonieren in der Öffentlichkeit
Aufbewahrung/ Passwortschutz auf dem PC: Speicherung Nutzerpasswort und eigene Nutzeridentität (→ Anmeldemaske bei Windows) Passwortlänge1 nach den technischen Möglichkeiten der Software: Nutzung einer Kombination von Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen (ohne Wiederholungen !) zur Erschwerung sogenannter „Brute-Force-Angriffe“ Passwortwechsel nach Möglichkeit alle 60 oder 90 Tage sofortige Änderung des Passwortes bei Verdacht der erfolgreichen „Ausspähung“ Verschlüsselung der Festplatte (optional) Anlage passwortgeschützter Bereiche auf dem Rechner (optional) Trennung der Daten auf dem Laptop nach Mandanten bzw. Auftraggebern: z. B. eigene Partitionen, eigene Verzeichnisse abschließbarer Arbeitsraum abschließbarer Aktenschrank, Rollcontainer, Sideboard etc. (→ bei vorhandenem, abschließbaren Arbeitsraum optional zu sehen) kein offenes Liegenlassen von Unterlagen und „Herunterfahren“ des PC beim längeren Verlassen der Wohnung Schutz des PC mit Firewall und Virenscanner (→ Firewall kann bei „stand-aloneRechnern“ entfallen, Virenschutz ist aber weiterhin empfehlenswert)
1 Mit Variantenreichtum und zunehmender Länge steigt die für das „Knacken“ eines Passwortes benötigte Zeit.
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14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
Ereignis bzw. Aktivität
Maßnahme
Transport/ Übertragung
Transport in einer verschließbaren Aktentasche Benutzung eines verschlossenen (optional: reißfesten) Umschlages beim Postversand von Papierunterlagen Passwortschutz auf dem Laptop Festplattenverschlüsselung Datenträgerverschlüsselung: z. B. bei externen Festplatten, bei USB-Sticks Hardwareverschlüsselung (optional) Dateiverschlüsselung (optional) Nutzung eines (asymmetrischen) leistungsfähigen Verschlüsselungsverfahrens beim elektronischen Versand von sensiblen Informationen Benutzung einer gesicherten Leitung (TLS) zur Datenübertragung Einbindung in das VPN (virtual private network) keine Übertragung von sensiblen Daten über Terminals in sogenannten „Internetcafés“
Vernichtung/ Löschung
Verwendung eines Reißwolfes (Cross-Cut-Schnitt) zur Vernichtung nicht mehr benötigter, ausgedruckter Unterlagen Löschung der Dateien nach dem jeweiligen Stand der Technik keine weitere Speicherung sensibler personenbezogener respektive sozialmedizinischer Daten nach Erledigung des Auftrages/der Aufträge auf dem heimischen PC, Laptop oder Server: Löschung nach spätestens einem Quartal; ausgenommen hiervon sind Textbausteine ohne Personenbezug
Bei der Durchführung des Besuchs (mit Einverständnis des Antragstellers einschließlich der Befragung von pflegenden Angehörigen, Lebenspartnern oder sonstigen Personen oder Diensten) werden die Sozialdaten in der Regel direkt mittels Laptop in der Maske des Gutachtenformulars, gelegentlich auch schriftlich, erfasst. Hierbei ist auf gewisse vertrauliche Umgebungsbedingungen zu achten, damit Dritte nicht die Inhalte der Begutachtung und des Begutachtungsgesprächs sowie die erfassten Daten zur Kenntnis nehmen. Das Gutachtenformular dient der strukturierten Erfassung der im Rahmen einer Pflegebegutachtung aufzunehmenden Daten folgender drei Kategorien: – Identifikationsdaten zu Personen (Antragsteller, Betreuer, behandelnder Arzt), – Antragsdaten (Geld-, Sach-, Kombinationsleistung etc.) und – Gesundheitsdaten (z.B. ärztliche und medikamentöse Versorgung). Nach § 78b SGB X „Datenvermeidung und Datensparsamkeit“ haben sich Gestaltung und Auswahl von Datenverarbeitungssystemen an dem Ziel auszurichten, keine oder so wenig Sozialdaten wie möglich zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen. Insbesondere ist von den Möglichkeiten der Anonymisierung und Pseudonymisierung Gebrauch zu machen, soweit dies möglich ist und der Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutzzweck steht. Desgleichen sollte grund-
14.1 Datenschutz bei der Pflegebegutachtung
491
sätzlich bei der Erhebung von Sozialdaten, also nicht nur bei der elektronischen Datenverarbeitung, beachtet werden, soweit möglich ausschließlich die Angaben aufzunehmen, die für die Beurteilung des konkreten Begutachtungsfalls erforderlich sind. Dies verhindert dann bereits im Ansatz eine ausufernde Datenhaltung. Besonders zu beachten gilt es, diskriminierende Begriffe sowie Personen verletzende, herabsetzende, kränkende oder beschämende Angaben, gerade auch von Dritten zu vermeiden, wie beispielsweise: „Pflegeperson ist arbeitslos“ oder „Tochter ist Alkoholikerin“. Nach § 96 SGB X sollen die Ergebnisse ärztlicher Untersuchungen so dokumentiert werden, dass sie auch für andere Sozialleistungsträger verwendbar sind. Für das Pflegegutachten bedeutet dies im konkreten Einzelfall die Aufnahme von Angaben zum möglichen Rehabilitationsbedarf (gesetzliche Krankenversicherung) sowie zur Pflege durch Angehörige (gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung). Ein besonderer Aspekt im Rahmen der Pflegebegutachtung ist die Benutzung von Scanner-Stiften sowie die Anfertigung von Photos von körperlichen Befunden, z.B. Druckgeschwüren oder Ulcera cruris, medizinischen Dokumenten oder des Wohnumfeldes. Die gutachtliche Erfordernis vorausgesetzt, bestehen hier aus datenschutzrechtlicher Sicht keine Einwände. Für die Übermittlung, Archivierung und Löschung (maximale Aufbewahrungsdauer von fünf Jahren) dieser Sozialdaten gelten die gleichen Bedingungen wie für das Pflegegutachten. Empfehlenswert ist hier aus datenschutzrechtlicher und datensicherheitstechnischer Sicht nur die Nutzung einer Digitalkamera, wenngleich auch hier die Gefahr des Abhandenkommens und Auslesens des Speicherchips besteht. Ein Mobiltelefon, Smartphone etc. stellt auf jeden Fall ein höheres Sicherheitsrisiko dar. Als Stichworte seien hier nur genannt: Internetfähigkeit, Installation von Schad- oder Spionagesoftware und Abhörbarkeit [Berke 2012]. In diesem Zusammenhang sollte auch von der Nutzung kritischer Apps auf dem Smartphone abgesehen werden. Als Stichworte für das Gefährdungspotential seien hier nur genannt: unbefugter Zugriff auf die Kontakte und den Terminkalender [Berke/Kuhn 2013]. Im Hinblick auf die Benutzung von Scannerstiften sollten ebenfalls geeignete technische Maßnahmen ergriffen werden, die bei Verlust des Stiftes einem Dritten keinen Zugriff auf die gespeicherten Daten gestatten, z.B. Passwortschutz für das Auslesen der gespeicherten Daten, verschlüsselte Verzeichnisse auf dem Stift. Auch sollte keine dauerhafte Datenhaltung auf dem Scanner-Stift stattfinden. Ebenso sollten bei der immer weiter verbreiteten Nutzung von internetfähigen Tablet-PCs technische Maßnahmen hinsichtlich des Datenschutzes ergriffen werden: – Keine dauerhafte Speicherung von personenbezogenen Daten auf dem Gerät, – Einsatz einer Persönlichen Identifikationsnummer (PIN), – Verschlüsselung für die Speicherkarte, – nur bei Erfordernis Aktivierung der Schnittstellen, z.B. bei Datenübertragung zwischen Geräten über kurze Distanz per Funktechnik (Bluetooth) oder über ein drahtloses lokales Funknetz (WLAN) sowie – Verschlüsselung bei der Datenübertragung.
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14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
Da das Begutachtungsverfahren EDV-technisch unterstützt wird, bedarf es neben dem datenschutzkonformen Verhalten aller am Verfahren beteiligten Personen einer geeigneten technischen Vorsorge zum wirksamen Schutz der sensiblen Sozialdaten. Wesentliche Maßnahmen im Sinne des Datenschutzes und der Datensicherheit sind: – ein differenziertes Rollen- und Berechtigungskonzept der eingesetzten Software, – die Festplattenverschlüsselung der eingesetzten Laptops, – der Passwortschutz der Laptops (Anmeldung und Bildschirmschoner) und – der verschlüsselte Datentransfer – Schlüssel nach aktuellem Stand der Technik – zwischen den auftraggebenden Pflegekassen und dem MDK. Eine detaillierte Liste von Schutzmaßnahmen findet sich in Tabelle 14.3 „Maßnahmenempfehlungen hinsichtlich des Datenschutzes und der Datensicherheit“. Verwiesen wird zudem auf die umfangreichen Empfehlungen der IT-Grundschutz-Kataloge des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik [BSI 2011]. Hinsichtlich Bearbeitung und Verarbeitung in der konkreten Begutachtungssituation vor Ort empfehlen sich ebenfalls gewisse „Grundschutzmaßnahmen“. Hierzu gehören unter anderem die Nutzung eines passwortgeschützten Bildschirmschoners sowie die Herstellung einer vertraulichen Begutachtungsumgebung. Die Herstellung einer vertraulichen Umgebungsbedingung ist bei der Begutachtung im direkten Wohnumfeld des Versicherten in aller Regel gegeben. Schwieriger gestaltet sich dies bei der Begutachtung im stationären Bereich in einem Mehrbettzimmer. Hier muss man sich dann mit der Pflegeeinrichtung verständigen, wie eine datenschutzkonforme und vertrauliche Umgebung sicherstellt werden kann, z.B. die Nutzung eines freien Zimmers für die körperliche Begutachtung und das Gespräch. Die Herstellung einer vertraulichen Umgebung gilt übrigens auch beim Führen von Telefonaten, sei es per Festanschluss oder Mobiltelefon. Einen besonderen Aspekt bildet die Anwesenheit eines Personenkreises, der über die Betreuungsperson, die Angehörigen, die Pflegenden oder aber die Mitarbeiter der Pflegeeinrichtung hinausgeht. Hierzu zählen beispielsweise ein selbständiger Pflegeberater, ein Rechtsbeistand, ein Pflegekassenmitarbeiter oder die Presse. Dies kann, vor dem Hintergrund der Schweigepflicht und der damit geforderten Vertraulichkeit gesehen, eine kritische Situation für den Gutachter darstellen. Zunächst erst einmal ist abzuklären, ob die oder der Versicherte es wünscht, dass weitere Personen anwesend sein, diese der Begutachtung einschließlich der Untersuchung komplett beiwohnen und so letztendlich als Dritte tiefe Kenntnis der Sozialdaten erhalten dürfen. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Hospitation, z.B. im Rahmen der Einarbeitung neu eingestellter Gutachter beim MDK. Diese sind selbstverständlich in ihrer Tätigkeit an die Obliegenheiten der Schweigepflicht gebunden. Auch hat bei Einstellung eine Belehrung hinsichtlich des Sozialgeheimnisses, des Datengeheimnisses und der Verschwiegenheit stattzufinden. Insofern bestehen hier aus datenschutzrechtlicher Sicht keine Bedenken gegen eine Anwesenheit des genannten Personenkreises. Trotzdem sollte, allein um etwaigen Irritationen vorzubeugen, eine Vorabinformation über die
14.1 Datenschutz bei der Pflegebegutachtung
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Hospitanz an die betroffenen, zu begutachtenden Versicherten erfolgen, beispielsweise, dass man spätestens zu Beginn des Besuchs das Einverständnis einholt. Zuvor Ausgeführtes gilt letztendlich uneingeschränkt auch für die Anwesenheit von beim MDK im Rahmen der Qualitätssicherung eingesetzten Auditoren unter der Voraussetzung, dass diese Personen über eine abgeschlossene medizinische oder medizinnahe Ausbildung verfügen. Hinsichtlich der Anwesenheit von Datenschutzbeauftragten oder Internen Revisoren bestehen auch keine datenschutzrechtlichen Bedenken. Einerseits sind diese Personen aufgrund ihrer besonderen Stellung und wahrzunehmenden Aufgaben bereits schon im strafrechtlichen Sinne zur Verschwiegenheit verpflichtet. Andererseits gibt es für die Anwesenheit stets eine konkrete, sachliche Begründung, z.B. das Überprüfen der Geschäftsprozesse vor dem Hintergrund ihrer Effizienz, Wirtschaftlichkeit, der Datenschutzkonformität sowie der Datensicherheit. Eine Vernichtung von Unterlagen, die nicht unmittelbar für das abgeschlossene Gutachten von medizinischer Relevanz sind, trägt zwei wesentlichen Anforderungen des Datenschutzes Rechnung: – nicht mehr zur Auftragserledigung erforderliche Daten2 zu löschen und – keine Vorratsdatenspeicherung3 zu betreiben. Papierausdrucke dürfen nicht ungeschreddert in Hausmüll oder Altpapiercontainer entsorgt werden. Eine Löschung der Sozialdaten zur Verhinderung einer dauerhaften Datenarchivierung (Stichwort: Vorratsdatenspeicherung) sollte stets automatisiert ablaufen (Löschen der Altdaten bei Entgegennahme neuer Aufträge und begleitender Dokumente).
14.1.2 Besonderheiten bei der Beauftragung externer Gutachter Die Beauftragung externer Gutachter ist als Datenübermittlung in Verbindung mit einer Auftragsdatenverarbeitung zu sehen. Die Hauptverantwortung verbleibt hierbei stets beim beauftragenden MDK.4 Wesentliche rechtliche Grundlage für die Beauftragung externer Gutachterinnen und Gutachter und den damit verbundenen Zukauf gutachtlicher Expertise bildet § 80 „Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung von Sozial daten im Auftrag“ SGB X. Entscheidend hierbei ist, dass genannter Paragraph auch
2 Unabhängig hiervon ist selbstverständlich stets die maximal zulässige Aufbewahrungsdauer von fünf Jahren gemäß § 97 SGB XI zu beachten. 3 In Anbetracht der mittlerweile geringen Kosten für elektronischen Speicherplatz ist man oft geneigt, Daten längerfristig und auch redundant aufzubewahren. 4 Siehe hierzu „Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches“ vom 08.06.2009, geändert durch Beschluss vom 16.04.2013.
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14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
einen Verweis enthält auf die Einhaltung anderer Vorschriften über den Datenschutz, z.B. entsprechender Regelungen im Datenschutzgesetz des jeweiligen Bundeslandes. Aus § 80 SGB X ergeben sich dann, ungeachtet des im Rahmen der Vertragsgestaltung üblichen Rubrums (genaue Bezeichnung der Vertragspartner)5, auch die üblichen Merkmale für das in jedem Fall schriftlich zu begründende Vertragsverhältnis zwischen Auftragnehmer (externer Gutachter) und Auftraggeber (MDK): – Auftragsgegenstand und -dauer (Bezeichnung, befristet, unbefristet), – konkrete Beschreibung der Auftragsdurchführung (Umfang der Datenerhebung, Erhebungszweck, Nutzungsgrund, Art der Daten, Kreis der Betroffenen (→ Versicherte, Angehörige, Betreuungsperson, behandelnder Arzt etc.), – technische und organisatorische Maßnahmen hinsichtlich des Datenschutzes und der Datensicherheit (§ 78a SGB X), – Berichtigung, Sperrung und Löschung von Daten, – Pflichten des Auftragnehmers, – Möglichkeit der Begründung von Unterauftragsverhältnissen (Information an den Auftraggeber und Genehmigung durch diesen, Verpflichtung auf das Datengeheimnis/zur Verschwiegenheit), – Kontrollrechte des Auftraggebers, – Mitwirkungspflichten des Auftraggebers, – die Mitteilungsverpflichtung des Auftragnehmers bei Verstößen gegen den Sozialdatenschutz oder gegen diesbezügliche Festlegungen im Vertrag, – der Umfang der Weisungsbefugnisse des Auftraggebers gegenüber dem Auftragnehmer und – die Rückgabe etwaiger Datenträger oder Unterlagen nach Erledigung des konkreten Auftrages sowie die Löschung der Sozialdaten. Voranstehende Aufzählung enthält, ungeachtet der konkreten technischen Ausgestaltung, die folgenden Grundanforderungen des Datenschutzes: keine Vorratsdatenspeicherung, Sensibilität im Umgang mit den Sozialdaten und Sicherung der Vertraulichkeit der Daten.
14.1.3 Prüfung der Datenschutzgegebenheiten vor Ort Aufgrund der gesetzlichen Obliegenheit – siehe § 80 SGB X – und aus der Verpflichtung hieraus, als beauftragender MDK in einer hohen Verantwortung für den sorgsamen Umgang mit Sozialdaten der Versicherten zu stehen, werden in gewissen
5 Weitere in der Praxis übliche Gestaltungsmerkmale für einen Vertrag sind: die Betitelung der Paragraphen (selbsterklärende Überschriften), die Nummerierung der Absätze und bei längeren Vertragswerken auch die Nummerierung der einzelnen Sätze.
14.2 Datenschutz bei den Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen
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Abständen Prüfungen vor Ort durchgeführt. Diese beinhalten sowohl Aspekte aus dem Blickwinkel eines Datenschützers als auch eines Revisors. Nachfolgend sind die wesentlichen Prüfthemen hinsichtlich des häuslichen Arbeitsbereiches der Übersicht halber tabellarisch aufgeführt (s. Tab. 14.4). Tab. 14.4: Themen und Aspekte bei der Prüfung der Datenschutzgegebenheiten vor Ort im Rahmen der Pflegebegutachtung. Prüfthema
Prüfaspekte
Eckdaten zur Datenübermittlung Rechtsform der Auftragnehmerin/des Auftragnehmers, Sitz der und Verarbeitung Auftragnehmerin/des Auftragnehmers, Vorhandensein eines unterschriebenen Vertrages, Beratungs- und Begutachtungsfelder, beauftragende MDK-Beratungsstelle, Jahresleistung Vertragsmerkmale im Detail
Bezeichnung der Geschäftspartner bzw. Vertragsparteien, Beschreibung und Konkretisierung der Pflichten beider Vertragsparteien, Aufgabengebiet und -umfang, Qualitätsanforderungen und -sicherung (→ Beachtung und Einhaltung der BegutachtungsRichtlinien), Interessenkollision, Mitwirkungspflicht des MDK, Vergütung der geschuldeten Leistung, Datenschutz und Datensicherheit (→ Kontrollrecht der respektive des Datenschutzbeauftragten), Schlussvorschriften und salvatorische Klausel
Charakter der erhaltenen, zu ver- Sozialdaten, Abrechnungsdaten arbeitenden bzw. verarbeiteten und weiterzugebenden Daten Ablauf des Daten- und Informa tionsflusses
Darstellung, Schnittstellen
zur Verfügung stehende und genutzte Arbeitsmittel
Auflistung, Inaugenscheinnahme
räumliche, technische und organisatorische Datenschutzgegebenheiten
abschließbarer Arbeitsraum, Vernichtung ausgedruckter Unterlagen/Wegschluss von Unterlagen, Passwortschutz des Laptops (→ Passwortstruktur, Passwortlänge), Passwortwechsel (→ Wechselintervall), Einsatz eines Virenscanners (→ Aktualisierung), Einsatz einer Firewall (→ Aktualisierung), Telefon am vertraulichen Ort
14.2 Datenschutz bei den Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen Auch bei den Qualitätsprüfungen in den zugelassenen Einrichtungen der ambulanten und stationären Pflege wird im erheblichen Umfang mit Sozialdaten gearbeitet. Dieses wird nachfolgend im Flussdiagramm (s. Abb. 14.2) dargestellt.
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14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
Vorbereitung der unangekündigten Prüfung
Prüfbericht aus dem Archiv (bei Anlass- und bei Wiederholungsprüfungen)
Archiv der MDK-Prüfberichte
Prüfbericht aus dem Archiv (bei Anlass- und bei Wiederholungsprüfungen)
Anmeldung bei der Heimleitung, Prüfungsvorgespräch
Archiv der Pflegeeinrichtung (Geschäftsunterlagen)
Namensliste, Pflegestufen der Heimbewohner und Zuordnung zu den einzelnen Stationen
Prüfbericht aus dem Archiv, Namensliste, Pflegestufen der Heimbewohner, Zuordnung zu den einzelnen Stationen
Ziehen der Stichprobe*)
Prüfbericht aus dem Archiv, Namensliste, Pflegestufen der Heimbewohner, Zuordnung zu den Stationen, gezogene Zufallsstichprobe
Pflegestufen der Heimbewohner und Zuordnung zu den einzelnen Stationen
Einsichtnahme in die Geschäftsunterlagen**) der Einrichtung
Prüfbericht aus dem Archiv, Namensliste, Pflegestufen der Heimbewohner, Zuordnung zu den Stationen, gezogene Zufallsstichprobe, Geschäftsunterlagen
Archiv der Pflegeeinrichtung (Geschäftsunterlagen, Patientenunterlagen)
Geschäftsunterlagen: Organigramm, Dienstpläne, Fortbildungsplan, Hygieneordner, Beschwerdemanagement, Qualitätsmanagement, Einarbeitungskonzept Inaugenscheinnahme des körperlichen und pflegerischen Zustandes sowie Befragung der Heimbewohner aus der Stichprobe
Elektronische Prüfvorlage
Abb. 14.2: Geschäftsprozess Qualitätsprüfung in einer Pflegeeinrichtung.
Elektronische Patientenakte***)
14.2 Datenschutz bei den Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen
Prüfbericht aus dem Archiv, Namensliste, Pflegestufen der Heimbewohner, Zuordnung zu den Stationen, gezogene Zufallsstichprobe, Geschäftsunterlagen, Ergebnisse der Inaugenscheinnahme und Befragungen Vorbereitung des Abschlussgesprächs und Erstellung des Maßnahmenplans
Prüfbericht aus dem Archiv, Namensliste, Pflegestufen der Heimbewohner, Zuordnung zu den Stationen, gezogene Zufallsstichprobe, Geschäftsunterlagen, Ergebnisse der Inaugenscheinnahme und Befragungen, Maßnahmenplan Selbstauskunftbogen (vom geprüften Heim ausgefüllter Vordruck des MDK)
Abschlussgespräch mit der Heimleitung
Prüfbericht aus dem Archiv, Namensliste, Pflegestufen der Heimbewohner, Zuordnung zu den Stationen, gezogene Zufallsstichprobe, Geschäftsunterlagen, Ergebnisse der Inaugenscheinnahme und Befragungen, Maßnahmenplan, Selbstauskunftbogen, Ergebnis des Abschlussgesprächs Abfassung des Prüfberichtes
Prüfbericht****)
Prüfbericht Prüfungsabschluss
Elektronische Archivierung
Versichertendatenbank/archiv des MDK (Gutachtenarchiv)
Datentransfer zur DCS*****)
Statistikdaten
Statistikdatenbank des MDK
Versand des Prüfberichtes an den Landesverband der Pflegekassen und die geprüfte Einrichtung
Posteingang und Archiv des Landesverbandes der Pflegekassen
Datenlieferung an den MDS
Abb. 14.2: Geschäftsprozess Qualitätsprüfung in einer Pflegeeinrichtung (Fortsetzung).
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498
14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
*) **)
Größe der Stichprobe: minimal 5, maximal 15 Bewohner Weitere Geschäftsunterlagen sind: Personal- und Qualifikationsliste der Einrichtung, Organisations- und Geschäftsverteilungsplan, Dienstanweisungen etc. ***) Patientenunterlagen: Pflegedokumentation ****) Im Prüfbericht erfolgt eine Pseudonymisierung (P1 ... Pn statt Namen). *****) Datenclearingstelle zur Erstellung des Transparenzberichtes
Abb. 14.2: Geschäftsprozess Qualitätsprüfung in einer Pflegeeinrichtung (Fortsetzung).
Wie auch bei der Pflegebegutachtung nehmen im Rahmen des Geschäftsprozesses Qualitätsprüfung mit jeder Aktivität Umfang und Tiefe personenbezogener Daten und hier insbesondere Sozialdaten stetig zu. Jeweils neu hinzukommende Daten sind im Flussdiagramm durch Unterstreichung kenntlich gemacht. Im Rahmen der Pflegebegutachtung stellt der Versicherte seinen Antrag an die Pflegekasse, der in der Regel bereits die Einwilligung des Versicherten zur Begutachtung und der damit verbundenen Erhebung von Gesundheits-/Sozialdaten umfasst. Im Hinblick auf eine mögliche Leistungsgewährung ist eine solche Einwilligung im unmittelbaren Interesse des Antragstellers. Die Pflegebegutachtung durch den MDK erfolgt dann nach Ankündigung und Terminabstimmung des Besuchs. Demgegenüber ist eine Qualitätsprüfung in einer Pflegeeinrichtung grundsätzlich unangemeldet durchzuführen. Zur Qualitätsprüfung gehört neben der Erhebung der Struktur- und Prozessqualität sowie der Zufriedenheitsbefragung insbesondere die Prüfung der Prozess- und Ergebnisqualität bei Bewohnern anhand einer Zufallsstichprobe. Verfahrensbedingt kann die Einwilligung zur Inaugenscheinnahme der betroffenen Personen und zur Einsicht in deren Pflegedokumentationsunterlage erst am Prüftag selbst erfolgen. Zudem ist dies – anders als bei der Pflegebegutachtung – eher in allgemeinem und nur mittelbar im Interesse der in die Stichprobe eingeschlossenen Pflegebedürftigen. Hinsichtlich der Maßnahmen des Datenschutzes und der Datensicherheit bezüglich der Datenerhebung und -übermittlung kann hier auf die Maßnahmen im Rahmen der Begutachtung Pflege Einzelfall verwiesen werden. Für die Herstellung und Wahrung vertraulicher Umgebungsbedingungen im Rahmen des Prüfungsvorgesprächs sowie des Abschlussgesprächs ist die geprüfte Einrichtung selbst verantwortlich. Die Einsichtnahme in die Geschäftsunterlagen der Einrichtung im Rahmen der Qualitätsprüfung ist ebenfalls zulässig und kann nicht mit dem Hinweis auf den Datenschutz verwehrt werden.6 Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) sieht die Schrifterfordernis der Einwilligung der in der Stichprobe enthaltenen Bewohner zur Inaugenscheinnahme, Befragung und Dokumentenauswertung im Rahmen der Qualitätsprüfung vor. Bei dementen oder nicht mehr geschäftsfähigen Personen wäre hier das Einverständnis
6 Siehe hierzu BVerfG, Beschluss vom 29. April 1996, 1 BvR 1226/89.
14.3 Sonstige Geschäftsprozesse mit datenschutzrechtlicher Relevanz
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des bevollmächtigten Betreuers z.B. per Fax oder E-Mail einzuholen. Dies entspricht auch der Auffassung des Sozialgerichts Münster (Westfalen) im Urteil vom 24.06.2011 Az S 6 P 14/11. Diese Regelung schafft zwar eine höhere Rechtssicherheit (→ strenge Beachtung der informationellen Selbstbestimmung), dem steht allerdings ein organisatorischer Mehraufwand gegenüber. Die strikte Beachtung des Schrifterfordernisses hilft auch dabei, für die Einrichtung ungünstige Prüfergebnisse ihrerseits nicht im Nachgang durch Gerichtsverfahren unter Hinweis auf Formalia im Rahmen der Prüfungsdurchführung anzufechten und damit deren Veröffentlichung im Transparenzbericht zu verhindern. Die schriftliche Einverständniserklärung zur Inaugenscheinnahme, Befragung sowie Auswertung der Pflegedokumentation und die damit verbundene informierte Einwilligung ist vom Versicherten vor der Datenerhebung zu unterschreiben. Wichtig ist dabei, auf folgendes hinzuweisen: – Zweck der Qualitätsprüfung, insbesondere der Stichprobenprüfung, – Zusammenstellung der Stichprobe nach dem Zufallsprinzip, – Notwendigkeit zur Bekundung des Einverständnisses seitens des Pflegebedürftigen, – Unterschied zu einer Pflegebegutachtung, – Folgenlosigkeit einer Zustimmungsverweigerung, – Prüfumfang: Pflegezustand, Pflegerisiken wie Sturzgefahr, Unterernährung, Druckstellen oder Wunden, Beweglichkeit, Ernährungszustand, Hautbeschaffenheit ggf. einschließlich des Intimbereichs, – Bedeutung der Zufriedenheitsbefragung ohne Beteiligung der Mitarbeiter der Pflegeeinrichtung, – Notwendigkeit der Einsichtnahme in die Pflegedokumentation, – Informationen über die anonymisierte und datenschutzkonforme Aufnahme der Informationen in den Prüfbericht. Bei noch nicht oder nicht mehr auskunfts- oder geschäftsfähigen pflegebedürftigen Personen bedarf es der Unterschrift der bzw. des Bevollmächtigten oder der Betreuungsperson, wobei die Betreuungsvollmacht vorliegen muss. Bei der telefonischen Aufklärung im Vorfeld hat sich der Einsatz eines Gesprächsleitfadens bewährt.
14.3 Sonstige Geschäftsprozesse mit datenschutzrechtlicher Relevanz Im Rahmen der Beratungstätigkeit durch den MDK, beispielsweise für die Pflegekassen, Versicherte und deren Angehörige, Pflegeeinrichtungen oder Pflegestützpunkte, geht es nicht selten um konkrete Pflegegutachten bzw. um einen versichertenbezogenen Sachverhalt. Vom Grundsatz her gilt hier, dass im Einzelfall nur die Sozialdaten zur Verfügung gestellt werden bzw. stehen sollten, die zur Beratung und Erörterung
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14 Geschäftsprozessorientierte Aspekte des Datenschutzes
des Sachverhaltes erforderlich sind. Des Weiteren ist für eine datenschutzgerechte Gesprächsumgebung zu sorgen. Auch hier gilt es bei der Anwesenheit Dritter zu prüfen, ob der Versicherte die entsprechende Einwilligung gegeben hat, dass ihnen die Sozialdaten zur Kenntnis gebracht werden dürfen (→ Betreuungsvollmacht, → Einwilligungserklärung, → Schweigepflichtentbindung). Sollte bei den Fortbildungsveranstaltungen für die Pflegekassen Bezug auf Pflegegutachten genommen werden, können diese den Teilnehmern nur in anonymisierter bzw. zumindest in pseudonymisierter Form zur Verfügung gestellt werden. Bei der Berichterstattung im Rahmen der Berichtspflicht, beispielweise über die erbrachten Leistungen oder Laufzeiten des einzelnen MDK gegenüber dem Verwaltungsrat, Ministerien, dem Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) ist zu beachten, dass nach Möglichkeit nur aggregierte oder kumulierte Daten weitergegeben werden. Diese lassen dann keinen oder nur mit erheblichem Aufwand einen Rückbezug zum einzelnen Versicherten zu. Für die internen Qualitätssicherungsmaßnahmen im Rahmen der Pflegebegutachtung (Kontinuierliche Qualitätsprüfung – K.Q.P.) ist ebenfalls auf die Anonymisierung der mittels Zufallsstichprobe gezogenen Gutachten zu achten. Dies gilt gleichermaßen auch bei MDK-übergreifenden Qualitätsprüfungen. Eine weitere Besonderheit stellt die durch einen Auditor eines anderen MDK begleitete Qualitätsprüfung dar. Hier erfolgt im Vorfeld die Einholung der Zustimmung der Pflegeeinrichtung zum Audit. Ebenso wird die Zustimmung der im Rahmen des Audits zu überprüfenden Versicherten (Stichprobe) eingeholt. Der Prüfbericht selbst wird dann später nicht anonymisiert an den „Fremdauditor“ zugesandt. Prinzipielle datenschutzrechtliche Einwände sind gegen eine derartige Hospitanz zunächst erst einmal nicht vorzubringen. Der „Fremdauditor“ ist bei seinem entsendenden MDK ebenfalls auf den Datenschutz und das Daten- und Sozialgeheimnis verpflichtet und wohl in der Regel auch im Bereich Qualitätsprüfungen tätig. Trotzdem hat auf jeden Fall seitens des betroffenen MDK eine schriftliche Verpflichtung des „Fremdauditors“ auf das Datengeheimnis zu erfolgen. Des Weiteren ist hier der Datenschutzbeauftragte auch vorab über das beabsichtigte „Fremdaudit“ zu informieren, da letztendlich durch „Fremde“ auch ein Einblick in Betriebs- und Geschäftsabläufe erfolgt. Handelt es sich bei den Auditoren um Ärztinnen oder Pflegefachkräfte, so gilt darüber hinaus noch die Einhaltung der Schweigepflicht. Einzig und allein stellt sich die Frage nach der Erforderlichkeit, den Prüfbericht in nicht anonymisierter Form zu erhalten. Sollen hier im Rahmen des Audits lediglich Abläufe und Vorgehensweisen vor dem Hintergrund der entsprechenden Richtlinien und Verfahrensanleitungen zu Qualitätsprüfungen Pflege untersucht werden, besteht kein Erfordernis, einen nicht anonymisierten Prüfbericht zu erhalten.
15 Situation der Pflegenden 15.1 Professionalisierung der Pflege – Weiterentwicklung der Pflegeberufe Michael Breuckmann Pflege und die hierzu gehörende Bildung sind seit jeher einem Wandel unterworfen und müssen sich immer neuen Herausforderungen stellen. Sich veränderndes Versorgungsspektrum, neue gesetzliche Bestimmungen wie Diagnosis Related Groups (DRGs) oder das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz und die Forderung nach Selbstbestimmung der zu Pflegenden seien hier als Beispiele genannt. Ein weiterer Aspekt ist die berufsinterne Veränderungsdiskussion um z.B. Akademisierung und die Selbstverwaltung. Die zunehmende Ökonomisierung, die das Gesundheitswesen als Markt erscheinen lässt, bekommt eine immer größere Bedeutung und verändert damit sowohl das Profil des Berufes als auch die notwendige Bildung [SVR 2007, SVR 2009].
Veränderungen in den Versorgungsformen Der Akutversorgungsbereich, vorwiegend der stationäre Bereich in Krankenhäusern, hat deutlich an Bedeutung verloren. In den Jahren 1991–2010 wurden 25,6 Prozent der Krankenhausbetten reduziert. Das entspricht einer Reduktion der Verfügbarkeit für 100 000 Einwohner von 26,2 Prozent. Die Fallzahl nahm im gleichen Zeitraum um 25,9 Prozent zu und die Verweildauer um 45 Prozent ab. Dagegen nahmen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Zeitraum 2003–2011 die Anzahl der Pflegeheime um 26,8 Prozent und die Zahl der ambulanten Pflegedienste um 16,3 Prozent zu [Destatis 2013]. Diese Verlagerung vom stationären in den ambulanten Bereich hat unmittelbare Auswirkungen auf den Bereich der Pflege. So ist z.B. durch die Verkürzung der Verweildauer im stationären Bereich eine umfangreiche Informationssammlung und individuelle Zielsetzung für pflegerische Interventionen oft ebenso wenig möglich wie deren Evaluation, wodurch sich das Pflegeprozessgeschehen erheblich verändert. Die Menschen kommen zusätzlich immer später, und damit auch mit einem höheren Pflegebedarf, in die Einrichtungen oder die ambulante Pflege und verbringen dort zumeist nur eine kurze letzte Lebensphase.
Veränderung im Versorgungsbedarf Der demographische Wandel und die veränderten Lebensformen haben Auswirkungen auf den Versorgungsbedarf. Die zunehmende Zahl der Single-Haushalte, auch im Alter, macht ein Umdenken bezüglich der Versorgungsbedarfe erforderlich. Obwohl
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15 Situation der Pflegenden
sich die meisten Menschen für ihr Alter eine Versorgung im häuslichen Bereich wünschen, ist ein Rückgang der häuslichen Versorgung in den Jahren 1996–2004 um 9 Prozent zu verzeichnen [vgl. Robert-Koch-Institut 2004, Fesenfeld 2012]. Angesichts dieser Entwicklungen ist zu erwarten, dass die pflegerische Versorgung im bisherigen sozialen Kontext der Familie oder Nachbarschaft eher ab- als zunehmen wird. Weitere Faktoren, die den Versorgungsbedarf beeinflussen, sind die Multimorbidität, der medizinische Fortschritt, die Zunahme der chronischen Erkrankungen sowie die bis heute fehlenden Strukturen zur Sicherstellung der Langzeitversorgung der Bevölkerung mit pflegerischer Leistung.
Veränderungen im beruflichen Handeln Die Aufgaben- und Rollenverteilung im Gesundheitssystem werden insbesondere durch das Sachverständigengutachten 2007 sowie die Bestätigung im Sondergutachten 2009 nachhaltig beeinflusst [SVR 2007, SVR 2009]. Die Forderungen des Gutachtens zielen vor allem auf eine Abkehr von der traditionell arztzentrierten Versorgung hin zu einer gleichberechtigten Kooperation aller Gesundheitsberufe. Das bedeutet in der konkreten Umsetzung keine Delegation oder Substitution von Aufgaben aus dem ärztlichen Dienst, sondern eine neue Konturierung und Verteilung der Aufgabenprofile für die jeweiligen Berufsangehörigen. Jede einzelne Berufsgruppe ist dabei nachdrücklich gefordert, die eigenen Kompetenzen zu analysieren, darzulegen und zu erweitern. Poolkompetenzen im multidisziplinären Team gewinnen an Gewicht. Darüber hinaus sind eine Neustrukturierung der Schnittstellen und eine Konzeptentwicklung für die Form der Zusammenarbeit zwingend erforderlich. Die Rolle der Pflegenden im multidisziplinären Team wird durch die Aussagen der Gutachten deutlich gestärkt. In der weiteren Entwicklung müssen damit neue Aufgabenfelder eigenverantwortlich übernommen und die beratenden Tätigkeiten erheblich ausgebaut werden [SVR 2007, SVR 2009]. Die Umsetzung der in den Sachverständigengutachten gestellten Forderungen sollte u.a. mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz beginnen. Im Bereich der Altenhilfe zeigt sich der Wandel im beruflichen Handeln schon durch eine zunehmende Verlagerung der Krankenversorgung in den nachstationären Bereich. Hier sind Aufgaben wie postoperative Versorgung nach Eingriffen, Verbandwechsel bei akuten Wunden, Infusionen und Injektionen, intratracheale Absaugung, Beatmungen, Monitoring und vieles andere mehr bereits heute Bestandteil des beruflichen Handelns.
Veränderungen in der Bildung Die vorgenannten gesellschaftlich relevanten Faktoren sowie die Veränderungen im beruflichen Handeln sind allein im Rahmen der bisherigen Ausbildung an Berufsfachschulen besonderer Art nicht mehr abzudecken. Diese Aussage basiert auf der
15.1 Professionalisierung der Pflege – Weiterentwicklung der Pflegeberufe
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Tatsache, dass die derzeitigen Ausbildungen von folgenden Faktoren beeinflusst werden: – einer Diversifikation nach Altersgruppen – einem Rückgang der Schulabgänger allgemeinbildender Schulen – keinem regelhaften Erwerb einer höheren Bildungsqualifikation – einer Reduzierung des Ausbildungsniveaus – einer deutlichen Abhängigkeit von Trägerinteressen – nicht nachhaltig gesicherter Finanzierung – nicht vorhandener Europakompatibilität In der Konsequenz hat sich bereits in den 90-iger Jahren eine intensive Diskussion über Bildungsveränderungen einschließlich einer Akademisierung entwickelt.
Generalistische Qualifikation und Akademisierung Eine Überwindung der nach Altersgruppen ausgerichteten Ausbildung ist das erklärte Ziel der meisten Verbände und Fachexperten. Nach intensiver Diskussion und langjähriger Lobbyarbeit hat die Bundesregierung im Jahre 2011 eine „Bund-LänderArbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der Pflegeberufe“ etabliert. Diese hat im März 2012 „Eckpunkte zur Vorbereitung des Entwurfs eines neuen Pflegeberufegesetzes“ [BL-AG 2012] veröffentlicht. Hier wird erstmals die akademische Qualifikation zur Regelbildung erwähnt und gefordert. Eine akademische Qualifikation für das berufliche pflegerische Handeln vor dem Hintergrund vergleichbarer Berufschancen, der Entwicklung und Förderung der Pflegewissenschaft sowie der Anpassung der Pflegeausbildung an europäische Verhältnisse wird bereits im „Bildungsplan Pflege“ des Bundesausschusses der Länderarbeitsgemeinschaften der Lehrerinnen und Lehrer für Pflegeberufe (BA; heute Bundesverband Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe – BLGS) dargestellt und gefordert [BA 1997]. Diese grundlegende Forderung nach Strukturveränderung wird durch den Deutschen Bildungsrat für Pflegeberufe (DBR) in seiner Veröffentlichung „Pflegebildung offensiv“ aufgegriffen und ausgebaut [DBR 2010]. Im Juli 2012 hat der Wissenschaftsrat seine „Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen“ [WR 2012] herausgegeben. Die hierin dargestellten Aufgaben und Kompetenzen unterscheiden sich von den bisherigen beruflichen Handlungen. „Um die Qualität der Gesundheitsversorgung zu sichern, wird es immer wichtiger, dass auch Angehörige der Gesundheitsfachberufe vermehrt eigenständig und evidenzbasiert handeln und ihre professionelle Tätigkeit auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis reflektieren können“ [Marquardt 2012]. Diejenigen Angehörigen der Gesundheitsfachberufe, die diese komplexen Aufgaben wahrnehmen, sollen an Hochschulen ausgebildet werden. In primärqualifizierenden patientenorientierten Studiengängen sollen künftig zehn bis 20 Prozent eines Ausbil-
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15 Situation der Pflegenden
dungsjahrgangs mit einem Bachelor-Abschluss zur unmittelbaren Tätigkeit am Patienten befähigt werden [WR 2012].
Strukturelle Ausrichtung akademischer Qualifikation Die Diskussion um eine akademische Qualifikation in der Pflege ist eng verknüpft mit der Entwicklung von Studiengängen an Hochschulen. Im Jahre 1989 gab es in Deutschland drei Studienstandorte für Pflegestudiengänge. Im Jahre 2009 hatte sich die Zahl auf 40 Standorte erhöht [www.pflegestudium.de 2009]. Schwerpunkte waren das Pflegemanagement und die Pflegepädagogik, weniger die Pflegewissenschaft oder grundständige Qualifikationen. Durch diese Entwicklung besteht die Gefahr, dass in den Schwerpunkten generiertes Wissen „aufgepfropft“ wird oder die Fragestellungen der Pflege aus den Bezugswissenschaften beantwortet werden [ZegelinAbt 1997]. Durch die Modellklausel im § 4 des Krankenpflegegesetzes vom 16.07.2003 i. d. j. g. F. erhielt die grundständige akademische Qualifikation einen deutlichen Schub [Storsberg et al. 2006]. Modellversuche unterschiedlicher Träger und Ausrichtung boten die Möglichkeit einer generalistischen Qualifikation auch auf Hochschulebene. Die Modelle der Kombination von pflegerischer Erstausbildung und Studium werden bei Moers unterschieden in Anerkennungsmodell, Ergänzungsmodell, Ersetzungsmodell und Verschränkungsmodell [Moers et al. 2012]. Unabhängig von der Bezeichnung ist allen Modellen gemein, dass sie nur in Kombination mit einer pflegerischen Erstausbildung zum akademischen Abschluss führen. Dies entspricht dem derzeit wohl anerkanntesten System des dualen Studienganges. Lediglich die Fachhochschulen in Hessen Frankfurt am Main, Fulda und Darmstadt organisieren ihre Studiengänge nicht dual, mit der Konsequenz, dass eine Berufszulassung erst nach Ableistung einer zusätzlichen praktischen Ausbildung außerhalb der Hochschule und der hierzu gehörenden Prüfungen erfolgt. Dieses Verfahren ist nach Ansicht des Autors weder inhaltlich gerechtfertigt noch ökonomisch sinnvoll. Mit den jetzt vorliegenden Eckpunkten zur Vorbereitung des Entwurfs eines neuen Pflegeberufegesetzes hat die Politik die Chance einer wirklich grundständigen Akademisierung der Pflegeberufe auf den Weg gebracht. International gesehen bildet Deutschland nach wie vor eines der Schlusslichter in der Entwicklung von Pflegewissenschaft und Pflegeforschung [Behrens et al. 2012]. Daher sind als weitere strukturelle Rahmenbedingung ein konsequenter Ausbau und eine gezielte Förderung der Pflegeforschung in Deutschland zwingend umzusetzen. Die Forschungsthemen sollen einerseits die Wissenschafts- und Praxisentwicklung fördern, andererseits dem gesellschaftlichen Wandel mit seinen zahlreichen Anforderungen Rechnung tragen [Behrens et al. 2012]. Nur so lässt sich langfristig der Versorgungsauftrag der Profession für die Gesellschaft auf dem notwendigen Qualitätsniveau sicherstellen.
15.1 Professionalisierung der Pflege – Weiterentwicklung der Pflegeberufe
505
Inhaltliche Ausrichtung akademischer Qualifikation Bei der Gestaltung von primärqualifizierenden Studiengängen ist der Fokus auf die Patienten- bzw. Klientenzentrierung zu legen, da derartige Studiengänge für die Praxis und die Versorgung der Bevölkerung mit pflegerischer Leistung ausgelegt sind. Somit ist eine konsequente Kompetenzorientierung in allen Studienbereichen undfächern sicherzustellen. Dabei verstehen sich die Begrifflichkeiten wie folgt: 1. Reflexionskompentenz: Fähigkeit, das eigene Handeln in unterschiedlichen Situationen kritisch zu analysieren und zu bewerten 2. Prozesskompetenz: Fähigkeit zu flexibler Reaktion bei Veränderungen im Umfeld und Bereitschaft zu lebenslangem Lernen 3. Transferkompetenz: Fähigkeit der Übertragung einer Lern- oder Denkleistung abstrakter oder praktischer Art von einem Anwendungsbereich auf einen andern 4. Handlungs- und Methodenkompetenz: Fähigkeit zu lösungsorientiertem Einsatz erlernten Wissens (z.B. Technologien, Verfahren, Sprachen) sowie Zusammenhänge erfassen, Defizite erkennen und geeignete Lösungsvorschläge erarbeiten Die Vernetzung dieser Kompetenzen zwischen den verschiedenen Studienfächern ist curricular zu verankern.
Konsequenzen für die Versorgungsrealität Bei allen unbestrittenen inhaltlichen und berufspolitischen Bedeutungen einer akademischen Grundqualifikation der Pflegeberufe ist auch die Frage zu stellen: Welche Auswirkungen hat diese auf die Versorgungsrealität in den Einrichtungen? Bei der Begründung zur Etablierung von Studiengängen wird dargelegt, dass das Studium pflege- und weitere gesundheitsbezogene wissenschaftliche Erkenntnisse sowie methodische, personale und soziale Kompetenzen vermittelt, um Personen, Familien oder Gruppen von Menschen in verschiedenen Lebenslagen zu pflegen und zu versorgen [Katholische Hochschule Freiburg 2012]. Die über den Bachelorstudiengang ausgebildeten Pflegenden beteiligen sich in der Praxis an der Qualitätssicherung in der pflegerischen Versorgung von Betroffenen und deren Angehörigen, der Praxisimplementierung wissenschaftlich gesicherten Wissens und somit an neuen Versorgungskonzepten, der Steuerung von Patientenverläufen, einer gelingenden interprofessionellen Zusammenarbeit, der Entwicklung neuer Berufszuschnitte, der Bereitschaft zu Verantwortung und ökonomischer Kompetenz, einer Bedingung für eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Der Studiengang soll reflektierende Pflegepersonen mit theoriegeleiteter Handlungskompetenz ausbilden und dazu befähigen, wissenschaftlich fundiert und selbständig Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention, Pflege und Rehabilitation von und mit Patientinnen und Patienten durchzuführen [Universität Witten 2012]. Auch der Wissenschaftsrat präferiert eine hochschulische Ausbildung in erster Linie in Form von primärqualifizierenden, patientenorientierten Studiengängen mit
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15 Situation der Pflegenden
dem Ziel eines zur unmittelbaren Tätigkeit am Patienten befähigenden BachelorAbschlusses. Er sieht im Fortschritt der Entwicklungen des Gesundheitswesens eine zunehmende Komplexität des Versorgungsauftrags, eine fortschreitende innerberufliche Differenzierung und Entstehung spezialisierter Tätigkeitsbereiche und neue Anforderungen an die Interprofessionalität [Wissenschaftsrat 2012]. Diese Begründungen und Position sind nachvollziehbar und konkludent, lassen sich aber derzeit durch evidenzbasierte Forschung und Ergebnisse nicht valide belegen. Dies liegt zum einen an der noch jungen Disziplin Pflegewissenschaft, zum anderen auch an der bereits beschriebenen Position der Pflegeforschung in Deutschland. International widmen sich auch vergleichsweise wenige Studien dem Zusammenhang zwischen Pflegenden mit Bachelorabschluss und dem Patientenoutcome. Vorwiegend untersucht wurde bislang vor allem die Frage, welche Zusammenhänge zwischen der Personalbesetzung und den Ergebnissen bestehen. Im Übrigen ist bei der Beurteilung von Ergebnissen aus dem angloamerikanischen Raum die Frage zu stellen, ob die Bedingungen auf das deutsche Gesundheits- und Pflegesystem zu übertragen sind [Darmann-Finck 2012]. Gleichwohl wird der potentielle Bedarf an Absolventen der Pflegestudiengänge in einer Untersuchung von Görres mit 45,5 Prozent für die Pflegepraxis und 27,3 Prozent für andere Berufsfelder wie Bildung, Leitung, Politik, Verbände etc. angegeben [Görres et al. 2000].
Zusammenfassung Die Weiterentwicklung der Pflegeberufe ist nicht aufzuhalten und wird von Fachexperten und von der Politik als unumgänglich angesehen. Damit unauflöslich verknüpft ist eine akademische Grundqualifikation des Pflegeberufes. Dabei müssen die Belange der zu Pflegenden in den Fokus der Betrachtungen gestellt werden, und die Wissenschaft darf nicht zum Selbstzweck werden. Die Prämisse „Die Pflegewissenschaft muss der Praxis dienen und die Praxis der Pflegewissenschaft“ [Schröck 1998] hat auch heute noch Gültigkeit.
15.2 Fachkräftesituation und Arbeitszufriedenheit in der ambulanten und stationären Pflege Michael Isfort In dem folgenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, welche Entwicklungen zur Fachkräftesituation in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland zu beobachten sind. Vorgestellt werden Analysen zur Entwicklung der Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter sowie zur aktuellen und zur zukünftigen Beschäftigungssituation. Ein besonderer Fokus soll auf die Bewertung der Arbeitszufriedenheit von Fachkräften in der ambulanten und stationären Pflege gelegt werden.
15.2 Fachkräftesituation und Arbeitszufriedenheit
507
Vor dem Hintergrund eines steigenden Fachkräftebedarfs in der Zukunft ist es von besonderer Bedeutung, dass die in der Pflege Tätigen ihren Beruf positiv bewerten und sich aktiv an der Nachwuchsgewinnung beteiligen. Hier sind Herausforderungen zu sehen, denn die Pflegenden weisen Studien zufolge zwar eine hohe Berufszufriedenheit aus, sie bewerten ihre Arbeitsplatzbedingungen und die Arbeitsbelastungen jedoch erheblich kritischer. Dies führt aktuell zu einer tendenziell eher niedrig bewerteten Arbeitszufriedenheit.
Die Entwicklung der ambulanten und stationären Pflege Mit der Einführung der Pflegeversicherung zum 01.01.1995 wurde die professionelle Pflege in der ambulanten und stationären Versorgung strukturell befördert. Die über die Pflegeversicherung finanzierten Leistungen haben zu einem erheblichen Ausbau der pflegerischen Versorgung geführt und damit einen „Wachstumsmotor“ in Gang gesetzt. Dieser hängt primär mit der Zunahme an Pflegebedürftigkeit in der Bevölkerung zusammen. In den Jahren 1999 und 2011 wurden rund 24 Prozent mehr Personen als pflegebedürftig im Sinne des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) eingestuft und bekamen somit Zugang zum professionellen Versorgungs- und Leistungssystem. Aktuell (Pflegestatistik Stand Dezember 2011) sind rund 2,5 Millionen Menschen pflegebedürftig im Sinne des SGB XI [Destatis 2013]. Die Zahl der durch ambulante Pflegedienste betreute Pflegebedürftige stieg zwischen 1999 und 2011 um 38,7 Prozent, wobei sich regionale Unterschiede zeigen [Rothgang et al. 2009]. Auch bei der stationären Versorgung kann ein deutlicher Anstieg beobachtet werden. Sie nahm zwischen 1999 und 2011 um insgesamt 29,6 Prozent zu, wohingegen die Zahl der alleine durch die Familie versorgten Personen über den Zeitraum von zehn Jahren annähernd gleich blieb, zwischen 2009 und 2011 jedoch erstmals bedeutsam anstieg. Diese Entwicklungen verdeutlichen insgesamt die zentrale Rolle, die fachqualifiziertes Personal bei der Versorgung spielt, denn in der Gesamtschau ist ein Trend hin zur professionellen Versorgung zu erkennen.
Die Fachkräfteentwicklung in der ambulanten und stationären Pflege Mit der Zunahme Pflegebedürftiger verbunden ist eine steigende Zahl der in den ambulanten und stationären Einrichtungen beschäftigten Fachkräfte. Die Pflegestatistik des Bundes weist alleine zwischen 1999 und 2011 eine Zunahme um etwa 162 600 Pflegekräfte (einschließlich der Helferausbildung) aus [Destatis 2013]. Im Jahr 2011 waren 432 343 Pflegende in der ambulanten und der teil-/vollstationären Pflege in Deutschland tätig. Dabei stieg insbesondere die Zahl der dreijährig examinierten Altenpflegenden am stärksten an. So waren 2011 rund 99 000 mehr Altenpflegende in diesen Bereichen tätig als noch im Jahr 1999 (s. Abb. 15.1). Dieser Anwuchs im Fachkräftebereich zeigt, dass es in den vergangenen zehn Jahren gelungen ist, mehr
508
15 Situation der Pflegenden
Menschen in den Pflegeberuf zu qualifizieren und ihnen eine Perspektive im Beruf zu geben.
500.000 450.000
11.750
400.000
11.291 10.073
350.000 300.000 250.000 200.000
8.947 7.265 31.270 105.444
150.000 100.000 50.000 0
16.624
7.701
106.787 19.061
27.261
28.672
29.970 118.581 19.478
28.788 139.703
30.190 141.109
132.663
21.537
27.731
36.481
11.391 30.402
135.729
46.517
109.161
124.879
141.965
158.817
178.902
194.195
208.304
1999
2001
2003
2005
2007
2009
2011
Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/in Gesundheits- und Krankenpfleger/in staatlich anerkannte/r Altenpfleger/in
Krankenpflegehelfer/in staatlich anerkannte/r Altenpflegehelfer/in
Abb. 15.1: Entwicklung der Anzahl beschäftigter Fachkräfte in der Pflege 1999 bis 2011; Quelle: Pflegestatistiken des Bundes/eigene Graphik.
Die gute Arbeitsmarkt- und Berufsperspektive für Pflegende wird auch daran deutlich, dass es sowohl unter den dreijährig examinierten Altenpflegenden als auch unter den Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflegenden keine nennenswerte Arbeitslosigkeit gibt. Abbildung 15.2 zeigt beispielhaft für den Berichtsmonat September 2012 im oberen Bereich die Anzahl der als arbeitslos gemeldeten dreijährig qualifizierten Altenpflegenden in den jeweiligen Bundesländern. Darunter ist die Zahl der bei den Arbeitsagenturen gemeldeten offenen Stellen für diesen Bereich abgebildet [Bundesagentur für Arbeit 2012]. Betrachtet man die Kennzahlen, so zeigt sich, dass in den Bundesländern mehr offene Stellen gemeldet sind, als es arbeitslose Fachkräfte gibt. Diese gute Beschäftigungslage der beruflich Pflegenden hat jedoch auch eine Kehrseite: Aus dem Bestand heraus können aktuell kaum noch neue Stellen besetzt werden – der Arbeitsmarkt ist „leer gefegt“. Dieser Umstand ist bedeutsam vor dem Hintergrund der beobachteten Arbeitsbelastung und der Arbeitsverdichtung im Pflegeberuf, denn vielerorts kann eine Zunahme der Aufgaben nicht mit einer entsprechenden Neueinstellung von Pflegepersonal abgefedert werden. Selbst wenn Einrichtungen zusätzliches Personal einstellen möchten, werden sie dieses nicht ohne Weiteres bekommen können. Sie müssen es „abwerben“ und verstärken damit den Druck auf das Personal in den Einrichtungen, aus denen es rekrutiert wird.
15.2 Fachkräftesituation und Arbeitszufriedenheit
161 443 115 123
114 278 42 76 443 1.118
193 317 182 276
144 197
1.046 2.287
264 701
265 312
131 300
106 533 33 170
376 1.356 350 1.338
Abb. 15.2: Arbeitslos gemeldete Altenpflegende und Arbeitsstellen in den Bundesländern zum September 2012; : Bundesagentur für Arbeit/eigene Graphik.
509
510
15 Situation der Pflegenden
Zukünftiger Fachkräftebedarf in der Pflege In zahlreichen Gutachten und Studien werden prognostische Berechnungen vorgenommen, die insgesamt einen stark steigenden Bedarf für Deutschland attestieren. Im Jahr 2008 berechnete das Institut der deutschen Wirtschaft (Köln) für die Entwicklung, dass ausgehend von 2005 bis 2050 etwa mit einer Verdreifachung der Beschäftigtenzahlen (auf rund 1,5 Millionen) in Vollzeitstellen im Bereich der Pflege gerechnet zu rechnen sei [Enste/Pimpertz 2008]. Afentakis vom Statistischen Bundesamt berechnet in einem Basisszenario für die Pflegeberufe im Jahr 2025 einen Mangel an 193 000 beziehungsweise 214 000 Vollzeitkräften in allen Sektoren der Pflege gemeinsam [Afentakis/Maier 2010]. Aktuell wurde am Ende des Jahres 2012 durch die Bertelsmann Stiftung ein Gutachten veröffentlicht. Dieses geht im Basisszenario von einem personellen Mehrbedarf von rund 434 500 Vollzeitkräften in der ambulanten und stationären Versorgung im Jahr 2030 aus, wobei nicht alleine Fachkräfte der Pflege berechnet wurden [Bertelsmann Stiftung 2012]. Die teils innerhalb der Studien (unterschiedliche Szenarien), teils zwischen den Studien divergierenden Zahlen zeigen, dass eine Berechnung vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Annahmen, der jeweiligen verwendeten Berechnungsformeln und der eingeschlossenen oder ausgeschlossenen Berufsgruppen sehr unterschiedlich ausfällt. Es bleibt dabei jedoch festzuhalten, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Studie gibt, die von einer Stagnation oder einer potenziellen Verringerung des Bedarfs professionell Pflegender ausgeht.
Berufs- und Arbeitszufriedenheit von Pflegenden Betrachtet man Fragen zur Zufriedenheit in den pflegerischen Berufen, so muss differenziert werden zwischen einer Berufszufriedenheit und einer Arbeitszufriedenheit. Die Berufszufriedenheit oder auch die Berufswahlzufriedenheit zeigt den Grad der Identifikation von Pflegekräften mit ihrem Beruf. Sie spiegelt auf einer übergeordneten Ebene wider, ob der gewählte Beruf auch der richtige ist und wie die Entscheidung für den Beruf grundsätzlich bewertet wird. Davon abgegrenzt werden muss die konkrete Arbeits- oder auch Arbeitsplatzzufriedenheit. Hier spielen die Bedingungen in den Einrichtungen, die Patientenversorgung und die konkrete Pflegearbeit eine zentrale Rolle für die Bewertung [Hasselhorn et al. 2005]. Eine trennscharfe Definition von Arbeitszufriedenheit und Arbeitsplatzzufriedenheit liegt jedoch nicht vor, und so wird in den Studien sowohl zu dem einen als auch zu dem anderen Aspekt befragt bzw. werden die beiden Begriffe häufig synonym verwendet.
Die Berufszufriedenheit von Pflegenden Zur Berufszufriedenheit und zur Identifikation mit dem Beruf insgesamt liegen Ergebnisse aus Studien vor. Befragt man Auszubildende in den pflegerischen Berufen, so findet man eine insgesamt sehr hohe Zufriedenheit mit der Berufswahl. Von etwa.
15.2 Fachkräftesituation und Arbeitszufriedenheit
511
4 000 Auszubildenden, die die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) im Jahr 2011 befragte, waren rund zwei Drittel mit der Ausbildung zufrieden oder sogar sehr zufrieden. Dabei waren die Auszubildenden der Altenpflege die Gruppe mit der höchsten Zufriedenheit [ver.di 2011]. Im Rahmen einer Auszubildendenbefragung im Köln-Bonner-Raum gaben 90,9 Prozent von über 850 Ausbildungsabsolventinnen und Absolventen, die vor der Berufseinmündung stehen, an, dass sie im Anschluss an die Ausbildung in der Pflege arbeiten möchten [Kappel/Klein 2012]. Auch im norddeutschen Raum kommt eine Befragung unter Auszubildenden zu ähnlich positiven Ergebnissen. 94,4 Prozent der Befragten würden den Beruf wieder wählen [Bomball et al. 2010]. Diese Studien verdeutlichen die tendenziell hohe Berufs- und Berufswahlzufriedenheit unter Auszubildenden. Die allgemein guten Werte sind jedoch auch bei den beruflich Pflegenden zu beobachten. In einer Studie der Fachhochschule Münster waren von 618 befragten Altenpflegenden 65 Prozent mit der Berufswahl zufrieden, 83 Prozent gaben an, dass sie sich mit ihrem Beruf identifizieren und 85 Prozent, dass sie ihre Arbeit gerne machen [Buxel 2011b]. Hinsichtlich der Berufszufriedenheit kann daher davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der Pflegenden ihre Tätigkeit gerne ausübt und sich in hohem Maße mit dem identifizieren, was sie leisten.
Die Arbeitszufriedenheit von Pflegenden Näher betrachtet werden muss jedoch die Arbeitszufriedenheit der beruflich Pflegenden. Dass der Beruf mit großer körperlicher und psychischer Belastung, mit Wechselschichten und einer vergleichsweise geringen Entlohnung in Verbindung gebracht wird, wird auch von Pflegenden in Befragungen bestätigt [WSI 2012]. Die hohen Beanspruchungen im Beruf gehen auch mit im Vergleich zu anderen Berufen höheren Krankheitsraten, Krankheitszeiten und gesundheitlichen Risiken einher. Dies wurde u.a. auch durch zahlreiche Reporte der Krankenkassen bestätigt [Bergers/ Nolting 2003, AOK-BV, Galatsch et al. 2012, Schmidt/Hasselhorn 2007]. Diese genannten Faktoren sind offenbar wichtige Ursachen für den Unterschied zwischen einer hohen Berufszufriedenheit und einer tendenziell niedrigeren Arbeitszufriedenheit. In der europäischen NEXT-Studie (Nurses’ early exit study) zum Berufsausstieg bei Pflegenden wurde unter den deutschen Pflegenden eine nur mäßige Arbeitszufriedenheit festgestellt (2,5 auf einer vierstufigen Skala). Die Autoren ermittelten, dass in Deutschland zwar eine Zufriedenheit mit der Art und Weise bestand, wie man seine Fähigkeiten im Beruf einsetzen kann. Eine sehr niedrige Zufriedenheit wurde jedoch hinsichtlich psychologischer Unterstützung am Arbeitsplatz und der körperlichen Arbeitsbedingungen festgestellt [Hasselhorn et al. 2005]. In der zweiten Befragungswelle zur Studie wurde darüber hinaus festgestellt, dass jeder zweite Befragte ein schlechtes bis sehr schlechtes Image des Pflegeberufs in der Bevölkerung vermutete [Hasselhorn et al. 2008].
512
15 Situation der Pflegenden
Die Nachfolgestudie untersuchte Aspekte, die mit einer hohen Zufriedenheit der Arbeit in der Altenpflege verbunden wurden. Hier konnte aufgezeigt werden, dass vor allem die Qualität der angebotenen Pflege entscheidend für die Beurteilung durch die Pflegenden war [Schmidt et al. 2010]. In einer Studie der Fachhochschule Münster in 2011 äußerten 64 Prozent der Altenpflegenden, dass sie alles in allem mit ihrem derzeitigen Arbeitsplatz zufrieden sind. Allerdings gaben nur 39 Prozent an, dass sie ihre Berufswahl Freunden und Bekannten empfehlen würden [Buxel 2011a]. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfP) befragte im Jahr 2009 Mitglieder zum Erleben im Arbeitsalltag. Die Befunde in dieser Studie waren insgesamt besorgniserregend. So gaben 50 Prozent der in Altenpflegeeinrichtungen tätigen Pflegenden und 38,5 Prozent der in der ambulanten Pflege tätigen Pflegenden an, dass sich die Pflegequalität in den vergangenen 12 Monaten verschlechtert habe. Dabei wurde vor allem eine zu geringe Personalausstattung als Grund angeführt. Dies führte u.a. auch zu der Aussage, dass 65 Prozent der in Altenpflegeeinrichtungen und 32,2 Prozent der in ambulanten Diensten Tätigen eigene Angehörige nicht im eigenen Arbeitsbereich versorgen lassen würden [DBfP 2009]. In einer im Januar 2013 veröffentlichten Studie zur Verbesserung des Arbeitserlebens in ambulanten Pflegediensten wurde ein Fragebogen zur Messung von Arbeitsplatzfaktoren in Gruppen eingesetzt. Der COPSOQ (Copenhagen Psychosocial Questionnaire) ist ein vielfach erprobtes Instrument und deckt insgesamt 25 arbeitsplatzbezogene Aspekte ab [Wolter 2013]. Die Ergebnisse werden jeweils auf eine Skala von 0 bis 100 transformiert. Auf Basis von 588 befragten Pflegekräften aus 69 ambulanten Diensten konnte ermittelt werden, dass die Arbeitszufriedenheit mit 67 und 68 (auf einer Skala bis 100) im oberen Mittelfeld bewertet wurde. Diese bewegte sich damit auch auf dem Niveau von 412 bestehenden Vergleichsdaten aus dem häuslichen Bereich und spiegelt eine stabile Situation wider. Am positivsten wurde (in der Studie sowie in der benannten Vergleichsgruppe) das Gemeinschaftsgefühl bewertet, das um die 80 Punkte auf einer Skala bis 100 liegt.
Fazit Betrachtet man die in diesem Artikel aufgezeigten Entwicklungen, so ist zu beobachten, dass in den vergangenen zehn Jahren ein großer Aufwuchs im Pflegebereich erreicht werden konnte. Der Arbeitsmarkt verweist auf den bestehenden Fachkraftmangel in der Pflege. Aus der Perspektive der einzelnen Pflegenden aber sind somit die Arbeitsmarktchancen dabei weiterhin sehr gut. Es besteht die Möglichkeit, sich die Arbeitsorte und auch die Betätigungsfelder in der Pflege auszusuchen. Pflegende werden mit ihrer Expertise auch zukünftig gefragte Fachpersonen bleiben, denn der Bedarf wird weiter steigen, wobei in den Studien unterschiedliche Szenarien eines Fachkraftmangels beschrieben werden.
15.3 Der Pflegende im Spannungsfeld von Berufsethos und Eigeninteresse
513
Es zeigt sich jedoch, dass neben einem notwendigen weiteren quantitativen Aufbau auch die Sicherstellung der Qualität der Versorgung in den Vordergrund gerückt werden muss. Dazu muss das Arbeitsumfeld so angepasst sein, dass die Pflegenden die Möglichkeit haben, ihre Berufsvorstellungen und Berufsnormen einer guten Versorgung umzusetzen. Bleibt dies aus, so vergrößert sich die Kluft zwischen der hohen Identifikation mit der pflegerischen Arbeit und der hohen Berufswahlzufriedenheit und der real eingeschätzten Arbeitszufriedenheit. Dies führt letztlich zu einer Schwächung der pflegerischen Infrastruktur, denn die wichtige Ressource der professionell Pflegenden muss auch genutzt werden können, um den eigenen beruflichen Nachwuchs anzuwerben.
15.3 Der Pflegende im Spannungsfeld von Berufsethos und Eigeninteresse Nikolaus Knoepffler und Christiane Burmeister 15.3.1 Einleitung Eigenständige ethische Richtlinien in der Pflege haben im Zuge der zunehmenden Professionalisierung und Souveränität des Berufs an Bedeutung gewonnen. Noch bis etwa 1945 spannten ärztliche Anweisungen den einzigen Handlungsrahmen pflegerischer Ethik, welche sich auf fürsorglich-tugendhafte Charaktereigenschaften und die professionelle Kunstfertigkeit konzentrierte [Bobbert 2002]. „Moralisch zu handeln bedeutete, vorgeschriebene Aufgaben mit technischer Perfektion in weiblich-zugewandter Haltung auszuführen“ [ebd.]. Mittlerweile haben Pflegeberufe ein autonomes disziplinäres Profil, dessen eigenständige ethische Reflektion in Aus- und Weiterbildungspläne eingegangen und in nationalen wie internationalen Kodizes festgehalten ist. Am Beispiel des im Jahr 1953 verabschiedeten Ethikkodex für Pflegende des International Council of Nurses (ICN)1 lassen sich diese paradigmatischen Entwicklungen des pflegeberuflichen Selbstverständnisses exemplarisch nachvollziehen. Nahm etwa in dessen Erstfassung die Loyalität der Pfleger gegenüber der Ärzteschaft noch einen elementaren Platz ein, gilt bereits ab 1971 (und bis heute) „die grundlegende berufliche Verantwortung der Pflegenden […] dem pflegebedürftigen Menschen“ [ICN-Ethikkodex 2010].
1 Der im Jahr 1899 gegründete ICN ist ein Zusammenschluss von über 130 nationalen Pflegefachverbänden mit Sitz in Genf und versteht sich als globale Stellvertreterorganisation aller Pflegepersonen; vgl. http://www.icn.ch/about-icn/about-icn/.
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15 Situation der Pflegenden
Seine jüngste Revision erfuhr der ICN-Ethikkodex im Jahr 2005. Die seitdem geltende Fassung wurde im Jahr 2010 ins Deutsche übersetzt und vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfP) herausgegeben. Damit steht sie im deutschsprachigen Raum gegenwärtig den herrschenden nationalen Richtlinien2 als internationales Rahmenwerk zur Seite. Wie alle berufsethischen Kodizes dient auch der ICN-Ethikkodex dazu, die moralisch relevanten Schwerpunkte seiner Profession ethisch zu reflektieren und im Rahmen der rechtlichen Ordnung die Eckpfeiler seines spezifischen Berufsethos’ zu positionieren. In diesem Zusammenhang ist ein Verständnis für die spezifische Differenz der Begriffe Ethik, Moral, Ethos und Recht von Bedeutung, denn obwohl sie häufig dazu einladen, miteinander verwechselt zu werden, unterscheiden sie sich in wesentlichen Hinsichten. Während es sich bei der Moral um die Gesamtheit eines anerkannten Normsystems, also um verbreitete Ideale, Werte und Einstellungen handelt, ist es Gegenstand der Ethik, diese Moral auf ihre intersubjektive Gültigkeit hin zu hinterfragen, ihre Begriffe zu klären, ihre Hintergründe und Zusammenhänge zu thematisieren. Wie eingangs beschrieben, galten im 19. Jahrhundert für Pflegende auch solche ärztlichen Anweisungen als moralisch richtig, die einer heutigen ethischen Betrachtung nicht standhalten, weil sie das Selbstbestimmungsrecht des Pflegebedürftigen im Grundsatz missachteten. Ein Spezialfall der Moral ist wiederum das Ethos, das Normen und Wertvorstellungen beispielsweise einer bestimmten Berufsgruppe enthält und von dieser auch mit Sanktionen durchgesetzt werden kann. Davon zu unterscheiden ist wiederum das Recht, welches in positivierter, also gesetzlicher Form verbindliche und grundsätzlich sanktionierbare Normen umfasst [Knoepffler 2010]. So mag es zwar zum Berufsethos von Pflegefachkräften gehören, dem Pflegebedürftigen in freundlich-zugewandter Haltung zu begegnen, sich mit ihm zu unterhalten und seine besonderen Bedürfnisse kennenzulernen. Eine rechtsverbindliche Umsetzung dieser Fürsorglichkeit kennt unsere Gesetzesordnung allerdings nicht. Es ist besonders in dieser Hinsicht Aufgabe des ICN-Ethikkodex, in den wichtigsten Konfliktbereichen ethische Orientierungslinien zu ziehen. Wie Monika Bobbert herausstellt, entstehen Wertkonflikte in erster Linie im Verhältnis zwischen professionell Pflegendem und Pflegeempfänger. Sie betreffen aber auch Problemkonstellationen mit hinzukommenden Drittparteien wie Ärzten, Angehörigen, anderen Pflegebedürftigen, anderen Kollegen, Institutionen oder dem Gesundheitswesen an sich [Bobbert 2002]. Dabei ist zu beachten, dass Ethikkodizes in einem weiten Sinne selbst zu den institutionellen Rahmenbedingungen pflegerischer Arbeit zählen. Folglich beschreiben sie nicht nur leitende normative Richtlinien, sie können selbst Wertkonflikte entstehen lassen. Das Verhältnis zwischen Pflegepraktikern und Ethikkodex stellt dann eine eigene Problemdimension dar. Wie groß das Konfliktpotenzial hier ist, hängt auch davon ab, wie angemessen sich Pflegende als
2 Etwa die Rahmenberufsordnung des Deutschen Pflegerats e.V. oder der SBK-Kodex „Ethik in der Pflegepraxis des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner“.
15.3 Der Pflegende im Spannungsfeld von Berufsethos und Eigeninteresse
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Personen mit eigenen Rechten, Interessen und Bedürfnissen im Kodex repräsentiert sehen. Mit dem folgenden Blick in die einzelnen Bestimmungen des ICN-Ethikkodex soll untersucht werden, ob der ICN-Ethikkodex für Pflegende den zentralen Anforderungen einer pflegerischen Berufsethik im gebotenen Umfang gerecht wird, welche Werte er zu etablieren bemüht ist und wessen Rechte er dabei vertritt. 15.3.2 Die Postulate des ICN-Ethikkodex für professionell Pflegende3 Der ICN-Ethikkodex gliedert sich in vier Teile: 1) Pflegende und ihre Mitmenschen, 2) Pflegende und ihre Berufsausübung, 3) Pflegende und ihre Profession und 4) Pflegende und ihre Kolleginnen. Allen Kapiteln voran formuliert eine Präambel prägnant die Zwecke pflegerischer Arbeit und stellt alle nachfolgenden Ausführungen ausdrücklich in die Menschenrechtstradition, die mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948) begründet wurde: „Pflegende haben vier grundlegende Aufgaben: Gesundheit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wiederherzustellen, Leiden zu lindern. Es besteht ein universeller Bedarf an Pflege. Untrennbar von Pflege ist die Achtung der Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Leben, auf Würde und auf respektvolle Behandlung. Pflege wird mit Respekt und ohne Wertung des Alters, der Hautfarbe, des Glaubens, der Kultur, einer Behinderung oder Krankheit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Nationalität, der politischen Einstellung, der ethnischen Zugehörigkeit oder des sozialen Status ausgeübt.“ [ICN-Ethikkodex 2010] An der Kernverpflichtung und dem inneren Berufsziel ansetzend, werden daraufhin im ersten Kapitel ethische Pflegestandards in Bezug auf von der Pflegepraxis mittel- und unmittelbar betroffene Menschen festgehalten: „Die grundlegende berufliche Verantwortung der Pflegenden gilt dem pflegebedürftigen Menschen. Bei ihrer beruflichen Tätigkeit fördert die Pflegende ein Umfeld, in dem die Menschenrechte, die Wertvorstellungen, die Sitten und Gewohnheiten sowie der Glaube des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft respektiert werden.
3 Die Bezeichnung „Professionell Pflegende“ umfasst ausgebildete und staatlich anerkannte Gesundheits- und Krankenpflegefachkräfte und Kinderkrankenpflegekräfte in stationären, teilstationären oder ambulanten Pflegeeinrichtungen bzw. der Hauskrankenpflege. Von ihnen zu unterscheiden ist eine Vielzahl anderer Mitarbeiter der Pflegepraxis wie Altenpfleger, Pflegehelfer, 24-Stunden-Betreuungskräfte oder ehrenamtliche, mithin nicht erwerbstätige Pflegepersonen. In allen Arbeitsgebieten variieren das Betreuungsspektrum, der Betreuungsaufwand und die damit verbundenen Kompetenzen bzw. Anforderungen. Im nachfolgenden Text ist unter dem verkürzten Ausdruck „Pflegende“ die Berufsgruppe der „Professionell Pflegenden“ zu verstehen.
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15 Situation der Pflegenden
Die Pflegende gewährleistet, dass der Pflegebedürftige ausreichende Informationen erhält, auf die er seine Zustimmung zu seiner pflegerischen Versorgung und Behandlung gründen kann. Die Pflegende behandelt jede persönliche Information vertraulich und geht verantwortungsvoll mit der Informationsweitergabe um. Die Pflegende teilt mit der Gesellschaft die Verantwortung, Maßnahmen zugunsten der gesundheitlichen und sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung, besonders der von benachteiligten Gruppen, zu veranlassen und zu unterstützen. Die Pflegende ist auch mitverantwortlich für die Erhaltung und den Schutz der natürlichen Umwelt vor Ausbeutung, Verschmutzung, Missachtung und Zerstörung.“ [ICN-Ethikkodex 2010]4 Der erste Absatz kennzeichnet die prioritäre Stellung der Verantwortung für den Pflegebedürftigen im gesamten Verantwortungsspektrum von Pflegenden. Auf sie beziehen sich die in der Präambel genannten Dimensionen „Gesundheit fördern, Krankheit verhüten, Gesundheit wiederherstellen, Leiden lindern“, womit diese als Kernverpflichtungen verstanden werden können. Sie erfassen Pflege jedoch nur im notwendigen, nicht im hinreichenden Umfang. Wie in der Arzt-Patienten-Beziehung haben sich auch in Pflegezusammenhängen der Respekt vor der grundsätzlichen Selbstverfügung des Pflegeempfängers und das daran anknüpfende Prinzip der informierten Einwilligung zu leitenden Werten entwickelt. Absatz zwei, drei und vier ergänzen darum wesentliche Elemente, die sich aus dem Respekt vor der Autonomie des Pflegeempfängers gebieten. Somit können diese Elemente als Rahmenverpflichtungen verstanden werden, welche die Kernverpflichtungen im Konfliktfall näher bestimmen. Die Absätze fünf und sechs verfallen jedoch in eine rätselhafte Anspruchshaltung. Hiernach sollen Pflegende über ihre tägliche gesundheitliche Versorgungsarbeit hinaus „Maßnahmen zugunsten der gesundheitlichen und sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung“ ergreifen und ihre Handlungen mit dem öffentlichen Ziel des Naturschutzes vereinbaren. Offensichtlich soll an diesen Stellen darauf hingewiesen werden, dass sich pflegerisches Handeln nicht im unmittelbaren mitmenschlichen Kontakt erschöpft, sondern in einem weiten Sinne Auswirkungen auf das Wohl aller Mitmenschen und der Umwelt haben kann. Aus diesem Grund scheint es sich hier um Appelle an eine nachhaltige Arbeitsmoral von Pflegenden zu handeln. Sicherlich ist es richtig, dass Weitsicht in allgemeinen sozialen und ökologischen Belangen auch in Pflegeberufen für unser menschliches Zusammenleben von Bedeutung ist. Doch wie die Bestimmungen dieser Absätze selbst formulieren, handelt es sich hierbei um eine Form der Verantwortung, die Pflegende mit ihren Mitmenschen teilen und die sie darum nicht als Angehörige ihres Berufsstands betrifft, sondern als Bürger. Deshalb sollte im Mindesten kenntlich gemacht sein, das der genuin berufsethische
4 Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit wurde im Kodex durchgehend die weibliche Form verwendet.
15.3 Der Pflegende im Spannungsfeld von Berufsethos und Eigeninteresse
517
Pflichtbereich an diesen Stellen verlassen wird. Streitbar bleibt allerdings auch dann noch, ob ein professionsethischer Kodex überhaupt Werte unterstellen sollte, die 1) für den betreffenden Beruf nicht von unmittelbarer moralischer Relevanz sind und 2) seinen Adressaten eine quasi allumfassende Mitverantwortung für die Gesamtheit von Gesellschaft und Natur aufbürdet. Das zweite Kapitel des ICN-Ethikkodex enthält genauere Ausführungen zur Verantwortung der Pflegenden in Bezug auf ihre berufliche Praxis: „Die Pflegende ist persönlich verantwortlich und rechenschaftspflichtig für die Ausübung der Pflege sowie für die Wahrung ihrer fachlichen Kompetenz durch kontinuierliche Fortbildung. Die Pflegende achtet auf ihre eigene Gesundheit, um ihre Fähigkeit zur Berufsausübung nicht zu beeinträchtigen. Die Pflegende beurteilt die Fachkompetenzen der Mitarbeitenden, wenn sie Verantwortung delegiert. Die Pflegende achtet in ihrem persönlichen Verhalten jederzeit darauf, das Ansehen des Berufes hochzuhalten und das Vertrauen der Bevölkerung in die Pflege zu stärken. Die Pflegende gewährleistet bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit, dass der Einsatz von Technologie und die Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse vereinbar sind mit der Sicherheit, der Würde und den Rechten der Menschen.“ [ICN-Ethikkodex 2010] Auch hier ist zunächst festzustellen, dass die Verfasser des Kodex wichtige klassische Verantwortungsbereiche der Pflege aufgenommen haben, wie die Erstverantwortung bei der kompetenten Pflegeausübung und Gewissenhaftigkeit bei der Übertragung von Pflegeaufgaben (Absatz 1 und 3). Darüber hinaus verlangen sie Pflegenden jedoch ab, alle anzuwendenden Maßnahmen hinsichtlich ihrer Folgen für die Sicherheit, die Würde und Rechte der Pflegeempfänger zu beurteilen. Diese Forderung ist unspezifisch genug, um Pflegende bereits in alltäglichen Entscheidungssituationen zu verunsichern. Im Fall von invasiveren Maßnahmen, komplexerer Technologie oder frisch zugelassenen Medikamenten ist eine ethische Folgenabschätzung ungleich schwieriger. Angestellte eines Pflegedienstes sollten ihre Leistungen jederzeit nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne des fachlichen state of the art vollbringen. Es kann jedoch nicht ihre Aufgabe sein, vollumfängliche Gewähr für die gesundheitliche, rechtliche oder moralische Unbedenklichkeit einer bestimmten Anwendung zu leisten. Hier lässt sich eine Tendenz zur Überbeanspruchung und Idealisierung pflegerischer Arbeit bemerken, welche im vierten Absatz noch verstärkt wird, der den beruflichen Pflichtbereich auf das persönliche Verhalten der Pflegeperson ausdehnt. Demnach sollen Pflegende „in ihrem persönlichen Verhalten jederzeit darauf [achten], das Ansehen des Berufes hochzuhalten und das Vertrauen der Bevölkerung in die Pflege zu stärken“. Eine Konkretisierung auf die berufliche Sphäre
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15 Situation der Pflegenden
findet nicht statt.5 Um dieser Anforderung gerecht zu werden, müssen sich Pflegende einen zentralen Aspekt ihres Berufs, das fürsorglich-professionelle Auftreten, zur universell verfügbaren Eigenschaft machen. Streng genommen werden sie dazu diszipliniert, als ganze Person in den normativen Erwartungen an ihren Berufsstand aufzugehen. Damit wird eine ungebührlich enge Verbindung zwischen der privaten und der beruflichen moralischen Identität gezogen. Zweifellos sind beide Moralen nicht strikt voneinander zu trennen. Die Berufswahl eines jeden Menschen gehört zu den wesentlichen Aspekten seiner Person. Wie Barbara Merker betont, können „[d]ie moralische Identität einer Person, ihr Charakter, ihre Tugenden und Laster […] neben der Eingangstür der Praxis, der Klinik, des Büros nicht einfach abgelegt werden wie Mantel und Hut“ [Merker 2001]. Und doch stellt die berufliche eben nur eine von mehreren Identitätsrollen einer Person dar, die miteinander zu harmonisieren, aber eben auch voneinander abzugrenzen ein autonomes Menschsein konstituiert. Diese mitunter notwendige Abgrenzung von Berufs- und Privatmoral ist nicht denkbar, wenn Pflegenden abverlangt wird, in jeder Lebenslage vorbildliche Repräsentanten ihres Berufsstands zu sein. Die bereits angedeutete prinzipielle Schräglage des ICN-Ethikkodex in Hinblick auf eine mangelnde Subjektstellung von Pflegepersonen zeigt sich besonders in Absatz zwei. Zunächst einmal ist es im Grundsatz richtig, Pflegende zur Achtsamkeit gegenüber ihrer eigenen Gesundheit anzuhalten. Laut DAK-Gesundheitsreport nahm der Gesamtkrankenstand bei Angestellten im Gesundheitswesen im Jahr 2011 mit einem Satz von 4,1 Prozent den zweiten Platz unter den Ausfallzeiten aller Wirtschaftsgruppen ein. Sowohl Erkrankungshäufigkeit als auch -dauer liegen hier deutlich über dem Durchschnitt. Dabei sind Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems die Hauptursache, Diagnosen psychischer Störungen der zweithäufigste Grund von Arbeitsausfällen. In beiden Bereichen steigt das Erkrankungsrisiko bei erschwerten Rahmenbedingungen durch Personalmangel. Zu der körperlichen Beanspruchung des Pflegeberufs und der psychosozialen Belastung, täglich mit krankheits- oder altersbedingten Schicksalen konfrontiert zu sein, an ihnen Anteil zu nehmen und dabei die Rolle der Bezugsperson nicht nur für körperliche, sondern auch für emotionale Belange innezuhaben, kommt im Fall erhöhter Arbeitsdichte eine anhaltende Frustration darüber, „nicht wirklich zum Pflegen zu kommen. Zu sehen, was man alles machen könnte, was helfen würde, was wirklich zur Genesung beitragen würde – und es nicht tun zu können (…)“ [Wettreck 2001].6 Dieser Zusammenhang zwischen Arbeitsqualität und Gesundheit des Pflegenden findet dann in reduzierten Pflegeleistungen, etwa geraff-
5 Hierbei sind auch die Wurzeln dieses Passus’ bemerkenswert, so heißt es in der Version von 1953: „Das Privatleben der Schwester soll dem Beruf zur Ehre gereichen.“ [ICN-Ethikkodex 1953, zit. n. Lay 2004]. 6 Die Situation hat sich seit dieser Aussage im letzten Jahrzehnt noch weiter verschärft.
15.3 Der Pflegende im Spannungsfeld von Berufsethos und Eigeninteresse
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ten Visitenzeiten, seine Rückkopplung auf den Pflegebedürftigen.7 Indem sie aber gemäß Wortlaut des Ethikkodex allein mit ihrer Funktion begründet wird, pflegerische Kompetenz zu gewährleisten, wird die Gesundheit der Pflegenden hinsichtlich ihrer Dienlichkeit für die Berufsausübung instrumentalisiert. Eine solche Instrumentalisierung steht dem Menschenwürdebezug in der Präambel klar entgegen. Denn es ist bei allen Kontroversen um eine inhaltliche Konkretisierung des Würdeprinzips herrschender Konsens, dass es sich in seinem Namen verbietet, Menschen allein in den Kategorien von Zweckmitteln zu denken und ihren darüber hinausgehenden prinzipiellen Subjektstatus zu missachten [Knoepffler 2004]. Der ICN-Ethikkodex erweckt angesichts dieser Erwägungen den Eindruck, Pflegende gerade nicht in ihrem eigenen Personsein und damit nicht selbst als Gegenstand moralischer Bemühungen zu erfassen. Das dritte Kapitel bezieht sich auf die Verantwortung der Pflegenden für ihren Berufsstand im Gesamten. Unter dem Titel „Pflegende und ihre Profession“ heißt es: „Die Pflegende übernimmt die Hauptrolle bei der Festlegung und Umsetzung von Standards für die Pflegepraxis, das Pflegemanagement, die Pflegeforschung und Pflegebildung. Die Pflegende beteiligt sich an der Entwicklung beruflicher Kenntnisse, die auf Forschungsergebnissen basieren. Über ihren Berufsverband setzt sich die Pflegende dafür ein, dass sichere, sozial gerechte und wirtschaftliche Arbeitsbedingungen in der Pflege geschaffen und erhalten werden.“ [ICN-Ethikkodex 2010] Auch hier wird aufgrund unspezifischer Formulierungen ein stark idealisiertes Bild des Kompetenzbereichs von Pflegepersonen, der u.a. durch eine vollausgelastete Arbeitszeit begrenzt wird, vermittelt. So ist gänzlich unklar, in welcher Weise die vielfältigen o. g. „Hauptrollen“ der Pflegenden zu verstehen sind. Sollen Pflegende diese herausragende Stellung in unmittelbar aktiver Form einnehmen und damit neben ihrer täglichen Pflegearbeit als Pflegemanager, -forscher und Bildungsbeauftragte ihre Berufsstandards reflektieren? Denkbar ist lediglich, dass ihre relevanten Erfahrungen und Ansichten in indirekt-repräsentierter Form in die Diskussion um Pflegestandards, -forschung oder -bildung einbezogen werden. So sehen es auch die bisherigen Strukturen der Pflegestandardisierung vor. Die nationalen Expertenstandards werden hierzulande mit wissenschaftlicher Begleitung vom „Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege“ (DNQP) erarbeitet. Es handelt sich dabei um Vertreter aus Pflegewissenschaft, -management, -lehre und -praxis verschiedener Pflegebereiche [DNQP a]. Aktive Hauptrollen bei der Entwicklung von Expertenstandards spielen also nicht jeder einzelne Pflegende selbst, sondern die 14 Mitglieder des Len-
7 Dies betrifft zum einen mangelnde psychosoziale Fürsorge, aber auch technische Fehler wie der Verzicht auf/das Vergessen von dem Einholen gesundheitsrelevanter Informationen, z.B., wenn aus Gründen des Zeitdrucks vor der Insulingabe nicht mehr geprüft wird, ob der Patient bereits gegessen hat.
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kungsausschusses des DNQP, die entweder in der Pflegewissenschaft oder leitenden Funktionen in Pflegeeinrichtungen und -organisationen tätig sind [DNQP b]. Ähnlich ist dies bei den universalen (z.B. ICN, WHO), nationalen (z.B. Sozialgesetzbuch) oder lokalen (z.B. Trägerschaften) Pflegestandards. Nicht zuletzt setzt auch der dritte Absatz dieses Kapitels den Pflegenden erneut in die Bringschuld für gute und faire Arbeitsbedingungen, ohne dabei zumindest ebenfalls ausdrücklich zu betonen, dass der Pflegende selbst als Person ein Anrecht darauf hat. Von den Arbeitszeiten, dem Personalschlüssel und nicht zuletzt dem Verdienst hängt auch jene Beziehungsebene ab, die im Folgenden herausgegriffen wird. Hinsichtlich der wechselseitigen Verantwortung von Pflegepersonen füreinander heißt es im vierten Kapitel: „Die Pflegende sorgt für eine gute Zusammenarbeit mit ihren Kolleginnen und mit den Mitarbeitenden anderer Bereiche. Die Pflegende greift zum Schutz des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft ein, wenn deren Wohl durch eine Pflegende oder eine andere Person gefährdet ist.“ [ICN-Ethikkodex 2010] Zunächst ist festzuhalten, dass eine gute Arbeitsatmosphäre sowohl innerhalb des Pflegebereichs als auch zwischen Pflegern und Ärzten bzw. anderen Berufsgruppen ein berechtigtes Anliegen des Ethikkodex darstellt. Allerdings wird hier eine wesentliche Dimension vernachlässigt. Gerade die gute Zusammenarbeit hängt in vielen Fällen nicht so sehr von der Bereitschaft und dem guten Willen der Beteiligten ab, sondern den zugrunde liegenden Rahmenbedingungen. Wenn die Pflegenden durch Arbeitsanforderungen überfordert werden, wenn also beispielsweise zu viele Pflegebedürftige in zu kurzer Zeit zu versorgen sind, dann wirkt sich das negativ auf das Arbeitsklima aus und erschwert eine gute Zusammenarbeit. Es wird hier systematisch die Bedeutung der Handlungsebene der Pflegenden überschätzt und die unter 3.3 benannte wichtige Rolle der Arbeitsbedingungen für das Gelingen pflegerischer Arbeit nicht aufgegriffen. Damit wird erneut der Anforderungsdruck auf die einzelne Pflegekraft erhöht, statt Regeln zu ihrer Entlastung klar zu benennen. Der zweite Passus verdankt sich der Tatsache, dass das Wohl des Einzelnen, der Familie und der Sozietät in pflegerischen Kontexten besondere Herausforderungen erfahren kann. Im Fall des einzelnen Pflegebedürftigen selbst ist dies sofort einleuchtend, ist er doch körperlich oder psychisch erkrankt, verletzt oder geschwächt und damit im Ernstfall meist nicht ausreichend zur Selbsthilfe in der Lage. Besonders ältere oder demente Personen können meist nicht selbst einschätzen, ob ein pflegerischer Vorgang, etwa die Medikamentengabe oder die Umlagerung im Bett, fehlerfrei vonstatten geht. Beobachtet eine Pflegeperson die mögliche Gefährdung des Pflegebedürftigen durch einen falsch ausgeführten Pflegehandgriff, gehört es zu ihrer berufsethischen Verpflichtung, zu seinem Wohl zu intervenieren. Gleiches gilt etwa, wenn zu Pflegende durch ihre Angehörigen oder andere Patienten Schaden erleiden. Allerdings bezieht der Text des Kodex erneut das Wohlergehen des Pflegenden selbst nicht ein, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens lässt sich aus dem Text
15.3 Der Pflegende im Spannungsfeld von Berufsethos und Eigeninteresse
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nicht erschließen, dass auch der umgekehrte Fall denkbar ist und es sich bei dem schützenswerten „Einzelnen“ um einen Pflegenden handeln kann, der durch Handlungen seitens des Pflegebedürftigen oder eines Anderen Schaden erfährt. Zweitens fehlt die Anmerkung, dass Pflegepersonen im Zuge ihres Eingreifens nicht ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen sollten. Diese Bemerkung ist deshalb nicht trivial, weil die gewählte Formulierung „Gefährdung für das Wohl“ eine ganze Reihe schwieriger Umstände einschließen kann, in denen Pflegende ihrer Interventionsverpflichtung nur mit großem physischen oder psychischen Aufwand nachkommen können. Wird z.B. ein demenziell Erkrankter von seinen Angehörigen dauerhaft vernachlässigt („abgeschoben“) oder unter Druck gesetzt, gegen seinen Willen in der Einrichtung zu verbleiben, kann diese psychosoziale Beeinträchtigung durch eine Pflegefachkraft kaum bzw. sehr wahrscheinlich nur auf kräftezehrende Weise kompensiert werden. Noch unübersichtlicher wird die Forderung, wenn über den Einzelnen hinaus vom Wohl „der Familie und der sozialen Gemeinschaft“ die Rede ist. Sicherlich kann es gerade im pflegerischen Kontext zu verschiedenen Konfliktsituationen kommen, in denen das Wohl der Familie bedroht ist. Hinzu kommt, dass familiäre Unterstützung für das Wohl des einzelnen Pflegebedürftigen oft von entscheidender Bedeutung ist. Aus diesem Grund sollte ausreichend Raum für familiären Kontakt geschaffen werden, indem bspw. offene Besuchszeiten eingerichtet oder ein gleichzeitig stationiertes älteres Ehepaar nicht räumlich getrennt werden. Beschränkte sich der ICNEthikkodex auf die Formulierung solcher „familienorientierter Rahmenbedingungen des Pflegeprozesses“, könnte er eine hilfreiche Orientierungsstütze bieten. Stattdessen scheint o. g. Aufzählung nahezulegen, dass die Familie als ideelles Konstrukt in den Kernbereich der moralischen Verantwortung eines Pflegenden fällt. Für das Verhältnis zwischen Pflegenden und der „sozialen Gemeinschaft“ gelten ähnliche Überlegungen. Wenn Pflegepatienten für die ihn umgebende Sozietät beispielsweise durch vernachlässigte oder übertriebene Körperpflege zur Belastung werden, entsteht für den Pflegenden ein Wertkonflikt zwischen zwei berufsethischen Ansprüchen: Einerseits gehört Entscheidungsfreiheit über die eigene Körperhygiene zur Autonomie des Pflegebedürftigen, andererseits fühlen sich Andere in der Pflegeeinrichtung durch eine Geruchsbelästigung beeinträchtigt. In der Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und dem Wohl der Gemeinschaft kann sich die Pflegeperson zunächst an ihrer im ICN-Ethikkodex bekräftigten Erstverantwortung für den Pflegebedürftigen orientieren. Das bedeutet, dass sie seine Gewohnheiten nicht einfach unterbinden, sondern andere Lösungswege gehen sollte. Sie könnte etwa versuchen, ihm das Anliegen seiner Mitmenschen verständlich zu machen. Sie könnte herausfinden, ob etwas Bestimmtes hinter seinen Handlungen steckt, über das sich Teillösungen oder Kompromisse für das Problem finden lassen. Falls alle Bemühungen aber zu keinem Ergebnis führen, sieht sich die Pflegeperson in einem festgezurrten Dilemma zwischen zwei moralischen Aufträgen, für die ihr auch der ICN-Ethikkodex keine Handreichung bietet.
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15.3.3 Schlussbemerkungen Der Ethikkodex des ICN trägt in Bezug auf wichtige berufsethische Anforderungen zu einem gemeinsamen Werteband von Pflegepersonen bei, das auf dem Bekenntnis zum universalen Menschenrechtsprinzip beruht. Mit seinen Ausführungen zur informierten Einwilligung, dem Prinzip der Vertraulichkeit sowie der Verantwortlichkeit für die eigene Pflegekompetenz enthält er weltweit anzuerkennende Normen. Viele seiner über diese Kernverpflichtungen hinausgehenden Forderungen betreffen aber, wie bspw. die Mitverantwortung für Umweltbelange, berufsspezifische Problembereiche nicht mehr und sind zudem höchst unspezifisch formuliert. Sie können dadurch den moralischen Anspruch der Pflegeprofession möglicherweise überstrapazieren und ein idealisiertes Berufsbild lancieren, das an der Innenperspektive von Pflegenden vorbeigeht. Genau in diesem Sinne stellen sie eine Überforderung für ihre Adressaten dar. Der ICN-Ethikkodex sollte sich darum auf konkrete Regelungen im Problemfeld des beruflichen Ethos fokussieren. Dieses betrifft den Umgang mit zu Pflegenden wie Mitarbeitenden und die bestmögliche Wahrung pflegerischer Kompetenz vor dem Hintergrund der relevanten ethischen Prinzipien Respekt vor der Patientenautonomie, Nichtschadens- und Fürsorgeprinzip. Soll der ICN-Ethikkodex, wie seine Verfasser es wünschen, „verstanden, verinnerlicht und von den Pflegenden in allen Aspekten ihrer Arbeit angewandt werden“ [ICN-Ethikkodex 2010], gilt es also, problemnahe Orientierungsgrundsätze für den ethischen Entscheidungsfindungsprozess zu liefern. Das Problem der allgemeinen Formulierungen liegt allerdings auch darin begründet, dass sich das Dokument an die Gesamtheit eines Berufsstandes und nicht allein an dessen Praxisbereich richtet. Dementsprechend empfehlen die beigefügten Anwendungsvorschläge, seine Adressaten sollen „[ü]ber die Bedeutung der einzelnen Normen nachdenken und überlegen, wie diese in ihrem Pflegebereich anzuwenden sind: in der Praxis, Ausbildung, Forschung oder im Management“ [ebd.]. Für die genannten Bereiche sind anschließend Hinweise verfasst, wie eine Umsetzung der Kodexbestimmungen gestaltet werden kann. Erst diese Hinweise geben dem Kodex klarere Konturen und tragen den jeweiligen Möglichkeiten der einzelnen Arbeitsgebiete annähernd Rechnung.8 Es wäre zu wünschen, dass es den Verfassern einer zukünftigen Version gelingt, bereits im Hauptteil des Kodex diese wichtigen Differenzierungen in Hinblick auf ihre moralischen Anspruchshaltungen zu berücksichtigen. Dies gilt umso mehr, als Deutschland zu den wenigen Ländern Europas gehört, in denen die Erstausbildung von Pflegeverantwortlichen noch nicht vollständig akademisiert ist. In Hoch- oder Fachhochschulen implementiert wurden
8 Hiernach besteht zum Beispiel der im Hauptteil geforderte Beitrag zum forschungsbasierten Erkenntnisfortschritt für Pflegende in Praxis und Management darin, „pflege- und gesundheitsbezogene Forschungsarbeiten am Arbeitsplatz [zu unterstützen] und […] zur Verbreitung und Umsetzung ihrer Ergebnisse [beizutragen]“ [ICN-Ethikkodex 2010].
15.3 Der Pflegende im Spannungsfeld von Berufsethos und Eigeninteresse
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bisher lediglich weiterführende Studiengänge wie Pflegepädagogik, -management und -wissenschaft. Die Autonomisierung dieser Bereiche profitierte davon nachweislich, gerade hier konnten neue Aufgabenstellungen wahrgenommen und Arbeitsfelder geschaffen werden [Kuhlmey et al. 2011]. Solange diese Professionalisierungsbestreben jedoch lediglich Teilgebiete der Pflege umfassen und Absolventen von Pflegestudiengängen mehrheitlich in koordinierenden, administrativen oder wissenschaftlichen Ämtern bleiben [ebd.], ist das Qualifikationsniveau von Pflegenden verschiedener Teilbereiche höchst uneinheitlich. Darüber hinaus zeigt, wie Dieterich und Kreißl herausstellen, der internationale Blick auf die Ausbildungssituation in Deutschland, „dass die (…) Kriterien zur Definition des pflegerischen Ausbildungsniveaus, die sich in den Dimensionen ‚Komplexität der Patientensituation‘, ‚Ausmaß des Wissens und des Wissenstransfers‘ sowie ‚Umfang der Entscheidungskompetenz‘ entfalten, hierzulande weitgehend unbekannt sind“ [Dieterich/Kreißl 2010]. Entsprechend kritisch wird der aktuelle Stand der Evidenzbasierten Pflege (Evidence-based Nursing – EbN) eingeschätzt – ein Konzept, das den strukturellen Einbezug neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Pflegepraxis zum Ziel hat, den auch Artikel 3 des ICN-Ethikkodex nahezulegen scheint. Nach einer jüngsten Analyse von Meyer, Balzer und Köpke sticht Deutschland im internationalen Vergleich auch hier durch eine unterentwickelte Implementierung heraus [Meyer et al. 2013]. Eine tendenziell skeptische Grundhaltung zur forschungsgestützten Pflegepraxis geht Hand in Hand mit einem geringen methodischen Vorwissen und Fehlvorstellungen über EbN einerseits, aber auch unzureichenden Umsetzungsmöglichkeiten bzw. mangelnder Unterstützung im praktischen Setting andererseits [ebd.]. Die entscheidenden Stellschrauben zeigen sich erneut in zwei ineinander greifenden Momenten: erstens der Ausbildungssituation, da sich bereits hier die Bedingungen für EbN-Bereitschaft grundlegen. Basale wissenschaftliche Kenntnisse können Pflegende qualifizieren, Studien zu lesen, Statistiken zu verstehen und pflegepraktische Schlussfolgerungen aus den gewonnenen Erkenntnissen zu ziehen. Zum Zweiten gelingt eine erfolgreiche Praxisumsetzung nur in Kontexten, die dafür Freiräume bereithalten. Chronischer Zeitmangel und zu hohe Arbeitsdichte im realen Arbeitsalltag beschränken diese Freiräume systematisch, sie gehören gemäß aktueller Surveys zu den größten Hürden, denen sich Pflegende bei der EbN-Umsetzung gegenüber sehen [ebd.]. Aus diesen Gründen steht die professionelle Pflege in Deutschland hinsichtlich vieler Anforderungen des ICN-Ethikkodex‘ nicht auf einer Stufe mit der Mehrheit anderer europäischer Länder, in denen professionell Pflegende insbesondere gegenüber der Ärzteschaft über mehr Kompetenz zu eigenverantwortlichem Handeln verfügen. Von diesen besonderen „Übersetzungs“-Schwierigkeiten des ICN-Ethikkodex’ jedoch abgesehen, erlauben die gegenwärtigen Formulierungen im Kodex eine Lesart, die auf eine Funktionalisierung von Pflegenden hindeutet. An keiner Stelle lassen sich Regelungen finden, die den Pflegenden zur Wahrung seines berechtigten Eigeninteresses anhalten oder die Gefahren altruistischer Verausgabung als eigenes
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moralisches Problem des Pflegeberufs wahrnehmen.9 Lösungsvorschläge könnten lauten, den Blick auf das eigene Wohl der Pflegenden 1. von jeglicher Funktionalität zu trennen und 2. in das erste Kapitel hineinzunehmen, da die Pflegenden selbst zum Kreis der von Pflegepraxis in höchstem Maße Betroffenen zählen. Die Bedeutung verträglicher Arbeitsbedingungen wie angemessene Dienstzeiten und Personalschlüssel bzw. praktikable Aufgabenstellungen, ist 3. nicht vom Wohl der Pflegenden losgelöst zu betrachten, sondern genau daran anknüpfend hervorzuheben. Diese – selbst ethischen – Überlegungen zum ICN-Ethikkodex sollen dazu dienen, Pflegende nicht vornehmlich als Ausführende, sondern auch als eigenen Grund und Gegenstand moralischer Überlegungen wahrzunehmen.
15.4 Frauen in informeller Pflegeverpflichtung Elisabeth Simoes 15.4.1 Einführung Gesellschaftliche Pflegeverantwortung wird in sehr verschiedenen Ansätzen wahrgenommen. Sie unterscheiden sich nicht nur durch die Rahmenbedingungen, Finanzierungsform und die Grade von Professionalisierung, sondern auch in der Wahrnehmung durch die Gesellschaft. Ein großer Teil der Hilfe und Pflege für erkrankte, behinderte oder ältere Menschen wird im deutschsprachigen Raum im häuslichen Bereich durch Angehörige aus dem nahen sozialen Umfeld erbracht [Lichte et al. 2005]. Es handelt sich dabei um einen in seinem Umfang letztlich unbekannten, aber sicher überwiegenden Teil. Mit Blick auf eine zukunftsfähige Pflege in Wertschätzung und Würde für die Gepflegten kommt informell Pflegenden aus dem persönlichen Kontext eine besondere Bedeutung zu. Das informelle Netz pflegt und betreut mit oder ohne Unterstützung durch professionelle Hilfe. Pflege als gesellschaftliche Verpflichtung und Konzeption findet in den bisherigen Strukturen kaum Niederschlag, vielmehr eine ausgeprägte Individualisierung der Pflegeverantwortung im häuslichen Bereich. Von besonderer Bedeutung ist die Thematik für Frauen, sei es in der Rolle als Pflegende oder als diejenigen, die Pflege benötigen. Informelle Pflegearbeit in häuslicher Umgebung wird hauptsächlich von Frauen geleistet [Landesfamilienrat BadenWürttemberg 2010]. Andererseits sind es in höherem Alter insbesondere Frauen, die alleinstehend, pflegebedürftig – und erschwerend, oft in ungünstiger finanzieller Situation – sind. Gender-Aspekte bedürfen beim Thema Pflege spezieller Beachtung [Arksey/Morée 2008].
9 Auch in den Anwendungsvorschlägen ist beispielsweise das Ziel aller Gesundheitsbemühungen für das Personal, „… dass es seine Arbeit bestmöglich verrichten kann …“ [ICN-Ethikkodex 2010].
15.4 Frauen in informeller Pflegeverpflichtung
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15.4.1.1 Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe Für Deutschland stellt § 8 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) die Pflegeverpflichtung als gemeinsam getragene Verantwortung in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang: „Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“. Wenn man die Situation von Frauen in Bezug auf Pflege und Pflegeverantwortung in den Blick nimmt, gilt es insbesondere zu beleuchten, in wieweit sich darin die grundlegende Maßgabe der deutschen Sozialgesetzgebung widerspiegelt. Der Beitrag widmet sich dem Bereich der sogenannten informellen Pflege. In diesem Kontext kommt Frauen in Pflegeverantwortung eine Bedeutung zu, deren Ausmaß weder ausreichend verstanden noch definiert ist. Der Text versteht sich daher als Beitrag zu einer Ortsbestimmung aus Situations- und Problemdarstellung, der Forschungs- und Regelungsbedarf erkennen lässt. Oft über viele Jahre stellen insbesondere Frauen die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger im häuslichen Kontext sicher. Man diskutiert derzeit eine durchschnittliche Pflegedauer zwischen zwei und acht Jahren [Emrich et al. 2012, Koppelin 2008]. Wenn Frauen somit eine zentrale Säule in der gesellschaftlichen Pflegeverantwortung darstellen, dann interessieren einmal deren Stabilität und – mit Blick auf die Zukunft – Strömungen und Entwicklungen, die diese Stabilität infrage stellen könnten (s. Tab. 15.1). Tab. 15.1: Gesellschaftliche Komponenten mit Einfluss auf die Stabilität informeller Pflege. Mit der Stabilität von informeller Pflege als Säule des gesamtgesellschaftlichen Demographic Change Management interferieren gesellschaftliche Komponenten aus sehr unterschiedlichen Bereichen. Entwicklung der Altersstruktur in der Gesellschaft Anteil von Männern und Frauen (Male-Female-Ratio) in unterschiedlichen Altersgruppen Entwicklung der finanziellen Rahmenbedingungen für die Pflege (Pflegebedürftigen) Entwicklung der finanziellen Rahmenbedingungen für die pflegenden Personen (einschl. Berufs einnahmen, Einkommenssituation des gesamten in die Pflegeverpflichtung eingebundenen sozialen Settings, Altersversorgung u.a.) Berufsbindung von Frauen Umsetzung von Gleichstellungskonzepten (Gender mainstreaming) Kollektive Rechte (Gesetzgebung, Betriebsvereinbarungen u.a.) Werthaltungen in der Gesellschaft Variabilität der Ausgestaltung durch individualisierende Zuschreibung von Pflegeverantwortung Einkommenslage einer Bevölkerung
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15 Situation der Pflegenden
15.4.1.2 Pflege im Kontext gesundheitlicher Chancengleichheit Eine Gesundheitspolitik, die dem Anliegen Frauengesundheit dient, korrespondiert zum Vorstoß der Vereinten Nationen [Kickbusch 2012] Advancing the Global Health Agenda, der neben anderen beispielsweise wirtschaftlichen Komponenten von Gesundheit die gesundheitliche Chancengleichheit als hohen sozialen Wert herausstellt. Dies erfordert den Blick auf die sozialen Determinanten von Gesundheit, die Sicherung von Zugänglichkeit zu medizinischen und (psycho-)sozialen Unterstützungsleistungen und die Förderung von Gesundheitsmündigkeit – und zwar im gender-gerechten Ansatz. Auch vor diesem Hintergrund kommt dem Thema Pflege eine besondere Bedeutung zu: sie berührt Frauengesundheit und gesundheitliche wie gesellschaftlich-soziale Chancengleichheit gleichermaßen und kann daher nicht ohne Blick auf die gesundheitspolitische Perspektive der Thematik auskommen. Die nachfolgend dargestellten ausgewählten Aspekte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, fokussieren daher auch auf Versorgungsgestaltung und Gesundheitsförderung für Frauen in Pflegeverpflichtung.
15.4.1.3 Erfassung in Begriffen und Statistiken Uneinheitlichkeit zeigt sich bei der Zuordnung, wer als pflegerisch tätig gilt [Lilly et al. 2007, Schneider et al. 2006]. In der professionellen Pflege tätige Personen sind nach SGB XI definiert als Pflegefachkraft (§ 71)10. Pflegepersonen sind nach § 19 SGB XI Personen, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen im Sinne des § 14 in seiner häuslichen Umgebung pflegen11 – wobei der Bezug auf § 14 SGB XI eine Eingrenzung auf Pflegetätigkeiten im Sinne des Gesetzes beinhaltet. Dieses Verständnis zählt zu den engeren Definitionen, die dann gelten, wenn pflegende Angehörige Unterstützung in der körpernahen Pflege leisten (z.B. Hilfe beim Anziehen oder beim Gehen). Weiter gefasste Definitionen umfassen Unterstützungsleistungen beispielsweise im Rahmen von distance caregiving [Neal et al. 2008]. Auch informelle Hilfe zählt dazu, die bei finanziellen oder rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Behinderung oder Erkrankung geleistet wird. Hinzu kommt, dass sich informelle Freiwilligenhilfe nicht scharf von den Leistungen der pflegenden Angehörigen trennen lässt, z.B., wenn eine Nachbarin stärker in die unbezahlte Hilfe zu Hause eingebunden ist als entfernt lebende Verwandte. Außerdem bleibt zu unterscheiden zwischen HauptPflegeperson(en) und an der Pflege Beteiligten. Diese Unschärfen erschweren die Ortung und den Vergleich. In der öffentlichen Statistik (Vollerhebung) zu ambulan-
10 nach einer Ausbildung als: 1. Gesundheits- und Krankenpflegerin oder Gesundheits- und Krankenpfleger, 2. Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder 3. Altenpflegerin oder Altenpfleger 11 Leistungen zur sozialen Sicherung nach § 44 erhält eine Pflegeperson nur dann, wenn sie eine oder mehrere pflegebedürftige Personen wenigstens 14 Stunden wöchentlich pflegt.
15.4 Frauen in informeller Pflegeverpflichtung
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ten und stationären Pflegeeinrichtungen, -leistungen (orientiert an den Pflegestufen) und über die Empfänger von Pflegeleistungen als Pflegebedürftige nach den Definitionen der deutschen Sozialgesetzgebung schlägt sich die Pflege durch Angehörige bzw. sonst nahestehende Personen in der Zahl der Pflegegeldempfänger nieder [Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010]. Wohl die Mehrzahl an Personen, die sich in der informellen Pflege einbringen, finden in diesen Statistiken auf Basis der Erfassung von Pflegestufen keinen Niederschlag, sind also auch den Sekundärdatenanalysen nicht zugänglich. Die Vielfalt informeller (unbezahlter) Pflege gehört zu den in Deutschland unzureichend abgebildeten Ebenen.
15.4.2 Pflege hat (noch) ein weibliches Gesicht 73 Prozent der pflegenden Angehörigen im erwerbsfähigen Alter sind nach Umfrageergebnissen Frauen. Ihr Anteil an den Nichterwerbstätigen beläuft sich auf 45 Prozent [IfD Allensbach 2010], das sind 15 Prozent mehr als in der Gesamtbevölkerung und 10 Prozent mehr als unter allen Frauen [Emrich et al. 2011]. Einer anderen repräsentativen Befragung zu Folge sind in Deutschland 83 Prozent der Hauptpflegepersonen weiblich [Schneekloth 2005]. Daraus resultiert eine besondere Notwendigkeit, die geschlechtsspezifischen Dimensionen informeller Pflegearrangements zu beleuchten und dabei Lebens- und Arbeitswelt einzubeziehen. Gleichzeitig scheint die Selbstverständlichkeit der privaten Pflege zu schwinden. So geht der Landesfamilienrat BadenWürttemberg [2010] von zukünftig potenziell weniger Pflegenden aus, beispielsweise durch den demographischen Wandel mit immer mehr älteren, z.T. selbst pflegebedürftigen Menschen bzw. Angehörigen, die Mulitlokalität von Familien und steigende Frauenerwerbstätigkeit. Zunächst stellt sich demnach die Frage nach der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Pflege vorwiegend für Frauen. Dass die Vereinbarkeitsproblematik (s. Kap. 15.4.4.1.) zunehmend auch für Männer zu diskutieren ist, dafür sprechen die gesellschaftspolitische Brisanz des steigenden Pflegebedarfs, gleichstellungspolitische Bemühungen und der gewünschte Vorrang „ambulant vor stationär“. Die Notwendigkeit, jetzt und in Zukunft verstärkt gesamtgesellschaftlich an einer angemessenen Vereinbarkeit von beruflicher Einbindung und Sorgeverpflichtungen zu arbeiten, zeichnet sich auch darin ab, dass die Altersverteilung bereits in vielen Entwicklungsländern eine Verschiebung hin zu höheren Altersgruppen zeigt [Kinsella/Velkoff 2001] und Einwanderung aus diesen Ländern zur Lösung der Pflegeproblematik hierzulande zumindest mittelfristig keine Perspektive mehr sein kann.
15.4.2.1 Frauen pflegen länger und anders Wenngleich geschlechtsspezifische Zuständigkeiten entsprechend der Konzeption des gender mainstreaming immer mehr in den Hintergrund treten und in Arbeitsund Lebenswelt zunehmend eine geringere Rolle spielen sollen, scheint die Pflege-
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realität diesen Anspruch (noch) nicht widerzuspiegeln. Familienfreundlichkeit als Konzept in Betrieben oder Verwaltungen beginnt nur langsam über die Aufgaben für die Erziehung von Kindern hinaus [von der Leyen 2012] auch den Blick auf Pflegeverpflichtungen zu richten und in Zertifizierungsgepflogenheiten Eingang zu finden. Die Ehepartnerpflege stellt zusätzliche Herausforderungen – für Frauen und Männer gleichermaßen. Vergleicht man die Altersgruppenanteile von pflegenden Frauen und Männern auf der Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) der Jahre 2001 bis 2009 (Angaben in Prozent, alle pflegenden Frauen = 100, alle pflegenden Männer = 100), so sieht man, dass Frauen bereits in früheren Lebensphasen pflegen: In der Altersgruppe von 17 bis 19 Jahren sind es 2,5 Prozent Frauen versus 1,8 Prozent Männer. Der Frauenanteil nimmt rasch zu, in der Altersgruppe von 40 bis 44 Jahren sind es bereits zwei Drittel Frauen, die pflegen. den höchsten Anteil an pflegenden Frauen erreicht die Altersgruppe von 50 bis 54 Jahren (11,5 Prozent Frauen versus 5,2 Prozent Männer). Erst ab der Altersgruppe von 75 bis 79 Jahren und höher überwiegt der Anteil der Männer [Rothgang et al. 2011]. Die Übernahme von informeller Pflegeverpflichtung trifft Frauen demnach in Phasen des Lebenswegs, die Lebenskonzept- und Karrieregestaltung beeinflussen: so die jungen Jahre, die der grundlegenden Orientierung dienen und das mittlere Lebensalter, bei dem wiederum Weichenstellungen anstehen: Ausmaß, Art und (Rest-)Dauer der Erwerbstätigkeit etwa, wobei in diese Phase auch besondere Probleme am Arbeitsmarkt für viele Frauen in dieser Altersgruppe fallen. Unterschiedliche Gestaltung von Pflege, wenn sie von Frauen oder Männern geleistet wird, fordert zum Nachdenken über die Ursachen auf: Männer in Pflegeverantwortung nehmen häufiger Unterstützungsangebote in Anspruch als pflegende Frauen. Neben möglichen Erklärungen wie Unterschiede in Sozialisation oder Selbstanspruch, die dafür herangezogen werden, sollte insbesondere die Ebene zur Verfügung stehender finanzieller Ressourcen zum Einkauf von Supportleistungen nicht außer Acht bleiben, die sich in Zeiten der zunehmenden Armutsgefährdung älterer Frauen mit Brisanz präsentiert (s.u.)
15.4.2.2 Informelle Pflege und ihre gesellschaftliche Bedeutung Über zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause durch ihre Angehörigen betreut, von denen wiederum nur ein Drittel von professionellen Diensten unterstützt wird [Landesfamilienrat Baden-Württemberg 2010]. Art und Höhe der für diese Pflege älterer Mitglieder der Gesellschaft eingesetzten Ressourcen sind offenkundig hinsichtlich der Kosten, die in Form von direkten Ausgaben beispielsweise für professionelle Pflegedienste anfallen. Weit weniger Beachtung findet der Einsatz von Finanzen für Pflege, die informell geleistet wird. Direkte Kostenkomponenten sind ebenso wie indirekte (z.B. entgangene Erwerbsmöglichkeiten der pflegenden Personen) in Rechnung zu stellen [Mühlmann et al. 2007].
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Die gesellschaftliche Bedeutung informeller Pflege setzt sich aus unmittelbar monetären Aspekten und stabilisierenden Faktoren für Lebens- und Arbeitswelt zusammen. Der informellen Pflege kommt ein bislang nur in Schätzungen gefasster Anteil an der gesellschaftlichen Gesamtaufgabe zu. Zum finanziellen Ausmaß belegen Zahlen, dass Frauen auch hierbei den überwiegenden Teil beisteuern. Bereits im Jahr 1997 wurde in der Schweiz der ökonomische Wert häuslicher Pflege durch nicht-professionell Pflegende auf zehn bis zwölf Milliarden Franken geschätzt [Blanc 2003]. Für in Zusammenhang mit informeller Pflege geleistete Arbeitsstunden in Österreich (Mikrozensus 2002) ergäbe sich auf Basis der durchschnittlichen Bruttostundenlöhne ein Wert der informellen Pflegeleistung von 2,58 Milliarden Euro pro Jahr. Davon entfallen auf Frauen 1,67 Milliarden Euro, auf Männer als Pflegende 0,91 Milliarden Euro [Mühlberger 2008]. Aufgrund der demographischen Entwicklung wird mit einer steigenden Zahl der Pflegeleistungsbezieher gerechnet. Zusätzlich zu Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung in Deutschland werden es in Anbetracht zunehmender Armutsgefährdung in der Bevölkerung [Deutsche Bundesregierung 2012] vermehrt auch soziale Stützungszahlungen sein, die anfallen. Hinzu kommen nach deutscher Rechtslage Leistungen von privater Hand, nämlich ergänzende Zahlungen von Angehörigen, wenn das Einkommen der zu Pflegenden für den Pflegeaufwand finanziell nicht ausreicht. Diese Zahlungen bewirken Verschiebungen in der Einkommenssituation von Haushalten und ziehen mittelfristig gesamtwirtschaftliche Folgen nach sich, deren Ausmaß weder mittel- noch langfristig quantifiziert ist, in die jedoch die gesamte Breite des Problemfelds Armut und Gesundheit mit einzubeziehen ist. Der Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts benennt die finanzielle Problematik in Pflegesituationen und weist darauf hin, dass sich Familien mit niedrigem Einkommen oft aufgrund von Kostenabwägungen für die häusliche Familienpflege entscheiden [Deutsche Bundesregierung 2012]. Ein Pflegefall in der Familie führt nicht selten zu spürbaren finanziellen Einschränkungen. Die Zuschüsse aus der Pflegeversicherung reichen für die anfallenden Ausgaben zumeist nicht aus [Emrich et al. 2012]. In die Antwort auf eine anstehende Sorgeverpflichtung gehen die Rahmenbedingungen, auch finanzieller Art, jedoch mit ein (vgl. unten) [Williams et al. 2003]. Wenn weithin davon ausgegangen wird, dass die Zeit, in der die Gesellschaft auf die „kostendämpfende wie stille und meist weibliche Reserve“ in der informellen Pflege zurückgreifen konnte, zu Ende geht, gilt es, diese Stellgrößen zu identifizieren.12 Komplexe Wechselwirkungen zwischen der sozialen Unterstützung, Pflegebelastung und Pflegebewältigung sind während eines Pflegeweges für alle Beteiligten in Rechnung zu stellen. In welchem Ausmaß sie sich prägend auf den Verlauf auswirken, ist letztlich
12 Deutsches Ärzteblatt. Politik: Minister planen Maßnahmen gegen Pflegekräftemangel. Dienstag, 8. Februar 2011 URL: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/44620/Minister-planen-Massnahmengegen-Pflegekraeftemangel (Zugriff am 23.09.2013)
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unbekannt, das Wissen darum jedoch wesentlich für eine Suche nach passgerechten Lösungsstrategien. Demographische, ökonomische und soziale Bedingungen wirken sich durch reaktive Verhaltensänderung auf die Verfügbarkeit von informell Hilfeleistenden aus. Studienergebnisse verdeutlichen [Yoo et al. 2004]: Wenn beispielsweise eine knappe Mittelbereitstellung in der Gesellschaft (aus direkten staatlichen Mitteln oder über Versicherungsverhältnisse) Frauen dazu veranlasst, aus Beschäftigungsverhältnissen auszusteigen, um Pflege für ältere Angehörige selbst zu leisten, können die geringeren Steuereinnahmen aus entgangener Erwerbsarbeit zu einer weiteren Verknappung der öffentlichen Mittel führen. Eine umfangreichere Bereitstellung von Mitteln muss somit nicht notwendigerweise höhere Ausgabe für Langzeitpflege implizieren, könnte hingegen weitere positive Effekte auslösen. Scheidungsraten oder die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses nehmen ebenso Einfluss auf die Ausgaben für Langzeitpflege wie die Einkommenssituation in einer Bevölkerung an sich. Hinzu kommen persönliche Aspekte (vgl. unten).
15.4.3 Situation der Pflegenden Mit der Übernahme einer Pflegeverpflichtung entsteht eine neue Situation, die in der Regel ein Einfinden erfordert. Angesichts des komplexen, erst mit der Zeit erfolgenden Identifikationsprozesses als Pflegeperson, den eine Person durchläuft, stehen am Anfang eher unbewusste Verhaltensänderungen [O´Connor 2007]. Es benötigt Zeit, um sich der Position als pflegende Person bewusst zu werden und diese Position Teil der eigenen Identität werden zu lassen. O´Connor nennt als Gründe hierfür mangelnde Zeit zur Reflexion über die Veränderungen, aber auch innere Widerstände beispielsweise gegen das Eingeständnis, dass die Beziehung zur gepflegten Person zunehmend an Gegenseitigkeit verliert. Erst nach Reflexion der besonderen Situation jedoch eröffnen sich für die Pflegenden Möglichkeiten, bewusst auch formelle Anpassungen etwa im Berufsleben vorzunehmen. Unterstützung in diesem Prozess ist oft weitstreckig nicht gegeben. Hilfestellung bieten könnten gegebenenfalls medizinisches Personal, Pflegestützpunkte oder professionelle Dienste, aber auch sozialmedizinische Gutachterdienste.
15.4.3.1 Zusammenwirken von sozialen und gesundheitlichen Faktoren Obliegt einer Frau einer Pflegeverpflichtung, verknappt sich das Zeitbudget, das für andere Aktivitäten zur Verfügung steht. Es kommt zu Konkurrenzsituationen zwischen den verschiedenen Beanspruchungen bzw. Anspruch stellenden Personen, auch innerfamiliär oder zwischen verschiedenen sozialen Bereichen. Durchgängig belegen Studien eine Verkürzung der Freizeit: Pflegende Angehörige schränken immer weitergehend ihre Freizeitaktivitäten, darunter auch ehrenamtliche Arbeit oder Unterhal-
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tung privater Kontakte, zugunsten der Pflegetätigkeit ein [Schneider et al. 2001]. In diesen Zusammenhang fallen auch Einschränkungen bei Aktivitäten für das gesundheitliche Wohlergehen der Pflegenden selbst. Dies hat gesellschaftliche Auswirkungen über die Einflussnahme auf die Beteiligung in Erwerbsarbeit und ehrenamtlichem Engagement hinaus, welche zu Unrecht weit weniger Aufmerksamkeit erhalten. Pflegeverpflichtung bringt körperliche und seelische Belastungen mit sich. Gleichzeitig kumulieren gesundheitliche und soziale Beeinträchtigungen: Häufig wird die Erholungszeit von informell pflegenden Berufstätigen, sei es in Form von täglicher Freizeit oder Urlaubstagen, der Pflegetätigkeit gewidmet, wie die Literatur durchgängig zeigt [exemplarisch: Schneider et al. 2001]. Ebenso gut dokumentiert ist der Verlust (von günstigenfalls nur Teilen) des sozialen Netzwerks bis hin zur Exklusion [Emrich 2012]. Einzelne Autoren beschreiben eine weniger gesunde Lebensweise, andere betonen die geringe Selbstsorge in der Pflegesituation. Interviews mit pflegenden Töchtern und Ehefrauen geben Einblicke in die Individualität und Bandbreite von häuslicher Pflegeverantwortung und lassen das breite Spektrum subjektiven Belastungserlebens erkennen [Hundt 2005]. Der Rückgriff auf die qualitative Methode problemzentrierter Interviews exemplifiziert das letztlich geringe Wissen über diesen Bereich. Die Inhalte dokumentieren exemplarisch den Alltag, benennen die fehlende (auch oft ärztliche) Unterstützung, den Schmerz der Rollenumkehr und Ängste das eigene Alter betreffend. Die hier zu Wort kommenden Pflegenden sind Beispiel dafür, dass Hilfe von außen selten vorhanden ist und auch nicht immer (aus verschiedensten, noch zu diskutierenden Gründen) in Anspruch genommen wird. Die Inhalte korrespondieren mit Ergebnissen aus einer Befragung von Schneekloth und Wahl [2005]: 42 Prozent der befragten Hauptpflegepersonen geben an, „eher stark belastet“, 41 Prozent der befragten Hauptpflegepersonen „sehr stark belastet“ zu sein, 68 Prozent fühlen sich körperlich als auch seelisch belastet. Menschen in Pflegeverpflichtungen, insbesondere wenn gleichzeitig berufstätig, bewältigen ihre Aufgaben oft in einem sehr straff organisierten Tagesablauf. Die Begrifflichkeit Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie suggeriert, dass eine Balance zwischen den Notwendigkeiten und Anforderungen gleichberechtigter Tätigkeitsbereiche hergestellt werden kann [Dierks 2005]. Wenn sich der Alltag einer pflegenden Angehörigen jedoch anders darstellt, was insbesondere bei Frauen in einer gesamtfamiliären Beanspruchungssituation der Fall sein kann, wird die Ursache dafür häufig im eigenen Verhalten und entsprechend durch persönliche Leistung auszugleichen gesucht (individualisiertes Deutungsmuster). Dies kann zu Konflikten und extremen Belastungssituationen führen. Eine höhere Mortalität und Depressionsneigung bei informellen Pflegepersonen sind beschrieben [Martire/Stephens 2003]. Burnout als Folge [Dautzenberg et al. 2000, Korczak et al. 2010] bedarf als ein sehr unterschiedlich angewandter Begriff auch im Kontext von Menschen in Pflegeverantwortung eines differenzierten Gebrauchs. In den grundlegenden Arbeiten wird das BurnoutSyndrom als Reaktion auf chronische Stressoren im Beruf beschrieben und als das Nachlassen von Kräften oder Erschöpfung durch übermäßige Beanspruchung der
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eigenen Energie, Kräfte oder Ressourcen verstanden. Eine hohe psychische Belastung besteht nach Erhebungen bei professionell Pflegenden in der stationären Langzeitpflege, was als Hinweis auf eine gleichgerichtete Belastung in der informellen Langzeitpflege dienen könnte: Je knapp ein Viertel der Befragten zeigten Zeichen einer hohen emotionalen Erschöpfung bzw. waren in hohem Maß durch reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit belastet [Wolf-Ostermann/Gräske 2008]. Die europäische Vergleichsstudie EUROFAMCARE zum Thema Unterstützung und Entlastung älterer Menschen unternahm eine Befragung von Angehörigen in sechs europäischen Ländern [Meyer 2007]. Auf Fragen u.a. danach, was die Pflegenden sich in ihrer Situation wünschen, wurden vorrangig Erholung, Auszeit, kompetente Ansprechpartner, Information und Beratung benannt. Die Antworten markieren Felder, die bei der Planung von Unterstützung entsprechende Beachtung finden sollten. Ansatzpunkte dafür bieten die Angebote der Pflegestützpunkte ebenso wie ein erweiterter Anspruch an Pflege-Assessments durch sozialmedizinische Begutachtungsdienste.
15.4.3.2 Diskriminierung und Vulnerabilität Die Situation der Frauen, die häusliche Pflegeverantwortung übernommen haben, stellt sich bislang als von verschiedentlichen Benachteiligungen geprägt dar [Simoes 2011]. Auch hierzu geben am ehesten Interviews Auskunft, welche die Selbstwahrnehmung beschreiben – in einer Situation zumeist ohne Hoffnung auf Besserung, mit einer häufig längerfristig angelegten Perspektive, mit einer Vielzahl von unmittelbaren Einschränkungen und dem Kentern des eigenen Lebenskonzepts. Hinzu kommt das Erleben von diskriminierenden Wertungen: als ob man an der Situation schuldig sei, „in die Pflicht genommen“ von Pflegediensten und -heimen, allein mit dem Versuch, für die Umwelt „nicht lästig“ zu sein, als Drop-out. Röwekamp fasst diese Wahrnehmungen als Erfahrung einer vierfachen Entwertung der in informeller Pflege geleisteten Sorgearbeit zusammen [Röwekamp 2006]: Pflegende Frauen arbeiten im Haushalt, der als Arbeitsbereich Diskriminierung erfährt (1. Entwertung), sie befassen sich mit Menschen, die sich selbst nicht mehr helfen können (2. Entwertung) und verrichten Tätigkeiten, die nicht zu einem sauberen und freundlichen Arbeitsbegriff passen (3. Entwertung). Generell leben pflegende Frauen einen Alltag, der zu üblicherweise als zeitgemäß geltenden Lebensstilen nicht passt (4. Entwertung). Diese Diskriminierungen auf informeller Ebene sind, wenngleich Gegenstand alltäglicher Erfahrung, schwer zu fassen. Fehlinterpretationen von Verhaltensmustern in der Folge von Übernahme von Pflege(-verantwortung) – etwa als Motivationsmangel statt (An-)Erkennen von Barrieren – unterstützen die benachteiligenden Einschätzungen. Die hohe gesellschaftliche Werthaltung für bestimmte Verhaltensweisen wie beispielsweise freizügige Selbstbestimmtheit und Mobilität schafft weitere Felder, in denen in der Pflegeverantwortung gebundene Frauen Abwertung erfahren [Dräger et al. 2012].
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Verstärkt durch die negative Außensicht auf eine Langzeitpflegesituation, gespeist aus verschiedenen Haltungen wie der Trivialisierung von Pflege [Dierks 2005], aus der Verdrängung von Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Tod in der Gesellschaft und aus der Behaftung mit negativen Konnotationen wie Scham, kommt es durch die Inanspruchnahme in der Pflege zu einer Isolation. Die Langzeitpflege von kranken oder behinderten Kindern oder erwachsenen Angehörigen stellt sich als wenig planbare und eher durch ungünstige als durch positive Veränderungen geprägte Entwicklung dar [Schneider et al. 2006]. Entgrenzt sich die Pflegeaufgabe, was sich als Risiko insbesondere für Frauen darstellt, umfasst die Pflegeaufgabe deren gesamte Lebenswelt. Sogenannte Totalisierungen werden auch durch den physischen und psychischen Verfall der pflegebedürftigen Personen und den damit verbundenen Sterbeprozessen ausgelöst [Gröning et al. 2006]. Gleichzeitig findet die Übernahme von Pflegeverantwortung in der Gesamtwertung von Leistung und Lebensleistung von Frauen in der Regel keine Integration. Die alltäglich erfahrene Diskriminierung baut zusätzlichen (Leistungs-)druck für das ohnehin belastete Kollektiv auf. Die gesellschaftliche Benachteiligung durch entgehende Sozialleistungen, Einbußen an finanziellen Ressourcen und an Erwerbstätigkeit gebundenem Sozialprestige werden an anderer Stelle erörtert. Eine in der Pflegesituation mehrdimensionale Vulnerabilität entsteht an vielen Schnittstellen im sozialen, beruflichen und persönlichen Bereich, wie das folgende Zitat veranschaulicht [Gröning et al. 2004]: „Das Problem der Pflege von Angehörigen sind nicht die überaus vielfältigen Verrichtungen. Die „Verrichtung“ ist eine gewöhnliche Tätigkeit, die Zeit und einiges Geschick erfordert … Denn wer nahestehende Menschen pflegt, steht nicht außerhalb der Erkrankung. Ich wurde also gleichsam ein Lotse, dessen eigener Kurs unlöslich mit einem angeschlagenen Schiff in einer gefährlichen Passage verbunden war“. Wo zur Bewältigung der Pflegeaufgabe Unterstützung in Anspruch genommen werden muss, entsteht Abhängigkeit von dritten Personen bzw. Institutionen. Externe Helfende können nur dann tatsächlich entlastend in häuslichen Pflegearrangements wirken, wenn sie möglichst genau auf die Problemlage zugeschnittene Ressourcen einbringen und gleichzeitig die Komplexität der Steuerung des Arrangements nicht merklich erhöhen [Zeman 2005]. Gleichzeitig unterscheiden sich die Qualitätsebenen der Handlungsbereiche. Während den informell Pflegenden letztlich die Ergebnisverantwortung (ganzheitlich) obliegt, leisten unterstützende Helfende in der Regel (Teil-)Prozesse (und gewähren dafür Prozessqualität). Dies beinhaltet Konfliktsituationen, nimmt jedoch insbesondere Einfluss auf die Passgenauigkeit von ergänzenden Leistungen. In einer als unzureichend erlebten Passgenauigkeit, d.h. mit Blick auf das Gesamtergebnis (Outcome) nicht wirklich hilfreichen Unterstützungsleistung (Teilprozess), kann die nur eingeschränkte Inanspruchnahme durch informell Pflegende begründet sein. Hierin zeichnet sich zukünftiger erheblicher Abstimmungsbedarf zwischen den Konzepten informeller und professioneller (insbesondere ambulanter, aber auch stationärer) Pflege in der jetzigen Form ab.
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Wichtig sind außer der theoretischen Verfügbarkeit von Angeboten auch die Zugänglichkeit bzw. die tatsächlichen Zugangsbedingungen zu (unterstützenden) Leistungen. Dazu zählen Leistungen des sozialen Sicherungssystems, insbesondere aus der sozialen Pflegeversicherung. In die Zugänglichkeit gehen dabei ein das Erkennen des Versorgungsbedarfes (z.B. durch Hausärzte/-ärztinnen, das Pflegeassessment im Auftrag des Sozialversicherungsträgers), Komponenten von Entfernung, Verkehrsanbindung, häuslicher Organisation, regionale Verfügbarkeit, nicht zuletzt Finanzierbarkeit und das Wissen um Finanzierungswege. Nach dem Entwurf des vierten Armuts- und Reichtumsberichts [Deutsche Bundesregierung 2012] nehmen beispielsweise von den Pflegebedürftigen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz nur 37 Prozent die ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch. Mangel an jedem dieser Elemente erhöht die Verletzlichkeit der Pflegenden (und Gepflegten) und folgt einem sozialen Gradienten. Für pflegende Frauen in ungünstiger sozialer Position kumulieren sich demzufolge die Erschwernisse. Die grundlegenden Bedürfnisse und Problemstellungen von Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen unterscheiden sich eher nicht. Dennoch gibt es bei Pflegesituationen vor Migrationshintergrund Unterschiede im Hinblick auf rechtliche Fragen, kulturelle und religiöse Hintergründe zu beachten [Zielke-Nadkarni 2003]. Sprache und ein kulturell unterschiedliches Verständnis von Krankheit und Pflege (-bedürftigkeit) können zusätzliche Problembereiche darstellen, die noch weitgehend der Erforschung bedürfen. Dazu zählt auch die Stellung der Frauen in der familiären Pflegeverpflichtung [Karacay et al. 2012]. Nötig sind in der Zusammenschau neben der Forschung für Konzepte zur Bewältigung für Menschen, die von Behinderung und Krankheit betroffen werden, auch Forschung zu den (Lebens-)Konzepten für Menschen, die „mit hinein genommen werden“ in die Lebenssituation der Betroffenen.
15.4.3.3 Häusliche Pflege als Stabilisator der Lebenswelt Pflegen meint für Angehörige nicht nur Unterstützung bei der Ausführung Körper bezogener alltäglicher Verrichtungen, sondern stellt ein bedeutsames Handeln im Kontext der Lebens- und Familiengeschichte dar [Geister 2008]: Pflege hat für die lebensweltlichen Helfenden vor allem die Funktion, die durch das Problem der Pflegebedürftigkeit irritierte Normalität ihres Alltagslebens zu (re-)stabilisieren. Diese Leistung kommt auch der Gesellschaft zugute. Es ist ein individuell und unmittelbar geleisteter Beitrag zum Demographic Change Management [Simoes 2011], zur Stabilisierung der Gesellschaft angesichts der Herausforderungen einer aging society. Nach den Ergebnissen der Swiss Age Care Studie sind Hauptmotive für die Betreuung vor allem Liebe und Zuneigung. Aber auch der Mangel an Alternativen und finanzielle Belange der jeweiligen sozialen Situation spielen eine Rolle [Perrig-Chiello 2010]. Vor diesem Hintergrund der Bedeutung von häuslicher Pflege überraschen Ergebnisse nicht, welche die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme einer Pflegetätigkeit als primär durch den Bedarf der Gepflegten bestimmt finden. Entsprechend passt eine Frau,
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welche eine informelle Pflegeverpflichtung übernimmt, u.a. eher ihr Erwerbsverhalten an die mit der Pflege verbundene Belastung an als umgekehrt, sogenannte Exogenität der Berufstätigkeit (vgl. unten) [Henz 2006]. Die Diskussion, in wie weit veränderte gesellschaftliche Lebensbedingungen – Lebensstile, Forderung nach Mobilität, Trend zum Single-Haushalt – sich auf die Bereitschaft zur häuslichen Pflege auswirken, bleibt offen zu führen. Untersuchungen, die von einer fortbestehenden zukünftigen Solidarität in Familien ausgehen, sind ebenso einzubeziehen wie Einschätzungen, dass es zu einer Erodierung familiärer Pflegestrukturen [z.B. BMFSFJ 2002] komme und dass daher von einer Zunahme des Bedarfs an Pflegeheimplätzen auszugehen sei. Hochrechnungen aus dem Pflegereport 2011 der Barmer GEK [Rothgang et al. 2012] spiegeln einen solchen Trend nicht uneingeschränkt wider. Vielmehr scheinen weitere Faktoren stärkere Berücksichtigung zu erfordern. In Möglichkeit zur und Übernahme von Pflegeverantwortung im häusliche Kontext gehen – ungeachtet des oben dargelegten persönlichen Stellenwerts – zahlreiche in der Literatur als bedeutsam dokumentierte Faktoren als Stellgrößen mit ein [z.B. Heitmüller 2007; Carmichael und Charles 2003]. Dazu zählen neben den Eigenschaften der pflegenden und zu pflegenden Person beispielsweise das Beziehungsgefüge, Wohnverhältnisse, der Grad der Pflegebedürftigkeit, finanzielle Spielräume und die Dauer der Pflegesituation. Auch Stadt-Land-Unterschiede bestehen. Schließlich beendet eine Pflegeheimunterbringung die (Für-)Sorge der Angehörigen nicht. Nach wie vor kennzeichnen primär individuell geprägte Lösungen die Antwort auf Hilfebedarf im persönlichen Umfeld.
15.4.4 Pflegeverpflichtung – Karriere(bruch)? Große Teile der resultierenden Verhaltensänderungen betreffen ein gegebenenfalls bestehendes Berufsleben nicht direkt [Mühlmann et al. 2007]. Die Übernahme einer häuslichen Pflegeverpflichtung hat sehr unterschiedliche Antworten mit Blick auf die Erwerbstätigkeit zur Folge [Böttcher et al. 2009].
15.4.4.1 Vereinbarkeitsproblematik Nach Henz ist die häufigste Form der sogenannten formellen [Böttcher et al. 2009] beruflichen Anpassung an eine entstandene Pflegeverpflichtung der Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Auswertungen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) wiesen eher nicht in Richtung auf eine relevante Inanspruchnahme von Teilzeitbeschäftigung als zentrales Adaptionsverhalten vollzeitbeschäftigter deutscher Frauen in Folge des Eintritts einer Pflegeverpflichtung [Schneider et al. 2001]. Häufiger sind der Wechsel der Erwerbstätigkeit in eine Arbeit mit anderem Anforderungsprofil oder ein Wechsel in die Selbständigkeit anzutreffen. Frauen in selbständiger Position bleiben eher berufstätig als nicht selbständige [Henz 2006]. Besonders Manage-
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mentposten gelten weiterhin als unvereinbar mit der Pflege von Angehörigen [Arksey 2002]. Dadurch sind Frauen mit Blick auf das Management auch aus dieser Situation heraus benachteiligt, da sie häufiger als Männer eine Sorgeverpflichtung übernehmen. Für bestimmte Tätigkeitsprofile scheinen sich besondere Hürden aufzutun. Gleichzeitig können Arbeitsplatzbedingungen charakterisiert werden, die eine Vereinbarkeit begünstigen (z.B. gleitende Arbeitszeit, Home office). Pflegende Frauen suchen Arbeitsplatzbedingungen, die mit den Pflegeaufgaben kompatibel sind (s.o. Exogenität der Berufstätigkeit). Solche Stellen- oder Funktionswechsel veranlassen und vollziehen Betroffene in der Regel selbst. Gründe dafür sind unter anderem, dass sie die Pflegetätigkeit als ausschließlich persönliche Angelegenheit verstehen, oder sie wollen nicht als weniger leistungsfähig gelten [Schneider et al. 2006]. Informelle Anpassungsmöglichkeiten, beispielsweise im Rahmen bestehender arbeitszeitlicher Gestaltungsfreiräume, werden genutzt. Barrieren bestehen dagegen beim Annehmen von speziellen betrieblichen Angeboten, da dieses Verhalten mit geringerem Einsatz und niedrigerer Produktivität assoziiert werden könnte [Chesley/Moen 2006]. Anpassungen im Berufsleben liegen unterschiedliche Anliegen zugrunde [Mühlberger 2008]. Eine weitere Einbindung am Arbeitsplatz wird teils aus finanziellen Erwägungen gewünscht, da die mit der Pflege verbundenen Ausgaben den Finanzbedarf des Haushalts vergrößern. Dieser „Einkommenseffekt“ erhöhe die Bereitschaft der pflegenden Angehörigen zur Teilnahme am Erwerbsleben. Gleichgerichtet soll ein sogenannter „Erholungseffekt“ wirksam sein. Positive Auswirkungen des Berufs als „Ausgleich“ sehen auch Böttcher et al. [2009]. Inwieweit die Berufstätigkeit tatsächlich eine entlastende Wirkung hat, ist allerdings umstritten [Bischofberger et al. 2009]. Berufstätigkeit kann auch die Funktion eines (letzten) sozialen Netzwerks einnehmen [Arksey 2002]. Ein „Diskriminierungseffekt“ wird bezüglich der Lohnhöhe beschrieben [Heitmueller 2007]. In entsprechender Weise schlägt sich auch ein Wechsel in schlechter dotierte Tätigkeiten oder ein Ausstieg aus Schichtarbeit nieder. Frauen, deren Lohnniveau durchschnittlich geringer ist, betreffen diese Auswirkungen stärker. Die völlige Aufgabe der Berufstätigkeit ist gerade bei einem umfassenden und hohen Pflegebedarf ein Schritt, zu dem sich in erster Linie Frauen entscheiden [Schneider et al. 2001]. Hinzu kommt, dass die Übernahme einer Pflegeverpflichtung eher die mittleren Altersgruppen von Frauen betrifft. Daraus entstehen für diese Frauen erhebliche Einbußen hinsichtlich Karriereentwicklung und Einkommen sowie in Bezug auf Urlaubs- und Rentenansprüche [Dunham/Dietz 2003]. Die jeweils eingeschlagenen Lösungswege unterscheiden sich – nicht zuletzt nach Art ihrer Rückwirkung auf die pflegende Frau. Dennoch ist der individualisierende Blick zu kurzsichtig.
15.4.4.2 Wechselwirkungen im Gesellschaftsbezug Wechselwirkungen von informeller Pflege und Erwerbstätigkeit bestehen auch im Gesellschaftsbezug. Alle die genannten Anpassungen haben gesellschaftliche
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Wirkung, nicht zuletzt über das durch Pflegende gegebenenfalls weiterhin zur Verfügung gestellte Arbeitsangebot (oder dessen Fehlen). Prognosen, die aufgrund des demographischen Wandels einen Arbeitskräftemangel betonen, verweisen gleichzeitig vor allem auf Frauen als Erwerbstätige. „Wir können es uns nicht leisten, die schlummernden Potenziale in unserem Land zu ignorieren“, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung13. Traditionell wird von einem negativen Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und informeller Pflege ausgegangen [Mühlmann et al. 2007]. Zugrunde liegt die „Competing Demands Hypothesis“, nach der ein gewisses Ressourcenbudget (Zeit, Einkommen etc.) verteilt werden muss [Martire/Stephens 2003]. Die größten Schwierigkeiten bei der Vereinbarung von Erwerbstätigkeit und Pflege eines Angehörigen werden im nicht vorhersehbaren Pflegeverlauf gesehen, der dadurch weniger Raum für zeitliche und strukturelle Planungen lässt [Böttcher et al. 2009]. Gleichzeitig berichtet eine Studie im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit des Landes Rheinland-Pfalz von der hohen Arbeitsmotivation und Leistungsbereitschaft informell pflegender Arbeitnehmer/-innen [Schneider et al. 2006]. Solange Kooperation von Seiten der Arbeitgeber/-innen jedoch eher als Entgegenkommen denn als Anspruch der Arbeitnehmer/-innen verstanden wird, kann u.U. besonders bei der Gruppe älterer Frauen ohne herausgehobene Ausbildung oder andere, für welche die Arbeitsmarktsituation eher kritisch ist, eine Phase von Langzeitarbeitslosigkeit infolge einer Pflegesituation induziert werden, die dann, auch ggf. nach Ende der Pflegeverpflichtung, schwer umkehrbar ist. In der neueren Literatur werden jedoch die Wechselseitigkeit des Zusammenhanges zwischen Erwerbsverhalten und informeller Pflegetätigkeit und deren fruchtbare Wirkungen stärker betont. Die einer Gesellschaft zur Verfügung stehende Arbeitsleistung aus ihrer Bevölkerung ist endlich. Anstrengungen zur Rekrutierung und zum Ersatz mit gleichartig qualifizierten Mitarbeitenden erhöhen sich. Zunehmend lassen sich unterstützende Aktivitäten als für die betriebliche Leistungsfähigkeit bedeutende Einflussfaktoren identifizieren – abgesehen von grundlegenden betrieblichen Werthaltungen, dem Frauenanteil der Belegschaft als Maß für die betriebliche Betroffenheit und den antizipierten Auswirkungen derartiger Maßnahmen [Goodstein 1995]. Bislang zeigt sich, dass sich vor allem jene Unternehmen engagieren, die sich davon Vorteile erhoffen. Zu diesen Vorteilen gehören ein besonderes Maß an Loyalität von Seiten informell pflegender Mitarbeiter/-innen, die höhere Unternehmensbindung, dadurch verminderte Such- und Rekrutierungskosten. Es entfallen auch andere negative Auswirkungen einer schnelleren Personalumwälzung, wenn wiederholt qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgrund ihrer Pflegeverpflichtung (z.B. früher) aus dem Erwerbsleben austreten [Arksey 2002]. Auch eine verringerte Krankenstands- bzw. Abwesenheitsneigung wird berichtet aufgrund der von den Betroffenen ohnehin verfolgten Anpassungsstrategien im Falle einer Pflegetätig-
13 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.01.2011: Frauen und Zuwanderer gegen die Lücke
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keit. Damit in Zusammenhang stehend und die Berufsbindung beeinflussend sind auch personenbezogene Eigenschaften zu sehen, wie die Arbeitszufriedenheit, Sinngebung oder der Grad der Identifikation einer Person mit ihrer Arbeit [Henz 2006]. Ungeachtet des vielfältigen, gut dokumentierten Nutzens, den Arbeitgeberinnen und Mitarbeitern aus den betrieblichen Unterstützungspolitiken für pflegende Personen – in der Mehrzahl Frauen – ziehen könn(t)en, ist dieser Weg noch zu wenig konzeptualisiert [Bischofberger et al. 2009]. Über die betrieblichen Anstrengungen – im Interesse der Firmen und Verwaltungen hinaus – ist auch die Gesellschaft zum Handeln genötigt: Die mittel- und längerfristige Produktivität sowie die im Beruf erworbenen Kompetenzen pflegender Angehöriger können wegen mangelnder Vereinbarkeit teils oder über das Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit für die Arbeitswelt ganz verloren gehen. In diesem Zusammenhang wird auch ein sogenannter Humankapitalverlust aufgrund von Unterbrechungen der Berufstätigkeit von ökonomischer Seite geltend gemacht [Schneider et al. 2001]. Der Effekt, dass pflegende Personen, welche durchschnittlich älter sind als nicht von Pflegeverpflichtungen betroffene Kolleginnen/Kollegen, die Frühpensionierung eher als Option wahrnehmen, ist in der Literatur gut dokumentiert [Mühlmann 2007]. Nach der Gesundheitsberichterstattung des Bundes zur Thematik „Gesundheitsbedingte Frühberentung“ weisen Frauen gegenüber Männern in den alten Bundesländern ein erhöhtes Frühberentungsrisiko auf [Rehfeld 2006]. Die der Gesellschaft zur Verfügung stehende Kompetenz und Arbeitsleistung von Frauen in Pflegeverpflichtung unterliegt letztlich Einflüssen durch die gesamtgesellschaftliche Ausgestaltung der Vereinbarkeit.
15.4.5 Die Zeit nach der Pflegeverpflichtung Nach Entfallen einer Pflegeverantwortung ist die unmittelbare Rückkehr zur „Normalität“ – im beruflichen wie lebensweltlich-sozialen Kontext – wie selbstverständlich erwartet. Dass auch dieses Zurückkehren ein prozesshaftes Erleben und Geschehen für die Betroffenen ist, in vielen Fällen noch geprägt von Elementen einer Trauerarbeit, wird zu oft vergessen. Die Zeit danach gestaltet sich daher zu einer weiteren Herausforderung, Belastung und möglicherweise negativen Weichenstellung für das vormals pflegende Kollektiv. Ungünstiger Weise gehört dieser Lebensabschnitt von informell Pflegenden gleichzeitig zu den Phasen, die am wenigsten erforscht ist. Es mehren sich jedoch die Hinweise, dass sich neben den Risiken für die einzelne Pflegende auch gesamtgesellschaftliche, sowohl den Ansatz gesundheitlicher Chancengleichheit der Geschlechter als auch die Gesundheit der Bevölkerung betreffende Risiken auftun. In gesundheitlicher Hinsicht weist das Phänomen „Sekundärpatient“ auf die Problemlage(n) hin. Ein anderes Feld lässt sich in der Summe als soziale Dislokation beschreiben.
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15.4.5.1 Sekundärpatient(in) Die Anstrengungen, sowohl der Rolle der informell pflegenden Person als auch jener des/der Arbeitnehmers/Arbeitnehmerin und gegebenenfalls weiteren Rollen in Familie, Beziehung und sozialem Umfeld gerecht zu werden, führt zu besonderen (gesundheitlichen und emotionalen) Belastungen und Stress, was sich über die Zeit negativ auf die Gesundheit der Pflegenden auswirken kann [Schneider et al. 2006]. In der Pflegeverpflichtung überwiegt geringe Selbstsorge (s.o.). Oftmals erst nachdem eine Person ihre Pflegetätigkeit, etwa aufgrund des Verscheidens der gepflegten Person, eingestellt hat, wird sie zu einer/m „SekundärpatientIn“ [Schenk 2009]. Dieser Begriff bezeichnet eine Person, die aufgrund der Folgeschäden der langfristigen Überbeanspruchung im Zuge der informellen Pflege selbst krank bzw. betreuungsbedürftig wird. Zugrundeliegende pathophysiologische und -anatomische Korrelate, auch im Zusammenhang mit Überlagerungen durch eine Trauerphase, sind Gegenstand aktueller Untersuchungen, nicht zuletzt in der Hirnforschung. Ambulante und stationäre Rehabilitationskonzepte, ggf. Hilfen zur Teilhabe, zugeschnitten auf diese vulnerable Gruppe, stehen aus (und dringlich an), als mögliche systematisierte Antwort, um Weichenstellungen in Richtung längerfristiger Ausfälle, den Übergang in eine eigene Langzeit-Patientinnenkarriere und ein sekundäres Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, möglicherweise in eine Frühberentung, in dieser sensiblen Phase entgegenzuwirken.
15.4.5.2 Armutsgefährdung Die Auswirkungen einer alternden Gesellschaft, gepaart mit Anzeichen, dass Altersarmut und infolge einer sich ändernden Familienstruktur (mehr Einpersonenhaushalte) die Isolation zunehmen, betreffen Frauen in vieler Hinsicht stärker als Männer [Simoes et al. 2012]: Die Zahl der Leistungsbezieher von Grundsicherung im Alter ist zwischen den Jahren 2003 und 2010 um 60 Prozent gestiegen. Am Ende der noch nicht abgeschlossenen Entwicklung wird ein Durchschnittsverdiener nach 35 Beitragsjahren einen Rentenanspruch haben, der die Höhe dieser Grundsicherung nicht übersteigt [BAGSO 2012]. Unterbrochene Berufskarrieren, Zeiten von Kindererziehung und Angehörigenpflege lassen viele Frauen diese Anzahl an Berufsjahren nicht einmal erreichen. Aktuelle Daten aus der amtlichen Statistik des Landes BadenWürttemberg belegen beispielsweise, dass Frauen in Baden-Württemberg in allen Altersgruppen stärker armutsgefährdet sind als Männer. Neben Erwerbslosen zählen ältere Frauen und allein erziehende Frauen zu den am stärksten von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen [Krentz 2012]. Armutsgefährdet ist in besonderem Maß das Kollektiv der Frauen über 65 Jahre (16,8 %). Bei Einpersonenhaushalten betrifft 24 Prozent die Armutsgefährdung. Nach Trendberechnungen des Statistischen Bundesamtes steigt der Anteil der Einpersonenhaushalte in Deutschland von 40 Prozent im Ausgangsjahr 2009 auf 43 Prozent im Jahr 2030 [Statistische Ämter der Bundes und der Länder 2010]. Ein weiteres Ansteigen der Gefährdung ausgedehnt auf frühere
540
15 Situation der Pflegenden
Altersjahre und in der Höhe des Anteils zeichnet sich ab [Deutsche Bundesregierung 2012]. In der Zusammenschau bedeutet dies, dass ein abnehmendes Kapital an sozialen und finanziellen Ressourcen für immer größere Teile der Bevölkerung angenommen werden muss. Auf die Notwendigkeit der Anpassung von Dienstleistungen, Handlungsempfehlungen und Leistungsangeboten an die neue Bedarfslage weisen nicht zuletzt die zunehmenden Anstrengungen etwa von Kommunen zum Umgang mit dem demographischen Wandel in der Gesellschaft durch strukturierte Handhabungskonzepte (Demographic Change Management) hin. Auch die Möglichkeit des Einkaufs von Unterstützungsleistungen und die Erreichbarkeit von Support ist aus diesem Blickwinkel neu zu prüfen, und Entwicklungen ist Rechnung zu tragen, dass einem zunehmenden Personenkreis, darunter zunächst älteren Frauen, aus eigener Anstrengung aufgrund der sozialen und/oder finanziellen Situation der Zugang zu ambulanten professionellen Unterstützungsangeboten nicht (mehr) möglich sein wird.
15.4.5.3 Frauen als Pflegebedürftige Nach den Statistiken des Bundes und der Länder waren im Dezember 2007 rund 2,25 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. 68 Prozent der Pflegebedürftigen waren Frauen. Frauen weisen etwa ab dem 80. Lebensjahr eine deutlich höhere Pflegequote auf. So beträgt beispielsweise bei den 85- bis unter 90-jährigen Frauen die Pflegequote 41 Prozent, bei den Männern gleichen Alters hingegen lediglich 28 Prozent [Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010]. Da sich diese Angaben auf Pflegebedürftigkeit im Sinne des Pflege-Versicherungsgesetzes beziehen, können neben Unterschieden in der gesundheitlichen Entwicklung bei Frauen und Männern auch begründende Faktoren in einem differierenden Antragsverhalten zwischen Männern und Frauen zu suchen sein oder sich darin ein geschlechtsdifferentes Zu-Gebote-Stehen informeller Hilfen, die sich nicht in einer Pflegeeinstufung niederschlagen, widerspiegeln [Forbes et al. 2008]: Es wird eine sinkende Prävalenz bei der informellen Pflege für Frauen erwartet. Der BAMER GEK Pflegereport 2011 verzeichnet insbesondere für Frauen einen zunehmenden Bedarf an zusätzlichen Betreuungsleistungen seit deren Einführung [Rothgang et al. 2011]. Ältere Frauen leben häufiger alleine. Bei Pflegebedarf kann schneller die Notwendigkeit bestehen, Leistungen aus der Pflegeversicherung zu beantragen, während pflegebedürftige Männer oftmals zunächst von ihren Frauen versorgt werden. Dies gilt insbesondere unter der Bedingung des derzeitigen Geschlechterverhältnisses in der älteren Bevölkerung. Bei einer Zunahme der Pflegebedürftigen in Deutschland, nach dem StatusQuo-Szenario errechnet, von etwa 2,1 Millionen im Jahr 2005 auf 3,4 Millionen im Jahr 2030, werden davon 2,2 Millionen Frauen sein [Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010]. Frauen sind länger pflegebedürftig als Männer. So überlebten Männer, die im Jahr 1999 pflegebedürftig wurden, durchschnittlich 3 Jahre bzw. 37 Monate,
15.4 Frauen in informeller Pflegeverpflichtung
541
Frauen 4 Jahre bzw. 51 Monate. Betrachtet man auf der Basis von Zahlen für 2009 die Gesamtlebenszeitprävalenz, also das individuelle Risiko, formal pflegebedürftig (mit einer Pflegestufe) zu werden, zeigt sich, dass drei von vier Frauen (72 %) im Laufe ihrer Lebenszeit pflegebedürftig werden. Bei den Männern liegt diese Gesamtlebenszeitprävalenz bei 50 Prozent (bezogen auf im jeweiligen Jahr Verstorbenen über 30 Jahre). Mit einer Unterbringung im Pflegeheim hatten nach Zahlen für 2009 37 Prozent der Frauen, jedoch nur 18 Prozent der Männer zu rechnen. 50 Prozent der Männer, jedoch 61 Prozent der Frauen, die ihre Pflege in häuslicher Pflege begonnen haben, werden nach zwei Jahren nicht mehr zu Hause gepflegt. Die Gründe hierfür bleiben offen. In diese Entwicklungen werden auch Frauen einbezogen sein, die derzeit Pflegeverantwortung übernommen haben, aufgrund der verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen jedoch möglicherweise nicht mehr auf Leistungen nach dem heutigen Verständnis informeller Pflege zurückgreifen werden können – nicht zuletzt aufgrund einer bei diesen Frauen dann nicht mehr ausreichenden persönlichen Finanzkraft. Zusammengenommen mit den oben ausgeführten Erkenntnissen zur Entwicklung von Einpersonenhaushalten und dem Armutsrisiko in der älteren weiblichen Bevölkerung skizzieren alle diese Ergebnisse und Schätzungen eine eigene Form zunehmenden Prekariats für einen größer werdenden Anteil von Frauen in der deutschen Gesellschaft.
15.4.6 Der Blick auf Chancen Wenige Arbeiten beschreiben einen Benefit aus der Übernahme von Pflegeverantwortung im informellen Kontext [Perrig-Chiello/Hutchison 2010]. Gleichwohl liegt gerade in der Gestaltung positiver Elemente ein wichtiger Teil der Zukunftsfähigkeit dieser Säule. Voraussetzungen sind eine wertschätzende gesamtgesellschaftliche Grundhaltung für informell Pflegende und die finanzielle Sicherung der in dieser Form Pflegenden und von ihnen gepflegten Personen. Kollektive Rechte betonen die (gesamt-) gesellschaftliche Verpflichtung und wirken der Individualisierung der Pflegeproblematik entgegen, die eine unzulässige Variabilität in der Gewähr von Pflege durch die Gesellschaft beinhaltet. An erster Stelle sind in diesem Zusammenhang rahmengesetzliche Maßnahmen und deren Weiterentwicklung zur Unterstützung von informell pflegenden Personen allgemein und von pflegenden Erwerbstätigen im Speziellen zu nennen. Betriebsvereinbarungen als rechtlicher Rahmen für flexible Einzelfalllösungen könnten dem Unterstützungsangebot einen einrichtungsspezifischen Charakter verleihen und zunehmend im Wettbewerb, auch um Arbeitskräfte, eine Bedeutung erlangen – auch wenn in der betrieblichen Praxis bisher noch informelle Absprachen und Einzelfalllösungen im Vordergrund stehen (vgl. oben).
542
15 Situation der Pflegenden
15.4.6.1 Expansion Hypothesis Persönliche Optionen aus Reorganisation, Engagement und Erfahrung mit der Pflegesituation erkennen und konstruktiv in die aktuelle und prospektive Lebensgestaltung einbauen zu können, wäre ein nicht hoch genug einzuschätzender Gewinn. In der Literatur ist dieser Ansatz als Expansion Hypothesis [Martire/Stephens 2003] zu finden und beschreibt ein „Wachsen mit der Aufgabe“. Er hat gleichermaßen Bedeutung für die/den einzelne/n Pflegende/n als auch die Entwicklung der Gesellschaft gemeinschaftlich. Sehr früh in der Diskussion von Vereinbarkeit plädierte [Scharlach 1994] dafür, die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Pflege nicht nur als Konfliktund Problembereich zu beleuchten, sondern auch unter dem Aspekt von Kompensations- und Erweiterungsmöglichkeiten zu sehen – und zwar in der beruflichen und pflegerischen Rolle. Die darin beinhaltete Stärkung sozialer Kompetenzen – für alle an diesem Prozess Beteiligten (aus Lebens- und Arbeitswelt) – kommt letztlich dem gesellschaftlichen Miteinander zugute. Herausforderungen und Chancen ergeben sich auch mit Blick auf die Orientierung von Pflegeausrichtung und -settings an der Individualität der zu Pflegenden. Individuum-zentrierte Pflege schließt auch Komponenten wie persönliche Werthaltungen und den Erhalt einer Privatsphäre ein [Brownie/Nancarrow 2013]. Der Stärkung informeller Pflege kommt hierbei eine besonders wichtige Rolle zu [Brazil et al. 2012]. Alternative Finanzierungsmodelle sind in Evaluation (z.B. Fondslösungen, Sozialzeit). Die Ausweitung von Verantwortungsbiographien [von der Leyen 2012], d.h., eine stärkere Einbettung sorgender Aufgaben in jede Biographie, könnte die Pflegeaufgabe geschlechter- und generationengerechter gestalten. Angesichts des demographischen Wandels und veränderter wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Bedingungen kann auf die Stärkung der sozialräumlichen Orientierung, der Bemühung um wohnortnahe Hilfen und den Ausbau bürgerschaftlichen Engagements für die Ausgestaltung von Pflege nicht verzichtet werden [BMG 2009b]. Es sind an Chancen orientierte Denk- und Handlungsansätze, welche die Basis für das Gelingen bieten.
15.4.6.2 Support als Beitrag zu gesundheitlicher Chancengleichheit Die Europäische Union (2013) sieht eine verbesserte Koordinierung von Langzeitpflege im Kontext von (gesundheitlicher) Chancengleichheit und betont die Bedeutung eines (gesundheits-)förderlichen Zusammenwirkens von häuslichen, kommunal und institutionell ausgerichteten Pflegearrangements. Damit schließt sich der Kreis zur Betrachtung von Pflege und Pflegenden unter den Aspekten der Gesundheitsförderung, wie sie die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) aus dem Jahr 1986 fordert14: mehr Menschen selbstbestimmt
14 Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.
15.4 Frauen in informeller Pflegeverpflichtung
543
zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Hier sind Elemente von Empowerment durch Wissensvermittlung und Beratung (beispielsweise durch Pflegestützpunkte und Gutachterdienste der Sozialversicherungsträger) und von Prävention, präventiven Hausbesuchen, innovativen geriatrischen Hausbesuchen zu verorten. Die gesellschaftliche Befähigung zu selbstbestimmten Lösungen beim Eingehen einer Sorgeverpflichtung stellt sich zunehmend als Zielsetzung für das gesetzgeberische und strategische Handeln dar – auch und gerade mit Blick auf Frauen, die sich für eine informelle Pflegeaufgabe aus ganz unterschiedlichen Situationen heraus entscheiden (möchten). Frauen übernehmen Pflegeverpflichtungen nicht nur häufiger, sondern oft unter ungünstigeren Voraussetzungen. Wie die Darlegungen zeigen, können mit adäquater Unterstützung tragfähige Lösungen nicht nur mit u.a. Arbeitszufriedenheit, persönlichem Gewinn und dem Erhalt der Gesundheit der Pflegenden einhergehen, sondern für die Gesellschaft auch ein zukunftsfähiger Ansatz sein, Pflegeverantwortung als eine wertgeschätzte Aufgabe zu gestalten. Bei Überlegungen zu Prognosen von Bezahlbarkeit und Aufrechterhaltung einer wertigen, wertschätzenden Konzeption von Pflege gilt es demnach Faktoren aus einem weiterreichenden Horizont einzubeziehen.
15.4.7 Schlussfolgerungen Frauen sind in herausgehobenem Maße von der gesellschaftlichen Problematik „Pflege“ betroffen. Sie bedürfen aufgrund ihrer Bedeutung für den Arbeitsmarkt, ihrer sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung in der Stabilisierung der regionalen Lebenswelt angemessenen Supportes, um die im gesamtgesellschaftlichen Interesse stehende Aufgabe informeller häuslicher Pflege im nötigen Umfang schultern zu können. Da Frauen in der informellen wie in der professionellen Pflege eindeutig überwiegen und andererseits Frauen mit steigendem Alter den Großteil an Pflegebedürftigen ausmachen, gleichzeitig ihr soziales Umfeld in höherem Alter oft von Vereinsamung und finanziellem Prekariat gekennzeichnet ist, erfordert dieser Komplex eine Betonung der frauenspezifischen Forschung. Versorgungsforschung und Projekte mitten in der Gesellschaft sollten Hand in Hand gehen und mit Blick auf die Belange der Frauen Initiative ergreifen, welche die Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Pflegeverantwortung bewusst werden lässt. Es gilt, den Lernprozess der Gesellschaft, dass Pflege(bedürftigkeit) den öffentlichen Raum berührt, durch Projekte zu fördern und zu einer ergebnisorientierten gemeinschaftlichen Pflegekultur hinzuführen, in Übernahme der gemeinsamen Verantwortung nach § 8 SGB XI.
16 Ausblick 16.1 Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen unter demographisch-epidemiologischen Aspekten1 Ulrich Otto Mueller Die Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen – fortan: der Pflegebevölkerung – wird entscheidend von folgenden fünf Einflussgrößen bestimmt: 1. dem Altersaufbau der Bevölkerung – denn Alter ist die wichtigste Determinante von Pflegebedürftigkeit; 2. Kohorteneffekten: jüngere, gesündere Geburtskohorten könnten im selben hohen Alter weniger pflegebedürftig sein als ihre Vorgänger; 3. der informellen sozialen Unterstützung der von Pflegebedürftigkeit bedrohten Bevölkerung – denn wer soziale Unterstützung hat, braucht weniger professionelle Pflege; 4. der Entwicklung der Medizin: es könnten die Prävalenzen von Pflegebedürftigkeit verursachenden Krankheiten gesenkt werden; 5. der Entwicklung der Technik: es könnte die Pflegebedürftigkeit gesenkt werden, indem schwindende natürliche Fähigkeiten technisch substituiert werden: durch Sinnesfähigkeiten, Mobilität, Körperpflege usw. unterstützende Techniken. Dieser Beitrag wird sich vor allem mit den Einflussgrößen 1 bis 3 befassen.
16.1.1 Altersaufbau der Bevölkerung Die Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes listet für das Jahr 2011 die in Tabelle 16.1 und Abbildung 16.1 aufgeführten altersspezifischen Prävalenzen der Pflegebedürftigkeit auf. Hält man diese alters- und geschlechtsspezifischen Pflegebedürftigkeitsrisiken konstant, so lassen sich unschwer aus der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes bis zum Jahr 2050 die alters- und geschlechtsspezifischen Fallzahlen der Pflegebevölkerung vorausberechnen, womöglich auch noch nach Pflegestufen, wenn man auch hierin von einem konstanten alters- und geschlechtsspezifischen Bedürftigkeitsrisiko ausgeht (s. Abb. 16.1).
1 Danksagung: Dr. Ronny Westerman hat bei der Aktualisierung der statistischen Datenbasis in dieser Auflage in dankenswerter Weise geholfen.
546
16 Ausblick
Tab. 16.1: Anteil der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung im Jahr 2011 nach Alter und Geschlecht in Prozent. Quelle: Pflegestatistik 2011 des Statistischen Bundesamtes [Destatis 2013]. Altersgruppe [Lebensjahre]
0–15
15–60 60–65 65–70 70–75 75–80 80–85 85–90 90 und mehr
Männer
0,7
0,6
1,9
3,0
4,8
8,9
16,6
28,6
36,9
Frauen
0,5
0,5
1,6
2,7
4,7
10,5
22,9
41,9
65,2
alle
0,6
0,5
1,8
2,8
4,8
9,8
20,5
38,0
57,8
Männer Frauen 60
40
20
00
0-15 15-60
60-65 65-70
70-75 75-80
80-85
85-90
90+
Altersklassen Abb. 16.1: Anteil der Pflegebedürftigen im Jahr 2011 nach Altersklassen und Geschlecht in Prozent. Quelle: Pflegestatistik 2011 des Statistischen Bundesamtes [Destatis 2013].
Im Jahr 2003 legte die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziales (BMGS) eingerichtete Kommission ihren Bericht zur „Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“ vor [BMGS 2003]. Er kam unter der Annahme konstanter alters- und geschlechtsspezifischer Pflegebedürftigkeitsrisiken zu den in Tabelle 16.2 dargestellten Projektionen über die Gesamtzahl der Bezieher von Pflegeleistungen – die mit allen Pflegebedürftigen gleichgesetzt wurden. Projektionen dieser Art existieren für viele Länder, auch Bundesländer und Kommunen. Ähnliche Projektionen gibt es auch für Pflegebedürftigkeit aufgrund bestimmter Krankheiten. Bickel projiziert die in Tabelle 16.3 vorgestellten Zahlen für pflegebedürftige Demenzkranke in Deutschland bis zum Jahr 2050 [Bickel 2012].
16.1 Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen
547
Tab. 16.2: Projektion der Gesamtzahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bis zum Jahr 2040. Quelle: Kommissionsbericht „Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme“ [BMGS 2003]. Jahr
Projizierte Gesamtzahl der Pflegebedürftigen in Deutschland (in Millionen)
2010
2,1
2020
2,6
2030
3,1
2040
3,4
Tab. 16.3: Projektion der Demenzkranken in Deutschland bis zum Jahr 2050 [Bickel 2012]. Jahr
Bevölkerung 65+ in Millionen
Demenzkranke
2010
16,8
1.450.000
2020
18,7
1.820.000
2030
22,3
2.150.000
2040
23,9
2.580.000
2050
23,4
3.020.000
16.1.2 Kohorteneffekte Diese Projektionen sind der Ausgangspunkt für die Untersuchung der zweiten Einflussgröße, einer graduellen Abänderung dieses Profils des alters- und geschlechtsspezifischen Pflegebedürftigkeitsrisikos in der Abfolge von Geburtskohorten. In denkbar breiter Debatte wurde seit dem Jahr 1980 die Frage erörtert, wie sich die globale Lebensverlängerung auf die Phase der prämortalen Morbidität auswirkt [Fries 1980, Fries 2003, Fries et al. 2011]: – Extension? – die zusätzlichen Lebensjahre werden überproportional in schlechter Gesundheit und damit gestiegener Pflegebedürftigkeit verbracht; – Postponement? – die Dauer der prämortalen Morbidität ist unverändert, aber sie beginnt proportional später im Leben; – Compression? – die prämortale Morbidität verkürzt sich absolut, der Gewinn an gesunder Lebenserwartung ist überproportional größer als der allgemeine Gewinn an Lebenserwartung. Auch innerhalb dieser Kategorien lässt sich an der zeitlichen Entwicklung die Kausalität der Morbidität (s. Abb. 16.2) studieren.
548
16 Ausblick
Morbidity onset
Present morbidity Birth
Death Morbidity onset
Life extension Birth
Death Morbidity onset
Compression of morbidity Birth
Death
Low morbidity
Exponential
Front-loaded
Multi-phasic
Low, short
Exponential, short
Front, short
Multi, short
Abb. 16.2: Zeitliche Muster der prämortalen Morbidität [Fries et al 2011].
Bei allen Kontroversen über Detailfragen entwickelte sich ein Konsensus, dass in den entwickelten reichen Gesellschaften die meisten Befunde für das Muster der „Compression“ sprächen, womit als Ergebnis auch folgte, dass die Pflegebedürftigkeit nicht proportional, sondern nur subproportional mit der Lebensverlängerung zunähme. In langfristiger Perspektive wurde dies für die USA [Freedman et al. 2002, Muarbito et al. 2008, Schoeni et al. 2008], Dänemark [Christensen et al. 2008, Engberg et al. 2008], Holland [Puts et al. 2008], Deutschland [Ziegler/Doblhammer 2005] plausibel gemacht. Eine vergleichende OECD-Studie aus dem Jahr 2007 über zwölf reiche Länder kommt zu der demgegenüber ernüchternden Einschätzung, dass nur für fünf von ihnen (Dänemark, Finnland, Italien, Niederlande und USA) ein langfristiger Trend zu weniger Pflegebedürftigkeit belegt sei. In Belgien, Japan und Schweden seien eher zunehmende Prävalenzen belegt, Australien und Canada zeigten keine Veränderungen, Frankreich und Großbritannien böten widersprüchliche Befunde [Lafortune et al. 2007]. Crimmins und Beltrán-Sánchez zeigten für die USA, dass, wenn nicht nur funktionale Einschränkungen, sondern das Vorhandensein wenigstens einer Krank-
16.1 Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen
549
heit das Kriterium Morbidität erfüllt, eine Kompression der Morbidität bei steigender Lebenserwartung nicht zu beobachten ist [Crimmins/Beltrán-Sánchez 2010]. Interessante Perspektiven bieten Untersuchungen zur Genetik extremer Langlebigkeit (jenseits von 105 oder 110 Lebensjahren): Je höher das erreichte Alter, um so stärker war eine Kompression der Morbidität vor dem Tod zu beobachten: Wer mindestens 110 Jahre alt wurde, erlebte beeinträchtigende Morbidität vor dem Tod während 5,2 Prozent der gesamten Lebenszeit, wer 105–109 wurde, während 8,9 Prozent, wer 100–104 wurde, während 9,4 Prozent, bei zufällig ausgewählten Kontrollen der Auswahlgesamtheiten jedoch während 17,9 Prozent [Andersen et al. 2012, Sebastiani/ Perls 2012]. Möglicherweise ist – bei rundum günstigen Umweltbedingungen – Voraussetzung für extrem lange Lebenszeit die bloße Abwesenheit einer großen Zahl irgendwie krankheitsfördernder Gene – woraus dann die sehr kurze prämortale Morbidität folgt. Fries und sein Team verstehen den Befund einer Kompression der Morbidität jetzt auch weniger als Tatsachenbeschreibung, sondern als Präventionsempfehlung2. Die allgemeine Einschätzung ist jetzt deutlich skeptischer geworden: Die Projektionen des Gutachtens der Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme von 3,1 Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2030 und 3,4 Millionen im Jahr 2040 sind nicht zu pessimistisch, sie sind möglicherweise sogar zu optimistisch. Statt der im Jahr 2003 für das Jahr 2010 projizierten 2,1 Millionen gab es 2011 tatsächlich 2,5 Millionen Pflegebedürftige. Dieser Abstand ist real, auch wenn es durch Änderungen der Messmethoden und Gesetzesänderungen leichte Brüche in den Zeitreihen gegeben haben mag. Eine mittlere, konservativ-optimistische Annahme könnte sein, dass das Pflegebedürftigkeitsrisiko über das ganze Leben auch bei wachsender Lebenserwartung konstant bleibt, so dass also bei konstantem Bevölkerungsumfang auch der Anteil der Pflegebedürftigen konstant bleibt, sofern der Anstieg der Lebensdauer die relative Verteilung der Altersklassen nicht massiv verändert. Diese Überlegung führt, da letzteres sicher keine realistische Annahme ist, unmittelbar zur nächsten Einflussgröße.
16.1.3 Die Population der Pflegepersonen Die Mehrzahl der Pflegebedürftigen will im vertrauten häuslichen Umfeld durch ihnen nahestehende Menschen und weniger durch professionelle Kräfte versorgt werden, die auch noch teurer sind. Die Pflegeversicherung in Deutschland wie in vielen anderen Ländern trägt dem Rechnung, indem sie ambulante vor stationärer und informelle vor professioneller Pflege fördert. Von den anerkannt Pflegebedürf-
2 „These findings provide proof of concept, that compression of morbidity can occur in specific settings and at specific times. They do not argue that morbidity compression is inevitable” [Fries et al. 2011].
550
16 Ausblick
tigen werden rund zwei Drittel (1,76 Millionen) zu Hause und etwa ein Drittel (0,73 Millionen) in einem Pflegeheim gepflegt. Die zu Hause gepflegten Personen sind zu 62,8 Prozent in die Pflegestufe I eingestuft. Der Anteil der Empfänger der Pflegestufe II liegt in der häuslichen Pflege bei 29,5 Prozent und der Anteil der Pflegestufe III bei 7,7 Prozent. Bei den Leistungsempfängern in stationären Pflegeeinrichtungen sind in Pflegestufe I 38,1 Prozent, in Pflegestufe II 40,2 Prozent und in Pflegestufe III 21,7 Prozent eingestuft. Grundsätzlich gilt, dass Pflegebedürftige bei höheren Pflegestufen häufiger in einem Pflegeheim gepflegt werden als zu Hause. Von 2009 bis 2011 ist die Zahl der Pflegebedürftigen in Stufe I über doppelt so stark gewachsen wie die in Stufen II und III (9,8 % gegenüber 4,0 % und 4,0 %). Ebenso ist die Zahl der zu Hause Gepflegten mit 8,5 Prozent mehr als doppelt so stark gewachsen wie die in Pflegeheimen mit 3,6 Prozent, wobei zu Hause die Zahl der nur durch Angehörige Gepflegten mit 10,9 Prozent wiederum mehr als doppelt so stark gewachsen ist wie der von ambulanten professionellen Diensten Mitversorgten [Lampert et al. 2005]. Die Gruppe der nur von Angehörigen Gepflegten ergibt sich aus der Zahl der Pflegegeldbeziehenden – wobei der Anstieg beziehender Personen höher war als der tatsächlich gepflegter – aber die quantitativen Trends bleiben auch bei entsprechender Korrektur stabil. Pflegende Angehörige sind in erster Linie Frauen, die zu 80 Prozent die Hauptpflegepersonen darstellen; von den Hauptpflegepersonen ist jede zweite im Alter zwischen 40 und 64 Jahren. Bei den in der Deutschen Rentenversicherung (DRV) pflichtversicherten Pflegepersonen handelt es sich zu mehr als 90 Prozent um Frauen. Die Beziehung dieser Frauen zur/m Pflegebedürftigen ist in absteigender Häufigkeit Ehefrau, Tochter, Schwiegertochter. Demographisch lässt sich die Population der nicht professionell Pflegenden (informal care givers) auf die Population der Pflegebedürftigen (a) rein quantitativ beziehen: der Umfang der Population mit dem höchsten Anteil an Pflegebedürftigen bezogen auf die Population mit dem höchsten Anteil an nicht-professionell Pflegenden und (b) durch die Häufigkeit von möglichen informellen Pflegeverhältnissen: bestehende Ehen, Zahl der erwachsenen Kinder. Da sich Letzteres nur sehr unvollkommen in der amtlichen demographischen Statistik abbilden lässt, wird man hier die deskriptiven Befunde aus Stichprobenerhebungen hochrechnen. Weiter verbreitet ist freilich der erste Ansatz. Konventionell wird die Bevölkerung dreigeteilt: (a) noch nicht wirtschaftlich aktive bis 20 Jahre; (b) wirtschaftlich aktive 20 bis 65; (c) wirtschaftlich nicht mehr aktive Bevölkerung ab 65 – und dann entweder die Jugendlastquote a/b oder die Alterslastquote c/b, oder die allgemeine Abhängigkeitsquote (a+c)/ b als Maß der Belastung der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung durch das Erbringen von Transferleistungen zugunsten der Jungen und der Alten berechnet. Bedenkenswert ist hier der Vorschlag in einem von Robine, Michel und Herrmann veröffentlichen Aufsatz, die aufbauend auf vorangegangenen Vorschlägen weiterer Autoren eine Oldest Old Support Ratio definieren [Robine et al. 2007]: die Zahl der über 85-Jährigen bezogen auf die Zahl der 50- bis 74-Jährigen: Maximal Pflegebedürftige Population bezogen auf maximal informelle Pflegeleistungen erbringende Popu-
16.1 Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen
551
lation. Die Autoren belegen an einem Vergleich der üblichen Abhängigkeitsquote mit der von ihnen vorgeschlagenen Oldest Old Support Ratio für die Schweiz und die USA, um wie viel aussagekräftiger der von ihnen vorgeschlagene Indikator ist – und wie dramatisch sich die Belastung einer Altersgruppe durch eine andere durch den demographischen Wandel vergrößert hat und weiter vergrößern wird (s. Tab. 16.4). Als nächste Verfeinerung der Analyse bietet sich an, nun abzuschätzen, welche Anteile der besonders pflegebedürftigen Population denn tatsächlich Zugang zu informeller Pflege haben: dies sind Menschen mit Ehepartnern – nach Möglichkeit jüngere – sowie mit Kindern. Solche Verfeinerungen existieren freilich immer noch nur in Ansätzen – etwa die sehr beachtenswerte Studie von Grundy und Jitlal, die an einer repräsentativen Stichprobe aus England und Wales 36 650 Personen im Jahr 1991 und 2001, die zum ersten Zeitpunkt 65 Jahre und älter waren und nicht in Institutionen lebten, untersuchten, welche soziodemographischen Faktoren mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einhergingen, 2001 in einer Institution zu leben – was auf 4,3 Prozent der Männer und 9,3 Prozent der Frauen zutraf [Grundy/Jitlal 2007]. Bei einer Unterstichprobe von 18 951 Frauen, die 1991 zwischen 64 und 79 Jahre alt waren, konnte auch noch der Einfluss der Kinderzahl auf dieses Risiko erhoben werden. Wie zu erwarten, waren Gesundheitsprobleme und hohes Alter die wichtigsten dieser Faktoren, danach aber folgende: wer 1991 nicht in einer eigenen Immobilie lebte, wer 1991 alleine lebte, wer 2001 nicht verheiratet war. Alle diese Einflüsse waren stärker bei Frauen als bei Männern. Kinderlose Frauen hatten dazu ein 25 Prozent höheres Risiko als Frauen mit Kindern, zwischen 1991 und 2001 in eine Institution zu übersiedeln. Luppa et al. (2010) fanden in einem systematischen Review und Luppa et al. (2012) in einer eigenen Kohorte nachlassende Kognition und nachlassende soziale Unterstützung zu Hause als die beiden wichtigen Prädiktoren der Einweisung in stationäre Pflege [Luppa et al. 2010, Luppa et al. 2012]. Tab. 16.4: Entwicklung der Abhängigkeitsquote und der Oldest Old Support Ratio in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Quelle: Robine et al. (2007). Abhängigkeitsquote
Oldest old support ratio
Jahr
Schweiz
United States
Schweiz
United States
1890
0,90
NA
139,7
NA
1910
0,87
NA
111,8
NA
1930
0,68
NA
101,0
NA
1940
0,64
NA
96,0
NA
1950
0,67
NA
68,9
NA
1970
0,73
0,92
37,9
30,9
1990
0,62
0,70
16,2
16,8
552
16 Ausblick
Abhängigkeitsquote
Oldest old support ratio
Jahr
Schweiz
United States
Schweiz
United States
2010
0,65
0,69
8,7
9,9
2030
0,82
0,88
6,6
8,1
2050
0,98
0,91
3,5
4,1
Aufschlussreich ist die Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes nach dem Stand vom Jahresende 2011: Es wurden 78 Prozent (669 000 von 862 000) aller pflegebedürftigen Männer, aber nur 66 Prozent (1 088 000 von 1 638 000) aller pflegebedürftigen Frauen ambulant, d.h. zu Hause, gepflegt. 64 Prozent aller Männer, aber nur 42 Prozent aller Frauen in Pflegestufe III werden zu Hause gepflegt; 74 Prozent aller Männer, aber nur 58 Prozent aller Frauen in Pflegestufe II werden zu Hause gepflegt; 79 Prozent aller Männer, aber nur 75 Prozent aller Frauen in Pflegestufe I werden zu Hause gepflegt [Destatis 2013]. Da der Anteil Kinderloser unter Männern auch unter den durch den Zweiten Weltkrieg dezimierten Männerkohorten, die deshalb ungewöhnlich hohe Familiengründungschancen hatten, immer noch größer ist als unter gleichaltrigen Frauen [Dinkel/ Milenovic 1992] (in allen bekannten Gesellschaften variiert die Familiengröße bei Männern stärker als bei Frauen), und da über geringere Bereitschaft von Kindern zur häuslichen Pflege von Vätern im Vergleich zur häuslichen Pflege von Müttern nichts bekannt ist, dürfte die Hauptursache für die höheren Chancen von Männern aller Pflegestufen, zu Hause gepflegt zu werden, in der höheren Prävalenz bestehender Ehen bei älteren Männern zu finden sein, die im Durchschnitt sowohl etwas älter sind als ihre Ehefrauen als auch eine kürzere Lebenserwartung haben als Frauen. Dieser Effekt ist auch noch stärker als der Umstand, dass im mittleren Lebensalter der Anteil nicht (noch nie und nicht mehr) Verheirateter bei Männern größer ist als bei Frauen. Zu diesen Mustern passt, dass der Frauenanteil bei den zu Hause nur von Angehörigen Gepflegten mit 59 Prozent niedriger ist als bei den zu Hause zusammen mit professionellen Diensten Gepflegten mit 68 Prozent [Destatis 2013].
16.1.4 Die Entwicklung der Medizin Auch zu Punkt 4 sind einige solide Projektionen möglich: Beispielsweise ist der Schlaganfall die häufigste im Erwachsenenalter auftretende und in vielen Fällen verhinderbare Behinderung mit Pflegebedürftigkeit. Die Prävalenz des Bluthochdrucks in Deutschland wird in der Literatur mit um die 50 Prozent [Janhsen et al. 2008, Middeke 2008] oder 35 Millionen der Erwachsenen [DHL 2011] angegeben; es sind in Deutschland davon höchstens die Hälfte behandelt, und insgesamt nur fünf Prozent = 1,75 Millionen aller Bluthochdruckkranken sind erfolgreich behandelt [DHL 2011].
16.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
553
Durch eine konsequente Blutdrucksenkung könnten nach berufener Einschätzung innerhalb von zwei bis drei Jahren ungefähr 40 Prozent aller Schlaganfälle vermieden werden [DHL 2000]. Etwa ein Drittel aller Schlaganfall-Patienten verstirbt im ersten Jahr; insgesamt erleiden in den ersten zwei Jahren nach einem Schlaganfall etwa 16 Prozent aller Überlebenden einen erneuten Schlaganfall. Ein Jahr nach erstmaligem Schlaganfall waren 40 Prozent aller Überlebenden auf keinerlei Unterstützung bei den Aktivitäten des täglichen Lebens angewiesen. Rund ein Drittel der überlebenden Schlaganfallpatienten jedoch musste zwölf Monate nach Ereignis in seiner häuslichen Umgebung gepflegt werden. Hierbei wurde die Hälfte dieser Personen nur durch nahe Angehörige gepflegt, die andere Hälfte war auf zusätzliche Pflege durch professionelle Hilfsdienste angewiesen. 20 Prozent aller Überlebenden mussten ein Jahr nach Schlaganfall in einer Institution (Alten- oder Pflegeheim) versorgt werden. Die Gesamtzahl der als Folge eines Schlaganfalls dauerhaft beeinträchtigten Menschen in Deutschland wird mit etwa einer Million geschätzt, bei etwa 100 000 bis 150 000 Zugängen pro Jahr [Zhang et al. 2012, Busch et al. 2013]. Aus solchen Zahlen ließe sich durchaus belastbar die Reduktion der Pflegebevölkerung in Deutschland durch eine in realistischem Umfang – nämlich nach dem Vorbild hier besser aufgestellter anderer Länder – verbesserte Blutdruckbehandlung abschätzen. Nach diesem Vorbild könnte dann auch noch die Reduktion von Pflegebedürftigkeit durch andere Präventivmaßnahmen quantitativ abgeschätzt werden.
16.1.5 Die Entwicklung der Technik Zu diesem Punkt kann die medizinische Demographie keine eigenen Prognosen vorlegen.
16.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung Reiner Kasperbauer und Harold Engel Die Leistungen der Pflegeversicherung haben zu einer erheblichen Verbesserung der Pflegeinfrastruktur sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor und zur Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen in der Pflege geführt. Im Jahr 2011 waren laut der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (www.gbe-bund.de) 951 893 Personen in Pflegeeinrichtungen beschäftigt, davon 290 714 bei Pflegediensten und 661 179 in Pflegeheimen. Im Vergleich zum Jahr 1999 ist dies ein Anstieg um 327 171 Personen, entsprechend 52,4 Prozent. Allerdings ist die Zunahme der Beschäftigungsverhältnisse hauptsächlich im Bereich der Teilzeitbeschäftigung erfolgt; dies veranschaulicht Abbildung 16.3. Insgesamt ist von einem weiter steigenden Bedarf auszugehen.
554
16 Ausblick
Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse 1.000.000 900.000 800.000 700.000 600.000 500.000 400.000 300.000 200.000 100.000 0
1999
2001
2003
2005
2007
2009
2011
Abb. 16.3: Entwicklung der Beschäftigungsverhältnisse in der Pflege.
Die pflegebedingte Abhängigkeit von der Sozialhilfe konnte zunächst deutlich reduziert werden, nimmt jedoch seit einigen Jahren mit weiterhin steigender Tendenz wieder zu. Durch die über mehr als zwölf Jahre festgeschriebenen Leistungsbeträge der Pflegeversicherung trat im Laufe der Zeit durch die Steigerung der Pflegevergütungen und die allgemeine Inflation eine Wertminderung der Leistungen ein, die Forderungen nach Leistungsanpassungen zunehmend gerechtfertigt erscheinen ließ, zumal es sich bei den Leistungen von Anfang an um pauschalierte, bewusst nicht kostendeckende Geld- bzw. Sachleistungen handelte, deren Unterdeckungsanteil von Jahr zu Jahr zunahm. Eine Reform und Weiterentwicklung der Pflegeversicherung hat neben einer Leistungsanpassung und strukturellen Akzentsetzungen insbesondere auch Lösungen für eine nachhaltige Finanzierung in Anbetracht der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung und der bereits in den letzten Jahren zunehmenden defizitären Finanzentwicklung aufzuzeigen. Sowohl mit dem zum 01.07.2008 in Kraft getretenen Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) als auch dem zum 30.10.2012 in Kraft getretenen Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) wurden Reformen auf den Weg gebracht, die nicht nur Leistungsverbesserungen, sondern auch in mehreren Punkten eine strukturelle Neuausrichtung beinhalten, die es bei einer perspektivischen Bewertung einzubeziehen gilt. Für die Zukunft bleiben trotz aller Verbesserungen vielfältige Herausforderungen bestehen, die in diesem Kapitel perspektivisch dargestellt werden.
16.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
555
16.2.1 Demographische Entwicklung und Finanzierung Die Bevölkerungsentwicklung wird bis zum Jahr 2050 nach der Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes dadurch gekennzeichnet sein, dass mit einer kontinuierlichen Alterung der Bevölkerung zu rechnen ist. Die Zahl der älteren Menschen wird zunehmen, insbesondere die Zahl der Hochaltrigen wird überproportional steigen. Für die Zeit nach dem Jahr 2020 wird eine Abnahme der Gesamtbevölkerung erwartet mit überproportionalem Rückgang der Altersgruppen im Erwerbsalter (s. Tab. 16.5). Nach der Variante 2-W1 der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird die Gesamtbevölkerung bis 2050 gegenüber 2009 um knapp 13 Prozent zurückgehen, die Bevölkerung im Erwerbsalter dagegen voraussichtlich überproportional um fast 28 Prozent schrumpfen, während die Anzahl der 75- bis 80-Jährigen und der 80- bis 85-Jährigen in diesem Zeitraum um annähernd 30 Prozent zunehmen wird. Der prognostizierte Zuwachs der Bevölkerungsanzahl bzw. der 85- bis 90-Jährigen beträgt sogar fast 200 Prozent. Der Altersquotient 65, d.h. der Bevölkerungsanteil im Alter von 65 und mehr Jahren je 100 der 20- bis 64-Jährigen, wird im Zeitraum von 2009 bis 2050 von 34,0 Prozent auf 69,5 Prozent ansteigen. Tab. 16.5: Entwicklung der absoluten Bevölkerungszahl und des Anteils der Altersgruppen in Deutschland in den Jahren 2009–2050 in Prozent. Die Angaben für die Jahre 2020–2050 sind Schätzwerte auf der Grundlage der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes, Variante 2-W1; Quelle: Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA) – GeroStat, Berlin. Basisdaten: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden – 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 2-W1; Annahmen für die Variante 2-W1 der Vorausberechnung: Geburtenhäufigkeit: annähernde Konstanz bei 1,4 Lebenserwartung Neugeborener: starker Anstieg auf 87,7 Jahre für Jungen und 91,2 Jahre für Mädchen Jährlicher Außenwanderungssaldo: allmählicher Anstieg auf jährlichen Saldo von 100.000 Personen ab dem Jahr 2014 Altersgruppe
Jahr
Zu-/Abnahme 2009
2010
2020
2030
2040
2050
2009–2050
Insgesamt
81.742
81.561
80.209
78.123
75.134
7.284
-12,8 %
unter 20 Jahren
15.323
15.013
13.603
12.907
11.787
10.690
-30,2 %
20- und 65 Jahren
49.556
49.730
47.660
42.186
38.351
35.749
-27,9 %
65- und 70 Jahren
4.886
4.391
5.036
6.426
4.535
4.658
-4,7 %
70- und 75 Jahren
4.740
4.916
4.124
5 359
5.747
4.324
-8,8 %
75- und 80 Jahren
3.101
3.240
3.581
4.306
5.670
4.098
+32,2 %
556
16 Ausblick
Altersgruppe
Jahr
Zu-/Abnahme 2009
2010
2020
2030
2040
2050
81.742
81.561
80.209
78.123
75.134
7.284
-12,8 %
80- und 85 Jahren
2.315
2.360
3.484
3.134
4.285
4.782
+106,6 %
85- und 90 Jahren
1.345
1.366
1.744
2.103
2.804
3.970
+195,2 %
90 Jahre und älter
478
546
976
1.703
1.950
3.014
+530,5 %
Insgesamt
Altersgruppe
Jahr
2009–2050
Zu-/Abnahme
2009 100,0 %
2010 100,0 %
2020 100,0 %
2030 100,0 %
2040 100,0 %
2050 100,0 %
2009 –2050
unter 20 Jahren
18,7 %
18,4 %
17,0 %
16,5 %
15,7 %
15,0 %
-3,7 %Pkte.
20- und 65 Jahren
60,6 %
61,0 %
59,4 %
54,0 %
51,0 %
50,2 %
-10,4 %Pkte.
65- und 70 Jahren
6,0 %
5,4 %
6,3 %
8,2 %
6,0 %
6,5 %
+0,5 %Pkte.
70- und 75 Jahren
5,8 %
6,0 %
5,1 %
6,9 %
7,6 %
6,1 %
+0,3 %Pkte.
75- und 80 Jahren
3,8 %
4,0 %
4,5 %
5,5 %
7,5 %
5,7 %
+1,9 %Pkte.
80- und 85 Jahren
2,8 %
2,9 %
4,3 %
4,0 %
5,7 %
6,7 %
+3,9 %Pkte.
85- und 90 Jahren
1,6 %
1,7 %
2,2 %
2,7 %
3,7 %
5,6 %
+4,0 %Pkte.
90 Jahre und älter
0,6 %
0,7 %
1,2 %
2,2 %
2,6 %
4,2 %
+3,6 %Pkte.
Altersquotient 65
34,0
33,8
39,8
54,6
65,2
69,5
Insgesamt
Da die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem Alter zunimmt, gehen die prognostischen Einschätzungen zur Entwicklung der Anzahl der Pflegebedürftigen davon aus, dass mit einem Anstieg von derzeit etwa 2,3 Millionen Pflegebedürftigen auf 2,9 Millionen im Jahr 2020 und auf 3,4 Millionen bis zum Jahr 2030 zu rechnen ist. Bis zum Jahr 2050 wird mit einer annähernden Verdopplung der Anzahl der Pflegebedürftigen auf 4,5 Millionen gerechnet. Ihre jährlichen Defizite deckte die soziale Pflegeversicherung (SPV) seit dem Jahr 1999 durch den Abbau des in den Startjahren aufgebauten Kapitalstocks. Dieser wurde im Wesentlichen durch den dreimonatigen Vorlauf der Beitragspflicht vor den Leistungsansprüchen angesammelt, betrug bis zum Jahresende 1999 fast 5 Milliarden Euro und zum Jahresende 2007 nur noch 3,18 Milliarden Euro. Von Sondereffekten einer Darlehensrückzahlung durch den Bund und des Einmaleffektes der vorgezogenen Beitragsfälligkeit abgesehen, gab es jährliche Ausgabenüberhänge, obwohl die Beitragseinnahmen von 16,1 Milliarden Euro in 1999 auf 17,9 Milliarden Euro in 2007 stiegen und zugleich die Leistungshöchstbeträge unverändert blieben, also faktisch einer Entwertung unterlagen. Auch der nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingeführte sogenannte generative (Ersatz-)Beitrag der Kinderlosen führte nicht zu einem bilanziellen Ausgleich. Mit dem Pflege-Weiterentwicklungs-Gesetz
16.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
557
wurden die Leistungshöchstbeträge stufenweise bis zum Jahr 2012 angehoben und der Beitragssatz ab 01.07.2008 um 0,25 Beitragssatzpunkte angehoben. Die soziale Pflegeversicherung erzielte mit den Einnahmeverbesserungen aus der Beitragssatzerhöhung und der wirtschaftlichen Lage am Arbeitsmarkt nunmehr trotz der Leistungsverbesserungen ab 2009 Überschüsse, die Ende 2012 zu einem Mittelbestand von 5,5 Milliarden Euro führten. Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz 2012 bringt erhebliche temporäre Leistungsverbesserungen für Menschen mit eingeschränkten Alltagskompetenzen, um die Zeit bis zur Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes zu überbrücken. Die weitere Beitragssatzerhöhung um 0,1 Beitragssatzprozentpunkte sichert die Stabilität bis Ende 2015. männlich weiblich gesamt
80 70 60 50 40 30 20 10 0
unter 15-60 60-65 65-70 15
70-75 75-80
80-85
85-90
90+
Alter in Jahren Abb. 16.4: Entwicklung der Pflegequote in Abhängigkeit vom Alter. Die Pflegequote beschreibt den Anteil der Pflegebedürftigen an der jeweiligen Bevölkerungsgruppe. Quelle: Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2009, Deutschlandergebnisse [Destatis 2011].
Im Generationenvertrag der sozialen Pflegeversicherung besteht ein Leistungsversprechen an die heutigen Beitragszahler für eine Risikoverwirklichung in deren Zukunft, das die Beitragszahler von morgen zu erfüllen haben. Die Konstruktion trägt im generativen Gleichgewicht von Beitragszahlern und Leistungsempfängern bzw. in der finanziellen Deckung der versicherten Pflegekosten durch das Beitragsaufkommen. Erweiterungen des Leistungsumfangs haben also nicht nur aktuelle Wirkungen auf die Versorgung, sondern schreiben sich als Erwartungen an die eigene Absicherung in die Zukunft. Das Kapitaldeckungsprinzip der privaten Pflege-Pflichtversicherung kann sich dieser Logik ebenfalls nicht entziehen. Die Prämienkalkulation mit kollektiven Eigenvorsorgeanteilen muss das Risiko der Zukunft decken und eine sichere Kapitalanlage mit bestimmten Renditeerwartungen voraussetzen. Die im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz festgeschriebene Dynamisierung der Versicherungsleistungen ist damit nicht nur eine Akzeptanzfrage für diese Versicherung, sondern sichert die Werthaltigkeit der Versicherungsansprüche und damit die eigene Versorgung. Ohne Dynamisierung würde die Kaufkraft für Pflegeleistungen im
558
16 Ausblick
Vergleich zu Preisen des Jahres 2007 und bei einer jahresdurchschnittlichen Inflationsrate von 1,5 Prozent bis 2030 um über 25 Prozent und nach 2050 um über 50 Prozent abnehmen. Für die Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung in der Zukunft sind nicht nur die Demographie, die künftige Wirtschaftsleistung (insbesondere die Anzahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und Höhe der Löhne, Gehälter und Renten) und die Inflationsrate von Bedeutung, sondern auch die künftige Anzahl der Leistungsempfänger, die Dynamisierungsregeln für die Versicherungsleistungen sowie die Strukturkomponente – die Verschiebung des Inanspruchnahmeverhaltens von der Geld- zur Sachleistung und zur stationären Pflege – zu betrachten. Weitere gesetzgeberische Maßnahmen, wie z.B. die Wirkungen eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs auf Anspruchsberechtigungen und Anspruchshöhen, können derzeit überhaupt nicht seriös in ihren Zukunftswirkungen kalkuliert werden. In einer internen Modellrechnung des AOK-Bundesverbandes aus dem Jahr 2007 – also vor den Änderungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes und des Pflege-NeuausrichtungsGesetzes – wird in der Spitze von 2,7 Millionen Leistungsempfängern ausgegangen. Diese Zahl berücksichtigt, dass es nicht auf die Weiterentwicklung der statistisch als Fälle gezählten Häufigkeiten ankommt. So wird statistisch ein Pflegebedürftiger dann als zwei Fälle ausgewiesen, wenn er höher gestuft wurde. Auch dürfen nur die Menschen berücksichtigt werden, die in Zukunft dem Umlagesystem zugeordnet sind. Bei einer Leistungsdynamisierung von 1,5 Prozent lägen die Ausgaben im Maximum bei 45 Milliarden Euro und der Ausgaben deckende Beitragssatz stiege auf 3,8 Prozent. Bei einer Dynamisierung von 2,25 Prozent ergäben sich Ausgaben von 60 Milliarden Euro mit einem Beitragssatz von über 5,5 Prozent. Eine Dynamisierung, besonders oberhalb des Zuwachses der Grundlohnsumme, ist für die zukünftige Finanzierbarkeit wahrscheinlich eine größere Herausforderung als die Demographie. Grundlohnentwicklung und Kaufkraftverluste der Versicherungsleistung ohne Dynamisierung könnten zum größten Teil die wachsende demographische Belastung kompensieren. Angesichts der Unwägbarkeiten und der gesetzten Annahmen für eine weit in die Zukunft reichende Prognose bis zum Jahr 2050 gibt es natürlich andere Szenarien, die zu steileren Profilen führen. Die Demographie, die Dynamisierung und die versicherten Pflegekosten werden die Art und den Umfang der notwendigen Zukunftsvorsorge bestimmen. Jedoch muss auch die aktuelle Leistungskraft der Wirtschaft und der privaten Haushalte berücksichtigt werden. Zu den kurzfristigen Finanzierungsüberlegungen gehört(e) die Zusammenlegung von gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung. Überwiegend als notwendige Schnittstellenbereinigung thematisiert, führt dieser Organisationsvorschlag jedenfalls zu keiner verbesserten Finanzierungsperspektive. Im Gegenteil, der verbliebene Kapitalstock würde von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vereinnahmt und die systemische Übertragung des Ordnungsprinzips Bedarfsdeckung auf die fusionierte Pflegeversicherung würde deren Eigenschaft als Teilkos-
16.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
559
tenversicherung praktisch beenden. Zu befürchten wären eher neue Finanzierungsprobleme. Der Vorschlag, die Pflegeversicherung in eine Vollversicherung umzubauen, greift Aspekte der Altersarmut, sinkender Renten und der Attraktivität des Pflegeberufes auf. Die Schere zwischen Pflegekosten und Leistungsfähigkeit der Pflegebedürftigen wird sich tendenziell weiter öffnen und ein Umfeld von Versorgungslücken und Schwarzarbeit in der Pflege begünstigen. Unerwünschte arbeitsrechtliche Konditionen für die Hilfspersonen und Qualitätsmängel könnten die Folgen insbesondere in der präferierten häuslichen Pflege sein. Eine Vollversicherung könnte die Rahmenbedingungen für die professionelle Pflege von der Bezahlung bis zur Nachwuchsgewinnung stärken. Bis jetzt gibt es jedoch keine valide Berechnung der Kosten dieses Vorhabens, in das erhebliche Mitnahmeeffekte leistungsfähiger Pflegehaushalte, der Wegfall von Marktwirkungen beim selbst finanzierten Leistungseinkauf und eine Verdrängung der Angehörigenpflege einzukalkulieren wären. Der Vollversicherungslösung steht insoweit als Alternative eine angemessene und kalkulierbare Verbesserung der bestehenden Teilkostenversicherung gegenüber. Ein Finanzausgleich zwischen sozialer Pflegeversicherung und privater PflegePflichtversicherung könnte auf Zeit Bilanzausgleiche bewirken. Der Solidarausgleich würde den Vorteil aus der Risikoselektion bei der Zugangsberechtigung zur privaten Pflege-Pflichtversicherung zurückführen. Gegenwärtig ist das Verhältnis von Leistungsempfängern zu Versicherten in der privaten Pflege-Pflichtversicherung nicht halb so hoch wie in der sozialen Pflegeversicherung. Von 69,48 Millionen gesetzlich Versicherten waren 1,60 Millionen ambulant und 715 000 stationär pflegebedürftig. Hingegen waren von 9,52 Millionen privat Pflichtversicherten nur 101 000 ambulant und 43 000 stationär pflegebedürftig [BMG 2012]. Verfassungsrechtliche Einwände und unterschiedliche ordnungspolitische Gesamtvorstellungen zu einer Bürgerversicherung haben diese Option bisher verhindert. Eine sofort finanzwirksame, besitzstandsfreie Absenkung bzw. Angleichung der Leistungshöchstbeträge für stationäre Pflege an das ambulante Leistungsbudget wäre im Hinblick auf den Vertrauensschutz und die nötige Anpassungszeit der Pflegeinfra struktur nicht sinnvoll. Der Trend zum Pflegeheim ist zwar unverkennbar, jedoch nicht einfach durch eine scharfe Reduktion der Versicherungsleistung umkehrbar. Auch eine längerfristige Korrektur muss Antworten auf die Folgen für heimpflegebedürftige Menschen geben. Ein Systemumstieg auf eine private Vorsorgepflicht im Rahmen eines Kapitaldeckungsverfahrens oder ein Systemausstieg mit der Rückkehr zur Eigenfinanzierung der Pflegebedürftigkeit mit bedarfsabhängigen staatlichen Unterstützungsleistungen bedarf der grundlegenden Antwort, ob dies die besseren Absicherungsvarianten für ein allgemeines Lebensrisiko sind. Jedenfalls sind mit diesen Optionen die Ausfinanzierung des jetzigen Umlagesystems und der Aufbau der eigenen Vorsorge durch dieselbe Generation verbunden. Hierzu gibt es zwar Vorschläge einer Entschärfung der Doppelbelastung. So könnten die im Umlagesystem verbleibenden Rentner mit
560
16 Ausblick
deutlich höheren Beiträgen eine Absenkung der Beiträge derjenigen ermöglichen, die bereits in ihre Eigenvorsorge investieren müssen, ohne noch Ansprüche aus dem Umlagesystem zu haben. Bezüglich des Arbeitgeberbeitrages und der Erforderlichkeit von bedarfsabhängigen Hilfesystemen für Menschen, die ihre Versicherungsprämien oder ihre Versorgung nicht bezahlen können, bestünden auch noch viele Einzelprobleme. Es ist anzunehmen, dass künftig der Beitragssatz in der Pflegeversicherung kontinuierlich zu prüfen ist, wenn über die Höhe der Dynamisierung entschieden wird. Bis 2015 geht der Gesetzgeber von der Auskömmlichkeit des Geldes nach der Beitragssatzerhöhung zum 01.01.2013 aus. Fest steht, dass sich ein dauerhaft höherer Anteil von Leistungsempfängern an potenziellen Beitragszahlern nicht mit einer Rücklageauflösung oder Demographiereserve untertunneln lässt. Dass die ergänzende Eigenvorsorge weiter betrieben und weiter steuerlich gefördert werden sollte, ist im Hinblick auf die Entwicklung der Pflegekosten selbstverständlich.
16.2.2 Perspektiven zur Entwicklung der Anzahl demenziell Erkrankter In Deutschland leben derzeit rund 1,2 Millionen Menschen mit Demenz. Bis zum Jahr 2020 wird sich diese Zahl auf rund 1,5 Millionen, bis zum Jahr 2050 auf bis zu 2,6 Millionen erhöhen. Unter Berücksichtigung der Sterberate ist jährlich mit einer Zunahme um fast 30 000 demenziell Erkrankte zu rechnen. Das Statistische Bundesamt verzeichnete bereits für das Jahr 2008 Kosten für die Versorgung Demenzkranker in Höhe von 10,49 Milliarden Euro. Angesichts der zu erwartenden Zunahme der Zahl demenziell erkrankter Menschen ist davon auszugehen, dass der Anteil der Demenzkosten an den gesamten Gesundheitsausgaben signifikant steigen wird [Leicht/König 2012]. Die Prävalenz, d.h. die Anzahl der demenziell Erkrankten in der Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt, liegt in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen bei 1,2 Prozent und steigt steil mit zunehmendem Alter an. In der Altersgruppe der 90-Jährigen liegt die Prävalenz bereits bei 34,6 Prozent. Abbildung 16.5 zeigt die zu erwartende Zunahme der demenziell Erkrankten bis zum Jahr 2050 [Bickel 2006]. Die Inzidenz, d.h. die Anzahl der zuvor gesunden Personen, die im Laufe eines Jahres an Demenz erkranken, steigt von 0,4 Prozent in der Altersgruppe der 65–69-Jährigen auf über 10 Prozent bei den über 90-Jährigen. In Deutschland ist jährlich mit mehr als 200 000 Neuerkrankungen zu rechnen, von denen 125 000 auf die Alzheimer-Demenz und zirka 75 000 auf andere Demenzformen entfallen [Bickel 2006, Staehelin 2004]. Die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, liegt bei Männern, die ein Alter von 65 Jahren erreicht haben, bei 16 Prozent und bei Frauen – aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung – bei 34.5 Prozent. Das Alter ist der Hauptrisikofaktor für die Entwicklung einer Demenz.
16.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
2500
561
2290
2000
1922 1689
1500
1416 1163
1000
934
500 0
2000
2010
2020
2030
2040
2050
Jahr Abb. 16.5: Entwicklung der Zahl der Demenzkranken bis zum Jahr 2050 (in der Altersgruppe 65 Jahre und älter).
Die adäquate Versorgung demenziell Erkrankter und anderer Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz wird sich angesichts der in den kommenden Jahren zu erwartenden Zunahme der Betroffenen und der damit verbundenen Versorgungsprobleme zu einer zentralen Aufgabe der Pflegeversicherung entwickeln. Mit der Schaffung eines erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der den spezifischen Hilfebedarf dieses Personenkreises besser berücksichtigt als es die bisherige, mehr somatisch ausgerichtete Definition leistet, und einem darauf ausgerichteten Assessment kann dann auch von gutachterlicher Seite dem entsprechend Rechnung getragen werden.
16.2.3 Perspektiven zur Weiterentwicklung der Vorrangigkeit der ambulanten Versorgung Von Beginn der Pflegeversicherung an kommt der häuslichen Versorgung pflegebedürftiger Menschen eine besondere Bedeutung zu. Ende 2011 bezogen von den 2,46 Millionen pflegebedürftigen Menschen 69 Prozent ambulante Leistungen, 79 Prozent davon als Geldleistung mit einer Versorgung durch Familienangehörige oder andere private Pflegepersonen und 21 Prozent als Sach- oder Kombinationsleistung mit einer vollständigen oder teilweisen Versorgung durch einen Pflegedienst. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die ambulante Pflege in häuslicher Umgebung die vorrangige Versorgungsform Pflegebedürftiger darstellen. Dies kommt bereits in § 3 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zum Ausdruck: „Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen“. Weiter heißt es unter
562
16 Ausblick
Verweis auf die gemeinsame, gesamtgesellschaftliche Verantwortung in § 8 Abs. 2 SGB XI: „Die Länder, die Kommunen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen … unterstützen und fördern … die Bereitschaft zu einer humanen Pflege und Betreuung … durch Angehörige, Nachbarn und Selbsthilfegruppen und wirken so auf eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung hin“. Für ein Verbleiben von Pflegebedürftigen in häuslicher Umgebung über einen möglichst langen Zeitraum ist die Bedeutung von Familie und anderen privaten Netzen unbestritten. Gefördert werden soll dieses Ziel, die Angebote für Pflegebedürftige wohnortnah besser aufeinander abzustimmen, u.a. durch die mit dem PflegeWeiterentwicklungsgesetz eingeführten Pflegeberater. Aufgabe der Pflegeberatung ist es nach dem Willen des Gesetzgebers insbesondere, 1. den Hilfebedarf unter Berücksichtigung der Feststellungen der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung systematisch zu erfassen und zu analysieren, 2. einen individuellen Versorgungsplan mit den im Einzelfall erforderlichen Sozialleistungen und gesundheitsfördernden, präventiven, kurativen, rehabilitativen oder sonstigen medizinischen sowie pflegerischen und sozialen Hilfen zu erstellen, 3. auf die für die Durchführung des Versorgungsplans erforderlichen Maßnahmen einschließlich deren Genehmigung durch den jeweiligen Leistungsträger hinzuwirken, 4. die Durchführung des Versorgungsplans zu überwachen und erforderlichenfalls einer veränderten Bedarfslage anzupassen sowie bei besonders komplexen Fallgestaltungen den Hilfeprozess auszuwerten und zu dokumentieren. Auf diese im Sinne eines Case Managements zu verstehende Pflegeberatung haben seit 01.01.2009 alle Personen Anspruch, die Leistungen nach dem SGB XI erhalten. Die Pflegekassen sind verpflichtet, eine angemessene Anzahl von Pflegeberatern vorzuhalten, die eine zeitnahe und umfassende Beratung sicherstellt. Mit dem PflegeNeuausrichtungs-Gesetz wurden die Beratungsaufgaben der Pflegekassen dahingehend erweitert, dass innerhalb von zwei Wochen nach Antragseingang verpflichtend ein konkreter Beratungstermin durch die Pflegekassen angeboten werden muss oder alternativ ein Beratungsgutschein für eine kostenlose Beratung durch eine Beratungsstelle auszustellen ist. Zu einem weiteren Eckpfeiler der ambulanten Versorgung Pflegebedürftiger ist das ehrenamtliche bürgerliche Engagement auszubauen. Ein wesentliches Element liegt hierbei in der Schaffung beteiligungsfreundlicher Institutionen. Damit sind öffentliche Einrichtungen und kommunale Verwaltungen gefordert, aber auch Vereine und Verbände aufgerufen, sich gegenüber dem lokalen Umfeld zu öffnen und dadurch die Entwicklung von Versorgungsnetzwerken zu fördern. Das Pflege-Weiter-
16.2 Perspektiven der sozialen Pflegeversicherung
563
entwicklungsgesetz sieht Fördermittel zum Ausbau ehrenamtlicher Strukturen und der Selbsthilfe im Pflegebereich vor. Darüber hinaus gewinnen neue Wohn- und Betreuungsformen, z.B. Wohngemeinschaften oder betreutes Wohnen, für eine Stärkung der häuslichen Pflege zunehmend an Bedeutung. Häufig ist nur dadurch ein Verbleiben in häuslicher Umgebung oder zumindest in ambulanter Versorgung möglich. Durch eine flexiblere Leistungsinanspruchnahme, z.B. durch „Poolen“ von Leistungsansprüchen, bei dem Ansprüche auf Pflege- und Betreuungsleistungen sowie auf hauswirtschaftliche Versorgung gemeinsam mit weiteren Leistungsberechtigten in Anspruch genommen werden können, kommt der Gesetzgeber diesem Wunsch entgegen. Durch diese verschiedenartigen Maßnahmen und innovative Lösungsansätze erscheint es möglich, die ambulante pflegerische Versorgungsstruktur soweit auszubauen, dass trotz ungünstiger demographischer Entwicklung und abnehmender Tragfähigkeit familiärer Netze ein größerer Anteil von Pflegebedürftigen in häuslicher Umgebung verbleiben kann als es gegenwärtig der Fall ist. Damit würde dem Wunsch der weit überwiegenden Mehrheit pflegebedürftiger Menschen, so lange wie möglich zu Hause und nicht in einem Pflegeheim versorgt zu werden, entsprochen.
16.2.4 Rolle der Prävention und Rehabilitation Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz wird der Grundsatz „Prävention und Rehabilitation vor und in der Pflege“ weiter gestärkt. Zu dessen Umsetzung wird die Pflicht der Pflegekassen festgeschrieben, die rechtzeitige Einleitung geeigneter und zumutbarer rehabilitativer Maßnahmen durch den zuständigen Träger zu veranlassen. Darüber hinaus wird die Verpflichtung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) konkretisiert, mit jedem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit unabhängig von dessen Ergebnis eine gesonderte Aussage dazu zu treffen, ob und welche geeigneten, notwendigen und zumutbaren Leistungen der medizinischen Rehabilitation im Einzelfall geboten sind. Die Pflegekasse hat die gesonderte gutachterliche Rehabilitationsempfehlung an den Antragsteller weiterzuleiten. Für eine erfolgreiche Rehabilitationsmaßnahme ist neben der Motivation des Pflegebedürftigen die passgenaue Auswahl der Art der Rehabilitation von Bedeutung. Oberstes Ziel hat hierbei die Wiedergewinnung bzw. Erhaltung der Selbständigkeit bei den Verrichtungen des täglichen Lebens zu sein. Für die Zukunft ist der Prävention von Pflegebedürftigkeit ein höherer Stellenwert beizumessen. Studien zeigen, dass gesundheitsfördernde Maßnahmen dazu beitragen können, Pflegebedürftigkeit bis ins hohe Alter zu vermeiden. Präventions- und Rehabilitationspotentiale werden nicht immer in ausreichendem Maß genutzt. Dies trifft auch hinsichtlich der Möglichkeiten einer aktivierenden Pflege zu. Das pflegerische Selbstverständnis muss sich stärker darauf ausrichten, Selbständigkeit zu erhalten und wieder herzustellen.
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16 Ausblick
16.2.5 Weiterentwicklung der Qualität der pflegerischen Versorgung Für die pflegebedürftigen Menschen ist die Qualität der pflegerischen Versorgung von entscheidender Bedeutung. Trotz aller Anstrengungen in den Jahren seit Einführung der Pflegeversicherung ist es bisher nicht gelungen, ein flächendeckend zufriedenstellendes Qualitätsniveau in allen ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen zu erreichen. In der Mehrzahl der Pflegeeinrichtungen wird zwar eine gute Pflege durchgeführt bzw. auf angemessenem Qualitätsniveau gepflegt. Trotzdem wird auch derzeit noch eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Pflegebedürftigen defizitär versorgt. Als Problembereiche fielen bei den Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung insbesondere die Dekubitusprophylaxe und -therapie, die Ernährungs- und Flüssigkeitsversorgung, die Inkontinenzversorgung und die gerontopsychiatrische Versorgung auf. Ursachen dieser Defizite waren häufig eine unzureichende Pflegeplanung und Ablauforganisation sowie Verbesserungspotentiale im Führungsmanagement. Mit der gesetzlichen Verankerung von Expertenstandards, der Veröffentlichung und Transparenz der Ergebnisse der Qualitätsprüfungen sowie der Intensivierung der externen Qualitätssicherung wurden vom Gesetzgeber weitere Instrumente und Verfahren geschaffen, die eine größere Nachhaltigkeit in der Qualitätsentwicklung bewirken sollen. Mehr Transparenz und Vergleichbarkeit zwischen den Pflegeeinrichtungen wird durch die Veröffentlichung der Ergebnisse der Qualitätsprüfungen im Internet und der Darstellung der in den Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen, wie sie § 115 SGB XI vorsieht, erreicht. Durch diese öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen ist eine spürbare Unterstützung der übrigen Qualitätsbemühungen erfolgt.
16.2.6 Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) Das zum 30.10.2012 in Kraft getretene Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz sieht verschiedene Leistungsverbesserungen vor, insbesondere für Menschen mit Demenz. Diese Leistungsverbesserungen sollen gewährt werden, bis ein Gesetz in Kraft tritt, das eine Leistungsgewährung aufgrund eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorsieht. Darüber hinaus sind Leistungsverbesserungen vorgesehen, von der Möglichkeit der vorübergehenden Inanspruchnahme von häuslichen Betreuungsleistungen, der Flexibilisierung der Leistungsinanspruchnahme, der Betreuung in ambulant betreuten Wohngruppen über eine Intensivierung der Beratung bis hin zur Entlastung von Angehörigen. Dem Ziel der Sicherung ambulanter häuslicher Pflege als vorrangige Versorgungsform dient die geplante stärkere Etablierung und finanzielle Unterstützung neuer Wohn- und Betreuungsformen sowie auch die Einführung von Vorsorge- und
16.3 Erwartungen an eine Pflegereform – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung
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Rehabilitationsleistungen für pflegende Angehörige. Damit werden diese in ihrer verantwortungsvollen und fordernden Tätigkeit unterstützt. Die weitere Ausrichtung auf die Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen („Rehabilitation vor Pflege“) soll in Weiterführung bisheriger Bemühungen den Eintritt von Pflegebedürftigkeit verzögern. Dennoch ist das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz nur als Zwischenschritt hin zu einer umfassenden Pflegereform mit der notwendigen Etablierung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes zu sehen.
16.3 Erwartungen an eine Pflegereform – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung Klaus Zok 16.3.1 Einleitung Die Deutschen werden immer älter, und damit steigt auch die Zahl der Menschen, die auf fremde Hilfe angewiesen sind. Die Zahl der Pflegebedürftigen ist seit Einführung der Pflegeversicherung fast kontinuierlich gestiegen. Laut Statistischem Bundesamt sind aktuell 2,5 Millionen Menschen pflegebedürftig. Mehr als zwei Drittel, also über 1,76 Millionen Menschen, werden derzeit zu Hause versorgt. Dabei wird der Großteil von ihnen (1,18 Mio.) ausschließlich von Angehörigen gepflegt. Weniger als ein Drittel der Pflegebedürftigen lebt in einem Pflegeheim [Destatis Dezember 2011]. Unterschiedlichen Projektionen zufolge wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen im Verlauf der nächsten drei bis vier Dekaden deutlich erhöhen, womöglich sogar mehr als verdoppeln – und das bei schrumpfender Erwerbsbevölkerung. Vor diesem Hintergrund kommt der Frage, welche Vorstellungen und Erwartungen die Versicherten selbst haben, eine große Bedeutung zu. Um Aufschluss darüber zu erhalten, wie die Versicherten zur Pflegeversicherung stehen, den Reformbedarf und einzelne Reformmaßnahmen einschätzen, hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) eine repräsentative Befragung unter Versicherten der sozialen Pflegeversicherung (SPV) durchgeführt. Im Zeitraum April/Mai 2011 sind 1 600 Versicherte ab 18 Jahren auf der Basis eines standardisierten, getesteten Fragebogens telefonisch durch das Sozialwissenschaftliche Umfragezentrum der Universität Duisburg-Essen befragt worden.
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16 Ausblick
16.3.2 Befragungsergebnisse und Diskussion 16.3.2.1 Betroffenheit und Absicherung Die Sorge, im Alter selbst zum Pflegefall zu werden, beschäftigt weite Teile der Bevölkerung (61,4 %), Frauen noch mehr (67,1 %) als Männer (55,0 %). Das gilt bereits für die Jüngeren. Jeder Zweite (50,4 %) der unter 30-Jährigen hat Angst davor, einmal pflegebedürftig zu werden. Bei den über 50-Jährigen trifft dies für mehr als 60 Prozent zu. Die Angst vor Pflegebedürftigkeit ist in einkommensschwächeren Schichten tendenziell verbreiteter als bei Personen, die über ein vergleichsweise hohes Einkommen verfügen [IfD Allensbach 2009]. Dabei rangiert die Sorge um Pflegebedürftigkeit deutlich vor der Angst, im Alter allein zu sein (37,6 %). Das Thema Pflege beschäftigt die Mehrheit der GKV-Versicherten über alle Altersgruppen. Bei den unter 30-Jährigen halten bereits drei Fünftel (61,8 %) die Absicherung des eigenen Pflegerisikos für wichtig bzw. sehr wichtig, erwartungsgemäß nimmt die Bedeutung des Themas mit der potenziellen Betroffenheit zu: Bei den über 70-Jährigen gilt dies für vier von fünf Versicherten (79,2 %). Bei Frauen ist der Prozent anteil deutlich höher (78,4 %) als bei den Männern (68,0 %). Die Institution der Pflegeversicherung genießt in weiten Teilen der Bevölkerung grundsätzlich Akzeptanz (s. Tab. 16.6). Nur 12,8 Prozent der Versicherten lehnen die soziale Pflegeversicherung ab. Zwei Fünftel (42,6 %) sind der Auffassung, dass sich die Einführung der Pflegeversicherung bewährt habe; noch im Jahr 2005 betrug dieser Anteil lediglich 30,4 Prozent [Zok 2005]. Auffällig ist aber auch, dass fast ein Drittel der Befragten (31,7 %) unentschieden urteilt („teils, teils“). In einer Zusatzstichprobe mit insgesamt 515 Befragten, die mit einer pflegebedürftigen Person in der eigenen Familie bzw. im eigenen Haushalt leben, fällt die allgemeine Bewertung der Institution der sozialen Pflegeversicherung im Vergleich nochmal deutlich positiver aus (s. Abb. 16.6). Tab. 16.6: Bewertung der sozialen Pflegeversicherung [WIdO 2011]. Angaben in Prozent. „Die Einführung der sozialen Pflegeversicherung zur Absicherung sozialer Risiken hat sich bewährt.“ Jahr 2011
2005
Anzahl Befragte
1.605
3.000
trifft voll und ganz zu/trifft zu
42,6
30,4
teils, teils
31,7
32,0
trifft nicht zu/trifft überhaupt nicht zu
12,8
16,3
weiß nicht/keine Angabe.
12,9
21,3
Wachsende Zustimmung zur Institution Pflegeversicherung
16.3 Erwartungen an eine Pflegereform – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung
567
„Die Einführung der Pflegeversicherung zur Absicherung sozialer Risiken hat sich bewährt.“ 100% 80% 60%
21,3
12,9 12,8
16,3
4,9 10,9 22,7
10,9 21,9
4,3 10,3 21,6
4,7 7,6 23,8
8,5 19,7
31,7 21,9
32,0
trifft zu teils, teils trifft nicht zu weiß nicht / keine Angabe
40% 20% 0
30,4
42,6
3000 GKVVersicherte 2005
1605 GKVVersicherte 2011
61,6
515 Befragte mit Pflegeerfahrung
45,3
63,8
64,0
… mit Personen … ohne in in Pflege- Pflege- Pflegestufe stufe 1 stufe 2
71,8
in Pflegestufe 3
Die Zustimmung zur Institution Pflegeversicherung ist gewachsen. Abb. 16.6: Bewertung der sozialen Pflegeversicherung [WIdO 2011].
Die Leistungsfähigkeit der Pflegeversicherung wird insgesamt eher kritisch beurteilt (s. Tab. 16.7). Nur ein Fünftel (21,9 %) hält den derzeitigen Versicherungsschutz der Pflegeversicherung für ausreichend, mehr als ein Viertel (27,3 %) urteilt unentschieden („teils, teils“), während ein großer Teil der Versicherten (40,1 %) kritisch votiert: Sie halten das Leistungsvolumen der sozialen Pflegeversicherung im Pflegefall für nicht ausreichend.
568
16 Ausblick
Tab. 16.7: Bewertung des Leistungsspektrums der Pflegeversicherung [WIdO 2011]. Angaben in Prozent. „Die soziale Pflegeversicherung bietet einen ausreichenden Versicherungsschutz.“ Altersgruppen in Lebensjahren
Geschlecht
insg.