Narrative Praxis: Ein Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching [1 ed.] 9783666407932, 9783525407936


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Narrative Praxis: Ein Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching [1 ed.]
 9783666407932, 9783525407936

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Peter Jakob / Maria Borcsa / Jan Olthof / Arist von Schlippe (Hg.)

Narrative Praxis

Ein Handbuch für Beratung,      Therapie und Coaching

Peter Jakob / Maria Borcsa / Jan Olthof / Arist von Schlippe (Hg.)

Narrative Praxis

Ein Handbuch für Beratung,      Therapie und Coaching

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit zwölf Abbildungen und vier Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: shutterstock.com/fran_kie Die Beiträge von David Epston, Jan Olthof und Peter Jakob, Dan Wulff et al., Peter Rober, Jim Wilson (Wie man Bilder für therapeutische Geschichten mit Kindern findet), Rudi Dallos und Arlene Vetere, Kaethe Weingarten et al. sowie Afiya Mangum Mbilishaka wurden von Astrid Hildenbrand aus dem Englischen übersetzt. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40793-2

Inhalt

Vorwort der Herausgebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Ein Brief von David Epston . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Teil 1 Zugänge zu narrativen Landschaften Jan Olthof und Peter Jakob Die Bedeutung nomadischer Theorie für die Entwicklung neuer Praxisformen narrativer Therapie – ein Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Jürgen Straub Vom Leben erzählen: Warum und wozu diese ganzen Geschichten? . . . . . . . 41 Tom Levold Sprechen und Erzählen: Für eine Erweiterung der narrativen Perspektive in der systemischen Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Heidrun Schulze Eine Reise zu machtkritischen Denkorten und Denklandschaften narrativer ­Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Dietmar J. Wetzel Kontexte des Familiengedächtnisses – Aspekte, Funktionen und Formen des Erinnerns und des Vergessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Arist von Schlippe Erzählen schafft Erinnerung. Die Verkörperung und transgenerationale Bedeutung von Geschichten in Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Gabriele Lucius-Hoene und Carl Eduard Scheidt Narrative Forschungszugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Teil 2  Narrative Praxis als methodischer Prozess Jan Müller Narrative Praxis: Was geschieht im Gespräch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Jan Olthof Das nomadische Team: Zusammenarbeit in der narrativen Psychotherapie 165

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Inhalt

Dan Wulff, Sally St. George, Dan Dulberger und Monica Sesma Unmöglichkeit ergründen: Das »Unmögliche-Fälle«-Projekt . . . . . . . . . . . . . 183 Heidrun Schulze Narrative Praxis als Dissens: Dekolonisierung epistemischer Wissensordnung gegenüber Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Elisabeth Christa Markert und Thomas Schollas Perspektiven systemischer Biografiearbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Michael Müller Narratives Arbeiten in Organisationsentwicklung und Coaching . . . . . . . . . . 222 Peter Rober Nicht erzählte Geschichten in der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Teil 3  Kontexte und Settings narrativer Praxis Jim Wilson Woran erkennt man, ob ein Goldfisch weint? Betrachtungen über das Geschichtenerzählen in der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Jim Wilson Wie man Bilder für therapeutische Geschichten mit Kindern findet . . . . . . . 261 Jasmina Sermijn Paare einladen, ihre Beziehungsgeschichte zu bereichern. Narrative Impulse für die Paartherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Thomas Friedrich-Hett, Simon Forstmeier und Meinolf Peters Narrative Beratung und Therapie mit Älteren – Perspektiven aus systemischer, verhaltens­therapeutischer und psychodynamischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Mathias Klasen und Claudia Schiffmann Aufsuchende Familientherapie in der Jugendhilfe: Ein narrativer Ansatz . . . 299 Thomas Klatetzki Narrative Praktiken in sozialen personen­bezogenen Dienstleistungsorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Gerhard Walter Grundzüge einer narrativen Konzeption und therapeutischen Praxis in ­psychiatrischen Einrichtungen: Stationärer Aufenthalt als Übergang . . . . . . . 328

Inhalt

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Heiko Kleve, Britta Boyd, Tobias Köllner und Tom Rüsen Überlebensgeschichten im transgenerationalen Unternehmertum: Narrative und Narrationen in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien . . . . . 347

Teil 4  Kreuzungen: Die Pluralität narrativer Praxis Rudi Dallos und Arlene Vetere Bindungsorientierte narrative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Sabine Trautmann-Voigt Narrative, körpersprachliche Kommunikation und Embodiment . . . . . . . . . . 379 Brigitte Boothe Psychisches Leben und die narrative Selbstmitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

Teil 5 Politische Dimensionen narrativer Praxis Kaethe Weingarten, Alma R. Galván-Durán, Sol D’Urso und Deliana Garcia Das Witness to Witness Program: Hilfe für Helferinnen im Kontext der COVID-19-Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Afiya Mangum Mbilishaka Black Lives (and Stories) Matter: Ethnisch narrative Therapie in Frisierstuben und Schönheitssalons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Peter Jakob und Sarah Therapie der Gewaltfreiheit: Vom Opfernarrativ zur Widerstandsgeschichte 449 Julia Hille, Katarzyna Gdowska, Milena Kansy und Maria Borcsa »Ja, denn ich lebe generell schon jetzt ein sess­haftes Leben«: Ambiguität(en) in Erzählungen von Familien mit einer Vertreibungsgeschichte . . . . . . . . . . . 466

Ein Aufruf Chimamanda Ngozi Adichie Die Gefahr einer einzigen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

Vorwort der Herausgebenden

Seit Wilhelm Schapp 1953 sein Buch »In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding« veröffentlichte, haben narrative Theorie und narrative Praxis sich vielfältig und in sehr verschiedenen Arbeitsfeldern entwickelt. Diese Vielfalt möchten wir in diesem Band wiedergeben. Der Ausgangspunkt narrativer Praxis ist die Vorstellung, dass eine Person spezifische Narrative für sich nutzt und dass diese in die verschiedenen sozialen Systemkontexte eingebettet sind, innerhalb derer sich die Person bewegt. Diese Narrative können sich einschränkend oder ermöglichend in Hinblick auf die Erfahrungsmöglichkeiten und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen einer Person auswirken. Dies scheint uns auch heute noch grundlegend für jedwede Praxis zu sein, die sich auf narrative Theorie beruft. Die bekannteste Umsetzung ist dabei wohl die »Narrative Therapie« geworden. Sie hat sich als therapeutische Tradition mit ganz eigenen Akzentsetzungen entwickelt; einen besonderen Platz hat sie dabei in der systemischen Therapie gewonnen. Wir sehen Narrative Therapie und weitergehend narrative Praxis jedoch weniger als Ansatz mit einer eigenständigen therapeutischen Sprache, sondern eher als einen ausgeprägten »Dialekt« im Rahmen verschiedener Therapieformen, die sich – schulenübergreifend – der gemeinsamen Arbeit an neuen Wirklichkeitskonstruktionen verpflichtet fühlen. Wenn wir über narrative Praxis sprechen, kommen wir an der grundlegenden Arbeit von Michael White und David Epston nicht vorbei (z. B. 2013). Sie entwickelten auf kreative Weise eine Methodik, die auf Veränderung von Narrativen der Person in ihrer sozialen Eingebundenheit abzielt. Der Kommunikationsrahmen für diese Veränderung von Geschichten umfasste zunächst die Dyade zwischen Therapeutin und Klientin oder das System Therapeut und Familie, erweiterte sich jedoch im Laufe der Zeit auch auf bestimmte Gemeinschaften, denen die Person angehört oder deren Perspektiven zur Person sie verinnerlicht hat. Gerade der letztere Aspekt – dass der therapeutische Bezugsrahmen auch Gemeinschaften umfasst – gewinnt aus unserer Sicht zunehmend an Bedeutung. Narrative Therapie kann durch ihre besonderen Perspektiven einen wichtigen Beitrag zur schulenübergreifenden Bereicherung des therapeutischen Repertoires und Verständnisses beitragen. Besonders relevant scheint uns in dieser Hinsicht die Auseinandersetzung der narrativen Ansätze mit einschrän-

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Vorwort der Herausgebenden

kenden Machtbeziehungen – etwa die oft zur Pathologisierung führende Definitionsmacht von Fachkräften gegenüber ratsuchenden Menschen – sowie ihre Einbeziehung sozialpolitischer Kontexte und das Infragestellen dominanter gesellschaftlicher Diskurse zu sein. Diese können sich problematisch auf die psychische Befindlichkeit von Ratsuchenden auswirken. Foucault (2012) zufolge sind Machtbeziehungen durch die Frage determiniert, wem Gesprächserlaubnis erteilt wird und was jeweils als psychisch gesund und was als abweichend betrachtet wird. Die Bateson’sche Auffassung, derzufolge menschliche Sinnerzeugung immer in Bezug auf einen spezifischen Kontext geschieht (1981), weisen für die narrative Praxis einen Weg aus dieser Exklusion: Unterschiedliche Kontexte bringen unterschiedliche Stimmen und unterschiedliche Perspektiven hervor. In der Verantwortung und Befähigung der Beraterin liegt es, dafür Gesprächsräume zu schaffen. Im Gegensatz zu Praxen, welche sich nur eines zentralen Narrativs bedienen, etwa einer psychopathologischen Beschreibung des Klienten, werden hier Unterschiede nicht nur zugelassen, sondern begrüßt. Eine so verstandene horizontale, nichthierarchische Sichtweise, in der vielfältige Beschreibungen und Bedeutungsgebungen zugelassen sind, ermöglicht neue Geschichten. Narrative Praxis wird nomadisch im Sinne von Deleuze (z. B. Deleuze u. Guattari, 1992), indem sie sich prozesshaft innerhalb von und um Bedeutungsgebung herum bewegt, Geschichten auf vielstimmige Weise erzählt, immer neue assoziative Verknüpfungen zulässt und damit neue Formen des Verständnisses lebensweltlicher Zusammenhänge hervorbringt. Narrative Praxis ist im weitesten Sinne textbezogen. Der Therapieprozess, der sich nicht nur an der verbalen, sondern auch stark an nonverbalen Kommunikationsebenen orientiert, folgt der Sprache der Ratsuchenden, nicht etwa einem therapeutischen Lexikon. Es findet keine einseitige Textanalyse statt; vielmehr kommt es zu einen bedeutungsstiftenden Dialog. Damit bewegt sich die Therapie in einer sich immer wieder neu entfaltenden Welt, in der die KoKonstruktionen von Klientin und Therapeutin neue Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten entstehen lassen. Das therapeutische Wissen ist Prozesswissen, nicht einseitiges Expertenwissen gegenüber der psychischen Befindlichkeit des anderen. Damit hat der Klient sozusagen das letzte Wort in der Interpretation und Bedeutungsgebung der Welt, die durch das entstehende, sich im Fluss befindliche Narrativ beschrieben wird. Da sie sich auf konstruktionistischem Boden bewegt, baut die narrative Praxis nicht nur auf naturwissenschaftlichem und sozialwissenschaftlichem Verständnis auf, sondern greift Denkanstöße aus ganz verschiedenen Disziplinen und Künsten auf: Film, Theater, Philosophie, Sprachwissenschaft und viele andere werden zu »Hilfsdisziplinen«, indem sie den Beobachtungsrahmen, innerhalb dessen

Vorwort der Herausgebenden

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sich die Wahrnehmung der Gesprächspartnerinnen bewegt, sanft oder radikal verschieben und etablierte Sichtweisen und etabliertes »Wissen« infrage stellen. Der Band ist von seiner Konzeption her weit gefasst. Er richtet sich nicht ausschließlich an therapeutische Tätige, sondern soll auch Fachkräfte ansprechen, die im Bereich von Beratung, Coaching und psychosozialer Praxis mit Menschen zu tun haben, die sich mit den Begrenzungen auseinandersetzen, die die »dominanten Erzählungen« für ihre persönlichen und professionellen Lebenswirklichkeiten bedeuten. Von den Grundlagen narrativer Praxis ausgehend, behandelt dieses Buch methodische Prozesse narrativen Arbeitens, seine Kontexte und Settings, aber auch die Pluralität von Arbeitsweisen, die sich dem narrativen Verständnis verpflichtet fühlen. Gerade diese Pluralität führt unseres Erachtens zu Synergien, welche die Wirkung unserer Interventionen vergrößern helfen und unser Verständnis der Bedeutung der Erzählform und -struktur in ihrer Verwobenheit mit unseren Lebensweisen vertiefen. Die Behandlung all dieser Aspekte narrativen Arbeitens macht schließlich eine eingehende Betrachtung der politischen Dimensionen therapeutischer, psychosozialer, pädagogischer und organisationsbezogener Arbeit unerlässlich. So schließt sich der Bogen zur unsprünglichen Betrachtungsweise von White und Epston, in deren Zentrum die Infragestellung schädlicher zwischenmenschlicher Machtbeziehungen steht. Sie formulierten Narrative Therapie, ganz im Sinne Focaults, als Gegenströmung zur »kolonisierenden« Praxis etablierter Therapie- und Beratungsansätze. Es ist daher passend, dass David Epston unseren Band mit einer Betrachtung einleitet, wie selbst Narrative Therapie Gefahr läuft zu kolonisieren und wie dem Abhilfe geschaffen werden kann. Wir wünschen allen Lesenden eine bereichernde, inspirierende, mitunter aufregende und belebende Reise durch die vielen repräsentierten Gebiete der Erzählung menschlicher Existenz und menschlichen Werdens.

Literatur Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Deleuze, G., Guattari, F. (1992). Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin: Merve Verlag. Foucault, M. (2012). Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Schapp, W. (2004). In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (4. Aufl.; Erstaufl. 1953 bei Richard Meiner, Hamburg). Frankfurt a. M.: Seminar Klostermann. White, M., Epston D. (2013). Die Zähmung der Monster. Der narrative Ansatz in der Familientherapie (7. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

Ein Brief von David Epston

Liebe Leserin, lieber Leser, mit Freude erinnere ich mich an eine Art Offenbarung, die mir im Alter von 17 Jahren zuteilwurde. Ich erinnere mich so intensiv daran, dass es mir vorkommt, als ob ich sie im Augenblick des Zurückdenkens noch einmal erlebe. Meine Schulabschlussprüfungen standen gerade vor der Tür, und nie zuvor hatte ich so fleißig gelernt. An welcher Universität man zugelassen wurde, hing von den Schulnoten ab. Dieser Umstand hatte bestimmt sehr viel mit meiner Offenbarung zu tun. In der Schule hatte ich fünf Jahre Französisch und vier Jahre Latein gehabt. Es bereitete mir großes Vergnügen, Texte aus beiden Sprachen ins Englische zu übersetzen und mich davon mitreißen zu lassen. Ich erinnere mich an ein folgenreiches Erlebnis: Als ich eine Kurzgeschichte von Guy de Maupassant übersetzte, schrie ich zu meiner eigenen Überraschung laut heraus: »Du hast einen französischen Geist! Du hast einen französischen Geist!« Doch da war niemand, dem ich mich hätte mitteilen können und der vielleicht verstanden hätte, was ich damit meinte. Ich war besorgt, dass meine Eltern über meinen geistigen Zustand beunruhigt sein könnten, wenn ich laut schreiend herumlief. Und später wurde mir allmählich klar, was meine Äußerungen bedeuteten und welche Signifikanz diese Offenbarung für mich hatte. Nur einige Wochen danach erlebte ich eine ähnliche Offenbarung, als ich Julius Caesars »De bello Gallico« (Bericht über den Gallischen Krieg) aus dem Lateinischen ins Englische übersetzte. Und wieder glaubte ich, auch einen lateinischen Geist zu haben. Ich hielt mich für jemanden mit einem dreifachen Geist, behielt das aber klugerweise für mich. Doch von da an war ich überzeugt, dass jede Sprache, die natürlich eine in Wörtern codierte Kultur ist, einen »eigenen Geist« besitzt. Da ich inzwischen etwas belesener bin, kann ich meine Schlussfolgerung aus meinem jugendlichen Enthusiasmus untermauern. Der französische Philosoph der Imagination, Gaston Bachelard, schrieb: »Manchmal denken unsere Worte für uns« (Bachelard, 1960). Oder um mit Émil Cioran zu sprechen: »Wir wohnen nicht in einem Land, sondern in einer Sprache« (Cioran, 2019). Zu meinem Bedauern habe ich es in meinem Leben nie geschafft, wirklich zweisprachig zu werden. Lediglich als »Gefährte« auf einer intellektuellen und politischen Reise, die meine Kollegin und Freundin Marcela Polanco unter-

Ein Brief von David Epston

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nahm, als sie das Buch von Michael White »Maps of Narrative Practice« (2007; deutscher Titel: »Landkarten der narrativen Therapie«; 2021) ins kolumbianische Spanisch »übersetzte«, konnte ich mein Bedauern etwas lindern. Ich will eine andere Geschichte erzählen, eine Geschichte, die in einem großen Gegensatz zur vorangegangenen steht: Bei einem gesellschaftlichen Anlass wurde ich kürzlich der Nichte von Freunden vorgestellt, die gerade aus den USA zurückgekehrt war, wo sie die Hamburger University besucht und dort den Bachelorabschluss in »Hamburgerologie« gemacht hatte. Lachen Sie nicht. Es gibt eine Hamburger University, die Abschlüsse in Hamburgerkunde anbietet. Auf ihrer Webseite erfuhr ich, dass die Hamburger University 1961 von der McDonald’s Corporation gegründet wurde und ihren Sitz unweit von Chicago in Oak Brook, Illinois, hat. Ihr Zweck ist es, die Beschäftigten des Unternehmens in den verschiedenen Aspekten des Fast-Food-Managements auszubilden. Bis heute haben über 80.000 Absolventen dort den Abschluss gemacht; 7.500 Personen werden jedes Jahr ausgebildet. Die Hamburger University kann in 28 Sprachen lehren und hat viele Niederlassungen auf der ganzen Welt. Ich war neugierig, wie Sie es vermutlich auch gewesen wären, etwas über das pädagogische Konzept der Hamburger University zu erfahren: Was wird beispielsweise unterrichtet und wie wird benotet? Besagte Nichte erzählte mir Folgendes, was meines Erachtens einer Dissertation entspricht: Sie musste zukünftigen Angestellten beibringen, wie man einen Mac Burger so herstellt, dass ein Mac Burger in Shanghai absolut identisch ist mit einem, der in New York zubereitet wird; ein in Mumbai produzierter Mac Burger muss absolut identisch sein mit einem in Berlin zubereiteten. Und wenn sie im Unterricht ins Stocken gekommen wäre oder ihr Skript nicht Wort für Wort auswendig gekonnt hätte, wäre sie bei der Abschlussprüfung durchgefallen. Mit Freude kann ich berichten, dass sie ihre Ausbildung mit Bravour bestanden hat und jetzt eine ­McDonald’s-Filiale hier in Neuseeland betreibt. Aus meiner Sicht sind dies zwei Extreme dessen, was ich im weitesten Sinn des Wortes als »Übersetzung« bezeichne: Die eine »Übersetzung« firmiert momentan unter dem Begriff »global«, während die andere mit dem »Lokalen und Partikularen« befasst ist. Das letztere Verständnis des Wortes ist aus der Sicht der narrativen Therapie zu befürworten. Nun möchte ich Ihnen erzählen, wie die Reise mit Marcela begann. Ich hatte 2007 mit anderen zusammen eine Konferenz in Havanna, Kuba, organisiert, nachdem die Kubanische Gesellschaft für Psychiatrie und Sozialarbeit mich eingeladen hatte, bei ihr die narrative Therapie vorzustellen. Ich stimmte dem Vorhaben erst zu, nachdem wir die folgende Vereinbarung getroffen hatten: Während der ersten drei Tage sollten wechselseitig sowohl die Gastgeber uns zweihundert Besucher

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Ein Brief von David Epston

unterrichten als auch wir unsere zweihundert Gastgeber; im Verlauf der verbleibenden zwei Tage würden wir alle an bilingualen Workshops teilnehmen. Es gab also vorsätzlich eine »Epistemologie der Gleichwertigkeit« … Wir würden uns untereinander austauschen. Die Konferenz hieß »Der Geist der Gemeinschaft in der narrativen Therapie und in kubanischen Sozialprogrammen« und war weniger eine herkömmliche Konferenz als ein Ort, an dem sich zwei Arten von Gemeinschafts- und Heilungspraktiken begegneten. Sowohl vonseiten der Besucher als auch der Gastgeber wurde mir später vielfach gesagt, dass es die beste »Konferenz« gewesen sei, an der sie jemals teilgenommen hätten. Dieses Gefühl hatte ich auch. Damals war Marcela, die etwa zehn Jahre zuvor mitten in einem fünfzig Jahre währenden Bürgerkrieg aus Kolumbien in die USA eingewandert war, in einem Doktorandenprogramm in Familientherapie an der Nova Southeastern University in Florida eingeschrieben. Sie studierte in diesem Rahmen narrative Therapie natürlich auf Englisch und war als Lehrassistentin selbstverständlich auch wieder in englischer Sprache tätig. Sie freute sich besonders auf die Teilnahme an einem Workshop über narrative Therapie, der von Marta Campillo, Professorin an einer mexikanischen Universität, abgehalten wurde und M ­ arcelas erster Workshop war, den sie in spanischer Sprache, ihrer Muttersprache, besuchte. Nach der Veranstaltung verließ ich zufällig hinter Marcela den Raum und hörte, wie sie der Workshopleiterin ziemlich beschämt erzählte, dass sie kein einziges Wort von der in Spanisch vorgestellten narrativen Therapie verstanden habe und sie sich fühle, als ob sie ihre Muttersprache verraten habe, die von ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer Familie, ihrer Gemeinde, Kultur und ihrem Land an sie weitergegeben worden sei. Sie frage sich, wie das zustande komme, und bemerkte dann, dass ich ganz unabsichtlich Zeuge ihrer Äußerungen geworden war. Sie errötete vor Verlegenheit, doch wir beide taten, als ob nichts geschehen sei, und verlegten das Thema auf neutrales Gebiet. Doch die Sache ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte keine Ahnung, wie jemand narrative Therapie in einer Zweitsprache verstehen konnte, sie aber für unverständlich hielt, wenn sie in die eigene Muttersprache übersetzt wurde. Obwohl ich mich glücklicherweise durch unkundige Einsprachigkeit auszeichnete, fiel mir meine Offenbarung von damals, als ich 17 war, wieder ein – dass nämlich jede Sprache »ihren eigenen Geist« hat. Dieser Gedanke bereitete mir eine schlaflose Nacht. Am folgenden Tag ging ich voller Überschwang auf Marcela zu und machte ihr einen vorsichtigen Vorschlag für ein mögliches Dissertationsthema. Ich sagte: »Da Sie ja die narrative Therapie in Englisch, aber nicht in Spanisch kennen, würden Sie in Erwägung ziehen, dass die Englisch sprechende Marcela beobachten könnte, wie die spanischsprachige Marcela sich die narrative The-

Ein Brief von David Epston

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rapie aneignet, und diesen Vorgang schriftlich festhalten?« Diese Möglichkeit erregte ihr starkes Interesse, und sie beschloss, meinen Vorschlag umzusetzen, indem sie Michael Whites 2007 erschienenes Buch »Maps of Narrative Practice« (dt. Titel: »Landkarten der narrativen Therapie«) ins Spanische übersetzte. Man hätte annehmen können, dass es für eine zweisprachige Akademikerin mit Abschlüssen von einer kolumbianischen und einer US-amerikanischen Universität ein Leichtes sei, eine solche Dissertation zu schreiben. Weit gefehlt. Die Arbeit geriet zu einer 581 Seiten umfassenden Dissertation, da Marcela, ohne das vorher so beabsichtigt zu haben, letztlich drei eng miteinander verflochtene Übersetzungsversionen schrieb. Als Michael White erfuhr, dass sie die »Maps« übersetzen wollte, als sie 2008 bei ihm in Adelaide studierte, lud er sie zum Essen ein und diskutierte das Vorhaben mit ihr. Marcela erinnert sich, wie sie Michael fragte: »Welche Hoffnungen verbinden Sie mit meiner Übersetzung der ›Maps‹ ins Spanische?« Ihrer Erinnerung nach antwortete er: »Meine einzige Hoffnung ist die, dass der Geist der Therapie erhalten bleibt.« Dann fragte Marcela, ob sie bei ihm die formelle oder die informelle Anrede verwenden solle. Er schaute sie freundlich an und sagte: »Das können nur Sie entscheiden. Ich spreche nicht Spanisch, und ich weiß auch nichts über Ihre Kultur und Politik.« Marcela gestand mir kürzlich, dass diese Aussage sie verlegen gemacht habe. Doch gab sie ihr auch den Mut, ihre Arbeit mit enormem Eifer und 18-stündigen Arbeitstagen fortzusetzen, die, man mag es glauben oder nicht, aus ihrer Sicht zu den besten Zeiten ihres Lebens gehörten. Ihren ersten Übersetzungsversuch schildert sie so: Ich fertigte eine domestizierende Übersetzung an, die wörtlich und um Texttreue bemüht war und sich eng an Michaels Originalfassung anlehnen sollte. Ich verzehrte die »Maps« wie einen MacDonalds-Hamburger. Erschrocken realisierte ich, dass ich die »Weißfärbung meiner Identität« betrieb, ohne mich um die Geopolitik des Wissens und um politische Verschiedenheiten zu kümmern. Ich bin Mestizin … Spanische, afrikanische und indigene Musik und jüdisches Blut fließen in meinen Adern. Sollte ich das mir und meiner Leserschaft gegenüber verleugnen? Hatte ich mich ungewollt selbst kolonisiert? Liebe Leserin, lieber Leser, hier möchte ich Ihnen kurz die Übersetzungstheorie und die beiden Grundstrategien des Übersetzens vorstellen: Domestication und Foreignization.1 Seit den 1970er Jahren werden diese beiden Strategien in einem 1 Friedrich Schleiermacher (1768–1834), Übersetzer von Platons Werken und Philosoph, hat sich mit Übersetzungsstrategien beschäftigt. Domestication begreift Schleiermacher als »Einbürgerung«, Foreignization als »Verfremdung« (vgl. Schleiermacher, 1838, S. 201–238).

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Ein Brief von David Epston

kulturellen und politischen – wie auch in einem linguistischen – Disput argumentativ eingesetzt. In einer domestizierenden Übersetzung wird die zu übersetzende Sprache getilgt und durch die Sprache ersetzt, in die übersetzt wird; diese Strategie bezeichnet Marcela als »kolonisierende Übersetzung«. In einer verfremdenden Übersetzung wird der Unterschied zur Sprache des Originaltextes bewahrt, und von der Leserschaft wird verlangt, »ins Ausland zu gehen«; diese Strategie nennt Marcela »entkolonisierende Übersetzung«. Lawrence Venuti ist der tonangebende Verfechter der Übersetzung mittels Verfremdung und behauptet, dass Zweck und Aktivität einer domestizierenden Übersetzung ein von ihm als »Gewalt« bezeichnetes Moment implizierten. Er ist der Auffassung, dass die Domestizierung eine »ethnozentrische Reduktion des fremden Textes auf angloamerikanische kulturelle Werte« involviere. Andererseits behauptet er fest, dass man von der Strategie der Verfremdung erwarten könne, »Ethnozentrismus und Rassismus, kulturellem Narzissmus und Imperialismus entgegenzuwirken« (Venuti, 2012, S. 78). Danach fertigte Marcela eine verfremdende Übersetzung der »Maps« an. Ihre zweite Version beschreibt sie folgendermaßen: Politik und Ethik der narrativen Therapie waren mir so vertraut, dass meine erste Begegnung mit den »Maps« mein Innerstes berührte. Also beschloss ich, das Essenzielle ihrer Praxis zu erhalten, mich dadurch aber nicht kolonisieren zu lassen. Ich übersetzte die »Maps« noch einmal mit Bezug auf mein Land, auf meine Kultur und meine Sprache. Dies gelang mir, indem ich mich der Literatur und den Geschichten von Kolumbien und Lateinamerika und ihrer sozialen und politischen Geschichte zuwandte. Eine Zeit lang legte ich das Wissen über die narrative Therapie auf Eis, um später darauf zurückzukommen. Ich suchte nach lateinamerikanischen Wissensarten, die Ähnlichkeit hatten mit den Quellen, die Michael und David aufgespürt hatten, und fand sie ohne größere Schwierigkeiten. Meine dritte Übersetzung entsprach dem, was Clive Scott als »Übersetzung der Mitautorenschaft« bezeichnet und ich »Fair Trade« nennen möchte. Ich habe eine utopische Vorstellung davon, wie narrative Therapie in Lateinamerika funktioniert, wo sich die im Spanischen und im Englischen impliziten Wissensarten und Historien auf der Grenze zwischen beiden Sprachen begegnen und von beiden verstanden wird, dass sie legitime Beiträge liefern können: wo es also eine »Epistemologie der Gleichwertigkeit« gibt. Hier findet eine ausgewogene Begegnung statt, bei der die Autorität beider Versionen hinterfragt wird und etwas Neues entstehen kann, obgleich es eine Vertrautheit mit beiden gibt. Wie will Marcela damit umgehen? Dazu mehr am Ende meines Briefes. Zuerst aber möchte ich Travis Heath, einen Kollegen in Denver, Colorado, zu Wort

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kommen lassen, wie er von unserem Treffen im Jahr 2015 berichtet. Durch meine sogenannten Reisen mit Marcela und diese Tagung mit Travis erwachte in mir der Wunsch, heute diesen Brief an Sie zu schreiben. Auf Konferenzen in Adelaide und Vancouver hatte es viel Aufregung wegen dieses etwa dreißigjährigen, kräftigen, charismatischen braunhäutigen Typen mit Dreadlocks gegeben, der mit seinen Präsentationen die Besucher begeisterte. Als ich erfuhr, dass ich ihn auf der Konferenz 2015 in Vancouver erleben könnte, ergriff ich begeistert die Gelegenheit, die Tagung zu besuchen. Travis berichtete von »Ray«, einem 24 Jahre alten afroamerikanischen Mann, der wegen eines Gewaltverbrechens unter Bewährung stand. Ray habe ihm erzählt, so Travis: »Es gibt sehr viele Menschen auf der Welt, die keine Stimme haben. Und mit Stimme meine ich, Sie wissen schon, wir alle haben einen Stimmapparat, aber wenn ich von Stimme rede, dann meine ich eine Stimme, die andere hören, der andere zuhören. Mein ganzes Leben lang hatte ich nie wirklich eine solche Stimme, weil ich arm und schwarz bin … außer wenn ich rappe. Das trifft, weißt du, auch auf all die Typen in meinem Viertel zu. Der Rap ist unsere Stimme.« Genau das erzählte Travis einem jüngeren Publikum bei einem Workshop, den er, Marcela und ich in seiner Heimatstadt Denver abhielten: In dem Augenblick schaute ich nach rechts und sah in die Augen meines Kollegen und Koreferenten, Paulo Arroyo. Es schien, als ob er gerade ein UFO, ein unbekanntes Flugobjekt, gesehen hätte. Er neigte seinen Kopf nach links und bedeutete mir, meinen Blick in diese Richtung zu lenken. Als ich in die zweite Reihe schaute, erblickte ich David Epston, der es sich gerade auf seinem Stuhl bequem machte. Ich reagierte, wie alle erfahrenen Referenten reagiert hätten … Oh, Scheiße! Während es in meiner Präsentation um Paulos und meine Arbeit mit jungen Afroamerikanern und Latinos in Bewährungszeit gehen sollte, in der HipHop und Rap eine Schlüsselfunktion einnimmt, war in der ersten halben Stunde eine Einführung in die Geschichte der narrativen Therapie für diejenigen geplant, die mit diesem Ansatz vielleicht noch nicht vertraut sind. Ich stellte im Kopf schnell eine Berechnung an und beschloss, dass ich die Arbeit von David Epston und/oder Michael White mindestens achtmal direkt zitieren wollte. Wenn man die Entstehungsgeschichte eines therapeutischen Ansatzes präsentiert, sitzt der Mitbegründer dieses Ansatzes nur selten in der zweiten Reihe!! Ach herrje! Die Geschehnisse nahmen ihren Lauf, ich biss die Zähne zusammen, stellte beide Füße fest auf den Boden und stürzte mich in den tiefen Abgrund. In den ersten zehn Minuten der Präsentation riskierte ich einen Blick … oder auch zehn auf David und versuchte abzuschätzen, was er wohl dachte. Ich sah, wie er nickte und

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lächelte. Das reichte mir aus. Zumindest hatte ich mich nicht lächerlich gemacht, oder wenn ich mich blamiert hatte, ließ er das niemanden wissen. Paulo und ich zogen die Präsentation bis zum Ende durch. Ich atmete tief durch mit einem Gefühl der Erleichterung aufgrund der Tatsache, dass es vorbei war. Schnell lief ich zum Ausgang. Später an diesem Abend waren alle Referentinnen und Referenten zu einem gemeinsamen Abendessen eingeladen. Als ich gerade herumstand und mit Paulo redete, kam David auf uns zu. Oh je! Der Moment der Wahrheit. Ich überlegte, wie ich mich elegant aus der Affäre ziehen könnte, war aber von allen Seiten von Menschen umgeben. Alle Fluchtversuche würden sich als plump und wahrscheinlich sinnlos herausstellen. »Ich habe mit großer Freude etwas über Ihre Arbeit erfahren«, sagte David. »Wirklich gut gelungen. Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?« Ich nickte zustimmend. »Warum stellen Sie australische und neuseeländische Fragen?« Ich war etwas verwirrt, meine Miene bat um eine genauere Erklärung. »Wie wäre es, wenn HipHop die Fragen stellen dürfte?«, fragte David. In dem Augenblick dämmerte mir, was er meinte. Hier war der Mann, der dieses Ding namens narrative Therapie mitentwickelt hat, und er lud mich ein, die Dinge nicht so zu tun, wie er sie getan hatte, sondern so, wie sie am besten zu Paulos und meiner Arbeit passten. Ich war noch ein bisschen verblüfft von dieser Frage, als David nachfasste: »Wollen Sie meine Zustimmung, dass Sie rappen dürfen?« Ich schaute Paulo an, und wir nickten unisono bestätigend. »Also, Sie haben meine Zustimmung«, sagte er mit einem herzlichen Lächeln. An dieses Lächeln werde ich mich bis an mein Lebensende erinnern.« Warum hatte Travis seine eigene Kultur und Sprache getilgt und sie ersetzt durch eine Version, die man in Adelaide und Auckland erwarten könnte? War narrative Therapie gegen ihren Willen und unwissentlich zu einem Kolonisator Anderer geworden? Vielleicht war sie das trotz bester Absichten. Dazu möchte ich Ihnen erzählen, wie Marcela und ich uns zunächst einmal an die Verfremdung von Michael Whites »Maps« machten, um dann das Fundament für »Fair Trade« zu legen. Wir hatten eine fantasievolle Idee, die uns dabei half. Ich nehme an, dass es noch andere Möglichkeiten gibt, aber diese Idee diente unseren Zwecken einfach wunderbar. Wir stellten uns etwas Fiktives, Kontrafaktisches vor. Wie Sie wissen, entstand die narrative Therapie in Australien und Neuseeland, innerhalb der angloamerikanischen Kultur. Wir machten uns zusammen auf eine »Reise« in die lateinamerikanische Literatur, Politik und Kultur, indem wir uns vorstellten, die narrative Therapie wäre eigentlich in Lateinamerika entstanden. Und wenn dem so wäre, so fragten wir uns, wo wären ihre latein-

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amerikanischen Quellen? Dann brachen wir auf wie Forschende und drangen flussaufwärts gegen den Strom vielleicht hunderte von Meilen ins Land hinein, bis wir ihre Quelle beziehungsweise Quellen fanden. Wir »spürten« jeder Facette der narrativen Therapie »nach«, die einem von uns oder beiden charakteristisch erschien, um eine lateinamerikanische Quelle zu finden. Und wie Marcela bemerkte, war dieses Unternehmen weitaus einfacher, als wir beide erwartet hatten. Ich wurde dazu motiviert, meine neuseeländisch geprägte narrative Therapie zu überdenken, und Marcela musste ihre US-amerikanisch geprägte narrative Therapie überdenken. In gewisser Weise hatten wir am Schluss mehr narrative Therapien, als wir bis dahin anwenden konnten. Aber seien Sie versichert, dass es wunderbar ist, verschiedene Spielarten von etwas, das man zu schätzen gelernt hat, und die Kreativität, die an dieser Stelle ins Spiel kommt, zu genießen. Ich möchte denjenigen unter Ihnen, die sich wie Marcela dem angloamerikanischen Englisch und der US-amerikanischen Kultur nicht besonders verbunden fühlen, einige der Dinge ins Gedächtnis rufen, denen sich die narrative Therapie von Anfang an verpflichtet gefühlt hat. Zuoberst die Tatsache, dass sie nie nach einem professionellen Monopol über Wissen getrachtet und auch nicht nach einer globalen oder universalen »Wahrheit« gestrebt hat, die sie als ihr eigen beanspruchen könnte; ich möchte eigentlich behaupten, dass das Gegenteil der Fall ist. Sie hat sich ihre Demut bewahrt und ihre Kräfte auf das konzentriert, was Michel Foucault als »Wissensertrag« oder »Wissens­erträge« bezeichnet hat. Die narrative Therapie würdigt »lokale« Wissensarten, und im Grunde ist sie eine der Praktiken, auf die ich besonders stolz bin und die vielleicht die größte Fertigkeit verlangt: jene, die das Wissen des anderen Menschen hervorhebt, anstatt das Fachwissen in den Mittelpunkt zu rücken. In der narrativen Therapie wird das berücksichtigt, was als »Insiderwissen« bezeichnet wird und das Äquivalent zum »äußeren oder professionellen Wissen« darstellt. Michael und ich setzten da an, wo Foucault aufhörte, als er sich auf »den Aufstand unterworfener Wissensarten« berief. Er schrieb: »Wenn ich von unterworfenen Wissensarten spreche, beziehe ich mich auf eine ganze Reihe von Wissensarten, die als nichtkonzeptionelle Wissensarten, als unzulänglich elaborierte Wissensarten, naive Wissensarten, hierarchisch untergeordnete Wissensarten disqualifiziert sind, die unter dem erforderlichen Niveau der Gelehrsamkeit von Wissenschaftlichkeit liegen […] und dank des Wiedererscheinens dieser Wissensarten von unten […] entsteht ein Wissen, das lokal, regional, differenziert, der Einträchtigkeit abhold ist und seine Macht lediglich aus der Tatsache ableitet, dass es sich von dem ihn umgebenden Wissen unterscheidet. Durch das Wiedererscheinen dessen, was Menschen auf einer lokalen Ebene

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wissen, also dieser disqualifizierten Wissensarten, wird Kritik möglich« (Foucault, 1980, S. 78). 2011 schrieb ich in meiner Einleitung zu Michael Whites posthum erschienenem Buch »Narrative Practice: Continuing the Conversation«: »Michael, ich weiche hier vom Thema ab, aber ich möchte dir sagen, dass ich mich inzwischen für Bilingualität und für die Politik der Übersetzung interessiere. Ich weiß noch, dass wir immer, wenn es um Übersetzungen unserer Bücher in andere Sprachen ging, zuerst über ein solches Wunder staunten, dann uns aber eher nüchtern über den Export von Wissen besorgt zeigten. Würde sich die narrative Therapie wie alle anderen Weltmarken entwickeln? Oder ist es möglich, die Praxis der narrativen Therapie zu »akkulturieren« und der Kultur, Politik und den materiellen Verhältnissen ihrer Rezipienten anzupassen? Wenn ja, würden diese »Grenzüberschreitungen« zu Mutationen, wenn nicht gar zur Transmogrifikation führen? Eine Transmogrifikation bedeutet übrigens, dass etwas auf magische und wunderbare Weise umgewandelt wird. Und könnte das eine jener Möglichkeiten sein, mit denen sich die narrative Therapie kontinuierlich selbst erneuern kann?« Davon bin ich nach wie vor überzeugt, wenn ich Marcela Polanco in Südamerika über die Schulter schaue – und neuerdings auch beobachte, wie Sumie Ishikawa (2018) in Japan die narrative Therapie »japanisiert«. An irgendeinem Punkt bleibt Ihnen vielleicht gar nichts anderes übrig, als sich so weit zu entfernen, wie Sie müssen; kommen Sie aber bitte so weit zurück, wie es Ihnen möglich ist, und dort werden wir uns treffen … Jenes Dort, von dem Marcela sagt, es ist der Grenzbereich, wo keine Sprache oder Kultur über die andere herrscht. Genau zwischen den Sprachen wohnt das Spiel der Kreativität. Genau da ereignet sich die »interkulturelle Intervention«, wie David Denborough das genannt hat. Marcela und ich glauben, dass solche Begegnungen des »Fair Trade« in jenen Grenzgebieten zu den Möglichkeiten gehören, sich neue Entwürfe der narrativen Therapie vorstellen zu können. Mit einer solchen »Imagination« würden wir auf jeden Fall die narrative Therapie neu erfinden, um sie dann mit »nach Hause« in die eigene Kultur und Sprache zu bringen, während ich sie auf Englisch nach Aotearoa2 und Australien »heimführe«. Viele Grüße David Epston

2 Name der Maori für Neuseeland.

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Literatur Bachelard, G. (1960). Poetik des Raumes. München: Carl Hanser. Cioran, E. M. (2019). Der zersplitterte Fluch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1980). Two lectures. In C. Gordon (Ed.), Power/knowledge: Selected interviews and other writings 1972–1977 by Michel Foucault (78–108). New York: Pantheon Books. Ishikawa, S. A. (2018). Fair Trade. Translation of David Epston in Tokyo. Journal of Narrative Family Therapy, 3, 46–61. Schleiermacher, F. (1838). Sämtliche Werke Bd. 2. Berlin: G. Reimer. Venuti, L. (2012). Translation studies reader (3rd ed.). London: Routledge. White, M. (2007). Maps of narrative practice. New York: Norton. White, M. (2011). Narrative practice. Continuing the conversations. New York: Norton. White, M. (2021). Landkarten der narrativen Therapie (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

TEIL 1  Zugänge zu narrativen Landschaften

Die Bedeutung nomadischer Theorie für die Entwicklung neuer Praxisformen narrativer Therapie – ein Dialog JAN OLTHOF und PETER JAKOB

Anstatt einer Einleitung: Von »unerlaubt« zu legitim – Inspiration zum Andersdenken in nomadischer Philosophie Lieber Jan, seit Langem begleitet mich ein »Impostor-Syndrom«. Wie ein Schatten verfolgt mich der nagende Zweifel daran, ob mein Denken und meine Praxis »richtige« Psychologie, »richtige« Psychotherapie darstellen. In meinem frühen Berufsleben Anfang der 1980er Jahre vermied ich es, Kolleginnen im Team von allen Aspekten meiner Arbeit zu berichten, obwohl es den Klientinnen oft rasch besser ging. So blieben beispielsweise meine Experimente mit zunächst lösungsorientierter Therapie und später mit Whites und Epstons narrativer Therapie »Geheimsache«. Therapeutische Selbstwirksamkeit war eine private Erfahrung; die Art und Weise, wie ich dazu gekommen bin, eher ein Grund fϋr verschämtes Verschweigen meiner wirklichen Praxis. Später, gerade als lösungsorientiertes Arbeiten salonfähig wurde, aber ich nicht mehr streng lösungsorientiert arbeitete, machte sich die innere Unruhe wieder bemerkbar. Ich spüre sie auch heute noch manchmal; aus irgendeinem Grund gelingt es mir nie, mich nur innerhalb eines geschlossenen Gedankengebäudes zu bewegen. Ich kann kein ausschließlich narrativ oder lösungsorientiert konzeptgebundener Therapeut bleiben; es gibt »da draußen«, außerhalb des geschlossenen Theoriegefüges, zu viele aufregende Ideen, außerhalb des geschlossenen methodischen Systems eines Therapieansatzes zu viele Zugänge, die zur existenziellen Erfahrung meiner Klienten passen, welche meine Möglichkeiten, ihnen in dieser Erfahrung zu begegnen, stärken, als dass ich nur einem Konzept treu bleiben könnte. Es scheinen sich an dieser Stelle Begriffe wie »Eklektizismus« oder »therapeutische Integration« anzubieten, doch die Metaphern, auf denen diese Begriffe beruhen, geben nicht mein Erleben wieder, wenn ich vom Pfad der Ansatztreue abweiche; sie sprechen von etwas Statischem, Reifiziertem, auch willkürlich Zusammengeführtem, in irgendeiner Weise seiner Originalität Beraubtem.

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Du hast ein Bild des nomadisierenden Therapeuten entwickelt und in die narrative Therapie eingeführt (Olthof, 2017), in dem ich mich wiedererkennen kann. Deleuzes (Deleuze u. Guattari, 1987) Metapher des Rhizoms (siehe unten) eröffnet den Blick auf eine Fortentwicklung des Denkens, die keineswegs willkürlich ist, in der sich Präzision, Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Umsichtigkeit finden – und die gleichzeitig den normativen, binären Gegensatz zwischen »richtiger« und »falscher« Theorie, »richtiger« und »falscher« Methodik, »richtigem« und »falschem« Sein und Handeln überwindet. Sie schafft Raum dafür, dass Impulse empfunden werden dürfen und ihren Ausdruck finden können, dass Assoziationen, auch »verrückte« Ideen oder sogar bisher als »unangemessen« oder symptomatisch betrachtete Emotionen, Gedanken und Identitäten zum legitimen Betrachtungsgegenstand für Klienten und Therapeutinnen werden. Braidottis (2011) nomadische Theorie als Philosophie des Werdens fragt schließlich danach, wie Menschen mit ihren verkörperten Subjektivitäten in der Wanderung zwischen Identitäten, in einer Welt sich ständig rasch wandelnder Kontexte, »Empowerment« erlangen. Mit diesen zwei Konzepten – dem rhizomischen und dem nomadischen – erlebe ich befreiend die Legitimierung meines therapeutischen Unordentlichseins und eine erneute Herannahme in die ethische Verantwortung für ein therapeutisches Sein und Handeln, das hierarchische, normativ-einengende Prinzipien infrage stellt und zu überwinden sucht. Solche Überlegungen sind unmittelbar praxisrelevant, so z. B. »in der zunehmenden Anerkennung vieler Formen von ›Gender‹, die den traditionellen Gegensatz des heterosexuell männlich/weiblichen überwindet und zur Befreiung von Menschen beiträgt, die sich nicht in traditioneller Geschlechtsidentität repräsentiert fühlen. Die Relevanz […] wird deutlich, wenn man sich die Suizidgefährdung von ›transgender‹ und ›non-binary‹ Jugendlichen vor Augen führt: […] 50,8 % befragter weiblich zu männlich transferierender Jugendlicher sowie 41,8 % der Jugendlichen, dies sich weder völlig männlich noch völlig weiblich identifizierten, [hatten] bereits mindestens einmal Suizid versucht (Toomey et al., 2018). Risikofaktoren waren Ablehnung durch Familienangehörige sowie Mobbing durch Gleichaltrige. Im Zuge neuer gesellschaftlicher Diskurse entfernen sich diese Jugendlichen zunehmend von einer binären Sichtweise, während aber ihr soziales Umfeld diese Denkverschiebung oft noch nicht nachvollzieht« (Jakob, 2021).

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Reflexionen zum rhizomischen Denken und nomadischen Therapieren Lieber Peter, das »Syndrom«, das du beschreibst, ist mir sehr wohl vertraut. Als ich in den frühen 1980er Jahren in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, lernte ich Binarität kennen: die richtigen und die falschen Therapien; das Recht, sich zu äußern und die eigene Stimme geltend zu machen – und die Befangenheit, sich zu äußern, die Scheu, die eigene Vorstellungskraft, eigene Körpererfahrungen (Embodiment), Assoziationen und das intuitive Wissen zu nutzen, was als unprofessionell gegolten hätte. Teamsitzungen waren ziemlich belastend. Es gab viel Abwertung, Bemerkungen über die therapeutischen Kompetenzen von Kollegen fielen nicht immer günstig aus. Teammitglieder wurden in die Kategorien der »verrückten Jungen« und der »Erfahrenen« eingeteilt, wobei die Arbeit der Letztgenannten als »wissenschaftlich begründet« angesehen wurde. Ich hatte bereits eine Ausbildung in Erickson’scher Hypnotherapie abgeschlossen und arbeitete mit Sprachbildern und Erzählungen. So konnte ich gut mit »verrückten Patienten« Verbindendes stiften; jene, mit denen man keine »echte« Psychotherapie durchführen konnte, schon gar keine ansatztreue Therapie, die der offiziellen Norm und fachlichen Übereinkunft entsprochen hätte. Ich schlug mich voll und ganz auf die Seite der »Opposition« und teilte die Kolleginnen in »gute« und »konservative« Teammitglieder ein. Wir fochten aus idealistischen Vorstellungen heraus viele Kämpfe aus, wussten es besser … Aber das war natürlich nicht der Fall. Einmal hatten wir eine heftige Diskussion über das Suizidrisiko eines Patienten. Dieser Patient lief auf der Station in einer sich monoton wiederholenden Weise auf dem Flur hin und her. Ich war darüber so traurig und dachte über diese Absurdität nach: Wir diskutieren über einen Patienten, der hier bei uns ist … in unserer Nähe … Und was tun wir? Weshalb gehen wir nicht auf den Patienten zu und schließen uns ihm auf seiner Wanderung an? Ich schrieb ein kurzes Gedicht; natürlich fühlte ich mich nicht imstande, es meinen Kollegen und Kolleginnen zu zeigen: Personalversammlung über Patienten redend wir drehen uns im Kreis wirbeln herum sind autonom und doch ohne Bremse

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wir alle sind ersetzbar und wir geben Rat … klug und voller Weisheit über die Probleme und wie schwer sie wiegen und wie ernst die Probleme sind und dass es ein Problem gibt. alle legen die Stirn in Falten und suchen nach einem anderen Schwergewicht als dem Schwergewicht des Problems. der Rauch verschleiert die wirkliche Wirklichkeit liegt im Nebel; und draußen … auf dem nackten Flur läuft einsam der Patient. die Bedeutung eines Problems ist das Problem der Bedeutung und wie bedeutungslos, wir damit umgehen. Später arbeitete ich dann in Deutschland, im Bertha Krankenhaus in Duisburg, und lernte die »prismatische Arbeit« des Psychiaters Alfred Drees kennen. Über diese Arbeit schreibe ich noch an anderer Stelle dieses Buches im Zusammenhang mit den Begriffen »nomadisch« und »nomadisches Team« (siehe Das nomadische Team. Zusammenarbeit in der narrativen Psychotherapie, S. 165). Im Rahmen der »prismatischen Arbeit« lernte ich viel darüber, wie man unterschiedliche Wissensarten miteinander verbinden kann, und lernte das »Sowohl-als-auch« kennen, anstatt in binärer Opposition zu denken. Ich lernte, wie in Teamsitzungen mit Assoziationen, Verkörperung, Imagination und Tagträumen gearbeitet wurde. Solche Teamsitzungen wurden zu »Zusammenkünften«. Wir entwickelten eine Art und Weise, sich an einem Dialog zu beteiligen, in dem jede Stimme gehört wird, Unterschiede willkommen geheißen werden und unterschiedliche Arten des Wissens wertgeschätzt werden. Irgendwie schämte ich mich dafür, wie wir früher im akademischen Setting des psychiatrischen Krankenhauses gearbeitet hatten. Und dann beschäftigte ich mich mit Gilles Deleuze, seiner nomadischen Theorie und seinem Konzept der Rhizomatik als Metapher für ein narratives Selbst. Mithilfe dieses Konzepts verstehen wir das Selbst nicht als ein inhärentes Gegebenes und auch nicht als eine Einheit mit einem stabilen Kern, sondern vielmehr als etwas, das in den und durch die Geschichten, die wir über uns

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selbst erzählen und welche relevante Andere über uns erzählen, kontinuierlich (neu) gestaltet wird. Unsere Identität ist nicht festgeschrieben, sondern unterliegt einem stetigen Veränderungsprozess, ist kraft der narrativen Aktivität des Erzählens, des Deutens und des Realisierens von Geschichten immer im Werden (Sermijn u. Loots, 2015). Geschichten sind nicht festgeschrieben, sondern im Fluss, offen für mehr oder weniger subtile Veränderungen, Anpassungen und die Einführung neuer Elemente. Geschichten werden durch das Erzählen und Wiedererzählen gestaltet, umgestaltet und verdichtet. Aufgrund dessen können Therapeuten und Therapeutinnen zu Veränderung beitragen, indem sie festgefahrene, identitätsbestimmende Problemgeschichten in vorteilhaftere Geschichten über das Selbst verwandeln, andere Erzählstränge finden, Wörter und Bedeutungen verändern, Rhythmen und Reime verwandeln. Oftmals achten sie auf das noch nicht Erzählte und schaffen so Gesprächsraum für neue Geschichten. Die alten Erzählungen von und über Patienten und Patientinnen sind allzu problemgesättigte, erstarrte, identitätsbestimmende Geschichten, die nur weiteres Leiden hervorbringen. Wir erzählen nicht nur unsere Geschichten, sondern werden in gewisser Weise selbst zu unseren Geschichten. Wir sind unsere Geschichten. Erzählungen sind Texte, und Texte können verändert oder so bewahrt werden, wie sie sind, was von unseren Vorlieben abhängt. Sie können vererbt und als Kulturgut neu erzählt werden. Mit der Idee des Nomadischen führt Deleuze eine Möglichkeit des philosophischen Denkens und ein Konzept ein, das den Unterschied wertschätzt, erstarrte Sinngebungen über das Selbstsein verlässt, um Fluchtwege aus einer vorbestimmten Identität zu schaffen (Deleuze u. Guatarri, 1987). Nomadische Weisheit wertschätzt die Gedankenreise durch die Geschichte, an Orte, die von Geschichten besucht werden, durch die Erinnerung an Sprache und Worte. Mit dem Begriff »Reise« meine ich, dass das Denken von Therapeutinnen und Klienten viele unterschiedliche Eindrücke, Ideen oder Inspirationen aufnimmt, die an vielen unterschiedlichen Orten zu finden sind. Nomadische Weisheit begreift, dass Arten des Wissens kontextabhängig, an Orte gebunden und von lokalen Bedingungen beeinflusst sind. Sie spricht von leiblich zum Ausdruck kommendem affektivem und erdverbundenem Wissen. Sie reist durch die Geschichte, durch universale Narrationen und große Erzählungen (Lyotard, 1984). Nomadische Weisheit reist durch Mythologie und Kunst, durch Poesie und Literatur, durch Filme und Theaterstücke (Olthof, 2017). Rosi Braidotti, die von Deleuzes Arbeit inspiriert ist, sieht den Nomaden als Alternative zum vernunftgeleiteten Menschen und nomadisches Denken als Alternative zum Logos oder zur reinen Vernunft (Braidotti, 1994; Braidotti, 2011). Nomadisches Den-

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ken setzt voraus, dass man sich der Machtstruktur des Geschichtenerzählens bewusst ist: Wer darf erzählen, wer ist ausgeschlossen, was ist vernünftig, was kann erzählt werden, und was muss unerzählt bleiben? Was ist normal und was ist verrückt, und wer kann die Bedeutung von Wörtern, von Verhaltensweisen definieren? Dies entspricht Foucaults Ordnung des Diskurses (Foucault, 1971). Es wird wunderbar veranschaulicht in Lewis Carolls »Alice im Wunderland«, wenn Humpty Dumpty in ziemlich verächtlichem Ton sagt: »›Wenn ich ein Wort gebrauche, […] heißt es genau das, was ich als Bedeutung wähle – nicht mehr und nicht weniger.‹ ›Die Frage ist‹, sagte Alice, ›ob Sie Wörter so viel anderes bedeuten lassen können.‹ ›Die Frage ist‹, sagte Humpty Dumpty, ›wer der Herr ist – das ist alles‹« (Carroll, 1865/2008). Nomadisches Denken kann uns helfen, aus dem dominanten Diskurs auszubrechen, das Primat der Vernunft hinter uns zu lassen und neue Wege zu beschreiten. Diese Art zu denken beruht auf Unterschied, auf Bescheidenheit und auf dem Bewusstsein, dass es immer auch andere und verschiedenartige Denkarten gibt. Sie eröffnet Räume. Sie betont – als Alternative zu Metanarrativen der Wahrheit – »Mikroerzählungen«: kleine, kontextgebundene Geschichten, die von der Komplexität des Lebens, dem Abwesenden, dem Unsichtbaren, dem Stillen und dem Verborgenen berichten. Nomadisches Denken hinterfragt kritisch die Selbstverständlichkeit von Ideen. Der Begriff des Nomadischen impliziert Bewegung, Werden, das Aufsuchen vieler verschiedener Orte. Ideen sind mobil, unterscheiden sich und sind immer im Fluss. Die nomadische Vorstellung versucht, das Denken aus der Zwangsjacke des Logos zu befreien, um ihm seine Freiheit, Vitalität, Schönheit und Differenziertheit zurückzugeben (Olthof, 2017). Es sammelt wertvolle Ideen aus einem breiten Spektrum an Quellen und hebt Kontext und Intertextualität hervor. Es bevorzugt die Polyphonie und ermöglicht, dass viele Stimmen aus unterschiedlichen Bereichen sprechen, dass diese gehört werden und alternative Weisen des Wissens, Deutens und der Definition von Bedeutung hervorzubringen. Vielfalt wird wertgeschätzt. Denken wird als etwas Physisches gesehen, das eine verkörpert zum Ausdruck kommende, affektive und erdverbundene Weisheit in sich trägt. Das Denken von Klienten und Therapeutinnen wird darauf gerichtet, Orte im Zwischenraum, im Dazwischenliegenden und in der Gemeinsamkeit der Differenzierung zu finden. Dagegen schließt die Dominanz des Logos andere Arten des Denkens aus, indem der Unterschied auf Gleichheit, auf eine einzige Identität reduziert wird. Braidotti argumentiert in Anlehnung an Deleuze, dass westliches Denken in dualistischer Tradition mit binärer Opposition operiert, wobei »der Andere – andere Menschen oder »der Andere« im Sinne einer Abstraktion – auf eine vom Subjekt abgetrennte Weise kategorisiert werden. Durch den Gedanken- und Kommunika-

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tionsprozess binären Unterscheidens entstehen Normen – das, was so richtig ist, und das, was anders ist. Das Andere wird dann zum Minderwertigen. Viele Gruppen werden aufgrund dieses dualistischen Denkens ausgeschlossen (Olthof, 2017). Unterschiede werden nicht respektiert, sondern auf ein Standardmaß reduziert und diesem untergeordnet. Eine Form des Denkens wird zum gemeinsamen Nenner, in dem Wahrheit, Ratio, Ordnung und Einheit die Hauptprinzipien darstellen, mit denen das Subjekt in Opposition zum Objekt gebracht und diesem hierarchisch übergeordnet wird; Menschen werden in Opposition zur Natur und Körperlichkeit positioniert und diesen übergeordnet; Männer werden in Opposition zu Frauen verortet und ihnen übergeordnet; Weiß wird in Opposition zu Schwarz geführt und ihm übergeordnet, so wie der Westen in Opposition zum Rest der Welt. Unterschiede müssen getilgt und einer Hierarchie untergeordnet werden, in der das Eine vorherrschend ist. Identität wird durch Einheitlichkeit und Übereinstimmung gestiftet: eine Stimme, eine Identität, ein Zentrum, ein dominanter Denkmodus, der dem Primat der Vernunft unterworfen ist und der aus dem Gesichtspunkt der Machtausübung weite Teile der Bevölkerung und zahlreiche Ideen aus diesem absoluten Einen ausgrenzt. Der Logos hat die Macht, Patientinnen zu diagnostizieren und sie auf eine einzige Geschichte zu reduzieren, die für sie erzählt und definiert wird, die sie etikettiert und auf eine einzige Identität reduziert. Das ist das Kontrollzentrum der Festung, die über ihre Umgebung herrscht. Im nomadischen Denken ist das Subjekt dezentral, polymorph und facettenreich. Kohäsion ist das Ergebnis eines Wachstums- und Reifungsprozesses. Deleuze verwendet bei diesem Subjektbegriff die Metapher des Rhizoms (Deleuze u. Guattari, 1998). Ein Rhizom ist ein unterirdisches Wurzelsystem wie etwa das der Erdbeerpflanze, der Bambusstaude oder der Ingwerpflanze. Es hat keinen Anfang und kein Ende, kann an jedweder Stelle beginnen und enden. Es hat keinen »Haupteingang«, aber viele Zutrittspunkte. Es kann an jedem Punkt aufgebrochen werden, wächst und erweitert sich aber weiter, wobei es seinen Weg um Hindernisse herum meistert und diese umwindet. Ein Merkmal eines Rhizoms ist auch die Heterogenität und seine Neigung, Verbindungen einzugehen. Verbindungs­linien können an jeden Punkt des Rhizoms anknüpfen; einen festen Kern gibt es nicht. Das Zentrum kann willkürlich an jedem beliebigen Punkt lokalisiert werden, indem einfach eine Grenze gezogen wird. So liegt die Betonung nicht auf den einzelnen Elementen, sondern auf den Verbindungslinien zwischen ihnen. Die Linien können jederzeit und an jedem Ort unterbrochen werden, aber die Struktur des Rhizoms setzt seine Entwicklung fort. Diese Struktur kann nicht identifiziert, gebunden oder befestigt werden. Es gibt keine primäre Achse ihres Wachstums.

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Das Konzept der Rhizomatik ist eine schöne Metapher, mit der das Subjekt und dessen Selbst beschrieben werden. Mit seiner Hilfe kann die Therapeutin mit Klienten auf einzigartige Weise in Beziehung treten, indem sie ohne Protokoll und starres Befragen einfach irgendwo beginnt. Therapeut und Klientin können sich im Hier und Jetzt in einem einzigartigen Tanz miteinander verbinden. Dies ist eine echte Begegnung, ein intuitives Moment. Therapeutin und Klient arbeiten zusammen, erschaffen ein »nomadisches«, temporäres Gefüge, ein weiteres Konzept von Deleuze. Die Therapeutin sieht die Klientin als Person mit vielen Stimmen, als polyphon, und mit einer facettenreichen Identität. Zusammen können sie versuchen, »Fluchtlinien« aus den problemgesättigten Geschichten der Klientin zu finden. Dies ist eine ehrliche, dialogische Begegnung, die unvorhersagbar, intuitiv ist und sich aus vielen Arten des Wissens speist. Es ist eine Begegnung zwischen zwei oder mehr Fachleuten, unabhängig von Alter, Geschlecht, Ethnie, Überzeugungssystem und Religion. Es besteht eine zeit- und raumübergreifende intertextuelle Verbindung.

Zahiras Übergang1: Bewegung in Unsicherheit Lieber Jan, beim Lesen deiner Reflexionen spüre ich eine mir bekannte Beunruhigung: eine Mischung aus dem Verlust des Sicherheitsgefühls, das mit »Wissen« einhergeht, und gleichzeitig die Befreiung von den normativen Fesseln, die wir im Laufe unserer therapeutischen Sozialisierung internalisieren. Das, was hier auf theoretischer Ebene vor sich geht, scheint sich im therapeutischen Prozess widerzuspiegeln. Ich denke dabei an den Begriff der Liminalität, diesen vom Anthropologen Victor Turner (1998) beschriebenen Übergangszustand, in dem man, wie auf einer Türschwelle verharrend, sich in einem Zwischenraum befindet zwischen der einen Sozialordnung und einer anderen; einem Zwischenraum, der von Ungewissheit, Vielschichtigkeit und Neuorientierung geprägt ist. Oft ist er mit Ritualen verbunden (siehe Kapitel Narrative, köpersprachliche Kommunikation und Embodiment, S. 397). Ich gehe mit de Shazer (1984) einher, der den Begriff des Widerstands gegen die Therapie infrage stellt und das therapeutische System als morphogenetisch, also veränderungsorientiert sieht. Und doch kenne ich auch das Verharren der 1 Zum Schutz der Klientin handelt es sich hier um ein aus mehreren Fällen konstruiertes und zusammengesetztes Fallbeispiel.

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Klientin im Übergang zur Veränderung sowie meine eigene Verunsicherung. Es wurde und wird oft als »Widerstand« erlebt, wenn die Fachkraft glaubt, mehr oder minder zu wissen, wo der Weg langgeht. Gelingt es uns aber, uns auf die Unsicherheit des noch nicht gut Bekannten einzulassen, werden wir zum Wegbegleiter des Klienten im zunächst desorientierenden Terrain. Wir machen beide Entdeckungen, welche die Klientin zu Neuentwürfen ihres Selbstnarrativs ermuntern. Mir fällt die Arbeit mit einer Jugendlichen ein. Ich (Peter Jakob) arbeitete mit der 15-jährigen Zahira und ihrer Erzieherin Jenny. Zahira ist südasiatischer Herkunft, aber in Großbritannien mit ihren Eltern und drei jüngeren Geschwistern aufgewachsen. Nachdem sie einer Lehrerin gesagt hatte, sie sei vom Vater und in seinem Auftrag auch von anderen Männern sexuell missbraucht worden, und später der Sozialarbeiterin des Jugendamtes auch von der häuslichen Gewalt des Vaters berichtete, kam sie in die stationäre Einrichtung. Niemand in ihrer neuen Umgebung war der gleichen Herkunft wie Zahira, und Familienkontakte waren nur selten möglich. Mein Auftrag war, Zahira bei der Bewältigung ihrer Traumasymptome zu unterstützen, darunter Schlafstörungen, mit Schweißausbruch und Herzrasen verbundene Angstzustände, dissoziative Episoden und Flashbacks. Zahira wünschte keine Verbesserung ihres Zustandes: Sie empfand diese Symptome als gerechte Strafe dafür, dass sie die Familie verraten habe. Sie erklärte mir, dass in ihrer südasiatischen Kultur der Verrat der Familie ein viel schlimmeres Vergehen darstelle als das, was der Vater ihr angetan habe. Sie habe sich mit ihrer Offenbarung auf eine Weise versündigt, die nicht mehr gutzumachen sei, und sei daher unwürdig, die Traumasymptome ihre gerechte, lebenslange Strafe. Sie empfand die Möglichkeit, diese Symptome zu überwinden, als beunruhigend, kam aber dennoch regelmäßig in die Therapie, weil die Erzieherin dies von ihr erwartete. Meinem Denken stellte sich eine Reihe von Unterscheidungen in den Weg: Die westliche Kultur sei eine andere, und schließlich war sie ja hier aufgewachsen … Müsste ich ihr nicht dabei zur Seite stehen, sich von solchen patriarchalischen Vorstellungen zu befreien? Zunehmend wurde mir bewusst, dass Zahiras Vorstellung des Göttlichen meinen und Jennys Einfluss auf ihr Selbstnarrativ nicht zuließ und dass wir mit dem Versuch, ihre Geschichte infrage zu stellen, uns hierarchisch über sie positionieren, ein größeres Machtgefälle konstruieren und damit ihren sogenannten »Widerstand« hervorrufen würden. Ich musste die eigene Voreingenommenheit erkennen und infrage stellen. Selbst als Einwandererkind aufgewachsen war es mir jedoch bewusst, dass »Kultur« weder statisch festgeschrieben noch homogen ist, sich unterschiedlich verortet, sich ständig in Bewegung befindet. Ich machte es mir zur Aufgabe, Zahiras Wegbegleiter auf einer Reise durch eine Kultur

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zu werden, von der ich nur sehr wenig verstand und die sich zudem unterwegs verändern würde. Sie war damit einverstanden. Wir stellten viele leere Stühle zu einem Gesprächskreis auf. Nach und nach bevölkerte Zahira die Stühle mit einer Vielzahl von Zeuginnen ihrer Lebensgeschichte aus der südasiatischen Kultur: Verwandte, Freundinnen, Tanten, Bollywoodschauspielerinnen, Filmcharaktere, Popsängerinnen, Gottheiten. Diese Zeugen wurden dadurch lebendig, dass Zahira sie im Rollenspiel darstellte. Sie sprachen miteinander, mit ihr, bezogen auch mich als Fremden manchmal mit ins Gespräch ein, wenn ich höflich Verständnisfragen stellte, und brachten auf diese Weise viele verschiedene Perspektiven in den Gesprächsraum. Zahira war erstaunt über die unterschiedlichen Vorstellungen zur eigenen Person, die sie in der Verkörperung dieser Personen hervorbrachte. Ihr Selbstbild begann sich zu verändern, und schließlich war sie einverstanden, sich auf traumalösende Verfahren wie EMDR2 einzulassen.

Kommentar zur therapeutischen Arbeit mit Zahira Lieber Peter, das ist ein ästhetisches Beispiel nomadischer Theorie, nomadischen Denkens und Navigierens in der Komplexität. Du hinterfragst dein eigenes Denken und traust dich, die Festung westlichen Wissens und Denkens zu verlassen. Du akzeptierst respektvoll ihre Werte und ihre kulturell geprägte Art der Problemdefinition. Aus meiner Sicht führst du das Prinzip ein, Hierarchie zu respektieren – nicht die mit Machtansprüchen assoziierte Hierarchie, sondern eine Hierarchie kultureller Werte und Bedeutungen. Natürlich leidet Zahira unter einer Machtstruktur, unter Gewalt und Diskriminierung, unter Männern, die sie missbrauchen. Und ihr Leiden appelliert an uns: Wir wollen ihr helfen und sie befreien, aber dabei könnten wir ihr Leiden erhöhen, sie in einen Loyalitätskonflikt zwischen Kulturen und Überzeugungssystemen bringen, zwischen den Menschen in ihrer eigenen Familie und ihren Bezugspersonen, ihrem Herkunftsland und England. Verzweifelt nach Hilfe suchend muss sie die Kultur des Jugendhilfesystems akzeptieren, das sie braucht, aber dadurch steigern sich ihre Scham- und Schuldgefühle und die Überzeugung, dass sie andere Menschen verraten habe. 2 EMDR (»eye-movement desensitization and re-processing«) ist eine traumafokussierte therapeutische Methode (siehe z. B. Schubbe, 2016; Sack, Lempa u. Lamprecht, 2001).

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Das westliche Denken »weiß es besser« und stellt sich über die Überzeugungen und Wertvorstellungen ihrer Familie. Doch was ist zu tun, wenn das Leiden unmittelbar vor uns ins Gesicht dieser jungen Frau gezeichnet ist, die gerade mal 15 Jahre alt ist und keine Macht hat, an ihrer Situation etwas zu ändern, außer dass sie ihre Familie und Herkunft verrät? Genau aus diesem Grund kann Zahira die »Medizin« des EMDR-Verfahrens noch nicht annehmen. Am Anfang der Begegnung ist noch kein »therapeutischer Kontext« (Olthof, 2017) entstanden. Ich definiere einen Kontext erst dann als therapeutisch, wenn ihn alle Teilnehmenden annehmen und der Kooperation innerlich zustimmen können, wenn sie sich gehört fühlen und mit ihrer eigenen Stimme und in ihrer »Mutter-Sprache« sprechen können. Wir gehen oft unhinterfragt davon aus, dass ein therapeutischer Kontext gegeben ist, wenn eine Klientin um Hilfe bittet. Doch das Feld unterschiedlicher Kräfte, die auf die Person einwirken, ist um ein Vielfaches größer, hat viele Stimmen und umfasst weitaus mehr Perspektiven. Du hast eine horizontale Beziehungsstruktur geschaffen und dich selbst außerhalb dieses Kraftfeldes gestellt; dies ist die einzige Möglichkeit, Zahira zu helfen, außer in der Ausnahmesituation, in der sie physischen Schutz sucht, doch selbst dann spielt diese Bewegung aus dem Kraftfeld heraus eine Rolle. Du hast ihr geholfen, ihre eigene Landkarte der vielen Stimmen in ihrer inneren und äußeren Welt zu erstellen, hast für die verschiedenen Perspektiven innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Kultur Raum geschaffen; auch für die Stimmen der Menschen, die ihr wichtig sind, mit denen sie sich identifizieren kann und will, von denen sie reale oder ideelle Hilfe bekommen möchte. Sie kann über die unterschiedlichen Kräfte in dem Feld, in dem sie lebt, nachdenken. Du verbindest dich mit dem Leiden und hilfst ihr, sich zu befreien. Du bist auf ihrer Seite, in ihrer Nähe und schließt dich vorsichtig ihrem Rhythmus an.

Samantha: Gott, Gehorsam und Befreiung Deine Einführung in den Fall Zahira bringt mich (Jan Olthof) zum Fall von Samantha, der Mutter von drei Kindern im Alter von sieben, vier und zwei Jahren. Samantha litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD), seit sie im Alter zwischen sieben und zwölf von ihrem Vater missbraucht worden war. Sie war Mitglied einer sehr streng orthodoxen protestantischen Kirchengemeinde. Ihr Hausarzt hatte sie in die Klinik für Familienpsychiatrie überwiesen, in der wir stationäre Behandlung und Familientherapie anbieten. Sie konnte erst stationär

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aufgenommen werden, als sie wusste, dass ihre Kinder gut versorgt waren. Sie hatte Angst, ihre Kinder zu Hause bei ihrem Mann zu lassen, weil sie sich immer noch vor ihrem Vater fürchtete und besorgt war, dass er heimlich zu ihr nach Hause kommen würde. Außerhalb der Kirche Hilfe zu suchen war aus Sicht der Gemeinde an sich schon ein Verrat, und Samantha fürchtete die Missbilligung durch den Pfarrer und die Kirchenältesten. Sie hatte Angst, aus der Gemeinde ausgeschlossen zu werden, brauchte aber Hilfe; sie litt unter äußerst schweren Symptomen. Samantha konnte ihre Kinder nicht mehr versorgen. Dieser Kontext war alles andere als therapeutisch. Sie lediglich stationär einzuweisen und mit der Behandlung zu beginnen, würde ihre Angst, ihr Gefühl, die Kirchengemeinde zu verraten, einfach nur steigern. Nach kirchlichen Wertvorstellungen war der Glaube an Gott vorgeschrieben: Gott wird helfen, falls aber Gott nicht hilft, dann wird er (natürlich: ER) seine guten Gründe dafür haben. Samantha musste sich Gott anvertrauen. Sich in Therapie zu begeben würde beweisen, dass sie keine gute Christin sei und ihr das Vertrauen in IHN fehle. Sie wurde schon dadurch zur Abtrünnigen, dass sie wegen etwas anderem als körperlicher Beschwerden zum Arzt gegangen war. Eine Überweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus zu akzeptieren wäre eine Sünde. Im Team überlegten wir reiflich, wie sich ein therapeutischer Kontext gestalten ließe. Wir konnten ihr nur dadurch helfen, dass wir die Bedeutungshierarchie in Samanthas Weltverständnis, die mächtigen Kräfte, die auf sie einwirkten, und das Überzeugungssystem, das ihr im Leben die Orientierung gab, respektierten. Das Personal verurteilte dieses orthodoxe religiöse System aufs Schärfste. Das Krankenhaus lag in einem städtischen Umfeld; Samantha lebte in einem kleinen Ort auf dem Land und war von äußeren Einflüssen abgeschnitten. Die Teammitglieder waren begeisterte, von Idealen beflügelte Therapeuten und Therapeutinnen, die versuchten, ihre Klientel zu emanzipieren und zur Selbstbefähigung zu verhelfen: »Wir werden nicht auf den Pfarrer und die Kirchenältesten hören, wir müssen dieser Frau helfen.« Samantha fühlte sich allein schon dafür schuldig, dass sie auch nur an einen Klinikaufenthalt gedacht hatte, fühlte sich als Versagerin, hatte das Gefühl, ihren Glauben und ihre Gemeinde verraten, nicht auf Gott vertraut zu haben. Sie hatte zu viel Angst, um Hilfe annehmen zu können. Also beschlossen wir, den Pfarrer einzuladen. Unser Psychiater, dem im religiösen Kontext keine Autorität zustand, der aber an der Spitze unserer Deutungshierarchie im psychiatrischen Gesundheitswesen stand, begegnete dem Pfarrer als Kollegen. Er stellte sich in der Hierarchie sogar eine Stufe tiefer als der Pfarrer und gab dadurch zu verstehen, dass jener über die beste Option zu entscheiden hatte. Er legte ihm aus ärztlicher Sicht einen Bericht über Samanthas Leiden und ihre Symptome vor, sprach aber auch über ihren starken Glauben an Gott, über ihre

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religiöse Haltung, ihre Werte und über ihr zutiefst empfundenes Anliegen, ein gutes Mitglied der Kirchengemeinde sein zu wollen: »Herr Pfarrer, die Kirchengemeinde ist wichtiger als dieses Krankenhaus. Für Samantha ist es wichtiger, ein Mitglied der Kirche sein zu können, als in diesem Krankenhaus zu bleiben und gesund zu werden. Wir können ihr nur helfen, wenn Sie ihr die Erlaubnis geben, bei uns zu bleiben und unsere Hilfe anzunehmen. Ihre Erlaubnis ist ihr wichtiger als meine Rolle als Arzt. Können wir zusammenarbeiten?« Der Pfarrer wird sich bewusst gewesen sein, dass er eine riesige Verantwortung zu tragen gehabt hätte, hätte er die Krankenhauseinweisung verboten. »Können wir mit der Kirchengemeinde kooperieren, mit Ihnen als Pfarrer in Ihrer Beziehung zu Gott?« Kurze Zeit später erteilte der Pfarrer direkt und eindeutig Samantha die Erlaubnis zur Klinikbehandlung. Sie seufzte in tiefer Erleichterung. »Wenn wir für Samantha, ihren Mann und ihre Kinder sorgen, können Sie dafür sorgen, dass sie auch weiterhin als gutes Mitglied Ihrer Kirchengemeinde anerkannt bleibt? Können Sie ihren Platz und ihre Position schützen? Können Sie den Kirchenältesten sagen, dass Sie ihr die Erlaubnis gegeben haben, und können Sie die Mitglieder der Kirchengemeinde um deren Hilfe bitten?« Der Pfarrer versprach, dies zu tun. In diesem neuen, veränderten Kontext konnte Samantha die Behandlung akzeptieren. Sie fühlte sich von der Kirchengemeinde, dem Pfarrer und dem Krankenhaus behütet. Sie war an einem sicheren Ort und in einem geschützten Raum. Als Psychiatrieteam hatten wir begonnen zu glauben, wir wüssten es besser; wir verteufelten zunächst die abweichenden Sichtweisen der religiösen Gemeindemitglieder – aber damit verteufelten wir gleichzeitig die Glaubensvorstellungen unserer Klientin. Schließlich wuchs in uns die Bereitschaft zur Bescheidenheit. Wir waren willens, zu kooperieren und unseren Platz im Kräftefeld zu suchen, das auf Samantha einwirkte. So konnte sie auf einer Weise in der Welt stehen, die es ihr ermöglichte, nach ihren eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen zu leben. Wir dezentrierten uns schließlich, um einen therapeutischen Kontext zu schaffen und eine Position in der Nähe von Samantha zu finden, wie du es in deiner Arbeit mit Zahira gemacht hast.

Kommentar zur therapeutischen Arbeit mit Samantha Lieber Jan, als ich die Geschichte um Samanthas Klinikeinweisung gelesen habe, spürte ich Erleichterung, fühlte Zuversicht für sie und ihre Familie, war aber gleichzeitig auch verwirrt und beunruhigt. Die Sache hat viele Fragen aufgeworfen, die für

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mich unbeantwortet bleiben. Vielleicht ist das die Richtung eines nomadischen Prozesses – eines Prozesses, bei dem wir keine Hierarchie der richtigen und falschen theoretischen Orientierung, richtiger und falscher Wertesysteme und auch keinen etablierten, festgelegten Weg der Hilfeleistung akzeptieren. Im Sinne der rhizomischen Metapher müssen wir einen Weg um Hindernisse herum finden – oder in der Terminologie der narrativen Therapie jene Zwänge umgehen, die der Erholung der Patientin von Trauma im Wege stehen, und dazu beitragen, Wachstum zu ermöglichen. Um in ihrem Fall solche Zwänge besser verstehen zu können, versuchte ich mich in Samantha hineinzuversetzen und stellte mir die männliche Repräsentanz in diesem Kräftefeld vor, das auf sie einwirkte: die traumatische Belastung und die ständige Bedrohung, die aus dem Missbrauch durch ihren Vater resultierte; den Pfarrer der Kirchengemeinde, den Psychiater, Gott (zumindest den männlich patriarchalischen Gott ihrer Kirche) und auch dich und mich – alle von uns männlichen Geschlechts! Diese überwältigende Männlichkeit kann sich wie ein unüberwindliches Hindernis für Bewegung anfühlen. Im Sinne der Traumatheorie würden wir von einer »Fright-Reaktion« sprechen, wenn das Individuum bei einer als existenziell empfundenen Bedrohung weder fliehen noch kämpfen kann und bewegungsunfähig wird, was mit einer hohen simultanen Aktivierung des sympathischen und parasympathischen Nervensystems einhergeht. Du beschreibst den ursprünglichen Kontext vor der Klinikeinweisung als einen, dem es an Verständnis mangelte – er wirkt eher wie ein retraumatisierendes soziales Umfeld. Also frage ich mich: Handelt es sich um eine »posttraumatische Belastungsstörung« oder um eine anhaltende traumatische Belastung? Selbstverständlich musste ein Weg aus dieser Paralyse gefunden, Bewegung ermöglicht werden, und das geschah auch, kraft des Umstands, dass das Team darauf verzichtete, seine eigenen Wertvorstellungen durchzusetzen. Möglich wurde die Bewegung durch die Bitte des männlichen Psychiaters an den noch mächtigeren männlichen Akteur in Samanthas sozialem Umfeld, ihr die Klinikeinweisung zu erlauben. Es gehört zu meinen zentralen Werten als Therapeut, darauf hinzuwirken, dass es den Klienten besser geht; das Leben ist kurz und wir haben die Aufgabe, wirksam dazu beizutragen, dass sich das Leiden baldigst verringert. Theoretische Annahmen und Verfahren, die in einem bestimmten, konkreten Fall nicht zu diesem Resultat führen, sind aus meiner Sicht Schaufensterschmuck. Von der Bewegung, die hier ermöglicht wurde, hat nicht nur Samantha enorm profitiert, sondern auch ihre Kinder, ihr Mann und vielleicht auch andere Menschen. Und dennoch: Wir sind hier mit großem Leiden konfrontiert, das im Kontext extremer patriarchalischer Sozialstrukturen verursacht worden ist. Wie ist es

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möglich, dass Entlastung von diesem Leiden, Aussicht auf Linderung der traumatischen Symptome, Samanthas persönliche Entwicklung und Erholung ihrer Familie dadurch erreicht werden, dass eine Operation – die Bitte um Erlaubnis – durchgeführt wird, die den Regeln ebendieses patriarchalischen Systems folgt, in dem ihre Probleme entstanden sind? Jenes patriarchalische System, das tendenziell den Missbrauchstäter schützt, indem es eine »geschlossene Gemeinschaft« bleibt, in der es ein Gebot zur Geheimhaltung gibt? Es ist ein System, das den männlichen Anspruch aufrechterhält zu bestimmen, was mit weiblichen Körpern geschieht; ein System, in dem auch die allerhöchste sinngebende Instanz, nämlich Gott, männlichen Geschlechtes ist. Das professionelle System operiert innerhalb der Regeln ebendieses patriarchalischen religiösen Systems, indem es die Erlaubnis von einem Mann erbittet, als ob es sich um die Erlaubnis des Herren handele. Kann das professionelle System einen Wandel bewirken, solange es die Stasis dieses patriarchalischen Systems akzeptiert? Und ich frage mich, ob das ethisch vertretbar ist? Doch wenn ich meiner eigenen zentralen Wertvorstellung als Therapeut folge – wir müssen Verbesserung im Hier und Jetzt ermöglichen –, dann spüre ich große Erleichterung. Etwas beginnt sich zu bewegen. Der Rhizommetapher folgend frage ich mich, in welche Richtungen der Veränderungsprozess bei Samantha und ihrer Familie wohl gehen wird? Wie werden sich die weiblichen Kolleginnen im Psychiatrieteam als Personen positionieren, die zur Sinnstiftung Samanthas beitragen? Werden sie im Behandlungsprozess ihre Stimmen finden? Werden sie ihre Wertvorstellungen – etwa weibliche Befähigung, weibliche Selbstbestimmung – kommunizieren können? Und auf eine Weise, dass Samantha die Freiheit in sich verspürt, ihnen zuzuhören? Ich denke über die Kraft der Subversion nach. Wenn Menschen schädliche Machtstrukturen zu zersetzen beginnen, gehen sie oft nicht in direkte Konfrontation. Subversion bietet ein Element der Differenzierung an, dass das Potenzial hat, dominante Diskurse zu beeinflussen. Eine solche Differenzierung kann ein gesamtes soziales System dazu einladen, das eigene Regelwerk zu relativieren. Differenzierung scheint mir in Samanthas Fall in der – neuen – Idee zu liegen, dass niemand Gottes Willen in einem absoluten Sinn kennt; die Beurteilung des Sachverhaltes durch den Pfarrer wird hier zu einer sorgfältig abgewogenen Meinungsangelegenheit anstatt zur Äußerung einer etablierten, unumstößlichen, absoluten Wahrheit. Könnte diese Idee zum Unterschied werden, der einen Unterschied im therapeutischen Prozess von Samantha und ihrer Familie ausmacht? Kann, als sie vom Trauma zu heilen beginnt, diese neue Idee vielleicht Samantha dazu einladen, die Vorstellung männlicher Überlegenheit und die Gewissheit, der männliche Machtanspruch sei gerechtfertigt, zu hinterfragen?

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Könnte diese Idee sie dazu einladen, den Glaubenssatz zu hinterfragen, dass weiblicher Gehorsam tugendhaft sei? Aber wird es ihr möglich werden, solche implizit aufsteigenden Fragen (dadurch, dass der Pfarrer etwas von seiner Macht als Vertreter absoluter Gewissheit aufgab) auf eine Weise zu betrachten, die sie selbst kontrollieren kann, die sie in ihrem eigenen Zeitrahmen und der ihr eigenen Weise verarbeiten und bewältigen kann? Wie könnten diese Fragen selbst Samanthas Kirchengemeinde beeinflussen, indem ihre Mitglieder eine neue Regel – dass stationäre psychiatrische Behandlung durch »Außenstehende« statthaft oder sogar notwendig sein kann, dass Öffnung nach außen unter Umständen richtig ist – reflektieren und integrieren, eine neue Möglichkeit erkennen, die von dem abweicht, was bisher als gottgegeben angesehen worden ist? Wie steht es mit der Möglichkeit, dass Mitglieder dieser bisher in sich geschlossenen ländlichen Gemeinschaft und Mitarbeiter der psychiatrischen Einrichtung lernen, einander bei einem Zusammentreffen im Krankenhaus in ihrer Menschlichkeit zu begegnen? Solche Aussichten würden Hoffnung in mir aufkeimen lassen.

Anstatt einer Schlussfolgerung Wir haben in diesem Beitrag den Versuch unternommen, der Leserin den Einfluss nomadischer Theorie auf unsere therapeutische Ideenbildung und Praxis zu vermitteln. Wir leben in Geschichten, und erstarrte Geschichten lassen Lebensformen erstarren. Bewegungsfähigkeit ist die Quintessenz nomadischer Theorie. In der hier vorgestellten Arbeitsweise speist die Bewegung des Narrativs die Bewegung der Person in neuen sozialen Kontexten; sie kann mitunter auch die Bewegung der sozialen Kontexte selbst ermöglichen.

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Vom Leben erzählen: Warum und wozu diese ganzen Geschichten? JÜRGEN STRAUB

»Irgendetwas ist geschehen am Beginn der Zeiten – irgendeine Geschichte mit Entscheidung, Handlung und Reaktion –, etwas, das dazu führte, dass wir sind, wie wir sind; und wenn wir unsere Art zu sein verstehen wollen, dann müssen wir diese Geschichte erinnern und immer wieder erzählen«   (Greenblatt, 2018, S. 28).

Erinnerung an elementare Einsichten und eine außergewöhnliche Erzählung Was Stephen Greenblatt in seiner »Geschichte von Adam und Eva«, dem angeblich »mächtigsten Mythos der Menschheit«, kundtut, gilt nicht nur für die Gattung und große Gruppen von Menschen, sondern für jedes einzelne Individuum. Zu verstehen, wer wir sind, macht es erforderlich, sich zu erinnern und zu erzählen, wie und wer wir geworden sind, und zu bedenken, wer wir sein möchten und vielleicht einmal sein werden. Woher kommen wir, wo befinden wir uns heute und wohin bewegen wir uns gerade, wohin werden oder wollen wir uns morgen ausrichten? Diese natürlich nicht nur geographisch gemeinten, sondern im seelischen, sozialen, moralischen und politischen Raum angesiedelten Leitfragen sind für die Bildung kollektiver und individueller Selbst- und Weltbeziehungen unerlässlich. Narrative der besagten Art gehören zu den anthropologischen Universalien und Notwendigkeiten – wie sehr sie sich im Einzelnen, in Inhalt und Form, unterscheiden mögen.1 1

Darüber ist sich die Erzählforschung weitestgehend einig, gerade wenn der historische Wandel und die teils erheblichen kulturellen Unterschiede bezüglich der Inhalte und der Formen von Erzählungen beachtet werden. Im vorliegenden Essay werde ich nicht auf jede terminologische Differenzierung achten, also etwa die alltagssprachliche »Erzählung« und »Geschichte« nicht von der wissenschaftlich gebräuchlichen »Narration« und dem »Narrativ« unterscheiden; dasselbe gilt für andere, in der weitgefächerten Erzählforschung, Erzähltheorie beziehungsweise Narratologie geläufige – aber natürlich alles andere als einheitlich verwendete – Begriffs-

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Wie sich Menschen verstehen und wie sie ihrer materiellen, sozialen und kulturellen Welt begegnen sowie sich selbst gegenüber verhalten, hängt maßgeblich von den Geschichten ab, die sie erzählen. Die Geschichten, an die wir glauben und an die wir uns halten – weil wir Tatsachen in ihnen erkennen und anerkennen, wichtige Werte, Weisheiten und Tugenden vielleicht, kluge Lehren fürs Leben oder verbindliche Gebote und Verbote –, verleihen dem Dasein Bedeutung. Diesen Aspekt rückt nicht zuletzt die hier besonders interessierende narrative Psychologie ins Zentrum der Aufmerksamkeit (z. B. Boesch, 2021; Brockmeier, 2015; Bruner, 1990, 1998, 2003; Straub, 1998a, 1998b, 2019a, 2019b, 2019c). Erzählungen bestimmen mit, wie Personen zur mannigfaltigen, sich wandelnden Wirklichkeit Stellung nehmen. Sie legen zwar nichts vollkommen fest – ganz im Gegenteil, sind sie doch selbst wandelbar und meistens hochgradig polyvalent, also uneindeutig und damit offen für immer neue Lesarten. Sie sind aber auch nicht willkürlich und beliebig lesbar. Der Mensch ist ein Geschichtenerzähler, der auf dem Grund seiner eigenen Erlebnisse sowie auch fremder Erfahrungen und Erwartungen, letztendlich »selbst erdachter« und »beglaubigter« Geschichten lebt, denkt, fühlt, dieses tut und jenes lässt. Es gibt selbstverständlich weitere symbolische Formen, Praktiken und Institutionen, die es uns ermöglichen, aus an sich sinnlosen Ereignissen und Zuständen bedeutungsvolle, Orientierung stiftende Erfahrungen zu machen und sie anderen mitzuteilen. So leben, handeln und kommunizieren wir z. B. auch ikonisch, also in und mit Bildern (Plontke, Przyborski u. Straub, 2021). Das Erzählen und die erzählten Geschichten sind jedoch besonders wichtig für das in symbolisch vermittelten Wirklichkeiten lebende, sich und seine Welt unentwegt auslegende Tier. Geschichten müssen nicht unbedingt bestimmungen. Nicht alle verfügbaren Unterscheidungen aufzugreifen, heißt natürlich nicht, völlig auf begrifflich-theoretische Genauigkeit zu verzichten. Wo es für die hier verfolgten Zwecke angebracht ist, werden auch unumgängliche Definitionen und Differenzierungen eingeführt. Wichtig ist z. B., dass die Rede vom »Erzählen«, von »Erzählungen« und »Geschichten«, »Narrationen« und »Narrativen« einen Plot beziehungsweise eine Fabel voraussetzt, also die sprachliche Organisation eines Geschehens in der Zeit. Zu den informativen Einführungen und Überblickswerken zählen gegenwärtig etwa Bal (2009), Herman (2007), Green (2002), Heinen und Roy (2009), Herrman, Jahn und Ryan (2005), Fludernik und Ryan (2019), Höcker, Moser und Weber (2006), Hühn, Pier, Schmid und Schönert (2009), Kindt und Müller (2003), Koschorke (2012), Martinez (2011, 2017), Martinez und Scheffel (2012), McQuillan (2000), Müller-Funk (2007), Nünning und Nünning (2002a, 2002b), Strohmeier (2013). Knappe Überblicke mit je eigenen Akzenten finden sich z. B. bei Meuter (2004), Saupe und Wiedemann (2015) und Straub (2020). Laufende Einblicke in den Fortgang der Forschung gewähren Fachzeitschriften wie etwa »Narrativ Inquiry« (http://www.clarku.edu/faculty/mbamberg/ narrativeINQ/index.htm; seit 1991; bis 1997 unter dem Titel »Journal of Narrative and Life History«) oder »DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung/Interdisciplinary ­E-Journal for Narrative Research« (https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis).

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sprachlich verfasst sein. Zu beachten gilt es jedoch, dass sprachliche Erzählungen wohl niemals ohne Verluste in ein anderes Medium übertragbar sind, wenngleich z. B. auch Bilder Geschichten erzählen können oder Menschen ihren Tänzen oder sogar der Musik eine narrative Struktur verleihen können. Viele Dinge – Objekte beliebiger Art, geliebte Erinnerungsstücke etwa – sind eigentlich narrative Abbreviaturen: Sie enthalten Geschichten oder verweisen auf sie, erhalten also ihre jeweilige Bedeutung – für bestimmte Menschen – erst dann, wenn diese latenten oder impliziten Erzählungen entfaltet werden. Generell gilt: Der Mensch orientiert und bewegt sich unweigerlich in narrativen Bedeutungsgeweben, in erzählerisch entworfenen und ausgestalteten Zeit-Räumen. Das Gesagte trifft auch auf jedes einzelne Individuum zu. Sein praktisches Selbst- und Weltverhältnis sowie sein symbolisches Selbst- und Weltverständnis sind in erheblichem Maße narrativ strukturiert. Sie sind in Genese und Beschaffenheit von der soziokulturellen Praxis des Geschichtenerzählens abhängig. All das ist eine anhaltende Tätigkeit, mit der Individuen beginnen, sobald sie als Kinder Geschichten in ihrer Struktur, Dynamik und vielfältigen Funktion zu verstehen lernen und bald schon selbst nach einer in ihren Grundstrukturen festgelegten, universellen Narrationsgrammatik erzählen können, über die »narrativ kompetente« Sprecher verfügen, ohne sie als Regelsystem explizieren zu können (vgl. Straub, 1998b, 2011, 2020; Boueke, Schülein, Büscher, Terhorst u. Wolf, 1995). Menschen sind als geschichtliche Lebewesen andauernd in Geschichten verstrickt (Schapp, 1953), und zwar in einem doppelten Sinne: Einerseits sind sie in die Ereignisgeschichten verwickelt, also in all das, was mit oder ohne das eigene Dazutun gerade geschieht, dereinst passiert ist oder bald geschehen wird. Andererseits bewegen sie sich im symbolischen Raum der erzählten Geschichten, die die Subjekte bilden und immer wieder umbilden, weil vergangene Ereignisse stets aufs Neue und immer wieder anders erinnert und ausgelegt werden. Das kann nicht nur, das muss so sein: Jede Vergangenheit ist als narrative Rekonstruktion und symbolische Repräsentation eines ehemaligen Geschehens veränderlich, sie kann tatsächlich »besser« oder »schlechter« werden (Rüsen, 2002). Wir ändern Vergangenheiten im Lichte unserer neuen Erfahrungen und Erwartungen. Wir verstehen, was war, immer wieder anders, in Abhängigkeit von unseren sich wandelnden Gegenwartsdeutungen und den imaginierten, antizipierten künftigen Ereignissen. Erzählungen integrieren die zur Sprache sowie zugleich in eine zeitliche Ordnung gebrachten Ereignisse oder Geschehnisse, vergangene, gegenwärtige oder dank unserer Vorstellungskraft vorweggenommene. Autobiographische Narrative und andere Selbstthematisierungen artikulieren und ordnen in einer sym-

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bolischen und temporalen Form insbesondere auch subjektive Erlebnisse, die fortan als mitteilbare und teilbare, anerkennungswürdige oder auch kritisch reflektierbare Erfahrungen memoriert und kommuniziert werden. »Erlebnisse« können zwar symbolisch oder hermeneutisch vermittelt sein. Sie sind aber gleichwohl leibliche Phänomene, die wirklich und wirksam sind, ohne bereits symbolisch durchformt und sprachlich artikuliert worden zu sein. Sie können unser in bisherigen Erfahrungen verwurzeltes Wissen irritieren. Sie können das, was wir kennen und als mehr oder minder gefestigte Erfahrungs- und Wissensordnung kommunizieren, stören. Erlebnisse können uns überraschen, zum Guten wie zum Schlechten. Solche vergleichsweise unmittelbaren, durch und durch subjektiven – affektiven, emotionalen, leiblichen – Erlebnisse unterscheide ich terminologisch also von »Erfahrungen« (und auch von »Erwartungen«), die stets in irgendeinem Medium ausgedrückt sind, das heißt: bereits eine symbolische Form oder Gestalt angenommen haben (sprachlicher oder bildlicher, diskursiver oder präsentativer Art; vgl. Langer, 1965). Erfahrungen sind in ihren Eigenheiten bereits bestimmt. Während vergangenheits- oder zukunftsbezogene, aktuelle Erlebnisse in ihrem Kern radikal subjektiv sind, sind Erfahrungen intersubjektiv nachvollziehbar, also notwendigerweise soziale Phänomene. Erfahrungen sind mitgeteilte und geteilte Sachverhalte. Erzählungen verwandeln Erlebnisse in Erfahrungen (und Erwartungen), die andere verstehen können sollen. Sie vermitteln zwischen dem Selbst und den anderen. Sie sorgen nicht zuletzt dafür, dass sich Personen, weil und während sie erzählen, selbst verstehen und »bei sich heimisch fühlen«. Das muss nicht immer glücken und gelingt tatsächlich häufig nur unzulänglich. Deswegen ist uns allen das frustrierende Gefühl geläufig, beim besten Willen nicht angemessen ausdrücken zu können, was wir erlebt haben. Es fehlen uns die Worte, die unseren Erlebnissen angemessen wären. Wir fühlen uns unbehaglich, wenn wir Erlebtes nicht in zufriedenstellender Weise als Erfahrung oder Erwartung kommunizieren, mit anderen teilen und bedenken können. Nicht alles lässt sich – gleich gut, deutlich und klar – erzählen. Das Paradebeispiel bilden bekanntlich traumatische Erlebnisse, die häufig durch ihre partielle Unaussprechlichkeit und Unbewusstheit definiert werden. Traumata entziehen sich ihrer (vollständigen) Symbolisierung, egal in welchem Medium. Sie wirken fort, wo die Sprache verstummt und das Reich des Unsagbaren beginnt, ein diffuser seelischer Ort, in dem vage Anzeichen, unverständliche Träume, Flashbacks, fragmentierte und aktionale Erinnerungen vorherrschen (vgl. Straub, 2014, 2015). Erzählungen können ehemalige, gegenwärtige oder erwartete Erlebnisse mehr oder weniger klar zum Ausdruck bringen. Sie können Erfahrungen und

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Erwartungen lediglich andeuten oder filigran artikulieren (was Schriftstellerinnen meistens besser gelingt als Wissenschaftlern; daher greifen wir gern zur Literatur, sobald wir etwas von uns sowie dem Leben der anderen verstehen wollen). Erzählungen mögen uns langweilen oder faszinieren und mal mehr, mal weniger zu denken geben. Manche von ihnen beschäftigen einzelne Personen oder große Gruppen von Menschen zeitlebens. Einige gelten als Menschheitserzählungen, die eigentlich alle angehen. Kehren wir noch einmal zu Greenblatts Buch über die Geschichte von Adam und Eva zurück, diesem Mythos über die Kindertage einer Gattung, die erst durch bestimmte Ereignisse zu einer über den Globus verstreuten Ansammlung von »Menschen wie wir« geworden ist. Wie der an Geschichten interessierte, sein ganzes Leben lang von ihnen faszinierte und sie erforschende Literatur- und Kulturwissenschaftler metaphorisch sagt, erzählt er in seinem Buch die »Lebensgeschichte« dieser außergewöhnlich wirkmächtigen Erzählung von Adam und Eva. Er lässt dabei so gut wie nichts aus, was mit ihr verbunden ist oder in Verbindung gebracht werden kann: »Seitdem sie erzählt wird, in vielen langen Jahrhunderten, lagerte sich ein enormer Apparat an, Hilfsmittel aller Art; Lehrer wiederholten sie ohne Ende; Institutionen belohnten die Gläubigen und straften die Skeptiker; Intellektuelle trieben die Nuancen hervor und lieferten konkurrierende Deutungen, Lösungen für die Rätsel dieser Erzählung; Maler ließen sie lebendig werden. Die Erzählung selbst blieb ziemlich unberührt von diesen vielschichtigen Elaborationen. Oder anders gesagt: so ziemlich alles, was später auf die Erzählung folgte, scheint von ihrer schier unerschöpflichen Energie gezehrt zu haben, so als sei ihr Kern radioaktiv. Adam und Eva sind Sinnbild der sonderbaren, der unerschöpflichen Kraft, die dem innewohnt, was Menschen erzählen« (Greenblatt, 2018, S. 15). Und einige von diesen Narrationen – gar nicht so wenige, darunter auch banal erscheinende Alltagserzählungen oder kurze autobiographische, episodische Erzählungen – verraten etwas vom existenziellen Selbst- und Weltverständnis des Menschen und führen uns vor Augen, was es heißt oder zumindest heißen kann, ein Mensch zu sein. Man liest sie – wie etwa die biblische Vertreibung aus dem Paradies – als »Hymnus auf menschliche Selbstverantwortung« oder als »dunkle Fabel menschlicher Verworfenheit, eine Feier des Mutes und Anstiftung zu brachialer Misogynie. Das Spektrum, das sie im Lauf einiger tausend Jahre bei unzähligen Individuen und Gemeinschaften hervorgerufen hat, ist frappierend« (Greenblatt, 2018, S. 16). Mythische Erzählungen sind polyvalent, überdeterminiert und multifunktional. Beinahe alle setzen mannigfache Wir-

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kungen frei und erfüllen vielerlei Funktionen. Allerdings vermögen nur ganz wenige eine derartig überwältigende, geradezu verwirrende Vielzahl an verschiedenen, heterogenen und konfliktträchtigen Auslegungen zu provozieren wie die Geschichte von Adam und Eva, und dies über Jahrtausende hinweg. Im angesprochenen Fall sind die entscheidenden Momente im Werdegang der Gattung verbotene Handlungen jener ersten Menschen selbst, die sich bekanntlich verführen ließen, einen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu verzehren. Deswegen haben sie, so behauptet der Mythos, ihre Vertreibung aus dem Paradies und damit die ganze Mühsal ihres nunmehr endlich und beschwerlich gewordenen Daseins selbst zu verantworten. Das Bewusstsein des bevorstehenden Todes, die unentwegte, beschwerliche Arbeit, aber auch das sexuelle Begehren kommen mit der ersten Grenzüberschreitung in die schlagartig verwandelte Welt des schon bald aus dem Garten Eden hinausgejagten Menschen. Daraus erwächst eine bleibende Differenz, eine Kluft und Spannung: »Der biblischen Erzählung nach muss der Spezies etwas widerfahren sein, kurz nachdem Gott sie geschaffen hat. Die Menschheit hätte nicht unbedingt zu dem werden müssen, was sie heute ist – es hätte alles auch ganz anders kommen können. Das Bild vom Mann und der Frau im vollkommenen Garten Eden lässt eine Spannung erkennen zwischen den Dingen, wie sie sind, und den Dingen, wie sie sein könnten. In diesem Bild wird ein Sehnen danach spürbar, andere zu sein als die, zu denen wir geworden sind« (Greenblatt, 2018, S. 27). Es wird in der Erzählung und ihren zahllosen Auslegungen aber auch deutlich, wer wir unter welchen sich wandelnden Umständen geworden sind, weshalb wir Menschen jene verantwortlichen, moralisch fehlbaren und auch in anderen Hinsichten unvollkommenen, unzulänglichen Lebewesen sind, die wir nun einmal sind. Die Notwendigkeit moralischer Orientierungsbildung und Entscheidungsfindung kommt nicht von ungefähr, behauptet der biblische Mythos – und bietet eine narrative Erklärung an, die nicht allein, aber gerade auch die moralische Struktur eines zur Freiheit verdammten Geschöpfes plausibilisieren soll. Die Quelle der Moralität liegt im ersten »Sündenfall« (so sagen es zumindest die christlichen Lesarten). Das müssen wir als Anhänger der modernen Wissenschaften natürlich nicht glauben, jedenfalls nicht genau so, wie es dasteht. Dieser narrativen Erklärung wird man dennoch nicht jede Sinnhaftigkeit und Überzeugungskraft absprechen wollen. Sie macht, unabhängig von ihrem historischen Realitäts- und Wahrheitsgehalt, etwas intelligibel, was ohne sie dunkel und verschlossen bliebe. Sie bietet eine Chance zum verstehenden

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Erklären der Entstehungsgeschichte und des Werdegangs der Menschheit an, die – und das ist entscheidend, zumal in psychologischer Sicht – viele Identifikations-, Reflexions- und Orientierungsangebote bereithält. Wir entnehmen diesem Narrativ etwas über alle. Seit Adam und Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen und so gegen das strenge, einzige Verbot in einer von Gott geschaffenen Ordnung verstoßen haben, ist das Dasein des ζῷον λόγον ἔχον (»zõon lógon échon«) in eine grundsätzlich moralische Lebensform von freien und verantwortlichen Menschen eingebunden. Ihre körperlichen Bedürfnisse und somatischen Triebe teilen sie weiterhin mit dem Leben vieler Tiere, und auch wegen seiner nun erwachten sinnlichen Begehren, affektbesetzten Wünsche und emotionalen Regungen ist jeder Mensch natürlich mehr und anderes als ein bloßes Animal rationale, ein intelligentes, denkendes Wesen, das zwischen moralischen Alternativen kraft eigener Vernunft und Urteilskraft begründete Wahlen trifft. Im ersten Vergehen liegt der Ursprung einiger wesentlicher, postparadiesischer Eigenschaften der Menschen. Darin gleichen sie sich, bei allen sonstigen Unterschieden. Im Aufbegehren und dem nicht mehr rückgängig zu machenden Verstoß gegen das göttliche Gesetz, der nicht bloß Genuss, sondern vor allem Erkenntnis und, damit verbunden, Macht versprach, verortet der Mythos den Anfang der Menschheitsgeschichte im engeren Sinn. Solange Adam und Eva im Paradies verweilten, gehörten sie eigentlich noch gar nicht zu uns, standen vielleicht den Göttern und Engeln sogar näher als ihren eigenen leiblichen Nachfahren. Sicher ist, so behauptet es jedenfalls die einflussreiche Erzählung: Die beiden Aufbegehrenden brachten die Existenz der Mühseligen und Beladenen und alles, was uns dieses irdische Leben bis heute zumutet und aufbürdet, aber auch gewährt und schenkt an Freuden und Errungenschaften, erst ins Rollen. Der alttestamentarische Mythos – von dem es übrigens, wie Greenblatt darlegt, allerlei Varianten und Verwandte in vielen Kulturen der geschichtlichen Welt des Menschen gibt – erzählt nicht nur eine Geschichte, die die Entstehung der in die Struktur der menschlichen Lebensform eingelassenen Moralität (und in gewisser Weise auch der spezifischen Sozialität dieses sprechenden Tiers) narrativ erklären soll, sondern auch weitere wesentliche Eigenarten eines angeblich nach Gottes Ebenbild geschaffenen Geschöpfes intelligibel macht. Eine davon ist von herausragender Bedeutung: Der erste Ungehorsam und Gesetzesbruch pflanzt dem Menschengeschlecht eine bleibende Sehnsucht nach dem Vollkommenen ein, ein unstillbares Verlangen nach dem verlorenen Paradies. Die ersten Menschen im Garten Eden mussten es noch gar nicht in jener konflikt- und krisenträchtigen Spannung zweier Geschlechter aushalten, wie sie Adam und Eva erst nach ihrer Ausweisung aus dem Para-

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dies kennenlernten. Mit dem Gesetzesbruch kommt eine Ordnung in die Welt des Menschen, in der eine niemals stillzustellende Sehnsucht zentral ist. Das verlorene Vollkommene kann seit der Vertreibung aus dem Paradies lediglich noch in Augenblicken gespürt werden, etwa im symbiotischen Moment der physischen und psychischen Vereinigung zwischen Mann und Frau. Ähnliches gilt wohl für einige weitere Erfahrungen der »Selbsttranszendenz« (Joas, 1997). Entscheidend ist: Die besagte Sehnsucht wird in der Geschichte zu einer der wichtigsten Motivationsquellen, aus denen unser Handeln seine Antriebskraft schöpft. Für das Erzählen gilt das in besonderem Maße und in eigentümlicher Weise. Dies sagt nun nicht allein der große Menschheitsmythos des Alten Testaments. Genau das behauptet nämlich auch die moderne Psychologie, namentlich etwa Ernst Boesch, einer der bedeutenden Kulturpsychologen in der globalisierten Welt des 20. und frühen 21. Jahrhunderts (vgl. Straub, Chakkarath u. Salzmann, 2020). In seinen Schriften wird die »Sehnsucht« (Boesch, 1998, 2000, 2005, 2021) zu einem motivations- und handlungstheoretischen Grundbegriff, speziell eben die Sehnsucht nach jenem Vollkommenen, das durch das Paradies repräsentiert wird. Man braucht nicht alles zu glauben, was über Adam und Eva zu lesen ist, und kann dennoch diese Interpretation der Geschichte nachvollziehen. Man kann sie als anthropologisch und psychologisch gehaltvoll auffassen und wertschätzen. Just dies tut Boesch, wenn er in einem seiner allerletzten Texte – nur scheinbar weit weg von wissenschaftlichen Ambitionen – die Geschichte von Adam und Eva nacherzählt, und zwar lang und breit, um diese »Mär« schließlich im angedeuteten Sinn auszulegen und seiner wissenschaftlichen Terminologie anzuverwandeln und einzuverleiben (Boesch, 2021, im letzten Kapitel). Die Sehnsucht nach dem Vollkommenen wird bei diesem Autor ebenso zu einem psychologischen Fachbegriff wie die – wiederum subjekttheoretisch explizierten – Termini »Mythos« und »Phantasma« (vgl. hierzu auch Boesch, 1991). Alle Menschen leben und handeln vor dem Horizont ihrer subjektiv relevanten Mythen und Phantasmen, sie bewegen sich auf dem Boden unstillbarer Sehnsüchte, deren elementare Version von einem Leben ohne Spaltungen und Störungen, Brüche und Risse, Zweifel und Verzweiflung träumt. Dass diese Quelle unserer Motivation niemals ganz zum Ziel führt, sondern allenfalls eine kurze Berührung mit dem Ersehnten gewährt, wissen wir in aller Regel. Wer das vergisst, verspricht den Himmel auf Erden und verwandelt sie über kurz oder lang in eine Hölle. Sobald absolute und totalitäre Maßstäbe verbindlich werden, verbindet sich die sehnsuchtsvolle, utopische Energie bekanntlich allzu leicht mit reinheitsbesessenen Ordnungsvorstellungen, die exzessive Gewalt gegen alle Abweichungen, fremde Andere und Außenseiter zumal, frei-

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setzen und aus der »schönen neuen Welt« über kurz oder lang ein dystopisches Desaster machen kann.2 Für Boesch ist der Mensch nicht zuletzt ein Homo narrator (Boesch, 2000). Als solcher erzählt er Geschichten, um sich und seine Welt zu verstehen und in der zeitlichen Dimension erklären zu können. Auf diesem narrativen Grund leben und handeln Menschen, entwerfen sie sich und ihre Welt, bestimmen, was ihnen wichtig und wertvoll oder einerlei und gleichgültig ist. Das Erzählen dient nicht allein in Boeschs »narrativer Psychologie« zahlreichen Zielen, Zwecken oder Funktionen. Eine zentrale, ja entscheidende Funktion ist das von der Sehnsucht nach Vollkommenem gespeiste Bilden sogenannter Ich-UmweltGleichgewichte. Darunter begreift Boesch eine Art dynamisches Fließgleichgewicht zwischen Innen und Außen, zwischen der Seele des Einzelnen und der materiellen, sozialen und kulturellen Welt. Das Erzählen zielt als solches auf ein harmonisches Verhältnis zwischen Innen und Außen, auf ein ganzheitliches Gefühl, in dem das Ich und die Anderen, das eigene Selbst und die vielgliedrige »Welt da draußen« eins sind. Das ist der Kern seiner subjektwissenschaftlichen Erzähltheorie. Das heißt selbstverständlich nicht, in Erzählungen könne nicht von Schrecklichem die Rede sein, von Gewalt und Gräueln aller Art, von Leid und Schmerz. Das ist bekanntlich zur Genüge der Fall. Doch wenn auch nicht immer Einklang und Versöhnung erreichbar sind, so kann das Erzählen von Geschichten zumindest das Unversöhnliche und Unversöhnbare, das Gefährliche und Bedrohliche, Verunsichernde und Ängstigende bannen, indem es im Raum einer symbolischen Tätigkeit kontrolliert, gestaltet und geformt wird. Das Erzählen von Geschichten bringt Kontingentes im Leben – also das Unvorhersehbare, Unbeherrschbare – nicht zum Verschwinden, verwandelt es jedoch in »narrative Kontingenz« (siehe unten). Erzählen erweitert unser Verständnis von dem, was um uns herum und, damit verwoben, in uns selbst vor sich geht. Dass all dies niemals vollständig zu erreichen ist, dass also die elementare Sehnsucht nach Vollkommenem nicht länger als einen Augenblick »beruhigt« werden kann, gehört zum Bewusstsein des erzählenden, erzählten Selbst. Dieses melancholische Bewusstsein ist ein integraler Bestandteil der symbolischen Tätigkeit des Erzählens. Die auch im Erzählen leitende Sehnsucht nach dem Vollkommenen zielt auf eine Unterbrechung des allzu häufig von Konflikten und Krisen, Verunsicherungen und Verwerfungen, Ängsten und Befürchtungen 2 Das ist eines der Lebensthemen nicht allein von Boesch, sondern von vielen anderen zeitgenössischen Autoren, die die totalitäre, exzessive Gewalt, die das 20. Jahrhundert so sehr prägte, stets vor Augen haben. Exemplarisch erinnere ich an Zygmunt Bauman (z. B. 1992), der meistens im Schatten dieses vor allem in der Shoah real gewordenen Horrors denkt (siehe auch Straub, 2020).

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gekennzeichneten Daseins. Das gilt in besonderer Weise für »moderne Menschen«, die vielfach ohne jeden Glauben an Gott, seinen Beistand und Trost auskommen müssen. Sie sollen vieles aus sich selbst schöpfen und, ungeachtet der von anderen erfahrenen Unterstützung, letztlich in einsamer Freiheit verwirklichen. Auch deswegen ist das Erzählen bis heute so wichtig und unverzichtbar, im Alltag so gut wie in speziellen Institutionen wie etwa der Psychoanalyse oder Psychotherapie. Man sieht hier an einem aussagekräftigen Beispiel, dass auch die moderne, säkulare Psychologie durchaus genealogische Verbindungen zu religiösen Mythen unterhalten kann. Die allen Personen unangenehme, sie vielleicht zum Handeln bewegende Diskrepanz zwischen persönlichen Istzuständen und Sollwerten ist für Boeschs dynamische Psychologie von grundlegender Bedeutung. Diese Differenz zwischen Sein und Sollen, Realität und Ideal ist dem Handeln jeder Person und dem menschlichen Sein insgesamt eingeschrieben. Die Sehnsucht sowie verwandte motivationspsychologische Begriffe erhalten damit einen zentralen Stellenwert als Grundbegriffe der symbolischen Handlungstheorie und Kulturpsychologie Boeschs. Nicht allein Schöpfungsmythen vermitteln ein Bild unserer selbst und unserer Welt. Das trifft für zahllose Erzählungen unterschiedlicher Art zu. Es muss etwas geschehen sein, was sich erzählen lässt und was erzählenswert ist. Die heute in vielen wissenschaftlichen Disziplinen beheimatete Erzähltheorie weiß dies seit Langem. Auch in der narrativen Psychologie ist diese elementare Einsicht zu einem Gemeinplatz geworden (vgl. neben Boeschs Arbeiten z. B. auch die zitierten Werke von Brockmeier oder Bruner oder von Boothe, 1992, 2010, deren psychoanalytischer Ansatz dem Wunsch und Begehren einen vergleichbaren Stellenwert einräumt wie Boesch der Sehnsucht). Greenblatt berichtet, wie erwähnt, von allen möglichen Auslegungen der biblischen Geschichte und einem breiten »Aufgebot von Spezialisten, das in Spätantike, Mittelalter und Renaissance aus der Erzählung von Adam und Eva noch die letzten Bedeutungsschichten herauskitzelte« (Greenblatt, 2018, S. 17). Es gab endlose Studien zu diesem mythologischen Stoff, alle möglichen Leute machten sich darüber her: Medizinerinnen, Sprachforscher, Naturforscherinnen, Rechtsgelehrte, Philosophinnen und andere, die moralische Lehren aus der Erzählung zogen, in der westlichen Welt auch bildende Künstler, die dem Mythos irgendwann – auch in der Literatur – einen realistischen Auftritt verschafften (der im Übrigen erst in der Renaissance, also »im Zeitalter Dürers, Michelangelos und Miltons«, stattfand; Greenblatt, 2018, S. 19). Erst dann »gelang es, die ersten Menschen überzeugend real, ihre Geschichte tatsächlich lebendig erscheinen zu lassen« (Greenblatt, 2018, S. 19). Neben den genannten Spezialistinnen sind

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natürlich auch Geistliche aller Art in vorderster Front an der Auslegung des Mythos beteiligt gewesen. Der Mythos wurde nicht nur zu einem »Eckpfeiler christlicher Orthodoxie« (Greenblatt, 2018, S. 19), sondern auch in den anderen monotheistischen Religionen zu einem Grundstein des religiösen Glaubens und der Theologie. Vor allem im Christentum stehen bekanntlich die Verfehlung und Vertreibung im Mittelpunkt, in der islamischen Tradition dagegen wird das Ganze als eine Art »Irrtum verstanden und nicht als abscheulicher Frevel, der sich auf alle Nachgeborenen überträgt« (Greenblatt, 2018, S. 17). Greenblatt erzählt von Rabinen und frühen Christen, aber auch von den Mufassireen des Islam, also bestimmten Exegeten des Koran, die sich allesamt mit Adams und Evas Geschichte befassten, und zwar in je eigener Weise. Die Rabinen zogen den Schluss, dass die Weisung, die Erde zu bebauen, nicht landwirtschaftliche Arbeit bedeute, sondern das Studium der Thora; die frühen Christen rückten die Sündhaftigkeit der ersten Tat von Eva und Adam und ihre fürchterlichen Konsequenzen ins Zentrum, setzten sodann aber ganz auf Jesus Christus, dessen Selbstopfer den entstandenen Schaden für die Gattung wiedergutmachen sollte. Die Muslime dagegen betrachteten das Ganze nicht als sündhaftes Vergehen, sondern, wie gesagt, eher als eine Art Irrtum, von dem der größte Prophet die Menschen schon befreien würde; das nämlich war Mohammeds Aufgabe. Greenblatt breitet in seinem Buch eine enorme Vielfalt an Lesarten des alten Mythos und der Konsequenzen, die bestimmte Leute zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten daraus zogen, aus. Das dürfen wir hier nun auf sich beruhen lassen. Hervorzuheben ist dagegen, dass dieser Autor nicht müde wird zu betonen, dass die Geschichte von Adam und Eva ganz besonders für »die einfachen Menschen« gedacht war und sie tatsächlich seit zahllosen Generationen in den Bann zieht: »[S]ie, die unter der Kanzel der Erzählung gelauscht hatten, die sie von Darstellungen an Kirchenwänden und Türen kannten, die sie von Eltern oder Freunden gehört hatten, [kamen] wieder und wieder auf diese Erzählung zurück: Wenn sie nämlich Antworten suchten auf die Rätsel und Fragen, die sie beschäftigten und verwirrten. Die Erzählung half zu erklären, spiegelte zumindest, was so beunruhigend war an Geschlechtsverkehr, an den Spannungen in der Ehe, an physischem Leiden und erschöpfender Arbeit, an niederschmetterndem Verlust und Trauer. Sie schauten auf Adam und Eva, und wie die Rabinen, Priester und muslimischen Exegeten begriffen auch sie etwas ganz Entscheidendes über sich selbst.   Die Erzählung von Adam und Eva spricht uns alle an, sie handelt davon, wer wir sind, woher wir kommen, warum wir lieben, warum wir leiden. Ihr

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weiter Horizont scheint Teil ihrer Gestaltung. Drei großen Glaubenswelten dient sie als einer ihrer Grundsteine, geht zugleich aber jeder Religion voraus, zumindest behauptet sie das. Sie stellt dar, auf welche seltsame Weise sich unsere Gattung zu Arbeit, Sex und Tod verhält – zu Grundtatsachen des Daseins, die wir mit allen anderen Tieren gemeinsam haben; sie macht diese zum Gegenstand der Spekulation, so als wären sie miteinander verbunden, bedingt durch etwas, was wir getan haben; so als könnte allenfalls alles auch ganz anders gekommen sein« (Greenblatt, 2018, S. 18). Greenblatt macht, wie viele andere, nicht zuletzt auf den Sachverhalt aufmerksam, dass die biblische Schöpfungsgeschichte die Besonderheit des Menschen herausstellt, nämlich seine ihm zugebilligte und auch aufgebürdete Herrschaft über die anderen Tiere und die Welt. Man mag das »anthropozentrisch« finden und kann dennoch festhalten: Es ist, wie Greenblatt meint, eine bemerkenswerte Eigenheit, dass das sprachbegabte Wesen eine Schöpfungsgeschichte ersonnen hat, die, in dieser oder jener Variante, in allen Kulturen anzutreffen sei. Überall sind ein Ursprung und Anfang der ganzen Geschichte ausgemacht worden. Und davon zu erzählen, das sei nun einmal spezifisch menschlich. So bewundernswerte Leistungen die Schimpansen und andere Tiere vollbrächten, so sei nicht bekannt, dass sie sich eine derartige Geschichte erzählen oder überhaupt Geschichten, die nicht zuletzt Ausdruck einer unbändigen Neugier und Selbstreflexion seien, eines unaufhörlichen Nachdenkens über das eigene Leben und die Frage, was man damit wohl noch so alles anstellen könne. Ein weiser Rat folgt dieser Feststellung auf den Fuß: Man möge das nicht nur als »Zeichen unserer Besonderheit« (Greenblatt, 2018, S. 18) verbuchen, sondern auch als ein Eingeständnis begreifen, »dass wir Verlorene sind, ohne Orientierung, dass wir uns unwohl fühlen in unserer Haut, dringend einer Erklärung bedürftig. Vielleicht ist das Erzählen einer Schöpfungsgeschichte ein Symptom unseres Unbehagens – wir wollen uns beruhigen, darum erzählen wir uns eine Geschichte. Vielleicht aber hat sich unsere Spezies auch irgendwie selbst überboten, hat, irgendwie zufällig, einen Entwicklungsschritt getan, und der hat uns auf einen Weg geführt, den wir selbst noch nicht wirklich verstehen können und der unsere spekulative, Geschichten erzählende Intelligenz geweckt hat« (Greenblatt, 2018, S. 28). Es geht um den zutiefst verunsicherten Menschen, der niemals ganz bei sich zu Hause ist, nicht heimisch werden kann – und sich mit dem Erzählen von Geschichten genau darüber hinwegtröstet, sich zumindest vorübergehend beruhigt. Dabei mögen mitunter illusionäre Verklärungen der bedrückenden Wirklichkeiten entstehen. Hilfreich, sogar heilend oder zumindest tröstend und

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manchmal beglückend kann das schöpferische Erzählen dennoch sein. Dazu vor allem erzählen wir Geschichten, und dabei geht es offenbar nicht allein um Unterhaltung. Das tun alle Menschen, wie auch Hannah Arendt schreibt: »Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens, dessen Erscheinen und Verschwinden weltliche Ereignisse sind, besteht darin, dass es selbst die Ereignisse in sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem Menschen zukommt« (Arendt, 1981, S. 89 f.). Egal, ob wir auf eine Person oder eine beliebig große Gruppe bis hin zur gesamten Menschheit schauen: Erzählungen gehören zur Conditio humana – selbst wenn sie sich in ihren Inhalten und Formen wandeln und auch in einer Gegenwart stark unterscheiden mögen.3 Um zu verstehen, wer ich bin oder wer wir sind, müssen wir die Geschichte, die zu mir oder uns hinführt, wieder und wieder erzählen. Dies bedeutet keineswegs, stets dasselbe zu erinnern und zur Sprache zu bringen, ganz im Gegenteil. Zu den faszinierenden Aspekten eines jeden Selbst und auch eines jeden Kollektivs gehört, dass es sich im Lauf der Zeit immer wieder anders erzählen muss, wenn es sich verstehen und seiner selbst gewiss werden möchte. Eigentlich sind es stets mehrere, in aller Regel viele Geschichten, die zu mir oder zu uns hinführen – und nicht eine einzige, einzig wahre und erklärungskräftige. In diesem Feld gibt es keine ewige Konstanz und absolute Sicherheit, wohl aber narrative Plausibilität und überzeugende Korrekturen, die es gestatten, die Fragen »Wer bin ich?« und »Wer sind wir?« womöglich in zufriedenstellender Weise zu beantworten, einleuchtender und überzeugender jedenfalls als bisher.

Warum und wozu das alles? Kleine Ordnung vielfältiger Funktionen des Erzählens Ich möchte im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung eine kurze kommentierte Auflistung möglicher Funktionen des Erzählens präsentieren. Manches davon wurde bereits erwähnt, soll nun aber in eine halbwegs systematische Ordnung gebracht und ergänzt werden. Dabei werden psychische, soziale, kulturelle, am Rande auch politische Funktionen fokussiert, die die Praxis des Erzählens sowie erzählte, verbreitete und wahrgenommene, rezipierte und ausgelegte 3 Natürlich ist es nicht einerlei, ob wir in der Erzähltheorie von einem Individuum sprechen oder von einem Kollektiv variabler Größe. Mit dieser Umstellung ändert sich so manches, wie etwa die anhaltenden Debatten über die Konzepte der »personalen« und »kollektiven Identität« oder auch des »individuellen« oder »sozialen« beziehungsweise erneut »kollektiven Gedächtnisses« zeigen.

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Geschichten erfüllen können. Wiederum gilt das für Einzelne so gut wie für Gruppen. Es sollte klar sein, dass man die Blickrichtung wechseln kann, ohne dies jedes Mal ausdrücklich ankündigen und erläutern zu müssen.4

Narrative Verfertigung der Wirklichkeit: Erzählte Welt Keineswegs alles, aber doch ein erheblicher Teil dessen, was wir als Wirklichkeit begreifen, ist sprachlich verfasst oder wird sprachlich zum Ausdruck gebracht (und erst dadurch als diese oder jene Wirklichkeit bestimmt). Das Erzählen von Geschichten ist ein spezieller Modus, etwas zur Sprache und als wirklich zur Geltung zu bringen. Natürlich erzählen wir auch von allen möglichen Einbildungen und erfundenen Welten, denen im Alltagsleben nichts oder kaum etwas entspricht. Gleichwohl dienen Erzählungen häufig dazu, Erfahrungen zu artikulieren, an denen kaum zu rütteln ist. Wir betrachten sie als wirklich und in vielerlei Hinsicht als wirksam. Als solche unterscheiden wir derartig realistische oder faktuale, Wirklichkeit erzeugende, unsere Welt und unser Selbst repräsentierende Erzählungen auch von fiktionalen (selbst wenn die Grenzen in mancherlei Hinsicht unscharf, mitunter fließend sein mögen; vgl. Fludernik u. Ryan, 2020, sowie die fortlaufenden Ergebnisse des unabgeschlossenen DFG-Graduiertenkollegs »Faktuales und fiktionales Erzählen«: http://www. grk-erzaehlen.uni-freiburg.de/wp-content/uploads/2019/07/Publikationsliste_02.07.2019-1.pdf). Wie dargelegt gehören Wünsche, Begehren und Sehnsüchte zumal in psychologischer Perspektive zur Wirklichkeit des Menschen; sie und die mit ihnen verwobenen »Sollwerte« sind integrale Bestandteile seines Selbst und seiner Welt.

4 Die folgende Auflistung wurde in mehreren Varianten bereits veröffentlicht (beginnend bei Straub, 1998b, bis hin zu einer ausführlichen Darstellung bei Echterhoff u. Straub, 2003, 2004). Da ich die folgende Darstellung für einen breiteren Kreis von Lesern verfasst habe, wurde auf allzu komplizierte theoretische Überlegungen ebenso verzichtet wie auf die Wiedergabe von Details der neuesten Forschung. Literaturhinweise bleiben ebenfalls spärlich (vgl. dazu die einschlägigen Titel im Literaturverzeichnis, insbesondere die erzähltheoretischen Einführungen und narratologischen Handbücher). Ich gebe keinen Forschungsüberblick und stelle auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ziel war es, einige theoretisch und lebenspraktisch besonders wichtige Funktionen des Erzählens sowie der Erzählungen in verständlicher Form zu präsentieren. Dass die angestrebte Eingängigkeit und Plausibilität der Ausführungen nicht allzu sehr auf Kosten einer der Sache selbst angemessenen Komplexität gehen sollte, versteht sich von selbst.

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Temporalisierung der Wirklichkeit: Erzählte Zeit Zu den wichtigsten, grundlegenden Funktionen des Erzählens gehört die Konstitution menschlicher Zeit. Paul Ricœur (1988, 1989, 1991) hat diesen Punkt gleich im Titel seines dreibändigen Werkes hervorgehoben. Er hat es »Zeit und Erzählung« genannt, um anzuzeigen, dass es eine Form der Zeit und Zeiterfahrung gibt, die ohne die Tätigkeit des Erzählens gar nicht existierte. Erst wenn wir aus einem bloßen Geschehen eine bedeutungsvolle Geschichte machen, temporalisieren wir die Wirklichkeit und schaffen eine narrative Zeit-Gestalt, die alle möglichen Ereignisse, Handlungen, Gedanken, Gefühle etc. in eine Ordnung integriert. Diese erzählte Zeit nennt der phänomenologische Philosoph die »menschliche«. Indem und während wir erzählen, entwerfen und artikulieren wir einen zeitlichen Zusammenhang beziehungsweise eine Verlaufsgestalt, in der einzelne Elemente platziert werden und mit anderen in Beziehung geraten (etwa in eine Ursache-Wirkung- oder Grund-Folge-Beziehung, aber auch in ein Verhältnis bloßer Koinzidenz). Just durch diese Platzierung und Relationierung erhalten Dinge, Ereignisse und Zustände ihre Bedeutung. Sie werden sinnhaft und bedeutungsvoll als Bestandteile einer Erzählung. Eine narrativ temporalisierte Wirklichkeit ist dabei keineswegs immer eine schlicht konsekutive, sukzessive oder sequenzielle Ordnung wie im Fall einer Chronik, in der einfach aufgelistet wird, was nacheinander geschah. Das Erzählen kann vielmehr komplexe zeitliche Beziehungen bilden und verwickelte Zeit-Verhältnisse artikulieren. Deswegen kommt es vor, dass in Erzählungen mitunter die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ganz normal erscheint; oder auch das Gegenteil, nämlich die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen; bekannt ist jeder avancierten Zeit- und Erzähltheorie überdies, dass spätere Erfahrungen manche früheren in einem neuen Licht erscheinen lassen, die Gegenwart oder auch Zukunftserwartungen also die Vergangenheit beeinflussen können (und nicht nur umgekehrt, wie man landläufig meint). Die »Vergangenheit« ist dabei natürlich nicht einfach das ehemalige Geschehen, das ja zweifellos unveränderlich ist. Die Vergangenheit als unsere Auffassung und Auslegung des Geschehenen jedoch ist veränderlich. Was dereinst als Auftakt einer wunderbaren, rundum beglückenden Liebe erlebt und lange so erinnert wurde, mag irgendwann, im Lichte aktueller Erfahrungen, als Beginn einer grandiosen Selbsttäuschung revidiert werden. Solche Re-Visionen und Re-Konstruktionen verändern, was wir als Vergangenheit betrachten und wie wir auf ihrer, also: auf dieser erneuerten, Grundlage denken, fühlen, handeln und leben. In Erzählungen ist nicht nur die Zukunft von der Gegenwart und diese von der Vergangenheit abhängig, sondern umgekehrt. Gegenwartsdeutungen und

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Zukunftserwartungen bestimmen stets auch mit, was wir als Vergangenheit betrachten und gelten lassen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lassen sich keineswegs auf einer linearen Achse als aufeinander folgende Phasen einer verräumlichten Zeit abtragen. Sie sind vielmehr »kopräsente« Perspektiven und wechselseitig voneinander abhängig. Nicht zuletzt Ausdrücke wie »gegenwärtige Vergangenheit«, »zukünftige Gegenwart« oder »vergangene Zukunft« zeigen diesen Sachverhalt an (Koselleck, 1985). Narrative Dramatisierung: Krisenhafte Verläufe Eng verbunden mit der Temporalisierungsfunktion ist die narrative Dramatisierung der menschlichen Welt. Wenn man die Struktur einer jeden Erzählung zunächst einmal recht schlicht durch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende bestimmt, sieht man sogleich, dass in der Mitte in aller Regel irgendwelche Komplikationen oder Krisen, Störungen, Plan- oder Erwartungsbrüche auftauchen. Nach der Schilderung der anfänglichen Ausgangslage passiert etwas Unvorhergesehenes, manchmal plötzlich und schockartig, mitunter eher allmählich und sukzessive. Irgendetwas bricht in die bestehende Ordnung ein, sie gerät durcheinander, eine Zäsur entsteht, eine Unterscheidung eines »Vorher« von einem »Nachher«. Der Einbruch des Unerwarteten verlangt eine Reaktion, eine Bearbeitung, idealerweise eine Beseitigung der Störung, Komplikation oder Krise. Wenn das unverhofft Eingetretene hochwillkommen ist wie, sagen wir, ein Lottogewinn, dann bringt auch dies eine bestehende Ordnung durcheinander. In solchen Fällen ist keine mühsame Problembearbeitung vonnöten, wohl aber eine Integration des Ereignisses ins bisherige Dasein. In aller Regel gilt: Der Gang einer Geschichte ist dramatisch, mehr oder weniger und in je eigener Weise. Hinsichtlich ihres Spannungsbogens lassen sich Erzählungen noch genauer unterscheiden und typisieren, z. B. als »progressive« (Fortschritts-) oder »regressive« (Rückschritts-)Erzählungen (vgl. Gergen, 1998). Boothe (1992, S. 13 ff.), differenziert die Spannungsorganisation als eine Klimax oder Antiklimax, eine Restitutio ad integrum nach einer Desintegration oder nach einer Klimax, als Approbation, Frustration, Chance, Antichance oder Enigma. Wie auch immer das Leben selbst (in bestimmten Phasen oder insgesamt) einen dramatischen Verlauf nehmen mag, so ist es erst die Tätigkeit des Erzählens, das Emplotment, wodurch diese Dramatik genauer zur Sprache gebracht, präziser bestimmt, detaillierter qualifiziert und hinreichend verständlich gemacht wird – und damit auch seelisch und sozial bearbeitet und verarbeitet werden kann.

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Narrative Konstitution von Sinn und Bedeutung: Im Heterogenen Orientierung bilden Wie bereits erwähnt, schafft das Erzählen von Geschichten Sinn und Bedeutung (Rüsen, 1990). Diese Tätigkeit und die entfaltete Geschichte verleihen Ereignissen (Handlungen etc.), Zuständen (Stimmungen etwa) oder Gegenständen (Objekten, die auch Personen oder andere Lebewesen sein können) eine sinnhafte Qualität, die sie eben nur durch ihre Integration in einen narrativ strukturierten Zusammenhang, einen Plot oder eine Fabel, erhalten. Deswegen sprechen so viele vom narrative meaning making (Bruner, 1997, S. 60 ff.; Pagnucci, 2004). Wir fristen unser Dasein nicht in einer Wüste nackter Tatsachen. Wir schaffen Bedeutungen und gesellen dabei alles Mögliche, viel Verschiedenes und keineswegs nur gut miteinander Verträgliches, zueinander. Die »narrative Synthesis des Heterogenen« (Ricœur, 1988, S. 106) schafft eine sinnhafte, bedeutungsvolle Struktur, die Ricœur mit einer paradoxen Formel als »dissonante Konsonanz« bezeichnet. Er möchte dadurch die häufig unterschätzte Komplexität der narrativen Strukturierung in Ehren halten, in die auch Heterogenes, kaum miteinander Vereinbares Eingang finden kann. Wichtig ist nun: Wo sinnhaft strukturierte, bedeutungsvolle narrative Ordnungen entstehen, werden Orientierungsmöglichkeiten geschaffen. In erzählten Zeit-Räumen kann man sich umschauen und bewegen; man kann sich, wenn alles gut geht, als orientierungs- und handlungsfähige Person betätigen und beweisen. Narrative Kontingenz: Zufall erhalten und bearbeiten In narrativen Ordnungen dreht sich vieles, vielleicht sogar das Wesentliche, um den Einbruch von Kontingenz in die Welt des Menschen (Ricœur, 1986). Das Erzählen ermöglicht es, Kontingenz, mithin den Zufall, das Unerwartete und nicht Vorherzusehende, zu thematisieren, zu erhalten und zu bearbeiten. Entscheidend ist, dass diese Tätigkeit, wie Koselleck (1985) in seiner historischen Semantik sagt, den Zufall als »Motivationsrest« von Geschichte(n) zu bewahren, zugleich aber zu transformieren und zu reduzieren gestattet. Die Erzählung macht aus der »wilden«, »irrationalen« Kontingenz auf der Ebene des unentwegt Geschehenden eine narrativ geregelte, in nunmehr bestimmter Weise sinnhafte und bedeutungsvolle Angelegenheit. Damit wird der Zufall auf sprachsymbolischer Ebene, ohne auf ein Gesetz oder eine Regel zurückgeführt worden zu sein, selbst zum Bestandteil einer geregelten, eben narrativen Struktur (Straub, 1998b, S. 146). Und dadurch wird nicht zuletzt klar, dass wohl so gut wie alles, vieles jedenfalls, auch anders hätte kommen können, als es nun einmal geschah.

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Zum Beispiel: »Ohne die Begegnung mit einem charismatischen Philosophen hätte ich wohl kaum leidenschaftliches Interesse am philosophischen Denken entwickelt!«, »Wie wäre mein Leben wohl verlaufen – ganz anders bestimmt! –, hätte ich mich nicht Hals über Kopf in diese Frau verliebt, von deren Seite ich mein ganzes Leben lang nicht mehr gewichen bin!«, »Ohne als haltloser, verunsicherter Jugendlicher falschen Idealen und den Verführungen eines Drogendealers erlegen zu sein, wäre das alles nicht passiert, was im Laufe meiner Drogenkarriere schiefgelaufen ist!«. Kurz: Es hätte alles auch anders kommen können. Das Erzählen schafft Raum für den Wirklichkeits- und den Möglichkeitssinn. Erzählungen thematisieren Kontingenz nicht nur, sie machen auch verständlich, weshalb es so gekommen ist, wie es nun einmal hat werden und schließlich sein sollen. Wir können den Gang einer Geschichte nachvollziehen, gerade weil wir ihre kontingenten Momente und ihren kontingenten Verlauf beschreiben und narrativ erklären (im Gegensatz etwa zu einer Kausalerklärung, die für den Zufall bekanntlich keinerlei Platz hat). Ich komme später noch einmal darauf zurück.

Psychische Funktionen des Erzählens Die bislang angeführten Funktionen der narrativen Strukturierung (Temporalisierung, Dramatisierung etc.) sind auch psychologisch relevant. Sie tangieren unser Selbst und unsere Welt nicht nur marginal, sondern erzeugen dieses Selbst und seine Welt bis zu einem gewissen Grad sogar mit, machen beides erst zu dem, was sie sind. Psychische Leistungen des Erzählens im engeren Sinne kann man indes noch genauer betrachten. Sieht man etwas näher hin, ist es schon eindrucksvoll, wie viele allgemeine psychische Funktionen (und Strukturen) direkt von der Tätigkeit des Erzählens und den uns jeweils geläufigen Geschichten abhängig sind. Ohne Erzählungen bliebe selbst der Begriff der »Erfahrung« leer. Er wäre nicht angemessen, nicht hinreichend zu explizieren. Dasselbe gilt für die »Erwartung«. Aber auch einige elementare psychische Funktionen sind nur in erzähltheoretischer Perspektive verständlich zu machen. Wahrnehmung Was wir sehen, hören, riechen, schmecken, ertasten, spüren, all das erhält seine Bedeutung und Bestimmung häufig erst dadurch, dass wir es in unser narrativ strukturiertes Erfahrungswissen integrieren. Manche der durch unsere Sinnesorgane ermöglichten Erlebnisse und durch sie vermittelten Reaktionen

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mögen biologisch determiniert sein, durch und durch natürliche Angelegenheiten (wie unsere Instinkte oder Reflexe). Viele sind es jedoch nicht. In ihnen werden natürliche Anlagen kulturell moduliert und moderiert. Nicht allen Menschen schmecken Schnecken gleichermaßen gut. Nicht alle finden den Geruch von Weihrauch angenehm oder betörend. Ganz offenbar tragen in solchen Fällen nicht zuletzt Erzählungen beziehungsweise narrativ strukturierte Erfahrungen und Erwartungen dazu bei, dass wir bestimmte Sachverhalte in bestimmter Weise wahrnehmen: »Diese Orange schmeckt ganz anders als jene, die ich dereinst auf Sizilien mit Olivia unter Olivenbäumen genossen habe!«, »Dieser Geruch kommt mir bekannt vor, wir sollten schnellstens türmen, hier ist ein Feuer im Anmarsch!«, »Weihrauch erinnert mich an meine Jugendzeit, als ich als Ministrantin in die Gemeinschaft der katholischen Kirche aufgenommen – und schließlich Opfer sexuellen Missbrauchs wurde!«. Um die Dinge, die um uns herum oder in uns geschehen, wahrnehmen zu können, um neue Erlebnisse einzuordnen und an bestehende Erfahrungs- und Wissensbestände anzubinden, können die narrativ-erzählerische Organisation und Formgebung eine wesentliche Rolle spielen. Selbst bei vergleichsweise »simplen« Wahrnehmungen beziehen wir uns oftmals auf geläufige Geschichten und die damit einhergehenden Vorgaben. Wir nehmen etwas als etwas Bestimmtes wahr, weil es in den uns vertrauten, womöglich mit eigenen Erlebnissen verknüpften Geschichten eine gewisse Bedeutung besitzt. Denken, Urteilen, Erklären Erzählen stiftet Einsicht, stärkt die Urteilskraft und fördert das verstehende Erklären. Diese mehrgliedrige kognitive Funktion der Erzählung veranlasste Bruner (1986) und Ricœur (1986) von narrativem Denken beziehungsweise von einer spezifischen Form menschlicher Intelligenz oder phronetischer Vernunft zu sprechen (vgl. Straub, 1998b, 148 ff., 151 ff.). Die viel zitierte »Moral der Geschichte« appelliert nicht nur an unser Herz, sondern auch an unsere Vernunft und Urteilskraft. Selbst wenn eine eindeutige moralische Botschaft ausbleibt, können uns Erzählungen zu ethisch-moralischer Reflexion anregen, unsere Nachdenklichkeit und Urteilskraft in praktischen, nicht zuletzt politischen Belangen befördern (soweit Politik eben auch mit Ethik und Moral zu tun hat). Als sei dies nicht schon genug, sind die kognitiven Leistungen des Erzählens damit noch lange nicht erschöpft. Eine Erzählung schafft allerlei Verbindungen und Zusammenhänge und bringt in einer einheitlichen Verlaufsgestalt zur Sprache, was als Gang der Dinge dargestellt und narrativ plausibilisiert, ja: auf spezifische Weise verstehend erklärt wird. Die Erzählung stellt

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eine eigenständige, speziell auf temporal komplexe Phänomene zugeschnittene Erklärungsform dar, die weder in das Schema der kausalen noch der intentionalistischen oder teleologischen noch der funktionalistischen noch der regelbezogenen Erklärung überführbar (bzw. auf diese reduzierbar) ist (Straub, 1999, S. 56–162; Straub, 2021, S. 305 ff., 321 ff.). Orientierungs- und handlungsfähige Subjekte bedürfen narrativer Erklärungen. Sie zehren davon, dass Erzählungen nicht zuletzt kognitiv schlüssigen, tragfähigen Einschätzungen von Situationen, Personen und Problemen dienen und den erzählten Gang der Dinge narrativ plausibilisieren. Bruner (1986) hat zweifellos einen wichtigen Punkt getroffen, als er dem »paradigmatischen« Modus unseres Denkens einen narrativen hinzugesellte. Der erste beruht auf dem Repertoire formaler und schließender Logik. Er gelangt durch gezielte Hypothesenprüfung zu allgemeinen und überprüfbaren Erkenntnissen: »The paradigmatic or logico-scientific mode attempts to fulfill the ideal of a formal, mathematical system of description and explanation« (Bruner, 1986, S. 12). Der paradigmatische Modus abstrahiert vom Kontext, um generelle Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien auf logisch-rationalem Weg herzuleiten. Gütekriterien für Aussagen sind vor allem Widerspruchsfreiheit und interne Konsistenz. Dieser Modus weist somit diejenigen Merkmale auf, die traditionell auch der logisch-schlussfolgernden Methode der Wissenschaften zu eigen sind. Der narrative Modus dagegen ist kontextsensitiv und operiert mit Überzeugungen, die auch affektiv-emotional imprägniert sind. Er mobilisiert eine ganze Reihe mentaler Vorstellungs- und Einbildungskräfte, die formale Prozeduren logischen Schließens etc. weit übersteigen. Narratives Denken lässt sich berühren und faszinieren, wenn es z. B. um Erfahrungen oder menschliche Schicksale in einem konkreten Handlungszusammenhang geht: »The imaginative application of the narrative mode leads […] to good stories, gripping drama, believable (though not necessarily ›true‹) historical accounts« (Bruner, 1986, S. 13) Das narrativ basierte Denken und Urteilen wendet sich dem konkreten Kontext zu, dem Partikularen, den zeitlich-räumlichen Besonderheiten, bisweilen der Einzigartigkeit von menschlichen Erfahrungen. Man muss sich nicht immer nur auf ein Gesetz berufen, um zu beurteilen, was für eine bestimmte Person gut und gerecht ist. Manchmal muss man deren gesamte Lebensgeschichte berücksichtigen, um sich diesbezüglich ein angemessen begründetes Urteil zutrauen zu dürfen. Die Bezugnahme auf Geschichten und Erzählstrukturen erfasst demnach wesentliche Aspekte der alltäglichen Erfahrungswelt besser als der paradigmatische Modus, zumal letzterer die charakteristische Intentionalität und Zielorientierung menschlicher Tätigkeit unberücksichtigt lassen muss. Menschen können viele ihrer Einschätzungen und Urteile, Ansichten, Einstellungen und

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Überzeugungen gerade dann angemessen bilden und rechtfertigen, wenn sie zu ihnen auf dem Weg narrativ geleiteter »Informationsverarbeitung« gelangen, also durch die Einbettung von Erfahrungen und Erwartungen in geschichtenförmige Beschreibungen. Der paradigmatische und der narrative Modus des Denkens sind je eigenen Kriterien verpflichtet: »[A]rguments convince one of their truth, stories of their lifelikeness. The one verifies by eventual appeal to procedures for establishing formal and empirical proof. The other establishes not truth but verisimilitude« (Bruner, 1986, S. 11). Der erzählerische Modus ermöglicht nicht zuletzt einen flexiblen und kreativen Zugang zu ­unsicheren und uneindeutigen Informationslagen. Eine plausible Geschichte zu (­ er)finden, kann dabei helfen, eine anfangs verwirrende Vielzahl von teils widersprüchlich erscheinenden Auskünften und Ansichten in ein stimmiges, Orientierung gewährendes Ganzes zu überführen. Es sei hier nicht verschwiegen, dass die angeführte Unterscheidung auch auf Kritik gestoßen ist und manche ihre Brauchbarkeit sogar ganz infrage stellen (vgl. bereits Baumeister u. Newman, 1994; Gerrig, 1994). Ich selbst halte sie für hilfreich und produktiv, ja: in ihrem wissenschaftlichen Potenzial noch nicht hinreichend bedacht und ausgeschöpft. Schließlich soll wenigstens ein Hinweis auf die wohl komplexeste kognitive Funktion speziell von Selbsterzählungen gegeben werden: Ohne diese Sprachform ließe sich das Konzept der Selbsterkenntnis nicht angemessen entfalten (Straub, 2013). Solche belastbaren Vorstellungen vom eigenen Selbst, die wir zurecht als Erkenntnis oder Wissen bezeichnen können, bedürfen des narrativen Modus unseres Denkens. Gedächtnis und Erinnerung Die Gedächtnis- und Erinnerungsfunktion narrativer Strukturen steht seit Langem mit im Zentrum der narrativen Psychologie (seit Bartlett, 1932, dem sich auch der wichtige Begriff des Schemas verdankt). Vieles erinnern wir (besonders leicht und gut), weil es in geschichtenförmige Schemata eingebettet ist oder mit Erzählungen assoziiert ist. Die Erzählung wird in diesem Zusammenhang häufig nicht nur als mentale Organisationsform verstanden, sondern auch als Rahmen der Kommunikation über vergangene Erfahrungen (Echterhoff u. Saar, 2002) beziehungsweise als »cultural tool« (Wertsch, 1998; 2002) zur Aktualisierung von Gedächtnisbeständen. Gerade die erzählerische Gestaltung und Einbettung von Erinnerungen in Gesprächen führt uns die kommunikative Natur des Erinnerns vor Augen (z. B. Echterhoff u. Hirst, 2002; Welzer, 2001). Wir erzählen, was wir erinnern und wir erinnern, was wir erzählen – und zwar vielfach mit oder vor anderen und für sie, in einer Art ko-konstruktiven Kommuni-

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kativen also, die aus vielen individuellen Gedächtnisinhalten und Erinnerungen zutiefst soziale Phänomene macht. Bei aller Wichtigkeit der narrativen Strukturierung von Gedächtnisinhalten und Erinnerungstätigkeiten braucht man den narrativen Modus (Schank u. Abelson, 1995) der (Ko-)Memoration nicht überbewerten oder gar verabsolutieren. Das Gedächtnis und die Erinnerung kennen mehrere Organisationsformen und Arbeitsmodi. Narrative gehören dabei zu den wichtigen. Wer die Fähigkeit und Fertigkeit, Geschichten zu verstehen und erzählen zu können, einbüßt, verliert einen Teil seines Gedächtnisses und seiner Erinnerung. Motivation und persönliche Ziele Motive stellen die (unbewusste) Bereitschaft dar, Handlungen auszuführen, die Akteure bestimmten, zumeist positiv bewerteten Zwecken oder Zielen näherbringen. Auch die Bildung von Geschichten und Erzählungen kann als ein Schritt zur Erreichung von Zielen dienen, mithin als motivierende Kraft gelten. Im Übrigen ist das Erzählen auch selbst ein motiviertes sprachliches Handeln. Aus welchem Antrieb, zu welchen Zwecken bilden Menschen Geschichten? Labov und Waletzky hatten in ihrer einflussreichen Analyse von Alltagserzählungen – aus der Sicht der Sprach- und Konversationsforschung – folgende Antwort auf diese Frage gegeben: »[M]any narratives are designed to place the narrator in the most favorable possible light: a function which we may call selfaggrandizement« (Labov u. Waletzky, 1967, S. 34). Demnach sollen Erzählungen das Ansehen und die Anerkennung der erzählenden Person steigern, beim Publikum einen positiven, selbstwertdienlichen Eindruck von ihr hinterlassen. Positive Selbstdarstellung, die Rechtfertigung eigener Handlungen, das Streben nach Attraktivität, der Nachweis von (internaler) Kontrolle und Selbstwirksamkeit, die Förderung eines positiven Selbstgefühls oder der Wertschätzung, sogar Bewunderung durch andere und weitere narzisstische Gratifikationen, die Zerstreuung potenzieller Selbstzweifel und dergleichen mehr gehören hierher (Baumeister u. Newman, 1994). Erzählungen sind motiviert. Manche Motive mögen selbstwertdienlich sein und narzisstische Züge besitzen. Andere nicht. Menschen erzählen etwa auch, um andere zu trösten. Sie wollen ihnen vielleicht aus einer misslichen Lage heraushelfen, indem sie lehrreiche Geschichten erzählen und dabei positive Vorbilder präsentieren. Bereits die Alltagserfahrung zeigt, dass die erzählende Person auch peinliche Handlungen oder negative Erfahrungen in den Mittelpunkt einer Geschichte stellen kann. Das kommt keineswegs unmittelbar den bereits genannten Zielen oder Zwecke zugute. Wir alle berichten auch mal von eigenen Fehlern, persön-

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lichem Versagen und beschämenden Versäumnissen, quälender Hilflosigkeit, Frustration oder anhaltendem Leid. Natürlich kann in positiver wie in negativer Richtung übertrieben werden (um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, Erstaunen oder Mitleid zu wecken). Baumeister und Newman (1994) haben, wie viele andere, diese Tendenz zur Übertreibung hervorgehoben. Oft dient das den pragmatischen, rhetorischen oder interaktiven Zielen des Erzählens. Erzählungen werden auf diese Weise unterhaltsam, sie fördern vielleicht auch die Empathie oder Sympathie des Gegenübers und erzeugen soziale Nähe, bestätigen und bekräftigen sie. Erzählen kann also positive Wirkungen haben, auch wenn die eigene Rolle im Geschehen negativ dargestellt wird. Auch dies kann motivieren, zum Erzählen bewegen. Erzählungen können auf der Ebene der erzählten Inhalte einer günstigen Selbstpräsentation zuwiderlaufen und dennoch sicherstellen, dass sie in der sozialen Welt auf positive Resonanz stoßen. Oliveira (1999) etwa zeigt, dass sich Erzählerinnen auch bei einer inhaltlich negativen Selbstsignifikation durch performative und diskursive Mittel als aktive und verantwortungsbewusste Personen ausweisen können. Das mag ein wichtiges Motiv sein, welches einem verbreiteten soziokulturellen Wert entspricht. Emotion und Affekt Dass das Erzählen für unser Gefühlsleben relevant ist, ist allgemein bekannt. Die Produktion und Rezeption von Erzählungen kann eine breite Palette von affektiv-emotionalen Funktionen erfüllen. Wir alle kennen spannende Geschichten, denen wir mit Vergnügen lauschen, oder auch das Gefühl der Erleichterung, wenn wir unserem Gegenüber Bekenntnisgeschichten anvertraut oder von ehemaligem Leid erzählt haben. Wer eine gute Geschichte zum Besten gegeben hat, mag auch eine Art epistemischer Genugtuung spüren oder Stolz auf die gelungenen Ausführungen empfinden. Auch das Eintauchen in literarische Welten ist, vermittelt durch Perspektivübernahme, Identifikation oder andere Formen der inneren Beteiligungen am Geschehen (Gerrig, 1993), untrennbar mit affektiv-emotionalen Reaktionen verbunden (Schneider, 2000). Geschichten zu entwerfen, zu artikulieren oder in einer geeigneten Situation zu rezipieren, kann ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit schaffen, zur Reduktion von Angst beitragen oder dem Abbau negativer Emotionen dienen, aber auch Ekel oder Wut hervorrufen (vgl. Straub, 1998b, S. 138 ff.). In der klinisch-psychologischen Literatur wird dem Erzählen häufig eine heilende, therapeutische Wirkung zugesprochen (z. B. Boothe, 1994; Lucius-Hoene u. Deppermann, 2002; Rosenthal, 2002; Boothe u. Straub, 2002). Auch diesbezüglich gibt es Einschränkungen oder Präzisierungen vorzunehmen: Die Verbalisie-

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rung von hochgradig belastenden, traumatischen Erfahrungen ist nicht immer empfehlenswert, sie kann sogar retraumatisierende Wirkungen zeitigen. Das ist zumindest im Alltag, aber auch in wissenschaftlichen Situationen der Datenerhebung alles andere als willkommen. Identitätsbildung und Identitätspräsentation Zu den komplexesten Funktionen bestimmter Erzählungen gehören die Identitätsbildung und Identitätspräsentation. Diese Funktion schließt viele der bereits genannten ein. Sie ist für Individuen ebenso bedeutsam wie für Gruppen, die sich darüber klar zu werden versuchen, wer sie geworden sind und sein möchten. Die Identität einer Person oder Gruppe geht keineswegs vollständig in erzählten Geschichten auf und ist niemals darauf zu reduzieren. Es gibt auch andere Modi der Identitätsbildung und -präsentation (vgl. etwa Ricœur, 1996). Die zeitliche Dimension personaler Identität ist jedoch unweigerlich an das Erzählen von Geschichten gebunden. Diese sprachliche Praxis ist der bis heute am besten untersuchte Modus einer auf Kontinuität und Identität zielenden Synthese temporaler, lebensgeschichtlicher Differenz (z. B. Brockmeier, 2015; Brockmeier u. Carbaugh, 2001; Bruner, 1990; McAdams, 1993; Ricœur, 1996, insb. S. 141 ff., 155 ff.; Straub, 1998a, 2019a, 2019b, 2019c). Obwohl der Ausdruck »narrative Identität« keineswegs einheitlich verwendet wird, hat er sich eingebürgert. Er steht für die große Bedeutung des Erzählens für die Bildung von (lebens-)geschichtlicher Kontinuität, personaler und kollektiver Identität (Lucius-Hoene u. Deppermann, 2002, S. 47 ff.). Dabei implizieren die Begriffe »Kontinuität« und »Identität« – im Gegensatz zur »Konstanz« – keinerlei bleibendes Substrat oder gar die »Behauptung eines angeblich unwandelbaren Kerns der Persönlichkeit« (Ricœur, 1996, S. 11). Kontinuität ist vielmehr ein Resultat der narrativen Bearbeitung zeitlicher Differenz. Der Begriff verweist auf einen Zeit-Zusammenhang, in dem es Bleibendes und Wandel gibt. Kontinuität schließt Veränderungen nicht aus, sondern zeigt, wie eine Person oder Gruppe dieselbe bleibt, obwohl sie sich im Lauf der Zeit in vielfacher Hinsicht geändert haben mag. Die praktische Identitätsfrage bleibt zeitlebens virulent, egal, wie viele Geschichten auch erzählt worden sein mögen. Sie ist an das Paradox gebunden, stets aufs Neue narrativ strukturierte Antworten zu motivieren, ohne dass diese jemals ein letztes Wort sein könnten. Jede für die Bildung und Präsentation personaler und kollektiver Identität relevante Erzählung ist stets nur ein vorläufiger Versuch, zur Sprache zu bringen, wer ein Individuum oder eine Gruppe geworden ist und sein möchte. Dieses Erzählen ist dabei eine höchst komplexe

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Sprachhandlung mit performativer Kraft (Habermas, 1988, S. 208). Narrative Selbstthematisierungen schaffen Kontinuität und Identität, sie bilden nicht etwas ab oder beschreiben etwas, das es ohne dieses Erzählen bereits vollständig gäbe. Identitätsbildung und -präsentation ist an eine erst im Jugendalter voll entwickelte und in mancherlei Hinsicht kulturspezifische narrative Kompetenz gebunden (Habermas u. Bluck, 2000; Straub, 2000a; 2000b).

Kommunikative und sozial-interaktive Funktionen des Erzählens Das Erzählen von Geschichten ist eine soziale Praxis. Erzählungen richten sich an einen Adressaten, an ein individuelles Gegenüber oder ein Publikum. Es gibt also weitere, bislang lediglich gestreifte Funktionen des Erzählens. Im Anschluss an Quasthoff (1980a, 1980b, 2001) lassen sich diesbezüglich zwei Hinsichten unterscheiden: inhaltsbasierte Funktionen, die sich in den kommunikativen und pragmatischen Wirkungen des Erzählens zeigen, sowie formbasierte Funktionen, die unabhängig von den Erzählinhalten auf soziale Beziehungen und Interaktionen Einfluss nehmen. Kommunikative, rhetorische und pragmatische Wirkungen auf den Adressaten: Informieren, Überzeugen, Überreden Mündliche Erzählungen – auf die wir uns im Folgenden der Einfachheit halber beschränken – sind an leiblich anwesende Zuhörer adressiert. Sie sind auf eine Situation zugeschnitten, zu der neben den Rahmenbedingungen auch die beteiligten Personen gehören und versuchen, bei der Zuhörerin oder dem Publikum gewisse Wirkungen zu erzeugen. Dabei ist zunächst an die Informationsfunktion des Erzählens zu denken, wie sie klassische Kommunikationsmodelle nach dem Schema »Sender-Mitteilung-Empfänger« vorsehen (wobei solche informationstheoretischen Modelle vielfach verworfene theoretische Annahmen aufstellen). Das Erzählen von Geschichten kann weiterhin der Vermittlung von komplexeren Wissens- und Erfahrungsbeständen dienen. Sie zielen dabei meist auf Anteilnahme ab. Gute Geschichten fesseln die Aufmerksamkeit des Gegenübers, steigern in ihrem dramatischen Verlauf seine emotional-affektive Empfänglichkeit, Zuhör- und Aufnahmebereitschaft. Eng verbunden mit der Informations-, Erfahrungs- und Wissensvermittlung sind pragmatisch-rhetorische Wirkungen auf den Adressatenkreis, insbesondere die Überzeugung beziehungsweise Überredung. Seitz (2003) hat Ansatzpunkte

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einer Zuhörerpsychologie skizziert, die im Feld der narrativen Psychologie angesiedelt ist, im Hinblick auf ihr theoretisches Selbstverständnis jedoch aus alten Quellen schöpft: aus der Rhetorik und Sophistik des antiken Griechenlands, in der die Vermittlung einer Rede an das Gegenüber bekanntlich ein wichtiges, um die Gewinnung von politischem Einfluss zentriertes Ziel darstellte. Der Erzähler muss die Vorstellungskraft des Zuhörers stimulieren (und vielleicht strategisch manipulieren). Man muss die Zuhörenden gewinnen. Diese Aufgabe verortet Seitz im Bereich einer als Psychagogik bezeichneten »Seelenlenkung«. Die Aufmerksamkeit für psychagogische Prozesse beim (lebensgeschichtlichen) Erzählen begreift er als Teil neuerer Bemühungen um eine Rehabilitierung der Rhetorik. In dieser Perspektive geht es speziell um den vom Erzähler intendierten oder im Zuge des Erzählens erreichten Einfluss »auf die Vorstellungen, Meinungen, Überzeugungen und affektiv-emotionalen Zustände der Zuhörer« (Seitz, 2003, Kap. II.5). Diese Einflussnahme steht allgemein, speziell aber im Hinblick auf das Erzählen von Geschichten nicht allein im Zeichen des vernunftgeleiteten Argumentierens und Überzeugens, einer rhetorischen Praxis mithin, die sich (nach Aristoteles) auf Paradigmata und das Verfahren der »rhetorischen Induktion« stützt, sondern vor allem auf psycho-affektive, emotionale Aspekte der rhetorischen Praxis des »Glaubhaftmachens«. Barthes (2005) bezeichnet diesen Teil der Rhetorik mit dem Begriff des »Rührens« (»animos impellere«). Das Erzählen von Geschichten kann nicht zuletzt auf die Rührung einer zuhörenden Person zielen und gewinnt gerade dadurch seine Authentizität, Glaubhaftigkeit und Akzeptabilität. Sozial-interaktive und phatische Funktionen, gemeinsame Validierung der Wirklichkeit Neben den kommunikativen Wirkungen, die auf den erzählten Inhalten basieren, sind auch adressatenbezogene Funktionen des Erzählens zu verzeichnen, die in der Herstellung oder Gestaltung einer sozialen Beziehung bestehen und dabei auf die Tätigkeit des Erzählens setzen. Wir kennen das alle: Schon der Vorgang des Erzählens selbst lässt die erzählende Person, völlig unabhängig vom Thema oder Stoff der Erzählung, als proaktiven sozialen Akteur erscheinen. Wer etwas zu erzählen weiß – beinah egal, was –, ist jemand und verdient Aufmerksamkeit! Eine mögliche Funktion der Narration mag in der Steigerung des Ansehens bestehen. Das Erzählen im sozialen Kontext kann zudem, zumindest vorübergehend, soziale Beziehungen stiften, aber auch langfristig stabilisieren. Quasthoff (1980a; b) spricht in diesem Zusammenhang von der phatischen, also Gemeinsamkeit herstellenden Funktion des mündlichen Erzählens: Zwischen

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der erzählenden und der zuhörenden Person wird ein Kontakt geknüpft, ein soziales Band, das Menschen über die Erzählsituation hinaus miteinander verund aneinanderbindet. Gerade die Erzählung ist als Konversationsform dazu geeignet, den Austausch über einen relativ langen Zeitraum aufrechtzuerhalten. Erzählungen geben manchmal Anlass, sie fortzusetzen. Wo Menschen erzählen und Geschichten lauschen, sind sie nicht allein. Erzählsituationen wirken der sozialen Isolation entgegen. Manchmal bahnen sie dem Aufbau einer langlebigen Gemeinsamkeit und Gemeinschaft den Weg. Erzählungen verkörpern nicht zuletzt Angebote an die Adressaten, sich auf eine gemeinsame soziale Realität einzulassen und weiterhin an der Ko-Kon­ struktion einer interaktiv validierten Realitätssicht teilzunehmen. Erzählende werben nicht selten um Zuspruch und moralische Entlastung oder Bestätigung (Gatzemeier u. Straub, 2013, wo auch die politische Bedeutung dieses Gesichtspunkts deutlich wird). Entwickeln Kommunikationspartner eine geteilte soziale Realität, dann wird auch die Voraussetzung für die Koordination zukünftiger Wahrnehmungen, Urteile und Handlungen geschaffen. Somit kann das Erzählen über die kurzfristige phatische Funktion hinaus auch zum Aufbau längerfristiger sozialer Beziehungen und zur sozialen Integration – nicht zuletzt in eine politische Gemeinschaft – beitragen. Gelegenheiten zum Erzählen stellen nicht selten geeignete Mittel und Medien dar, um auch kulturell entfernte, zunächst fremde Gesprächspartner in die Schaffung einer gemeinsamen, Differenzen artikulierenden, bewahrenden und zugleich überbrückenden Welt einzubeziehen.

Schlussnotiz und Ausklang Erzählen darf auch heute noch als eine lebendige kommunikative Praxis mit vielfältigen psychosozialen Funktionen gelten, nicht zuletzt als wichtiges Medium der Übersetzung kultureller, sozialer und individueller Differenzen. Der Austausch von Geschichten, in denen Erfahrungen Gestalt annehmen und mitgeteilt werden, ist auch Jahrzehnte nach Walter Benjamins düsterer Diagnose, nach der es mit dem Erzählen zu Ende gehe und man schon bald keine Menschen mehr fände, die etwas zu erzählen hätten (dazu Echterhoff u. Straub, 2003), so lebendig wie dereinst. Vom Niedergang der Erfahrung, vom Verschwinden der Erzählung kann bislang keine Rede sein, vom Wandel ihrer Inhalte, Formen und Medien dagegen schon. Erzählerische Praxen erfüllen komplexe, vielschichtige Funktionen. Die Bildung und Präsentation personaler und kollektiver Identitäten gehört dazu. Individuen bedienen sich dieser Praxis ebenso wie kleine Gemeinschaften oder große Gruppen, bis hin zu einer über den Globus ver-

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streuten Menschheit, die darüber rätselt, woher sie kommt und wohin sie sich bewegt, wer sie unter welchen wechselnden Umständen geworden ist, heute sein mag und morgen sein könnte. Erzählerische Praxen sind nicht zuletzt ein wichtiges Medium sozialer und kultureller Integration. Auf ihre Inanspruchnahme kann in komplexen Gesellschaften, die durch soziale Differenzierung, kulturelle Pluralisierung, Individualisierung sowie eine noch immer wachsende Dynamik gekennzeichnet sind, weniger denn je verzichtet werden. Erzählungen bringen uns Konflikte und Krisen näher, unter denen Menschen leiden. Sie regen uns an, über angemessene Lösungen solcher Probleme nachzudenken. Dass es mit dem Geschichtenerzählen noch nicht zu Ende geht, können wir heute wissen, und dass es damit auch morgen nicht gänzlich vorbei sein sollte, dürfen wir gerade auch aus dem zuletzt genannten Grund durchaus hoffen. Ohne Geschichten fehlte uns ein unverzichtbares Medium, in dem wir das eigene Antlitz sehen und uns selbst erkennen können. Dass sie auch Selbsttäuschungen den Weg bahnen können (Straub, 2013), hindert uns nicht an der noch immer zutreffenden Feststellung: Erzählungen vergegenwärtigen, was es heißt oder jedenfalls heißen kann, ein Mensch zu sein – ein Mensch im Allgemeinen, eine Person, die zu dieser oder jener Gruppe gehört, schließlich ein unverwechselbares Individuum mit seiner je eigenen Geschichte.

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Sprechen und Erzählen: Für eine Erweiterung der narrativen Perspektive in der systemischen Therapie TOM LEVOLD

In den 1980er Jahren war eine deutliche Veränderung im systemischen Diskurs eingetreten. Ausgehend von der Rezeption der »Kybernetik zweiter Ordnung« und der Arbeiten sozialkonstruktionistischer Autoren wie Ken Gergen (Gergen, 1985) wurde die Frage der sprachlichen Verfasstheit von subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen zum zentralen Thema. Sie löste die bis dahin dominierende Konzentration auf Identifikation und Veränderung dysfunktionaler Interaktions- und Verhaltensmuster ab. Dieser »Linguistic Turn« war zunächst in der Philosophie vollzogen worden (Rorty, 1992) und in der Psychoanalyse bereits angekommen (etwa bei Donald Spence und Roy Schafer). Nun fand seine Grundeinsicht auch zunehmend Eingang in den systemischen Diskurs, der zufolge alle menschliche Erkenntnis durch Sprache festgelegt und ein objektiver Zugang zur Realität jenseits von Sprache unerreichbar ist. Zum Gegenstand des Interesses wurde nun die Erforschung der diskursiven, durch sprachliche Kommunikation hervorgebrachten Konstruktion von Welt- und Selbstbeschreibungen, die sich wiederum in Geschichten und Erzählungen manifestieren (»Narrative Turn«). Mit Beginn der 1990er Jahre wurden der australische Familientherapeut Michael White und sein Co-Autor David Epston (White u. Epston, 1990) zu den zentralen Protagonisten des narrativen Ansatzes im systemischen Feld, auch wenn noch einige andere prominente Autorinnen und Autoren (etwa Harlene Anderson, Harold Goolishian, Jill Freedman etc.) ebenfalls als Fürsprecher eines narrativen Ansatzes gelten. Auch wenn das Konzept von White in vielerlei Hinsicht – vor allem in seiner praktischen Umsetzung – brillant ist, möchte ich in diesem Beitrag auf eine gewisse theoretische Eindimensionalität seines Ansatzes hinweisen und auf andere – von White wenig berücksichtigte – Perspektiven des narrativen Ansatzes aufmerksam machen. Für ein Verständnis therapeutischer Prozesse in Hinblick auf »Sprechen und Erzählen« erscheint mir darüber hinaus notwendig, die narrative Dimension um interaktions-, konversations- und metaphernanalytische Konzepte zu erweitern.

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Gestützt wird der narrative Ansatz durch querschnittliche Befunde, die zeigen, »dass sich psychisch gesunde und psychisch instabile Menschen in zwei Dimensionen ihrer autobiographischen Narrative unterscheiden: Agency und Kohärenz (Handlungswirksamkeit und sinnhafter Zusammenhang). Psychisch gesunde Menschen positionieren sich in ihren Erzählungen stärker als handlungsmächtige Akteure, die über ihr Leben bestimmen und den Einflüssen, von denen Glück und Unglück abhängen, selbst zu steuern vermögen. Und ihre Erzählungen sind kohärenter: zeitlich wie ursächlich (wie eins aufs andere und aus dem anderen folgt) sind die erzählten Ereignisse enger aufeinander bezogen, Gefühle werden besser erkennbar aus Erfahrungen und Erlebnissen abgeleitet, die Bewertung der eigenen Erfahrung, das Urteil über Gelingen und Misslingen biographischer Projekte geht deutlicher aus den Erzählungen hervor […]. Bezogen auf die psychotherapeutischen Wirkungen zeigen Befunde zudem, dass Therapien wo nicht die Kohärenz, so doch die agentivische Positionierung des Erzählers und des erzählten Ichs in der eigenen Lebensgeschichte fördern« (Lätsch, 2017, S. 168). Angesichts der Tatsache, dass Michael White sich in seinen Arbeiten nicht mehr (wie noch in seinen ersten Veröffentlichungen vor 1990) auf systemtheoretische Konzepte stützte, sondern vor allem auf ausgewählte Aspekte der Arbeiten des Kognitionspsychologen Jerome Bruner sowie auf die machtkritische Philosophie Michel Foucaults, ist der Erfolg des narrativen Ansatzes im systemischen Feld bemerkenswert, zumal das breite theoretische Feld, das in der Linguistik, der Entwicklungspsychologie, der Sozialpsychologie und anderen Disziplinen durch die »narrative Wende« erschlossen wurde, von White kaum rezipiert wird. Wie einfühlsam, erfindungsreich und überzeugend er als Therapeut und Praktiker gewirkt hat, ist durch seine ausführliche Dokumentation von Fallbeispielen belegt – seine metatheoretischen Überlegungen, die er seiner Praxis unterlegt, fallen dagegen eher sparsam aus. Auch wenn der Begriff der Narrativität völlig unterschiedliche Konzepte umfasst und daher überinklusiv erscheint, weil er alle möglichen Bedeutungen annehmen kann (Schiff, 2012, S. 43), lässt sich im systemischen Feld unter dem Stichwort der narrativen Therapie eine weitgehende Beschränkung auf die Rezeption der Arbeiten von Michael White feststellen: Eine Ausweitung auf andere narrationstheoretische Befunde und Konzepte findet kaum statt. Hinzu kommt, dass White auch das Werk von Bruner nur sehr selektiv rezipiert. Dessen bedeutsame entwicklungstheoretische Arbeiten zum Spracherwerb, zur kognitiven Entwicklung im Kindesalter und zu den damit verbundenen Fragen, wie sich sprachliche Repräsentationen von Erfahrungen und subjektivem Erleben in Abhängigkeit von den relevanten sozialen Kontexten entwickeln

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und narrativ verdichten, greift er nicht auf, sondern setzt vielmehr an dessen Analysen literarischer Konzepte an, weil er »Parallelen zwischen dem Verfassen literarischer Geschichten und der therapeutischen Praxis« sieht (White, 2010, S. 75). Die Textanalogie führt dazu, Klienten als Autoren einer Geschichte zu fassen: »Zwischen der Struktur literarischer Texte und der therapeutischen Handelns bestehen weitere Parallelen. Der Schriftsteller lenkt die Aufmerksamkeit seiner Leser auf Lücken oder Leerstellen in der Erzähllinie und motiviert sie dazu, diese zu füllen, indem er ihre Gedanken elastisch macht, ihre Fantasie trainiert und ihre Erfahrungen nutzt. Das Resultat sind dichte Narrationen. Ein Therapeut, der mit Menschen solch dichte Narrationen entwickelt, macht genau das Gleiche« (White, 2010, S. 80). Und: »Die Textanalogie stellte für mich eine zweite Möglichkeit für die Beschreibung der Art und Weise dar, wie Menschen ihr Leben nach bestimmten Problemen ausrichten. Unter dem Gesichtspunkt dieser Analogie kann dieses Ausrichten mit der Interaktion zwischen ›Leser‹ und ›Schriftsteller‹, die sich um bestimmte Geschichten oder Erzählungen rankt, verglichen werden« (White u. Epston, 2013, S. 19). Ein als Geschichte angelegter literarischer Text entfaltet seine Wirkung mithilfe bestimmter Elemente, die dafür sorgen, dass ein gewisser Spannungsbogen (»Plot«) erzeugt wird, dass er zeiträumliche Kohärenzen aufweist, Protagonisten aus einer »Grammatik der Motive« (Burke, 1969) heraus handeln etc. Bruner zufolge wird das Erzählen von Geschichten durch die Abweichung von kanonischen Erwartungen in Gang gesetzt. Das Kanonische, das sich in den alltäglichen Erwartungen entsprechenden Abläufen manifestiert, ist als der »Normalfall« nie Gegenstand von Erzählungen. Diese werden vielmehr durch Abweichungen von dem, was als normal, routinemäßig etc. erlebt wird, in Gang gesetzt1. An genau dieser Stelle setzt White mit seiner Idee an, dass die Erzählungen von Klientinnen Problemerzählungen sind, in denen Motive, Ereignisse und Handlungen des eigenen Lebens, die die Problemwahrnehmung (also die Abweichung vom erwarteten Normalverlauf) begründen und bestätigen, selektiv hervorgehoben werden, während alternative Deutungsmöglichkeiten, die dieser problematischen Selbst-Beschreibung widersprechen, eher unterdrückt oder ausgeblendet werden. An dieser Stelle kommt für ihn die machtkritische Diskursphilosophie Foucaults ins Spiel. Für Foucault bezieht sich der Begriff des Diskurses auf das sprachlich fundierte und institutionell durchgesetzte 1 »Nicht jede Abfolge von Ereignissen, die erzählt wird, stellt eine Erzählung dar, selbst wenn sie diachron, partikular und um intentionale Zustände herum organisiert ist. Manche Ereignisse sind es nicht wert, dass man über sie berichtet, und man sagt, dass Berichte darüber eher ›sinnlos‹ als erzählerisch sind« (Bruner, 1991, S. 11, Übers. TL).

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hegemoniale Wirklichkeitsverständnis, das eine spezifische Kultur oder Epoche kennzeichnet und vermittels einer Vielzahl von Herrschafts- und Selbstbeherrschungspraktiken durchgesetzt wird. Die Regeln des Diskurses definieren für einen bestimmten Zusammenhang oder ein bestimmtes Wissensgebiet, was sagbar ist, was gesagt werden soll, was nicht gesagt werden darf und von wem es wann in welcher Form gesagt werden darf (z. B. nur in Form einer wissenschaftlichen Aussage). In der diskursiven Praxis treffen also immer sprachliche Aspekte und nichtsprachliche Aspekte (z. B. politische Institutionen, Architektur etc.) zusammen. Der Herrschaftsdiskurs regelt, was als Problem und was als normal zu gelten hat, was von Menschen erwartet werden kann, mithin, welche Geschichten normative Geltung erhalten und welche nicht. »In der einflussreichen Konzeption Whites und Epstons ist der therapeutische Prozess darauf angelegt, dass Klientinnen und Klienten in der Therapie zunächst ihre Identität in Form von lebensgeschichtlichen Erzählungen zum Ausdruck bringen; in diesen Erzählungen ist dann oft, den Beschreibungen der Autoren zufolge, ein hohes Maß an Fremdbestimmung, an Orientierung auf Schwäche, Problemhaftigkeit, Dysfunktionalität zu erkennen; diese defizitären Erzählungen werden sodann mit Hilfe des Therapeuten durch alternative Betrachtungsweisen hinterfragt; daraus entwickelt sich Schritt für Schritt eine neue, von der Vereinnahmung durch das Problem befreiende, den Klienten als selbstbestimmten, handlungsmächtigen Akteur ins Zentrum stellende Lebensgeschichte. Die voranstehende Beschreibung trägt, wie unschwer zu erkennen ist, selbst das Gepräge einer Erzählung, einer Erfolgsstory. Ein schwaches, bedrängtes, von sozial erworbenen Problemzuschreibungen erdrücktes Ich befreit sich mit Hilfe eines deus ex machina (des Therapeuten) aus den Stricken der psychopathologischen ›Subjektivierung‹ […] und erlangt die Stärke einer selbstbestimmten, die Lizenz der Selbstschöpfung souverän verwendenden Identität zurück« (Lätsch, 2017, S. 167). Die Arbeit an den lebensgeschichtlichen Erzählungen der Klienten als autobiografisches Projekt lässt sich auf das Bruner’sche Konzept des »Life as Narrative« zurückführen, das in beide Richtungen gedacht werden muss: »Das Narrativ imitiert das Leben‚ Leben imitiert das Narrativ. ›Leben‹ in diesem Sinne ist die gleiche Art von Konstruktion menschlicher Imagination wie es ›ein Narrativ‹ ist« (Bruner, 2004, S. 692, Übers. TL). Daraus folgt: »Wir alle, lautet die These, sind Autobiographen. Der Aufbau, das Genre, die Kohärenz unserer Autobiographie entscheidet im Wesentlichen darüber, wer wir (subjektiv) sind und wie gut uns unsere Identität gelingt« (Lätsch, 2017, S. 168).

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Big Storys – Small Storys Die Konzeption von Psychotherapie als autobiografisches, identitätsveränderndes Projekt, die sich aus der literarischen Textmetapher ergibt, ist zwar in vielerlei Hinsicht durchaus plausibel, stellt aber gleichwohl für das Verständnis psychotherapeutischer Prozesse eine unnötige Engführung des Narrationskonzeptes dar. Dies wird vor allem deutlich, wenn man aus der Perspektive der Interaktions- oder Konversationsanalyse auf diese Prozesse schaut. Der größte Teil therapeutischer Dialoge lässt sich ja keineswegs als Arbeit an der großen, linearen Lebenserzählung verstehen, sondern ist vielmehr fragmentiert, gebrochen, kleinformatig. Oftmals geht es eher um kleinere und kleinste Episoden, die dennoch für ein Verständnis von Problemlagen von Bedeutung sind. Alexandra Georgakopoulou hat daher vorgeschlagen, mit einem Konzept der Small-Storys-Research den narrativen Ansatz um die Erforschung von Geschichten als fluide, flüchtige, fragmentierte, unbestimmte und kontingente Repräsentanzen von kleineren Ereignissen zu ergänzen (Georgakopoulou, 2017b, S. 273, Übers. TL). »Das Ziel der Small-Storys-Forschung ist es daher, den Schwerpunkt von Geschichten über das Selbst, die typischerweise aus längeren, vom Erzähler geführten Erzählungen über vergangene und einzelne, persönlich erlebten Ereignissen bestehen, auf kurze, fragmentierte, offen endende Erzählungen über das Selbst und andere sowie über laufende, zukünftige oder geteilte Ereignisse, auf Andeutungen oder die Aufschiebung von Erzählungen zu verlagern. Die Forschung zu Small Storys erkennt die Bedeutung von Geschichten als Hauptschauplätze für die Konstruktion des Selbst (und des anderen) an, aber sie unterstreicht auch die Notwendigkeit, dass kleine Geschichten, ob in Konversations- oder Interviewkontexten, als gleichwertige Daten in die Erzählund Identitätsanalyse einbezogen werden wie die längeren Lebensgeschichten, die die Aufmerksamkeit der Erzählforscher monopolisiert haben« (Georga­ kopoulou, 2017a, S. 34, Übers. TL). Abgesehen davon, dass es grundsätzlich auch denkbar ist, das eigene Leben nicht in einem narrativen Modus zu erfahren (eine radikale Version dieser These findet sich bei Strawson, 2004), lassen sich im therapeutischen Prozess neben narrativen Elementen auch noch viele andere diskursive Praktiken wie z. B. Beschreibungen, Erklärungen, Behauptungen, Aufzählungen, Argumente, Vorwürfe etc. finden, die für das Verständnis des Prozesses von großer Bedeutung sind. Unter diesen Aspekten scheint eine Reduktion des therapeutischen Dialogs auf die Arbeit an Narrativen zu kurz zu greifen. Dies gilt vor allem für die Arbeit mit Mehrpersonensystemen. Die narrative Psychologie setzt mit ihrer Schlüsselmetapher der Autobiografie als Erzählung eine individuelle Autorin

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voraus, die sich reflexiv mit ihren eigenen Erfahrungen auseinandersetzt und einem interessierten und aufmerksamen Zuhörer davon erzählt. Als Paradigma der biografischen Erzählforschung ist dieses Bild in der Tat gut geeignet. »Laut Georgakopoulou liegt das Problem dieses Modells darin, dass alltägliche Erzählpraktiken auffallend anders sind und mehrere konkurrierende Sprecher einbeziehen, die grundlegende Fragen des Eigentums an und der Bewertung von Geschichten miteinander verhandeln. Bedeutung entsteht aus der Interaktion, in der mehrere Personen gemeinsam Lebenserfahrungen gegenwärtig machen, unabhängig davon, wessen Erfahrung es war/ist/sein wird« (Schiff, 2012, S. 41, Übers. TL). Zudem besteht die Aufgabe der Interviewerin beziehungsweise des Zuhörers im biografischen Interview darin, der Erzählerin durch seine eigenen Konversationsbeiträge Raum für die Entfaltung ihrer Geschichte zu verschaffen. In der therapeutischen Arbeit liegt der Auftrag der Therapeutin allerdings in der Bearbeitung und Auflösung von Problemen in Erleben, Handeln und Interaktion und enthält damit immer schon eine explizite oder implizite Zielorientierung hinsichtlich der eigenen Gesprächsführung.

Erzählung versus Erzählen Eine mögliche Lösung dieses Problems liegt in einer Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Erzählung als Text beziehungsweise als kohärentes narratives Gebilde hin zum Prozess des Erzählens selbst. Mit dieser Verschiebung steht das Narrativ nicht mehr als Ergebnis einer auktorialen Selbstbeschreibung für sich, stattdessen wird die Bedingtheit seiner praktischen Hervorbringung von den gegebenen sozialen, historischen, lokalen und interaktiven Kontexten zum Gegenstand der Beobachtung. »Die erste dieser Bedingungen ist aus dieser Sicht, dass Geschichten (wie alle Diskursaktivitäten) gemeinsam verfasste (co-authored), interaktionelle Leistungen sind, sowohl lokal veranlasst als auch sequenziell implikativ […]. Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass sie hier und jetzt und nicht irgendwo anders stattfinden, formt irreduzibel die Art und Weise, wie sie erzählt werden, und gleichzeitig hat ihr Erzählen organisierte sequenzielle Implikationen: Es formt, was folgen wird« (Georgakopoulou, 2017b, S. 272, Übers. TL; vgl. auch Schiff, 2012). In einem Mehrpersonensetting wie in der Paar- oder Familientherapie, in dem sich die Therapeutin auf mehrere Erzähler einstellen muss, die beständig aufeinander reagieren, wird das unmittelbar evident. Hinzu kommt, dass die narrative Situation hier noch weniger als in einem Einzelinterview nicht aus einem aktiven Erzähler und einer mehr oder weniger passiven Zuhörerin besteht,

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sondern dass die Ko-Konstruktion von Geschichten differenzierte performative, womöglich konflikthafte Muster aufruft sowie Erwartungen hinsichtlich der Gesprächsbeiträge und Darstellungsweisen beinhaltet, über die geregelt wird, wer welchen Teil der Geschichte erzählt, betont, auslässt etc. und warum. Georgakopoulou postuliert hier »systematische Beziehungen zwischen Erzählrollen und einem Gespür für die emergierende Struktur einer Geschichte einerseits und größeren sozialen Rollen und Identitäten anderseits« (Georgakopoulou, 2006, S. 251, Übers. TL). Die Beurteilung der Qualität von Narrativen muss dann folgerichtig über die Erfüllung ästhetischer Basiskriterien (wie z. B. dramatischer Aufbau, raumzeitliche Einheit, Affektivität, Lebendigkeit etc.) hinausgehen und berücksichtigen, dass in den konkreten Kontexten Geschichten »überwiegend argumentativ verwendet werden, sodass die Ästhetik einfach nicht so relevant ist wie Fragen der Effektivität, Angemessenheit und der Konsequenzen für die momentane Situation« (Georgakopoulou, 2006, S. 251, Übers. TL). Erzählen wird hier also »als eine adressatenorientierte, auf den konkreten Anlass zugeschnittene, sozial situierte, dialogisch entwickelte Praxis begriffen« (Lätsch, 2017, S. 170). Kontrastiert man Problemerzählungen, die White unter Anspielung auf Clifford Geertz als »dünne Beschreibungen« (Geertz, 1997) charakterisiert, mit therapeutisch erarbeiteten neuen autobiografischen Erzählungen, wird die Kontingenz von Narrativen erkennbar. Geschichte kann man so oder anders erzählen. Freilich läuft die Situiertheit des Erzählens darauf hinaus, dass eben auch das Erzählen selbst hochgradig kontingent ist: Die erzählten Geschichten und Ereignisse werden je nach Kontext (Ort und Zeit, Zuhörer, affektive Spannung etc.) unterschiedlich dargestellt. Für Schiff (2012) liegt die Hauptfunktion von Narrativen darin, etwas in Hinblick auf die aktuelle Erzählsituation zu vergegenwärtigen (»making present«). Er unterscheidet dabei drei Aspekte: Die deklarative Dimension verschafft mithilfe der Erzählung der subjektiven Erfahrung Präsenz, die zeitliche Dimension versieht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Bedeutung, die soziale Dimension ermöglicht diskursiv hervorgebrachte – geteilte oder divergente – Vorstellungen der Wirklichkeit (vgl. Schiff, 2012, S. 36 f.). Diese Funktion der Herstellung von situativer Präsenz sieht er als Kern aller weiteren narrativen Funktionen, wie z. B. die Etablierung von nahen Beziehungen, die Bereicherung des Lebens mit Farben und Pathos, die Verbindung unserer Erfahrungen und Handlungen mit Kausalvorstellungen und Erleben von Wirkmächtigkeit, die Schaffung sozialer Identitäten und selbst Lüge und Täuschung (Schiff, 2012, S. 44). Neben der Besonderheit der Erzählsituation und der damit verbundenen Kontingenz der präsentierten Geschichten ist freilich noch auf einen anderen

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Aspekt hinzuweisen. Wesentliche Teile der narrativen Struktur und des Inhalts werden über viele Erzählsituationen hinweg wiederholt, das heißt, zentrale Elemente von Geschichten werden in neue Kontexte und über die Zeit hinweg übertragen. In ähnlicher Weise werden aus anderen Kontexten entlehnte Erzählungen (aus persönlichen Gesprächen oder aus den Medien) routinemäßig in das Erzählen persönlicher Erfahrungen integriert (Schiff, 2012, S. 43). Situative Kontingenz und Musterbildung stehen also nicht in einem gegensätzlichen, sondern eher komplementären Verhältnis zueinander. Musterbildung im Erzählen von Geschichten hilft bei der Erinnerung an eine Geschichte, ermöglicht, sie in verschiedenen Kontexten abzurufen und stellt damit eine gewisse Langlebigkeit her (werden solche Geschichten ohne Rücksicht auf den aktuellen Erzählkontext stereotyp immer wieder abgerufen, kann das zu entnervten Reaktionen seitens der Gesprächspartner führen). Die von White beschriebenen Problemerzählungen sind typischerweise solche redundanten, musterhaften Wiederholungen im Sinne »dünner Beschreibungen«, die dann durch den therapeutischen Dialog zu »dichteren Beschreibungen« angereichert und rekontextualisiert werden sollten (White, 2001, S. 3).

Interaktion und Erzählung Ich hatte eingangs eine bestimmte Engführung des narrativen Ansatzes im systemischen Diskurs problematisiert, die in erster Linie durch die Konzentration auf die Arbeiten von Michael White entstanden ist. Ganz grundsätzlich stellt sich jedoch die Frage, inwiefern und auf welche Weise der narrative Ansatz mit dem systemischen Ansatz in Verbindung steht und gestellt werden kann. Kaethe Weingarten hat 1999 beides in den Gegensatz einer »postmodernen« zur »modernistischen Weltsicht« gestellt: »Die postmoderne narrative Arbeit verlässt sich auf die Sprache und ist eine interpretative Praxis. Im Gegenteil dazu verlassen sich viele moderne Familientherapie-Modelle auf die Beobachtung und Auswertung von Interaktionsmodellen« (Weingarten, 1999, S. 34). Ob allerdings nur eine postmoderne im Gegensatz zur systemischen Perspektive in der Lage ist, Wissen als »vielfältig, fragmentarisch, kontextabhängig und begrenzt« zu betrachten (Weingarten, 1999, S. 29), darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Auf der anderen Seite hat Corina Ahlers, die selbst narrativen Aspekten in ihren Arbeiten einen hohen Stellenwert einräumt, schon 1994 die Frage gestellt, ob der narrative Ansatz noch mit systemischer Metatheorie vereinbar ist: »Kann eine systemische Therapietheorie noch der schulischen Definition genügen, wenn sie jeden Begriff eines Systems aufgibt?

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Ȥ dem Individuum im Konversationsprozess über den relationalen Aussagen Vorrang gibt? Ȥ das therapeutische Gespräch zunehmend als Dialog zwischen Therapeut und Klient wahrnimmt, das im dyadischen Prozess der Gesprächsführung stattfindet, dies im Widerspruch zur Familientherapie, die Beziehungsmuster und Interaktionsdynamik in der Verwobenheit vieler Personen erkennt, die in einer besonderen Weise miteinander verstrickt sind bzw. eine gemeinsame Geschichte mit einander gelebt haben?« (Ahlers, 1994, S. 98). Frappant ist jedenfalls, dass diese Fragen nach den konzeptuellen Verbindungslinien zwischen systemischen und narrativen Modellen von Beginn an selten2 Gegenstand theoretischer und praxeologischer Erörterungen gewesen sind. Zwar lässt sich der narrative Ansatz eindeutig einer konstruktivistischen beziehungsweise sozialkonstruktionistischen Grundhaltung zuordnen und hat insofern sicherlich eine gewisse »Familienähnlichkeit« mit systemischen Konzepten. Dennoch blendet er – zumindest in der White’schen Version – viele Aspekte aus der Betrachtung therapeutischer Prozesse aus, die für ein Verständnis von Veränderungsprozessen hilfreich sind und über die Konstruktion von alternativen »Lösungsgeschichten« hinausgehen. Das betrifft insbesondere die  – meist unbewussten – Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die das Problemerleben und -verhalten organisieren und stabilisieren und die nicht ohne Weiteres durch neue Erzählungen verändert werden (können). Vor diesem Hintergrund formuliert auch Konrad Grossmann seinen »Ab­schied von narrativer Therapie« (Grossmann, 2009), die er lange Zeit für sich als maßgebliches Paradigma angesehen hat. Der narrativen Modellbildung stellt er ein synergetisches Verständnis von Therapie als Lernvorgang gegenüber, als »Anregung von Kontextveränderung bzw. als Hemmung dominanter und Aktivierung/Bahnung alternativer Potenziale des Erlebens, Denkens, Verhaltens und Interagierens« (Grossmann, 2009, S. 6). In einem solchen Verständnis von Mustererkennung, -unterbrechung und -neubildung hätten Narrative ihren bedeutsamen Platz als sinngebende Konstrukte der expliziten Beschreibung, Erklärung und Bewertung erlebter und gelebter Erfahrung, als »Bewusstwerden des eigenen Produzierens des eigenen Produzierens« (White, 1998, S. 24). Allerdings geht therapeutische Veränderung nicht in der Neufokussierung des bewussten Erlebens auf: »Explizites Lernen stellt für den therapeutischen Veränderungsprozess eine kostbare Ressource dar. Explizites Lernen (von Klien2 Von den wenigen Ausnahmen sei hier auf eine Debatte aus dem Jahr 2000 verwiesen (Flaskas et al., 2000).

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tinnen wie Therapeuten) ist immer in implizite Lernvorgänge eingebunden – von diesen eingeleitet, von diesen begleitet und ergänzt, von diesen abgerundet. Implizites Lernen ist ein Lernen zwischen den Zeilen. Es realisiert sich in minimalen Suggestionen von TherapeutInnen, in Form von eingestreuter direkter Rede, von bildhaften Analogien und Metaphern, in minimalen Induktionen auf körpersprachlicher Ebene, im beiläufigen Übergang vom Konjunktiv zum Indikativ u. a.« (Grossmann, 2009, S. 11). Ein weiterer Kritikpunkt an White ist für Grossmann die Marginalisierung des Hörens der Problemerzählungen zugunsten der Forcierung von Lösungserzählungen. Er plädiert dafür, durchaus bei den Problemerfahrungen von Klienten zu verweilen, weil die Problemaktualisierung »Möglichkeit des Gehört- und Verstandenwerdens« gewährleistet, therapeutische Bindungsvorgänge stärkt und ein »genaueres Verstehen und in der Folge ein passgenaueres Intervenieren« ermöglicht (Grossmann, 2009, S. 11). Das Zuhören gilt freilich nicht nur dem Inhalt der Rede, dem geäußerten Narrativ, sondern ebenso ihren – verbalen und nonverbalen – Formen.3 Konversationsanalytisch wäre zu fragen, wie Problembeschreibungen strukturiert sind und vollzogen werden. Handelt es sich eher um einen Bericht oder eine Erzählung? Werden eher Einzelheiten im Ablauf der Ereignisse aneinandergereiht oder steht ein Protagonist mit seinen Empfindungen und Wahrnehmungen im Zentrum des Erzählten? Wird eher die direkte oder die indirekte Rede benutzt? Welche Wortwahl und welche Satzkonstruktionen werden verwandt? Herrscht ein aktiver oder passiver Modus bei den Schilderungen vor? Welche Metaphern und Gleichnisse werden benutzt, welche Bildschemata in den Metaphern werden utilisiert, welche ausgeblendet? Welche Metaphern lassen sich als Schlüsselmetaphern für das Mitgeteilte verstehen? Gibt es einen Plot, der die gängigen Erwartungen an eine Erzählung erfüllt (Schauplatz, Einheit von Zeit und Raum, Akteure, Handlungen, Ziele, Instrumente und Hilfsmittel, Kontext), oder erscheint die Erzählung zerrissen, fragmentiert oder inkonsistent? Welche Redeelemente werden öfter wiederholt, welche sind einmalig, aber von singulärer Bedeutung? Was wird ausgelassen, bleibt ungesagt, wird nur angedeutet? Diese oder ähnliche Aspekte bieten Anknüpfungspunkte für Hypothesen, Nachfragen und eine Vertiefung des therapeutischen Dialogs, die sich an der Form des (Zu-)Gehörten orientieren anstatt bloß am Inhalt des Gesagten. Die Frage der Form bezieht sich aber nicht nur auf die linguistischen Aspekte, sondern auch auf die paralinguistischen Aspekte der Rede (Makari u. Shapiro, 3 Dieser und die beiden folgenden Absätze entstammen mit geringen Veränderungen einem Aufsatz über das Hören 1. und 2. Ordnung (Levold, 2019, S. 39 f.).

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1993, S. 1001 f.). Dazu gehören die prosodischen Elemente wie Stimmlage, Intonation, Stimmumfang und Intensität des Ausdrucks, nicht verbale Vokalisierungen wie Räuspern, Geräusche, Lachen, Seufzen, Schluchzen und so weiter, Redetempo (Beschleunigungen, Dehnungen, Zögern), Unterbrechungen, Pausen, Schweigen, mimische und gestische Untermalung und viele andere. Sie geben uns Hinweise auf die affektive Aufladung des Mitgeteilten wie des aktuellen Gesprächskontextes. Auch hier wird unmittelbar erkennbar, dass sowohl die linguistischen als auch paralinguistischen Elemente nicht nur von den Zuhörern, sondern simultan immer auch von den Sprecherinnen gehört werden und es daher eine ständige Rückkoppelung von Sprechen und Hören gibt, die sich in Reparaturund Korrektursequenzen (Unterbrechungen, Neuansätze, Reformulierungen, Verstärkungen und Abschwächungen) niederschlägt und Aufschluss über die Möglichkeit gibt, einen empathischen Resonanzraum miteinander herzustellen.

Fallbeispiel Das nachfolgende Transkript gibt eine ca. fünfminütige Sequenz aus dem Erstinterview einer Paartherapie wieder, die ich mit meiner Kollegin Karin Martens-Schmid durchgeführt habe, die auch hier das Gespräch führte (T). Die ursprüngliche, von einer Linguistin erstellte Transkription wurde für diese Zwecke vereinfacht, da viele Details der Intonation und Prosodie der Sprechbeiträge, die für ein Verständnis der Dynamik dieser Sequenz (und der Paarbeziehung) von Bedeutung sind, hier schon aus Platzgründen nicht dargestellt werden können. So zeigt der Mann (M) durchgehend – stimmlich und körpersprachlich – ein eher ruhiges und bedächtiges Auftreten, während die Frau (F) – nachdem sie seinen Eingangsbeschreibungen eher distanziert und abgewandt zugehört hat – in ihren eigenen Beiträgen sehr temperamentvoll agiert. Auch wenn das Transkript daher keinesfalls mit allen Feinheiten einer Videoanalyse konkurrieren kann, wird doch die mikroanalytische Komplexität der Problemerzählung in einem therapeutischen Mehrpersonensetting durchaus nachvollziehbar. (01) T: Noch mal jetzt auch … hingucken mit Ihnen und fragen, was da so jetzt der aktuelle Anlass war zu sagen: »Jetzt gehen wir nich … getrennte Wege, um halt / um Stabilität zu finden, sondern jetzt gehen wir in den Austausch«. Was war denn da aus Ihrer Sicht da … der Anlass, … diesen Schritt zu machen? Was ist das Problem, mit dem Sie kommen? (02) M: Ähm, … dass wir in unserer Kommunikation … merken, dass::: … vielleicht … immer schon vorhandene Probleme eigentlich immer größere … Bedeu-

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tung kriegen, … ja? … Ich will das am Beispiel sagen … So, wie s meine Frau eben formuliert hat, hat sie s mir … durchaus, äh, über ihre Situation – perspektivlos – … und so weiter – … hat sie s mir natürlich auch gesagt. (03) T: Hm. (04) M: … Nur ich / ich kann so was nich verstehen, … ja? Ich kann / ich kann in meiner … Vorstellungswelt …, ähm … Ich weiß nich, wie ich das beschreiben soll. Das dringt … bei mir in / in mein Gefühl nich ein. Ich kann dieses … Gefühl … Ich konnte schon damals bei diesem Umzug nicht nachvollziehen, … äh, … warum sie das so dramatisch schlecht fand. Ich hatte – vorher schon mal – erlebt – bei einem Umzug, dass sie … traurig war, aus diesem Haus rauszugehen … und in ein neues zu gehen, was in Köln war, beides. (05) T: Hm. (06) M: Und hatte mir gesagt: »Na gut, … das hast du schon mal erlebt. … Das ist ne Erfahrung, … die wirst du an dieser Stelle wiederholen. Das heißt, im Moment bist du traurig, … über diesen Abschied. Aber das wird eines Tages überwunden sein, … dann willst du da vielleicht gar nicht mehr weg. (07) T: Hm. (08) Ja? Und … so hab ich mir die Entwicklung der Situation vorgestellt. Ich habe also wirklich / … ähm, ich habe es nie begriffen . un / un / und . ich / ich äh . . nehm ja alle Schuld – so in Anführungszeichen – gerne auf mich, aber ich kann es nicht nachvollziehen, warum die Situation – Sie haben es eben so formuliert – , die . aus . . meiner Sicht . ne Verbesserung war . . wir sind von einem – weiß nicht – . sechs oder acht Parteien . haus mit . / mit ner – wie viel Zimmerwohnung ? – Wir hatten zwei Schlafzimmer . . .und zwei Kinderzimmer. (09) F: hm, ja, die Wohnung war sowieso zu klein. (10) M: und zwei Kinder_ (11) F: wir hätten sowieso umziehen müssen. ((M: ja )) Insofern war das eine (12) M: in ein / in ein äh_ (13) F: praktische Überlegung, ähm, ja durchaus drin. (14) M: vernünftiges Wohngebiet Ruheims:::, äh ((2 sek)) vier Kilometer vom Stadtkern weg . . in einen Neubau reingekommen . äh, Spielplatz dabei. . Also aus meiner Sicht . waren mit / mit_ gut, alles hat seine zwei Seiten. Dieses Haus:::, äh, . wenn Sie sich da in / in die Küche stellen, gucken Sie gegenüber auf eine . Baustelle beziehungsweise erst mal auf eine / . auf einen . . leeren Bauplatz. Das ist natürlich nicht besonders anregend. ((fährt fort, den Platz zu beschreiben, Th unterbricht ihn)) (15) T: ich hab grad mal versucht, das / das, ähm, s / so in meinem Kopf zusammenzufassen, was Sie sagten – würden Sie sagen, dass / . dass wie es Ihrer Frau da ging Ihnen so::: fremd war, dass das (16) M: das war mir fremd, ja.

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(17) T: dass Sie es nicht mehr . nachempfinden konnten? (18) M: das hab ich _ ja, ich hab / ich hab _ nein, das kann äh / konnte ich und kann eigentlich heute auch nicht . ((Th: hm)) nachvollziehen. Ich meine, . . ähm _ (19) T: haben sie denn irgend ne Idee davon trotz alledem? trotzdem . ähm, Sie sagen, das ist eigentlich in diesem Punkt . . ein / ein fremder Stern, (( M: ja)) der da neben mir sitzt . ähm, . was sie ((Geste zu F)) da . . bewegt . und vermisst haben könnte? Haben Sie da so ne Idee um was es ihr da gegangen is? (( 2,5 sek )) (20) M: also, wenn / wenn / wenn sie sagt so: »hier war ich / ich hatte eine Oase«, . . ja? Dann versuche ich mich an diese O . / Oase zu erinnern und erinnere mich, dass::: . diejenigen in der Oase, zu denen wir den engsten Kontakt hatten, . . ausge / schon ausgezogen waren, glaube ich (21) F: nee, . so wars auch nich. Außerdem sagte (22) M: also zum Beispiel, es war ja nur _((gleichzeitig mit 21)) (23) F: ich sag ja, es war keine Situation, die sich so gehalten hätte, in dieser Idealsymbiose, . aber dennoch war es die Situation, aus der ich kam (24) M: also da / da / dass da drin, . . äh (( 1 sek )) du hast es so ausgedrückt, da war ein / ein / im Prinzip ein Kommen und Gehen . nicht ganz:: . so / so . . (25) F: ja, aber, M, das waren Leute. Kommen und Gehen in einer Großstadt wie Köln, das ist also Fluktuation. Die Leute, die da kommen und gehen, die hatten irgendwie . unseren oder meinen äh . äh . Level des Interesses, der Unterhaltung, die waren auf der Suche, die waren neu. In diesem Dorf, ja, wo schöne Häuser standen, da pflegen die Leute ihre Kohlköpfe ab nachmittags um drei Uhr im Garten. Die kennen sich von Kindergartenzeiten an, also das ist ((Th: also das_ )) eine Welt, die ist _ . ich habe nie gedacht, dass es unterschiedliche Sterne gibt, die so nahe beieinander liegen können. Es ist ein andrer Planet! … (26) T: und jetzt sind Sie auf einem andern Stern . (27) F: nachmittags um fünf Uhr,((Ther: mhm)) um fünf Uhr, nachmittags spätestens Ende November können Sie in diesem Dorf … gar nichts mehr identifizieren. Warum nicht? Da sind die Rolläden zu, . ja? Man / man macht es zu. Man lässt nichts mehr reingucken und das / das muss man zum gute / gute . . äh, um es mal bildlich darzustellen: man ließ die Rolläden runter und beim / beim kleinsten bisschen, was man von draußen hätte innen erspähen können, da wurden die Läden / wurde dichtdichtdicht, da gabs nichts mehr! (28) M: klar, ich mein, das is, äh, halt . vollkommen richtig beschrieben (29) F: es war nicht der Bauplatz. Der Bauplatz war mir vollkommen gleichgültig. Es waren die Leute!

In diesem Gesprächsausschnitt wird unmittelbar erkennbar, welche Rolle die interaktive Dynamik der Gesprächssituation spielt. Auf die Einladung der The-

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rapeutin, das Problem des Paares zu beschreiben (1), bricht M seinen Versuch einer Benennung (»Kommunikation«) ab und bringt das Beispiel ihres Umzugs von Köln in eine mittelgroße Ortschaft als Beispiel für die Probleme ins Spiel (2). Damit wäre gewissermaßen eine narrative Episode eröffnet, was die Frage aufwirft, inwiefern beide Partner zu einer gemeinsamen Problemerzählung kommen können oder nicht. Nachdem er zunächst sein Unverständnis für die Reaktion seiner Frau auf den Umzug zum Ausdruck bringt (04–06), beschreibt er die alte und neue Wohnsituation in Hinblick auf die äußeren Rahmenbedingungen als Argument dafür, dass es sich um eine »Verbesserung« gehandelt habe (08–14). Im Sinne einer klassischen Pro- und Contra-Argumentation bietet er durchaus auch Gegenargumente an (»leerer Bauplatz«). In Hinblick auf den Diskurstyp Argumentation stimmt seine Frau ihm übrigens zu (11, 23) – wie auch in anderen Teilen des Gesprächsabschnitts erkennbar wird, dass beide in Hinblick auf die Beschreibung der Situation durchaus kooperieren (28). Dass es dennoch nicht zu einer gemeinsamen Geschichte wird, liegt unter anderem auch daran, dass beide gar keinen gemeinsamen erzählerischen Modus finden. Man könnte zugespitzt auch formulieren: M erzählt nicht, sondern berichtet. In einem Bericht geht es aber nicht um eigene Empfindungen und Erlebnisse, sondern um die Aufzählung von Sachverhalten, Strukturierung von Abläufen etc. Die Eigenpositionierung als Protagonist beziehungsweise Akteur soll dagegen aus einem Bericht herausgehalten werden. Im Kontrast dazu gewinnt das Gespräch dramatisch an Farbigkeit, als die Frau die Situation aus ihrer Sicht beschreibt. Sofort wird sie selbst als die Zentralfigur ihrer Geschichte erkennbar, die die Lebendigkeit ihrer Kontakte mit Leuten auf »meinem Level des Interesses« in Köln genoss und nun entweder den Menschen beim Pflegen ihrer Kohlköpfe zuschauen muss oder aber gar nicht erst etwas von anderen Menschen zu sehen bekommt, weil deren Rollläden heruntergelassen sind. Während M auf die räumliche und ästhetische Dimension und auf Sachargumente fokussiert, was ein Berichtsmodus im Grunde vorgibt, ist F ganz auf die soziale Situation und die damit verbundenen Empfindungen ausgerichtet, ihre Geschichte hat einen Plot, eine emotionale Dramatik und lädt unmittelbar zu Identifikation ein. Dabei geht es nicht darum, wessen Darstellung die richtige ist (beide sind jeweils für sich genommen durchaus plausibel), sondern dass offensichtlich die Inkompatibilität der beteiligten Denk-, Fühl- und Handlungsmuster ausschlaggebend für die Schwierigkeiten im eingangs erwähnten Problembereich »Kommunikation« ist. Das spricht die Therapeutin an, indem sie M fragt, ob ihm die Not seiner Frau so fremd gewesen sei, dass er sie nicht mehr hätte nachempfinden können (17). M reagiert spontan zustimmend auf das Fremdheitsmotiv, transformiert aber das Nachempfinden in ein eher kognitions-

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orientiertes Nachvollziehen (18), ein weiterer Hinweis auf seine argumentative Herangehensweise. Das Exemplarische an diesem Beispiel (einer Small Story im Sinne Georgakopoulous), auf das der Mann eingangs verweist, liegt also hier gerade in der Unmöglichkeit, eine gemeinsame narrative Position einzunehmen, obwohl die Rahmendaten der Geschichte von beiden gleichermaßen anerkannt werden. Aus dieser Perspektive hat das Paar eher eine gemeinsame Geschichte des emotionalen Nichtverstehens, die an einer Vielzahl solcher Small Storys illustriert werden kann. Ob diese Problemgeschichte durch die Entwicklung einer Lösungsgeschichte angesichts dieser Inkompatibilität im Paarsetting adäquat bearbeitet werden kann, sei dahingestellt. Um überhaupt dahin gelangen zu können, scheint mir die Einbeziehung konversations- und metaphernanalytischer Konzepte für ein Verständnis der Paarinteraktion auf Makro- wie auf Mikroebene wesentlich. Was die metaphernanalytische Perspektive betrifft, so fällt auf, dass beide Partner für ihr eigenes Erleben Behältermetaphern verwenden. Nach Lakoff und Johnson (Lakoff u. Johnson, 2011) beziehen sich Behältermetaphern (»container metaphors«) auf unsere fundamentalen menschlichen Erfahrungen des räumlichen Eingebettetseins, die durch eine Grenze zwischen Innen und Außen sowie gegebenenfalls Öffnungen für Ein- und Auslass charakterisiert werden. Körper, Räume, Häuser, aber auch Orte wie Städte oder Dörfer sind aus dieser Perspektive Container – Behältermetaphern werden sprachlich durch die Präposition »in« markiert. M beschreibt sein Problem, dass das Erleben seiner Frau keinen Einlass »in meine Vorstellungswelt« findet, »Das dringt in mein Gefühl nicht ein«. Die Frau wiederum beschreibt ihr Gefühl des Ausgeschlossenseins in Ruheim damit, dass »alle Rollläden runter« seien, »Man lässt nichts mehr reingucken«, »dichtdichtdicht«. Es entsteht ein Bild eines Behälters ohne eine Öffnung, in die etwas hineinkommen könnte oder durch die man etwas im Inneren erkennen könne. Das Paar spricht auf der manifesten Ebene über den Unterschied zwischen Köln und Ruheim, aber auf der metaphorischen Ebene lässt sich das auch als Gespräch über das Paar selbst verstehen. Die Therapeutin bietet als Metapher für die Fremdheit des Paares das Bild eines »fremden Sterns« an (19), der von der Frau später aufgegriffen und sogar noch – logisch falsch, aber durch die Emphase »ein andrer Planet« plausibel – gesteigert wird (25), allerdings in einem völlig anderen Kontext: nämlich der Unterschiedlichkeit der Großstadt zum gegenwärtigen Lebensort. Die Kerndifferenz wird deutlich in dem Abschnitt, als er über ihre »Oase« spricht und einen Zustand der Auflösung beschreibt (20; die engsten Kontakt-

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personen waren schon weg, ein »Kommen und Gehen«), der von ihm offensichtlich nicht positiv bewertet wird. Gerade diese Dynamik des Kommens und Gehens »veredelt« F gewissermaßen mit dem Begriff der Fluktuation (25) von Leuten »unseren [und hier korrigiert sie (!):] oder meinen äh. äh. Level des Interesses, der Unterhaltung, die waren auf der Suche, die waren neu«. Köln verkörpert aus dieser Perspektive Dynamik, Lebendigkeit, Bewegung, Fluktuation, Offenheit – Ruheim dagegen Statik, Langsamkeit (»Kohlköpfe«!), Sicherheit, Verschlossenheit. Nimmt man das als Metapher für die Paarbeziehung, könnte man auch sagen: F ist Köln und M ist Ruheim. Die Perspektive für die paartherapeutische Arbeit könnte also sein, dem Paar zu helfen, mehr Verständnis und Offenheit für die Unterschiedlichkeit ihres Erlebens und eine neue Balance von Stabilität und Lebendigkeit, von Sicherheit und Erregung zu finden. All dies steht nicht im Widerspruch zu einer narrativen Perspektive, erweitert sie aber um konversations-, metaphern- und interaktionsanalytische Aspekte, die mir gerade in der Arbeit mit Mehrpersonensystemen unabdingbar erscheinen. Insbesondere wird vielleicht deutlich, dass die Vernachlässigung der Arbeit an Problemgeschichten zugunsten einer Forcierung von Lösungsgeschichten dazu führen kann, dass die impliziten, latenten und oft unbewussten problemerhaltenden Muster, Strukturen und Wahrnehmungsweisen übersehen werden und damit therapeutisches Potenzial verschenkt wird.

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Eine Reise zu machtkritischen Denkorten und Denklandschaften narrativer Praxis HEIDRUN SCHULZE

Anregung zur Reise Stimulus für diese Reise waren – und mit im Gepäck sind – Michael Whites reisebegleitende Worte, mit denen ich beginne: »The word [pathology] makes me wince! When I hear it, I think about the spectacular success of clinical medicine in the objectification of persons and of their bodies, and the extent to which the pathologising of persons is the most common and taken-for-granted practice in the mental health/welfare disciplines, and the central and most major achievement of the psychologies« (M. White, 1995, S. 112). In den folgenden Ausführungen werde ich anknüpfend an obiges Zitat den Blick in die Denklandschaft narrativer Praxis (im Original »Narrative Therapy«1) darauf richten, wie ein theoretisch begründeter praxeologischer Gegenhorizont zur hegemonialen Deutungsermächtigung in Form von Pathologisierung und Normalisierung vorangetrieben wird. Mit dem Ansatz Narrative Therapy setzen White und Epston dem Konzept einer verinnerlichten und privaten Psyche als Wahrheits- und Wissenskategorie im Bereich Beratung/Therapie eine linguale Praxeologie entgegen, mit der sie als privat psychisch definierte Probleme wieder ins Außen, in die gesellschaftlichen Bedingungen und Interaktionen des Sozialen zu (re-)kontextualisieren beabsichtigen. Daraus folgend wird das Denken, Fühlen und Handeln in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext gestellt und narrative Arbeit zur politischen Praxis.

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Im folgenden Text werde ich bei historischer Bezugnahme des von Michael White und David Epston entwickelten Ansatzes »Narrative Therapy« die Originalbezeichnung verwenden. Narrative Therapie steht für das Konzept und deren deutsche Übersetzung, »narrative Praxis« steht für ein multidisziplinäres Verständnis.

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Mit dem, aus der australisch/neuseeländischen Sozialen Arbeit inspirierten, macht-/sprachkritischen Denk- wie Praxisansatz der Narrative Therapy kreuzten sich für mich als in der Tradition kritischer Sozialwissenschaft/Sozialer Arbeit Stehende meine theoretischen Wurzeln mit neuen, mich inspirierenden (Denk-) Wegen. Einigen Wegen und Wegkreuzungen werde ich im Folgenden nachgehen.

Denkort narrative Therapie und »Chicago School of Social Interactionism« Theoretische wie sozialreformerische Praxis zeichnete die Chicago School of Social Interactionism als Entwicklungsort neuer Forschungs- und Denkwege aus, an dem insbesondere der politische Pädagoge John Dewey und der philosophisch orientierte Psychologe George Herbert Mead neue Analyseperspektiven auf Sprache und Kommunikation entwickelten. Unter letztgenanntem Aspekt verdeutlicht sich heute ein Brückenschlag zu narrativer Therapie, indem das Persönliche als »soziales Selbst« in Wechselwirkung mit sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Strukturen im Denkort des entstehenden sozialen Interaktionismus und heute in der narrativen Praxis theoretisiert wird. Für C. Christian Beels, der ab den 1960er Jahren als Psychiater, Psychoanalytiker und Familientherapeut arbeitete und lehrte, stellten White und Epston »the clearest picture of a new way of working« dar, welches er aus ihrer disziplinären Herkunft herleitet: »MICHAEL WHITE AND DAVID EPSTON are both social workers, family therapists from Australia and New Zealand […] Family therapy was, for them not a reaction to another tradition, but a starting point. Having no [psychoanalytic] theory to discard, they did not replicate it unawares, as the American family therapists did. Instead, they were able to construct their work straight out of social work and anthropology« (Beels, 2001, S. 163, Hervorh. i. Orig.) Cheryl White blickt nach dem Tod Michael Whites 2008 in ihrem Beitrag »How did it all begin?« (C. White, 2009) auf diese politisch inspirierte Atmosphäre der Entwicklung narrativer Ideen zurück: »The 1980s was a time of profound feminist challenge. […] Everything was up for questioning: the gender roles in families; the practices of mother-blaming; the concept of ›schizophrenogenic mothers‹; gender inequities in the

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field of family therapy; male-centred language; heterosexual dominance; the politics of representation, and so on. It was also a time in which the field was being challenged to address issues of race, culture and the effects of colonization« (C. White, 2009, S. 56). Michael White und David Epston verband ihre professionelle Herkunft als Sozialarbeiter, was sich in ihrer Entwicklung der narrativen Ideen zeigt: »[They] ignored what was received from medicine, psychology, or counselling. Rather [their] enquiries involved a set of alternative sources that offered a sustained critical engagement with the ›social self‹ […] [they] studied material from anthropology, feminism, sociology and social theory, a theory nexus that was informed by many of the influences that have also informed social work« (Furlong, 2008, S. 414 ff.). Unter Bezug auf Foucaults Kritik der Dominanz kritisierte White die Disziplinierung und Unterwerfungspraxen von Professionen durch die unhinterfragte Anwendung professioneller Wissensordnungen mit ihrer Beanspruchung von Expertinnenschaft und wehrte sich gegen jegliche Techniken und Methodisierung, insbesondere auch gegen eine Schulenbildung. White bewahrte zeitlebens seine skeptische Haltung gegenüber einer domestizierenden und kon­ trollierenden Rolle der Professionen in Vergangenheit und Gegenwart.

Denkstandort Biografieforschung – narrative Praxis: Von der Rekonstruktion zu Neupositionierungen Sprachliche Repräsentationen in Form von Erzählungen/Narrationen nehmen in der rekonstruktiven sozialwissenschaftlichen Biografieforschung und den damit verbundenen narrationsanalytischen Zugängen einen großen theoretischen wie praxeologischen Raum ein (Rosenthal, 2002, 2010; Schulze, 2008). Rekonstruktive Biografieforschung zielt im Gegensatz zu narrativer Praxis darauf, eine zusammenhängende Sinnstruktur herauszuarbeiten, die die Erzählenden in der Selbstdeutung ihrer Lebensgeschichte hervorbringen. Somit liegt hier die Konstruktion der Selbstdeutung einer Lebensgeschichte zugrunde, die durch Interdependenz des gegenwärtigen Kontextes und der individuell-gesellschaftshistorischen Vergangenheit konstituiert wird. Trotz des interpretativen Zugangs einer biografietheoretisch orientierten Praxis und der Fokussierung auf narrative Präsentationen lebensgeschichtlicher Erfahrungen

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wird sich, basierend auf einer strukturalistisch orientierten Denktradition, auf die erzählte Geschichte innerhalb nur einer Lebensgeschichte bezogen. Die poststrukturalistische Öffnung zur Mehrgeschichtlichkeit des Lebens von Personen, wie sie narrative Praxis mit dem sozialkonstruktionistischen Denkkonzept der »multi storied lives« theoretisiert, stellt hierzu eine Erweiterung eines Möglichkeitsraumes im dialogischen Miteinander dar: Nicht nur Re-, sondern auch die Neukonstruktionen von Erfahrungsdeutungen stehen im Fokus. Narrative Praxis verfolgt damit nicht nur Rekonstruktion von Erfahrungen, sondern fördert eine Bewegung zu neuen Gegenwartsdeutungen, hin zu wohltuenden erweiterten Erkenntnissen über sich selbst und zu (unentdeckten) Handlungen beziehungsweise Bewältigungsfähigkeiten. Dies geschieht durch aktiv praktizierendes Ko-Konstruieren von Bedeutungen und kollaborativem Erzeugen von Neupositionierungen von erlebten und erzählten problematischen Lebensumständen und darin entwickelten restriktiven Deutungen. Narrative Therapie und eine rekonstruktive Sozialforschung/Biografieforschung haben durch die historisch-theoretische Rückbindung zwar eine konvergierende Theorie-Wissenschafts-Verortung (Freeman u. Combs, 1996). Vom Denkstandort hermeneutischer Rekonstruktion lebensgeschichtlichen Erzählens in der biografietheoretischen Forschung (und einer davon abgeleiteten Praxis: Schulze, 2008) verbleibt die Bedeutungssuche allerdings innerhalb einer Lebensgeschichte, während sich narrative (Beratungs-)Praxis viel stärker in einem sozialkonstruktionistischen und poststrukturalistischen bedeutungsheterogenen Paradigma verortet. Die Arbeit mit Geschichten im Beratungs-/Therapiekontext geht in der narrativen Praxis über das erinnernde rekonstruierende Erzählen weit hinaus. Diskurskritisch zugespitzt formuliert Catrina Brown: »The narrative process of re-authoring identities requires moving beyond simply telling and retelling stories to an active deconstruction of oppressive and unhelpful discourses« (Brown, 2007, S. 3).

Denkort Sozialer Konstruktionismus und narrative Praxis: Relationalität statt isolierter Identität Michael White und David Epston entwickelten ihre narrativen Zugänge schwerpunktmäßig aus der Kritik einer sich dem medizinisch-psychiatrischen System anpassenden und administrativ reduzierten Berufspraxis Sozialer Arbeit mit der für sie unhintergehbaren und stringent eingehaltenen Kontextualisierung von Problemen. Für ihren Ideenreichtum poststruktureller Theoriepositionen lehnten sich White und Epston an Meads interaktionistische Denktradition und

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an Kenneth Gergens Konzept relationaler Identität des Menschen an, sodass narrative Therapie in der Literatur vielfach als postmoderner und/oder postpsychologischer Beratungs- und Therapieansatz bezeichnet wird (vgl. McLeod, 2004, S. 53 ff.). Ihre theoretische Inspiration war durch die Absicht charakterisiert, sich von vorherrschenden Ansichten der Psychologie, Psychiatrie und anderen theoretischen Ansichten und Praxeologien abzuwenden, die einen auf Autonomie ausgerichteten und aus Beziehung isolierenden Individualismus in den Mittelpunkt stellen. Der durch Gergen theoretisierte soziale Konstruktionismus (Gergen, 2003, 2009) ist ein wichtiger Denkort im theoretischen Geflecht narrativer Praxis. Den Terminus »social constructionism« hat Kenneth Gergen in den 1980er Jahren für eine »reflexive Sozialpsychologie, die sich ihrer sozialen, historischkontingenten Grundlagen bewusst ist« (Zielke, 2007, S. 26) gewählt. Im Fokus der Kritik steht die Verleugnung ihrer vielfältigen Ursprünge durch die Psychologie, die Unterdrückung von Differenzen und die starke naturwissenschaftliche Orientierung im 20. Jahrhundert. Mit der daraus sich entwickelnden und selbstlegitimierenden Deutungsmacht personaler Zu- und Beschreibungen wird deren gesellschaftliche Funktion als Wahrheitsregime und damit die Übernahme sozialer Kontrolle und Überwachung aufgedeckt (Winter, 2010, S. 123). Ausgehend davon werden die für selbstverständlich gehaltenen Auffassungen der (psychischen) Realität im Positivismus und Empirismus kritisch dekonstruiert und problematisiert. Mit der Devise eines pluralen Verständnisses verpflichtet sich der soziale Konstruktionismus zu Kritik und Emanzipation, mit dem Ziel, Bedingungen individueller und gesellschaftlicher Veränderungen aufzuzeigen sowie neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen (Winter, 2010, S. 123). Gergen entfaltet eine völlig neue Sichtweise auf psychologische und soziale Phänomene: Sein Ausgangspunkt ist nicht das Individuum, sondern das Soziale, die Kontextualisierung von Erfahrungen, aber auch die Sprache und Begriffe, die zur Versprachlichung zur Verfügung stehen beziehungsweise deren gesellschaftlich präskriptive Nutzung, um Erfahrungen zur Sprache zu bringen. Die Beziehungen zwischen Menschen und deren kontextuelle/soziokulturelle Einbettung, in denen Normierungen, Erwartungen und Zuschreibungen wirksam werden, stehen im Zentrum. Demzufolge sind Realitätsauffassungen, Wahrheit(en), Wissen, Erfahrungen und die eigene Identität (das Selbst) für den sozialen Konstruktionismus immer zutiefst sozial konstituiert, das heißt, der Blick ist immer auf die konkreten Lebensbedingungen des Alltags gerichtet. Kon­struktionen über sich und die Welt werden damit als im Alltag sowie als kollektiv, strukturell und interaktional verankert verstanden und kritisch als soziale und damit diskursive Produkte aufgegriffen.

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Aus der Kritik der Konstruktion eines autonom handelnden und vom Sozialen unabhängig kognizierenden Individuums entwickelte Gergen (1993) das sozialbezogene »relationale Selbst« (auch Beziehungsselbst genannt) als Gegenentwurf eines innerlichen selbstidentischen Denkkonzeptes von Identität und den damit verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen. Anstelle eines abgrenzbaren »Personalen« tritt in dieser Perspektive die Vielzahl von Beziehungen: »From the constructionist standpoint, relationship takes priority over the individual self: selves are only realized as a byproduct of relatedness« (Gergen, 1994, S. 249 zit. nach Zielke, 2004, S. 278). So schlägt Gergen vor, von unterschiedlichen »selves« einer Person zu sprechen (Gergen, 1991). Diese pluralistische Vorstellung des Selbst tritt an die Stelle für die Vielzahl inkohärenter und nicht miteinander verbundener Beziehungen; die verschiedenen »selves« eröffnen verschiedene Richtungen und ermöglichen die Übernahme widersprüchlicher Rollen. Das Selbst ist für Gergen nicht determiniert, sondern kann wählen und sich zwischen seinen Identitätskonstruktionen bewegen. Starre Vorstellungen von Charakterzügen und einer sogenannten »natürlichen Identität« werden aufgebrochen, sodass auch Widersprüchlichkeiten im Selbstkonzept Platz finden und »ausgehalten« werden können, weil sie dazugehören und es diese nicht zu überwinden gilt. Das Konzept von Identität und Persönlichkeit erfährt im sozialen Konstruktionismus und in der narrativen Praxis eine besondere Aufmerksamkeit. Identität wird im Sinne der im Sozialen erlebten Erfahrung und sozial vermittelter Bedeutungszuschreibung gefasst, im Gegensatz zur Bevorzugung eines theoretischen Verallgemeinerungsvokabulars, wie es in der auf »Störungen« ausgerichteten klinischen Praxis zur Anwendung kommt. Mit diesem Denkansatz verknüpfen sich zentrale Ausgangspunkte narrativer Praxis: Identität besteht nicht als Kern der Persönlichkeit, sie konstituiert sich narrativ im Vollzug der Erzählung. Grundlegend ist der dialogische Austausch als zirkuläre Kommunikation (kein lineares Wirkungsverständnis von Kommunikationsprozessen). Auch im sozialen Konstruktionismus spielt Sprache eine wichtige Rolle: »So wie die Sprache zwischen uns fließt, werden Lebensmuster gefestigt oder gelöst« (Gergen, 1991, S. 47). Im Begriff des relationalen Selbst greift Gergen auf Meads (1934/1998) Konzeption des sozialen Selbst zurück. Bei beiden werden Repräsentationen des Selbst als Spiegelung eines sozialen und gesellschaftlichen Prozesses verstanden. Gergen erweitert in seinem relationalen Selbstkonzept allerdings die vielfältigen Möglichkeiten von in unterschiedlichen Kontexten und unterschiedlichen Interaktionen sich herstellenden Selbstidentitäten. Michael White (2004) greift Gergens Konzept für die narrative Praxis mit der an Michel Foucault orientierten diskurskritischen Denktradition partiell

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auf. Wie auch im sozialen Konstruktionismus, so kritisiert er die essenziellen Annahmen, die dem Konstrukt einer sogenannten »autonomen Identität« zugrunde liegen. Eine solche psychologische Eigenschaftszuschreibung und -erwartung an Individuen und als anzustrebendes Ideal ignoriere bei der Theoretisierung die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und sozialen Beziehungen. Ein solches naturalisierendes Identitätsverständnis im Kontext von Therapie/Beratung perpetuiere eine epistemische Annahme von Identität als Besitz einer »innerlichen« Eigenschaft, die einem westlichen humanistischen Ideal einer »wahren« autonomen Identität entspringe. Durch eine an den gesellschaftlichen Erwartungen ausgerichtete Selbstinszenierung unterwürfen Individuen sich selbst und die anderen dem Zwang zur Vermarktung und Kapitalisierung der »eigenen« hierfür kultivierten sogenannten Ressourcen. In seinen Schriften »Narrative Practice and Exotic Lives: Resurrecting diversity in everyday life« nimmt Michael White (2004) das Verständnis von »Innerlichkeit« kritisch mit der Überschrift »Limitierung und Gefahren naturalistischer Annahmen über Leben und Identität« in den Blick: »These naturalistic accounts of identity construct powerful global or universal norms about life, norms that emphasise notions of ›wholeness‹, of ›self-possession‹ and of ›self-containment‹. In reproducing these global norms within the context of therapeutic conversations, therapists are implicated as agents in the operations of modern forms of social control. These are forms of social control that are based on the normalizing judgement of people’s lives« (M. White 2004, S. 134; Übers. HS). White greift hierbei Foucault’sche Denkansätze wie die Diskursanalyse auf und hinterfragt die Konstruktion von Identität/Selbst. Jene fachwissenschaftlich gestützten Identitätsvorstellungen autonomer Subjektivität basieren für Foucault nicht auf einer repressiven, auf Zwang basierenden Praxis, sondern dienen verdeckten Zwecken der sozialen Kontrolle (Foucault, 1976; Zielke, 2007). Diese, von Foucault so bezeichnete, »moderne Macht« funktioniere als Disziplinarmacht, die sich als Moment der Unterwerfung auf Körper und Leben von Personen richte. Konzeptbildungen über »das Psychische« sind mit Foucault in ihren verborgenen wissensgestützten Mystifizierungen und den daran gekoppelten Machtwirkungen zu demaskieren. Diesen Theoriestandort nimmt eine narrative Praxis auf: »Therefore, within narrative therapeutic conversation, not only clients’ stories, which are situated within their social and historical specific contexts,

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need to be unpacked but also the discursive or socially constructed therapeutic conceptual tools for understanding these stories« (Brown u. Augusta-­ Scott, 2007, S. XV).

Denkort Foucaults Wissen-Diskurs-Macht-Matrix in narrativer Praxis »You know I must say Foucault has been the most powerful academic influence in my work« (Michael White in einem Interview, zit. in Duvall u. Young, 2009, S. 14). Foucaults Machtanalyse war fundamental für White bei der philosophischtheoretischen Konzeptionierung seines Narrative-Therapie-Ansatzes. In einem direkten Vergleich zwischen traditioneller und moderner Macht zeigt er auf, dass in Prozessen moderner Macht viele vermeintlich persönliche Probleme im politischen, kulturellen und sozioökonomischen Kontext entstehen – und folglich auch nicht in das Innere des Subjekts zu verlagern sind (M. White, 2002, S. 35). White sieht in seiner Beratungsphilosophie eine fundamentale Kritik an bisherigen Therapie- und Beratungstraditionen als Formen der Ausübung moderner Macht: Während die soziale Kontrolle des Individuums bei traditioneller Macht durch ein institutionalisiertes moralisches Urteil von staatlichen Vertretern und Institutionen – also »von oben nach unten« – etabliert wird, ist dies bei moderner Macht das normalisierende Urteil der Mitmenschen. Führen traditionelle Machtmechanismen zur Unterdrückung und/oder Verbannung der Einzelnen, so wirken die Individuen unter modernen Machtmechanismen gemäß den konstruierten und internalisierten Normen an der Inszenierung ihres je eigenen Lebens und des Lebens anderer mit. Ist die Wirkweise traditioneller Macht durch einschüchternde Machtdemonstrationen gekennzeichnet, so wirkt moderne Macht über ein Normalitäts-Abnormalitäts-Kontinuum, dem sich Einzelne entsprechend den internalisierten Werten anhand von vorgegebenen Einstufungssystemen selbst zuordnen und damit zu unterwerfen gelernt haben (vgl. M. White, 2002, S. 44). Für Foucault sind es vor allem die wissenschaftlichen Disziplinen, die »charakterisieren, klassifizieren, bestimmen, nach bestimmten Werten und Normen [verteilen], den Einzelnen in eine Hierarchie [einordnen] und, falls notwendig, [ihn] disqualifizieren und verwerfen« (Foucault, 1979, S. 223, zit. nach White u. Epston, 1990, S. 43). Die Analyse von Macht in der Subjektwerdung von Menschen ist in der narrativen Praxis ein zentrales Moment, das eng an die Analyseperspektiven Foucaults zur Machtkritik und Machtanalyse seines Konzeptes der »modernen Macht« (Foucault, 1993, 2003) gebunden ist. Wissen und Macht sind für

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Foucault untrennbare Kräfte, sodass er sie zusammenzieht als »Wissen/Macht«. Macht kann nur im Einklang mit einem bestimmten System »wahrer Überlegungen« ausgeübt werden, welches durch die Verbindung dieser beiden Kräfte erst funktioniert. Wir unterliegen demnach der Produktion von Wahrheit durch Macht und wir können Macht nur durch die Produktion von Wahrheit ausüben. Es gehe darum, zu entdecken, wodurch Subjekte fortwährend, real und materiell geformt werden durch eine Vielfalt von Organismen, Kräften, Energien, Materialien, Wünschen, Gedanken und so weiter. »Wir sollten versuchen, die Unterwerfung in ihrer materiellen Erscheinungsform als Formung von Subjekten zu begreifen« (Foucault, 1980, S. 97, zit. nach White u. Epston, 2009, S. 36). Erweiternd hierzu: »By taking up poststructualist and Foucauldian themes and analysis that include an examination of self, cultural contexts, power/knowledge, the way power relations shape, legitimise and constitute personal narratives and the assumed neutrality of institutions (such as counselling) – that often seem unaware of their power/knowledge relationships – narrative therapy offers new ways of thinking about people and about therapy and counselling« (Besely, 2002, S. 127). Narrative Praxis verbindet sich hier mit Kritischer Theorie und Sozialer Arbeit, sich der Aufgabe zu stellen, Verdeckungsstrukturen aufzudecken, die oft unsichtbar, in Form subtiler, in der Selbstverständlichkeit des Alltags und in Institutionen eingeschriebener Regierungsformen von Nutzern als unsichtbare »Mikropraktiken der Macht« wirkmächtig sind. Diese erzeugen aufseiten der Fachkräfte wie Adressatinnen dominante Narrative, die die strukturellen Ursachen aus dem Sagbaren ausgrenzen. Daraus geht die Forderung sowohl für die Wissenschaft wie auch für die (psycho)soziale Praxis hervor, Diskurse, die Ungleichheit(en) produzieren oder verdecken, aufzudecken und zu dekonstruieren (vgl. Bitzan, 2021, S. 191).

Denkort Derridas Konzept der Dekonstruktion und das Konzept des »Abwesenden, aber Impliziten« Neben den die narrative Therapie stark beeinflussenden machtanalytischen Denkkonzepten Foucaults über moderne kontrollierende Macht und in der Folge der sich selbst dadurch kontrollierenden Subjekte stellen Jacques Derridas Überlegungen zur Dekonstruktion einen weiteren wesentlichen macht-

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kritischen Denkort für Whites narrative Therapie und narrative Praxis dar. Die Aufnahme Derridas Idee der Relationalität von Wörtern, Begriffen, Sprache ist eine weitere Anlehnung der narrativen Therapie an den sozialen Konstruktionismus, wodurch bisher prägende Lebens- und Denkweisen in die Wahrnehmung gebracht werden können und neue Perspektiven auf das eigene Leben und Erleben ermöglicht werden. Die Dekonstruktion Derridas geht von einer textuellen Konstruktion der Wirklichkeit aus und zeigt, wie Diskurse Realität und Subjektivität konstruieren (vgl. Winter, 2010, S. 126). Für Derrida ist Sprache nicht als ein abgeschlossenes und fixiertes System zu betrachten, sie ist niemals abbildtheoretisch aufzufassen. Die Möglichkeit der unendlichen Differenzierungen in einer Sprache führen zu neuen Bedeutungen und Sinnrahmen. Derrida versteht mit dem Begriff »différance« jene Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im Allgemeinen »historisch« als Gewebe von Differenzen konstituiert (vgl. Derrida, 1972/1990, S. 38). Das Wichtigste in Derridas Denkansatz der Dekonstruktion ist es, Spuren von Gegensätzen in Fluss zu bringen, sie also durch die Relationierung von Gegensätzen vom Selbstverständlichen herauszuheben. Die Dekonstruktion von Gegensätzen eröffnet neue Wege des Umgangs mit beziehungsweise in der Welt. Durch diese Sprachpraxis des Dekonstruierens zur Bedeutungserweiterung wird ein sprachlicher Ermöglichungsraum geschaffen, in dem Unvorhergesehenes und bisher Unbekanntes in den Blick geraten kann (Clark, 1992). Soulignac (2011, S. 197) bezieht sich dabei auf Derridas Aussage, die Dekonstruktion »sei die Widerständigkeit, der Besatzungsmacht nicht nachzugeben« (Soulignac, 2011, S. 197, Übers. HS). An diesem Punkt stimmen Michael White und Jacques Derrida vielleicht am stärksten überein: in der Widerständigkeit gegenüber den herrschenden Diskursen, die mit hierarchischen Binärpaaren die Menschen einsperren, die Sprache organisieren und, wie Wittgenstein erklärte, die Welt des Möglichen limitieren. Derrida kommentiert hierzu selbst: »Ich bleibe dabei, daß die Dekonstruktion nicht irrational ist. Sie zielt aber auch nicht darauf ab, eine neue Vernunft oder eine neue Ordnung von Vernunft hervorzubringen. Doch sie ist ein Symptom für die Veränderung der Ordnung von Rationalität, in der wir leben« (Derrida, 1986, S. 70 f.). Derridas Ideen zur Dekonstruktion beginnen mit einer »Dekonstruktion des Logozentrismus«, mit der Aufhebung der »Autorität der gesprochenen Sprache« (Derrida, 1986, S. 83). Er spricht davon, dass »Zeichen, die Spur oder der Text […] letztendlich nicht das [sind], was zeigt oder erscheinen läßt« (Derrida, 1986, S. 83). In Anlehnung an Derridas (1982) Konzept der Dekonstruktion kreierte

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Michael White (2000) die Begriffsfigur »absent but implicit« für eine Form narrativer Praktiken, in der er auf das Abwesende hinweist, das im Sprechen implizit (mit)gedacht wird: »Michael White used the term ›absent but implicit‹ to convey the understanding that in the expression of any experience of life, there is a discernment we make between the expressed experience and other experiences that have already been given meaning and provide a contrasting backdrop, which ›shapes‹ the expression being foregrounded« (Carey, Walther u. Russell, 2009, S. 319). Wörter, Beschreibungen werden damit nicht als Abbildung von Realität aufgefasst, sondern als relationale Beschreibung von dem, was auf der anderen Seite ist, auf die sich die Beschreibung unterscheidend bezieht (traurig – glücklich). »In therapeutic conversations, we can use the concept of the ›absent but implicit‹ to enquire into the stories of self that lie beyond the problem story« (Carey et al., 2009, S. 319). Mit dieser Praxis dialogischer Dekonstruktion wird versucht, binäre Gegensätze aus dem Schatten des Gesagten sichtbar zu machen, um die, neben der expliziten Wortwahl, mitschwingenden Bedeutungen als vernachlässigte Aspekte von Geschichten zu erweitern. In Gesprächen bedeutet das: »As we listen to the problem story, we can ask ourselves: What are the subjugated meanings that the problem story relies upon for its expression? How do these connect with stories of preference and how can we bring them forward?« (Carey et al., S. 321 bezugnehmend auf M. White, 2003). Um im Kontext von Gesprächen jenen dominanten problemzentrierten (»problem saturated stories«) Beschreibungen oder Geschichten aus dem Leben einer Person auf neue Spuren zu bringen, wird ein aufmerksames Zuhören sogenannte »double listening« (M. White, 2003, S. 30, Hervorh. HS) entwickelt, welches ein Potenzial für ein weites Feld narrativer Exploration eröffnet (M. White, 2003, S. 30). So können Leerräume, Lücken, verborgene Bedeutungen oder widersprüchliche Aussagen durch Relationierung dazu dienen, durch die Exploration nicht genannter, aber impliziter Begriffe neue Perspektiven zu beleuchten und in der Folge zu Neubetrachtungen zu gelangen.

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Durch Whites wissens-/macht-/diskurskritische Suchbewegungen und durch die Inspiration von Derridas Textdekonstruktion erhält die Sprache und der situative Gebrauch der Wörter als diskursive Praxis des Selbst bei der Entwicklung narrativer Ideen/Praxis besondere Aufmerksamkeit im Kontinuum von Unterordnung, Anpassung, Selbstdisziplinierung, aber auch Widerständigkeit wie Emanzipation: »From the ideas of Foucault, he [White] re-drew some emphasis in regard to the shaping forces of modern power on the constitution of the self and the key understanding that for every site of power there is a site of protest and resistance. People are never just passive receivers of what life throws at them, there is always some point of resistance« (Carey et al., 2009, S. 322). Widerstand wird von Personen in hilfesuchenden Gesprächen als deren Versuch gesehen, den Blick auf das Selbst und die Welt zu schützen, wenn diese durch potenzielle Veränderung bedroht sind (Richert, 2003; Murdock, 2009). In diesem negativ konnotierten Begriff des Widerstandes drückt sich aus, womit Menschen im Leben gerade zu kämpfen haben. Dies ist als Anzeichen einer aktiven Zuwendung zum eigenen Leben zu verstehen, statt mit einer problematischen Situation weiterzuleben zu wollen: »[W]e can hold an understanding that people are already taking action in accord with that preferred story, through the very act of their giving expression to the problem. […] In this way, expressions of distress, pain, concern, upset, or the complaints that people might make about the problem experience become actions taken in regard to the problem and these actions are founded upon preferred accounts of life and identity« (Carey et al., 2009, S. 322, Hervorh. i. Orig.). Derridas Konzept und Whites daran angelehnte Praxeologie wendet sich darüber hinaus auch gegen ethnozentristische Deutungshoheit, bei Derrida als postkoloniale Kritik, bei White als poststrukturalistische Anerkennung von Vieldeutigkeit. Unter Kritik stehen hier jene als »überlegen« konstruierten Diskurse mit wahrheitsbeanspruchender Auslegung von Bedeutung, die untergeordneten Diskurse erzeugen und unsichtbar werden lassen.

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Rückblick und Ausblick Der ehemals als narrative Therapie entwickelte Theorie-Praxis-Ansatz versteht sich als Reflexion normierender Beurteilungen. Die Selbstthematisierungen von Personen werden als Ausdruck verinnerlichter Diskurse »normgebender Beurteilung« verstanden, die in unterschiedlich professionell gerahmten Settings zur Sprache kommen (White u. Epston, 2009). Gegenstand ist die dialogische Reflexion und Dekonstruktion von Begrifflichkeiten, durch die wir die soziale Wirklichkeit wahrnehmen und herstellen, insbesondere die Selbstunterwerfung des Subjekts, das sich selbst unter normgebender Beurteilung diszipliniert. Als Theorie-Praxis Ansatz zeichnet sich eine narrative Praxis durch Diskurskritik verinnerlichter Macht-(Selbst-)Kontrollmechanismen und durch die Hervorbringung von Gegennarrativen aus. Abschließend nach der Reise zu einigen der zentralen Denkstandorte möchte ich narrative Praxis im Hinblick auf theoretisch-praxeologische Anknüpfungslinien mit Sozialer Arbeit zusammendenken. Die von mir ausgewählten Denkorte einer kontinuierlich sich selbst reflektierenden narrativen Praxis sind aus meiner Sicht anknüpfbar an Positionen einer kritischen Sozialen Arbeit, in der diskursanalytisch danach gefragt wird, wie Wissen formiert wird, welche Wissensformen durch (wissenschaftliche) Kolonialisierung unterdrückt werden – und (damit) dem Sprechbaren entzogen werden – und wie sich dies in Institutionen und deren Handlungslogiken/Interaktionen und subjektive Identitätsstrukturen spiegelt (Bitzan, 2021, S. 186 f.). Es wäre fatal, narrative Praxis als geschlossenes Denksystem, als eine »Schule von Therapie« zu verstehen: »Narrative Therapy is better defined as a world view […] but even this is not enough. Perhaps, it’s an epistemology, a philosophy, a personal commitment, a politics, a practice, a life« (M. White, 2004, S. 82, Hervorh. HS). Epston und White ging es um eine ständige Weiterentwicklung und Weiterarbeit ihrer Theorien und Praxen, als sie vor dreißig Jahren betonten: »[W]e regard to be an ›open book‹« (Epston u. White, 1992, S. 8 f.). Schreiben wir also weiter in das offene Buch einer machkritischen Beratungs-/Therapiepraxis.

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Kontexte des Familiengedächtnisses – Aspekte, Funktionen und Formen des Erinnerns und des Vergessens DIETMAR J. WETZEL

Einleitung und Überblick Die Prozesse des Erinnerns und des Vergessens sind zentrale, wiederkehrende und geradezu notwendige Vorgänge, die unsere alltägliche Lebensführung wesentlich prägen. »Wir sind Erinnerung«, so der Titel des Buches von Daniel L. Schacter (1999). Diese Erinnerungen manifestieren sich in verschiedenen Gedächtnisformen, die uns häufig nicht vollkommen bewusst, zeitweise sogar unbewusst sind (Markowitsch, 2011; Groppe, 2020). Über Wörter, Gerüche, Bilder, Empfindungen etc. können diese Eindrücke im Prinzip jederzeit in uns eine Erinnerung auslösen. Alles andere droht, zumindest vorläufig, im Meer des Vergessens verloren zu gehen (A. Assmann, 2016, Wetzel, 2011). Eine der wichtigsten Gedächtnisformen ist das Familiengedächtnis, wobei es sich um eine ebenso faszinierende wie selten systematisch erforschte Gedächtnisform handelt (Immler, 2014). Mit anderen Worten: Der umfangreichen und wachsenden Anzahl an empirischen Arbeiten steht eine kleine Zahl von theoretischsystematisch angelegten Werken gegenüber (Shore u. Kauko, 2018; Muxel, 1996, 2012; Boesen, 2012).1 In dem vorliegenden Text geht es mir darum, die aus meiner Sicht wichtigsten theoretisch-systematischen Arbeiten zum Familiengedächtnis zu prüfen und zu synthetisieren. Zu diesem Zweck wird das Familiengedächtnis in seinen Dimensionen und Aspekten analysiert und verdeutlicht. Den folgenden vier Fragen nimmt sich der Text an und versucht, Antworten zu formulieren: Ȥ Wie lässt sich das multikonstellative Verhältnis des Familiengedächtnisses zu anderen Formen des Gedächtnisses beschreiben? Ȥ Wie können wir das Familiengedächtnis analytisch erfassen und in seinen wichtigsten Dimensionen kennzeichnen?

1 Ein wichtiges Forschungsfeld stellen das Familiengedächtnis und der Holocaust dar, vgl. z. B. Wyrobnik (2005).

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Ȥ Welche Funktionen/Aufgaben erfüllt das Familiengedächtnis im Kontext der verschiedenen Formen des Erinnerns und des Vergessens? Ȥ Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Macht, Narrativen (narrativer Praxis) und Gedächtnis im Kontext des Familiengedächtnisses genauer beschreiben?

Das Familiengedächtnis im Kontext anderer Gedächtnisformen Eine isolierte Betrachtung des Familiengedächtnisses wäre verfehlt, vielmehr steht es, so meine Ausgangsüberlegung, in einem multikonstellativen Verhältnis zu anderen Gedächtnisformen (Groppe, 2020). Daher zeige ich im Folgenden die wichtigsten Bezüge zum kollektiven, kulturellen, kommunikativen, sozialen und autobiographischen Gedächtnis auf. Dabei geht es nicht um Vollständigkeit, sondern um ausgewählte Aspekte, die für die weitere Darstellung von Bedeutung sind. Bezüge zum kollektiven Gedächtnis Das Familiengedächtnis ist eine Form des kollektiven Gedächtnisses, obwohl jeder, der zu einer Familie beziehungsweise einer Gruppe gehört, den Akt des Erinnerns je individuell vollzieht (Wetzel, 2011). »[…] each individual memory takes place from a given perspective within the collective memory of the familial group. It changes with the individual’s evolving position in the life cycle, as well as in the wider society« (Muxel, 2012, S. 22). Anders gesagt: Mein Familiengedächtnis ist nicht mit dem Familiengedächtnis anderer Familienmitglieder identisch, wohl aber gibt es Überschneidungen, Schnittmengen, die für den sozialen Charakter dieser Gedächtnisform stehen. Wie bereits Maurice Halbwachs überzeugend gezeigt hat, werden Erinnerungen wesentlich über Rahmen (»cadres sociaux«) ermöglicht (Halbwachs, 1925/1985, 1992). Der spezifische Gedächtnisrahmen der Familie besteht für Halbwachs in der Form einer Erinnerungsgemeinschaft: »Diese Erinnerungen […] sind gleichzeitig Modelle, Beispiele und eine Art Lehrstücke. In ihnen drückt sich die allgemeine Haltung der Gruppe aus; sie reproduzieren nicht nur die Vergangenheit, sondern sie definieren ihre Wesensart, ihre Eigenschaften und Schwächen« (Halbwachs, 1925/1985, 209 f.). Eine Stärke des von Halbwachs derart konzipierten kollektiven Gedächtnisses besteht darin, dass dieses eine mehrfache Verortung des Individuums ermöglicht, »da jeder Einzelne Anteil an verschiedenen kollektiven Gedächtnissen mit den jeweiligen Rahmungen hat, z. B. als Teil der Familiengruppe, einer regionalen und generationellen Gruppe« (Radicke, 2014, S. 51). Dennoch haben die

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Abgrenzungsschwierigkeiten und die damit einhergehenden Unschärfen des Konzeptes eines kollektiven Gedächtnisses im Lauf der kritischen Auseinandersetzung mit Halbwachs zu notwendigen Differenzierungen geführt. Diese haben sich unter anderem in Untersuchungen und Beschreibungen verschiedenen Gedächtnisformen niedergeschlagen (Wetzel, 2009, 2011, 2019a). In ihrer an Norbert Elias angelehnten figurationssoziologischen Analyse, die die wechselseitige Abhängigkeit von Individuen betont, fokussiert Gabriele Rosenthal auf ein Verständnis des Kollektivgedächtnisses, bei dem Gruppierungen stärker in ihren Machtbalancen berücksichtigt werden. Sie zeigt auf, dass innerhalb von Gruppen Aushandlungsprozesse stattfinden. Der Vorgang des Erinnerns ist »bedingt durch die internalisierten sozialen Regeln und die in der Situation des Sprechens über Erinnerungen ausgeübte Kontrolle der ZuhörerInnen« (Rosenthal 2010, S. 157) und »mit er- bzw. entmächtigenden Praktiken verknüpft« (Meyer, 2020, S. 58). Das entspricht den Erkenntnissen des von Michael White und David Epston (White, 2009; White u. Epson, 2010) entwickelten narrativen Ansatzes in der Familientherapie bezüglich des Komplexes Macht und Wissen.2 Bezüge zum kulturellen Gedächtnis Aleida und Jan Assmann haben sich seit vielen Jahren um den Begriff des kulturellen Gedächtnisses verdient gemacht (A. Assmann, 2006; J. Assmann, 2007, vgl. auch Wetzel, 2019a). »Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-, -Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt« (J. Assmann, 1988, S. 15). Gleichfalls bezieht sich die Familie als Wir-Gruppe immer wieder auf Aspekte und Bestandteile des kulturellen Gedächtnisses. Kollektiv zugängliche Bilder, Texte und vor allem auch gesellschaftlich geteilte Rituale (Feiertage, Großereignisse) beeinflussen potenziell das Familiengedächtnis (Roberts, 2012), indem diese Erinnerungen beispielsweise archiviert werden und dem Miteinander einen Ort im Sinne sozialer Rahmen geben.3 2 Auf diesen an die Arbeiten von Michel Foucault und dessen Machtanalysen angelehnten Ansatz gehe ich später im Text genauer ein. 3 In diesem Sinne konstatiert Katinka Meyer in ihrer Studie zum »Wandel ostdeutscher Familiengedächtnisse« mit Blick auf die untersuchten Familiengedächtnisse: »In beiden Fällen verdeutlicht sich die Wirkmacht von gegenwärtigen Diskursen und dem kulturellen Gedächtnis sowie den darin enthaltenen Bilder auf Erinnerungen und Narrationen« (Meyer, 2020, S. 348).

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Bezüge zum kommunikativen und sozialen Gedächtnis Im Unterschied zum kulturellen Gedächtnis, das durch seine Alltagsferne gekennzeichnet ist, erscheint das durch seine Alltagsnähe zu begreifende kommunikative Gedächtnis als ein Kurzzeitgedächtnis. Dieses ist an den Menschen und dessen Begrenztheit gebunden, verbreitet sich durch Kommunikation und umfasst »etwa 80 Jahre, also drei bis vier Generationen« (Welzer, 2001, S. 13). Das über Generationen weitergegebene Gedächtnis unterliegt einem fortlaufenden Wandel und überschneidet sich mit dem Familiengedächtnis. Harald Welzer und seine Forschungsgruppe betonen in diesem Zusammenhang den persönlichen Willen (und die Fähigkeit), spezifische Erinnerungen zu rekonfigurieren, zu (re-)konstruieren und zu vergessen, um dergestalt eine moralisch integre Person zu erschaffen (Welzer, Moller u. Tschuggnall, 2015). Generell ist »das soziale Gedächtnis als die Gesamtheit der sozialen Erfahrungen der Mitglieder einer Wir-Gruppe« (Welzer, 2001, S. 15) zu begreifen. In Anlehnung an Peter Burke (1993) fallen unter eine so gefasste Sozialgeschichte des Erinnerns die Praxis der mündlichen Tradition, »der Bestand an konventionellen historischen Dokumenten wie Memoiren, Tagebücher etc. gemalte oder fotografische Bilder, kollektive Gedenkrituale sowie geographische und soziale Räume« (Burke, 1993, S. 15). Für grundlegend hält Welzer dagegen vor allem eine stärkere Hinwendung der Forschung zu den unbewussten und nicht intentionalen Praktiken des sozialen Gedächtnisses, »denn in ihnen scheint am ehesten aufgehoben zu sein, was uns immer schon zu geschichtlichen Wesen macht, auch wenn wir intentional gerade mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind, als Vergangenheit zu reflektieren oder zu verfertigen« (Welzer, 2001, S. 18). Im Unterschied zum sozialen Gedächtnis, das sich wesentlich auf die ähnlichen Erfahrungen bezieht, die eine Gruppe von Menschen in einem bestimmten zeitlichen Kontext (auch unbewusst) gemacht hat, geht es beim Generationengedächtnis vor allem um die Form der Erfahrungsverarbeitung. Der Erfahrungshintergrund der familiären Generation bestimmt die individuelle Wahrnehmung und Einordnung von Ereignissen. Über (unbewusste) Praktiken und Routinen, die beispielsweise bei Familienzusammenkünften reaktualisiert werden, kann das Familiengedächtnis aus dem Reservoir des ihm übergeordneten sozialen Gedächtnisses schöpfen. Dass dabei Familienmitglieder verschiedene Versionen der Familiengeschichte im Gedächtnis haben, ist der Normalfall: »[D]as ›Familiengedächtnis‹ bildet aber einen Rahmen, der sicherstellt, dass sich alle Beteiligten an dasselbe auf dieselbe Weise zu erinnern glauben. Das Familiengedächtnis hat, wie sich im Folgenden zeigen wird, eine synthetisierende Funktion, die die Kohärenz und Identität der intimen Erinnerungsgemeinschaft Fami-

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lie gerade dadurch sicherstellt, dass alle Beteiligten von der Fiktion ausgehen, sie würden über dasselbe sprechen und sich an dasselbe erinnern« (Welzer, 2005, S. 355).4 Eine Untergliederung des kollektiven Gedächtnisses in ein kulturelles und ein kommunikatives Gedächtnis wird insofern als gewinnbringend eingeschätzt, »als die Formen und Orte von Erinnerungen und Erinnerungspraktiken spezifiziert und Machtaspekte und Steuerungen von bestimmten Erinnerungen ansatzweise definiert« (Meyer, 2020, S. 63) werden können. Bezüge zum autobiografischen Gedächtnis Für Shore und Kauko ist das Familiengedächtnis »a subset of autobiographical memory. Autobiographical memory is the network of salient events (episodic memory) and information (semantic memory) underlying an individual’s sense of self« (Shore u. Kauko, 2018, S. 87). Alle Erfahrungen, die einen Selbstbezug aufweisen und die Individuen insofern selbst erlebt haben müssen, sind Teil des autobiografischen Gedächtnisses. Pohl (2010) hat im Wesentlichen drei funktionale Bereiche autobiographischer Erinnerungen identifiziert: 1. Selbstbezogene, intrapersonale Funktionen: »Bildung und Aktualisierung des Selbstkonzepts, diverse psychodynamische Funktionen und die Möglichkeit der Stimmungsregulation« (Pohl, 2010, S. 80). 2. Sozial-kommunikative (interpersonale) Funktionen: Herstellen sozialer Bezüge und deren Aufrechterhaltung, Empathiebekundungen und Selbstoffenbarungsakte. 3. Direktive Funktionen: »Bereitstellung von Wissen, Einstellungen und Meinungen. Die Fähigkeit zur Enkulturation, die Hilfe beim Problemlösen und bei der Planung zukünftiger Handlungen sowie die Erfahrungsweitergabe an andere« (Pohl, 2010, S. 80 f.). Die drei von Pohl (2010) genannten funktionalen Bereiche beanspruchen auch für das Familiengedächtnis Gültigkeit. Dass das Familiengedächtnis ein Garant und Lieferant für personale und soziale Identitätsprozesse im Sinne der Selbstbezogenheit ist, wurde bereits erwähnt. Darüber hinaus erfüllt das Familiengedächtnis ein eminent sozial-kommunikatives Bedürfnis seiner Mitglieder 4 Für Harald Welzer handelt es sich beim Familiengedächtnis um ein distributives Gedächtnissystem: »Die einzelnen Generationenangehörigen einer Familie nehmen ihre Vorfahren und deren Geschichten jeweils von einer anderen Zeitstelle aus wahr, was aber im Rahmen des Familiengedächtnisses so lange nicht zur Geltung kommt, bis etwas zutage tritt, was das sorgsam kultivierte fiktive Bild vom Vorfahren radikal in Frage stellt – und zwar für jeden Beteiligten auf eigene Weise« (Welzer, 2005, S. 358).

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nach Austausch, Gruppenreflexivität und Bestätigung. Schließlich dient das Familiengedächtnis als Wissensreservoir und als Ort, an dem Werte und Einstellungen ausgebildet und gepflegt werden (Wagoner, 2018).5

Übergreifende Kennzeichen des Familiengedächtnisses Ȥ Selektivität und Macht: »Das Gedächtnis ist immer eingeschränkt, denn es bezieht sich auf die Perspektive und Erfahrung eines Individuums oder einer Gruppe. Um etwas in dem Gedächtnis unterzubringen, bedarf es besonderer Anstrengungen« (Assmann, A., 2016, S. 67) Dieser Befund gilt für jede Gedächtnisform, insbesondere jedoch für das Familiengedächtnis. Nicht alle Familienerinnerungen werden gleich geteilt oder übereinstimmend erinnert. Die Frage stellt sich, wer in der Lage ist, sich in welchem Kontext an was zu erinnern und diese Erinnerungen anderen als wichtige zu vermitteln. In diesen Prozess des Auswählens und des aktiven Herstellens von Erinnerungen, beispielsweise durch Erzählungen, sind Machtprozesse, Hierarchien und Statuskämpfe involviert (Assmann, J., 1988). Ȥ Die Familie als sozialer Rahmen im Konstruktionsprozess von Erinnerungen: Jeder Erinnerung liegt ein Konstruktionsprozess zugrunde, das heißt, wir erinnern nie das tatsächlich Geschehene, sondern konstruieren aus der Gegenwart in die Vergangenheit (und in die Zukunft). Bereits für Halbwachs war der Ausgangspunkt jeder Erinnerung die Gegenwart. Ihm zufolge gehen wir von einem System der allgemeinen, uns stets verfügbaren Ideen aus. Diese manifestieren sich beispielsweise in der von der Gesellschaft geformten Sprache. Anders gesagt: Wir benutzen alle (symbolischen) Ausdrucksmittel, die uns die Gesellschaft zur Verfügung stellt, und dann kombinieren wir diese, »um entweder ein bestimmtes Detail oder eine Nuance vergangener Gesichter oder Ereignisse und allgemein unserer früheren Bewusstseinszustände wiederzufinden« (Halbwachs, 1925/1985, S. 55). Damit impliziert ist bei Halbwachs die Möglichkeit, sich falsch oder zumindest unvollständig

5 In diesen Kontext fügen sich die Überlegungen von Nina Leonhard zum Zusammenhang zwischen Biographie und kollektivem/sozialem Gedächtnis ein: »›Biographie‹ als eine Gedächtniskategorie zu denken, ermöglicht es, die soziale Prägung (auto)biographischer Kommunikation genauer zu bestimmen und ihre soziale Funktion in ihren unterschiedlichen Dimensionen zu erfassen« (Leonhard, 2018, S. 519).

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zu erinnern.6 Die Familie liefert so einen der ersten Gedächtnisrahmen für Individuen im Sozialisationsprozess (Erll, 2011). Ȥ Personale und soziale Identität: Dass das Familiengedächtnis ein Lieferant und Garant personaler und sozialer Identität ist, betonen unter anderem Shore und Kauko: »Family memory is a primary aspect of personal and social identity and is supported by a large number of cultural institutions, such as kinship terminologies, genealogies, naming systems, kin reckoning techniques, photographs, stories/historical narratives, coats of arms, tartans, secret knowledge, heirlooms, and ancestor shrines« (Shore u. Kauko, 2018, S. 85). An dieser Stelle wird nochmals deutlich, dass das Familien­ gedächtnis aus dem Reservoir des kulturellen und des kollektiven Gedächtnisses schöpft. Dadurch wird eine je eigene personale und soziale Identität aufgebaut (Amadini, 2015). Ȥ Inter- und Transgenerationalität: Dass es sich bei dem Familiengedächtnis um eine intergenerationelle Erinnerungsform handelt, betont Astrid Erll: »Das Familiengedächtnis ist ein typisches intergenerationelles Gedächtnis. Seine Träger sind all jene Familienmitglieder, die den Erfahrungshorizont des Familienlebens teilen. Ein derartiges kollektives Gedächtnis konstituiert sich durch soziale Interaktion (durch gemeinschaftliche Handlungen und geteilte Erfahrungen) und durch Kommunikation (wiederholtes gemeinsames Vergegenwärtigen der Vergangenheit). Durch mündliche Erzählungen, bei Familienfesten etwa, haben auch diejenigen am Gedächtnis teil, die das Erinnerte nicht selbst miterlebt haben. Auf diese Weise findet ein Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen und Nachkommen statt. Das kollektive Generationengedächtnis reicht daher so weit, wie sich die ältesten Mitglieder der sozialen Gruppe zurückerinnern können« (Erll, o. J.). Aber nicht nur zwischen den Generationen findet ein Austausch statt, involviert ist vielmehr zudem eine generationenübergreifende Dimension, bei der es um die einen längeren Zeitraum umfassende transgenerationale Weitergabe geht (Wiegand-Grefe u. Möller, 2012).

6 Aus einer konstruktivistischen Perspektive macht eine solche Unterscheidung in »falsche« und »wahre Erinnerungen« keinen Sinn, vgl. zur Problematik Kühnel und Markowitsch (2009).

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Konzeptionelle Überlegungen und Anschlüsse Aus einer konzeptionellen Sicht stelle ich in diesem Kapitel den Ansatz der französischen Soziologin Anne Muxel dar. Diese hat sich theoretisch und empirisch mit dem Familiengedächtnis auseinandergesetzt (Muxel, 1996, 2012). Die bislang eher spärlich gebliebene Rezeption dieser instruktiven Arbeiten, allen voran »Individu et mémoire familiale« (Muxel, 1996), verwundert. Das Modell von Anne Muxel – zentrale Befunde Folgen wir der klassischen Gedächtnisforschung, manifestieren sich Gedächtnis und Erinnerung hauptsächlich in zwei Formen.7 Die erste Form hat schon Maurice Halbwachs in den Rahmen einer individuellen Persönlichkeit beziehungsweise eines persönlichen Lebens gestellt. Gemeint ist das individuelle Gedächtnis, das wir mit Aleida Assmann als das »dynamische Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung« (A. Assmann, 2002, S. 184) begreifen. Die zweite Form ist eher unpersönlich und betrifft Erinnerungen, die in erster Linie mit der Gruppe und dadurch mit dem kollektiven Gedächtnis verbunden sind (Muxel, 2012, S. 22 f.). Ich folge Evelyne Favart-Jardon (2002), wenn diese bei Muxel grundsätzlich zwei Typen von Familiengedächtnissen als voneinander zu unterscheidende ausmacht. 1. Zum einen identifiziert Favart-Jardon ein »intimes Gedächtnis« (»intimate memory«), welches persönlich, subjektiv, emotional und autobiographisch gefärbt und schwer zu kommunizieren sei. Dieses »innere Gedächtnis« entzieht sich weitestgehend der Kontrolle von außen und besticht durch seinen singulären und je individuellen Charakter. 2. Zum anderen existiert ein fiktives Gedächtnis (»made-up-memory«), das stets die Einzelpersonen als Träger impliziert, aber von der Familiengruppe anerkannt und sanktioniert wird. Dieses Gedächtnis wird gemeinschaftlich geregelt und kodifiziert. Insofern ist hier die Referenz die Gruppe (oder bestimmte Gruppenmitglieder), die über den Inhalt dieses fiktiven Gedächtnisses mitbestimmen. Da es weniger emotional ist, ist es normativer und repräsentiert die Identität der Familie (Favart-Jardon, 2002, S. 310).

7 Mit Müller-Funk können wir Gedächtnis und Erinnerung idealtypisch wie folgt unterscheiden: Erinnerung ist »die spontane, unwillentliche Wiederkehr persönlicher Ereignisse, schmerzhafter, lustvoller und peinlicher Begebenheiten, während Gedächtnis auf die rationale, willentliche Anstrengung zielt, all unsere mentalen Kapazitäten aufzubieten: Wissen, Information und kulturelle Techniken« (Müller-Funk, 2007, S. 264).

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Macht, Narrative und Gedächtnis8 Bei jeder Bestimmung des Familiengedächtnisses ist zu berücksichtigen, dass es Rivalitäten und Unstimmigkeiten bezüglich der (hierarchischen) Position gibt, die Menschen in der Familie einnehmen. Welche Narrative rufen sie, beispielsweise in einer Interviewsituation, ins Leben, und welche werden von diesen verschwiegen oder marginalisiert? Die Orientierung an Normen, Werten und subjektiven Überzeugungen spielt dabei eine vorrangige Rolle. Im Zweifelsfall neigen Menschen dazu, wenn beispielsweise für sie (und andere) wichtige Dinge oder weitreichende Entscheidungen verhandelt werden, ihre eigenen Positionen und Versionen einer Geschichte zu verteidigen. Damit ist das Thema Macht in seinen vielfältigen Facetten angesprochen (Wetzel, 2019b). Dass Macht im Kontext von Erzählungen eine besonders wichtige Rolle bekleidet, haben Michael White und David Epston für den narrativen Ansatz herausgearbeitet (White u. Epston, 2010; White, 2009). In Anlehnung an die wegweisenden Arbeiten Michel Foucaults betonen die beiden Therapeuten nicht nur die repressiven Aspekte von Macht, vielmehr begreifen sie Macht und Wissen, insbesondere im produktiven Zusammenspiel, als gestaltende Kräfte (White u. Epston, 2010, S. 32 f.). Als ein wichtiger Punkt fungiert in diesem Zusammenhang die normierende Beurteilung, der sich gerade auch Familienmitglieder ausgesetzt sehen. Man fragt sich, wie lassen sich Menschen dazu bringen, »aktiv ihre eigene Unterwerfung zu betreiben. Wenn Menschen sich fortlaufend einer Beurteilung nach bestimmten institutionalisierten Normen ausgesetzt sehen und solche Beurteilung jeweils isoliert wahrnehmen, werden sie zu ihren eigenen Überwachern« (White u. Epston, 2010, S. 37). Der von White und Epston betonte produktive Einsatz von Macht führt zu einem Selektionsprozess, der die eigentliche Pluralität des Familiengedächtnisses nicht leugnet, diese jedoch zur konstruktiven, auf Konkurrenz fokussierten Arbeit von Individuen und Gruppen werden lässt: »Family memory is thus plural; it is the story of a history and its reconstruction. With each generation, a selection process occurs, both at the individual and collective level, according to emotional, symbolic and social stakes, which are not always easily detected. Family memory is the process of selection, of updating the past, the product 8 Wolfgang Müller-Funk hat sich ausdrücklich für eine Verknüpfung von Theorien des Narrativen und dem kulturellen Gedächtnis ausgesprochen: »Dabei geht es vor allem darum, daß alle Formen des Gedächtnisses explizit oder implizit auf retrospektiven, das heißt zeitverschobenen Narrativen basieren, die den unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen Erzählzeit (Zeit der Erzählung) und erzählter Zeit (Zeit der Handlung) zu überwinden trachten« (Müller-Funk, 2007, S. 251).

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of which are the memories. The memory is an individual updating depending on groups of belonging. Family memory also shows an individual’s worldview« (Favart-Jardon, 2002, S. 310). Anne Muxel (1996, 2012) hat in ihrer empirisch-theoretischen Auseinander­ setzung nicht nur die Funktionen des Familiengedächtnisses, sondern dessen Gebrauchsweisen, den narrativen Bezugsmodus, den Status des familiären Diskurses, den Zeitbezug und die Rolle des Vergessens systematisch aufgearbeitet. Dies verdeutlicht die Übersicht in Tabelle 1. Tabelle 1: Die Funktionen des Familiengedächtnisses und seine Ausprägungen (Muxel, 2012, S. 31; Übers. DJW) Funktionen des Familiengedächtnisses

Verwendungsweisen des Gedächtnisses

Erzähl­modus

Diskurs­ status

Zeit

Rolle des Vergessens

Transmission

Eine kollektive Identität erhalten

Uns

Normativ Kollektiv

Historische Vergangenheit

Einführung neuer Elemente, neuer Bezüge und neuer Werte

Wieder­ erleben

Die Vergangenheit vergegenwärtigen

Mich

Subjektiv Persönlich

Atemporal

Ein Schutz für sich selbst

Reflexivität

Die Vergan­ genheit be­werten und einen vorausschauenden Blick in die Zukunft entwickeln

Ich

Objektivierung der Vergangenheit Persönlich

Retrospektiv

Ein Mittel, um sich der Wahrheit zu nähern

Aspekte und Funktionen des Familiengedächtnisses Es folgt eine Auflistung der Aspekte und Funktionen des Familiengedächtnisses: Ȥ Transmission: Diese Funktion ist der Kontinuität der Familiengeschichte gewidmet und hat die Aufgabe, familiäre, individuelle und gruppenspezifische Besonderheiten aufrechtzuerhalten. »Memory is used to transmit attributes that the familial group wants to conserve, and which are essential for the continued maintenance of a collective identity from one generation to the

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next« (Muxel, 2012, S. 28). Zu berücksichtigen ist dabei, wer über die Macht und die Position verfügt zu entscheiden, was übertragen werden muss und was nicht. Zudem steht das Ringen um die kollektive Identität einer Gruppe fortlaufend in einem Austauschprozess mit der Geschichte, genauer gesagt mit Vergangenheit und Zukunft (Niethammer, 2000, S. 314 f.). Bei der Transmission spielen drei Arten von spezifischen Erinnerungen eine einflussreiche Rolle: (1) Das archäologische Gedächtnis, welches die Frage nach der eigenen Herkunft beantwortet. (2) Das referenzielle Gedächtnis mit einer Konzentration auf Werte, »eine Art familiärer Rahmen mit spezifischen Werten, Erfahrungen und Referenzen, die als Leitlinie für die Bildung und Interpretation des gegenwärtigen Wertesystems des Individuums dienen können« (Niethammer, 2000, S. 28). (3) Das rituelle Gedächtnis, mit dem die Familie den Familiengeist und die Gruppenidentität betont. Diese Gedächtnisform gibt der Familie eine »Seele«. Ȥ Wiedererleben: Die Funktion, die das Wiedererleben (ein Revival) vergangener Ereignisse und Situationen, emotionaler Erfahrungen und persönlicher Erlebnisse regelt. Hier ist das sensorische Gedächtnis dominant. Charakteristisch für diese Erinnerungen ist, dass sie die Wahrnehmung der Zeit aufheben. Als Folge davon erfährt das Individuum einen Eindruck von Ewigkeit (Niethammer, 2000, S. 29). Ȥ Reflexivität: Diese Funktion hat die Aufgabe, ein kritisches, konstruktives Bild der eigenen Person anzubieten. Dabei wird die Vergangenheit bewertet. Der Prozess des Erinnerns ermöglicht dem Einzelnen, eine gewisse Distanz zur Vergangenheit herzustellen und gleichzeitig eine prospektive Vision seines zukünftigen persönlichen Lebens zu entwickeln (Niethammer, 2000, S. 29 f.). Insgesamt hat das Familiengedächtnis die Funktion »den transgenerationellen und überhistorischen Zusammenhang der Wir-Gruppe« herzustellen und die »Fiktion einer gemeinsamen Erinnerung und Geschichte« (Welzer, 2002, S. 155 f.) abzusichern.

Fazit: Das Familiengedächtnis im Kontext Das Familiengedächtnis im Kontext weiterer Gedächtnisformen: Die Konfrontation des Familiengedächtnisses mit anderen Formen des Gedächtnisses hat die vielfältigen Verflechtungen verdeutlicht. Des Weiteren wurde vor allem durch den Bezug auf das Modell von Anne Muxel über die verschiedenen Funktions-

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weisen des Familiengedächtnisses aufgeklärt. Die Konzentration auf die Prozesse der Transmission, die Rituale des Wiedererlebens und die Akte der Reflexivität stellen drei Funktionen dar, die für die empirische Analyse von Narrativen und Erinnerungsprozessen insgesamt hervorzuheben sind. Kollektiv- und Individualgedächtnis: Wie bereits Angela Keppler in ihrer Analyse von familiären Tischgesprächen gezeigt hat, bilden sich Erinnerungen »im wechselseitigen Gespräch zwischen den einzelnen Mitgliedern […] Jeder trägt hierzu seine Sicht bei und füllt ›Erinnerungslücken‹ der anderen und Leerstellen auf. So entsteht das (fiktive) Familiengedächtnis schließlich in einem von allen Mitgliedern getragenen, kommunikativ sich ergänzenden und konstruktiven Prozess« (Wyrobnik, 2005, S. 341). Wandel des Familiengedächtnisses: Durch das (Wieder-)Erzählen, aber auch durch die Praktiken des (Ver-)Schweigens und des Vergessens unterliegt das Familiengedächtnis einem beständigen Wandel. Genau genommen existiert ein kohärentes Familiengedächtnis »in der Vorstellung des jeweils einzelnen Gruppenmitglieds und auch nur so lange, wie die Familie nicht zerbricht und eine gemeinsame Verfertigung damit unmöglich wird« (Meyer, 2020, S. 68). Durch den beschleunigten Wandel der Familien- und Lebensformen lässt sich ein Trend Richtung Singularisierung, radikale Individualisierung und Polarisierung verzeichnen, der nicht ohne Auswirkung auf die Gedächtnisformen bleiben wird. »In der Konfrontation mit Kollektivgedächtnissen und anderen kollektiven Wissensbeständen verändern sich also auch die subjektiven Perspektiven auf das Familiengedächtnis. Die Veränderungen des Kollektivgedächtnisses, wie Halbwachs sie zeichnet, haben sich in Zeiten von flexibleren Lebensentwürfen und der überholten Vorstellung einer lebenslangen Kernfamilie durch Patchworkfamilien, (zeitweilig) Alleinerziehende und andere Familienkonzepte beschleunigt und vervielfältigt« (Meyer, 2020, S. 66). Zukünftige Forschung: Macht, Narrative und Gedächtnis: Eine empirische Konkretion des Familiengedächtnisses hätte zu zeigen, inwiefern und mit welchen Mitteln sich eine einheitliche Familiengeschichte überhaupt unterstellen lässt. Hierbei spielt die von Alfred Schütz herausgearbeitete Reziprozität der Perspektiven (Schütz, 1971) eine wichtige Rolle, und zwar in dem Sinn, dass wir das Familiengedächtnis kommunikativ und intersubjektiv herstellen und dieses dadurch an Kohärenz für die Mitglieder gewinnt. Unter Einbezug narrativer Ansätze müsste nicht länger vom Kollektiv (des Familiengedächtnisses) aus gefragt werden, »sondern vom Erinnerungssubjekt her [gedacht], das seinen lebensgeschichtlichen Erinnerungsbedürfnissen gemäß eine bestimmte Familiengeschichte konstruiert oder verwirft« (Gebhardt, 2006, S. 95). Der Faktor Macht führt hier nicht nur im Familienkontext zu einem Selektions-

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prozess, sondern zur Konstruktion einer, genauer gesagt vieler Erzählungen, die miteinander konkurrieren und sich dabei immer aus dem Zusammenspiel von Prozessen des Erinnerns und des Vergessens begreifen lassen.

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Erzählen schafft Erinnerung. Die Verkörperung und transgenerationale Bedeutung von Geschichten in Familien ARIST VON SCHLIPPE

Allgegenwart der Erzählungen »Wie konnte [das] (…) aussehen, dass das Erzählen die Erinnerungen erst schuf? Ging es darum, dass die verschiedenen Erzählungen sozusagen immer mehr zusammenwuchsen? Sich etwas zu eigen machen [stand da] – da dachte man zunächst an ein Stück Substanz, einen festen Kern, der um das Neue, das bisher draußen geblieben war, erweitert wurde. Aber einen solchen festen Kern […] konnte es (…) nicht geben, denn was für das eine Stück Erinnerung galt, galt für alle. War er bereit zu der Behauptung, dass ein Selbst, eine Person im psychologischen Sinne des Wortes, gar keinen festen Kern besaß und überhaupt nichts von einer Substanz an sich hatte, sondern ein dauernd sich erweiterndes und einer fortwährenden Umschichtung unterworfenes Gespinst von Geschichten war – ein bisschen wie ein Gebilde aus Zuckerwatte auf dem Jahrmarkt, nur ohne Materie? Perlmann wurde schwindelig bei dem Gedanken, und aufgeregt nahm er den nächsten Absatz in Angriff«  (Mercier, 1997, S. 151). Geschichten sind, zumindest seit Menschen sich mittels Sprache verständigen, ein wesentlicher Bestandteil der Conditio humana. Die »Allgegenwart der Erzählungen« (Bruner, 1997), über die Menschen sich in »selbstgesponnene Bedeutungsgewebe« verstricken (Geertz, 1997, S. 9), berührt elementare Fragen unseres seelischen und sozialen Lebens: »Wir träumen narrativ, tagträumen narrativ, erinnern, antizipieren, hoffen, verzweifeln, glauben, zweifeln, planen, revidieren, kritisieren, konstruieren, klatschen, hassen und lieben in narrativer Form« (Hardy, 1968, zit. nach Krauss, 2000, S. 170), wir »narrativieren […] alles und jedes, was uns überhaupt ins Bewusstsein tritt« (Jaynes, 1988, S. 85). Es sind Geschichten, die das Bild formen, das ein Mensch von sich selbst hat und in das persönliche Erfahrungen und die familiären Erzählwelten einfließen, in die er hineingeboren wurde. Sie machen seine Selbstbeziehung, seine »narrative

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Identität« aus (Krauss, 2000; Straub, 2019). Wie wir heute wissen, sind sie kein »Foto« des eigentlichen Geschehens, sondern, wie das Zitat des Schweizer Philosophen Pascal Mercier zeigen soll, als aktive Konstruktionen des Bewusstseins nur locker daran gekoppelt (Jaynes, 1988, S. 40 ff.). Zugleich sind sie dynamische soziale Ereignisse, eine »Pluralität von Wahrheiten« (Kossert, 2020) entsteht, indem sie in den verschiedensten Kontexten, in der Familie, aber auch unter Freunden, in der Schule, in Organisationen und so weiter wieder und wieder erzählt werden und sich auch nichtsprachlich, als »symbolische Performanz« szenisch und körperlich vermitteln (Mattes u. Musfeld, 2005, S. 7): »Viele der Stimmlosen erzählen eigentlich die ganze Zeit. Sie sind laut, wenn du ihnen nur nahe genug kommst, um sie zu hören, wenn du fähig bist zuzuhören und wenn du spürst, was du nicht hören kannst« zitiert Kossert (Mattes u. Musfeld, 2005, S. 27) den vietnamesischen Schriftsteller Viet Thanh Nguyen. Zugleich passiert all dies nicht im luftleeren Raum, sondern eingebettet in größere Kontexte. Geschichten sind untereinander vernetzt und in dynamischer Bewegung (Müller, 2020). Kultur und Gesellschaft stellen Schemata bereit, die nahelegen, wie Erfahrungen einzuordnen sind, und liefern ein Reservoir kulturell etablierter Narrative (Brockmeier, 2006; Kriz, 2017, S. 192; Straub, 2019, S. 83), die Strukturen anbieten, wie Ereignisse zu deuten sind. »Das menschliche Denken ist durch und durch gesellschaftlich« (Geertz, 1997, S. 133). Auf einer noch elementareren Ebene haben wir es mit sprachlichen Mechanismen zu tun, die an der Erzeugung von »Wirklichkeit« beteiligt sind. Wir tendieren dazu, Sprache als Werkzeug der Weltaneignung zu betrachten und die von ihr eingebrachten Selbstverständlichkeiten nicht weiter zu hinterfragen. Doch »bei unserer Wahrnehmung der Welt vergessen wir alles, was wir dazu beigetragen haben, sie in dieser Weise wahrzunehmen« (Varela, 1981, S. 306). Unser soziales Leben ist ohne die bereits in der Sprache angelegten Beschreibungsformen nicht denkbar. Dazu ist so viel geschrieben worden, dass es müßig ist, dies noch einmal zu thematisieren. Für Jaynes etwa ist Sprache ein »Wahrnehmungsorgan« (Jaynes, 1988, S. 67) und Wittgenstein sieht ihre Grenzen zugleich als die Grenzen der (genauer: »meiner«) Welt (Wittgenstein, 1968, S. 90). In der Sprache sieht er »eine ganze Mythologie« niedergelegt, die alles auf die Form zu bringen sucht, die ihr selbst entspricht (Wittgenstein, 1994, S. 337), sie liefert so eine Art eigener »Erkenntnistheorie«, etwa indem sie die Strukturierung in Subjekt, Prädikat, Objekt erzwingt und die darin implizierte Logik der Kausalität als selbstverständlich unterstellt. Auf dem Weg von der Erfahrung zur Geschichte passiert vieles, es wird ausgewählt, selegiert und strukturiert – die Geschichte »ist« nicht die Erfahrung, vielmehr erzeugt sie sie neu: Erzählen und Erinnern sind somit aufs Engste verwoben.

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Wenn wir das Thema »Geschichten« in den Blick nehmen, sind wir mit den Erzeugungsmechanismen des Mediums »Sinn« konfrontiert. Psychische und soziale Systeme teilen sich dieses Medium, das damit eine Brücke zwischen Bewusstsein und sozialen Vorgängen bildet: »Sinn […] ist dafür verantwortlich, dass in einem permanenten Prozess Bewusstsein an Bewusstsein und Kommunikation an Kommunikation anschließt« (Kirchmeier, 2012, S. 117 f.). Zugleich stößt man damit zwangsläufig auf Fragen nach Wahrnehmung und Gedächtnis. Nach welchen Gesetzmäßigkeiten werden welche Erfahrungen hochselektiv in persönliche Geschichten verwandelt (und welche nicht?) und was bedeutet es, wenn diese Geschichten über Kommunikation ins soziale System gelangen, wenn also eine individuelle Erfahrung über Generationen hinweg in das kommunikative Gedächtnis einer Familie eingeht (Bleakney u. Welzer, 2009; Welzer, 2005)? Dieser letzte Punkt soll hier schwerpunktmäßig behandelt werden. Es soll weniger um die Bedeutung von Erzählungen für die Identität einer Person gehen (hierzu etwa Straub, 2019), sondern um die Frage, wie Geschichten über die Generationen weitergegeben werden, wenn also das Erzählen zur Erinnerung wird. Es soll diskutiert werden, wie sich diese Geschichten vermitteln und was sie für Familienmitglieder späterer Generationen, die sie nicht selbst erlebt haben, bedeuten.

»… stories under their skin«: In eine Welt aus Geschichten hineingeboren Im Jahr 2008 waren mein israelischer Freund und Kollege Haim Omer und ich zu einer Seminarreise nach Polen aufgebrochen. Wir kannten uns damals seit etwa zehn Jahren, ich hatte in der Zeit mit daran gearbeitet, Haims Konzepte der Übertragung der Ideen des gewaltlosen Widerstands in den Bereich der Beratung hilfloser, überforderter Eltern im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen (siehe z. B. Omer u. von Schlippe, 2004). Wir waren nun von Veranstaltern in Poznań und Kraków eingeladen worden, diese auch in Polen bekannt zu machen. Für uns beide war dies ein bewegendes Vorhaben aus ganz verschiedenen Gründen, für Haim noch mehr als für mich. Haims Eltern hatten das Kriegsende als Jugendliche in Polen im Konzentrationslager erlebt, der größte Teil der Familie war ermordet worden, die Überlebenden hatten Unvorstellbares erlebt. Bis in die Gegenwart war in seiner Familie allein das Wort »Polen« assoziiert mit Schrecken und Entsetzen. Doch auch für mich war insbesondere Poznań ein wichtiger Ort, an dem mein Vater als Jugendlicher gelebt hatte und als Achtzehnjähriger unweit von dort in seinem

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ersten und einzigen Gefecht schwer verwundet worden war (Omer u. von Schlippe, 2011). Er entstammte einer deutsch-baltischen Familie, die 1939 aus Riga nach Poznań, damals Posen, umgesiedelt worden war. Die Geschichten, die ich als nach dem Krieg Geborener aus jener Zeit kenne, waren und sind bedrückend, etwa wie unserer Familie nach der Umsiedlung eine Wohnung in Posen zugewiesen wurde, aus der die polnischen Bewohner kurz zuvor vertrieben worden waren. »Sogar«, so wurde immer wieder mit Empörung erzählt, »das Frühstücksgeschirr hatte noch auf dem Tisch gestanden …!« Haim und ich kamen am Vorabend des Seminars in Poznań an, die Veranstalter hatten uns zum Essen eingeladen. Wir lernten Maria kennen, die uns als Dolmetscherin die Tage über begleiten sollte. Schnell entstand ein von großer Herzlichkeit getragenes Gespräch über dies und das. Bald begannen wir, einander die Geschichten zu erzählen, die uns mit dem Ort, mit dem Land und zugleich mit unseren Familien verbanden. Es waren Geschichten, mit denen wir groß geworden waren, Erzählungen über Dinge, die wir gar nicht selbst erlebt hatten, sondern die unseren Familien in den Jahren des Krieges widerfahren waren. Haim begann, er berichtete davon, was seine Eltern über die Zeit erzählt hatten, welchen Umständen sie ihr aus damaliger Sicht sehr unwahrscheinliches Überleben zu verdanken hatten und welche Vorbehalte es in der Familie bis heute gegenüber Polen gab. Dann erzählte ich von der Familie meines Vaters. Bei dem Punkt, an dem es um die requirierte Wohnung ging, begann Maria zu weinen. Sie könne jetzt nicht mehr zuhören: Ihre Familie habe die genau dazu passende Kontrasterfahrung erlebt, war gezwungen worden, die Wohnung zu verlassen, damit eine baltendeutsche Familie dort einziehen konnte, man stand auf der Straße, mittellos, wohnungslos, im Krieg. Für uns alle war die Szene sehr bewegend. Und es dauerte ein wenig, bis uns ein Gedanke aus dieser Stimmung heraustrug: Trotz allem, was da vor Jahrzehnten passierte und was ja auch noch immer mittelbar mit uns zu tun hat, können wir drei jetzt hier zusammensitzen, die Geschichten hören, darüber erschrecken, gemeinsam darüber weinen – und wir können all dem zum Trotz auch gemeinsam lachen! Und genau das taten wir in den folgenden Tagen vielfach. All die Gewalt und Grausamkeit hatten es nicht verhindern können, dass wir ein herzliches Verhältnis zueinander entwickelten. Und so gelang es uns, im Wissen um die schweren Geschichten der vorhergehenden Generationen neue, gute Geschichten entstehen zu lassen. Sehr gern denke ich an den Abend und die Tage zurück, die Erfahrung hatte etwas Heilsames – wohl für uns alle.

Keiner von uns dreien hatte die Geschichten, über die wir sprachen, selbst erlebt. Wie lässt sich die Intensität erklären, mit der wir auf sie reagierten? Wir waren jeder in eine Welt aus Geschichten hineingeboren worden, die es lange

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vor uns gab. Diese gingen uns buchstäblich »unter die Haut«: »All families tell stories […] and their members grow up and walk around with their stories under their skin« (Frantz, 1991, S. 85). Wir hatten an den Erfahrungen derer teilgehabt, die uns dies erzählt hatten, und an den Bildern von der Welt, die sie daraus abgeleitet hatten. Unser Dreiertreffen führte uns sehr konkret vor Augen, was es heißt, in eine Menge verknüpfter Geschichten eingebunden zu sein (Bruner, 1997, S. 107). Als Nachkriegskinder hatten wir sie aufgenommen, die darin vermittelten Gefühle geteilt und mitgetragen. Mehr noch, wir merkten an unserem Austausch, dass es um Geschichten geht, die als Facetten »nomadischen Lebens« (Olthof, 2017; siehe auch Kapitel Das nomadische Team: Zusammenarbeit in der narrativen Psychotherapie, S. 165) mit der Historie unserer Völker verbunden waren. Diese Geschichten bewegen sich im Kontext komplexer kultureller Bezugsgewebe, die die Familiengrenzen überschreiten und die individuellen Geschichten in größere Zusammenhänge stellen (Fritz, 2019). Dann können sie eine besondere Bedeutung für die Einordnung von Ereignissen bekommen. Die Erfahrung von Poznań wurde für mich noch in einer anderen Hinsicht zu einem Schlüssel: Jede Geschichte ist eine Beschreibung. Und so wie es im Tractatus heißt: »Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein« (Wittgenstein, 1968, S. 91), so muss auch eine erzählte Geschichte kein Endpunkt sein. Es ist immer möglich, auf ihr aufzubauen und ihr eine Wendung zu geben – auch wenn das Geschehen selbst unverändert bleibt.1 Einschränkend soll an dieser Stelle gesagt sein, dass ein Umstand es uns leichter gemacht hatte, einander zuzuhören und uns in den jeweils anderen einzufühlen: Wir konnten uns alle auf der Opferseite sehen, es waren Geschichten von Leid, das unsere Familien erlebt hatten, keiner war auf der Täterseite gewesen. Es ist sehr viel schwerer, Tätergeschichten aus dem Tabubereich herauszuholen und zu verarbeiten. Da sie sich oft im Nichterzählen, im Nebelhaften vermitteln, sind sie besonders schwer zu erzählen und weiterzuentwickeln (Bleakney u. Welzer, 2009, S. 19).

1 Ein kleiner persönlicher Einschub an dieser Stelle: Ich habe mich immer an einer beliebten Formulierung gestört, die Milton Erickson zugeschrieben wird: »Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben!« Es ist meines Erachtens ein Missverständnis therapeutischer Arbeit, zu denken, wir befassten uns mit Ereignissen! Wir befassen uns nur mit der spezifischen Selektivität, mit der auf die Ereignisse zugegriffen wird. Im Gespräch versuchen wir, diese zu verstehen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie auch anders auf die Erfahrung zurückgegriffen werden könnte. Eine unglückliche Kindheit können wir nicht verzaubern, wohl aber den Blick darauf. So ergibt sich ein Unterschied, ob ich auf die Vergangenheit schaue, indem ich die Geschichte unter dem Plot erzähle: »Was ist mir da Schreckliches widerfahren!« oder: »Was habe ich da Schreckliches überstanden!«.

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Bindungskommunikation: Das Erzählen im Familienalltag »Das Bewusstsein ist aus solchem Stoff, wie Dichtung ist«   (Jaynes, 1988, S. 77). Geschichten sind nicht in einem Kopf zu Hause, eher können sie »zwischen« den Menschen verortet werden. »Ich glaube, wer Geschichten erzählt, muss immer jemanden haben, dem er sie erzählt, nur dann kann er sie auch sich selbst erzählen«, lässt Umberto Eco seinen Baudolino sagen (Eco, 2001, S. 241). Im »Systemgedächtnis« reaktualisiert sich das gemeinsame Erinnern von Personen, die eng aufeinander bezogen leben, in der Regel ist dies in unserem Kulturkreis nach wie vor die Familie. Mit der Geburt betreten Kinder diese Welt aus Geschichten, die schon vor ihnen da waren und in denen sie als Träger »narrativ geformter Erwartungen« (Boothe, 2009, S. 31) bereits einen Platz zugewiesen bekamen, ehe sie geboren wurden. Eindrücklich beschreibt Stern den Weg der »Entfaltung der Wirklichkeit« im Leben eines Kindes, der mit der »Welt der Gefühle« beginnt, dann über die »Welt der direkten Kontakte« und die »Welt der Gedanken« in die »Welt der Wörter« führt, ehe dann das Kind etwa im Alter von vier Jahren aktiv die »Welt der Geschichten« betritt. In dieser Welt lernt das Kind, beobachteten Aktivitäten Bedeutung beizumessen: »Es wird von jetzt an sein ganzes Leben lang menschliche Situationen und Ereignisse überwiegend als psychologisches Geschehen auffassen, auch wenn diese anfangs nur einer einfachen Handlungsstruktur folgen« (Stern, 2016, S. 137 f.). Es handelt sich hier offenbar um eine universale Form, über die Menschen sich selbst sinnhaft in der Welt verorten und so das Fortbestehen der Kultur gewährleisten. Angesichts der weiten Verbreitung narrativer Traditionen auf der ganzen Welt spricht Stern davon, dass sich hier eine universale menschliche Fähigkeit nach einem vermutlich genetisch vorprogrammierten Ablaufmuster entfaltet: »Es scheint in der Natur des menschlichen Geistes zu liegen, dass wir für alles, was uns und anderen widerfährt, nach Erklärungen suchen […] Das Erzählen einer Geschichte ist nur einer von vielen möglichen Wegen, Fakten überschaubar anzuordnen. Sie ist das Ergebnis der ununterbrochenen Suche des Verstandes nach Ordnung, nach einem ›größeren Rahmen‹, in den eine Handlung eingebettet werden kann« (Stern, 2016, S. 137 f.). So lernt ein Kind, welchen Ereignissen Bedeutung beizumessen ist, wie der eigene Platz im Leben, in der Familie aussieht und wie es in Kultur und Gesellschaft eingebunden ist: »Familienmitglieder stellen das Kind in eine spezifische familien- und individualgeschichtliche Reihe, sie weisen ihm einen kulturell und individuell vorinterpretierten Ort als national, regional, familiär bestimmtes Geschlechts-

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wesen zu. Sie vermitteln dem Kind familiäre Zugehörigkeit. All dies geschieht auf dem Königsweg narrativer Einbettung« (Boothe, 2009, S. 31). In Familien dient ein Großteil familiärer Alltagskommunikation dazu, sich wechselseitig der Zugehörigkeit zu versichern. Wir sprechen von »Bindungskommunikation« (im Unterschied zur Entscheidungskommunikation im Unternehmen, siehe z. B. Groth u. von Schlippe, 2012), das heißt, man nimmt am Leben der anderen teil, erzählt sich morgens, wie man geschlafen hat, mittags, wie es in der Schule war, und abends, wie der Tag gewesen ist. Die Inhalte stehen dabei vielfach nicht im Vordergrund, sie sind oft redundant, denn es geht um die Reaktualisierung von Bindung. Eine eindrückliche Studie von Peggy Miller (zit. bei Bruner, 1997, S. 95 f.) beschäftigte sich mit Gesprächen zwischen Müttern und ihren Vorschulkindern. Im Durchschnitt beobachtete sie achteinhalb Erzählungen pro Stunde, alle sieben Minuten eine, wobei drei Viertel der Erzählungen von der Mutter stammten, in kindgerechter Form mit einer ersten Orientierung, der Beschreibung eines Ereignisses und einer Lösung, oft dann auch einem Abschluss. Wie von selbst werden über solche vielfachen Wiederholungen (»Erzähl doch noch mal, wie ihr damals …«) immer wieder ähnliche Kausalitätsrichtungen, Selbst- und Fremdbeziehungen übermittelt, die in Varianten reproduziert, ergänzt und kommentiert werden. So entsteht das »familienspezifische interne Erfahrungsmodell« (Schneewind, 2010), das vorwiegend narrativ konstruiert sein dürfte.

Schwere Geschichten und ihre Verkörperung »Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden«   (Levi, 1989, S. 178). »Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein,  die existierten bevor wir geboren wurden«   (Hannah Arendt, zit. nach Fritz, 2019, S. 47). Geschichten im Kontext alltäglicher Bindungskommunikation wird man sich vielleicht eher als etwas Leichtes vorstellen, man denke etwa an ein Geplauder am Mittagstisch. Davon zu unterscheiden sind Geschichten (wenn auch die Übergänge fließend sein dürften), die für die Mitglieder von Familien eine schwerwiegende Bedeutung haben, weil sie entweder schicksalhaft in das Leben der Familie eingegriffen haben (Verfolgung, Flucht, Vertreibung, Hunger und viele andere mehr; siehe auch Kapitel Überlebensgeschichten im transgene-

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rationalen Unternehmertum: Narrative und Narrationen in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien, S. 347) oder das Einzelschicksal betreffen (Misshandlung, Vernachlässigung, schreckliche persönliche Erfahrungen und Ähnliches). Sie drücken auf der Seite des jeweiligen Erzählers das durch die Erfahrung beeinträchtigte Lebensgefühl aus, vielleicht auch verknüpft mit der aktuellen Begrenzung der Lebensmöglichkeiten etwa Armut, Chancenlosigkeit, Depression oder Trauer. So entsteht ein kommunikatives Feld, das Belastung an die Zuhörenden weitergibt (Fritz, 2019). Welche Konsequenzen dies für die folgenden Generationen haben kann, zeigt das folgende Beispiel einer jungen Frau, die den Holocaust überlebt hatte: »Mein Leben zerfiel in zwei Teile: tagsüber war ich ein völlig normales Mädchen, das genau wie alle anderen schön mit Kindern spielte, und zur Nachtzeit begann für mich ein anderes Leben. Jede Nacht war ich im Ghetto. Meine Mutter schrie in ihrem Zimmer wie eine Wahnsinnige, sie flehte auf jiddisch, man solle Großvater und Großmutter nicht umbringen, dies passierte fast jede Nacht, und ich lag im Bett und hatte Angst, überhaupt zu atmen, hatte Angst, dass irgendetwas Grauenhaftes auch mit mir passieren würde« (Hadar, 1991, S. 164). Derartige Geschichten haben eine ganz andere »Wucht« als das alltägliche narrative Erzählen im Familienkontext, sie sind tief in das seelische Erleben der Akteure eingegraben, werden oft über das Körpergedächtnis immer wieder aktualisiert (Maurer-Groeli, 2004) und ohne Worte vermittelt. Der bereits erwähnte israelische Kollege Haim Omer2 erzählte, dass er als Kind immer wieder die Erfahrung machte, dass seine Mutter ihm, seinen Geschwistern und Freunden Situationen, in denen sie besonders ausgelassen und fröhlich waren, vergällte, indem sie sie unterbrach oder entwertete. Erst als erwachsener Psychologe war er in der Lage, ihr Verhalten als »Metasprache« zu sehen, er verstand, dass die Mutter, die in der ständigen Furcht lebte, dass das Schreckliche sich wiederholen könnte, in ihrem Verhalten die Geschichte ihrer Traumatisierung durch das KZ »erzählte«. Die von ihr vermittelte Botschaft verstand er nun so, dass sie verhindern wollte, dass die Kinder in ihrer naiven Fröhlichkeit zu verwundbar sein würden: »Kinder, glaubt nicht, dass die Welt ein guter Ort ist!« Eine in diesem Zusammenhang zu thematisierende Form von Erzählungen sind solche, die dadurch erzählt werden, dass sie nicht oder nur in kleinem Kreis andeutungsweise erzählt werden. Das Gespräch verstummt, sobald man in die 2 Er gab mir die Erlaubnis, diese persönliche Geschichte zu erzählen.

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Nähe dieser Themen kommt, plötzlich tut sich »eine unsichtbare, unverrückbare Wand« auf (Fritz, 2019, S. 17). Meist berühren sie Tabubereiche, die mit der Angst vor unerträglichen Emotionen verbunden sind, wie deviante Sexualität, Gewalt, Missbrauch oder erlebte Traumatisierungen, uneheliche/außereheliche Kinder, Außenbeziehungen, Drogen und viele andere mehr. Familienbeziehungen können dadurch massiv beeinträchtigt werden: »Geheimnissen wohnt offenbar eine Kraft inne, die in keinem Verhältnis zu ihrem Inhalt steht« (Imber-Black, 1999, S. 46). Ein der ganzen Familie bekanntes Geheimnis schweißt diese gegen den »Rest der Welt« zusammen, ein Thema, das nur einzelne Familienmitglieder miteinander teilen, erzeugt dagegen Subsysteme und kann die Familie spalten (»Erzähl aber Papa nichts davon …«). An dieser Stelle soll eine Gefahr des Geschichtenbegriffs angesprochen werden. So eingängig dieser auch ist, er verführt dazu, die Prozesse, um die es hier geht, als rein kognitive Vorgänge aufzufassen (Grossmann, 2009). Das Geschichten­ erzählen droht dann, »körperlos« zu werden. Man übersieht, »wie alltägliche […] Erfahrungen sowohl vom Erzähler als auch von den Zuhörern […] tatsächlich genutzt werden, um Geschichten zu konstruieren und zu interpretieren. Letztendlich geht dann das ›heiße‹ körperliche Engagement beim Geschichtenerzählen verloren und wird zu einem ›kühlen‹, in einigen Fällen zu einem körperlosen, diskursiven Prozess« (Hydén, 2013, S. 126, Übers. AvS). Die Geschichten, um die es hier geht, übermitteln aber nicht Information wie ein Computer. Gerade in Familien sind sie als Teil der innerfamiliären Kommunikation gar nicht von den feinen affektiven Abstimmungsprozessen trennen, die jedes kommunikative Geschehen begleiten. Und dieses Geschehen beinhaltet immer das Verkörpern dessen, was gesagt wird, auf der einen und das »Lesen« dieser Verkörperung auf der anderen Seite in zirkulär aufeinander bezogenen Prozessen (Fivaz-Depeursinge, Stern, Corboz-Warnery u. Bürgin, 1998; Levold, 1997). Gerade in dem eng aufeinander abgestimmten Lebensvollzug der Familie wird Welt nicht abstrakt erzählt, sondern erfahren: »[T]he body speaks in narrative language« (Olthof, 2017, S. 15). Es werden Szenen aufgenommen, in denen sich eine Erzählung über den Stimmklang, über ein Lachen, einen Seufzer, Tränen oder ein Verstummen vermittelt, in denen Körperhaltung und Gesichtsausdruck von Aufregung, Wut, Trauer, Freude oder Kälte erzählen. Die »Internalisierung von Szenen und Atmosphären«, die Petzold (1989, S. 395) als Konstituente der Sozialisation ansieht, lässt sich auch als komplexe Erfahrung von Geschichten verstehen, die nicht bloß auf ihren kognitiven Gehalt reduziert werden sollten. Es kommt hinzu, dass ein beachtlicher Teil vitaler Bedeutungen vor der Begrifflichkeit liegt (Kriz, 2017, S. 45), sodass manche Geschichten in der Psychotherapie auch nur szenisch rekonstruiert werden können. Wenn Menschen

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»zu den Geschichten werden, die sie erzählen« (Efran u. Lukens, 1992, S. 115), dann verkörpern sie diese auch, was heißt, dass sie sich auf vielen Kanälen mitteilen und, wie wir heute wissen, auch über neurologische Prozesse Resonanz erzeugen (Trautmann-Voigt u. Voigt, 2020, S. 110 ff.). Gerade im Kontext von Familie werden komplex inszenierte Geschichten zudem nicht nur einmal erzählt, sondern werden als Bestandteil der Bindungskommunikation zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Lebensaltern unterschiedlich inszeniert und erzählt. Sie gewinnen dadurch besondere Bedeutung als »conversational remembering« einer »Erinnerungsgemeinschaft« (Welzer, 2005).

Generationenübergreifendes Systemgedächtnis »Mein Vater antwortete lächelnd: Warum sollte ich traurig sein? Ich habe ja dich. Aber ich spürte es schon damals, obwohl ich noch klein war: Die Trauer war ihm ins Gesicht geschrieben, sie war wie ein Muttermal. Während wir uns unterhielten, phantasierte ich insgeheim: Ich würde alles sparen, keinen Dollar für Süßigkeiten oder Aufkleber ausgeben, und sobald mein Sparschwein voll war […] würde ich es knacken und die kleine Schwester meines Vaters suchen gehen, wo immer sie auch sein mochte, und wenn ich sie gefunden hätte, würde ich sie zurückkaufen und nach Hause zu meinem Baba bringen. Ich würde meinen Vater glücklich machen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihm die Last dieser Trauer von den Schultern zu nehmen«   (Hosseini, 2014, S. 382). Diese eindrückliche Szene aus dem Roman »Traumsammler« von Khaled Hosseini über einen afghanischen Vater, dessen Schwester in seiner Kindheit aus Armut zu reichen Verwandten gegeben wurde, unterstreicht die Überlegungen des letzten Abschnitts: Die Geschichte erzählt sich selbst und gibt die Erfahrung in die nächste Generation weiter. Der Sohn spürt den Schmerz des Vaters und ist mit der Fantasie beschäftigt, wie er diesen auflösen könnte. Gerade traumatische Belastungen sind selten kohärente Erzählungen, sie sind mit starken Affekten besetzt, verkörpert und vielfach in sich gebrochen, »zerrissene Geschichten« eben (Fritz, 2019, S. 21). Dadurch vermitteln sie sich transgenerational besonders intensiv als Delegation, also als Aufgabe an die nächste Generation, die damit »parentifiziert« wird, also Elternfunktionen übernimmt (Boszormenyi-­Nagy u. Spark, 1981; Stierlin, 1978). Alte Geschichten von Ungerechtigkeit, Schmerz, verratener Loyalität, gekränkter Ehre und so weiter werden weitererzählt beziehungsweise erhalten durch aktuelle Geschehnisse

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neue Nahrung. Sie laden das Gegenüber ein, sich mit der Opferseite zu solidarisieren. Besonders Kinder reagieren oft reflexhaft mit dem Impuls zu helfen, wenn ihnen von ungerechten Dingen erzählt wird, vor allem dann, wenn kein Retter auftaucht. Kinder lernen »gemeinsam geteilte Intentionalität« schon sehr früh, versetzen sich in den anderen, verstehen seine Intentionen und wollen beobachtete Ungerechtigkeiten ausgleichen (Riedl, Jensen, Call u. Tomasello, 2015). Sie identifizieren sich mit dem bedrohten Erzähler und begeben sich in der Fantasie in die Retterposition. Als »gebundene Delegierte« können sie den Eindruck bekommen, dass das psychologische Überleben des Erzählers ganz von ihnen abhängt (Stierlin, 1978, S. 88). Sie sind daher durch solche Geschichten leicht zu manipulieren, denn sie hinterfragen sie nicht kritisch, ihr Bedürfnis, Helfer zu sein, wird schnell geweckt. Beispiel: »Lösungsversuche am falschen Ort« (leicht modifiziert aus von Schlippe, 2014, S. 149) In einer großen Unternehmerfamilie hatte es über viele Jahre hinweg einen intensiven Familienzusammenhalt gegeben. Die Eltern und die sechs Geschwister lebten örtlich sehr nah, man traf sich ständig, es war wie »eine einzige große Familie«. Doch, wie es so ist, irgendwann kam es um einen der Geschwister zum Streit. Er fühlte sich abgelehnt und ausgegrenzt, auch seine Frau werde nicht akzeptiert. Schließlich zog er mit seiner Familie aus dem Ort fort, in dem alle Kinder des Gründers lebten. Auch seine einzige Tochter fühlte sich zeitlebens von der Großfamilie abgelehnt. Sie beteiligte sich trotz ihres hohen Anteils von etwa 18 % wenig an den Geschicken des Unternehmens. Ihr ebenfalls einziger Sohn kannte das Geschehen nur noch aus Erzählungen. Er war empört über das, was man seiner Familie angetan hatte. Nachdem er die Anteile übernommen hatte, begann er, sich in den Gesellschaftertreffen heftig einzumischen und sich bei allen möglichen Entscheidungen querzustellen: »Warum sollte ich jetzt zustimmen? Ihr habt es damals unserer Familie auch nicht leicht gemacht!« Da in den anderen Familien über die Generationen hin weitaus mehr Kinder geboren worden waren, hatte er nun den größten Einzelanteil. Seine Stimme hatte einiges Gewicht, die Unternehmensführung war zwar nicht blockiert, aber doch deutlich beeinträchtigt. Es war nur noch eine »Verhinderungsmacht«, die sich aus den Geschichten her ableitete und die ursprünglichen Konflikte verewigte. Denn er revanchierte sich für die Demütigungen früherer Generationen. Den anderen entgegenzukommen, wäre ihm wie ein Verrat an seiner Herkunftsfamilie vorgekommen.

Kinder, die sich als Retter der Eltern fantasieren, können deren ungelöste Konflikte sogar massiver austragen als diese selbst, denn ihre Empörung und ihre

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Bindung versorgen sie mit dem Gefühl absoluter moralischer Berechtigung. Das beinhaltet eine ganz eigene Tragik: Derjenige, der selbst eine schwere Kränkung erlebt hat, kann irgendwann trotz allem auf den anderen zugehen und einen Schlussstrich ziehen: »Komm’, lass uns die alte Sache begraben!« Das geht aber nur bei eigenen Kränkungen. Bei einer Geschichte, über die ein Kind mit einem aus der früheren Generation loyal verbunden ist, ist dies nicht möglich, denn eine Versöhnung würde die Loyalität zu dieser Person verraten (Stierlin, 1978, spricht in dem Zusammenhang von »Ausbruchsschuld«). Die Geschichte ist eine »Konserve« geworden, unveränderlich. Sie wird an einem falschen Ort fortgesetzt, an dem es keine Lösung gibt. Massive transgenerationale Konflikte bis hin zu generationsübergreifenden Fehden lassen sich möglicherweise so erklären und rekonstruieren. Man kann sich vorstellen, dass vielleicht sogar Selbstmordattentate Phänomene transgenerationeller Traumatisierung sind (Loch, 2014, S. 284), die durch familienübergreifende Erzählungen von dem, was dem eigenen Volk angetan wurde, vorbereitet werden.

Schluss »›Heißt das, diese Dinge sind nicht wirklich?‹ ›Niemand weiß, was wirkliche Dinge sind‹, erwiderte sie kurz angebunden. ›Alles Sichtbare ist letztlich das Produkt eines Zusammenhangs, einer Verbindung. Das Licht hier ist ein Gleichnis des Schattens und der Schatten ein Gleichnis des Lichts. Aber das ist Euch ja bekannt.‹ Ich hatte nicht das Gefühl, genau verstanden zu haben, was sie meinte, aber ich hielt mich mit weiteren Fragen zurück.«   (Murakami, 2018) Der Titel und die anfängliche Aussage von Pascal Mercier, mit der dieser Beitrag begonnen wurde, dass das Erzählen die Erinnerung erst erschaffe, mag als überspitzt empfunden werden. Doch zum einen wird immer wieder hervorgehoben, wie locker das Verhältnis zwischen Ereignis, Erfahrung und Geschichte ist. Zum anderen geht im Kontext generationenübergreifenden Erzählens das Erzählen tatsächlich dem Erinnern voraus, es sind Erinnerungen aus »zweiter Hand«. Und gerade die führen offenbar in besonders schwer auflösbare Loyalitätsbindungen hinein. Jede Geschichte reduziert Komplexität, wählt aus einer komplexen Fülle von Erfahrungen und Kontextbedingungen Aspekte aus, die so oder auch anders erzählt werden können. Gerade, wenn es um die transgenerationale Weitergabe von erfahrenen Ereignissen geht, tendieren die Beteiligten dazu, sich auf

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die Inhalte zu konzentrieren und sich über sie zu empören. So sind Erzählen und Erinnern zum einen eng miteinander verbunden, zum anderen werden mit dem Erzählen auch die darin eingebundenen Emotionen an die nächste Generation weitergegeben. Für die therapeutische Praxis bedeutet dies, nicht die Narrationen (Geschichten), sondern die narrativen Strukturen der Analyse zu unterziehen und zu klären, was sie enthüllen und was sie verbergen (Boothe, 2009, S. 42) und ihre Ambiguität anzunehmen, die im Zitat von Murakami sinnbildlich ausgedrückt ist. Es geht um den Blick auf die jeweiligen Selektionen, die »Plots«, die der Erzählung zugrunde liegen. Dann kann nach der »Geschichte hinter der Geschichte« gesucht werden, können gesellschaftliche Beschreibungsmuster, die Menschen pathologisieren oder in bestimmte Rollen hineinzwingen, genauso hinterfragt werden wie familiäre Erzählmuster, die Familienmitglieder verteufeln, oder individuelle Muster, die als Opfernarrationen zu einer »betonierenden« Geschichte ohne Handlungsoptionen führen (Jakob, 2021; Levold, 1994). Der Fokus der Aufmerksamkeit im therapeutischen Kontext liegt mithin auf der Selektivität, mit der jeweils auf vergangene Erfahrungen zurückgegriffen wird: »Der Sommer ging vorüber, die Ernte war längst eingebracht und die Menschen erzählten sich Geschichten über das, was geschehen war. Und ihre Geschichten legten sich übereinander wie Gesteinsschichten, und was geschehen war, geriet darüber in Vergessenheit. Und jeder erzählte seine eigene Geschichte. Und jeder glaubte sich im Recht. Und jeder hatte seine Gründe.«3

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3 Aus: »Unterleuten, das zerrissene Dorf« (12.3.20), ZDF.

Erzählen schafft Erinnerung

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Narrative Forschungszugänge GABRIELE LUCIUS-HOENE und CARL EDUARD SCHEIDT

Die Bedeutung von Narrativen in der Forschung Narrative Praxis bezieht ihre Lebendigkeit und Wirksamkeit aus der Konstruktion, Ko-Konstruktion und Dekonstruktion von Geschichten, die Menschen sich von ihrer Lebenswirklichkeit und ihren Erfahrungen erzählen und an denen sie miteinander arbeiten. Auf diesen Erzählungen baut auch narrative Forschung auf und knüpft somit unmittelbar daran an, wie Menschen ihre äußeren und inneren Welten zu verstehen und miteinander zu teilen suchen. »Stories are data with a soul« sagt die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Brené Brown (2010) und beschreibt damit auch das Privileg und die Herausforderung, die die Forschung mit Geschichten von Selbsterlebtem ausmacht. Erzählungen von Selbsterlebtem spielten als Daten in den Human- und Sozialwissenschaften, der Psychologie und der Medizin immer schon eine Rolle, in Form von Fallgeschichten, Biografien, Erlebnisschilderungen oder schriftlichen Selbstdokumenten. Eine narrative Forschung im engeren Sinne, die gezielt auf den spezifischen erkenntnistheoretischen und kommunikativen Besonderheiten von Erzählungen aufbaut, lässt sich seit der »narrativen Wende« der 1980er Jahre verzeichnen, die in den Sozialwissenschaften mit den Namen von J. Bruner (1986), D. E. Polkinghorne (1988) oder T. Sarbin (1986) verbunden ist. In diesem Zusammenhang wurden erstmals die Besonderheiten und das erkenntnistheoretische wie praktische Potenzial der Betrachtung von Erzählungen als Grundbausteine von Identität, Sozialität und Kultur thematisiert und genutzt (Brockmeier, 2015; Straub, 2020). Von Beginn an konstituierte sich narrative Forschung über akademische Disziplinen, Methoden und wissenschaftstheoretisch wie philosophisch und politisch unterschiedlichste Orientierungen hinweg. Wissenschaftlich kann man sich den Erzählungen auf unterschiedliche Weise nähern: Man kann sie zum einen als Träger von Information, z. B über biografische Details, Ereignisse, Weltausschnitte oder Motive, verstehen und ihnen Inhalte für die je eigenen Fragestellungen als Information entnehmen. Für eine solche Auffassung mag die Tatsache, dass man Erzählungen mit ihren je eigenen erkenntnistheoretischen und interaktiven Eigenschaften erhoben hat, keine besondere Rolle spielen, sondern nur die vermeintlich einfache Erreichbarkeit von umfassenden Daten zur Entscheidung geführt haben. Zum anderen kann

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man aber darüber hinaus auch die Tatsache, was Erzählungen als subjektive, situierte Konstruktionen eigentlich sind und genau wie jemand in einem bestimmten situativen und sozialen Kontext erzählt, zum Gegenstand der Untersuchung machen. Hieraus lassen sich dann weitere wesentliche Erkenntnisse gewinnen über die Art und Weise, wie Menschen sich, ihre Geschichte, ihre Welt und ihre Beziehungen verstehen. Im folgenden Kapitel wollen wir uns den Erzählungen in diesem weiteren Sinne nähern und einen Rahmen aufzeigen, innerhalb dessen Forschungsfragen nicht nur nach dem Was, sondern auch nach dem Wie des Erzählens gestellt werden können. Aufgrund der Stellung des Erzählens im Zentrum von Selbsterleben, Kommunikation, kulturellen und gesellschaftlichen Praktiken sind unendlich viele Fragestellungen und Anschlussmöglichkeiten gegeben. Der Charakter des Erzählens als allgegenwärtige und kulturübergreifende Verständigungsform schlägt sich in allen Bereichen des täglichen Lebens, der Gesellschaft und ihren verschiedenen Institutionen nieder. Im Erzählen vermitteln wir nicht nur Erfahrungen und Erlebnisse, sondern schaffen auch unsere soziale Identität, verständigen uns mit uns selbst und mit unserer Umwelt darüber, wie wir uns und die Welt verstehen, und handeln unsere Zugehörigkeiten aus. Der Zugang zu den subjektiven Erfahrungen von Menschen, um die es in der Sozialarbeit, Beratungspraxis, Medizin, Psychologie oder Psychotherapie geht, führt vorrangig über die Erzählungen der Betroffenen, in denen sie ihre Anliegen und ihre subjektive Welt darstellen, entfalten und interaktiv aushandeln. Von spezifisch narrativer Forschung im Rahmen narrativer Praxis lässt sich sprechen, wenn sie sich zum einen auf Erzählungen der beteiligten Personen als kontextuelle und interaktive Leistung bezieht, das heißt auch Entstehungssituation, kommunikative Ziele, Verwendungszweck und die Interaktion zwischen den Gesprächsteilnehmern einbezieht. Zum anderen berücksichtigt sie die Besonderheiten der »Textsorte« beziehungsweise des Erkenntnisprozesses »Erzählen« im Rahmen ihrer Analyse, das heißt, sie trägt der Tatsache Rechnung, dass die Erzählerinnen ihre Erfahrungen und subjektiven Welten sprachlich konstruieren, zumeist zur Darstellung von Selbsterlebtem, und damit bestimmte Ziele für die aktuellen Interaktionen oder für ihre Selbsterkenntnis verbinden. Die Erzählungen werden also weder als Wiedergabe von vermeintlich objektiven noch vorrangig als Ausdruck von subjektiven Wirklichkeiten verstanden, sondern darüber hinaus als kontextuell hervorgebrachte Konstruktionen und soziale Aushandlungen von Wirklichkeit. So tragen sie immer ihre Entstehungssituation – den Akt des Erzählens in einer spezifischen sozialen Situation mit ihrem kulturellen und gesellschaftlichen Horizont – mit sich (Brockmeier, 2015; Polkinghorne, 1988). Diese Aspekte können in Erhebung und Analyse einfließen,

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wenn die Entstehungssituation der Erzählungen als eine soziale Interaktionspraxis verstanden wird (Deppermann, 2014). Fragestellungen für die narrative Praxis können z. B. sein: Ȥ Welche Erfahrungen werden von den Erzählerinnen angesprochen? Welche subjektiven Wirklichkeiten und Weltkonstruktionen werden damit vermittelt? Ȥ Aus welchen Anlässen greifen die Teilnehmer einer Interaktion auf das Erzählen zurück und wie betten sie es interaktiv ein? Ȥ Welche Funktionen haben die Erzählungen im Rahmen der Interaktion, dienen sie z. B. der Veranschaulichung, der Argumentation, der emotionalen Entlastung und Solidarisierung, der Selbstklärung? Ȥ Wie werden diese Erzählungen interaktiv ausgehandelt und modifiziert, z. B. bestätigt, zurückgespiegelt, verstärkt, zurückgewiesen, verhindert oder durch andere Erzählungen dominiert? Ȥ Welche Rolle spielen Erzählungen im Rahmen narrativer Praxis, wie werden sie verwendet und für die Beratungs- oder Therapieziele genutzt? Entsprechend unserer fachlichen Orientierung und Forschungserfahrung legen wir unseren Schwerpunkt für diesen Artikel im Rahmen eines Handbuchs zur narrativen Praxis auf gesprächstheoretische Fundierung und identitätstheoretische Auswirkungen des Erzählens. Dies dient uns als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Erlebniswelten, Selbstkonstruktionen sowie interaktiven Zielen und Strategien der Personen, denen unser Forschungsinteresse gilt. Für andere Ansätze und Interessenschwerpunkte narrativer Forschung wie etwa aus den Bereichen von Diskurs- und Kommunikationstheorie, Narrationstheorie, »cultural studies« oder Literaturwissenschaft können hier nur Anknüpfungspunkte aufscheinen (siehe z. B. Hühn, Pier, Schmid u. Schönert 2009, Herman, Jahn u. Ryan, 2005 oder die Zeitschrift »Narrative Inquiry«). Dementsprechend sind der Ausgangspunkt für unsere Überlegungen überwiegend mündliche oder gelegentlich auch schriftlich niedergelegte Erzählungen als sprachliche Konstruktionen von Erfahrungen und Ereignissen der Personen, die Zielgruppen der narrativen Praxis sein können. Kurze Beispiele aus der Forschungspraxis sollen verschiedene Varianten erläutern.

Erzählungen als wissenschaftliche Datenbasis Anwendungsorientierte narrative Forschung macht Gebrauch von narrativen Daten beziehungsweise Texten, die von den Adressaten der narrativen Praxis selbst hergestellt wurden. Es handelt sich also um sprachliche Konstruktionen

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von persönlichen Erfahrungen, die für Forschungszwecke als elektronische Tonoder Bilddateien vorliegen und aus dem Mündlichen transkribiert werden können oder bereits in Schriftform fixiert wurden. Dabei muss sich die Bearbeitung nicht nur auf einzelne narrative Sequenzen beschränken, sondern kann die interaktive Gestaltung und Dynamik umfassender Gesprächssituationen, z. B. in Beratungen oder Psychotherapien, fokussieren. Wichtige Unterscheidungen bei Aufbau und Betrachtung der Datengrundlage bestehen darin, Ȥ ob sich das Forschungsteam vorgefundener Daten bedient oder sich selbst gezielt eine Datenbasis schafft, indem es Narrationen erhebt, Ȥ welche Fragestellungen anhand welcher Personengruppen zu bearbeiten sind und welche Designs und Erzähldaten dafür jeweils geeignet sind, Ȥ wie Entstehungs- oder Erhebungskontexte die Datengrundlage formen und welche Fragestellungen und Auswertungsmethoden sie nahelegen oder erlauben. Vorgefundene Daten In vielen Forschungsbereichen zu den Grundlagen narrativer Praxis können diese Daten aus der Praxis selbst gewonnen werden: In Beratungsgesprächen, Therapiesitzungen, Telefonunterhaltungen oder anderen professionalisierten Settings, die sich als narrativ basierte Interventionen verstehen, entstehen die Narrative im Verlauf des Kontakts. In vielen dieser Settings werden die Gespräche im Einverständnis mit den teilnehmenden Personen routinemäßig auf Datenträger aufgenommen, sodass hier reichliches Material entstehen kann. Ebenso bieten die modernen Verbreitungstechniken leichten Zugang zu einer Vielfalt an Narrationen, von Medieninterviews oder Talkshows bis zu Archiven, die sich der Bewahrung von Erinnerungen widmen, wie etwa Tagebucharchive (Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, https://tagebucharchiv.de) oder kulturelle und politische Zentren (z. B. https://www.zwangsarbeit-archiv.de; https:// arolsen-archives.org/ über NS-Verfolgte). Bei der Verwendung bereits vorhandener Daten ist sorgfältig abzuwägen, ob sie und ihr Entstehungskontext für die Forschungsfragestellung geeignet sind und welche Auswertungsmethoden sie nahelegen (Lucius-Hoene, Breuning u. Helfferich, 2018). Erhobene Daten Wenn die Fragestellungen nicht bereits anhand gegebener Sammlungen von Erzählungen bearbeitet werden können, z. B., weil sie thematisch nicht darin enthalten sind oder der Entstehungskontext nicht passt, können die Forscherinnen sich diese Datenbasis selbst durch Interviews oder andere Formen der

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Erzählanregung erstellen. Vor allem in Soziologie und Psychologie wurde eine Fülle von Interviewformen entwickelt, in denen die teilnehmenden Personen dazu aufgefordert werden, von Erlebnissen und Erfahrungen zu erzählen (Mey u. Mruck, 2020b). Die Art der Interviewführung unterscheidet sich dabei in verschiedenen Dimensionen (Helfferich, 2021), z. B.: Ȥ Thematische Offenheit versus Vorstrukturierung der anzusprechenden Themen vonseiten der interviewenden Personen: Hier reichen die Unterschiede von einer thematisch unstrukturierten Erzählvorgabe, die z. B. auf die gesamte Biografie abzielt und sich jedweder thematischen Steuerung enthält, bis hin zu durchstrukturierten, von Forschungsseite vorgegebenen Leitfäden, in denen die interviewenden Personen eine Gesprächskontrolle ausüben und ihre Erzähler auf bestimmte Thematiken festlegen. Ȥ Umfang der Thematik: Interviews können einen gesamtbiografischen Horizont aufspannen, wie z. B. beim narrativen Interview nach Schütze (Schütze, 1983; Küsters, 2009) oder sich auf enger umschriebene Zeiträume oder Erfahrungsbereiche beziehen. Ȥ Methoden der Erhebung: Neben rein sprachlichen Erzählaufforderungen können auch Materialien vorgelegt werden, die Erzählpotenziale anregen und problemspezifische Erinnerungs- oder Fantasietätigkeiten fördern. Dies können z. B. biografische Erinnerungsstücke, Fotos oder auch selbstgefertigte Materialien wie narrationsfördernde Zeichnungen ambivalenter Situationen sein. Ȥ Interaktivität und Beziehungssteuerung: Durch die methodischen Vorgaben der Interviewformen sind den Interviewerinnen unterschiedliche Grenzen gesetzt, durch Gesprächssignale, Kommentare oder Vertiefungen zu ihren Erzählerinnen eine persönlichere Beziehung aufzubauen oder zu vermeiden und die Interaktion zu kontrollieren und zu steuern. Die interviewtechnischen Vorgaben sind hier überwiegend durch Vorüberlegungen gegeben, ob und wie weit die Erinnerungs- und Darstellungsarbeit der Erzähler interaktiv gefördert oder von jeglicher Einflussnahme freigehalten werden soll. Hier stellt sich auch die Frage, wie viel Kontrolle die Erzählerinnen über den Erzählund Interaktionsprozess haben und wie sich dies auf die Daten auswirkt. Entstehungskontexte und Erhebungsmethoden: Varianten narrativer Forschungsdesigns Bei vorgefundenen wie selbst erhobenen Narrativen ist es von zentraler Wichtigkeit, bei der methodischen Bearbeitung Entstehungskontext und Verwendungszweck im Auge zu haben, wie er sich aus Sicht der erzählenden Personen darstellt oder dargestellt hat. Dies ist bei der Planung und bei der Erhebung immer

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mitzuberücksichtigen und möglichst umfassend zu dokumentieren. So spielt es eine zentrale Rolle für eine adäquate Analyse: Ȥ Unter welchen institutionellen und räumlichen Bedingungen die Erzählsituation angeboten wird, z. B. im Rahmen einer Forschungseinheit, eines Beratungskontextes, eines privaten Settings, einer sozialen Einrichtung, freiwillig und spontan oder institutionell erzwungen wie etwa die Berichte in einer Gerichtsverhandlung? Ȥ Mit welchem Verwendungszweck die Erzählerinnen ihre Aufgabe verstehen, welchen Schaden oder Nutzen sie darin für sich selbst sehen und welche Rolle sie für sich damit verbinden: ob sie sich z. B. als Forschungsteilnehmerinnen, Ratsuchende, Zeitzeuginnen oder Opfer sehen, ob sie der Verwendung ihrer Erzählungen vertrauen und entsprechend offen berichten oder ihre Botschaften aus Gründen der Vorsicht kontrollieren und selegieren etc.? Ȥ Welche Beziehungen und welches Rollenverständnis zwischen fragenden und erzählenden Personen bestehen. Hier ist vor allem darauf zu achten, ob sich im Interviewsetting oder auch in den Erzählungen selbst Abhängigkeits- und Machtverhältnisse dokumentieren, eine verborgene oder angedeutete Agenda an der Gestaltung beteiligt ist etc. Auswahl der erzählenden Personen Die Ergiebigkeit und Güte des Datenmaterials steht und fällt mit der Eignung und Bereitschaft der Personen, die zum Erzählen aufgefordert werden. Dies gilt vor allem dann, wenn sich der Gegenstand der Untersuchung auf eher seltene Erfahrungen (wie etwa das Erleben einer seltenen Krankheit oder Heilmethode), Angehörige sehr kleiner oder randständiger Milieus (wie etwa Untersuchungen im kriminellen Bereich) oder Personen mit eingeschränkten narrativen Kompetenzen (etwa durch Sprachschwierigkeiten) bezieht. Hier ist es sinnvoll, vermittelnde Personen, die über spezielle Kenntnisse und Erfahrungen des Lebensbereichs verfügen, einzubeziehen. Erhebungs-, aber auch Analyseverfahren müssen an die erzählerischen Möglichkeiten, Fähigkeiten und auch Begrenzungen der Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen angepasst werden. Wiederholtes Erzählen Bei Fragen nach diachronen Veränderungen des Erlebens bietet es sich an, Erzählerinnen zu verschiedenen Zeitpunkten zum selben Erfahrungszusammenhang erzählen zu lassen. So erscheinen die Veränderungen in den erzählerischen Konstruktionen selbst und lassen sich als Fluidität der Erinnerungen, aber z. B.

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auch als Verarbeitungsleistungen oder Veränderungen im Deutungshorizont interpretieren (Schumann, Gülich, Lucius-Hoene u. Pfänder, 2015). Dies kann sich z. B. auf die Veränderungen im Erinnern und Darstellen traumatischer Erfahrungen, von Krankheiten oder von wichtigen Stationen der Lebensgeschichte beziehen. Perspektivenvergleichendes Erzählen Interessiert an einer Problemlage, wie sie von verschiedenen Perspektiven aus erlebt wird, können unterschiedliche Personen aus dem Erfahrungszusammenhang mit dem gleichen Erzählstimulus aufgefordert werden. So können etwa Familienmitglieder z. B. zur Erkrankung, zum problematischen Verhalten oder zum Werdegang eines Familienmitglieds erzählen; aus dem Perspektivenkontrast ergibt sich dann ein facettenreiches Bild der Problematik und der familiären Verarbeitungsbemühungen. Ebenso können Fragestellungen über verschiedene Generationen einer Familie verfolgt werden, etwa das Erleben von Migration und Integration oder der Niederschlag der Fluchterfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Erzählungen der Enkelgeneration. Hier lassen sich auch generationale Tradierungen oder Brüche herausarbeiten. Im Erzählkontext der Paar- und Familientherapie werden Aushandlungsprozesse, wer die gültige Version für ein Geschehen für sich beanspruchen darf, im Perspektivenabgleich der erzählenden Personen oft besonders deutlich. Kontrastierendes Erzählen Um ein Milieu, eine spezifische Erfahrung, eine Problemlage etc. möglichst breit erfassen zu können, sollten die ausgewählten Erzählerinnen möglichst unterschiedliche persönliche oder soziale Merkmale haben, die für die Fragestellung relevant sind. Einen systematischen Ansatz hierfür bietet z. B. die Methodologie der Grounded Theory (Mey u. Mruck, 2020b). So werden für eine Internetplattform mit Patientenerfahrungen zu ausgewählten Krankheiten (www.krankheitserfahrungen.de) die Merkmale der Erzählerinnen systematisch variiert hinsichtlich Krankheitsmerkmalen, Alter, Geschlecht, Therapieerfahrungen, Berufsbiographie und Familienstand, Wohnort etc. (Breuning, Lucius-Hoene, Burbaum, Himmel und Bengel, 2017).

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Ziele und Methoden der Auswertung Vor der Entscheidung für eine der vielen Auswertungsmethoden, die mittlerweile für narrative Daten vorliegen (Mey u. Mruck, 2020c; Riessman, 2008), sollten folgende Fragen geklärt werden: Ȥ Welchen Erkenntniswert erwarten sich die Forscherinnen vom narrativen Charakter ihrer Daten, und wie steht dies in Beziehung zu ihrer Forschungsfragestellung? Ist der vorliegende Datenkorpus geeignet, die Forschungsfragestellung zu beantworten, oder muss letztere vorab oder im Verlauf der Analyse an die Datenbasis angepasst werden? Ȥ Interessieren sich die Forscher für »objektive« oder »subjektive« Wahrheit des Erzählten, das heißt, welchen erkenntnistheoretischen Status sprechen sie den Inhalten zu? Erfassen sie sie als unmittelbare Repräsentation von Ereignissen in einer als real postulierten Welt im Sinne von »Dies ist so geschehen« (zu »faktualen« Narrativen siehe Fludernik, 2020, Klein u. Martinez, 2008)? Oder verstehen sie sie als subjektive Konstruktionen, die in einer spezifischen Gesprächssituation entstanden sind und von diesem Entstehungskontext mitgeprägt sind? Diese Frage nach dem Verständnis von Realitätsabbildung oder »Wahrheitshaltigkeit« des Erzählten bedarf der sorgfältigen Beantwortung im Licht des Forschungsinteresses und der Verwendungsabsichten, um etwa zu vermeiden, dass die Analysen zu kurz greifen oder ein unangemessener Analyseaufwand betrieben wird (Lucius-Hoene, Breuning u. Helfferich, 2018; Riessman, 2008, S. 183–200). Ȥ Welchen Stellenwert soll die Interaktion zwischen den Kommunikationsteilnehmern bei der Konstruktion der Narrationen einnehmen, und wird ein Erkenntnisgewinn von ihrer Analyse erwartet? Die Klärung dieser Fragen trägt auch dazu bei, Forschungsressourcen ökonomisch und zielführend einsetzen zu können. Fragestellungen Fragestellungen an narrative Daten können z. B. sein: Ȥ Narrationstheoretische Aspekte: Wie werden Erfahrungen sprachlich als Geschichten konstruiert? Was macht ein erfolgreiches Narrativ aus? Worin unterscheiden sich narrative Konstruktionen kulturell und individuell? Wo findet die Narrativierung von Erfahrungen ihre Grenzen, wie kommt Erzählkompetenz zustande? Wie wirken sich interaktive Kontexte auf die Erzählbereitschaft und -fähigkeit aus?

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Ȥ Narrativierte Erfahrungen: Wie sehen Erlebniswelten, Erfahrungen und Problemlagen der Menschen aus, für die und mit denen narrative Praxis stattfindet? Wie lassen sich aus narrativen Lebenswelten Sinnkonstruktionen und Regelwerke erarbeiten? Was vermitteln Narrative zu autobiographischen Erfahrungen, Motiven und Handlungsorientierungen der Erzählerinnen? Wie spiegeln sich biographische Notlagen und traumatische Erfahrungen in Erzählungen wieder? Ȥ Was leisten Erzählungen in der Entwicklung und über die Lebensspanne für den Aufbau des autobiographischen Gedächtnisses und die Erinnerung? Ȥ Funktionsweise von Narrativen: Wie gestalten sich narrative Interventionen, Kommunikationen, Aushandlungen, Machtverhältnisse? Welche Funktionen übernimmt das Erzählen in der Kommunikation (Martinez, 2017)? Ȥ Narrative Bewältigung: Wie werden lebensgeschichtliche Ereignisse und traumatische Erfahrungen in Narrativen bewältigt, welche sinnstiftenden und kommunikativen Ressourcen der Erzähler sind erkennbar (Boothe, 2011; Lucius-Hoene u. Scheidt, 2017; Scheidt, Lucius-Hoene, Stukenbrock u. Waller, 2015)? Ȥ Narrative Identitätskonstruktion und -aushandlungen: Wie konstruieren Rat suchende wie Rat erteilende Personen ihre Identität in Narrativen, welche Formen der Selbstverständigung und Identitätsaushandlung wie -zuweisung finden in narrativen Kommunikationen statt (Deppermann, 2015)? Wie werden soziale Rollen, Macht- und Hierarchiebeziehungen in der narrativen Praxis etabliert und durchgesetzt? Ȥ Narrative Vorlagen: Wie greifen Erzählerinnen zur Konstruktion ihrer Narrative auf kollektive Sinnstiftungen gruppenspezifischer, institutioneller, weltanschaulicher oder politischer Art zurück? Welche Rolle spielen kulturelle und kollektive Identitäten in den individuellen Konstruktionen (Koven, 2017; van de Mieroop, 2015)? Datenauffassung Entsprechend den obigen Überlegungen können wir den Auswertungsmöglichkeiten grob drei verschiedene Datenauffassungen zuordnen (Lucius-Hoene, 2020): Ȥ Verständnis der Daten als »naturalistische« Wiedergabe von Ereignissen und Erlebnissen: Ȥ Wenn wir mit unserer Forschungsfragestellung vor allem darauf abheben, »was in der Welt und im Erleben der Personen geschehen ist«, können wir die Erzähler als Zeugen der Ereignisse verstehen. Dies ist z. B. sinnvoll, wenn wir nach historischen Ereignissen, Rekonstruktion von Problemlagen oder

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Erfahrungen mit Versorgungsstrukturen fragen. Um die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit unserer Erzählerinnen abschätzen zu können, können wir ihre Schilderungen mit anderen Darstellungen oder Dokumenten, historischen Materialien etc. vergleichen. Verständnis der Daten als subjektive Erfahrungs- und Weltkonstruktionen: Hier richtet sich das Forschungsinteresse auf das subjektive Erleben der Personen. Es stehen nicht die Exaktheit und Unverzerrtheit der Zeugenschaft für Ereignisse im Vordergrund, sondern die Erzählungen werden als subjektive Konstruktionen der erzählenden Personen verstanden, mit denen sie einen vielschichtigen Zugang zu ihren inneren Welten und Erfahrungen gewähren. Zur Beurteilung der Güte dieser subjektiven Rekonstruktionen eigenen Erlebens stellt sich die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit und Offenheit der Erzählerinnen, mit denen sie diese Erfahrungen mitzuteilen bereit sind. Verständnis der Daten als interaktive und performative Gestaltung: Hier werden über die Rekonstruktion des inneren Erlebens bei der Auswertung der Daten hinaus noch die in den Transkripten enthaltenen Informationen zu den sprachlichen und performativen Handlungen der Vermittlung und Aushandlung der Erzählungen analysiert. Der Blick auf das »Was« der Inhalte des Erzählens wird erweitert um die Analyse des »Wie« der sprachlichen und kommunikativen Gestaltung der Erzählinteraktion. Dies gibt Auskunft z. B. auf Fragen, wie die Erzählerinnen mittels ihrer Geschichten interaktive Ziele zu verwirklichen suchen, Identitäten aufbauen und zuweisen, die Beziehungen zu den Forschern gestalten und aushandeln oder ihre Erinnerungen explorieren und diskutieren. Dies vermittelt ein dynamisches Bild der kommunikativen Entfaltung der Situation, der Beziehungen zwischen den beteiligten Personen zwischen Kooperation, Ko-Konstruktion und Widerständigkeit im Erzählen und der offenen und verdeckten Ziele der erzählenden und zuhörenden Personen (z. B. Lucius-Hoene u. Deppermann, 2004; De Fina u. Georgakopoulou 2012, 2015). Ein besonderer Fokus kann hier auf die Positionierungsaktivitäten gelegt werden, die aufzeigen, wie die beteiligten Personen für sich und die Interaktionspartner soziale Positionen und Identitäten aufbauen und zuweisen (Deppermann, 2015).

Narrative Vorlagen Eine kulturwissenschaftliche und gesellschaftliche Perspektive und Erkenntnisebene für die Analyse tut sich auf, wenn Narrative im Hinblick darauf untersucht werden, wie die erzählenden Personen für die Konstruktion ihrer Geschichten bereits vorhandene und öffentlich kursierende Vorlagen nutzen. Dies kann sich

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auf einzelne Formulierungen wie vorgeformte sprachliche Elemente beziehen, kann aber auch die ganze Einbettung des eigenen Erlebens in kulturell übliche narrative Muster aus öffentlichen Diskursen, Bildungsprogrammen oder Medien beziehen. Hier ist zum einen die Frage interessant, wie solche narrativen Vorlagen angeeignet und für die eigenen kommunikativen Ziele adaptiert werden und wie andererseits diese Vorlagen das eigene Erleben und Argumentieren beeinflussen. Ebenso lässt sich herausarbeiten, wie die Erzählerinnen mit institutionell vorgegebenen Masternarrativen, z. B. im Hinblick auf Krankheitsverläufe und -erfahrungen, Bildungskarrieren oder Erfahrungen sozialer Benachteiligung und Diskriminierung umgehen. So sind in den letzten Jahrzehnten auch die »counter-narratives« in den Fokus des Interesses geraten: Geschichten, in denen die erzählenden Personen Gegenentwürfe zu politisch oder institutionell dominanten Erzählungen entwerfen (Bamberg u. Andrews, 2004; Lueg u. Lundholt, 2021). Wie solche »counter-narratives« entstehen, eine emanzipatorische Wirkung entfalten können und sich mit den »master narratives« der dominanten Kultur auseinandersetzen, kann für die Prozesse der narrativen Praxis eine wichtige Rolle spielen. Desiderata narrativer Forschung für die Praxis Für die Zukunft der Forschung zu narrativer Praxis wäre eine weitere Verschränkung von diskursanalytischer und gesprächsanalytischer Bearbeitung von Kommunikationssituationen aus der narrativen Therapie- und Beratungstätigkeit wünschenswert. Gegenstand des Interesses müssten die interaktiven und narrativen Strategien der beteiligten Personen und ihre dynamische Entfaltung im Lauf der Begegnungen sein. Hier ließe sich vertiefen, wie sich gesellschaftliche, politische und kulturelle Diskurse in den Erzählprozessen und Machtbeziehungen in narrativen Situationen niederschlagen und wie sich in den Interaktionen und den Geschichtenkonstruktionen emanzipative, therapeutische und erkenntnisfördernde Prozesse unterstützen lassen.

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TEIL 2  Narrative Praxis als methodischer Prozess

Narrative Praxis: Was geschieht im Gespräch? JAN MÜLLER

Womöglich sind Sie nach dem ersten Teil dieses Buchs einerseits erfreut und andererseits ein wenig ratlos. Erfreut, weil die Grundlagen der narrativen Praxis einen so großen Respekt vor den Menschen widerspiegeln und weil die narrative Art und Weise, über Erleben nachzudenken, neue Wege des Denkens und Beschreibens ermöglicht. Ratlos sind Sie vielleicht, weil Sie sich fragen, wie um alles in der Welt man diese Ideen in Beratung, Therapie, Coaching und anderen hilfreichen Gesprächen einfließen lässt. So ging es mir, als ich begann, mich mit narrativer Praxis auseinanderzusetzen! Möglicherweise liegt das auch für Sie daran, dass wir alle sehr vertraut sind mit den dominanten Diskursen rund um helfende Gespräche: Eine Person heilt die andere oder gibt ihr Ratschläge. In diesem hierarchischen Miteinander hat die eine Person das Problem, die andere hat kein Problem, und wenn doch, nimmt sie dagegen Hilfe in Anspruch. Es gibt – der Medizin entlehnt – vielfältige Ideen darüber, welchen Menschen bei welchem Problem welches Verfahren gut hilft, und die zugrunde liegende Bedingung ist meist, dass eine Person in irgendeiner Art nicht richtig funktioniert.

Reichhaltige Erzählungen möglich machen Die narrative Praxis hat eine grundsätzlich andere Auffassung von dem, was in hilfreichen Gesprächen passiert. Ich vergleiche dies gern mit dem Effekt des Ozeans. Viele Menschen kennen das Gefühl, dass emotionale Aufruhr sich legt, wenn sie aufs Meer schauen. Interessant, oder? Das Meer tut gar nichts. Es rät nichts, es ändert nichts, es treibt nicht an. Was sich verändert, sind wir selbst: vielleicht unsere Perspektive, unsere Haltung zu dem, was uns zurzeit umtreibt, vielleicht auch unsere Haltung zu uns selbst. Denken Sie einmal zurück an das letzte richtig gute Gespräch mit einer Freundin oder einem Freund. Auch hier haben Sie aller Wahrscheinlichkeit erlebt, dass – ganz ohne Ratschläge oder Einmischung – am Ende des Gesprächs ein verändertes Erleben stand. Vielleicht waren Sie weniger »nah dran« an dem,

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was Ihnen Sorgen gemacht hat, und dafür enger verbunden mit anderen Seiten Ihres Lebens, die Sie vorher vielleicht gar nicht mehr so richtig zugänglich hatten. Narrative Gespräche verfolgen gleichsam nicht das Ziel, irgendwo anzukommen. Es gibt keine gesuchte Erkenntnis, keine Musterdurchbrechung, keine Katharsis, die man durch das Gespräch herbeiführen will. Stattdessen drehen sich narrative Gespräche stets darum, Geschichten reichhaltiger zu machen. Michael White hat, um dies zu erklären, gern von Terrain gesprochen, das navigiert wird (White, 2007). Es geht nicht darum, in dem Terrain einen bestimmten Ort zu erreichen, sondern darum, das Terrain besser kennenzulernen, und zwar vor allem jene Gebiete, an denen die Person vielleicht seltener vorbeikommt: jene untergegangenen Teile der Erzählung über sich selbst, die z. B. auch wieder spürbar werden, wenn man auf das Meer schaut oder mit nahen Menschen spricht – und plötzlich steht man woanders. In diesem Kapitel soll es um verschiedene Wege gehen, wie man sich auf narrative Art und Weise durch dieses Terrain bewegt.

Was ist ein Narrativ? Narrative setzen sich zusammen aus einzelnen Erfahrungen, die wir mithilfe von Motiven oder Themen zusammenknüpfen. Teilweise finden wir in der Welt schon Narrative vor, wie z. B. über unser Geschlecht, unser Alter oder über bestimmte Rollen wie »Demokratin« oder »Sohn«. Sehr häufig aber sind wir selbst es, die unsere Erfahrung in Geschichtenform abstrahieren – immerhin gibt es viel zu viele Erlebnisse, als dass man sie originalgetreu wiedergeben könnte! Also abstrahiert man: Wie war’s im Urlaub? Schön. Wie findest du deinen Körper? Zu dick. Was macht die Beziehung? Ich vermisse etwas. Wir Menschen stricken also zunächst unsere Geschichte, und im Anschluss formt sie dann unser Erleben. Neue Erlebnisse werden auf die bestehende Geschichte gelegt und entweder eingebaut oder eben nicht (siehe Abb. 1). Ich bin beispielsweise der Meinung, ein offener Mensch zu sein. Dieses Narrativ über mich selbst basiert auf Situationen, in denen ich möglicherweise neue Hobbys gefunden habe, auf Menschen zugegangen bin oder mit mir habe reden lassen. Ich lasse dabei aber natürlich andere Erlebnisse unter den Tisch fallen: Dass ich nicht gern reise, dass ich nachtragend bin oder dass ich kurzfristige Absagen nicht schätze, passt nicht zu diesem Narrativ von Offenheit und wird ausgelassen. Neue Erfahrungen, die meine Offenheit demonstrieren, nehme ich gern mit in meine Erzählung über mich selbst auf, wohingegen ich Beispiele meiner Borniertheit möglicherweise nicht einmal vollständig bemerke.

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Abbildung 1: Aus allen Ereignissen wählen wir aus, um Narrative zu bilden

In Zeiten, in denen wir von Problemen heimgesucht werden, gibt es natürlich auch bestimmte Erzählungen über uns und unser Leben: Ich bin ein Versager, ich schaffe das alles nicht, ich verdiene nicht zu leben. Das sind schreckliche, negative Sätze, die dazu einladen, neue Erfahrungen gleicher Art klar zu sehen, wohingegen andere Erfahrungen Gefahr laufen können, unbemerkt zu bleiben. An dieser Stelle setzt die narrative Praxis ein und ist maximal interessiert daran, einen Rahmen zu schaffen, in dem diese vom Nichtbemerken bedrohten Erlebnisse gerettet werden. Dabei geht es explizit nicht darum, die bisherige Geschichte zu widerlegen oder loszuwerden! Um in der Metapher des Terrains zu sprechen: Wenn die Person die Erfahrung gemacht hat, dass im Terrain ein schrecklicher Sumpf liegt, der weite Teile der Landschaft verschluckt hat, ist das Teil der Expertise der Person und selbstverständlich wahr. Die interessante Frage ist, ob noch andere Dinge wahr sind, z. B., dass manche Gebiete trotz ihrer Nähe zum Sumpf immer noch gangbar sind, oder dass es manchmal möglich ist, Unterstützung zu erfahren, um im Sumpf zu überleben. Der Sumpf ist immer noch der Sumpf, aber wie die Person ihn erlebt, kann sich durch eine solche Erweiterung der Erzählung verändern – genau wie durch Betrachtung des Meers oder Gespräche im Freundeskreis.

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Wir stehen zu den Dingen im Verhältnis Eine grundlegend hilfreiche Betrachtung der narrativen Arbeit ist die Auffassung, dass wir zu allem Möglichen im Verhältnis stehen: zu anderen Menschen, zu Ideen, zu Dingen, zu Facetten von uns selbst (siehe Abb. 2). Über diese Verhältnisse kann man sprechen, und das ist oft hochinteressant! Abbildung 2: Wir stehen zu den Dingen Meist, wenn wir uns mit Men- im Verhältnis schen unterhalten, sprechen wir über »das andere«. Wer Filme mag, spricht über den Film, wer Katzen liebt, redet von Katzen: Die Schauspielerin war sehr berührend, die Kameraführung legendär. Katzen sind elegant und mysteriös. Damit sprechen wir über die Eigenschaften dieser Sachen – worüber wir nicht sprechen, ist die Person selbst. Nicht »Was an dieser Sache magst du?«, sondern eher »Was an dir mag eigentlich diese Sache?«. Zu einem Verhältnis gehören immer zwei, und die Seite der Person, die eine Haltung hat, ist oft gänzlich unterrepräsentiert! Was für Vorlieben, Eigenschaften oder Werte hat die Person eigentlich, sodass sie diese Sache mag? Insofern ist narrative Praxis genau aus dem Grund hilfreich und wirksam, als sie uns über die Reflexion unserer Verhältnisse in Kontakt bringt mit uns selbst. Dabei entstehen Gespräche über Aspekte, die sonst nirgends erzählt werden können – möglicherweise nicht mal vor uns selbst. Was an mir ist es denn, das Katzen mag? Ist auch in mir eine Sehnsucht nach Eleganz und Geheimnis? Liebe ich die Freiheit? Die Natur? Und was zeigt sich in meiner Liebe zum Film? Gibt es noch andere Stellen in meinem Leben, wo es auch um Geschichten geht? Oder um Fantasie? Um Darstellung? Was an mir erklärt, dass ich es großartig finde, wenn jemand sich etwas ausdenkt? Diese Idee ermöglicht Gespräche, die schnell persönlich und damit relevant werden. Dabei geht es explizit nicht um eine Erklärung oder gar Rechtfertigung unserer Vorlieben, sondern um aufrichtige Neugier (gemäß der Idee des Nichtwissens von Harlene Anderson u. Harry Goolishian, vgl. 1997) auf die Person. Dabei ist es fast egal, ob wir das Gespräch beginnen mit Katzen, Filmen, den Lieblingsschuhen, dem letzten tollen Urlaub oder der besten Freundin: In allem, zu dem wir in Beziehung stehen, werden wir als Person sichtbar. Sogar Gespräche über unser Verhältnis zu Problemen sind geeignet, um uns als Person zu erkennen. Darum wird es im Abschnitt über Externalisierung gehen.

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Das Wirksame in narrativen Gesprächen ist es, diesen oft nicht erzählten Seiten die Gelegenheit zu bieten, ausgesprochen, gehört und damit bezeugt zu werden. Sie finden eine greifbarere Realität und können so die bisherige Erzählung anreichern. Erst dadurch, dass wir dieses Verhältnis klar benennen, wird es möglich, sowohl über die Sache wie auch über uns selbst zu sprechen. Erst wenn wir etabliert haben, dass wir in einem Verhältnis stehen, können wir unsere eigene Position in diesem Verhältnis klar benennen und reichhaltig beschreiben. In der narrativen Arbeit entsteht also im Gespräch eine möglichst reichhaltige Repräsentation unseres Gegenübers, eingebettet in Bezüge zu Personen, Werten und Handlungen. Dieses reichhaltige Bild wird durch uns als Praktizierende bezeugt und dadurch manifest. Das Besondere dabei ist, dass es eben nicht vorrangig ums Verändern und Aufbrechen geht, sondern um ausreichend Raum für schon existierende, vielleicht aber kaum gelebte Positionen. Sehr viele narrative Elemente sind erst dann begreifbar, wenn man dies verstanden hat. Sie alle dienen dazu, eine Unterhaltung über Aspekte eines Menschen zu führen, die sonst nicht möglich wäre – ein Terrain zu betreten, das gemeinsam entdeckt wird.

Methoden, Wege, Navigation Michael White hat in seinen Büchern und Workshops regelmäßig die Metapher der Landkarte verwendet, um die narrative Praxis zu beschreiben. Beraterin und Klient bewegen sich durch das Gelände, in dem einige Bereiche schon gut bekannt sind, andere dagegen nicht. Von bestimmten Punkten hat man eine bessere Übersicht, und jenseits ausgetretener Pfade haben wir die Chance, Neues zu entdecken. Um eine solche Landschaft zu durchqueren, sind natürlich Landkarten hilfreich! Folgerichtig sind viele Methoden als Landkarte konzeptionalisiert. Ich selbst fand diese Metapher immer brillant, um die Arbeit allgemein zu beschreiben: Es ist eben kein Plan, den wir verfolgen, keine lineare Entwicklung hin zu einem Ziel – es ist eine Landschaft, in der man ganz verschiedene Orte besuchen kann! Gleichzeitig fand ich die Beschreibung der Methoden als Landkarte immer auch sehr statisch. Wie bei jeder Wegbeschreibung kann der Effekt sein, dass man ohne jede Auseinandersetzung mit dem Ort, an dem man sich befindet, blind den Anweisungen folgt und über die Umgebung eigentlich nichts erkennt. Für mich steht das im Gegensatz zu dem, was durch narrative Praxis möglich wird, nämlich aufrichtige Begegnung und tatsächliches Erkunden. Erst als ich die Landkarten als Übungen verstanden habe, durch die man narrative Arbeit besser kennenlernen kann, fand ich sie sinnvoll.

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Es geht eben nicht darum, Schritte genau zu befolgen, um an einen bestimmten Ort zu gelangen. Wir verfolgen keinen Reiseplan. Dennoch zeigen die Landkarten eindrücklich auf, dass die Navigation durch das Gelände nach bestimmten Prinzipien ablaufen kann, und es ist sehr hilfreich, diese Prinzipien zu verstehen und sich zunutze machen zu können. Ich lade Sie deshalb in den folgenden Abschnitten ausdrücklich dazu ein, die Methoden als Beispiele zu verstehen, als Reiseberichte von hilfreichen Wegen, die man empfehlen kann. Die Erkenntnis, dass die Landkarte nicht die Landschaft ist (Korzybski, 1933), ist hier doppelt relevant: Zum einen sind alle Geschichten immer nur Abstraktionen des Eigentlichen, und somit sind die Antworten unserer Klientinnen auch niemals absolute Repräsentationen dessen, was sie erleben. Zum anderen sind diese Methoden eben nicht narrative Praxis, sondern sie sind eine Manifestation der narrativen Praxis, ein Abbild des Tuns in eine Struktur, die weder vollumfänglich noch perfekt präzise sein kann. Wenn man dies missversteht, wird man Methoden als »Tools« verwenden. Diese Werkzeugmetapher hat, wie alle Metaphern, viel Gutes an sich, denn sind wir nicht Handwerker, die gern ihr Handwerkszeug erweitern und Nützliches verrichten wollen? Gleichzeitig lädt diese Metapher dazu ein, uns als den aktiven Part zu sehen, der an etwas anderem (der Person? dem Pro­blem?) herumschraubt und -hämmert, und wenn es nicht funktioniert, braucht es nur ein anderes Werkzeug. Völlig verschleiert ist dabei die Beziehungskomponente der Arbeit, die gemeinsame und gleichberechtigte Konstruktion einer Wirklichkeit, in der man Sinn und Bedeutung der eigenen Existenz besser durchdringt. In Gesprächen auf Augenhöhe braucht es keine Werkzeuge, sondern Interesse, Verständnis und die Entwicklung eines Gesprächs, in dem neue Perspektiven möglich werden. Insofern sind die Methoden, die im Folgenden vorgestellt werden, eben keine Werkzeuge oder Anleitungen, sie sind Beispiele und Einladungen, im Gespräch bestimmte interessante Seiten nicht unbeleuchtet zu lassen. Eine außerordentlich narrative Frage, die genau diese Auffassung des gemeinsamen, gleichberechtigten Gesprächs verdeutlicht, ist folgende: »Ist das, worüber wir reden, interessant für Sie?« Falls die Antwort Ja ist, die Person also in einem positiven Verhältnis zum Gespräch steht, kann man dieses Verhältnis näher kennenlernen: Was genau ist interessant für Sie? Sprechen Sie öfter darüber mit anderen Leuten oder eben nicht? Wer sieht es ähnlich wie Sie? Wieso ist dieses Thema für Sie bedeutsam? Ist die Antwort Nein, kann man sich erkundigen, welches Thema gerade wichtiger zu besprechen wäre. Bei aller Methodik muss man immer im Auge behalten, dass es unser Job ist, Gespräche zu führen, die für unser Gegenüber interessant und hilfreich sind!

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Alle Methoden, die hier vorgestellt werden, haben eins gemeinsam: Sie ermöglichen Gespräche, in denen Klientinnen die Autorinnenschaft übernehmen und neue Narrative knüpfen können. Diese neuen Narrative werden reichhaltiger sein, indem sie mehr Platz bieten für Erleben. Diese Autorenschaft zu stärken ist unsere Aufgabe im Gespräch. Wir helfen nicht bei der Veränderung, wir erteilen keine Ratschläge, wir verstören keine Systeme – wir sind stattdessen maximal interessiert an der Perspektive unserer Klienten und wollen ihnen ermöglichen, ihre Sicht der Dinge zum Ausdruck zu bringen, und bieten uns dabei als aufmerksamen Zuhörer an, der das Gehörte bezeugt. Es ist ein Unterschied, ob man allein im stillen Kämmerlein denkt, dass man vielleicht doch kein schrecklicher Mensch ist, oder ob man dies vor jemandem ausspricht: Vielleicht bin ich doch kein schrecklicher Mensch. Dabei sind wir nicht allein passive Zuhörer: Unser Interesse und unsere Fragen arbeiten mit am neuen Narrativ, wir sind also als Co-Autor wirksam. Allerdings geht es nicht um unsere Ideen: Michael White sprach in diesem Zusammenhang davon, »dezentriert und einflussreich zu sein« (»de-centered and influential« – eine gute Übersicht dieser Gedanken findet sich bei Payne, 2000). Wir sind de-zentriert, wenn wir die Positionen und Erfahrungen unserer Gegenüber als das Wichtigste im Gespräch anerkennen, anstatt unsere Erfahrungen für wichtig zu halten. Wir sind einflussreich, wenn es uns gelingt, dass das Gespräch ein nützliches Gerüst ist, damit unser Gegenüber neue Narrative finden kann. Im Folgenden werden Sie »unique outcomes« und die Externalisierung näher kennenlernen – zwei Grundgedanken in allen narrativen Landkarten. Anschließend erfahren Sie mehr über zwei Landkarten zur Positionsbestimmung, in denen Externalisierung und »unique outcomes« eine zentrale Rolle spielen.

»Unique outcomes« als Abzweigung in reichere Erzählungen Ein wichtiger und leider schwierig zu übersetzender Begriff der narrativen Praxis sind »unique outcomes, zu Deutsch: einzigartige Ergebnisse oder besser: bemerkenswerte Begebenheiten. Diese Begebenheiten umfassen alles, was nicht so recht zur dominanten Geschichte passt – es sind Ausnahmen von dieser Geschichte, Stolpersteine, Funkelmomente und Irritationen, in denen sich möglicherweise eine (noch) nicht erzählte Geschichte verbirgt. Wenn eine Familie die Geschichte präsentiert, im Streit zu leben, ist es eine bemerkenswerte Begebenheit, wenn sie alle gemeinsam zur Beratung gekommen sind. Das ist nicht erklärbar allein durch ein Leben im Streit, sondern es spricht

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von etwas anderem: vielleicht einer Hoffnung auf Verbesserung? Oder von der Idee, in harten Zeiten zusammenzustehen? Oder von der Sorge um ein bestimmtes Familienmitglied? Wenn ein junger Mensch davon spricht, dass das Leben keinen Sinn macht, ist es eine bemerkenswerte Begebenheit, wenn diese Person großen Wert auf Freundschaften legt. Wenn jemand im Arbeitskontext der Meinung ist, fehlerfrei zu sein, und sich Kritik des Teams verbittet, ist es eine bemerkenswerte Begebenheit, wenn die Person traurig über die eigene Rolle im Team ist. Dabei geht es nicht darum, einen Beweis zu finden, dass die dominante Geschichte nicht wahr wäre. Innerhalb des Narrativs ist sie wahr! Möglicherweise sind aber auch noch andere Erzählungen genauso wahr, die nicht ins Narrativ passen. Um dies herauszufinden, sind diese Stolpersteine wichtig, egal ob man stolpert, weil es überraschend positiv klingt, überraschend emotional oder einfach überraschend anders. Stolpersteine verweisen auf die Möglichkeit eines alternativen Narrativs. Dabei gilt es, nicht aktiv nach Stolpersteinen zu graben, sondern aufmerksam zu sein für jene, die das Gegenüber von sich aus erzählt. Üblicherweise reicht eine bemerkenswerte Begebenheit nicht aus, um die Problemgeschichte zu erweitern. Sie erinnern sich: Narrative setzen sich zusammen aus einzelnen Erlebnissen, die wir durch ein Thema verbinden. Erst wenn mehrere Stolpersteine durch ein Thema verbunden werden, wird es eine neue Geschichte! Mehr über die Bergung solcher nicht erzählter Geschichten finden Sie auch im Kapitel Nicht erzählte Geschichten in der Therapie, S. 238.

Externalisierung Externalisierung ist die bekannteste Technik der narrativen Therapie  – so geläufig, dass oft gar nicht mehr bekannt ist, dass David Epston und Michael White sie in den 1980er Jahren erfunden haben (Epston, 1989)! Mittlerweile wird in weiten Teilen der systemischen Szene externalisiert, und vielleicht ist auch Ihnen schon ganz klar, worum es geht. Dennoch gibt es bei diesem Thema eine unerwartete Tiefe, die weit über die Anwendung einer Gesprächstechnik hinausgeht und sowohl unser Verständnis von Problemen und Lösungen infrage stellt, wie auch eine Art der Zusammenarbeit verlangt, die erneut die klassischen Ideen von Hilfe und Heilung hinter sich lässt. Externalisierung ist im Grunde schnell erklärt: Anstatt davon zu sprechen, dass wir problematisch sind (z. B. depressiv, bindungsunfähig, cholerisch, introvertiert), spricht man lieber von Problemen als einer Sache außerhalb der

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Person. Die leider häufig verwendete Form der internalisierenden Sprache macht Personen entweder mit ihren Problemen identisch (Borderlinerin, Spaßbremse, Trauerkloß) oder verortet die Probleme als innerhalb der Person liegend (Ungleichgewicht im Gehirn, gebrochenes Herz, fehlende Motivation). Allerdings gibt es im Deutschen auch Beispiele für externalisierende Alltagssprache! Wir »gehen durch eine schwere Phase«, fühlen uns »belastet« (von etwas), Dinge können uns »im Nacken sitzen« oder »auf den Nägeln brennen«, und wir können »aus einer Sache nicht rauskommen«. All diese Beschreibungen trennen die schwierige Sache von uns als Person. Es geht bei der Externalisierung nicht darum, dass diese Art der Beschreibungen wahrer ist als internalisierende. Beide sind sprachliche Figuren, und man kann bei beiden nicht davon sprechen, dass sie präzise Abbildungen der Realität sind. Gemäß der konstruktivistischen Idee der Viabilität (von Glasersfeld, 1997) ist es nicht wichtig, ob unsere Begriffe wahr sind, sondern welche Gespräche durch die gewählte Beschreibungsart möglich werden. Internalisierende Gespräche über Probleme laufen Gefahr, Scham und Selbstabwertung einzuladen und Problemen eine große Stabilität und Unausweichlichkeit einzuräumen. Externalisierende Gespräche laden stattdessen dazu ein, das eigene Verhältnis zum Problem in den Blick zu nehmen: Wie finde ich es eigentlich, wenn die Angst sich in mein Leben einmischt? Was passiert, wenn der Stress seine Klauen nach mir ausstreckt? In einem externalisierenden Gespräch folgen wir den Gedanken von Michael White, der einmal eingängig sagte: Die Person ist nicht das Problem. Das Problem ist das Problem. Das ist so einleuchtend wie naheliegend, und doch erfordert es Mühe, diese klare Trennung zu vollziehen. Der Lohn für diese Mühe ist eine verbesserte, breitere Sicht auf die Probleme, die uns stören und in Folge auch auf uns selbst. Um externalisierende Sprache einzusetzen, sollten Sie Probleme immer als Substantiv benennen, niemals als Adjektiv. Es geht um die Depression, nicht darum, ob jemand depressiv ist. Außerdem ist es wichtig, das Verhältnis zu beschreiben, das zwischen Person und Problem besteht – ansonsten laufen Sie Gefahr, nur andere Worte zu verwenden, aber es immer noch so darzustellen, als wäre die Sache im Inneren der Person: »Seit wann haben Sie die Depression?« ist überhaupt nicht externalisierend! Die Depression kann sich ins Leben drängen, im Weg stehen, kann unsere Beziehungen belasten oder den Schlaf stören. Erst durch die Beschreibung des Problems als Akteur in der Geschichte wird die Konversation externalisierend! Ein wunderbares Beispiel für das, was durch externalisierende Sprache möglich wird, ist das Buch »Mein schwarzer Hund« von Matthew Johnstone (2008), in dem der Autor in einleuchtender und bildhafter Sprache beschreibt, wie schwierig es ist, mit dem schwarzen Hund der Depression umzugehen!

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Details über das Problem Es ist viel leichter, über ein Problem im Außen zu sprechen, weil wir uns nicht selbst in die Pfanne hauen müssen! Wenn der hohe Anspruch mir den Spaß an meinen Aufgaben verleidet, kann ich dazu leichter etwas sagen, als wenn ich über »meinen Perfektionismus« reden muss. Insofern bewirkt das Interesse an dem externalisierten Problem ganz von allein eine entlastende Trennung zwischen Person und Problem. Alle Fragen nach den Eigenschaften und Gewohnheiten des Problems betreten ein Gelände, in dem unser Gegenüber eben nicht problematisch ist, sondern über große Expertise verfügt, das Problem zu beschreiben. Ein wichtiger Nebeneffekt ist, dass das Problematische am Problem nicht geleugnet werden muss. Sinn der Externalisierung ist keineswegs, Menschen ihr Problem zu nehmen. Es geht im Gegenteil um die sehr klare Benennung davon, dass das Problem ein Problem ist! Nur wird dabei der Mensch aus der Schusslinie genommen, denn der Mensch ist völlig in Ordnung. Für mich schließt das nahtlos an viele ressourcenorientierte Gedanken dazu an, dass es in zahllosen Beispielen absolut verständlich und menschlich ist, das zu erleben, was manchmal als »psychische Störung« beschrieben wird. Wenn sich Zweifel am Sinn ins Leben drängen, wird es schwieriger, Freunde zu treffen, na klar! Vielleicht sind es heimliche Zweifel oder sehr laute, vielleicht kommen sie geballt oder tröpfchenweise, aber in jedem Fall unterlaufen sie die Bemühungen der Person, ein schönes Leben zu führen! Details über die Person Indem wir klar benennen, wo das Problem sich einmischt und an welchen Stellen es die Person genau belastet, wird es auch möglich, über diese belasteten Stellen zu sprechen. Probleme stören uns meist, weil sie etwas Wichtigem in die Quere kommen: Der verspätete Zug ist ein Problem, weil ich gern pünktlich zu meiner Verabredung kommen will. Externalisierende Gespräche führen oft zu erstaunlichen Momenten, in denen Menschen über Dinge sprechen, die ihnen am Herzen liegen, auf die man anhand des Problems nicht gekommen wäre: Die Depression stört, weil sie mir die Freude nimmt, und Freude ist das höchste Gut im Leben. Der hohe Anspruch ist ein Problem, weil ich finde, dass ich Entspannung und Großzügigkeit verdiene. Die soziale Phobie hält mich von meinen Freunden fern, dabei sind Freundschaften das Wichtigste im Leben. Wenn es uns überrascht, dass »eine Depressive« die Freude vermisst, »ein Perfektionist« von Entspannung spricht und »eine Sozialphobikerin« ihre

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Freunde erwähnt, dann liegt das am Effekt internalisierender Beschreibungen, bei denen wir schnell Gefahr laufen, das Problem mit der Person zu verwechseln. Externalisierung deckt erfolgreich auf, dass Menschen von Problemen bei dem gestört werden, was sie eigentlich wollen! Wenn es gelingt, dass Menschen darüber sprechen, wobei Probleme stören, werden sie in ihren Werten und Überzeugungen sichtbar, und es wird möglich, die Geschichten über diese Anteile zu hören, neu zu erzählen und wachsen zu lassen. Im Gespräch geht es plötzlich vorwiegend um die Person, und es kann sehr erleichternd und bestärkend sein, von jenen Anteilen sprechen zu dürfen, die bisher verschüttet waren. Die im Anschluss vorgestellten Landkarten zur Positionsbestimmung sind gute Beispiele für Gesprächsverläufe, die genau das ermöglichen. Zwei Karten zur Positionsbestimmung Zwei der eingangs erwähnten Karten von Michael White beschreiben eine Bewegung in die Höhe: Beginnend mit dem, was bewusst und bekannt ist, bewegen sich Konversationen nach diesen Vorgaben in größere »Höhe«, aus der man weiter schauen kann auf das, was möglich ist zu wissen (siehe Abb. 3). Aufgrund der Metapher der zu erklimmenden Höhe erfolgt übrigens die Darstellung der einzelnen Schritte von unten nach oben. Dennoch wird bei der 1 begonnen, und dann wandelt das Gespräch langsam Abbildung 3: Möglich zu wissen (kein Text) in die höheren Regionen. Die erste Karte zur Positionsbestimmung dreht sich um Probleme und beginnt mit einer gründlichen externalisierenden Beschreibung des Problems. Hier sind wir noch deutlich in dem, was die Personen schon gut kennen und wissen: Wie ist das Problem? Einzig die Art und Weise der Beschreibung ist schon ein bisschen anders und erleichtert es, sich vom Problem mit all seinen schlechten Eigenschaften abzugrenzen. Hier fragen wir ausgiebig nach, um was für ein Problem genau es sich handelt, ob es bestimmte Eigenschaften hat, bestimmte Angewohnheiten. Ist der Stress eher ein großer Einzelstress oder viele kleine? Und sind diese vielen kleinen Stresse eher laut oder leise? Was ist das für ein

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Stress, eher ein Monsterstress oder ein tierischer Stress oder etwas ganz anderes? Wenn der Stress jetzt zur Tür reinkäme, wie müsste ich ihn mir vorstellen? Als zweiten Schritt betrachtet diese Karte die Effekte und Verbindungen des Problems, also die Auswirkungen auf die Person und andere Aspekte des Lebens, die mit dem Problem in Verbindung stehen. Dies können beispielsweise vergangene Erfahrungen mit dem Problem sein oder andere Personen, die das Problem entweder gefüttert haben oder auch schon davon herausgefordert waren. Dieser Teil des Gesprächs strickt bereits sehr deutlich an einem neuen Narrativ, in dem das Problem etwas ist, das uns bei Dingen stört! Die Stressflöhe beeinflussen meinen Schlaf und meine Beziehung, sie sind besonders irritierend bei allen Versuchen, mich zu entspannen, und mischen sich gern ein in Situationen, in denen sie besonders stören. Der dritte und oft etwas unbeholfen wirkende Schritt interessiert sich für die Bewertung der gesammelten Effekte. Hier sind Klienten oft irritiert. Natürlich finden sie diese Effekte schlecht, ist doch klar! Interessant wird es, wenn man genauer darüber spricht: Jenseits von gut und schlecht gibt es reichhaltigere Beschreibungen davon, wie genau ich es finde, dass die Stressflöhe meine Entspannungszeit auf dem Gewissen haben, und diese Beschreibungen sind eine wichtige Grundlage, um den vierten Schritt vorzubereiten. Vielleicht finde ich es unverschämt oder dreist, vielleicht aber auch tragisch oder verdient. Auch zu den Verbindungen kann ich ins Verhältnis treten und es erbärmlich finden, dass ich genau wie meine Mutter mit Stress zu tun habe. Vielleicht finde ich es aber auch rührend oder tröstlich, dass die Stressflöhe ein Familienproblem sind. Durch diesen Teil des Gesprächs finde ich Worte für das Verhältnis, in dem ich zum Problem stehe. Sie erinnern sich: Wir stehen zu allem im Verhältnis, zu anderen Menschen, zu unseren liebsten Besitztümern, und eben auch zu Problemen und auch zu unseren Werten! Im vierten Schritt geht es um die Werte und Überzeugungen, die erklären, wieso wir die Lage so bewertet haben. Hier wird das narrative Menschenbild sehr sichtbar: Menschen haben Absichten und Werte, die sich in ihrem Verhalten und ihren Überzeugungen zeigen. Wir handeln, denken und fühlen, weil uns etwas wichtig ist. Nicht Triebe oder Anreize lenken unser Verhalten, sondern unsere Vorlieben und Werte! Getreu dieser Annahme können wir nach diesen Werten fragen, können ein reichhaltiges Gespräch darüber führen, was uns da so am Herzen liegt und wieso das so ist: Wie kommt es, dass Sie gerührt davon sind, von den gleichen Stressflöhen geplagt zu werden wie Ihre Mutter? Ach, weil Sie ein Familienmensch sind? Erzählen Sie mehr! All diese Schritte haben einen wichtigen Aspekt gemeinsam: Sie dienen nicht dazu, Probleme zu lösen. Sie sammeln keine Details, um – einer Kausallogik

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folgend – Gegenmittel zu entwerfen, Strategien zu finden, Muster zu durchbrechen oder Ähnliches. Stattdessen erlauben sie schlicht und ergreifend, dass eine andere Geschichte erzählt wird. Die bekannte und dominante Geschichte von »Ich bin total gestresst« kann in einem solchen Gespräch mal zur Seite treten und erlaubt Platz für die Geschichten von »Ich bin ein Familienmensch« und »Gemeinsame Zeit in Partnerschaft ist mir immer schon wichtig«. Insofern spielt für eine narrative Sitzung auch keine Rolle, ob Sie als Gesprächsführerin an jeder Stelle noch wissen, inwiefern etwas noch mit der »Lösung« eines Problems zusammenhängt. Vertrauen Sie darauf, dass die sich ergebenden Geschichten Teil einer reichhaltigeren Erzählung über Ihr Gegenüber sind und es wohltuend und heilsam sein kann, sich wieder mehr mit diesen alternativen Erzählungen zu verbinden! Weil das so ist, spielt es übrigens eine untergeordnete Rolle, wo genau sie anfangen – Hauptsache, Sie sprechen über Themen, die Ihr Gegenüber interessant und wichtig findet. So wird es möglich, dass eine neue Erzählung einen Platz findet und den dominanten Diskurs erweitert: Ein erweitertes Selbstbild, eine neue Wahlmöglichkeit, eine unentdeckte Seite. Die zweite Karte zur Positionsbestimmung nutzt als Einstieg eine ergriffene Initiative oder eine Ausnahme, also eine bemerkenswerte Begebenheit (»unique outcome). Sie folgt einem ganz ähnlichen Muster und wird deshalb in kürzerer Form dargestellt: 4. Werte, die diese Bewertung erklären 3. Bewertung der Effekte und Verbindungen 2. Effekte und Verbindungen der Initiative oder Ausnahme 1. Detaillierte Beschreibung der Initiative oder Ausnahme Vielleicht hat die Person mit den Stressflöhen kurz erwähnt, wie sie einer Kollegin geraten hat, sich einen Tag freizunehmen. Diese Handlung passt nicht zur dominanten Geschichte von Stress und der Unfähigkeit, mit ihm umzugehen, also gehört sie wohl zu einer noch nicht erzählten Geschichte! Schenken Sie ihr Gehör, indem Sie sich detailliert schildern lassen, wie genau das war. Fragen Sie nach: Wer war noch dabei? Wie hat die Kollegin reagiert? Wie lief das ab?   Und was ist dann geschehen? Welche Effekte hatte das Gespräch auf die Kollegin, und welche weiteren Effekte gab es, z. B. auch auf Sie? Welche Verbindungen gibt es zwischen dieser Initiative und anderen Geschichten? Ist so etwas schon einmal passiert? Hat jemand anders schon mal etwas Ähnliches gemacht, sodass Sie es erleben konnten? Wie war das?

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  Und wie bewerten Sie das? Was bedeutet es für Sie, dass die Kollegin Sie im Anschluss umarmt hat? Wie finden Sie, dass Sie das ganz ähnlich gehandhabt haben wie Ihre erste Chefin damals bei Ihnen?   Und wie kommt es, dass Sie das so finden? Mit was waren Sie da verbunden, das Ihnen wichtig ist? Mit solchen Gesprächen betreten Sie Gelände, das abseits der ausgetretenen Pfade liegt. Diese Geschichten sind noch nicht hundertfach erzählt, und manchmal kann es sehr schwierig sein, sich in diesem Dickicht des Könnte-auch-Seins zu bewegen. Aus dem Grund ist es wichtig, dass Sie sich nicht hetzen, sondern sich bei jedem Schritt Zeit lassen. Die Exploration jedes einzelnen Schritts ist die Grundlage, um den nächsten Schritt denken und gehen zu können. Diese vorsichtige und achtsame Aufbauarbeit wird im narrativen Jargon als Gerüstbau bezeichnet (»scaffolding«): Um ein Haus höher bauen zu können, braucht es ein Gerüst. Genauso braucht es ein Gerüst, um höher liegende Geschichten erreichen zu können, andernfalls können sie sich abgehoben und wie eine »Luftnummer« anfühlen. Aus dem gleichen Grund erlaube ich mir die Warnung, dass die Werte nicht das Ziel des Gesprächs sind – es geht nicht darum, die vierte Frage nach den Werten zu beantworten, und wenn man das tut, löst sich das Problem auf. Die gesamte Konversation ist im besten Falle interessant und wichtig, auf jeder Ebene kann die Geschichte reichhaltiger werden, indem man die dominante Geschichte erweitert, nicht erzählte Anteile eben doch erzählt und verschüttete Elemente birgt. Unsere Rolle als Praktizierende ist dabei eine gemischte Rolle als Co-Autorin, die das Schreiben neuer Geschichten durch unser Interesse und offenes Ohr unterstützt, und Zeugin, die dem Erzählen der neuen Geschichten beiwohnt. Wenn es uns gelingt, nicht zu drängen, nichts erreichen zu wollen, nichts verstören oder anschieben zu wollen, sondern wir gemeinsam mit unserem Gegenüber die Narrative explorieren, die neben den bekannten, dominanten Geschichten ebenfalls wahr sind, ergibt sich eine ganz einfache Arbeit, die Raum lässt für das, was sonst keinen Raum hat.

Literatur Anderson, H. (1997). Conversation, language, and possibilities. New York: BasicBooks. de Shazer, S., Dolan, Y. (2015). Mehr als ein Wunder. Heidelberg: Carl-Auer. Epston, D. (1989). Collected papers. Adelaide: Dulwich Centre Publications.

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Glasersfeld, E. von (1997). Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Johnstone, M. (2008). Mein schwarzer Hund. München: Verlag Antje Kunstmann. Korzybski (1933). Science and Sanity: An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics, 58. White, M. (2007). Maps of narrative practice. New York: Norton. Wiesner, M., Epstein, E., Duda, L. (2015). Sprachtmachsinn: Die Krise der Psychotherapie und der Weg zu einer posttherapeutischen Zukunft. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 47 (3), 581–593. Payne, M. (2000). Narrative Therapy. An Introduction for Counsellors. London: Sage.

Das nomadische Team: Zusammenarbeit in der narrativen Psychotherapie JAN OLTHOF

Einleitung Viele Therapeuten, die in der Psychotherapie und Psychiatrie, in der Jugendbetreuung und in der ambulanten Familienberatung tätig sind, stoßen bei ihrer Arbeit auf das Phänomen, dass sich die Prozesse der Klientinnen im Pflegeteam oder bei einer Einzelperson widerspiegeln. Probleme von Klienten lassen sich sogar manchmal in individuellen Problemen von Teammitgliedern wiederfinden. In diesem Beitrag geht es darum, diese Wiederholungsprozesse zu verstehen und zu nutzen. Die Erfahrung zeigt, dass Symptome, Beschwerden und Phänomene, die Klientinnen aus ihrer Welt in den Kontext der Pflegeleistung bringen, in das Hilfssystem »überschwappen« – ganz unabhängig davon, ob dieser Kontext aus einem einzelnen Helfer oder einem Team von Dienstleistenden besteht, und auch unabhängig vom Setting, von der Psychiatrie bis zur Grundversorgung, von der Kinder- und Jugendbetreuung bis zur Altenpflege. Die Symptome, die Atmosphäre im Raum, die Art zu sprechen und die Wortwahl wiederholen sich im Kontext des Hilfsangebots und differenzieren sich in und zwischen den Teammitgliedern. Erlebt wird das Ganze als ein Chor von Stimmen und ein Gewirr von Gefühlen. Koalitionen in einer Familie spiegeln sich nicht selten in Koalitionen im Team. Ein streitsüchtiges Paar wird auf streitsüchtige Teammitglieder treffen, ein überfürsorglicher Elternteil kann bei einem überfürsorglichen Therapeuten eine Entsprechung finden, so wie ein bestrafender Elternteil auf ein bestrafendes Teammitglied stößt. Ein ängstliches, traumatisiertes und ruhiges Kind spiegelt sich in der Besprechung in einem Teammitglied, das es kaum wagt zu sprechen. Ein Geheimnis in der Familie führt zu Schweigen in der Versammlung, zu Zögern und einer schweren Atmosphäre mit »dicker Luft«. Wenn das Team über das Klientensystem diskutiert, treten im Team häufig ähnliche Phänomene auf, häufig in verdünnter, abgeleiteter – mit anderen Worten – in mimetischer Form (Ijsseling, 1990). Im Laufe der Zeit wurden diese Wiederholungsprozesse mit verschiedenen Begriffen belegt, als »parallele Prozesse« (Papp, 1980; Sheinberg, 1985), »Iso-

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morphismus« (Boeckhorst, 2003; Simon, Clement u. Stierlin, 1990), »Resonanz« (Ausloos, 1999) oder »Virusinfektion« (Olthof u. Vermetten, 1994). Kollaborierende Leistungserbringer, die mit bester Absicht arbeiten, sind sich dieser sich wiederholenden Prozesse keineswegs immer bewusst. Sie finden außerhalb unserer Wahrnehmung statt, lassen sich aber mit einer bestimmten Methode zurückverfolgen. Die Metapher der »Virusinfektion« kann meines Erachtens bei der Suche nach dem angemessenen Vorgehen hilfreich sein: Ein Virus dringt in einen Wirtsorganismus ein und stimuliert dort die Produktion seines eigenen Materials. Der Identitätscode des Organismus wird überschrieben, es ist ein Transkriptionsprozess. Vielleicht könnte man hier auch im Sinn eines Wortspiels von einer »Trance-Skription« sprechen: Der jeweilige Helfer gerät, ohne sich dessen bewusst zu sein, in eine Art Trance. In der Metapher der »Virusinfektion« findet die Phänomenologie des Klientinnensystems und des größeren Kontextes ein neues Leben im »Wirtskörper« des Supervisionsteams. Zum Beispiel kommt mit häuslicher Gewalt ein »Gewaltvirus« in die Familie, ein Virus mit einem ganz eigenen Code. In ihm sind Elemente wie Täter und Opfer, Bedrohung, wissende und unwissende Zeugen, Grenzüberschreitungen, Geheimhaltung und die Atmosphäre verschlüsselt, in der die Gewalt stattfindet. Der Code ist eine Art von Kontextmarkierung (Bateson, 1981, S. 374), die als Zeichen fungiert, um das analoge »Material« zu erstellen. Der »Virus« überträgt sich auf das Team und wenn sie den Code nicht erkennen, werden die Teammitglieder »krank«. Die Symptome des Familiensystems werden im Team spürbar: Tabus, Angst zu sprechen, Geheimhaltung, Koalitionen, Konflikte und Apathie. Das »Immunsystem«, das den Code nicht erkennt, wird krank. Es kommt zu erodierenden Teamkonflikten, Schul- und Methodenkämpfen, zu Abspaltungen und Ausschlussmechanismen. Entscheidungen werden brachial durchgesetzt, Pflegedienstleister aus der Pflege entfernt, Teammitglieder melden sich krank und der Wunsch nach Supervision kommt auf. Um die »Krankheit« zu bekämpfen, wird dann häufig das gleiche Arzneimittel genutzt wie im Kontext der Klienten: Aufteilen, Unterdrücken von Themen, Erklären bestimmter Themen als Tabu und das Verbot des Sprechens. In der Terminologie von Maturana und Varela (1987) lässt sich dieser Prozess als strukturelle Koppelung beschreiben: Sobald Klientinnen mit dem Hilfesystem in Kontakt kommen, treten sie mit allem, was ihre Lebensgeschichte ausmacht, mit den Helfenden in Kontakt. Genau dieses »von Angesicht zu Angesicht« bringt ein Gefühl von Unbehagen mit sich: Da stimmt irgendetwas nicht … Oft reicht irgendeine Form von Koppelung, um dieses Gefühl hervorzurufen, eine Überweisung, ein schriftlicher oder telefonischer Kontakt kann schon ausreichen.

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In diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass diese »viralen Vorgänge« nicht nur unvermeidlich sind, sondern auch als wichtige Informationsquelle genutzt werden können. Sie sind dann eine Voraussetzung für einen tiefen, einfühlsamen Kontakt und können als Grundlage für eine phänomenologische Diagnostik oder Prozessdiagnostik herangezogen werden.

Das Team als therapeutisches Medium: Das nomadische Team Die Begriffe »nomadisch« und »nomadisches Denken« sind Konzepte des französischen Philosophen Gilles Deleuze (Deleuze u. Guattari, 1977; Braidotti, 1994, 2004). Deleuze führte eine Denkweise ein, die das Risiko eingeht, die »feste Burg des Wissens« zu verlassen und auf die Reise zu gehen. Während der Reise trifft man auf viele andere Wissensformen, die lokal, zeit- und kontextgebunden und historisch sind. Daher schätzt dieses Denken die »kleinen Geschichten«. Es ist affektiv, physisch und hat eher eine »rhizomatische Struktur«, also eher die Struktur eines vielfach in sich verschlungenen Wurzelwerks als die Struktur eines »Baumes«, eher nebeneinander und nicht hierarchisch angeordnet. Es ist polyphon, mehrfarbig und sucht nicht nach einer größeren, universelleren Wahrheit, sondern nach den »kleinen Wahrheiten«, nach dem Authentischen, dem Besonderen, den Ausnahmen und den Rändern, auf das, was nicht vereinheitlicht und reduziert werden kann. Es sucht die Geschichten, die noch nicht erzählt wurden, die Geschichten, die von dem vorherrschenden Diskurs ausgeschlossen sind, die marginalisierten Geschichten. Dieses Denken wird dem Intuitiven und Lebendigen als Wissensquelle gerecht. Es sucht die Stille und das Schweigen, das Zögern und das Besondere. Es wird davon ausgegangen, dass Realität auf viele Arten erzählt werden kann, und es ist sich der Machtaspekte eines jeden Diskurses bewusst. Es weiß mit Foucault (1971), dass jeder Diskurs Ausschlussverfahren hat, die bestimmen, wer sprechen darf und wer schweigen muss, was als Wissen gilt und was nicht, was als vernünftig und was als unvernünftig anzusehen ist, wie man spricht und was man nicht sagt. Das nomadische Denken widersteht der Ausgrenzung und der Vereinheitlichung (Braidotti, 1994; 2004). Es umfasst Unterschiede und betont die Lage von Aussagen und die Relativität von Wissen und akzeptiert keine universelle Wahrheit, sondern betont kleingeschriebene »wahrheiten«. So wird anderen Stimmen das Recht gegeben zu sprechen, die oft im Laufe der Zeit schweigen mussten, den anderen, die über anderes reden, den »Verlierern« und Ausgegrenzten, der Ökologie, der Natur, der Flora und Fauna –

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dem »Parlament der Dinge« (Latour, 2001). In therapeutischen Teams ist das Sprechen oft den sachkundigsten, erfahrensten, am längsten amtierenden oder am höchsten in der Hierarchie vorbehalten. Andere Wissensquellen werden dabei ausgeschlossen. Die Lebenserfahrung anderer Teammitglieder kommt auf diese Weise weniger zur Sprache, da sie anders, intuitiv und unerwartet ist und als unvernünftig oder unprofessionell angesehen wird. Deleuze zufolge hat oft der Logos das Primat. Im Nomadenteam sind alle Teilnehmer und Partner. Alle zusammen repräsentieren viele verschiedene Quellen von Wissen und Lebenserfahrung. Ein nomadisches Team von Helferinnen, das sich auf die Spur viraler Prozesse begibt, arbeitet wie ein therapeutisches Immunsystem, wie ein Medium, das Informationen aufnimmt. Wir beobachten also nicht unsere Klienten, sondern unsere Beziehung zu ihnen. Wir sind in unserer Wahrnehmung mit ihnen verbunden und stehen nicht auf einem äußeren »Beobachtungsposten«. Die hier zu betrachtende Methode ist inspiriert von der sogenannten »prismatischen Arbeit« des Psychiaters Alfred Drees im Bertha Krankenhaus in Duisburg in den 1980er und 1990er Jahren. Er nannte sie auch »Phantasiearbeit« (Drees, 1991; 1995). In den 1950er Jahren hatte Drees zu einer Gruppe kritischer Psychiater gehört, die sich zusammengeschlossen hatten, um die Türen in der Psychiatrie offen zu halten. Die »offene Tür« war die Antwort auf ein totalitäres Denken, dessen dunkle Schatten noch deutlich spürbar waren. Um zu verhindern, dass die Psychiatrie ein Bollwerk der Macht, der Mechanismen der Ausgrenzung und Beschränkung sei, sollten »Geist und Fantasie« offenbleiben. Fantasien, die frei ausgedrückt werden, könnten helfen, Prozesse der Gegenübertragung zu kanalisieren. Ein Prisma ist ein transparentes optisches Element mit polierten Oberflächen. Durch diese Oberflächen wird Licht unterschiedlicher Wellenlängen in verschiedene Richtungen abgelenkt. Auf diese Weise wird das Spektrum erkennbar. Aus verschiedenen Blickwinkeln fällt »das Licht« der Helfer durch das Prisma auf ihre Klientinnen. Es gibt keine feste Beobachtung, keinen festen Beobachtungspunkt, aber es fallen Licht und Winkel ein. So werden Klienten in ihrem Spektrum »gesehen«. In den 1980er Jahren wurde ich eingeladen, am Bertha Krankenhaus als Supervisor und Pädagoge für Familientherapie zu arbeiten. Diese Jahre haben mich tief beeindruckt. Wir sahen psychiatrische Patienten mit sehr schwerer Symptomatik, etwa Söhne und Töchter von Nazioffizieren mit ihren Familien. Es war eine Zeit, in der wir mit dem Einwegspiegel arbeiteten. Alle Beteiligten, Psychiater, Psychologen, Krankenschwestern wie Sozialarbeiter wurden emotional mit ihrer eigenen Geschichte und der ihrer eigenen Familie konfrontiert. Gewalttätige Prozesse der Gegenübertragung, die im Raum spürbar waren,

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raubten einem den Atem. Die »Phantasiearbeit« gab all diesen Prozessen Raum, zugleich waren sie an »Spielregeln« gebunden.

Nomadische Spielregeln Wenn ein Team als gesundes »Immunsystem« fungieren möchte, muss es eine Reihe von Regeln beachten. Diese Spielregeln überwachen die »Hygiene«, die notwendig ist, um mit »Virusinfektionen« umzugehen (Olthof, 2017). Als wichtigste Regel betonte Drees, dass alles, was im Kontakt mit den Klientinnen geschieht, auf die Klienten zurückgeführt und als Information über die Klientin angesehen wird: 1. Alles ist der Patient. Natürlich übertragen Therapeutinnen ihre persönliche Geschichte auch auf ihre Klienten. Wir gehen jedoch davon aus, dass Therapeuten durchaus sensibel für die eigenen Empfindlichkeiten und Schwachstellen sind. Natürlich reflektieren die Klientinnen auch, was im Helfersystem los ist. Doch um frei sprechen zu können, wird vereinbart, von dem Axiom »Alles ist der Patient« auszugehen. Denn wenn das, was in der Begegnung passiert, auf die Therapeuten persönlich zurückgeführt würde, würden sich die Türen schließen. Therapeutinnen würden sich aus Angst, abgelehnt oder als unprofessionell angesehen zu werden, nicht mehr trauen, ihre Fantasie zu nutzen. 2. Alles, was im Raum in Resonanz mit der Patientin passiert, ist wichtig. Fantasien, Assoziationen, die Atmosphäre im Raum, Stimmung, Körperreaktionen – alles erzählt eine Geschichte, repräsentiert eine bestimmte Farbe und ein bestimmtes Licht, einen bestimmten Wahrnehmungsaspekt. Die Teammitglieder beginnen sich voneinander zu unterscheiden, sie sprechen verschiedene Aspekte der Klientengeschichte an. Das Gespräch wird mehrfarbig und nuanciert. Eine frische Brise weht und die Fenster öffnen sich. 3. Prozesse der »Virusinfektion« erfordern eine bestimmte Inkubationszeit. Eine »Immunantwort« muss sich entwickeln. Wenn Teambesprechungen unter dem Motto »Wir haben keine Zeit« durchgeführt werden, erkennen die Teammitglieder häufig nicht, dass sie Teil von iterierenden Prozessen sind, und fügen eher Komplexität hinzu, als auf eine tiefere Ebene zu gelangen. Auf der Grundlage der drei Regeln erreicht das Team eine gesunde Beziehung zu sich selbst und den Mitgliedern des Klientensystems. Die Arbeitsweise des Nomadenteams besteht aus der Nomadischen- und der Erzählphase.

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Nomadische Phase Diese Phase beginnt, wenn die Informationen über die Klientinnen im Team diskutiert werden. Jedes Teammitglied äußert seine Resonanz. Jeder achtet auf die spontanen Ideen und darauf, wohin die Aufmerksamkeit geht. Assoziationen sind erlaubt. Jeder spürt, wie der Körper reagiert. Diese Reaktionen sind Resonanzquelle für die Atmosphäre im Raum, alle teilen ihre Wahrnehmung. Dies wird als Mitteilung eines empfangenden Organismus angesehen, der beschreibt, was mit ihm geschieht. Die Aussagen stehen für sich selbst, was mitgeteilt wurde, schwebt frei im Raum. So entsteht ein phänomenologischer Raum, eine Art struktureller Kopplung zwischen den Teammitgliedern und dem Klienten. Die Teammitglieder stellen das eigene Unbewusste in einem Resonanzprozess in den Dienst des Unbewussten ihrer Klientinnen. Die Wahrnehmungen der Teammitglieder unterscheiden sich, Interaktionen werden ausgespielt, Konflikte simuliert, Koalitionen entstehen, Positionen werden eingenommen. All dies wird als Mimesis angesehen (Ijsseling, 1990; Palaver, 2008), als Nachahmung und Erzählung der Welt des Klienten. Der Raum wird von der Welt des »Als-ob« geschützt. Alles wird als Wiederholungsprozess gesehen, sodass auch Konflikte keine echten Konflikte sind, sondern Spiegelprozesse. Die Teammitglieder werden »infiziert«, die Diagnostik wird phänomenologisch und »persönlich«. Das Team ist sich der Infektion bewusst und sucht nach dem Code, aus dem diese besteht. Heftig kämpfende Teammitglieder können ihre »Schlachten« auf geschützte Weise führen. Sie wissen, dass sie ihre Kämpfe als Informationen über die Umgebung ihres Klienten untersuchen werden. Der assoziative Prozess wird so einerseits angeregt und andererseits geschützt, weil er in einem freien Raum stattfindet, dem sogenannten SubjektObjekt-freien Raum. Feste Subjekt-Objekt-Beziehungen werden aufgegeben. Also nicht: »Ich denke, diese Mutter ist eine Madonna!«, mit einem Schwerpunkt auf »Ich« und »diese Mutter« mit einem festen Bild von »Madonna«. Stattdessen sagt man: »Mir kommt das Bild einer Madonna in den Sinn!« Die Geschichte geht weiter damit, welche Assoziationen eine Madonna hervorrufen kann. Die Mutter »ist« also keine Madonna, sondern ruft ein solches Bild hervor. Das Bild kann divergieren, in verschiedene Richtungen gehen und mit anderen Bildern verknüpft werden. Es ist nicht das eigene, nicht »meins«, es geht »durch mich hindurch«. Für Drees ist dies der »potentielle Raum« (Drees, 1991; 1995). In diesem Raum wird eine besondere Sprachform angeregt, die sogenannte Rheomode-Sprache. (»rheo« bedeutet auf Griechisch »fließen«; »mode« bedeutet »in der Art von«). Der Quantenphysiker David Bohm hat diese Sprache, die wir auch innerhalb der Ideen der afrikanischen Philosophie von Ubuntu kennen,

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als ein mögliches Experiment vorgeschlagen (Bohm, 1980; Ramose, 2005). Es ist eine Sprache, die auf dem Verb basiert. Das Verb verbindet und organisiert die Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten. In der prismatischen Arbeit geht es um Polyphonie. Mehrere Perspektiven erhalten Raum, um der Komplexität der Klientinnengeschichte gerecht zu werden. Das Team ist ein »polyphones Selbst«. Die Positionen der Teammitglieder werden als Ableitung von Positionen im sozialen Raum des Klienten angesehen. Koalitionen gelten als Koalitionen seiner Familie, die Atmosphäre im Raum kann etwas über die häusliche Atmosphäre aussagen, körperliche Empfindungen und Symptome können etwas von jemandem aus der Familie erzählen. Im freien Raum zwischen Subjekt und Objekt kann das Geschichtenerzählen fortgesetzt und differenziert werden. Bauchschmerzen in einem Teammitglied als Reaktion auf die Geschichte der Klientin können sich von einem Teammitglied zum anderen verschieben und ändern. Symptomatische Erfahrungen von Teammitgliedern werden als Indikatoren angesehen. Es gibt Raum für die unerzählten Geschichten, für die Stummen und die Abwesenden, für neue Bedeutungszusammenhänge.

Die Erzählphase In der zweiten Phase des nomadischen Teams werden die Assoziationen und alles, was im freien Raum entstanden ist, analysiert und als Teilgeschichten auf das Klientensystem und dessen Ökologie hin interpretiert. Das Team reflektiert die Themen, die in allen Assoziationen und mimetischen Interaktionen aufgetaucht sind. Diese werden in einer Erzählung zusammengefasst, die an den Klienten zurückgemeldet wird. In der Erzählung werden die Beschwerden oder Symptome in einen sinnvollen Kontext gestellt. Dieser entsteht aus den spontanen Ereignissen und mimetischen Interaktionen. Es entsteht eine reichhaltige, farbige Geschichte mit vielen Perspektiven, Stimmen und Positionen. Es werden so viele verschiedene Bilder wie möglich in die Erzählung aufgenommen. Eine solche Erzählung kann ein therapeutischer Brief sein, ein Gedicht oder eine Geschichte, Filmszenen, ein Märchen oder eine mythologische Geschichte. Zugleich spielen Auswahl und Reflexion eine wichtige Rolle. Nicht alles kann enthalten sein. Die Therapeutin, die mit dem Klientensystem arbeitet, wählt die Handlungsstränge aus, die für sie hilfreich sind. Das »innere Gespräch des Therapeuten« ist hier wichtig (Rober, 1999, Olthof u. Rober, 2001). Die reichhaltigere visuelle Sprache der therapeutischen Erzählung trägt

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dazu bei, den Problemdiskurs mit mehreren Bedeutungen und Handlungssträngen zu versehen. Sie ist ausdrücklich nicht im therapeutischen Jargon formuliert. Diese Prozesse liefen in den 1980er Jahren noch ohne die Klienten ab. Die Therapeutin gab später eine Zusammenfassung über das, was im Team besprochen worden war. Heute, in unserem »Werkplaats«, sind die Ratsuchenden immer dabei und wählen nach der Gesprächsrunde, welches Thema für sie passend ist. Zum Beispiel kann ein Mitglied der Familie sich durch das Bild der Madonna angesprochen fühlen. Dieses Bild gibt dann Richtung an die weitere Richtung des Gesprächs. Wenn der Gesprächspartner der Darstellung des Problems in der Erzählung zustimmt, gibt es eine Grundlage für die Zusammenarbeit, ein »Ja« und eine gemeinsame Bedeutung. Dann sind Therapeut und Klientin fruchtbar miteinander verbunden. Resonanz wird im Nomadenteam als zirkulärer Prozess gesehen.

Reflektierendes Team Das »reflektierende Team! als Methode wurde von Tom Andersen in die systemische Therapie eingeführt (Andersen, 1987, 1990; siehe auch Hargens u. von Schlippe, 1998). Nachdem er ursprünglich mit dem Einwegspiegel gearbeitet hatte, um Klienten zu beobachten, kam er auf die Idee, den Spiegel umzudrehen und den Klienten zu ermöglichen, auch den Dialog der Therapeuten zu verfolgen. Seit 2010 haben wir in unserem Ausbildungszentrum, der School for Systemic Practice in Bunde (Niederlande), einen Platz geschaffen, an dem Therapeuten in reflektierenden Teams auf nomadische und narrative Weise zusammenarbeiten, um Fälle aus der täglichen Praxis in unserem »Werkplaats« zu reflektieren. Das reflektierende Team ist wie ein »griechischer Chor«. Wenn dieser im Verlauf des Treffens seine Fantasien und Assoziationen sprechen lässt, sitzen die Mitglieder im Kreis, sprechen miteinander ohne Blickkontakt zu Familienmitgliedern und Therapeutinnen. Während der »Chor« anfänglich nur zuhört, sind es jetzt Therapeut und Familienmitglieder, die Zeit haben, im Zuhören ihre Gedanken schweifen zu lassen. Je nach verfügbarer Zeit gibt es zwei oder drei dieser Runden.

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Ein Beispiel aus der Praxis Das folgende Falbeispiel soll das Vorgehen illustrieren. Einleitung Die Person, die sich zur Therapie angemeldet hatte, war die älteste Tochter aus einer Familie mit ursprünglich sieben Kindern. Der Therapeut hatte die Familie eingeladen, sich im Rahmen einer Live-Konsultationssitzung im »Werkplaats« vorzustellen.1 Die Einladung, stellte er klar, gelte der ganzen Familie. Die Mitglieder des »Werkplaats« und der Supervisor (immer natürlich auch die Therapeutin, die Supervisorin; da der Autor hier selbst aktiv war, bleiben wir im Beispiel bei der männlichen Form) haben die Familie vorher nicht gesehen und sind auch nicht über »das Problem« und die Familie informiert. Sie lassen sich, ohne voreingenommen zu sein, auf die Familie ein. Deswegen beginnt die Sitzung an mit der Frage an den Therapeuten, wozu sie und die Familie gekommen sind. Der Supervisor befragt sie über den Therapieverlauf, die Familie hört zu, wie dieser den Prozess beschreibt und was aus therapeutischer Sicht wichtig war.

Die Beziehung zwischen Therapeut und Familie wird so hervorgehoben. Der Supervisor spricht noch nicht selber mit der Familie. Erst wenn deutlich wird, wozu der »Werkplaats« genutzt werden soll und wie er hilfreich sein könnte, übernimmt die Supervisorin den Staffelstab. Sitzordnung Die Familie, der Therapeut und der Supervisor nehmen an der Sitzung teil. Die Familienmitglieder, die die Einladung angenommen haben, sind Vater, Mutter, die älteste Tochter und ihre jüngere Schwester. Der Vater sitzt rechts, Mutter links, beide Töchter dazwischen. Therapeut und Supervisor sitzen ihnen gegenüber. Die anderen Mitglieder des Werkplaats sitzen in einiger Entfernung und bilden das reflektierende Team. Sie nehmen also nicht aktiv an diesem Teil der Sitzung teil, sondern hören aus einer reflektierenden Position zu.

Die folgenden Buchstabennamen werden verwendet: Mo, die Mutter; Va, der Vater; S, die älteste Tochter (23 Jahre); B, die jüngere Tochter (20 Jahre);

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Der Autor dieses Textes, Jan Olthof, leitete die Sitzung im »Werkplaats« als Supervisor, Psychotherapeut und Inhaber der School for Systemic Practice. Die Mitglieder des Teams sind Didier Tritsmans, Gina de Vos, Nans Klaasen, Christianne Albertz, Gerdy Konings.

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D, der älteste Sohn (30 Jahre); C, ein weiterer, noch lebender jüngerer Sohn (18 Jahre); E und L, zwei verstorbene Söhne (27 beziehungsweise 25 Jahre); der Therapeut, und der Supervisor. Familiengespräch Zu Beginn bittet der Supervisor den Therapeuten zu sagen, was er über diese Familie zu erzählen glaubt. Der Therapeut beginnt und es entsteht das folgende Bild: Es ist eine Familie mit ursprünglich sieben Kindern. Zwei der Söhne der Familie (L und E) sind gestorben, L durch Selbsttötung, E durch einen Unfall, über den laut S Zweifel bestehen, ob es nicht auch eine Selbsttötung war (Falschfahrer). Va bestreitet dies, Ls Tod sei völlig unerwartet und unvorhersehbar gewesen. Seiner Meinung nach liegt die Ursache in der Tatsache, dass dieser Sohn sich »zu sehr in seinem Zimmer abgeschottet habe und so zu wenig von dem bekam, was man in dem Alter so braucht: Sport, rausgehen …« S und auch Mo weisen darauf hin, dass es deutliche Anzeichen dafür gab, dass L sich sehr schlecht gefühlt habe. Aktuell leidet die Familie unter dem »Terror« von D. Beide Schwestern leiden stark unter seinem manchmal gewalttätigen Verhalten. Va lebt zurückgezogen in seinem Dachzimmer und ist mit seinen Hobbys beschäftigt. Die Eltern leben »wie Bruder und Schwester« miteinander. Mo möchte, dass ihre Kinder entgegenkommender sind, aber die Schwestern sagen, dass Ds Gewalttätigkeit dies unmöglich mache. Dies sind die Lebensthemen, in denen sich jedes Familienmitglied unweigerlich zurechtfinden muss. Ist Ds gewalttätiges Verhalten teilweise als Reaktion auf den Verlust seiner beiden Brüder und auf einen auf dem Dachboden lebenden Vater zu verstehen? Der Supervisor fragt nun nach Mos Ideen. Sie versteht die Selbsttötung und den anderen Todesfall als Konsequenzen der »psychischen Verwundbarkeit«, die sie bei all ihren Kindern zu sehen glaubt: Während einer psychotischen Phase sei Va zwangsweise in die Klinik gekommen – »wegen Waffenbesitzes« fügt Va selbst hinzu – der Arzt habe erklärt, es sei eine Erbkrankheit. Das macht Mo sehr besorgt über die Kinder, die noch leben: C zum Beispiel, sagt sie, weine heftig und verbringe den ganzen Tag in seinem Zimmer. Einer ihrer Söhne habe in der Vergangenheit ebenfalls Selbsttötungsversuche unternommen. Jetzt gehe es ihm besser, doch habe auch er Psychosesymptome und eine Angststörung. Die Frage, die er ihr einmal gestellt habe, ob er »für sie leben solle«, hält sie auch im Umgang mit Ls Selbsttötung für richtig. Sie sehe diese Entscheidung als Selbstbestimmung an. Der Supervisor fragt, was das Leben der Kinder so schwer mache. Für die Mutter stellt der Verlust der beiden Brüder eine Belastung dar. Für sie ist auch das Verhalten ihres Sohnes D ein »falscher Weg, Kontakt zu suchen«. S hingegen befasst sich hauptsächlich mit dem inakzeptablen Verhalten von D (belästigendes und sehr dominantes Verhalten, vergangene körperliche Misshandlung). Der Therapeut wirft

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die Frage auf, ob Ds Verhalten nicht alle auf die eine oder andere Weise in Bewegung hält. Eine unmögliche Aufgabe, sagt der Supervisor. Er fragt sich, ob D sich bei der Aufnahme von Va in die Klinik nicht gezwungen gefühlt habe könnte, zumindest vorübergehend sprichwörtlich zum Vater der Familie zu werden. S versteht dies so, als habe D die bewusste Absicht gehabt, dies zu tun. Sie betont wiederholt seine Grenzüberschreitungen, dies sei schon lange so. Mo hat sich daran gewöhnt, sehr vorsichtig und diplomatisch mit D umzugehen (obwohl sie ihn, fügt sie hinzu, auch regelmäßig auf sein Verhalten gegenüber anderen hinweise). Va hat die Angewohnheit, sich in seinen persönlichen Bereich im Haus zurückzuziehen (Mo erwartet eigentlich, dass er als Mann Stellung nimmt).

Bis zu diesem Punkt wurden nur die Perspektiven des Therapeuten und verschiedener Familienmitglieder untersucht. Der Supervisor spricht die Art und Weise an, wie beide Elternteile mit D umgehen. Er macht auf die Leere aufmerksam, die in der Mitte der Familie entstanden ist. In dieser Leere scheint sich D als »König« zu positionieren. Die anderen sind unter diesen Umständen die »Geächteten«.

Aus der Vielzahl der Informationen konzentriert sich der Supervisor auf einen Aspekt des Geschehens in der Familie. Va glaubt nicht, viel ändern zu können; er wolle nicht mehr, er sei nur der »Papagei«, der sich ständig wiederhole, aber nicht gehört werde. S meint, D solle konfrontiert werden, und weil es sonst niemand tue, werde sie dies auch weiterhin tun, auch wenn sie die Konsequenzen tragen müsse. Der Supervisor fragt sie, ob sie glaubt, dass D auch Mo angreifen würde, wenn Mo »wirklich handeln« würde. S sagt, dass dies tatsächlich mehrmals passiert sei. Va meint, er habe das noch nie gesehen, die Dinge blieben vor ihm verborgen. Er habe immer sehr hart gearbeitet, also sei er nicht viel zu Hause gewesen. In seinem Arbeitsumfeld, sagt er, sind die Dinge mit sehr klaren Aufgaben und Regeln geregelt. Der Supervisor merkt an, dass offenbar der älteste Sohn dies nun zu Hause tue, anschließend schlägt er vor, dem reflektierenden Team und den anderen Kollegen zuzuhören. Reflektierendes Team Das Team arbeitet nicht so sehr über einen logischen Gedankengang und die Bildung von Hypothesen, sondern schafft im Sinne der beschriebenen »prismatischen« Arbeit Raum für Assoziationen und divergierende Bilder, persönliche Erfahrungen und Assoziationen. Wir zeigen hier die Hauptlinie:

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Assoziationen mit Sprichwörtern und Sprüchen um den »Kopf«. Die Rote Königin aus Alice im Wunderland: »Schneiden Sie ihre Köpfe ab!« Wer ist verantwortlich? Wer ist hier eigentlich der Kopf? Der Kopf wird in den Sand gesteckt. Beim Betreten hatte der Vater sofort gesagt: »Da ist der Kopf« und auf die Mutter gezeigt. Wenn ich die Familie zeichnen müsste, wüsste ich keinen Platz für die Mädchen. D ist auch irgendwie noch ein kleiner Junge. Wie halten die Frauen in dieser Familie das aus? Sklave sein? Mutter bittet um Hilfe, die Familie zu führen. Wie fühlt es sich an, die ganze Zeit im Dunkeln zu leben? (bezogen auf Vater in seinem Dachzimmer). Ich habe ein Engegefühl in der Brust. Hören, sehen und schweigen. Nachgiebig und fürsorglich. Wie ist es wohl, unter der Tyrannei zu leben? (bezogen auf die Mädchen, die unter Ds Verhalten leiden)

Aus dem Treffen ging eine Metapher hervor, die weiter als Geschichte ausgearbeitet wird … – Ein ruderloses Piratenschiff mit einem Papagei an Bord, der brüllt, aber niemand hört zu. – Jeder scheint auf seine Weise versucht zu haben, etwas gegen diese Steuerlosigkeit zu unternehmen. Jetzt scheint S. an der Reihe zu sein. – C ist die ganze Zeit in seinem Zimmer, einer Art »virtueller Welt«, in der er sich befindet. Vielleicht fühlt er sich da sicherer als auf diesem ruderlosen Schiff. – Wer ist eigentlich der Boss auf dem Schiff? D scheint so zu tun, hat aber auch keine Kontrolle über die Situation: Er kann den Kurs nicht halten. Was macht er in seinem Alter noch auf dem Schiff? Selbst wenn man es wünschen würde, er kann nicht mit dem Boot umgehen. Hätte D Angst, dass das Schiff völlig außer Kontrolle gerät, wenn er es verlässt? Wer wird dann übernehmen? Gibt es irgendwelche Bedenken in dem, was er tut? Obwohl … Wenn Sie sich ansehen, was er tut?!? Was war das übrigens mit diesen Waffen? Steht das dafür, sich vor dem Leben zu schützen?

In diesen Assoziationen zeigt sich die »prismatische Arbeit« deutlich: Eine Metapher wird vorgestellt, die ein »Verbindungsmuster« innerhalb der Familie aufzeigen könnte: Es geht nicht in erster Linie um die Individuen mit ihren

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Interessen, Verhaltensweisen und Ansichten, sondern es entsteht ein Bild für den Familienkontext, in dem die Familie lebt. Die Mitglieder nehmen einen bestimmten Platz ein. Da das reflektierende Team die Metapher entwickelt, während die anderen zuhören, können die Familienmitglieder, der Supervisor und der Th das Bild wirken lassen, ohne (sofort) reagieren zu müssen, ja, sie können es sogar völlig ignorieren. Die Verwendung einer Metapher, um eine möglicherweise sehr raue Realität der Familie zu bezeichnen, hat an sich schon etwas Schützendes. Es entsteht ein »dritter Raum« und bietet damit die Möglichkeit, über die Erfahrungen aller im Hinblick auf dieses metaphorische Bild weiter zu sprechen. Familiengespräch Nach dem reflektierenden Team geht das Gespräch in der Familie weiter: Va wiederholt das Bild des »ruderlosen Schiffes« und bestätigt es: »Aber das Schiff ist noch unterwegs. Es kann immer noch gut ankommen.« Der Supervisor konzentriert sich auf dieses Bild: Es geht um ein ruderloses Schiff, an dessen Spitze ein Dreißigjähriger steht, der nicht steuern kann. Er gibt Befehle und verteilt Strafen. Das ist gefährlich! Was wir von unseren Teammitgliedern gehört haben, sehen wir als ein SOS-Signal! Der Therapeut fügt hinzu, dass Mutter angedeutet hat, die Spannung zu spüren, dass wieder etwas passieren könne. Auch sie sende Notsignale: Menschen von außerhalb der Familie, sagt sie, sollen kommen und helfen. Supervisor: Wenn eine Situation riskant und gefährlich wird, gibt es keinen Raum für Beratung. Dann müssen Befehle gegeben werden. Va hat gesagt, die Frau sei der »Chef«, aber so ist es überhaupt nicht. Der Chef ist D. Mo beschützt ihn, ist nett zu ihm. Therapeut: »… und die Töchter sind die Seeleute.« Supervisor: »Und der Va sagt: ›Ich bin im Ruhestand. Ich bin kein Kapitän‹.« S sagt, sie erkenne viel wieder: eine grenzenlose und treibende Person in der Familie. Va: »Wenn ich versuche zu befehlen, wird es ignoriert!« Wenig später sagt er, er habe so viel Freiheit wie möglich gegeben, und stellt die Frage: »Muss in Zukunft alles diktiert werden?« Und auch: »enn Gewalt gegen mich angewendet wird, eskaliert’s. Dann wird es gefährlich.« Der Supervisor bietet eine andere Beschreibung an: »Meinen Sie: ›Wenn ich ans Ruder gehe, wird mein Sohn das nicht akzeptieren und es wird zu Unfällen kommen?‹ Also lass mich auf meinem Dachboden bleiben!«

Das, was Va einbringt, wird in der Form der Metapher übersetzt.

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Der Supervisor hebt hervor, dass S Fußball auf hohem Niveau spielt, ein Lebensbereich, der für sie von Vorteil ist: Im Fußball gibt es Regeln, Linien, einen Kapitän und einen Trainer. S geht es hier gut. Doch die Bedenken hinsichtlich des ruderlosen Schiffes bleiben.

Hier wird implizit angegeben, dass ein Familienmitglied in einem Kontext mit »Linien und Regeln« gedeihen kann, im Gegensatz zu dem, was ein Zustand von »außer Kontrolle sein« bedeutet. Mo gibt an, dass sie den Kindern so oft gesagt habe, sie sollen sich in Ruhe lassen, und dass S und D überhaupt nicht miteinander auskommen. Der Supervisor sagt: »Zu sagen, dass das, was D tut, eine unangenehme Art der Kontaktaufnahme ist und dass man versuchen sollte, sich anzupassen, reicht nicht aus! Anpassen erfordert Gleichheit. Hier geht es um Macht!«

Der Supervisor spricht hier ausdrücklich Vernachlässigung des Machtunterschiedes an. Zwischen einem Mädchen und einem großen starken Mann gibt es Kraftunterschiede. Der Supervisor stellt nun etwas vor, was er selbst »eine sehr verrückte Idee« nennt: Mo versteht sich ja gut mit D. D kann nicht alleine leben und er kann auch kein Kapitän sein. Er braucht Mo. Die Lösung könnte sein, dass Mo und D woanders hinziehen. So kann Mo für den »kleinen Jungen in einem starken Körper«, der D ist, Mutter sein und die anderen bekommen Platz, um sich im Haus gemeinsam gut zu verstehen. Va kann so möglicherweise mehr in den Familienraum gelangen. Mo argumentiert dagegen, dass B und C woanders leben könnten. Der Supervisor meint, dass es umgekehrt besser sein könnte: Es sind nicht sie, die gehen müssen. Th möchte die Idee des Supervisors unterstützen. Er denkt laut darüber nach, wie sehr Mo sich in der Sorge um ihre verschiedenen Kinder gefangen fühlen mag und wie schwer das für sie sein muss. Was mag es kosten, jeden Tag zu hoffen, dass die Dinge zwischen den Kindern besser werden, und weiterzumachen? Die Möglichkeit, die der Supervisor aufwirft, würde dazu führen, dass Mos Sorgen um ihre anderen Kinder wegfallen. Der Th führt ein neues metaphorisches Bild ein: Die Verhältnisse im Haus sind jetzt wie die Beziehung zwischen Katze und Maus: Die Mäuse müssen ständig ängstlich sein und sich verstecken. Gleichzeitig, sagt der Supervisor, ist D auch in etwas gefangen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Mäuse unmöglich eine Katze beherbergen können.

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Ein zweites Bild, das  – wiederum metaphorisch  – der Möglichkeit der »Anpassung« als Lösung widerspricht. Der Supervisor zeigt Verständnis für D, der ein ausgeprägtes problematisches Verhalten zeigt, macht aber zugleich die Unmöglichkeit von »Anpassung« an Gewalt deutlich. Reflektierendes Team In seiner zweiten Reflexionsrunde greift das Team die Metapher der Katze und der Mäuse auf: Obwohl die Katze zweifellos Pflege benötigt, ist dies eine Gefahrensituation. Was muss passieren? Wenn Mo versuchte D zu verstehen und die anderen bäte, dasselbe zu tun, setzte sich eine gefährliche Situation fort, die bereits hohe Kosten verursacht hat. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge würde sich dies nur ändern, wenn die anderen Kinder alt genug würden, um das Haus zu verlassen, aber es scheint wirklich nicht so viel Zeit zu geben. Ein zweite Spur, die verfolgt wird, ist »Abrüstung«: Va ist je bereits einmal gewaltsam von seinem Waffenbesitz entwaffnet worden. Wie würde das mit D geschehen? Wie kann man einen dreißig Jahre alten, starken Mann dazu bringen abzurüsten? Wie können ihm diese Ideen zu Hause vermittelt werden? Würde die Katze freiwillig das Haus verlassen?

Das seltsame (als psychotisch diagnostizierte) Verhalten von Va vor Jahren (Stichwort »Waffenbesitz«) wird hier zu einer Metapher für das, was mit D getan werden könnte: Abrüstung. Dies schafft auch die Möglichkeit, dass das Symptom – die Psychose – weniger einer Einzelperson (hier dem Va) zugeschrieben wird und mehr zu einem Familienthema wird. Die Zusammenarbeit von Va und Mo ist unerlässlich. Könnten die Eltern die Kontrolle zurückerobern? Der Aufwand wird unweigerlich für alle groß sein. Für Va bedeutet das, dass er mehr sein Zimmer verlassen müsse. »Ignoriert« werden ist in dieser Situation ein Problem. Va muss »gesehen« werden, um die gewünschte Veränderung zu ermöglichen.

Hier wird das, was Va angesprochen hat, ins Zentrum gestellt: Papagei zu sein, ein Papagei, dem nicht zugehört wird. An dieser Stelle berichten die Mitglieder des Teams, dass sie schon länger körperliche Symptome gespürt hatten, die sie nun in einer entspannteren Phase des Gesprächs ausdrücken können und der Familie als Resonanz zur Verfügung stellen können. Ihre körperlichen Symptome nehmen ab.

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Bei der Arbeit mit einem reflektierenden Team können physische Resonanzen auftreten – manchmal sogar sehr ausgeprägt: Mitglieder des Teams können auch physische Erfahrungen spüren, die nicht in erster Linie zu ihnen, sondern zum Familiensystem gehören. Wie beschrieben können sich ausgeprägte parallele Prozesse zwischen ratsuchendem und beratendem System zeigen. Wieder im Familiengespräch In Anbetracht der letzten Beobachtung des Teams vermuten Therapeut und Supervisor, dass diese persönlichen Empfindungen vielleicht etwas darüber aussagen, was die Familienmitglieder in ihrem täglichen Leben erleben. Die Idee des Supervisors wird weiter untersucht: Wie wäre es, wenn Mo und D »getrennt zusammenleben« würden? Mo scheint sehr sensibel auf das zu reagieren, was D braucht. Sie ist die Einzige, die ihn auf eine Weise lenken und entwaffnen kann. Das funktioniert zwar auf dem großen Schiff nicht, könnte aber unter veränderten Umständen auf verschiedene Weise von Vorteil sein: Die Änderung würde Mos Bindung zu ihren anderen Kindern zugutekommen. Va könnte mehr aus seinem Zimmer kommen und etwas mehr Platz einnehmen, ohne dies durch Streit und Gewalt zu tun. Mit anderen Worten, Mo scheint den Schlüssel zu haben: D muss »mit Liebe entwaffnet werden«.

Ein Paradoxon, wie »hier mit Liebe entwaffnen«, kann Überraschung und Verwirrung erzeugen, einen Bewusstseinszustand, der die vertrauten Arrangements der persönlichen Realität für eine Weile auf Eis legt, sodass in einem solchen Moment mehr Raum entstehen kann, ein Perspektivwechsel. S stimmt der Idee zu, fragt sich aber, wie machbar dies finanziell und praktisch ist. Der Therapeut fragt, ob dies in ihrer Verantwortung liege. Mo argumentiert, dass sie auch auf ihre anderen Kinder aufpassen müsse, sie werde ihre Kinder nicht zurücklassen. Der Therapeut befürchtet, dass ihre Kinder unter den gegenwärtigen Umständen, ganz im Widerspruch zu ihren Absichten, auf sich allein gestellt sein werden, was für sie und ihre Kinder unerträglich sein müsse. Mo wiederholt ihre Vorstellung von erblicher Belastung; bei D manifestiere sich dies in Aggression. Der Therapeut stellt (unter Bezug auf eine frühere Sitzung) die Verbindung zu ihrer früheren Erfahrung in Bezug auf ihren eigenen Vater her. Mo: »Ja, er ist ganz mein Vater.«

Ein möglicher Anstoß, ein symptomatisches Verhalten – hier: Ds Aggression – nicht ausschließlich einem Individuum zuzuschreiben.

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Der Supervisor greift die Idee auf, dass Mo getrennt mit D leben würde. B scheint sie verteidigen zu wollen, indem er sagt, dass dies erheblichen Druck auf Mo ausüben würde. Der Supervisor erklärt, dass es nicht unbedingt um diese Idee gehen müsse, dass aber eine »Kursänderung« unabdingbar sei. Genau das sei der Zweck seiner Idee: eine Kursänderung anzustoßen.

Mo lehnt die vorgestellte mögliche Lösung ab. Der Supervisor relativiert nun die gesetzte Idee und formuliert sie nun um als Impuls, als Impuls für eine notwendige Kursänderung. Die »Kursänderung« steht natürlich auch im Einklang mit der Metapher des »nicht steuerbaren Schiffs«. Der Supervisor fragt Va, ob er im Falle einer Kursänderung behilflich sein wird. »Ihre Hilfe wird benötigt. Solange Sie in Ihrem Zimmer bleiben, kommt die Familie nicht auf Kurs.« Der »Werkplaats« sei weiterhin verfügbar.

Schlussfolgerung und Zusammenfassung Anhand des Beispiels des nomadischen Teams im Werkplaats wurde eine Arbeitsmethode beschrieben, die sich wiederholenden Prozessen in der Psychotherapie, Psychiatrie sowie in der Kinder- und Jugendhilfe Rechnung trägt. Die Methode ist inspiriert von der »prismatischen Arbeit« des Psychiaters Drees und wurde unter dem Einfluss des Philosophen Deleuze mit dem Konzept des »nomadischen Denkens« weiter ausgebaut. Das nomadische Team ist hilfreich bei therapeutischen Engpässen und bei als komplex anzusehenden Fällen. Das Verfahren soll die hierarchische Strukturierung von Gesprächsabläufen im Team und mit Familien aufheben. Für Familien ist es hilfreich zuhören zu können, wie die Therapeutin in ihrer Anwesenheit ihre Beziehung zur Familie beschreibt. Es ist eine Art »withness thinking« statt »aboutness thinking« (Shotter, 2012). Die Familie denkt mit, hört zu und reflektiert, während sie den Erzählungen des Teams lauscht. Die Beziehung zwischen Familie und Therapeut wird validiert, die Therapeutin ist Gastgeberin für die Familie, wenn sie die Familie gut eingeführt hat, gibt sie den Staffelstab an den Supervisor, dieser ist dann Gastgeber für Familie und Therapeut. Am Ende des »Werkplaats« gibt der Supervisor den Stab zurück. Der Therapeut behält die Position, die Familie behält ihre Position. Supervisor und Team ziehen sich zurück. Auf diese Weise ist die entstehende Hierarchie als solche sozusagen mehr organisch und natürlich und damit funktional für den therapeutischen Prozess.

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Die Familie fühlt sich gehört und ist meist gerührt, dass alle Mitglieder sich auf sie einlassen und so sorgfältig nachdenken. Im Resonanzprozess kann ein reicheres Narrativ entstehen, das eine Idee für einen Ausweg aus dem Problemdiskurs bieten kann. Und immer bleiben es die Familienmitglieder, die die Richtung bestimmen. Sie greifen auf, was aus der Resonanz für sie wichtig. Denn der Kern dieser Arbeit besteht darin, den Gesprächsablauf emanzipatorisch zu strukturieren.

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Unmöglichkeit ergründen: Das »Unmögliche-Fälle«-Projekt DAN WULFF, SALLY ST. GEORGE, DAN DULBERGER und MONICA SESMA

Eine kurze Einführung In unserem Beitrag beschreiben wir den derzeitigen Fortschritt in der Entwicklung eines psychosozialen Angebots, der Fachkräften in unterschiedlichen Praxisfeldern die Gelegenheit gibt, über die »Unmöglichkeiten« zu sprechen, mit denen sie in ihrer Arbeit konfrontiert sind. Dieses Vorhaben schwebte uns schon geraume Zeit vor Augen, und jetzt beschreiben wir, wie wir einige zentrale Ideen in eine handfeste Dienstleistung umsetzen. Wir haben festgestellt, dass ihre Erprobung in unserem Projekt zu einer differenzierteren Sicht dieser Ideen geführt hat. Diese selbstdefinierten »Unmöglichkeiten« spiegeln Situationen wider, in denen sich Fachkräfte in einer Sackgasse wähnen oder Hoffnungslosigkeit darüber empfinden, jemals einen Fortschritt in ihrer Arbeit erzielen zu können. Wir nehmen an, dass jeder Mensch in seinem Leben und im Rahmen seiner Gepflogenheiten von Situationen oder Momenten berichten kann, die er als unmöglich betrachten würde. Dies ist vielleicht eine Vorstellung, zu der wir alle einen Bezug herstellen können, doch die spezielle Definition bzw. der besondere Gebrauch des Begriffs Unmöglichkeit variiert je nach Person. Wir wollen solche Situationen gemeinsam mit möglichst vielen Fachkräften untersuchen, die sich in einer unmöglichen Lage befinden, und verfolgen dabei das Ziel, ein Angebot zu entwickeln, das wir das »Projekt unmögliche Fälle« nennen.

Psychosoziale Fachkräfte als Zielgruppe des Projekts In diesem neuen Projekt experimentieren wir damit, dass wir Konsultation für Fachkräfte bzw. für Einrichtungen anbieten, die sich in Bezug auf den einen oder anderen ihrer Fälle, mit Projekten oder einem Aspekt ihrer Arbeitssituation belastet, behindert und eingeschränkt und erfolglos fühlen. Unsere Initiative ist unterscheidet sich von herkömmlicher oder üblicher klinischer Supervision bei »festgefahrenen« Fällen (McLeod u. Sundet, 2020). Unmögliche Situationen können sich wie eine Zwickmühle im Sinne eines »Double Bind« anfühlen, in der man sich gezwungen fühlt, zwischen zwei gleichsam erwünschten, aber

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miteinander im Wettbewerb befindlichen Wertvorstellungen oder Zielen zu wählen. In einer solchen Situation könnte man die herkömmliche Supervision als eine Möglichkeit sehen, einen »Ausweg« zu gestalten, indem gewisse Wahlmöglichkeiten priorisiert werden. Wenn Situationen reduktionistisch behandelt oder simplifiziert werden, kann das zwar helfen, einen Handlungsablauf zu planen, aber die widersprüchlichen Interessen oder Zielvorstellungen bleiben dabei unberücksichtigt. Wenn wir uns dagegen in der Unmöglichkeit vertiefen, können wir Gespräche führen, in denen nichts gelöst oder repariert werden muss, und wir befreien uns davon, uns selbst zu zensieren und einzuschränken. Mit »Fachkraft« meinen wir hier Personen, die in unterschiedlichsten Funktionen anderen Menschen ihre Unterstützung zukommen lassen, zum Beispiel Therapeuten und Beraterinnen, Lehrerinnen, Ärzte und Pflegende, Rechtsanwälte, Sozialarbeiterinnen wie auch Geistliche. Wir streben darüber hinaus auch an, Personen aus anderen Bereichen einzuladen, etwa Politiker und Politikerinnen, Verwaltungsfachleute, Behördenangestellte, Sportler, Unternehmerinnen, Transportarbeiter, Künstler und Künstlerinnen, Geschäftsführende, Wissenschaftlerinnen, Techniker und so weiter. In dieser frühen Entwicklungsphase des Projektes richten wir unser Augenmerk jedoch vorzugsweise auf Helfer und Helferinnen. Wir haben uns dafür entschieden, mit beratend, therapeutisch und psychosozial Tätigen zu arbeiten, weil wir aus eigener Erfahrung wissen, wie sehr der hektische Arbeitsablauf in Arbeitsfeldern professioneller Hilfeleistung uns oftmals davon abhält, über unser fachliches Handeln mit der Intensität an Aufmerksamkeit zu reflektieren, die es verdient. Situationen, die nicht zur rechten Zeit gute Resultate hervorbringen, werden zu irritierenden Störfaktoren, und die zusätzliche Zeit, die in solchen Lagen nötig wäre, steht meist nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Außerdem lassen wir uns aufgrund des Konkurrenzdenkens in unserer Welt und an unseren Arbeitsplätzen vielleicht davon abhalten, über unsere Schwierigkeiten mit anderen Menschen zu sprechen, weil wir Angst vor einer negativen Beurteilung durch andere haben. Somit sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Situationen, die nicht »so funktionieren, wie sie eigentlich sollten« uns Verdruss bereiten; wir fühlen uns womöglich handlungsunfähig, ohne Ausweg, ins Stocken geraten, behindert oder wie in einer Falle gefangen. Wir wollen uns womöglich von einem solchen Fall zurückziehen und der Situation entfliehen. Genau solche Situationen bezeichnen wir als unmöglich. Wir sind uns auch bewusst, dass diese Situationen zu Burnout, zu einem negativen Selbstbild, einem Verlust an Selbstvertrauen, zur psychischen Belastung führen bzw. dazu beitragen können, dass gute Fachkräfte ihre Arbeitsfelder verlassen. Denborough (2008) schreibt Paulo Freire das Zitat zu, wonach »die Privilegierten in der Welt gewohnheitsmäßig am falschen Ort nach Lösungen

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suchen und dann, wenn sie die Lösungen dort nicht finden, verzweifeln und zu der Überzeugung gelangen, dass größere Veränderungen nicht möglich sind« (S. X). Unsere gute Freundin, die Aktivistin Vikki Reynolds (2019) weist darauf hin, dass »Burnout sich nicht in unseren Köpfen oder Herzen abspielt, sondern in der realen Welt, in der es an Gerechtigkeit mangelt« (S. 2), wobei sie hervorhebt, dass die Kontexte, in denen wir arbeiten, diese Situationen der Unmöglichkeit hervorbringen. Die Umstände, unter denen wir arbeiten, produzieren das Erleben der Unmöglichkeit und Burnout und lassen uns persönlich dafür verantwortlich fühlen, wenn es keinen Fortschritt gibt.

Fokus auf die Unmöglichkeit Wir müssen betonen, dass wir mit Fachkräften über ihre Erfahrung des »Unmöglichen« in den Dialog treten, und wir legen großen Wert darauf, dass nicht die Person oder ihr Handeln als unmöglich etikettiert werden – es ist die Situation, die unmöglich ist. Die Begriffe »unmöglich« und »Unmöglichkeit« erfassen viele Situationen unterschiedlichster Form, Reichweite und Komplexität. Sie können Sachverhalte mit schweren Konsequenzen oder weniger bedeutende umfassen, von andauernder oder akuter Natur sein, und sie können kollektiv erlebt oder nur von Einzelpersonen empfunden werden. Warum überhaupt Unmöglichkeit erkunden? Die Tragweite bzw. Bedeutung von Dingen, die als unmöglich wahrgenommen werden, unterscheidet sich je nach Intensität und danach, wer von ihnen betroffen ist und welche Auswirkungen sie haben. Wir betrachten das Unmögliche als einen Raum oder eine Zone, die Unbehagen bereitet und in der es keine Verankerung gibt – als einen Ort, an dem Beziehungen, Ereignisse und Prozesse nicht dem entsprechen, was wir oder andere von ihnen erwarten. In Hinblick auf das Unmögliche richtet sich unser Fokus auf solche Situationen, die sich dadurch als schädlich für das Wohlbefinden von Menschen erweisen können, indem sie verletzt, marginalisiert, entrechtet, ausgeschlossen, unterdrückt und der Möglichkeit beraubt werden, sich für die eigenen Belange einzusetzen.

Wie diese Idee ihren Anfang nahm Alle vier Verfasser und Verfasserinnen arbeiten als Familientherapeuten, klinische Supervisorinnen, Lehrende, Forschende, als Autoren und Autorinnen und als Seminar- und Konferenzvortragende. Obzwar in Calgary ansässig, stammt

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niemand von uns vieren aus Calgary; wir kommen aus den USA, aus Israel und Mexiko und haben den Weg zueinander über unsere klinische Praxis mit Familien gefunden. Als wir uns gegenseitig bei unserer jeweiligen klinischen Arbeit beobachteten und miteinander über unsere Fälle sprachen, stellten wir fest, dass wir ähnliche Vorstellungen von menschlichen Dilemmata haben und wie wir helfen können – wir schätzen kollaborative, auf Dialog beruhende Praktiken (Anderson, 1997), eine beziehungsorientierte, auf dem sozialen Kon­ struktionismus basierende Perspektive (Gergen, 2009), eine »forschende« Orientierung (Wulff u. St. George 2014), Fertigkeiten in Methoden des gewaltlosen Widerstands (Omer, 2004), eine Perspektive für soziale Gerechtigkeit (Reynolds, 2019) und den Wunsch, Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen. Die Idee, sich auf die Unmöglichkeit zu konzentrieren, wurde geboren, als wir vier Dinge bemerkten. Erstens stellten wir bei der Betrachtung unserer eigenen familientherapeutischen Fälle fest, dass einige Situationen, in denen sich unsere Klienten und Klientinnen befanden, so schwierig und anscheinend ausweglos waren, dass weder Therapie noch psychosoziale oder gemeindepsychiatrische Dienste eine wirkliche Verbesserung bewirken konnten. Wir erlebten in unserer Arbeit oft dieses anscheinend unentrinnbare Gefühl von Unmöglichkeit. So arbeiteten wir (Dan und Sally) beispielsweise einmal mit einer Familie, die vom Jugendamt als »behandlungsresistent« betrachtet worden war. Amtlicherseits wurde es als Erfolg bemessen, wenn die Familie finanziell unabhängig sei und die Kinder in der Schule Erfolg hätten. Wir sahen jedoch, dass diese Ziele unmöglich zu erreichen waren; die Familie war arm und lebte in einem gefährlichen Stadtviertel; sie hatten kein eigenes Auto, die Mutter hatte eine schwere körperliche Erkrankung, die sie von einer Erwerbstätigkeit abhielt, zwei ihrer drei Kinder hatten Lernschwierigkeiten und besuchten Sonderschulen. Die Liste der belastenden Lebensumstände ließe sich fortsetzen; es genügt zu sagen, dass für diese Familie ökonomische Unabhängigkeit jenseits des Erreichbaren lag. Aber diese Zielsetzung des Jugendamtes hatte die Voraussetzungen für das Unmögliche geschaffen. Zweitens hörten wir (Dan und Sally), dass das Familiengericht als kostensparende Maßnahme Mittel und Unterstützung für die therapeutische Arbeit mit Familien bereitstellte, bei denen sich kein Behandlungserfolg eingestellt hatte. Kreatives, integratives Arbeiten mit »Fällen« und Menschen, die durch Behandlung keine eindeutigen und ausreichenden »Fortschritte« zeigen, bietet die Möglichkeit Projektearbeit zu entwickeln, mit der Geld eingespart werden könnte, das sonst für wiederholte, vergebliche Interventionen ausgegeben werden müsste (selbst wenn man weiß, dass solche Interventionen wahrscheinlich erfolglos bleiben).

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Drittens lasen wir (Dan und Sally) einen Artikel in der New York Times (Henig, 2009) über ärztliche Teams, die sich zusammenfanden, um Behandlungsmöglichkeiten für Krankheiten herauszufinden, die anscheinend unmöglich zu heilen waren. Ärztinnen und Ärzte, die für den Zustand eines Patienten keine einwandfreie Diagnose ausmachen konnten, konnten sich an ein breitgefächertes Team von medizinischen Fachkräften wenden, um mit frischem Blick die Situation ihrer Patienten zu untersuchen und so »einen anderen Weg« zu finden. Ihr Ausweg aus der Unfähigkeit, eine Diagnose zu finden, bestand darin, dass eine bunt gemischte Gruppe von Ärzten und Ärztinnen zusammenkam, um im Brainstorming sich ein Bild darüber machen zu können, welchen Sachverhalt es in einem vorliegenden Fall geben möge. Wir überlegten uns, ob man festgefahrene Situation im Bereich der psychosozialen Versorgung nicht einem ähnlichen Prozess unterziehen könnte. Wir suchten zwar nicht nach einer »Diagnose«, die zu einem »Störungsbild« passen würde, aber wir konnten die Betrachtung des Unmöglichen um alternative Sichtweisen bereichern. Viertens kam es zu einer Krise, weil es nicht genügend Praktikumsplätze für Absolventen des Sozialarbeits- bzw. Sozialpädagogikstudiums gab; wir wollten in dieser Situation einen neuen Dienst entwickeln, um auf die Bedürfnisse von in der Gemeinde tätigen Fachkräften zu reagieren. Zugleich wollten wir eine Gelegenheit für Studierende der Sozialarbeit und Sozialpädagogik schaffen, um in einigen der schwierigsten Kontexte, in denen Fachkräfte operieren, fachliche Beziehungskompetenz erwerben zu können. Wir stellten uns vor, dass die Sichtweisen der Studierenden wichtige Beiträge zu den in der Planung befindlichen Konsultationsteams leisten könnten (Im Wintersemester 2021 hatten wir aus dem Masterstudiengang Soziale Arbeit drei Praktikantinnen, deren Arbeit von zentraler Bedeutung für die Entwicklung unseres Projektes war, weil sie uns mit ihrer Kreativität und Unternehmungsfreude nahezu überschütteten. Auf diesen Aspekt der Projektentwicklung werden wir jedoch in einem anderen Beitrag eingehen.). Alle diese Aspekte zusammengenommen motivierten uns, das Projekt unmögliche Fälle ins Leben zu rufen. Zur Bezeichnung unseres Projekts und zum Gebrauch des Wortes unmöglich haben wir Rückmeldungen erhalten. Manche gaben uns zu bedenken, dass der Name negativ oder abwertend klingen könnte. Manche waren der Ansicht, dass die Bezeichnung an sich schon Hoffnungslosigkeit ausstrahle. Wir behielten jedoch den Projektnamen bei; denn wenn die Situation oder Arbeit eines Menschen als unmöglich bezeichnet wird, dann müssen wir unseres Erachtens die Situation auch als unmögliche thematisieren. Diese Situationen signalisierten für uns einen Zusammenbruch der Ordnung dessen, was sich die Fachkraft erhofft hatte; der Sachverhalt bzw. die Situation, die im Fokus der Aufmerksamkeit

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stand, hatte sich zu einer spezifischen Kategorie hinbewegt, die als »unmöglich« etikettiert worden war. Was zunächst einmal als herausfordernde oder schwierige Situation erschien, wurde nun unmöglich. Genau darin lag unser Interesse – nicht etwas zu lösen, umzudeuten oder Veränderung hervorzurufen, sondern mit Präsenz in Beziehung zu treten mit Kollegen und Kolleginnen, mit Studierenden und Fachkräften, denen wir tiefes »radikales« Zuhören und unsere aufrichtige und respektvolle Neugier entgegenbrachten. Wir halten diese Form des Zuhörens und der Präsenz insofern für radikal, als sowohl der Grad an Aufmerksamkeit, als auch die respektvolle Wertschätzung dessen, was die Sprechenden sagen, ungewöhnlich sind.

Unser sich entwickelndes Angebot Wir gestalten dieses Projekts, um Fachkräfte zu unterstützen, und lernen in einem zirkulären Prozess mehr, was zu seiner weiteren Gestaltung beiträgt. Unsere Praxis des Zuhörens ist also zugleich eine Übungspraxis. In dieser Übungspraxis, bei der wir den verschiedenen Berichten unmöglicher Situationen aus unterschiedlicher Perspektive achtsam zuzuhören, versuchen wir nicht, das Unmögliche zu »lösen«, sondern lassen uns auf die Unmöglichkeit als einem Ort der Spannung und der Frustration ein. Diese Position des Bezeugens bietet Spielraum für Solidarität mit anderen Menschen, ohne sie zur Veränderung oder Anpassung zu drängen. Wenn man Menschen in ihren Kontexten der Unmöglichkeit respektvoll Aufmerksamkeit bietet, entsteht eine Form der Unterstützung, bei der andere Menschen auf eine Weise Bestätigung erfahren können, die nicht durch Ratschlag oder »Intervention« zu bewerkstelligen ist. Denborough verweist auf einen »bestätigenden Zeugen« (2017, S. 69) als einen, der »auf zweifache Weise zuhören« (2017, S. 70) kann, also eine Form des Zuhörens ausübt, bei der das Problem oder die Notlage erkannt wird, aber auch die Art, wie die zuhörende Person ihr Wissen für ihre Reaktion auf die spezifische Situation nutzbar gemacht hat. Dies führt dazu, dass der bestätigende Zeuge sich auch dazu äußert, welche Wirkung es auf ihn selbst hatte, der anderen Person bei der Schilderung ihrer unmöglichen Situation zuzuhören. Wenn wir diese Position der radikalen Präsenz, des radikalen Zuhörens und Bezeugens einnehmen, erkennen und lernen wir, dass wir nicht neutral bleiben können, aber respektvoll sein müssen, und dass wir versuchen müssen, offen, flexibel und neugierig zu bleiben. Unsere Praxis und unsere Dienstleistung sind im sozialen Konstruktionismus begründet. Wir sind der Auffassung, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist und bei seiner Entscheidungsfindung, seinem Zuwendungsverhalten und

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seiner Versprachlichung beziehungsorientierte Verantwortung trägt. Wir glauben an die Prinzipien des »Redens mit« jemandem und nicht des »Redens zu« jemandem, an das »mit dem Anderen sein« (Shotter, 2010), die Gemeinsamkeit, Multiplizität, Komplexität und daran, dass wir durch Interaktion Realität schaffen. Wir glauben an die Kraft, gehört zu werden, Dinge laut auszusprechen und neu zu erwägen. Wir haben aus unserer Lesung der Arbeit von Tom Andersen (1995) und aus unserer Erfahrung mit reflektierenden Prozessen gelernt, dass es meist etwas geringfügig Ungewöhnlichen bedarf, oder etwas ein wenig anderem, damit wir unser Denken erweitern oder ausdehnen können.

Die Struktur einer Konsultation zu einem unmöglichen Fall – unser erster Entwurf Wegen der Corona-Pandemie haben wir keine Sitzungen mit persönlicher Anwesenheit abgehalten. Zwar würden wir Zusammenkünfte unter physischer Präsenz bevorzugen, aber digitale Sitzungen über eine Zoom-Plattform haben es ermöglicht, Kollegen und Kolleginnen zusammenzubringen, die geografisch weit voneinander entfernt sind oder enge Terminpläne haben. Im weiteren Verlauf des Projekts werden wir das digitale Sitzungsformat als Option wahrscheinlich beibehalten. Wenn Beraterinnen oder Therapeuten mit uns zusammentreffen möchten, und wir ihre Situation etwas kennengelernt haben, gibt es zwei vorbereitende Schritte. Im ersten Schritt bitten wir die interessierte Person, ihre Geschichte auf die von ihr bevorzugte Art und Weise zu präsentieren. Einige Interessierte haben uns im Vorfeld der Beratung eine schriftliche Beschreibung oder eine Kurzdarstellung geschickt, einige haben uns anhand einer Power-Point-Präsentation informiert, und wiederum andere haben uns ihre Geschichte zur Orientierung mündlich präsentiert. Der zweite Vorbereitungsschritt geht von uns aus – wir stellen ein Team zusammen, das zuhört und bezeugt. Wir geben uns alle Mühe, jeweils ein Team aus Personen mit den unterschiedlichsten Vorgeschichten und Erfahrungshintergründen zu schaffen – diese verschiedenen Stimmen sprechen dann von unterschiedlichen Standpunkten aus, benutzen vielfältige Metaphern und haben facettenreiche Perspektiven oder Blickwinkel, sind auf unterschiedliche Weise mit der jeweiligen Thematik engagiert, und bringen verschiedene Verständnisweisen ins Gespräch. Wir fragen die Vortragenden auch, ob es vielleicht jemanden gibt, den sie in den Prozess einbeziehen möchten. In den ersten drei nach diesem Modell durchgeführten Konsultationen bestand unser Team aus vier bis sechs Personen.

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In diesen drei Konsultationen, wie auch bei den unter uns (die vier Autoren und Autorinnen und unsere Praktikantinnen) stattfindenden Vorbereitungsgesprächen, fingen wir damit an, dass wir ein Klima des Willkommenseins schufen und versuchten, die Kollegin als Person, als unseren Gast, kennenzulernen. Wir baten ihn dann, uns auf seine eigene, bevorzugte Weise an seiner Geschichte teilhaben zu lassen. Wir luden die Vortragenden ein, mit uns an einem Gespräch teilzunehmen um zu erfahren, welche Resonanz jedes Teammitglied beim Zuhören der vorgetragenen Unmöglichkeit erlebte, und welche Reflexionen in ihr aufstiegen. Wir blieben bei unserer Position, keine festgelegte Agenda zu haben und offen zu sein für das Unerwartete. Auf diese Weise konnte sich das Gespräch frei entfalten, während die Gesprächsteilnehmerinnen aufeinander Bezug nahmen. Diese Unterhaltungen fanden außer in einem Fall nur einmal statt, bei dem eine Fachkraft um eine zweite Sitzung bat. Aufgrund unserer Anfangserfahrungen versuchen wir, den Prozess nicht im Übermaß vorzubereiten und im Vorfeld nicht allzu viele Informationen zusammenzutragen. Wir lassen uns von den Kolleginnen auf ihre eigene Weise informieren und begegnen ihnen an dem Punkt, an dem sie sich gerade befinden. Wir haben die uns vertrauten Praktiken des Zuhörens und Bezeugens benutzt, erheblich erweitert und hoffen, dass wir im Fortgang weiterer Konsultationen, die sich mit weiteren Formen und Umständen von Unmöglichkeit beschäftigen werden, noch mehr dazulernen und weiterentwickeln können.

Was uns bezüglich der Unmöglichkeit aufgefallen ist und was wir über sie gelernt haben Unsere in der Gruppe geführten Diskussionen und Reflexionen über unsere Erfahrungen in diesem Projekt unmögliche Fälle hat zu einer Vorstellung von Praxis geführt, welche die Unmöglichkeit an und für sich in das Zentrum des Gesprächs rückt ist und sich weniger mit dem Prozess beschäftigt, Unmögliches zu überwinden. Im Verlauf dieser Gespräche erleben wir, dass wir uns stärker auf das Dilemma der Unmöglichkeit als eine Kategorie von Spannung und Leiden einstimmen, anstatt danach zu streben, sie zu überwinden. In den bis jetzt geführten Gesprächen haben wir bemerkt, dass viele der unmöglichen Situationen an Orten zwischen der Mikroebene und der Makroebene angesiedelt sind – zwischen interpersonalen Beziehungen und den Regeln oder Richtliniensystemen, innerhalb derer wir uns bewegen. Die unmöglichen Situationen haben beleuchtet, wie weitere gesellschaftliche Diskurse (die üblicherweise unsichtbar sind) eine Rolle im menschlichen Leben spielen. So wurde

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deutlich, dass eine Spannung (eine Unmöglichkeit) entstehen kann, wenn versucht wird, bestimmte lokal angesiedelte Beziehung mit den übergeordneten Aufträgen und Erwartungen in Einklang zu bringen, denen wir uns ebenfalls verpflichtet fühlen. Wenn wir Situationen erleben, die nicht unmöglich sind, werden die unsichtbaren gesellschaftlichen Diskurse, die unser Dasein beleben, nicht wahrgenommen oder bemerkt. Somit dienen die unmöglichen Situationen dazu, die Implikationen gesellschaftlicher Diskurse in unserem Leben hervorzuheben oder zu beleuchten – sie ermöglichen die Aussicht auf die größere Landschaft, die einen wesentlichen Bestandteil unseres Alltagslebens ausmacht. Wir sind Zeugen ethnischer und auf Geschlechtszugehörigkeit basierender Diskriminierung und erkennen Regelungen und Vorschriften, die einem gesunden und sicheren Leben abträglich sind; wir erkennen die Schnittstellen von sozialer Bevorzugung und Benachteiligung und die unzähligen Arten, wie der Einfluss der Makroebene die Beziehungen auf der Mikroebene formt. Wir denken über die Prozesse nach, durch die Probleme »zu Problemen werden«, und reflektieren über die Idee, »außerhalb des Problems zu denken«. Die Alltagspraxis scheint für uns allzu hektisch, allzu eingeengt und »beschleunigt« zu sein, als dass wir die Prozesse oder Denkweisen bemerken könnten, welche die Grundlage dafür schaffen, was wir als »unmöglich« bezeichnen. Das Unmögliche ist wie ein Stoppschild – es hemmt uns beim Weiterschreiten. Das Stoppschild trägt keine Mehrdeutigkeit in sich: Man muss anhalten. In unserem Projekt unmöglicher Fälle untersuchen wir dieses Stoppschild – welchen Zweck hat es? Was erlaubt es und was verhindert es? Gehört es zu anderen Aspekten oder Bestandteilen unseres Lebens oder unserer Arbeitspraxis? Gibt es noch andere Routen, auf denen keine Stoppschilder angebracht sind? Wir streben keinen Regelbruch an, bei dem wir nicht am Stoppschild anhalten würden, aber wir sind neugierig auf seine Platzierung, auf seinen Wert und seinen Zweck und darauf, welche Herausforderungen es stellt. Das Stoppschild ist eine Einladung, um zu verharren, zu denken und zu reflektieren. Wir fragen uns mittlerweile, ob es einen Unterschied macht, die Kategorie des Unmöglichen in der Versprachlichung als Adjektiv oder als Nomen zu behandeln – nicht bloß also Eigenschaft von Dingen, Personen oder »Fällen«, sondern als Ding an sich. Wir haben uns gefragt: »Was wäre, wenn wir ›Unmögliches‹ explizit als einen eigenständigen Untersuchungsgegenstand verstünden?« Was wäre, wenn wir das Unmögliche nicht einfach als eine äußere Grenze von Möglichkeit betrachten würden, sondern als einen Liminalraum zwischen dem, »was der Fall sein kann und was nicht der Fall sein kann«, als einen konzipierbaren, diskutierbaren Raum, der allen Menschen und jeder Praxis zur Verfügung

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steht? Eine Weise, in der sich dies vielleicht artikulieren lässt ist zu sagen, dass wir die Sicht explorieren, wonach das »Unmögliche« größer ist als die Summe unmöglicher Situationen. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, das Phänomen der Unmöglichkeit im Sinne eines erforschbaren Raums und einer anfechtbaren Zone zu denken und zu erkunden – in der Hoffnung, mehr Kenntnisse über das Wesen dieses Raums zu gewinnen und darüber, wie wir uns in diesen Raum hineinwagen und welche Kosten damit verbunden sind. So werden unmögliche Situationen weniger als Einschränkung, sondern eher als Signal oder Eröffnung zur Erkundung des Terrains gesehen. Wenn wir in diesem Modus denken, drängt sich das von Deleuze und Guattari entwickelte Konzept des »Nomadischen« (Aldea, 2014) auf. Das »Nomadische« wird als Ort oder Raum beschrieben, der »frei, unbegrenzt, chaotisch und unspezifisch« ist (Abs. 6), wohingegen das »Sesshafte« als »vorherbestimmt, geordnet, kategorisiert und deutlich differenziert« (Abs. 6) sei. Diese Unterscheidung kann auf Situationen der Unmöglichkeit angewandt werden – wenn unsere Welt sich im Raum des »Möglichen« (des Machbaren, Erwarteten, dessen, auf das wir vorbereitet sind) bewegt, dann erscheint sie als geordnet, sicher und vorhersagbar. Sind Situationen aber »unmöglich«, wirken sie chaotisch und unsicher. Deleuze und Guattari sehen diese beiden Aspekte (das Sesshafte und das Nomadische) als unterschiedliche organisierende Systeme, von denen ein jedes uns Fähigkeiten und Einschränkungen zukommen lässt. Sich innerhalb dieser zwei unterschiedlichen Räume zu bewegen kann sich sehr verschieden anfühlen. Wenn man an das Vorhersagbare und Geordnete (was die Autoren als das Sesshafte bezeichnen) gewöhnt ist, dann wirkt das Nomadische unbehaglich und vielleicht hinderlich. Wenn man in einer nomadischen Existenz lebt, erscheint das Sesshafte als einschränkend und begrenzend. Wenn wir Gespräche mit Personen führen, die unmögliche Situationen erleben, kann ihnen das großes Unbehagen bereiten und in ihnen das Gefühl erwecken, dass etwas »falsch« sei, das korrigiert werden müsse. Ihr »Betriebssystem« ist vielleicht darauf ausgerichtet, Ordnung und Sicherheit herzustellen, und wenn diese Bemühungen das gesetzte Ziel nicht erreichen, dann erklären sie diese Situation als unmöglich. Diese Schlussfolgerung erwächst einer Per­ spektive oder Haltung, derzufolge die Welt geordnet sein und in ihr Gewissheit vorherrschen sollte. In unserem Projekt unmögliche Fälle schaffen wir einen Raum, in dem diese Weltsicht offen dargelegt wird, und bieten eine Gelegenheit, die Situation aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln zu untersuchen.

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Ein Fallbeispiel Zu Veranschaulichung beschreiben wir eine Konsultation, bei der es um eine Ärztin ging, die sich in einer unmöglichen Situation wähnte: Ein früherer Klient hatte die Ärztin kürzlich aufgesucht und um Hilfe gebeten, aber in ihrer Einrichtung bestand die Erwartung, sie solle keinen Kontakt mehr mit ihm haben, weil der Fall »abgeschlossen« war. Die Entlassung des Klienten aus einem psychiatrischen Programm stand an, und er hatte weder Familie noch Freunde in seinem Leben, an die er sich hätte wenden können. Er erklärte der Ärztin, dass sie während ihrer gemeinsamen therapeutischen Arbeit ihm sehr geholfen und ihn unterstützt habe, und bat sie, ihm weiterhin Unterstützung zukommen zu lassen, bis er »wieder auf die Beine gekommen« sei. Die Ärztin fühlte sich ethisch und moralisch dafür verantwortlich, den Klienten auf sinnvolle Weise zu unterstützen; sie fühlte sich gefangen zwischen ihrem Wunsch, auf die Bedürfnisse des Klienten einzugehen, und der Vorschrift, keinen weiteren Kontakt zu ihm aufzunehmen, weil ihre frühere Beziehung zu ihm als seine Therapeutin beendet war. Die Ärztin hatte den Eindruck, dass ihre Arbeit mit diesem Klienten noch nicht ganz fertig sei, obwohl sie angewiesen worden war, den Fall abzuschließen, weil Zeit und Finanzierung ihres Klienten in dem psychiatrischen Programm abgelaufen waren. Die Belastung, die Regeln der Einrichtung zu Lasten dieses Klienten einzuhalten, der immer noch Hilfe brauchte, und ihm nicht helfen zu können, war für die Ärztin qualvoll – eine unmögliche Situation für eine Helferin. Die Ärztin bereitete eine Power-Point-Präsentation vor, in der sie unserem Konsultationsteam ihr Dilemma im Detail beschrieb. Sie berichtete uns, dass ihr bei der Vorbereitung der Präsentation einige Elemente der Situation in den Sinn gekommen seien, die sie zuvor nicht erkannt habe. Insbesondere sei ihr klar geworden, dass auch andere Personen und Faktoren an der Situation beteiligt waren – nämlich andere Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie arbeitete, andere Supervidierende und deren Ansichten, langjährige Praxisgepflogenheiten sowie ein System von allgemeingültigen Vorschriften und Regelungen. Infolge ihrer Vorbereitungen begann sie zu verstehen, dass ihre als unmöglich wahrgenommene Situation weitaus komplexer war als ein rein persönliches Dilemma bzw. eine individuelle Entscheidung, entweder »die Regeln der Einrichtung zu befolgen oder der Bitte des Klienten zu entsprechen«. In unserem gemeinsamen Gespräch befragten wir die Ärztin zu ihrem Verständnis der Regelungen ihrer Einrichtung und deren Zweck, etwa, was die Regelung der Einrichtung anbelangt, wie Beziehungen zu Patienten nach Beendigung der formalen Therapie zu gestalten sind; was mit solchen Regelungen erreicht werden

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solle; wie diese definiert sind und wie ihre Einhaltung gewährleistet wird; inwieweit es innerhalb der Einrichtung akzeptiert wird, wenn Kommentare über Vorschriften gemacht werden, die in ihre ärztliche Praxis hineinspielen, und diese Vorschriften womöglich hinterfragt werden. Die Unterhaltung konzentrierte sich nicht auf die binäre Entscheidung, von der die Ärztin ursprünglich ausgegangen war. Dieses weitreichende Gespräch dauerte etwa 90 Minuten, und die Ärztin sagte, dass sie weitere Gespräche mit ihren Kollegen und Kolleginnen benötige. Das ursprüngliche Dilemma stand nun nicht mehr im Vordergrund – die Entscheidung der Ärztin, wie sie mit der Bitte ihres früheren Klienten umgehen sollte, war noch immer ungeklärt, aber ihre Aufmerksamkeit war nun breiter gefächert und sie würdigte stärker die Komplexität ihrer unmöglichen Situation. Das Dilemma fühlte sich leichter an – auch wenn es sich noch nicht gelöst hatte. Die Ärztin war auf mehrere Aspekte ihrer Situation neugierig geworden, und es animierte sie, diesen Aspekten nachgehen zu wollen. Die Aspekte, zu denen sie Neugierde entwickelt hatte, begannen sie zu interessieren, und zwar nicht nur in Hinblick auf die ursprüngliche Situation, von der das Gespräch ausgegangen war, sondern auch in Bezug auf deren Implikationen für ihre weitere Praxis und professionelle Orientierung.

Die Zukunft des »Unmögliche-Fälle-Projekts« In unserer anfänglichen Projektarbeit haben wir unmögliche Umstände oder Räume erkundet, um ihnen gegenüber sensibler zu werden, sie zu bezeugen und zu überlegen, welche Möglichkeiten oder Werte sie darstellen. Unser Fokus war gerade nicht, für ausweglose Situationen eine Lösung zu finden oder Gelegenheiten zu schaffen, einen »Ausweg« aus der Unmöglichkeit zu schaffen, aber wir schätzen Initiativen, die genau dies tun. Wir leugnen nicht, dass es einen »Durchbruch« geben kann, aber wir erzeugen bewusst Kontexte, in denen man sich der Unmöglichkeit nähern kann, ohne eine Auflösung dafür finden zu müssen. Die Entwicklung dieses Projekts ist eine kollaborative Reise, die von der Neugier auf eine zentrale Idee ausgeht – Unmöglichkeit kann ein erforschungswürdiger Raum sein, der nicht als Hindernis oder Problem begriffen werden muss, sondern vielmehr als eine respektierte und geachtete, grundlegende Quelle von Informationen und Erkenntnissen gesehen werden kann, die es zu würdigen gilt. Bisher haben Kollegen und Kolleginnen unmögliche Situationen als eine Art fachlicher Sackgasse gerahmt, als unerwünschte Situationen, die es zu vermeiden gilt. Wenn wir diesen Augenblick oder Raum als eine weitere Wissensquelle betrachten, kann das zu einem guten Weg werden, Fortschritt zu erzielen – allerdings nicht in der Absicht, das Unmögliche loszuwerden, sondern vielmehr

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in der Absicht, es wertzuschätzen. Die Gründung unseres auf dieser produktiven Idee beruhenden Projekts hat uns vier Kollegen und Kolleginnen dazu herausgefordert, im Vertrauen zueinander die Idee gemeinsam zu entwickeln, überlegen, wie sie umsetzbar ist und wie wir sie unter Fachkollegen und -kolleginnen präsentieren können. Unsere Zusammenarbeit an diesem Projekt ist geprägt von gegenseitigem Vertrauen, von Offenheit für die Erforschung von etwas Neuem. Wir sind im Glauben, dass es wichtig ist, Mut zu fassen, dass unsere Profession schätzen wird, was wir gerade entwickeln. Fachleute, die zu Treffen mit uns gekommen sind, haben zurückgemeldet, dass sie sich gehört, gesehen, ernstgenommen, respektiert und nicht bewertet gefühlt haben. Einige von ihnen haben auch hervorgehoben, dass sie sich zum ersten Mal sicher gefühlt haben, ihre Geschichte zu erzählen. Einige Teilnehmende berichteten, dass bereits die Vorbereitung auf die Konsultationsgespräche mit uns einen gewissen neuen Zugang zu ihren unmöglichen Situationen und neue Perspektiven aufwarfen. Geschätzt wurden Fragen, die man sich selbst nie gestellt hatte. Sie fanden es gut, dass wir keine Empfehlungen oder Handlungsanweisungen gegeben hatten, und erlebten den Prozess als humanisierend. Die in den Beratungsteams tätigen Personen beschrieben ebenfalls positive Erfahrungen. Sie konnten, nämlich ihr Wissen und ihre Erfahrung auf neue Weise anwenden und waren von der Übertragung ihres Wissens und ihrer Erfahrungen auf andere Praxisfelder überrascht – sowohl hinsichtlich dessen, wieviel Relevantes sie anbieten konnten, als auch in Bezug darauf, wie sie aus den präsentierten unmöglichen Situationen Dinge lernten, die auf ihrem eigenen Verständnis beruhten. Wir sind der Auffassung, dass die zentralen Elemente effizienter Teammitglieder in deren zwischenmenschlichen Fähigkeiten liegen, aus einer Position der wertschätzenden Neugier aufmerksam zuzuhören – und diese Perspektive ist nicht begrenzt auf Personen mit einem bestimmten professionellen Hintergrund oder einer besonderen Berufsausbildung. Für die Zukunft können wir uns vorstellen, Praktizierende aus den unterschiedlichsten Bereichen einzuladen. Wir stellen uns vor, dies könnten z. B. Nachrichtensprecher sein oder unsere internationalen Freunde; sogar unser Bürgermeister könnte ein guter Kandidat für unsere Teams sein. Als Teammitglieder fühlten wir uns geehrt, Fachleute auf ihrer Reise begleiten zu dürfen, spürten Dankbarkeit für ihr Vertrauen, uns an ihren Geschichten teilhaben zu lassen, und waren inspiriert von ihrer Weisheit und der großartigen Erfahrung des gemeinsamen Lernens.

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Narrative Praxis als Dissens: Dekolonisierung epistemischer Wissensordnung gegenüber Kindern HEIDRUN SCHULZE

Kinder und Diskurskritik in der Narrativen Praxis Narrative Praxis entstand programmatisch aus einem machtkritischen Denken mit dem Anspruch der Fundierung einer emanzipatorischen und herrschaftskritischen Therapiepraxis. Whites und Epstons grundlegende Wissens-MachtDiskurs-Kritik von (siehe Beitrag X) im klinisch-therapeutischen Handlungsfeld steht in enger Verbindung mit ihrer gemeinsamen biografischen Erfahrung in der klinischen Behandlung von Kindern in Australien und Neuseeland (vgl. Polkinghorne, 2004). Beide suchten engagiert, sich mittels neuer (Denk-)Wege ohne Rückgriff auf einen Störungsjargon aus dem Diskurs- und Praxisfeld medizinisch-pathologisierender Diagnostik und verinnerlichender Problembeschreibungen zu distanzieren. Mit ihrer professionellen Ethik arbeiteten sie gegen die Auffassung an, Kinder als Problemträgerinnen zu diagnostizieren. Sie ersuchten deren Problem in den sozialen Kontext zu stellen. Anstelle von gängiger Pathologisierungen und Individualisierungen trennten sie mittels Externalisierung konsequent Probleme von Kindern ab, lokalisierten sie konsequent in der äußeren Welt der Kinder, in ihren Lebensbedingungen und intra/ intergeneratioanlen Beziehungsverhältnissen als »social issues«. Rückblickend reflektiert Denborough (2009, S. 97) auf Whites’ Praxis mit Kindern: »Michael refused to locate the fears children were experiencing as in any way reflective of their ›inner character‹. He refused to participate in internalizing descriptions of problems. Instead, he believed there were good reasons why small children might be afraid in this culture«. Whites’ und Epstons’ Kritik bezog sich vor allem auf die universalisierten psychologisch-psychiatrischen Deutungen und (Be-)Handlungen, in denen institutionalisierte Praktiken der Macht durch Fachkräfte und Institutionen, sowie die der Eltern gegenüber Kindern verdeckt bleiben. Allerdings bleibt die Theoretisierung der intergenerationalen Machtverhältnisse nur implizit, wenn White über dialo-

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gische Praktiken mit Kindern schreibt, die traumatisierende Erfahrungen – und damit die Erfahrung von Gewalt durch Erwachsene in Strukturen generationaler Ordnungsmacht – überstanden haben. In seinem Aufsatz über das »(Wieder) erschließen von unterdrückten Geschichten« (White 2009, S. 9, Hervorh. HS) stellt er das »Schweigen« der Kinder als Auswirkung des Umgangs mit Kindern heraus, das als be- und entwertenden Zuhören oder gar Nichtzuhören beschrieben wird. Nicht die Erfahrung von Gewalt führe zum Schweigen oder zum zögerlichen Sprechen, sondern ein sozialer Kontext, in dem Abqualifizierung aufgrund stereotypsierender Annahmen von Kindsein und Kindheit legitimiert erscheint. Nie verfällt White in Konstruktion über innerliche (Charakter-)Eigenschaften, aus denen defizitäre Kompetenzuschreibungen gegenüber Kindern münden (können). In der Formulierung von »unterdrückten« Geschichten von Kindern deutet White implizit ein soziales Zusammenwirken von (legitimierten) Unterdrückenden gegenüber als unterlegen positionierten Unterdrückten an. Letztere, die Kinder, werden in eine strukturell verankerte gesellschaftliche Sprecherposition der Subalternisierung aufgrund einer hierarchischen adultzentristischen Ordnung in der Kategorisierung » Kinder«, mit der Statuszuschreibung noch nicht Erwachsener defizitär positioniert (Liebel, 2020). Whites’ Ausführungen zu Kindern können als Kritik an patriarchalen Herrschaftsverhältnissen (siehe Kapitel Eine Reise zu machtkritischen Denkorten und Denklandschaften narrativer Praxis, S. 90) und der Beanspruchung auf westlichen, männlichen beruhenden dominanten Wissensordnung gelesen werden. Übertragen auf Kinder, erzeugen diese Wissensordnungen professionellen Praktiken und (fachlich) legitimierte Adressierungen von Kindern, die Kinder als Kollektiv in eine unterlegene Position zuweisen. Was White hier andeutet, aber nicht wie sonst, in seiner Macht-WissenDiskurs- Kritik eingehend ausleuchtet, ist das der generationalen Ordnung zugrundeliegende Prinzip der epistemischen Gewalt (Brunner, 2020). Diese liegt in der Beanspruchung der Überlegenheit eines Herrschaft beanspruchenden (hier erwachsenen) Wissens selbst und nicht nur in den Mitteln der Ausübung (Gill, 2020). In seiner Kritik an klinisch-expertokratischer, erwachsener Macht, berührt White nicht die Machtverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen, Eltern und Kindern (aufgrund eines systemischen Familienbildes?). Gleichzeitig haben White und Epston mit ihrer dialogischen Praxis mit Kindern und großen Einsatz gerade diese patriarchal-wissensgestützten Machtprozesse gegenüber Kindern zu verändern gesucht. Aus der Perspektive diskurs- und machtkritischer New Childhood Studies entwickelt Alanen ihr auf Dekonstruktion von Zuschreibung/Positionierung

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basierendes, relationales Konzept »generationing« in Anlehnung an das Konzept »Gender«, in der die ontologische Konstruktion »Kind/Kindheit« als Prozess sozialer (biologisch begründeter binärer) Positionierung ins Auge gefasst wird. Das Phänomen Kindheit ist – mit Alanen (2005) gesprochen – zutiefst relationaler Natur (Alanen 2005, S. 74 f.), Erwachsene entstehen erst aus der Konstruktion von »Erwachsenheit« in Differenz zu »Kindern« und »Kindheit«. Aus diesem Grund sollte die Handlungsfähigkeit von Kindern immer im Kontext spezifischer (generationaler) Strukturen in den Blick genommen werden, in denen Kinder aufgrund ihres jungen Alters in eine untergeordnete (u. a. durch Reduzierung auf Schutzbedürftigkeit) Subjektposition adressiert werden.

Narrative Praxis als Dekolonisierung Schon zu Beginn von Whites und Epstons theoriekritischer narrativer Per­ spektiven spielte die Idee der Dekolonisierung in der Abwehr universaler wahrheitsbeanspruchender Theorien, beim Hinterfragen westlich-cartesianischer Wissensbildungskonzepte und ihrer die Welt erklärenden Metanarrative, eine wichtige Rolle. So lässt sich auch das Thema der unterdrückten Geschichten und des Schweigens von Kindern auf das White hinweist, in einen (De)Koloni­ sierungsdiskurs rahmen. Ein historisierender Zusammenhang zwischen territorialer und unterwerfender Kolonisierung und Kindern wird in der 1981 erschienene Schrift des österreichischen Erziehungswissenschaftlers Peter Gstettner mit dem Titel: »Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft. Aus der Geschichte der Disziplinierung« (Gstettner, 1981) beschrieben. Gstettner stellt als einer der Ersten den Zusammenhang der »Eroberung der kindlichen Seele die vorausgehende wissenschaftliche Eroberung unbekannter Territorien« ausführlich dar (Gstettner, 1981, S. 15, zit. in: Liebel, 2017, S. 112) und thematisiert den bisher unsichtbaren Zusammenhang von Kolonialismus und (traditioneller) Kindheitswissenschaft. Erst durch Liebels Beitrag »Postkoloniale Kindheiten« (2017) wird die enge Verwobenheit von territoral-kolonisierender Geschichte und Völkerkunde und einer psychologisch und pädagogisch begründeten Kindheitswissenschaft unter einer postkolonialen Kontinuität wieder herausgearbeitet. Da die professionelle Praxis oftmals mit einer In-Besitznahme von Wissensterritorien einhergeht, erscheint mir das folgende Zitat von Gstettner für eine aktuell immer noch fehlende kritische Bewusstheit einer machtasymmetrischen adultzentristischen Wissensproduktion aus der Position erwachsener (besser-)wissender Überlegener passend. Er verankert die Machtverhältnisse zwi-

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schen Erwachsenen und Kindern wissenschaftshistorisch mit Blick auf die postkoloniale Ordnungsmacht: »Alle heute vorherrschenden Modelle menschlicher ›Entwicklung‹ beinhalten territoriale Vorstellungen: Völker, wie auch einzelne Individuen, werden als politische Räume gedacht, als Territorien, die es zu erobern und zu besetzen, zu erforschen und zu missionieren gilt. Deshalb gibt ein Blick auf die Anthropologie, die frühere ›Völkerkunde‹, einigen Aufschluss darüber, weshalb Wissenschaftler ›Wilde‹ für primitiv halten, ›Primitive‹ für naiv, ›Naive‹ für kindlich und Kinder für naiv, primitiv und wild.« (Gstettner, 1981, S. 85) Von der aus Indien stammenden Protagonistin postkolonialer Theoriebildung Gayatri Spviak wurde der Begriff »Subalterne« für kolonial hergestellte und unterdrückte Subjekte, in ihrem weltweit rezipierten Aufsatz »Can the subaltern speak?« (Spivak, 2007) theoretisiert. Aus kinderrechtspolitischer und adultismuskritischer Perspektive wird davon ausgegangen, »dass Kinder zu den Bevölkerungsgruppen gehören, die sich in solchen [subalternen] Lebenslagen und -­situationen befinden.« (Liebel, 2019, S. 13). Auf der Basis struktureller Marginalisierung und epistemischer Gewalt wird ihnen Rationalität abgesprochen. Im Gegenzug dazu lässt sich im Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern die Wirksamkeit adultzentristischen Wissens-, Sprach- und Seinsformen demaskieren, die den Ermächtigenden, den Kolonisierenden eigen sind und den Anspruch auf (erwachsene) Rationalität und (fachliche) Universalität vertreten (Grosfoguel, 2008). Dies lässt sich durch objektivierende Beobachtungen und wissenschaftliche Eroberung in Form von Interpretationen und Homogenisierungen einer konstruierten »kindlichen Welt« durch fachliche Expertinnen nachzeichnen. Solchermaßen fachwissenschaftliche Expertise »über Kinder«, ist mit einer epistemischen Beanspruchung erwachsenzentrierter Wissensproduktion verbunden, mit der Folge der Enteignung der subjektiven Erfahrung von Kindern, deren Selbstdeutung und Autor:innenschaft, die Holzkamp (1995, S. 125) in seiner Kritik der entwicklungs-psychologischen/psychoanalytischen Wissensordnung als »wissenschaftliche Kolonisierung« bezeichnet. Mittels eines entwicklungspsychologischen Deutungsrahmens und der damit einhergehenden normativen Entwicklungskonstruktionen finde eine Kolonisierung durch (erwachsene) Expert:innen statt, deren ontologische und biologistische Zuschreibungen in das Individuum implementiert werden und auf der Basis des faktisch angenommenen Wissens über Kinder, dann an die Stelle der eigenen Erfahrungen von Kindern gesetzt würden (Holzkamp, 1995). Kindern wird so ihr Sprechen über ihre Erfahrung, vom Standpunkt des Subjektes genommen. Aufgrund häufiger

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Erfahrungen der Nicht-Anerkennung ihrer narrativ/performatorischen Mitteilungen sind Kinder nicht gerade erpicht darauf zu sprechen, da sie auch wohlgemeinte Fragen eher als Verhör von jemanden interpretieren, der oder die aus einer Machtposition heraus mit ihnen ins Gespräch zu kommen versucht. Deswegen, so die Kindertherapeutin Vermeire (2017, S. 51) sei es wichtig: »to create a safe haven for children to speak, without marginalising their voices«, da »­children’s stories are particularly vulnerable to colonisation; their voices are particularly vulnerable to silencing« (Vermeire, 2017, S. 52; Hervorh. HS).

Potenzial narrativer Praxis für eine adultismuskritische Praxeologie Narrative Praxis hat m. E., durch die am Anfang der Entwicklung narrativer Ideen stehende genuinen Kritik am Überlegenheitsanspruch hegemonialer expertokratischer Wissensordnungen ein beträchtliches Potenzial eine kinderrechtsorientierte, anti-oppressive und dekolonisierende (Freire, 2000/1968) Praxeologie theoretisch fundiert zu begründen. Bisher führten allerdings unterschiedliche disziplinäre Perspektiven zu jeweils eingeschränkten Sichtweisen im Hinblick auf Ungleichheitsdimensionen. So wurde z. B. von der Familientherapie die familiendynamische1 Herangehensweise überbetont und das Phänomen intergenerationaler Machtasymmetrien vernachlässigt. Aus feministischer Analyse und Kritik wurde zwar strukturelle Geschlechterungleichheit als Ursache von Gewalt fokussiert, die Machtverhältnisse von Erwachsenen (Väter wie Mütter) gegenüber Kindern aufgrund von Erwachsenenzentrierung jedoch gänzlich vernachlässigt. In ihrer feministischen Kritik gegenüber patriarchalen Verhältnissen hebt Rommelspacher (1995) das Versäumnis heraus, dass Feministinnen der Gewaltdimension zwischen Eltern und Kindern keinen systematischen Stellenwert gegeben haben. In dem Maße wie sich Narrative Praxis als anti-opressive (Freire, 2000/1968) emanzipatorische Praxis entgegen Überlegenheit beanspruchender Wissensformen und unterwerfender gesellschaftlicher Ungleichheitsordnungen versteht, geht es darum, Perspektiven hinsichtlich der subalternen Positionierung von Kindern zu erweitern (Schulze et. al. 2018, Schulze et. al. 2020). Mit untenstehenden Zitat leuchtet eine kritische Reflexion in diese Richtung von Akteurinnen narrativer Praxis bereits auf: 1 In seiner Studie über »Partizipation von Kindern in Beratung und Therapie« kommt Lenz (2001) anhand von Kinderinterviews zu dem Befund, dass in der Beratungspraxis der Erziehungsberatungsstellen immer noch erwachsenenorientierte Diskursformen dominieren und Kinder in konkreten Beratungsinteraktionen vernachlässigt werden (ebd., S. 85).

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»Trauen wir uns, Kinder als menschliche Wesen anderer Entwicklung aber gleicher Selbstbestimmung zu sehen und zu behandeln? Welche Implikationen verbergen sich in dieser Idee? […] Es scheint ich müsse ständig Handlungen und Haltungen von Respektlosigkeit vermeiden. Es gilt, einiges an Geschichte von erwachsen-zentrierter Unterdrückung wie von kindlicher Romantisierung zu überwinden.« (Freeman et.al., 2011, S. 14) White und Epston arbeiteten eindrücklich und phantasievoll mit Kindern entgegen der Inferiorisierung ihrer Geschichten, ihrer eigensinnigen Ausdrucksformen und stellten damit kontinuierlich erwachsenzentrierter Deutungshoheit »über« Kinder in Frage. Ihre diskurs- und machtkritisch inspirierten und theoretisierten narrativen Ideen belegen zwar nicht explizit eine Kritik an der traditionellen Erwachsenen-Kinder Machtasymmetrie und der diskursiven Konstruktion über Kinder. Möglicherweise deshalb, weil Foucault als die wichtigste Inspirationsquelle für White galt, Foucaults Kritik an disziplinierenden und unterwerfenden Diskursen aber die Diskurse über Kindheit/Kinder aufgrund eines eigenen adultistischen Standorts gegenüber Kindern nicht »ans Licht« brachte. Um Kindern einen Ermöglichungsraum des Experimentierens mit alternativen Ideen und Erzählungen zu eröffnen, braucht es verschiedene Ausdrucksmittel, um neue Möglichkeiten und Aktivitäten zu entdecken für eine selbsttätige Erfahrung von neuen und bevorzugten Identität(en). Mit narrativen Zugängen geht es um eine (gemeinsame) kreative Suche nach Optionen für Ausdrucksformen und Bedeutungsgebungen von Kindern, durch die sie sich einen sicheren Raum erarbeiten, um über ihre ganz individuellen Erfahrungen, Reaktionshandlungen und darauf bezogene Selbstdeutungen, sprechen zu können. Möglichkeitsräume werden versucht herzustellen, in denen verloren gegangene Handlungsmöglichkeiten in den Geschichten der Kinder bewusstgemacht, wahrgenommen und weiter ausgebaut werden können. Narrative Fragen können so zur Entwicklung von neuen Erzähllinien inspirieren (White, 2010; Schulze, 2014, siehe auch das folgende Fallbeispiel). So können neue, bisher nicht erzählte Geschichten und/oder Neubezeichnungen und bisher nicht legitimierte/unterdrückte (Gegen-)Narrative als plurale alternative Identitätsnarrative gemeinsam mit Kindern im sprachlichen Austausch (Vygotskij 1934/2002; Schulze, 2014) kreiert werden. Eine Ablösung von Geschichten, die das Leben von Menschen erstarren lassen, wird dabei intendiert: »Durch diese Ablösung entsteht ein Freiraum, in dem sie ein anderes und ›besseres‹ Wissen über sich selbst erkunden können; ein Wissen, in dem ihr künftiges Leben seinen Platz finden könnte. Auf diesem Wege werden

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Bedingungen für etwas geschaffen, das Foucault (1978) als ›Aufstand der unterworfenen Wissensarten‹ bezeichnet.« (White, 1992, S. 52 f.) Anknüpfend daran wird deutlich, wie wichtig es ist, bewusst »widerständige Benennungen« einzuführen (Arndt, 2013, S. 30): »Denn Sprache ist ein dankbarer Schauplatz für Widerstand« (Arndt, 2013, S. 30) und erlaubt es Kindern, sich aus dem Gefängnis von sozialer Kontrolle und Verboten (beispielsweise nicht über Gewalt reden zu dürfen – oder reden zu müssen) zu befreien.

Fallbeispiel: Narrative Praxis im Lernort Hochschulausbildung Im Folgenden wird eine dialogische Miniatur für eine narrative Dekonstruktion mit Bezug aus Whites’ und Derridas’ sprachliches Dekonstruktionskonzept des »Abwesenden aber Impliziten« (siehe Kapitel Eine Reise zu machtkritischen Denkorten und Denklandschaften narrativer Praxis, S. 90) dargestellt. Mittels eines ethnografischen Zugangs (Protokoll) wird eine Situation in der Kinderund Jugendhilfe auf analytische Distanz gebracht, um diese als sozial konstruierte Wirklichkeit zu verstehen und ein neues Deutungsfeld zu ermöglichen. Mit dem Konzept »Abwesendes aber Implizites« soll eine mögliche Narrative Praxis – auch in pädagogischen informalisierten Situationen aufgezeigt werden. Ethnografisches Protokoll: Laura (anonymisiert) ist neun Jahre alt und lebt seit drei Monaten aufgrund von Vernachlässigung und Gewalt in einer belastenden Familiensituation in einer Inobhutnahmestelle. Ich bringe Laura jeden Donnerstag zum Tanzen. Auf dem Weg dorthin entwickelt sich zwischen uns ein lautstarker Konflikt über das was sie will und meine Intention und Aufgabe sie zum Tanzen zu begleiten. Als ich sie wegen ihrem »Meckern« kritisiere, reagiert Laura in dem sie mit trauriger Stimme sagt: »ich bin Nichts, ich bin Niemand, ich bin nicht dazu geboren, um auf dieser Welt zu sein, ich gehöre woanders hin« Eine erste Annäherung an Whites’ Konzept »Abwesendes aber Implizites« (nach Derrida) geschieht, indem gefragt wird: Mit was könnte die Aussage bzw. Anklage Lauras in Beziehung stehen? – Was könnte sich in den Klagen, im Widerstand an Fähigkeit andeuten, die ermöglichen, Widerspruch und Weigerung auszudrücken

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– Was könnte das über Lauras Werte für ihr Leben aussagen? – Welche Frustrationen könnten sich in enttäuschten Absichten, Wünschen, und Zielen äußern? – Welche Idee von Sich-besser-fühlen-Können ist »im Schatten« der Aussage implizit vorhanden? – Welche zerschlagenen Hoffnungen und Träume werden versucht aufrecht gehalten zu werden in den Äußerungen? Gemeinsam wurde im Seminar gedankenexperimentell für einen weiteren Dialog zwischen Laura und der Praktikantin eine dekonstruktive Fragepraxis begonnen: – Welche Gefühle versucht dieses Nichts und Niemand zu sein, zu bewältigen? – Was wird unterdrückt an Wünschen in der Welt, die dich fühlen lässt, dass du für sie nicht geboren bist? – Wie sieht die Welt aus, für die du geboren bist? – Wie hast du es geschafft, bis jetzt nicht aufzugeben auf diesem Planeten Welt? – Gibt oder gab es einmal irgendjemanden, für den du kein Niemand warst oder bist? – Woher weiß ein Niemand, dass er am falschen Ort ist? – Kannst du dich an andere Zeiten erinnern, an denen du ein bisschen weniger ein Niemand warst? – Was kann dich unterstützen ein bisschen weniger ein Niemand und mehr ein Jemand zu sein? – Was ist das, was du ablehnst weiter zu leben auf dieser Welt? – Was geschieht hier gerade für dich, so dass sich ein Protest meldet?

Selbstverständlich erfolgen solche Übungen zu Whites’ und Derridas’ Ideen des relationalen Sprachverstehen und der sprachlichen Dekonstruktion wie in diesem Fallbeispiel nicht ohne Reflexion organisationsstruktureller wie gesellschaftspolitischer – in diesem Fall adultismuskritischer Bewusstseinsbildung und Praxis: Ȥ Ausgangspunkt bildet die machtkritische Theorieposition, dass es sich beim Sprechen mit Kindern/Jugendlichen in pädagogischen Arrangements immer auch um offensichtliche wie auch subtile Formen intergenerationaler Machtasymmetrie handelt. Ȥ Mikropraktiken des Sprechens mit Kindern in Institutionen gewinnen unter dem Aspekt intergenerationaler und professioneller Machtasymmetrien im Kontext problematischer Anerkennungsverhältnisse besondere Bedeutung. Ȥ Die Aufmerksamkeit wird auf eine Sensibilisierung des Umgangs mit Sprache gerichtet, indem Wörter und Sprechhandlungen zum empirischen Gegen-

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stand der Beobachtung und Analyse gemacht werden (Borcsa et.al, 2021; Schulze et.al., 2015; 2018). Ȥ Wörter werden zu »Objekten der Kommunikation«; gemeinsam mit den Kindern wird die Bedeutung von Wörtern aus Sicht der Kinder erkundet, um ihre eigenen Denkprozesse für sie selbst nachvollziehbar zu machen. Damit wird das Recht auf die eigene Autoren- bzw. Autorinnenschaft vermittelt. Es fordert Lernende heraus, im ersten Schritt übernommenes deutungsmächtiges Vokabular, das auf innerliche Zuschreibungen zielt (z. B. bedrückende defizitäre Selbstbeschreibungen) infrage zu stellen. Ziel ist, die Wahrnehmung und Vermeidung von essenzialisierten Zuschreibungen an Gesprächspartner:innen zu schärfen. Durch den sprachlichen Akt der Externalisierung werden Probleme wieder »im Außen« im Bereich intentionaler Aktivitäten verortet (White, 1992; Schulze, 2014). Die Studierenden erhalten Anregungen, die Erfahrungen von Menschen als viel-geschichtlich – »multi-storied« zu denken: Wir leben alle in vielen Geschichten, nicht alle können erzählt werden, oder werden aufgrund von sozialen Konventionen und verinnerlichter dominanter Erzählweise nicht sagbar. Daraus entwickelt sich ein Verständnis, dass die Erfahrungen im Leben von Menschen immer reicher sind, als die Geschichten, die darüber erzählt werden. Es soll eine beständige Haltung von Vertrauen und Hoffnung im Wissen vermitteln, dass es immer noch vernachlässigte Geschichten gibt, die andere Erfahrungen bzw. Abweichungen repräsentieren – auch in den schwierigsten Situationen. Auch in schlimmsten Situationen geht es immer um sozial herzustellende Handlungsmächtigkeit, der (Wieder)Herstellung von Würde und Selbstachtung. Für Vertreterinnen der Sozialen Arbeit geht es demnach in vielen Handlungsfeldern (nicht nur Beratung/Therapie) darum, Adressat:innen Raum für neue Selbstbeschreibungen zu eröffnen, um alternative Erzählformen und neue Selbstkonstruktionen für eine neue Selbst- und Weltsicht zu ermöglichen. Damit einhergehend wird für beide – Professionelle wie Adressaten – ein Befreiung hegemonialer Diagnosen/psychologischen Formulierungen angestrebt. Studierende werden angeregt, die Rolle professioneller Interaktionen kritisch zu reflektieren. Sie üben zunehmend mehr die Rolle von Ermöglichenden einzunehmen, durch die sie die Adressatinnen darin unterstützen, sich durch selbsterzählte Geschichten und deren Bedeutungen als Protagonist:innen zu erleben. Mithilfe des zirkulierenden Theorie-Praxis-Transfers Narrativer Praxis lernen Studierende, die Äußerungen von Adressaten in sozialen Kontexten von Macht- und Herrschaftsstrukturen zu dechriffrieren, ihre eigenen Gründe von Selbst-Fremdattribuierungen und performatorischer Reaktion lernen sie, mit Blick auf Entstehungskontexte, zu reflektieren.

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Adultismus sichtbar machen: Aufforderung zum Dissens »When the culture of psychotherapy has played a central role in the reproduction of this culture, then it can also play a central role in dismantling it.«  (White, 2011, S. 46) Im vorausgehenden Argumentationszusammenhang habe ich die Aufforderung für eine adultismuskritische Praxeologie Narrativer Praxis mit der Analyse der intergenerationalen Machtasymmetrie und einer Wissen/Macht/Diskurskritik begründet. Es ging mir darum, die gesellschaftlich sedimentierten Bilder über Kindsein und Kindheit, in der Kinder in Relation zu Erwachsenen als »untergeordnet« aufgrund jungen Alters positioniert werden – als bisher übersehene »letzte Minderheit« (Farson, 1974) herauszustellen. Damit beabsichtige ich eine zentrale gesellschaftliche Dimension der generationalen (Ungleichheits)Ordnung und der sie begründenden Machtverhältnisse als eine zentrale Ursache von Gewalt gegen Kinder und intersektionaler Diskriminierungsformen von Kindern ins professionelle Sichtfeld zu rücken. Narrative Praxis selbst ist als ein Diskursfeld zu verstehen, in dem die eigenen Vorannahmen, Bilder, Praxisformen und die eigene Wissensproduktion – selbstkritisch bezüglich des eigenen/kollektiven Denkens, Interpretierens und (Nicht)Handelns ebenfalls sichtbar zu machen sind. Hierzu sind Fragen in professionelle Diskursarenen zu stellen, in denen um Bedeutungshoheit gerungen wird. Hegemoniesensibel sind gängige Diskursfiguren über Kinderleben und Konstruktion von Kind-Identitäten zu hinterfragen: Ȥ Vor dem Hintergrund welcher eigenen biografischen Erfahrungen und auf der Basis welcher fachlichen Diskursfiguren sprechen wir mit und über Kinder? Ȥ Welcher sozialen Ordnung und diskursiven Konventionen entspringt unser (Zu)Hören? Ȥ Wer spricht? Wer definiert? Ȥ Was wird im Rückgriff auf professionelle und damit diskursive generationale Standpunkte sagbar gemacht? Ȥ Was wird wie dabei als sagbar ausgeschlossen? Ȥ Welche Akteur:innen haben eine Gewinn durch Gespräch/Handlung? Ȥ Welche Strategien entgegen eines Gesichtsverlustes werden zwischen den Akteur:innen angewandt? Ȥ Welche Diskurse über Kinder wirken in Form habitueller Zuschreibung und durch Übernahme dieser durch die Kinder in die dialogische Praxis ein?

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Neben einer diskriminierungssensiblen Aufmerksamkeit struktureller und in professionellen Praxen oft verdeckt werdender Ungleichheitslinien wie Sexismus/hierarchisierte Geschlechterverhältnisse, Rassismus, Klassismus, Ableismus, Bodyismus, die Menschen diskriminieren und Ausschließungspraxen konstituieren (exemplarisch: Schulze, Höblich u. Mayer, 2018) wird die Wahrnehmung einer durch Adultismus konstituierende Ungleichheit und Praxis notwendig. Bisher wurde diese Ungleichheitsordnung nur mit großer Abwehr u. a. aufgrund eines reduktionistisch paternalistischen, statt emanzipatorischen Standortes beim Blick auf Kinder in die Ungleichheitsdebatte integriert, da es selbstverständliche, sozial konstruierte Bilder »über« Kinder aufgrund ungewohnter Denkweise herausfordert: »Die Dekonstruktion und Historisierung von Kindheit ist […] mit ähnlichen Prozessen zu Themen wie Geschlecht, race, Raum und disability zu vergleichen. Intellektuell und zuweilen auch emotional bildet sie eine möglicherweise noch größere Herausforderung, zieht sie doch ein im breiten öffentlichen Diskurs bisher noch kaum problematisiertes Ordnungs- und Wissensprinzip fundamental in Zweifel und berührt […] sehr grundsätzliche Vorstellungen« (Winkler, 2016, o. S.; Hervorh. HS). Die Einlösung des Anspruchs auf Dekolonisierung erfordert, angesichts der gesellschaftlich und individuell fest verankerten Bilder von Kindern, mehr als »gute narrative Praxis« mit dem guten Willen für eine kinder-»gerechte« Gesprächsführung. Kinderrechtsorientierung und damit immer auch Menschrechtsorientierung setzt in gelebter politisch-professioneller Praxis aus meiner Sicht eine umfassende adultismuskritische Habitusbildung in Beratung/Therapie/ pädaogischen Arrangements voraus. Dies bedeutet eine Dekonstruktion aldultismusstützender Fachdiskurse und eine anti-hegemoniale Theoriepositionen einzunehmen sowie adultismuskritische Deutungs- und Verstehenskulturen wie Handlungspraxen zu entwickeln. Mehr noch: eine adultismuskritische interaktionsanalytische Beratungs- und Therapieforschung (mit Kindern als Mitforschende) ist dringliche Aufgabe von Disziplinen. Eine Dekonstruktion epistemischer Wissensordnungen in der Narrativer Praxis dokumentiert sich aus meiner Sicht durch eine Theorie-Praxis-Verknüpfung in Aufnahme sich auffächernder differenzkritischer Denkstandorte. Zur theoretischen Sensibilisierung für gegenhegemonialen Kritikstandorte sind disziplinäre Grenzen im Rahmen des Theoriegeflechts Narrativer Ideen zu überschreiten. Vonnöten ist die Sichtbarmachung grundlegender Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern, um eine gesellschafts- und

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interaktionskritische Reflexion der sie erzeugenden (Interaktions)Verhältnisse zu ermöglichen und eine emanzipatorische Solidarität für gerechtere intergenerationale Verhältnisse (Liebel, 2021) zu erzeugen. Im Einklang mit Spivaks’ dekolonisierenden Aufforderung und dem von ihr geprägten Begriff »Unlearning« (Spivak, 1996) muss ein Weg beschritten werden, auf dem Schritt für Schritt selbstverständliche adultistische Machtverhältnisse aktiv zu verlernen sind. Bisherige Wissensformen und Handlungsmuster sind nicht allein durch Diskurskritik sondern auch durch eine aktive entgegensetzende Praxis zu verändern (Sternfeld, 2017). Kontinuierlich bleibt die Frage der eigenen Komplizenschaft bei der Herstellung der generationalen Ordnungen, mit ­Whites’ Worten (2011, S. 53): »What steps can we take to avoid being wholly complicit in the reproduction of the dominant social order? … open up new possibilities for dissent?«

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Perspektiven systemischer Biografiearbeit ELISABETH CHRISTA MARKERT und THOMAS SCHOLLAS

Spielfelder der Biografiearbeit Biografiearbeit hat Hochkonjunktur, zumindest wenn man sich die unendlich vielen Angebote im Internet ansieht, die unter diesem Begriff kursieren. Sie richten sich an Menschen in allen Lebensaltern. Dabei gibt es aktuell Schwerpunkte in der Arbeit mit älteren Menschen im Pflegebereich und in der Sozialen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Kontext von Pflege- und Adoptivfamilien sowie in der Heimerziehung. Auch in der Erwachsenenbildung gibt es zunehmend Angebote, insbesondere im Blick auf Lebensübergänge. Schaut man auf die Begriffsbestimmungen von Biografiearbeit, so ergibt sich eine große Unschärfe. Im weitesten Sinne wird sie als die Befassung mit der eigenen Biografie, dem Lebenslauf oder Teilen davon beschrieben. Dabei wird nicht zwischen angeleiteter Arbeit und Selbstbefassung unterschieden. »Biografiearbeit« als eigenständiger Ansatz ist in dieser großen Offenheit nicht eindeutig zu definieren und die Beschreibung von Qualitätskriterien wird erheblich erschwert.2 Wir verstehen Biografiearbeit als »angeleitete Arbeit an der eigenen Biografie«, als »eine strukturierte Form der Selbstreflexion in einem professionellen Setting« (Miethe, 2011, S. 24). Biografiearbeit ist ein kreativer Prozess, in dem zwei oder mehr Menschen in einem professionellen Setting miteinander eine Reise in die eigene Vergangenheit unternehmen und die dabei entdeckten Puzzlestücke zu einem neuen Bild zusammensetzen. Vergangenheit wird in der Gegenwart angeeignet, um Zukunft zu gestalten. Dabei spielen die bewussten und unbewussten Einstellungen und Prägungen eine wichtige Rolle. Vorwissen und Annahmen, wie es denn in der Regel bei Menschen in einem bestimmten Milieu zu einer bestimmten Zeit ausgesehen hat, bestimmen das Verständnis, Deutungen, Fragestellungen und das Ergebnis mit. 2 Um diesem Dilemma entgegenzuwirken, hat sich 2010 der Fachverband für Biografiearbeit (FaBia e. V.) gegründet und Qualitätsstandards für die Ausbildung von Referentinnen für Biografiearbeit entwickelt, nach denen Institute ausbilden und ihre Kurse zertifizieren lassen können: www.fabia-ev.de.

Perspektiven systemischer Biografiearbeit

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Die achtsame Haltung der Begleitenden im kokreativen Prozess und ihr Wissen um die Möglichkeiten und eigenen Grenzen im Rahmen von Biografiearbeit machen Professionalität aus (Röhrbein, 2019, S. 52 f.). Traumasensibilität und Ressourcenorientierung sind Grundlagen für Anleitende. Biografiearbeit ersetzt keine Therapie, wenngleich sie therapeutisch wirksam sein kann. Die theoretischen Grundlagen der Biografiearbeit sind interdisziplinär. Sie basiert auf Erkenntnissen unterschiedlicher Disziplinen wie der Neurobiologie, Psychologie, Sprachwissenschaft und vieler mehr, um eine fundierte Grundlage für praktische Arbeit beziehungsweise Arbeitsfelder zu legen. Da sie sich mit der Lebensgeschichte eines Menschen befasst, kann sie immer Tiefenebenen berühren und unbewusste, dissoziierte Anteile eines Menschen aktivieren. Als Anleitende wissen wir, wie Erinnern und Vergessen zusammenhängen. Die lebensgeschichtlichen Erzählungen werden rekonstruiert und dekonstruiert, um das kreative Potenzial, die Ressourcen in ihnen zu entdecken. Besteht ein Lebenslauf aus einer Fülle von chronologischen Fakten, so ist Biografie die subjektive und hoch selektive Aneignung dieser Fakten. Das bedeutet also immer Auswahl, Deutung und Akzentsetzung. Sie entsteht in einem andauernden dynamischen Prozess. Je nach Kontext erzähle ich eine Geschichte in der jeweils passenden Fassung – in einem Bewerbungsgespräch anders als unter Freunden oder Arbeitskolleginnen. »Narrative Erfahrung ist interpretierte Erfahrung« (Brockmeier, 2015, S. 10). Und darin hat auch das »Vergessen« seinen Platz. »Das menschliche Gedächtnis ist eine Narration, eine Erzählung, zu der das Vergessen notwendig gehört. Das digitale Gedächtnis ist dagegen eine lückenlose Addition und Akkumulation. Gespeicherte Daten sind zählbar, aber nicht erzählbar. Speichern und Abrufen unterscheidet sich grundsätzlich von der Erinnerung, die ein narrativer Vorgang ist. […] das Gedächtnis ist ein dynamischer, lebendiger Prozess, in dem unterschiedliche Zeitebenen interferieren und einander beeinflussen. Es unterliegt ständigen Umschreibungen und Umschichtungen« (Byung-Chul Han, 2014, S. 9). Biografiearbeit vollzieht sich in der Praxis entweder im Einzel- oder Gruppensetting. In beiden Fällen spielt neben den individuellen Erfahrungen auch der gesellschaftliche Rahmen eine Rolle. Individuelle Geschichte ist eingebettet in gesellschaftspolitische und sozialgeschichtliche Prozesse. Sie stehen in einer Wechselbeziehung. Individuelle Erfahrungen und Konstruktionen von Wirklichkeit erschaffen eine kollektive Erinnerungskultur, erhalten sie aufrecht oder schreiben sie fort, wie auch umgekehrt die kollektive Erinnerungskultur die individuellen Erinnerungen beeinflusst. Jedes Erzählen ist kulturell überformt.

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Elisabeth Christa Markert und Thomas Schollas

Narrative in der Biografiearbeit Mittels Sprache und dem Erzählen von Geschichten ist es Menschen möglich, »die Welt und uns selbst in einer differenzierten Art und Weise zu erleben« (Brockmeier, 2015, S. 3). Eine Biografie entsteht durch Geschichten, die andere über mich erzählen und die ich adaptiere, und durch Geschichten, die ich selbst erzähle aufgrund von eigenen Erfahrungen, denen ich Bedeutung in meinem Leben gebe. Narrative sind immer mit Deutung und Gewichtung verbunden und können daher niemals ein vergangenes Geschehen so erfassen, wie es real in der Gegenwart erlebt worden ist. Oder, wie Paul Auster schreibt: »Sprache ist nicht Wahrheit, sondern reflektiert unser Dasein in der Welt« (Auster, 2001, 221 f.). Darüber hinaus werden Erzählungen und Geschichten durch »Fremdmaterial« ergänzt, um nicht erzählbare Lücken zu füllen und die Erzählung stringent zu machen. So sind z. B. die Geschichten vieler aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrender Soldaten in den 1950er Jahren durch Filmsequenzen beeinflusst, wie sie damals populäre Heimkehrfilme präsentieren (Welzer, Moller, Tschuggnall, 2002, S. 108 ff.). Im theoretischen Diskurs wird das Verhältnis von Erfahrung und Erzählung umfassend und kontrovers diskutiert. Für die Biografiearbeit ist wichtig, sich die Wechselbeziehung bewusst zu machen. Wenn wir der Aussage folgen: »Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung« (von Foerster, 1981, S. 40), dann gewinnt nur das einen »Wirklichkeitscharakter«, dem eine entsprechende Bedeutung gegeben wird.1 Erfahrungen werden ausgewählt, gewichtet und in Erzählungen vergegenwärtigt. Umgekehrt rufen bestimmte Geschichten Erfahrungen hervor, indem sie insbesondere den emotionalen Gehalt, der mit der jeweiligen Erfahrung und ihrer erzählerischen Bearbeitung einhergeht, erzeugen. In der Praxis entsteht ein experimenteller Erzählraum, der Menschen einlädt, ihr Leben aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und sich »erzählerisch« zu erproben. Wenn biografische Narrative sich lähmend auf den Selbstentwurf auswirken, können im Prozess biografischen Reflektierens neue Bilder und Geschichten entworfen werden. Durch spielerischen Umgang mit ihnen z. B. mittels Reframing können die darin verschlossenen Potenziale aktiviert werden. So kann beispielsweise auf eine dramatische und schwere Erzählung mit der Frage reagiert werden: »Und das haben Sie alles überstanden? Ich frage mich, 1 Luhmann spricht in dem Zusammenhang von »Selektionszwang«: »Komplexität […] heißt Selektionszwang« (Luhmann, 1984, S. 47) und später: »Die logische Möglichkeit, jedes Element mit jedem anderen zu verknüpfen, kann kein System realisieren. Das ist der Ausgangspunkt aller Reduktion von Komplexität« (Luhmann, 1984, S. 73.)

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wie Sie das erreichen konnten. Welche Ihrer Stärken hat Ihnen da besonders geholfen?« Der Möglichkeitsraum, das eigene Leben zu betrachten, kann so erweitert werden. Das macht erlebtes Leid nicht ungeschehen, bietet aber die Chance, anders als bisher darauf zu blicken. Janosch gibt in seinem »Magischen Lebenslauf« ein Beispiel dafür: »Mach dir deinen Lebenslauf! Erfinde dir so viele und so schöne Lebensläufe, wie du Lust hast, einmal ist einer dabei, an den du immer denken musst, und dann kann ihn dir keiner nehmen« (Janosch, 1992, S. 51). Erfahrungen schreiben sich in den Körper ein. Im Leibgedächtnis werden gerade auch traumatische Erfahrungen, belastende Kindheitserinnerungen, Trennungen oder Verluste geliebter Menschen gespeichert. Die meisten dieser Erfahrungen sind der bewussten Erinnerung nicht zugänglich. In der Biografiearbeit ist es wichtig, auch »einer Erfahrung, die sich uns erinnert, aber wir uns nicht an sie, ihre Geschichte zu geben« (Niel-Dolzer, 2020, S. 17). Dann muss eine Erfahrung erst einmal so weit zugänglich werden (etwa durch körpertherapeutische Intervention), dass sie in Sprache, in eine Erzählung verwandelt wird. Erst dann kann sie als Erzählung in die eigene Lebensgeschichte integriert werden. Es geht in der Biografiearbeit, bei aller Betonung der Narrative, um einen ganzheitlichen Ansatz, der materielle, emotionale und rationale Ebenen in den Blick nimmt und sie untereinander in Beziehung setzt.

Körpersprache in der Biografiearbeit Biografie ist allgegenwärtig, stets präsent, auch wenn nicht immer bewusst. Biografie verkörpert sich und unser Körper prägt unsere Biografie. Nicht nur das, was wir über unsere Biografie erzählen, um uns biografische Kontinuität zu geben, sondern auch das, was dem Bewusstsein fern und aufgrund von Verletzungen nicht leicht zugänglich ist, macht unsere Biografie aus. Erfahrungen des Scheiterns und des Verlusts wie des Gelingens, der Sinnlosigkeit und des Sinnhaften geben ihr ein unverwechselbares Profil. Wir zählen auch Tiere, Pflanzen, die Erde zu Wesen mit einer Biografie, die ebenfalls verletzlich sind, wie die aktuelle Klimaforschung uns täglich vor Augen führt. Die Vulnerabilität aller Lebewesen bedingt, dass jeder Mensch angewiesen und bedürftig ist und gleichzeitig frei sein will. Braidotti (2014) benutzt den Begriff des Werdens für das Selbst. Geteilte Erfahrungen, Emotionen, Geschichten bilden ein Netzwerk, in dem wir im Fluss des Werdens kreativ verbunden und verantwortlich sind. Verletzende Erfahrungen und ihre Auswirkungen werden in den Strom des Werdens aufgenommen. Manchmal ist dieser Strom des Werdens wie ein-

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gefroren oder behindert. In der Biografiearbeit können dafür Ursachen gefunden und Hindernisse verwandelt sowie Ressourcen entdeckt werden, die den Lebensfluss befördern. Die zwischenmenschlich geteilte Erfahrung von Schmerz, aber auch von Wandlung befördert Veränderungen. Ein kleiner Auszug aus der Arbeit mit Marie soll das konkretisieren. Sie ist Teilnehmerin in einer Gruppe, die sich aus Interesse an Biografiearbeit zusammengefunden hat. Symptome stehen nicht im Vordergrund, vielmehr sollen Themen und Probleme in Bewegung bleiben. Das vertraute Netzwerk der Gruppe schenkt Zugehörigkeit, Energie und Freude, gemeinsam werden Lösungen gefunden. Die verschiedensten systemischen Ansätze kommen in Aufstellungen, Rollenspiel, Skulpturarbeit, Gespräch und vielen anderen Methoden der Erwachsenenbildung zur Anwendung. Marie hat seit vielen Jahren Probleme mit ihrem Herzen. Die Gruppe kennt das Thema schon aus früheren Bearbeitungen. Marie fühlt im Herzbereich die Last eines schweren Steines, »als sei da gar kein Herz aus Fleisch«, wie in dem Märchen von Hauff, »Das kalte Herz«, in dem sie das Thema »Liebe und Verlust« sieht. Wir fragen nach diesen Themen in ihrer Biografie. Marie hat viele Verluste erlebt. Sie hat den Krieg als Kind in Ostpreußen ohne Vater verbracht und ist als Siebenjährige mit ihrer Mutter und dem älteren Bruder nach Westdeutschland geflohen. Ihre größte Angst auf der Flucht war »Ich gehe verloren«, ein Narrativ, das ihr weiteres Leben eingeengt hat. Nach der Flucht bekam sie Neurodermitis, der Vater starb während ihrer Pubertät und sie durfte im Gegensatz zum großen Bruder die Schule nicht beenden. Jetzt lade ich2 Marie zu einer szenischen Aufstellung ein. Sie sucht für sich selbst, für die Heimat Ostpreußen und den Zielort nach der Flucht Vertreterinnen aus der Gruppe aus. Zunächst sitzen drei Frauen auf dem Marktplatz in dem ostpreußischen Dorf. Frauen, die sich an Marie erinnern. Jede erzählt ein paar Sätze über Marie: »Schade, dass wir nicht voneinander Abschied nehmen konnten«, »Wie gern hätten wir der kleinen Marie etwas mitgegeben, etwas Sand oder Erde, aber auch zum Spielen etwas …«. Dann inszenieren wir mit der Stellvertreterin von Marie den Abschied aus Ostpreußen. Sie geht zu den Frauen und erzählt, wie zerrissen, leer und voller Fragen und Ängste sie sich damals gefühlt hat. Der Austausch der Frauen dauert eine Weile, bis Marie sie bittet, sie über die Grenze zu begleiten. Als Leitung bin ich währenddessen immer auch mit Marie selbst in Kontakt, bitte sie auf ihr Herz zu achten, Veränderungen wahrzunehmen und merke selbst, wie sehr sich Marie verändert. War da anfangs ungläubiges Staunen über die Begeg2 Da es sich um eine individuell angeleitete Arbeit handelt, wechseln wir an dieser Stelle zum »ich«; die Anleitung wurde von E. C. Markert vorgenommen.

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nung mit den Frauen in ihrem Dorf, bis sie unter Tränen den Wunsch äußert, die Frauen zu berühren, kommt jetzt Bewegung in sie. Der Austausch zwischen ihr und den Frauen ist dramatisch, vor allem als die Frauen ihr symbolhafte Geschenke mitgeben: Lebensfreude, Leichtigkeit und Liebe. Die Grenzen zwischen der ostpreußischen Heimat und dem heutigen Lebensort sind plötzlich fließend, so wie auch sie ins Fließen gekommen ist. Die Gruppe entdeckt auf ihrem Gesicht einen neuen Glanz. Marie erzählt, dass ihr Herz sich leichter anfühlt, dass sich ein Schrei gelöst hätte und wie auf einmal die Schwere verflogen sei. Die Gruppe bezeugt diese Verwandlung, erlebt aber auch an sich etwas von dieser Verwandlung und der Freude darüber. Das Erlebnis Flucht, das Marie immer wieder isoliert, an ihrer Zugehörigkeit zweifeln ließ, hatten alle mit ihr geteilt und mitgetragen, bis der »Stein« schmelzen und sich verwandeln konnte. Eine neue Geschichte wurde in der Gruppe erzählt von Flucht, Vertreibung, Neuanfang in der Fremde und Verwandlung. Der Körper hat die alte Geschichte so lange bewahrt, bis er die Erinnerung frei geben und mithilfe der Gruppe verwandeln konnte. Ihr Herz ist nun nicht mehr auf der Flucht. Ihr altes, einengendes Narrativ, das Marie viktimisiert und krank gemacht hat, hat sich zu einer neuen Erzählung gewandelt: »Ich bin angekommen und verbunden mit meiner Geschichte, die meine gegenwärtige Biografie bereichert und einzigartig macht.« Die körperliche Erfahrung brauchte die szenische Rekonstruktion, um als Geschichte auf neue Weise integriert zu werden.

Impulse posthumanistischer Philosophie für die Biografiearbeit Der philosophische Ansatz von Rosi Braidotti gibt neue Impulse für die Biografiearbeit. Er markiert einen Perspektivwechsel, insofern er gerade nicht den einzelnen Menschen ins Zentrum stellt, sondern ihn in einem umfassenden Netzwerk gleichwertiger Beziehungen zwischen Mensch, Natur und unbelebter Materie begreift. Rosi Braidottis nomadische Theorie hat mit ihrer Betonung der umfassenden Vernetzung und der Autopoiese von Systemen einen direkten Anknüpfungspunkt zur Theorie systemisch orientierter Biografiearbeit: »Das posthumane nomadische Subjekt ist materialistisch und vitalistisch, verleiblicht und eingebettet […] Es ist ein vielgestaltiges, relationales Subjekt […], das sich durch die relationale Vitalität und elementare Komplexität verwirklicht« (Braidotti, 2014, S. 191). Und: »Sich in einem nomadischen Modus zu erinnern, ist die aktive Neuerfindung eines Selbst, das freudvoll diskontinuierlich ist, anstatt trauervoll konsistent zu sein« (Braidotti, 2018, S. 76). In der heutigen globalisierten

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Welt sind Biografien komplex und vielschichtig, ambivalente Erfahrungen und Brüche im Leben eher der Normalfall. Die Vorstellung vom Menschen als ein »nomadisches Subjekt« ist ein angemessenes Bild, das in der Biografiearbeit neue Narrative anregen und erstarrte Muster verflüssigen kann. Mit ihrem posthumanistischen und postanthropozentrischen Ansatz macht Braidotti auf notwendige Wechsel im Denken aufmerksam, die für ein nachhaltiges Leben die Voraussetzung sind: »Wir müssen lernen, über uns selbst anders zu denken und mit neuen Denkmustern in Bezug auf das zu experimentieren, was als neue, allgemeine Bezugseinheit für das Menschliche gilt« (Braidotti, 2014, S. 199). Zentral ist für Braidotti die Idee der Gleichwertigkeit von Mensch, Tier und unbelebter Materie, die sie alle durch die »Zoe oder Leben als absolute Vitalität« (Braidotti, 2018, S. 30) verbunden sieht. Zoe meint das Lebensprinzip schlechthin, die Kraft des Werdens, des Wandels, der Verbindung: »Die Zoe als dynamische, selbstorganisierende Struktur des Lebens selbst steht für fruchtbare Vitalität. Sie ist die durchgängige Kraft, die zuvor abgesonderte Arten, Kategorien und Bereiche durchzieht und miteinander verbindet« (Braidotti, 2014, S. 66). Daraus ergibt sich ein »zoezentrierter Egalitarismus« (Braidotti, 2014, S. 66). Braidottis Denken ist kritisches Denken, das in der Tradition Spinozas steht und stark von Kritischer Theorie sowie feministischen Ansätzen geprägt ist. Als zukunftsweisend betrachtet sie die Erprobung ethischer Praxen, die binäres Denken überwinden sollen. Darin spielt der Ort des Subjekts eine bedeutende Rolle: »Wir müssen Gefühl, Erinnerung und Vorstellungskraft heranziehen und für die komplexen Subjekte, zu denen wir geworden sind, neue Figurationen und Darstellungsformen erfinden« (Braidotti, 2014, S. 195). Dies verstehen wir als Einladung, in der Biografiearbeit mit den Perspektiven des Subjekts zu spielen, kreativ zu sein, Lebensgeschichten als fluid und nicht ein für alle Mal festgelegt zu betrachten. Wir können uns erzählend in das Netz unserer vielfältigen Beziehungen hineinweben und uns als Teil eines größeren Ganzen erleben. Braidottis Reflexion über den Tod, den sie nicht am Ende des Lebens verortet, sondern mit der ersten Erfahrung von Endlichkeit verbindet, ist relevant für die Biografiearbeit. Es kann direkt gefragt werden: »Wann ist Ihnen zum ersten Mal bewusst geworden, dass Ihr Leben begrenzt ist?« Im Anschluss kann überlegt werden, was die Annahme, dass der Tod schon »vorausgegangen« ist, bedeutet. Lebensbilanz zu ziehen ist gerade mit älteren Menschen ein Baustein der Biografiearbeit. Hier ist es möglich, neue, hilfreiche Perspektiven auf das eigene Leben und Sterben zu gewinnen: »›Leben‹ ist […] ein offenes Projekt. Man hat daran zu arbeiten. Das Leben vergeht, ohne dass wir es besäßen. Wir bewohnen es nur, nicht anders als eine Teilzeitresidenz« (Braidotti, 2014, S. 136).

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Ein letzter Punkt, der auch für die Biografiearbeit relevant ist, ist die Kritik an einer eurozentristischen Perspektive. In der Biografiearbeit ist es in Deutschland oft das westdeutsche Denken, das zur Norm wird und demgegenüber andere kulturelle Herkünfte und Erfahrungen abgewertet oder übersehen werden. Eine hegemoniale männlich westdeutsche Erfolgsgeschichte wird zum Rahmen dessen, was positiv konnotiert ist. Für uns stellt sich die Frage: Wie können Geschichten so erzählt werden, dass sie im Rahmen der Gesamtbiografie stärkend wirken, auch wenn es auf den ersten Blick keine der Norm entsprechenden Erfolgsgeschichten sind? Dem soll mit einem Blick auf Biografiearbeit im Horizont gesamtdeutscher Geschichte weiter nachgegangen werden.

Biografiearbeit in gesamtdeutscher Perspektive Entscheidend für professionelle Biografiearbeit ist es, offen dafür zu sein, dass sich das Leben einzelner Menschen ganz anders abgespielt haben könnte, als wir es uns aufgrund von wissenschaftlicher Befassung, empirischen Studien über das Leben von Menschen vorstellen. Gleichzeitig hilft das Wissen, bestimmte Fragen zu stellen oder auch bestimmte Verhaltensweisen zu verstehen. Biografiearbeit erschafft einen Raum, verschiedenste Erfahrungen so in Bezug zu setzen, dass sich eine tragfähige Lebensgeschichte erzählen lässt. Andererseits müssen wir uns der Gefahr bewusst sein, Komplexität des Lebens zu sehr zu reduzieren und Ambivalenzen einzuebnen. Geschieht dies zu stark, besteht die Tendenz, binäre Aspekte und Selbstbilder zu fördern, die den Herausforderungen der Moderne nur begegnen können, indem sie einen autoritären Charakter entwickeln. Derzeit lässt sich das in den Genderdisputen und in den Debatten um Rassismus beobachten. Biologistische Argumente werden bemüht, um z. B. geschlechtliche Eindeutigkeit zu behaupten, wo heute eher Fluidität herrscht. Im gesamtdeutschen Kontext unterscheiden sich die Erfahrungen von Menschen, die in der ehemaligen DDR sozialisiert worden sind, von denen, die in den alten Bundesländern aufgewachsen sind (Baer, 2020). Das betrifft auch die nach 1989 Geborenen, da einerseits die mehrgenerative Weitergabe in Familien wirksam ist und sich andererseits die Lebensbedingungen und Einstellungen nach wie vor unterscheiden. Hinzu kommt die Tatsache, dass jede fünfte in Deutschland lebende Person einen Migrationshintergrund hat, was die Komplexität erhöht und Anleitende dazu herausfordert, die eigenen Bilder und Narrative über das, was das Leben in Deutschland ausmacht, zu reflektieren, um den eigenen begrenzten Blick zu erkennen. Nur so können Zuschreibungen und blinde Flecken in der praktischen Biografiearbeit erkannt werden.

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In einem Workshop wollen die Teilnehmenden nachspüren, welche Bedeutung zeitgeschichtliche Schlüsseldaten für sie selbst und ihre Familiengeschichte haben. Dazu wird eine Zeitlinie im Raum ausgelegt, die von allen beschritten werden soll. In einem ersten Schritt werden die Teilnehmenden eingeladen, bei dem Datum stehen zu bleiben, das aktuell die größte Energie für sie hat. Als ein Datum wird der 2. Juni 1967 ausgewählt. An diesem Tag fand in Westberlin die Demonstration gegen den Schahbesuch statt, auf der Benno Ohnesorg erschossen wurde. Ein Schlüsselereignis für die 1968er-Bewegung und die weitere Entwicklung in Westdeutschland. Eine Frau fragt, wer der Schah sei. In der DDR wäre der Irak als Bruderstaat im Blick gewesen, was im Iran passiert sei, wäre nicht berichtet worden.

Das Beispiel zeigt, wie schnell die eigenen – in diesem Fall Westperspektiven – zum Maßstab der Biografiearbeit gemacht werden können. Es hat zweifellos Auswirkungen auf die jeweilige Identitätsentwicklung, ob Menschen in West oder Ost sozialisiert worden sind, ohne dass wir ganz genau und immer für alle Menschen sagen könnten, welche. Die sehr vielfältigen individuellen Erfahrungen, die mit ihnen verbundenen Prägungen, Einstellungen und psychischen Dispositionen sollten in der Biografiearbeit in gesamtdeutscher Perspektive aufmerksam und sensibel beachtet werden.3 So kann eine Anschlussfähigkeit an die jeweiligen pluralen Lebenswelten hergestellt und die Wechselwirkung von individuellen Ereignissen und zeitgeschichtlich bedingten Themen in ihren Auswirkungen auf Biografien erfasst werden. Wir rechnen mit der Pluralität von west- und ostdeutschen Lebenswelten und ebnen diese nicht zugunsten einer kohärenten Lebenserzählung ein. So werden Ambiguitätstoleranz und Diversitykompetenz in der Biografiearbeit gefördert. Dazu benötigen wir eine Revision der jeweiligen geprägten Bilder, die sich in Ost und West durch den Kalten Krieg, aber auch in der Zeit nach 1989 etabliert haben. Biografiearbeit trägt dazu bei, Kompetenzen und Handlungsspielräume zu öffnen, in denen der Umgang mit Scham, Schuld und Scheitern mitfühlend eingeübt und transformiert werden kann. Sie sensibilisiert für mehrgenerationale Dynamiken und für transgenerationale Weitergabe von Traumata. Biografiearbeit gestaltet Orte und Rituale der Wertschätzung und Würdigung des Erlebten, in denen ermutigt wird, auch »gefährliche Erinnerungen« zu teilen. So kann die Verbundenheit zwischen allen in Deutschland lebenden Menschen wachsen und sich zu einem Zukunftsfähigen, vernetzten System entwickeln, in Vielfalt und gesellschaftlicher Verantwortung.

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3 Siehe C. Stieler, Gründerin der Marke OSTZIGARTIG (www.ostzigartig.de).

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Märchenarbeit als Beispiel narrativer Praxis in der Biografiearbeit Der für Volksmärchen typische Anfang »Es war einmal« nimmt nicht nur die existenzielle Frage des Menschen nach seinem »Woher?« in den Blick, sondern zeigt im Verlauf der Erzählung auch Antworten auf das »Wer bin ich?« auf und setzt mit seiner Bildsprache Visionen frei für das »Wohin gehe ich?«. Allerdings stellt und beantwortet das Märchen keine der drei Fragen direkt. Märchen krempeln innere Erfahrungen, Bilder, Biografien nach außen: »Man darf sagen, dass es alles Innere in Äußeres übersetze, alles im dunklen Raum der Seele Verborgene ins Sichtbare verwandle« (Lüthi, 1976, S. 33). Märchen in der Biografiearbeit, aber z. B. auch in der (Trauma-)Therapie können bewirken, dass Klienten Zugänge zu eigenen Themen, Lebensfragen oder Lösungen finden und da, wo sie sich blockiert, gelähmt, hilflos oder verzweifelt fühlen, ins Fließen kommen. Für die Biografiearbeit entdecken Märchen einen großen Schatz, ein erhebliches Potenzial an Ressourcen und Handlungsoptionen. Menschen in der Biografiearbeit fühlen sich angeregt von den vielen helfenden Figuren in der Natur, den Tier-, Zwergen- und Feenwelten, eigene oft überraschende Unterstützerinnen zu finden und ein neues biografisches Narrativ zu bilden. Märchen erzählen nicht ausführlich von Armut, Unterdrückung, Ungerechtigkeit, aber sie benennen sie beziehungsweise setzen sie ins Bild. Sie bilden einen Mikrokosmos des Lebens ab, ohne konkrete Szenerien und Ausführungen beziehungsweise individuelle Figuren zu entwerfen. Sie bieten uns einen Extrakt, ein Destillat des Lebens. Es entfaltet sich in seinen Potenzialen in der Biografiearbeit z. B., wenn eine Klientin an einem Märchenbild oder einer Figur andockt und in der Verschränkung von Biografie und Märchen seinen Reichtum an Motiven und überraschenden Lösungen für die Biografiearbeit entdeckt. Das, was im Bild und im Symbol verdichtet daherkommt, kann sich zu einem biografischen Erlebnis oder Narrativ entwickeln; etwa wie ein Wollknäuel, das zu einer neuen Gestalt aufgerollt und verarbeitet wird. Märchen bringen Bewegung in erstarrte Haltungen, denn sie sind »handlungsfreudig« (Lüthi, 2004, S. 29) und sie fordern die eigene Kreativität heraus. Es sind meistens die Bilder und Figuren des Märchens, die zuerst berühren oder abschrecken, die spontan etwas auslösen. Wenn ein Klient sich spontan über die älteren Brüder, die den Jüngsten reinlegen, übervorteilen, das Königreich wegschnappen wollen (vgl. Grimm, 1984, S. 18 ff.), aufregt, ist er bei eigenen biografischen Szenen, in denen er sich ungerecht behandelt fühlt, angekommen. Oft sind es eigene verinnerlichte Anteile, die nun in den »Märchenbrüdern«

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einen Spiegel finden. Das Märchen erschließt ihm auch eine ungewöhnliche Lösung. Die Kröten, die dem Jüngsten helfen, König zu werden, regen ihn an, eigene helfende Figuren zu finden, die die entwicklungsblockierenden Anteile verwandeln und ihm erlauben, die Regie über diese »Energiefresser« zu übernehmen. Das Ziel der Märchen ist es, König und Königin des eigenen Lebens zu werden, die Regie zu übernehmen und königlich in der Welt zu leben. So ist das Märchen in der Biografiearbeit wie ein Türöffner für eigene biografische Themen in eine kaum besiedelte Landschaft, in die sich Menschen mit ihrer persönlichen Geschichte einschreiben können. Der Reichtum eines Märchens für die Biografiearbeit kann sich besonders kraftvoll und üppig entfalten, wenn die Biografiearbeit in der Gruppe geschieht. In meiner dreißigjährigen Erfahrung mit Märchen in der Biografiearbeit habe ich mit vielen unterschiedlichen Märchen gearbeitet, aber immer bewirkte die Arbeit mit ihnen neue Energie und Kreativität in der Gruppe. Lange verborgene oder unterdrückte innere Anteile und Muster, die ein leichteres, erfülltes, liebevolles Leben sabotierten, konnten im Schutz der Märchenbilder angesehen und verwandelt werden. Die 13. Fee im Märchen Dornröschen löste bei einer Teilnehmerin lange unterdrückte Wut und Trauer über ihre Ausgrenzung aus, die sich schon über Generationen vererbt hatte. Die Dornen hatten bei der inzwischen über fünfzigjährigen Klientin körperliche und seelische Wunden gerissen. In einer szenischen Bearbeitung dieser mehrgenerationalen Erfahrung von Ausgrenzung konnte die Klientin mit Unterstützung der Gruppe ein Ritual entwickeln, zu dem die Märchenbilder anregten. Eine Dornenhecke wurde von den Teilnehmenden gebildet, eigene Dornengeschichten wurden benannt, betrauert und konnten in einer Atmosphäre von Empathie und Mitgefühl zu neuen Narrativen aufblühen. Der alte persönliche Glaubenssatz »Ich fühle mich nie wirklich zugehörig« wurde in diesem spannungsvollen Ritual zwischen Tod (Dornen) und Auferstehung (Blüten) sozusagen entzaubert, wirkungslos. Stattdessen strömte zwischen allen Freude und Hoffnung, denn jetzt fühlten sich alle kraftvoll und zugehörig. Der hundertjährige Schlaf war gebannt. Die Dornen wurden nicht abgeschnitten, sondern verwandelt, sodass ihre Kraft in eine neu zu gestaltende sinnen- und sinnvolle Gegenwart fließen kann. Am Ende sagte eine Teilnehmerin: »Ich fühle mich wie vom Leben geküsst und brauche nicht mehr auf den Prinzen zu warten.« Ein »märchenhafter« visionärer Abschluss.

Systemische Biografiearbeit kann uns heute anregen, die Herausforderungen unserer Gegenwart mit der rasanten Entwicklung der globalen Welt spielerisch und schöpferisch anzunehmen und mithilfe von Narrativen, Impulsen und mit kreativen Methoden zu bearbeiten.

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Literatur Auster, P. (2001): Die Erfindung der Einsamkeit (5. Aufl.). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Baer, U. (2020). DDR-Erbe in der Seele. Erfahrungen, die bis heute nachwirken. Weinheim/Basel: Beltz. Braidotti, R. (2014). Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt a. M./New York: Campus. Braidotti, R. (2018). Politik der Affirmation. Berlin: Merve. Brockmeier, J. (2015). Erfahrung und Erzählung. In C. E. Scheidt, G. Lucius-Hoene, A. Stukenbrock, A., E. Waller (Hrsg.), Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust (S. 1–13). Stuttgart: Schattauer. Byung-Chul Han (2014). Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. New York: Campus. Foerster, H. von (1981). Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit (S. 39–60). München: Piper. Geipel, I. (2020). Generation Mauer. Stuttgart: Klett-Cotta. Grimm, J., Grimm, W. (1984). Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, 2. Band. Frankfurt a. M.: Insel. Janosch (1992). Magischer Lebenslauf. In Janosch (Hrsg.), Der Musikant in der Luft und andere Geschichten (S. 51). Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lüthi, M. (2004). Märchen (10. Aufl.). Stuttgart: J. B.Metzler. Lüthi, M. (1976). So leben sie noch heute, Betrachtungen zum Volksmärchen (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Miethe, I. (2011). Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Weinheim/München: Juventa. Niel-Dolzer, E. (2020). Biografie, Narrativ und Historizität – über den Unterschied zwischen Erzählen und Aneignen der eigenen Geschichte. Systeme 20 (1), 5–18. Röhrbein, A. (2019). Und das ist noch nicht alles. Systemische Biografiearbeit. Heidelberg: CarlAuer. Welzer, H., Moller, S., Tschuggnall, K. (2002). »Opa war kein Nazi«: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M.: Fischer.

Narratives Arbeiten in Organisationsentwicklung und Coaching MICHAEL MÜLLER

Einleitung: Vom Storytelling zu narrativen Methoden Narratives Arbeiten im Kontext von Organisationen ist in den letzten Jahren vor allem im Umfeld des Begriffs »Storytelling« wahrgenommen worden, und hier vor allem im Kontext von Unternehmenskommunikation und Marketing. Die Karriere des »Buzzwords« Storytelling (man sehe sich nur die Zahl der Neuerscheinungen der letzten Jahre mit diesem Wort im Titel an) hat einerseits lange den Blick auf andere Ansätze narrativen Arbeitens in Organisationen und Unternehmen verstellt, von denen in diesem Beitrag die Rede sein soll. Andererseits hat sie nicht selten überzogene und unrealistische Erwartungen geweckt: Manchmal klingt es in den Ausführungen selbst ernannter Storytellinggurus so, als genüge es, dass eine charismatische Führungspersönlichkeit auf der Bühne eine mitreißende Story erzähle, um zugleich Kunden zu gewinnen, Mitarbeiter zu motivieren, Sinn zu erzeugen sowie Veränderungs- und Strategieprozesse erfolgreich zu machen. Bei solch hochgezogenen Erwartungen ist natürlich die Frustration vorprogrammiert, und die Gefahr besteht, dass das narrative Arbeiten in Organisationen als solches diskreditiert wird. In unserer Arbeit verwenden meine Kolleginnen und ich daher Begriffe wie »narrative Arbeit«, »narrative Methoden« oder »narrative Organisationsentwicklung«; Storytelling ist dabei nur ein Baustein unter mehreren, und beileibe nicht der wichtigste. Trotz aller Einseitigkeit hat die Karriere des Storytellingbegriffs in Unternehmen dennoch Sensibilität für den Wert von Geschichten im organisationalen und geschäftlichen Kontext geschaffen. Anders als Ende der 1990er Jahre, als einige wenige Kolleginnen und ich begannen, mit narrativen Ansätzen in die Unternehmen zu gehen, schallt heute keinem narrativen Berater mehr die verwundert-belustigte Ablehnung entgegen, man habe es in Unternehmen doch mit Fakten zu tun, nicht mit Märchen. Inzwischen beginnt man sich im organisationalen Kontext auch für narratives Arbeiten jenseits des reinen Storytelling zu öffnen, was natürlich auch mit der Durchdringung des Feldes mit systemisch ausgebildeten Coaches und Organisationsentwicklerinnen zu tun hat,

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die zumindest über die Ansätze von Michael White und David Epston (White u. Epston, 2009) mit narrativen Methoden vertraut sind. In diesem Beitrag möchte ich daher das narrative Arbeiten in Unternehmen unter dem Stichwort der »narrativen Organisationsentwicklung« beschreiben sowie einige Ansätze des narrativen Coaching, die das – grundlegende – Paradigma der narrativen systemischen Therapie ergänzen können. Auch wenn die meisten Beispiele im Folgenden sich auf Wirtschaftsunternehmen beziehen, gelten alle Aussagen natürlich auch für beliebige andere Organisationen – von NGOs, Sozialunternehmen, Genossenschaften bis hin zu politischen Parteien.

Theoretische Hintergründe Der Kontext des vorliegenden Bandes erspart es mir, allzu detailliert auf die theoretischen Hintergründe des Ansatzes der narrativen Organisationsentwicklung und des Coaching einzugehen. Ich möchte hier nur kurz die drei theoretischen Stränge skizzieren, aus denen sich ihre Methoden speisen. Als Erstes sind die narrative Psychologie und die narrative systemische Therapie zu nennen. Dieser theoretische Strang begann in den 1980er Jahren, sich näher mit der Rolle von Geschichten und narrativen Strukturen in kognitiven Prozessen, bei der Identitäts- und Sinnbildung und der Weltaneignung zu beschäftigen. Namen wie Jerome Bruner (1986), Theodore Sarbin (1986), János László (2006) und natürlich Michael White und David Epston (White u. Epston, 2009; White, 2010) werden in diesem Band häufiger und mit genauerer Einordnung auftauchen. Der zweite Strang ist der der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie. Hier seien stellvertretend die Arbeiten des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Gerald Prince genannt, der die Minimalbedingungen für Narrativität definiert hat (Prince, 1973), dann die des russischen Semiotikers Jurj Lotman, der mit seiner »Grenzüberschreitungstheorie« den für jede Narration zentralen Begriffs des Ereignisses geklärt hat (Lotman, 2015), sowie die des französischen Strukturalisten A. J. Greimas, der mit einem Aktantenschema eine basale Kartografie der Kraftfelder, die in einer Geschichte wirken, beschrieben hat (Greimas, 1971). Der dritte Strang ist der der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Erzählen; auch hier belasse ich es beim »Namedropping«: Zu nennen wäre einerseits der relativ unbekannte deutsche Philosoph Wilhelm Schapp, der schon in den 1950er Jahren Menschen als »In Geschichten verstrickt« (so der Titel eines seiner Bücher; Schapp, 2004) beschreibt. Andererseits natürlich JeanFrançois Lyotard mit seiner These vom »Ende der großen Erzählungen«, dem

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wir auch den Begriff des »Metanarrativs« verdanken (Lyotard, 2012) als ein vielen Geschichten oder auch nicht narrativen Diskursen zugrunde liegendes gesellschaftliches Glaubensnarrativ (wie z. B. der Mythos von der »Leistungsgesellschaft«, nach dem in unserer Gesellschaft die Transformation von Nichterfolg zu Erfolg angeblich überwiegend durch Leistung geschehe). Das mag hier genügen, um die Fußspuren aufzuzeigen, die zum Ansatz der »narrativen Organisationsentwicklung« geführt haben.

Was sind Geschichten, was ist ein Narrativ? Das erwähnte literaturwissenschaftliche Begriffsinventar ist meiner Einsicht nach hilfreich, um klären zu können, was genau man unter »Narrativität« und damit unter dem Gegenstandsbereich narrativen Arbeitens versteht – man sollte, kurz gesagt, zwischen Kommunikaten mit narrativer Struktur und solchen ohne unterscheiden können. Mein Eindruck ist, dass auch im systemischen Feld, vor allem aber in den meisten anderen Kontexten, in denen Narrativität oder Storytelling außerhalb den Literatur- und Filmwissenschaften eine Rolle spielt, ein eher intuitiver Begriff von »Geschichte(n)« und »Narrativität« vorherrscht, nach dem alles, was »irgendwie metaphorisch« oder »irgendwie emotional« ist, schon zum narrativen Arbeiten gezählt wird. Die Gefahr bei einer solchen unreflektierten Verwendung ist wie immer, dass eigentlich wertvolle Begriffe sich ins Ungefähre auflösen und damit unbrauchbar werden. Daher nur kurz diese Begriffsklärungen (ausführlichere Definitionen finden sich in Erlach u. Müller, 2020, S. 77 ff.; Müller, 2020, S. 22 ff.; Müller u. Grimm, 2016). Ein Kommunikat (egal, ob Text, Video, Podcast oder Comic etc.) hat eine narrative Struktur, wenn daraus ein Anfangszustand (»X ist einsam«), ein transformierendes Ereignis (»X verliebt sich in Y«) und ein Endzustand (»X ist glückliches Mitglied einer Paarbeziehung») ableitbar sind. Jede Geschichte, jedes Narrativ hat also diese Dreierstruktur A(nfang) – T(ransformation) – E(nde); in der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie wurde die Struktur dieser »Minimalerzählung« von Gerald Prince (Prince, 1973) beschrieben. Ein »Narrativ« ist eine narrative Struktur, die vielen konkreten Geschichten zugrunde liegen kann; mein obiges Beispiel ist das Narrativ, das die Basis jeder Liebesgeschichte mit Happy End bildet. Eine Geschichte wird daraus, wenn ich von konkreten Personen/Figuren und Situationen erzähle. Die Struktur A–T–E muss explizit oder implizit aus einem Kommunikat ableitbar sein, damit man von Narrativität sprechen kann. Ein einzelnes Bild kann somit keine Geschichte erzählen, sondern sie höchstens zitieren oder anregen.

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Narrative Ansätze in der Organisationsentwicklung Im Kontext dieses Buches muss nicht eigens darauf eingegangen werden, dass soziale Systeme nach Luhmann als Systeme von Kommunikationen definiert sind (Luhmann, 1987). Es liegt nahe, dass eine bedeutende Teilmenge dieser Kommunikate in jedem System diejenigen mit narrativer Struktur sind: Jedes soziale System wird durch die Geschichten und Narrative, die in ihm kursieren, mitkonstituiert. Das geht von den Alltagsgeschichten und -erfahrungen, die ausgetauscht werden, über die Geschichten zur eigenen Historie (»Wie sind wir geworden, was wir heute sind?«) bis hin zu den sinnstiftenden Metanarrativen, die Identitäten, Sinn- und Wertesysteme begründen und am Leben erhalten, seien dies religiöse Narrative (»wie Gott unser Handeln im Paradies belohnen wird«), nationalistische (»warum wir stolz auf unser Volk sein können«) oder explizit sinnstiftende (»welchen Beitrag unser Unternehmen für eine bessere Welt leistet«). Narrativ codierte Bedeutungsfelder in Organisationen Wesentliche Felder in Organisationen, die zumindest teilweise narrativ codiert sind, sind folgende: Ȥ Identität: Die psychologische Identitätsforschung betrachtet Identität als wandelbare, narrativ konstruierte Größe (vgl. z. B. Abels, 2010; Keupp et al., 2008). In ähnlicher Weise kann die Identität einer Organisation als narrativ konstruiert betrachtet werden: Sie entsteht aus den Geschichten, die die Organisation selbst nach innen und außen erzählt (sowohl in der »offiziellen« Kommunikation als auch in der informellen), aber auch aus dem, was andere (Kundinnen, Partner und sonstige Stakeholder) über die Organisation erzählen. Als drittes Feld sind noch die kontextuellen Geschichten von Bedeutung, die die Organisation aus der Historie oder aus dem gesellschaftlichen Umfeld »ererbt« hat: z. B. darüber, was das Unternehmen in der NSZeit gemacht hat, welchen gesellschaftlichen Ruf die Branche hat etc. Jedes »Storytelling« der Organisation ist also immer auch Arbeit an der Identität. Ȥ Werte: In jeder Organisation existieren – wie in jedem anderen sozialen System – Werte, die die Kommunikationen und damit auch das Handeln bestimmen. Werte werden nicht nur in narrativer Form tradiert und kommuniziert, sondern auch konstruiert (vgl. Grimm, Keber u. Zöllner, 2019, S. 18). In Unternehmen werden sie allerdings häufig als reine Begriffe gedacht, vor allem dann, wenn in einem Projekt »unsere Werte« »definiert« werden: Dann schreibt man gerne Begriffe wie »Kundenorientierung«, »Koopera-

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tion«, »Innovation« und Ähnliches hin. In der Beratungsarbeit wird dann deutlich, dass sich hinter diesen Begriffen ein Bedeutungsloch beziehungsweise eine Unklarheit auftut, wie diese Werte genau zu verstehen sind. Erst wenn man sie mit Erfahrungsgeschichten verbindet (»wie ich einmal Kundenorientierung erlebt habe«) wird klar, was damit gemeint sein könnte. Dass der pure Begriff die Bedeutung eher verschleiern kann, zeigt sich an dem Wert-Begriff der »elterlichen Liebe«, der noch in den 1950er Jahren die Legitimation körperlicher Züchtigung (»Ich schlage dich, weil ich dich liebe«) beinhalten konnte. Ȥ Sinn: Wie der Historiker Yuval Noah Harari in seiner Geschichte des Homo sapiens mit Rekurs auf die Organisationsforschung betont, lassen sich Gemeinschaften und Organisationen mit mehr als 150 Mitgliedern nur managen, wenn diese Gemeinschaft über ein geteiltes Sinn-Narrativ verfügt (Harari, 2013, S. 37 ff.). Dies können religiöse Narrative sein, nationale, oder auch unternehmerische. Diese Sinn-Narrative sind in Organisationen immer vorhanden; wenn sie nicht explizit im Unternehmen entwickelt werden, können sie auch Formen annehmen, die nicht im Sinne der Unternehmensleitung sind. Mitarbeitende können etwa mit einem zynischen »Sinnlosigkeits-Narrativ« leben (»Wir machen lauter Blödsinn, aber wenigstens verdienen wir gutes Geld«); die inhaltliche Motivation für die Tätigkeiten und die Innovationskraft wird hier allerdings nicht sehr groß sein. Ähnlich wie bei den Werten funktionieren Sinn-Narrative nur dann wirklich, wenn sie narrativ auf der Basis der Erfahrungen der Mitarbeitenden entwickelt werden oder zumindest diese Erfahrungen – auch negative – miteinbeziehen. Ȥ Wissen: Erfahrene Mitarbeiter und Expertinnen für bestimmte Bereiche verfügen über ein Erfahrungswissen, das nicht einfach kognitiv ausspeicherbar ist. Erst durch das Erzählen von Projekten und Erfahrungen wird dieses Wissen sowohl für den Erzählenden als auch für die Zuhörenden greifbar. Über das Erzählen kann so der Schatz der Erfahrungen, die im episodischen Gedächtnis (Roth, 2003, S. 154) gespeichert sind, gehoben werden. Das narrative Wissensmanagement war übrigens eine der ersten Anwendungen von narrativen Ansätzen in Unternehmen, das schon in den 1990er Jahren am MIT erforscht und seither erfolgreich in zahlreichen Organisationen umgesetzt wurde (vgl. Erlach, Orians u. Reisach, 2013). Ȥ Kommunikation: Die Tatsache, dass in der organisationalen Kommunikation Narrative und Geschichten eine große Rolle spielen, liegt auf der Hand. Nicht nur in der »offiziellen« Kommunikation – in Marketing, PR und interner Kommunikation – spielt »Storytelling« eine große Rolle, sondern auch in der Kommunikation der Mitarbeitenden untereinander, mit

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Kunden und Partnerinnen. Die große Frage für jede Organisationskultur ist, wie die Geschichten, die auf den Fluren erzählt werden, mit den »offiziellen« Geschichten in Resonanz gehen: Im besten Fall sind diese Geschichten Variationen der »offiziellen« Story, im schlechtesten widersprechen sie dieser. Gerade in großen Unternehmen kommt dies häufiger vor, das liegt dann aber nicht so sehr am – wie Führungskräfte oft vermuten – »falschen Mindset« der Mitarbeiter, sondern meist daran, dass die »offiziellen« Geschichten, wie sie sich in Mission-Statements, Leitbildern, aber auch in der Markenund Imagekommunikation niederschlagen, meist in völliger Unkenntnis der Geschichten »von unten« und der Erfahrungswelten der Mitarbeitenden entwickelt werden. Damit sind wir schon bei einer der wichtigsten Prämissen für das narrative Arbeiten in Unternehmen: der unsichtbaren Ebene der Organisation. Die sichtbare und die unsichtbare Ebene der Organisation Eine der zentralen Stärken des narrativen Arbeitens in Organisationen ist, dass mithilfe von Storytelling und Storylistening nicht sichtbare, aber das Handeln in der Organisation wesentlich beeinflussende Denk- und Kommunikationsmuster sichtbar und damit Interventionen zugänglich gemacht werden können (vgl. Frenzel, Müller u. Sottong, 2006). Die Tatsache, dass es in sozialen Systemen Grundannahmen, Glaubenssätze, verborgene Regeln und Handlungsmuster gibt, die nicht ohne Weiteres kognitiv zugänglich sind, ist altbekannt; für Unternehmen und ihre Kultur hat dies Edgar Schein bereits in den 1990er Jahren ausführlich beschrieben (Schein, 2018). Theoretisch ist diese Erkenntnis auch in den Unternehmen angekommen – kaum jemand wird diese Tatsache leugnen. In der Praxis scheint allerdings vor allem in traditionellen Unternehmen mit der Führungsrolle immer noch eine Art Kontrollillusion verbunden zu sein, die es den Führungskräften schwer macht, sich mit dem Gedanken anzufreunden, sie wüssten nicht, wie ihre Mitarbeitenden »ticken«. So entsteht die Illusion, man kenne die eigene Organisation zur Gänze und verfüge über alle Informationen, um Entscheidungen treffen und kommunizieren zu können. Dies führt jedoch häufig zu Entscheidungen, die am »Eigentlichen« vorbeigehen oder an rätselhaften Hürden scheitern. Hier zwei kurz gefasste Beispiele aus eigenen Beratungsprojekten: Ȥ In einem Geschäftsbereich eines großen, traditionellen Unternehmens wurde ein neues Fertigungskonzept eingeführt, das die unkomplizierte Produktion unterschiedlicher Teile auf der gleichen Fertigungslinie ermöglichen

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sollte. Die Umsetzung lief schleppend. Eine Vermutung der Führung war, dass die Mitarbeitenden skeptisch seien, da sie durch das neue Konzept die technische Qualität der Produkte gefährdet sähen. Der Auftrag an uns lautete – in seiner Naivität überspitzt formuliert –: Ändern Sie dieses Mindset! Wir konnten die Verantwortlichen davon überzeugen, dass wir – bevor wir etwas ändern – erst einmal schauen sollten, ob ihre Vermutungen überhaupt zuträfen. Narrative Interviews mit Mitarbeitenden ergaben: Sie standen dem neuen Fertigungskonzept durchweg positiv gegenüber. Nur den Weg dorthin, den die Führung eingeschlagen hatte, schätzten sie als nicht zielführend ein. Hätten wir den Auftrag so angenommen, wie er ursprünglich formuliert war (und ohne zu hinterfragen, ob man überhaupt »Mindsets« einfach so von außen ändern könne), hätte das Projekt bei den Mitarbeitenden mindestens Befremden ausgelöst. Ȥ In einem größeren mittelständischen Unternehmen wurde ein neues Leitbild formuliert (wie so oft »top-down«), das von den Mitarbeitenden weitgehend ignoriert wurde; in Umsetzungsworkshops arbeiteten sie nur widerwillig mit. Der Auftrag an uns lautete hier: Finden Sie eine Story, die die Mitarbeitenden für das Leitbild einnimmt und zur Weiterarbeit motiviert. Wieder begannen wir mit »Storylistening«: In Erzählworkshops sammelten wir Erfahrungsgeschichten der Mitarbeitenden. Dabei fiel auf, dass in diesem Unternehmen das Wort »Dienstleister« negativ besetzt war; es hatte eine Semantik, die nah an der von »Sklave« und »willenloser Befehlsempfänger« war. In dem Leitbild stand aber eine Formulierung wie: »Wir sind gewissenhafte Dienstleister für unsere Kunden«. Damit war klar, warum die Mitarbeitenden das Leitbild nicht mochten: Sie fühlten sich dadurch herabgewürdigt. Es geht natürlich nicht darum, ob die Semantik der Mitarbeitenden »richtig« oder »falsch« ist – erst einmal ist sie, wie sie ist, und aus den Geschichten wurde auch deutlich, wie diese Semantik in der Historie des Unternehmens entstanden war. Wir haben dann zweistufig gearbeitet; kurzfristig wurde in einer »Übergangsfassung« der Begriff der Dienstleistung im Leitbild ersetzt, mittelfristig – da der Unternehmensleitung die Dienstleistungshaltung sehr wichtig war – mit den Mitarbeitenden an einem neuen Narrativ der Dienstleistung gearbeitet. In beiden Beispielen wird deutlich, dass es Grundannahmen, Haltungen, Mindsets und daraus resultierende Handlungsregeln gibt, die zunächst einmal nicht sichtbar sind. Und in vielen Fällen ist diese verborgene Ebene nicht oder sehr schwer über reine Befragungen zu heben – da die Annahmen und Regeln für die Mitarbeitenden oft nicht bewusst formulierbar sind. Im zweiten Beispiel

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wurde sogar eine Mitarbeiterbefragung zum Leitbild durchgeführt, das Problem mit dem Wort »Dienstleister« wurde in den Antworten jedoch kaum genannt; die Kommentare der Mitarbeitenden blieben auf so allgemeinen Ebenen wie »weltfremd«, »hat nichts mit unserem Alltag zu tun«, »brauchen wir nicht« etc. Wie schon erwähnt: Es ist eine der großen Stärken narrativer Methoden – in diesem Fall des Storylistening – dass man mit ihrer Hilfe Licht in einige Ecken der unsichtbaren Ebene der Organisation werfen kann – und zwar auf den Erfahrungen der Mitarbeitenden aufbauend, nicht rein kognitiv.

Narrative Ansätze: Storylistening, Storydoing, Storytelling, Story-Co-Creation Wie gesagt geht narrative Organisationsentwicklung weit über reines »Storytelling« hinaus; viele Projekte – seien dies Change- oder Strategieprojekte, Identitäts- oder Kulturentwicklung, manchmal kombiniert mit Markenentwicklung und Kundenanalysen etc. – spielen sich in einer Kombination der im Titel dieses Absatzes genannten Methodenfelder ab. Natürlich können diese hier nicht erschöpfend behandelt werden, sondern nur kurze Einblicke in die Herangehensweisen gegeben werden. Anhand eines Beispiels soll auch ein mögliches Zusammenwirken der verschiedenen Ansätze deutlich werden. Storylistening

Im Kontext der narrativen Organisationsentwicklung bedeutet Storylistening das gezielte Hören, Sammeln und gegebenenfalls Auswerten von Geschichten und narrativen Konstruktionen der Mitarbeitenden von Organisationen. Konkret geschieht dies unter anderem durch folgende Methoden: Ȥ Narrative Einzelinterviews: In ungestützten oder teilgestützten narrativen Interviews werden Mitarbeitende aufgefordert, ihre Arbeitsbiografie im Unternehmen oder ihre Erfahrungen und Erlebnisse in bestimmten Projekten zu erzählen. Es werden dabei vom Interviewer keine inhaltlichen Fragen gestellt, denn wichtig für das Erkennen der Weltkonstruktion der Mitarbeitenden ist auch, was in den Erzählungen eben nicht vorkommt (wenn z. B. in einer einstündigen arbeitsbiografischen Erzählung nie Begriffe oder Konzepte wie »Team«, »Zusammenarbeit«, »Kooperation« etc. vorkommen). Das narrative Interview ist die am tiefsten gehende, aber auch aufwendigste Form des Storylistening (mehr in Erlach u. Müller, 2020, S. 97; Müller u. Grimm, 2016, S. 117). Ȥ Gruppenbasierte Storylistening-Methoden: In einem Gruppenworkshop werden Mitarbeitende gebeten, besondere Erlebnisse aus einem Projekt, einer

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Abteilung, ihrer Arbeitsbiografie etc. zu erzählen. Die Erlebnisse werden der Reihe nach erzählt, ohne sie zu kommentieren oder zu diskutieren, erst wenn alle erzählt haben, werden die Geschichten z. B. geclustert und mit ihnen weitergearbeitet. Für solche Erzählrunden wurden unterschiedliche Settings entwickelt, wie z. B. Erzählworkshop, ErzählRaum, Storyboard, StoryCloud etc., die unterschiedliche Schwerpunkte setzen (vgl. dazu unter anderem Erlach u. Müller, 2020; Chlopczyk, 2017). Die mithilfe dieser Methoden gesammelten Geschichten werden entweder vom Beratersystem oder gemeinsam mit dem Klientensystem ausgewertet und dabei vor allem die Elemente der unsichtbaren Ebene der Organisation herausgearbeitet. Fallbeispiel (Folge 1) In einem größeren mittelständischen Unternehmen stellte die Geschäftsführung immer wieder fest, dass die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Abteilungen und Teams nicht gut funktionierte. Vor allem zwischen Stabsstellen wie Kommunikation, Strategie, Personal, aber auch Vertrieb und Einkauf wurden Informationen nicht weitergegeben, eigenmächtige Entscheidungen auf Kosten der anderen getroffen und Prozesse nur im Eigeninteresse optimiert. Von der Geschäftsleitung waren schon mehrere Programme zur Verbesserung der Kooperation gestartet worden, alle ohne nachhaltigen Erfolg. In narrativen Interviews im Unternehmen fanden wir einerseits sehr viele Geschichten darüber, dass eine andere Abteilung alleine die Lorbeeren für ein Projekt geerntet habe, obwohl man doch selbst den Löwenanteil zum Erfolg beigetragen habe. Gleichzeitig wurde immer wieder von Gerüchten erzählt, Abteilungen würden zusammengelegt, und die Frage sei, wer dann »Unter« oder »Ober« sei. Diese Gerüchte speisten sich aus einer vor mehr als einem Jahrzehnt mit wenig Sensibilität durchgeführten Umorganisation. Aus all dem hatte sich bei den Mitarbeitenden sehr vieler Abteilungen der feste Glaubenssatz eingeprägt, man müsse die eigene Abteilung, koste es, was es wolle, »nach oben« gut aussehen lassen, sonst komme man bei der nächsten Umorganisation unter die Räder. Vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion des »Unternehmens im Kopf« (vgl. Frenzel et al., 2006) wurde klar, dass die abteilungsübergreifende Kooperation nicht funktionieren konnte.

Storydoing

Unter Storydoing verstehe ich im Kontext der narrativen Organisationsentwicklung das Schaffen neuer Erfahrungsmöglichkeiten beziehungsweise die

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Inszenierung neuer Erfahrungen, die dann zu neuen Geschichten führen. Es ist also ein Schaffen von Ausnahmegeschichten im Sinne von Michael White und David Epston (White u. Epston, 2009), mit dem Unterschied, dass das der neuen Geschichte zugrunde liegende Erlebnis aktiv geschaffen wird. Dies ist wichtig, wenn tatsächlich Veränderungen in der Organisation angeregt werden sollen: Ein purer Sprechakt – und sei es die schönste Geschichte der Welt – kann nicht zu einem veränderten Verhalten motivieren, wenn das alltägliche Erleben und die eingeprägten Glaubenssätze ihm widersprechen. Fallbeispiel (Folge 2) Bei den aus dem Storylistening gewonnenen Erkenntnissen war klar geworden, dass eine reine Beteuerung der Geschäftsleitung, dass keine Umorganisation geplant und zudem Kooperation mehr honoriert werde, für die Mitarbeitenden nicht glaubwürdig wäre. Die Vorteile der abteilungsübergreifenden Kooperation mussten für Mitarbeitende erlebbar werden. Da gerade ein kleineres Firmenjubiläum anstand, etablierten wir gemeinsam mit der Geschäftsleitung ein Vorbereitungsteam, in dem immer Tandems aus unterschiedlichen Abteilungen gemeinsam eine Aufgabe übernahmen. Das Jubiläumsevent wurde von den Mitarbeitenden als gemeinsamer Erfolg erlebt. Die Angst vor einer Umorganisation konnte durch dieses StorydoingProjekt zwar nicht ausgeräumt werden, doch durch das Erleben der Kooperation wurde nicht nur das Selbstbewusstsein der einzelnen Abteilungen, sondern auch das Gefühl des Miteinanders gestärkt.

Storytelling

Storytelling im eigentlichen Sinn, also das bewusste und strategische Erzählen von Geschichten, hat bekanntlich in Unternehmen vielerlei Anwendungsfelder – von Marketing und PR über die interne Kommunikation bis hin zur Markenbildung; darüber wurde in den letzten Jahren ja viel geschrieben. Im Rahmen der narrativen Organisationsentwicklung möchte ich nur auf einen Aspekt hinweisen: Geschichten zu erzählen, Botschaften in Geschichten zu verpacken ist natürlich immer noch einer der Königswege, Menschen emotional zu erreichen und zu motivieren. Allerdings wäre es kurzsichtig zu glauben, es genüge, wenn der CEO auf der Bühne eine tolle Geschichte erzählt – und schon sind alle motiviert. Storytelling funktioniert nur, wenn die erzählten Geschichten in Resonanz gehen mit dem Erleben der Menschen und den Narrativen, die dieses Erleben strukturieren. Wenn die Geschichte nichts mit den Erfahrungen zu tun hat oder ihnen sogar widerspricht, kann die Wirkung sogar negativ sein. Deshalb ist es empfehlenswert, in Organisationen vor das Storytelling einen Prozess des Storylistening zu schalten.

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Fallbeispiel (Folge 3) Die Erfolgsgeschichten zum Jubiläumsprojekt wurden in Erzählworkshops gehoben und dann in der internen Kommunikation verbreitet, und zwar längere Zeit mit großer Frequenz in allen zur Verfügung stehenden Kanälen. Da die Geschichten auf den Erfahrungen der Mitarbeitenden beruhten, waren sie glaubhaft; auch die Mitarbeitenden selbst erzählten sie immer wieder. Diese Wiederholungen von Geschichten sind wichtig, damit sich die in der Phase des Storydoing gemachten neuen Erfahrungen einprägen; natürlich braucht es hier Fingerspitzengefühl und das richtige Maß, damit man nicht Überdruss erzeugt.

Story-Co-Creation

Story-Co-Creation meint das gemeinsame Entwickeln von Geschichten und Narrativen in Organisationen, wie z. B. Identitäts- oder Changegeschichten, Strategien, Visionen, Missionen oder Leitbilder. All diese identitäts- und zukunftsbildenden Konzepte sind nur wirksam, wenn sie narrativ strukturiert sind, also einen Anfang haben (Wo stehen wir heute?), eine Transformation (Was soll anders werden?) und ein (zumindest vorläufiges) Ende (Wo werden wir dann stehen?). Jeder, der in Unternehmen arbeitet, weiß um all die Leitbilder, MissionStatements und so weiter, die kein Mitarbeitender kennt und die auch kaum jemanden interessieren – eben weil sie nicht narrativ gestaltet sind, bloße Zielformulierungen bieten und niemanden in seinem eigenen Jetzt abholen. Zudem werden sie häufig top-down verkündet. In der narrativen Organisationsentwicklung werden daher solche Narrative immer kokreativ entwickelt. Natürlich können nicht alle Mitarbeitenden daran beteiligt werden – aber es reicht, Vertreterinnen aus verschiedenen Abteilungen beziehungsweise Arbeitskontexten einzubeziehen, um deren Perspektiven und Erfahrungen berücksichtigen zu können – und damit der Gefahr der »Abgehobenheit« zu begegnen. Fallbeispiel (Folge 4) Aufbauend auf der Erfolgsgeschichte der Jubiläumsvorbereitung entwickelte die Geschäftsleitung gemeinsam mit Vertreterinnen aller wichtigen Abteilungen eine Core-Story des Unternehmens, also ein gemeinsames Identitätsnarrativ, das ausdrückt, wer das Unternehmen ist, was es tut und wohin es sich entwickeln will. Dieser Prozess war schwer und konfliktreich, denn trotz der positiven Kooperationserfahrung beim Jubiläumsprojekt waren die alten Prägungen und Gräben natürlich noch nicht verschwunden. Doch in mehreren Workshops schafften die Mitarbeitenden es gemeinsam, eine Core-Story zu finden und beim Ringen um nahezu jedes einzelne Wort an Verständnis für die jeweils anderen Positionen zu gewinnen. Und man hatte am Ende mit der Core-Story eine Basis, in der das Gemeinsame gewis-

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sermaßen »codifiziert« worden war – und zwar in einer gemeinsamen Anstrengung. Durch den Co-Creation-Prozess erlebten die Mitarbeitenden noch einmal, dass Kooperation trotz Konflikten möglich ist. Und: In den Core-Story-Workshops konnte endlich auch einmal vor der Geschäftsführung die Angst vor Bedeutungsverlust bei Umorganisationen artikuliert werden, und man fand ein gemeinsames Vorgehen unter Einbeziehung der Abteilungen, falls eine Umorganisation anstünde.

Die vier Methodenfelder des narrativen Arbeitens in Organisationen konnten hier nur kurz angerissen werden; hinter jedem stecken zahlreiche Methoden und Werkzeuge und eine Vielfalt von Anwendungsfeldern.

Narrative Ansätze im Businesscoaching Eine spezielle Anwendung narrativer Ansätze im Unternehmenskontext geschieht im Coaching. Ich behandle es hier am Beispiel einer Zweierberatungssituation, in der es um berufliche Entwicklung, Konflikt- und Problemlösungen geht. Narrativität spielt natürlich – wie in jedem therapeutischen Setting – auch im Coaching eine Rolle, denn die Klientin wird immer erst einmal – bei der Auftragsklärung, bei einer Anamnese etc. – von ihrem Anliegen erzählen. Darüber hinaus wird – soweit ich das Feld überblicke – Narrativität im Coaching vor allem in zwei methodischen Settings verwendet: in der Anwendung des Geschichtenerzählens durch den Coach (vgl. z. B. Milling, 2016), teilweise ergänzt um die Arbeit mit biografischen Geschichten der Klienten (vgl. z. B. Budde, 2015), und dem Setting, das sich auf das Vorgehen von Epston und White in der narrativen Therapie beruft (White u. Epston, 2009), und daher also mit Externalisierung, Finden von Ausnahmegeschichten und deren Integration in die »Identitätslandschaften« der Klientin arbeitet. Im systemischen Feld wird dies die verbreitetste Form des narrativen Coachings sein. Daher werde ich im Kontext dieses Buches nicht näher darauf eingehen, zumal ich an anderer Stelle ausführlich darüber geschrieben habe (Müller, 2017). Ich möchte hier nur noch zwei narrative Werkzeuge vorstellen, die ich in meiner Praxis anwende und die das Methodeninventar ergänzen können.

Arbeit mit den Aktanten der Klientengeschichten Der französische Literaturwissenschaftler Algirdas Julien Greimas hat in den 1970er Jahren die Rollen beziehungsweise Kraftfelder, die in jeder Geschichte

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eine Rolle spielen, erforscht (Greimas, 1971, S. 157 ff.). Er nannte diese Kraftfelder »Aktanten«. Sie können durch Figuren der Geschichte beziehungsweise durch Personen besetzt sein, aber auch durch unpersönliche Einflussgrößen wie Krankheiten, Katastrophen, Glück etc. (siehe Abb. 1). Sender/ Auftraggeber

Objekt/ Ziel, Wunsch

Empfänger/ Nutznießer

Adjuvant/ Helfer

Subjekt/ Protagonist

Opponent/ Gegenspieler

Abbildung 1: Schaubild Aktanten (eigene Darstellung MM)

Das Subjekt ist in der Regel die Protagonistin, die Hauptfigur der Geschichte. Diese hat einen bestimmten Wunsch, ein Ziel, ein »desire«, das sie zu erreichen sucht und damit die Geschichte antreibt. Der Adjuvant kann eine Person oder ein Glücksfall sein, die oder der die Protagonistin unterstützt, der Opponent ist das Gegenteil davon und behindert den Protagonisten. Der Sender oder Auftraggeber gibt der Protagonistin den Auftrag, das Ziel zu erreichen, und kann natürlich mit dem Protagonisten zusammenfallen, das Gleiche gilt für den Adressaten – den Nutznießer oder die Geschädigte bei Erreichen des Ziels. Um es in einem kurzen Beispiel durchzuexerzieren: In einer Liebesgeschichte ist die Liebende das Subjekt, deren Objekt die geliebte Person ist, die sie für sich gewinnen möchte. Adjuvant kann die beste Freundin sein, Opponent eine schwere Krankheit, die den Geliebten in die Quarantäne treibt. Sender beziehungsweise Auftraggeber ist die Liebende selbst, Adressat beziehungsweise Nutznießer ebenfalls sie, gemeinsam mit dem oder der Geliebten. In einer Coachingsituation bietet das Aktantenschema vielfältige Fragemöglichkeiten für Klientengeschichten, seien dies nun Entwicklungs-, Konflikt oder Problemgeschichten: Ȥ Wer ist wirklich das Subjekt, der Protagonist dieser Geschichte? Die Klientin oder irgendjemand anderes? Ȥ Ist das Objekt, das Ziel klar, oder müsste es geschärft werden? Ȥ Und wer ist die Auftraggeberin für eine Veränderung? Der Klient selbst, oder will nur der Chef diese Veränderung?

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Ȥ Und ebenso mit dem Nutznießer: Hat die Klientin wirklich etwas davon, wenn sie das Ziel erreicht, oder nicht? Ȥ Und wer könnten Helfer sein? Und wer Gegenspielerin? Oder ist gar die Klientin ihre eigene Gegenspielerin? Mit solchen und ähnlichen Fragen kann im Coachinggespräch die Geschichte des Klienten erforscht werden.

Arbeit mit der Basisstruktur von Klientengeschichten In ähnlicher Weise kann in Klientengeschichten mit der narrativen Grundstruktur »Anfang – Transformation – Ende«, wie sie in Abschnitt 3 beschrieben wurde, gearbeitet werden. Auch hier bietet diese Struktur Stoff für vielerlei Fragen: Ȥ Fängt die Geschichte (Entwicklungs- oder Problemgeschichte) wirklich da an, wo die Klientin sie beginnt, oder schon früher – oder später? Oder mit einer anderen Begebenheit? Und wo endet sie wirklich? Hier kann man mit verschiedenen Anfängen oder Enden experimentieren und sich Lösungen nähern. Ȥ Ist das transformierende Ereignis wirklich das, das der Klient erzählt hat, oder hat etwas anderes die Veränderung vom Anfang zum Ende ausgelöst? Gibt es noch andere, bisher nicht erzählte Ereignisse, die eine Rolle spielen können? Ȥ Muss nach den Experimenten mit diesen Elementen vielleicht die ganze Geschichte neu erzählt werden – und führt vielleicht zu einer neuen beruflichen Identität? Hier nur kurz ein Beispiel meiner Kollegin Barbara Börner aus ihrem narrativen Coaching mit einem Sozialunternehmer in Südafrika (vgl. Börner, Grote­hans, Liebl u. Müller, 2018, S. 48). Dieser entwickelte einfache technische Vorrichtungen, um Menschen in den Townships zu ermöglichen, Fische für Restaurants zu züchten und sich so eine Existenz aufzubauen. Zu Beginn des Coachingprozesses erzählte er sich als »Fish Farmer«. Am Ende der Experimente mit seinen Geschichten sagte er, er habe jetzt verstanden, dass er ein »People Farmer« sei, und er hob in seinen Gesprächen mit Investoren und Partnern von nun an erfolgreich den Empowermentaspekt seiner Arbeit hervor.

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Fazit: Narratives Arbeiten im systemischen Kontext Das narrative Arbeiten in Organisationen, wie ich es beschrieben habe, basiert auf einer systemisch-konstruktivistischen Haltung; soweit ich es überblicke, gilt das auch für die meisten Praktiker, die narrativ jenseits des klassischen Marketing- und PR-Storytelling arbeiten. Insofern sind die narrative Perspektive und die damit verbundenen methodischen Ansätze Ergänzungen zum systemischen Arbeiten. Die Besonderheit der narrativen Perspektive besteht in der besonderen Aufmerksamkeit, die den Kommunikationen mit narrativer Struktur gewidmet wird, in dem Wissen, dass Menschen und soziale System vor allem mit Geschichten, Erzählungen und Narrativen »Sinn machen«. Der Mehrwert, den das narrative Arbeiten in Organisationen daher bietet, ist, die Sinn-, Identitäts- und Wert-Konstruktionen einer Organisation nah an der Erlebenswelt ihrer Mitglieder dekonstruieren, verändern und neu konstruieren zu können.

Literatur Abels, H. (2010). Identität (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS. Börner, B., Grotehans, B., Liebl, J., Müller, M. (2018). Stories about us. Developing your own social enterprise story. A self-study workbook. München: Siemens-Stiftung. Budde, C. (2015). Mitten ins Herz. Storytelling im Coaching. Bonn: Manager-Seminare. Bruner, J. (1986). Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge/London: Harvard University Press. Chlopczyk, J. (Hrsg.) (2017). Beyond Storytelling. Narrative Ansätze und die Arbeit mit Geschichten in Organisationen. Wiesbaden: Springer Gabler. Erlach, C., Müller, M. (2020). Narrative Organisationen. Wie die Arbeit mit Geschichten Unternehmen zukunftsfähig macht. Wiesbaden: Springer Gabler. Erlach, C., Orians, W., Reisach, U. (2013). Wissenstransfer bei Fach- und Führungskräftewechsel. Erfahrungswissen erfassen und weitergeben. München: Hanser. Frenzel, K., Müller, M., Sottong, H. (2006). Das Unternehmen im Kopf. Storytelling und die Kraft zur Veränderung (2. Aufl.). Wolnzach: Kastner. Greimas, A. J. (1971). Strukturale Semantik. Braunschweig: Vieweg. Grimm, P., Keber, T., Zöllner, O. (Hrsg.) (2019). Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten. Stuttgart: Reclam. Harari, Y. N. (2013). Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: DVA. Keupp, H., Ahbe, T., Gmür, W., Höfer, R., Mitzscherlich, B., Kraus, W., Sraus, F. (2008). Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne (4. Aufl.). Reinbek: Rowohlt. László, J. (2008). The Science of Stories. An Introduction to Narrative Psychology. London/New York: Routledge. Lotman, J. M. (2015). Die Struktur des künstlerischen Textes (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lyotard, J.-F. (2012). Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (7. Aufl.). Wien: Passagen.

Narratives Arbeiten in Organisationsentwicklung und Coaching

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Milling, H. (2016). Storytelling – Konflikte lösen mit Herz und Verstand. Eine Anleitung zur Erzählkunst mit hundertundeiner Geschichte. Frankfurt a. M.: Metzner. Müller, M. (2017). Einführung in narrative Methoden der Organisationsberatung. Heidelberg: Carl-Auer. Müller, M. (2020). Politisches Storytelling. Wie Politik aus Geschichten gemacht wird. Köln: von Halem. Müller, M., Grimm, P. (2016). Narrative Medienforschung. Einführung in Methodik und Anwendung. Köln: von Halem. Prince, G. (1973). A Grammar of Stories. The Hague/Paris: Mouton. Roth, G. (2003). Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sarbin, T. R. (Ed.) (1986). Narrative Psychology. The Storied Nature of Human Conduct. Westport/London: Praeger. Schapp, W. (2004). In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (4. Aufl.). Frankfurt a. M.: Klostermann Schein, E. (2018). Organisationskultur und Leadership (5. Aufl.). München: Vahlen. White, M., Epston, D. (2009). Die Zähmung der Monster. Der narrative Ansatz in der Familientherapie (6. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. White, M. (2010). Landkarten der narrativen Therapie. Heidelberg: Carl-Auer.

Nicht erzählte Geschichten in der Therapie PETER ROBER

Aus narrativer Sicht ist Therapie ein Schauplatz, an dem Geschichten erzählt werden. Der Klient kommt zur Sitzung und erzählt Geschichten, in denen sich seine Lebenserfahrungen widerspiegeln, und die Therapeutin schenkt den Geschichten Gehör (White u. Epston, 2020; White, 2021). In diesem Beitrag fokussieren wir auf etwas Komplexeres. Wie soll der Therapeut mit Geschichten umgehen, die die Klientin nicht erzählt?

Geschichten und gelebte Erfahrung Die Grundannahme narrativer Psychologie (J. S. Bruner, 1986; 1997; 2004) lautet: Wir sind Geschichtenerzähler und geben unserem Leben und unserer Welt durch Geschichten einen Sinn. Unsere gelebten Erfahrungen werden umgearbeitet zu Erzählungen mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Schluss. Solche Geschichten haben Settings, Charaktere, Handlungsstränge und so weiter. Wir haben Erfahrungen und sind im Dialog mit uns selbst, wenn wir nach Worten suchen, um unsere gelebten Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen und ihnen einen Sinn zuzuschreiben, und das Erlebte zu einer Geschichte modellieren, in der die erzählende Person die Hauptfigur ist. Diese Geschichten können Selbstnarrationen über die eigenen Erfahrungen sein oder Erzählungen, die man anderen berichtet. Die Transformation der eigenen Erfahrungen zu Selbstnarrationen kann als vertikaler narrativer Prozess oder als Prozess des Geschichtenverfertigens bezeichnet werden. Teilt man die eigenen Geschichten mit anderen, kann das als horizontaler narrativer Prozess oder als Prozess des Geschichtenerzählens bezeichnet werden. Im wirklichen Leben fallen der Prozess des Geschichtenverfertigens und der Prozess des Geschichtenerzählens zeitlich oft zusammen und sind schwer voneinander zu unterscheiden (siehe Abb. 1). Im Zuge des Geschichtenverfertigens und des Geschichtenerzählens entsteht Identität. Geschichten formen »[…] ist wie die Verfertigung einer Geschichte darüber, wer und was wir sind, was geschehen ist und warum wir das tun, was

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Nicht erzählte Geschichten in der Therapie

Horizontaler Prozess Person Vertikaler Prozess

Geschichten erzählen

Der andere

Geschichten verfertigen Gelebte Erfahrung (nicht erzählt)

Abbildung 1: Das Verfertigen von Geschichten gelebter Erfahrung

wir eben tun« (J. S. Bruner, 2004, S. 4). Gemäß narrativer Psychologie besteht die Antwort auf die Frage »Wer bist du?« aus Geschichten, in denen man seine Erfahrungen in der Welt erzählt, um dem Leben einen Sinn zu geben: »Wer bin ich? Was tue ich in diesem Leben? Wer sind die Menschen, die ich gern habe? Warum habe ich sie gern?« und so weiter (McLeod, 1997). Die Identität eines Menschen ist keine einzelne Geschichte; sie besteht vielmehr aus vielen Geschichten, die ein Individuum über sich erzählt; und diese Geschichten stehen meistens nicht wirklich im Widerspruch zueinander, aber einige von ihnen weisen eine gewisse Spannung untereinander auf. So gibt es beispielsweise Geschichten, in denen man mutig war, aber gleichzeitig gibt es Geschichten, in denen man Angst hatte und Situationen vermied, die einem hätten schaden können. Ein Mensch kann von sich Geschichten erzählen, in denen er sich großzügig zeigte, aber zugleich auch Geschichten über Situationen, in denen er egoistisch gehandelt und die Bedürfnisse anderer ignoriert hat. Da also unsere Lebenserfahrungen nicht einfach in eine einzelne Geschichte gegossen werden können, brauchen wir unterschiedliche Geschichten über uns, in denen unsere Lebenserfahrungen erfasst sind. Dieser Umstand wird als »Multiplizität des Selbst« (Angus u. McLeod, 2004) bezeichnet. Ungeachtet dieser Vielfalt des Selbst haben wir ein Gespür für persönliche Kohärenz, da die mannigfaltigen Geschichten alles andere als unvereinbar miteinander sind und neue Lebenserfahrungen in bereits bestehende Geschichten integriert werden (Stiles, 2019). Doch nicht alle Lebenserfahrungen eines Menschen werden zu Geschichten verfertigt. Seine Erfahrungen sind enorm komplex und reichhaltig, während sein Potenzial des Geschichtenverfertigens begrenzt ist. Das bedeutet, dass unsere Geschichten zwangsläufig unzureichend sind, um unsere gesamte Lebenserfahrung umfassen zu können (E. Bruner, 1986). Es gibt Lebenserfahrungen, die nicht zu Geschichten verfertigt werden – zumindest vorläufig nicht.

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Narrative Therapie Aus Michel Whites Sicht auf die narrative Methode beginnt die Klientin ihre Therapie mit einer Geschichte, die aus einer Perspektive erzählt wird, bei der das Problem das Leben der Klientin beherrscht (White u. Epston, 2020; White, 2021). In der Geschichte der Klientin werfen ihre Probleme lange Schatten auf ihr Leben und ihre Identität. Ihre Probleme und ihre Sichtweisen davon sind so ineinander verflochten, als ob sie das Problem seien (White, 2021). Dieser Umstand wird als die problemgesättigte Geschichte des Lebens einer Person (White u. Epston, 2020) bezeichnet. In der Therapie hört der Therapeut der problemgesättigten Geschichte der Klientin zu und ist Zeuge ihrer Qualen und Leiden. Doch gleichzeitig hält er Ausschau nach einzigartigen Ergebnissen (»unique outcomes«; White u. Epston, 2020) oder Ausnahmen (White, 2021). Damit sind Momente gemeint, in denen das Problem nicht auftaucht oder die Person einen Weg gefunden hat, mit dem Problem so umzugehen, dass es ihr Leben nicht beherrscht. Demnach sind dies Augenblicke, in denen die problemgesättigte Geschichte durch – bis dahin nicht erzählte – Lebenserfahrungen angefochten wird. Solche Momente sind Quellen, aus denen – mit Unterstützung des Therapeuten – alternative Geschichten über die Identität der Klientin hervorgehen können: Geschichten, die mehr Hoffnung ausstrahlen; Geschichten, in denen die Klientin weniger hilflos ist, und so weiter. Der narrative Fokus des Therapeuten liegt auf der Entwicklung einer neuen Identität der Klientin, und in einem ersten Schritt versucht er ihr zu helfen, das Problem von ihrer Identität abzulösen, indem er Ausnahmen in der problemgesättigten Geschichte herausarbeitet (White u. Epson, 2020; White, 2021). Ausnahmen sind meistens nicht erzählte Geschichten, die sich auf Lebenserfahrungen beziehen, die in der Geschichte der Klientin über sich nicht hinreichend repräsentiert sind. In der Therapie unterscheiden wir zwei Arten von nicht erzählten Geschichten: Ȥ Typ 1 oder die nicht erzählte Geschichte im engeren Sinn: Eine nicht erzählte Geschichte ist eine Geschichte, an der die Klientin den Therapeuten nicht hat teilhaben lassen, die sie aber sich selbst (z. B. in einem Tagebuch) oder einer anderen Person anvertraut hat. Ȥ Typ 2 oder die nicht zu einer Geschichte verfertigte Erfahrung: Damit sind Lebenserfahrungen gemeint, die der Klient weder sich selbst noch anderen erzählt hat. Die Person hat noch keine Worte gefunden, um ihre Erfahrung festzuhalten.

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Nicht erzählte Geschichten vom Typ 1 sind zwar im gesamten Verlauf der Therapie präsent, aber besonders auffällig zu Beginn der Therapie, wenn die Klientin zur Therapeutin langsam Vertrauen fassen muss. Nicht erzählte Geschichten vom Typ 2 sind ebenfalls im gesamten Verlauf der Therapie präsent, scheinen aber erst auf, wenn sich zwischen Klient und Therapeut ein gewisses Maß an Vertrauen entwickelt hat, und verlangen vom Therapeuten mehr Aufmerksamkeit. Typunabhängig sind nicht erzählte Geschichten in der narrativen Therapie wichtige Ressourcen, und die Arbeit mit ihnen ist eine wichtige Aufgabe des praktizierenden Therapeuten. Um zu veranschaulichen, wie man als Therapeut mit nicht erzählten Geschichten arbeiten kann, schildere ich Episoden aus der Therapie mit Leni, einer 38-jährigen Frau, die von ihrem Hausarzt wegen Magenschmerzen zur Therapie überwiesen worden war. Der Therapeut wusste nicht, dass Leni als Kind von ihrem Onkel sexuell missbraucht worden war. Sie hatte nie über diese traumatischen Erlebnisse gesprochen. Im Folgenden wird der Fokus darauf gelegt, wie Lenis Lebenserfahrungen in der Therapie an die Oberfläche kommen und der Therapeut versucht, dabei zu helfen. Lenis Geschichte in der Therapie (1) In der ersten Sitzung erzählte Leni: »Ich bin 38 Jahre alt, ich bin verheiratet und Mutter einer 13-jährigen Tochter. Ich bin Erzieherin in einem Kindergarten, und ich mag meinen Beruf. Und ich liebe meinen Mann und auch mein Kind.« Der Therapeut fragte sie, weshalb sie zur Therapie komme. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich habe diese Schmerzen im Magen, und der Arzt hat nichts Krankhaftes entdecken können. Körperlich bin ich in guter Verfassung. Ich bin Langstreckenläuferin, also achte ich auf mein Gewicht, meinen Puls und so weiter. Ich ernähre mich gesund, ich rauche und trinke nicht. Mit meinem Körper ist alles in Ordnung, aber manchmal tut er höllisch weh.« Therapeut: »Manchmal?« »Ja«, sagte sie. »Also, ich weiß es nicht. Manchmal ist alles in Ordnung, und dann urplötzlich fährt mir dieser Schmerz in den Magen oder sonst irgendwo da unten …« Therapeut: »Irgendwo da unten?« »Ja, ich nenne es Magenschmerzen, aber ich bin nicht sicher, ob es der Magen ist. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es unterhalb des Magens. Vielleicht ist es mein Darm? Es kommt ohne Vorwarnung.« Therapeut: »Irgendeine Idee, was der Auslöser sein könnte?« »Oh, nein, leider nicht … Ich weiß es nicht.« »Sie wissen es nicht, aber Sie würden es gerne wissen?« »Ja, ich würde es gerne wissen. Deshalb bin ich hier.«

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Diese Geschichte erzählt Leni von sich selbst: »Ich bin 38 Jahre alt, ich bin verheiratet und Mutter einer 13-jährigen Tochter. Ich bin Erzieherin in einem Kindergarten, und ich mag meinen Beruf. Und ich liebe meinen Mann und auch mein Kind.« Diese Äußerung beherrscht zwar Lenis Selbstnarration und reflektiert in gewisser Weise ihre Identität, ist aber insofern keine problemgesättigte Geschichte, als das Problem in ihrer Eigengeschichte nicht von zen­ traler Bedeutung ist. Die Klientin beschreibt das Problem eher als etwas Fremdes in ihrem Leben: Es dringt in ihr Leben von außen ein und ist unerwünscht. Während es in der narrativen Therapie vielfach um die Externalisierung des Problems, das die Identität der Klientin sättigt, geht, und man ihr dann hilft, ihre Identität aus dem Würgegriff des Problems zu befreien, scheint in Lenis Fall die Herausforderung darin zu bestehen, dass man herausfindet, auf welche Weise die Schmerzen sinnhaft mit ihrer Lebensgeschichte verknüpft sind. In Episode (1) schenkt der Therapeut Lenis Geschichte Gehör und sondiert behutsam nach nicht erzählten Geschichten. Er tut das auf vorsichtige und unaufdringliche Weise, wobei er eng an Lenis Erzählung bleibt. Hier und da setzt er Fragezeichen und benutzt oft Lenis Worte als Ausgangspunkt für eine Frage: »Manchmal?«, »Irgendwo da unten?« und so weiter. So lauscht der Therapeut einerseits Lenis Geschichte und lädt sie andererseits ein, ihre Geschichte weiter auszuführen, als ob er sagte: »Das ist interessant, erzählen Sie mehr.« Außerdem ist die Frage, in der er Lenis Wort »manchmal« widerspiegelt, ein Versuch, Raum für Ausnahmen zu schaffen. Wenn Leni sagt: »… manchmal tut er höllisch weh«, dann verrät das Wort »manchmal« tatsächlich, dass es auch Ausnahmen gibt. Und das ist von Interesse für den Therapeuten, der weiß, dass solche Ausnahmen auf nicht erzählte Geschichten verweisen, die Ausgangspunkt für die Entwicklung alternativer Geschichten sein können. Bemerkenswert ist, wie oft Leni sagt: »Ich weiß es nicht.« Das antwortet sie, wenn sie nach dem Grund ihres Therapiewunsches gefragt wird und auch auf eine Reihe anderer Fragen. Für den Therapeuten klingen ihre Worte »Ich weiß es nicht« so, als ob sie sagte: »Ich würde es gerne wissen.« Und Leni bestätigt das, wenn sie antwortet: »Deshalb bin ich hier.« Was bedeuten Lenis Worte »Ich weiß es nicht«? Da sich die Klientin am Anfang ihrer Therapie befindet, verweisen diese Worte wahrscheinlich auf nicht erzählte Geschichten vom Typ 1: Es gibt Dinge in Lenis Leben, für die sie Worte gefunden und worüber sie schon mit anderen gesprochen hat, aber auch solche Dinge, die sie bewusst für sich behalten will und dem Therapeuten noch nicht mitgeteilt hat. Außerdem verweisen die Worte »Ich weiß es nicht« wahrscheinlich auf Lebenserfahrungen, für die es noch keine Worte gibt und die noch nicht in eine von Lenis beherrschenden Lebensgeschichten integriert worden

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sind. Leni selbst ist sich noch nicht im Klaren darüber, welcher Zusammenhang zwischen diesen Erfahrungen und den Geschichten besteht, die sie über sich verfasst hat. In diesem Sinne können wir sagen, dass Lenis »Ich weiß es nicht« auf eine nicht erzählte Geschichte im engeren Sinn (Typ 1) verweist, aber auch auf Erfahrungen, die noch nicht zu Geschichten verfertigt worden sind (Typ 2).

Nicht erzählte Geschichten im engeren Sinn In der horizontalen Dimension (Person versus der andere) entsteht oft die Frage, ob die Klientin darauf vertrauen kann, dass der Therapeut sie unterstützt, wenn sie während der Therapiesitzung mit schmerzlichen Erfahrungen konfrontiert ist oder von Emotionen überwältigt wird. Das zeigt sich am Ende der ersten Sitzung, in der Leni – wahrscheinlich, weil sie erkannt hat, dass sie in den folgenden Therapiesitzungen mit ihren schmerzhaften Erlebnissen konfrontiert werden wird – ein gewisses Misstrauen dem Therapeuten gegenüber ausdrückt. Lenis Geschichte in der Therapie (2) Leni schaute auf ihre Uhr. »Die Stunde ist fast um«, sagte sie. »Ja.« »Danke für diese Sitzung. Der Schritt, in Therapie zu gehen, fällt nicht leicht, aber ich habe das Gefühl, eine gute Entscheidung getroffen zu haben. Andererseits, man weiß nie.« »Man weiß tatsächlich nie.« »Vielleicht bereue ich es später, schließlich kenne ich Sie nicht …« »Ich weiß, man kann mir vertrauen. Aber Sie wissen es noch nicht. Sie müssen es erst herausfinden …« »Ich weiß. Ich gehe behutsam vor.« »Es ist gut, wenn man vorsichtig ist.«

In Episode (2) ist Lenis Anliegen in der horizontalen Dimension angesiedelt: Wer ist der Therapeut, und kann ich ihm vertrauen? Wird er mir helfen, wenn ich verletzbar bin? Wird er mich verstehen und mich unterstützen? Und so weiter. Zu diesem Zeitpunkt der Therapie weiß der Therapeut noch nicht, dass Leni als Mädchen von einem erwachsenen Mann missbraucht worden war. Im Rückblick ist es nachvollziehbar, dass das Thema »Kann man Männern vertrauen?« in der Begegnung mit dem Therapeuten (einem Mann mittleren Alters) in ihr wachgerufen wird. Es ist klar, dass Leni dadurch in der Sitzung verunsichert

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ist, aber im Sinne der Therapie verspricht genau dieser Aspekt, zu einer korrigierenden emotionalen Erfahrung zu werden und für sie eine neue Geschichte (einem Mann mittleren Alters kann man vertrauen) bereitzuhalten. Zumindest dann, wenn die Therapie gut verläuft.

Nicht erzählte Geschichten als nicht zu Geschichten verfertigte Erfahrungen Neue Lebenserfahrungen werden meistens in bereits existierende Geschichten integriert. Dadurch bekommt die Person eine mehr oder weniger kohärente Lebensgeschichte (Identität). Doch manche neue Erfahrungen überraschen vielleicht besonders oder kommen unerwartet, und solche Erfahrungen können die betreffende Person dazu bringen, einige ihrer Geschichten dramatisch zu verändern oder sich insgesamt eine neue Geschichte einfallen zu lassen. In der klinischen Praxis werden solche Momente, in denen das Leben eines Menschen auf den Kopf gestellt wird, beispielsweise sichtbar, wenn jemand seine Erfahrung schildert, dass der Partner oder die Partnerin eine Affäre mit einer anderen Person hat. Dann muss die betreffende Person rückblickend ihr Leben in eine neue Geschichte kleiden: Da mir das passiert ist, was sagt das darüber aus, wer ich bin (z. B. »ein Opfer«), darüber, wer mein Partner ist (z. B. »ein betrügerischer Lügner«), darüber, wie unsere Beziehung ist (z. B. »ein Fehler«), darüber, wie mein Leben aussieht (z. B. »wie ein Trümmerhaufen«), und so weiter. Darüber hinaus gibt es Erfahrungen im Leben, die sich nur schwerlich zu einer Geschichte verfertigen lassen, weil sie unvorstellbar, verwirrend, inakzeptabel oder außerordentlich belastend sind. Beispielhaft dafür stehen traumatische Erfahrungen. Sie sind schockierend, weil sie unserer elementaren Auffassung vom Leben (z. B., dass man anderen Menschen vertrauen kann) und von der Welt (z. B., dass die Welt sicher ist) zuwiderlaufen. Vielleicht ist es unmöglich, derlei Erfahrungen in existierende Geschichten zu integrieren, und zu schwierig, neue Geschichten daraus zu verfertigen, weil traumatisches Erleben schmerzhafte und erschreckende Gefühle hervorruft (Stiles, 2002). Darüber hinaus fehlt der betreffenden Person vielleicht einfach das Vokabular, um über ihre Erfahrungen sprechen zu können (E. Bruner, 1986). Die Folge ist, dass solche Erfahrungen unterdrückt bleiben und nicht zu Geschichten verfertigt werden, als unbearbeitete Erfahrungen in der Tiefe der Seele vergraben sind, wo sie darauf warten, durch Anstöße von der Außenwelt aktiviert zu werden. Wenn traumatische Erfahrungen ausgelöst werden, können sie in unkon-

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trollierbarer Form als Panikattacke, Flashback oder Wutanfall zum Vorschein kommen. Oft finden die nicht zu Geschichten verfertigten Erfahrungen ihren Ausdruck auch in körperlichen Symptomen (z. B. in Form von Kopfschmerzen, Migräne, Geschwüren usw.). Bessel van der Kolk (2021) nennt das den »verkörperten Schrecken«. Aufgrund der Vorstellung, dass manche Erfahrungen unserer Klienten nie zu Geschichten verfertigt worden sind, hat der Therapeut die Aufgabe, nicht nur den erzählten Geschichten Gehör zu schenken und die Klientin zum Erzählen der Geschichten einzuladen, die sie noch mit niemandem geteilt hat, sondern ihr auch zu helfen, noch nicht zu Geschichten verfertigte Lebenserfahrungen zu erzählen. Das heißt, dass der Therapeut die Klientin darin unterstützen muss, sich solche Erfahrungen bewusst zu machen; ihr bei der Suche nach der richtigen Sprache behilflich zu sein, damit sie ihre Erfahrungen zu einer Geschichte verfertigen kann; ihrer Geschichte empathisch zuzuhören und ihr zu helfen, die Geschichte in eine ihrer vielen existierenden Geschichten zu integrieren oder eine gänzlich neue Geschichte zu kreieren. Stiles (2019) schreibt, dass die Worte und nonverbalen Signale des Klienten zwischenmenschliche Sinnbrücken sind, die den Klienten und seine Erfahrungen mit dem Therapeuten (der horizontale narrative Prozess) verbinden. Gleichzeitig sind die Worte des Klienten auch innermenschliche Sinnbrücken, die das problematische Erleben des Klienten mit einigen seiner existierenden Geschichten über sich (der vertikale narrative Prozess) verbinden können. Der Therapeut hat die Aufgabe, der Klientin zu helfen, noch nicht zu einer Geschichte verfertigte Erfahrungen in ihre Bibliothek vielfacher Geschichten zu integrieren, wobei der Weg von ihren abgewehrten oder umgangenen Erfahrungen durch verschwommene Bewusstheit, Klärung, Verstehen hin zur Integration (Stiles, 2002) führt. Therapien, in denen noch nicht zu Geschichten verfertigte Erfahrungen im Zentrum stehen, sind für die Klientin vielleicht sehr herausfordernd, weil sie sich mit schmerzhaften Erfahrungen konfrontieren muss (die vertikale Dimension), was emotional bedrückend sein kann. Doch zu Beginn einer Therapie hält die Klientin solche noch nicht zu Geschichten verfertigten Erfahrungen ihrem Bewusstsein oft fern. So weiß der Therapeut in der ersten Sitzung mit Leni beispielsweise noch nicht, dass sie mit schmerzlichen Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs zu kämpfen hat, und auch Leni hält diese Erfahrungen auf sicherer psychischer Distanz zu sich. Doch Leni ahnt irgendwie, dass sie vorhanden sind und ihr emotionales Gleichgewicht bedrohen und darauf warten, näher zu kriechen. Der Therapeut weiß zu diesem Zeitpunkt davon noch nichts, da es ein paar Therapiestunden mehr brauchen wird, bis Leni bereit ist, ihre Geschichte mit ihm zu teilen.

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Wenn eine nicht erzählte Geschichte in Erscheinung tritt Ein paar Sitzungen später tauchte in Lenis Therapie ein neues Thema auf: die sexuelle Beziehung der Klientin zu ihrem Mann Hans. In den ersten beiden Therapiestunden hatte Leni darüber nicht gesprochen, doch dann kam urplötzlich diese nicht erzählte Geschichte hoch. Sie ist eine nicht erzählte Geschichte im erstgenannten Sinn: nicht völlig neu (Leni hatte schon mit ihrer besten Freundin Frieda darüber gesprochen und in ihrem Tagebuch darüber geschrieben), aber im Rahmen der therapeutischen Beziehung war die Geschichte erstmalig. Lenis Geschichte in der Therapie (3) In der dritten Sitzung sprach Leni über ihre Beziehung zu Hans: »Wir lieben uns. Nun, ich liebe ihn, das ist sicher, und immer noch …« »Immer noch?« »Also, wenn wir Sex haben, fühle ich mich manchmal angeekelt. Nicht am Anfang … Da möchte ich ihm nahe sein … Ich möchte ihn nahe bei mir haben … Ich bin wirklich erregt … Aber dann kommt das manchmal … urplötzlich … Erst fühle ich mich angeekelt, dann ist es so, als ob ich uns beobachte, wie wir uns lieben. Als ob ich die Beobachterin wäre …« »Mmm.« »Wenn man sich selbst beim Sex zusieht, sieht das so albern aus und schwerfällig. Dann will ich nur noch allein sein. Schlafen. Und am nächsten Morgen an einem neuen Tag aufwachen. Das Vergangene vergessen. Genau das möchte ich, aber ich bin mit ihm im Bett, und er ist erregt, und ich bin verschlossen wie eine Muschel.« »Wie reagiert Hans darauf?« »Oh, er ist so lieb und nett zu mir. Er würde nie wollen, dass ich etwas tue, was für mich unbehaglich ist.« »Das ist fein.« »Ja, er ist ein guter Mann. Aber ich fühle mich wegen ihm auch schuldig. Er ist so ein guter Mann, und ich bin eine arschkalte Hexe, weil ich ihn abweise.«

Die restliche Therapiestunde sprachen Leni und der Therapeut über das erwähnte sexuelle Problem und dessen Auswirkung auf die Klientin. Sie erzählte dem Therapeuten beispielsweise, dass sie an sich zu zweifeln beginne: »Was stimmt nicht mit mir?« Sobald sie sich in dieser Situation befinde, fühle sie sich sehr unsicher und verliere die Kontrolle. Sie versuche, das Problem durch Selbstdisziplin zu bewältigen: vermeide noch entschlossener ungesunde Ernährung und konzentriere sich darauf, noch mehr und schneller zu joggen.

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Das wirkte sich auch auf ihre Paarbeziehung aus. Hans machte kein Aufhebens davon und akzeptierte, wann immer Leni sich ihm im Bett verweigerte, aber ihr sexuelles Problem distanzierte die beiden voneinander. Leni mied ihren Mann und versuchte, Situationen, in denen er sexuell erregt sein könnte, möglichst auszuweichen. Momente der Intimität wurden selten, weil sie abends lang aufblieb oder schon früh zu Bett ging. »Auch gingen bei mir«, sagte Leni, »diese Schmerzen im Magen los.« Lenis Geschichte in der Therapie (4) »Schmerzen im Magen?«, fragte der Therapeut. »Ja, das ist komisch, oder? Die Angst vor Sex scheint meine Schmerzen auszulösen.« Sie lächelte ängstlich.

Es war das erste Mal, dass Leni einen Zusammenhang herstellte zwischen ihren Magenschmerzen und einem anderen Aspekt ihres Lebens: der Sexualität. Der Therapeut wusste immer noch nicht genau, wie sich die Schmerzen sinngebend mit Lenis Leben verbinden ließen, und natürlich wusste er auch noch nicht, wie er ihr helfen konnte, aber zumindest bestand jetzt eine Sinnbrücke, die dem Therapeuten ein beruhigendes Gefühl gab. In seiner Ausbildung hatte er gelernt, dass man körperlichen Anzeichen und physischen Symptomen als nonverbalen Ausdrucksmitteln nicht erzählter Geschichten nachgehen sollte. In der Praxis ist das für den Therapeuten nicht immer leicht. Er weiß, dass körperliche Anzeichen oder physische Symptome Ausdruck einer Geschichte sein können, die noch nicht erzählt werden kann, aber er bleibt im Dunkeln darüber, welche Geschichte das genau ist. Der Therapeut muss es ertragen, dass er die Geschichte nicht kennt. Ein solches Nichtwissen kann sich über mehrere Sitzungen hinziehen und ist für den Therapeuten nicht angenehm. Ihm bleibt keine andere Wahl, als diese Unkenntnis auszuhalten.

Mit dem Herzen hören Geschichten können verbal, das heißt mit Worten erzählt werden oder nonverbal mit dem Körper (Töne, Bewegungen, Gesichtsausdruck usw.). Also muss der Therapeut mit den Ohren und mit den Augen (Rober, 2017; 2019) hinhören. Meistens können die Geschichten, die nonverbal erzählt werden, noch nicht in Worte gefasst werden. Geschichten können außer in Worten oder mit dem Körper auch noch in

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anderer Form erzählt werden, und zwar dadurch, dass im anderen Menschen Erlebnisse oder Bilder hervorgerufen werden (Rober, 2017; 2019). In der Therapie erzählt beispielsweise das, was der Therapeut während der Sitzung erlebt, manchmal einen Teil der Geschichte der Klientin: Unsere Klientinnen zeigen uns, wie es sich anfühlt, sie zu sein. Das, was der Therapeut erlebt, spiegelt einige der Dinge wider, die von der Klientin verbal oder nonverbal nicht zum Ausdruck gebracht werden können. Also braucht der Therapeut nicht nur seine Ohren und Augen, sondern auch sein Herz, mit dem er der Geschichte seiner Klientin aufmerksam lauscht. Vielleicht kann der Therapeut der Klientin helfen, Worte zu finden, um die nicht erzählte Geschichte zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht gelingt das auch nicht, und die Geschichte bleibt für immer und ewig nicht erzählt; denn nicht alle Geschichten können erzählt werden, und manche Geschichten sind schlicht und einfach »unerzählbar« (J. S. Bruner, 1986, S. 68). Dieser Umstand wird in der Abbildung 2 veranschaulicht: Ohren ZÖGERN

Augen

UNGESAGT

Herz

UNSAGBAR Abbildung 2: Das Zuhören des Therapeuten

Vor allem dann, wenn der Therapeut mit dem Herzen hört, kann er ein Gespür dafür entwickeln, was die Klientin (noch) nicht sagen kann und um was es in den Geschichten der Klientin, die sie nicht erzählt, gehen könnte. Das wird in der folgenden Episode veranschaulicht: Lenis Geschichte in der Therapie (5) In der sechsten Sitzung erzählte Leni von einem Ereignis, das sich in der Woche zuvor zugetragen hatte. Sie und Hans seien zusammen auf dem Sofa gelegen und hätten ferngesehen. Sie habe sich Hans sehr verbunden gefühlt, und sie hätten angefangen, sich zu küssen und zu streicheln. Es sei schön gewesen, aber dann habe Hans’ Smartphone geklingelt. Er habe nach seinem Telefon gegriffen und mit seinem Bruder wegen einer gemeinsamen Arbeit telefoniert. »Ich war enttäuscht«, sagte Leni zum Therapeuten. Genau in dem Augenblick hatte der Therapeut das Bild vor Augen, wie Leni auf dem Sofa lag und lächelte, während Hans telefonierte. Als ob sie froh gewesen

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wäre, dass der Augenblick der Intimität beendet sei. Der Therapeut war von seiner Vorstellung etwas verwirrt, realisierte aber, dass sein inneres Bild im Rahmen des therapeutischen Prozesses vielleicht sinnstiftend war. Er beschloss, diesen Gedanken mit Leni zu erkunden, und hielt es für eine gute Idee, mit ihr über diesen Moment zu sprechen, als Hans zum Telefon griff. »Also, als Hans zum Telefon griff, waren Sie enttäuscht?«, fragte der Therapeut. »Ja …« Der Therapeut konnte Lenis Zögern förmlich hören. »Und was haben Sie außer dieser Enttäuschung noch erlebt?«, fragte er. »Nun, um ehrlich zu sein, ich glaube, ich war erleichtert.« Schweigen. »Erzählen Sie mir mehr über Ihre Erleichterung«, sagte der Therapeut. »Da ist eine Dunkelheit in mir. Und wenn wir uns lieben, spüre ich, wie sie mich näher zieht, und ich muss aufpassen, dass ich nicht verschlungen werde. Ich muss einen Bogen drum machen. An der Realität festhalten. Meistens erstarre ich genau an dem Punkt. Aber diese Woche, als das Telefon klingelte, war nicht ich das, die unsere Intimität beendet hat. Nicht ich war es, die erstarrt ist, es waren auch nicht meine Magenschmerzen. Es war das Telefon. Das Telefon hat mich davor bewahrt, verschlungen zu werden.« Der Therapeut fragte Leni, ob es in Ordnung sei, weiter über die Dunkelheit in ihr zu sprechen. »Es ist in Ordnung«, sagte sie. Also sprachen sie über die Dunkelheit, und genau da enthüllte Leni zum ersten Mal, dass sie von einem Onkel, dem Bruder ihres Vaters, sexuell missbraucht worden sei. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, das ist passiert … Manchmal habe ich diese Bilder … Und ich habe Albträume und verschwommene Erinnerungen … Ich weiß es nicht«, sagte sie. Sie schaute weg, als ob sie sich schämte.

Für Lenis Geschichte davon, was sie als »Dunkelheit« bezeichnet, wurde Raum geschaffen, nachdem der Therapeut das Bild vor Augen hatte, wie Leni auf dem Sofa lag und lächelte. Über seine Vorstellung war er zuerst verwirrt, beschloss dann aber, sein Erleben ernst zu nehmen und in der Therapie einzusetzen. Er zwang der Klientin sein Bildsymbol von der lächelnden Leni nicht auf, sondern explorierte stattdessen mit ihr, wie sie den Moment erlebte, als Hans zum Telefon griff. Dadurch öffnete sich tatsächlich ein Raum, in dem Leni mit dem Verfassen einer anderen nicht erzählten Geschichte beginnen konnte: der Geschichte vom Missbrauch durch ihren Onkel. Diese Geschichte hatte

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sie noch niemandem zuvor erzählt, und in diesem Augenblick in der sechsten Therapiestunde tastet sie die Geschichte zwar an, hält sie aber noch in Schach und äußert ihre Zweifel (»nicht sicher«) und spricht über die Geschichte in Begriffen wie »Bilder«, »Albträume« oder »verschwommene Erinnerungen«. Erst in späteren Sitzungen entsteht ganz allmählich, nach langem Zögern und unter erdrückenden Emotionen und mit der Unterstützung des Therapeuten die Geschichte über den Missbrauch. Nach weiteren Sitzungen erzählt Leni die Geschichte als eine mehr oder weniger kohärente Geschichte über Dinge, die wirklich passiert sind – und die eine Protagonistin (Leni), einen Antagonisten (den Onkel) und eine Menge unschuldiger Zuschauer (Lenis Eltern, ihre Geschwister usw.) hat. Leni sprach auch darüber, wie sie die schmerzhaften Erinnerungen an den Missbrauch abschwächte, wenn diese durch die sexuelle Erregung, die sie beim Sex mit Hans spürte, ausgelöst wurden. Sie fragte sich, ob sie auch durch die Berührungen ihres Onkels erregt reagiert habe, und fühlte sich bei dem Gedanken angeekelt. Die Geschichte mit Angehörigen teilen? Als Therapeut hat man die Aufgabe, den Geschichten, die unsere Klienten erzählen, Gehör zu schenken und zu versuchen, Raum zu schaffen für Geschichten, die noch nicht erzählt worden sind. Auf diese Weise kann man der Klientin helfen, gelebte Erfahrungen in die Geschichten über ihr Leben zu integrieren. Diese Arbeit ist zwar wichtig, aber nicht alles. Man muss auch fragen, was die Klientin mit wichtigen anderen Bezugspersonen (Ehemann, Ehefrau, Tochter, Sohn, Mutter, Vater usw.) teilen kann. Natürlich kann die Klientin zögern, andere an der Geschichte ihrer schmerzhaften Erfahrung teilhaben zu lassen. Vielleicht spielt dabei auch Scham eine Rolle. Oder Angst, verurteilt oder beschuldigt zu werden. Doch wenn ein Mensch wichtige Lebensgeschichten nicht mit einem geliebten Menschen teilt, macht ihn das einsam und belastet ihn, weil er die Bürde seiner Erfahrungen ganz allein tragen muss. Natürlich muss man nicht alle an allem teilhaben lassen. Man kann durchaus für sich beschließen, bestimmte Geschichten gänzlich für sich zu behalten. Doch oft ist es eine gute Idee, mit seinen belastenden Geschichten über schmerzhafte Lebenserfahrungen nicht allein zu bleiben. Wenn man persönliche Geschichten mit anderen teilt, ist das immer eine Frage der selektiven Offenlegung (Rober, Walravens u. Versteynen, 2012; Rober u. Rosenblatt, 2013). Die Frage ist immer gegenwärtig: Wen lasse ich wann und wie an was teilhaben? Das sind wichtige Fragen, mit denen der Therapeut der Klientin helfen kann. In Lenis Fall muss beispielsweise unbedingt berücksichtigt

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werden, an welchen Teilen der Geschichte des Missbrauchs sie ihren Ehemann Hans teilhaben lässt. Darum geht es dem Therapeuten in der zwölften Sitzung. Lenis Geschichte in der Therapie (6) In der zwölften Therapiestunde schlug der Therapeut vor, dass es eine gute Idee sein könnte, Hans zu einer gemeinsamen Sitzung einzuladen. Lenis erste Reaktion war: »Ja, vielleicht …« »Es ist vielleicht wichtig, dass Sie Hans zumindest einen Teil der Geschichte erzählen. Das könnte einen großen Unterschied in Ihrer sexuellen Beziehung ausmachen und einiges an Intimität wiederherstellen, die in Ihrer Beziehung verloren gegangen ist.« Leni antwortete: »Ja, gut … Ich weiß es nicht.« Der Therapeut akzeptierte Lenis Zögern und half ihr beim Sortieren ihrer Antwort. »Helfen Sie mir, Ihr Zögern zu verstehen«, sagte der Therapeut. Leni antwortete: »Ich habe noch nie mit ihm über sexuellen Missbrauch gesprochen, und vielleicht versteht er auch nicht.« Der Therapeut realisierte, dass auch hier das Thema Vertrauen wieder aufschien. Er sagte: »Ich kenne Hans nicht, und ich bin mir nicht sicher, wie er reagieren wird. Und über diese sensiblen Dinge zu sprechen wird wahrscheinlich nicht leicht.« Leni nickte. »Ich meine, dass es für unsere Beziehung vielleicht wichtig ist, aber es wird schwierig sein, Hans hier persönlich gegenüberzusitzen und ihm zu erzählen, was geschehen ist.« »Ich werde da sein und Ihnen helfen«, sagte der Therapeut. »Sie werden ihm die Geschichte erzählen, aber ich werde an Ihrer Seite sein.« Nachdem sie noch ein paar Minuten weiter darüber geredet hatten, war Leni damit einverstanden, einen Paartermin zu vereinbaren. In der 14. Sitzung war Hans anwesend, und mithilfe des Therapeuten konnte Leni darüber sprechen, was sie während ihres Liebesaktes erlebt und wie die Erinnerungen sie manchmal plötzlich abwürgen und sie sich dann zurückzieht und sich verschließt und sich danach schuldig und beschämt fühlt. Hans hörte geduldig zu. Dann erzählte Leni, dass sie als junges Mädchen von ihrem Onkel missbraucht worden sei. Sie erzählte Hans, wie sie allmählich verstehe, dass manchmal, wenn sie sich liebten, schmerzhafte Erinnerungen an den Missbrauch ausgelöst würden und wie sie dadurch erstarre. Hans hörte ihrer Geschichte zu. Er sagte nicht viel, aber das Wichtigste, was er sagte, war: »Ich liebe dich, und ich möchte bei dir sein, um das durchzustehen.«

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Leni war durch diese Reaktion erleichtert, aber besonders stolz war sie auf sich, dass sie es geschafft hatte, Hans ihre Geschichte zu erzählten. Zumindest einen Teil davon.

In Richtung Fazit Dieser Beitrag konzentriert sich auf nicht erzählte Geschichten im Rahmen narrativer Prozesse von Klienten: auf den vertikalen Prozess des Geschichtenverfertigens und den horizontalen Prozess des Geschichtenerzählens. Lenis Therapie ist dafür exemplarisch. Wie meistens in Therapieverläufen werden auch in Lenis Therapie die wirklich entscheidenden Geschichten ihres Lebens in den ersten Sitzungen nicht erzählt. Sie bleiben unter der Oberfläche dessen, worüber gesprochen werden kann. Ein wichtiger Teil der therapeutischen Arbeit ist es, Leni zum Erzählen dieser Geschichten einzuladen und gemeinsam mit ihr die Sprache zu finden, damit sie über ihre bis dahin unausgesprochenen Erfahrungen reden kann.

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TEIL 3  Kontexte und Settings narrativer Praxis

Woran erkennt man, ob ein Goldfisch weint? Betrachtungen über das Geschichtenerzählen in der Therapie JIM WILSON

Die Herausgeber und Herausgeberinnen des »Handbuchs narrative Praxis« haben mich eingeladen, Betrachtungen über die im Folgenden abgedruckte »Goldfischgeschichte« anzustellen. Diese Einladung ist ein Geschenk und eine Gelegenheit, auf die gut zwanzig Jahre zurückzublicken, seit der Artikel zum ersten Mal im »Australian and New Zealand Journal of Family Therapy« (2000) und später dann in »Systhema« (2006) erschien.

Gedanken zur Bedeutung eines geschützten Experimentier­ raums, der gemeinsam geschaffen wird Wenn ich mir den ursprünglichen Artikel noch einmal anschaue, muss ich sagen, dass ich meiner Idee treu geblieben bin: Um in einer Therapie Geschichten schreiben zu können, muss ich mich systemisch aus dem Zentrum herausnehmen, und das heißt, dass ich mich in die Erfahrungen meiner Klientinnen in ihrem Beziehungskontext hineinversetzen muss. Die Wörter, die meine Klienten in den Sitzungen verwenden, und die Perspektiven, die sie mir dabei anbieten, liefern das Material, an dem sich meine Versuche, eine Geschichte zu verfassen, orientieren. Die Geschichte, die dann Gestalt annimmt, ist so angelegt, dass eher auf kreative Möglichkeiten hingewiesen wird, als dass die Klientinnen über eine bestimmte Reiseroute geführt werden. Bei der »Goldfischgeschichte« war meine erste Überlegung die, dass ich versuchen sollte, die schmerzhaften Erfahrungen, die Billie nicht verbalisiert hatte, die sich aber in ihren traurigen Augen und ihrer wachsamen Haltung mir gegenüber spiegelten, weniger toxisch werden zu lassen. Sie wollte ihrer Mutter helfen, und ihre Mutter wollte ihr helfen, also bewegten sich unsere ersten paar Sitzungen in einem sehr langsamen und vorsichtigen Tempo. Die Idee, eine Geschichte für beide zu erfinden, kam mir, als es sich sicher genug anfühlte, um einen mutigeren Schritt nach vorne zu tun. Das ist ein heikler Prozess, aber ich

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denke an die Sichtweise des verstorbenen Tom Andersen, dass »wir mehr merken, als wir ansprechen können« (persönliche Mitteilung; siehe auch Andersen, 1996). Bei Billie und ihrer Mutter brauchte es mehrere Begegnungen, bis die Bedingungen geschaffen waren, unter denen es sich sicher genug anfühlte, um die Frage an sie zu riskieren, ob ich ihnen eine Geschichte anbieten könne, die unsere Sitzungen helfend vorantreiben könnte. Beide waren damit einverstanden, und die Mutter wurde zu meiner »Lektorin« ernannt, die die Geschichte im Entwurf durchlas und sie kommentierte, korrigierte und darüber entschied, wie und wann sie ihrer Tochter vorgelesen werden könnte. Für den Therapeuten bleibt die Frage, wie man im Gespräch Eröffnungen gestaltet, die weder übermäßig aufdringlich noch allzu weit weg führen von schwierigen Themen. Die Ausgewogenheit ist zwar schwer zu erreichen, wird aber dadurch beurteilt, dass wir im minutiös verfolgten Prozess einer Sitzung all unseren sensorischen Reaktionen gewahr werden (siehe Stern, 2007). Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf unsere verkörperten Antworten wie auch auf unsere Wahrnehmung und Affekte fokussiert. Die so entstehende Geschichte wird Bestandteil eines Prozesses der fortdauernden Verbindung mit den Klientinnen. Reflexion: Therapierende erweitern ihr Repertoire, wenn sie mit Geschichtenerzählen experimentieren. Ich habe festgestellt, dass manche Kolleginnen und Studierende in meinen Ausbildungskursen sich nicht vorstellen können, sie verfügten bereits über die kreative Kompetenz, um für oder zusammen mit ihren Klienten Geschichten zu verfassen. Vielleicht hängen sie der vorgefassten Meinung an, dass das Erfinden von Geschichten eine Fertigkeit sei, die sie schlicht und einfach nicht hätten, dass »Geschichtenerzählen nicht wirklich Therapie ist« oder dass »es mir Unbequemlichkeit bereitet«. Der interessante Befund ist: Wenn in einem Workshop zwei oder mehr Therapierende in einer gemeinsamen Übung versuchen, eine Geschichte zu verfassen, stellen sie oft fest, dass diese Fertigkeit bereits im Ansatz vorhanden ist. Das sagt mir, dass die Ausbildung in systemischer Therapie und damit verbundenen Berufen wie etwa in klinischer Psychologie stark profitieren könnte, wenn der Entwicklung von Fertigkeiten in ernsthafteren spielerischen Methoden wie dem Geschichtenerzählen Beachtung geschenkt würde (Wilson, 2007). Therapie ist im Kern eine Improvisation, die in unseren theoretischen Ideen und moralischen Wertvorstellungen eingebettet ist. Sie ist eher Handwerk als Wissenschaft. Reflexion: Der Autor/die Therapeutin profitiert von Betrachtungen über das Lernen während des Verfertigungsprozesses. Schreiben impliziert innere Einkehr und eine Gelegenheit, mit Wörtern zu spielen (Anthropomorphisierung, also die Vermenschlichung von Tieren, ist z. B. eine Möglichkeit, die in der »Gold-

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fischgeschichte« verwendet wurde). Wir können von Ideen inspiriert werden, die uns möglicherweise nicht in den Sinn gekommen wären, hätten wir nicht versucht, eine Geschichte in Hinblick auf eine bestimmte Klientin zu schreiben. Die Herausforderung für den Geschichtenerzähler besteht darin, eine Komposition zu schaffen, die in der Leserin das Interesse wachhält; eine frei fließende Vorstellungskraft ist dabei ein großartiger Verbündeter. Therapie ist eine ernsthafte Tätigkeit, muss uns aber auch das Spiel mit der Fantasie erlauben. Dabei ist die Freiheit wichtig, über unsere Spekulationen nachzusinnen, ohne sich in sie zu verlieben, als ob sie die absolute Wahrheit wären. Wenn wir in diese Falle geraten, werden unsere Geschichten zu Handlungsanweisungen anstatt zu Einladungen. Reflexion: Die Performanz der Geschichte ist an sich schon ein Kontext potenzieller Veränderung. Bei der »Goldfischgeschichte« wurde diese Dimension nicht hervorgehoben, und seither habe ich gelernt, dass die Wichtigkeit der Performanz der Geschichte nicht zu unterschätzen ist – gleichgültig, ob sie gemeinsam entwickelt oder von einem Familienmitglied oder einem Therapeuten geschrieben wird. Ich erinnere mich an folgende Situation aus meiner Praxis: Yasmin ist 13 und fängt an, mir etwas über eine schmerzhafte Zeit in ihrem Leben zu erzählen. Ich bin mir bewusst, dass ich dem Fluß der zögernden, ruhig gesprochenen Worte dieser jungen Person, die bis dahin nur sehr zaghaft mit mir gesprochen hat, nichts in den Weg stellen möchte. Allerdings ist die Atmosphäre während der letzten Sitzungen »wärmer« geworden, und Yasmin beginnt darüber zu sprechen, wie sie es erlebte, von einem Familientmitglied körperlich misshandelt zu werden: Als sie noch jünger war, wurde sie von einer Tante regelmäßig geschlagen, und niemand kam ihr zu Hilfe. Dann verfällt Yasmin in Schweigen. Sie sitzt gebeugt da und schaut auf den Boden. Ich will einen Weg finden, das Gespräch wieder in Gang zu bringen, will aber Yasmin meine Wünsche nicht aufdrängen, weil ich fürchte, sie würde sich umso mehr verschließen. Ich warte und sage dann: »Einige junge Menschen, die zu mir kommen, haben ziemlich schlimme Dinge erlebt, über die sie nicht sprechen möchten, weil sie Angst haben, dass dadurch alles nur noch schlimmer wird (ein Widerhall der Worte in der ›Goldfischgeschichte‹), und deshalb versuchen sie manchmal, ihre Worte schriftlich niederzulegen. Ich weiß nicht, ob das auch eine Idee für uns wäre.« Yasmin sagt, sie könne die Worte nicht niederschreiben. Also sage ich nach ein paar kurzen Momenten: »Wie wäre es, wenn du meine Chefin wirst, und ich wäre dein Sekretär? Ich könnte alles aufschreiben, was du deiner Tante sagen möchtest, damit sie weiß, wie du dich gefühlt hast, als sie dich schlug und … sonst was tat … ob wir das an sie schreiben würden?« (Zu dem Zeitpunkt, als Yasmin mir von der Misshandlung erzählte, war ihre Tante bereits verstorben.)

Woran erkennt man, ob ein Goldfisch weint?

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Yasmin macht eine kleine Pause, bevor sie über ihre Tante spricht, und fängt schließlich an, mir zu diktieren, was sie dieser hätte sagen wollen. Sie wird lebendiger, sobald sie in ihre Rolle als meine »Chefin« hineinwächst, und sagt an einem Punkt: »Ich hasste es, wenn ich im Sommer Winterkleidung tragen musste.« Ich schreibe die Wörter getreu auf das Papier, aber ich bin etwas ratlos und frage Yasmin, weshalb sie im Sommer Winterkleidung habe tragen müssen, worauf sie antwortet: »Um die Blutergüsse zu verdecken.« An dieser Stelle bin ich von diesem einfachen, kindlichen Bekenntnis so sehr betroffen, dass mir die Tränen kommen.

Diese Gedanken über Yasmin und unsere Episode des Briefeschreibens bleibt mir in Erinnerung, um den Prozess des Erfindens einer Geschichte zu betonen, der Teil einer Gesprächsbrücke zur weiteren Entwicklung der Beziehung zwischen der Klientin und ihrem Therapeuten wird. Yasmin erzählte in späteren Sitzungen von zutiefst verstörenden Vorgängen, und mit der Zeit entdeckte sie neue Möglichkeitshorizonte in ihrem Leben. Dieses Beispiel soll veranschaulichen, wie wichtig es ist, dass die Therapie eine kokreative Tätigkeit ist. Es geht hier nicht darum, dass lediglich Momente tiefen Berührtseins zählen; vielmehr soll die Signifikanz der gemeinsamen Aktivität an sich und die emotionale Komplexität des Verfertigens einer Geschichte in einem imaginativen spielerischen Raum exemplifiziert werden: in diesem Fall ein Brief an eine Tante, die diesen niemals erhalten wird. Reflexion: Es gibt nicht nur die eine Geschichte. Geschichten besitzen ein Eigenleben. Sie sind immer in Bewegung. Jeder Leser versteht eine Geschichte auf seine Weise, und während die »Goldfischgeschichte« für die beiden Klientinnen damals maßgeschneidert war, ist sie seither weit in viele unterschiedliche Kontexte und Kulturen gereist, um einen Beitrag für die therapeutische Praxis zu leisten, die sich mit den Auswirkungen von Missbrauch und Misshandlung auf Kinder und Familien befasst; sie wird von Studierenden in Psychotherapiekursen gelesen und ist eine Ressource für die Klientel sozialer Dienste und in der psychiatrischen Versorgung. Eine Geschichte ist im Grunde niemals zu Ende. Sie ist ein Experiment, ein Komma in der Kommunikation und kein Schlusspunkt. Reflexion: Rackern Sie sich nicht zu sehr ab, um »kreativ« zu sein. In meiner praktischen Arbeit gab es Zeiten, in denen die Geschichtenproduktion florierte, und es gab Zeiten, in denen mir die Ideen ausgingen. Wenn ich mich zu sehr bemühte, »kreativ« zu sein, ging ich von einer falschen Prämisse aus. Inspiration ist relational, in der Beziehung verortet. Die Methodik entfaltet sich leichter, wenn man sich weniger unter Zwang fühlt, »mit einer Antwort aufwarten zu müssen«. Kreativität kann sich jedoch entfachen, wenn man das Gefühl hat, dass etwas ganz anderes benötigt wird, um die Praxis zu beleben. Ein gewisses

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Maß an Risikobereitschaft ist dabei von allen Seiten erforderlich, wie auch die Bereitschaft, zu experimentieren, ohne im Hinterkopf ein klares Ergebnis zu haben. Wie bei Yasmin kam auch in der »Goldfischgeschichte« die Inspiration bei der jungen Billie und ihrer Mutter aus deren Bereitschaft, das Risiko einzugehen und mit mir zu experimentieren – und genau das zählt. Kreativität entsteht zwischen den Menschen (Wilson, 2017). Zum Abschluss noch ein Zitat von George Saunders über die Wichtigkeit, »Fiktion nicht als dekorativ« anzusehen, sondern als lebenswichtigen Beitrag dazu, wie wir uns und unsere Welt begreifen. Die Schriftsteller, auf die er sich bezieht, sind Anton Tschechow, Ivan Turgenev, Leo Tolstoy und Nikolai Gogol, die »einen veränderten, wenn man sie las. Die Welt schien eine andere, eine viel interessantere Geschichte zu erzählen, in der man eine bedeutsame Rolle spielen könnte und in der man Verantwortung hätte« (Saunders, 2021, S. 3).

Literatur Andersen, T. (Hrsg.) (1996). Das reflektierende Team: Dialoge und Dialoge über Dialoge (4., unveränd. Aufl.). Dortmund: verlag modernes lernen. Saunders, G. (2021). A Swim in a Pond in the Rain. London/New York: Bloomsbury Publishing. Stern, D. N. (2007). Der Gegenwartsmoment: Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Wilson, J. (2007). The Performance of Practice. London/New York: Routledge. Wilson, J. (2017). Creativity in Times of Constraint. A Practitioner’s Companion in Mental Health and Social Care. London/New York: Routledge.

Wie man Bilder für therapeutische Geschichten mit Kindern findet1 JIM WILSON

Geschichten ermöglichen es uns, das Unsägliche auszusprechen. Unter Einbeziehung von systemischen, konstruktivistischen und narrativen Techniken zeigt dieser Aufsatz die Entwicklung einer therapeutischen Geschichte für eine Siebenjährige und ihre Mutter.

Einführung In Übereinstimmung mit anderen Therapeuten aus den letzten Jahren (z. B. Zilbach, 1986; White u. Epson, 1990; Larner, 1996; Wachtel, 1996; Selekman, 1997) behandelt dieser Aufsatz die Arbeit mit Kindern in einer Therapie. Alle diese Therapeuten sind bestrebt, die sprachliche Begegnung zwischen dem Kind und der Therapeutin auf das Alter des Kindes und sein Entwicklungsstadium abzustimmen. Dazu muss der Therapeut ständig darauf achten, wie er sich möglichst effektiv der Perspektive des Kindes annähern kann (Stith, Rosens, McCollum, Coleman u. Herman, 1996; Wilson, 1998). Ich beschreibe im Folgenden die Entstehung einer Geschichte, die aus den Gesprächen zwischen Billie, Billies Mutter Jenny und mir erwuchs. Darauf folgt meine Bewertung von systemisch beeinflussten, therapeutischen Geschichten und ich versuche aufzuzeigen, wie solche Konzepte entstehen. Meine Arbeitsweise vermeidet eine zu ausgeprägte Intentionalität aufseiten des Therapeuten. Stattdessen bevorzuge ich das aufmerksame, konzentrierte Zuhören mit einem »systemischen« Gehör und die Bereitschaft, die Gedanken wahrzunehmen, die während unserer Zusammentreffen mit Kindern in einer Therapie lebendig werden. 1

Das Original ist 2000 unter dem Titel »How Can You Tell when a Goldfish Cries? Finding the Words in Therapeutic Stories with Children« im Australian and New Zealand Journal of Family Therapy erschienen (Ausgabe 21 (1), 29–33). Die deutsche Übersetzung (Nina Schindler) wurde 2006 in der Zeitschrift »systhema« veröffentlicht (Ausgabe 20 (1), 5–13). Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Dr. Glenn Larner (Herausgeber »ANZJFT«) und Dr. Andreas Klink (geschäftsführender Redakteur »systhema«).

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Geschichtenerzähltherapie mit Kindern Fachleute haben den Nutzen von geschriebenen und erzählten Geschichten breit dokumentiert, die mit Metaphern und Symbolen arbeiten, mit denen sie das Interesse von Kindern in einer Therapie weckten (Combs u. Freedman, 1990, 1996; Dwivedi, 1997). Überall im Leben von Kindern findet man Geschichten, ganz gleich ob in Märchen und/oder Fernsehsendungen oder in Unterhaltungen auf dem Schulhof. Geschichten sind kulturell verknüpfte Konstruktionen und können hilfreich sein, um Kindern (wie Erwachsenen) in Notsituationen neue Interpretationen zu erschließen oder sie auf neue Gedanken oder zu neuen Deutungen ihrer Erfahrungen zu bringen. Aber wie kommen diese Geschichten zu uns? Falls Therapie eine gemeinsam konstruierte Erfahrung ist, dann muss die Therapeutin zunächst mal auf die Geschichten achten, die ihr der Klient erzählt. Die Bereitschaft, aufmerksam zuzuhören, ist von grundlegender Wichtigkeit, da dieses Zuhören Improvisationen ermöglicht, die zu der Erfindung einer besonderen Geschichte führen können, die dann etwas mit der Situation der Klientin zu tun hat.

Erste Begegnungen mit Billie und Jenny Die siebenjährige Billie wird von ihrer Mutter Jenny zu mir gebracht. Jenny ist auf einem Auge blind: die Folge eines gewalttätigen Angriffs ihres Partners, dem Vater von Billie, neun Monate zuvor. Billie war dabei, als ihre Mutter geschlagen wurde, und wischte hinterher das Blut auf, »damit es wieder besser wurde«. Jennys Partner Bill ist jetzt im Gefängnis, aber er wird in einem Jahr entlassen. Die Mutter sucht nach Hilfe für Billie, die wechselweise ängstlich oder anmaßend ist und die Geduld ihrer Mutter manchmal sehr stark strapaziert. Seit der letzten gewalttätigen Auseinandersetzung, die zur Gefängnishaft ihres Partners führte, versucht Jenny, eine neue Wohnung zu finden. Sie möchte fliehen. Sie plant eine Zukunft mit ihrer Tochter in einer anderen Gegend und wird dabei von einer (Trauma-)Beraterin aus einem Frauenhaus unterstützt. Während des ersten, unruhigen Beratungsgesprächs spielt Billie sehr leise für sich und die Mutter spricht hastig über ihre Situation und ihre Ängste um ihre Tochter. Jenny möchte, dass ich ihrer Tochter bei der Verarbeitung der Gewalttätigkeit ihres Vaters helfe, bei der sie Zeugin wurde. Während der nächsten Begegnungen mit der Mutter entwickelt sich langsam ein Bild der inneren Verletzungen, die Jenny erlitten hat. In den Gesprächen mit mir wird Billie etwas

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sicherer und erzählt von ihren Freundinnen, aber sie spricht nicht von den Angriffen ihres Vaters auf ihre Mutter.

Der Goldfisch Melissa Die folgende Geschichte kam mir in den Sinn als eine Möglichkeit, mit Billie über dieses nicht in Worten fassbare und vielleicht sogar nicht mal denkbare Ereignis zu kommunizieren. Das Thema der Geschichte von den zwei Goldfischen basiert auf Billies Spiel und unseren gemeinsamen Gesprächen. Die Geschichte ist ein Angebot und basiert auf meinem Verständnis von Mutter und Tochter. Billie besitzt zwei Goldfische. Die Geschichte war 1998 eine Art Weihnachtsgeschenk für Billie, die ihre Mutter ihr vorlesen sollte, wenn sie den Zeitpunkt dafür für gekommen hielt. Als ich ihr die Geschichte gab, akzeptierte sie sie als Gegengeschenk für den Spielzeugbären, den sie mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Eine Geschichte für Billie Melissa war ein ungemein hübsches, junges Fischlein. Sie war ein Goldfisch. Sie schwamm fröhlich in ihrem Goldfischglas herum, flitzte zwischen den Wasserpflanzen umher und spielte mit ihrer Mutter Samantha. Samantha war ein stolzer und schöner Goldfisch. Sie und Melissa schwammen gern umeinander herum und schauten sich die Welt durch ihr Goldfischglas an. (Hast du schon mal überlegt, was ein Goldfisch sieht, wenn er durch diese Glaswand schaut? Wahrscheinlich sieht er seltsame Gestalten und Fernseher und wundert sich, was diese Typen da draußen machen.) Eines Tages wollten Melissa und ihre Mutter gerade einen Happen essen (wie durch ein Wunder fielen Ameiseneier vom Himmel). Plötzlich gab es ein mächtiges Platschen! Plötzlich war da ein sehr gut aussehender neuer Goldfisch. Auf seinem Rücken war eine schwarze Linie und er hatte silberne Kiemen. Nach der ersten Überraschung verstanden sich Samantha und Melissa sehr gut mit diesem neuen, schönen Silberprinz (so beschlossen sie ihn zu nennen). Sie mochten ihn gut leiden, denn er brachte sie zum Lachen, und das Leben im Goldfischglas war so richtig schön … Aber als sie eines Tages umherschwammen, sagte der Silberprinz: »Dieses Goldfischglas ist zu klein und ihr (er zeigte auf Samantha und Melissa) braucht viel zu viel Platz!« Samantha und Melissa erschraken und bekamen Angst. Sie rissen ihre Goldfischaugen weit auf und ihren Mund noch weiter.

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Bevor Samantha dem Silberprinz sagen konnte, dass das ihr Glas war und niemand anderem gehörte, schlug er so hart mit seiner Rückenflosse zu, dass sie gegen die Glaswand geschleudert wurde und sich an den Flossen sehr weh tat. Sie lag da und konnte nicht aufstehen. Melissa hatte schreckliche Angst. (Es war diese Angst, wenn man nichts mehr sagen kann und auch nicht mehr weiß, was man fühlt. Man weiß nur, dass etwas Schlimmes passiert ist und dass man das nicht mag.) Melissa wollte, dass alles wieder so schön werden sollte wie früher. Sie wollte, dass das Leben im Goldfischglas wieder fröhlich war. Sie wollte, dass der Silberprinz wieder lieb sein sollte und freundlich zu ihr und ihrer Mama war. Sie wollte, dass er sie lieb hatte, denn ganz tief innen drin hatte sie ihn schrecklich gern und manchmal hatte sie mit ihm großen Spaß. Aber jetzt hatte er etwas Schlimmes getan, und sie konnte das überhaupt nicht begreifen. Langsam richtete Samantha sich wieder auf und schwamm. Es dauerte eine Zeit lang und sie hatte immer Angst vor dem, was der Silberprinz als Nächstes tun würde. Lange Zeit redeten Samantha und Melissa nicht miteinander. Sie versteckten sich hinter den Wasserpflanzen. Der Silberprinz schwamm umher, als ob er der König des Meeres wäre. Melissa und ihre Mama waren sehr unglücklich. Das zeigte sich in ihrem Schweigen, oder darin, dass sie manchmal sehr wütend wurden und mit den Schwanzflossen um sich schlugen. Aber sie weinten nicht, wie Menschen das tun (vielleicht, weil ihre Tränen aus Wasser sind und wir deshalb nicht sehen können, wenn ein Goldfisch weint). Aber eines Tages gab es ein anderes gewaltiges Platschen. Als Melissa und Samantha diesmal die Augen aufmachten, war der Silberprinz verschwunden. Zuerst konnten Samantha und Melissa das gar nicht glauben. Sie seufzten erleichtert durch die Kiemen und schwammen größere und immer größere Kreise um die Wasserpflanzen, bis sie sich wieder etwas heimischer fühlten. Samantha sagte: »Ich wüsste gern, wohin er gegangen ist.« »Ich hoffe, er ist für immer weg!«, sagte Melissa. »Ich will ihn nie wieder sehen. Er hat dich so schlecht behandelt. Er hätte dich nie mit seiner Schwanzflosse schlagen und dir so wehtun dürfen. Das ist unser Goldfischglas. Das war auch immer unser Glas. Warum hat er alles kaputt gemacht?« Samantha wusste nicht, wie sie das ihrer Tochter erklären sollte. Sie hatte den Silberprinz ja auch einmal sehr, sehr gern gemocht. »Wie ist das nur möglich?«, fragte sie sich in der Goldfischsprache. »Wie kann man jemanden nur so sehr mögen und der tut einem trotzdem so weh? Das verstehe ich nicht.« Deshalb schwamm sie aufgeregt im Kreis herum und versuchte, das zu begreifen. Allmählich, nach vielen Goldfischwochen und -monaten und nach einem ganzen Goldfischjahr fühlten Melissa und Samantha sich wieder sicher. Aber eine große Sorge quälte sie noch.

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Weißt du, welche Sorge das war? Ihre Sorge war, dass es irgendwann einmal wieder ein großes Platschen geben würde und der Silberprinz wäre wieder da. Davor hatten Samantha und Melissa große Angst. (Wenn Menschen Angst haben, denken sie manchmal, man sollte besser nicht über Angst sprechen, und das kann ich verstehen, denn wir möchten alle gern die Dinge vergessen, die uns Angst machen.) Während Melissa im Goldfischglas herumschwamm, überlegte sie: »Wenn ich nun netter zum Silberprinz gewesen wäre – hätte er mich und meine Mama dann lieber gehabt? Vielleicht bin ich daran schuld, dass er meiner Mama so wehgetan hat, aber ich habe keine Ahnung, was ich falsch gemacht habe. Vielleicht hätte ich ihm mehr von meinem Futter abgeben oder ihn öfter hinter den Wasserpflanzen spielen lassen sollen? Obwohl ich so wütend auf ihn bin, wüsste ich doch manchmal, nur manchmal, gern, wie es ihm geht und ob er unglücklich ist. Lebt er jetzt ganz allein in einem anderen Goldfischglas oder hat er einen Freund? Wie sieht er jetzt wohl aus? Ich wüsste gern, ob er noch die silbrigen Kiemen und den schwarzen Strich auf dem Rücken hat. Werde ich keine Angst haben, falls ich ihn einmal wiedersehe?« Melissas Mutter war manchmal traurig wegen allem, was passiert war. Sie dachte sogar: »Vielleicht war alles meine Schuld. Wenn ich ihn doch nur auf Abstand gehalten hätte. Wenn ich doch nur etwas energischer mit ihm geredet hätte. Wenn ich doch nur rechtzeitig gemerkt hätte, dass er das Goldfischglas für sich allein will. Vielleicht ginge es Melissa dann nicht so schlecht.« Sie wollte Melissa sagen, dass sie sie sehr lieb hatte und dass ihr schrecklich leidtat, was passiert war. Aber es geschahen auch ein paar schöne Dinge: Das Goldfischglas sah jetzt wieder so schön aus wie früher. Das Wasser war ruhig. Sie konnten leichter durch die Kiemen atmen. Samantha machte tolle Pläne. Sie war jetzt ein stärkerer Goldfisch geworden. Melissa fand das gut. Ihr fiel auf, dass Samantha jetzt bei ihren Streifzügen durch das Goldfischglas wieder rascher schwamm. Melissa spielte jetzt auch manchmal wieder. Sie hob Kieselsteinchen auf und spielte damit. Sie flitzte wie früher zwischen den Wasserpflanzen hin und her! Sie hätte gern wieder mehr Freunde gehabt. Ihr fiel ein, dass Goldfische ja eigentlich in Schwärmen herumschwimmen, und als sie sich das vorstellte, ging es ihr richtig gut. Sie zuckte mit der Schwanzflosse und sauste durch das Goldfischglas. Ganz allmählich merkte sie, dass sie sich nach diesem langen Goldfischjahr allmählich wieder sicherer fühlte. Das ist das Ende von diesem Abschnitt von Melissas Geschichte – es könnte noch mehr Abenteuer geben und man könnte noch viel sagen, aber das ist bislang Melissas Geschichte. (Was meinst du, was wird als Nächstes geschehen?) ENDE (bis jetzt)

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Der Kontext der Geschichte und das Vorlesen Der Zeitpunkt, an dem ich Billie und ihrer Mutter die Geschichte gab, musste genau überlegt sein. Das Austauschen von Weihnachtsgeschenken schien Billie und mich in gegenseitiger Sympathie und wachsendem Vertrauen weiter zusammenzubringen. Billies Spiel war sehr bruchstückhaft gewesen und ihre Mutter war so mit ihren Ängsten beschäftigt und oft so außer sich, dass ich manchmal kaum Luft holen konnte, bevor noch mehr Geschichten über die erlittenen Schmerzen und Entsetzen auf mich niederprasselten. Jenny und ich sprachen darüber, wie sie die Geschichte ihrer Tochter am besten vorlesen sollte. Ich betonte, dass Jenny das am besten beurteilen konnte und dass sie sich nicht zum Vorlesen verpflichtet fühlen sollte – es sei denn, sie war sich sicher, dass es der richtige Zeitpunkt war. Mit dieser Instruktion wird der Elternteil aktiv beteiligt, er übernimmt die Verantwortung für das Erzählen und Hören der Geschichte. Wie Penn und Frankfurt (1994) nachweisen, führte dieses Vorlesen die Mutter zu einem Wiederverstehen ihrer eigenen Position, wenn sie sich selber die Geschichte in dieser metaphorischen Form vorlesen hört, denn die spricht zu ihrer eigenen Not genau wie zu der ihrer Tochter. Nach Weihnachten kamen Jenny und Billie wieder und ich erfuhr, dass Jenny beschlossen hatte, die Geschichte in einzelnen Absätzen vorzulesen. Dadurch ergab sich bis zum nächsten Lesen mehr Zeit zum Nachdenken und für Gespräche zwischen Mutter und Tochter. Die Geschichte vom Goldfisch wurde zu einem nicht bedrohlichen Mittelpunkt. Die bildhaften Übereinstimmungen in der Erfahrung von Mutter und Tochter waren dicht genug, ohne sie zu sehr zu bedrohen. Wie bei anderen, weniger direkten Annäherungen war es für mich wichtig, die Bedeutungen der Geschichte nicht zu »überfrachten«. Es ist sinnvoller, die Interpretationen offen zu lassen, weil man damit die Möglichkeit vermeidet, eigene Vorurteile hineinzulegen. Nach neun Monaten nähert sich nun meine Arbeit mit Jenny und Billie ihrem Ende. Als ich mich zum letzten Mal mit ihnen in ihrem neuen Zuhause traf, spielte Billie mit mir »umziehen« und wies mir die Rolle eines Nachbarn zu. Als kurze Zeit später ihre Freundinnen kamen, um sie zum Schwimmen abzuholen, war ich insgeheim froh darüber, dass ich nun wieder in die Welt der Erwachsenen verbannt wurde.

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Warum systemisch? Unsere beruflichen Theorien sind, genau wie unsere persönlichen Erlebnisse, Quellen der Erfahrung und der Ressourcen, von denen wir zum Vorteil unserer Klienten zehren können. Systemische Therapie wird durch narrative und sozialkonstruktivistische Ideen geprägt, und ich bin immer wieder davon angetan, wie in der Therapie die inneren Erfahrungen von Kindern zueinander in Beziehung gesetzt werden können und wie ihnen mehr Ausdrucksmöglichkeiten verschafft werden. Auf diese Weise können wir versuchen, den gemachten Erfahrungen erweiterte, weniger Schuld zuweisende oder einengende Bedeutungen zu geben. Ich gehe davon aus, dass die Traumata eines Kindes mit anderen zentralen Themen und innerlichen Reaktionen oft widersprüchlich verknüpft sind: Der Verlust des einen Elternteils durch die Haftstrafe und die zuvor gemachte schreckliche Gewalterfahrung bestehen parallel zu dem Wunsch, mit dem Vater irgendwie in Kontakt zu stehen. In den vorangegangenen Sitzungen mit Jenny und ihrer Tochter wurde auf diese Themen nur am Rand eingegangen, aber es reichte, um sie für beide als Themen in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen. Die Absicht jeder angebotenen Geschichte beinhaltet eine inhärente systemische Logik (Cecchin, Lane u. Ray, 1993). Der Verfasser versieht sie mit einer Orientierung, die dazu beiträgt, die Sicht der Klientinnen komplexer zu machen. Letztendlich erhält die Geschichte die Form einer systemischen Erzählung, die dem Kind und seiner Mutter angeboten wird.

Der Standort des Verfassers Eltern haben immer die Möglichkeit, ihre eigenen Geschichten zu schreiben, und für Kinder und Therapeutinnen gibt es immer die Möglichkeit, sich auf eine gemeinsame Schreibexpedition zu begeben (Marner, 1995). Stammt die Geschichte vom Therapeuten, liegt der Schlüsselgedanke in der Anwendung systemischer Logik in Bezug auf die Situation eines Kindes. Das hilft der Therapeutin, die verschiedenen Charaktere nicht zu hart zu beurteilen (in diesem Fall z. B. den Vater). Die Figuren werden weder dämonisiert noch heiliggesprochen, da dies nur über eine Dimension des betreffenden Erwachsenen im Leben des Kindes etwas aussagt. Diese Geschichten haben keine romantischen Happy Ends, sondern ein wichtiges Element ist im Gegenteil, dass darin vielleicht irgendeine ansonsten unaussprechbare Wahrheit ausgedrückt wird. Für den Therapeuten sind die Erzählungen der Klientin und die Qualität der

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therapeutischen Beziehung unabdingbare Voraussetzungen, um eine sinnvolle Beziehung zwischen Geschichte, Zuhörer und Erzählerin zu schaffen. Wenn die Geschichte »zu hilfreich daherkommt«, riskieren wir, dass man uns für naiv hält. Wenn wir zu sehr von unserer Begeisterung hingerissen werden, verlieren wir vielleicht die Skepsis des Klienten aus dem Auge. Wenn wir uns zu sehr auf die Botschaft der Geschichte konzentrieren, riskieren wir, dass wir zu Moralaposteln werden. Diesen Fallen muss die Therapeutin ausweichen und gleichzeitig eine bedeutungsvolle Geschichte erfinden, in der neue Möglichkeiten angeboten werden, die vom Leser und Zuhörer verstanden werden können. Die Geschichten verwenden Symbole und Metaphern, um die Fantasie des Kindes anzuregen. Im Mittelpunkt all dieser Bemühung steht der Wunsch des Therapeuten, die Welt, so weit wie irgend möglich, durch die Augen des Kindes zu sehen. Diese Art systemischer Empathie hilft, die wesentlichen Themen der Geschichte zu formulieren. Die allgemeine Haltung ist der Haltung der Fachleute ähnlich, die in Reflecting Teams und Prozesse eingebunden sind (Andersen 1987; 1990). Das Ziel des Geschichtenschreibers ist der Versuch, die Situation des Kindes wertzuschätzen, anstatt sie zu beurteilen oder Deutungen der Wirklichkeit des Kindes anzubieten. Vielleicht wird dieses Ziel am besten in der folgenden Behauptung des Schriftstellers Fernanda Everstadt ausgedrückt: »Kinder sind Amnesiepatienten hinter feindlichen Linien […] Kindsein bedeutet vor allem ein Fluss von kühnem und heimlichem Erraten, festgefahrene Ideen werden fortlaufend entwurzelt durch verschlüsselte zaghafte Neubearbeitung […]. Alle unsere Energie und List dienen dazu, uns zurechtzufinden, ohne durchscheinen zu lassen, dass wir unwissend und verwirrt sind« (zit. nach Moore, 1997).

Resümee Mit Kindern Geschichten zu erfinden und sie ihnen zu schenken, kann das therapeutische Potenzial verstärken, indem man ein kindernahes Idiom verwendet. Schon die Beteiligung der Therapeutin beim Gestalten, Strukturieren und Anbieten einer maßgeschneiderten Erzählung für eine Familie kann den Rapport und die Motivation im therapeutischen Prozess verstärken. Entscheidend für die eigene Anregung der Fantasie ist die Aufmerksamkeit, die man der Fantasie des Kindes im gemeinsamen Spiel und Gespräch widmet. Diese Fähigkeit, kombiniert mit realistischem Optimismus, ist notwendig für die Entstehung von fallspezifischen Geschichten. Die Notwendigkeit zu struk-

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turieren sollte für den Therapeuten keine Strafarbeit sein. Für die Inspiration zu Geschichten genügt es der Therapeutin oft, den Reden der Kinder zuzuhören und sich von ihrem Spiel leiten zu lassen. Danksagung: Dank den KollegInnen und AusbildungsteilnehmerInnen an The Family Therapy Institute, am Newry Family Resource Centre, Diamond House und anderen im Nordirland Network für das Beisteuern ihrer Sicht der Dinge.

Literatur Andersen, T. (1987). The Reflecting Team: Dialogue and Meta Dialogue in Clinical Work. Family Process 26, 415–428. Andersen, T. (Ed.) (1990). The Reflecting Team. New York: W. W. Norton. [auf Deutsch: 1990. Das Reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über die Dialoge. Dortmund: verlag modernes lernen.] Cattanach, A. (1997). Children’s Stories in Play Therapy. London: Jessica Kingsley. Cecchin, G., Lane, G., Ray, W. (1993). Respeklosigkeit – eine Überlebensstrategie für Therapeuten. Heidelberg: Carl-Auer. Combs, G., Freedman, J. (1990). Symbol, Story & Metaphor. New York: W. W. Norton. Dwivedi, K. N. (Ed.) (1997). The Therapeutic Use of Stories. London: Routledge. Freedman, J., Combs, G. (1996). Narrative Therapy – The Social Construction of Preferred Realities. New York: W. W. Norton. Killick, S., Wilson, J. J. (1999). Weaving Words and Emergent Stories. In B. Bowen, G. Robinson (Ed.), Therapeutical Stories. Canterbury, Kent: AFT Publications. Larner, G. (1996). Narrative Child Family Therapy. Family Process 35, 423–440. Marner, T. (1995). Therapeutic Letters To, From and Between Children in Family Therapy. Journal of Social Work Practice 9 (2), 169–176. Moore, L. (Ed.) (1997). The Faber Book of Contemporary Stories about Childhood. London/Boston: Faber & Faber. Penn, P., Frankfurt, M. (1994). Creating a Participant Text: Writing, Multiple Voices, Narrative Multiplicity. Family Process 33 (3), 217–231. [auf Deutsch: 1996. Dialogische Räume – Schreiben, Vielstimmigkeit, narrative Vielfalt und Teilnehmertexte. Familiendynamik 21 (2), 183–202.] Selekman, M. D. (1997). Solution Focused Therapy with Children. New York, London: Guilford Press. Stith, S. M., Rosens, K. H., McCollum, E. E., Coleman, J. U., Herman, S. A. (1996). The Voices of Children: Preadolescent Children’s Experiences in Family Therapy. Journal of Marital and Family Therapy 22, 69–86. Wachtel, E. F. (1994). Treating Troubled Children and their Families. New York/London: Guilford Press. White, M., Epston, D. (1990). Narrative Means to Therapeutic nds. New York: W. W. Norton. [auf Deutsch: 1990. Die Zähmung der Monster. Literarische Mittel zu therapeutischen Zwecken. Heidelberg: Carl-Auer.] Wilson, J. (1998). Child Focused Practice – A Collaborative Systemic Approach. London: Karnac. [auf Deutsch: 2003. Kindorientierte Therapie. Ein systemisch-kooperativer Ansatz. Heidelberg: Carl-Auer.] Zilbach, J. (1986). Young Children in Family Therapy. New York: Brunner/Mazel.

Paare einladen, ihre Beziehungsgeschichte zu bereichern. Narrative Impulse für die Paartherapie JASMINA SERMIJN

Vorbemerkungen Paare kommen oft zur Therapie, wenn sie das Gefühl haben, dass sie gemeinsam nicht mehr weiterkommen. Sie haben sich in ihren Geschichten und den sich wiederholenden Mustern des Sprechens und des Umgangs miteinander verfangen. Jede Erfahrung, jedes Element im Zusammenleben bleibt in der Problemgeschichte hängen, sodass bereichernde und hoffnungsvolle Geschichten von Identität und Beziehung außer Sichtweite geraten. Ich möchte zeigen, wie der narrative Ansatz sowohl Paaren als auch Therapeuten helfen kann, die »Beziehungsflügel« auszubreiten. Anhand eines Fallbeispiels gibt dieser Artikel Einblick in einige narrative Ideen in Aktion und lädt Leserinnen und Leser ein, sie in der Praxis umzusetzen. Dabei geht es darum, gemeinsam einen Raum zu schaffen, ein Ohr und ein Auge für dominante Diskurse und Problemgeschichten zu haben und eine Nase für alles, was nach wünschenswerten Geschichten riecht.

Beziehungsflügel ausbreiten Ness:  »Für mich ist es fünf vor zwölf! Wenn er sich nicht ändert, weiß ich nicht, was ich sonst tun soll. Ich weiß es nicht mehr. Ich möchte nicht mit einem Mann zusammenleben, der ständig schreit und schimpft. Ich möchte keine Dienstbotin sein und ich möchte nicht, dass meine Kinder in einer Familie aufwachsen, in der es so viel Ärger und Geschrei gibt. Ich kann nicht mit ihm reden, denn sobald ich etwas sage, fängt er an zu schnauben wie ein wildes Pferd. Wenn ich mir andere Paare anschaue, dann können die wenigstens miteinander reden.« Marc:  »Übertreibe nicht! Das ist dein Problem: dass du immer alles übertreibst. Du tust so, als sei ich ein Tyrann. (Zum Therapeuten:) Ich schnaube nicht die ganze Zeit wie ein wildes Pferd, aber wenn ich es nicht tue, hört niemand auf

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mich! Ich verstehe nicht, warum sie so ein Fass aufmacht. Es ist nie gut genug für sie, alles, was ich tue, ist nicht gut genug. Ich kann sie anscheinend nicht zufriedenstellen!«

Wenn Paare den Therapieraum betreten, erleben sie sich, ihren Partner und die Beziehung oft als in einem Reich der Probleme gefangen. Verfestigte Beschreibungen, einschränkende Zuschreibungen und Problemgeschichten füllen den Raum wie große alte Bäume, um die man nicht herumkommt. Jede Erfahrung, jedes neue erzählerische Element heftet sich wie ein Blatt an denselben Baum, hoffnungsvolle Beziehungsgeschichten verschwinden weiter aus dem Blickfeld. Das obige Beispiel zeigt, wie Ness von Marc auf die »Frau, die alles übertreibt« reduziert wird, für Marc wird sie zur »Frau, für die nichts je gut genug ist«. Ness reduziert sich selbst auf eine »Dienstbotin«, Marc wird von ihr auf den »schreienden und schimpfenden Ehemann und Vater« reduziert, der sich gebärdet wie wild, Marc beschreibt sich als »Mann, der seine Frau nicht zufriedenstellt«. Die Beziehung wird auf eine negative Interaktionsspirale reduziert, »im Vergleich zu unseren Freunden sind wir kein gutes Paar, weil wir nicht miteinander reden können«. Beide teilen eine verarmte Denkweise über sich selbst, den anderen und die Beziehung. Dies führt zu Gefühlen von Frustration, Ohnmacht und Unfreiheit. Narrative Paartherapeutinnen helfen Paaren, die »Baumgeschichten«, in denen sie feststecken, zu dekonstruieren und Platz für bereichernde Beziehungsund Identitätsgeschichten zu schaffen. Ausgangspunkt dabei ist die Bedeutung, die die Partner den dicken alten Bäumen selbst geben. Wie beschreiben und verstehen sie ihre Beziehung und ihre Beziehungsprobleme? Und wie beschreiben sie eine wünschenswerte Beziehung? Im nächsten Teil dieses Textes werden wir anhand eines Beispiels veranschaulichen, dass narrative Ideen in der Paartherapie inspirierend wirken können. Wir werfen einen Blick auf einige narrative Methoden in der Praxis und möchten die Leserinnen ermutigen, einiges davon in die Praxis umzusetzen. Der Artikel bietet weder eine vollständige Übersicht noch einen festen Leitfaden, sondern zeigt, wie der narrative Ansatz sowohl Partnern als auch Therapeutinnen dabei helfen kann, ihre Beziehungsflügel auszubreiten.

Einen Raum für gemeinsame Gespräche schaffen Wenn wir die Sinngebung beider Partner erforschen wollen, ist es wichtig, von der ersten Sitzung an gemeinsam einen Gesprächsrahmen zu schaffen, der es ermöglicht, dass die Stimme jeder Einzelnen gleichermaßen gehört wird. Viele

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Paare bleiben in wenig hilfreichen Kreisen von Aktion und Reaktion stecken, die wenig Raum für Erkundung und Reflexion lassen. Paare können im Handumdrehen in gewalttätige Konflikte verwickelt werden. Der Therapeut kann so in eine unerwünschte Position des machtlosen Beobachters, Anwalts, Polizisten oder Richters geraten. Als Therapeutin ist es sehr wichtig, von Anfang an die Führung im Prozess zu übernehmen und gemeinsam mit dem Paar einen Rahmen für ein Gespräch zu schaffen, das die festgefahrenen Gleise verlässt: z. B., indem beide Partner eingeladen werden, sich mit Sprechen und Zuhören abzuwechseln (siehe auch Freedman u. Combs, 2002). Das kann die AktionsReaktions-Kreise unterbrechen und zum Nachdenken anregen. Ein Partner wird eingeladen, auf Erkundungsreise bezüglich seiner Ideen und Vorstellungen zu gehen, der andere hört schweigend zu und versucht die Perspektive der anderen Person zu verstehen. Ness:  »Wenn ich versuche, ihm etwas zu sagen, was er nicht mag, fängt er an zu schreien und herumzuknurren. Er kann einfach nicht reden.« Marc:  »Da haben wir’s wieder, es liegt alles an mir. Wenn ich nicht schreie, dann wirst du mich nicht hören, sie …« Therapeutin:  »Warten Sie, nicht zu schnell. Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich versuche besser zu verstehen, was Sie hier sagen? Darf ich mit Ihnen beginnen, Ness? Marc, würden Sie sich bitte zurücklehnen und entspannen, während ich versuche zu verstehen, was Ness sagen will? Wenn es zu viel Mühe macht, zuzuhören und nicht zu sprechen, lade ich Sie ein, aufzuschreiben, was Sie zu sagen haben. Ich komme danach wieder auf Sie zu.«

Der Therapeut nimmt die Position des Gesprächsführers ein (Anderson, 2012) und stellt sicher, dass die Stimmen beider Partner gehört werden. Er spielt die Rolle des Moderators und Forschers, versucht, die Geschichte des Problems aus der Perspektive beider Partner zu verstehen, und sucht nach erzählerischen Elementen, die etwas darüber aussagen, was dieses Paar in seiner Beziehung will und schätzt. Da diese Elemente normalerweise nicht im Vordergrund stehen, erfordert dies eine spezielle Zuhörhaltung und bestimmte Fragetechniken. Die Therapeutin öffnet die Ohren und Augen, hinterfragt (verinnerlichte) Diskurse, sucht nach Ausnahmen und gemeinsamen Werten und versucht, diese zu aussichtsreichen Handlungssträngen zu verbinden.

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Die Ohren und Augen der narrativen Paartherapeuten Die Art und Weise, wie Sie als Therapeutin zuhören, ist gefärbt von Ihrer Sicht auf Bedeutung. Narrative Therapeuten gehen davon aus, dass Menschen sich selbst Bedeutung geben, anderen und der Welt um sie herum einen Sinn geben, indem sie erzählen. In der narrativen Sichtweise sind Geschichten kein Spiegel der Realität, sondern konstituieren die Wirklichkeit. Paare leben die Geschichten, die sie erzählen. Die Geschichten prägen die Weise, auf die Menschen sich selbst, andere und ihre Beziehungen sehen und erleben. Ausgehend von dieser Vorstellung suchen narrative Therapeutinnen nicht nach tiefer liegenden Ursachen von Problemen oder nach »Realitäten« wie individueller oder Beziehungspathologie. Sie konzentrieren sich auf die Art und Weise, wie jeder, der Partner sich selbst, den anderen und die Beziehung erzählerisch gestaltet. Therapeutin:  »Welche Aspekte von Ihnen, Ness, treten in dieser Beziehung im Moment besonders hervor?« Ness:  »Das von der nörgelnden Ehefrau, ich stelle mich ständig auf den Kopf, und wie ich sagte: Manchmal fühle ich mich auch wie eine Dienstbotin.« Therapeutin:  »Wenn Sie sich selbst zuhören, wie Sie diese Aspekte auf diese Weise beschreiben, passt das zu dem, was Sie in dieser Beziehung sein möchten?« Ness:  »Natürlich nicht, ich würde viel lieber …« Therapeutin:  »Welche andere Version von sich selbst würden Sie gerne mehr in den Vordergrund stellen, Ness?« Therapeutin:  »Welche Version von Ihnen, Marc, ist im Moment besonders präsent in dieser Beziehung?« Marc:  »Das eines schnaubenden Pferdes. Und ja, ich habe das Gefühl, ich kann nie genügen.« Therapeutin:  »Verstehe ich Sie richtig, wenn Sie sagen, dass Sie in Ihrer Beziehung zu Ness besonders als schnaubendes Pferd auftreten und als Mann, der seine Frau nicht zufriedenstellt?« Marc:  »Ja, und das will ich natürlich auch nicht. Ich würde sie gern zufrieden sehen.«

Beim Erkunden und Zuhören behält der Therapeut im Hinterkopf, dass die Sprache, die Menschen verwenden, um Bedeutung zu vermitteln, niemals neutral ist. Lokale Identitäts- und Beziehungsnarrative sind immer gefärbt durch gesellschaftliche Narrative und Diskurse, wie z. B. die über Geschlecht oder gute und schlechte Paarbeziehungen, die Einfluss darauf haben können, wie Paare ihre Beziehungen gestalten und erleben. Begriffe wie »nörgelnde Ehefrau« und

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»Dienstbotin«, und Gedanken wie »Als Mann muss ich meine Frau zufriedenstellen« oder »Eine Beziehung ist nur gut, wenn die Partner miteinander reden können«, drücken gesellschaftliche Diskurse aus, die im Denken, Sprechen, Tun und Erleben der Menschen Niederschlag finden. Narrative Therapeutinnen gehen davon aus, dass Probleme entstehen, wenn ein Diskurs oder eine dominante Geschichte sich so sehr in ihrem Denken und Sein festsetzen und dass sie Menschen daran hindern, ihre bevorzugten Geschichten zu leben. Ness:  »Es stimmt, dass ich mich viel darüber aufrege. Ich mache mir wirklich Sorgen um die Auswirkungen seines Schreiens auf die Kinder, wie werden sie später Beziehungen leben? Ich versuche, ihm das vor Augen zu führen, aber er ignoriert es oder bügelt es ab. Es fühlt sich an wie meine Aufgabe, ihn hier zu stoppen.« Marc:  »Da ist wieder ihr Zeigefinger, ich habe wirklich das Gefühl, dass ich nie etwas richtig machen kann. Wenn sie mich dann offen vor den Kindern kritisiert, na ja, das kann ich nicht aushalten. Ich kann es einfach nicht ertragen!«

Der obige Ausschnitt zeigt, wie Geschlechter- und Machtdiskurse in das Denken und Zusammenspiel von Ness und Marc hineinregieren. Ness erlebt den Genderdiskurs, der vorschreibt, dass Frauen für das emotionale Wohlbefinden der Kinder und für die Vorbildfunktion zuständig sind. Sie erlebt Druck und Ohnmacht, wenn ihr Mann diese Form der kulturell auferlegten Verantwortung infrage stellt. Marc erlebt den Genderdiskurs, der vorschreibt, dass »Männer ihre Frauen zufriedenstellen müssen«, und fühlt sich wie ein Versager, wenn er darin nicht erfolgreich ist. Außerdem versucht er, die kulturell auferlegte Position beizubehalten, die vorschreibt, dass ein Mann und Vater sich nicht von einer Frau unterbuttern lässt. Das Sichtbarmachen dieser Diskurse hilft dem Paar, die Probleme, die es erlebt, in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Das Paar gewinnt mehr Einsichten darin, wie sich gesellschaftliche Vorstellungen rund um Gender und Partnerbeziehungen negativ auf ihre Beziehung auswirken und wie es durch die Teilnahme an diesen Diskursen ungewollt die Probleme verstärkt.

Die Spürnase der narrativen Paartherapeuten Narrative Therapeutinnen sollten neben guten Ohren und Augen auch eine gute Nase für alles haben, was nach wünschenswerten Geschichten »riecht«. Ihre Spürfähigkeiten werden von Karten unterstützt, die sie immer bei sich tragen, wenn sie mit Paaren auf Reisen gehen. Im Folgenden zeigen wir, wie der Blick

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auf solche Karten Therapeuten und Klientinnen helfen kann, ein Gegengewicht zu einschränkenden Problemgeschichten zu finden, und sie zu ermutigen, andere Wege zu erkunden. Dekonstruktion des Problems: Externalisierung Der Begriff Dekonstruktion bezieht sich auf den Prozess der Infragestellung und Externalisierung von internalisierten Diskursen (White u. Epston, 1990, White, 1995). Das Externalisieren ist eine wirkungsvolle Methode: Probleme, die durch dominante Diskurse verstetigt werden, werden von den einzelnen Partnern und der Beziehung getrennt. Die Beziehung leidet unter einem Pro­ blem, sie ist nicht das Problem. Indem Sie aufmerksam auf die verinnerlichende Sprachanwendung hören, die die Klienten verwenden, und sie ständig auf eine externalisierende Sprache umlenken (White, 2007), helfen Sie ihnen, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass sie sich oft mit dem Problem gleichsetzen. Ein hilfreiches Werkzeug ist die Umwandlung von Adjektiven, die Klientinnen verwenden (»Er schreit wie ein schnaubendes Pferd«), in Substantive (»Wie lange begleitet Sie das Schreien und Schnauben schon?«). Die Therapeutin kann das Paar auch auffordern, das Problem zu personifizieren, indem sie ihm einen Namen geben (Vermeire u. Sermijn, 2018). In einer Paarbeziehung ist es wichtig, dass gerade das Beziehungsproblem personifiziert und externalisiert wird, anstatt mögliche individuelle Probleme der einzelnen Partner. Im Fall von Marc und Ness bedeutet das, dass der Therapeut darauf achten muss, dass er z. B. nicht einfach das Schreien und Schnauben (Verhalten, das hauptsächlich von Marc gezeigt wird), sondern eher das, was beide Partner erleben, zu externalisieren. Therapeutin:  »Sie geben beide an, dass Sie sich durch das Schreien und das Brüllen und das darauffolgende Schweigen und die Distanz gestört fühlen. Sie haben beide das Gefühl, in etwas gefangen zu sein, das Ihnen nicht gefällt und das Sie ändern wollen. Nehmen wir an, Sie würden diesem Etwas einen Namen geben. Welcher Name würde passen? Marc: »Ärger.« Ness:  »Du sagst immer dieses Wort, aber ich tue mich schwer mit Ärger. Also lieber nicht! Vielleicht ein Sturm? So fühlt es sich für mich an, wenn er …« Therapeutin:  »Warten Sie, langsam. Der Sturm, wäre das ein passender Name für das, womit ihr immer wieder zu kämpfen habt?« (schaut zu Marc) Marc:  »Ja, das passt, es ist ein Sturm, der vorbeizieht, einer manchmal heftiger als der andere.«

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Ness:  »Und manchmal spürt man einen Sturm kommen und manchmal nicht, und die Stille nach dem Sturm ist auch angemessen.« Gemeinsam mit dem Therapeuten untersuchen Ness und Marc, wie der Sturm genau aussieht. Auf diese Weise gelangen sie zu folgendem Steckbrief (siehe Vermeire, Beckers, Decraemer u. Faes, 2015).

----------------Der Sturm Alter: begleitet uns seit zehn bis 15 Jahren (vor allem, seit die Kinder da sind) Physikalische Merkmale: unterschiedlich in Größe und Intensität, aber meistens: • groß (füllt den ganzen Raum aus) • laut (Donner und Blitz) • kurz (< 15 Minuten) • kraftvoll (Gefühl des Mitgerissenwerdens)

-----------------Der Sturm bietet ein Bild, mit dem beide Partner einverstanden sind und das weiterverwendet und erforscht werden kann. Auf diese Weise wird ein Abstand zum Pro­blem hergestellt. Der Sturm wird zu einer eigenständigen Einheit mit eigenen Taktiken und Strategien, die Auswirkungen auf beide Partner und ihre Beziehung(en) haben. Der Sturm: Strategien und Auswirkungen Zusammen mit dem Therapeuten untersuchen Marc und Ness ein kürzlich stattgefundenes Ereignis, bei dem der Sturm anwesend war. Marc und Ness sitzen gemeinsam am Tisch. Sie sprechen über Wochenendpläne. Ness weist darauf hin, dass Tochter Anna bis Montag eine Präsentation vorzubereiten hat. Sie sagt, dass sie hofft, dass Marc sich dieses Mal Zeit nimmt, um Anna zu helfen. Bei den Worten »dieses Mal« schlüpft der Sturm sofort in Marcs Körper. Der Sturm drückt Marcs Adrenalinknopf, Marcs Adrenalinspiegel steigt rasant an und lässt seinen Körper vibrieren. Gleichzeitig brüllt der Sturm in Marcs Kopf: »Da ist sie wieder! Da ist wieder ihr Zeigefinger. Dieses Mal … Als ob du Anna noch nie geholfen hättest. Sie müssen wohl denken, dass du ihr Leibeigener, ihnen stets zu Diensten bist. Als Mann musst du dir das nicht gefallen lassen.« Der Sturm bringt Marc zum Explodieren und er beginnt laut zu schreien: »Glaubt ihr wirklich, dass das normal ist? ›Dieses Mal‹ … Als ob ich Anna noch nie geholfen

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hätte! Wenn du deine Tochter anständig erziehen und ihr sagen würdest, dass sie ihre Hausaufgaben ruhig früher beginnen könnte, dann …« Auch Ness kann dem Sturm nicht entkommen. Bei ihr wendet er andere Taktiken an. Er flüstert ihr zu: »Lass ihn toben, lass es an dir abperlen. Wenn er sich beruhigt hat und sich dir wieder zu nähern versucht, lass es ihn spüren, dass du dir das nicht gefallen lässt. Du bist doch keine Sklavin!« Der Sturm veranlasst Ness, sich unnahbar zu verhalten und Marc zu ignorieren. In den nächsten Stunden spricht sie nur mit den Kindern. Auch sie bemerken den Sturm, der durch das Haus tobt. Der Älteste versucht, ihn auf alle möglichen Arten zum Schweigen zu bringen, während der Jüngste vor dem Sturm flieht, indem er zu den Nachbarn geht. Als der Sturm sich gelegt hat, zieht sich Marc in sein Arbeitszimmer zurück. Die Auswirkungen des Sturms wirken noch nach. Er fühlt sich beschämt und schuldig. »Ich habe versagt, ich kann mich nicht beherrschen, ich habe meiner Frau und meinen Kindern Kummer bereitet.« Die Auswirkungen des Sturms sind auch bei Ness sichtbar, sie schämt sich ebenfalls für sich und die Kinder. »Ich bin eine Frau, die ihren Mann toben lässt, ich bin kein gutes Beispiel für die Kinder.« Es wächst der Gedanke, dass in ihre Beziehung etwas nicht stimmt und dass sie es nicht schaffen, etwas daran zu ändern. Stattdessen ziehen sie sich mehr und mehr aus der Beziehung zurück.

Die Kartierung der Präsenz, der Strategien, Taktiken und verstärkenden Diskurse des Problems helfen dem Paar zu verstehen, wie das Problem so viel Einfluss auf ihr Leben gewinnen konnte. Das Problem wird dekonstruiert und das Paar wird aufgefordert, seine Auswirkungen zu erforschen und darüber zu reflektieren. Es gilt gemeinsam zu überlegen, wie diese mit ihren Wertvorstellungen übereinstimmen, mit dem, was sie schätzen, oder auch nicht. Sowohl Marc als auch Ness wollen der Zerstörung entkommen, die der Sturm hinterlässt. Die Therapeutin fordert sie auf, die wichtigsten Auswirkungen des Sturms zu identifizieren und neu zu bewerten (Tab. 1).

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Tabelle 1: Auswirkungen des Sturms Auswirkungen des Sturms

Bewertung der Auswirkungen

Gewünschte Geschichten

Gefühle von Scham und Schuld sich selbst, dem Partner und den Kindern gegenüber

Überwiegend negativ. Wir wollen Scham und Schuld im Voraus vermeiden.

Negative Selbst- und Beziehungsaussagen

Negativ. Wir wollen sehen uns als (Eltern-)Paar sehen, das »gut genug« sowie ein Vorbild für die Kinder ist.

Emotionale Trennung voneinander

Negativ. Wir möchten uns gerne verbunden fühlen, auch wenn die Dinge weniger gut laufen.

Versuche, es wieder gut zu machen

Positiv. Aber es sollte besser nicht so weit kommen.

Das möchten wir gern: – Vertrauen in den jeweils anderen haben, ihm gute Absichten unterstellen  – sich aufeinander verlassen können, auch wenn die schwierig sind, – uns genügend Zeit füreinander nehmen, sodass wir wieder fühlen und darauf v­ ertrauen, dass wir ein gutes Team sind (Segeln, Motorrad­fahren, Sauna, Tanzen …). Diese gemeinsame Zeit führt dazu, dass der Sturm weniger Raum bekommt. Wir würden uns freuen, wenn unsere Kinder sehen können, dass wir ein gutes Team sind.

Rekonstruieren: doppeltes Zuhören, einzigartige Ergebnisse und das Weben reicherer Geschichten Sobald die Partner anfangen, über ihre Wünsche zu sprechen und was sie aneinander und an der Beziehung wertschätzen, ist es möglich, dass sie ihre Beziehungsgeschichte umschreiben. Die dominante Baumgeschichte wird aufgebrochen und es entsteht Raum für bereichernde und wünschenswerte Geschichten (siehe auch Sermijn, 2018; Sermijn u. Loots, 2015). Zum Beispiel suchen Marc und Ness gemeinsam nach Möglichkeiten des Umgangs miteinander, die besser zu diesen Versionen von sich selbst und der Beziehung passen, die sie bevorzugen. Der Therapeut hilft ihnen dabei durch doppeltes Zuhören (White, 2000; 2007). Während er sich die Problemgeschichten anhört, ist er ständig auf der Suche nach dem, was das Paar als hilfreich und wertvoll erachtet. Der Ausgangspunkt ist, dass jedes Problem etwas über einen enttäuschten Traum, Wunsch oder Absicht erzählt und dass der Ausdruck eines Problems automatisch eine Handlung beinhaltet, die dieser Frustration zuwiderläuft (Carey, Walther u. Russell, 2009, S. 322). Zum Beispiel sagt die Tatsache, dass Ness und Marc ihre Beziehung als nicht gut definieren, automatisch etwas über die Tatsache aus, dass sie eine Vorstellung davon haben, was eine gute Beziehung

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ausmacht, und auch etwas über ihren Wunsch danach. Ähnlich verhält es sich mit der Suche nach »unique outcomes (White u. Epston, 1990) oder funkelnden Momenten (Freedman u. Combs, 1996), die sich der Problemerzählung entziehen konnten. Sie helfen dem Paar, seine gewünschten Beziehungsgeschichten in den Fokus zu stellen, und bereichern sie. Sie heben Momente, in denen der Wunsch bereits (teilweise) Wirklichkeit geworden ist, hervor und bieten Anknüpfungspunkte, um bereits vergessene gelungene Geschichten an die Oberfläche zu bringen. Therapeutin:  »Sie haben von einem Wochenendausflug erzählt. Ich hörte, Ness, dass Sie sagten, Sie wären da ›dem Sturm entkommen‹. Können Sie mir sagen, wie Sie das geschafft haben?« Ness:  »Wir waren zwei Tage lang segeln, zusammen mit einem anderen Paar. Das Wetter war schön und das Wasser war ruhig. Ich weiß nicht genau, was es genau war, aber ich erinnere mich, dass ich etwas über die Segel sagte.« Marc:  »Sie sagte, ich hätte sie nicht richtig festgezurrt. Ich fühlte den Zeigefinger wieder, und mein Kumpel stand auch da. Dann spürte ich den Sturm kommen.« Ness:  »Ich auch, ich habe es in deinem Gesicht gesehen.« Therapeutin:  »Nicht zu schnell! Können mir uns sagen, wie Sie es geschafft haben, zusammenzuarbeiten, um dem Sturm den Wind aus den Segeln zu nehmen und im wörtlichen und im übertragenen Sinne zusammen weiterzusegeln?« Marc:  »Ich musste an die Gespräche hier denken und sagte lachend zu ihr: ›Oh je, es wird doch keinen Sturm geben, oder?‹« Ness:  »Dann habe ich es begriffen und auch gelacht. Unsere Freunde haben nichts davon verstanden.« Therapeutin:  »Was haben Sie getan, um das möglich zu machen?« Marc:  »Ich dachte mir: ›Wir werden diesen Tag nicht ruinieren‹.« Ness:  »Mir ging es genauso: Ich wollte eine gute Zeit mit ihm haben, mit den Freunden.« Therapeutin:  »Was sagt es über Sie aus, dass Sie es geschafft haben, nicht in den Sturm hineingezogen zu werden und dass Ihnen ›gemeinsam Spaß haben‹ wichtiger war? Gibt es weitere Beispiele, die zeigen, wie Ihnen das ›gemeinsam eine gute Zeit haben wollen‹ hilft, dem Sturm zu trotzen?«

Indem man sich auf ein bestimmtes Ergebnis konzentriert und es im Detail untersucht und beschreibt, wird das Paar eingeladen, es genauer zu erforschen und ihm eine neue Bedeutung zu geben. Die Ausnahme ist nicht mehr ein Detail am Rande, sondern ein wichtiges Element in dem Prozess, mehr gewünschte Beziehungsgeschichten hervorzubringen. Durch die Verknüpfung dieses ein-

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zigartigen Ergebnisses mit anderen einzigartigen Ergebnissen finden sich Wege aus dem dominanten Problemnarrativ heraus, die zu reicheren und wünschenswerteren Beziehungsgeschichten führen (siehe z. B. Sermijn u. Loots, 2015).

Verstetigung: Externalisierung, (symbolisches) Bezeugen und Dokumentieren Da Problemgeschichten oft über einen längeren Zeitraum im Leben eines Paares vorherrschend waren und ihre Sogwirkung entfaltet haben, ist es wichtig, die Ausnahmen und gewünschten Handlungsstränge zu bereichern und aufrechtzuerhalten. Die Benennung und Externalisierung von Ausnahmen kann dabei hilfreich sein. Therapeutin:  »Mehrere Beispiele zeigen, wie ›gemeinsam eine gute Zeit haben‹ Ihnen hilft, dem Sturm Paroli zu bieten. Mit ›eine gute Zeit haben‹ meinen Sie: gemeinsam etwas Schönes unternehmen, Spaß haben, genießen. Sie weisen darauf hin, dass das Vertrauen in die guten Absichten des anderen eine wichtige Grundlage dafür ist, dass man sich auch in den guten gemeinsamen Zeiten nicht verzettelt, um nicht in den Sturm hineingesogen zu werden. Wäre ›Vertrauen in die guten Absichten des anderen‹ ein passender Titel für das, von dem Sie mehr wollen?« Ness:  »Ja, ich denke, wenn es genug davon gibt, hat der Sturm weniger Chancen.« Marc:  »Ich kann das nachvollziehen. Wenn ich darauf vertraue, dass, wenn sie etwas zu mir sagt, das nicht als Kritik gemeint ist, dann …« Therapeutin:  »Woran könnte ich erkennen, dass Ihnen ›Vertrauen in die guten Absichten des anderen‹ wichtig ist? Wer würde sonst noch bemerken, dass das für Sie wichtig ist? Was sagt das darüber aus, was Sie wertschätzen im Leben? Was sagt die Tatsache, dass Sie darauf Wert legen, über Sie als Paar aus?«

»Vertrauen in die guten Absichten des anderen zu haben« könnte der Titel für die Beziehungsgeschichte sein, die Marc und Ness mehr leben wollen. Nahaufnahmen von Momenten, in denen diese Geschichte bereits gelebt wird und Einblicke in die positiven Auswirkungen auf die Identitäts- und Beziehungsebene sorgen dafür, dass die Geschichte reicher und greifbarer wird. Es ist wichtig, dass diese Anreicherung nicht nur innerhalb des Therapieraums stattfindet. Gemeinsam mit dem Paar versucht der Therapeut herauszufinden, wie sie das in der Praxis festhalten können. Symbolische Zeugen (Sermijn, 2018) können in diesem Prozess hilfreich sein, indem sie eine Art Haftkraft erzeugen, die der

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Klientin hilft, ihre bevorzugten Stimmen, Entscheidungen und Geschichten im Alltag beizubehalten. Der Vorteil von symbolischen Zeugen ist, dass sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der Praxisräume präsent sind. Ness wählt eine Halskette mit einer Büroklammer. Die Büroklammer symbolisiert, woran sie festhalten will: den Glauben an die guten Absichten des jeweils anderen. Marc wählt einen Schlüsselanhänger mit einem Leuchtturm darauf. Der kleine Leuchtturm lässt ihn wachsam für den Sturm bleiben und steht unerschütterlich für das, was er schätzt. Büroklammer und Leuchtturm sind bei den Gesprächen im Therapieraum dabei und gehen mit beiden nach draußen. Marc:  »Letzte Woche gab es einen Moment, in dem es schiefzugehen drohte. Es musste nicht mehr viel passieren, sonst wäre der Sturm losgebrochen. Mein Leuchtturm, so unglaublich das auch erscheinen mag, hat wirklich geholfen. Ich griff danach und dachte: Vertraue der Tatsache, dass sie es gut meint, du möchtest nicht streiten.« Ness:  »Die Büroklammer macht ihren Job gut (lacht). Ich greife regelmäßig danach, nicht nur, wenn es zu stürmen droht, sondern auch einfach so. Und dann denke ich: ›Wir machen das gut‹ Und es ist ansteckend: Zwei gute Freundinnen haben sich auch einen gekauft.«

Neben der Arbeit mit symbolischen Zeugen haben White (siehe z. B. White, 1999) und viele von ihm inspirierte Kolleginnen die Kraft des Einladens von Zeugen in den Therapieraum beschrieben. Die Idee dahinter ist, dass es, je mehr die gewünschten (Beziehungs-)Geschichten von anderen wahrgenommen und gewürdigt werden, desto wahrscheinlicher ist, dass Klienten diese Geschichten in ihrem Alltag lebendig halten können. Therapeutin:  »Wer in Ihrer Bekanntschaft weiß von dem Prozess, den Sie gemeinsam durchlaufen? Gibt es Menschen, die wissen oder bemerken, dass Sie mit Aspekten experimentieren, die Sie in der Beziehung wichtig finden? Familie, Freunde …« Ness:  »Meine Schwester vielleicht? Und unsere Freunde An und Koen?« Marc:  »Deine Schwester wird sicher etwas bemerkt haben, aber ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, sie so explizit mit einzubeziehen. An und Koen auf der anderen Seite (lacht) – ja, die kennen uns wie ihre Westentasche!«

Ness und Marc halten es für eine gute Idee, ein befreundetes Paar als Zeugen einzuladen. Die Freunde werden über ihre Rolle als Zeugen informiert

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und es wird ein Termin vereinbart. Während der Therapeut Ness und Marc über ihren Weg befragt, den sie zurückgelegt haben, und besonders die gewünschten Beziehungsgeschichten beleuchtet, hören die Zeugen mit und können anschließend angeben, was sie berührt hat und wie sie die gehörten Geschichten mit ihren eigenen Geschichten verbinden können. Auf diese Weise kann eine gegenseitige Transformation stattfinden (Anderson, 2012). Beide Paare tragen etwas zu den Beziehungsgeschichten des jeweils anderen bei. Therapeutin:  »Können Sie sagen, was Sie beim Zuhören von Ness und Marc berührt hat? Welche Wörter und Sätze bleiben Ihnen im Gedächtnis? Und wie verbinden Sie sie mit Aspekten Ihres eigenen Lebens?« An:  »Wie sehr sie ein gutes Team sein wollen. Das wird sehr deutlich, als ich Ness sagen höre, dass sie sich immer mehr traut, der Beziehung zu vertrauen. Und auch, wenn Marc so entschieden sagt, dass er wirklich glaubt, dass er und Ness gut zusammenarbeiten können. Was ich auch mitnehme, ist, wie Büroklammer und Leuchtturm ihnen dabei helfen. Ich hätte auch gerne eine BüroklammerHalskette, um an dem festzuhalten, was ich in meiner Beziehung zu Koen für wichtig halte.« Koen:  »Ich weiß, dass der Sturm mich dazu bringen kann, Dinge zu tun, die ich nicht tun will, und mich in jemanden verwandeln kann, der ich nicht sein will. Marcs Worte ›Ich will kein Ehemann und Vater sein, der schreit und brüllt‹, sind hängen geblieben. Dieses Gefühl erkenne ich wieder. Der Sturm, bei uns ist es eher ein eisiger Wind, reißt auch mich manchmal mit. Was kann ich mitnehmen? Dass es sich lohnt, innezuhalten und über bestimmte Dynamik nachzudenken, sich bewusst zu werden, dass man sich für etwas anderes entscheiden kann, das besser zu dem passt, was man will.«

Das Einladen von symbolischen und lebenden Zeugen in den Therapieraum hat als Ziel, die bevorzugten Beschreibungen von sich selbst und von sich als Paar zu stärken. White und Epston (1990) betonen zusätzlich die Wichtigkeit, diese Geschichten schriftlich zu dokumentieren. Schriftliche Zeugnisse der therapeutischen Beziehungsarbeit, von gewünschten Geschichten und Handlungen können vor Ort gesammelt und aufgezeichnet werden. Nach jeder Sitzung fasst die Therapeutin in einem kurzen Brief zusammen, was während des Gesprächs gesagt wurde. Diese Briefe werden per E-Mail an Ness und Marc gesendet, damit sie diese aktualisieren und vervollständigen können. Ness und Marc entscheiden sich außerdem dafür, Gelungenes und Fortschritte in einer WhatsApp-Gruppe zu dokumentieren. Sie geben der Gruppe den Titel »Vertrauen«.

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15/10 Marc zu Ness:  »Wir haben uns gestern ein Kompliment verdient! Als du bemerktest, dass ich nicht beim Bäcker gewesen bin, schlich sich der Sturm an. Zum Glück war der Leuchtturm in meiner Tasche und ich schaffte es, mir zu sagen: ›Lass den Sturm sausen, machen wir uns einen angenehmen Abend‹.« 22/11 Ness an Marc:  »Als ich gestern nach Hause kam und dich beschäftigt sah mit unserem Sohn und seinen Hausaufgaben, spürte ich, wie der Sturm an meine Tür klopfte. Ich habe mir die Büroklammer geschnappt und mir gesagt, dass deine Absichten gut sind. Was mir auch geholfen hat, war die Reaktion unseres Sohnes auf deine laute Stimme: Ich habe erkannt, dass ihn das nicht erschreckt. Er sagte: ›Papa warte mit dem Wütendwerden, damit ich erklären kann, was ich meine‹ Und das hat funktioniert.«

Das Zusammenfassen von Sitzungen in Briefen und das Dokumentieren von Erfolgsgeschichten bietet ein Archiv, auf das das Paar zurückgreifen kann, wenn dominante Problemgeschichten die Oberhand zu gewinnen drohen. Wenn das Paar es wünscht, können bestimmte Dokumentationen auch mit Zeugen oder anderen relevanten Beteiligten geteilt werden. Dies bietet wiederum eine Möglichkeit, die gewünschten Beziehungsgeschichten zu vertiefen und sie außerhalb des Therapiekontextes lebendig zu halten. Während der Nachbereitungsphase der Paargespräche haben Ness und Marc jeweils einen Brief an sich selbst, ihre befreundeten Zeugen und ihre Kinder geschrieben. Dabei beleuchten sie ihren Prozess des (Wieder-)Paarwerdens, die verschiedenen Schritte, die sie gemeinsam unternommen haben, und ihre Absichten, Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft. Sie senden die Briefe an sich selbst und ihre Freunde per Post und beschließen, sich den Brief zu Hause vorzulesen.

Zum Abschluss Ein paar Monate nach Beendigung der Paartherapie kontaktiere ich Marc und Ness, um sie zu fragen, ob sie einige ihrer Erfahrungen teilen möchten, um einem anderen Paar, das zu dieser Zeit bei uns in Paartherapie ist, bei der Bewältigung ihres Sturms zu helfen. Nach einiger Diskussion beschließen Marc und Ness, eine gekürzte Version des Briefes zu mailen, den sie zum Abschluss an den Therapeuten geschrieben haben, damit er den Brief vorlesen und ihn mit dem anderen Paar besprechen kann. Sie geben auch an, dass sie sich freuen würden, wenn dieses Paar ihnen – zu gegebener Zeit – über den Therapeuten ein Feedback geben könnte, ob und gegebenenfalls wie ihr Brief dazu beigetragen hat, sie im Umgang mit dem Sturm zu unterstützen.

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Auszug aus dem schriftlichen Feedback an Marc und Ness: »Wir möchten Ihnen gern für den Brief danken, den Sie mit uns geteilt haben. Ihr Brief gab uns überhaupt erst Hoffnung. Zu lesen, wie Sie mit dem Sturm fertig geworden sind, hat uns glauben lassen, dass auch wir einen Weg finden können. Er gab uns das Gefühl, dass wir nicht allein sind. Der Sturm zieht nicht nur bei uns vorbei, uff! Und Ihre symbolischen Zeugen haben uns inspiriert. Diese Idee haben wir übernommen. Mein Ehemann wählte das Bild eines Ankers, es steht auf seinem Schreibtisch. Ich lieh mir von Ness die Idee von einer Büroklammer und das funktioniert ziemlich gut für den Moment. Ein großes Dankeschön!«

Literatur Anderson, H. (2012). Collaborative relationships and dialogic conversations: Ideas for a relationally responsive practice. Family Process, 51, 8–24. Carey, M., Walther, S., Russell, S. (2009). The absent but implicit: A map to support therapeutic enquiry. Family Process, 48 (3), 319–331. Freedman, J., Combs, G. (2002). Narrative therapy with couples … and a lot more! Adelaide: Dulwich Centre Publications. Sermijn, J. (2018). Hoe Vasalisa erin slaagt om cliënten te helpen uit de schaduw van oude bomen te treden. In S. Vermeire, J. Sermijn (Eds.), Narratieve wegen naar her-verbinding (pp. 95–105). Antwerpen: Interactieacademie. Sermijn, J., Loots, G. (2015). The co-creation of crazy patchworks: Becoming rhizomatic in systemic therapy. Family Process, 54, 533–544. White, M. (1995). Re-authoring lives: Interviews and essays. Adelaide: Dulwich Centre Publications. White, M. (1999). Reflecting teamwork as definitional ceremony revisited. Gecko: A journal of Deconstruction and Narrative Ideas in Therapeutic Practice, 1, 55–82. White, M. (2000). Reflections on narrative practice. Adelaide: Dulwich Centre Publications. White, M. (2007). Narratieve therapie in de praktijk: Verhalen die werken. Amsterdam: Hogrefe. Sermijn, J. & Gergen, K. (2016). Spreid je therapeutische vleugels – Een multiloog met Kenneth Gergen. Systeemtheoretisch Bulletin, 34, 183–204. Vermeire, S., Beckers, W., Decraemer, K., Faes, M. (Hrsg.) (2015). Grote kleine mensen problemen. Antwerpen: Interactie-academie. Vermeire, S. & Sermijn, J. (eds.) (2018). Narratieve wegen naar her-verbinding. Antwerpen: Interactie-academie. White, M., Epston, D. (1990). Narrative means to therapeutic ends. New York: W. W. Norton.

Narrative Beratung und Therapie mit Älteren – Perspektiven aus systemischer, verhaltens­ therapeutischer und psychodynamischer Sicht THOMAS FRIEDRICH-HETT, SIMON FORSTMEIER und MEINOLF PETERS

»Der größte Irrtum junger Menschen ist ihre Vorstellung vom Alter.«  Hermann Kesten

Einleitung Aus Sicht narrativer Ansätze werden menschliche Erfahrungen durch Geschichten vermittelt. Durch sie werden Sinn und Bedeutung in sozialen Systemen gemeinsam sprachlich erzeugt (Gergen, 2002). Geschichten greifen jedoch nicht nur Erlebtes auf, sondern beeinflussen ihrerseits unser Erleben und Verhalten (Kleve u. Jakob, 2021). Bruner konnte zudem mit Verweis auf empirische Daten belegen, »was nicht narrativ strukturiert wird, geht dem Gedächtnis verloren« (Bruner, 1997, S. 72). Wichtig ist, dass unsere Selbsterzählungen der Reichhaltigkeit der gelebten Erfahrungen niemals voll gerecht werden können. Vor allem bei schwierigen Erfahrungen neigen wir dazu, negative, defizitorientierte Bewertungen zu fokussieren und andere Aspekte auszublenden. Narrative Arbeit bietet die Möglichkeit, belastende Erfahrungen neu zu betrachten und unsere »problemgesättigten« Geschichten anders einordnen und verstehen zu können (White u. Epston, 2006). »In Therapie, Beratung und Coaching begegnen wir vor allem Problemerzählungen, die Klient*innen daran hindern, ihre Stärken zu entfalten und sich als selbstwirksam zu erleben. Daher ist die psycho-soziale narrative Arbeit eine Art Dekonstruktion von defizitorientierten Narrativen, um neue Erzählungen hervorzubringen« (Kleve u. Jakob, 2021, S. 1). Denn keine Geschichte lässt nur ein einziges und einmaliges Verständnis zu, ihre mutmaßliche Bedeutung ist prinzipiell vielfältig (Bruner, 1998, S. 56). Welche Bedeutung haben narrative Ansätze für die Arbeit mit Älteren? Nachfolgend wird die These vertreten, dass narrative Arbeit in besonderer Weise Bedürfnisse und Ressourcen älterer Menschen aufgreifen und der Identitätsentwicklung und -stabilisierung in diesem Lebensabschnitt dienen kann, was nach Darlegung einiger Grundlagen aus der Perspektive unterschiedlicher Therapie- und Beratungsschulen betrachtet wird.

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Thomas Friedrich-Hett, Simon Forstmeier und Meinolf Peters

Grundlagen der narrativen Beratung und Therapie mit älteren Menschen In der Öffentlichkeit ist Alter noch vielfach mit Abbau und Verfall assoziiert. Obwohl sich allmählich differenziertere Bilder von Vielfalt und Potenzialen im Alter entwickeln, ist das wissenschaftlich längst überholte »Defizitmodell des Alterns« immer noch häufig anzutreffen (Deutscher Bundestag, 2010). Dass die Mehrheit der Älteren glücklich und zufrieden, bis ins hohe Alter relativ gesund und selbstständig, gesellschaftlich aktiv und auch noch lern- und leistungsfähig ist, wird – wie im bekannten Aphorismus von Herman Kesten angedeutet, noch zu wenig wahrgenommen (Gergen u. Gergen, 2005). In der Altersforschung wurde vergangenheitsbezogenes Denken und Sprechen Älterer im Rahmen des erwähnten Altersstereotyps lange eher abgewertet (vgl. Peters, 2019a). Heutzutage wird diese Neigung Älterer positiver bewertet und die biografische Dimension allgemeinhin als ein wichtiger Bestandteil der psychosozialen und psychotherapeutischen Arbeit mit Älteren betrachtet (Rabaioli-Fischer, 2015). Älteren Menschen wird zudem eine besondere Erzählkompetenz zugeschrieben (Kruse, 2005), wodurch sie Anerkennung und soziale Integration erleben. Erzählen fördert zudem innere Verarbeitung und Identitätsbildung und kann daher erfolgreich auch in der therapeutischen und beratenden Arbeit genutzt werden (Peters, 2019a). Die Mehrheit der heute Älteren bildet die Gruppe der sogenannten Kriegskinder, die vor oder während des Zweiten Weltkriegs geboren und die wesentlich durch Erfahrungen von Kriegsumständen und Nachkriegszeit geprägt wurden (Radebold, 2009). Viele dieser Menschen haben belastende, beschädigende bis traumatisierende Erfahrungen gemacht, deren Folgen bis heute anhalten oder erneut »aufbrechen« können. Daher fordert Radebold (2009) Professionelle auf, bei Älteren mit Blick auf das Geburtsjahr neben der biografischen Längsschnittsicht zusätzlich zeitgeschichtlich zu denken. Denn: »Das Geschichtsbewusstsein einzelner prägt deren autobiografische Erzählungen und Selbstauffassungen häufig ganz direkt« (Straub, 1998, S. 82). Im Alter kommt es zu Veränderungen im Bereich des Gedächtnisses. Die narrative Praxis des Erzählens bleibt als solche noch lange stabil. Aber erlebte Episoden werden weniger detailreich und ungenauer erinnert, und auch falsch verknüpft oder »angereichert«. Es werden zudem mehr »zentrale« Erlebnisse aus Jugend und früher Erwachsenenzeit erinnert als aus anderen Lebensabschnitten. Und es gibt eine Tendenz zur positiven Umdeutung der eigenen Lebensgeschichte, die mit selbstwertdienlicher Ausblendung (Unterdrückung) belastender Erlebnisse einhergeht (vgl. Übersicht in Peters, 2019a). Depressiv

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erkrankte Ältere erinnern im Unterschied dazu aber deutlich mehr negative Erlebnisse als Gesunde (Fromholt, Larsen u. Larsen, 1995). Narrative Beratung und Therapie nimmt diese Besonderheiten des Alterns auf und bietet älteren Menschen an, auf das Leben zurückzublicken, Brüche zu verstehen und Bilanz zu ziehen.

Narrative Beratung und Therapie mit Älteren Wenn ältere Menschen Hilfe in Beratung oder Therapie suchen, stehen nach klinischen Erfahrungen häufig ausgeprägte Ängste vor dem Älterwerden und fehlende Perspektiven im Vordergrund. Berentung, Todesfälle, körperliche Erkrankungen und Vereinsamung führen zu Lebenskrisen, die psychische Erkrankungen auslösen können (Reimer, 2000). Zudem spielen oft auch das Erleben des eigenen Abbaus, schwere Erkrankungen, Verluste und reaktivierte Traumatisierungen eine Rolle (Hauke, 2017, S. 10). In Gesprächen zeigt sich weiterhin, dass das Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und der Auszug der erwachsenen Kinder oft als starke, verunsichernde Einschnitte erlebt werden. Es entstehen das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, und die Befürchtung, nicht selten beeinflusst durch verinnerlichte negative Altersbilder, nun zunehmend körperlichen und geistigen Abbau und Verfall und Vereinsamung erleben zu müssen (vgl. Friedrich-Hett, 2007, S. 47), was sicher einschränkende Narrative darstellt. Für die Arbeit mit älteren Menschen in Beratung, Therapie und anderen psychosozialen Bereichen kommt daher der Förderung angemessener Altersbilder eine wichtige Schlüsselrolle zu. Wie können wir solche anregen und zuvor feststellen, ob Menschen solche fatalistischen Bilder verinnerlicht haben? Um einen entsprechenden Gesprächsprozess anzuregen, werden folgende Fragen als Beispiele vorgeschlagen (vgl. Friedrich-Hett, 2007, S. 49 f.): Ȥ Was denken Sie über das Älterwerden und was erwarten Sie für sich? Ȥ Welche Annahmen haben Sie über das Altern von Frauen und von Männern? Ȥ Haben Sie bestimmte Befürchtungen oder Ängste in Bezug auf das Altern und woher könnten diese stammen? Ȥ Haben Sie Einschränkungen bei sich bemerkt und wenn ja, worauf führen Sie diese zurück? Und wäre es möglich, diese auszugleichen? Ȥ Wie haben Sie das Altern bei Verwandten, Freunden und Bekannten erlebt oder was wird darüber erzählt? Ȥ Wie wird Ihr Leben in fünf Jahren aussehen und wie in zehn? Ȥ Wie alt werden Sie wohl werden und wie alt möchten Sie gerne werden?

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Ȥ Gibt es ältere Menschen, die Sie als Vorbilder betrachten? Und wie könnten Sie für andere zu einem werden? Ȥ Was sind Ihre Wünsche für ihre Zukunft und wie können Sie dazu beitragen, sie zu realisieren? Narrative Beratung und Therapie mit Älteren aus systemischer Perspektive Narrative Ansätze (siehe oben) werden schon länger als Bestandteile systemischen Arbeitens betrachtet (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 1996, S. 39–41). Diese Ansätze »haben […] Werkzeuge beschrieben, die helfen sollen, der speziellen Funktionalität einengender, pathologisierender, stigmatisierender, dominierender und demoralisierender Geschichten zu begegnen« (Kaimer, 2006, S. 131). Um dominante Erzählungen dekonstruieren und alternative Erzählungen entwickeln zu können, werden in der systemisch-narrativen Perspektive systemische Fragetechniken und Externalisierung (siehe Kapitel Narrative Praxis: Was geschieht im Gespräch?, S. 150) genutzt. Häufig werden wichtige Bezugspersonen einbezogen, um vielfältige Sichtweisen zu entwickeln und so veränderte Narrative anzuregen (vgl. auch Kaimer, 2006, S. 131 ff.). Im ursprünglichen narrativen Ansatz wird zudem noch auf Nutzung schriftlicher Vermittlung von Ideen mittels Briefen, E-Mails, SMS und anderen hingewiesen (White u. Epston, 2006), was aber in der Arbeit mit Älteren bisher wenig genutzt zu werden scheint. Welche Möglichkeiten narrativer Praxis werden aus systemischer Perspektive bisher für die Arbeit mit älteren Menschen beschrieben? Hier kann auf der Ebene der Grundhaltung die präsente dialogische Sensibilität genannt werden (Friedrich-Hett, 2012). Ausgehend von einem sozial-konstruktionistischen Verständnis (Gergen, 2002) benennt Deissler (2014, S. 71) folgende drei Bestandteile: eine Haltung des Nichtwissens mit lernbereiter unvoreingenommener Offenheit für das, was Klientinnen im Gespräch wie sagen, die Sensibilität für das Erspüren des relationalen Wandels im Therapieprozess und eine dialogische Orientierung. Da narrativer Praxis ein sozial-konstruktionistisches Verständnis zugrunde liegt (vgl. Kaimer, 2006), stehen verschiedene Erfahrungen mit Methoden und Settings in der Arbeit mit Älteren zur Verfügung, die diesem Verständnis folgen: z. B. reflektierendes Team, systemische Gruppentherapie, und andere (siehe Auflistung in Friedrich-Hett, 2012, S. 26). Grundhaltung, Beziehungsgestaltung und Nutzung einiger Methoden sollen an einem Praxisbeispiel verdeutlicht werden (siehe S. 295).

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Narrative Arbeit mit Älteren aus verhaltenstherapeutischer Perspektive Das Arbeiten mit autobiografischen Erinnerungen ist auch aus einer verhaltenstherapeutischen Perspektive zentral für jede Psychotherapie. Zum Verständnis der Probleme und Symptome wird gemeinsam mit dem Patienten das aktuelle Problemverhalten/-denken/-fühlen in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang gebracht. Dabei wird mit autobiografischen Erinnerungen gearbeitet, die sowohl Ressourcen und Bewältigungserfahrungen, aber auch kritische Erfahrungen und traumatische Erlebnisse beinhalten (Überblick bei RabaioliFischer, 2015). Diese Ansätze biografischen Arbeitens in der Verhaltenstherapie sind allerdings weder altersspezifisch, noch entsprechen sie einem strukturierten Vorgehen, was sich als besonders wirksam erwiesen hat. Altersspezifische narrative Ansätze, die vermehrt in der Verhaltenstherapie mit Menschen im höheren Lebensalter angewendet werden, sind Weiterentwicklungen des vom Gerontologen Robert Butler vorgeschlagenen Lebensrückblicks. Seit Butler (1963) wurden verschiedene Formen des Lebensrückblicks wie einfache Reminiszenz, Lebensrückblick und Lebensrückblicktherapie (LRT) unterschieden (Westerhof, Bohlmeijer u. Webster, 2010) und bei älteren Menschen angewendet. Einfache Reminiszenz kann als unstrukturiertes, autobiografisches Erzählen von Geschichten (meistens in Gruppen) beschrieben werden, wobei das Ziel des Kommunizierens, der Erinnerung positiver Ereignisse und der Förderung positiver Gefühle verfolgt wird. Lebensrückblick ist strukturierter, deckt üblicherweise die gesamte Lebensspanne ab und beinhaltet die Bewertung von Lebensereignissen sowie die Integration positiver und negativer Ereignisse in einer kohärenten Lebensgeschichte (meist im Einzelsetting; Haight u. Haight, 2007). Die LRT meint die Verwendung von Lebensrückblick bei Personen mit psychischen Störungen wie Depression oder posttraumatischer Belastungsstörung. Forschung zeigt, dass folgende Aspekte für die Wirksamkeit eines Lebensrückblicks und von LRT wichtig sind: Ȥ Strukturiertheit: Wichtig für die Wirksamkeit ist die Strukturiertheit der Therapie. Damit ist zum einen das Aufeinanderfolgen der Lebensabschnitte, beginnend mit der Kindheit über Jugend, frühes und spätes Erwachsenenalter bis zum jetzigen Alter gemeint (meistens jeweils eine bis zwei Sitzungen, insgesamt sechs bis acht Sitzungen). Zum anderen achtet die Therapeutin darauf, eine Balance von negativen und positiven Erinnerungen herzustellen, was gerade bei depressiven Patienten ein direktives Vorgehen bedeutet. Beispielfragen stehen in Tabelle 1. Ausführliche Listen mit hilfreichen Fragen finden sich in Maercker und Forstmeier (2012).

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Ȥ Elaborieren der affektiven und reflexiven Anteile: Ziel der LRT ist nicht, möglichst viele Erinnerungen des Lebens aneinanderzureihen, sondern die bedeutsamsten Erinnerungen möglichst tief zu elaborieren. Dies erreicht der Therapeut mit Fragen zu den damaligen und heutigen Gefühlen und Interpretationen, die mit diesen Erinnerungen verbunden sind. Als Ausgangspunkt für möglichst detaillierte Erinnerungen wird gerne mit Fotos und anderen Erinnerungsstücken gearbeitet, weil diese dabei helfen, spezifische und lebendige Gedächtnisinhalte wachzurufen. Ȥ Veränderung des Erinnerungsstils: Auf dasselbe negative Ereignis kann ruminativ-verbittert oder versöhnt-integrativ zurückgeblickt werden, auf dasselbe positive Erlebnis ressourcenorientiert-integrativ oder bagatellisierend-abwertend. Eine wichtige Technik zur Veränderung des Erinnerungsstils ist das Reframen. Um der Patientin zu zeigen, dass ein Ereignis auch anders interpretiert werden kann, wird es neu formuliert oder in einen neuen Kontext gestellt. Generell werden schwierige Lebensereignisse immer auch mit der Frage besprochen, wie sie denn bewältigt wurden und welche Ressourcen und Stärken in diesen Bewältigungserlebnissen zu finden seien. Tabelle 1: Beispielfragen eines strukturierten Lebensrückblicks Lebensphase

Beispielfrage

Kindheit

– Erzählen Sie mir von Ihren ersten Erinnerungen Ihres Lebens als Kind. – Wie waren Ihre Eltern (Brüder, Schwestern)? – Wie sahen die Erziehung und das Disziplinieren in Ihrer Familie aus? – Ist jemand, der Ihnen sehr wichtig war, weggegangen? – Welche Dinge haben Sie selbst begonnen und umgesetzt?

Jugend

– Was waren die für Sie wichtigen Personen, als Sie Teenager waren? – Zu welchen Gruppen haben Sie gehört beziehungsweise nicht gehört? – Was waren Ihre liebsten Freizeitaktivitäten in Ihrer Jugend? – Erzählen Sie mir von Ihren Erfahrungen in der Schule. – Erinnern Sie sich, alleingelassen zu sein, abgelehnt oder zu wenig Liebe erhalten zu haben?

Erwachsenenalter

– Was waren die wichtigsten Ereignisse in Ihren Erwachsenenjahren? – Welche berufliche Ausbildung haben Sie erhalten? Wie ging Ihre berufliche Entwicklung weiter? – Was waren Ihre bedeutsamsten Beziehungen im frühen (mittleren, späten) Erwachsenenalter? – Erzählen Sie mir von Ihren Kindern. – Haben Sie an militärischen Handlungen oder Kriegen teilgenommen? – Wie haben Sie die Berentung erlebt?

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In Maercker und Forstmeier (2012) finden sich konkrete Anleitungen für verschiedene Störungsbilder wie Depression, Anpassungsstörung, posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und Demenz. Zu dem hilfreichen Material gehören auch Beispielfragen, die sich erfahrungsgemäß dazu besonders eignen, Erinnerungen zu den wichtigen Themen einer jeden Lebensphase zu erfragen. Weit genutzt sind auch Fotos und andere Erinnerungsstücke, um insbesondere detaillierte Erinnerungen anzuregen. Die LRT wurde zunächst zur Behandlung älterer depressiver Patienten entwickelt. In der Zwischenzeit gibt es Vorschläge, wie sie auch bei anderen Indikationen modifiziert angewendet werden kann: Ȥ PTBS: Alle Ansätze zur Behandlung einer PTBS beinhalten ein traumafokussiertes Verfahren (»Exposition«). Narrative Exposition ist daher eine Form der Exposition, die sehr gut in ein narratives Verfahren wie die LRT eingebunden werden kann (Lenz, Zimmermann u. Forstmeier, 2020). Das Ziel der narrativen Exposition ist, die fragmentierten Erinnerungen des traumatischen Ereignisses zu rekonstruieren und in ein kohärentes Narrativ zu transformieren. Das so rekonstruierte Traumanarrativ wird in die Biografie integriert, die wiederum durch einen strukturierten Lebensrückblick narrativ bearbeitet wurde. In einer Doppelsitzung wird die Patientin gebeten, die Erlebnisse langsam und nacheinander, mit möglichst vielen sensorischen, affektiven, kognitiven und behavioralen Details zu beschreiben. Der Therapeut sucht nach Lücken im Narrativ und der Vermeidung der affektiven Komponente. Beispielfragen stehen in Tabelle 2 (siehe altersspezifische Übersicht bei Forstmeier u. Ochel, 2021; altersunabhängiges Manual bei Neuner, Catani u. Schauer, 2021). Ȥ Demenz: Bei Menschen mit einer leicht- bis mittelgradigen Demenz haben Lebensrückblickverfahren eine lange Tradition. Häufig werden sie im Gruppenkontext umgesetzt und im Sinne einer Aktivierung des Gedächtnisses nicht nur zur Stimmungssteigerung, sondern auch als Gedächtnistraining eingesetzt. Eine strukturierte Variante im Einzelsetting ist besonders in einem Gesamtbehandlungskonzept empfehlenswert (siehe Manual von Forstmeier u. Roth, 2018). Hier wird mit vereinfachten Materialien und manchmal nur ressourcenorientiert, das heißt ohne Reflexion über negative Erfahrungen, gearbeitet.

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Tabelle 2: Beispielfragen für die narrative Exposition (nach Forstmeier u. Ochel, 2021) Phase der narrativen Exposition

Beispielfragen

Klären des Kontextes

– Wo haben Sie zu dieser Zeit gelebt? – Was haben Sie damals gemacht (gearbeitet etc.)? – Welche Jahreszeit war es, als es geschah?

Details eines einzelnen Ereignisses

– Erinnern Sie sich jetzt bitte an den Beginn des Ereignisses. Was haben Sie gemacht? – Gehen Sie durch das Ereignis langsam, Schritt für Schritt. Was ist als Nächstes geschehen? – Nach sensorischen Details fragen: Was haben Sie dann gesehen? … – Was haben Sie in dem Moment gedacht? – Was haben Sie in diesem Moment gefühlt? – Eine aktuelle Empfindung mit der vergangenen Erfahrung in Beziehung setzen: Sie fühlen jetzt im Moment einen Schmerz; ist das derselbe Schmerz, den Sie während des damaligen Ereignisses empfunden haben? – Lücken füllen: Können Sie einen Moment anhalten? Irgendetwas fehlt in der Geschichte. Sie haben gesagt, dass … Was ist danach geschehen?

Beenden des Narrativs

– Nachdem das Erregungsniveau deutlich niedriger ist: Lassen Sie uns etwas weiter gehen. Wann war das vorbei? – Wo waren Sie? Was haben Sie gemacht? Was ist danach geschehen? – War wer bei Ihnen? Was haben Sie gefühlt?

Sinnfindungsprozesse anregen (oft in der darauffolgenden Sitzung)

– Haben Sie neue Einsichten über den Sinn des Ereignisses erhalten? – Denken Sie, Sie haben etwas Positives aus diesen Erfahrungen gelernt? – Denken Sie, Sie haben für diese Erfahrung einen Abschluss finden können? Wie könnte ein Abschluss aussehen?

Psychodynamische Psychotherapie als narrative Therapie Das Erzählen in der Therapie hat in der jüngsten Vergangenheit größere Aufmerksamkeit innerhalb der psychodynamischen Psychotherapie erfahren (Boothe, 2011; siehe Kapitel Psychisches Leben und die narrative Selbstmitteilung, S. 395). Die Biografie wird in Erzählungen sichtbar, Erzählungen, die eine besondere Form haben, indem sie einen Spannungsbogen schaffen, beziehungsweise einer szenisch-dramatischen Darstellung folgen. Dadurch gelingt es der Erzählerin, auch ihr Gegenüber anzusprechen und einzubeziehen. Somit kommt dem Erzählen zunächst einmal eine beziehungsstiftende Funktion zu. In der Therapie mit Älteren, die immer noch häufiger mit einer skepti-

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schen Haltung in die Behandlung kommen, kann das Erzählen ebenso geeignet sein, eine therapeutische Beziehung aufzubauen. Dem Erzählen kommt dabei in dreierlei Hinsicht eine besondere Bedeutung zu: Ȥ Herstellung von Sicherheit: Erzählen kann ein Gefühl von Beteiligtsein hervorrufen und bewirken, sich nicht einer fremden Situation ausgeliefert zu fühlen, sondern sie mitzugestalten und Kontrolle über sie gewinnen zu können. Es impliziert, das eigene Leben in den Vordergrund zu rücken und als etwas Bedeutsames zu betrachten und kann damit eine Selbstaufwertung und Stabilisierung bewirken (Grimm u. Boothe, 2007). Ȥ Therapeutische Beziehung: Erzählen dient dem Zweck der Selbstbegünstigung, wie Boothe (2011) herausstellt, das heißt, es ist auf eine positive Resonanz und Zustimmung ausgelegt. Indem es auch im Therapeuten eine Wirkung erzeugt, veranlasst es diesen zu einem validierenden Zuhören und wirkt dadurch vertrauensbildend. Andererseits verhindert eine Erzählung als etwas »Drittes« auch eine größere Unmittelbarkeit in der Begegnung, sodass eine gewisse Distanz erhalten bleibt. Die Rollenverteilung als Erzähler und Zuhörerin trägt zur Entfaltung einer intergenerationellen Dynamik bei und begünstigt eine umgekehrte Übertragung, in der der Therapeut die Position des Sohnes einnimmt (Peters, 2019b; Peters u. Lindner, 2019). Ȥ Generativität und Sinnfindung: Wird das Erzählen durch die Therapeutin angeregt, ist damit implizit die Aufforderung verbunden, Zusammenhänge herzustellen, biografische Erfahrungen mit dem Selbst zu verknüpfen und sinnerzeugende Elemente hinzuzufügen. Dadurch wird die innere Verarbeitung von Lebenserfahrungen angeregt, Lebenssinn erzeugt und Generativität zur Entfaltung gebracht, das heißt, Erzählen kann als Form der Herstellung von Bedeutung betrachtet werden. Generativität meint dabei die Weitergabe von Erfahrungen und Lebenswissen an Jüngere – hier Therapeuten – was sinngenerierend ist und zu der Gewissheit beitragen kann, im anderen weiterzuleben, das heißt, sie dient auch der Schaffung eines Gefühls von Unsterblichkeit, das die Todesangst abzumildern hilft (McAdams u. Aubin, 1998). Insbesondere der dritte Gesichtspunkt verweist bereits auf die Bedeutung von Narrativen im weiteren Verlauf der Therapie. Dabei kann es sich um solche Narrative handeln, die sich auf aktuelle Erlebnis- oder Beziehungsepisoden beziehen, oder um biografische Narrative, die in der Therapie Älterer von besonderer Bedeutung sind. Beides steht in Beziehung zueinander, und nach psychodynamischer Auffassung wirkt das Vergangene im Gegenwärtigen fort. Wie könnte nun das Vorgehen in der Praxis aussehen? Folgende Schritte erscheinen sinnvoll:

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1. Ältere generieren häufig spontan biografische Erinnerungen, weil es einer dem Alter inhärenten Denkbewegung entspricht. Geschieht dies nicht, können solche Erinnerungen angeregt werden, etwa durch die Frage, ob es ähnliche Erlebnisse auch früher schon gegeben habe. 2. Da sich manche Erinnerungen durch zahlreiche Wiederholungen verfestigt haben, zu Deckerinnerungen oder Mythen geronnen oder Teil einer spezifischen Form der Selbstpräsentation geworden sind, sollten sie so genau wie möglich exploriert werden. Dies kann bereits zu einer ersten ›Lockerung‹ führen und neue Aspekte oder weitere Erinnerungen hervorbringen. 3. Nun gilt es, die erinnerte Episode besser zu mentalisieren, das heißt, die Patientin anzuregen, das Denken, die Intentionen und die Gefühle der beteiligten Akteure zu erkunden, was dem entspricht, was auch in der mentalisierungsbasierten Psychotherapie geschieht (Peters, 2021). Dadurch können die beteiligten Akteure in neuem Licht erscheinen, insbesondere auch die eigene Person. 4. Schließlich kann es darum gehen, die erinnerte Episode in einen breiteren Lebenskontext einzuordnen beziehungsweise ihren Stellenwert und ihre Folgen noch einmal abzuschätzen und im Hinblick auf die Gegenwart zu bewerten. Im besten Falle wird diese Bewertung dazu beitragen, das Gefühl von Kohärenz und Kontinuität im Leben zu verbessern, das nach Erikson (1958/1973) Integrität im Alter begründet und eine versöhnliche und akzeptierende Sicht auf das eigene Leben ermöglicht. Dieser Zyklus kann nun wiederholt und auf unterschiedliche biografische Episoden oder Lebensabschnitte bezogen werden, wobei Patienten unterschiedlich bereit sind, Erinnerungen zu generieren. Insbesondere bei Vorliegen des im Alter häufigeren unsicher-vermeidenden Bindungsstils fällt es schwerer, Erinnerungen zu generieren (Peters, 2019c). Erinnerungen beschränken sich bei diesem Bindungsstil oftmals auf externale, das heißt ganz auf die äußeren Ereignisabläufe beschränkte Narrative. Es kommt dann darauf an, sie mit inneren Zuständen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen zu verknüpfen, um sie zu reflexiven Narrativen weiterentwickeln zu können (Habermas, 2005). Die durch einen solchen Prozess entstehenden elaborierten biografischen Narrative korrelieren negativ mit Depressivität und anderen psychosozialen Maßen (Baerger u. McAdams, 1999). Durch eine solche narrative Therapie kann es gelingen, das autobiografische Gedächtnis stärker als identitätsstiftende Ressource und zur Klärung aktueller Konflikte älterer Patientinnen zu nutzen. Dabei erscheint allerdings die Bedeutung des affektiven Wiedererlebens und des emotionalen Erzählens im

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Vergleich zu den Inhalten noch bedeutsamer zu sein. Habermas (2005) weist darauf hin, dass es im Hinblick auf das autobiografische Erinnern weniger um das Produkt der Lebensgeschichte und deren Integration als vielmehr um die Förderung einer lebendigen, affektbezogenen Auseinandersetzung geht.

Praxisbeispiel Die 81-jährige Frau Mai1 wurde aufgrund einer schweren depressiven Episode mit lebensmüden Empfindungen auf Empfehlung ihres Hausarztes in einer altersintegrierten Tagesklinik psychiatrisch behandelt. Frau Mai beschrieb, die letzte Überlebende ihrer Familie und ihres Freundeskreises und zudem verwitwet und kinderlos zu sein. Sie lebte seit Jahren eine Affäre mit einem verheirateten Mann, dessen Frau querschnittsgelähmt im Rollstuhl saß. Aktuell war die Frau ihres Geliebten schwer erkrankt und pflegebedürftig, weshalb Frau Mai ihn schon seit mehreren Monaten nicht mehr treffen konnte. Frau Mai beschrieb sich als verzweifelt. Ihr Leben sei bedeutungslos und gescheitert, sie habe nichts erreichen und hinterlassen können, sie werde einsam und verlassen sterben und verdiene es auch nicht anders. Damit spielte sie auf die »frische« Erinnerung an eine mit 19 Jahren erlebte und bis vor Kurzem dissoziierte Vergewaltigung im Zweiten Weltkrieg an. Frau Mai wollte gerne verstehen, warum es ihr so schlecht ginge und welche Schuld sie wohl auf sich geladen habe. Wir vereinbarten, ihr bisheriges Leben ausführlich zu betrachten, was sich als wichtiger Schritt zu einer am Ende sehr erfolgreichen Behandlung herausstellte. Ausgehend von einer Grundhaltung des Nichtwissens wurden behutsam Fragen zur Lebensgeschichte entwickelt, wobei auf höfliche, respektvolle Umgangsformen und Vermeidung von Fachsprache geachtet wurde, was erfahrungsgemäß gerade von älteren Menschen besonders geschätzt und gewürdigt wird. Bei Frau Mai wahrgenommene Empfindungen wurden achtsam angesprochen und im Dialog mit Bezug zu erzählten Episoden gemeinsam reflektiert und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Frau Mai hatte als Kriegskind viele Entbehrungen erlebt, entdeckte nun aber neu, dass sie mithilfe ihrer Familie einen guten Schulabschluss, eine Ausbildung und eine erfolgreiche Berufslaufbahn als Chefsekretärin absolviert hatte. Erstmals nahm sie wahr, dass sie bisher vor allem auf das fokussiert war, was nicht gelungen war. Sie begann, Ressourcen zu entdecken, Dankbarkeit zu empfinden und neue Narrative zu formulieren.

1 Name geändert und Kontext zur Wahrung der Vertraulichkeit anonymisiert.

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Im Rahmen einer Gesprächsgruppe, in der die Mitpatienten ein reflektierendes Team bildeten, nachdem Frau Mai zuvor mit behutsamer Hilfe von der Schande der Vergewaltigung und des von ihr begangenen Ehebruchs gesprochen hatte, entwickelten sich vielfältige Sichtweisen auf diese selbstabwertenden Narrative. Hierdurch angeregt, begann Frau Mai, sich als unschuldiges Opfer eines millionenfachen Kriegsverbrechens und als Frau zu sehen, die sich für ihre starke neue Liebe engagiere, die gerade viel Geduld brauche. Hilfreich zur Entwicklung verschiedener neuer selbstwertstärkender Narrative war immer wieder zu veränderten Blickwinkeln einzuladen, z. B. durch Nutzung von Vielstimmigkeit im reflektierenden Team, oder durch zirkuläre Fragen, wie z. B.: »Wie hätte Ihre Mutter oder Schwester dieses oder jenes Ereignis betrachtet?« Hilfreich war aber auch, kritisch Erlebtes historisch einordnen und damit neu kontextualisieren zu können, was ebenfalls veränderte Bewertungen einlud. Insgesamt zeigt dieses Praxisbeispiel, wie wertvoll und hilfreich es sein kann, mit Älteren auf ihr Leben zurückzublicken, Schlüsselereignisse zu verstehen und Bilanz zu ziehen.

Abschließende Anmerkungen Die dargestellten systemischen, psychodynamischen und verhaltenstherapeutischen Perspektiven auf das narrative Arbeiten mit älteren Menschen haben verschiedene Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Gemeinsam ist allen Perspektiven, dass autobiografische Geschichten beziehungsweise Erzählungen und ihr Einfluss auf das psychische Wohlbefinden im Zentrum der Beratung beziehungsweise Therapie stehen. Narrative werden in allen Ansätzen im Dialog mit der Therapeutin erzählt, ergänzt, hinterfragt und neu geschrieben. Die konkrete Herangehensweise unterscheidet die verschiedenen Perspektiven. In der systemischen Perspektive werden systemische Fragetechniken und Externalisierung genutzt und zudem häufig wichtige Bezugspersonen einbezogen, um vielfältige Sichtweisen zu entwickeln und so veränderte Narrative anzuregen. Die psychodynamische Perspektive benutzt umgekehrte Übertragung, in der der Therapeut die Position des Sohnes einnimmt, und betont eine affektdifferenzierende und reflexionsfördernde therapeutische Haltung im Rückblick auf das Leben. Schließlich findet sich in der verhaltenstherapeutischen Perspektive ein strukturierteres Vorgehen, was sich beispielsweise in der Lebensrückblicktherapie (LRT) zeigt, die die gesamte Lebensspanne abdeckt und die Bewertung von Lebensereignissen sowie die Integration positiver und negativer Ereignisse in einer kohärenten Lebensgeschichte beinhaltet.

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Aufsuchende Familientherapie in der Jugendhilfe: Ein narrativer Ansatz MATHIAS KLASEN und CLAUDIA SCHIFFMANN

Vorbemerkungen Die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland fördert Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung und hilft jungen Erwachsenen in besonders schwierigen Lebenssituationen. Die vielfältigen Möglichkeiten der Erziehungshilfe reichen von Betreuungs-, Bildungs- und Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche über die Hilfen zur Erziehung für Familien bis hin zu Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche in Notsituationen. Neben der Kindertagesbetreuung, dem mit Abstand größten Arbeitsfeld, stellt der Bereich der »Hilfen zur Erziehung« einen großen Leistungssektor dar. Hierunter fällt eine Vielzahl unterschiedlicher Angebote von ambulanten, teil- und vollstationären Erziehungshilfen, beispielsweise Erziehungsberatung, sozialpädagogische Familienhilfe oder Aufsuchende Familientherapie. Grundlage für die Arbeit mit den betroffenen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern in den Hilfen zur Erziehung stellt der sogenannte Hilfeplan dar, welcher zusammen mit den Familien, dem Jugendamt sowie den freien Trägern erstellt wird. In diesem sind sogenannte Hilfeplanziele sowie ein Zeitrahmen für die Unterstützung benannt. Mit diesem Beitrag möchten wir anhand von zwei Falldarstellungen aus der Praxis2 einen Dialog über den Einbezug von narrativen Ansätzen in die praktische Arbeit in der Jugendhilfe anregen. Etabliert wurde die Hilfeform der Aufsuchenden Familientherapie (AFT) von Marie-Luise Conen (2011) in Anlehnung an die in den USA verbreitete »Home-Based Family Therapy«, um Familien in multiplen Problemlagen wirksam zu unterstützen. Die AFT findet im Auftragsdreieck von Familie, Jugendamt und Therapeutinnenteam im Rahmen von Hausbesuchen statt. Dies trägt der besonderen Lebenssituation der Familien Rechnung, die traditionellen Hilfeangeboten eher zurückhaltend gegenüberstehen und von klassischen »komm2 Die systemische Praxis für Familien, Teams und Organisationen egon+klara arbeitet als freier Träger der Jugendhilfe im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald mit dem Angebot der Aufsuchenden Familientherapie (AFT) im Bereich der Hilfen zur Erziehung.

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strukturierten« Hilfeangeboten oft nicht erreicht werden (Beitzel, 2010). Die AFT orientiert sich an den Fähigkeiten und Möglichkeiten der Familie und bezieht neben den Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern auch den größeren sozialen Kontext der Familie – Verwandte, Freunde, Lehrer und professionelle Helfer – mit in die Arbeit ein. Sie dient zum einen der Prävention bei Familien, in denen eine Eskalation der Situation absehbar ist. Zum anderen hilft sie bei der Stabilisierung und Neuorganisation von Familien, in denen die Situation bereits »aus dem Ruder« gelaufen ist (Klasen u. Schiffmann, 2020). Die Arbeitsform ist die Co-Therapie, das heißt, die Gespräche finden idealerweise im Tandem von Therapeut und Therapeutin statt. Damit können genderspezifische Perspektiven sowie die verschiedenen Blickwinkel der Eltern- und der Kindesebene sensibel und differenziert betrachtet werden. Eine zentrale systemische Vorgehensweise stellt hierbei die Methode des reflektierenden Teams (Andersen, 1990), eine strukturierte Form des Reflektierens, dar. In dieser besonderen Form des Gesprächs tauschen sich Co-Therapeutinnen offen und wertschätzend darüber aus, welche »Geschichte(n)« sie im Verlauf der Sitzung gehört haben. Zum einen, welche Auswirkungen das geschilderte Problem auf das Leben der Menschen nimmt, und zum anderen, welche Ausnahmen, welche »einzigartigen Ereignisse« (White, 2010) geschildert worden sind. Die wechselseitigen Reflexionen über solche Ereignisse, solche Ausnahmen, schaffen Öffnungen und Anknüpfungspunkte, die sich durch Fragen und reflektierende Diskussionen in neue Geschichten entwickeln können. In unserer Arbeit in der AFT begegnen wir sehr oft Menschen, die mit »negativen« Zuschreibungen leben beziehungsweise die sich selbst über Jahre auch eine negative »Selbstzuschreibung« oder einschränkende Narrative konstruiert haben – beispielsweise »Wir schaffen das nicht« oder »Mein Kind ist einfach faul, es ist ihm alles egal«. Die Geschichten, die sich Familienmitglieder über sich selbst und andere in ihren inneren Dialogen und in ihrer sozialen Kommunikation erzählen, konzentrieren sich oftmals völlig auf ihre Probleme und die dazugehörigen Narrative. Die Annahme, dass ihre Probleme Spiegelbilder ihrer eigenen Identität oder der Identität anderer Menschen sind, wirkt sich in der Folge negativ auf die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Familien aus. Sie gelangen zu der Überzeugung, dass sich in ihren Problemen »Wahrheiten« über sich selbst beziehungsweise das Wesen und den Charakter anderer Menschen spiegeln. Vereinfacht ausgedrückt glauben sie, dass ihre Probleme in ihnen selbst oder in anderen Menschen begründet sind, sprich, »dass sie selbst oder andere das eigentliche Problem sind« (White, 2010). Im Hinblick auf die Lebenssituation dieser Familien weist Ulrike Loch (2014) auf die besondere Bedeutung der transgenerationalen Narrative hin. Die Eltern, die wir in der

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Aufsuchenden Familientherapie begleiten, sind oft selbst in Kontexten großgeworden, in denen sich der Kommunikationsrahmen überwiegend auf negative und einschränkende Narrative bezog, was es ihnen nur schwer möglich macht, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, in der Folge auch die Bedürfnisse ihrer Kinder nach Bindung und emotionaler Sicherheit zu erkennen und diesen entsprechend zu begegnen. Mit einem breiten Spektrum systemtherapeutischer Methoden sowie narrativen Ansätzen begleiten wir Familien in der AFT durch das Entwickeln von »neuen, alternativen Erzähllinien« (White, 2010), die narrative Kon­ struktion ihrer familiären Wirklichkeit Schritt für Schritt zu verändern und neue, ressourcenorientierte Geschichten über sich und ihr Leben zu finden, zu beschreiben und zu entwickeln. Wie sich solch ein gemeinsamer Erkundungsprozess in der Aufsuchenden Familientherapie gestalten lässt, möchten wir anhand von zwei konkreten Falldarstellungen1 aus der Praxis beispielhaft aufzeigen.

Falldarstellung imaginatives Arbeiten – Familie Weber In der ersten Falldarstellung handelt es sich um einen Fall aus dem Bereich der sogenannten Hochkonfliktberatung, einem der Schwerpunkte, in dem wir im Rahmen der Aufsuchenden Familientherapie arbeiten. Die Beratung hilft Eltern und Kindern bei der emotionalen und lebenspraktischen Verarbeitung von Trennung und Scheidung. Ziel ist es, die Handlungsfähigkeit der Elternteile so weit wiederherzustellen, dass ein einvernehmliches Konzept und stabile Vereinbarungen für die elterliche Sorge mit dem Ziel der parallelen Elternschaft erarbeitet werden können (Weber, Alberstötter u. Schilling, 2013). Konkret greifen wir in unserer praktischen Arbeit unter anderem auf das Konzept der narrativen Mediation von Winslade und Monk (2011) zurück, einen Konfliktlösungsansatz, in dem die Eltern dabei unterstützt werden, sich die Auswirkungen des Konflikts bewusst zu machen, um sich in der Folge von ihrer Konfliktgeschichte zu distanzieren und eine von ihnen bevorzugte Geschichte der Kooperation zu entwickeln – eine Geschichte, die sich aus Momenten des Respekts, der Zusammenarbeit und der Unterstützung ergibt. Die Eltern von Anton und Emil, Frau und Herr Weber, leben seit 2017 getrennt und sind geschieden. Beide Elternteile schildern im gemeinsamen Gespräch mit der 1 Namen und identifizierbare Details wurden in allen Fällen verändert.

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Mitarbeiterin des Jugendamts, dass sich seit der Trennung die Kommunikation schwierig gestalte und dies zu starken Konflikten auf der Elternebene führe, welche sie eigenständig nur schwer miteinander klären könnten. Daher wenden sie sich mit der Bitte um Unterstützung an den Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamts und wünschen sich Unterstützung dafür, wieder eine gemeinsame elterliche Basis aufzubauen und konfliktfrei und respektvoll miteinander umgehen zu können, um trotz der Trennung für ihre gemeinsamen Kinder als Eltern präsent zu sein.

Aufgrund des hohen Konfliktniveaus arbeiten wir zu Beginn der Hilfe mit Frau und Herrn Weber zunächst in Einzelgesprächen, um beiden Eltern Raum zu geben, zu erzählen, was zwischen und mit ihnen passiert ist und was aus ihrer jeweiligen Sicht zum Konflikt und zur Trennung geführt hat. In diesen Gesprächen mit Frau und Herrn Weber steht unter anderem die Trennungsverarbeitung im Vordergrund. Dabei werden signifikante Unterschiede in der Rollenverteilung bei der Trennung und bei der Verantwortlichkeitszuschreibung deutlich. Der Trennung vorausgegangen sind mehrere Außenbeziehungen von Herrn Weber, was Frau Weber für sich als sehr schmerzhaft und nicht mehr hinnehmbar erlebt hat. In der Folge ist sie mit den Kindern aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen und hat den Kontakt zu Herrn Weber auf die Übergabesituationen der vereinbarten Umgänge reduziert. Dieser bereut seine außerehelichen Beziehungen und wünscht sich eine gemeinsame Zukunft als Familie mit Frau Weber. Beide Elternteile schildern somit sehr unterschiedliche Erwartungen an die elterliche Beziehung, vor allem im Hinblick auf die Gestaltung von Nähe und Distanz. Gemeinsam war jedoch der Wunsch, zum Wohl der gemeinsamen Kinder zukünftig konfliktfrei und respektvoll miteinander umgehen zu können. In einem ersten Schritt wenden wir uns in Einzelgesprächen der jeweiligen Konfliktgeschichte zu, mit dem Ziel, die Auswirkungen des Konflikts auf das eigene Leben zu bemessen. Der Vertrauensbruch sowie die zugefügten Enttäuschungen und Verletzungen sind Themen, die in den Gesprächen für das Entstehen des Konflikts zentral scheinen. Durch eine externalisierende Gesprächsführung wird es Frau und Herrn Weber in den Gesprächen möglich, Distanz zum Problem beziehungsweise zum Konflikt herzustellen und in der Folge mehr Klarheit darüber zu erlangen, welchen Einfluss der Konflikt auf ihr Leben nimmt. Konkret sprechen wir mit den Eltern über die Auswirkungen des Konflikts auf ihr Leben sowie darüber, wie es der Konflikt geschafft hat, sie für seine Absicht der fortlaufenden Eskalation »einzuspannen«. Wann ist »er« zum ersten Mal aufgetreten? Wie sehr hat »er« sie gerade im Griff? Was tut »er« Ihnen an und wie wirkt »er« sich auf die Beziehung zum Gegenüber aus?

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Wir erleben es in der Arbeit der Hochkonfliktberatung häufig so, dass Elternteile im Konflikt wie in einer Erzählung feststecken, in einer Geschichte, die schmerzhaft ist, die sie unglücklich macht und in der sie sich gedanklich vor allem damit beschäftigen, was die andere Person ihnen an Schaden zugefügt hat. Durch den Fokus auf die Haltung und die Handlungen der anderen Person gerät dabei der eigene Anteil, der die Konfliktsituation weiterhin aufrechterhält, aus dem Blick. Zur Unterstützung arbeiten wir in diesen Sitzungen mit einem Seil, welches wir als Zeitachse auf den Boden legen und es Frau und Herrn Weber so ermöglichen, sich nicht nur gedanklich, sondern auch räumlich beziehungsweise körperlich in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verorten. Die Externalisierung des Konflikts und seine symbolische Verortung am Seil (wir nutzen in der Praxis hierfür eine rote, wütend wirkende Figur) unterstützt die Eltern zum einen dabei, den Blick auf die gemeinsame Zeit vor dem Entstehen des Konflikts zu richten, zum anderen verdeutlicht es auch sehr plastisch, wie viel Zeit als Eltern noch »vor ihnen liegt«. Als besonders hilfreich hat sich hierbei der Einsatz einer hypnotherapeutischen Methode (Nemetschek, 2011) gezeigt. Frau und Herr Weber verorten sich hierzu am Seil im Bereich der Zukunft und imaginieren sich durch unsere Unterstützung als »alte, weise Frau« oder »alter, weiser Mann«, die auf ihr Leben und die gemeisterten Krisen und Konflikte zurückblicken. Wenn ein inneres Bild entstanden ist, bitten wir die Eltern, sich aus dieser Position heraus eine hilfreiche, innere Botschaft an ihr früheres, also jetziges, Ich zu »senden«. Im Sinne eines positiven Narrativs begünstigt diese innere, ressourcenorientierte Botschaft die Entwicklung einer »Gegengeschichte«, die es den Eltern ermöglicht, zuversichtlich und gestärkt mit der aktuellen Situation umzugehen und den Blick auf ihre eigenen Ressourcen zu richten. In den weiteren Sitzungen mit den Eltern richten wir unsere Aufmerksamkeit im Sinne des »doppelten Zuhörens« (Winslade u. Monk, 2011) neben den Inhalten der »Konfliktgeschichte« vor allem auf die Erzählelemente, die im Erzählen dieser Geschichte ausgespart werden – auf Ausnahmen, die auch häufig in Form von Nebenbemerkungen auftreten können und in der Folge die Grundlage für die Gestaltung einer »Gegengeschichte« abbilden. Eine solche Ausnahme zeigt sich in den Konfliktgeschichten von Frau und Herrn Weber darin, dass beide Elternteile Anton in seinem Hobby »Fußball« unterstützen und es bei Heimspielen zu Momenten der elterlichen Zusammenarbeit und Nähe kommt. Um nun eine tragende »Gegengeschichte der Kooperation« zu entwickeln, vertiefen wir mit den Eltern in den Sitzungen diese Momente der Zusammenarbeit – Bei diesen beiden Ereignissen sind Sie also in der Lage, in einer anderen Art und Weise zusammenzuarbeiten? Wie könnte man diese Art der Zusammenarbeit beschreiben? Wie unterscheidet sie sich von den Situatio-

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nen, in denen der Konflikt vorherrscht? Fragen dieser Art begünstigen Schritt für Schritt die Gestaltung einer positiven, hoffnungsvollen Gegengeschichte und führen in den Gesprächen mit den Eltern zu einem neuen Klima im »Geiste der Kooperation«, in dem neue Lösungsoptionen erarbeitet und ausgehandelt werden können. Im Verlauf der weiteren Sitzungen können sich Frau und Herr Weber so auf neue Vereinbarungen und konkrete Absprachen, vor allem im Hinblick auf die Gestaltung von Nähe und Distanz, einlassen, sie entwickeln eine Umgangs- beziehungsweise Ferienregelung für das kommende Jahr und berücksichtigen hierbei auch die Wünsche der Kinder.

Falldarstellung narratives Schreiben – Familie Kaiser Im Folgenden möchten wir einen Fall der Aufsuchenden Familientherapie darstellen, in welchem wir im Rahmen des Therapieprozesses durch die Methode des narrativen Schreibens der Familie die Möglichkeit gegeben haben, auch außerhalb der Sitzungen ihr eigenes »Geschichtendepot« zu erweitern. Hierbei orientieren wir uns an dem therapeutischen Briefeschreiben von Epston und White (1990). Unserer Erfahrung nach ermöglicht diese schriftbasierte Rückmeldung den Klientinnen, auf eine andere Art und Weise mit sich selbst in Kontakt zu treten. Das narrative Schreiben findet sich im Rahmen unserer Arbeit im Schreiben von E-Mails wieder, wenn uns dies für die Familie passend und anschlussfähig erscheint. Wichtig ist uns hierbei, im Rahmen unserer Arbeit mit den entsprechenden Familien die Erfahrung gemacht zu haben, dass diese über das Medium »erreichbar« sind und über E-Mail mit uns, beispielsweise im Hinblick auf Terminvereinbarungen oder andere Informationen, bereits kommuniziert haben. Die E-Mails werden zwischen den Sitzungen geschrieben und greifen sowohl Erzähltes der Klienten als auch Gehörtes der Therapeutinnen aus den Sitzungen auf. Sie sollen als Intervention verstanden werden, um bisher Gehörtem einen Raum für eine andere Geschichte zu eröffnen, welche sowohl in den weiteren Sitzungen als auch im inneren Dialog weitergeführt werden kann. Damit dies möglich ist, achten wir auf die Sprache der Klientinnen und nutzen dazu auch ihre Zitate, Metaphern oder bildlichen Ausdrücke aus den Sitzungen, die uns dabei helfen, schriftbasiert Zugang zu ihrer Welt zu bekommen (Freeman, Epston u. Lobovits, 2011). Den Beginn der E-Mails bilden einleitende Formulierungen, aus welchen Gründen wir dem Klienten schreiben. Darüber hinaus möchten wir mit der Einleitung auch bezeugen, dass wir uns mit der Familie und dem bisher Erzählten auch im Nachgang der Sitzungen beschäftigen. Damit

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dokumentieren wir schriftlich, dass uns die Familie beziehungsweise die Klientin wichtig ist, was wiederum diese auch dazu einladen soll, die therapeutische Beziehung und die Zusammenarbeit zu festigen. Des Weiteren beschreiben wir, wie wir den Klienten und das von ihm in den Sitzungen geschilderte Verhalten erlebt haben. Diese Beschreibungen sollen dazu beitragen, dass er zum Leser seiner eigenen, alternativen Geschichte werden kann. Humor und bildliche Formulierungen fließen ebenfalls in unser Schreiben mit ein. Frau und Herr Kaiser, die Eltern von Milan und Leo, formulieren im Gespräch mit dem Jugendamt, dass es ihnen wichtig sei, dass nochmals »jemand von außen auf das Familiensystem schaue«. Die Familie hat bereits vor zwei Jahren Unterstützung durch die Jugendhilfe in Anspruch genommen. Wie im Hilfeplan zu lesen ist, stand in dieser Zeit der Umgang mit Milans herausforderndem Verhalten auf dem Weg zur Findung seiner Geschlechtsidentität im Fokus der Familie. Die Eltern schildern, dass sie als Familie einen guten Umgang mit diesem Thema von Milan gefunden hätten. Hierbei wird deutlich, dass sich die Eltern über viele Monate hinweg durch regelmäßige Kontakte zu Beratungsstellen, Ärztinnen und Psychologen mit dem Thema auseinandergesetzt und die fachliche Bezeichnung der »Geschlechtsidentität« in ihr Erzählen übernommen haben. Im Gespräch mit dem Jugendamt schildern die Eltern weiter, dass es nahezu täglich zu Konflikten in der Familie komme, insbesondere zwischen Herrn Kaiser und Milan. Frau Kaiser und auch Leo würden dies als sehr belastend erleben. Die ständigen Streitereien würden sich auch auf die Elternebene sowie auf den Kontakt zwischen den Geschwistern auswirken. Frau und Herr Kaiser betonen, dass diese Konflikte aus ihrer Sicht nicht im Zusammenhang damit stehen würden, dass ihre Tochter nun ihr Sohn Milan sei. Wichtig sei ihnen, dass diese vermutlich nahe liegende Hypothese nicht missverständlich von den Therapeutinnen verfolgt würde. Die Eltern wünschen sich, dass eine Aufsuchende Systemische Familientherapie die Familie dabei unterstütze, innerfamiliäre Problemlagen zu bearbeiten, um endlich, wie sie es nannten, »eine normale Familie« zu sein.

In den ersten Sitzungen arbeiten wir mit den Eltern und Kindern an möglichen Aufträgen für die Familientherapie. Dabei kristallisieren sich von Sitzung zu Sitzung fast ausschließlich Themen auf Elternebene heraus, sodass wir in Rücksprache mit Frau und Herrn Kaiser die Kinder zu ihrer Entlastung zunächst nicht in die weiteren Gespräche miteinbeziehen. Wir erfahren von Frau Kaiser, dass bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung in Verbindung mit schweren depressiven Episoden sowie eine Angststörung diagnostiziert worden sei, was dazu geführt habe, dass sie seit vielen Jahren ihrer beruflichen Tätigkeit nicht mehr

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nachgehen könne und frühberentet worden sei. Als Kind und Jugendliche habe sie über Jahre hinweg die Erfahrung machen müssen, dass nahe Bezugspersonen ihre Grenzen massiv überschritten und verletzt hätten. Als Mutter erlebe sie sich phasenweise wenig belastbar, habe gegenüber ihren Kindern häufig ein schlechtes Gewissen und sei durch ihre massiven Ängste und Stimmungsschwankungen in erzieherischen Fragen eher »weich«. Das Setzen von Grenzen falle ihr schwer, was wiederum häufig zu Konflikten zwischen ihr und ihrem Mann führe, dem das Grenzen setzen gegenüber den Kindern deutlich leichter falle. Diese Schilderung nehmen wir zum Anlass, Frau Kaiser nach den ersten Sitzungen eine E-Mail zu schreiben, in welcher wir unsere Wahrnehmung ihres Handelns und ihrer Person schriftlich »bekunden« und ihr eine alternative, und ressourcenorientierte Sichtweise zur Verfügung stellen. Dabei lassen wir uns von der Annahme leiten, dass es sich positiv auf Frau Kaiser auswirken würde, wenn sie außerhalb der Sitzungen schriftlich die Wertschätzung ihrer Leidensgeschichte erhalten könnte. Des Weiteren gehen wir davon aus, dass sich, wie beschrieben, über das Medium der E-Mail ein Raum für eine Gegengeschichte zu der vermutlich vorherrschenden Geschichte einer wenig wirksamen Mutter, die sich durch ihre biografischen Erfahrungen in einer Opferrolle durch ihr nahestehenden Personen erleben musste, eröffnen könnte. Liebe Frau Kaiser, heute schreiben wir Ihnen eine E-Mail, die nur an Sie gerichtet ist. So wie wir im Rahmen der Aufsuchenden Familientherapie arbeiten, machen wir das manchmal und haben das als nochmals gute Möglichkeit erlebt, Familienmitgliedern durch das Schreiben unsere Wertschätzung und unsere stärkenorientierte Sicht auf Familien beziehungsweise Eltern rückzumelden. So sind wir bei Ihnen und Ihrer Familie sehr beeindruckt davon, wie Sie alle mit den vielen Herausforderungen, die Ihnen das Leben bisher geboten hat, umgehen. Bei Ihnen, Frau Kaiser, finden wir es bewundernswert, wie es Ihnen gelingt, nach allem, was Sie erlebt haben, als Frau und Mutter so dazustehen, wie Sie es heute tun. Wir erleben Sie als intelligente, herzliche, engagierte, humorvolle, empathische, nachdenkliche, offene, ehrliche und authentische Frau und Mutter, der es sehr wichtig ist, zu ihren Kindern in guter und vertrauensvoller Beziehung zu sein. Für Milan und Leo »geben Sie alles« und das ist nicht selbstverständlich, da Sie selbst als Tochter und Jugendliche anderes erlebt haben und (er)tragen mussten. Milan und Leo haben wirklich großes Glück, Sie als Mutter zu haben! Wie schon in unserem letzten Termin benannt, haben Sie Milan in der Findung seiner Geschlechtsidentität so gut und kompetent unterstützt, wie es sich andere

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Jugendliche in ähnlicher Situation von ihren Eltern nur wünschen können. Gerne dürfen Sie es sich auch erlauben, sich mal stolz selbst auf die Schulter zu klopfen. Apropos »Schulterklopfen«: Wir klopfen Ihnen per Mail und in Gedanken auf die Schulter, dass es Ihnen gelungen ist, sich trotz des »schlechten Tages« in der letzten Woche auf den Weg in die Praxis zu uns zu machen und sich bei uns so zu geben, wie es Ihnen zu Beginn der Sitzung eben gerade ging. Vielen Dank für Ihr Vertrauen in uns. Und zum guten Schluss: Es ist uns auch aufgefallen, dass es Ihnen auch wichtig ist, zu Ihrem Mann in guter Beziehung zu sein. Auch wenn Sie in erzieherischen Fragen eine andere Sichtweise als Ihr Mann haben und eine andere Haltung dazu einnehmen, erleben wir Sie auf Eltern- und Paarebene doch in einem sehr offenen, ehrlichen und liebevollen Kontakt mit ihm. Das gelingt nicht allen Eltern. Wir sind froh, Sie und Ihre Familie begleiten zu dürfen. Herzliche Grüße In den Gesprächen mit Frau und Herrn Kaiser wird für uns deutlich, dass der familiäre Zusammenhalt zu Beginn der Familientherapie von den Eltern sehr unterschiedlich erlebt wird. Sie äußern, dass sich dieser durch die vielen Konflikte auch zwischen ihnen als Eltern verschlechtert habe. In der Familie hat sich eine Dynamik entwickelt, in der es verstärkt zu Rollenverschiebungen und daraus resultierenden Schuldzuweisungen gekommen ist. Im Hinblick auf die Erziehung von Milan und Leo beschreiben die Eltern unterschiedliche Haltungen und Herangehensweisen, die dann aus unserer Sicht dazu führen, dass Frau Kaiser eher die Rolle der »Vermittelnden« und der »Nachgiebigen« in der Familie hat und Herr Kaiser eher die des »Strengen« und des »Einzelkämpfers« einnimmt. Frau Kaiser begründet ihr Handeln mit ihren biographischen Erfahrungen. In Momenten, in denen die Kinder einen erzieherischen Rahmen einfordern, hat sie Sorge, die gute Beziehung zu ihnen zu verlieren, sodass sie sich in der Folge stark an den Bedürfnissen der Kinder orientiert. Herr Kaiser fühlt sich in diesen Situationen von seiner Frau allein gelassen und erlebt sie in Koalition mit ihren Kindern. In einer Sitzung berichtet uns Herr Kaiser von einer großen Kränkung. Von Milan habe er erfahren, dass sein behandelnder Kinder- und Jugendpsychotherapeut Herrn Kaiser in seiner Rolle als Vater in der Familie sowie als Mensch angeblich stark entwertet habe. Das irritiert uns, da wir uns nicht vorstellen können, dass professionelle Helfer sich in dieser Art äußern. Unsere Irritation bringen wir auch gegenüber Herrn Kaiser zum Ausdruck. Wir hören, dass sich diese vermeintliche Entwertung nahtlos in seine bisherige Geschichte der »nicht normalen« Familie eingefügt hat, in welcher er als Vater dies von einem »Exper-

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ten« nochmals attestiert bekommen hat. Für Herrn Kaiser scheint es nicht möglich, im Rahmen der Sitzung in Erwägung zu ziehen, dass diese Entwertung gar nicht geäußert wurde. Wie bei Frau Kaiser entschließen wir uns daher, auch ihrem Mann eine E-Mail zu schreiben. Es erscheint uns wichtig und hilfreich, Herrn Kaiser rückzumelden, wie wir ihn in als Vater in der Therapie erleben, und ihm somit Anknüpfungspunkte für eine alternative Geschichte zu bieten. Hallo Herr Kaiser, uns hat die letzte Sitzung sehr beschäftigt. So, wie wir arbeiten, machen wir uns viele Gedanken zwischen den Beratungspausen über »unsere« Familien und manchmal melden wir diese Gedanken auch per Mail rück, ohne dafür eine Antwort zu erwarten. Mit Blick zu Ihnen finden wir es einfach sehr beeindruckend, wie viel Sie als Ehemann und Vater in Ihrer Familie »tragen« beziehungsweise bereits getragen haben und um was Sie sich alles kümmern beziehungsweise in der Vergangenheit schon gekümmert haben. Das ist und war bestimmt nicht immer leicht. Vermutlich hilft Ihnen Ihr Humor dabei, denn, wenn nicht über manche Dinge auch gelacht werden könnte, wäre manches sicherlich auch eher zum Weinen. Wie wir bei der letzten Sitzung gehört haben, ist Milans Kinder- und Jugendtherapeut anscheinend der Ansicht, Sie seien kein guter Vater. Da haben wir einen anderen Eindruck. Sie und Ihre Frau haben Milan bisher wundervoll in der Findung seiner Geschlechtsidentität begleitet und tun das auch weiterhin. Das würden sich manche Jugendliche in ähnlichen Situationen auch von ihren Eltern so wünschen. Ebenfalls erleben wir, dass es Ihnen wichtig ist, dass Ihre Kinder schulisch und persönlich das Beste aus ihren Fähigkeiten machen und Chancen, die sich dazu bieten, nutzen. Dabei möchten Sie sie unterstützen. Auch ist uns auch aufgefallen, dass es Ihnen wichtig ist, zu Ihrer Frau in guter Beziehung zu sein und sie bei allem, was sie erlebt hat und noch heute beschäftigt und auch beeinträchtigt, zu unterstützen. Auch wenn Sie in erzieherischen Fragen häufig eine andere Sichtweise als Ihre Frau haben, eine andere Haltung dazu einnehmen und dadurch vermutlich eher die Rolle des »Strengen« in der Familie zugeschrieben bekommen und manchmal auch einnehmen, erleben wir Sie auf Eltern- und Paarebene doch in einem sehr offenen, ehrlichen und liebevollen Kontakt mit ihr. Das gelingt nicht allen Eltern. Und an der Rollenverteilung in Ihrer Familie arbeiten wir ja mit Ihnen und Ihrer Frau. Wir sind froh und es macht uns Spaß, Sie und Ihre Familie auch weiterhin begleiten zu dürfen. Viele Grüße

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Im weiteren Therapieprozess arbeiten wir an den Rollen- und Kommunikationsmustern innerhalb der Familie. Wir beleuchten gemeinsam mit den Eltern, wie Regeln aufgestellt und gelebt werden, wer den erzieherischen Rahmen festlegt und wie die Familie darüber ins Gespräch kommen kann. Darüber hinaus thematisieren wir die unterschiedlichen Rollen in der Familie und legen den Fokus darauf, wie Frau und Herr Kaiser als Elternteile näher zusammenrücken können. Zum Ende des Therapieprozesses zeigt sich aus unserer Sicht, dass die Eltern bei wichtigen Erziehungsthemen aus der zunächst unterschiedlichen Haltung in gemeinsames, verantwortungsvolles und präsentes Handeln zum Wohl ihrer Kinder und des gesamten Familienlebens gekommen sind. Zum Abschluss der AFT mit Frau und Herrn Kaiser findet, wie im Rahmen der Jugendhilfe üblich, ein Hilfeplangespräch gemeinsam mit den Eltern und der Mitarbeiterin des Jugendamts statt, in welchem der Verlauf der Hilfe und die aktuelle Situation der Familie besprochen wird. Grundlage dieses Gesprächs stellt der Bericht dar, der von uns geschrieben und vorab mit den Eltern gemeinsam besprochen wird. Diese Berichte haben innerhalb der Hilfe ein besonderes Gewicht, da sie über die Hilfe hinaus als ein »offizielles« Dokument in der Akte hinterlegt werden. Sie dienen einerseits dazu, den bisherigen Prozess aus Sicht der Therapeutinnen gemeinsam mit den Familien zu reflektieren. Hierbei greifen wir auf Rückmeldungen der Familie zur Hilfe zurück und lassen diese in den Berichten so auch zu Wort kommen. Andererseits können sie auch als therapeutische Intervention verstanden werden, die es den Familien ermöglicht, mit ressourcenorientiertem Blick auf Veränderungen zu schauen, die sie im Rahmen der Familientherapie selbst gestaltet haben. Aufgrund des begrenzten Umfangs dieses Kapitels kann der Bericht nicht in seiner ganzen Länge wiedergegeben werden. Wir konzentrieren uns daher auf die Rückmeldungen von Frau und Herrn Kaiser, in denen sich die Entwicklung und Verdichtung der beschriebenen, neuen Erzähllinien widerspiegeln.  … Beide Eltern gaben an, dass sich die Kommunikation sowohl zwischen ihnen als Eltern als auch zwischen ihnen als Paar sehr verbessert habe. Aus Sicht der Eltern sei sowohl durch den Settingwechsel von aufsuchender Arbeit in die Räumlichkeiten der Praxis als auch durch die dort geschaffene Atmosphäre ein Rahmen geschaffen worden, in welchem sie offener und vertrauensvoller hätten miteinander sprechen können. Darüber hinaus berichteten Frau und Herr Kaiser, dass sie die E-Mails als hilfreiche Impulse empfunden haben, mit sich selbst in Kontakt zu kommen und eine andere Sichtweise auf ihr Mutter- und Vatersein zu bekommen. In herausfordernden Situationen stärke sie der Inhalt durch nochmaliges Lesen. Sie würden sich als Eltern zu Hause mehr absprechen und hätten

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gelernt, dass erzieherische Entscheidungen auch vertagt werden können. Wichtige Erziehungsthemen würden nun konsequenter verfolgt. Frau und Herr Kaiser beschrieben, sie hätten darüber hinaus mehr Verständnis für die Sicht des jeweils anderen Elternteils entwickeln können. Dies habe den Eltern ermöglicht, sich aus ihren bisherigen Rollen der »Nachgiebigen« und des »Strengen« zu entlassen, Koalitionsangebote der Kinder weniger anzunehmen und sich dadurch gegenseitig zu stärken …

Fazit So wie Familie Weber und Familie Kaiser begleiten beziehungsweise unterstützen wir viele Familien im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe und haben dabei sehr positive Erfahrungen mit dem Einbeziehen von narrativen Ansätzen in die familientherapeutische Arbeit gemacht. Wie anfangs beschrieben, begegnen wir in unserer Arbeit häufig Familien, deren Selbstbild und Gefühl von Selbstwirksamkeit mit negativen beziehungsweise einschränkenden Narrativen verknüpft ist. In den Gesprächen erleben wir, wie Familien sich Schritt für Schritt von diesen Geschichten lösen und im Dialog mit uns zu einer neuen Narration, einer neuen Haltung im Umgang mit den an sie gestellten Herausforderungen finden können. Abschließend ist es uns wichtig, zu betonen, dass narrative Ansätze für uns nicht einen Ersatz oder eine Konkurrenz zu anderen, beispielsweise lösungsorientierten oder hypnosystemischen Ansätzen, darstellen. Vielmehr machen wir die Erfahrung, dass eine narrative Perspektive beziehungsweise der Einbezug von narrativen Ansätzen eine hilfreiche Ergänzung darstellen und sich dadurch für Familien Möglichkeiten ergeben, ihre (Familien-)Geschichten neu zu erzählen.

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Aufsuchende Familientherapie in der Jugendhilfe

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Narrative Praktiken in sozialen personen­ bezogenen Dienstleistungsorganisationen THOMAS KLATETZKI

Vorbemerkung Der Kulturpsychologe Jerome Bruner (1986; 1990; 1996) unterscheidet zwei komplementäre, wechselseitig nicht substituierbare Formen des Wissens. Auf der einen Seite gibt es das paradigmatische, logisch wissenschaftliche Wissen, das auf der Basis von rationalen Argumenten und empirischen Überprüfungen nach wahren und möglichst mathematisch formulierbaren Aussagen strebt. Auf der anderen Seite existiert das narrative Wissen, das in Form von Geschichten Ereignissen Sinn und Bedeutung verleiht und deren Geltung auf ihrer Vertrauenswürdigkeit und Plausibilität beruht. Beide Formen des Wissens spielen in Arbeitsorganisationen eine Rolle, allerdings in unterschiedlichem Maße. Für Organisationen, die technologische Verfahren zur Verrichtung ihrer Arbeit einsetzen, ist das paradigmatische Wissen für das erfolgreiche Operieren unverzichtbar, weil die eingesetzten Produktionstechniken darauf basieren. Anders ist das in Organisationen, die ein sogenanntes Technologiedefizit aufweisen (Luhmann u. Schnorr, 1982). Das Handeln in diesen Organisationen beruht nicht auf paradigmatischen Wissensbeständen, die ein Kausalwissen beinhalten, dessen Anwendung in der Praxis zu voraussagbaren und reproduzierbaren Wirkungen führt. Das Technologiedefizit findet sich typischerweise in Organisationen, deren Arbeit in der Interaktion mit Personen besteht, denn Personen lassen sich nicht in kausaler Weise programmieren, sondern verfügen über die Möglichkeit selbstbestimmten Handelns. Typische Beispiele für diese Organisationen sind Schulen, Beratungsstellen, Therapieeinrichtungen, Gerichte, Sozialämter oder Arbeitsagenturen. Zu den Charakteristika dieser Organisationen gehört, dass sie durch öffentliche Mittel finanziert werden, dass ihr Handeln auf den gesetzlichen Grundlagen bildungs-, gesundheits- und sozialpolitischer Programme basiert und dass es sich stets an einzelne Personen richtet. Diese Organisationen werden als soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen bezeichnet (Klatetzki, 2010). In ihnen spielt das narrative Wissen eine zentrale, dominante Rolle, weil es dazu dient, die individuelle Problematik eines jeden Schülers, Klienten oder Patienten in Form einer Fallgeschichte zu verstehen.

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Diese Fallgeschichte ist dann die Basis für die Planung und Realisierung von Interventionen, um die Probleme des Einzelfalls zu bearbeiten. Im folgenden Text werden zunächst anhand eines Beispiels von Kinderschutz in der Kinder- und Jugendhilfe die Charakteristika des narrativen Wissens erläutert, das das Organisationspersonal einsetzt, um eine Fallgeschichte zu erzeugen und zu erzählen (1). Das Konstruieren und das Kommunizieren von Fallgeschichten findet dabei nicht im luftleeren Raum statt, sondern in Interaktionspraktiken. Soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen lassen sich als ein komplexes Netz von Interaktionspraktiken verstehen, in denen Geschichten erzeugt, erzählt und zur Veränderung von Problemlagen eingesetzt werden. Diese Interaktionspraktiken beruhen ebenfalls auf narrativem Wissen, das hier die Form eines sozialen Skripts, eines Drehbuchs hat. Skriptwissen ermöglicht es, durch die Zuweisung von Handlungsrechten und -pflichten in Organisationen geordnete Interaktionssequenzen zu generieren. Wie das geschieht, wird in einem zweiten Abschnitt dargestellt (2). Der Text endet mit einer kurzen Schlussbemerkung (3).

Die narrative Wissensbasis der Fallgeschichten In Deutschland sind die Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe gesetzlich verpflichtet, das soziale Problem der Kindeswohlgefährdung zu bearbeiten. Die Grundlage hierfür bildet der § 8a des SGB VIII. Diese Einzelnorm verpflichtet das Organisationspersonal der Kinder- und Jugendhilfe dazu, eine Einschätzung der Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen vorzunehmen, wenn ihm hierfür gewichtige Anhaltspunkte bekannt werden. Sollten die Fachkräfte zu dem Schluss kommen, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, so schreibt der § 8a SGB VIII weiterhin vor, dass den Personensorgeberechtigten erzieherische Hilfen anzubieten sind und dass bei Ablehnung des Hilfsangebots das Kind oder der Jugendliche durch das Jugendamt in Obhut zu nehmen ist. Für die Einschätzung des Gefährdungsrisikos im Einzelfall gibt es keine verlässlich funktionierende Technologie. Das Personal der Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe nimmt die Gefährdungseinschätzung daher durch das Konstruieren von Fallgeschichten vor. Eine solche Geschichte ist die folgende (Klatetzki, 2019): Ein Mädchen mit Namen Sophia, vier Jahre alt, kommt nach einem Wochenende mit großen blauen Flecken an den Armen und Oberschenkeln in den Kindergarten. Sophia lebt mit ihrer Mutter Mareike Schön und deren neuen Freund Ronny Schulze

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zusammen. Die Mitarbeiterinnen der Kindertagesstätte hatten vorher auch bei Frau Schön blaue Flecken bemerkt. Sie vermuten, dass bei Sophia eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, und informieren daher das Jugendamt. Zwei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes begeben sich daraufhin noch am selben Tag in die Kindertagesstätte und konfrontieren Frau Schön und Herrn Schulze mit dem Verdacht der Kindeswohlgefährdung durch Gewalteinwirkung, als diese Sophia aus dem Kindergarten abholen. Frau Schön und Herr Schulze bestreiten die Kindeswohlgefährdung und erklären die blauen Flecken damit, dass Sophia am Wochenende auf einem Spielplatz war und von der Rutsche gefallen ist. Die Mitarbeiterinnen des Jugendamtes glauben diese Geschichte nicht. Angesichts der unterschiedlichen Erzählungen über das Zustandekommen der blauen Flecken einigen sich die Mitarbeiterinnen des Jugendamtes und Frau Schön darauf, dass Sophia im nahe gelegenen Krankenhaus medizinisch untersucht werden soll, um zu klären, wodurch die blauen Flecken verursacht wurden. Die medizinische Untersuchung erbringt aber kein eindeutiges Ergebnis. Möglicherweise wurden die blauen Flecke durch einen Sturz von der Rutsche verursacht, möglicherweise durch Schläge.

Die Charakteristika des narrativen Wissens, das dem Geschichtenerzählen in sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen zugrunde liegt, lassen sich mithilfe dieses Fallbeispiels folgendermaßen erläutern: Erstens: Unterbrechungen und hermeneutische Kompositionen

Das Erzählen von Geschichten in Organisationen ist eine Form der Sinnstiftung (Weick, 1995). Sinnstiftungen finden stets dann statt, wenn selbstverständliche Handlungsroutinen unterbrochen werden, und sich die Frage stellt: Was ist hier los? Im Fall von Sophia ist es die Wahrnehmung der blauen Flecken, die den Handlungsalltag im Kindergarten unterbricht und einen solchen spezifischen narrativen Sinnstiftungsprozess in Gang setzt. Die blauen Flecken sind ein Anhaltspunkt, ein Indiz, das bei den Mitarbeiterinnen des Kindergartens eine kognitive Rahmung mittels einer Geschichte auslöst, in der Ronny Schulze als gewalttätiger Akteur und Sophia und ihre Mutter als dessen Opfer auftreten. Durch diese narrative Rahmung erhalten die blauen Flecken eine konkrete Bedeutung: Sie bedeuten, dass hier eine mögliche Gewalteinwirkung, also eine Kindeswohlgefährdung stattgefunden hat. Die wechselseitige Konstitution von Indiz und Rahmen lässt sich als hermeneutischer Zirkel verstehen. Dieser beschreibt das Verhältnis zwischen der Bedeutungsganzheit eines Textes und einem Bedeutungsteil. Um den Sinn der Fallgeschichte Sophia als Ganzes (als gewalttätige Kindeswohlgefährdung) zu verstehen, muss man den Sinn seiner Bestandteile (z. B. die blauen Flecken) verstehen – und umgekehrt. Die Kompe-

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tenzen von Personen zur narrativen Sinnstiftung variieren: Untersuchungen über als hermeneutisch kompetent eingestufte Personen zeigen, dass diese Expertinnen zum einen zwei bis vier relevante Anhaltspunkte für die Konstruktion von Geschichten verwenden und dass sie zum anderen ein reichhaltiges Repertoire von Geschichten im Gedächtnis abgespeichert haben, um Anhaltspunkte sinnvoll und kohärent interpretieren zu können (Klein, Philipps, Rall u. Peluso, 2007). Zweitens: Eine zeitliche und kausale Strukturierung des Geschehens

Die narrative Sinnstiftung durch Geschichten erfolgt dadurch, dass soziale Ereignisse in eine zeitliche Abfolge gebracht werden: Nach dem Wochenende hatte Sophia blaue Flecken, vorher hatten die Mitarbeiterinnen auch bei der Mutter schon blaue Flecken bemerkt. Paul Ricoeur (1980) hat darauf hingewiesen, dass die temporalen Sequenzen im narrativen Wissen den Sachverhalt spiegeln, dass Menschen Wesen in der Zeit sind. Die Temporalität von Geschichten entsteht durch die Verknüpfung eines vergangenen, gegenwärtigen und/oder zukünftigen Geschehens. Das zeitliche Muster muss dabei nicht der linearen Abfolge von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft folgen. Wie literarische Beispiele zeigen, kann man z. B. mit einem Geschehen in der Zukunft beginnen und dann zurück zu Ereignissen in der Gegenwart oder Vergangenheit wechseln oder auch von einem Geschehen in einer Vergangenheit über die Zukunft in die Gegenwart gelangen. Es gibt folglich viele erzählerische Möglichkeiten, Sequenzen von Ereignissen zeitlich zu strukturieren. Die Fallgeschichten über soziale Pro­bleme in den sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen dürften jedoch in der Regel eine zeitliche Struktur aufweisen, die mit der Gegenwart beginnt – jetzt liegt eine problematische Situation vor – und dann zur Vergangenheit übergeht – man versucht zu erklären, durch welche früheren Ereignisse das Problem entstanden ist. Oftmals wendet sich die Fallgeschichte aber auch der Zukunft zu: Es wird dann dargestellt, wie sich die problematische Situation zum Besseren wenden wird, wenn jetzt eine professionelle Intervention erfolgt. Die zeitliche Abfolge der Ereignisse in Geschichten ist nicht lediglich eine chronologische Abfolge unverbundener Ereignisse. Die Ereignisse stehen vielmehr in einem kausalen Zusammenhang. Das Handeln von Personen in einer Situation zum Zeitpunkt t1 hat Auswirkungen auf das Handeln von Person in einer Situation zum Zeitpunkt t2, wobei deren Handeln wiederum auf das Tun von Personen zum Zeitpunkt t3 einwirkt und so weiter. Das mutmaßlich gewalttätige Handeln von Ronny Schulze gegenüber Frau Schön und Sophia hat zur Folge, dass die Mitarbeiterinnen des Kindergartens das Jugendamt informieren, das wiederum hat zur Folge, dass sich Frau Schön und Herr Schulze gegenüber

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den Mitarbeiterinnen erklären müssen. Geschichten weisen auf diese Weise bestimmte Handlungsverknüpfungen auf, durch die die zeitliche Abfolge der Ereignisse kausal erklärt wird. Drittens: Typische Partikularität

Jede Geschichte ist eine einzigartige Erzählung, weil sie sich auf jeweils besondere historische Ereignisse bezieht. Aber diese Partikularität ist zugleich Realisierungsmittel eines generelleren Musters, denn partikulare Geschichten ähneln sich. Jede Erzählung gehört daher zu einer narrativen Gattung, einem Genre. Der Begriff des Genres bezeichnet den schematischen Handlungsablauf einer Geschichte. Beispiele für narrative Gattungen sind die Komödie, die Romanze, die Tragödie oder die Ironie. Genres sind kulturelle Erzählkonventionen (Bruner, 1996). Kenneth Gergen (1998) hat zur Charakterisierung dieser kulturellen Konventionen ein einfaches basales Schema vorgeschlagen, das den Verlauf der erzählten Ereignisse anhand von zwei Dimensionen, einer Zeit- und einer Bewertungsdimension erfasst. Die drei basalen Handlungsverläufe haben dann die Form 1. einer progressiven Erzählung, in deren zeitlichen Verlauf das Geschehen immer positiver bewertet wird, 2. einer regressiven Erzählung, in der das Umgekehrte passiert (das Geschehen wird mit der fortschreitenden Zeit immer negativer bewertet) und 3. einer stabilen Erzählung, in der der Ereignisverlauf sich über die Zeit weder in eine positive noch in eine negative Richtung verändert. Diese drei kulturellen Grundformen lassen sich in vielfältiger Weise kombinieren. So kann z. B. eine Geschichte mit einer progressiven Phase beginnen, bevor ein regressiver, tragischer Verlauf eintritt. Die Romanze ist hingegen eine Erzählform, in der sich regressive und progressive Phasen zunächst abwechseln, bevor am Ende eine positive, progressive Entwicklung, ein Happy End steht. Das Genre, das für die Erzählungen der sozialen Problembearbeitung in den Organisationen des Kinderschutzes konstitutiv ist, hat eine regressive, tragische Form. Das grundlegende thematische Handlungsschema ist die sich verschlechternde Lebenssituation eines Kindes oder Jugendlichen. Dieses Schema wird ergänzt um den Aspekt, dass dem Kind oder Jugendlichen durch professionelle Interventionen geholfen werden kann und dass es so in der Zukunft zu einer progressiven Entwicklung oder zumindest zu einem stabilisierenden Verlauf kommen kann. Die Fallgeschichte Sophias wird wesentlich durch das Genre der Tragödie strukturiert: Es ist dem Kind Leid zugefügt worden und es

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wird impliziert, dass dies auch weiter geschehen wird, wenn nicht eingegriffen und somit ein besserer Verlauf herbeigeführt wird. Die Fallgeschichte wird aber zum Schluss auch durch das mehrdeutige Genre der Ironie geformt, denn die Mediziner sind nicht in der Lage, die Ursache für Sophias blaue Flecken zu benennen. Und als Rezipient kann man das Geschehen nun nicht eindeutig bewerten. Viertens: Die Verlängerung und Detaillierbarkeit von Geschichten

Es gehört zu den weiteren Merkmalen von Geschichten, dass man sie immer weiter verlängern kann und dass man sie immer detaillierter erzählen kann. Man kann zum einen eine Geschichte reichhaltiger machen, indem man die Akteure genauer charakterisiert und z. B. die Intentionen von Frau Schön rekonstruiert. Auf diese Weise bekommt man ein tieferes Verständnis der erzählten Ereignisse im Fall Sophia. Zum anderen kann man Geschichten verlängern, indem man etwas darüber erzählt, was zeitlich weiter vorher passiert ist und was nachher passieren wird oder passieren könnte. Was eine solche Ausweitung narrativer Konstruktionen möglich macht, sind Wendepunkte. Wendepunkte sind Schlüsselereignisse (Bruner, 1996), durch die Geschichten einen anderen Verlauf nehmen: Sie machen ein neues Thema, ein neues Genre anschlussfähig an eine bisher erzählte Geschichte. Im Fall Sophia ist es die Vereinbarung über die medizinische Untersuchung, die dem Geschehen eine neue Richtung gibt. Im Prinzip gibt es für diese Verknüpfungsmöglichkeit keine Grenze, jedenfalls solange das menschliche Leben weitergeht und Probleme auftreten. Fünftens: Inhärente Moralität

Der Umstand, dass die Unterbrechungen von Alltagsroutinen der Anlass für narrative Sinnstiftungen sind, impliziert, dass Handlungen und Ereignisse nicht den allgemein üblichen Erwartungen über den Lauf der Dinge entsprechen. Narrative Konstruktionen in Form von Geschichten verbinden daher das Gewöhnliche mit dem Außergewöhnlichen, sie beschreiben und erklären Abweichungen von der Normalität und haben somit unvermeidlich moralische Implikationen: Geschichten beziehen sich notwendig auf das, was moralisch angemessen oder zweifelhaft ist (White, 1981; Bruner, 1996). Die moralischen Implikationen von Geschichten beruhen auf dem Umstand, dass in den narrativen Sinnstiftungen das Handeln der Menschen nicht durch Zufall oder Naturgesetze bestimmt wird, vielmehr haben die Handlungen von Personen Gründe: Sie beruhen auf Absichten, Wünschen und/oder Überzeugungen. Gründe erklären das Handeln der Personen in Geschichten in kausaler Weise: Die Charaktere tun etwas, weil sie es wollen. Da die Handlungen

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der Personen in Narrationen durch Gründe verursacht sind, ist ein Element der Wahlfreiheit impliziert: Entscheidungen hätten von den Akteuren immer auch anders getroffen werden können. Diese Wahlfreiheit impliziert, dass in Erzählungen mit dem Handeln eine Verantwortlichkeit der Akteure verbunden ist. Deren Intentionen lassen sich daher auch moralisch bewerten, sie sind entweder gut oder schlecht, richtig oder falsch (Tilly, 2008). Das Handeln einer Person narrativ zu verstehen heißt also, das Handeln durch ihre Intentionen zu erklären und sie zugleich für ihr Handeln moralisch rechenschaftspflichtig zu machen. Barry Barnes (2001) weist darauf hin, dass mit dieser Form der Realitätskonstruktion der Umstand zum Ausdruck kommt, dass das verantwortliche Individuum als Basisinstitution unserer gesellschaftlichen Ordnung gilt. Weil Fallgeschichten stets mit moralischen Beurteilungen der handelnden Akteure verbunden sind, ist die Bearbeitung sozialer Pro­bleme unvermeidlich moralische Arbeit. Die professionellen Mitarbeiterinnen von sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen werden daher auch als »moral judges« (White, 2003) bezeichnet. Wie mittels Geschichten die moralische Bewertung von Personen erfolgt, wird deutlich, wenn man in der Fallgeschichte die Zuschreibung von Verantwortlichkeit betrachtet. Die erzählerische Darstellung der Mitarbeiterinnen des Kindergartens und des Jugendamtes impliziert, dass Sophia nicht für ihre blauen Flecken verantwortlich ist. Sophia ist in dieser Geschichte vielmehr das leidtragende Opfer. Das gilt auch für Frau Schön aufgrund ihres blauen Auges. Ronny Schulze hingegen gilt als der verantwortliche Akteur, der Sophia und ihrer Mutter Schaden zufügt. Da ihn dazu offenbar nichts gezwungen hat und er die Gewalttätigkeiten folglich auch hätte unterlassen können, wird er moralisch negativ bewertet: Er trägt die Schuld an der ganzen Problematik. In der Version von Frau Schön und Herrn Schulze ist die moralische Implikation anderer Art: Hier ist niemand verantwortlich, da die blauen Flecken nicht durch intendiertes Handeln, sondern durch eine zufällige unglückliche Kombination der körperlichen Bewegungen Sophias beim Rutschen zustande kommen. Sechstens: Inhärente Emotionalität

Mit den moralischen Implikationen und den damit verbundenen Bewertungen von Personen und ihren Handlungen in Geschichten sind Emotionen verbunden. Arthur Frank formuliert diesen Sachverhalt näher, indem er schreibt: »Stories most evidently teach what counts as good and bad by linking character’s actions to consequences that listeners feel are good or bad. Children need not to be told explicitly that Cinderella’s stepmother is acting badly or that Cinderella marrying the prince is good. Good and bad are embodied feelings experienced before

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they can be learned as moral principles« (Frank, 2010, S. 36, Hervorh. i. Orig.). Franks Hinweis, dass die Moralität von Geschichten gefühlt wird, lässt sich mit dem moraltheoretischen Ansatz von Jonathan Haidt (2001; 2012) begründen. Haidt nimmt an, dass es die ursprüngliche evolutionäre Funktion von Emotionen ist, das Wohlergehen von Individuen zu sichern und dass emotionale Reaktionen daher die Basis für die kulturelle Entwicklung moralischer Regelsysteme bilden. Verstöße gegen moralische Regelungen werden daher in erster Linie emotional erlebt (Durkheim, 1977). Geschichten haben eine emotionale Codierung (Loseke, 2009). Geht man mit Richard Lazarus (1991) zum einen davon aus, dass man sinnvollerweise zwei Typen von Emotionen unterscheiden kann, nämlich positive und negative, und dass zum anderen hervorgerufene Emotionen Einschätzungen hinsichtlich des Wohlergehens einer Person sind, die dieser Person in Form von Gefühlen innerlich signalisiert werden, so lässt sich die emotionale Codierung der Fallgeschichte folgendermaßen deuten: Die Geschichte vermittelt sowohl positive wie negative Gefühle: Die positiven Gefühle betreffen vor allem Sophia, aber auch ihre Mutter. Genauer gesagt wird in Bezug auf beide Personen Mitgefühl empfunden, wenn man sich als Rezipient der Geschichte durch das Leiden der beiden betroffen fühlt. Eine negative Emotion wird dagegen in Bezug auf Ronny Schulze erlebt, wenn man davon ausgeht, dass er der Verursacher des Leidens ist. Die negative Emotion ist die des Ärgers. Ärger tritt auf, wenn eine Person ein verletzendes Verhalten in Bezug auf etwas erlebt, das für sie relevant ist – in diesem Fall das Leiden von Sophia und ihrer Mutter. Sinnstiftung mittels Geschichten führt also nicht allein zu moralischen Positionierungen, sondern zugleich in dem Maße zu emotionalen Positionierungen, in dem Personen sich durch das erzählte Geschehen persönlich betroffen fühlen. Siebentens: Ambiguität der Referenz

Was eine Geschichte erzählt, wovon sie handelt, ist stets eine Sache der interpretativen Rahmung, denn eine Erzählung bildet ein Geschehen nicht einfach ab. Die »Fakten« einer Geschichte sind nicht umstandslos überprüfbar, weil sie eine Funktion des Genres, des Gattungstyps sind und in diesem Rahmen ihren Charakter als Tatsachen erhalten. Eine Erzählung erzeugt somit ihre eigene Referenz, auf die sie verweist, sie erzeugt ihre eigene Realität, die sie beschreibt und erklärt (Bruner, 1996). Dass sich Geschichten ihre eigene Realität schaffen, bedeutet, dass weder durch rationale Prozeduren noch durch empirische Methoden sich eine Interpretation als logisch notwendig oder wahr festlegen lässt. Der durch eine Geschichte erzeugte Sinn ist daher prinzipiell multipel, Erzählungen besitzen

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eine inhärente Ambiguität, denn es gibt keine Methode, mit der sich der »einzig wahre Sinn« einer Narration feststellen lässt. Gleichwohl sind Personen der Ansicht, dass eine Interpretation einer Geschichte deren »wirklichen« Sinn ausdrückt und andere Auslegungen das nicht tun. Aber das Kriterium für diese Beurteilung ist nicht Wahrheit oder logische Notwendigkeit, sondern das der »lifelikeness, »fidelity« (Fisher, 1987), also der Lebensnähe, Glaubwürdigkeit und/oder Plausibilität (Weick, 1995). Personen halten die Interpretation einer Geschichte für die zutreffende Auslegung, die ihrer Lebenserfahrung entspricht und der sie daher vertrauen können. Wenn man im Fall Sophia also die Version der Mitarbeiterinnen und des Jugendamtes, dass die blauen Flecken durch Schläge verursacht wurden, für die »wahre« Geschichte hält, und wenn man die Erzählung von Frau Schön und Ronny Schulze, dass die blauen Flecken die Folge eines Unfalls auf einem Spielplatz seien, für eine unwahre, erfundene Geschichte hält, dann beruht das darauf, dass man die eigenen Lebenserfahrungen für glaubwürdig hält. Aber dieses Vertrauen in die eigenen Erfahrungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im narrativen Wissen keine klare Unterscheidung zwischen realen und imaginierten Geschichten gibt. Erzählungen verwischen die Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung. Achtens: Inhärente Verhandelbarkeit und Autorität

Dass Geschichten unterschiedlich auslegbar und mehrdeutig sind, impliziert zum einen, dass narrative Sinnstiftungen stets infrage gestellt werden können, und es impliziert zum anderen, dass jede Geschichte einen Autor hat. Jede Geschichte wird von jemanden erzählt und drückt somit eine mögliche, persönliche Perspektive aus. Unterschiedliche Personen müssen sich dabei nicht auf eine Interpretation einigen. Das narrative Wissen ermöglicht vielmehr das Nebeneinander differenter Sinnstiftungen – ich habe meine Lesart, du hast deine – und erfüllt damit eine wesentliche integrative Funktion für den Bestand sozialer Ordnungen. Aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit und der Unterscheidung von Erzählung und Erzählerin sind Geschichten brauchbare Instrumente für soziale Verhandlungen und Konfliktlösungen. Dies zeigt sich auch in der Fallgeschichte: Die unterschiedlichen Versionen über Sophias blaue Flecken führen zu einer Verhandlung, deren Ergebnis die medizinische Untersuchung der Hämatome ist. Wie aus der Einbeziehung der Mediziner im Fallbeispiel hervorgeht, bedeutet die inhärente Verhandelbarkeit von Geschichten nicht, dass stets alle Interpretationen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Wie erwähnt, kann sich eine Geschichtsversion durchsetzen, weil eine Mehrzahl der Teilnehmer an narrativen Praktiken diese Fassung vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Lebens-

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erfahrungen für plausibel hält. Eine narrative Interpretation kann aber auch akzeptiert werden, weil der Geschichtenerzählerin Autorität zugesprochen wird. Diese Autorität beruht darauf, dass aus Sicht der Zuhörer die Erzählerin die Fähigkeit besitzt, die Ereignisse der Realität so zu deuten, wie sie »wirklich« sind, das heißt, ihr wird unterstellt, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben. Diese Fähigkeit wird in unterschiedlichem Ausmaß den professionellen Berufsgruppen der sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen zugesprochen. Professionelle Berufsgruppen definieren Wirklichkeit und üben auf diese Weise Herrschaft aus. Dabei besteht eine Hierarchie der Glaubwürdigkeit (Becker, 1967), in der die Geschichten der »stolzen« Professionen (z. B. Ärztinnen) mehr Geltung haben als die Geschichten der »bescheidenen« Professionen (z. B. Sozialarbeiter). In der Fallgeschichte tritt die Verknüpfung von narrativem Wissen und Herrschaft auf, als die medizinische Untersuchung von Sophia vereinbart wird. Hier erfolgt die Anrufung einer Autorität, die nun verbindlich die »wahre« Geschichte feststellen soll. Man beachte in diesem Zusammenhang auch, dass in dem Fall Sophia selbst gar nicht zu Wort kommt, um ihre Geschichte zu erzählen. Zusammengefasst stiftet narratives Wissen in sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen Sinn, in dem es die vom Personal bearbeiteten sozialen Probleme in Form von Fallgeschichten versteh- und erklärbar macht. Partikulare Fallgeschichten werden dabei durch im Rahmen des für die Sinnstiftungen der Organisation konstitutiven Genre erzählt. Die erzählerische Sinnstiftung führt zu moralischen und emotionalen Bewertungen der in der Geschichte auftretenden Akteure und der sich daraus ergebenden Handlungen. Soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen verrichten daher keine technische, sondern moralische und emotionale Arbeit. Die Geschichten in diesen Organisationen bilden dabei nicht die wahre Realität ab, sie sind vielmehr mehrdeutig und zeigen mögliche Realitäten auf. Sie repräsentieren stets die Sichtweise eines Erzählers und sind daher im Prinzip verhandelbar. Ob eine Fallgeschichte als gültige, »wahre« Geschichte aufgefasst wird, hängt zum einen davon ab, ob sie mit der Lebenserfahrung der Rezipienten übereinstimmt. Zum anderen gibt es eine Hierarchie der Glaubwürdigkeit: Geschichten von Personen, denen Autorität verliehen wird, wird Geltung zugesprochen. Das Personal sozialer personenbezogener Dienstleistungsorganisationen beansprucht Fachautorität. Dessen Geschichten gelten daher oftmals als die »wahren« Geschichten und haben einen wirklichkeitsdefinierenden Charakter, der Handlungskonsequenzen hat. Auf diese Weise wird mittels der Fallgeschichten in den Organisationen Herrschaft ausgeübt. Wenn diejenigen, deren Geschichten so kein Gehör mehr finden, sich dieser Herrschaftsausübung widersetzen, so führt

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das in der Regel zur Entstehung von informellen »Hinterbühnen« in den Organisationen, auf denen die eigenen Geschichten kultiviert werden (Goffman, 1956; 1961). Und schließlich bleibt den Betroffenen in einem Rechtsstaat die Möglichkeit, die Legitimation der narrativen Machtausübung des Fachpersonals dadurch außer Kraft zu setzen, dass sie juristisch dagegen vorgehen, das heißt, dass sie sich an das – wiederum professionelle – Organisationspersonal des Rechtsstaats wenden. In den Gerichten wird dann die endgültige Geschichte konstruiert (Löschper, 1997; Amsterdam u. Bruner, 2002).1

Die narrative Wissensbasis der organisatorischen Handlungsroutinen Geschichten werden stets in konkreten Interaktionsprozessen erzeugt und erzählt. Diese Interaktionsprozesse haben einen routinehaften Charakter, deren zugrunde liegendes Wissen ein narratives Wissen ist, das mit dem aus der Welt des Theaters entliehenen Begriff des Skripts (»Drehbuch«) bezeichnet wird (Schank u. Abelson, 1977 1995). Ein Skript beschreibt den für einen bestimmten Kontext normativ vorgeschriebenen typischen Ablauf von Handlungen. Es spezifiziert zudem, welche typischen Akteure die Handlungen auszuführen haben. Skripts sind transportable Wissensstrukturen, die von unterschiedlichen Akteuren in immer wieder neuen, multiplen Situationen aktiviert werden können. In Skripts treten Personen als Rollenträger auf. Das koordinierte Zusammenwirken der Akteure in einer Interaktion entsteht dadurch, dass die Rollenparts in der richtigen Weise aufeinanderfolgen und so der Ablauf des Skripts in seiner Ganzheit möglich wird. Niemand muss daher eine umfassende Kenntnis der Wissensstruktur des gesamten Skripts haben, für die Teilnahme der Akteure reicht ihr jeweiliges partiales Rollenwissen aus (Klatetzki, 2019). 1 Das geschieht auch im Fall Sophia. Nachdem mit dem Einverständnis von Frau Schön eine weitere Begutachtung der blauen Flecken in einer Kinderschutzambulanz vorgenommen wurde, erzählt Sophia, dass ihr die Hämatome von ihrem neuen Papa Ronny Schulze zugefügt wurden. Daraufhin wird gegen Herrn Schulze Strafanzeige erstattet. Zugleich nimmt das Jugendamt Sophia gegen den Willen von Frau Schön in Obhut. Als Begründung führt die Behörde an, dass Frau Schön nicht in der Lage sei, Sophia zu schützen. In der folgenden Verhandlung vor dem Familiengericht wird diese Maßnahme wieder aufgehoben, da die Begründung des Jugendamtes als rechtlich unzureichend angesehen wird. Auch gegen nachfolgende Versuche des Jugendamts, Frau Schön Auflagen für die Erziehung von Sophia zu machen (z. B. regelmäßiger Kitabesuch), wehrt sich Frau Schön rechtlich erfolgreich. Im nachfolgenden Strafprozess wird Ronny Schulze mangels Beweisen freigesprochen. Das Jugendamt stellt daraufhin seine Tätigkeit ein (ausführlicher dazu Klatetzki, 2019).

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Die typischen Skripts in sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen sind Arbeitsroutinen (Interaktion mit Klientinnen, Aktenführung), Reflexionsroutinen (kollegiale Beratungen, Supervisionen) und Koordinationsund Kontrollroutinen (Leitungs- und Dienstbesprechungen). Die Arbeitsroutinen im Kinderschutz z. B. beruhen auf formalisierten Vorgaben in Form von Dienstanweisungen. So sehen die Vorschriften im Rahmen des Kinderschutzes vor, dass die Fachkräfte ein Gespräch mit den erziehungsberechtigten Personen der möglicherweise gefährdeten Kinder und Jugendlichen führen müssen. Im Fall von Sophia stellt das Aufsuchen der Kindertagesstätte durch die Jugendamtsmitarbeiter, um mit Frau Schön und Ronny Schulze über die blauen Flecken zu sprechen, eine Sequenz aus einer solchen Dienstanweisung dar. Zudem werden die Interaktionsroutinen durch die normativen Regeln der in Organisationen tätigen Berufsgruppen strukturiert. Im Fall Sophia werden Frau Schön und Herr Schulze von den Mitarbeiterinnen des Kindergartens und des Jugendamtes rechenschaftspflichtig gemacht. Sie müssen erklären, woher Sophias blaue Flecken kommen. Das Skript, das in dieser Situation aktiviert wird, ist das eines moralischen Tribunals, in dem das Personal der sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen als Ankläger auftritt und Frau Schön und Ronny Schulze die Rolle der Beschuldigten zugewiesen wird. Das Interaktionsgeschehen in Skripts lässt sich genauer mit Konzept der Positionierung verstehen (Harré u. Van Langenhove, 1999; Harré u. Moghaddam, 2003), das eine dynamische Alternative zum statischen Konzept der sozialen Rolle ist. Eine soziale Position ist eine lose verknüpfte Reihe von Rechten und Pflichten, die die Handlungsmöglichkeiten von Akteuren bestimmen. Der Begriff der Positionierung ist ein metaphorisches Konzept, das mit der Vorstellung eines sozialen Raumes arbeitet, in dem Personen durch soziale (Sprech-)Handlungen verortet werden. Diese Verortung im sozialen Raum ist ein relationales Geschehen: Positioniert ein Akteur eine andere Person – z. B. indem er sie rechenschaftspflichtig macht: »Woher kommen die blauen Flecken?« –, so positioniert er sich damit zugleich selbst als jemand, der das Recht hat, diese Erklärung zu verlangen. Und es gilt auch das Umgekehrte: Jede Selbstpositionierung impliziert eine Fremdpositionierung anderer Personen. Positionierungen erfolgen durch das Handeln in Skripts und das Erzählen von Geschichten. Die basale Struktur dieses theoretischen Ansatzes ist in Abbildung 1 anhand des sogenannten Positionierungsdreiecks grafisch dargestellt:

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Soziale Positionierung: Zuweisung von Handlungsrechten und -pflichten

(Sprech-)Handlungen

Narratives Wissen: Skripts und Geschichten

Abbildung 1: Das Positionierungsdreieck

Im Rahmen der Positionierungstheorie ergibt sich zusammenfassend folgendes Bild hinsichtlich des interaktiven Charakters von Routinen und dem Erzählen von Geschichten in Organisationen: Bei einem problemlosen Ablauf eines organisatorischen Interaktionsskripts werden die wechselseitigen Positionierungen als selbstverständlich (»taken for granted«) angesehen. In der Routine werden die Zuweisungen von Rechten und Pflichten so unmittelbar handlungswirksam. Diese Form der Positionierung wird als Positionierung erster Ordnung bezeichnet. Positionierungen erster Ordnung beruhen meist auf einem präreflexiven, selbstverständlichen Skriptwissen, das dem Gewohnheitshandeln zugrunde liegt. Allerdings können Personen sich dieses Skriptwissen (zum Teil) bewusst machen und somit können Gewohnheiten auch absichtlich ausgeführt werden. Läuft die routinehafte Positionierung erster Ordnung nicht reibungslos ab, weil z. B. eine Person ihren Rechten und Pflichten nicht nachkommt und/oder der Positionierung offen widerspricht, so kommt es zu einer Unterbrechung des Skripts und zu einer Positionierung zweiter Ordnung. In Positionierungen zweiter Ordnung werden die problematisch verlaufenen Positionierungen erster Ordnung zum Gegenstand der Kommunikation zwischen den beteiligten Personen. Die Interaktionsteilnehmer bemühen sich um ein narratives Verständnis des problematischen Geschehens, das heißt, sie konstruieren eine Geschichte mit dem Ziel, die Unterbrechung des Skripts zu beheben. Positionierungen zweiter Ordnung sind bewusste Problemlösungsversuche und daher kein selbstverständliches, automatisches, sondern stets ein reflektierendes, intentionales Handeln. Dies ermöglicht auch ad hoc Improvisationen mit einem »therapeutic emplotment« im Skript, um individuelle Problematiken der Interaktionsteilnehmer zu verarbeiten (Mattingly, 1998). Von einer Positionierung dritter Ordnung wird schließlich gesprochen, wenn die Positionierungen erster und zweiter Ordnung zum Kommunikationsgegenstand mit Personen werden, die an diesen Positionierungsinteraktionen nicht

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beteiligt waren. Positionierungen dritter Ordnung sind reflektiert und intentional, hier wird von einer Person einem Publikum eine Geschichte darüber erzählt, was in den ersten beiden Positionierungsordnungen geschehen ist. Ein Überblick über die drei Arten interaktiver Positionierungen gibt die Tabelle 1. Tabelle 1: Drei Formen interaktiver Positionierungen Positionierungsart

Form des ­narrativen Wissens

Positionierung ­erfolgt durch

Beispiel für Interaktionspraxis in der Organisation

Erste Ordnung

Narrative Performanz durch den Vollzug von Skripts

Gewohnheit

Arbeitsroutine

Zweite Ordnung

Narrative Sinn­ stiftung mittels der Konstruktion von Geschichten

Problemlösendes Handeln

Sinnstiftendes Handeln innerhalb einer unterbrochenen Arbeitsroutine

Dritte Ordnung

Narrative Sinn­ stiftung mittels der Konstruktion von Geschichten

Problemlösendes Handeln

Sinnstiftendes Handeln in einer Reflexionsroutine oder Koordinations- und Kontrollroutine

Schlussbemerkung Aus einer narrativen Perspektive lassen sich soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen als Netz von geskripteten Interaktionspraktiken verstehen, in denen mittels Fallgeschichten soziale Probleme verstanden, erklärt und bearbeitet werden. Diese narrative Strukturierung des Handelns impliziert fortwährende moralisch/emotionale soziale Positionierungen der Teilnehmerinnen in Form der Zuweisung von Handlungsrechten und -pflichten. Die praktische Realisierung dieser Rechten und Pflichten resultiert in der (Re-) Produktion organisationsspezifischer moralisch/emotionaler Ordnungen (Klatetzki, 2021a). Das narrative Wissen in der Bearbeitung sozialer Probleme realisiert so ein spezifisches kulturelles Ethos (Geertz, 1973), eine Stimmung und eine Moral, die den Ton, den Charakter und die Qualität des organisatorischen Arbeitsalltags bestimmt. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Betonung der dominanten Rolle des narrativen Wissens in sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen nicht bedeutet, dass theoretisches Wissen aus der Pädagogik, Psychologie oder Soziologie in diesen Handlungssystemen keine Rolle spielt.

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Aber diese theoretischen Wissensbestände ermöglichen nicht die Etablierung von Arbeitstechnologien, sie liefern stattdessen auf der Basis der ihnen zugrunde liegenden Mythen und Metaphern (McCloskey, 1990a, 1990b; Morgan, 1986, 1993) die Möglichkeit, Fallgeschichten komplexer zu interpretieren, tiefer zu verstehen und somit mehr Handlungsoptionen zu generieren (Klatetzki, 2021b).

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Grundzüge einer narrativen Konzeption und therapeutischen Praxis in psychiatrischen Einrichtungen: Stationärer Aufenthalt als Übergang GERHARD WALTER

Die im Folgenden dargelegten Ideen und therapeutischen Vorgangsweisen wurden im Laufe einer längeren Entwicklungsphase an einer psychosomatischen Klinik für Kinder und Jugendliche entwickelt (Walter, 1998; Thun-Hohenstein u. Walter, 2001) und in der therapeutisch-psychiatrischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen langjährig erprobt.2 Sie folgen einem systemischen und narrativen Verständnis von Heilungs- und Veränderungsprozessen im Kontext von psychiatrischen Aufenthalten. In modifizierten Formen sind eben diese konzeptuellen Ideen und therapeutischen Praktiken auch auf die psychiatrische Praxis mit Erwachsenen anwendbar.

Der zentrale Stellenwert der verbindenden Hauptnarrative für therapeutisches Arbeiten im psychiatrischen Kontext Das von White und Epston begründete narrative Menschenbild betont die Bedeutung von Erzählungen für die Konstituierung des Selbst und für die Kon­ struktion von Sinnerleben:

2 Das Modell »Stationärer Aufenthalt als Übergang« wurde ursprünglich an der kinderpsycho­ somatischen Station der Universitätsklinik Salzburg entwickelt. Die Station wird von einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie geleitet. Die pädagogische Arbeit und die Betreuung der Kinder und Jugendlichen im Stationsalltag wird von Pädagoginnen und Pflegern geleistet. Der Station stehen funktionelle Therapeutinnen, Psychologen und Psychotherapeutinnen zur Verfügung. Die hier behandelten Kinder und Jugendlichen sind zwischen sechs und 14  Jahren alt und werden im Zusammenhang mit unterschiedlichen psychosomatischen und psychia­trischen Problemstellungen aufgenommen. In der Folge wurde das Modell, teilweise in modifizierter Form, von anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungen übernommen. In adaptierter Form sind die Grundzüge des Modelles auch in der Erwachsenenpsychiatrie praxisanleitend.

Grundzüge einer narrativen Konzeption und therapeutischen Praxis

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»Um einen Wandel im Leben wahrzunehmen – um das Leben als Prozess zu erkennen – und um sich darin selbst als veränderndes Element wahrzunehmen, benötigt der Mensch Mechanismen, die ihm helfen, die Ereignisse seines Lebens in einen Kontext kohärenter zeitlicher Abläufe einzuordnen – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« (White u. Epston, 1990, S. 51). Bestimmte Erzählinhalte greifen aber nicht nur Erlebtes auf, sondern beeinflussen ihrerseits unser Leben und Verhalten. Die Geschichte des Selbst neu zu erzählen wird deshalb zum Dreh- und Angelpunkt narrativer Therapie (Jakob, 2021, S. 6). Diese Überlegungen haben weitreichende Konsequenzen für Konzeption und Praxis therapeutischen Handelns in der Psychiatrie. Das traditionelle Paradigma psychiatrischer Praxis, wonach die Leitdifferenz Krankheit/Heilung und die dominierende Position der Behandelnden – insbesondere der Mediziner – das hierarchische Gefälle zwischen Behandelnden und Patientinnen und die damit verbundenen Machtstrukturen psychiatrischer Einrichtungen im Vordergrund steht, wurde immer wieder infrage gestellt beziehungsweise heftig kritisiert. Von den vielen Autoren, die sich mit der traditionellen Psychiatrie kritisch befassen, seien hier exemplarisch nur Basaglia (1974), Laing (1994) und Foucault (1993) erwähnt.3 Michael White greift die Foucault’sche Analyse der unterwerfenden Normierungsstrategien der traditionellen Psychiatriepraxis auf und schlägt vor, »[…] den gedanklichen Kontext unserer Praktiken festzustellen und die Entstehungsgeschichte unserer Gedanken zu untersuchen« (White u. Epston, 1990, S. 47). 3 Franco Basaglia (1924–1980) war ein engagierter Kritiker der menschenunwürdigen Zustände in italienischen Kliniken (Elektroschocks, Lobotomie, medikamentöse Ruhigstellung). Sein Engagement führte letztendlich zu einer radikalen Veränderung der Behandlung von Psychiatriepatienten in Italien. Grundlage seiner Kritik war vor allem die wissenschaftlich nicht reflektierte Rolle der psychiatrischen Autorität, die erst eine institutionelle Herstellung des Abnormalen ermöglicht, produziert und also mitkonstruiert. Ronald D. Laing (1927–1987) betonte in seinen Texten immer wieder – im Vorgriff auf Foucault – die gesellschaftliche Konstruktion dessen, was wir als normal und pathologisch bezeichnen. In seiner Beschäftigung mit der inneren Dynamik der »schizophrenen Erfahrung« steht vor allem die Interpersonalität zwischen Ärztin und Patient sowie der soziale Zusammenhang mit der Familie im Vordergrund. Michel Foucault (1926–1984) untersuchte in seiner Studie »Wahnsinn und Gesellschaft« die abendländische Trennung und Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn und die Geschichte des Ausschlusses der »Irren«. Er thematisierte damit die dunklen Seiten der für die westliche Kultur typischen Rationalisierungsansprüche im Hinblick auf unterwerfende Normierungsstrategien.

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Whites Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen münden in eine Ermutigung, unsere therapeutischen Praktiken nicht an scheinbar objektiven Realitäten einer einheitlichen, globalen Wahrheit auszurichten, sondern viel mehr das »lokale Wissen« unserer Klientinnen beziehungsweise Patienten zu würdigen. Vor dem Hintergrund eines systemischen und narrativen Menschenbildes, das Menschen als erzählende, sinngenerierende und motivationale Wesen begreift, bilden daher die Erzählungen, die von Patientinnen, von deren relevanten Bezugspersonen und den Psychiatriemitarbeitern hervorgebracht werden, den zentralen Aspekt psychiatrischen Geschehens. Es geht dann um nichts Geringeres als um die Entwicklung von Geschichten, die das Selbst neu oder verändert erzählen. So verstanden stellen psychia­ trische Hilfestellungen den Raum bereit, in dem die Erkundung von Narrativen der Erweiterung, des Wachstums, der Entwicklung und der Selbstwirksamkeit ermöglicht werden. Die therapeutische Arbeit im psychiatrischen Kontext bezieht also ihr immens veränderungswirksames Potenzial aus der Entwicklung von gemeinsam geteilten, veränderungsrelevanten und prozessbegleitenden Narrativen aller am Veränderungsgeschehen beteiligten Personen und Subsysteme. Aus einer diskurstheoretischen Perspektive können diese Überlegungen auch einen weitreichenden Einfluss auf die Metaerzählungen über Psychiatrie bewirken und einen oftmals negativ konnotierten oder undifferenzierten Diskurs im Zusammenhang mit psychiatrischen Behandlungen durch hilfreichere Bedeutungsgebungen verändern. Die posthumanistische Philosophin Rosi Braidotti, deren Entwurf einer »nomadischen Subjektivität« für die zeitgenössische narrative Therapie zunehmend an Bedeutung gewinnt, betont vor allem die Dimension der Imagination, der Kreativität und der Relationalität von Subjekten sowie auch ihre Bewegung, ihre Bewegtheit und ihre Verwandlungsfähigkeit: »Ethische Beziehungen schaffen mögliche Welten, indem sie auf Ressourcen zurückgreifen, die in der Gegenwart unerschlossen geblieben sind, einschließlich des Begehrens und unserer Vorstellungskraft. Sie aktivieren intensive oder nomadische Netze der Verbundenheit mit anderen« (Braidotti, 2017, S. 17). Wenn man die potenziell hilfreichen Beziehungen, die im Rahmen von psychiatrischen Aufenthalten entstehen, als ethische Beziehungen im Sinne Braidottis versteht, finden wir eben da einen Möglichkeitsraum vor, der Verbundenheit entstehen lässt und für veränderungsrelevante Zwecke nutzbar gemacht werden kann. In systemtheoretischer Begrifflichkeit kann Verbundenheit auch verstanden werden als Synchronisation der therapeutischen Bemühungen aller am Veränderungsprozess Beteiligten zur Schaffung von Synergieeffekten. Die Synergetik als Theorie und Wissenschaft der Selbstorganisation von Systemen erklärt, wie

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Muster entstehen und sich verändern, wie das Neue in die Welt kommt, warum Systeme oft sehr rigide und stabil funktionieren und andere oder dieselben zu anderen Zeiten nach kleinsten äußeren oder sogar inneren Schwankungen ein völlig geändertes Verhalten aufweisen (Schiepek, Eckert u. Kravanja, 2013). Auf dieser theoretischen Grundlage wird Psychotherapie (und in weiterem Sinne psychiatrisch-psychotherapeutisches Handeln) als ein Schaffen von Bedingungen für Selbstorganisationsprozesse der biologischen, psychischen und sozialen Systeme der Klientinnen verstanden, an dem sich Therapeutinnen und Klienten kooperativ beteiligen. Für die therapeutische Arbeit im psychiatrischen Kontext ergibt sich daraus der zentrale Stellenwert gemeinsam geteilter, erlebnisanleitender und handlungsanleitender Narrative, die diese Kooperation ermöglichen können.

Leitmotivische Erzählungen von Veränderungsprozessen als gerichtete Bewegung Schiepek et al. (2013) beschreiben notwendige und ausreichende »generische Prinzipien«, die die Selbstorganisation von Musterveränderungen in psychischen und sozialen Systemen fördern können. Ein zentrales generisches Prinzip stellt demnach Energie und Motivation dar (Schiepek et al., 2013). So gesehen gelangt die Entwicklung jener Erzählungen, die Bewegungen in Richtung attraktiver Vorstellungen des Selbst und seiner relevanten Bezugssysteme zum Inhalt haben, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller am psychiatrischen Geschehen Beteiligten. Braidottis Grundgedanke einer »nomadischen Ethik« besteht im Kern darin, dass die Bedingungen neuer politisch-ethischer Handlungsfähigkeit nicht aus dem unmittelbaren Kontext ableitbar sind oder aus den aktuellen Gegebenheiten. Sie müssen affirmativ und kreativ geschaffen werden, durch zukunftsorientierte Anstrengungen der Mobilisierung ungenutzter Möglichkeiten und Visionen, die in alltäglichen Formen des Zusammenwirkens mit anderen verwirklicht werden (Braidotti, 2013, S. 194). Übertragen auf das psychiatrische Geschehen kann dies verstanden werden als das gemeinsame Schaffen von Bedingungen, die Narrative von gerichteter Bewegung hin zu attraktiven Vorstellungen ermöglichen. Der stationäre Aufenthalt kann dann als Möglichkeit des Erlebens und Erprobens neuer Selbstzustände und Handlungsoptionen begriffen werden. Damit kommen den erlebnisgenerierenden Erzählungen von Bewegung und Übergang besondere Bedeutung zu.

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Ontogenetisch früher als die verbale Sprache entsteht aus Bewegungen heraus eine Kommunikation des Subjekts mit der Welt. Am Anfang des Lebens, bevor der Mensch Zugang zur Sprache hat, bewegt sich der Freiheitsspielraum von Menschen auf der Ebene von Bewegungen. Dieser Freiheitsspielraum ist beträchtlich hinsichtlich des kreativen Potenzials der Bewegungen, das sich der Mensch von Anfang seines Lebens an erschließt (Gebauer, 2015, S. 23). Aus narrativer Sicht erweist sich dieser vorsprachlich erlebte Bewegungsraum als Vorstufe von sich im Zuge des Spracherwerbes entwickelnden Erzählungen, in denen potenzielle, virtuelle und zukünftige Bewegungen mit der gegenwärtigen Umgebung verknüpft werden. Sie ermöglichen den Bewegungen, sich gleichsam immer voraus zu sein; sie geben diesen einen Spielraum der Antizipation und damit einen praktischen Vorgriff auf die Dinge, die kommen werden (Gebauer, 2015, S. 25). Verbinden sich reale Körperbewegungen mit Narrativen, die den möglichen Bewegungsraum zum Inhalt haben, taucht momenthaft ein Bündel von Emotionen, Gedanken, Erinnerungen und Bewertungen auf (Gebauer, 2015, S. 33). Dies kann in der therapeutischen Arbeit und insbesondere in ihrer psychiatrischen Ausprägung veränderungsanregend genutzt werden. Unter diesen Gesichtspunkten kann die oftmals außergewöhnliche, ja verstö­ rende Erfahrung eines psychiatrischen Aufenthaltes von allen am psychiatrischen Geschehen Beteiligten als Bewegung in einer Phase eines Überganges erzählt werden. Die therapeutische Arbeit wird dann auf das Erzählen und Erleben von Bewegungen fokussieren, die für das Leben der Patienten bedeutungsvoll und hilfreich sind.

Leitmotivische Erzählungen von Veränderungsprozessen als Übergang Insbesondere im Zusammenhang mit stationären therapeutischen Aufenthalten von Kindern und Jugendlichen bietet sich narrative Bezugnahme auf sogenannte Initiationsriten an, die jedenfalls zentrale biografische Übergänge darstellen. Offensichtlich haben alle menschlichen Kulturen eine große Anzahl von Ritualen entwickelt, um bedeutungsvolle Übergänge in der Lebensgeschichte von Menschen und in der Entwicklungsgeschichte von Familien beziehungsweise Gruppen symbolisch zum Ausdruck zu bringen, zu markieren, zu begleiten und zu erleichtern. Diese Übergänge und die damit verbundenen Übergangsrituale spielen in der Anthropologie und in der Ethnologie eine äußerst wichtige Rolle (van Gennep, 1909/2005). Immer geht es dabei um Übergänge von einem Status

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geringerer Kompetenz (unreiferer Lebensabschnitt) zu einem Status erweiterter Kompetenz (reiferer Lebensabschnitt). Und zwar sowohl was die Anerkennung und Bestätigung durch die Außenwelt betrifft als auch in Bezug auf eine veränderte innere Wirklichkeit (Roberts, 1988, S. 7). In vielen indigenen Stammeskulturen wird der Übergang vom Jungen zum Mann oder vom Mädchen zur Frau von komplexen rituellen Prozessen begleitet. Zum Beispiel verlassen die Jungen den Stamm zu einer festgelegten Zeit – sie lassen gewissermaßen ihre Kindheit hinter sich – und gehen hinaus in die Wildnis. Diese Phase wird in der anthropologischen Literatur als Trennungsphase bezeichnet. Es folgt nun eine Zeit der Bewährung hinsichtlich des eigenständigen Überlebens in der Wildnis, die mit einer Fülle von Übungssituationen verbunden ist: Jagen, Kämpfen, sich an die Beute anschleichen und so weiter. In dieser Zeit muss der Junge auch Mutproben bestehen und Schmerzerfahrungen erleiden und wird mit bestimmten Trancetechniken und halluzinationsinduzierenden Praktiken konfrontiert. Dies alles soll ihm dabei helfen, sein Totemtier zu finden – gleichsam einen konstituierenden Faktor seiner veränderten Ichgeschichte. Erst dann kann er als erwachsenes Mitglied der Gemeinschaft zu seinem Stamm zurückkehren. Diese Phase wird als Schwellenphase oder Übergangsphase bezeichnet. Die Rückkehr zum Stamm stellt nun den letzten Teil dieses Überganges dar und wird üblicherweise als das eigentliche Initiationsritual beschrieben. Der junge Mann kehrt als Erwachsener zurück und wird von da an von der Gemeinschaft in seinem neuen Status gesehen. Dabei wird der doppelte Aspekt des Rituals – also sowohl die soziale Dimension (Anerkennung des neuen Status durch die Gemeinschaft – das veränderte Narrativ hinsichtlich der Stellung und Position des jungen Mannes) als auch die psychische Dimension (Veränderung in der Ichgeschichte) – deutlich. Meist findet dann ein großes Fest statt, das eine öffentliche Würdigung des neuen Status einschließt. Diese Phase wird als Wiedereingliederungs- beziehungsweise Reintegrationsphase bezeichnet. Wenn wir die stationäre Behandlung als eine Möglichkeit betrachten, die den Patientinnen und ihren Familien dabei hilft, zu einem reiferen Status hinsichtlich der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten zu gelangen, kann die Metapher des Übergangsrituals, die Erzählung des stationären Aufenthaltes als Übergang zu eben diesem Narrativ der Erweiterung, des Wachstums und der Entwicklung werden, das einen hilfreichen und einigenden Rahmen für alle am psychia­trischtherapeutischen Prozess Beteiligten darstellt (Durrant, 1996, S. 37). In Anlehnung an Durrant (1996) bildet die Beschreibung des stationären Aufenthaltes als Übergang eine zentrale Leitmetapher für das gesamte therapeu-

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tische Handeln im Rahmen des stationären Aufenthaltes. Die von vielen Kulturen vorgegebenen Entwicklungs- und Veränderungsschritte stellen äußerst geeignete Bilder zur Verfügung, mit deren Hilfe die Zeit des stationären Aufenthaltes als wichtige Phase in der Lebensgeschichte der Patienten erlebt werden kann und darüber hinaus die Möglichkeit erschließen, diese Geschichten zu gestalten, gemeinsam mit den für sie relevanten Bezugspersonen. Übergang bedeutet dann in diesem Zusammenhang einen Einschnitt in einen kürzeren oder längeren Prozess der Entstehung einer Problemgeschichte (White u. Epston, 1990) beziehungsweise eines Problemsystems im Sinne Goolishians und Andersons (Anderson, Goolishian u. Winderman, 1986). Einen Einschnitt in zweifacher Hinsicht: 1. den Übergang von defizitorientierten Beschreibungen der jeweiligen Lebenssituation zu kompetenzorientierten Beschreibungen im Umgang mit der erlebten beziehungsweise erzählten Problematik, 2. Erfahrungen von Kompetenz und Stärken im Rahmen des Problemthemas und im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel. Am Ende dieser Übergangsphase steht die Integration der neuen Erfahrungen, Erzählungen und Sichtweisen in den familiären Alltag, die praktische Bewährung der Veränderungen und somit die eigentliche Arbeit. Sinnvoll ist hier die Fortsetzung der therapeutischen Arbeit in einem ambulanten therapeutischen Setting, um diese Integration zu begleiten und das Erreichte zu erweitern. Der gesamte stationäre Therapieprozess kann dann metaphorisch auf der Grundlage dieses Dreiphasenmodells erzählt und erlebt werden. So steht die »Trennungsphase« für die Vorbereitung des Aufenthaltes (»Worum geht es? Was möchte ich üben, lernen, neu oder anders verstehen?«) beziehungsweise für die ersten Grundzüge eines möglichen Zieles des Aufenthaltes (»Was möchte ich, was möchten wir erreichen, wann kann der Aufenthalt beendet werden?«). Diese Phase kann auch gesehen werden als Beginn einer Loslösung der Patientinnen und ihrer Familien vom Problem und der negativ konnotierten Vergangenheit, von bisherigen problemzentrierten und erfolglosen Lösungsversuchen. Das zu dieser Trennungsphase passende therapeutische Angebot am Beginn des Aufenthaltes sehen wir in der therapeutischen Praxis des Externalisierens von Problemen beziehungsweise problematischem Erleben und problematisch erlebten Verhaltensweisen wie sie von Michael White und anderen Vertretern narrativer Therapie entwickelt wurde (White u. Epston, 1990). Dabei geht es um eine Neubestimmung und ein verändertes Erleben der Beziehung zwischen den als problematisch erlebten Inhalten und der Person der Patientin, die in

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erster Linie als reichlich ausgestattet mit Ressourcen gesehen wird. Dazu passend Braidottis Definition des nomadischen, posthumanen Denkens, das in hohem Maße »[…] ein Denken in offenen Räumen und verleiblichten Vollzügen ist und einen qualitativen Sprung heraus aus dem Vertrauten erfordert (Braidotti, 2017, S. 196). Die »Schwebe- oder Übergangsphase« steht für eine Zeit des Übens, des Ausprobierens (Versuch und Irrtum), der erlebten Erfolge und Misserfolge in einem »Klima der Ermöglichung«, welches durch die koordinierten Arbeitsweisen des Behandlungsteams erzeugt werden soll. Auch hier bietet sich externalisierendes Arbeiten an, insbesondere die Neubestimmung und das Ausprobieren einer veränderten Beziehung zum problematischen Erleben. In dieser Phase, die den Hauptteil des stationären Aufenthaltes darstellt, liegt der Aufmerksamkeitsfokus aller Beteiligten auf den Stärken, den Fähigkeiten, den Ressourcen und den Erfahrungen des Gelingens. Diese Fokussierung ist dann Grundlage und Voraussetzung für neue, veränderungsgenerierende Erzählinhalte. Dieser Perspektivenwechsel erfordert nicht nur von den Patienten, sondern auch von den Mitarbeiterinnen Transformationen ihrer gewohnten Erzählgewohnheiten im Hinblick auf das Beschreiben und Erleben des gesamten stationären Therapieprozesses. Diese Transformationsarbeit beginnt bei jedem Klienten und seiner Familie immer wieder aufs Neue. Für das Behandlungsteam kann sich durch zunehmende Erfahrung mit diesem narrativen Blick eine bewegungs- und ressourcenfokussierte Praxis entwickeln, die zur eingeübten Routine wird. Bewährt hat sich dabei, vor allem bei den Teambesprechungen auf Moderationen zu achten, die Bewegungen und Ressourcen bei den Patientinnen im Auge haben. Regelmäßige Fortbildungen und Supervisionen können diese narrative psychiatrische Praxis entscheidend unterstützen, geht es doch darum, bestimmte, mehr defizitorientierte Sichtweisen der Mitarbeiter und den gesellschaftlichen Kontext, in den psychiatrische Kliniken eingebettet sind, zu überwinden. Im Sinne einer Anschlussfähigkeit an die Bedeutungswelt der Patienten und Mitarbeiterinnen kann es oftmals sinnvoll sein, Pathologie- und Defizitdiskurse nicht gänzlich zu vermeiden, sondern allmählich zu überwinden (Walter, 2001, S. 268).1 1

An der kinderpsychosomatischen Station der Salzburger Universitätsklinik hat sich jedenfalls durch mehrjährige Anwendungspraxis dieser narrativen Ideen bei begleitender kontinuierliche Teamintervision und Supervision und entsprechenden Fortbildungen der verschiedenen Berufsgruppen eine gewisse Expertise beim Fokussieren auf »Hören, wie das Gras wächst« entwickelt. Großer Wert wird dabei auch auf die bewegungs-, übergangs- und zielorientierte Moderation von Teambesprechungen gelegt.

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Die »Wiedereingliederungs- beziehungsweise Reintegrationsphase« steht für die Fokussierung auf die Möglichkeiten, wie diese neuen Erfahrungen im Alltag der Patientinnen und ihrer wichtigsten Bezugspersonen integriert werden können. Den Abschluss des gesamten Aufenthaltes bildet dann ein Fest, bei dem die Ernsthaftigkeit und die ernsthaften Bemühungen aller am Prozess Beteiligten feierlich gewürdigt werden. Bei diesem rituellen Ereignis wird dann öffentlich der »neue Status« der Patienten verkündet (»was wir erreicht haben«). Übergang meint hier auch den Beginn einer neuen Phase der therapeutischen Unterstützung nach Beendigung des Aufenthaltes, in einem ambulanten Setting: Oftmals beginnt hier erst der umfangreichere Teil der therapeutischen Arbeit.

Leitmotivische Erzählungen von Veränderungsprozessen durch attraktive Zielbilder und Zukunftsgeschichten Es sind vor allem die emotional bedeutsamen Zukunftsbilder, Visionen, Utopien, die veränderungsrelevantes Handeln und Erleben bei allen am psychiatrischen Geschehen Beteiligten – sowohl bei den Patientinnen als auch bei den professionellen Helfersystemen – fördern und oftmals auch ermöglichen. Sie ermöglichen auch eine Synchronisierung der beteiligten Subsysteme (Helferinnensysteme und Patientensysteme) und stellen die kraftvollen Impulse des gesamten selbstorganisierten Veränderungsprozesses dar (Walter, 2017). In ihrer Konzeption eines nomadischen Subjektes nimmt Braidotti Bezug zu einem »Stadium des Werdens«: »Darin liegt das Paradoxon nomadischer Subjektivität auf dem Höhepunkt ihres Prozesses anders-als-sie-selbst zu werden und sich der Spannung zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht zu befinden. Bricht in der Gegenwart eine nachhaltige Zukunft hervor, werden virtuelle Möglichkeiten in der Gegenwart aktualisiert« (Braidotti, 2017, S. 62). Wenn Braidotti ausführt, dass die Bedingungen neuer politisch-ethischer Handlungsfähigkeit nicht aus dem unmittelbaren Kontext ableitbar sind, sondern affirmativ geschaffen werden, durch zukunftsorientierte Anstrengungen der Mobilisierung ungenutzter Möglichkeiten und Visionen (Braidotti, 2013, S. 194), so lässt sich dieser Grundgedanke posthumanistischer Ethik wirkungsvoll herunterbrechen auf die Entwicklung zukunftsorientierter Erzählungen im Zu-

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sammenhang mit stationären Aufenthalten. Dazu passend auch die Definition des Selbst als »[…] ein bewegliches Gefüge in einem gemeinsamen Lebensraum, den das Subjekt nie beherrscht oder besitzt, den es nur – und stets in Gemeinschaft in der Menge oder Gruppe – bewohnt und durchquert« (Braidotti, 2013, S. 196). Psychiatrisch-therapeutisches Arbeiten stellt unter diesen Gesichtspunkten eine hervorragende Möglichkeit dar, gemeinsam geteilte Zukunftserzählungen und die dazu gehörigen Bilder zu entwickeln. Gemeinsam geteilt meint hier die Interaktion und Kooperation aller am psychiatrischen Geschehen beteiligten Personen beziehungsweise Subsysteme also der Patienten mit ihren wichtigsten Bezugspersonen und den professionellen Helfersystemen. Dies entspricht auch sozial-konstruktionistischen Wirklichkeitstheorien, wonach handlungsorientierende und erlebnisnahe Realitäten immer in gemeinsam hervorgebrachten Kommunikationen der für das Individuum relevanten sozialen Systeme entstehen (Gergen, 1996). Es geht im gesamten Therapieprozess vor allem also auch um das Erleben und Intensivieren jener Glücksbilder, die kraftvolle Attraktoren des gesamten selbstorganisierten Veränderungsprozesses darstellen. Dies kann auf unterschiedlichen Systemebenen geschehen: Ȥ Systemebenen des Individuums (Kognition, Emotion, Körperebene), Ȥ Systeme, die das Individuum umgeben beziehungsweise in die es eingebettet ist: Familie, Peergroup außerhalb der Klinik, professionelle Helfersysteme in der Klinik, Mitpatienten (Walter, 2017).

Erlebnis- und körperorientierte therapeutische Arbeit im psychiatrischen Kontext Narrative Therapie kann als therapeutische Praxis verstanden werden, die davon ausgeht, dass Narrative alle Bereiche individueller und gesellschaftlicher Existenz bestimmen. Dies lässt sich auch mit der Vorstellung von Menschen als biopsychosoziale Wesen verbinden, die im Menschenbild medizinisch Handelnder in vielen Kulturen geläufig ist. Die Abbildung 1 stellt die vielfältigen Bereiche dar, auf die der Fokus therapeutischen Handelns gerichtet werden kann. Die hier dargestellten Ebenen stehen miteinander in vielfältigen Wechselbeziehungen. So stellen die vertikal dargestellten Ebenen die Wechselwirkungen zwischen bestimmten Diskursen auf einer gesellschaftlichen Ebene und ihre weitreichenden Auswirkungen auf familiäre und individuelle Narrative dar, die wiederum untrennbar mit emotionalem und körperlichem Erleben ver-

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Abbildung 1: Die Mehrdimensionalität von Narrativen

bunden sind. Auf der horizontalen Ebene wird die Verbundenheit der drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft abgebildet. Für die therapeutische Praxis im psychiatrischen Kontext stehen die erfahrungsnahen Dimensionen der familiären und individuellen Narrative sowie ihre Verbindung zu metaphorischen und bildhaften Beschreibungen sowie die damit verbundenen emotionalen Aspekte und das damit verbundene Körpererleben im Mittelpunkt. Wenn wir allerdings die Rahmenerzählungen von Bewegung, Übergang und attraktiven Zukunftsvorstellungen für den gesamten psychiatrisch-therapeutischen Prozess vorschlagen, betrifft diese Fokussierung eben auch eine gesellschaftsdiskursive Dimension. Üblicherweise gelten für psychiatrische Einrichtungen die für die Medizin relevanten Begriffe Krankheit, Pathologie, Therapie, Heilung und die dazugehörigen Theorien. Die Fokussierung auf bewegungsbetonende Metaerzählungen stellen dagegen die Selbstwirksamkeit der Patientinnen in den Mittelpunkt und haben weitreichende Konsequenzen für das Erleben und Handeln aller am psychiatrischen Prozess Beteiligten. Unter anderem verändert dies die Position der Patienten und ihrer wichtigen Bezugspersonen, die damit stärker in das Zentrum des angestrebten Veränderungsprozesses rücken. Die professionellen Helferinnen beziehen dabei eine eher dezentrale Position und eine Kooperation auf Augenhöhe wird wahrscheinlicher. Wenn also die Rahmenerzählungen für den stationären Aufenthalt

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Übergang, Bewegung, Richtung und Ziel thematisieren, rücken jene therapeutischen Praktiken in den Mittelpunkt, die diese Inhalte auf unterschiedlichen Ebenen erlebbar machen. Für Therapeutinnen bieten sich damit vielfältige erlebnisanregende Vorgangsweisen an. Auf einer kognitiv-narrativen Ebene könnte es z. B. um die Entwicklung von zwei Erzählungen über attraktive Zukunftsbeschreibungen gehen (Walter, 2017, S. 105 ff.): Ȥ Mittel- bis langfristige Lebensziele Eine dazu einladende Frage der Therapeutin könnte sein: »Stelle dir vor, es ist ein Jahr (fünf Jahre etc.) vergangen, du hast dich von deiner Angst befreit – wie sieht dein Leben aus?« Ȥ Annäherungsziele für den stationären Aufenthalt Eine dazu einladende Frage des Therapeuten könnte sein: »Und wenn die Zeit in der Klinik einen Übergang in deinem Leben in diese neue Richtung darstellt, was wird dann anders sein als jetzt? Was ist der nächste Schritt dorthin? Wer kann dabei hilfreich sein?« (z. B. Eltern, Partner, Mitpatientinnen, Mitarbeiter in der Klinik) Auf der emotionalen Ebene bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten der Intensivierung der attraktiven Zukunftsbeschreibungen an, wie z. B. die Visualisierung durch Imagination von attraktiven Filmsequenzen (Walter, 1999, S 13 ff.). Die Patientinnen werden eingeladen, kurze Filmsequenzen zu imaginieren, die auf dichte, komprimierte Weise eine Lebenssituation rund um die Zielerreichung zeigen. Bei dieser Vorgangsweise ergibt sich die Möglichkeit, neben der visuellen Imagination auch akustische Vorstellungen zu entwickeln (Umgebungsgeräusche, äußere und innere Dialoge, Filmmusiken etc.). Auf diese Weise können sich Patienten als Hauptdarsteller beziehungsweise Helden in ihrem eigenen Lebensfilm beobachten. Das symbolische Schaffen eines Weges zum Ziel, das tatsächliche Gehen zum Ziel und das auch körperliche Erleben der Zielerreichung stellt eine weitere Intensivierungsmöglichkeit auf einer körperlichen Ebene dar (Walter, 1999, S. 13 ff.). Dabei wird der Patient aufgefordert, einen Platz im Raum zu markieren, der für das Erreichen der Zielvisionen steht, und zu diesem Platz zu gehen. Damit wird dem symbolischen und körperlichen Erleben des leitmotivischen Bewegungsnarratives ein erlebnisorientierter Raum gegeben. Hat die Patientin diesen Platz erreicht, wird sie gebeten, eine Körperhaltung einzunehmen, die zu dieser Situation passt. Es findet ein »Interview in der Zukunft« statt, bei dem die Patientin thematisieren kann, mit welchem Körpererleben, welcher Atmung, welchen Emotionen und welchem Selbstbild diese

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bedeutungsvolle Situation in ihrem zukünftigen Leben verbunden ist. Es kann hier gefragt werden, welche wichtigen Bezugspersonen diese Veränderungen bemerken werden und was das für diese Personen bedeutet. Im Laufe des Aufenthaltes kann diese Arbeit mit den Patienten regelmäßig wiederholt werden. Dadurch kann das Bewegungsnarrativ immer wieder erlebnisnah aufgegriffen werden. Darüber hinaus können mit den Patientinnen immer wieder neue Narrative entwickelt werden, die davon handeln, was »auf diesem Weg« schon gelungen ist beziehungsweise welche Schwierigkeiten auftreten und wie diese überwunden werden können.

Schaffen von Synergieeffekten durch Synchronisierung der multidisziplinären psychiatrischen Arbeit Therapeutische Arbeit im Rahmen von psychiatrischen Einrichtungen kann ein immens veränderungsrelevantes Potenzial entwickeln, wenn es gelingt, die multidisziplinäre Arbeit zu koordinieren, um dadurch Synergieeffekte zu erreichen, die in der ambulanten Einzel- oder Familienarbeit so nicht erreichbar sind (Walter, 2017, S. 105 ff.). Um die Ressourcen aller Beteiligten an diesem gemeinsamen Projekt von Bewegung und Übergang optimal zu nutzen, orientieren wir uns an Helm Stierlins Konzept der bezogenen Individuation (Stierlin, 1982) als theoretische Grundlage für das Schaffen einer geeigneten Form der Zusammenarbeit (Walter, 2001, S. 162 ff.). Dabei geht es im psychiatrischen Kontext darum, dass 1. alle beteiligten Personen (Klientin und ihre Partnerin beziehungsweise ihre Familie sowie alle beteiligten Helfersysteme auf der Station) aus sich heraus ihre Möglichkeiten entdecken und entwickeln, einen Beitrag zur gewünschten Veränderung zu leisten (Prozess der Individuation) und 2. diese Beiträge im Rahmen des gemeinsamen Themas des Aufenthaltes entlang der Rahmennarrative sowie der dafür geeigneten Gesprächsstrukturen möglichst gut miteinander vernetzt werden (Prozess der Bezogenheit). Die Abbildung 2 stellt eine Übersicht dar, über die für den gemeinsamen psychiatrisch-therapeutischen Prozess infrage kommenden Personen und Systeme. Vielfältige Möglichkeiten der Einbeziehung aller am Prozess Beteiligten sind hier möglich. Bei der therapeutischen Arbeit mit dem Partner beziehugnsweise den Familienmitgliedern des Patienten geht es darum, das Thema des Aufenthaltes rund um die leitmotivischen Narrative gemeinsam zu thematisieren und aufeinander abzustimmen.

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Abbildung 2: Übersichtsdarstellung der unterschiedlichen Systeme und Systemebenen, die für die Zielbild-Intensivierung in Betracht kommen

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Im Sinne einer erlebnisnahen Intensivierung hat sich unter anderen auch die Arbeit mit dem Familienbrett (Ludewig, 1983) und die Arbeit mit lebenden Skulpturen (Satir u. Baldwin, 1988) bewährt. Dabei geht es immer um die Frage, wie die wichtigsten Bezugspersonen die Bewegung und den Übergang in die gewünschte Richtung unterstützen können. In diesem Rahmen bewähren sich auch Vorgangsweisen, die Erfahrungen von Stärken, Fähigkeiten, Werten und Tugenden der ganzen Familie thematisieren und erlebbar machen. Die Reflexion von neuen Erfahrungen bei »Beurlaubungen« im vertrauten Umfeld der Patientin sind dabei wichtige Elemente der gemeinsamen Reflexion. Die Bedeutsamkeit der Mitpatienten für Veränderungsprozesse bei stationären Aufenthalten stellt einen weiteren wichtigen Synchronisationsschritt dar. Vielfache Möglichkeiten haben sich dabei als hilfreich erwiesen: Ȥ Patientinnen erzählen sich ihre gewünschten Zukunftsperspektiven und ihre Erfahrungen mit Bewegung und Übergang im gruppentherapeutischen Setting – die Bewegung kann gemeinsam im Raum erfolgen und erlebt werden. Dadurch wird das individuelle Narrativ von einer »Zeugenschaft«, White nennt dies »outsider witness group« (White, 1995, S. 172 ff.), nochmals verdichtet und gefestigt. Ȥ Patienten stellen die gewünschte Veränderung im Rollenspiel dar. Ȥ Mit den Mitpatientinnen können die von der Patientin entwickelten Filmszenen tatsächlich inszeniert und gefilmt werden – mit den Mitpatienten als Filmdarstellern. Ȥ Schließlich kann für den Abschluss des stationären Aufenthaltes gemeinsam mit der Patientengruppe ein Abschlussfest für die Patientin geplant werden, bei dem das Erreichte entsprechend thematisiert und gewürdigt wird. Die an der psychosomatischen Station der Universitätsklinik Salzburg erprobten Gesprächsstrukturen sind darauf ausgerichtet, ein hohes Ausmaß an Synergieeffekten zu ermöglichen. Dabei wird der Ablauf des stationären Aufenthaltes von den folgenden Verlaufsphasen und Gesprächsstrukturen begleitet: Abklärungsgespräche – Vorbereitungsphase

Vor dem Aufenthalt werden die Eltern und das Kind von der später fallführenden Psychotherapeutin zu ambulanten Gesprächen eingeladen. Dabei wird die Problemsituation, ein vorläufiges Ziel des Aufenthaltes, das therapeutische Konzept und die Gesprächsstrukturen besprochen. Kommt es bei diesen Gesprächen zu einer Entscheidung für die Aufnahme, wird ein Termin für ein sogenanntes Aufnahmegespräch vereinbart.

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Aufnahmegespräch – Anfangsphase

Dies ist der Beginn einer Reihe von strukturierten Gesprächen, die dazu dienen sollen, den gesamten Prozess der bezogenen Individuation symbolisch zu inszenieren und zu verdichten. Daher ist von da an die Teilnahme von Kind beziehungsweise Jugendlichem, seinen Eltern sowie des Behandlungsteams bestehend aus Ärztin, Psychotherapeut, Betreuerin, Sozialarbeiter und funktionellen Therapeutinnen vorgesehen. Es werden die Ergebnisse der Vorbereitungsgespräche zusammengefasst und es wird über erste Ideen darüber gesprochen, was jeder der Beteiligten zum Veränderungsprozess beitragen kann. Diese »Planungs- und Steuerungsgruppe« plant und reflektiert in 14-tägigen Abständen den gesamten Aufenthalt. Reflexionsgespräche – Übergangsphase

Nach jeweils zwei Wochen treffen sich die Teilnehmer dieser Planungs- und Steuerungsgruppe, um Ziel und Bewegung der gemeinsamen Arbeit aus der Sicht aller Beteiligten zu reflektieren, Teilziele für die nächsten zwei Wochen zu überlegen und die entsprechenden Beiträge aller Beteiligten zu thematisieren. Alle Entscheidungen die den Aufenthalt betreffen, auch Dauer und Beendigung, werden in diesen Gesprächen entschieden. Die Beendigung des Aufenthaltes bildet das sogenannte Abschlussgespräch, in dem die Ergebnisse aus der Sicht aller Beteiligten und die weitere therapeutischambulante Vorgangsweise thematisiert werden. Das Abschlussritual bildet ein Abschlussfest, bei dem die Veränderungen und die Erfolge der Patientin gewürdigt werden und an dem die Mitpatienten teilnehmen. Diese »Zeugenschaft« durch wichtige Bezugspersonen der Patientin erscheint uns für die Intensivierung der Neuerzählung des Selbst am Ende des Aufenthaltes äußerst bedeutungsvoll. Unabhängig von diesen Reflexionsgesprächen arbeitet der Therapeut mit den Patientinnen im einzeltherapeutischen und im familientherapeutischen Setting (Walter, 1998, S. 52 ff.). Die Fallgeschichte des elfjährigen Saschas kann hier beispielhaft für das Zusammenwirken aller am stationären Prozess Beteiligten stehen. Sascha wurde in den ambulanten Abklärungsgesprächen von seinen Eltern als äußerst auffällig in seinem Sozialverhalten beschrieben. Er war von seiner Schule aufgrund massiver, äußerst aggressiv ausgetragener Konflikte mit Lehrern und Schülern, ausgeschlossen worden. Wieder eine Schule besuchen zu können, nannte Sascha als Ziel des Aufenthaltes. Mit den Eltern wurde die Zielformulierung »souveräne Eltern im Umgang mit Saschas Schwierigkeiten« entwickelt. Vor dem Hintergrund der massiven Problematik sahen die Eltern die stationäre Therapie als geeignetste Veränderungsoption.

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In einer ersten Phase des Aufenthaltes konnte Sascha, der sich als Opfer seiner Wutanfälle erlebte, das Wutmonster zeichnen und die Erfahrung der Trennung von seiner gewohnten Umgebung als Möglichkeit verstehen, sich von der bisherigen Tyrannei durch das Wutmonster nicht mehr länger beherrschen zu lassen. Die Zielformulierung »Chef im eigenen Haus werden« wurde von ihm begeistert aufgegriffen. Sascha wurde in den einzeltherapeutischen Gesprächen in dieser ersten Phase zum »Produzenten« von Filmszenen, in denen er – als Chef im eigenen Haus – souveräne Formen im Umgang mit Konfliktsituationen fantasierte. Auf großen Plakaten zeichnete er sein »Problemland« sowie sein »Lösungsland« und den Weg dorthin. Das Gehen vom Problemland zum Lösungsland ermöglichte verkörpertes Erleben des Bewegungsnarratives. Das Betreten des gezeichneten Lösungslandes fokussierte auf das Erleben seiner bevorzugten Ichgeschichte. Dieses symbolisch dargestellte Veränderungsgeschehen wurde im Laufe des Aufenthaltes in der Einzeltherapie immer wieder angeregt und Sascha konnte dadurch einschätzen, wo auf diesem Weg er sich gerade erlebte. Der Aufenthalt stellte auch insofern einen Übergang dar, als es in der Arbeit mit den Eltern gelang, Verantwortung und Kompetenz der Eltern für ihren Sohn zu fördern. In den familientherapeutischen Gesprächen konnten die attraktiven Zielbilder und der Weg dorthin immer wieder aufgegriffen werden und der unterstützende Beitrag der Eltern thematisiert werden. Die intensive Einbindung der Eltern bewirkte nach einiger Zeit eine für alle merkbare Veränderung der gesamten Situation. Waren die Eltern bisher Außenseiter, die von verschiedenen sozialen Institutionen für die Probleme verantwortlich gemacht wurden, erlebten sie nun eine achtungsvolle Haltung der Mitarbeiterinnen gegenüber ihrer wachsenden Kompetenz und ihrem Engagement. Diese neue Erfahrung – insbesondere auch durch ihre zentrale Stellung in den Reflexionsgesprächen – ermöglichte wiederum weitere Veränderungsschritte. Sascha konnte sich bei den »Wochenendbeurlaubungen« nach einiger Zeit immer besser auf die für ihn ungewohnten, klaren elterlichen Vorgaben einlassen. Mit der Zeit lernte er, nicht nur die »veränderten Eltern«, sondern auch Betreuer, Lehrerinnen und andere Mitarbeiter zu respektieren. Neue Interaktionserfahrungen mit den Mitpatientinnen auf der Station halfen ihm dabei, Chef im eigenen Haus zu werden und die Tyrannei durch das Wutmonster immer weniger zuzulassen. Die Schwierigkeiten, die Sascha in vielen Interaktionssituationen mit den Mitpatienten und dem Stationsteam erlebte, konnten in seiner Einzeltherapie aufgegriffen werden und alternative Verhaltensweisen überlegt und erprobt werden. Die neuen Erfahrungen, die immer wieder gemeinsam reflektiert wurden, ermöglichten es, elterliche, sozialarbeiterische, pädagogische und psychotherapeutische Bemühungen zu verbinden und so ein steigendes Bewusstsein von Kompetenz im Umgang mit der Problematik zu ermöglichen. Ambulante Familien-

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therapie wurde in der Endphase des Aufenthaltes von den Eltern in die Wege geleitet. Im Abschlussgespräch konnten sich die Eltern als souverän(er) im Umgang mit Saschas Problematik erzählen und Sascha selbst als »Chef im eigenen Haus«. Eine Beschreibung, die von allen Teilnehmern an diesem Gespräch bestätigt wurde. Bei seinem Abschlussfest mit Eltern, Mitarbeiterinnen und den anderen jugendlichen Patienten würdigte sein Therapeut noch einmal in komprimierter Form den erfolgreichen Übergang zu einem neuen, veränderten und bevorzugteren Entwicklungsstand der ganzen Familie.

Zusammenfassende Schlussfolgerungen Die Erfahrungen mit dieser narrativen Konzeption und Praxis psychiatrischer Aufenthalte stellt eine Einladung an Patientinnen und an ihr familiäres Umfeld zur intensiven Mitarbeit dar und das Gelingen des gesamten psychiatrischtherapeutischen Prozesses hängt davon ab, in welchem Ausmaß diese Einladung angenommen werden kann. Vergleichbare Vorgangsweisen finden sich auch in Seikkulas Arbeit zum »open dialogue« (z. B. Seikkula, 2003). Demnach bewähren sich Gesprächsformen, die eine Teilnahme aller am psychiatrischen Veränderungsprozess Beteiligten vorsehen. Dadurch wird die gemeinsame kommunikative Entwicklung des gesamten therapeutischen Prozesses von der Aufnahme bis zur Beendigung ermöglicht. Die so verstandene psychiatrisch-therapeutische Arbeitsweise zielt insgesamt auf eine erfahrungsgeleitete Neuerzählung des Selbst von der Patientin und ihren relevanten Bezugspersonen ab. Die Aufgabe der Psychiatriemitarbeiter besteht vor allem darin, den Erfahrungsraum für diese Neuerzählungen bereitzustellen und die neuen Erfahrungen zu unterstützen und zu bezeugen.

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Überlebensgeschichten im transgenerationalen Unternehmertum: Narrative und Narrationen in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien HEIKO KLEVE, BRITTA BOYD, TOBIAS KÖLLNER und TOM RÜSEN

Einleitung: Transgenerationalität von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien Mit Familienunternehmen sind Unternehmen gemeint, die durch verwandtschaftlich miteinander verbundene Menschen geführt werden. Solche Unternehmen sind also im Eigentum von Familien, die zumindest das Management kontrollieren oder selbst die operative Führungsebene dominieren. Die Unternehmerfamilien sorgen dafür, dass das, was Familien als besondere soziale Systeme kennzeichnet, auch das Unternehmen prägt, nämlich das Prinzip der Transgenerationalität. In Familien wird das Leben selbst von einer an die nächste Generation weitergegeben, in Unternehmerfamilien wird neben dieser biologischen Weitergabe menschlicher Existenz zudem unternehmerisches Eigentum sowie möglicherweise operative Führung von den jeweiligen Eltern an ihre erwachsenen Kinder übertragen. Dieses familiäre, mithin transgenerationale Muster der Eigentumsnachfolge ist das wesentliche Charakteristikum von Familienunternehmen (dazu etwa zusammenfassend Simon, 2012; von Schlippe, Groth u. Rüsen, 2017; Kleve, 2020). Mit der Eigentumsweitergabe, die in jeder Generation neu vollzogen wird und ihren Ausgangspunkt in der Gründergeneration hat, damit also oft Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zurückreicht, werden in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien soziale und kulturelle Muster, moralische Werte und eben auch Narrative wie Narrationen von der Vergangenheit in die Gegenwart transferiert. Unternehmerfamilien haben ein besonderes soziales Gedächtnis. Denn durch die enge Verbindung der Generationen, die eben nicht nur verwandtschaftlich, sondern auch eigentumsrechtlich verklammert sind, werden neben den rechtlichen Verpflichtungen, den materiellen und finanziellen Ressourcen zudem die Bedeutungen, Sinnzuschreibungen und Erzählungen, die mit den Verpflichtungen und Ressourcen einhergehen, transgenerational übermittelt. Besonders interessant sind Narrationen, also konkrete Geschichten, und die Narrative, mithin die Formen, in denen diese Geschichten erzählt werden, die in

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sehr alten, etwa im 19., 18. oder gar 17. Jahrhundert gegründeten Familienunternehmen und Unternehmerfamilien wirken und laufend weitergetragen werden. Denn möglicherweise enthalten diese Geschichten sowie die übergreifenden inhaltlichen und erzählerischen Muster, in denen sie berichtet werden, Hinweise auf die Erfolgsgeheimnisse der Langlebigkeit. Aber auch unabhängig davon ist es für die Familienunternehmens- und Unternehmerfamilienforschung äußerst ergiebig, solche alten Unternehmen und Familien hinsichtlich ihrer je aktuell »lebendigen« Narrative und Narrationen zu betrachten. Denn das, was diese sozialen Systeme ausmacht, etwa ihre Identität, ihr Zusammenhalt und ihre Zugehörigkeitsregeln, die sich in jeder Generation im Spannungsfeld von Tradition und aktuellen Herausforderungen neu ausbilden müssen, offenbaren sich in den konkreten Narrationen und den ihnen zugrunde liegenden narrativen Mustern. Um diese ganz eigene narrative Perspektive in der Betrachtung von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien zu veranschaulichen und zumindest einen kursorischen Einblick in dieses Gebiet zu geben, wird im Folgenden zunächst knapp die bereits angesprochene Unterscheidung von Narrativ und Narration präzisiert. Sodann werden einige Formen von entsprechenden Narrativen unterschieden, bevor auf der Basis von erhobenen Narrationen innerhalb eines aktuellen Forschungsprojektes am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) beispielhaft Überlebensnarrative von langlebigen Familienunternehmen und Unternehmerfamilien zunächst exemplarisch und sodann in ihrer grundsätzlichen Wirkung veranschaulicht werden.

Narrative und Narrationen Narrative können als der erzählerische, sinnhafte und chronologische Rahmen verstanden werden, in dem sich Narrationen als konkrete Erzählungen und Geschichten bewegen. Narrative wirken strukturierend und beeinflussen den »Erzähltext, der den sozialen Prozess der Entwicklung und Wandlung einer biografischen Identität […] darstellt und expliziert« (Schütze, 1983, S. 285 f.). So dienen etwa Narrative des Erwachsenwerdens oder der erfolgreichen Fortführung eines Familienunternehmens als Rahmen und Muster für die Narrationen. Dabei stellen Narrationen weniger die Meinung einer Person oder deren Einstellung dar, sondern sind eng verbunden mit der Erfahrung von Personen oder sozialen Gruppen, etwa einer Unternehmerfamilie, die in Geschichten weitergetragen wird. Dabei geben die Narrative den Narrationen einen chronologischen Ablauf und erläutern die Beziehungen zum Kontext, zu anderen Per-

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sonen oder zu Institutionen. Das macht Narrationen konstitutiv für die personelle und soziale Identität von Menschen und sozialen Gruppen und äußerst relevant für das individuelle sowie kollektive Handeln (Bohnsack, 1999, S. 108). Dieser identitätsbildende Aspekt spielt für die Herstellung und Erhaltung von Unternehmerfamilien eine große Rolle, weil erst Narrative die transgenerationalen Zugehörigkeiten, die als biologische Realität gegeben sind, sinnhaft, sozial, kulturell und emotional rahmen. Mit Paul Watzlawicks (1978) Unterscheidung von Wirklichkeiten erster Ordnung (biologische und materielle Strukturen) und Wirklichkeiten zweiter Ordnung (Sinn- und Bedeutungszuschreibung dieser Strukturen) können wir Narrative als Muster der Sinn- und Bedeutungs­ gebung verstehen, die durch konkrete Narrationen reaktualisiert werden. Bei den Narrationen geht es daher nicht um die Tatsachen »an sich«, also um die Frage, wie die Dinge in der Vergangenheit tatsächlich abgelaufen sind, sondern um eine je aktuelle Perspektive auf das historische Geschehen. Aus diesem Grund sind »wahr« und »falsch« nicht die passenden Unterscheidungen für narrative Analysen. Vielmehr geht es darum, das Geschehen anhand der Narrationen aus der Perspektive der jeweiligen Akteure nachzuvollziehen. Dies erfolgt vor dem Hintergrund je aktueller Zeitkontexte, sodass der narrative Blick in die Vergangenheit durch gerade sich vollziehende gesellschaftliche Prozesse oder unternehmerische und familiäre Entwicklungen strukturiert und ausgerichtet wird. Wann, wie, wo und in welcher Weise Narrationen als Vollzüge von Narrativen erzählt werden, sagt mindestens genauso viel über die je gegenwärtigen wie über die vergangenen im Narrativ fokussierten Ereignisse. Gerade weil Narrationen sinnhafte Konstruktionen sind, folgen sie durch die Anbindung an Narrative Mustern und sind nicht beliebig gestaltbar. Darauf hat beispielsweise Fritz Schütze (1987) hingewiesen, indem er drei »Zugzwänge des Erzählens« darstellt: Erstens führt er aus, dass zentrale Aspekte der Narrationen sozial kondensiert, das heißt auf die Erwartungen des Gegenübers zugeschnitten werden. Zweitens lässt sich ein sogenannter Gestaltschließungszwang beobachten, der bewirkt, dass begonnene Narrationen bis zu Ende erzählt werden und ein »roter Faden« erkennbar wird. Und drittens schließlich stellt Schütze heraus, dass die Narrationen hinreichend detailliert sein müssen, weil sie dadurch erst ihre Plausibilität und Nachvollziehbarkeit für andere gewinnen. Menschen erzählen etwa ihr individuelles Leben in solchen Narrationen, die bestimmten Narrativen folgen. Ebenso werden in Familien und Unternehmen alle relevanten Ereignisse narrativ weitergetragen und zu Narrationen verdichtet. Damit sind Narrative ein wichtiger Zugang, wenn es darum geht, Handeln in Familien und Unternehmen zu verstehen.

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Familienunternehmen und Unternehmerfamilien als narrative Systeme Aufgrund der bereits benannten Transgenerationalität spielen Narrative in Unternehmerfamilien und Familienunternehmen eine bedeutende Rolle; denn sie erlauben es, die Identität von Familie und Unternehmen in jeder Generation in ähnlicher Weise zu aktualisieren. Wir könnten möglicherweise pointiert sagen, dass diese Familien- und Unternehmensformen narrative Systeme sind, die in ihren Narrationen, also den erzählten Geschichten spezifische Narrative reproduzieren, also ihre jeweilige Lebenssituation immer wieder in einen sinnhaften Ordnungsrahmen stellen. Konkret heißt das, dass diese Narrative und die darauf basierenden Geschichten den Familienmitgliedern dabei helfen, in jeder neuen Generation zu veranschaulichen, welche Rolle sie als Gesellschafter ihres Unternehmens spielen und welche Bedeutung das eigene Unternehmen für die unterschiedlichen Stakeholder hat, angefangen bei der Unternehmerfamilie, den Mitarbeitern, der örtlichen Region bis hin zur gesamten Volkswirtschaft des Landes und darüber hinaus (Köllner, 2011; 2012, S. 69 ff.). Gerade weil es äußerst anspruchsvoll ist, Unternehmerfamilien und Familienunternehmen in ihrer Verklammerung erfolgreich zu gestalten und alle Jahrzehnte wieder in die nächste Generation von verwandtschaftlich miteinander verbundenen Eigentümern zu führen, ist es sinnvoll, dafür passende, das heißt glaubwürdige und stärkende Narrationen und Narrative parat zu haben und diese auch strategisch einzusetzen (Labaki, Bernhard u. Cailluet, 2019). Das, was in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien geschieht, könnte hinsichtlich seiner nachhaltigen Erfolgsaussichten, zumindest aus systemtheoretischer Sicht (etwa von Schlippe, Groth u. Rüsen, 2017), durchaus als unwahrscheinlich gelten, nämlich ständig die Interessen der Familie, des Unternehmens und der Gesellschafter in Einklang zu bringen. Narrative können Aufschluss darüber geben, wie dies dennoch gelingt, wie mithin die Spannungsfelder zwischen Familien-, Unternehmens- und Gesellschaftererwartungen in eine ausgleichende Verbindung gebracht und für alle Seiten passend ausbalanciert wurden und werden. Wenn solche Ausgleichsmöglichkeiten in Form von konkreten Narrationen von einer in die nächste Generation weitergetragen werden, hilft dies in jeder Generation erneut, den bisher tradierten Erfolg fortzusetzen. Das bedeutet konkret, dass es darum geht, das aus der Vergangenheit in Erinnerung zu halten, was sich bewährt hat, und das zu modifizieren, was inzwischen vielleicht als überholt gelten kann und Erneuerung braucht (Zwack, Kraiczy, von Schlippe u. Hack, 2016). In dieser Hinsicht sind Narrative und Narrationen Brücken zwischen Vergangenheit,

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Gegenwart und Zukunft, Verbindungswege zwischen zu pflegender Tradition und notwendiger sowie zu praktizierender Innovation. Aufgrund dieser Bedeutung von Narrativen für die erfolgreiche transgenerationale Weitergabe des Unternehmenseigentums werden derartige Narrationen in Unternehmerfamilien gepflegt, mündlich, oft aber auch schriftlich weitergegeben. So besteht im Management der Unternehmerfamilie eine Aufgabe darin, eine narrative Sensibilität für die Geschichten, die in der Firma und innerhalb des Familienkreises erzählt werden, zu entwickeln (von Schlippe u. Groth, 2007, S. 34). Denn dadurch werden kognitives Wissen, emotionale Werte und aktionale Handlungsstrategien in jeder Generation wieder neu abrufbar festgehalten und gepflegt. Daher macht es Sinn, dass Familien und Unternehmen mit der narrativen Pflege ihrer Tradition auch strategisch klug umgehen (Labaki, Bernhard u. Cailluet, 2019). Für die Mitglieder der Unternehmerfamilie stellt die erzählte Tradition ein gemeinschafts- und identitätsbildendes Konstrukt dar, welches den jeweils aktuellen Willen zur Langlebigkeit stützen und stärken kann. Bevor wir uns beispielhaft Überlebensnarrativen im transgenerationalen Unternehmertum widmen, soll betont werden, dass in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien freilich weitere Typen von Narrativen zu entdecken sind. Besonders prominent sind hier etwa Gründungsmythen zu nennen, die die herausragende Rolle der Gründerpersönlichkeiten präsentieren (von Schlippe u. Groth, 2007). Auch die Beiträge der Familie zum Erfolg des Unternehmens werden oft als Geschichten erzählt. Nicht zu vergessen sind Verrats- oder Konfliktnarrative (Thier u. Erlach, 2013), die schwierige soziale Beziehungskrisen veranschaulichen, die vom Unternehmen und der Familie bewältigt werden konnten. Nicht selten werden daraus zentrale Leitsätze und normative Verhaltensregeln abgeleitet (Zwack et al., 2016). Im Folgenden werden wir uns vor allem mit Narrativen befassen, in denen es um das Überleben des Unternehmens geht; sie können mit Thomas Urban (2021) auch als Resilienznarrative verstanden werden. In zwei unserer Beispiele werden wir darüber hinaus zudem die besondere Rolle von Frauen und Müttern für den Unternehmenserfolg erzählerisch aufbereiten.

Überlebensnarrative und beispielhafte Narrationen Familienunternehmen sind durch die Fähigkeit und Flexibilität ausgezeichnet, sich nachhaltig von Krisen zu erholen (Kraus et al., 2020, S. 1075). Eine besondere Form von Narrativen, die diese krisenfeste Langlebigkeit aufnehmen und in Narrationen vermitteln, wie das Unternehmen über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte

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überlebt hat, nennen wir Überlebensnarrative. Die Betrachtung von solchen Narrativen ermöglicht es, soziale Dynamiken und Prozesse in Familienunternehmen und den zugehörigen Unternehmerfamilien aufzuzeigen, die speziell auf Langlebigkeit und Überlebensfähigkeit ausgerichtet sind. Eine tiefgehende Analyse gerade von solchen Narrativen kann somit helfen, Implikationen für das Krisenmanagement von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien abzuleiten. Dazu wollen wir drei Beispiele jeweils knapp skizzieren. Erstes Beispiel: Narrativ familiärer Flexibilität und Offenheit für weibliches Unternehmertum Als erstes Beispiel möchten wir ein deutsches Familienunternehmen anführen, das sich momentan in der neunten Generation einer familiären Eigentümergemeinschaft befindet und in dem sich ein typisches Überlebensnarrativ finden lässt. Der frühzeitige Tod des Firmeninhabers in der zweiten Generation hatte in eine familiäre Krise geführt, in der die Frau des Unternehmers die Firma über fünf Jahre weiterführte. Als die beiden Söhne und potenziellen Nachfolger ihre Ausbildungen abgeschlossen hatten, waren sie bereit, die Führung des Unternehmens zu übernehmen. So übergab die aufgrund des Todes ihres Mannes spontan Unternehmerin gewordene Witwe und Mutter ihren Söhnen das Erbe des Vaters. Wie es in der damaligen Zeit üblich war, sollten die männlichen Nachkommen ins Unternehmen eintreten, während die Frauen sich der familiären Häuslichkeit und der philanthropischen Gesellschaftlichkeit zu widmen hatten. In dieser Familie jedoch wurde diese Tradition zumindest temporär aufgebrochen. Die Tochter einer Kaufmannsfamilie und Mutter von acht Kindern, die das Überleben des Familienunternehmens als generationenübergreifende Aufgabe der Familiengemeinschaft sicherte, wird daher in den historischen Dokumenten bis in die heutige Zeit hinein als besonders starke Frau beschrieben. Bis auf diesen einen Fall wurden Eigentum und Führungsaufgabe des Unternehmens traditionell vom Vater auf den Sohn übertragen. Daher ist es bemerkenswert, dass die Krise durch eine zeitweilige weibliche Unternehmerschaft gelöst wurde, vor allem aber, dass und wie diese Erfahrung sich bis heute als zentrales familiäres Überlebensnarrativ gehalten hat. Dieses Narrativ baut insbesondere auf dem familiären Zusammenhalt auf, betont, dass alle füreinander einstehen und flexibel in neue Rollen schlüpfen, wenn dies in Krisenzeiten für das Überleben von Unternehmen und Familie notwendig ist. So wurde uns in einem Interview mit einem gegenwärtigen Repräsentanten dieser Unternehmerfamilie das Folgende dazu geschildert:

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»Man muss das Glück haben, dass immer jemand übernehmen kann aus der Familie. Das kann einmal eine Ehefrau sein, das eine Mal waren es ja zwei Brüder, dann stirbt da einer und dann macht das der andere weiter und so. Das Glück muss man einfach haben, glaube ich. Und dann ist meine Wahrnehmung so, wenn wir uns einmal mit den Lebensverhältnissen von damals beschäftigen oder auch meinetwegen hundert Jahre später, da ist die Krise ja immer nur um die Ecke, ja. Da bleibt einmal ein Seemann auf See und die ganze Familie ist sozusagen dem Hungertuch ausgeliefert. Also, da gibt es die Missernte und so weiter, also, die Krisen, die Nöte, die sind viel, viel näher, als sie heute sind. Und ich glaube, dass meine Familie immer darauf gesetzt hat, auf Kooperation.« Bis heute wirkt dieses Narrativ der Flexibilität und Kooperation der Familie in Krisenzeiten in der Unternehmerfamilie fort und prägt die Werte und Einstellungen der jeweils aktuellen Generationen, zumindest aus Sicht unseres Interviewpartners aus dieser Familie. Daneben wird aber auch das Narrativ der besonderen Rolle von Frauen, die in Krisenzeiten ebenfalls für das Unternehmen »ihren Mann« stehen können, als für die Familie bedeutend bewertet. Somit werden in dieser Familie seit der skizzierten weiblichen Unternehmerschaft grundsätzlich auch Frauen als fähig angesehen, ein Unternehmen zu führen, was ja lange Zeit unüblich war. Schließlich ist zu erkennen, dass dem interviewten Familienmitglied neben den Möglichkeiten seiner Familie auch die Grenzen des Unternehmertums bewusst sind, wenn z. B. in dem obigen Zitat vom »Glück haben« gesprochen wird. Zweites Beispiel: Narrativ von der individuellen und familiären Cleverness Als zweites Beispiel wollen wir das Narrativ der Cleverness einer anderen Unternehmerfamilie anführen, mit dem die individuellen und sozialen Fähigkeiten von Führungspersonen dieser Familie hervorgehoben werden. Diese Kompetenz sicherte dem Familienunternehmen in der achten Generation, und zwar direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das Überleben. Kurz nach Kriegsende war Deutschland von den Alliierten besetzt. Die Besatzungsmächte prüften nun, welche Unternehmen während des NS-Regimes in die Produktion kriegswichtiger Güter eingebunden waren. Im konkreten Fall drohte dem Unternehmen die Schließung und eine langwierige Untersuchung, wenn herausgekommen wäre, dass auch diese Firma in die Kriegswirtschaft eingebunden war. So wurde uns im Interview mit einer Repräsentantin der Familie Folgendes erzählt:

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»Es tauchte ein britischer Offizier auf, der sozusagen die Firma zumachen wollte, von jetzt auf gleich. Das gefiel meinem Onkel gar nicht und weil er ja lange in den USA gelebt hatte, gut Englisch sprach, hat er sich mit dem erst mal getroffen und ihn dann wohl ziemlich angeschnauzt. Woraufhin dieser Offizier wohl etwas sprachlos war, wie da mit ihm geredet wird, und angefangen hat, darüber nachzudenken. Und mein Onkel hat ihn dann wohl durch den Betrieb geführt und ihm gezeigt, dass sie eben nur unwichtiges Zeug machen, obwohl auf dem Hof wohl noch kriegswichtiges Material lag. Und er hat einem seiner Mitarbeiter dann gesagt, sie sollen am Hof alte Reifen anzünden, und hat diesen Offizier wohl oben über eine Brücke auf dem Werksgelände geführt. Durch diesen Rauch war es nicht möglich zu erkennen, was da auf dem Hof liegt. Also das ist die Geschichte, die er mir erzählt hat. Da war er sehr, sehr stolz drauf. Dass er diesen Offizier um den Finger gewickelt hat, und zudem hat er wohl dann auch angefangen, über diesen Kontakt unsere Produkte an diese britische Besatzertruppe und die Familien zu verkaufen. Also das wurde dann wohl zumindest zu einem potenziellen Kundenstamm aufgebaut.« An diesem Beispiel zeigt sich sehr gut, wie an das Narrativ der besonderen Qualitäten, hier speziell der Cleverness und Sprachgewandtheit, in der Unternehmerfamilie angeschlossen wird. Der Onkel der von uns interviewten Person gilt in dieser Familie als Verkörperung dieses Potenzials, da er mit seinen Sprachkenntnissen und seiner Geistesgegenwärtigkeit den Offizier so austrickste, dass dieser das kriegswichtige Material auf dem Hof nicht erkennen konnte. Darüber hinaus scheint dieser Onkel ebenfalls wichtige soziale und unternehmerische Kompetenzen besessen zu haben, da er den Kontakt dafür nutzte, um eine neue Kundengruppe zu erschließen. Das sicherte in dieser Nachkriegskrisenzeit nicht nur den Fortbestand des Unternehmens in Familienbesitz, sondern verschaffte wichtige unternehmerische Vorteile. Diese Begebenheit wird bis heute erinnert, weitererzählt und prägt damit das Image und das Selbstverständnis der Familie und des Unternehmens: »Wir sind clever!« Drittes Beispiel: Narrativ von der mütterlichen Bedeutung für erfolgreiches Unternehmertum Mit einem dritten Beispiel wollen wir betonen, dass Narrative auch in anderen Kulturräumen eine wichtige Ressource darstellen können. Bei japanischen Familienunternehmen etwa steht die Tradition der sogenannten Primogenitur oder Erstgeborenen-Nachfolgeordnung der Söhne sehr stark im Vordergrund, wie wir nicht zuletzt auf einer Forschungsreise nach Japan im Jahre 2019 in meh-

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reren Unternehmerfamilien eindrucksvoll erlebten (Caspary, Rüsen, Köllner u. Kleve, 2022). Das Überlebensnarrativ eines im 17. Jahrhundert gegründeten Spirituosenherstellers wird beispielsweise zum Teil in Form eines »Mangas« erzählt. In diesem typisch japanischen Comic wird beschrieben, wie Ende des 19. Jahrhunderts die Nachfolge in Gefahr geriet, da der älteste Sohn plötzlich starb und kurz darauf auch der Vater aus dem Leben schied. Die zwei jüngeren Brüder des Vaters wollten das Familienunternehmen weiterführen. Die Ehefrau des Verstorbenen war dagegen, denn damit wäre die Erstgeborenenlinie der Familie durchbrochen worden. Sie bestimmte, dass ihr erst 13-jähriger Sohn das Unternehmen übernehmen sollte, und erzog ihn »mit Strenge, aber auch Güte«. Der junge Nachfolger wurde durch die Beharrlichkeit der mütterlichen Entscheidung und ihre Durchsetzungskraft an alle Bereiche des Unternehmens herangeführt und lernte schnell. Die Gemeinde und die Mitarbeiter des Unternehmens unterstützten die Mutter und ihren Sohn, den jungen Nachfolger, weil sie sahen, wie konsequent beide diese Krise meisterten und den Fortbestand des Unternehmens und damit der Familie sichern konnten. Wie in dem ersten Beispiel wird auch hier nochmals die besondere Rolle von Frauen – oben als spontan zur Unternehmerin gewordene Witwe, hier als durchsetzfähige Mutter – für die erfolgreiche Transgenerationalität von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien deutlich. Damit wird augenscheinlich vorgeführt, wie in einer doch sehr maskulin geprägten Kultur die Frau und Mutter als Rückhalt in Krisensituationen fungiert.

Schlussbetrachtungen: Wirkung von Narrativen und Narrationen Das Typische an den Überlebensnarrationen in Unternehmerfamilien, die das krisenhafte Überleben von Familienunternehmen veranschaulichen, ist, dass bestenfalls alle aus der Familie die Krise und ihre Bewältigung nachvollziehen sowie mit Stolz weitererzählen können. Neben diesen kognitiven, emotionalen und handlungsorientiert-erzählerischen Seiten werden über die Geschichten sinnstiftende Narrative vermittelt, die der sozialen Orientierung dienen und schließlich Zuversicht für die Gegenwart und Zukunft geben. Wie von Schlippe und Groth (2007) verdeutlichen, haben Narrative insbesondere drei zentrale Wirkungen: Erstens sichern sie in langlebigen Familienunternehmen Wissensbestände über die erzählerische Weitergabe besonderer Kompetenzen sowie die Zuversicht, diese bei entsprechenden Gelegenheiten

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Heiko Kleve, Britta Boyd, Tobias Köllner und Tom Rüsen

auch in der aktuellen Generation familien- und unternehmensdienlich einzusetzen. Zweitens können sie Unsicherheiten in den jeweils gegenwärtigen Generationen bewältigen helfen, indem sich die Familienmitglieder auf Routinen besinnen, die sich über Generationen bewährt und daher erzählerisch weiterempfohlen wurden und werden. Diese Art der Nutzung von Narrativen könnte als eine strategische Entscheidungshilfe bewertet werden, die gerade in entsprechenden Konflikten orientierend wirkt. Und drittens dienen Narrative dazu, die Konflikte zu balancieren, die in Unternehmerfamilien häufig entstehen, wenn es darum geht, die unterschiedlichen Erwartungskontexte der Familie, des Unternehmens und des Gesellschafterkreises auszubalancieren. Dies wird dann nicht selten beispielhaft etwa am Handeln der Unternehmensgründer oder anhand erfolgreicher Nachfolgeprozesse in Krisenzeiten vorgeführt. Hinsichtlich einiger Familien und Unternehmen könnten wir diesbezüglich fast von einer mythischen Entrückung sprechen, wenn es um die ausgeprägte Wertschätzung von Gründerpersönlichkeiten geht. Das führt dazu, dass diese Persönlichkeiten kaum jemals infrage gestellt werden. Über die Narrative wird ein ideales Bild gefestigt und weitergetragen, an dem aktuelle Generationen sich orientieren können. Damit wird das Gründernarrativ zu einem Ideal stilisiert, das gerade dadurch, dass es durch das je gegenwärtige unternehmerische Leben niemals erreicht werden kann, anspornt und strategische Innovationsenergie vermittelt. Allerdings zeigt sich, dass diese strategische Ausrichtung oft nur teilweise greift (Labaki et al., 2019). Trotz aller Betonung von Unternehmergeist und Innovation ist den Beteiligten im Unternehmen häufig klar, dass zur Langlebigkeit auch eine Portion Glück gehört, was ebenfalls beispielhaft erzählt wird. Vor allem weil Familienunternehmen die Transgenerationalität von Familien inkorporieren und damit sowohl das familiäre als auch das unternehmerische System in eine beeindruckende Langlebigkeit führen können, ist dieses Praxisfeld besonders geeignet, um narrative Forschung zu betreiben. Einen kleinen Ausschnitt einer solchen Forschung und ihrer theoretischen Reflexion liefert der vorliegende Beitrag, den wir mit der Überzeugung schließen, dass diejenigen, die zukunftsorientiertes Unternehmertum kennenlernen und gestalten wollen, aus den Narrativen und Narrationen der langlebigsten Unternehmen und Familien lernen können. Nicht zuletzt deshalb wurde am Wittener Institut für Familienunternehmen ein Projekt zu Überlebensgeschichten in Familienunternehmen gestartet, dem die Beispiele und konzeptionellen Überlegungen entstammen (knapp dazu Boyd u. Kleve, 2021).

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Literatur Bohnsack, R. (1999). Rekonstruktive Sozialforschung: Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Wiesbaden: Springer. Boyd, B., Kleve, H. (2021). Narrative in Familienunternehmen als sinnstiftende Erzählungen. Heiko Kleve im Gespräch mit Britta Boyd. Familiendynamik, 2021 (1), 74–75. Caspary, S., Rüsen, T. A., Köllner, T., Kleve H. (2022, in Vorbereitung). Erfolgsmuster langlebiger japanischer Familienunternehmen. Kleve, H. (2020). Die Unternehmerfamilie. Wie Wachstum, Sozialisation und Beratung gelingen. Heidelberg. Carl-Auer. Köllner, T. (2011). Built with Gold or Tears? Moral Discourses on Church Construction and the Role of Entrepreneurial Donations. In J. Zigon (Ed.), Multiple Moralities in Russia (pp. 191– 213). Oxford, New York: Berghahn Books. Köllner, T. (2012). Practising without Belonging? Entrepreneurship, Religion and Morality in Contemporary Russia. Berlin: LIT Verlag. Kraus, S., Clauss, T., Breier, M., Gast, J., Zardini, A., Tiberius, V. (2020). The Economics of COVID19: Initial Empirical Evidence on how Family Firms in five European Countries Cope with the Corona Crisis. International Journal of Entrepreneurial Behavior & Research, 26 (5), 1067–1092. Labaki, R., Bernhard, F., Cailluet, L. (2019). The strategic use of historical narratives in the family business. In E. Memili, C. Dibrell (Eds.), The Palgrave Handbook of Heterogeneity among Family Firms (pp. 531–553). Cham: Palgrave Macmillan. Schlippe, A. von, Groth, T. (2007). The Power of Stories. Zur Funktion von Geschichten in Familienunternehmen. Kontext, 38 (1), 26–47. Schlippe, A. von, Groth T., Rüsen, T. A. (2017). Die beiden Seiten der Unternehmerfamilie: Familienstrategien über Generationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schütze, F. (1983). Biografieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 1 (3), 283–293. Schütze, F. (1987). Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien. Hagen: Fernuniversität, Fachbereich Erziehungs-, Sozial-u. Geisteswissenschaften. Simon, F. B. (2012). Einführung in die Theorie des Familienunternehmens. Heidelberg: Carl-Auer. Thier, K., Erlach, C. (2013). Der Storytelling-Prozess. Narrative Methoden zur Reflexion und Prävention von Teamkonflikten. Konfliktdynamik, 2 (4), 272–281. Urban, T. (2021). Zwischen seismografischem Spürsinn und Sinnenlust. Unternehmerfamilien im krisenreichen 20. Jahrhundert. Leipzig: Habilitationsschrift an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Religionswissenschaften der Universität. Watzlawick, P. (1978). Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München: Piper. Zwack, M., Kraiczy, N., Schlippe, A. von, Hack, A. (2016). Storytelling and Cultural Family Value Transmission: Value Perception of Stories in Family Firms. Management Learning, 47 (5), 590–614.

TEIL 4  Kreuzungen: Die Pluralität narrativer Praxis

Bindungsorientierte narrative Therapie RUDI DALLOS und ARLENE VETERE

Zur Einführung »Denn nicht nur kleine Kinder, sondern Menschen aller Altersstufen erweisen sich dann am glücklichsten und imstande, ihre Talente optimal zu entfalten, wenn sie zuversichtlich und überzeugt sind, daß hinter ihnen eine oder mehrere zuverlässige Personen stehen, die bei auftauchenden Schwierigkeiten zu Hilfe kommen. Die zuverlässige Person stellt eine sichere Basis dar, von der aus das Individuum operieren kann.«   (Bowlby, 1976, S. 410) Dieses Zitat von Bowlby (1976) erfasst den Kern der bindungsorientierten narrativen Therapie. Zunächst einmal schließt es an die zentrale Erkenntnis der Psychotherapieforschung an, dass die wichtigste Voraussetzung für jede Art von Therapie die vertrauensvolle therapeutische Beziehung ist (Leiper, 2001). Wir mögen zwar unsere bevorzugten therapeutischen Methoden pflegen, aber diese sind wahrscheinlich wirkungslos, wenn wir keine positive und vertrauensvolle Beziehung zu den von uns behandelten Paaren und Familien haben (Bordin, 1979). Bowlby (2018) behauptet, dass der Therapeut für die Familie in Therapie wie ein Elternteil oder eine vorübergehende Bindungsfigur wird, die ihr das Gefühl von Sicherheit vermittelt, was auch in Analogie zur sicheren Basis verstanden wurde, wie die Eltern sie ihrem Kind geben. So klammert sich beispielsweise ein Kleinkind, das den ersten Tag in einer Spielgruppe ist, wahrscheinlich an seine Mutter, während es den anderen Kindern beim Spielen zuschaut. Nach einer Weile fasst es sich vielleicht ein Herz und wagt sich mit Mutters Ermunterung zu den anderen Kindern und nimmt sich ein Spielzeug. Es prüft immer wieder nach, ob die Mutter ihm auch zuschaut, zurücklächelt, es ermuntert und beispielsweise wieder in Empfang nimmt, wenn es vor einem anderen Kind Angst hat. Der Vorgang beginnt vielleicht wieder von vorne, und dieses allmähliche Anwachsen der Risikobereitschaft im Kind kann in Analogie zu dem gesehen werden, was in der Therapie geschieht. Unserer Erfahrung nach haben viele, wenn nicht gar die meisten Menschen, mit denen wir therapeutisch gearbeitet haben, nicht erlebt, wie sie behütet und

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umsorgt wurden. Folglich erleben sie eine Beziehung als etwas Neues und Wertvolles und werden so in die Lage versetzt, »ihre Talente optimal zu entfalten«, wie es in obigem Zitat beschrieben wird. Diese Erkenntnis aus psychologischen Forschungen über Stress und Angst stimmt mit der aus der modernen Neurowissenschaft überein und besagt, dass die mentale Funktionsweise eines Individuums, beispielsweise seine Fähigkeit zur Reflexion und Problemlösung, am effizientesten ist, wenn sich sein Erregungszustand auf einem entspannten optimalen Niveau befindet, statt sich auf einem erhöhten Angst- und Unruheniveau zu bewegen (van der Kolk, 2021). Auch bei den meisten Therapien spielt es eine entscheidende Rolle, dass die Klientinnen unterstützt, ermutigt und in die Lage versetzt werden, ihr Reflexionsvermögen zu stärken und ihre Fähigkeit zu entfalten, sich und andere Menschen besser zu verstehen. Eines der wichtigsten Verfahren, mit deren Hilfe wir uns selbst und andere verstehen können, ist es, Geschichten zu erzählen und eigene Lebenserfahrungen zu Geschichten zu verfertigen. Wenn Familien zu uns zur Therapie kommen, haben sie oft schon Berührung mit psychologischen Theorien gehabt, manchmal im Rahmen eigener Recherchen oder dadurch, dass sie in den Medien oder z. B. von Freunden oder Angehörigen davon gehört haben. Psychologische Vorstellungen werden verknüpft mit einem breiten Spektrum von Gedanken aus Wissenschaft, Philosophie, Populärkultur und der Ideengeschichte innerhalb der eigenen Familien und Gemeinschaften. Diese Vorstellungen verschmelzen zu Geschichten, die man entwickelt, z. B. Geschichten von Reue und Umkehr, aussichtsloser Liebe, heroischem Leiden, Tragödien, der Auferstehung aus der Asche, von Verrat und Aufklärung. Diese Geschichten bilden das Lebenstheater ab, in dem unsere Erfahrungen und Beziehungen einen Sinn für uns ergeben und die uns helfen können, zukünftige Ereignisse und unsere Reaktionen darauf zu antizipieren. Bindungsorientierte narrative Therapie greift auf eine Reihe von Konzepten aus der Bindungstheorie, aus systemischer Therapie und narrativer Therapie zurück und integriert sie durch kollaborativ mit dem Klienten entwickelte Problem- und Zielformulierungen (Dallos 2006; Dallos u. Vetere 2009, 2014).

Repräsentationssysteme und Wahlmöglichkeiten Bowlby (1984) und später auch andere Wissenschaftler wie beispielsweise Damasio (2009) haben mit dem aus der kognitiven Neurowissenschaft stammenden Konzept der repräsentationalen Erinnerungssysteme gearbeitet und so einen Beitrag zum psychoanalytischen Denken geleistet, um bewusste und unbewusste Prozesse in der Entwicklung von Bindung bei Kindern und Erwachsenen zu erforschen (Abb. 1).

362 Nonverbales Gedächtnis:

Rudi Dallos und Arlene Vetere

PROZESSUALES GEDÄCHTNIS:  Erinnerung daran, wie man Dinge tut, z. B. Zuwendung, Trost und Fürsorge geben und empfangen; emotionale Reaktionen auf andere Menschen SENSORISCHES GEDÄCHTNIS:  visuelle Eindrücke, Gerüche, Berührungen, Töne, Gefühle

Verbales Gedächtnis:

SEMANTISCHES GEDÄCHTNIS:  Erkenntnis, Überzeugungen, Einstellungen, zentrale Wert­vorstellungen EPISODISCHES GEDÄCHTNIS:  Narrationen, Geschichten INTEGRIERENDES GEDÄCHTNIS:  Reflexion, Metakognition, fortlaufende Kontrolle des Sprechens, der Emotionen und Gedanken

Abbildung 1: Die Schichten der Bindung – Gedächtnisebenen

Alle repräsentationalen Erinnerungssysteme sind insofern mit Wahlmöglichkeiten verknüpft, als man sie als prädisponierende Repräsentationen – als Leitlinien für zukünftiges Handeln – betrachtet (Damasio, 2009; Crittenden, Dallos, Landini u. Kozlowska, 2014). Die Bindungserfahrungen eines Menschen prägen sowohl die von ihm erzählten Geschichten als auch das, was er aus der Vergangenheit erinnert und wie er sich erinnert. Doch seine Narrationen sind mehr als Erinnerungen, weil sie auch seine Vorstellungen von der Zukunft implizieren und das, wie er über die Gegenwart spricht. Bei der bindungsorientierten Sicht auf narratives Denken wird betont, dass Narrationen aus nonverbalen und verbalen Schichten zusammengesetzt sind: Geschichten sind mehr als nur Worte und beinhalten auch prozessuale Aspekte, das heißt nicht nur das, was erzählt wird, sondern auch die Art und Weise des Erzählens. So lassen sich Geschichten über Bindungserfahrungen als Gebilde aus allen diesen Schichten beziehungsweise Gedächtnisquellen betrachten – Handlungen, Emotionen, sensorisches Material (Bilder, Gerüche, Töne), semantisches Material (Worte, Begriffe, kausale Erklärungen), Episoden fließen ein. Sie lassen sich als Geschichten, die man sich über Ereignisse erzählt, betrachten, als reflexive Mentalisierungen, die man davon hat, wie und warum sich Dinge so entwickelt haben. Zum integrierenden Gedächtnis gehören bewusste Gedanken darüber, was ein Mensch aus seinen Erfahrungen gelernt hat, wie sie ihn geformt haben und welche Intentionen er für die Zukunft hat, z. B., was er anders machen würde oder welche Erfahrungen er wiederholen möchte. Der Begriff der Repräsentations-

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systeme verdeutlicht das Konzept einer »dichten« oder kohärenten Narration als eine Narration, welche Informationen aus allen Repräsentationsebenen umfasst – wir müssen alle diese Gedächtnisquellen, diese Schichten aus Informationen oder Bedeutungen über das eigene Leben nutzen können (White u. Epston, 2020; Anderson u. Goolishian, 1988). So kann es beispielsweise wichtig sein, aus Situationen die eigenen Emotionen oder visuellen Aspekte zu erkennen, um gefährliche Situationen vermeiden oder Pläne für den Umgang mit ihnen entwickeln zu können. Wenn man sich umgekehrt weitgehend auf Emotionen und sensorische Informationen verlässt und semantische Informationen außer Acht lässt, kann das dazu führen, dass Ereignisse nicht verstanden werden und die Fähigkeit fehlt, kausale Zusammenhänge zwischen Ereignissen zu antizipieren. Die moderne Neurowissenschaft hat zu unserem Verständnis von Bindungsgeschehen beigetragen und Aufschluss darüber gegeben, wie der Mensch seine Erfahrung narrativ entwickelt (Schore u. Schore, 2008). Wenn ein Individuum einem hohen Maß an Gefahr und Angsterleben ausgesetzt ist, führt dies zu schnellen, automatischen Reaktionen. In einer sicheren Umgebung kann es Gefahren abschätzen und sich kognitiv mit ihnen befassen, es kann Pläne oder Geschichten entwerfen, wie es diese Gefahren in Zukunft bewältigen kann (van der Kolk, 2021; Damasio, 2009). In Kindern, die unter Bedingungen aufwachsen, unter denen eine unaufgeregte Reflexion nicht möglich ist, z. B. bei häuslicher Gewalt, wachsen wahrscheinlich eher reaktive, wenig facettenreiche und stille Geschichten (weil es nicht sicher ist, über bestimmte Aspekte des Erlebens nachzudenken). Sie sehen sich oft als passive Opfer von Ereignissen oder reagieren mit Wut und Angst.

Autonomie und Wahlmöglichkeiten: Korrektive und replikative Intentionen John Byng-Hall (1995) fügt der Bindungstheorie eine wichtige Ebene hinzu, indem er darauf hinweist, dass die Vergangenheit zwar einen Einfluss auf einen Menschen ausübt, er aber auch dazu fähig ist, bewusste Entscheidungen auf der Basis zu treffen, was er aus seinen Bindungserfahrungen gelernt hat. Man entwickelt Absichten über das, was man wiederholen möchte (replikatives Skript) und was man verändern will (korrektives Skript). Vor allem die Intentionen, Dinge zu ändern, z. B. sich als Elternteil, Partnerin oder Geschwister anders zu verhalten, ist eine bewusste semantische Repräsentation. Dagegen ertappt man sich vielleicht eher implizit dabei, solche Aspekte zu wiederholen, die man auf verkörperte Weise erfahren und gelernt hat.

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Rudi Dallos und Arlene Vetere

Diese beiden Arten der Repräsentation können manchmal im Widerspruch zueinander stehen, sodass es zur Spaltung oder Dissoziation kommt. So stellt man vielleicht fest, dass man trotz bester Absichten auf eine Weise handelt, die man eigentlich vermeiden wollte (Dallos, 2019). Die Erkenntnis, dass die Geschichten eines Menschen aufgrund des Nebeneinanders von bewussten Intentionen und Wahlmöglichkeiten einerseits und impliziten Repräsentationen andererseits einen potenziellen Konflikt in sich bergen, ist ein zentrales Element der bindungsorientierten narrativen Therapie und kontrastiert mit anderen therapeutischen Modellen, die auf der Bindungstheorie beruhen (Dallos, 2019). Wir leben nicht nur unser Leben, sondern wir schreiben dem, was uns passiert, auch einen Sinn zu, und zu den maßgeblichen Verfahren, mit deren Hilfe wir solche Sinnzuschreibungen vornehmen, gehört die Gestaltung von Geschichten oder Narrationen (McAdams, 1993; Reiss, 1970; Bruner, 1997). Unsere Geschichten sind nicht einfach nur Beschreibungen dessen, was uns passiert ist, sondern sie dienen uns als Leitlinien für die Entscheidungen, die wir treffen. Den narrativen Ansätzen zufolge sind wir, wenn wir unsere Geschichten neu schreiben können, auch imstande, ein anderes Leben zu führen, das heißt uns zu verändern. Wenn wir aber »problemgesättigte« Geschichten zu erzählen haben, dienen diese dazu, die Entscheidungsfähigkeit zu behindern oder zu lähmen (White u. Epston, 2020; Anderson u. Goolishian, 1988). Die Starrheit eingefrorener Narrationen und die Inkohärenz chaotischer Geschichten können auch durchaus auf unverarbeitetes Traumamaterial hinweisen. In unseren Geschichten positionieren wir uns auf verschiedene mögliche Weisen, z. B. als Beobachter unseres Lebens, der passiv zuschaut, was mit uns geschieht, oder als aktiv Handelnde oder Urheberin, die unser Leben konstruiert und gestaltet. So sind wir wie Autoren, die den Handlungsstrang eines Buches kontinuierlich neu schreiben, die Geschichten jedoch auch in der Interaktion im sozialen Nahraum produzieren. Dieses Verfassen unserer Lebensgeschichten ist auch geprägt von unseren frühen Bindungserfahrungen: »Während manche Lebensgeschichten Optimismus und Hoffnung ausstrahlen, sind andere in die Sprache von Misstrauen eingekleidet […] das Kleinkind, das ein sicheres und vertrauensvolles Bindungsband zu der Pflegeperson erlebt, bewegt sich durch die Kindheit und auch später noch mit Vertrauen in die Gutheit der Welt und mit Hoffnung für die Zukunft […] Eine pessimistische Narration besagt (im Gegensatz dazu) […] dass die Welt launisch und unvorhersehbar ist […] und Geschichten zwangsläufig ein unglückliches Ende nehmen« (McAdams, 1993, S. 47). Diese beiden unterschiedlichen narrativen Färbungen laufen auf ziemlich unterschiedliche Handlungsentscheidungen im Leben eines Menschen hinaus.

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Wenn man an die Gutheit der Welt glaubt, geht man wahrscheinlich mit einer positiven Grundstimmung, mit Risikobereitschaft und Experimentierfreude auf andere Menschen und Situationen zu. Dagegen schmälert ein misstrauischer Unterton wahrscheinlich positive Erwartungen, begünstigt den Rückzug aus der Welt und von anderen Menschen und kann zur Entscheidung führen, gleichgesinnte misstrauische Menschen um sich zu scharen. Weil unsere Lebensgeschichten uns dafür prädisponieren, wie wir auf andere Menschen zugehen und mit ihnen umgehen, hat dies wahrscheinlich selbsterfüllende Effekte. Dann können die Geschichten eine Eigendynamik entwickeln, aufgrund der Erfahrungen gesammelt werden, die die eigene Weltsicht bestärken. Indem der narrative Tonfall einerseits und die Bindungserfahrung andererseits zueinander in Bezug gesetzt werden, kann eine Verbindung zwischen der Vorstellung entstehen, dass Menschen Entscheidungen auf der Grundlage bestehender Narrative treffen, dass aber diese Narrative selbst auch durch Erfahrungen gestaltet werden.

Keine Vorwürfe an die Eltern: Reflexion über Verantwortung und Einfluss Wenn man Bowlbys eingangs zitierte Auffassung auf unsere Vorstellung von Therapie anwendet, ist es einleuchtend, dass Menschen in Therapie sich unbedingt sicher fühlen und der Therapeutin vertrauen können müssen. Doch wie ist das in Einklang zu bringen mit den zentralen bindungstheoretischen Erkenntnissen, dass der emotionale Zustand eines Kindes und dessen Fähigkeit zur Bewältigung von Herausforderungen durch die frühen Interaktionen mit seinen Eltern geprägt sind? Da dies auch ein Schlüsselthema der bindungsorientierten narrativen Therapie ist, haben wir zahlreiche therapeutische Methoden entwickelt, mit deren Hilfe wir kollaborativ mit unseren Klienten erkunden, welche Einflüsse ihre eigenen Eltern auf sie als Kinder gehabt haben. Unserer Erfahrung nach denken Eltern schon darüber nach, welche Rolle sie bei der Entstehung ihrer eigenen Schwierigkeiten und denen ihrer Kinder gespielt haben. Wenn neben diesen Schwierigkeiten nur wenig Beistand seitens psychosozialer oder psychiatrischer Dienste gekommen ist und die Probleme größer geworden sind, wendet ein Mensch sich wahrscheinlich eher von diesen belastenden Gedanken über den Eigenanteil am Entstehen der Probleme ab. Stattdessen versuchen die Eltern vielleicht, solche Gedanken zu unterdrücken und medizinische Erklärungen heranzuziehen, z. B., dass ihr Kind eine »Krankheit« (Dallos, 2019) hat. Bindungsorientierte narrative Therapie zeigt den Familien Wege auf,

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Rudi Dallos und Arlene Vetere

wie sie sich sicher fühlen und gleichzeitig mit dem Therapeuten partnerschaftlich und ohne Schuldzuschreibung erkunden können, welcher Zusammenhang zwischen der Familiendynamik und ihren Problemen bestehen könnte.

Bindungsorientierte narrative Therapie – ein Kommunikationsansatz Bowlby beschreibt Bindung als zielgerichtetes, ein sich selbst korrigierendes System und sieht eine Analogie zu den Feedbacksystemen, wie sie in biologischen und mechanischen Systemen existieren. Das Ziel eines Bindungssystems ist es, einen angemessenen Schutz vor Gefahr und ein angemessenes Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit zu gewährleisten. Die Grundannahme der Systemtheorie lautet, dass sich selbst korrigierende Prozesse auf der Basis von Rückmeldungen ablaufen, die sich aus der Kommunikation zwischen den einzelnen Teilen eines Systems ergeben (Jackson, 1957; Bateson, 1980). Kommunikation ereignet sich kontinuierlich auf verschiedenen Ebenen: nonverbal zwischen den Familienmitgliedern und auch zwischen den Systemen, wie etwa zwischen Familie und Schule. Ein frühes Diktum der Systemtheorie war es, dass es in einer Beziehung »unmöglich ist, nicht zu kommunizieren« (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969). So können beispielsweise Schweigen und auch nonverbale Kommunikationen, beispielsweise wie jemand schaut, handelt, atmet, sich bewegt, extrem kraftvolle Mitteilungen sein. Diese Kommunikationsprozesse alternieren zwischen bewusst und unbewusst: Ein Vater ist sich vielleicht nicht bewusst, was er über seine Empfindungen oder sein Verhältnis zu seiner Tochter mitteilt, wenn er sich über seinen Bart streicht oder mit den Fingern auf den Tisch klopft. Entsprechend sind Bindungsbedürfnisse mit Kommunikation verbunden, wenn z. B. ein Kleinkind seine Notlage ausdrückt, indem es schreit und mit seinen Armen und Beinen fuchtelt, damit die Eltern sich ihm zuwenden. Eltern reagieren auf solche Kommunikationsversuche auf verschiedene Weise: das Kind imitieren, es ignorieren, es zu trösten versuchen, mit ihm spielen und so weiter. Das Kind internalisiert die elterlichen Reaktionen als Wahrnehmung seiner selbst und der Beziehung zu den Eltern. Diese Verknüpfung zwischen äußerer Dynamik im Familiensystem und der sich entwickelnden Innenwelt des Kleinkindes ist von zentraler Bedeutung für unser Interesse an systemischer Theorie und Therapie.

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Bindungsorientierte narrative Therapie

KIND kommuniziert Bindungsbedürfnisse, z. B. Verlangen nach Rückversicherung Interne Repräsentation der Eltern

Kind

SYSTEM DER GRUNDÜBERZEUGUNGEN ZUR BINDUNG IN DER FAMILIE: Muster der ANSICHTEN ÜBER emotionale Reaktionen

Eltern

ELTERN kommunizieren Reagieren auf das Kind mit einem beruhigenden Lächeln, mit Zuhören und einer Umarmung Interne Repräsentation des Kindes Abbildung 2: Bindungsorientierte narrative Therapie als Kommunikationsmodell

Abbildung 2 stellt die Eltern-Kind-Dyade dar; sie ist ihrerseits aber wiederum in den weiteren Systemen der Familie angesiedelt. Damit wird sie vom impliziten, verkörperten Erleben und den expliziten Auffassungen davon umrahmt, um welche Art von Familie es sich jeweils handelt, etwa einer emotional reservierten, einer demonstrativen oder einer fürsorglichen Familie.

Problem- und Zielformulierung in der bindungsorientierten narrativen Therapie: ein ökologisches und systemisches Modell Viele Entwicklungsmodelle, die Bindungstheorie eingeschlossen, werden dafür kritisiert, dass sie sich darauf begrenzen, nur linear die Entwicklung des Kindes im unmittelbaren Familienkontext zum Gegenstand ihrer Betrachtung zu machen (Bronfenbrenner u. Evans, 2000; Farnfield, 2008). Bindungsorientierte narrative Therapie nimmt dagegen eine mehrstufige beziehungsweise ökologische Perspektive ein und betrachtet das Kind und seine Familie als eingebettet in vielfache Einflussschichten, z. B. in Schule, Gemeinschaften und den größeren kulturellen Kontext. Bindungsorientierte narrative Therapie beruft sich auf die Vorstellung, dass es mehrere Einflussebenen gibt, wenn es darum geht, die Entstehung von Schwierigkeiten zu verstehen und einen Interventionsplan zu erstellen. Auf der individuellen und biologischen Ebene sehen wir das Bedürfnis des Kindes nach Sicherheit und Verbundenheit mit den Eltern und umgekehrt das Bedürfnis der Eltern,

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mit ihrem Kind verbunden zu sein. Anschließend richtet sich unser Blick auf die Dynamik der Familie, z. B. auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kind, die Beziehungen zu den Geschwistern, zum größeren Familienkreis, zu Nachbarn, Schule und Freunden und schließlich zu den größeren kulturellen Kontexten. Die ersten beiden Ebenen sind unmittelbarer Natur, da sie physische Interaktionen zwischen Menschen implizieren. Die kulturelle Ebene ist eher mittelbarer Natur, da in dieser Schicht mittels verschiedener Formen von Sprache, Medien und Repräsentationen Vorstellungen und Überzeugungen übertragen werden. Doch auf dieser Ebene findet auch direkter Kontakt statt, z. B. mit psychiatrischen Diensten, deren Organisationsformen und Umgang mit Kindern und Familien bestimmte Diskurse und Überzeugungen verkörpern. Dies kommt beispielsweise dabei zum Tragen, wenn entschieden wird, welche Versorgungsmaßnahmen als geeignet betrachtet werden, wie diagnostiziert wird und auf welche Weise Medikamente verabreicht werden. Diese Einflussebenen verändern sich im Laufe der Zeit. Über den Lebenszyklus der Familie hinweg entstehen unterschiedliche Bedürfnisse und es müssen je nach Entwicklungsphase verschiedene Anpassungsleistungen erbracht werden. Dabei verändern sich auch die weiteren kulturellen Kontexte. Wenn wir bindungsorientierte narrative Therapie praktizieren, bewegen wir uns mit den Familien zwischen diesen Ebenen hin und her und fertigen z. B. ein Genogramm der Familie an, um die Beziehungen zwischen Kindern, Eltern und größerem Familienkreis in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu explorieren. Dabei können wir den Fokus auf die Beschaffenheit der Bindungsbeziehungen zwischen diesen Personen legen und z. B. fragen, wie Sicherheit, Vertrauen und Behaglichkeit vermittelt wurde (Vetere, 2016). Man kann auch auf frühere Vorstellungen von Kindererziehung, Erwartungen an die Rollen von Kindern und Eltern verweisen und überlegen, wie diese sich im Laufe der Zeit verändert haben. Auf ähnliche Weise verwenden wir Aufstellungsarbeit, um Beziehungen zwischen einzelnen Familienmitgliedern, aber auch zwischen der Kernfamilie und dem größeren Familienkreis, der Schule, den fachlichen Diensten und anderen Systemen zu untersuchen. Es wird weiter exploriert, wie sich die verschiedenen Einflussebenen auf die Schwierigkeiten der Familie auswirken, aber auch, welche Ressourcen der Familie auf diesen unterschiedlichen Ebenen zugänglich sind. Im Zentrum stehen dabei die Bindungsbeziehungen, die sich in der Kindheit entwickelt haben und in verkörperten Formen bewahrt werden und die auf Bindungsorientierungen oder dispositionale Repräsentationen hindeuten. Man kann sie als Stabilitätsfaktoren sehen, aber auch als etwas, das durch Familieninteraktionen und durch größere Kontexte kontinuierlich verändert wird. So beeinflussen und verändern etwa Krisenzeiten wie Krieg, Naturkatastrophen oder Epidemien den Charakter des Familienlebens, was wiederum die

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Bindungsrepräsentationen jedes einzelnen Familienmitglieds beeinflusst und verändert. Wenn Gefahr und Unsicherheit über längere Zeit erlebt werden, kann das eine emotional eher abweisende Reaktion erforderlich machen, um Sicherheit und Schutz vor äußerem Schaden zu gewähren, um empfundenes Leiden zu mildern und Bewältigung durch Handeln zu begünstigen. Wie Bowlby hervorhebt, ist Bindung ein kontinuierlicher Anpassungsprozess in einem Beziehungssystem und nicht einfach »nur« im Individuum angesiedelt.

Der therapeutische Prozess in der bindungsorientierten narrativen Therapie In der bindungsorientierten narrativen Therapie sollen zwei Grundmerkmale ihres ökologischen Modells integriert sein: das, was die Familienmitglieder in verkörperter Form in sich tragen und was sie untereinander implizit kommunizieren, und ihre explizit geäußerten Ansichten über die Beschaffenheit ihrer Beziehungen zueinander und ihre emotionalen Bedürfnisse. Durch die frühen impliziten Erfahrungen werden selbstschützende Strategien und der narrative Tonfall, dessen sich ein Mensch bedient, aufgebaut. Sie prägen auch, wie sich Menschen auf die Therapie einstellen (Abb. 3). Das kann mit einem Gefühl der Abwehrhaltung und Vorsicht geschehen, weil man sich an schwierige und schmerzliche Gefühle erinnern und sich mit ihnen auseinandersetzen muss, oder aber mit einem Gefühl, dass die Empfindungen überkochen und man sie in der Sitzung kraftvoll und emotional zum Ausdruck bringen muss. Diese Merkmale entsprechen im Großen und Ganzen zum einen der abweisenden und zum anderen der besitzergreifenden Bindungsorientierung. In Familienund Paarbeziehungen können verschiedene Orientierungen existieren und wir müssen uns jeweils auf diese Orientierungen einstellen. Hilfreich kann es sein, die einzelnen Familienmitglieder zu fragen, mit welchen Gefühlen sie zur Therapie kommen und was sie davon erwarten. In manchen Fällen besteht relative Einigkeit darüber, dass »es unangenehm ist«, und manchmal sind die Beteiligten mit dieser gemeinsamen Sichtweise nur mehr oder weniger einverstanden. Bindungsorientierte narrative Therapie läuft im Wesentlichen in vier therapeutischen Phasen ab, die ineinander verwoben sind: Ȥ gemeinsam eine sichere Basis schaffen, Ȥ Prozesse der Exploration, Ȥ Veränderungen fördern, Ȥ die therapeutische Beziehung aufrechterhalten.

370 KOMMUNIKATION: bewegt sich zwischen impliziter und expliziter Kommunikation und Sinngebung

Rudi Dallos und Arlene Vetere

NARRATIVE: gemeinsame Geschichten, kulturelle ­Werte, Medien, Religion SYSTEMISCH: Eltern-Kind, Familie, größerer Familienkreis, Lehrer, Freunde

BINDUNG: Kind – Bedürfnisse nach Sicherheit Biologie, Gehirn

Psychiatrische Versorgung, psychosoziale Versorgung, ­Schulsysteme, religiöse Orga­ni­sationen

Entwicklung der Familie im Laufe der Zeit – Zyklus des familialen und individuellen Lebens

Abbildung 3: Bindungsorientierte narrative Therapie als ökologisches Modell

In allen vier Phasen liegt der Leitfokus darauf, die Familienmitglieder in die Lage zu versetzen, sich sicher zu fühlen und dem therapeutischen Prozess zu vertrauen. Brüche und schwierige Momente sind dadurch nicht ausgeschlossen, aber man kann darüber sprechen und das Gefühl von Vertrauen entwickeln, dass Probleme und Risse repariert werden können: Hierin liegt der Schlüssel zu einem guten therapeutischen Prozess. Ein weiteres entscheidendes Moment liegt darin, dass sowohl positive als auch negative Gefühle und Erfahrungen Beachtung finden. Hier bestehen beispielsweise Parallelen zu lösungsfokussierten Therapien, die am Anfang der Therapie den Fokus auf Erfolge und Ausnahmen des Problems legen. So arbeitet auch bindungsorientierte narrative Therapie mit der Vorstellung, dass die Würdigung von Erfolgen der Familie wahrscheinlich eine positive emotionale Erregung hervorbringt, die ihrerseits einen starken Anreiz dafür gibt, den Weg zur Lösung schwierigerer Probleme zu beschreiten. Das emotionale Aufglühen, das erfolgt, wenn positive Intentionen und Erfolge

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gewürdigt werden, wird zum Antriebsmittel dafür, sich für Explorationen zu öffnen und auch neue Lösungen in Angriff zu nehmen. Es kann auch bedeuten, dass sich die Familie nach der Therapiesitzung zurückzieht und im Hinterkopf behält, was in der Stunde geschehen ist, was sie gelernt und wie sie sich gefühlt hat. Das gibt neue positive Erinnerungen und Erfolgserfahrungen, auf die sich die Familie in der Zukunft berufen kann, um Probleme zu lösen.

Gemeinsam eine sichere Basis schaffen Die meisten Therapien sind so angelegt, dass sie in den Klientinnen ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit erzeugen. Das erreicht man als Therapeut unter anderem dadurch, dass man die Familien freundlich empfängt, ihnen keine vorwurfsvolle Haltung entgegenbringt, sich für sie als Menschen und nicht nur an ihren Problemen interessiert zeigt und ihnen in ihrer Notlage mit Empathie begegnet. Wir meinen jedoch, dass es ein entscheidendes Moment bindungsorientierter narrativer Therapie wie auch vieler anderer Therapieformen ist, sich zunächst der Bindungsorientierung der Familie anzupassen. Wir bezeichnen diesen Prozess als: »Paaren und Familien begegnen, wo sie sich am sichersten fühlen«. So können wir ihnen helfen, »sich aufzuwärmen« und Zugang zu abgewehrten Gefühlen und Erfahrungen zu finden und andere Gefühle und Erfahrungen »abzukühlen«, um ruhig zu werden, weniger reaktionsbereit zu sein und, was besonders wichtig ist, über ihre Lebensumstände nachdenken zu können. Natürlich können wir die Bindungsorientierungen einer Familie erst genau einschätzen, wenn wir z. B. ein Erwachsenen-Bindungs-Interview (»Adult Attachement Interview«; AAI 1) durchgeführt haben. Wir können jedoch davon abgesehen auf typische Merkmale achten, wie sie über sich selbst und ihre Schwierigkeiten zu reden beginnt. So äußern sich beispielsweise manche Familien in einem entschuldigenden Ton dafür, dass sie zu uns in die Therapie gekommen sind, um uns mit ihren Problemen zu behelligen; sie zeigen in dem Fall womöglich kaum Emotionen, spielen ihre Probleme herunter und neigen dazu, sich selbst zu beschuldigen. In solchen Fällen helfen wir den Familien, »sich aufzuwärmen«. Andere Familien demonstrieren schon rasch ihren emotionalen Leidensdruck und die Signifikanz ihrer Probleme, sie erwähnen Menschen und Dienste, die schuld an ihrer Lage seien. Hier helfen wir den Familien, ruhiger zu werden 1 Das AAI ist ein spezifisches von Carol George, Nancy Kaplan und vor allem Mary Main (1984/1985/1996) entwickeltes Verfahren.

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Rudi Dallos und Arlene Vetere

und nachzudenken. In beiden Fällen unterstützen wir die Klienten, intensiver über ihre Beziehungen und ihren Kontext zu reflektieren.

BINDUNGSSTRATEGIE

WÜRDIGUNG/ BESTÄTIGUNG: Emotion verbal und Nonverbal zuordnen

VERÄNDERUNG FÖRDERN

Eher ABWEISEND

Eher BESITZERGREIFEND

Fokus auf Handlungen, Tatsachen.

Emotionen würdigen.

Vermeidung von Emotionen akzeptieren

Gefühlsausdruck validieren

Ermutigung

Ermutigung zum Fokus auf

Exploration von Gefühlen

Ereignissen, Sequenzen,

Ausdruck von EMOTIONEN

COGNITIVE PROZESSE

Ursachen

Abbildung 4: Bindungsstrategien und Veränderungsförderung in Einklang bringen.

Eine sinnvolle Unterscheidung kann zwischen abweisenden und besitzergreifenden Bindungsstrategien getroffen werden (Abb. 4). Abweisende Bindungsstrategien: Selbstschützende Bindungsstrategien werden aktiviert, wenn ein Mensch Gefahr oder Bedrohung in Beziehungen wahrnimmt, er z. B. Angst vor Zurückweisung oder Verlassenwerden hat. Im Rahmen der Therapie würde man jemandem, der sich zurückzieht und eine abweisende Strategie zeigt, dadurch helfen, eine kohärentere und integrierte Geschichte zu entwickeln, dass man ihm beispielsweise Zugang zu Informationen über Gefühle ermöglicht. Generell kann es Menschen, die eine abweisende Orientierung zeigen und nach Mustern emotionalen Vermeidungsverhaltens leben, helfen, in der Therapie weitgehend eine eher erfahrungsbezogene Orientierung anzunehmen, Rollenspiele anzubieten, Inszenierungen oder Demonstrationen emotionaler Prozesse zu initiieren, empathisch getragene Fragen zu stellen (wie andere sich fühlen könnten) und Gespräche mit einem internalisierten anderen (Tomm, 1988) zu führen. Dabei kann der Schwerpunkt auf die Exploration emotionaler Themen gelegt werden, und die Therapeutin mag beispielsweise fragen, wie die Person den Konflikt bewältigt und Trost und Fürsorge gibt und empfängt. Ziel ist es dabei, die Klienten bei der Gestaltung solcher Geschich-

Bindungsorientierte narrative Therapie

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ten zu unterstützen, in denen Gefühle und Emotionen wie auch Erkenntnisse integriert sind; Geschichten also, die nicht zur Abschaltung sensorischer und episodischer Erinnerungssysteme führen. Besitzergreifende Bindungsstrategien: Klientinnen, die von Emotionen überwältigt und hoffnungslos aufgewühlt sind, versucht man dagegen zu motivieren, dass sie ihre Erkenntnisse zum Ausdruck bringen, um Abstand zu der Unmittelbarkeit ihrer Gefühle und ihrer Bereitschaft zu gefühlsmäßiger Überwältigung, z. B. durch Angst und Scham, zu gewinnen, damit sie über Narrative nachdenken und Geschichten entwickeln können, in denen sie ihre Erlebnisse in kausalen und zeitlichen Zusammenhängen lokalisieren können. Im folgenden Auszug aus dem mit Tara geführten AAI wird die Klientin beim Erzählen ihrer Kindheitsgeschichte häufig von Erinnerungen an ihre eigenen Verletzbarkeiten übermannt und zeigt angesichts der Fehler ihrer Eltern auch eine besitzergreifende Strategie. So erinnert sie sich z. B. an ein Spiel mit ihrem Vater, das ihr als schmerzhaftes und unbehagliches unmäßiges »Kitzeln« im Gedächtnis ist. Die Stimme von Tara (anonymisiert) Meine Mutter, sie hat mit anderen Eltern gestritten, immer hat sie gestritten. Ich konnte mich davon einfach nicht loseisen … Sie hatte ständig große Angst … Wir hatten zwei Katzen … (Ich) wollte, dass die Katzen in meinem Zimmer waren, war nicht erlaubt … Mutter hatte morgens immer große Angst und war wütend … agierte immer unter einem hohen Angstpegel, schwer um sie herum auszuhalten … Mein Vater war ganz genauso … Ich war aufgewühlt, ziemlich verzweifelt, an meiner Geburtstagsfeier hatte ich solche Angst wegen meinem Kleid. Meine Angst wurde so groß, dass ich nicht hingehen konnte, ich hatte eine Art Zusammenbruch … Die Eltern versuchten, mich zu trösten, aber sie haben nicht verstanden, weshalb ich so untröstlich darüber war. Ich erinnere mich eigentlich nicht an Berührungen … Mutter steht nicht sehr auf Berührungen, und ich erinnere mich, dass mein Vater mich gekitzelt hat, bis ich nicht mehr atmen konnte … Weiß nicht, ob Sie so etwas jemals erlebt haben. Also mir wurde übel, Kitzeln kann wirklich schmerzhaft sein …

Bei Menschen wie Tara, die eine Geschichte von einer eher besitzergreifenden Bindungsstrategie erzählen, liegt der Schwerpunkt der Therapie darauf, die semantischen Prozesse zu stärken, das heißt ihnen zu helfen, dass sie ruhig werden, weniger reaktionsbereit sein müssen und Schritt für Schritt ihre Beziehungen reflektieren können. Zu diesem Vorgehen zählen diverse strukturierte systemtherapeutische Methoden, z. B. die Arbeit mit Genogrammen und Timelines; man bittet die Klienten, Schlüsselereignisse in ihrem Leben zeitlich

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Rudi Dallos und Arlene Vetere

und örtlich einzuordnen. Dadurch können sie ihren Geschichten mehr Struktur und eine zeitliche Abfolge geben, sodass sie von der zeitlichen Einordnung von Ereignissen weniger abgekoppelt sind. Dies ist wichtig, damit der Zuhörer dem Bericht folgen und ihn verstehen kann, und notwendig, um der Therapeutin zu ermöglichen, dem Erzählenden Beistand zu leisten, sollte er in Bedrängnis geraten. Unterstützend wirken kann es auch, wenn Kreisläufe nachverfolgt und immer wiederkehrende Überzeugungen und Handlungsweisen aufgezeichnet werden, damit die Klienten ihre Zwangslagen und Schwierigkeiten verstehen und kausale und zeitliche Zusammenhänge zwischen Ereignissen in ihren Geschichten erkennen können. Auch zirkuläre Fragen sind hilfreich, um Klienten zu semantischen Beschreibungen davon zu ermutigen, wie bestimmte Ereignisse, ihre Überzeugungen und Erkenntnisse von anderen Menschen wahrgenommen werden. Mit zirkulären Fragen kann auch versucht werden, Reaktionsmuster der Klientinnen in ihren Systemen zu identifizieren (Dallos u. Vetere, 2005). Alle diese systemischen Interventionen können so angepasst werden, um Menschen zu helfen, ruhig zu werden und über Handlungsmöglichkeiten nachdenken zu können, wenn der Leidensdruck und die Verzweiflung übermächtig werden. Dieser Prozess der Anpassung unseres Therapiestils beziehungsweise dessen Gestaltung und unserer Reaktion auf Bindungsmuster unserer Klienten kann sich außerhalb unserer Bewusstheit abspielen und von unseren eigenen bevorzugten Bindungsorientierungen geprägt sein. Tara scheint von negativen Gedanken über ihre Eltern überwältigt zu sein, ist abgelenkt und versucht, den Gesprächspartner zu involvieren, indem sie ihn fragt, ob er so ein »unangenehmes Kitzeln« auch schon erlebt habe. Durch einen solchen Bericht kann man sich als Therapeutin emotional überwältigt fühlen, so ähnlich, wie die Klientin sich von der Angst ihrer Mutter überwältigt gefühlt hat. Er kann in uns auch den dringenden Wunsch wecken, ein ausgewogeneres und weniger schonungsloses kritisches Bild von Taras Eltern zu zeichnen. Wenn unsere Bindungsorientierung abweisend ist, können wir uns von einem Bericht wie dem von Tara und ihrer typischen Reaktion überwältigt fühlen und müssen dann eine ruhigere und ausgewogenere Geschichte entwickeln. Das kann natürlich manchmal therapeutisch hilfreich sein, aber auch das Risiko in sich tragen, dass wir, wenn das versehentlich geschieht, Taras Muster nicht ganz erkennen, weil wir ihre Geschichte mit unserem eigenen Narrativ vermischt haben – eine nicht anerkannte Resonanz in der therapeutischen Arbeit. Folglich kann es komplizierter sein, die Bindungsstrategie zu erkennen, die ihren Schwierigkeiten Antrieb verleiht. Wenn man Tara Vorschläge macht, wie sie ihre Eltern in einem positiveren Licht sehen kann, muss man zudem mit einer weiteren unproduktiven Auflistung der elterlichen Fehler rechnen.

Bindungsorientierte narrative Therapie

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Auf jeden Fall muss man Taras eher besitzergreifende Strategie validieren und der Klientin zunächst da begegnen, wo sie sich am sichersten fühlt, und keine Angst in ihr hervorgerufen wird oder unbeabsichtigt ihre selbstschützenden Bindungsstrategien infrage gestellt werden. Generell können wir durch das Erkennen selbstschützender Strategien unseren Klientinnen auf flexiblere und kreativere Weise helfen, über ihr Leben und ihre Beziehungen reichhaltigere, deutlichere und kohärentere Geschichten zu entwickeln.

Prozesse der Exploration und Veränderungsförderung Der Ansatz bindungsorientierter narrativer Therapie beruht nicht auf einer linearen Progression vom Gespräch über die Schwierigkeiten hin zu einer Exploration tiefer liegender Bindungsprobleme. Im therapeutischen Prozess bewegt man sich im Gespräch typischerweise zwischen vergangenen Schwierigkeiten und traumatischen Erlebnissen in der Kindheit und gegenwärtigen Lebensumständen und familialer Dynamik. Dies kann in einen Zusammenhang gebracht werden mit familialen Bindungsorientierungen; z. B. bei Familien mit besitzergreifenden Bindungsmustern können umfassende Informationen über Emotionen, Konflikte, Kindheitserfahrungen mit gegenwärtigen Problemen kombiniert werden. Bei eher abweisenden familialen Orientierungen kann der Fokus auf die Symptome gelegt und die Exploration möglicher emotionaler Einflüsse aus der Kindheit zurückgestellt werden: Die in der Abbildung 5 dargestellten Kreise überlappen sich natürlich; in der therapeutischen Arbeit haben wir allerdings nicht immer die Zustimmung der Klienten, mit dem Gespräch über ihre Vergangenheit zu beginnen; oder manchmal wehrt beispielsweise ein Familienmitglied die Exploration der eigenen Lebenserfahrungen zuerst heftig ab. Also muss ein behutsamer Prozess des Aushandelns einsetzen und die Familie damit einverstanden sein, sich hin und her zu bewegen und in manchen Fällen schwierige Themen leicht zu streifen. Wenn man sich beispielsweise auf momentane Verhaltensschwierigkeiten konzentrieren möchte, erwähnt vielleicht die Mutter, dass sie Angst habe, ihre Tochter sei isoliert und potenziell suizidal. Eine solche Erwähnung bietet eine Art Erlaubnis, die emotionale Dynamik zu erkunden, und nicht nur die Verhaltensweisen. Exploration und Intervention können Hand in Hand gehen und durch das behutsame Pendeln zwischen diesen Bereichen sowohl bei der Familie als auch beim Therapeuten die negative Erregung, das Gefühl von Hilflosigkeit und Verwirrung verringern. Wenn wir (Klienten und Therapeutinnen in Supervision) unsere Geschichten erzählen, können starke Gefühle erzeugt werden, selbst wenn wir darüber

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FAMILIEN­ PROBLEME, präsentierte ­Probleme

EREIGNISSE IN DER KINDHEIT UND TRAUMATA

EMOTIONALE DYNAMIK IN DER FAMILIE

GRÖSSERER FAMILIEN­KREIS und ANDERE ­SYSTEME

Abbildung 5: Ein zirkuläres Explorationsmodell

reflektieren, was wiederum eine Auswirkung darauf hat, wie und wann wir unsere Geschichten erzählen, z. B.: wem wir erzählen, was wir weglassen, vergessen oder ob wir uns vor dem Erinnern schützen, was wir verändern, anpassen und bearbeiten – und natürlich, warum wir erzählen. Die Art und Weise, wie wir unsere Geschichten anpassen, hängt davon ab, wer der jeweilige Zuhörer ist, wie sicher wir uns fühlen, wie ehrlich, direkt und offen wir sein können und wie zugänglich unserer Gedächtnisinhalte sind. In der Therapie fokussieren wir als Therapeuten auf den Prozess des Erzählens von Geschichten, um herauszufinden, welche Arten von selbstschützenden Strategien oder Abwehrmaßnahmen die Klientinnen anwenden, wenn ihnen beim Erzählen schmerzliche, unangenehme und angsteinflößende Erinnerungen hochkommen. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit psychodynamischen Modellen, in denen man die Notwendigkeit erkennt, sowohl das Explizite als auch das Implizite, was schwerer zu artikulieren ist, zu eruieren. Dazu muss man sich nicht in die Position des »Experten« begeben, der es besser weiß als die von uns behandelten Familien, sondern man muss Wege finden, damit die Klienten die eher versteckten, unterdrückten Aspekte ihrer emotionalen

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Beziehungs­erfahrungen und die von ihnen eingesetzten selbstschützenden Strategien artikulieren können. Von zentraler Bedeutung ist hier, dass für die Familien ein Kontext der Sicherheit und des Vertrauens geschaffen wird, in dem solche Materialien zugänglich gemacht, beleuchtet, ausgeweitet, zum Ausdruck gebracht und verarbeitet werden können.

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Narrative, körpersprachliche Kommunikation und Embodiment SABINE TRAUTMANN-VOIGT

Einführung Narrative werden im Alltagsverständnis als »sinnstiftende Erzählungen« konnotiert, welche einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung und Einschätzung anderer Menschen besitzen. Narrative transportieren Wertevorstellungen und moralische Haltungen von Menschen eines Kulturkreises durch die Zeit. Narrative vermitteln Orientierung, sie »gelten« jenseits kognitiver Entscheidungsprozesse, seien es Narrative wie »Extremismus«, »Rassismus«, »Klimawandel« oder »Finanzkrise«, »Wohlstandsmigration« oder »Kriegsenkel«. Narrative beeinflussen die aktive Kommunikation und werden durch das kollektive Unbewusste einer kulturellen Gemeinschaft gesteuert. Narrative sind besonders stark mit dem Habitus und der Körpersprache verknüpft. Der Schwerpunkt meiner Auseinandersetzung mit Narrativen liegt im Folgenden auf deren nonverbalen Komponenten bzw. körpersprachlichen Implikationen. Dabei verwende ich in Teilen Gedanken, die an anderer Stelle (Trautmann-Voigt u. Voigt, 2020) ausführlich diskutiert wurden.

Zur kommunikativen Bedeutung der Körpersprache bei der Betrachtung von Narrativen Dass Bewegungen, Gestik, Mimik und der Haltung große kommunikative Bedeutung zukommen, erschließt sich sofort, wenn man bedenkt, dass ein beachtlicher Bereich des Cortex für die Koordination voll entwickelter motorischer Aktivitäten, mithin auch der körpersprachlichen Kommunikation, zuständig ist. Die motorischen Bereiche des Cortex sind mit zahlreichen sensorischen, visuellen und taktilen Bereichen auf komplizierteste Weise verknüpft. Erlebnisse und Erinnerungen aus der frühen Lebenswelt und weitere prägende Erfahrungen werden auch später in den sogenannten primitiveren Gehirnregionen (sensorische Systeme, Amygdala, motorische Systeme) dekodiert und sind als solche nicht immer durch das Bewusstsein kontrollierbar (LeDoux,

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Sabine Trautmann-Voigt

2002; van der Kolk, McFarlane u. Weisaeth, 2000). Aus diesem Grund ist die Kommunikation mit und durch den Körper ein Teil eines jeden Narrativs und ist nicht etwa eine vernachlässigbare Größe, als in der Säuglingszeit überwundener »Vorläufer symbolischen Denkens« und der kognitiv einsetzbaren Sprachfähigkeit zu sehen. Interaktionen jeglicher Art werden im Körpergedächtnis gespeichert und bleiben lebenslang bedeutsam für die zwischenmenschliche Kommunikation sowie für die Affekt- und Selbstregulation und die Entstehung individuell bedeutsamer Narrative (Joraschky, Loew u. Röhricht, 2009). Das menschliche motorische System transformiert lebenslang Antriebe, Wünsche, Motivationsbündel und Emotionen in körperliche »Moment-zuMoment-Entscheidungen«. Diese spontanen Vorgänge bringen die sichtbare Körpersprache hervor mit konkreten Bewegungsantworten auf bestimmte Fragen, die als solche bereits ein Narrativ in der Körpersprache darstellen: 1. Welche Körperteile sollen in einem bestimmten Moment genutzt werden (z. B. Hand, Fuß, Kopf)? 2. Wie sollen einzelne Körperregion bewegt werden (z. B. Becken, Rücken, Rumpf als Ganzes)? 3. Wohin soll ich mich bewegen (z. B. vorwärts, rückwärts, seitwärts)? 4. Wie viel Energie soll ich dafür aufwenden (z. B. viel Anstrengung, kein Bewegungsaufwand)? 5. Wie viel Kraft muss ich in einzelnen Körperbereichen dafür mobilisieren (z. B. viel Muskelspannung in den Armen oder weniger in den Beinen)? 6. Welche Richtung soll ich einschlagen (z. B. nach rechts oder links oder geradeaus)? 7. Welche Distanz soll ich (zu anderen) halten (z. B. sozialer Abstand, Umarmung)? 8. Nutzt es mir, mich zügig oder eher zögerlich zu bewegen (z. B. schnell weggehen, lange verweilen)? Beim Kleinkind werden grobe Interpretationen von solchen »Jetzt-Situationen« (Stern, 2018) durch eine nonverbale, spontane und noch nicht kognitive »Beurteilung« geleistet. So wird intuitiv gelernt, welche Bewegungen sicher, riskant, richtig oder falsch sind. Kinder lernen auf der Ebene affektmotorischer Kodierungen schnell die sogenannten »display rules« oder Ausdrucksregeln (Ekman u. Friesen, 1969), also die Regeln, die mit dafür verantwortlich sind, welche Emotionen per elterlicher Erlaubnis motorisch ausgedrückt werden dürfen und welche Emotionen und welches Verhalten besser unterdrückt werden sollten. So entwickeln sich die ersten Narrative aus der nonverbalen Kommunikation: das Kleinkind erzählt durch seine Körpersprache, was es verinner-

Narrative, körpersprachliche Kommunikation und Embodiment

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licht hat und beeinflusst damit wiederum die Narrative der Bezugspersonen: Ein Erzählspiel aus Aktionen und Reaktionen. Auch Erwachsene übersetzen emotionale Einstellungen, Stimmungen oder Antriebe von Augenblick zu Augenblick in muskuläre Spannungs-Konfigurationen und rhythmisch-dynamisch strukturierte Bewegungssequenzen. Ist eine Person emotional »bewegt«, werden ihr Körperausdruck und ihre Körperhaltung bzw. ihre affektmotorische Handlungsbereitschaft von der jeweiligen Emotion geformt und verändert. Diese Bereitschaft, bestimmte körpersprachliche Narrative in einem Fluss von Bewegungsaktionen und –reaktionen auf die Anforderungen der jeweiligen Umwelt einzustellen, ist bereits früh kodiert worden und wird im Lebenslauf ständig überformt. Bestimmten psychischen Beeinträchtigungen können häufig auch bestimmte Bewegungsmuster zugeordnet werden. So sind bei Borderline- und Trauma-Patientinnen Bewegungsmuster bzw. Narrative in der Körpersprache häufig zerfahren, blockiert oder extrem spannungslos und verlangsamt. Bei depressiven Menschen fehlt häufig eine situationsangemessene Grundspannung und der Muskeltonus ist eher niedrig. Die Haltung ist eher gebeugt, das Bewegungsrepertoire eingeschränkt und die Bewegungsgeschwindigkeit reduziert. Bei ängstlichen Menschen ist dagegen die Grundgeschwindigkeit meist erhöht, die Übergänge zwischen einzelnen Bewegungssequenzen sind abrupt und plötzlich wechselnd, die Muskelspannung ist eher hoch. So »erzählen« uns Menschen in der Art und Weise, wie sie mit Geschwindigkeit, Krafteinsatz und Raumorientierung umgehen, ständig Bedeutungsvolles über sich. Alan Schore (2009) hat wiederholt auf solche Phänomene und auf folgende Resultate aus der Hirnforschung hingewiesen. 1. Psychisches Leben gründet in verkörperter Erfahrung: Ohne eine achtsame Wahrnehmung unserer Körperempfindungen, -gefühle und -zustände fehlt eine Verbindung zu unserer Innenwelt. 2. Die emotionale Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson bildet den Kontext ab, in dem sich die Gehirnentwicklung vollzieht. Die Bindungsentwicklung im ersten Lebensjahr kann nur unter einer körpersprachlichen Perspektive verstanden werden (Trautmann-Voigt u. Zander 2007; Trautmann-Voigt u. Moll 2011; Trautmann-Voigt u. Voigt, 2020). 3. Das Gehirn ist eine soziale Konstruktion. Die Entwicklung des Gehirns stellt eine Anpassung an die Umwelt dar. Diese soziale Komponente der normalen und der pathologischen Entwicklung wird allerdings m. E. zu wenig berücksichtigt, da die traumatologische Rezeption der Hirnforschung fast ausschließlich im Vordergrund des Interesses steht. 4. Das »rechte Hirn« ist das neurobiologische Substrat des von Freud beschriebenen dynamischen Unbewussten (Schore, 2002; Wöller, 2007). Das hoch

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effiziente System emotionaler Austauschprozesse ist vollständig nonverbal und bleibt lebenslang in Form intuitiv wahrgenommener affektiver Kommunikation erhalten, die in Beziehungen stattfindet. Das beeinflusst in erheblichem Ausmaß die unterschiedlichen Gedächtnissysteme. Das episodische Gedächtnis ist das komplexeste. Es erlaubt eine Zeitreise in die Vergangenheit und ist erst ausgeprägt, wenn die eigene Biografie erinnerbar wird. Es bezieht sich vor allem auf affektiv stark besetzte Episoden und erfordert eine auf sich selbst bezogene Reflexion. Das semantische Gedächtnis speichert Wissen ab, das Fakten aus der Gegenwart enthält. Das perzeptuelle Gedächtnis ist auf die Wiedererkennung von Reizen bezogen. All diese Prozesse beeinflussen die Narrative des Individuums enorm und ständig! 5. Frühe körperliche Austauschprozesse strukturieren das implizite Unbewusste. Dieses wird in besonderer Weise aus dem prozeduralen und dem PrimingGedächtnis gespeist. Priming bedeutet eine höhere Wiederkennungswahrscheinlichkeit für vorher unbewusst aufgenommene Informationen, auch für solche, die über Sinnesreize eingegangen sind. Das prozedurale Gedächtnis bezieht besonders affektmotorische Aspekte ein (Becker u. Wunderlich, 2004).

»Embodiment« als Dialektik zwischen verbaler Kommunikation und Körpersprache Gemeinsamkeiten und Unterschiede Aus heutiger Sicht existieren zwei körpersprachliche Vokabularien, die in gewisser Weise universell sind. Dies sind die Gesichtsausdrücke für Gefühle (Ekman, 2015; Ekman u. Friesen, 1969) und die verschiedenen Arten von NäheDistanzregulation, die in einem bestimmten kulturellen Raum von Bedeutung sind. Tomkins (2008) vermutet, dass der Gesichtsausdruck eines Gegenübers zur Diskriminierung von eigenen und fremden Gefühlen verhilft, also die emotionale Unterscheidungsfähigkeit begründet. Ebenso wie körperliche Veränderungen erzeugt ein Gefühlszustand einen bestimmten Gesichtsausdruck, den jemand empfinden kann und der ihm dann dabei hilft, das Gefühl zu benennen, das dazugehört. Das räumliche Verhalten ist im Bereich der Tierwelt als Territorialverhalten bekannt und kann mehr oder weniger als sozial geordnetes Interaktionssignal gelten. Edward Hall (1973), der Begründer des Faches interkulturelle Kommunikation, unterschied als Erster eine körpersprachlich ausgehandelte Orientierung an einem Gegenüber wie folgt:

Narrative, körpersprachliche Kommunikation und Embodiment

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1. Als »intim« gilt ein Abstand bis zu 50 cm, eventuell mit Körperkontakt und der Möglichkeit, den anderen zu riechen, seine Körperwärme zu spüren und ihn – wenn auch nicht besonders gut – zu sehen; flüsterndes Reden ist möglich. 2. Als »persönlich« der Abstand zwischen 50 und 120 cm, was freundschaftlichen und nahen Beziehungen entspricht; es ist möglich, den anderen noch zu berühren, ihn gut zu sehen, seinen Atem jedoch nicht mehr zu riechen. 3. Als »sozial beratend« gilt ein Abstand von 2,5 bis 3,5 m bei eher unpersönlichen Beziehungen, z. B. hinter einem Tisch, bei einer Arbeit; eine etwas lautere Stimme ist jetzt erforderlich. 4. Als »öffentlich« gilt ein Abstand von 3,5 m oder mehr Metern in Bezug auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und bei öffentlichen Anlässen. Allerdings existieren große kulturelle Unterschiede z. B. zwischen arabischen, südamerikanischen und nordeuropäischen Völkern. Erstere rücken gerne nahe zusammen, Schweden, Engländer und Schotten halten dagegen gerne größere Abstände zueinander ein. Das heißt, allein was die Nähe-Distanz-Regulation betrifft, haben wir interkulturell große Abweichungen in der Bedeutung von Narrativen! Birdwhistell (1970) weist auf eine Reihe von Problemen bei der Einordnung allgemein verbindlicher körpersprachlicher Signale hin. Kommunikation wird von ihm als ein grundsätzlich multisensorischer Prozess aufgefasst, welcher bestimmte Merkmale aufweist: 1. Die Bedeutung nonverbaler Signale variiert im jeweiligen Kontext und ist von jeder vorhergehenden Interaktionsfolge abhängig. 2. Es gibt mehr als ein nonverbales Kommunikationssystem. Beispielsweise werden Bewegungen der Hände (Gestik), des Gesichts (Mimik) sowie die Haltung als drei verschiedene nonverbale Kommunikationssysteme verstanden. 3. Ein und dasselbe nonverbale Signal kann Verschiedenes beinhalten und in jedem Menschen eine andere Reaktion hervorrufen. Ein Lächeln kann beispielsweise eine interpersonale Einstellung zum Ausdruck bringen (Höflichkeit) oder ein Gefühl (Freude oder Ironie), es kann Bestandteil einer Selbstdarstellung sein, das Reden über eine angenehme Erinnerung begleiten oder z. B. zu einem Begrüßungsritual gehören. 4. Während einige nonverbale Signale diskret sind, wie z. B. die hauptsächlichen Gesichtsausdrücke für Gefühle, sind andere kontinuierlich, wie z. B. die Herstellung körperlicher Nähe- und Distanzregulationen zur Orientierung sowie anderes Körperverhalten, das in längeren oder kürzeren Sequenzen ausgeführt wird und demnach zeitabhängig ist.

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Insofern sind Narrative, möchte man sie entschlüsseln, extrem komplexe Phänomene, wie im Weiteren noch deutlicher werden wird. Kombinationen körpersprachlicher Zeichen zu größeren »narrativen« Einheiten In der Tierwelt werden Lautäußerungen mit komplexen Bewegungsmustern kombiniert: Mithilfe von Gesicht, Körperhaltung, Blickrichtung und räumlicher Positionierung zeigen sie relativ vorhersehbar an, wer der beabsichtigte Empfänger eines Signals ist. Ein Alarmsignal enthält beispielsweise Informationen über die Identität desjenigen, der das Signal versendet sowie über die potenzielle Gefahrenquelle, z. B. ein Raubtier, das im Anmarsch ist: Eine Kombination von Äußerungen drückt in der Gestik von Primaten – und auch bei Menschen – Handlungsdispositionen aus. Dies sind Narrative, die sich auf Grundsituationen des In-der-Welt-Seins beziehen. 1. Narrativ Bedrohung: Wenn ein Primat oder Mensch sich durch einen anderen Artgenossen bedroht fühlt, schüttelt er die Faust, stampft, schlägt, peitscht mit dem Arm gegen einen Gegenstand oder hebt den Arm und fuchtelt damit herum – oder er schwankt. 2. Narrativ Versöhnung: Will er Versöhnung oder Beschwichtigung ausdrücken, fasst er sein Gegenüber an der Hand oder umarmt ihn 3. Narrativ Begrüßung: Tänzeln, sich verbeugen, sich anfassen, Küssen, Lausen, sich anbieten (bei Affen auch durch Besteigen) oder durch Handhalten 4. Narrativ Beruhigung: Anfassen, Einen-Klaps-Geben, Umarmen oder Küssen (Argyle, 2005, S. 42 ff.). Körpersprachliche Zeichenkombinationen sind im Laufe der Evolution durch kulturelle Überformungen zurückgedrängt worden. Unkontrolliertes körpersprachliches Handeln entspricht in unserer Gesellschaft einer Über-Ich-Schwäche oder gewinnt die Qualität eines Impulsdurchbruchs. Gefühle und interpersonale Einstellungen werden unbewusst durch zusammenhängende Signalketten und körpersprachliche Handlungskombinationen ausgelöst. Nonverbale Signale für bestimmte Intentionen und als Narrative einer Gemeinschaft zeigen sich wie folgt: Ȥ Freundlichkeit wird vermittelt durch z. B. einen warmen, weichen Tonfall, ein offenes Lächeln, eine entspannte Haltung; Ȥ Neutralität wird vermittelt durch eine ausdruckslose Stimme oder ein nichtssagendes, wenig Mimik aufweisendes Gesicht;

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Ȥ Feindseligkeit wird vermittelt durch eine raue Stimme, Stirn runzeln, Zähne zeigen oder eine gespannte Haltung; Ȥ Sarkasmus wird vermittelt, wenn beispielsweise eine angenehme Botschaft in einem feindseligen Ton übermittelt wird. Dabei überwiegt die nonverbale Komponente die verbale, und es wird körpersprachlich das Gegenteil der verbalen Botschaft ausgesagt. Bereits früh rezipierte Studien weisen darauf hin, dass nonverbale Signale bei einer Beurteilung, ob es sich um freundliche, neutrale oder feindselige Interaktion handelt, fünfmal so starke Wirkung hatten wie verbale (Argyle, 2005, S. 124 ff.). Darstellungen eines inkonsistenten Bewegungsmusters werden als nicht zusammenpassende Signalketten identifiziert und möglicherweise als spaßig empfunden. Ein gutes Beispiel dafür ist der englische Schauspieler, der Mister Bean darstellt: Den in gestischer Ungerichtetheit und mimischer Verzerrung nicht zusammenpassenden Bewegungselementen wird eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und ein gewisser Konfliktzustand zugeschrieben, der zum Lachen anregt. In jedem Fall wird deutlich: Das Narrativ dieses etwas verwirrt erscheinenden Mannes vermittelt sich nonverbal! Wortarten auf der Ebene der Körpersprache und des Embodiment: Gestik hat keine festen Normierungen!

Auf der Ebene der Gestik lassen sich jedoch auch Entsprechungen zur verbalen Sprache finden (Reichart, 2002). Bestimmte Subjektiva, die für Gegenstände oder Personen stehen, können z. B. durch hinweisende oder mit den Händen veranschaulichende Gesten angezeigt werden. Handlung darstellende Verben können manchmal durch die Handlung selbst mitgeteilt werden. Dies ist z. B. beim Thema »Geben und Nehmen« der Fall, oder bei Intentionsbewegungen, die Aufforderung oder Ablehnung durch Heranwinken mit den Händen oder wegschiebende Gesten ausdrücken. Präpositionen – wie in, unter, an oder auf, hinter, neben – lassen sich ebenfalls durch relativ eindeutige Gesten darstellen. Manchmal lassen sich solche Wortarten zu einer Sequenz zusammenstellen, so dass eine Assoziationskette auf der Bewegungsebene dargestellt werden kann. Ein Beispiel war in den 90er Jahren die immer noch auf die auf Partys gängige Interpretation des Songs »YMCA« in dem die Buchstaben während des Refrains durch bestimmte Armbewegungen tänzerisch mit vollzogen werden können. Allerdings handelt es sich hierbei um intentionale Körpersprache, also Narrative, die bewusst auf der körpersprachlichen Ebene zur Verstärkung des Liedtextes vermittelt werden. Intentionalität liegt jedoch, wenn wir Körpersprache als Begleitung der verbalen Sprache z. B. in Therapiestunden betrachten, durchaus nicht immer vor.

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Das liegt daran, dass verschiedene Körperbereiche (Kopf, Extremitäten, Rumpf) spezifische körpersprachliche Eigenschaften aufweisen: So ist die Ausdrucksvielfalt der Hände und des Gesichts weitaus größer als die des Rumpfes. Außerdem vermitteln nonverbale Signale in jedem Körperbereich unterschiedliche Arten von Informationen. Eine Rede kann mit den Händen quasi synchronisiert werden, es können aber auch Gefühle ausgedrückt werden, die möglicherweise mit dem Inhalt des Gesagten gerade nicht übereinstimmen. Wir können zunächst zusammenfassen: Eine Gruppierung nonverbaler Signale, die für alle Beteiligten eine identische Bedeutung hat bzw. gewissen allgemeinen Regeln unterliegt, welche ihre Kombination und Reihenfolge steuern, existiert nicht! Es gibt keine der verbalen Grammatik entsprechenden Regeln zur Normierung einer Kombination körpersprachlicher Signale. Somit sind alle Narrative in ihrer individuellen körpersprachlichen Ausprägung gleichzeitig einzigartig und kulturell geprägt! Rituale, Regeln und Konventionen: Narrative und ihre Ablaufgestaltung Die meisten Rituale (z. B. Begrüßungs- oder Trauerrituale) weisen eine Dreiphasenstruktur auf. Bei manchen Stämmen müssen Besucher zunächst außerhalb des Dorfes als Einleitungsphase auf das »Palaver« warten. In einer zweiten Phase werden Geschenke ausgetauscht. Schließlich findet in einer dritten Phase eine Zeremonie der Aufnahme mit Händeschütteln oder Schulterklopfen sowie einer feierlichen Mahlzeit statt (Barthes. 1997). Beim Volk der Loango gilt das Händeklatschen als die höchste Form einer freundlichen Begrüßung. Die Abessinier entblößen sich bis zum Gürtel. Folgendes dreiphasiges Begrüßungsritual ist sowohl bei Schimpansen als auch bei einigen menschlichen Gesellschaften anzutreffen: Hodenselbstberührung, gegenseitige Händeberührung und Umarmung (Argyle 2005, S. 83). Begrüßungsrituale scheinen auf biologische Strukturen zurückzuweisen, die Menschen und Affen gemeinsam sind. Die universale Struktur der Annäherung an etwas Fremdes weist drei Hauptphasen auf, wobei spätestens die mittlere Phase einen Körperkontakt impliziert. Viele gängige Begrüßungsformen bestehen aus vier Phasen: 1. zurückhaltende nonverbale Vorbereitung 2. nonverbale Annäherung und Vorbereitung 3. Körperkontakt mit Worten der Begrüßung 4. Einladung zu einer Gruppe oder Tätigkeit

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Bei genauerer Betrachtung und mit Rekurs auf Feldstudien von Goffmann (1994; siehe auch Kendon u. Farber, 1973) entstehen bei Begrüßungen immer Verhaltensfolgen mit einer Annäherung und einer Intensitätssteigerung. Wahrscheinlich hat diese relativ allgemein gültige körpersprachliche Phaseneinteilung des Annäherungsverhaltens bei einer Begrüßung dazu geführt, dass Ainsworth die »[f]remde Situation« als eine für alle Kulturen relevante Beobachtungssituation konzipieren konnte (Ainsworth, 1967; Ainsworth u. Bell, 1970). Intra- und interkulturell spielen sich in komplizierten und durch Regeln gelenkten oder rituell sozialisierten Situationen verbale und nonverbale Signale in festgelegten Rollen ein (Streeck, 1985). So werden solche Narrative zu ordnenden und strukturierenden Formen der Kommunikation. Eine Versteigerung z. B. wird verbal durch das Bieten eingeleitet, die Gebote selbst erfolgen meist nonverbal durch Handaufzeigen, der Verkaufsabschluss wird angekündigt, indem der Auktionator mit dem Hammer auf den Tisch schlägt. Auch Spiele bestehen zum allergrößten Teil aus nonverbalen körperlichen Handlungen: Schiedsrichter pfeifen, Mannschaftskapitäne lenken ihre Mannschaft mit Gesten und durch Ganzkörpereinsatz, zu besichtigen beim Fußball von der Seitenlinie aus. Die räumliche Verbannung des deutschen Bundestrainers Joachim Löw bei der Europameisterschaft (Deutschland gegen Österreich) im Sommer 2008 löste viele Reaktionen, Stellungnahmen und Projektionen aus, weil es sich letztlich um eine Konventionsverletzung in einem Regelspiel handelte: Der engste Bezugspartner der Mannschaft wurde distanziert und auf die Tribüne verbannt. Wir können Folgendes über Narrative, die regelhafte Kommunikation strukturieren, festhalten: Vermutlich wird sozial konventionalisiertes nonverbales Verhalten einschließlich aller körpersprachlichen Komponenten durch regelhafte Übereinkünfte oder rituelle Abläufe strukturiert, die grammatikalischen Regeln ähneln. Aus anthropologischer Sicht bewirkt rituelles Handeln eine affektive Vergegenwärtigung multimodaler Sinneserfahrungen (Humphrey u. Laidlaw, 1994). Eine Bewegung wie das Händeschütteln bei einer Begrüßung bewirkt unmittelbar miteinander vernetzte Sinnesreize im taktilen, visuellen und muskulären (propriozeptiven) Bereich. Diese werden mit einer »rituellen« mentalen Haltung verbunden: die Bewegung wird mit einem bestimmten Affekt beseelt. Hauser (2006) beschreibt dies sogar als ästhetische oder religiöse Erfahrung der somatischen Resonanz.

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Die Tiefenstruktur der Körpersprache verweist auf verkörperte Tiefenstrukturen von Narrativen Rekurs auf die Transformationsgrammatik Der Begriff Tiefenstruktur geht auf die generative Transformationsgrammatik zurück (Chomsky, 1975). Chomsky arbeitete aus linguistischer Perspektive heraus, dass in der Sprache dasselbe Signal mehr als eine Bedeutung haben kann. Zur Erklärung der Bedeutung eines zweideutigen Satzes, muss die darunterliegende Struktur erschlossen werden. Was heißt das? Ein Beispiel: Jemand sagt: »Ja!« und erhebt seinen Zeigefinger. Die Bedeutung dieses Signals hängt davon ab, ob der Sprecher beispielsweise ein Lehrer, ein Schiedsrichter oder jemand ist, der bei einer Versteigerung etwas anbietet. Die Intentionalität bzw. der Appellcharakter der Körpersprache kommt ins Spiel. Die Tiefenstruktur von Sätzen in Situationen beinhaltet zudem Beziehungsaspekte aller Beteiligten. Dies gilt für zwischenmenschliche Herrschaftsverhältnisse. Um die Bedeutung eines verbalen Signals zu klären, müssen eine Folge von Bewegungssequenzen und die Analyse der Situation aufgearbeitet werden; die Sprachwissenschaft unterscheidet syntaktische, semantische und pragmatische Analysen der Kommunikation. Die Tiefenstruktur von Sprache und Körpersprache verweist nach meiner Auffassung auf vier Dimensionen, welche jedes Narrativ beeinflussen: 1. Es gibt biologische Bedingungsfaktoren: Ein Beispiel dafür ist der aufrechte Gang beim Menschen, durch den sich die menschliche Gestik und die spezialisierten Sinnesorgane entwickelt haben. 2. Es gibt kulturelle Konventionen, Riten und Rituale: Auch diese haben ihren Ursprung in angeborenen Strukturen des Homo sapiens und gehen letztlich, trotz unbewusster Inszenierungen, auf Verteidigungs- oder Beschwichtigungsgesten bzw. grundlegende interpersonale Vorgänge wie Begrüßung, Erhaltung der Art, Nahrungsaufnahme usw. zurück (Streeck, 1999). 3. Es gibt kommunikative Standardsituationen: Jede Kultur weist bestimmte Situationen auf, in denen implizite Normen wirksam sind, wie man z. B. eine Mahlzeit einzunehmen, eine Konversation abzuhalten, sich zu bekleiden und zu arbeiten hat. Dafür entwickeln sich unter anderem bestimmte Körperteilbesetzungen, die das Verhalten steuern. Sie sind das Ergebnis von Versuch und Irrtum und im Laufe ihrer Sozialgeschichte entstanden. 4. Es gibt unausgesprochen anerkannte, schichtspezifische bzw. gruppenspezifische Bedingungsfaktoren: In jeder Gesellschaft gibt es bestimmte Faktoren, die sich nur sehr langsam verändern, die aber Verhaltens- und Bewegungs-

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stile von Menschen stark bestimmen. In dieser Hinsicht sind soziale Situationen ähnlich wie Spiele. Wenn z. B. ein jugendlicher Schulverweigerer auf eine 50-jährige Top-Managerin aus der Wirtschaft trifft, werden diese beiden sich (auch körpersprachlich) wahrscheinlich nichts zu sagen haben. Dies ist mit einem Schachspiel vergleichbar. Ein Zug muss mit den Regeln übereinstimmen, ansonsten ist die Antizipation des Zuges durch den Spielpartner unmöglich. So bestehen tief unterhalb der sichtbaren Körpersprache koordinierte Spielsysteme, die ein befriedigendes kommunikatives Miteinander überhaupt erst ermöglichen (Auwärter, Kirsch u. Schröter, 1983). Auch Psychotherapie unterliegt, je nach Schule, unterschiedlichen Spielregeln, die die Tiefenstruktur der Auseinandersetzung und den jeweiligen Umgang mit Körpersprache unausgesprochen determinieren (ausführliche Darstellung in Trautmann-Voigt u. Voigt, 2020, S. 30ff). Nonverbale Universalien und ihre Bedeutung für Narrative Merleau-Ponty (1969) und andere Strukturalisten behaupten, dass die Einteilung von Wörtern in Bezug auf die Welt keinesfalls willkürlich sei, sondern von einer Reihe globaler Grundtatsachen abhänge. Sterne und Rosen beispielsweise würden nirgendwo zusammen eingeordnet, da die einen zum Himmel, die anderen zur Erde gehörten. In gleicher Weise enthalte das System der nonverbalen Kommunikation, auch wenn es in gewissem Ausmaß interkulturell unterschiedlich sei, eine Reihe von universalen Merkmalen, die möglicherweise dem Menschen angeboren sind oder notwendige Aspekte seines sozialen Zusammenlebens darstellen. Susanne Langer (1992) führte bereits 1942 zu diesem Thema aus, es gebe grundsätzlich zwei Arten der Kommunikation. Die eine basiere auf Logik und Sprache, die andere sei dazu bestimmt, mittels nonverbaler Symbole Gefühle auszudrücken und zu artikulieren. Tatsache ist, dass in allen Kulturen Übereinkünfte über normierende Regeln bzw. Universalien bezüglich menschlicher Kommunikation vorliegen (Wierzbicka, 1994). Ȥ Angenommen werden zehn nonverbale Universalien (Argyle, 2013), welche aus meiner Sicht Narrative jedweder Art mit bestimmen1: Kommunikation findet mindestens über zwei Kanäle statt. Dies betrifft die akustische und die optische Wahrnehmung – audio-vokal und visuell-gestisch. Aus heutiger 1 Vielleicht irritiert bei der folgenden Darstellung der teils normativ wirkende Charakter der Darstellung, doch Argyle verweist so auf übergeordnete Aspekte, welche aus seiner Perspektive für gelingende Kommunikation unabdingbar sind. In anderem Zusammenhang (Trautmann-Voigt u. Voigt 2020, jeweils als aaO, benannt) wird dies differenziert.

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Sicht muss dies bereits ergänzt werden, mit Bezug auf die moderne Säuglingsforschung und die Art der menschlichen Sinneswahrnehmung ist von einer multimodalen Vernetzung bei jeglicher direkter Kommunikation auszugehen (vgl. Trautmann-Voigt u. Voigt, 2020, S. 102 ff). Ausrichtung und Nähe ermöglichen die Verwendung dieser beiden Kanäle. Aus heutiger Sicht muss dies ergänzt werden, es geht nicht nur um Näheund Distanzregulation, sondern um Kommunikation auf der Basis eines rhythmisch-dynamischen Handlungsdialogs, also von nonverbalen Kodierungen in der Zeit, wobei Faktoren wie Rhythmus, Raumausrichtung und Intensitätsdosierung zusammenspielen. Erweiterte Analysen der Körpersprache werden aus entwicklungstheoretischer und bewegungsanalytischer Sicht erforderlich (aaO, S. 135 ff). Nur Handlungen innerhalb jeweils eines vorhandenen kulturellen Repertoires können angewandt werden. Dies scheint aus meiner Sicht zutreffend, wiewohl eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Körpersprache anderer Kulturen notwendig wird, da wir in Deutschland inzwischen ein Einwanderungsland geworden sind. (aaO, S. 31 ff). Eine Handlung einer Person muss zeitlich angemessen durch eine adressierte Person beantwortet werden. Diese Beantwortung muss ohne Pause oder Unterbrechung erfolgen. Dieser Aspekt erscheint besonders wichtig, wenn man sich die Bedeutung von temporaler Passung früher körpersprachlicher Mutter-Säuglings-Interaktionen vergegenwärtigt (aaO, S. 119ff). Die Handlung von einer Person muss durch eine adressierte Person inhaltlich angemessen beantwortet werden. So sollte nicht gelacht oder geweint werden, wenn die Handlung von A dieses nicht rechtfertigt; es sollte nicht auf etwas anderes ohne Zusammenhang Bezug genommen werden, wenn nicht dazu eine passende Erklärung oder Entschuldigung erfolgt (z. B. plötzliche Abwendung). Dieser Aspekt bezieht sich aus heutiger Sicht auf Empathie und Mentalisierungsfähigkeit in der Kommunikation. Ich halte diesen Aspekt unter körpersprachlicher Perspektive für besonders relevant (aaO, S. 38f, S. 42f). Interagierende müssen sich an Regeln und Normen der Kulturgemeinschaft halten. Solche gesellschaftlich anerkannten Regeln eines gemeinsamen sozialen Spiels können z. B. den Gebrauch der Hände betreffen. Die Interagierenden müssen sich hinsichtlich eines Spielwechsels und der Spielregeln einig werden. Dieser Aspekt beinhaltet allgemeine soziale und kulturelle Konventionen, aber auch individuelle körpersprachliche Vorlieben und Abneigungen. Auch in der Psychotherapie geht es um Spielregeln des Settings und der Interventionsgestaltung (vertieft aaO, S. 191 ff, 205 ff.) Ein Teilabschnitt einer Kommunikation sollte abgeschlossen sein, bevor ein

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neuer Teilabschnitt beginnt. Beispielsweise sollten bei Gegenstandswechseln bestimmte Einleitungen durch nonverbale Unterstützung begleitet werden: »Übrigens, ich vergaß, …« Oder »Nun, Sie waren gerade dabei, mir etwas zu erzählen …« usw. Dieser Aspekt bezieht sich auf Sequenzialität und rhythmische Phänomene von Kommunikationsabfolgen, auf allmähliche Übergänge (transitions) von einem Thema zum anderen. Dies spielt, wenn es um gelingende Kommunikation geht, eine wichtige Rolle (aaO, S. 152ff) Ȥ Bestehende interpersonelle Beziehungen und Rollendefinitionen sollten reflektiert und gegebenenfalls verändert oder aufrechterhalten werden. Dies trifft nicht zu, wenn man sich über eine notwendige Veränderung einig ist. Im körpersprachlichen Bereich gibt es eindeutige Rollenzuweisungen. In der Tat gibt es etwa in der frühen Kommunikation große Schwierigkeiten, wenn Rollen, z. B. zwischen Mutter und Kind, vertauscht werden (aaO, S. 56ff). Ȥ Interagierende sollten einander ein gewisses Maß an positiver Aufmerksamkeit entgegenbringen. Diese Aussage ist für gelingende Kommunikation wichtig, und das, was (positive) Aufmerksamkeit ausmacht, wird zum allergrößten Teil körpersprachlich vermittelt (aaO, S. 120ff). Ȥ Interaktionen müssen dem Prinzip der Gegenseitigkeit entsprechen. Hierbei geht es um Frage- und Antwortverhalten, Impulsinitiierung und -beantwortung. Auch diese Dimension hat sich als besonders relevant für körpersprachlich ausgerichtete therapeutische Interaktionen herausgestellt, da es um Synchronisierungs- und Bremsvorgänge geht, die sich in Bruchteilen von Sekunden nonverbal ereignen und im (Körper-)Gedächtnis abgespeichert werden (aaO, S. 123ff).

Sprache und Körpersprache im Kontext sozialen Handelns Aufgrund der starken Vernetzung von Sprache und Körpersprache mag es in bestimmten Momenten direkte Entsprechungen zwischen beiden geben, vermutlich dann, wenn in kleinen narrativen Einheiten intentionale Kommunikation abläuft und Verbales von Nonverbalem stimmig begleitet wird. In den allermeisten Fällen werden wir jedoch nicht darum herum kommen zu versuchen, die verschiedenen Dimensionen körpersprachlichen Ausdrucks zu analysieren und kontextbezogen unter Berücksichtigung der eigenen subjektiven Beobachterperspektive eine mehrdimensionale Interpretation vorzunehmen. Festzuhalten bleibt: Wir können das komplexe System von sozialen Situationen und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen, in denen Narrative sich entfalten, niemals nicht berücksichtigen!

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In einem fremden Land z. B. verändern sich der Umgang mit der Körpersprache und damit die verknüpften Narrative schlagartig. Dabei spielen gestische und mimische Signale sowie die (körperbezogene) Zeichensprache eine besondere Rolle. Die Sinneswahrnehmung wird wichtiger als das gesprochene Wort. Die zwischenmenschliche Verständigung ist vermehrt auf nonverbalen Beziehungsaufbau angewiesen. Die Inhalte, die kommuniziert werden, reduzieren sich meistens auf das Wesentliche. Absichten (etwas zu essen zu bekommen), Erwartungen (in der Fremde zurechtzukommen) oder gegenseitige grundsätzliche Einschätzungen (z. B. über die Hilfsbereitschaft des anderen) treten in den Vordergrund. Watzlawick et.al. (2016) haben auf diese körpersprachlichen Aspekte der Kommunikation besonders fokussiert. Die These von der »Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren«, ist in das Allgemeinwissen eingegangen: Jede Form von (Körper-)Verhalten besitzt in einer zwischenmenschlichen Kommunikation Mitteilungswert, Nichthandeln bzw. Schweigen ebenso wie aktiver körpersprachlicher Ausdruck oder verbales Handeln. Ein Schüler im Unterricht, der nichts sagt, bringt damit möglicherweise Desinteresse, Angst oder Scham zum Ausdruck, ein Psychoanalytiker seine Interventionstechnik – Narrative, die ohne ihre Kontexte bedeutungslos sind! Ein weiteres Beispiel: Jemand tippt sich dreimal mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und äußert dazu: »Ja, Köpfchen braucht der Mensch.« Der Inhalt dieser Aussage bezieht sich auf die Tatsache, dass ein Mensch in der Tat häufig intellektuelle Fähigkeiten benötigt, um Sachverhalte richtig einzuschätzen. Die Art und Weise, wie der- oder diejenige durch Tonfall oder Gesichtsausdruck diese Äußerung von sich gibt, stellt aber klar, ob der bzw. die mit dieser Geste Angesprochene durch diese verbale Aussage abgewertet werden soll oder ob vielleicht eine Selbstbewertung dahintersteckt, in der Weise nämlich, dass die Sprecherin auf sich selber stolz ist, weil sie vielleicht eine schwierige Aufgabe gelöst hat. Nehmen wir an, es handelt sich um einen Patienten, der im Anschluss an die oben gestellte Frage fortfährt: »Wieso schauen Sie mich so vorwurfsvoll an?« Die Therapeutin fragt darauf hin vielleicht nicht zurück: »Wie kommen Sie darauf, dass ich Sie vorwurfsvoll anschaue?«, sondern möglicherweise: »Sie erleben mich vorwurfsvoll?« Mit dieser Frage bereitet sie eine Metakommunikation über das noch unklare Narrativ vor und macht die Aussage des Patienten zum Thema. Doch was passiert hierbei körpersprachlich? Zieht die Therapeutin (erstaunt) eine Augenbraue hoch, während sie spricht, was der Patient als Skepsis interpretieren könnte? Würde sich der Patient daraufhin vielleicht zurückziehen und z. B. auf seinem Stuhl zurückrutschen oder wegschauen? Oder würde er wütend vorrücken und antworten: »Ich bin doch gar nicht vorwurfsvoll, Sie sind das doch!?«

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Fazit Fassen wir zusammen, warum körpersprachliche Kommunikation jedwedes Narrativ strukturiert und für dessen Verständnis unverzichtbar erscheint: Ȥ Die besondere Eigenart körpersprachlicher Zeichen als Symbole mit einer interpretierbaren Bedeutungsseite besteht darin, dass sie eine hohe soziale Leistung begründen. Ȥ Körpersprache ist auf das Hier und Jetzt sowie auf aktuelle und »dahinterstehende« Beziehungskonstellationen angewiesen. Letztere müssen aber interpretiert werden und verweisen auf kulturelle und persönlich kodierte Narrative. Ȥ Kommunikation verläuft stets multimodal und vernetzt und kann nur unter Berücksichtigung auch aller sensuellen, kinästhetischen, taktilen, visuellen, auditiven und haptischen Kommunikationskanäle innerhalb gegebener gesellschaftlicher und kultureller Kontexte verstanden werden. Unter dieser Perspektive ist Psychotherapie nichts anderes als eine hoch spezialisierte Form der Metakommunikation, die allerdings auf allen Ebenen stattfinden muss, wenn sie erfolgreich sein soll. Der Einbezug der körpersprachlichen Ebene erscheint dabei aus dargelegten Gründen unverzichtbar.

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Psychisches Leben und die narrative Selbstmitteilung BRIGITTE BOOTHE

Einführende Worte In der psychoanalytischen Praxis finden Erinnerungen an und Geschichten über die Kindheit von Beginn an Interesse. Patientinnen erzählen spontan, und Therapeuten laden Ratsuchende ein, biografische Ereignisse, auslösende Momente, Kranksein und Leiden erzählend darzustellen. Sie erzählen von malignen und benignen Beziehungsschicksalen. Die professionelle Aufmerksamkeit gilt der erzählenden und imaginativen Gestaltungs- und Konstruktionsarbeit. Narrative Darstellungen bringen historische Tatsachen des eigenen Lebens in einen Prozess der Aneignung und Anverwandlung. Welt als personaler Kosmos entsteht im Erzählen. Erzählungen fordern Glauben, Erzählende wollen Zustimmung. Der narrative Kosmos verweist auf das erzählende Ich, das notorisch pro domo, in eigener Sache spricht (Boothe, 2021). Doch vergegenwärtigt das erinnernde Ich weder, dass es schöpferisch ist, noch, dass es erzählend ein Engagement in eigener Sache verfolgt. Erzählen hat eher Selbstbezug als Sachbezug und vermittelt eher Selbst- als Sachgerechtigkeit (Boothe, 2011; Bourdieu, 1990). In der Psychoanalyse ist neben der Psychodynamik die Erzähldynamik anzusiedeln (Rabelhofer, 2014). Narrativ informierte Psychotherapeutinnen können Erzählungen auf ihre Wunsch- und Abwehrorganisation hin untersuchen; das kann besonders produktiv werden, wenn es sich im Hier und Jetzt der Therapiesituation ereignet. Zur psychoanalytischen Tradition gehört die assoziative, dem unmittelbar Auftauchenden, auf die unmittelbar empfindende Leiblichkeit gerichtete Artikulations- und Ausdrucksbereitschaft, der sich die Analysandin überlassen soll (Rugenstein, 2019). Das Erzählen jedoch hat in der Vielfalt psychodynamischer Verfahren ebenfalls seinen Platz. Erzählen ist gerade kein fließendes, assoziatives Denken und Sprechen. Vielmehr kommt es hier zur Festlegung auf eine markante und markierte Gestalt. Meist geht es um eine sprachliche Sequenz mit markiertem Anfang und markiertem Ende, die sich als geordnetes Ganzes präsentiert und spezifische Verlaufscharakteristika hat. Auf dieses geordnete Ganze kann man dann im Gespräch zurückkommen, denn zwanglos lassen sich Erzählungen durch ihr Thema oder ihren zentralen Kern identifizieren,

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zum Beispiel: »Die verlorene Brieftasche«, »Wie ich mich beim Vortrag blamiert habe«, »Meine Panikattacke am Berg«. Besonders gut zugänglich für das psychoanalytische und psychotherapeutische Gespräch sind narrative Darstellungen singulärer Ereignisse, Erzähldynamik verweist auf Psychodynamik, diese findet Ausdruck und feste Form im Narrativ (Schuller, 2006). Widersprüchliche Bewegungen des Gemüts sind manifest gebündelt, bis es an anderem Ort, zu anderer Zeit, vor anderen Adressaten zu neuen kreativen Erzählgestalten kommt. Das Setting in Psychoanalyse, Tiefenpsychologie und psychodynamischer Psychotherapie sieht im Allgemeinen die narrative Abstinenz der Therapeuten vor. Diese werden im Patientinnenkontakt selten selbst zu Erzählenden, ihr narrativer Raum sind Supervision und Kasuistik. Festzuhalten ist: Patientinnen und Patienten erzählen in der Therapie Geschichten. Was sie beunruhigt und bewegt, kommt im narrativen Drama zur Aufführung. Ein zugewandtes Gegenüber teilt die Erste-Person-Perspektive der Erzählenden; sodann können sie nachträglich, gemeinsam mit der professionellen Rezipientin, in einer »Dritte-Person-Perspektive« den Möglichkeitsraum des Narrativs erkunden, auch im Blick auf Chancen und Risiken im Lebenskontext.

Erzählen, Erzählung, Erzählbeziehung – ein Steckbrief Erzählende stellen eine Versetzungsregie (Flader u. Giesecke, 1980) her; sie eröffnen für Zuhörende oder Lesende mit den Mitteln der darstellenden Sprache einen Vorstellungsraum, den sie imaginativ einrichten. Die Erzählung erzeugt für das Publikum genussvolle Erwartungen, genussvolle Spannung. Das Publikum lebt sich in die Erzählung hinein, indem es dramaturgisch mitdenkt und mitgestaltet (Spiegel, 2013). Es geht darum, das Narrativ in therapeutischer Beziehungsarbeit für die Lebenspraxis zugänglich zu machen. Es muss freilich auch eine reflexive Bezugnahme auf das Erzählen geben; sonst verfallen Erzählende und Hörende, Therapeutin und Patient, dem affirmativ-suggestiven Sog der Erzählung. Ȥ Vom Offenen zum Gefügten: Erzählungen reduzieren Kontingenz, indem sie die grundsätzliche Unabgeschlossenheit und Offenheit des Lebensprozesses auf Prägnanz, Kontur und Form festschreiben. Ȥ Identität: Erzählungen reduzieren Kontingenz auch in dem Sinne, dass die eigene Person in der Unbestimmtheit ihrer Lebensäußerungen auf narrative Identität hin vereindeutigt wird. Ȥ Narrative Gläubigkeit: Erzählungen sind kein Medium des kritischen Geistes, sie sind auf Affirmation und Glauben hin orientiert.

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Ȥ Dramaturgie: Erzählungen sind auf der Basis von Dramaturgien organisiert, die zeitliche Abläufe zu einem Ganzen verknüpfen. Ȥ Dramaturgisches Potenzial: Erzählende stellen zu ihren Hörern eine Beziehung her, in der beide im Spiel des Gebens und Nehmens, zu aktiv und emotional engagierten Beteiligten im Ausloten und Ausgestalten des dramaturgischen Potenzials werden. Ȥ Spannung: Erzählungen werden zusammengehalten durch die Spannung, die von der Startsituation ausgeht. Ȥ Erwartung: Die Startsituation weckt Erwartungen; die Erwartungen verpflichten die erzählende Person, darauf einzugehen und das dynamische Potenzial zu realisieren. Ȥ Wunschmotive: Erzählungen sind immer auch Kinder und Enkel der Märchen: Sie sind wunschbeseelt. Ȥ Vom Gefügten zum Offenen: Im Ausloten und Ausgestalten des dramaturgischen Potenzials kann es zum demontierenden, dekonstruierenden wie auch kreativen und erneuernden Spiel mit Erzählungen kommen.

Darstellen, um Anerkennung Werben, Wunschbilder Vermitteln, Bewältigen Das Interesse gilt hier den Stories, also der sprachlichen Gestaltung eines episodischen Ablaufs mit Anfang (Start), Mitte (Entwicklung) und Ende (Ergebnis), an dem die erzählende Person selbst real beteiligt war (Straub, 2010). Diese richtet, wie gesagt, eine Bühne ein, stattet sie mit Figuren, Requisiten und Kulissen aus, und die Aufführung beginnt (Boothe, Grimm, Hermann u. Luder, 2010). Erzählende sind Darsteller: a) Sie schaffen Ablauf, Form, Gestalt als interpunktierte sprachliche Dynamik zwischen Anfangspunkt und Endpunkt. Das narrative Geschehen wird als Ereignis im Dort und Damals inszeniert und mittels Versetzungsregie auf einer imaginären Bühne ins Hier und Jetzt gebracht. b) Sie werben für ihre Darstellung um Anerkennung und Sympathie. Das narrative Geschehen wird im sozialen Raum einem Publikum unterbreitet, um dessen Akzeptanz und emotionales Engagement der Erzähler wirbt. Das Erzählen ist ein Mittel, sich in seiner Individualität im sozialen Raum zu positionieren. Die Erzählung schneidet ihre Gestalt auf das jeweilige Zielpublikum flexibel zu. c) Sie offerieren eine hedonische, also auf Lustgewinn oder Genuss angelegte Verlockungsprämie. Diese Verlockungsprämie ist für die erzählende Per-

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son der Vollzug, für die rezipierende Person der Mitvollzug einer Verwandlung des Gegebenen in einen Schauplatz von Glück und Leid. Die Rezipienten genießen die anthropozentrische Orientierung in der erzählten Welt. Im narrativen Kosmos stehen menschliche Anliegen und Wünsche im Zentrum. Rezipienten engagieren sich emotional für eine positive, für die Protagonisten günstige Entwicklung und einen glücklichen Ausgang des Erzählgeschehens und bedauern ein negatives Ende. Mink (1970) formuliert zugespitzt: »Stories are not lived but told. Life has no beginnings, middles, or ends.« Weltverwandlung als Schöpfung mit AnfangMitte-Ende ist eine der besonderen kreativen Leistungen des Erzählens. Erzählend wird dem faktisch Gegebenen eine autor-zentrierte Ordnung auferlegt. Das biografische Erzählen vermittelt die Perspektive der ersten Person. Dieses narrative »world-making« und der narrative Denkmodus (Bruner 1986, S. 11–12) organisieren und gestalten die Lebenswirklichkeit im Licht eigener Anliegen und Wünsche (Boothe, 2010). Erzählt wird beispielsweise in einer Geschichte vom Scheitern oder von einer Enttäuschung, wie es hätte sein sollen, aber leider nicht gewesen ist; ein Erfolg wird als wunscherfüllendes Ereignis mit Happy End zum eigenen Vergnügen immer wieder erzählt. Was sich narrativ ereignet, ist erfreulich oder traurig, ist empörend oder erhebend in der Perspektive des Erzählenden. Spannend für Rezipienten ist, ob und wie das erzählte Geschehen sich zum Guten entwickelt oder als tragischer Ausgang zu beklagen ist. Spannend für die Erzählenden ist, wie sie ihre psychische Situation, verwandelt in Erzähldynamik, nachträglich nochmals durchleben, und zwar mit emotionalem Genuss. Nicht nur Erzählungen mit erfreulichem Ausgang verschaffen Genuss, sondern auch düstere und tragische. Es liegt auf der Hand, dass Ratsuchende in der Psychotherapie wohl eine Zeitlang eher Problemgeschichten als solche mit glücklichem Ausgang erzählen. Dabei spielt die Organisation des Erzählbeginns eine richtungsweisende Rolle. Der Erzählbeginn weckt Erwartungen und Vorstellungen davon, was ein erfüllendes Ende der Erzählung sein könnte. Die Erzählung gibt – in der Perspektive der Erfüllungserwartung – Befehle aus: Hoffe auf dies, fürchte jenes (Frye, 1964; von Matt, 1995, S. 36). Falls man sich einlässt, falls man das Spiel mitspielt, dann lebt man als Mit-Erzähler in einer erzählgeleiteten Gefühlsordnung (Bruner 1986). d) Erzählende übernehmen Regiefunktion und bewältigen Destabilisierung. Das biografische Erzählen in der Psychotherapie ist nachträgliches Organisieren von Erfahrung; das ist im Rahmen verstörender wie auch in positiver Richtung überwältigender Erfahrung bedeutsam, und ebenso im Kontext spannungsvoller Herausforderungen und im Beunruhigtsein durch bei-

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spielsweise Angst oder Sorge. Die Neugestaltung des Geschehens als wohlgeformter Ablauf dient – nach dem Freud’schen Modell der Verwandlung von Passivität in Aktivität – dem produktiven Durchleben der Spannung unter Bedingungen der Kontrolle: die erzählende Person ist in Regiefunktion.

Vorschläge für erzählanalytische Praxis im therapeutischen Gespräch Narrativ engagierte Therapeutinnen können die vier Leistungen des Erzählens im Gespräch fruchtbar werden lassen: 1. Darstellen oder erzählendes Zeigen, 2. Anerkennung und Sympathie oder Werben um Resonanz, 3. Wunschorientierung 4. Übernahme der Regiefunktion – spannungsvolle Herausforderung, Bewältigung. Zuhörend identifiziert man sich mit der Rolle (meistens) der Ich-Figur, erlebt und sympathisiert mit. Die Dynamik der Erzählung bestimmt sich auf der Basis von Erwartungen, die am Erzählbeginn lebendig werden und auf ein gutes Ende hoffen, ein schlechtes fürchten lassen. Erzählende und Hörende setzen praktische Erzählkompetenz ein, die sie vom frühesten kindlichen Spracherwerb an im Lernen durch Tun erworben haben. Narrative Intelligenz lässt sich zum Werkzeug, zum Tool ausarbeiten, wenn man sie zuhörend, mitvollziehend, explorierend systematisch einsetzt: Ȥ Um die Erzählung aufzunehmen, vollzieht man den narrativen Ablauf mit, gestaltet in der Phantasie die Erzählbühne mit und versetzt sich in die Rolle der Ich-Figur. Ȥ In Parteinahme für die Ich-Figur folgt man zunächst der Sympathieregie der erzählenden Person. Ȥ In engagierter Spannung vollzieht man imaginativ das Geschehen mit. Ȥ Der narrative Mitvollzug eröffnet die dichte empathische Beteiligung an der erzählten Dynamik. Nun kann man das professionelle Gegenüber in Distanz zur Erzählung das Narrativ kommentieren, kann in der Sitzung selbst gemeinsam mit der erzählenden Person das Narrativ besprechen oder nachträglich, allein oder in Super-/Intervision, explorieren. Die Therapeuten übernehmen also die Rollen der Hörenden, der Beteiligten und dann auch Kommentierenden aktiv im Gespräch. Falls es zur gemeinsa-

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men Exploration kommt, begeben sie sich im Erzählgespräch in einen »antwortenden Modus«, das heißt, sie verbalisieren die eigene Resonanz auf das Erzählgeschehen. Zur Resonanz kann das Nacherzählen in eigenen Worten gehören. Zuhörende bringen zum Ausdruck, wie sie die Situation der Protagonistin – gewöhnlich ist das die Patientin als Ich-Erzählerin – erleben und welche Eindrücke sie, in Identifikation mit der Erzählerin, mit anderen Figuren in der Erzählung verbinden. Therapeuten haben die Möglichkeit, gemeinsam mit der Erzählerin den Fokus auf den Beginn seiner Geschichte zu legen und gemeinsam mit ihr zu imaginieren, wie es anders hätte weitergehen können oder auch wunschgemäß hätte weitergehen sollen. ›Erzählen Sie die Geschichte so, dass es ein gutes Ende gibt‹, würde eine Erzählanregung lauten, die den Blick ­auf narrative Ressourcen positiver Vorstellungen richtet. Es könnten sich bei dieser Aufgabe beide beteiligen. Ein Hinterfragen und Bewerten der Erzählung sollte niemals im direkten Bezug auf das narrativ Dargestellte stattfinden, denn Erzähler wollen Akzeptanz. Dass die Erzählung angenommen wird, ist ihnen zunächst wichtig. Wenn es vom Mit-Erzählen weg hin zum Kommentieren aus der Distanz geht, muss deutlich werden, dass nun die Therapeutin die erzählende Person einlädt, auf die Geschichte nachdenkend und reflektierend Bezug zu nehmen. Man tritt der Erzählung gegenüber, schaut sie von außen an, möglicherweise gemeinsam. Dies ist der Modus der gemeinsamen Aufmerksamkeit oder der joint attention: Gemeinsame Aufmerksamkeit für die narrative Darstellung im Blick auf die emotionale Situation, die innere Verfassung und die aktuelle Lebenswirklichkeit der erzählenden Person (Abb. 1).

»Spinnst denn du?«, hieß es in der Familie Zur Veranschaulichung wird ein anonymisiertes Beispiel gewählt. Es hat zwar den Nachteil, dass ein fokussierter narrativer Dialog seinerzeit nicht stattfand. Es hat aber den Vorteil, dass es datenschutzbezogen lange genug zurückliegt, dass es als authentisches Audiotranskript vorliegt und in psychodynamischer, beziehungsdynamischer und gesellschaftlicher Perspektive interessant ist. Es handelt sich um die Erzählung einer Patientin mit dem Decknamen Wilma. Die Erzählung stammt aus der 230. Stunde einer psychoanalytischen Therapie, die an der universitären Praxisstelle der Abteilung Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse in Zürich durchgeführt wurde und sich über insgesamt sechseinhalb Jahre und 326 Stunden erstreckte. Die Sitzungen wurden videografiert und nach den Transkriptionsregeln der Ulmer Textbank (Mergenthaler, 1992) anonymisiert und transkribiert. Zur videografierten und

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transkribierten Therapie liegen zahlreiche an der Universität Zürich durchgeführte erzähl- wie auch beziehungsanalytische und prozessorientierte Einzelfallstudien vor (z. B. Boothe, Grimm, Hermann u. Luder, 2010). Wilma ist zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns eine füllige 40-jährige alleinstehende, kinderlose Frau, die beruflich tüchtig ist, ohne dass sie ihren Wunschberuf und ihre Wunschausbildung hätte wählen können. Ihr privates Leben ist wenig ausgefüllt und durch eine überstarke ambivalente bis vorwurfsvoll bittere Orientierung auf die Primärfamilie geprägt. Eine längere Liebesbeziehung hat sie bisher nicht gelebt. Eine depressive Rückzugsneigung, Selbstwertkonflikte, Regulierung des Befindens durch übermäßiges Essen sowie sozialphobische Tendenzen machen das Beschwerdebild aus. In der 230. Stunde kommt eine Erinnerung zur Sprache, in der ihr die Eltern, ihre Schwester und Verwandte mit Ablehnung, Verweigerung und Entwertung begegneten. Die Erzählung vom möglichen Berufswunsch wird hier der einfachen Lesbarkeit halber als nummerierte Sequenz von Subjekt-Prädikat-Einheiten inklusive Satzbruchstücken wiedergegeben, bei Verzicht auf Transkriptionszeichen.1 Die Sprecherin, die gern Lehrerin werden möchte, vermittelt eingangs in ihrer Erzählung aus der späten Schulzeit, dass ihre Chancen, eine ökonomische Unterstützung seitens der Familie zu erhalten, nicht günstig stehen. Würde sie stattdessen Opernsängerin werden wollen? Wohl nicht ernsthaft, aber sie brachte diese Idee, so erzählt Wilma, in der sonntäglichen Familienrunde vor. Ein möglicher Berufswunsch 1. Opernsängerin ist mir mal in den Sinn gekommen 2. ich habe das mal so als äh äh 3. wie soll ich sagen 4. also ich glaube 5. ich wollte es nicht ernsthaft werden äh 6. aber ich habe irgendwo 7. als ich anfing zu realisieren 8. dass es da etwa Schwierigkeiten geben könnte mit meiner Lehreridee rein einfach finanzierungsmäßig, oder 9. warf ich das dann mal noch so als möglichen Berufswunsch äh am Sonntag in die äh Runde, oder 10. und dann stieß ich auf blankes Entsetzen, oder 11. also Esthers Reaktion war die 12. das ist ja Musik 1 Die Transkription einer spontanen mündlichen Erzählung wirkt als schriftliches Dokument spröde, sie ist ja nicht auf ein Lesepublikum hin geformt. Man findet sich gleichwohl zurecht.

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13. die man nicht hören kann oder 14. äh Walter sagte irgendwie 15. glaube ich 16. mein Vater schaute nur meine Mutter an und äh konnte sich auch nichts darunter vorstellen 17. glaube ich 18. Opern was ist das, oder 19. und meine Mutter sagte einfach gerade heraus 20. kommt nicht in Frage, oder 21. spinnst denn du 22. so eine brotlose Sache Mit-Erzählen

Sympathisieren

(1) Darstellen oder erzählendes Zeigen

(2) Anerkennung, Sympathie und Werben um Resonanz

Gespannt sein

(3) Hin zum Happy End

Bewältigung: Erfassen, Kommentieren

(4) Spannungsvolle Herausforderung, Bewältigung

Sprache, Darstellung, Rhetorik Deixis am Phantasma: Aktiver Umgang mit der Darstellungsfunktion der Sprache und der sprachlichen Organisation der Erzählung Sympathisieren mit der erzählenden Person und emotionale Parteilichkeit In Parteinahme für die IchFigur folgt man zunächst der Sympathieregie der erzählenden Person. Wunschgenuss im Erzählgeschehen Welche Möglichkeiten der Wunscherfüllung bietet das Narrativ? Narrative Verwandlung von Passivität in Aktivität. Regieführung als nachträgliche Stabilisierung; Herstellung von Form, Gestalt, Kontur, Prägnanz. Das Potenzial der Bewältigungsleistung

Abb. 1: Vom narrativen Mitvollzug der rezipierenden Person zur kommentierenden Distanz (eigene Darstellung HS)

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Teilnehmende narrative Erfahrung am Beispiel Zu (1): Darstellen oder erzählendes Zeigen

Hier geht es um Sprache, Darstellung, Rhetorik: Die Erzählerin schickt voraus, dass sie seinerzeit als Mädchen mit der Versagung ihres Berufswunschs aus finanziellen Gründen rechnen musste. Dann beginnt das Erzählgeschehen; die Protagonistin eröffnet der sonntäglichen Familienrunde einen neuen anspruchsvollen künstlerischen Berufswunsch. Dazu wählt sie nicht direkte oder indirekte Rede, ihre eigene Rede gelangt also nicht zur Aufführung, sondern sie »warf … das dann mal noch so als möglichen Berufswunsch … in die äh Runde« (9). Auch die Antworten werden zunächst nicht in direkter oder indirekter Rede mitgeteilt, sondern die Erzählerin wählt die summarische Zuschreibung »blankes Entsetzen« (10), damit wird die »Runde« zum Kollektiv von Antagonisten, die freilich nicht in einer Position der Stärke erscheinen, sondern verstört und aus der Fassung gebracht. Ein bestätigungsheischendes »oder« (10, 13, 18, 20) als Wendung ans Gegenüber kommt hier zum Einsatz und als Anfügung an einige wörtliche Redewiedergaben. Der Therapeut ist engagiert im narrativen Mitvollzug, erlebt, nimmt auf, wie die Erzählerin die Familienmitglieder sprachlich als skandalös unbedarft ausstattet, wie sie Elemente zuspitzender Karikatur zum Einsatz bringt. Sie gestaltet per Kontrastbildung und Polarisierung – hier die Idee der Hochkultur, dort die Niederungen der Unbildung – eine Rhetorik satirischer Bloßstellung. In Erste-Person-Perspektive identifiziert könnte der Therapeut eine sensible und behutsame Nacherzählung einbringen, zur Variantenbildung und zur Titelfindung anregen oder einen Titel vorschlagen, der diese Perspektive der Ersten Person aufgreift, zum Beispiel: »Spinnst denn du, hieß es in der Familie«. Zu (2): Anerkennung und Sympathie oder Werben um Resonanz

Hier geht es um Sympathie und emotionale Parteilichkeit: Die Erzählerin positioniert sich vor dem Gegenüber. Ein sympathisierendes Echo aus emotionaler Verbundenheit ist willkommen; hier würde beispielweise passen: »Was haben Sie entbehren müssen! Wie wenig hat man Sie gesehen!« Die Sympathieregie lässt Wilma positiv dastehen, die Familie negativ: Daher geht es zunächst darum, sich als Therapeut mit Wilma zu identifizieren, die Geschichte aus ihrer Sicht nachzuvollziehen und das Ressentiment den Eltern gegenüber verstehend aufzugreifen. In der Beispielerzählung kann er diese Bewegung emotional mitvollziehen: Die Familie diskreditiert die berufliche Vision. Die Familienmitglieder stehen als bornierte, engherzige Figuren da. Wer das Unglück hat, einer solchen Familie zu entstammen und an sie gebunden

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zu sein, wird nie zur Profilierung des eigenen Potenzials gelangen. Das ist ein großer Jammer; verdient die ambitionierte Wilma nicht Unterstützung und Ermutigung? Im Gespräch zwischen Patientin und Therapeut kann darauf der Fokus gelegt werden: Da ist Potenzial, da kann etwas entstehen, wenn sich ermutigende Unterstützung findet. Die Beziehung in der Therapie kann die geeignete Unterstützung bieten: »Trauen Sie mir, Wilma, zu, dass ich ausreichend Interesse an Ihren Anliegen und Ambitionen habe?« In diesem Zusammenhang können Übertragung und Gegenübertragung konkret werden. Wie mag mich der junge attraktive Therapeut finden, könnte Wilma fürchten, der eine so interessante berufliche Laufbahn hat einschlagen können? Wird auch er denken: Die und Operndiva – die spinnt ja? Übrigens: Selbstverständlich ist auch ein Thema, wie Wilma für sich selbst Sympathie entstehen lassen und an eigenes Potenzial glauben kann. Im weiteren Therapieverlauf ließ sich beobachten, dass Wilma ein deutlich liebevolleres Verhältnis zum eigenen Körper entwickelte, die eigene Attraktivität sensibel und gekonnt hervorhob und im Kontakt mit dem Therapeuten Charme erprobte. Zu (3): Wunschorientierung

Wunschgenuss im Erzählgeschehen – Welche Möglichkeiten der Wunscherfüllung bietet das Narrativ? Der Genuss des Wunscherfüllenden in der Phantasie ist ein besonderer Reiz. Hier ist der wunscherfüllende Charakter der Erzählung kaum verhüllt: Aufstieg, Profilierung, die eigene Stimme. Das passt auch zum Lehrerberuf. Opernsängerin mag Scherz und Traum sein, aber ein erfreuliches Traumbild. Und eine erfreuliche Vision: »Ist nicht etwas an mir Opernsängerin? Warum nicht? Verdient meine Stimme nicht Gehör?« In schlichten mündlichen Alltagserzählungen spiegeln sich die Wunschmotive aus Märchen und Literatur und Arztroman. Hier passt Andersens (1862) Märchen vom »Hässlichen jungen Entlein«, das bekanntlich ein prachtvoller Schwan wird. Es würde für die Patientin darum gehen, in der Therapie die innere Freiheit, die Spielfreude und den Humor zu erreichen, die den Genuss des Imaginativen zunehmend ermöglichen, unabwendbare Versagungen hinzunehmen, dem Wünschbaren aber Verwirklichungschancen, auch überraschender Art, einzuräumen. Zu (4): Übernahme der Regiefunktion

Wilma verweist in ihrer Erzählung auf eine Situation, in der sie einer negativen familiären Bestimmungsmacht ausgeliefert war. Sie fürchtete damals, so erzählt sie zu Beginn, »dass es da etwa Schwierigkeiten geben könnte mit meiner Lehrer-

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idee rein einfach finanzierungsmäßig«. Diese Versagung würde sie passiv, als Opfer verweigerter Unterstützung, hinnehmen müssen. Aus der »Lehreridee« würde nichts werden. Man hat es in der Erzählung mit einer machtlosen IchFigur zu tun und versagungsmächtigen Gegenspielern. Eine Erzählung, die ganz nach dem Muster des Opfer-Narrativs gebaut wäre, würde die Ohnmacht der Ich-Figur narrativ ausbauen und dem passiv erduldeten Leid vermehrten Darstellungsaufwand widmen. Die Erzählerin Wilma baut jedoch nicht die Situation der Ohnmacht und der passiv hinzunehmenden Versagung aus, sondern sie verwandelt narrativ Ohnmacht in Macht. Sie operiert provokativ mit einer Strategie der ironischen Überbietung. Sie lässt nicht zu, dass die Familie ihr Anliegen ignoriert, sondern sie nimmt erzählend das Heft in die Hand. Sie führt Regie, indem sie provokant eine Berufsvision zum Besten gibt, mit der es ihr nicht ernst ist. Das ernsthafte Anliegen, Lehrerin zu werden, wird ersetzt durch das fiktive Schein-Anliegen, Opernsängerin zu werden. So »warf ich das dann mal noch so als möglichen Berufswunsch äh am Sonntag in die äh Runde«. Die Antwort der Ich-Figur auf die Versagung ist kommunikative Provokation. In »blankem Entsetzen« gefangen merken die Opponenten nicht, was los ist. Sie durchschauen das Fiktive nicht und werden in den angeführten Redezitaten bloßgestellt: »das ist ja Musik / die man nicht hören kann«, »Opern was ist das«, »spinnst denn du / so eine brotlose Sache«. Die Erzählung ermöglicht Bewältigung von Versagung durch die Disqualifikation der versagenden Macht oder auch Entmächtigung familiärer Machtinstanzen durch Preisgabe an Verachtung. Diese Bewältigungsleistung schafft überlegenen Abstand. Die narrative Verwerfung der Herkunftsfamilie und des Herkunftsmilieus findet sich häufig im Zusammenhang mit der adoleszenten Abgrenzungsdynamik; hier jedoch handelt es sich um eine erwachsene Frau. Auch wenn das bloßstellende Narrativ ein Selbstgefühl überlegener Distanz vermittelt, bleibt Wilma – gerade dies steht im Zentrum der Therapie – noch konflikthaft an die Kindheitsfamilie gebunden. Noch fehlt das Zutrauen in die eigenen Gestaltungskräfte; und noch scheint das mütterliche Verbot: »und meine Mutter sagte einfach gerade heraus / kommt nicht in Frage« unbewusst wirksam zu sein. Wilma verdeutlicht erzählend, dass sie nicht zur Familie dazugehören will, sie will diesen kulturlosen Ignoranten nicht gleichen, riskiert nun aber Einsamkeit, Verlorenheit und Heimatlosigkeit. »Wie und wo und mit wem wären Sie gern aufgewachsen?« wäre eine konstruktive Anregung zum Erzählen im Anschluss an Wilmas Geschichte. Aber auch: »Erzählen Sie, wie es damals vielleicht doch hätte möglich sein können, zur Lehrerausbildung zu gelangen?« Und unbedingt dazu: »Wie könnte es heute gelingen, sich beruflich und persönlich so zu orientieren, dass Lehren und Unterrichten Platz finden?«

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Ein möglicher Berufswunsch – verstellter Weg ins Freie Es handelt es sich um eine Erinnerung mit für die Erzählerin schicksalhaftem Charakter, das Schicksal einer Bindung an eine Familie, die den eigenen, äußeren und auch inneren Beschränkungen verhaftet bleibt; die ökonomische Enge steht – als gesellschaftliche Schwelle und innere Blockade – der Entfaltung eigenen Potenzials als unüberwindliches Hindernis entgegen: Kulturelle Ambitioniertheit hat keine Chance. Der Rekurs auf die Entwertungskommunikation der Familie sowie das imperative Verbot der Mutter erwiesen sich in der Therapie über längere Zeit als persönliche Modellerzählung. Manchmal satirisch, oft im Ton düsterer Klage zeichneten die Narrative das negative Bild eines, heute wohl als »bildungsfern« disqualifizierten Unterschichts- oder untere MittelschichtMilieus, das eine Mentalität der Selbstbeschränkung verinnerlicht, auch generativ verfestigt und jede Investition in soziale Mobilität und Aufstieg ablehnt. Wilmas Erzählung vermittelt sprachlich, dass sie sich diesem Milieu nicht zugehörig fühlt, dass ihr Blick auf die Familie von oben und von außen kommt. Allerdings ist es nicht etwa ein aktiver Exodus, ein Aufbruch in neue Verhältnisse, sondern vorerst einmal eine innere Bewegung nach oben und außen. Noch – und vermutlich deswegen – hat die Erzählende es nötig, innere Abgrenzung durch Entwertung zu regulieren. Eine Dekonstruktion maligne stabilisierender Erzählmuster würde sich ergänzend und weiterführend in einem gruppentherapeutischen Setting empfehlen. Die direkte Kommunikation im Austausch mit Peers öffnet die Chance zur Erprobung der Fähigkeiten, sich geltend zu machen, zu behaupten und zu erfahren, wie andere mit der in der Tat großen Herausforderung umgehen, einen sozialen Aufstieg zu leisten, ein vertrautes Milieu zu verlassen und couragiert ein neues kennenzulernen, aber auch: sich neu zu positionieren, ohne Scheinsouveränität, ohne ein Risiko gänzlicher Entwurzelung. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist, im therapeutischen Dialog die Kunst zu erproben, das Gegenüber für die eigenen Anliegen und deren Zukunftsfähigkeit zu gewinnen und nicht nur bei dem gemeinsamen resignativen Bedauern einer Familienmisere stehenzubleiben (Grimmer, 2006). Es muss nicht beim bloßen Traum, beim dysphorischen Rückzug, bei der negativen Erwartung, in der eigenen Persönlichkeit ignoriert, übersehen oder beiseite gestellt zu werden bleiben. Erzählende gemeinsame Spiele im Möglichkeitsraum der Zukunft sind produktiv.

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Ausblick Narrative Sensibilität erlaubt gemeinsame Aufmerksamkeit für das Erzählen, gestattet den aktiven und initiativen, kreativen und imaginationsbereiten Mitvollzug. Zu empfehlen ist die gemeinsame Entfaltung der Erzähldynamik, die ein vertieftes Verstehen der Psychodynamik erlaubt, aber auch den Blick auf Lebensverhältnisse und Lebensaussichten öffnet. Auch Therapeutinnen und Therapeuten können mit großem Gewinn zu aufmerksamen Erzählern werden, etwa in der Supervision, wenn dort narrative Kompetenz zum Tragen kommt. In einer narrativ ausgerichteten Supervision werden sie aufgefordert, ihre Patienten und Patientinnen in erzählender Form darzustellen. Es geht darum, sich, durchaus auch vorbereitend in schriftlicher Form, auf die narrative Darstellung einzelner kommunikativer und interaktiver Ereignisse einzulassen. Gerade das kann von besonderem Interesse sein, weil der Therapeut als Erzähler sich in der Perspektive der persönlichen emotionalen Beteiligung vermittelt, nicht als Diagnostiker, Beobachter, Urteilender oder Kommentator von außen. Die Supervisorin wiederum hat Gelegenheit, sich ihrerseits als emotional beteiligte KoKonstrukteurin auf die Erzählung einzulassen. Die Erzähldynamik vermittelt sinnfällig die dramaturgische Ordnung, die der Therapeut als Erzähler herstellt, ebenso die Anerkennung, um die es ihm zu tun ist, und auch, welche Wünsche in den Erzählteppich eingewebt sind und schließlich, wie in Erzählform Bewältigung erfolgt. Das Formulieren und Schreiben der Erzählungen und die gemeinsame narrative Exploration in der Supervision haben höchst anregende Aspekte der Selbsterfahrung, helfen, sich selbst und das Gegenüber besser zu verstehen und die gewonnenen Erkenntnisse für die Planung der künftigen therapeutischen Arbeit zu nutzen. Und angehende Therapeutinnen profitieren von narrativer Selbsterfahrung in Einzel- und Gruppensetting. Darüber hinaus stellen narrativ biografische Selbstkenntnis und die narrative Exploration der eigenen Beziehungswelt eine große Bereicherung dar.

Literatur Andersen, Hans C. (1862). Sämmtliche Märchen. Darin: Das hässliche junge Entlein. copyright © 2007–2017 by maerchen.com. https://maerchen.com/andersen/das-haessliche-junge-entlein. php (Zugriff am 09.11.2021). Boothe, B. (2021). Narrative Identität. Implikationen für die psychoanalytische Psychotherapie. Psychodynamische Psychotherapie 1, 53–64. DOI 10.21706/pdp-20-1-53.

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TEIL 5  Politische Dimensionen narrativer Praxis

Das Witness to Witness Program: Hilfe für Helferinnen im Kontext der COVID-19-Pandemie2 KAETHE WEINGARTEN, ALMA R. GALVÁN-DURÁN, SOL D’URSO und DELIANA GARCIA

Vorbemerkungen Das Witness to Witness Program (W2W) wurde ursprünglich entwickelt, um Anwälte, Ärztinnen und Krankenpfleger zu unterstützen, die mit Menschen arbeiteten, welche sich in unterschiedlichen Phasen ihres Anerkennungsverfahrens nach Einwanderung in die USA in Verwahrungshaft befinden. Es handelt sich hierbei um Fachkräfte, die an empathischer Überlastung leiden. Das Projekt hat vier Hauptkomponenten: (1) Sitzungen, in denen medizinischem Fachpersonal anteilnehmend zugehört wird, um ein tiefgreifendes Verständnis des Narrativs zu entwickeln, das die einzelne Person von ihrer Arbeit und den damit verbundenen Herausforderungen entwickelt hat; (2) eine Bestandsaufnahme der jeweiligen inneren und äußeren Ressourcen, die der betreffenden Person in der Vergangenheit und in der Gegenwart verfügbar waren und sind; (3) Hilfe bei der Beseitigung von Hindernissen beim Zugang zu diesen Ressourcen und schließlich, (4) die Entwicklung eines persönlichen Werkzeugkastens zur Stressbewältigung. In diesem Beitrag wird die rasante Weiterentwicklung verfolgt, die W2W im Verlauf der COVID-19-Pandemie genommen hat. Am Sonntag, 24. Mai 2020, schrieb die New York Times: »Fast 100.000 Tote in den USA. Ein unschätzbarer Verlust«. Die Los Angeles Times schrieb: »Die Zahlen verschlingen uns. Gebannt auf Benutzeroberflächen, in Balkendiagrammen, Geraden und Kurven, erfassen und dokumentieren sie das Ausmaß des Virus und zwingen uns die Frage auf, ob wir wir den Wert eines einzigen Menschenlebens höher einschätzen als den von tausenden. Können wir um Fremde so trauern, wie wir um diejenigen trauern, die wir kennen?« (Curwen, 2020). 2 Original: Weingarten, K., Galván‐Durán, A. R., D’Urso, S. u. Garcia, D. (2020). The Witness to Witness Program: Helping the Helpers in the Context of the COVID‐19 Pandemic. Family Process, 59 (3), 883–897. Dies ist eine Übersetzung einer gekürzten Fassung des Artikels. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Das Witness to Witness Program

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Vor diesem Hintergrund ist 21 Monate nach Projektbeginn im Jahr 2018 die Entwicklung von W2W zu verstehen. W2W war zunächst eine Reaktion auf den dringenden Bedarf an Unterstützung für diejenigen, die an der amerikanisch/mexikanischen Grenze arbeiteten und ihren Klienten und Klientinnen in allen Phasen des Einwanderungsprozesses halfen – der Arbeitsrahmen wurde aber innerhalb weniger Monate in mehrfacher Hinsicht erweitert: die Zahl der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, die verschiedenen Dienstleistungsarten, die Tätigkeitsfelder der von uns versorgten Projektpartner und die geographische Ausdehnung des Projektes. Im März 2020 veränderte sich mit dem Lockdown in den meisten Teilen der USA das W2W Projekt erneut. Viele unserer Projektpartner waren zwangsbeurlaubt, wurden arbeitslos oder arbeiteten von zu Hause aus. Dabei lebten oft drei Generationen oder mehr in einem Haushalt, und sie sorgten sich daher um die eigene Sicherheit oder die ihrer Angehörigen.

Geschichte des Projekts W2W Der Aufbau des Projekts wurde zunächst in Reaktion auf die Bedürfnisse von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im gemeindlichen Gesundheitswesen und von Anwälten vorgenonmmen, die Asylsuchende, Personen in Verwahrungshaft und Menschen ohne Ausweispapiere an der Südgrenze der USA unterstützten (Weiling et al. 2020). Doch seine Ursprünge reichen Jahrzehnte zurück. W2W beruht auf dem Modell des Aktiven Bezeugens (Weingarten 2000; 2003; 2004), das seinerseits das Kernkonzept des von Kaethe Weingarten von 1999 bis 2017 geleiteten Projekt Aktives Bezeugen bildete. In diesem Projekt arbeitete man mit Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften, um das zunächst passive Bezeugen von Gewalt und Übergriffen in unterschiedlichen Bereichen in wirksamen Aktivismus zu verwandeln. Diese Bereiche reichten von körperlicher Erkrankung über die Erfahrung von Menschen in Nachkriegsgesellschaften bis hin zu häuslicher Gewalt. Bei einem der der angebotenen Projektkomponenten handelte es sich um online durchgeführte Einzelgespräche mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im gemeindlichen Gesundheitswesen und mit Gemeinwesenarbeitern – und Arbeiterinnen in verschiedenen Teilen der Welt, beispielsweise in Kosovo und Südafrika. Diejenigen, die den Immigranten halfen, brauchten selbst Hilfe. Gesundheitspersonal, Fürsprecher für die betroffenen Gemeinschaften, und Anwälte standen unter hohem Leidensdruck, wenn sie die Geschichten über das Elend und die Traumata ihrer Klienten, Patientinnen und anderer Mitglieder ihrer Gemeinschaften hörten. Darüber hinaus waren die Helferinnen durch neue

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Kaethe Weingarten, Alma R. Galván-Durán, Sol D’Urso und Deliana Garcia

Verfahrensregelungen belastet, die erhebliche negative Auswirkungen auf ihre Arbeit hatten; sie waren aufgrund dieser Veränderungen demoralisiert und wütend. Später wurden zu den bereits vorhandenen Berufsgruppen, die W2W versorgte, auch unterstützungsbedürftige Journalisten in das Projekt aufgenommen. Die kooperierenden Partner von W2W stammten primär aus diesen Berufsgruppen. Im Juni 2019 war W2W zu einem regelrechten Programm angewachsen, das mit 38 Freiwilligen arbeitete, von denen sechs zweisprachig waren.1 Alle Freiwilligen in W2W sind qualifizierte Systemtherapeuten mit Erfahrung in der klinischen Arbeit mit Klienten und Klientinnen, die traumatische Lebensgeschichten haben. Alle Freiwilligen befassten sich mit denselben Schulungsmaterialien und arbeiten nach einer auf den jeweiligen Einzelfall anzupassenden Standardmethode. Diese weist ein klares Protokoll auf, wie man den Erstkontakt herstellt, wie die Sitzungen organisiert werden und welche Konzepte hervorzuheben sind. Im Zuge ihrer Fortbildung nehmen die Freiwlligen zuerst an einer Telefonkonferenz teil, um sich kennen zu lernen und über das Schulungsmaterial zu diskutieren; dem folgt ein Abschlussgespräch mit Kaethe Weingarten. Dann fertigen sie zu jedem Gespräch mit ihren Partnern ein Protokoll an, das an Weingarten geschickt wird. Sie überprüft und anonymisiert die Protokolle, und unterzieht sie einem Ratingverfahren, das von einer unabhängigen Beurteilerin durchgeführt wird. Von den hunderten von Protokollen, die W2W erhalten hat, liegt die Durchschnittbewertung über die Nützlichkeit für den Gesprächspartner bei 4,8 auf einer fünf Punkte umfassenden Skala.

Schulungsmaterialien, Gesprächsstruktur und Projektentwicklungen in W2W Es wurden zahlreiche Materialien entwickelt, welche die konzeptionelle Basis von W2W und Handlungsanleitungen vermitteln. Das wichtigste Konzept ist dabei das Modell des Aktiven Bezeugens (Weingarten 2000; 2003; 2004), das nicht nur von einer, sondern von vier Positionen des Bezeugens ausgeht (Abb. 1). Die einzelnen Positionen einer Person schwanken je nach Situation, die sie bezeugt. 1

Das Projekt W2W wurde in seinem Wachstum von der damaligen AFTA-Präsidentin Victoria Dickerson, PhD., und Sarah Berland, LCSW, Chair of the Family Policy and Human Rights Committee, beaufsichtigt. Claudine Lucena, MA, LMFT, AFTA-Mitglied, und Kate Wotanowicz, AFTA-Programm-Managerin, gaben die Amtshilfe. Sharon Starobin, MS, ist die externe Beurteilerin. Jennifer Slack, MS, MA, LMFT, und Karen Skerrett, PhD., waren die ursprünglichen Moderatorinnen der Unterstützergruppen.

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Das Witness to Witness Program

Positionen des Bezeugenden Bewusstheit

Fehlende Bewusstheit

selbstwirksam

1

2

unwirksam

3

4

Positionen des Bezeugenden Bewusstheit

Fehlende Bewusstheit

selbstwirksam

eingestimmt bedacht hilfreich

kritisch verletzend grausam

unwirksam

verwirrt unsicher inkompetent

zurückgezogen passiv verleugnend Teilnahme aufkündigend

Abbildung 1: Positionen des Bezeugenden

Position 1 ist gegeben, wenn man eine bewusste und handlungsfähige Zeugin von Gewalt, Übergriffen oder Leiden ist. Diese bezeugende Position ist dadurch gekennzeichnet, dass man aktiv handelt und sich darüber im Klaren ist, welche Handlungen notwendig sind. In dieser Position fühlt sich eine Person meist kompetent und wirksam. Position 2 mag für den anderen die gefährlichste darstellen. Wenn Personen Gewalt, Übergriffe oder Leiden bezeugen aber nicht verstehen, was sie bezeugen, und nichtsdestotrotz reagieren, als ob sie wüssten, was sie gerade tun, sind sie bestenfalls wirkungslos, aber im schlimmsten Falle ist ihre Reaktion gefährlich. Diese Art des Bezeugens kann weitreichende nega-

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tive Auswirkungen haben, vor allem dann, wenn die bezeugende Person eine Machtposition innehat oder so wahrgenommen wird. In Position 3 kann jemand nicht erfassen, was wirklich geschieht, und ergreift deshalb keine Maßnahmen zur Verbesserung der Situation. Eine bezeugende Person, die sich der Notlage eines anderen Menschen wirklich nicht bewusst ist und daher ihre dringenden Bedürfnisse ignoriert, hat diesen Menschen aufgegeben. Dann können genauso schädlich sein, wie wenn aus Position 2 heraus gehandelt wird. Position 4 ist für Helferinnen und andere Personen vielleicht die gängigste. Sie liegt vor, wenn man sich bewusst ist, was geschieht, aber entweder unsicher ist, was man tun soll, oder einem die inneren oder äußeren Ressourcen fehlen, um genau das zu tun, von dem man weiß, dass es notwendig ist. Diese Position ist kräftezehrend, verringert die Einsatzbereitschaft und Entschlossenheit. Wenn man von etwas überfordert ist, glaubt man manchmal fälschlicherweise, sich dadurch Erleichterung verschaffen zu können, dass man sich der Bewusstheit der überfordernden Erfahrungen entzieht, indem man sich jedweder Ablenkung bedient und z. B. Alkohol trinkt, elektronische Geräte benutzt oder sich in den Schlaf flüchtet. Doch echte Erleichterung für den Bezeugenden selbst und Unterstützung des Anderen sind nur dann möglich, wenn man die bewusste und handlungsfähige Position einnimmt, d. h., sich unmittelbar von der vierten zur ersten Position begibt. Sich der eigenen Position bewusst zu werden kann Veränderung ermöglichen. Die Freiwilligen in W2W arbeiten ferner mit Anschauungsmaterial zur Stressreduktion, Resilienz, sog. moralischer Verletzung, Copingstrategien für Traumareaktionen und für den Aufbau von Resilienz in Bezug auf die belastenden Erfahrungen Anderer2 (Hernandez, Gangsei u. Engstrom, 2007). Sie können dadurch den Projektpartnern helfen, Ressourcen zurückzugewinnen, zu erhalten und zu entwickeln, damit sie die bewusste und handlungsfähige bezeugende Position einnehmen können. W2W arbeitet mit einer klaren Struktur. Es hat eine psychoedukative Komponente, die allen Partnerinnen über ein archiviertes Webinar zur Verfügung steht. Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen bieten drei bis vier Telefonsitzungen an, die mehreren Zwecken dienen: tiefgreifendes Zuhören des Narrativs, das die Person von ihrer Arbeit und den damit verbundenen Herausforderungen entwickelt hat, eine Bestandsaufnahme der in der Vergangenheit und in der Gegenwart verfügbaren inneren und äußeren Ressourcen; Hilfe zur Beseitigung von Hindernissen, die Zugang zu diesen Ressourcen blockieren , und schließlich die Entwicklung eines persönlichen Werkzeugkastens zur Stressbewältigung. Wir 2 Bspw. zur Vorbeugung vor sekundärer Traumatisierung; Anm. des Herausgebers

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meinen, dass diese Sequenz einer Person hilft, von der nicht-bewussten und handlungsunfähigen Position 4 zur bewussten und handlungsfähigen Position 1 zu gelangen. Obwohl es sich nicht um Therapiegespräche handelt, können diese Sitzungen gleichwohl eine therapeutische Wirkung haben. Als Reaktion auf den schweren Leidensdruck, über den die Projektpartnerinnen ihren ehrenamtlichen Helfern berichtet hatten, wurden von W2W bis Oktober 2019 zwei zusätzliche Servicekomponenten entwickelt, um ein traumasensibles und resilienzförderndes Arbeitsumfeld zu begünstigen: moderierte, offen zugängliche Peer-Support-Gruppen und Organisationsberatungen. Letztere richteten sich vor allem an Fachvorgesetzte, die oft gefangen waren zwischen den Bedürfnissen, die erfüllt sein müssen, um die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu gewährleisten, und den Leistungsanforderungen des Management, dem gegenüber sie rechenschaftspflichtig sind. Im Februar 2020 wurde das Migrant Clinicians Network (MCN) aufgrund einer gemeinsamen Vision und Mission zur Dachorganisation von W2W. W2W bot dem Netzwerk MCN drei Webinare an, die von fast 1.000 ihrer Mitglieder besucht wurden, insbesondere von Krankenpflegern und Allgemeinmedizinerinnen, die an vorderster Stelle in der gemeindlichen Gesundheitsversorgung von unterversorgten Gemeinschaften arbeiten.

W2W stellt sich nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie radikal um Bis Mitte März 2020 war Weingartens ursprünglicher Projektplan für W2W aufgrund des Lockdown überholt. Also fing sie an, Teamsitzungen von MCN zu besuchen, und legte damit die Grundlage für einen entscheidenden neuen Abschnitt in der Entwicklung von W2W: die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen von MCN, um Gemeinschaften, die MNC versorgt, in die Sichtweise und Expertise von W2W auf kulturell respektvolle und sprachlich angemessene Weise einzuführen. Zwar ist niemand Experte auf dem Feld der COVID-19-Pandemie an sich, aber Erfahrung im Katastropheneinsatz ermöglicht es zu antizipieren, welche Ansätze für medizinische Fachkräfte in der gegenwärtigen Situation hilfreich sein könnten (Baron, Jensen u. de Jong, 2002; Bonanno et al., 2007). Während sich die meisten Forschungen zu negativen psychischen Reaktionen auf den Katastropheneinsatz bei Erstversorgern ursprünglich auf zuvor existierende Risikofaktoren konzen­ trierten, ist inzwischen deutlich geworden, dass zwischenmenschliche, organisationale und systemische Faktoren wahrscheinlich eine genauso große Rolle

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bei den Folgen für die psychische Gesundheit spielen (Kleim u. Westphal, 2011). Syste­misch arbeitende Familientherapeuten sind seit langem Verfechter eines kontextuellen, familialen, organisationalen und gemeindebasierten Ansatzes, um nach einer Katastrophe die Resilienz der Menschen zu stärken (Landau u. Saul, 2004; Saul, 2014; Ungar, 2018; Walsh, 2007). Mit der Ausbreitung von COVID19 dachten wir, dass es in W2W wahrscheinlich nicht genug ehrenamtliche Mitarbeiterinnen geben würde, die mit unterstützungsbedürftigen Partnern persönliche Gespräche führen würden, da durch das Arbeiten von daheim sowie der Kinderversorgung und der Versorgung ihrer älteren Angehörigen neue Verantwortlichkeiten entstanden waren. Diese Realität deckte sich mit der in W2W vertretenen Auffassung, dass die soziale Unterstützung von Helfern wertvoll ist, und stand in Einklang mit dem, was W2W bereits anbot: interaktive Webinare und Peer-Support-Gruppen. Mit Unterstützung des Leitungsteams von MCN wurden diese Angebote zum Fokus der Arbeit von W2W. Das Ziel blieb gleich: die Helfer mit Ressourcen auszustatten, damit sie sich besser gerüstet fühlen können, um ihrer persönlichen, familiären und beruflichen Verantwortung nachkommen zu können; um in die Position zu gelangen, bewusste und handlungsfähig bezeugen zu können; und um sich für die Konfrontation mit den Anforderungen und Unsicherheiten des Lebens in Zeiten von Corona befähigt zu fühlen. In den ersten Tagen der Pandemie hätten wir nicht sagen können, wie schnell sich die zentralen Themen für das Leben in der Pandemie verändern würden – manchmal von einer Woche zur anderen. Dadurch, dass die Mitarbeiterinnen von MCN kontinuierlich den Kontakt zu den zu versorgenden Gemeinschaften hielten und es tagtäglich einen Informationsaustausch aller Beteiligten gab, konnte W2W flexibel auf die sich verändernden Bedingungen und Probleme reagieren. Die vorliegende Darstellung der Arbeit von W2W ist chronologisch angelegt und beleuchtet die Kontexte und Probleme, auf die wir von einem Monat auf den anderen reagiert haben.

W2W im Kontext von COVID-19 März 2020: Bewältigung des Lockdown Als Reaktion auf das, was Weingarten in Mitarbeitertreffen von MCN und aus anderen Quellen daüber erfuhr, wie die Mitarbeiterinnen mit den LockdownVerordnungen zurechtkamen, entwarf sie im März ein Merkblatt, das sie über mehrere Mailinglisten sowie an alle aktuellen und früheren W2W-Partner verschickte. Inhaltlich beruht das Merkblatt auf mehreren aus der systemischen

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Familientherapie abgeleiteten Grundkonzepten, ist aber in seinem Wortlaut in der Sprache von W2W gehalten. Die Grundsätze des Merkblattes lauten: (1) Wir sind Geschöpfe mit einem Körper, und Effektivität setzt einen ruhigen Körper voraus. (2) Ob Ihr allein seid oder nicht, Ihr könnt eine Beziehungswelt erschaffen, indem Ihr Zweiergruppen bildet und die andere Person täglich kontaktiert und indem Ihr Menschen, die Euch wichtig sind, Routinehandlungen wie beispielsweise Händewaschen widmet. (3) Fahrt Eure Erwartungen an Euch selbst und an andere Menschen herunter. In Krisenzeiten verändern sich die Menschen nicht. (Die Merkblätter können unter https://www.migrantclinician. org/witness-to-witness aufgerufen werden). An der ersten Peer-Unterstützungsgruppe im Kontext von COVID-19 nahmen Anwälte und medizinische Fachkräfte teil. Die meisten Teilnehmenden waren erst seit etwa einer Woche im Lockdown, aber die Dynamik in den Familien rückte bereits in den Fokus. Präsentiert wurden mehrere Grundkonzepte, die durchgängig die Rolle zwischenmenschlicher Faktoren betonten. Beispielsweise beschrieb Weingarten nach einer Diskussion über das Wechselspiel von Stressempfindungen im Körper und den begleitenden oder sich anschließenden psychischen Erfahrungen das wahrscheinliche Szenario, dass Menschen in Krisenzeiten sehr unterschiedliche biopsychologische Reaktionsweisen zeigen können. Aus ihrem eigenen größeren Familienkreis beschrieb sie anschaulich das Beispiel eines Kindes, das ein völlig anderes Bewältigungsmuster zeigte als die übrigen Familienmitglieder. Durch solche Unterschiede können Missverständnisse, Konflikte und Schwierigkeiten entstehen, den Bedürfnissen des anderen gerecht zu werden, und Ressourcen für die Interaktion mit der Gemeinschaft schwinden. Ein weiteres Grundkonzept bezog sich darauf, dass man die eigene Belastbarkeitszone erkennt und wie man mit Zeiten umgeht, in denen man sich oberhalb oder unterhalb der optimalen Belastbarkeitszone befindet. Es wurde davon ausgegangen, dass individuelle Bedürfnisse in zwischenmenschliche Kontexte gestellt werden können. In Bezug auf das eigene Wohlergehen wurde vorgeschlagen: »Stellt Euch die Frage: ›Was würde ich meinem besten Freund raten, jetzt zu tun?‹ Und genau das tut Ihr selbst.« Anfang April 2020: Moralische Verletzung Auf Mitarbeitersitzung von MCN wurde über die Dilemmata gesprochen, die mit der Entwicklung von Kriterien für die Triage bei COVID-19-Patienten verbunden sind. Es bestand dringender Bedarf an der Erarbeitung von Praktiken, mit deren Hilfe die Belastung des Gesundheitspersonals gemildert werden könnte, wenn sie Entscheidungen daüber zu treffen haben, welchen COVID-19-­

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Patienten medizinische Resources zukommen sollen. In einer medizinischen Fachzeitschrift (Emanuel et al., 2020) geben die Autoren sechs Empfehlungen zur Unterstützung von Ärztinnen und Ärzten, die aufgrund der Verknappung von Ressourcen (wie z. B. der Mangel an Beatmungsgeräten) eine Triage vornehmen müssen, aber sie erwähnen nur an einer Stelle die psychischen Auswirkungen auf die Mediziner, die solche Entscheidungen treffen. Weingartens Sorge um Triage-Teams bezog sich auf deren sogenannte moralische Verletzung, ein Konzept das ursprünglich entwickelt wurde, um einen Aspekt der Kriegserfahrungen zurückgekehrter Soldaten verstehen zu können. In jüngerer Zeit zirkuliert das Konzept der moralischen Verletzung mit Blick auf Fachkräfte im Gesundheitswesen und definiert neu, was man gemeinhin unter »Burnout« versteht (Talbot u. Dean, 2018). Der Begriff Burnout fokussiert tendenziell auf die Reaktion des Individuums auf seine äusseren Bedingungen, während der Begriff moralische Verletzung das Augenmerk auf die Bedingungen selbst richtet, unter denen der Einzelne handelt. Moralische Not wird definiert als die psychische Belastung welche entsteht, wenn man sich in einer Situation befindet, in der man nur begrenzt so handeln kann, wie man es für richtig hält (Jameton, 1984). Diese Definition postuliert nicht, dass man auf eine Weise handelt oder handeln muss, die man für falsch hält. Dagegen impliziert moralische Verletzung, dass man sich genötigt fühlt, den eigenen Moralvorstellungen zuwinderzuhandeln. Das Konstrukt der moralischen Verletzung gibt es in zwei Versionen. Shay (2012) identifiziert drei Komponenten: (1) eine hochriskante Situation, in der (2) ein Verrat and dem begangen wird, was moralisch richtig ist, durch (3) eine Person in einer Machtposition. In der Version von Litz et al. (2009) entsteht die Verletzung dessen, was richtig ist, allein durch das eigene Selbst; der Verrat geschieht nicht durch jemanden in Machtstellung. Beide Versionen existieren natürlich im Krieg auf und neben dem Schlachtfeld wie auch in anderen Kontexten, wie wir in Zeiten der COVID-19-Pandemie schnell erkennen müssen. Shays Version von moralischer Verletzung bildet sich in der Politisierung von Regierungsempfehlungen in Bezug auf Gesichtsmasken ab. Richtlinien wurden von Behörden nicht aus Sorge um das Überleben ihrer Belegschaft gelockert, sondern weil sie mit potenziellen Klagen von Mitarbeitern, ihren Familien und Gewerkschaften rechneten, sollten Krankenhäuser und Gesundheitszentren nicht dazu in der Lage sein, angemessene persönliche Schutzausrüstung bereitzustellen (Gollan u. Shogren 2020). Medizinische Fachkräfte verfassten zahlreiche Artikel und Blogs, in denen sie ihre Behandlung durch Verwaltungen beklagten, die eher um den finanziellen Profit besorgt waren als um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (Dunleavey 2020; O’Halloran 2020).

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Mitarbeiter des Gesundheitswesens in den Triage-Teams der Krankenhäuser waren auch dem Risiko einer moralischen Verletzung ausgesetzt, wenn sie Maßnahmen ergriffen, die ihre Auffassung davon, was richtig ist, verletzten: nämlich dafür zu sorgen, dass jeder Patient Zugang zu allen möglichen lebensrettenden Mitteln hatte. Hier bildet sich die von Litz et al. (2009) beschriebene Sicht von moralischer Verletzung ab. Weingarten war besorgt wegen der damit potenziell verbundenen psychischen und spirituellen Kosten und entwarf zwei Merkblätter: eins für den Umgang mit moralischer Verletzung und eins für eine Nachbesprechung im Team, um Hilfestellung bei Arbeitsplatzstress und moralischer Verletzung zu geben. Ausdrücklich unterschieden wird dabei zwischen Umständen, die Schaden verursachen können, und vorsätzlicher Schädigung. Es wird angeregt, dass eine Nachbesprechung am Ende einer Schicht hilfreich ist und eine gemeinsame physiologische Einstimmung aufeinander durch synchrones Atmen beinhalten könnte; Kommentare zur Wertschätzung und Anerkennung von Teammitgliedern seien ebenso hilfreich wie das Bemühen, sich als Ausdruck der Solidarität mit dem Team um das eigene Wohlbefinden zu kümmern. Weingarten hat Praktiken der Anerkennung beschreiben, wie das explizit zu machen, das man an einer Person bemerkt, was ihr selbst nicht bewusst ist. Wenn diese Anerkennung erfolgt, fühlt sich die anerkannte Person wertgeschätzt. Dadurch werden Gefühle des Wohlbefindens in Umlauf gebracht und positive Kreisläufe der Fürsorglichkeit initiiert (Weingarten u. Worthen 2009). Mitte und Ende April 2020: Zusammenarbeit mit spanischsprechende Ärzten und Ärztinnen Im April präsentierte W2W drei Versionen eines Webinars zum »Umgang mit Stress in unsicheren Zeiten«. In einer englischsprachigen Version für Fachkräfte im Gesundheitswesen wurden die kollektiven Aktionen hervorgehoben, mit deren Hilfe sich die Beschäftigten während der Pandemie gegenseitig unterstützen können. Es gab es auch einen Abschnitt über »Quellen der Angst bei medizinischen Fachkräften« (Shanafelt, Ripp u. Trockel, 2020). In Zusammenarbeit mit spanisch-sprechenden Klinikerinnen wurden zwei weitere Webinare auf spanisch abgehalten. Sie sollten sich als richtungsweisend für die Entwicklung von Möglichkeiten erweisen, wie Fachkräfte in der Gemeindemedizin und andere unentbehrliche Mitarbeiter auf neu entstehende Probleme reagieren könnten. Das unserem mexikanischen und puertoricanischen Publikum präsentierte Material war kulturell respektvoll und sprachlich angemessen. Die Veranstalter motivierten zur Teilnahme am Chat. Dieser kam auch zustande und spielte bei der Entwicklung von Inhalten für spätere

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Webinare eine wichtige Rolle und diente darüberhinaus der gegenseitigen Unterstützung von Kollegen während des Webinars selbst. Das erste W2W-Webinar in spanischer Sprache wurde der Ventanillas de Salud (VDS, Gesundheitsfenster) präsentiert, einer Organisation, die darum bemüht ist, einkommensschwachen eingewanderten mexikanischen Gemeinschaften in den USA den Zugang zu Gesundheitsversorgung und Gesundheitswissen zu erleichtern, Reihenuntersuchungen anzubieten und Möglichkeiten einer gesunden Lebensführung zu fördern. Menschen mexikanischer Herkunft machen die größte Einwanderergruppe in den USA aus und sind auch die größte Gruppe von Menschen ohne Krankenversicherung. Zu dieser Ungleichheit tragen viele Faktoren bei, u. a. Rassismus, Stigmatisierung, geringe englische Sprachkenntnisse und eine einwandererfeindliche Politik. Um diese Gemeinschaft besser zu versorgen, hat die mexikanische Regierung Partnerschaften mit Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen aufgebaut, zu denen auch MCN zählt. Das zweite spanische Webinar hatte den Titel: »Stressmanagement in unsicheren Zeiten: ›Realistische Hoffnung‹ für Gesundheitsanbieter und unentbehrliche Fachkräfte in Puerto Rico bei Notlagen im Gesundheitswesen.« Der Inhalt beider Webinare umfasste Materialien zu der Frage, wie weit Reaktionen von Einzelnen auf die Pandemie auseinandergehen und sich entsprechend auf Familienmitglieder und Mitbewohner auswirken. Sie enthielten eine Einführung in das Modell des Aktiven Bezeugens, wobei das Augenmerk auf den Risiken lag, wenn sich jemand in die Position begibt, in der man sich dem Bewusstsein des Bezeugten entzieht und sich z. B. mit Drogen oder Alkohol betäubt oder etwa obsessiv digitale Geräte benutzt. Weitere Themen waren, wie man Entmutigung von Depression unterscheidet (Griffith u. Gaby 2005), das eigene Resilienzmußter erkennt, und wie man Ressourcen nutzt, um länger in seiner Belastbarkeitszone bleiben zu können. Basierend auf der Arbeit von Bessel van der Kolk (2020) im Hinblick auf COVID-19 gab es auch einen Abschnitt über Möglichkeiten, posttraumatischen Belastungsstörungen vorzubeugen. Das Webinar schloss mit Materialien zu der Frage ab, wie realistische Hoffnung aufrecht erhalten werden kann (Weingarten 2010a). Die Situation veränderte sich so rasch, dass es eine Woche später unabdingbar erschien, sich auf das Thema Trauern zu konzentrieren, und zwar sowohl mit einem Merkblatt als auch mit einem diesem Thema gewidmeten Webinar in Englisch und in Spanisch.

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Mai: Verlust, Trauer und die Demographie von Hautfarbe und sozialer Klasse Der Tod durch COVID-19 ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass eine intersektionale Perspektive notwendig ist, um die vielfachen sich überschneidenden Formen systemischer Unterdrückung wahrnehmen zu können (Crenshaw, 1989), damit die unterschiedlichen und verheerenden Auswirkungen der Krankheit auf Menschen mit dunkler Hautfarbe verstehbar werden. Anfang Juni 2020 ist bei dramatisch steigenden Zahlen der COVID-19-Toten die endgültige Historie der Bevölkerungsstatistik über Infektionszahlen und Todesfälle noch nicht vollständig bekannt. Nur etwa 75 % der US-amerikanischen Rechtsbehörden haben Daten über die ethnische Zugehörigkeit der Betroffenen veröffentlicht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch erweist es sich in den Gemeinden, in denen Aufzeichnungen nach ethnischer Zugehörigkeit geführt werden, dass die Sterblichkeit unter Menschen mit dunkler Hautfarbe – Afroamerikanern, Lateinamerikaner, indigene Amerikaner und Ureinwohner der pazifischen Inseln – höher ist als in der Grundgesamtheit (Lin, 2020). Wenn die Ethnie verschleiert wird, wird auch Rassismus verschleiert. Ibram X. Kendi (2020) schreibt: »[…] ohne Daten über die ethnische Zugehörigkeit können wir nicht feststellen, ob es bei den Testungen auf das Coronavirus, den Infektionszahlen und Todesfällen Unterschiede zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft gibt. Wenn wir keine Unterschiede zwischen den Ethnien sehen können, können wir die hinter den Unterschieden und Todeszahlen liegende rassistische Politik nicht sehen. Wenn wir keine rassistische Politik sehen können, können wir die rassistische Politik nicht aus der Welt schaffen bzw. durch eine antirassistische Politik ersetzen, die Gleichheit und Leben schützt […] Rassismus wird einer asymptomatischen Krankheitsübertragung ähnlich – das Virus verbreitet sich, und niemand weiß es.« Systemischer Rassismus und Vermächtnisse struktureller Gewalt sind hilfreiche Begrifflichkeiten, mit denen sich unverhältnismäßig hohe Todeszahlen erklären lassen. Diese Begriffe verweisen auch auf kumulative und chronische Stressoren, die zu der gelebten Erfahrung von Menschen gehören, die solchen Unterdrückungsformen ausgesetzt sind. Es ist bekannt, dass chronische Stressoren mit krankheitsbezogenen Biomarkern, frühem Krankheitsbeginn und Mortalität korrelieren (Epel et al., 2018). Die schädigenden Verhältnisse, unter denen Menschen mit dunkler Hautfarbe leben, z. B. Verschmutzung der Innenraumluft und der Außenluft, verursachen übermäßigen Stress. VDS (siehe oben) versorgt eine weitgehend statistisch nicht erfasste einkommensschwache lateinamerikanische Population. Diese Menschen sind als

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unentbehrliche Arbeitskräfte im direkten Einsatz überrepräsentiert, z. B. als Angestellte in Lebensmittelgeschäften, Krankenschwestern, Reinigungskräfte, Lagerarbeiter und Busfahrer. Sie erfahren stets zu wenig Wertschätzung, werden nicht ausreichend geschützt und sind unterbezahlt. Im April wusste man schon, dass diese Bevölkerungsgruppe – lateinamerikanisch, arm und beim Arbeitseinsatz im direkten Personenkontakt (64,4 % davon Frauen) – ein übermäßig hohes Risiko einer COVID-19-Infektion hatte und eine überhöhte Mortalitätsrate aufwies (Rho, Brown u. Fremstadt, 2020). Außerdem hatten wir aus dem Chat des ersten Webinars erfahren, dass die Menschen, die VDS-versorgt, nicht nur Verluste erlitten und eine hohe Sterblichkeitsrate auwiesen, sondern auch unter der Überzeugung bzw. Tatsache litten, dass ihre Angehörigen eine schlechtere Versorgung erhielten als Menschen mit weißer Hautfarbe. Um das Merkblatt über das Thema Trauern zu einem Webinar für VDS umzuarbeiten, brachten wir eine Gruppe aus fünf zweisprachigen Therapeutinnen aus Mexiko, Argentinien und Puerto Rico zusammen, die sich darüber einigten, wie man die Ideen kulturell respektvoll in ein von allen Beteiligten verstehbares Spanisch bringen konnte. Eine intersektionale Perspektive systemischer Unterdrückung war dabei grundlegend. In das Webinar nahmen wir auch Gedanken aus dem Buch »Grief Therapy with Latinos: Integrating Culture for Clinicians« von Vazquez und Rosa (2011) auf. Zu den im Webinar bearbeiteten Themenfeldern zählten: Ȥ Es gibt nicht den einzigen richtigen Weg zu trauern. Ȥ Es gibt viele Möglichkeiten, auf sinnhafte Weise mit der verstorbenen Person verbunden zu bleiben, z. B. dadurch, dass man ihr Lieblingsessen zubereitet oder ihre Lieblingsmusik hört. Ȥ Unter den Bedingungen der Pandemie können traditionelle Vorstellungen von Sterben, Tod und Trauern wahrscheinlich nicht eingelöst werden. Ȥ Wichtig ist, kulturell sinnstiftende Handlungsformen zu finden, mit denen Verstorbenen Respekt erwiesen werden kann. Ȥ Die Situation des Einwanderers kann sich durchaus negativ auf seine Fähigkeit auswirken, den geliebten Menschen im Prozess von Krankheit und Tod zu begleiten. In der letzten Bildpräsentation des Webinars ging es darum, wie die Kinder der Betroffenen das Sterben naher Bezugspersonen bewältigen können: »Man muss sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass auch ein unglückliches, trauriges, belastetes Kind in ein gutes Leben voller Liebe und sinngebender Beziehungen hineinwachsen kann.«

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Im Mai 2020 hatte sich unser Verständnis von Problemen im Leben und Sterben in Zeiten der Pandemie weiterentwickelt, und die entstandenen Einsichten spiegelten sich in unserem englischsprachigen Webinar zum Thema Trauern. Wir konnten die Chronologie der Katastrophe besser begreifen: Die Phase des »Heroischen« wurde von der Phase der »Desillusionierung« (DeWolfe, 2000) abgelöst. Erkenntnisse, die im spanischsprachigen Webinar gewonnen wurden, flossen in das englischsprachige Webinar ein. Die vorgetragene Denkfigur war die, dass »der Tod uns an das unglaubliche Privileg erinnert, welches das Leben ist«. Individuelle und familiale Reaktionen auf die vielfachen Krisen dieser Zeit – Krisen aufgrund des Rückgangs der Ernährungs- und Wohnsicherheit; Verlust von Arbeitsplätzen; Kontaktverlust zu Nachbarn; Tod von Angehörigen und Freunden; gesundheitliche Probleme und abnehmender Glaube an die Führungsqualität der Regierung, die Menschen zu beschützen – wurden in einen Rahmen der Pandemiephasen eingeordnet. Juni 2020: Peergruppen zur gegenseitigen Unterstützung in spanischer Sprache für das VDS Anfang April starteten wir zwecks Arbeitsintensivierung ein Pilotprojekt mit den Mitarbeitern des VDS-Personal, um sie dabei zu unterstützten, ihren schwierigen Aufgaben in der Begegnung mit Familien nachzukommen, die unter der Unsicherheit der Ernährungs- und Wohnsituation, unter Arbeitsplatzverlust, Krankheit, Tod und den Erschwernissen bei ihren Trauertraditionen und -ritualen litten. Ziel des Projekts war es, den Teilnehmenden Werkzeuge an die Hand zu geben, damit sie zum einen ihre eigene Belastung und Trauer bewältigen und zum anderen diese Werkzeuge in ihrer Arbeit mit hilfebedürftigen Familien einsetzen konnten. Wir führten zweisprachige Therapeutinnen mit VDSErfahrung im Multiplikatorenverfahren in das W2W-Modell ein. Während dieses Pilotprojekt entworfen und umgesetzt wurde, wurden jene seiner Elemente deutlich, welche die W2W-Reaktion auf die COVID-19-Pandemie wirkungsvoll machten. Die VDS-Leitung nahm an den beiden Webinaren teil und beobachtete via Chat, welcher Not die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ausgesetzt waren. Das Leitungsteam bat MCN/W2W, intensivere psychosoziale Interventionen zu leisten. Mit Unterstützung auf Leitungsebene beeinflussten sich verschiedene Gruppienrungen im Laufe des Projekts gegenseiting – das VDS-Leitungsteam, das Projektplanungsteam, das für Lehrplanentwicklung zuständige Team, die spanischsprechenden Moderatoren, die teilnehmenden VDS-Fachkräfte und deren Klientinnen sowie die Projekt­

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evaluatorin3. Unser Modell ermöglichte eine Entmonopolisierung des Wissens (Arora et al., 2014). Die Lebenverläufe der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Vortragenden entfalten sich zusammen mit denen unserer Partner und Webinar-Teilnehmerinnen in einem gemeinsamen sozio-historischen, politischen Zeitrahmen. W2W führt zwar keine Therapien durch, aber möglicherweise bewirken Elemente aus den Narrativen unserer Partner können auf deren empathische Not hinweisen (Weingarten, 2003). Es hat historisch schon viele Situationen gegebenen, in denen Kliniker ähnliche traumatisierende Geschehnisse wie die ihrer Klienten erlebten und zu diesen Erfahrungen veröffentlicht haben, z. B. über den London Blitz 1940/41, die Angriffe auf das World Trade Center am 11. September 2001, oder Terroranschläge in Israel (Tosone, Nuttman-Shwartz u. Stephens 2012). Weingarten hat über den Umgang mit »parallelen Verlußtprozessen« geschrieben, als sie als Therapeutin ähnlich traumatische Verluste erlebt hat wie ihre Klienten (Weingarten, 2010a). In W2W arbeiten wir aus einer Position der gemeinsamen Humanität, gehen von einer Gemeinsamkeit der Erfahrung aus und erzählen aus der eigenen Lebensgeschichte, um unsere psycho-edukative Agenda voranzutreiben. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie und dem zivilen Protest der Black Lives Matter Bewegung, der sich nach der Ermordung dunkelhäutiger Menschen durch die Polizei formiert hat, ist diese Positionierung ausschlaggebend, um Verbundenheit mit anderen herzustellen und unserer eigene Resilienz zu bewahren. Dadurch, dass Wut und Trauer in das Training von Seminarleitern eingehen und sie motiviert werden, diesen Aspekt in ihre Veranstaltungen zu integrieren, sind die Sitzungen zu intensiven, sinnstiftenden und beziehungsstiftenden Erfahrungen für alle Beteiligten geworden. Teilnehmende haben bestätigt, dass sie sich in einer Gruppe noch nie so geborgen gefühlt hätten und dass sich dazu imstande fühlten, mit Leichtigkeit über die Herausforderungen zu kommunizieren, die sich ihnen stellen. Zusammen mit VDS wurden drei Sitzungen angeboten, auf die jeweils eine Nachbesprechung folgte. Vor und nach jeder Sitzung wurde eine Evaluation durchgeführt in der Hoffnung, zeigen zu können, dass das Modell spürbare Verbesserungen im allgemeinen Wohlbefinden der VDS-Teilnehmenden gebracht hat und zur Verbesserung ihrer Handlungskompetenz beitragen konnte. Wenn das Pilotprojekt erfolgreich ist, werden wir es mehr Menschen in unterschiedlichen Settings anbieten. 3 Zu den Projektmitgliedern gehören die vier Autorinnen sowie Celia Falicov, PhD., Vanessa Ibarmea, MA, Danna Carter, PhD., LMFT, Juan Jose Robles Gil, LMHC MT-BC, Carmen R. Valdez, PhD., Patricia Navarro, MA, P.P.S., LMFT, und Jessica Calderón.

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Juni 2020: Wie unterstützt man jemanden, der unter der Pandemie leidet? Das Thema dieses Webinars lautete: »Wie man einen Freund, eine Angehörige oder einen Kollegen unterstützt, welche unter der Pandemie leiden.« Wieder veränderte sich der soziohistorische politische Zeitrahmen, in dem wir leben, so schnell, dass die eine Woche zuvor vorbereiteten Bildpräsentationen nicht mehr adäquat erschienen, um dem derzeitigen Augenblick gerecht zu werden. Das Modell des Aktiven Bezeugens wurden ins Zentrum der Betrachtung gerückt, um eine Art visueller Kurzschrift für hilfreiche Arten der Unterstützung zu erzeugen Im Webinar ging es um die Frage, wie Empathie einen kontraproduktiven Verlauf nehmen kann und Gefahr läuft, zum Rückzug statt zu Mitgefühl zu führen. Hierbei wurde betont, dass Empathie unter Umständen zu Erschöpfung führt, Mitgefühl dagegen nicht. Trauer und Wut über den Tod von George Floyd und anderer dunkelhäutiger Menschen wurden thematisiert und in den Kontext von COVID-19 gestellt. In diesem Webinar wurde auch die von Arbeitslosigkeit herrührende psychische Not angesprochen. In den USA ist derzeit die Arbeitslosigkeit unter schwarzen Frauen höher als bei weißen Männern, weißen Frauen oder schwarzen Männern. Selbst wenn man die Arbeitslosigkeit unter lateinamerikanischen Frauen berücksichtigt, weisen sie im April 2020 die höchste Arbeitslosenquote auf – etwa eine von fünf Frauen ist arbeitslos. Lateinamerikanische Frauen machen einen Großteil der Population aus, die von MCN und W2W versorgt werden. Arbeitslosigkeit ist ein Risikofaktor für den Suizid, der auch als »Tod aus Verzweiflung« (Case u. Deaton, 2020a) bezeichnet worden ist. Einige Forscher meinen, dass es in einer nur langsam sich erholenden Wirtschaft bis zu 154.037 zusätzliche Todesfälle aufgrund von Drogenmissbrauch, Alkoholkonsum und Arbeitslosigkeit geben könnte (Petterson, Westfall u. Miller, 2020). Doch Case und Deaton (2020b) warnen davor, »uns mit Albträumen zehntausender weiterer Suizide oder Drogentoten selbst Angst zu machen«. Menschen mit dunkler Hautfarbe haben noch zusätzliche Belastungen zu tragen, u. a. deshalb, weil sie beim Arbeitseinsatz in direktem Personenkontakt überrepräsentiert sind, häufiger als weiße Frauen alleinerziehend sind und ­Kinder zu Hause haben, Krankheitsbilder aufweisen, die sie anfälliger für COVID-19-­­Infektionen machen, mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht krankenversichert sind und über weniger sozialpsychiatrische Ressourcen in spanischer Sprache verfügen (Gould u. Wilson 2020). Zahlreiche unterstützende Strategien wurden angeboten, u. a. wurde der Unterschied zwischen kleinen, aber bedeungsvollen Gesten einerseits und belang-

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losen Gesten andererseits verdeutlicht, die nützliche Orientierung an »realistischer Zuversicht« vermittelt und es wurden Überlegungen dazu angestellt, wie man mit einem Suizidrisiko umgeht und darauf reagiert. Auch in diesem Webinar wurde durchgängig der Chat genutzt, und die dort abgegebenen Kommentare werden die Informationsgrundlage für neue Webinare und Merkblätter liefern.

Diskussion Die COVID-19-Pandemie ist eine in einzigartiger Weise herausfordernde, multidimensionale Katastrophe. W2W konnte in Zusammenarbeit mit VDS Interventionen für über 2.700 Menschen leisten, die ihrerseits Einwandererpopulationen unterstützen und deren Lebensumstände und Not bezeugen. Gemessen an den uns zugegangenen Evaluationen sind diese Interventionen äußerst erfolgreich gewesen. Dies wurde von vielen Faktoren ermöglicht, darunter die wirksame Zusammenarbeit zwischen W2W und MCN seit Beginn der Pandemie. MCN weist eine hohe Kompetenz in Brainstorming und Zusammenarbeit auf, verfügt über anspruchsvolle Schnittstellen für die Zusammenarbeit im Netzwerk und hat W2W in diese Arbeitsbereiche und in den Treffen der Mitarbeiterinnenteams eingebunden. Unser gemeinsames Anliegen, einen nicht-hierarchischen Wissensaustausch herbeizuführen, ermöglichte eine innovative Weise in der die Chatfunktion eingesetzt werden konnte, um online Unterstützergemeinschaften zu bilden. Während des englischsprachigen Webinars zum Thema Trauern wurden über 350 originäre Kommentare abgegeben, von denen einige intern unter WebinarTeilnehmenden gemacht wurden und nicht direkt an die Vortragende gerichtet waren. Durch eine geschickte Moderation des Chats konnten Gefühle, Anmerkungen und Fragen direkt dem Fluss des Webinars zugeführt werden. Der Inhalt aller Webinare war jeweils inspiriert von dem, was wir in dem vorangegangenen Chat gelernt hatten, sodass ihre Relevanz sichergestellt war. Durch die Arbeit mit VDS kam eine vielfältige Gruppe von Therapeutinnen zustande, die sowohl voneinander lernen als auch einen Beitrag zum W2W-Ansatz leisten wollten. Die kontinuierliche gemeinsame Entwicklung von Möglichkeiten, voneinander zu lernen, ist im Prozess der Zusammenarbeit fruchtbar gewesen. Während angloamerikanische Sichtweisen in Programmen für spanischsprechende Personen in den USA oftmals dominant sind, ist der Prozess in MCN/W2W auf robuste Weise zweiseitig ausgerichtet. Das hat auf allen Ebenen zu einem positiven Engagement und einer aktiven Teilnahme beigetragen.

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Schlussfolgerung Es ist schon viel über die wahrscheinlich negativen psychischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie geschrieben worden. Galea, Merchant und Lurie (2020) ziehen Schlüsse aus früheren Katastrophen und sehen ein Reihe von psychischen Störungen als wahrscheinliche Folgen der physischen Abstandswahrung, die aufgrund von COVID-19 geboten ist, wie etwa Angst, Depression, posttraumatische Belastungsstörung, häusliche Gewalt, Kindesmissbrauch, Drogen- und Alkohlmissbrauch. Die Erhebungen anderer Forscher haben bereits jetzt schon negative psychische Auswirkungen aufgewiesen (Xing et al. 2020). Im Einklang mit dem langfristigen Engagement von MCN zur Herbeiführung einer sozial gerechten Gesundheitsversorgung arbeitet das Witness to Witness Programm daran, den akuten Schmerz und gegenwärtiges Leiden zu lindern. MCN und W2W haben eine gemeinsame deutliche Vision und eine geteilte Wertvorstellung in Bezug auf unsere gemeinsame Arbeit. Dies ermöglicht es uns, neu entstehende Gestaltungselemente zu erkennen und vorteilhaft zu nutzen, um unsere Agenda voranzutreiben, Fachkräften im Gesundheitswesen und Gemeinwesenarbeitern, die vulnerable Bevölkerungsgruppen versorgen, sinnvolle Unterstützung zukommen zu lassen. Von Anbeginn der Pandemie, arbeiteten Mitarbeiter von MCN mit W2W zusammen, um unter den Einschränkungen der notwendigen sozialen Abstandswahrung innovative Möglichkeiten der Unterstützung von Fachkräften im Gesundheitswesen und Gemeindearbeitenden zu schaffen. Durch die Arbeit mit spanischsprechenden und bi-kulturellen Therapeutinnen konnte W2W kulturell reichhaltige Materialien erstellen, die sowohl für ein spanisch- als auch englischsprechendes Publikum relevant waren. Bis 15. Juni, also in den zurückliegenden 15 Wochen, hat W2W durch Webinare, Präsentationen und Peergruppen über 2.700 Menschen erreicht. An der Schnittstelle zwischen COVID-19-Pandemie und ethnischer Zugehörigkeit erweisen sich erhebliche Risiken für die physische und psychische Gesundheit betroffener Bevölkerungsgruppen. Einige dieser Risiken wurden in diesem Beitrag exploriert. Doch es gibt noch ein weiteres Risiko, das wir zum Abschluss dieses Beitrags erwähnen möchten. Shay (2012, S. 57) schreibt: »[…] drei Dinge schützen die Psyche und den Geist von Personen, die in tödliche Gefahr geschickt werden: (1) die positiven Eigenschaften der Face-toFace-Gruppe, welche Gruppenkohäsion erzeugen, (2) eine fachlich kompetente, sich ethisch verhaltende und ihrerseits gut unterstütze Führung; und (3) ein umfassendes und realistisches Training von ausreichender Dauer, das sie darauf

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vorbereitet, was sie konkret zu tun haben werden und was ihnen begegnen wird. (Herv. i. O.)« Die tödliche Gefahr, von der Shay hier spricht, geht vom Schlachtfeld aus, aber diese Bedingungen gelten auch für viele der unentbehrlichen Fachkräfte im Kontext der COVID-19-Pandemie. Wir wollen Shays Worte über die »positiven Eigenschaften der Gemeinschaft (Herv. i. O.)« hervorheben, denn es ist uns schmerzlich bewusst sind, dass negative Eigenschaften einer Gemeinschaft schädlich sind. Dies zeigt sich dann, wenn Widerspruch zu jenem Schweigen in einer Organisation geleistet wird, das ursprünglich der falschen Solidarität in einer Gemeinschaft dienen sollte, wie dies bspw. unter Polizeibeamten im Mordfall von George Floyd geschah. Offenheit gegenüber abweichenden Auffassungen ist entscheidend, um die Sicherheit von Menschen zu gewährleisten. Ein positives Beispiel dafür ist ein offener Brief von tausenden von Fachleuten im öffentlichen Gesundheitswesen, Experten für Infektionskrankheiten und Interessenvertretern verschiedener Gemeinschaften, der »für eine antirassistische Reaktion des öffentlichen Gesundheitswesens auf Demonstrationen gegen systemische Ungerechtigkeit während der COVID-19-Pandemie« plädiert (Simon, 2020). Der Brief erkennt an, dass weiße Vorherrschaft ein tödliches Problem für die öffentliche Gesundheit ist, das zur Vulnerabilität schwarzer Menschen ebenso beiträgt wie brutale, durch Polizei ausgeübte Gewalt, und unterstützt den Protest als wirksames Mittel des Widerstands gegen Ungerechtigkeiten. Wir haben alle eine soziale Verortung, von der aus wir zu einer gerechteren und sichereren Welt beitragen können. Die Verortung von W2W ruft dazu auf, virtuelle Unterstützergemeinschaften zu bilden, die eine antirassistische, ethische Versorgung fördern. So schrecklich die COVID-19-Pandemie auch ist, so führt sie uns so deutlich wie nie die überall existierenden, allgegenwärtigen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten vor Augen. Wir alle können uns mobilisieren, um uns dem zu stellen und für die vielen Veränderungen einzusetzen, die notwendig sind, um eine gesündere, sicherere Welt für Alle zu schaffen. Wir können das als ein Werk der Zuversicht und Liebe zueinander bewerkstelligen.

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Black Lives (and Stories) Matter: Ethnisch narrative Therapie in Frisierstuben und Schönheitssalons4 AFIYA MANGUM MBILISHAKA

Einleitung »Selbst bei nach außen hin erfolgreichen Schwarzen prägen Fragen ethnischer Zugehörigkeit und Rassismus weiterhin auf fundamentale Weise ihre Weltanschauung. […] die Erinnerungen an Erniedrigung und Zweifel und Angst sind nicht verschwunden; auch nicht die Wut und die Bitterkeit jener Jahre. Diese Wut wird vielleicht nicht in der Öffentlichkeit, vor weißen Mitarbeitern oder weißen Freunden ausgedrückt. Aber sie findet ihren Ausdruck im Friseurgeschäft oder im Kosmetiksalon …«  Präsident Barack Obama (2008),  44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Der menschliche Geist hat narrative Operationsweisen, und das Erzählen von Geschichten vor einer den Erzähler validierenden, bezeugenden Zuhörerschaft hat einen therapeutischen Nutzen (White u. Epston 2020). Dies ist auch der Fall, wenn über ethnische Zugehörigkeit reflektiert und Geschichten von Rassismus erzählt werden (Winston et al. 2004; Mangum 2010). Es gibt kaum psychosoziale bzw. gemeindepsychiatrische Ansätze, die therapeutisches Geschichtenerzählen ermöglichen, um mit den psychischen Auswirkungen des heutigen Rassismus zurechtzukommen, wie etwa mit Polizeigewalt und Massenverhaftungen, die Schwarze Menschen im 21. Jahrhundert immer noch erleben. Wissenschaftler und Aktivisten haben auf leidenschaftliche Weise gesundheitspolitische Interventionen verlangt, welche den gelebten Erfahrungen von Afroamerikanern gerecht werden, die in den USA mit Rassismus konfrontiert sind 4

Original: Mbilishaka, A. M. (2018). Black Lives (and stories) Matter: Race narrative therapy in Black hair care spaces. Community Psychology in Global Perspective, 4 (2), 22–33. Die Übersetzung der leicht gekürzten Fassung und der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin und Frau Professorin Terri Mannarini (Herausgeberin der Zeitschrift Community Psychology in Global Perspective).

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(Garcia u. S­ harif 2015). Damit sie sich von ihren Traumata aufgrund rassistischer Erfahrungen erholen können, brauchen Schwarze Menschen geschützte Räume, in denen sie ihren Geschichten von Rassismus eine Stimme geben und ihrer Empörung Ausdruck verleihen können (Mangum, 2010). Soziale Medien bieten Schwarzen Menschen einen Raum, in dem sie ihre bewegenden Geschichten von Rassismus erzählen und ihren Widerstand von der Basis her organisieren können. 2013 wurde die Bewegung Black Lives Matter (BLM) als Hashtag in sozialen Netzwerken konzipiert, um Geschichten von rassistisch motivierten Ungleichheiten einen sichtbaren Rahmen zu geben; inzwischen ist BLM zu einer Bewegung für soziale Gerechtigkeit herangewachsen, um verstörend auf politische Passivität und Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA einzuwirken (Rickford, 2015). Den Hashtag #BlackLivesMatter haben Patrisse Cullors, Alicia Garza und Opal Tometi erstellt, um nach dem aufsehenerregenden Mord an dem Jugendlichen Trayvon Martin durch George Zimmerman in Florida im Jahr 2012 Raum für das Erzählen von Geschichten zu schaffen, die in einem rassistischen Kontext stehen. Die dringende Notwendigkeit eines Aktivismus gegen rassistische Umtriebe in Bezug auf Schwarze wurde noch deutlicher, als Zimmerman von einem Gericht in Florida wegen Mordes zwar angeklagt, aber von einer Jury für unschuldig befunden und freigesprochen wurde. BLM intensivierte seinen selbstgestellten Auftrag, für soziale Gerechtigkeit einzustehen und stand 2014 während der Proteste gegen Polizeigewalt, die nach dem Mord an dem unbewaffneten Jugendlichen Michael Brown durch den Polizisten Darren Wilson in Ferguson im US-Bundesstaat Missouri ausbrachen, an vorderster Front. Mitglieder der BLM-Kooperative haben durch soziale Medien Methoden und Kampagnen entwickelt, die darauf gerichtet sind, rassistisch motivierte Polizeigewalt, Masseninhaftierungen, fehlerhafte Justizsysteme und ethnische Ungerechtigkeit sichtbar zu machen, indem sie in Einkaufszentren, bei Sportereignissen, Demonstrationszügen, vor Polizeirevieren und auf Autobahnen sogenannte »Die-ins« (Aktionsform des gewaltlosen Widerstands, bei der sich die Demonstranten gemeinsam wie tot auf den Boden legen – Anm. d. Übers.) abhalten (Rickford, 2015). BLM hat auf nationaler Ebene eine Kontroverse entfacht, wird mitunter eines umgekehrten Rassismus bezichtigt und von einigen als Hassgruppe identifiziert (Suen, 2015; Hoilman, 2016). Bei Medien und Regierungsorganisationen stößt die Bewegung durchgängig auf Widerstand; es ist deutlich, dass Rassismus in Amerika auf eine Weise tief gesellschaftlich verankert ist, die das Leben von Schwarzen geringschätzt (Horowitz u. Livingstone 2016). Heilen und Geschichtenerzählen sind Eckpfeiler der BLM-Bewegung. Psychosoziale Fachleute haben nur zögerlich therapeutische Methoden entwickelt,

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die dem Auftrag dieser international anerkannten, gemeindeorientierten sozialen Bewegung gerecht werden, welche das Ausmaß des Leidens afroamerikanischer Menschen beleuchtet. »In vielerlei Hinsicht ist BLM wesentlich eine Antwort auf das nach wie vor aktuelle wie auch historische Trauma, das Schwarze Menschen durch den Staat erleiden und erlitten haben. Dieses Trauma und dieser Schmerz, unaufgelöst und nicht geheilt, leben in unseren Körpern weiter, in unseren Beziehungen und in dem, was wir miteinander erschaffen. Von Anfang an haben Organisatoren und Heiler im Rahmen von BLM dieses Verständnis von historischem und generationsübergreifendem Trauma aufgegriffen und es zum Fundament unserer »heilenden Zirkel« gemacht, unseres inmitten von Aktionen existierenden kreativen und befreienden Raumes, und unserer Versuche, Konflikt und Spaltung so aufzulösen, dass sich das Zufügen von Schaden nicht wiederholt oder man sich in der Inhaftierung begegnet. Es ist kein leichter Weg, individuelles und kollektives Trauma zu heilen und zugleich eine reale Veränderung im Leben von Schwarzen Menschen zu organisieren, aber genau das ist es, von dem wir wissen, dass es getan werden muss« (Black Lives Matter, 2018). In den Verlautbarungen von BLM wird die Thematik des Traumas auf individueller und kollektiver Ebene schlaglichtartig beleuchtet. Das Ziel der Bewegung ist es, die Kreisläufe traumatischer Erfahrungen zu beenden. Mit diesem Anliegen ist heilende Gerechtigkeit ihr erklärtes Herangehen an traumatisierende Systeme. Auf der offiziellen BLM-Webseite ist weiterhin zu lesen: »Wir sehen heilende Gerechtigkeit als notwendig an in einer Gesellschaft, in der Schwarzsein kriminalisiert wird und das Trauma für afroamerikanische Menschen strukturell aufrechterhalten wird, in der aber kein Raum, keine Zeit oder keine Ressource für Heilung geschaffen wird. In diesem Zusammenhang werden die Fragen, wie wir mit uns selbst umgehen, wie wir mit anderen Menschen umgehen und wie wir Konflikte bewältigen, zu höchst politischen Erkundungen im Rahmen des Befreiungsprozesses. Das Konzept der heilenden Gerechtigkeit inspiriert auch unsere Organisationsarbeit und veranlasst uns, Institutionen wie den medizinisch-industriellen Komplex zur Verantwortung zu ziehen, mitsamt seinen psychosozialen und psychiatrischen Einrichtungen, die zwar Heilung und Versorgung versprechen, unseren Leuten aber Schaden zufügen, sie traumatisieren und pathologisieren. Heilende Gerechtigkeit erfordert, dass wir über die uns vorgegebenen

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Vorstellungen von Geist und unseren Vorfahren hinaushören, und fordert uns auf, selbstbestimmte, wirksame Rituale und Prozesse für die von uns benötigte Art der Heilung zurückgewinnen und zu gestalten. Unter dieser Maßgabe schafft heilende Gerechtigkeit bei unserer Arbeit, Freiheit zu erlangen, Raum für die Rolle des Heilers, für die Praxis der Gemeindefürsorge« (Black Lives Matter, 2018). Hier beklagt BLM die fehlende Qualität der Versorgung von Schwarzen Amerikanern bei rassistischen Traumerfahrungen durch psychosoziale und psychiatrische Fachkräfte. Oft besteht eine ethnische und kulturelle Diskrepanz zwischen verwestlichten Formen der Heilung, zu deren Zweck man eine Stunde lang mit einer fremden Person in einem unvertrauten Raum zusammensitzt, und afroamerikanischen sozialen Systemen, die auf zwischenmenschlichen Beziehungen und einer relativen Zeitdauer des Heilungsprozesses basieren (Parham, 2002). Von BLM werden vertrauenswürdige Heiler in der Gemeinde ausgewählt, um Rituale durchzuführen und neue Möglichkeiten zu schaffen, wie wir den Umgang mit uns selbst und miteinander verbessern können. Inzwischen sind im Gleichklang mit den Zielen der BLM-Bewegung in diversen Räumen afroamerikanischer Gemeinden Möglichkeiten informeller psychologischer Betreuung entstanden. Friseursalons für Schwarze Menschen sind zu Orten gemeindenaher Interventionen geworden, die bei der Verarbeitung ethnischer Ungerechtigkeiten helfen. Insbesondere PsychoHairapy ist solch ein heilender Kontext, in dem der Diskurs über psychische Gesundheit dadurch neu gestaltet wird, dass Haarpflegestudios als Interventionsorte genutzt und dabei Haarpflegefachkräfte mit psychosozialen Aufgaben eingesetzt werden (Mangum u. Woods, 2011; Mbilishaka, 2018). Dieser Beitrag schlägt somit eine Behandlungsmodalität vor, die sich zum einen an der BLM-Agenda der heilenden Gerechtigkeit orientiert und zum anderen einen räumlichen Ort und zugleich spezifischen Kontext dafür bietet, sich mit Systemen weißer Vorherrschaft auseinanderzusetzen. Dies geschieht dadurch, dass die emotionalen Wunden des Schwarzseins in Amerika externalisiert werden. Um den Dialog in der afroamerikanischen Bevölkerung auf alle Altersgruppen auszuweiten und den Wert Schwarzer Leben zu würdigen, zielt dieser Beitrag darauf ab: (1) den organisch gewachsenen politischen Aktivismus Schwarzer Friseurläden hervorzuheben, (2) das PsychoHairapy-Modell als ethnisch relevante therapeutische Intervention zu erklären und (3) Strategien der narrativen Therapie für Gruppenprozesse in Haarpflegestudios und Kosmetiksalons für Schwarze zusammenzufassen.

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Friseursalons für Afroamerikaner als Settings für politischen Aktivismus Friseursalons für die Pflege afroamerikanischer Haare sind schon immer ein Knotenpunkt für politischen Aktivismus gewesen: von Beginn der Sklaverei an bis zur heutigen Zeit mit ihren Fällen von rassistisch motiviertem Terrorismus (Gill, 2010). Das Milieu des Haarpflegestudios bietet Schwarzen Menschen einen Rückzugsort vor Rassismus und einen Platz, an dem sie Strategien gegen Unterdrückung entwerfen können (Gill, 2010). Diese physischen Räume haben Widerstandsbewegungen und fortgesetzte politische Souveränität entstehen lassen. Während der amerikanischen Versklavung von Menschen aus Afrika spezialisierten sich Schwarze Männer auf die Kunst der Haarpflege und gelangten dadurch zu Wohlstand, dass sie mit ihren Friseurdiensten der weißen Kundschaft dienten; viele von ihnen konnten sich mit ihrem Friseurgewerbe ihre eigene Freiheit und die ihrer Familie erkaufen (Byrd u. Tharps, 2014; Gill, 2010). Während der Reconstruction Era (die nach dem amerikanischen Bürgerkrieg 1861–65 einsetzende und bis 1877 dauernde Phase, in der die 1861 aus der Union ausgetretenen Südstaaten wieder eingegliedert wurden – Anm. d. Übers.) etablierten sich bald auch Frauen im Dienstleistungsgewerbe und bauten Firmen in der Schönheitsindustrie auf, die in den frühen 1900er Jahren die ersten Schwarzen Millionäre hervorbrachten (Byrd u. Tharps 2014). Die Schwarze Haarpflegeindustrie hat sich als wirtschaftlich stabil erwiesen und ethnisch motivierte Programme zur Organisation Schwarzer Gemeinden finanziert, zum Beispiel historische Bewegungen wie die Schwarzen-Gewerkschaft der Pullman Porters (von George Pullman, dem Entwickler des komfortablen Schlafwagens, angeheuerte ehemalige Sklaven, die bei den Eisenbahnen z. B. als Gepäckträger arbeiteten – Anm. d. Übers.), die Universal Negro Improvement Association (panafrikanistische Organisation, die u. a. eine Emigration aller Schwarzen nach Afrika befürwortete – Anm. d. Übers.) und die National Association for the Advancement of Colored People (Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen, eine Schwarze Bürgerrechtsorganisationen – Anm. d. Übers.) (Gill, 2010). Auch Dr. Martin Luther King Jr. stand in engem Kontakt mit dem Friseurgewerbe für Schwarze Menschen, um seine Boykotts und Märsche zu organisieren (Gill, 2010). Heute sind Friseurgeschäfte für Afroamerikaner immer noch wichtige Treffpunkte der Schwarzen Gemeinde (Gill, 2010; Willett, 2000). Erstens haben Frisierstuben für Schwarze tendenziell ein gefälligeres Design für Gruppengespräche als die Haarstudios für Weiße (Solomon et al., 2004): Der Grundriss ist meistens offen und die Zahl der Trennwände geringer. Zweitens kann man

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in diesen Haarpflegesalons Mahlzeiten erwerben. Kundinnen verweilen einfach deshalb länger als andere ethnische Gruppen in Haarpflegesalons, weil die Kreation ihrer Frisuren mehr Zeit in Anspruch nimmt – oft bis zu vier Stunden (Solomon et al., 2004). Essensverkäufer reisen zu Friseursalons für Schwarze, um dort kleine oder größere Mahlzeiten an die Kundschaft zu verkaufen (Solomon et al., 2004). Durch das Teilen der Speisen und das gemeinsame Essen werden afrikanische Traditionen der Verbundenheit und der Gemeinschaftsbildung gestärkt; in solchen auf das Essen hin orientierten Situationen neigen Menschen dazu, sich zu entspannen und mehr zu reden (Terry, 2014). Drittens ist beim Friseur für Afroamerikaner der Medienkonsum die Regel. Man sieht Kunden, die dort Zeitschriften lesen, Fernsehen schauen und Radio hören (Solomon et al., 2004). Man kann auch beobachten, dass Leute das Friseurgeschäft besuchen, die nicht frisiert werden. Zu diesen Besuchern zählen Verwandte und Bekannte sowohl des Personals als auch der Kundschaft; und sie kommen ohne Friseurtermin vorbei, einfach um sich zu unterhalten und aktuelle Neuigkeiten auszutauschen (Solomon et al., 2004). Das Geschichtenerzählen im Kreis von Kunden, Besuchern und Mitarbeitenden läuft in der Szenerie der Haarpflege auf organische Weise ab; so gibt es stark animierte Gespräche zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen, die sich gleichzeitig im Friseursalon aufhalten (Solomon et al., 2004). Die stärkste Ressource im Milieu der Haarpflege für Afroamerikaner ist die Haarpflegefachkraft selbst. Sowohl Herrenfriseure als auch Stylistinnen gestalten die Konversationen und setzen die mündliche Tradition als eine Möglichkeit der Kundenbetreuung fort. Kunden und Kundinnen lassen sich auf vertrauliche Gespräche mit ihrem Friseur oder ihrer Friseurin ein, während ihre Haare dem Pflegeprozess unterzogen werden (Linnan u. Ferguson 2007). Das Kämmen der Haare kann die Vertraulichkeit weiter fördern (Lewis, 1999). Laut Ashley and Brown (2005: 1) »kann die Haarpflege einen Rahmen und ein Instrument für Bindung, Fürsorge und positiven Selbstwert bieten«. Friseure und Friseurinnen sind Fachleute, die oft in die Rolle eines Betreuers schlüpfen und die Bedürfnisse leidender Kunden thematisieren (siehe Ashley u. Brown 2015). Die meisten Friseure sind motiviert, ihrer Kundschaft Unterstützung zu geben und geschult zu werden, um ihr Fertigkeitsrepertoire in der Emotionsarbeit zu steigern (Wiesenfeld u. Weis, 1979; Anderson, Cimbal u. Maile, 2010). Das therapeutische Potenzial der Beziehung zwischen Friseur und Kunde ist bislang zu wenig erforscht, insbesondere im Hinblick auf die Behandlung rassistisch bedingter Traumata.

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PsychoHairapy als ethnisch relevante therapeutische Praxis Die BLM-Bewegung ermutigt zu interdisziplinären Herangehensweisen, wie Menschen sich in einem geschützten Raum von individuellen Traumata und kollektivem Trauma erholen können. Der Friseurladen und das Haarstudio werden für Interventionen für die psychische Gesundheit zu wenig genutzt, obwohl genau diese Räume für verschiedene Gemeinschaften von zentraler Bedeutung sind. »PsychoHairapy« ist ein innovatives gemeindepsychologisches Modell, das Fachleute für psychische Gesundheit und Menschen im Haarpflegesektor zusammenbringt (Mangum u. Woods 2011; M ­ bilishaka 2018). In diesem Modell ist das Umfeld der Haarpflege der Ort, an dem sich Präventions- und Interventionsprogramme für psychische Gesundheit umsetzen lassen. Friseure und Gemeindemitglieder geben sowohl als Peers als auch als Fachleute Unterstützung in gesundheitsbezogenen Fragen und führen entsprechende Interventionen durch. Bei PsychoHairapy wirken mit: (a) psychosoziale Fachkräfte, die den Haarkünstlern eine Reihe von strukturierten Trainingssitzungen beratender Gesprächsführung anbieten, (b) psychosoziale Fachkräfte, die im Haarpflegesetting Einzel- und Gruppentherapien durchführen, und (c) psychosoziale Fachkräfte, die psychoedukative Workshops im Haarpflegesetting veranstalten (siehe Mbilishaka, 2018). Ein zentrales Ziel dieses Modells ist es, die Fähigkeit von Friseuren zu steigern, damit sie ihre Kundschaft aktiv und kompetent unterstützen können; ihre Rolle entspricht somit in etwa der von anderen Hilfskräften im Bereich der psychosozialen Versorgung. Orientiert an dem Fokus, den die BLM-Agenda auf die Analyse von Trauma und Widerstand richtet, stellt PsychoHairapy eine innovative Möglichkeit dar, die Beziehungen zwischen natürlichen Helfern und Mitgliedern der Gemeinschaft zu stärken, indem evidenzbasierte Fertigkeiten im Umgang mit Trauma angeboten werden. Als Schwarze Psychologin fühle ich mich der psychischen Gesundheit und dem Wohlergehen von Schwarzen Menschen verpflichtet. Dieser Umstand hat 2001 zur Gründung von PsychoHairapy geführt, als ich noch auf dem College war und mich entscheiden musste, entweder in Klinischer Psychologie zu promovieren oder einen Abschluss in Kosmetologie zu machen. Durch den Rat und die Unterstützung meiner Familie erkannte ich, dass ich meine Leidenschaft für Haar- und Schönheitspflege und psychische Gesundheit miteinander verbinden kann. Ich habe Räume an Orten geschaffen, an denen afroamerikanische Haare gepflegt werden, um unsere psychologischen Auslöser zu untersuchen und der Frage nachzugehen, welche Anteile unseres Daseins heilungsbedürftig sind. Ich habe tradierte afrikanische Gesundheitsrituale erforscht: in den USA zusammen mit Wissenschaftlern der Association of Black Psychologists (Berufsverband

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afroamerikanischer Psychologen und Psychologinnen) und auf dem afrikanischen Kontinent unter Anleitung von traditionellen Heilern. Auf Basis meiner Erfahrungen und Ausbildungen hat sich die Kraft des Wortes als ein zentrales Thema in kulturell ausgerichteten Heilungsmodalitäten herausgestellt. Narrative Therapie, die sich Geschichten als Instrument des Heilens zunutze macht, ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass psychosoziale Interventionen und Haarpflege mit Gruppen zwischen zwei und vierzig Personen (je nach Größe des Friseursalons) miteinander kombiniert werden können. Die Guided Race Autobiography (eine teilstrukturierte Methode der autobiographischen Arbeit, die sich spezifisch mit ethnischen Kontexten der Lebensgeschichte befasst – Anm. d. Übers.) kann als Entgiftungsinstrument benutzt werden, um Afroamerikaner bewusst dazu zu motivieren, in einem geschützten Raum ihre Geschichte von nicht geheilten Erfahrungen zu erzählen und wiederzuerleben – auf der Ebene des Individuums, der Vorfahren oder der Gemeinschaft. In Gruppenprozessen, die von den Haarpflegeprofis und den psychosozialen Fachkräften gemeinsam moderiert werden, kann man untersuchen, welche Auslöser Belastungen aktivieren und was unmittelbarer Behandlung bedarf. Neben dem gegenseitigen Erzählen der eigenen Geschichte werden in der PsychoHairapy auch neue Geschichten – historische Geschichten – gehört, die jenen entmenschlichenden Sozialisationsinhalten entgegenwirken, welche Schwarze Menschen nach dem Willen der amerikanischen Institutionen haben ertragen müssen. In den folgenden Abschnitten werden diese Heilungsmethoden weiter erörtert, damit dieses Modell ein Werkzeug sowohl für Friseure als auch für psychosoziale Fachkräfte sein kann. Die Technik der Guided Race Autobiography Es ist nicht einfach, ethnische Narrative in einer von Rassismus geprägten Gesellschaft hervorzubringen, die rassistische Vorfälle für isolierte Phänomene hält. Heiler und Gemeinschaften sollten die allgegenwärtige Rolle von Rassismus in Bezug auf die Gesundheit Schwarzer Menschen erkennen. Um Gespräche über ethnische Zugehörigkeit und Rassismus zu ermöglichen, sollte die Methodik der Guided Race Autobiography (GRA), ein von Burford und Winston (2005) zunächst als Forschungsinstrument entwickeltes Verfahren, eingesetzt werden, um autobiographische Narrative der eigenen Ethnizität hervorzubringen. Afroamerikanern kann diese Methodik helfen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Bedeutung sie der ethnischen Zugehörigkeit in ihrer Lebensgeschichte zuschreiben können. Dieses halbstrukturierte thematische Instrument ist eine modifizierte Version der von McAdams entwickelten Guided

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Autobiography (1997), mit der Signifikanz und Bedeutungen offengelegt werden, die spezifischen Erfahrungen im Leben einer Person episodenübergreifend zugeschrieben werden. Die GRA-Technik deckt die folgenden sieben Episoden ab, die alle Teilnehmenden einzeln beschreiben: (1) »früheste ethnisch geprägte Erinnerung«, (2) »ethnische Erinnerung aus der Kindheit«, (3) »ethnische Erinnerung aus der Jugend«, (4) »ethnische Erinnerung an einen Höhepunkt im Leben«, (5) »ethnische Erinnerung an einen Tiefpunkt im Leben«, (6) »ethnische Erinnerung an einen Wendepunkt im Leben« und (7) »ethnische Erinnerung an einen kontinuierlichen Ablauf«. Anstoß für eine ethnisch geprägte Kindheitserinnerung ist beispielsweise folgende Anweisung: Beschreiben Sie eine Kindheitserinnerung (als Sie etwa zwölf oder jünger waren), in der Ihre Lebenserfahrung mit Ihrer Ethnizität verbunden war und die (1) als eine besonders markante oder bedeutsame persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit Ethnizität hervorsticht und bei der Sie (2) identifizieren können, was geschah, wer beteiligt war und was Sie dabei gedacht und gefühlt haben. Schätzen Sie so gut Sie können Ihr Alter zum Zeitpunkt dieses Ereignisses ein. Das Geschehen kann positiver oder negativer Natur sein, wichtig oder scheinbar nebensächlich. Der Punkt ist, dass es sich um eine hervorstechende Erinnerung handelt –etwas, woran Sie sich klar und deutlich erinnern, etwas, das, wenn Sie an Ihre Vergangenheit denken, eine bestimmte Bedeutung zu haben scheint. Vergewissern Sie sich, dass es sich um einen besonderen und spezifischen Vorfall handelt und nicht um eine allgemeine »Zeit« oder »Phase« in Ihrem Leben. Achten Sie darauf, dass in Ihrer Geschichte die folgenden Aspekte beschrieben werden: was genau geschah, wann es geschah, wer beteiligt war, was Sie dabei gedacht und gefühlt haben, weshalb dieses Ereignis bedeutsam ist und was dieses Ereignis über Sie und Ihre Persönlichkeit aussagt. Die nachstehend beschriebene ethnisch relevante Szene aus der Kindheit einer afroamerikanischen College-Studentin stammt aus einer Pilotstudie (siehe Mangum, 2010): Als ich etwa fünf oder sechs Jahre alt war, so meine Erinnerung, sah ich in den Nachrichten, wie auf Rodney King eingeschlagen wurde. Ich erinnere mich, als meine Mutter das erstmals mit mir angeschaute, sprach sie mit den Leuten in unserem Wohngebäde darüber, und alle Leute telefonierten miteinander. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich mich fragte, warum die Polizei auf diesen Mann so arg einschlug und warum das so ein großes Ding für meine Mutter und ihre Freundinnen war. Also fragte ich sie, weshalb das so interessant sei und warum das passiert sei, und sie sagte zu mir, ich solle meinen Vater fragen. Ich ging ins Haus und fragte meinen Vater wegen der Sache mit Rodney King, und er sagte mir, dass sich die Leute des-

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halb so darüber aufregten, weil er Schwarz war und die Polizei, die ihn geschlagen hatte, weiß war. Dann erzählte er mir noch davon, wie Schwarze immer schon um ihre Gleichberechtigung gekämpft haben, aber immer wieder diskriminiert werden. Ich stellte immer weitere Fragen, weil ich sehr neugierig war und wissen wollte, warum die Leute sich darüber so aufregten und alle Welt darüber sprach. Weil mein Vater Schwarz ist, fragte ich ihn, ob er jemals so geschlagen worden sei wie Rodney King und ob ich auch geschlagen würde. Ich erinnere mich, wie er ein bisschen lachte und so etwas sagte wie: »Du musst noch viel darüber lernen, was es heißt, in diesem Land Schwarz zu sein, aber du hast noch Zeit, hoffentlich werden die Dinge für dich besser sein, wenn du einmal in meinem Alter bist.« In diesem Alter und zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben verstand ich, was ethnische Zugehörigkeit bedeutet, aber noch nicht wirklich Diskriminierung und Rassismus, aber dieses Ereignis war für mich bedeutsam, weil es mein erster Vorgeschmack oder meine erste Erfahrung der negativen Seite von ethnischer Zugehörigkeit und Rassismus in Amerika war.

Dieses ethnische Narrativ ist eine in sich schlüssige Geschichte davon, wie über Rassismus diskutiert wird. Die Erzählerin dachte darüber nach, wie in den 1990er Jahren öffentliche Polizeigewalt in den Nachrichtenmedien präsentiert wurde und dass es notwendig war, diese Erfahrung mit anderen Schwarzen Menschen zu verarbeiten und zu klären. Was die Verarbeitung von Polizeigewalt anbelangt, hat dieses ethnische Narrativ mehrere Implikationen. Erstens sollten ethnische Erfahrungen mit anderen Menschen geteilt werden, weil sie für das narrative Verständnis des eigenen Lebens eine selbstdefinierende Bedeutung haben können. Zweitens können ethnische Narrative dazu verwendet werden, dass Afroamerikaner aus ihren ethnischen Erfahrungen lernen und daraus Erkenntnisse ziehen können, anstatt über negative Aspekte ethnischer Erlebnisse nachzugrübeln. Fachleute für psychische Gesundheit und Fachleute für Haarpflege können den thematischen Inhalt und die emotionale Färbung solcher Narrative im Rahmen des von BLM beschrieben Modells der heilenden Gerechtigkeit kodieren. Erzählungen wie die obige werden internalisiert und sind vielleicht ein unbewusster Auslöser bei der Entscheidung, wie jemand mit anderen Schwarzen Menschen im Alltag interagiert. Bei ihrer ersten Erfahrung mit Rassismus spielten die Eltern der Erzählerin eine entscheidende Rolle für sie dabei, ein Verständnis der Polizeigewalt entwickeln zu können. Wenn Heiler der Schwarzen Gemeinschaft  – psychosoziale Fachkräfte und Fachleute für Haarpflege  – in gemeinschaftlichen Räumen mit afroamerikanischen Menschen arbeiten, sollten sie die GRA-Technik anwenden, um jenen Anteil der betreffenden Person verstehen zu können, der in anderen Gesprächsräumen oft ignoriert wird. Werden Mitglieder der Gemeinde syste-

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matisch interviewt, können Informationen über frühere Erfahrungen, gegenwärtige Perspektiven, Ziele und Beweggründe zum Vorschein kommen. In Gruppen in Kosmetiksalons und Haarstudios können übergreifende Themen erkannt und die Prozesse eingeleitet werden, bei denen solche Themen, welche die Gruppenleiterin aufgreift, einer eingehenden Betrachtung und Reflexion unterzogen werden. Nach dem Erzählen des ethnischen Narrativs werden weitere, gemeindepsychologische Interventionen mithilfe sogenannter »Emotional Emancipation Circles« angeboten, Kreise für emotionale Emanzipation. Emotional Emancipation Circles sind Selbsthilfegruppen, in denen wir, Schwarze Amerikaner, zusammenarbeiten, um die Lügen von weißer Überlegenheit und Schwarzer Unterlegenheit – die Grundursache für die Geringschätzung Schwarzer Leben – zu überwinden, davon zu genesen und sie umzustoßen (Community Health Network, 2017: Absatz 1). Diese Art psychoedukativer, durch Emotional Emancipation Circles unterstützende Gruppe motiviert ihre Schwarzen Mitglieder dazu, sich in Empathie zu üben, wenn sie Geschichten von äußerst emotional aufgeladenen ethnisch bedingten Erlebnissen hören. Ähnlich dem BLM-Modell der heilenden Gerechtigkeit können Mitglieder der afroamerikanischen Gemeinde ihre emotionalen Erfahrungen im geschützten Raum ihres Friseursalons miteinander teilen und verarbeiten. Narrative Therapie Narrative Therapie ist eine der zentralen therapeutischen Interventionen der PsychoHairapy. Psychosoziale Fachkräfte bilden Friseure und Friseurinnen darin fort, die Geschichten ihrer Kunden bzw. Klientinnen mit ihnen auf individueller oder Gruppenebene zu reflektieren (siehe Wiesenfeld u. Weis, 1979). Die narrative Therapie wurde ursprünglich entwickelt, um auf kollaborative Weise belastende Faktoren verbal zu verarbeiten (White u. Epston, 2020). Sie zielt insbesondere darauf ab, das präsentierte Problem von der Person zu trennen, indem Systeme (z. B. politischer, kultureller, sozialer Art) identifiziert werden, die dem Problem seine Macht verleihen. Statt dass sich der Therapeut auf seine Klientin als eine mit einem Problem behaftete Person konzentriert, entwirft er in Koautorenschaft mit ihr ein neues Narrativ, das lösungsorientiertes Verhalten begünstigt, ohne dass sich die Klientin wegen ihrer Gefühle und früherer Handlungen verteidigen muss (White u. Epston 2020). Nicht die Person steht im Fokus der Transformation, sondern transformiert wird die Geschichte, die sich dann darauf auswirkt, wie ein Individuum oder eine Gruppe die Problemlösung neu rahmen kann (White u. Epston, 2020). Letztlich können Klienten

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dadurch mehr Wissen über sich selbst gewinnen und mit Mitgefühl reagieren, wenn sie mit schmerzlichen Erfahrungen konfrontiert sind. In der PsychoHairapy werden Friseure und Friseurinnen durch psychosoziale Fachkräfte in Techniken narrativer Therapie fortgebildet, um ihrer Kundschaft bei der Verarbeitung persönlicher Geschichten helfen können. Der Friseur ist somit in der Lage, das Problem zu beleuchten, es in einem kulturellen Kontext zu verorten und Kunden bei der Dekonstruktion toxischer persönlicher Geschichten zu unterstützen (siehe Semmler u. Williams, 2000). In einer kollaborativen Beziehung unterlaufen Friseur und Kunde gemeinsam einen kokreativen Prozess, in dem sie alternative Deutungen ihrer Erfahrungen hervorbringen, die oft in direktem Kontrast zu der ursprünglichen Geschichte stehen (siehe Singer, 2005). Dies geschieht dadurch, dass die Friseurin Fragen stellt, die auf das Loslassen der implizierten Dimensionen und unausgesprochenen Aspekte der Narration fokussieren. So können Kundinnen ihre Geschichten auf eine Weise neu schreiben, die auf authentischere Weise an soziale Strukturen und individuelle Ziele anknüpft (White u. Epston, 2020). Schliesslich lernt der Klient, mit wiedergewonnener Selbstwirksamkeit zukünftige Probleme innerhalb eines ganzheitlichen Rahmens anzugehen. Haben Schwarze Menschen Rassismus einmal internalisiert, besteht leider die Gefahr, dass im Rahmen herkömmlicher narrativer Therapie ihr emotionaler Ausdruck und ihre Selbstentfaltung eingeschränkt sein können (Semmler u. Williams, 2000). Deshalb sollte die narrative Therapie dahingehend ausgeweitet werden, dass ethnisch bezogene Geschichten dezidiert berücksichtigt werden. Die ethnisch-narrative Therapie (RNT, race narrative therapy) ist eine neue, von der Autorin entwickelte Art der Intervention, mit der die Emotionen und ethnischen Erfahrungen von afroamerikanischen Menschen zum Vorschein gebracht werden; sie kann als Erweiterung der PsychoHairapy-Methodik, aber auch außerhalb dieses Settings genutzt werden. Dadurch, dass das Spektrum der PsychoHairapy erweitert wird, um den Bedürfnissen von Afroamerikanern gerecht zu werden – wie es in der BLM-Agenda der heilenden Gerechtigkeit formuliert wird – können Friseure und Friseurinnen narrative Therapiemethoden einsetzen, um sowohl Vorfälle von öffentlichem Interesse als auch persönliche Erfahrungen mit Polizeigewalt und ethnischer Ungleichheit zu verarbeiten. Die Haarpflegekräfte können zu Mitverfassern neuer Geschichten werden, indem sie Kunden im Rahmen eines antirassistischen Ansatzes auf multi-perspektivische Weise systematisch befragen. Dieses Vorgehen kann Kundinnen dazu einladen, ihre Narrative von den medialen Lügen Schwarzer Unterlegenheit abzugrenzen, und sie dazu ermuntern, umfassende alternative Perspektiven einzunehmen (siehe Community Healing Network, 2018). Der Friseur kann die Entwicklung

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alternativer Geschichten mit der Vorstellung fördern, dass Leben und Identität durch Zuschreibung von Bedeutungen gestaltet werden, die sich aus dem Leben in einer Gesellschaft ergeben können, welche Rassenunterschiede konstruiert. Der Klient sollte deshalb aktiv alternative Geschichten mitkonstruieren, in denen ethnisch begründete Einschränkungen im Selbstverständnis bekämpft werden. Friseure können somit den Kunden helfen, das präsentierte Problem zu externalisieren. Ziel dieses Vorgehens ist es, Schamgefühle, Schuldgefühle und Traurigkeit zu verringern, um all das als externes, systemisches Problem der amerikanischen Kultur zu begreifen. Haarpflegefachkräfte können Quellen der Unterstützung werden, um ihren Kundeninen zu helfen, unique outcomes (von White und Epston benutzter Begriff für Geschichten von Ereignissen, die vom dominanten Narrativ abweichen – Anm. d. Übers.) hervorzubringen, indem sie spezifische Momente in ihrem Leben identifizieren, in denen sie nicht mit einem Problem belastet waren, sondern stattdessen davon abweichende, positive Resultate kultiviert haben. Anschließend kann der Friseur oder die Friseurin Fragen stellen, um solche Geschichten zu konkretisieren, wobei die Abfolge der damit verbundenen Emotionen erkundet werden muss. Wenn die Klientin später mit weiteren ethnischen Erfahrungen konfrontiert ist, kann sie sich auf diese Geschichte beziehen. Sie kann dazu ermuntert werden, ihre Geschichten mit Verwandten, Lehrern, Freunden, Kolleginnen und anderen Personen, die ihr wichtig sind, zu teilen. Diese Menschen im sozialen Umfeld der Person haben – neben der neu gebildeten inneren Zuhörerschaft – beim Erzählen der Geschichte die Funktion eines externen Publikums. Psychoedukative Fachveranstaltungen Zu den wesentlichen Ressourcen im Kampf gegen Rassismus gehören psychoedukative Gruppen. Im Rahmen der PsychoHairapy finden Workshops und Vorträge statt, die in den Räumen des Friseursalons nach Ladenschluss angeboten werden. Bei diesen Veranstaltungen behandeln Experten bestimmte kulturelle und ethnische Themen. Dadurch geht die narrative Therapie über persönliche Geschichten hinaus und führt in die Historie Schwarzer Amerikaner ein. Dies dient der sozial-politischen Weiterentwicklung und dem Engagement innerhalb der Gemeinschaft. Während die BLM-Bewegung die Systeme benennt, welche Schwarze Menschen unterdrücken, verbindet die von Watts, Griffith und Abdul-Adil (1999) formulierte Theorie der gesellschaftspolitischen Entwicklung (socio-political development; SPD) individuelle Geschichten mit gemeinschaftliche entwickelten Aktionsplänen. SPD zielt darauf ab, ethnisch-kulturelles Ver-

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ständnis zu steigern, indem tradiertes Systemverständis dekonstruiert wird und Lehrinhalte bzgl. der Abschaffung der Sklaverei sowie Befreiungs- und Widerstandsbewegungen Schwarzer Menschen vermittelt werden (siehe ChapmanHilliard u. Adams-Bass, 2015). Wenn Menschen mit Schwarzer und afrikanischer Geschichte vertraut werden, kann das ein psychologischer Puffer gegen internalisierten Rassismus sein (Chapman-Hilliard u. Adams-Bass, 2015). Die BLM-Bewegung fordert außerdem, dass ihre Mitglieder über die Arbeit und Forschung auf der Ebene der afroamerikanischen Gemeinschaft informiert sind und sich aktiv in der Gemeindearbeit und im Bildungswesen engagieren. Laut Chapman-Hilliard und Adams-Bass (2015) müssen Schwarze Menschen letztlich verstehen, dass die Versklavung von Afrikanern in den USA Dauerfolgen hat, dass Schwarze Menschen Erfolg haben können, dass es ökonomische Ungleichheiten gibt und dass die afrikanische Kultur der Schwarzen Gemeinde Stärke verleiht. Afroamerikanische Friseurläden und Schönheitssalons sind schon immer ideale Orte für fachliche Vorträge und Workshops gewesen. In Zusammenarbeit von Friseuren, Mitgliedern der Gemeinde und psychosozialen Fachkräften werden im Rahmen von PsychoHairapy-Interventionen bezahlte Referenten eingeladen, die interaktive Workshops und Vorträge zu bestimmten Themen moderieren, z. B. über: Mikroaggressionen, die Bedeutung der Förderung unternehmerischer Aktivitäten von Schwarzen, Sklavenaufstände, Stressmanagement, Suizidprävention bei Schwarzen Menschen, Behandlung von Depressionen bei afroamerikanischen Menschen, Verschleppung von Schwarzen Kindern, Masseninhaftierung, Respekt vor afroamerikanischen Müttern, der Stellenwert Schwarzer Vaterschaft, Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit in nahen persönlichen Beziehungen, die Rolle von Schwarzen Frauen in der BlackPower-Bewegung, die Wirksamkeit von Boykotts durch Schwarze, die Balance von Arbeitsbeschäftigung und Privatleben, und das Eheleben Schwarzer Menschen. Die Teilnehmenden werden aufgefordert, sich Notizen zu machen und Fragen zu stellen, was darauf verweist, wie wichtig es ist, am Expertenwissen in den Bereichen Psychologie, Medizin, Geschichte, Sozialarbeit, Recht, Militärwissenschaft und so weiter teilzuhaben. Die Teilnehmenden haben auch die Gelegenheit, Bücher zu den im afroamerikanischen Friseurladen diskutierten Themen zu kaufen.

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Fazit Historisch gesehen sind Schwarze Haarpflegesalons schon immer von zentraler Bedeutung für politischen Aktivismus und eine Antwort auf die psychischen und emotionalen Bedürfnisse der Schwarzen Gemeinde. Deshalb lassen BLM wie auch PsychoHairapy in ihren gemeindepsychologischen Ansätzen die Stimmen von Menschen einer unterdrückten Bevölkerungsgruppe laut werden. Um diese Art von Intervention anzuwenden, braucht es kundige Fortbildung, gemeindeorientiertes Engagement und Wirksamkeitsuntersuchungen. Das Zusammenwirken des sozialen Raums der Haarpflege, der Haarpflegefachkräfte und von Gemeindemitgliedern ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass Psychologen ethnisch bedingte Traumata erfolgreich behandeln können. BLM hat die Konfrontation mit der US-Regierung, Gesetzen und Verwaltungsrichtlinien neu belebt. Die Schwarze amerikanische Protestbewegung ist tief in Haarpflegestudios verwurzelt. Sie muss aber ausgeweitet werden, damit über den psychologischen Tribut dieser Bewegungen mithilfe historischer und gegenwärtiger Narrationen gesprochen werden kann. Zahlreiche psychotherapeutische Techniken sind entwickelt worden, um auf unterschiedliche psychische Bedürfnisse eingehen zu können, und doch sind bei all diesen Methoden Geschichten und Emotionen ein zentraler Aspekt des Heilungsprozesses (Corey, 2012). Die narrative Therapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren, das von den Gefühlen des Klienten, die problemgesättigte Geschichten in ihm auslösen, in zielgerichtetes Handeln überleitet (White u. Epston 2020). Der psychosoziale Ansatz von PsychoHairapy wagt sich in die kulturell geprägte Weltsicht des Kunden/Klienten vor, indem anhand seiner Geschichten von Ethnizität und Rassismus der Prozess der Zuschreibung von Bedeutungen untersucht wird. Diese Methode ist nicht nur wichtig, um ethnisch bedingte Traumata zum Vorschein zu bringen, wie es die BLM-Agenda der heilenden Gerechtigkeit besagt; Heilung muss in einem unterstützenden Raum stattfinden, damit die Wut ihren Ausdruck finden und Empathie sich einstellen kann. Dieser emotionale Beistand angesichts ethnisch bedingter Belastungen gehört zu den besonders tiefgreifenden und wirkungsvollsten Diensten, die unsere Haarpflegefachkräfte der afrikanisch-amerikanischen Gemeinschaft anbieten können, um positive Einstellungen und kollektive Stärke zu fördern.

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Danksagung Danken möchte ich Dr. Cynthia Winston-Proctor und Mitgliedern von Identity and Success Research Lab an der Howard University für die Pilotstudien der Guided Race Autobiography. Mein Dank gilt auch den Mitgliedern von Shop Talk Live, N Natural Hair Studio und PsychoHairapy Lab.

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Therapie der Gewaltfreiheit: Vom Opfernarrativ zur Widerstandsgeschichte1 PETER JAKOB und SARAH

Einführung Michael White und David Epston (2013) haben die psycho-sozialen und ökonomischen Bedingungen psychischen Leidens in den Mittelpunkt ihres Verständnisses von narrativer Therapie gestellt. Daraus hat sich eine Tradition sozial engagierter therapeutischer Arbeit entwickelt (siehe z. B. Reynolds, 2019), die sich um eine Erweiterung psychologischer Perspektiven bemüht. Bereits Martin-Baró (1994) geht davon aus, dass eine Psychologie, die befreiend wirken soll, sich ihrerseits von der Neigung befreien müsse, historische und politische Kontexte des psychischen Leidens auszuklammern. Er stellt ihr drei ›dringende Aufgaben‹: Ȥ historische Erinnerung zu aktualisieren, Ȥ Alltagserfahrung zu ›de-ideologisieren‹, und schließlich, die Ȥ ›Tugenden der Bevölkerung zu utilisieren‹. Für ihn bestimmen dominante Diskurse die Geschichten, die über unterdrückte Menschen erzählt werden. Durch sie werden essentielle Aspekte ihrer Lebensumstände geleugnet, ignoriert oder verstellt. Das Resultat sei ein negatives Selbstbild; dies zeige beispielsweise das im Vergleich zu Menschen vieler anderer Nationalitäten negativere Selbstbild der meisten Lateinamerikaner/innen (Montero, 1984, zit. n. Martin-Baró). Über die Aktualisierung historischer Erfahrung und deren De-ideologisierung werden die ursprünglichen Erfahrungen von Menschen und Gruppen zu einem gültigen Forschungsgegenstand. Die sozialkollektiven Ressourcen, die es unterdrückten Menschen ermöglicht haben, unter inhumanen Bedingungen zu überleben, werden auf diese Weise als ›Tugenden‹ wahrnehmbar. So erfahren unterdrückte und ausgebeutete Menschen Selbstwirksamkeit und werden zu Protagonist/innen der eigenen Geschichte.

1 Dieser Beitrag beruht auf zwei vorangegangenen Veröffentlichungen: (Jakob, 2021; Jakob u. ›Sarah‹, 2021).

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Dieses auf Lateinamerika zugeschnittene psychologische Programm kann überall da als gültig angesehen werden, wo Menschen von Unterdrückung und Ausbeutung betroffen sind. In der therapeutischen bzw. psycho-sozialen Arbeit mit traumaerfahrenen Menschen geht es meist in irgendeiner Form um fortgesetzte Misshandlungen, um Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Bestimmte Leitnarrative, die im sozialen Raum über diese Menschen erzählt werden, können schädigen, wenn ihr Beobachtungsrahmen historische und aktuelle Aspekte der Misshandlung ausklammert. In den letzten Jahren haben zudem Konzepte aus der ursprünglich politisch motivierten Praxis des »gewaltlosen Widerstands« Eingang in therapeutische Konzeptionen gefunden (etwa Omer u. von Schlippe, 2010). Über die therapeutische und pädagogische Arbeit im Rahmen der ›neuen Autorität‹ Haim Omers hinausgehend bietet der gewaltlose Widerstand auch eine spezifische Methodologie des Widerstands gegen Misshandlung im sozialen Nahraum an. Die narrative Therapie kann dazu passend Zugänge ermöglichen, um neue Erzählstränge in das vielschichtige narrative Gewebe um die Person herum einzuflechten. (Jakob, 2021). Eine Integration beider Ansätze wird in diesem Beitrag vorgestellt und mit einem Praxisbeispiel illustriert, in dem eine Klientin – ›Sarah‹ – ihre eigene Widerstandsgeschichte erzählt.

Die Definition des Selbst Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit Traumaerfahrung sind meist durch grundlegende Paradigmen psychiatrischer Versorgung bestimmt. Bestimmte psychiatrische Diagnosen und/oder psychodiagnostische Ergebnisse bahnen den Weg, um spezifische ›Störungsbilder‹ mit spezifischen Therapien zu behandeln. Die Kritik an der unreflektierten Übernahme eines westlich ausgerichteten medizinischen Modells zur Kategorisierung psychischer Phänomene, durch die man blind wird für die Kultur- und Kontextgebundenheit der eigenen Begrifflichkeiten, hat eine lange Geschichte (beispielsweise Watters, 2010, Frances, 2017). Eine Person wird durch die gestellte Diagnose in den Kontext gesellschaftlich vorgeprägter Narrative gestellt; damit werden diese Bestandteil der Geschichten, die über die Person erzählt werden und die sie zumindest teilweise internalisiert und weitererzählt. Gerade Klienten mit Misshandlungserfahrung können durch Narrative, die auf diesen unhinterfragten paradigmatischen Annahmen beruhen, weiter geschädigt werden. Als scheinbare kulturunabhängige »objektive« Krankheitsbilder verstellen sie im Sinne Martin-Barós ›a-historizistisch‹ und ›de-politisierend‹ den Blick auf zen-

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trale soziale Kontexte der Probleme. Sie individualisieren Phänomene, die sich als normale Reaktionen auf überwältigende Ereignisse verstehen lassen. Indem sie individuelle und zwischenmenschliche Ressourcen als Erzählgegenstand auslassen, ermöglichen sie es den Fachkräften, sich die Definitionsmacht über die jeweilige Person anzueignen. Psychiatrischen Krankheitsbegriffen kommt damit mitunter eine ›dämonisierende‹ Wirkung (Omer, Alon u. von Schlippe, 2014) zu; die betroffene Person wird als Trägerin einer unspezifischen ›pathologischen Essenz‹ beschrieben. Solche psychologischen Formen von Dämonisierung verschleiern m. E. vergangene und aktuelle Herausforderungen, die mit Gewalt und Misshandlung verbunden sind und lassen biographische und aktuelle Ressourcen unberücksichtigt, die zur Bewältigung von Misshandlungserfahrungen beitragen können. Am siebten Juni 2020 wurde in Bristol, England eine Statue des Sklavenhändlers Edward Colston von Demonstranten vom Sockel gerissen und ins Hafenwasser geworfen. Dieser symbolische Akt des Widerstandes wurde von manchen, meist weißen Kommentatorinnen als überflüssig bezeichnet: schließlich wurde der Sklavenhandel ja vor fast zweihundert Jahren in Großbritannien verboten; zudem handele es sich ja um eine Straftat. Dagegen sprachen viele Einwohnern Bristols, vor allem solche karibischer Herkunft, von ihrer Erleichterung, nicht mehr an der Statue vorbeigehen zu müssen. Aus ihrer Sicht gibt es eine Kontinuität zwischen der Institution der Sklaverei und real existierender struktureller Gewalt, unter der vor allem Mitmenschen schwarzer oder brauner Hautfarbe zu leiden haben; das Bewahren des Andenkens von Colston als »Wohltäter« der Stadt Bristol und der Schutz der Statue trotz jahrzehntelanger Forderungen nach ihrer Entfernung gilt für sie als Ausdruck einer solchen Kontinuität. Isabel Wilkerson (2020) sieht eine solche Kontinuität in einem auch weiterhin existierenden Kastensystem begründet, das zwar im Verlaufe der Zeit unterschiedliche Gestalt annimmt, dessen Formen aber viele ähnliche Wesenszüge aufweisen. Können wir auf ähnliche Weise in unseren Therapiefällen die zeitliche Interpunktion von Traumaverläufen infragestellen bzw. eine Kontinuität von Misshandlung annehmen? Häufige Diagnosen für Menschen mit Misshandlungserfahrung sind ›post-traumatische Belastungsstörung‹, ›Depression‹, ›Angststörung‹ oder ›Borderline-Persönlichkeitsstörung‹. Sie alle implizieren, dass das traumatisierende Geschehen im Wesentlichen in der Vergangenheit liege. Der Begriff der post-traumatischen Belastungsstörung impliziert etwa, dass das reelle traumatisierende Geschehen vorüber und das Trauma in der Person selbst als individuelle Symptomatik verankert sei. Erst eine solche Interpunktion im klinischen Erzählverlauf erlaubt es der Fachkraft, von einer Störung zu sprechen: wenn die Misshandlung historisch ist, aber die Klientin weiterhin unter hohen

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Erregungszuständen leidet, Angstzustände hat und so weiter dann sei sie nicht nur ›verstört‹, sondern aufgrund einer fehlerhaften Realitätswahrnehmung ›gestört‹. Vieles spricht meines Erachtens dafür, dass wir oft einen als historisch interpunktierten Misshandlungskontext nach wie vor als aktuell ansehen können. Misshandlung erfolgt meist nicht nur als eine diskrete Reihe von bestimmten Handlungen, sondern stellt sich als ein komplexes Gefüge aus verschiedenen interaktionellen Komponenten dar, zu denen u. a. auch Verleugnung, Verharmlosung, Opferbeschuldigung, Mystifizierung des Verhaltens des Opfers sowie soziale Bedingungen gehören, die Schutz und Gerechtigkeitserwerb erschweren. Ein Misshandlungstäter mag weiterhin leugnen, verharmlosen oder das Opfer beschuldigen. Allein schon, wenn solche Botschaften niemals zurückgenommen wurden und es auch keine juristische Klärung gegeben hat, dauert die Misshandlung an, wird ihr Bedeutungsgehalt weiterhin narrativ vermittelt. Auch können äußere Machtstrukturen, die die Misshandlung ermöglicht haben, womöglich weiter bestehen, etwa wenn eine Organisation sich nicht der Verantwortung für einen Missbrauch stellt, der in der eigenen Institution stattgefunden hat, oder wenn Opfer noch keine Gerechtigkeit erfahren haben. Auf solche Weise besteht Misshandlung fort, selbst wenn bestimmte Gewalthandlungen nicht mehr erfolgen. Wird aber die implizit oder explizit vermittelte Annahme, dass es sich bei der Misshandlung um eine abgeschlossene diskrete Ereignisfolge handelt, einseitig von einer Fachkraft getroffen, die gesellschaftlich autorisiert ist zu bestimmen, um welche Art von Persönlichkeit es sich bei der ›Patientin‹ handelt, übt der Kliniker der Person gegenüber Definitionsmacht aus (Gergen, 2013) und de-kontextualisiert und individualisiert ihre Schwierigkeiten. In solchen Fällen verlegt die willkürliche zeitliche Interpunktion die Schuld am Leiden in die ›Patientin‹ hinein und legt eine Deutung ihrer Reaktionen als ›gestört‹ nahe. Aus sozial-konstruktionistischer Sicht setzen sich Lannamann und McNamee (2020) kritisch mit der ›Grammatik des diagnostischen Sprachspiels‹ bei Trauma auseinander. Sie identifizieren eine Reihe von Sprachformen, mit denen Trauma diagnostisch ›verdinglicht‹ wird, darunter Individualisierung, zeitliche Kausalität und Objektivierung der Person. Sie weisen auf die feministische Kritik am Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung hin, der zufolge es der Einbezug des sozialen und politischen Kontextes ermöglicht, eine scheinbar gestörte Person als Menschen zu betrachten, der eine angemessene Reaktion auf eine ›gestörte moralische Ordnung‹ zeigt. Mit ihrer Verwendung des Begriffs des Sprachspiels (Wittgenstein, 2003) weisen sie auf die Möglichkeit vieler verschiedener Realitätskonstruktionen hin, in denen das Denken, Fühlen und Handeln der Person jeweils völlig unterschiedliche Bedeutungen erhalten kann. Jeder Diskurs konstruiert Machtbeziehungen (Foucault, 1991). Wenn der Klient

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in Kooperation mit anderen unterschiedliche Selbstnarrative bilden, auf verschiedene Weise die Definition des Selbst zurücknehmen kann, verringert sich das Machtgefälle zu anderen Menschen. Bereits der misshandelnde Mensch hat sich vielfach die Personenbeschreibung des Opfers angeeignet, als er dieses auf demütigende Weise charakterisierte. Psychiatrische oder psychologische Narrative sind natürlich inhaltlich ›gutartiger‹ angelegt als die Geschichte, die der Täter vom Opfer erzählt, und doch weisen sie viele ähnliche Strukturelemente auf: 1. eine Person wird von einer anderen Person definiert, die über größere Macht verfügt; 2. es gibt nur eine Perspektive auf das Selbst der Klientin; 3. das Opfer kann die ›offiziell gültige‹ Sicht der eigenen Person nur schwer beeinflussen; 4. die Person wird als inadäquat oder abnormal charakterisiert, und 5. ihr wird keine Selbstwirksamkeit zugeschrieben. Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit mit dem vom Täter vermittelten Narrativ kann sich daher auch ein derartiges Fachnarrativ schädigend auf Überlebende von Misshandlung auswirken und den Heilungsprozess behindern. All diese Geschichten, vom Täter erzählte Geschichten, pathologisierende Geschichten der Fachkräfte, negative Geschichten von der Person in der Familie, können sich zu einem narrativen Gewebe verflechten, das den sozialen Nahraum der Klientinnen durchdringt. Ein solches narratives Gewebe beeinflusst dann auf vielfältige Art und Weise, wie andere Menschen mit der Person, die Misshandlung erfahren hat, kommunizieren und ihr gegenüber handeln.

Mit gewaltlosem Widerstand erstarrte Narrationen in Bewegung bringen Pathologisierende Narrative können die Menschen im sozialen Umfeld einer Person dahingehend beeinflussen, sie auf schädigende Weise zu behandeln oder ihre Bedürfnisse zu vernachlässigen. Ihre Internalisierung erhält vielleicht zusätzlich ein negatives Selbstkonzept aufrecht, das mit Angst, niedriger Stimmungslage und Isolationsgefühlen einhergeht. Wenn dann auch noch weiterhin Schaden zugefügt wird (z. B. Verleugnung, Verharmlosung, erniedrigende oder pathologisierende Beschreibungen der Person oder sogar erneute Bedrohung und fehlender Schutz) und ein Dialog noch nicht möglich ist, der ein solch schädigendes Verhalten beenden könnte, wird Widerstand notwendig.

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Narrative Therapie verfolgt das Ziel neue, nicht-pathologische Narrative der Person hervorzubringen, in denen diese als selbstwirksam beschrieben wird (White u. Epston, 2013). Wenn diese erlebt, dass ihr eigenes Opfernarrativ mitfühlend bezeugt wird, kann dies zur Wiederherstellung der Erfahrung ihrer eigenen Humanität führen (Weingarten, 2003). Weingarten unterscheidet zwischen Empathie und Mitfühlen (Compassion) der Bezeugenden. Der letztere Begriff ist relational und drückt eine Beziehungsqualität aus, aus der heraus die bezeugende Person sich zu aktivem Handeln bewegt fühlt, die Bedürfnisse der Anderen nachvollzieht und daher kompetent reagiert. In meiner therapeutischen Erfahrung schafft diese Erfahrung der eigenen Humanität durch mitfühlendes Bezeugen die Voraussetzung dafür, dass sich der Gesprächspartner zum Widerstand berechtigt fühlt. Die Prinzipien und Methoden des gewaltlosen Widerstandes können dann Klient/innen größere Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung ermöglichen. Ihr Handeln wird zum Substrat neuer Narrative ihrer Person. Die Betreffenden sind nicht mehr nur als von ihrer Umwelt beeinflusst charakterisiert, sondern beschreiben sich selbst als Personen, die in einem wechselseitigen Prozess ebendiese Umwelt beeinflussen: »Ich erzähle meine eigene Geschichte! Ich kann handeln! Ich kann sagen, wer ich bin!« ›Sarah‹ ist eine junge Frau aus der sozialen Mittelschicht; sie ist ethnisch gemischter Herkunft und hat ein weißes Erscheinungsbild. Um das Potenzial der therapeutischen Integration von narrativer Therapie mit gewaltlosem Widerstand darzustellen, schildere ich übersichtsartig unseren gemeinsamen therapeutischen Prozess. Sarah wird erstmals mit drei Jahren vom nebenan lebenden Jugendlichen sexuell missbraucht. Ihre ganze Jugend hindurch, bis ins junge Erwachsenenalter hinein – bis zum Beginn ihrer Psychotherapie – erfährt sie physische und sexuelle Gewalt. Eine Legasthenie erschwert das Lernen; die Klassenlehrerin sieht sie als unbegabt an. Sarah überlebt mit 14 Jahren einen gefährlichen Suizidversuch. Sie wird mit ›Depression‹ und ›Anzeichen einer sich entwickelnden Borderline Persönlichkeitsstörung‹ diagnostiziert und medikamentös behandelt. Mit 15 Jahren entsteht eine ›Beziehung‹ zu Roger, einem 18-jährigen ›Freund‹. Obwohl dieser sich wegen Sarahs Alter strafbar macht, erhebt niemand Einspruch. Zusätzlich zur physischen und sexuellen Gewalt gegen Sarah behandelt er sie auf sadistische Weise, demütigt sie vor Freunden, macht sich über ihre Angst und Scham lustig, nennt sie ›lächerlich‹ und ›blöde‹. Daheim wird viel über Sarahs vermeintliche Minderbegabung, ihre ›Unberechenbarkeit‹ und ›Stimmungsschwankungen‹ gesprochen. Wenn sie Andeutungen über das macht, was sie in der Beziehung mit Roger belastet, fühlt sie sich nicht gehört. Als sie 17 Jahre ist, schreibt eine Psychiaterin, sie habe »stän-

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dig wechselnden Geschlechtsverkehr mit Männern, ohne das zu mögen. Es (ist) die Art und Weise, mit der sie zu Männern in Beziehung tritt«. Familienangehörige beschweren sich über Sarahs Wutausbrüche, die unvermittelt und scheinbar völlig unangemessen erfolgen. Sarah bezeichnet sich oft selbst als ›verrückt‹, ›dumm‹, als ›Schlampe‹. Sie leidet unter sozialer Angst – im Seminar verschlägt es ihr buchstäblich immer wieder die Sprache: Wenn man sie hören und sehen würde, wüsste man sofort, was für eine verrückte, dumme und promiskuöse junge Frau sie sei. Sie müsse sich unsichtbar machen. In der Therapie arbeiten wir daran, ›Nebenhandlungen‹ in Sarahs Personenbeschreibung zur Haupthandlung zu machen (sog. ›unique outcomes‹, Carr, 1998): – Schon lange vor der Therapie hatte sie aufgehört, sich zu schneiden; sie kann selbst bei starker Belastung der Versuchung widerstehen, dies wieder zu tun. Wie gelingt ihr das? – Sarah verdient sich Geld als Kindermädchen. Woran mag es liegen, dass die Kinder sie lieben, dass sie auch mit ›schwierigen‹ Kindern gut zurechtkommt? Was gibt sie den Kindern mit auf den Lebensweg? – Im Studium erhält sie gute Noten. Ihren Freundinnen gegenüber wird sie seltener zornig. Wie gelingt es ihr zu studieren? Woher kommt der Unterschied im Affekt? – Als sie auf einem Pferdehof arbeitet, fühlt sich Sarah von liebevollen Kollegen und Kolleginnen gemocht und vom Arbeitgeber geschätzt. – Sarah hat einen wunderbaren dunklen, subversiven Humor. In der Therapiestunde lachen wir beide oft aus vollem Hals. Während Sarah auch zu Therapiebeginn noch von vielen Männern sexuell ausgebeutet wird, kommt Roger nach Jahren plötzlich an den Ort zurück und schickt ihr SMSTexte: »Ich weiß, wo du wohnst«, »Ich habe dich gesehen.« Sarahs traumabasierte Reaktion schnellt in die Höhe: Angst, Schweißausbrüche, Flashbacks, Alpträume. Ich versuche in einer Sitzung daran zu arbeiten, wie sie sich vor Roger schützen könne. Sarah wird auf für mich zunächst unverständliche Weise wütend. Auf dem Nachhauseweg wird mir deutlich, an welcher alten Haupthandlung ihrer Lebensgeschichte, an welcher Personenbeschreibung ich miterzählt habe: Das in ihrem sozialen Netzwerk immer wieder reproduzierte Narrativ von Sarah als ›psychisch gestört‹ lenkt von reeller Bedrohung, von ihrer Verletzung und Vulnerabilität ab; die Menschen um sie herum spüren nicht die Verantwortlichkeit, ihr schützend beizustehen. Sarah bleibt ungeschützt und sieht sich als nicht schutzwürdig. Ich schicke ihr eine Email, in der ich mich für mein Verhalten entschuldige und schreibe, dass ich ein ›Unterstützer/ innentreffen‹ einberufen will, an dem auch ihre Eltern teilnehmen sollen. Der Vater zögert lange. Sarah und ich schreiben ihm eine ›Ankündigung‹, die unsere Sorge über sein Verhalten ausdrückt, und in dem Sarah verdeutlicht, dass sie nicht mehr

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zu seinem vernachlässigenden Verhalten schweigen werde. Schließlich kommt es zu einem Unterstützer/innentreffen mit Sarahs (geschiedenen) Eltern und mit Freundinnen von ihr. Dort wird gemeinsam eine Ankündigung des Widerstandes an Roger geschrieben. Zwar zögert danach der Vater noch immer, konfrontiert Roger aber kurz, als er ihm zufällig begegnet. Einige Tage darauf verschwinden Sarahs Traumasymptome; von Roger ist nichts mehr zu hören. Als sie auf mich wütend geworden war, hatte Sarah – zurecht – gesagt, dass ich ihr nicht zugehört hätte. Wir schaffen dafür Gesprächsraum und für sie selbst wird der eigene Zorn nachvollziehbar, ergibt Sinn. Die Verinnerlichung negativer Beschreibungen – dass etwa der Zorn ein »Krankheitssymptom«, irrational und nicht gerechtfertigt sei – war unvollständig. Wir bauen therapeutisch weiter auf diese neue Sicht auf. Die Therapie wird subversiv, indem wir diesen ›Sprung in der Mauer‹ erweitern: Timimi (2002) folgend ›entdiagnostizieren‹ wir sie gemeinsam und führen ihren gelegentlich noch aufkeimenden Zorn auf die Belastung durch Misshandlung zurück. Sarah entscheidet sich zu einem ›sexuellen Moratorium‹: sechs Monate lang geht sie keinen sexuellen Kontakt mit Männern mehr ein. Sie lernt so zu spüren, dass sie einen Anspruch auf die eigene Sexualität hat. Der Glaube, sie sei wertlos und müsse für einen Drink mit Sex bezahlen, schwindet; die sexuelle Ausbeutung hört auf. Sarahs neuer Freund respektiert sie und behandelt sie liebevoll. Sie erzählt ihm die eigene Opfer- und Leidensgeschichte. Als Frank bemerkt, es sei nicht möglich, dass ihre Eltern sie vernachlässigt hätten, die seinen doch so nett, wird sie wütend. In der Therapiestunde beklagt sich Sarah über die eigene Wut, die ihre Beziehung zerstöre. Wir können aber Sarahs Zorn auch als ›chronisches Gesundheitssymptom‹ (Renoux u. Wade, 2008) verstehen, als einen, wenn auch noch rudimentären, Antrieb sich zu wehren. Könnte es sich bei ihrem Affekt um den ›Zorn der Gerechten‹ handeln? Könnte er dann zur Antriebsfeder des Widerstands gegen Zuschreibungen werden, die ihr schaden? Bereits Gandhi stellte fest, dass es wichtig ist, den eigenen Zorn zu beherrschen – dass diese Emotion dann aber zur Entschlossenheit führen, eine Antriebsfeder für den Widerstand werden kann. Ohnmächtigen Zorn nur zu unterdrücken, funktioniert nicht; ihn dagegen als natürliche Reaktion auf Unrecht und als Antrieb zum Widerstand gegen das Unrecht zu verstehen, ermöglicht Sarah größere Selbstbeherrschung und die Umwandlung des Affektes in energische Entschlossenheit. Anstatt eskalierend den Freund anzuschreien und mit ihm Schluss zu machen, setzt sie sich über viele Stunden hinweg mit ihm auseinander, verdeutlicht ihm wie wichtig es ist, dass er wirklich zuhört, ihre Opfererfahrung ernst nimmt. Sarah nimmt ihren berechtigten Anspruch auf Dialog wahr. Sie ist gerührt, dass Frank anschließend viele Stunden damit verbringt, über sexuellen Missbrauch nachzulesen.

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Der damalige Bericht der Psychiaterin erregt zunehmend Sarahs ›gerechten Zorn‹; sie erlebt ihn als Opferbeschuldigung. Der Bericht hat ihr negatives Selbstkonzept aufrechterhalten und ihr damit geschadet, dass er in das problemgesättigte Narrativ der Familie einfloss und von ihrer Ausbeutung durch Männer ablenkte. Sie will nicht mehr akzeptieren, dass die sexuelle Ausbeutung nicht als solche benannt, sondern ihr als Persönlichkeitseigenschaft zugeschrieben wird. Sie will nicht akzeptieren, dass auch psychiatrischerseits nichts zu ihrem Schutz unternommen wurde. Wir arbeiten miteinander an einem Beschwerdeschreiben, das gleichzeitig eine ›Ankündigung‹ des Widerstandes gegen solche Zuschreibungen in der Kinderpsychiatrie darstellt. Als der leitende Psychiater die Beschwerde ablehnt und schreibt, die Psychiaterin habe sich vorschriftsmäßig verhalten, geht Sarah in die nächste Beschwerdeinstanz. Sie will nicht, dass in Zukunft andere Mädchen ähnliches erleiden müssen; daher müssen sich die Vorschriften ändern. Sarahs persönlicher Widerstand wird zum sozialen Aktivismus. Mittlerweile studiert Sarah Psychologie und hat gleichzeitig eine Polizeilaufbahn eingeschlagen. Sie will sich auf die Verfolgung von Sexualstraftaten spezialisieren. Oft ist sie gehobener Stimmung. Mitunter wiederholen Familienangehörige noch pathologisierende Geschichten über sie, z. B. wenn sie ihren Partner als »Heiligen« bezeichnen, »… weil er es mit ihr aushält«. Die sozialen Ängste suchen sie noch manchmal heim, wenn sie im Straßeneinsatz ist. Ihre Beschwerden tragen erste Früchte: der zuständige Kinderschutzbeauftragte hat sich mit ihr und mit mir getroffen, er will ihr Angebot annehmen, Fachkräfte über das Erzählen der eigenen Geschichte weiterzubilden. Sarahs Geschichte des Überlebens, der Heilung und des Widerstandes geht weiter.

Bedeutungsgebung und soziales Positionieren Der Therapieverlauf dieser jungen Frau verdeutlicht, wie pathologisierende klinische Narrative auf bestimmte Weise andere problemgesättigte Geschichten widerspiegeln. Alle diese Geschichten werden über die Betroffene erzählt, nicht von ihr selbst oder mit ihr zusammen. Sie konstruieren einen Eindruck der Unfähigkeit, anstatt den Blick auf ihre Fähigkeiten, zwischenmenschliche Verbundenheit, Ressourcen, Resilienz und ihre vielen positiven Persönlichkeitseigenschaften zu richten. In diesem Parallelprozess des Erzählens beeinflusst das fachlich-klinische Narrativ andere Menschen um die Betroffene herum und ermöglicht es, dass sie ihr gegenüber abträgliche Positionen beziehen, also Haltungen einnehmen, die ihr schaden. Sie untergraben nicht nur ihr Selbstvertrauen und ihr Zugehörigkeitsgefühl, sondern trivialisieren darüber hinaus

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ihre Misshandlungserfahrung, führen dazu, dass sie nicht beschützt wird und individualisieren die Schwierigkeiten, die sie aufgrund der Misshandlung, der weiteren Bedrohung und dem Ausbleiben von Gerechtigkeit erfährt. Die implizite Opferbeschuldigung trägt zur Verletzung bei. Damit wird in dieser Arbeit für die therapeutisch tätige Person eine klare Positionierung erforderlich. Von der therapeutischen Position her wäre es unethisch gewesen, angesichts fortgesetzter Misshandlung und dem Verhalten anderer, das dies ermöglicht, oder dem Wiedererzählen verletzender Geschichten über sie Neutralität zu bewahren. Dann nämlich würde ich die Position eines ›Bystander‹ einnehmen, der damit, dass er als Zeuge nicht eingreift, Erlaubnis erteilt, die Klientin auf schädigende Weise zu behandeln. Als ihr ›Widerstandscoach‹ finde ich es notwendig, sie beim aktiven gewaltlosen Widerstand gegen die verschiedenen Aspekte von Misshandlung und verletzendem Verhalten zu unterstützen. Indem wir unsere Klienten darin unterstützen, Widerstand gegen Geschichten zu leisten, mit denen mächtigere Personen sie definieren, wird Therapie oder Beratung subversiv. Eine solche Position einzunehmen kann uns in ein Spannungsverhältnis zu unserer Fachkultur oder zu der Institution bringen, in der wir arbeiten. Auf strukturell isomorphe Weise hatte ich es anfänglich vernachlässigt, Sarahs Schutzbedürfnis ernst zu nehmen und adäquat zu handeln. So wurde mein therapeutisches Handeln zum Bestandteil ihrer Problematik. Ich musste selbst lernen, ihren Ärger auf mich als legitime Reaktion zu verstehen, und wir konnten schließlich gemeinsam in den Widerstand gegen die passive Unterlassung von Schutzleistung durch die Familienangehörigen treten. Das soziale Netzwerk, welches wir zusammenriefen, leistete Widerstand gegen die Bedrohung durch den früheren ›Boyfriend‹. Wie zögerlich auch immer die Reaktion ihres Vaters erfolgte, sie war wirksam, sowohl in ihrer Abschreckungswirkung als auch darin, dass sie Sarahs Angst herabsetzte. Das Unterstϋtzer/innentreffen vermittelte ihr die Botschaft, dass sie als wertvoller, schutzwϋrdiger Mensch wahrgenommen wurde. Indem wir während des Treffens Sarah »ent-diagnostizierten« und Sarah ihre selbstgebildete Opfergeschichte erzählten, wurde Widerstand gegen das pathologisierende Fachnarrativ geleistet. Wir schrieben ihrem Zorn eine neue Bedeutung zu. Sie forderte schließlich von ihrem Partner, dass er ihr zuhören, ihr Leid mitfühlend bezeugen solle. So trug sie dazu bei, diese für sie wichtige Beziehung zu erhalten. Wie sie selbst im Weiteren beschreibt, leistet Sarah nach wie vor Widerstand gegen das Wiedererzählen des pathologisierenden Narrativs, wenn sie etwa sich der Art und Weise entgegenstellt, in der ihr Vater sie in Beziehung zu ihrem Partner charakterisiert. In diesem Zusammenhang erwähnt sie auch das innere Selbstgespräch, mit dem

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sie die negativen Selbstattribuierungen infrage stellt, die sie im Laufe der Zeit verinnerlicht hatte. Dies ist eine kognitive Form des intra-psychischen Widerstands gegen das pathologisierende Narrativ. Die Beschwerdeführung gegen den psychiatrischen Bericht stellt eine weitere, wichtige Widerstandshandlung gegen das Wiedererzählen des diagnostischen Narrativs dar.

Narrative Transformationen Sarah und ich wurden zu Ko-autorinnen verschiedener neuer Geschichten ihrer Person. Transformationen der Narrative gehen mit psychischer Veränderung und Veränderung in einer Reihe wichtiger Beziehungen einher. Ȥ Indem sie selbst die eigene Opfergeschichte erzählt, die reich an Erzählinhalten ihrer eigenen Erfahrung ist, kontextualisiert sie ihr Verhalten neu und lehnt damit die Individualisierung ihres Leidens und die negativen, opferbeschuldigenden Attribuierungen ab. Das mitfühlende Bezeugen dieser Geschichte im Helfer/innentreffen gibt ihr das Erleben der eigenen Humanität wieder; sie erlebt sich als vollwertiger Mensch, nicht mehr als Objekt oder Störungsträgerin. Dieses Narrativ stellt ihr Selbstwertgefühl, ihre Würde und das Empfinden, einen Anspruch auf würdevolle und gerechte Behandlung zu haben, wieder her. Die Struktur dieser selbstverfassten Opfergeschichte lässt sie dabei noch als passive Empfängerin der Handlungen Anderer erscheinen; die Geschichte berichtet noch nicht von ihrer Selbstwirksamkeit, ihren Stärken, Fähigkeiten oder von ihren zwischenmenschlichen Verbindungen und Ressourcen. Ȥ Durch die Inklusion von Aspekten ihrer Resilienz und ihres persönlichen Wachstums wird aus Sarahs Selbst-geschichte dann ein Überlebens- oder Survivor-Narrativ. Überlebensschilderungen sind viel reichhaltiger als Opfergeschichten. Ihr Zentralmotiv ist das Gedeihen trotz Misshandlung. Eine Geschichte des Gedeihens, der eigenspezifischen Reaktion auf Misshandlung, die auf die Ressourcen der Person hinweist, impliziert strukturell jedoch noch immer eine lineare Kausalität: die Umwelt beeinflusst die Person, aber die Person wird noch nicht in ihrem Einfluss auf diese beschrieben. Ȥ Praktikerinnen des politischen Widerstandes haben davon berichtet, wie sich Widerstandshandlungen transformativ auf die eigene Psyche auswirken. Der Initiatorin des Montgomery Bus Boykott, Rosa Parks zufolge geht mit der Entschlossenheit zu handeln und dem Wissen darum, was getan werden muss, die Angst zurück (Reed u. Parks, 1995). Eindrucksvoll schildert Frederick Douglass , der später zum wohl wichtigsten amerikanischen Aktivisten gegen die Sklaverei wurde, welche psychische Veränderung er

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in sich wahrnahm, nachdem er einen Sklavenhalter in einem Faustkampf davon abgehalten hatte, ihn auszupeitschen: This battle … rekindled the few expiring embers of freedom and revived within me a sense of my own manhood. It recalled the departed self-confidence and inspired me again with a determination to be free. … My longcrushed spirit rose, cowardice departed, bold defiance took its place; and I now resolved that, however long I might remain a slave in form, the day had passed forever when I could be a slave in fact« (Douglass, 2003, im Original 1845, S. 69).  ouglass konnte innerlich – »in fact« – kein Sklave mehr sein. Er unterD scheidet deutlich zwischen äußerer Unterdrückung und intrapsychischer Veränderung, die mit seinem Widerstand einhergeht. Dieser wirkt in sich befreiend, wird zum Agens emotionaler Veränderung. Er schildert, wie er im Widerstandshandeln Selbstvertrauen wiederfindet und seinem Handeln Bedeutung beimisst. Ich nenne ein Narrativ mit einer solchen Struktur ein Widerstandsnarrativ. Indem wir in ähnlicher Weise ein Widerstandsnarrativ entwickeln, sieht sich Sarah auf jene soziale Umwelt einwirkend, die sie beeinflusst. Das Narrativ wird rekursiv. Die Umdeutung ihres Zornes als ›Zorn der Gerechten‹ ermöglicht es ihr, den Affekt als natürliche Reaktion auf verletzende und schädigende Interaktion zu akzeptieren und hilft ihr, den Zorn zu kontrollieren, um ihn dann konstruktiv als Antrieb zum gewaltlosen Widerstand zu kanalisieren. Mit der emotionalen Selbstregulierung im Handeln erfährt sie Selbstwirksamkeit. Mit jeder Widerstandshandlung wird die vielschichtige Bedeutungsgebung im Widerstandsnarrativ bereichert. So soll z. B. die Beschwerdeführung gegen den psychiatrischen Bericht dazu beitragen, dass Mädchen in Zukunft in der Kinderpsychiatrie mehr Schutz erfahren und nicht aufgrund verletzender Schilderungen ihrer Person Schaden erleiden. In ihrem Widerstand wird sie zur sozialen Aktivistin.

Sarahs Perspektive Ein Leben lang habe ich zugehört, wie Leute mich auf eine Weise beschrieben haben, in der ich mich nicht wiedererkenne. Diese Geschichte fing schon an als ich noch sehr jung war. Mir ist klar, dass dies nicht immer in böser Absicht geschehen ist, manchmal war es nur fehlgeleitet und doch unglaublich schädlich.

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Ich habe Legasthenie. Während meiner ganzen Schuljahre hörte ich immer wieder, wie die Lehrer/innen von meinen ›Problemen‹ redeten, und wie ich bereits in früher Kindheit schwache Leistungen erbrachte. Sie versuchten meine Eltern vor falschen Erwartungen zu bewahren und sagten uns Dinge wie (ich würde) »nie wie normale Leute lesen können«, und dass ich mich daran gewöhnen solle. Jahre später sagte uns ein Psychiater, ich hätte eine in der Entstehung begriffene Borderline Persönlichkeitsstörung und Depression. Er sagte auch dass es zwar Therapien gäbe, die hilfreich sein können, wir müssten uns aber damit abfinden, dass ich ein Leben lang viele Medikamente brauchen würde. Meine Eltern klammerten sich an alles, was Lehrer/innen oder medizinische Fachleute sagten und definierten mich als Person mit diesen Geschichten. Meine Legasthenie hätte nichts ändern sollen außer der Art, in der ich in der Schule unterrichtet wurde, aber stattdessen wurde sie als etwas behandelt, das repariert werden müsse, und weil sie sich nicht reparieren ließ, war ich eben dumm. Auf die gleiche Weise hätten die psychiatrischen Diagnosen nicht die Leute um mich herum davon abhalten sollen, jedes ›Symptom‹ einzeln anzuschauen. In meinem Fall war dies schädigend, denn es gab den Leuten eine Begründung für mein Verhalten, anstatt die wirklichen Ursachen dafür anzugehen. Etwas war mit mir nicht in Ordnung, egal wie oft ich erklärte, warum ich mich so verhielt. Ich sagte, warum ich so wütend oder verstört war oder dass etwas mit mir gemacht wurde das ich nicht wollte, aber weil ich »psychisch krank« war, war das nur ein Teil meines Krankheitsbildes. Meine Familie, die Psychiater/innen und Therapeut/innen schauten nicht hinter die Diagnose um zu sehen, dass es wirkliche Gründe dafür gab, dass ich mich schnitt, dass ich als Kind bereits Alkohol trank, nicht schlafen konnte, vor Angst nicht funktionierte, oder warum ich solche Wutausbrüche hatte. Deshalb wurde von ihnen übersehen, dass all dies geschah, weil ich nicht wusste, wie ich all das was mir angetan worden war und noch immer angetan wurde, bewältigen könnte. Als ich mich immer weniger verhielt wie jemand mit einer Borderline- oder irgendeiner anderen diagnostizierbaren Störung, versuchten meine Eltern mit meinem weiblichen Geschlecht zu erklären, warum ich manchmal so emotional oder wütend war. So setzte sich das Narrativ fort, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Mein Leben lang bekam ich wiederholt gesagt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist, statt vor Missbrauch und Gewalt geschützt zu werden. Das hinterließ in mir das Gefühl, dass etwas Grundlegendes in mir nicht stimmte, dass ich es nicht wert sei, beschützt zu werden und einfach nicht gut genug sei. Ein Unterschied liegt darin, dass ich jetzt, nach einer Menge Therapie und Lernerfahrung merke, wie ich sogar unwillkürlich gegen diese Art von Narrativ Widerstand leiste. Ich weiß, dass ich nicht verändern kann, was meine Familien-

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angehörigen über mich denken oder welche Geschichten sie über mich erzählen wollen. Ich verstehe jetzt, dass die Art, in der ich mich in meiner Kindheit verhielt, eine normale Reaktion auf Dinge war, die mir angetan wurden, und dass ich nicht auf eine Weise beschützt und unterstützt wurde, wie jeder Mensch in einer ähnlichen Situation behandelt werden sollte. Auf gar keinen Fall bedeutete es, dass ich psychisch krank war. Vor einigen Tagen merkte ich zunächst gar nicht, wie ich bei einer Tasse Tee mit meinem Vater und einem Freund von ihm diesem Narrativ widerstanden habe. Er sagte zu seinem Freund: »Sarahs Partner ist ein Heiliger«. Diese Bemerkung traf bei mir wegen anderer früherer Bemerkungen darüber, wie er »meine Stimmungsschwankungen erträgt«, einen Nerv. An diesem Tag schaute ich meinen Vater einfach an, lächelte und sagte: »er ist kein Heiliger, er ist ein wirklich netter Mensch, aber er ist nicht mit mir zusammen, weil er ein Heiliger ist. Er ist mit mir zusammen, weil er mich liebt und mich auch großartig findet.« Meine Eltern tun mir jetzt nur leid dafür, dass ihnen in mir eine Person entgeht, die ziemlich OK ist. An diesen kleinen Widerstandshandlungen, die mir meistens gar nicht mehr so stark bewusstwerden, merke ich wie weit ich gekommen bin. Ich realisiere jetzt meinen Selbstwert. Ich habe Jahre gebraucht, um zu diesem Punkt zu gelangen, und gelegentlich merke ich, dass ich mir Sorgen mache, ich sei verrückt. Manchmal habe ich noch immer schreckliche Angst, aber ich kann mich jetzt selbst daran erinnern, dass nichts falsch an mir ist und dass ich OK bin. Ich weiß jetzt, dass ich mich auf meine Reaktionen und auf mich selbst verlassen kann. Ich akzeptiere die alte ›Sarah ist verrückt‹ – Geschichte nicht mehr, weil sie einfach nicht wahr ist; mit mir stimmt alles. Der Unterschied ist der, dass ich das vor der Therapie nicht hätte glauben können. Ich hätte viel weniger in mir die Stärke finden können, mich selbst zu schützen, mir selbst Rückversicherung zu geben und mich zu behaupten.

Schlussfolgerungen Die Ergebnisse einer Intervention, die narrative Therapie mit gewaltlosem Widerstand verbindet, sehe ich in erster Linie darin, dass Menschen mit Missbrauchserfahrung Ȥ die eigene Würde wieder erfahren, Ȥ Selbstwirksamkeitserfahrung entwickeln, Ȥ ein niedrigeres Angstniveau bzw. weniger psychophysiologische Erregtheit erfahren und damit weniger oder gar nicht mehr von sog. ›Traumasymptomen‹ belastet sind,

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Ȥ über eine verbesserte emotionale Selbstregulierung zunächst auch starke Affekte beziehungsstiftend im sozialen Nahraum in konstruktiven Widerstand gegen schädigendes Verhalten verwandeln können, und Ȥ stärkere zwischenmenschliche Bindungs- und Zugehörigkeitserfahrung erleben. Wie das Beispiel der Arbeit mit Sarah verdeutlichen sollte, handelt es sich bei einer solchen Therapie keineswegs um eine originär besondere Intervention, in welcher etwa die therapeutische Rolle besonders hervorgehoben ist. Es geht vielmehr um einen methodisch nachvollziehbaren, klar umrissenen Zugang, der von der Notwendigkeit ausgeht, dass der Therapeut entpathologisierend und zugleich aktivierend handelt, um ein sozial-ökologisches Unterstützungsnetzwerk zu aktualisieren. Er lädt die Klienten und ihre Unterstützer ein, ihre Widerstandspotenziale wahrzunehmen. Wie am Beispiel der Arbeit mit Sarah illu­ striert, halte ich die folgenden therapeutischen Handlungsaspekte für wirksam: Ȥ Die zeitliche Interpunktion der Narrative, denen die Person mit Misshandlungserfahrung ausgesetzt war, wird hinterfragt und aufgehoben. Das ermöglicht es zu identifizieren, wo auch im Hier und Jetzt noch Interaktionen stattfinden, die mit der Misshandlung assoziiert sind und schädigend wirken. Ȥ Wo solchermaßen schädigende Interaktionen sich nicht im sozialen Nahraum dialogisch verändern lassen, nimmt die Therapeutin eine unterstützende Position ein, die gewaltlosen Widerstand gegen konkrete Handlungsweisen und Kommunikationsmuster legitimiert. Ȥ Sollte der Klient konstruktiv Widerstandshandlungen leisten wollen, wird er bei der Planung und Ausführung solcher Widerstandshandlungen unterstützt. Hierzu bieten sich Methoden des gewaltlosen Widerstands nach Haim Omer (z. B. Omer u. von Schlippe, 2010) an, die auf die spezifische Situation angepasst werden. Ȥ Widerstand kann auch gegen das Erzählen schädigender Narrative im sozialen Nahraum geleistet werden. Ȥ Der Therapeut reflektiert sorgfältig die eigenen Haltungen (z. B. in der Supervision), um zu erkennen, inwiefern diese ein schädliches Leitnarrativ widerspiegeln, das sich negativ auf das Gegenüber auswirkt. Dies kann dazu führen, dezidiert die eigene Positionierung zu verändern. Ȥ Er/sie schafft Gesprächsraum für ein flexibles ›Wandern‹ zwischen verschiedenen Narrativen der Person. Ȥ Ein neues Opfernarrativ wird in Ko-Autorschaft zwischen Klientin und Therapeut entwickelt, das Raum für Selbstwahrnehmung (auch Körperwahrnehmung) schafft und viele verschiedene Perspektiven der Person zulässt.

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Ȥ In diesem neuen Opfernarrativ werden bestimmte Affektäußerungen, z. B. Zorn, als nachvollziehbare und möglicherweise gesunde emotionale Reaktionen auf weiterhin stattfindende, schädigende Interaktionen umgedeutet, statt als Elemente eines Störungsbildes. Damit eröffnet sich ein Gesprächsraum für die Entwicklung eines Widerstandsnarrativs. Ȥ Die Verteidigung des selbsterzählten Opfernarrativs kann als Widerstandshandlung verstanden werden und so in ein neues Widerstandsnarrativ einfließen. Ȥ Der Aufbau einer aktiv handelnden Unterstützer/innengruppe kann Bestandteil der therapeutischen Arbeit sein; Ȥ Der Therapeut sorgt in der Unterstützer/innengruppe für Gesprächsraum, der die Legitimierung des selbsterzählten neuen Opfernarrativs und damit mitfühlendes Bezeugen ermöglichen soll. Das gemeinsame Planen aktiver Handlungen in der Gruppe eröffnet den Übergang zum Widerstandsnarrativ. Ȥ Konkrete Widerstandshandlungen der Klientin werden hervorgehoben, um die Entwicklung eines Widerstandsnarrativs zu unterstützen, das die Selbstwirksamkeitserfahrung der Person stärkt. Wichtig ist auch, dass diesen Handlungen im therapeutischen Gespräch Bedeutung beigemessen wird. Dieses Widerstandsnarrativ kann wiederum in das narrative Geflecht im sozialen Nahraum um die Person eingewoben werden. Die Integration von narrativer Therapie und gewaltlosem Widerstand ist kein Allheilmittel für Trauma; sie ermöglicht m. E. jedoch eine Synergie, die über die Grenzen jedes der einzelnen Ansätze hinausreicht. Wenn eine Person, die traumatische Verletzungen erlebt, eigenständig in der Therapie verschiedene Narrative des Selbst hervorbringen kann, eröffnen sich verschiedene neue Positionen, zwischen denen sie sich flüssig bewegen kann. Die ›Patientin‹, der im Wortsinn gegenüber gehandelt wird, kann sich hin zu einer Position bewegen, in der sie sich selbst als Leidende definiert, um sich schließlich als Handelnde zu erkennen. Heilung kann in diesem Bewegungsraum ihren Verlauf nehmen.

Schlusswort Ich fühle mich privilegiert, Sarah in ihrem Heilungs- und Widerstandsprozess begleitet haben zu können und möchte ihr dafür danken, dass sie uns da Beziehungsreparatur ermöglicht hat, wo ich Fehler gemacht hatte. Ich danke ihr auch für ihren Beitrag zur Entwicklung eines Verständnisses von Therapie, das sich jenseits von ›Behandlung‹ bewegt. Ihr Mut kann andere Menschen

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mit Missbrauchserfahrung dazu inspirieren, zu Protagonistinnen ihrer eigenen, selbsterzählten, sich wandelnden Lebensgeschichte zu werden.

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»Ja, denn ich lebe generell schon jetzt ein sess­ haftes Leben«: Ambiguität(en) in Erzählungen von Familien mit einer Vertreibungsgeschichte JULIA HILLE, KATARZYNA GDOWSKA, MILENA KANSY und MARIA BORCSA

Ausgangspunkt unserer Forschung »Transgenerationale Effekte auf Familien nach Zwangsmigration. Was lässt sich aus Geschichte(n) lernen?«1 sind die Erfahrungen der Flucht und Vertreibung von deutschen und polnischen Familien nach dem zweiten Weltkrieg. Kriegserlebnisse können Familienleben über Generationen hinweg beeinflussen (u. a. Radebold et al., 2009; Wiegand-Grefe u. Möller, 2012). Im wissenschaftlichen Diskurs werden besonders zwei dominante Narrative verhandelt, die diese existenzielle Erfahrung generationenübergreifend beschreiben und bewerten: Trauma (bspw. Bachem, 2019; Sangalang u. Vang, 2017) auf der einen und Resilienz (Schier, 2018; Collette u. Ungar, 2020; Goodman u. West-Olatunji, 2008) auf der anderen Seite. In unserer Forschung zu Familien nach Zwangsmigration ist auffällig, dass nicht nur das eine oder das andere Narrativ vorhanden ist. Es gibt eine Bandbreite von Beschreibungen, die zwischen diesen beiden Polen (Trauma und Resilienz) changieren und sich nicht im dualistischen Sinne verfügbar machen. Die Beschreibungen, insbesondere wenn sie spontan von verschiedenen Familienmitgliedern geäußert werden, widersprechen sich, diskutieren miteinander, streiten und verbünden sich, um nur für kurze Zeit zu erkennbaren eindeutigen Aussagen zu kommen. Dieser konstruktive Prozess verdeutlicht die Ambiguitäten der Erzählungen in den Familien und ihren Familienmitgliedern, welche wir anhand von zwei Familieninterviews darstellen.

1 Das transnationale Forschungsprojekt steht unter der Leitung von Prof. Dr. Maria Borcsa (Hochschule Nordhausen, Deutschland) und Dr. Bernadetta Janusz (Medizinische Fakultät, Jagiellonian Universität Krakau, Polen). Wir bedanken uns beim ganzen Forschungsteam für die anregende Zusammenarbeit und besonders bei Prof. Dr. theol. habil. Paweł Landwój­towicz und Ernst Busse für die Vermittlung der Familien.

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Zwangsmigration als Thema in Familien: Erfahrungen – Erzählungen – Narrative Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen haben Wellen von Zwangsmigration2 hervorgerufen (Kossert, 2009). Unter anderem wurde die Bevölkerung aus kulturellen Grenzgebieten wie Oberschlesien (heute Polen) und den polnischen Ostgebieten (heute u. a. Ukraine) von Zwangsaussiedlungen erfasst, die aus der veränderten geopolitischen Ordnung nach dem Krieg resultierten (Czerniakiewicz u. Czerniakiewicz, 2005). Flucht und Vertreibung erfolgten in neue Gebiete, die diesen Menschen unbekannt waren (Nieć, 2006). Im Fall der Bevölkerung aus Schlesien waren das deutsche Gebiete im Westen (Świder, 2014), im Fall der Bevölkerung aus den polnischen östlichen Randgebieten3 waren das Gebiete an den westlichen Rändern des Landes, die noch vor nicht allzu langer Zeit zu Deutschland gehört hatten (Świder, 2015). Das Erleben der leidvollen Ereignisse im Kontext der Zwangsmigration und die Erzählungen, die darüber kommuniziert werden, strukturieren künftige Interaktionen und Kommunikationen (Oestereich, 2005). Obwohl Erfahrung und Erzählung eng miteinander verbunden sind, können sie nicht gleichbedeutend verwendet werden (Freeman, 1998). Durch das Erzählen von Geschichten teilen Menschen ihre Erfahrungen mit sich selbst und mit Zuhörenden. So tauchen Erfahrungen als kommunizierte Erzählung auf und gewinnen dadurch an Bedeutung (Koenig Kellas u. Trees, 2006). Das Erzeugen von Bedeutung findet im Verlauf des Erzählens statt – durch die Auswahl bestimmter Geschichten, durch die Wahl der Ausgangspunkte, der Handlung, der Akteure und ihren Rollen. Am Ende dieses Prozesses entsteht eine Erzählung. Das Ereignis der Flucht und Vertreibung stellt somit eine Erzählung dar, die von der ältesten Generation

2 Migrantinnen und Migranten sind laut dem UN Migration Report »Personen, die nicht mehr in ihrem Geburtsland leben« (UN Migration Report 2017). Kommt es infolge von Kriegshandlungen, Bombardierung, Folter, sexueller Gewalt und Terror zu Flucht, Vertreibung und Deportation kann entsprechend von Zwangs- und Gewaltmigration gesprochen werden (Nikendei et al., 2017). 3 Im September 1939 fiel der damalige Osten von Polen (Kresy) im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes unter sowjetische Besetzung. Im Juni 1941 besetzten deutsche Truppen für knapp drei Jahre die Kresy. Bis Juli 1944 konnte die Truppen der Sowjetunion die im Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 festgelegte Grenze (zurück)erobern, die größtenteils der heutigen Ostgrenze Polens entspricht. Nach Kriegsende wurden die rund 1,8 Millionen in den Kresy lebenden polnische Staatsbürger aufgefordert, freiwillig in den Westen zu ziehen, sonst mussten sie mit Zwangsumsiedlung rechnen (Świder, 2015).

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erlebt und in die nachkommenden Generationen getragen wurde und wird (siehe Beitrag von von Schlippe in diesem Band). Eine systemische Perspektive auf Erzählungen als relationalen Prozess zeichnet sich durch eine dialektische Bewegung zwischen offenem Erinnern und Vergessen und zwischen Erzählen und Schweigen aus (De Haene et al., 2018). Die Erfahrungsdarstellung von einer Person ist nicht statisch, sondern dynamisch und verändert sich im Laufe des Lebens durch »die Bedeutung, die dem Erlebten und Erinnerten zukommt, durch die eigene persönliche Entfaltung und das sich verändernde Verhältnis zu jüngeren Generationen, im Bezug dazu, wie sich öffentliche Thematisierungen und Rahmungen der erlebten und erinnerten Ereignisse im Zeitkontext und in sozialen Zusammenhängen jeweils gestalten« (Inowlocki, 2017, S. 40). Die Erzählungen verselbständigen sich mit der Zeit und werden zu eigenen Geschichten jedes Familienmitgliedes. Dadurch verändern sich auch die Darstellungen und der Umgang des Erzählten bei den nachfolgenden Generationen (Hildenbrand u. Jahn, 1988). Erzählungen über leidvolle Ereignisse werden innerhalb sozialer und kultureller Kontexte konstruiert, die oft bestimmen, woran erinnert und wie es interpretiert wird. Sie werden von Individuen, Familien, Gemeinschaften, Nationen und so weiter konstruiert. Wie Foucault (2003) hervorhebt, bringen die Erzählungen der dominanten Gruppe oft die Erzählungen anderer Gruppen zum Schweigen oder mindern ihren Wert, d. h. sie schließen das Wissen kleinerer Gruppen oder anderer Menschen aus und schränken ein, was öffentlich diskutiert werden darf und wird. Zwangsmigration und Vertreibung werden bereits im öffentlichen Diskurs diskutiert, dabei oft als historisches Trauma markiert und dadurch zu einem allgemeingültigen Narrativ konstruiert (Mohatt et al., 2014, Kossert, 2009). Als zweites dominantes Narrativ hat sich die Bewältigung dessen, Resilienz, herausgebildet (Schier, 2018; Goodman u. West-Olatunji, 2008). Die beiden großen Narrative können als kultureller oder sozialer Bezugsrahmen dienen, um Bedeutung zu konstruieren und einen Diskurs zu etablieren (Hinyard u. Kreuter, 2007). Sie haben einen Einfluss auf das, was erzählt wird. Trauma und Resilienz beschreiben hierbei Effekte. Sie beruhen nicht auf objektiven Fakten oder den entsprechenden Ereignissen, sondern auf deren internen Repräsentationen (Mohatt et al., 2014). Darüber hinaus sind diese beiden Begriffe im alltäglichen Sprachgebrauch insoweit angekommen, dass sie zu einem kulturellen Deutungsmuster geworden sind, um Erlebnisse und Erfahrungen benennen und beschreiben zu können (Inowlocki, 2017). Somit sind die Begriffe auch als Instrumente zur »Analyse gesellschaftlicher Gegebenheiten« (Schult, 2020, S. 42) zu verstehen. Dadurch, dass die Begriffe Trauma und Resilienz im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet werden, sind sie zu

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dominanten Narrativen geworden, die Polaritäten beschreiben und in soziale sowie kulturelle Diskurse eingebettet sind (Hinyard u. Kreuter, 2007).1

Fallbeispiele: Die Einzigartigkeit(en) von Erzählungen in Familien Wie Familien ihre Erzählungen konstruieren, wird nun anhand zweier Familien, die im Kontext des genannten Forschungsprojektes interviewt wurden2, beleuchtet. Die beiden Frauen Irma und Aniela3 wurden nach dem zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben4. Beide Frauen (und ihre Nachkommen) sind durch einen bestimmten Ort in Górny Śląsk/Oberschlesien miteinander verbunden. Irma musste diesen Ort nach dem zweiten Weltkrieg verlassen, für Aniela wurde derselbe Ort nach der Vertreibung ein neues Zuhause. Mit beiden Frauen und ihren Nachfahren wurde jeweils ein Familieninterview durchgeführt. Grundsatz des gesamten Forschungsprojektes ist es, keinen methodologischen Nationalismus (Beck u. Beck-Gernsheim, 2010) zu bedienen, in dem es um Unterschiede im Nationenvergleich geht, sondern die strukturellen und lebenszyklischen Ähnlichkeiten der Familien in den Mittelpunkt zu rücken.

»… hat auf uns überhaupt nicht abgefärbt« – Irma und ihre Familie Irma, geboren 1933, lebt in einem Ort in Niedersachsen (Deutschland). Irma verbrachte ihre Kindheit mit ihren fünf Geschwistern in dem kleinen Ort N. in Oberschlesien/ Górny Śląsk. Ihr Vater war Beamter im Schulwesen, die Mutter kümmerte sich um die Kinder und das Haus. In O., wo sie 1946 als Dreizehn1 Es wäre umfassender zu untersuchen, welche alternativen Erzählstrukturen durch die bevorzugte Bezugnahme auf »Trauma« und »Resilienz« verdeckt werden. 2 Die Familieninterviews wurden von systemisch ausgebildeten Interviewerinnen erhoben und rekonstruktiv mit der Objektiven Hermeneutik (Oevermann, 2002; Borcsa, 2016) ausgewertet. Alle Namen und Orte sind anonymisiert. Die Aussagen wurden zur besseren Lesbarkeit sprachlich geglättet und gekürzt. 3 Wir haben uns entschieden, nur anonymisierte Vornamen der Familienmitglieder zu verwenden. Uns sind die unterschiedlichen Anredepraktiken in Polen und Deutschland und dessen mögliche Implikationen jedoch bewusst. 4 Forschungen mit in der Nachkriegszeit aus der Kresy Vertriebenen zeigen, dass die Erinnerung daran vor allem von Frauen weitergegeben wird, so dass die emotionale und axiologische Bedeutung der Vertreibung auf der weiblichen Linie in den Familien im heutigen Polen beruht (Głowacka-Grajper, 2018).

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jährige mit ihrer Mutter nach der dritten Vertreibung in Güterwaggons nach mehreren Wochen ankam, ging Irma in die Mittelschule. Später absolvierte sie eine Ausbildung als Sekretärin und arbeitete daraufhin in einem mittelständischen Unternehmen. Ihren Mann, ebenfalls ein Vertriebener, lernte sie 1957 kennen. Gemeinsam haben sie vier Kinder. In einem Haus lebt sie, ihr Mann ist bereits verstorben, nun in getrennten Wohnungen mit ihrer jüngsten Tochter Judith (58 Jahre), deren Mann Bernd (51 Jahre) und deren gemeinsamen Tochter Lisa (18 Jahre). Judith und Bernd arbeiten beide in Heilberufen. Lisa steht kurz vor ihrem Abitur. Das Familiengespräch mit Irma, Judith, Bernd und Lisa fand in der Wohnung von Irma statt. Geleitet durch die Fragen wurde zuerst über das regelmäßige Zusammenkommen der Familienmitglieder gesprochen: Feiertage, Geburtstage, Sonntage oder Grillfeste im Sommer sind besondere Anlässe, bei der sich die große Familie trifft. Hierbei wird der starke Zusammenhalt von allen betont. Da die fünf Anwesenden in einem Haus leben, sehen sich diese regelmäßig zum Abendessen. Der starke Zusammenhalt in der Familie wird an Irma, die von ihrer Enkeltochter als gutmütige und hilfsbereite Großmutter beschrieben wird, festgemacht. Daraufhin entspinnt sich folgender ­Dialog: Bernd:  Sie hat ja schon schwere Kriegstraumata gehabt, ne. Neben der Vertreibung, der Vater im Internierungslager gestorben, zwei ältere, sehr vielversprechende Brüder. Es war genauso eine Großfamilie, wie jetzt, gefallen. Der jüngere Bruder an der Hand auf eine Mine getreten. Keiner da, der sie da unterstützt hat, mit zwölf, dreizehn Jahren, also jünger als Lisa war. Und trotzdem ist sie so eine gefestigte Persönlichkeit, die wieder so viel Freude ausstrahlen kann und praktisch ihrerseits wieder so eine tolle Familie gegründet hat. Also diese Resilienz, die sie mitgekriegt hat, das ist schon bewundernswert, ne. Das ist schon, bis heute. Also man kann es ja sagen mit 88 Jahren hat sie bei uns noch unten die Wände tapeziert. Also das ist schon also unheimlich pragmatisch. Also sie, da kann kein Handwerker hier ein X für ein U vormachen, da passt sie genau auf. Ehm sehr, sehr pragmatisch. Aber was mich am meisten beeindruckt, ist eben diese, diese Fröhlichkeit, die sie weitergibt, trotz dieser vielen Traumata. Das wird reflektiert. Aber es ist kein Groll da, ne. Irma:  Ich hatte das jetzt auch schon völlig abgeschlossen diese traurige Zeit. Die die äh als ich aufgehört habe, zu schreiben da, ich denke oft daran. Ich habe ja die vielen Bilder. Die erinnern an solche Sachen, ne. Bernd:  Ja aber das können wir uns gar nicht vorstellen, wenn einer in unserer Familie jetzt äh tot wäre. Und das waren drei bis vier, die gestorben sind. Neben dem Verlust der der materiellen Dinge sind auch viele Familienmitglieder gestorben,

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junge Familienmitglieder gestorben. Und das äh sagen wir mal hat auf uns überhaupt nicht abgefärbt. Null. Also im Gegenteil, es ist eher für uns ermutigend, ne.

Es zeigt sich, dass Irma über ihre Erinnerungen über den Krieg, die Flucht und Vertreibung mit ihren (Schwieger-)Kindern und Enkelkindern immer wieder im Gespräch war und ist. Sie hat sich nicht verwehrt, auch über sehr leidvolle Erlebnisse zu sprechen. Bernd stellt Bezüge von der damaligen zur heutigen Familie her und holt somit die thematische Auseinandersetzung in die Gegenwart hinein. Er identifiziert sich hier stark mit der Familiengeschichte seiner Frau, was sein Gefühl der starken Eingebundenheit in diesen Familienstrang verdeutlicht. Die Begriffe Trauma(ta) und Resilienz werden hier vom Schwiegersohn eingeführt, indem er den Verlust, den Irma erlitten hat, erläutert. Hier zeigt sich sein heilberufliches Wissen. Er verwendet den Trauma-Diskurs, um prozesshaft zu beschreiben, wie stark er Irmas Persönlichkeit heute empfindet. Er konstruiert seine Schwiegermutter als resiliente Person, zu der sie sich nach den leidvollen Erfahrungen entwickelt hat. Der Pragmatismus und die Fröhlichkeit seiner Schwiegermutter werden als etwas Außergewöhnliches aufgeführt und als Beleg der Resilienz festgemacht. Ihr reflexiver Umgang mit dem leidvollen Geschehen wird von ihm ebenfalls in diesem Sinne markiert. Dies ist für ihn zusammenfassend eher »ermutigend«. D. h. der Prozess der Auseinandersetzung von Irma, bei der sich aus der Sicht von Bernd nicht die Auswirkungen der Traumata verfestigt haben, sondern sich eine resiliente Haltung entwickelt hat, wirkt sich positiv auf die jüngeren Generationen aus. Judith sieht »das Abfärben« etwas anders als ihr Mann: Judith:  Ja, das hat sie uns als Kinder oft erzählt. Und irgendwie habe ich auch so in Erinnerung, dass du immer von irgendwelchen Tannenbäumen in der Luft gesprochen hast oder Bomben runterkamen. Ich fand das immer ganz gruselig so als Kind und habe dann auch davon geträumt, weil sie das immer so erzählt hat.

Judith verdeutlicht hier, dass ihre Mutter schon vom Krieg und der Vertreibung erzählte, als sie noch ein Kind war. Retroperspektivisch beschreibt Judith dies als »gruselig« und verarbeitete es in ihren Träumen. Die Frage steht im Raum, ob sie das als Kind wirklich hören wollte bzw. ob sie es nun als Erwachsene nicht passend findet, Kinder mit Erinnerungen zu belasten. Der Prozess der emotionalen Transmission von Eltern auf ihre Kinder wird hier als Gegenstück zu Bernds Sichtweise der positiven Verarbeitung benannt. Lisa verdeutlicht an einer weiteren Stelle ihre Gedanken über eine mögliche transgenerationale Weitergabe der Verarbeitung der Vertreibung:

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Lisa:  Ich glaube tatsächlich, dass das nicht unbedingt große Auswirkungen auf mich hat. Also sie hat mir das erzählt aber ich glaube nicht, dass das auf mein Wesen jetzt unbedingt Auswirkungen hatte. Ich denke, es [mein Leben] wäre genauso verlaufen, oder ähnlich.

Im Gegensatz zu ihrem Vater, der die Narrationen über die Vertreibung als ermutigend empfindet, betont seine Tochter Lisa, dass die Vertreibung bzw. die Erzählungen darüber keinen großen Einfluss auf ihr Leben hat. Die Auswirkungen beziehen sich hier auf ihr »Wesen«, d. h. der Vertreibungsgeschichte ihrer Großmutter gibt sie keinen direkten Einfluss auf ihre Persönlichkeit. Andere Auswirkungen schließt sie jedoch nicht kategorisch aus. Somit positioniert sich Lisa als Entscheidungsträgerin, auch im Hinblick darauf, inwieweit die Familiengeschichte für sie ein (aktuelles) Thema ist oder vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt noch werden kann. Während in der Familie von Irma dominante Narrative explizit verwendet wurden, erfolgt in der nun folgenden Familie die Beschreibung eher durch implizite Sprachwendungen.

»Alles in einem Zug« – Aniela und ihre Familie Aniela ist 90 Jahre und lebt in N. (Górny Śląsk/Oberschlesien). Als 14-Jährige musste sie zusammen mit ihren Eltern und den drei Geschwistern L. (Kresy, heute Ukraine) verlassen. In L. war die Familie sehr angesehen und bewohnte eines der wenigen Backsteinhäuser der Stadt. Während der Vertreibung 1945 war Anielas Mutter mit ihrem jüngsten Bruder schwanger. In einem Zug, der sie von L. nach N. brachte, hatten sie zwei Waggons zur Verfügung: ein Waggon für die Tiere und ein Waggon für die ganze Familie und ihren Habseligkeiten. In N. schloss Aniela die Schule ab und arbeitete daraufhin auf Bauernhöfen. Sie heiratete mit 18 Jahren ihren Mann, der ebenfalls aus L. vertrieben wurde. Mit 19 Jahren wurde sie zum ersten Mal Mutter. Insgesamt hat sie zwei Söhne. Der Ältere lebt in einer größeren Stadt nicht weit von N. und arbeitet dort im akademischen Bereich. Der jüngere Sohn blieb auf dem Hof der Familie in N. und arbeitet als Verwaltungsangestellter in einem lokalen Unternehmen. Ihr ganzes Leben lang hat Aniela den Haushalt geführt und auf einem Bauernhof gearbeitet. Ihr Ehemann starb vor 15 Jahren. Das Familiengespräch fand im Haus von Anielas jüngerem Sohn (Piotr, 66 Jahre) statt. Neben Aniela und Piotr war Nina (31 Jahre), die Tochter von Piotr, anwesend. Während des Gesprächs mit der Interviewerin sind Sabina (60 Jahre, Piotrs Frau), Marek (36 Jahre, älteste

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Sohn von Piotr) und Kalina (34 Jahre, Verlobte von Marek) temporär präsent. Das Familiengespräch fand zwei Monate vor Piotrs Pensionierung und sechs Monate nach Ninas Auszug statt. Eines der vielen angesprochenen Themen handelte vom »Sesshaft werden« der jüngsten Generation. Piotr wünscht sich, dass alle seine Kinder sesshaft sind, doch die Diskussion mit Nina sorgt für besondere Spannungen. Im Verlauf des Gesprächs wird die Frage des SesshaftWerdens mit den Erzählungen über die Vertreibung verknüpft. Daraufhin entspinnt sich folgender Dialog:5 Piotr:  Das ist ein sehr schwieriges Thema, weil ich persönlich zum Beispiel, wie würde ich das empfinden? Interviewerin:  Wie würden Sie es empfinden? Piotr:  Sehr negativ, denn heute das Haus einfach so zu verlassen, praktisch alles zu verlassen und auszuwandern, niemand weiß wohin, unter Zwang. Das ist nicht gut. Und mit Gewalt. Ja, das ist interessant. Sicherlich haben einige Menschen sich Krankheiten eingefangen, verschiedene andere schwierige Situationen, weil sie in einem Waggon zusammengefahren sind, dort war alles zusammen; es gab ein Pferd, es gab Kühe, es gab Menschen. Aniela:  Nein, Pferde und Kühe, die hatten immer ihren eigenen, das heißt einen offenen Waggon. Sabina:  Aber in einem Zug war alles. Aniela:  Alles in einem Zug. Eng war es. Piotr:  Es war nicht nur, dass es eng war, sondern es war ein sehr schwieriges Erlebnis.

Anielas Sohn Piotr markiert das Thema der Vertreibung aus L. als »ein sehr schwieriges Thema«. Durch das Stellen einer Frage an sich selbst übernimmt er die Rolle der Interviewerin und legt die Rahmung für die weiteren Überlegungen fest. Es schafft einen Raum für Reflexivität für sich und zeigt seine emotionale Verwobenheit zu dem »schwierigen Thema«. Mit seinen Äußerungen darüber, dass man alles hinter sich lassen und ins Ungewisse gehen musste, bestätigt er sich selbst seine belastende Einstellung zu dem Thema. So führt er das Verlassen-müssen von Dingen in der Vergangenheit und die Aussicht auf eine Zukunft ein und beschreibt dabei ein Gefühl des Verlustes. Der Verlust rückt mit seiner Feststellung, dass »einige Menschen sich Krankheiten ein-

5 Wir bedanken uns bei Jacek Lachner für die Übersetzung der polnischen Sequenzen. Aus Platzgründen haben wir uns entschieden den polnischen Originaltext nicht mit aufzunehmen.

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gefangen« haben näher an die Trauma- oder zumindest Krisendeutung heran. Er nennt aber dabei nicht explizit seine Mutter. Um die Erzählungen über die Vertreibung zu beschreiben, wählt er die Transportgeschichte. Er beschreibt bildhaft (»dort war alles zusammen; es gab ein Pferd, es gab Kühe, es gab Menschen«) eine Szenerie, in der es keine Unterscheidung zwischen Mensch und Tier gibt. Piotrs Erzählung, die bei einem »schwierigen Thema« beginnt und sich zu einer enormen Belastung entwickelte (u. a. durch den Einbezug des Wortes »Gewalt«), verdeutlicht seine emotionale Verwobenheit zu diesem Thema. Aniela widerspricht ihm. Ihr zufolge gab es Grenzen, denn Tiere und Menschen reisten »immer« getrennt. Sie verdeutlicht, indem sie die Korrektur vornimmt, die Wissende der Erfahrung zu sein und nicht er – er wird als jemand positioniert, der lediglich durch Erzählungen informiert ist und zu diesen etwas empfindet. Sie vollzieht mit dieser Richtigstellung auch eine Normalisierung der Umstände, die Piotr mit Emotionalität belegt hatte. Piotrs Frau Sabina übernimmt eine vermittelnde Rolle, indem sie die Geschichte ihres Mannes mit der Geschichte ihrer Schwiegermutter verknüpft. Aniela kann dies akzeptieren und fügt noch eine eigene Erfahrungsbeschreibung (»eng war es«) hinzu. Mit den Worten »nicht nur, dass es eng war, sondern es war ein sehr schwieriges Erlebnis« erkennt Piotr die Erfahrung seiner Mutter an und fügt erneut eine emotionale Beschreibung hinzu. Gleichzeitig bekräftigt er seinen Standpunkt über die essentielle Bedeutung der Vertreibung. Das Gespräch geht wie folgt weiter: Interviewerin:  Echt, das ist interessant, welche Geschichte sie darüber haben. Ich weiß nicht, wie spricht man darüber in Ihrer Familie. Piotr:  Weiß ich das? Sabina:  Es gab Umsiedlungen. Piotr:  Es wurde immer »zu den verbrannten Dörfern« gesagt, weil sie hier verbrannt wurden. Zu einem verbrannten Dorf. Interviewerin:  Sie sprechen über etwas schrecklich Wichtiges, über eine solche Erfahrung. Piotr:  Eine traurige Erfahrung. Bei uns sprach man die ganze Zeit, dass es nur zwei Wochen dauern wird und wir danach zurückfahren werden, wir kehren zurück.

Es findet in dem Moment eine Aushandlung darüber statt, wie »es« benannt wird, was möglicherweise darauf schließt, dass es sich um kein alltägliches Thema handelt. Piotrs Frage an sich selbst verdeutlicht dies. Der bekannte und

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im historischen Diskurs in Polen weit verbreitete Begriff »Umsiedlung« wird von der Schwiegertochter Sabina eingeführt. Die Antwort – »Umsiedlung« – bleibt nicht lange im Raum und dient dazu, die Rolle in ein anderes Segment der Erinnerung und Ausarbeitung der Familienerinnerungen zu übertragen. Die weitere Phrase »es wurde immer […] gesagt« deutet darauf hin, dass nun ein Ausschnitt aus einer Familienerzählung wiederholt wird. Die verhandelte Erzählung ist voller unbestimmter und nicht determinierter Bedeutungen und oszilliert zwischen Verlust, Krankheit und Hoffnung, Stärke. Es ist auch eine Szene des Teilens der leidvollen Erzählungen, ohne auf die ultimativen Narrative Trauma und Resilienz zu verweisen. Auch die dritte Generation, vertreten durch Nina, spricht nicht explizit die großen Narrative aus, sondern verwendet implizitere Beschreibungen. Dies zeigt sich an dem Thema des Sesshaft-Werdens, was bereits vorher angesprochen wurde. Nina:  Ja, denn ich lebe generell schon jetzt ein sesshaftes Leben. Es sieht ein bisschen so vielleicht aus, dass meine Oma hierhergekommen ist, sie musste alles neu aufbauen. Und es sah so ein bisschen aus, als ob sie alles von Anfang an begonnen haben, von vorne anfangen, dass sie ein Leben gehabt hatten, das ganz ausgelöscht wurde, sie sind hierhergekommen, sie mussten alles noch einmal anfangen. Und du Papa, du ja auch sozusagen als du geboren bist und du hast an einem neuen Ort gelebt, als ob, ich weiß nicht, mir scheint es so zu sein. Und siehst du, du hast dir auch ein Zuhause gebaut, das heißt, du hast dir eigenes Eigentum geschaffen, um dich niederzulassen und Wurzeln zu schlagen.

Nina spricht die impliziten und expliziten Formulierungen der älteren Generationen an, was sesshaftes Leben bedeutet. Ihr »ja, denn ich […] generell jetzt« deutet auf den Übergang hin, in dem sie sich befindet; dass sie bisher ein anderes Leben gelebt hat und nun »irgendwie« ein »sesshaftes Leben« lebt, welches aber möglicherweise nicht dem »Sesshaften« im Sinne von Vater und Großmutter entspricht. Dabei erklärt sie aus einer historischen Perspektive heraus, weshalb es zu einem wichtigen Thema für die zweite und erste Generation geworden ist. Sie findet dabei Ähnlichkeiten, da sie beide alles neu aufbauen mussten: der ersten Generation wurde das Leben »ausgelöscht« und die zweite wurde auf dem neuen Boden »geboren«. Sie unterstreicht in ihrer Darstellung, dass es sich um deren Erfahrungen handelt und nicht ihre. So findet sich hier der Prozess der Differenzierung und gleichzeitig der Prozess der Schaffung einer gemeinsamen Erzählung über Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Generationen.

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Ambiguitäten in den Erzählungen der Familien(-mitglieder) Schaut man sich nun kontrastiv beide Familien an, so ist der Umgang mit den Narrativen different. Irmas Familie bedient sich direkt und auf expliziter Ebene der dominanten Narrative (Trauma und Resilienz), ohne dass die Interviewerin nach deren persönlicher Bedeutung fragte. Die Familie von Aniela verwendet Beschreibungen, die nicht determiniert sind. Die Nicht-Bestimmtheit zeigt sich in den verwendeten Adjektiven (anstelle von Substantiven), in der Suche nach den passenden Worten, der Einigkeit und gleichzeitig der Uneinigkeit unter den Familienmitgliedern über die »Tatsachen« während der Vertreibung. Über die Nicht-Verwendung der Narrative hinaus, werden im Umgang mit den Erzählungen über die Vertreibungen weitere Perspektiven sichtbar, die nicht immer eindeutig festzulegen sind. In Irmas Familie ist offensichtlich, dass über die Vertreibung offen im Alltag gesprochen wurde. Die Verwendung von klaren und eindeutigen Formulierungen beschreiben anschaulich die leidvollen Erfahrungen von Irma. In Anielas Familie wird der Prozess der Vertreibung nicht eindeutig benannt. Die Bezeichnungen sind weniger gesetzt und befinden sich im Aushandlungsprozess. Sowohl die Verarbeitung der leidvollen Erfahrung als auch die Aushandlung der Erzählungen über die Vertreibung erscheinen in den beiden Familien mehrdeutig. In Anielas Familie wird verhandelt, wie vergangene Erfahrungen jetzt beschrieben und begrifflich gefasst werden können und wie sie mit der Gegenwart verbunden sind. In der Familie von Irma geht es um die Vielschichtigkeit, wie eine Person wahrgenommen wird und inwieweit dies Auswirkungen auf die heutige Generation hat. Es zeigt sich eine Vielstimmigkeit in der Fokusfestlegung, wenn über die Vertreibung erzählt wird. In beiden Familien sind die direkten Zeitzeuginnen Aniela und Irma nicht immer die Haupterzählerinnen. Die folgenden Generationen werden zu Nacherzählerinnen verschiedener Aspekte der Geschichten, die von verschiedenen Mitgliedern der vorherigen Generationen, sowohl von den Lebenden als auch von den Verstorbenen, weitergegeben wurden. Die Erfahrungsdarstellung ist, wie bereits aufgeführt, zirkulär und prozesshaft zu sehen (Inowlocki, 2017). Die Erzählungen der vertriebenen Frauen verselbständigen sich mit der Zeit und werden zu eigenen Geschichten jedes Familienmitgliedes. Dadurch verändern sich auch die Darstellungen und der Umgang des Erzählten bei den nachfolgenden Generationen (Hildenbrand u. Jahn, 1988). Interessant ist dabei die vielfältige Wahrnehmung der zweiten Generation. Während die Kinder der Vertriebenen ihre emotionale Eingebundenheit verdeutlichen, nehmen die Angeheirateten eine distanziertere Rolle ein. Besonders Bernd, der Ehe-

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mann von Judith, nimmt durch eine Art der Diagnostizierung (Traumata, Resilienz) eine distanziertere Rolle ein und kann dadurch andere Perspektiven aufzeigen. Judith, selbst im heilberuflichen Kontext tätig, greift darauf nicht zurück. Sabina, die Ehefrau von Piotr, kann durch ihre Position eine vermittelnde Rolle einnehmen, um die unterschiedliche emotionale Verbundenheit von ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter wieder einander näher zu bringen; die beiden Schwiegerkinder führen objektivierende und vermittelnde Begriffe ein. Dadurch verändern sich die Formen der Erzählungen über die Vertreibung und deren Folgen. Die Erzählungen der Familiengeschichte werden um eine Ebene erweitert. Diese Vieldeutigkeiten in den Erzählungen versuchen wir mit dem Terminus »Ambiguitäten« einzufangen. Es sind die Verhandlungen über Nuancen der Geschichte(n), die die Ambiguitäten ausmachen. Der Prozess der Ambiguität innerhalb der Familie von Aniela zeigt sich in der Diskussion über die Frage, wie das Leben der jüngeren Generation auszusehen hat. In dieser Familie scheint die Vorstellung darüber, wie sich das Leben der jüngeren Generation gestalten soll zwar mit einer impliziten Delegation versehen, zugleich aber nicht determiniert zu sein. Die Familienmitglieder verhandeln letztlich Ansichten über das Leben (insbesondere über das sesshafte Leben) und die Unterschiede zwischen ihnen scheinen ihre Beziehungen nicht zu gefährden. Es gibt einen Unterschied in den Familien im Hinblick auf die transgenerationale Weitergabe. Während Irmas Enkelin Lisa sagt, dass die Vertreibung keinen Einfluss auf ihr »Wesen« habe, diskutiert Nina, Anielas Enkelin, über die Auswirkungen der »Umsiedlung« auf ihr Leben, da das Thema des Niederlassens innerhalb der Familie eine bedeutsame Rolle spielt. Dieser Unterschied kann auch dadurch zustande kommen, dass Nina und Lisa sich in unterschiedlichen Stadien des familiären und persönlichen Lebenszyklus befinden.

Schlussbetrachtung Jakob (2021) verdeutlicht, dass die »Verbindungen zwischen dominanten Diskursen und konkreten Interaktionen im sozialen Nahraum zu reflektieren […] therapeutisch nutzbringend sein [können]« (S. 10). Wenn man im Beratungsgespräch auf dominante Narrative wie Trauma oder Resilienz zurückgreift, kann das allen Beteiligten helfen Erfahrungen zu rahmen, dadurch Entlastung zu erfahren und sie als kollektive Erfahrung einer Gemeinschaft sichtbar zu machen. Gleichzeitig verliert jede Erzählung den individuellen, eigensinnigen Aspekt (Inowlocki, 2017), der sich auch vielstimmig gestalten kann. Sowohl pro-

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fessionell Helfende als auch die Klientel können sich den kulturellen Deutungsmustern der dominanten Narrative nicht entziehen. Alle Beteiligten laufen Gefahr, Geschichten zu produzieren, die genau zu den vorgegebenen Narrativen passen – dabei könnten bedeutsame persönlichen Nuancen verlorengehen. Die Erzählungen über Zwangsmigration sorgfältig und in ihren Ambiguitäten zu erfassen, ihre Verknüpfung mit dem gegenwärtigen, stets individuellen Leben zu verdeutlichen und somit dominante Narrative zu hinterfragen, sehen wir auch als eine politische Aufgabe.

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EIN AUFRUF

Die Gefahr einer einzigen Geschichte6 CHIMAMANDA NGOZI ADICHIE

Ich bin eine Geschichtenerzählerin. Und ich möchte Ihnen erzählen von dem, was ich »Die Gefahr der einzigen Geschichte« nenne. Ich stamme aus einer konventionellen, nigerianischen Familie der Mittelklasse. Bei uns lebten, wie es die Norm war, Bedienstete, die aus den umliegenden Dörfern kamen. In dem Jahr, in dem ich acht wurde, bekamen wir einen neuen Hausdiener. Sein Name war Fide. Das Einzige, was meine Mutter uns über ihn erzählte, war, dass seine Familie sehr arm war. Meine Mutter schickte Süßkartoffeln und Reis und unsere alten Kleider zu seiner Familie. Und wenn ich mein Abendessen nicht aufaß, sagte sie: »Iss dein Essen auf! Ist dir nicht klar, dass Menschen wie die Familie von Fide nichts haben?« Deshalb hatte ich großes Mitleid mit Fides Familie. Dann, an einem Samstag, besuchten wir sein Dorf. Seine Mutter zeigte uns einen wunderschön geflochtenen Korb aus gefärbtem Bast, den sein Bruder gemacht hatte. Ich war überrascht. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass jemand aus seiner Familie etwas herstellen könnte. Alles, was ich über sie gehört hatte, war, wie arm sie waren, sodass es für mich unmöglich geworden war, sie als etwas anderes zu sehen als arm. Ihre Armut war die einzige Geschichte von ihnen, die ich kannte. Jahre später, als ich Nigeria verließ, um in den USA zu studieren, dachte ich wieder daran. Ich war 19 Jahre alt. Meine amerikanische Mitbewohnerin war mit mir überfordert. Sie fragte mich, wo ich so gut Englisch gelernt hatte, und war verwirrt, als ich ihr sagte, dass Englisch in Nigeria die Amtssprache ist. Sie fragte, ob sie das, was sie meine »Stammesmusik« nannte, hören dürfe und war sehr enttäuscht, als ich meine Kassette von Mariah Carey hervorholte. Was mich wirklich betroffen machte: Sie hatte Mitleid mit mir, bevor sie mich überhaupt gesehen hatte.

6 Der Text beruht auf einem Vortrag, den Chimamanda Ngozi Adichie auf einer TED-Konferenz hielt. Im Original ist er anzuhören auf www.ted.com/talks. Dieser übersetzte Auszug daraus ist erschienen in der Ausgabe Nr. 13/2020 (S. 49), Publik-Forum, kritisch – christlich – unabhängig, Oberursel. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Die Gefahr einer einzigen Geschichte

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Ihre Grundhaltung mir gegenüber als Afrikanerin war eine Art gönnerhaftes, gutgemeintes Mitleid. Meine Zimmergenossin kannte nur eine einzige Geschichte über Afrika. Eine einzige verhängnisvolle Geschichte. Diese einzige Geschichte enthielt keine Möglichkeit für Afrikaner, ihr in irgendeiner Weise ähnlich zu sein. Keine Möglichkeit für vielschichtigere Gefühle als Mitleid. Keine Möglichkeit für eine Beziehung als gleichberechtigte Menschen. So kreiert man also eine einzige Geschichte: Man zeigt eine Seite eines Volkes, und nur diese eine Seite, immer und immer wieder, und dann wird diese Seite zur Identität. Das Problem mit Klischees ist nicht, dass sie unwahr sind, sondern dass sie unvollständig sind. Wenn eine Geschichte zur einzigen Geschichte wird, werden Menschen ihrer Würde beraubt. Die einzige Geschichte erschwert es uns, unsere Gleichheit als Menschen zu erkennen. Sie betont eher unsere Unterschiede als unsere Gemeinsamkeiten. Es ist unmöglich über diese einzige Geschichte zu sprechen, ohne über Macht zu sprechen. Es gibt ein Wort, ein Igbo-Wort, an das ich immer denke, wenn ich über die Machtstruktur der Welt nachdenke. Es heißt nkali. Das kann in etwa übersetzt werden mit »größer sein als ein anderer«. Wie unsere Wirtschaftswelt und die Politik definieren sich auch Geschichten über das Prinzip von nkali. Wie sie erzählt werden, wer sie erzählt, wann sie erzählt werden, wie viele Geschichten erzählt werden – das alles wird wirklich durch Macht bestimmt. Macht ist die Fähigkeit, die Geschichte einer anderen Person nicht nur zu erzählen, sondern sie zur maßgeblichen Geschichte dieser Person zu machen. Der palästinensische Dichter Mourid Barghouti schreibt, dass der einfachste Weg, ein Volk zu enteignen, darin besteht, seine Geschichte zu erzählen und mit »zweitens« zu beginnen. Etwa wenn man die Geschichte der nordamerikanischen Ureinwohner mit den Pfeilen beginnt und nicht mit der Ankunft der Briten. Oder wenn man die Geschichte mit dem Scheitern des afrikanischen Kontinents beginnt und nicht mit der Errichtung der afrikanischen Staaten durch Kolonisierung. Geschichten wurden benutzt, um zu enteignen und zu verleumden. Aber Geschichten können auch genutzt werden, um zu befähigen und zu humanisieren. Geschichten können die Würde eines Volkes brechen – aber Geschichten können diese gebrochene Würde auch wiederherstellen. Wenn wir begreifen, dass es niemals nur eine einzige Geschichte gibt, dann erobern wir ein Stück vom Paradies zurück.

Autorinnen und Autoren

Chimamanda Ngozi Adichie, geboren 1977 in Nigeria, studierte Medizin und Kommunikationswissenschaften. Die Autorin lebt in Lagos und in den USA. Ihre Bücher wurden in 37 Sprachen übersetzt. Brigitte Boothe, Prof. Dr. phil., Dipl. Psych., Staatsexamen in Philosophie, Germanistik und Romanistik, Promotion in Philosophie (über Wittgensteins Konzepte der Beschreibung und der Lebensform). Weiterbildungen in Gesprächspsychotherapie, Psychodrama und Psychoanalyse (DPG, DGPT). Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Universität Düsseldorf über Sprache und Psychoanalyse. Seit 1990 Ordinariat für Klinische Psychologie an der Universität Zürich. Publikationen zu Psychoanalyse der Weiblichkeit, Kommunikation und Narration in der Psychotherapie, Psychologie des Wünschens. Nach ihrer Emeritierung an der Universität Zürich im Januar 2013 ist sie in der Gemeinschaftspraxis Bellevue tätig. Maria Borcsa (Hg.), Prof.in, Dr.in phil., Dipl.-Psych., approbierte Psycho­logische Psychotherapeutin (VT), Paar- und Familientherapeutin, Supervisorin, ist Professorin für Klinische Psychologie an der Hochschule Nordhausen sowie als Dozentin im In- und Ausland tätig. Sie ist Begründerin des Masterstudienganges »Systemische Beratung« (Hochschule Nordhausen in Kooperation mit dem IF Weinheim) und Gründungsund Vorstandsmitglied des Instituts für Sozial­medizin, Rehabilitationswissenschaften und Versorgungsforschung (ISRV). Lange Jahre war sie im Vorstand der Systemischen Gesellschaft und der European Family Therapy Association (EFTA) und von 2013–2016 Präsidentin der EFTA. Britta Boyd, Dr.in, ist seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am WIFU-Stiftungslehrstuhl für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien. Davor forschte und unterrichtete sie an der Syddansk Universitet in Dänemark in den Bereichen Internationales Marketing, Corporate Social Responsibility und Entrepreneurship. Aktuell widmet sie sich dem WIFU-Forschungsprojekt »Narratives of Survival: ResilienzGeschichten in Familienunternehmen und Unternehmerfamilien«. Rudi Dallos ist emeritierter Professor für klinische Psychologie an der Universität von Plymouth. Er arbeitet seit über 40 Jahren als Familientherapeut und hat eine Reihe von Artikeln und Büchern veröffentlicht, darunter: »An Introduction to Family Therapy«, »Formulation is Psychology and Psychotherapy« and »Don’t Blame the Parents: Positive Intentions, Scripts and Change in Family Therapy«.

Autorinnen und Autoren

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Dan Dulberger ist Familien- und Paartherapeut (CCFT/Israel, RMFT/Kanada), systemischer Elterncoach, Supervisor und Familientherapeut am Calgary Family Therapy Center und Direktor des Center for Non Violent Resistance Psychology. Sol D’Urso, M.A., ist Lehrbeauftragte im MFT-Programm mit den Schwerpunkten Menschliche Vielfalt in der Familientherapie und Individuelles, familiäres und gemeinschaftliches Trauma. Als Therapeutin arbeitet sie vor allem mit Flüchtlingsfamilien, Überlebenden von Folter, gefährdeten Kindern und Jugendlichen sowie transnationalen Einzelpersonen und Familien in San Diego und der Grenzregion zwischen den USA und Mexiko. Neben ihrer Arbeit als Lehrbeauftragte an der Universität von San Diego ist sie in privater Praxis und als Ausbilderin tätig. David Epston ist Psychotherapeut und Co-Direktor des Family Therapy Centre in Auckland. Gemeinsam mit Michael White gilt er als Wegbereiter des narrativen Ansatzes in der systemischen Therapie. David Epston unterrichtet am Unitec Institute of Technology in Auckland, an der John F. Kennedy University in San Francisco und am Albert Einstein College of Medicine in New York City. Simon Forstmeier, Dr., Dipl.-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Entwicklungspsychologe und Klinischer Psychologe. Mehrjährige Tätigkeit in einer psycho­somatischen Klinik, seit 2014 Professor an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Alterspsychotherapie, Lebensrückblicktherapie und Biografiearbeit, Selbstregulation und Selbstregulationstraining. Er erhielt 2008 den Vontobel-Preis für Alter(n)sforschung und 2012 den Margret und Paul ­Baltes Preis für verhaltens- und sozialwissenschaftliche gerontologische Forschung. Thomas Friedrich-Hett, Dipl.-Psychologe und examinierter Krankenpfleger ist Lehrtherapeut für systemische Therapie und Beratung (viisa, SG) und hat 25 Jahre Berufspraxis in psychiatrischen und gerontopsychiatrischen Kliniken, derzeit angestellt in der Psychologischer Beratungsstelle Remscheid. Er arbeitet auch als freiberuflicher Supervisor und in der Psychologischen Privatpraxis in Essen. Alma Galván, MHC, ist Senior Program Manager beim Migrant Clinician Network Inc. (MCN). Galván setzt sich seit Jahrzehnten für die Gesundheitsbedürfnisse der Grenzbewohner in Ciudad Juárez/El Paso ein. Dabei konzentriert sie sich auf ein breites Spektrum öffentlicher und umweltbezogener Gesundheitsthemen, darunter Drogenprävention, kulturelle Kompetenz sowie Wasser- und Sanitärfragen. Deliana Garcia ist in leitender Position beim Migrant Clinicians Network Inc. (MCN) tätig und setzt sich seit mehr als dreißig Jahren für die Gesundheit und das Wohlbefinden von unterversorgten Zuwanderern ein. Im Laufe ihrer Karriere hat sie in den Bereichen reproduktive Gesundheit, sexuelle Gewalt und Gewalt in Paarbeziehungen, Zugang zur medizinischen Grundversorgung sowie Bekämpfung und Prävention von Infektions-

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Autorinnen und Autoren

krankheiten gearbeitet. Garcia ist verantwortlich für den Ausbau von Health Network, einem internationalen Fallmanagement- und Patientennavigationssystem. Katarzyna Gdowska, Psychologin (M.A.), ist systemische und psychodynamische/ psychoanalytische Psychotherapeutin, Psychotherapie-Supervisorin und Dozentin für Psychotherapie an der Psychiatrischen Klinik, Abteilung für Familientherapie und Psychosomatik der Jagiellonen-Universität in Krakau (Polen). Ihre Forschungsinteressen umfassen Psychotherapieprozess und Psychotherapie als Mittel zur Bewältigung von Persönlichkeitsstörungen und insbesondere wie Paartherapie Paaren helfen kann, wenn ein oder beide Ehepartner mit Persönlichkeitspsychopathologie zu kämpfen haben. Julia Hille, Systemische Sozialarbeiterin (M.A.), ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Doktorandin an der Eberhard Karls Universität Tübingen in Kooperation mit der Hochschule Nordhausen, DGSFFachgruppen­sprecherin »Systemische Sozialarbeit« und stellvertretende Sprecherin der DGSA-Sektion »Forschung«. Ihre Schwerpunkte liegen auf systemischer Sozialer Arbeit und Beratung, Adressat*innenforschung (besonders in pädagogischen Interaktionen) und rekonstruktiver Familienforschung. Peter Jakob (Hg.) ist Leitender Klinischer Psychologe (Consultant Clinical Psychologist) und Klinischer Direktor des britischen systemischen Instituts »PartnershipProjects UK Ltd«, das Therapie, Beratung und Fortbildung mit Schwerpunkt Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand/neue Autorität und Trauma betreibt. Er ist staatlich registrierter klinischer Psychologe und Associate Fellow der British Psychological Society. Jakob ist systemischer Familientherapeut und Supervisor für klinische Psychologie und für systemische Psychotherapie. Milena Kansy, Psychologin (M.A.), Psychodynamische Psychotherapeutin arbeitet in der Abteilung für Familientherapie und Psychosomatik der Jagiellonen-Universität in Krakau (Polen). Zu ihren Forschungsinteressen gehören Persönlichkeitsstörungen, Paardynamik sowie relationale und sexuelle Funktionen bei Paaren mit affektiven Störungen. Mathias Klasen, Diplom-Psychologe, Systemischer Therapeut für Familien-, Paar- und Einzeltherapie (DGSF), Lehrender für Systemische Beratung (DGSF), PsychodramaPraktiker (ISIT), hat die Leitung von egon+klara – Systemische Praxis für Familien, Teams und Organisationen inne. Er hat die Erlaubnis zur Psychotherapie nach dem Heilpraktikergesetz. Thomas Klatetzki, Dr., hat Psychologie und Soziologie studiert und ist seit 2000 Professor für Organisationssoziologie an der Universität Siegen. Heiko Kleve, Dr. phil., ist Soziologe und Sozialpädagoge sowie systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv und SG) und Mediator sowie Case Manager (DGCC).

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Der Professor ist Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien sowie Akademischer Direktor am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) an der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Universität Witten/Herdecke. Tobias Köllner, PD Dr., ist Senior Research Fellow am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) der Universität Witten/Herdecke. Der Ethnologe und Soziologe beschäftigt sich vor allem mit Osteuropa und Russland, der Einbettung wirtschaftlichen Handelns, der Unternehmerfamilie, dem Kulturvergleich und den Zusammenhängen zwischen Reli­ gion, Wirtschaft, Verwandtschaft und Politik. Seit 2020 leitet er ein Forschungsprojekt, welches die Familie hinter dem Familienunternehmen kulturvergleichend untersucht. Gabriele Lucius-Hoene, Professorin im Ruhestand, ist Ärztin und Diplompsychologin und war bis 2016 am Institut für Psychologie der Universität Freiburg an der Abteilung für Rehabilitationspsychologie tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Krankheitsverarbeitung, narrative Medizin und narrative Ansätze in der Kulturpsychologie. Ihr Forschungsschwerpunkt basiert auf linguistischen und narratologischen Zugängen zu Identitätsarbeit und biographischen Konstruktionen, besonders bei Erfahrungen von Krankheit und Trauma. Tom Levold, Lehrtherapeut, Lehrender Supervisor und Lehrender Coach (SG), ist seit 1989 in freier Praxis für systemische Therapie, Supervision, Coaching und Organisationsberatung in Köln tätig. Er fungiert als Herausgeber von systemagazin – Online-Journal für systemische Entwicklungen und ist Mitbegründer der Systemischen Gesellschaft und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur systemischen Theorie und Praxis. Elisabeth Christa Markert, Theologin, systemische Therapeutin und Supervisorin (SG), Stellvertretende Vorsitzende des Fachverbands für Biografiearbeit (FaBia e. V.) blickt auf eine über 35-jährige Tätigkeit in der Frauen- und Erwachsenenbildungsarbeit mit den Schwerpunkten Feministische Theologie, Biografiearbeit, systemische Therapie und Beratung, systemische Aufstellungen, Arbeit mit Märchen und Träumen sowie Traumaarbeit zurück. Afiya Mbilishaka, Dr.in, ist Professorin für Psychologie an der University of the District of Columbia. Als klinische Psychologie und Friseurin forscht sie seit mehr als zehn Jahren zum Thema psychische Gesundheit und Haare und setzt sich für kulturbejahende und gemeinschaftsorientierte Ansätze der Haarpflege ein (»PsychoHairapy«). Jan Müller ist Psychologe und ausgebildet in lösungsfokussierter und narrativer Therapie. Neben seiner Tätigkeit als einer der beiden Köpfe des ifR Hamburg, wo er gemeinsam mit seiner Kollegin Nicole Bellaire Weiterbildung und Begleitung in ressourcenorientierten Ansätzen anbietet, arbeitet er als Familienberater. Seine Hauptinteresse gilt momentan der post-therapeutischen Gesprächsführung. Die narrative Arbeit bietet für diese Art der identitätsaffirmativen Arbeit eine großartige Grundlage.

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Autorinnen und Autoren

Michael Müller, Dr., ist Professor an der Hochschule der Medien an der Fakultät Electronic Media am Institu für Angewandte Narrationsforschung (IANA). Er bietet die zertifizierte Weiterbildung »Professionelles Storytelling in Unternehmen« und »Narrative Organisationsberatung« an. Jan Olthof (Hg.) ist als selbstständiger Psychotherapeut niedergelassen und ist Ausbilder und Supervisor des Niederländischen Vereins für Familientherapie. Er ist u. a. Verfasser des »Handbook of Narrative Psychotherapy for Children, Adults and Families« (Karnac, London, 2017). Meinolf Peters, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, ist Honorarprofessor an der Universität Marburg (bis Ende 2017) sowie Mitinhaber und Geschäftsführer des Instituts für Alterns­psychotherapie und Angewandte Gerontologie. Er hat die Leitung der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie in der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld (bis Ende 2017) inne und ist als Supervisor und Berater in mehreren Kliniken tätig. Des Weiteren arbeitet er niedergelassen in eigener Praxis und ist Mitherausgeber der Zeitschrift Psychotherapie im Alter. Peter Rober ist Professor am Institute for Family and Sexuality Studies, Medical School (KU Leuven, Belgien). Er ist verantwortlich für Context – the Centre of Marital and Family Therapy an der UPC KU Leuven. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Psychotherapieprozess in der Ehe- und Familientherapie sowie auf Prozessen in Paaren und Familien (Trauma, Trauer, Geheimhaltung, …). Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen, wie z. B. von »In Therapy Together: Family Therapy as a Dialogue« (Palgrave/ MacMillan, London, 2017). Tom A. Rüsen ist geschäftsführender Direktor des Wittener Institutes für Familienunternehmen (WIFU) der Universität Witten/Herdecke. Gleichzeitig leitet er die gemeinnützige WIFU-Stiftung als geschäftsführender Vorstand. Schwerpunkte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeiten sowie seiner Publikationen beinhalten die Untersuchung von Konflikt- und Krisendynamiken, des strukturellen Risikos von Familienunternehmen, Mentaler Modelle in Unternehmerfamilien sowie von Nachfolge- und Familienstrategien und deren generationsübergreifender Evolution. Carl Eduard Scheidt, Dr., M.A., ist Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker (DPV/IPV), hat die Thure von Uexkuell-Stiftungsprofessur für stationäre und teilstationäre Psychotherapie an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg inne und war 2011 und 2017 Fellow am Freiburg Institute of Advanced Studies (FRIAS). Seine Forschungsschwerpunkte sind klinische Bindungsforschung, Psychotherapieprozessforschung, klinische Erzählforschung und Synchronisation in der Interaktion.

Autorinnen und Autoren

489

Claudia Schiffmann, Diplom-Pädagogin, Systemische Therapeutin für Familien-, Paar- und Einzeltherapie (DGSF), hat die stellvertretende Leitung von egon+klara inne. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt in der Aufsuchenden Systemischen Familientherapie (AFT). Thomas Schollas (Jg. 1964), Theologe, arbeitet als systemischer Therapeut und Supervisor (SG), Gendertrainer. Er ist Vorsitzender des Fachverbands für Biografiearbeit (FaBia e. V.) und berüflich als Pastor für Gemeinde- und Personalentwicklung tätig. Heidrun Schulze ist Professorin an der Hochschule RheinMain Wiesbaden im Fachbereich Sozialwesen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Methodologie und Methoden qualitativer Forschung, Biografieforschung, Rekonstruktive Beratungsforschung, adultismuskritische Soziale Arbeit und Forschung, Psychosoziale Traumatologie, geschlechtsspezifische und intergenerationale Gewalt, Narrative Therapie (zert. Kanada, USA), Institution, Interaktion und Fallverstehen. Jasmina Sermijn arbeitet als selbstständige systemische Therapeutin bei Hestia, Zentrum für Psychotherapie, und als Trainerin und Supervisorin bei der gemeinnützigen Organisation Euthopie. Monica Sesma ist sozialkonstruktivistische Beraterin, Supervisorin und Forscherin aus Mexiko. Sie spezialisierte sich auf Einzel- und Paartherapie sowie auf systemische Familientherapie. Jürgen Straub ist Professor für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Vorstandsmitglied der Stiftung für Kulturwissenschaften im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und Mitherausgeber der Zeitschrift Psychosozial. Sally St. George ist Professorin und Leiterin des Programms für Paar- und Familientherapie sowie Familientherapeutin und klinische Supervisorin am Calgary Family Therapy Centre. Sie arbeitet seit 30 Jahren als Ehe- und Familientherapeutin und ist Mitglied im Vorstand des Taos Institute sowie der Global Partnership for Transformative Social Work. Sally St. George ist außerdem leitende Redakteurin von The Qualitative Report. Sabine Trautmann-Voigt, Dr.in phil., ist als Psychologische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis in Bonn tätig. Sie ist Tanz- und Ausdruckstherapeutin, EMDR- und Gruppentherapeutin sowie Leiterin und Geschäftsführerin der Köln-Bonner Akademien für Psychotherapie und Verhaltenstherapie (KBAP und KBAV) und des Deutschen Instituts für tiefenpsychologische Tanzund Ausdruckstherapie e. V.

490

Autorinnen und Autoren

Arlene Vetere, PhD, ist emeritierte Professorin für Familientherapie und systemische Praxis an der VID Specialized University, Oslo, Norwegen. Sie ist klinische Psychologin, systemische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin und im Vereinigten Königreich registriert, wo sie ihren Wohnsitz hat. Arist von Schlippe (Hg.), Dr. phil., Diplom-Psychologe, ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls »Führung und Dynamik von Familienunternehmen« am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) an der Universität Witten/Herdecke und Lehrtherapeut für systemische Therapie, Coach und Supervisor (SG). Kaethe Weingarten, Ph.D., ist außerordentliche Professorin für Klinische Psychologie an der Harvard Medical School und Fakultätsmitglied des Family Institute of Cambridge. Sie ist Gründerin und Leiterin von The Witnessing Project, einer gemeinnützigen Organisation, die Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene berät, um toxische Zeugenschaft von Gewalt und Übergriffen in aktive, mitfühlende Zeugenschaft mit anderen zu verwandeln. Derzeit ist sie Beraterin bei Cambridge Health Alliance. Dietmar J. Wetzel ist Professor für Sozialwissenschaften an der MSH Medical School, Hamburg, Dipl.-Frankreichwissenschaftler und Dozent an der Universität Basel sowie an der ZHAW Winterthur. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind Resonanz-, Körper- und Affektsoziologie, Gedächtnissoziologie, Nachhaltigkeit und Transformation. Seine letzte Publikation ist »Metamorphosen der Macht. Soziologische Erkundungen des Alltags« (BoD 2019). Jim Wilson, CQSW, UKCP, ist Co-Direktor von Partners for Collaborative Solutions. Er ist auch Direktor des Centre for Child-Focused Practice am Institute of Family Therapy in London. Dan Wulff, PhD, emeritierter Professor an der Fakultät für Sozialarbeit an der Universität von Calgary, ist seit 2005 Vorstandsmitglied des Taos-Instituts. Als Familientherapeut und Aus- und Weiterbildner begeistere er sich schon immer für den sozialen Konstruktionismus. Gerhard Walter, Dr. phil., ist Klinischer und Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut (Systemische Familientherapie), Lehrtherapeut der Österrreichischen Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie und Systemische Studien (ÖAS). In seiner langjährigen therapeutischen Tätigkeit im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich entwickelte er ein systemisches Konzept zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen – Stationärer Aufenthalt als Übergang. Aktuelle Tätigkeitsschwerpunkte sind Therapeutische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, Supervision von sozialpädagogischen Teams und Klinikteams, Lehrtätigkeit im Rahmen systemischer Therapieausbildungen und an der Universität Salzburg.

Register

A

Abstinenz 396 Adjuvant 234 affektmotorischer Kodierungen 380 Aktanten 233, 234 Alter 285, 286, 287, 288, 289, 292, 293, 294, 296, 472 Altern 286, 287 Altersforschung 286 Ambiguität der Referenz 319 Angst 35, 63, 127, 128, 158, 166, 169, 176, 184, 214, 231, 233, 239, 247, 250, 258, 263, 264, 265, 339, 360, 361, 372, 373, 374, 375, 392, 399, 419, 425, 427, 432, 453, 454, 455, 458, 459, 461, 462 ängstlich 165, 178, 247, 262, 381 Angststörung 174, 305, 451 Aufstellung 214, 368 Ausnahmegeschichte 156, 162, 167, 231, 233, 240, 242, 272, 279, 280, 300, 303, 444, 455 Auswertungsmethode 138, 142

B

Bedeutungsgewebe 43, 120 Belastungsstörung, posttraumatische 34, 37, 289, 291, 305, 420, 427, 451, 452 Bezeugen 188, 190, 280, 411, 412, 413, 420, 425, 454, 459, 464 Beziehungsgeschichte 270, 271, 278, 279, 280, 282, 283 Beziehung, therapeutische 268, 293, 305, 360 Big Storys 77 Bindungskommunikation 125, 126, 129 bindungsorientiert 368 Bindungsstrategie 372, 373, 374, 375 Biografie 110, 135, 139, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 219, 221, 291, 292, 382 Borderline 381, 451, 454, 461 Burn-out 184, 185, 418, 430

C

Coaching 11, 133, 150, 222, 223, 233, 235, 285 Cortex 379

D

Definitionsmacht 10, 451, 452 Dekonstruktion 94, 98, 99, 100, 102, 135, 198, 203, 204, 207, 211, 275, 277, 285, 406, 443, 445 Demenz 291 Depression 420, 427, 445, 451, 454 Dienstleistungsorganisationen, sozial personenbezogene 312, 313, 314, 315, 318, 321, 323, 325 Diskursphilosophie 75 dominante Diskurse 10, 29, 38, 150, 162, 270, 275, 449, 477 Drama 396 Dramatisierung 56, 58 Dramaturgie 397

E

Embodiment 26, 133, 134, 379, 382, 385 Emotionalität, inhärente 318 Empathie 63, 220, 268, 390, 425, 442, 446, 454 Emplotment 56, 324 Empowerment 25 entkolonisierend 16 Entscheidungskommunikation 126 Erfahrungsverarbeitung 108, 112 Erfolgsstory 76 Erhebungsmethode 139 Erinnerung 15, 28, 41, 44, 61, 62, 80, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 115, 116, 118, 120, 121, 122, 131, 134, 138, 140, 143, 144, 211, 213, 215, 216, 218, 249, 250, 251, 259, 289, 290, 291, 294, 295, 332, 350, 362, 373, 376, 379, 383, 395, 401, 406, 432, 440, 449, 469, 471, 475 Erinnerungsgemeinschaft 106, 108, 129 Erinnerungsstil 290 Erkenntnistheorie 121, 135, 142 Erwartung 42, 43, 44, 45, 58, 59, 61, 75, 79, 82, 94, 95, 96, 125, 191, 193, 222, 302, 317, 349, 368, 392, 396, 397, 398, 399, 406, 417, 461 Erzähldynamik 395, 396, 398, 407 Erzählkompetenz 142, 286, 399

492 Erzähltheorie 41, 49, 50, 53, 55, 223, 224 Erzählung, progressive 56, 316 Erzählung, regressive 56, 316 Erzählung, stabile 316 Ethnizität 439, 440, 446 Exposition, narrative 291, 292 Externalisierung 156, 157, 158, 159, 160, 197, 205, 233, 242, 275, 280, 288, 296, 302, 303, 334, 335, 444

F

Feminismus 92 feministisch 201, 216, 452 Flucht 126, 133, 214, 215, 466, 467, 471 Forschung, narrative 135, 136, 137, 145, 356 Forschungsdesign 139 Fremdpositionierung 323

G

Gedächtnis episodisches 226, 362, 382 fiktives 112 Generationengedächtnis 108 individuelles 112 intimes 112 kollektives 53, 106, 107, 109, 110, 111, 112 kulturelles 106, 107, 108, 109, 111, 113 perzeptuelles 382 prozedurales 382 semantisches 362, 382 soziales 53, 106, 108, 110, 118, 347 Gegenwart 53, 55, 56, 79, 92, 110, 122, 210, 212, 220, 294, 303, 315, 329, 330, 336, 338, 347, 351, 355, 368, 382, 410, 414, 471, 476 Gehirn als soziale Konstruktion 381 Geist 12, 14, 15, 125, 168, 304, 377, 396, 427, 432, 435 Generation 51, 108, 111, 113, 114, 122, 123, 127, 129, 130, 131, 132, 141, 220, 347, 348, 350, 351, 352, 353, 356, 357, 411, 466, 467, 468, 471, 473, 475, 476, 477 Genre 76, 316, 317, 319, 321 Gerechtigkeit 185, 186, 433, 434, 435, 441, 442, 443, 446, 452, 458 Geschichte nicht erzählte 156, 157, 162, 167, 202, 238, 240, 241, 242, 243, 244, 246, 247, 248, 249, 250, 252 problemgesättigte 28, 31, 240, 242, 285, 446, 457

Register

Geschichtenerzählen 29, 43, 68, 128, 171, 233, 238, 252, 256, 257, 314, 432, 433, 437 Gesichtsausdruck 128, 247, 382, 392 Gewalt, strukturelle 421, 451 Glaubenssätze 39, 220, 227, 230, 231 große Erzählungen 28, 223

H

Habitus 379 Happy End 224, 267, 316, 398, 402 Heimerziehung 210 Herrschaft 52, 198, 321 Herrschaftspraktiken 76 Hierarchie der Glaubwürdigkeit 321 Hinterbühnen 322

I

Identität 15, 25, 28, 29, 30, 31, 53, 64, 65, 67, 76, 79, 93, 94, 95, 96, 108, 111, 112, 114, 115, 121, 122, 133, 134, 135, 136, 143, 144, 202, 206, 225, 235, 238, 239, 240, 242, 244, 270, 300, 326, 348, 349, 350, 384, 396, 444, 483 Identitätsgeschichte 271 Interaktionspraktiken 313, 325 Intertextualität 29 Isomorphismus 166

K

kanonisch 75 Kindeswohlgefährdung 313, 314 Kindheitserinnerungen 213, 440 kohärente Lebensgeschichte 244, 289, 296 Kohärenz 74, 75, 76, 108, 116, 239, 294 kolonisierend 11, 16, 199 Kommunikat 224, 225 Kommunikation 61, 73, 83, 86, 91, 95, 108, 110, 111, 122, 128, 136, 143, 205, 225, 226, 230, 231, 232, 236, 259, 300, 301, 309, 324, 332, 337, 379, 380, 382, 383, 387, 388, 389, 390, 391, 392, 393, 406, 467 Kompositionen, hermeneutische 314 Kontingenz 49, 57, 58, 79, 80, 396 Konversation 158, 160, 163, 388, 437 Konversationsanalyse 77 konversationsanalytisch 82 Körper 38, 87, 96, 151, 170, 178, 213, 215, 241, 247, 253, 276, 380, 404, 417, 434 Körpersprache 134, 213, 379, 380, 381, 382, 385, 388, 389, 390, 391, 392, 393

493

Register

Krise 49, 56, 68, 187, 303, 351, 352, 353, 355, 423 krisenhaft 56, 355 kulturelle Pluralisierung 68

L

Lebensgeschichte 33, 45, 53, 60, 74, 76, 77, 92, 93, 141, 166, 211, 213, 216, 217, 242, 244, 250, 286, 295, 296, 332, 334, 412, 424, 439, 455, 465 Lebensrückblick-Therapie 289, 296 Lebensübergänge 210 Leiblichkeit 395 Linguistik 74 Lösungserzählungen 82 lösungsorientiert 24, 310, 442

M

Macht 19, 30, 34, 39, 47, 96, 97, 98, 102, 106, 107, 110, 113, 115, 116, 133, 168, 178, 197, 198, 206, 405, 442, 453, 483 Machtausübung 30, 322 narrative 322 Mehrpersonensystem 77, 88 mentalisieren 294 Mentalisierungsfähigkeit 390 Metanarrativ 29, 199, 224, 225 Metapher 24, 25, 27, 30, 31, 37, 82, 87, 88, 152, 154, 155, 160, 166, 176, 177, 179, 181, 189, 262, 268, 304, 326, 333 metaphernanalytisch 73, 87, 88 Migration 141, 467 Minimalerzählung 224 Möglichkeitsraum 93, 213, 330, 396, 406 moralische Berechtigung 131 moralische Bewertung 318, 321 moralische Not 418 moralisches Tribunal 323 moralische Verletzung 414, 417, 418, 419 Moralität 46, 47, 319 Moralität, inhärente 317 Motiv 62, 63, 68, 75, 135, 143, 151, 219 Motivation 48, 62, 158, 226, 268, 331 Muster 79, 145, 162, 216, 315, 331, 347, 348, 349, 374, 405 Musterbildung 80 Mustererkennung 81 Mythos 41, 45, 46, 47, 48, 50, 51, 224

N

Narrationsgrammatik 43 narrativ bindungsorientiert 360, 361, 367, 368, 369, 375 biografisch 407 ethnisch 432, 443 kognitiv 339 postmodern 80 systemisch 288 Narrativ autobiografisches 43, 74, 439 defizitorientiertes 285 ethnisches 432, 439, 441, 442 pathologisierendes 457, 458, 459 problemgesättigtes 457 religiöses 225, 226 reprodzutiertes 455 unternehmerisches 226 narratives Selbst 27, 32, 453 narrative Therapie 9, 11, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 24, 25, 37, 74, 81, 90, 91, 93, 94, 97, 98, 99, 102, 103, 157, 165, 233, 240, 241, 242, 285, 286, 287, 288, 292, 294, 311, 329, 330, 334, 337, 360, 361, 367, 368, 369, 375, 432, 435, 439, 442, 443, 444, 446, 449, 450, 454, 462, 464 narrative Transformation 459 narrative Verfertigung der Wirklichkeit 54 Narrativität 74, 223, 224, 233 Neufokussierung 81 nomadisches Denken 28, 29, 167, 181, 335 nomadische Theorie 24, 25, 27, 33, 39, 215

O

Opfer 59, 140, 166, 244, 296, 314, 318, 344, 405, 452, 453 Opferbeschuldigung 452, 457, 458 Opfergeschichte 458, 459 Opfernarrativ 449, 454, 463, 464 Ordnung 29, 30, 43, 47, 48, 53, 55, 56, 57, 73, 82, 99, 125, 159, 187, 192, 198, 206, 208, 241, 249, 272, 318, 320, 324, 325, 349, 398, 407, 452, 461, 467 Organisationsentwicklung 222, 223, 224, 225, 229, 230, 231, 232 narrative 222, 223, 224, 225, 229, 230, 231, 232

494

P

Pandemie 189, 410, 415, 416, 418, 419, 420, 422, 423, 424, 425, 426, 427, 428 paralinguistische Aspekte 82 parentifiziert 129 Partikularität 316 pathologisierend 197, 288, 453, 457, 458, 459 Performanz, symbolische 121 Pflege- und Adoptivfamilien 210 Plausibilität 53, 54, 312, 320, 349 Plot 42, 57, 75, 82, 86, 124, 132 Polyfonie 29, 171 polyvalent 42, 45 Positionierungsdreieck 323, 324 Positionierung, soziale 199, 324, 325 Positionierungstheorie 324 postanthropozentrisch 216 posthumanistisch 215, 216, 330, 336 posthumanistische Philosophie 215 postmodern 80, 94 Priming 382 prismatische Arbeit 27, 168, 171, 175, 176, 181 Problemerzählung 75, 79, 80, 82, 83, 86, 279, 285 Problemgeschichte 28, 87, 88, 157, 234, 235, 270, 271, 275, 278, 280, 283, 334, 398 Problemverhalten 289 psychoanalytisch 50, 73, 200, 361, 395 Psychodynamik 395, 396, 407 psychodynamisch 109, 285, 292, 293, 296, 376, 395, 396, 400 psychoedukativ 414, 438, 442, 444

R

Rassismus 16, 207, 217, 379, 420, 421, 429, 432, 433, 436, 439, 441, 443, 444, 445, 446 reflektierendes Team 172, 173, 175, 177, 179, 180, 288, 296, 300, 310 Reframing 212, 290, 460 Regiefunktion 398, 399, 404 Repräsentationssysteme 361 Resilienz 414, 416, 424, 457, 459, 466, 468, 469, 470, 471, 475, 476, 477 Resonanz 63, 129, 166, 169, 170, 172, 179, 180, 182, 190, 227, 231, 293, 374, 387, 399, 400, 402, 403 Ressource 81, 96, 133, 143, 211, 214, 219, 241, 259, 267, 285, 289, 290, 294, 295, 303, 330, 335, 340, 347, 354, 368, 400, 410, 414, 416,

Register

417, 418, 420, 425, 434, 437, 444, 449, 451, 457, 459 Ressourcenorientierung 211 retraumatisierend 37, 64 Rhizom 25, 30 Rhizomatik 27, 31 Ritual 31, 107, 116, 218, 220, 332, 333, 386, 388, 394, 435

S

Schema 60, 61, 65, 316 Schemata 61, 121 Schlüsselereignis 218, 296, 317, 373 Schlüsselmetapher 77, 82 Schöpfungsgeschichte 52 Schöpfungsmythen 50 Sehnsucht 47, 48, 49, 50, 153 Selbstbestimmung 38, 174, 202, 454 Selbsterzählung 61, 285 Selbstpositionierung 323 Selbstsignifikation 63 Selbsttranszendenz 48 Selbstwert 437, 462 Selbstwirksamkeit 24, 62, 310, 330, 338, 443, 449, 453, 454, 459, 460 Selektivität 110, 124, 132 Sequenzialität 391 Sinn 38, 43, 48, 57, 122, 133, 155, 159, 222, 226, 236, 238, 239, 273, 285, 292, 312, 314, 319, 320, 321, 361, 396, 456, 466 Sinn als Medium 122 Sinnfindung 292, 293 Sinnstiftung 38, 143, 314, 315, 317, 319, 320, 321, 325 Situiertheit 79 Skript 13, 313, 322, 323, 324, 325 soziales 313 Skriptwissen 313, 324 Small Storys 77, 87 soziale Klasse 421 sozialkonstruktionistisch 73, 81, 93 Sterben 216, 422, 423 Stigmatisierung 420 Storydoing 229, 230, 231, 232 Storylistening 227, 228, 229, 231 Storytelling 133, 222, 224, 225, 226, 227, 229, 231, 236 Stress 158, 160, 161, 162, 361, 419, 421 strukturelle Koppelung 166 Subversion 38

495

Register

subversiv 455, 456, 458 Supervision 166, 183, 184, 323, 335, 375, 396, 407, 463 systemische Perspektive 80, 288, 296, 468 systemische Sicht 285 systemische Therapie 80, 172, 223, 267

T

Täter 166, 453 Tätergeschichte 124 Täuschung 79 Team als therapeutisches Medium 167 Technologiedefizit 312, 327 temporalisieren 55 Temporalisierung der Wirklichkeit 55 Temporalität von Geschichten 315 Territorialverhalten 382 Tod 46, 52, 91, 174, 216, 220, 352, 421, 422, 423, 425 Transformationsgrammatik 388 transgender 25 transgenerational 111, 120, 129, 131, 218, 300, 347, 349, 351, 466, 471, 477 Trauma 37, 38, 44, 218, 219, 262, 267, 381, 411, 429, 430, 433, 434, 437, 438, 446, 451, 452, 464, 466, 468, 469, 470, 471, 474, 475, 476, 477, 478, 479 Traumanarrativ 291 Traumasensibilität 211 Traumatisierung 127, 128, 131, 287, 414

U

Ungerechtigkeit 129, 130, 219, 428, 433, 435, 450 Unmöglichkeit 87, 179, 183, 184, 185, 186, 188, 190, 192, 194, 392 unterworfene Wissensart 19, 203

V

Vergangenheit 43, 55, 56, 79, 92, 106, 107, 108, 110, 111, 114, 115, 124, 174, 210, 292, 303, 308, 315, 329, 334, 338, 347, 349, 350, 368, 375, 382, 410, 414, 440, 451, 473 Vergessen 105, 106, 114, 116, 117, 211, 468 verhaltenstherapeutisch 285, 289, 296 Verhandelbarkeit, inhärente 320 Verkörperung 27, 33, 120, 126, 128, 354 Vertreibung 45, 46, 48, 51, 126, 215, 466, 467, 468, 469, 470, 471, 472, 473, 474, 476, 477

W

Wahrnehmung 11, 58, 59, 67, 82, 99, 108, 115, 121, 122, 166, 168, 170, 205, 207, 257, 306, 314, 353, 379, 381, 389, 476 Weltaneignung 121, 223 Werte 16, 33, 36, 37, 42, 97, 110, 113, 114, 115, 153, 154, 160, 161, 162, 163, 194, 204, 225, 226, 272, 342, 347, 351, 353 Wertschätzung 62, 188, 218, 306, 356, 419 Widerstand, gewaltloser 122, 134, 186, 433, 450, 453, 454, 458, 462, 463, 464 Widerstandsgeschichte 449, 450 Wissen, narratives 321, 322, 324, 325 Wissensbasis, narrative 313, 322 Wissensmanagement 226 Wunschorientierung 399, 404

Z

Zukunft 55, 56, 79, 110, 114, 115, 145, 177, 194, 195, 210, 262, 283, 288, 302, 303, 315, 316, 329, 336, 338, 339, 351, 355, 368, 406, 457, 460, 473 Zwangsmigration 466, 467, 468, 478