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German Pages 164 Year 2020
Andrea Hausmann (Hg.) Handbuch Kulturtourismus im ländlichen Raum
Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement
Andrea Hausmann (Prof. Dr. rer. pol.) ist Professorin am Institut für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Ihre Schwerpunkte in Forschung, Lehre und Beratung liegen im Personalmanagement, Kulturmarketing und Kulturtourismus.
Andrea Hausmann (Hg.)
Handbuch Kulturtourismus im ländlichen Raum Chancen – Akteure – Strategien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Michelle Buller, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4561-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4561-7 https://doi.org/10.14361/9783839445617 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt Grußwort Heike Döll-König � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7
Kulturtourismus im ländlichen Raum Eine Einführung Andrea Hausmann � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 11
Kulturtourismus in ländlichen Räumen der Schweiz Ein Essay – vier Thesen Stefan Forster � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 23
Kulturtourismus als Vehikel für Wertekonsens? Erfahrungen aus Tirol Verena Teissl � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 33
Kulturtourismus auf dem Land oder die Dialektik des Tourismus Aktuelle Beobachtungen, Zahlen und Fakten aus der »Kulturtourismusstudie 2018« Yvonne Pröbstle � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 53
Die Destination als Bühne: Wie macht Kulturtourismus ländliche Regionen erfolgreich? Heike Bojunga/Thomas Feil � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 73
Die Nutzerperspektive: Der ländliche Raum als kulturtouristisches Reiseziel Katja Drews � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 101
Die WelterbeCard Ein innovatives Marketinginstrument zur Bündelung von Kulturhighlights und anderen Anbietern im ländlichen Raum Elke Witt � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 127
Digitale Potenziale für die Vernetzung der Akteure im ländlichen Raum Ein Praxisbeispiel aus der »Zugspitz Region« Philipp Holz � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 133
KulturReiseLand NRW: Acht Schritte zur Erneuerung des Kulturtourismus Matthias Burzinski � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 147
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 159
Grußwort Heike Döll-König
Eigentlich … … braucht man einen solchen Band nicht. Denn der nüchterne Blick auf die touristische Marktforschung sagt: »Donʼt worry!« Der Tourismus verzeichnet international in den letzten Jahren eine beispiellose Wachstumsphase. Jahr für Jahr wächst die Anzahl der Reisen, privat, geschäftlich und auch in einem Mix aus beidem. Allein in Nordrhein-Westfalen stieg die Zahl der Übernachtungen in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent, wobei nicht nur die großen Städte, sondern alle Regionen Wachstum zu verzeichnen hatten. Und es wächst der Bedarf an den kleinen Fluchten zwischendurch – mal weiter weg, mal in die Nähe. Gerade Nordrhein-Westfalen profitiert sehr davon; kurze Reisen und Tagesausf lüge sind die touristischen Wachstumsbringer. Gefragt, was die Menschen in ihren Auszeiten so tun, sieht man: die Natur zu erleben ist das stärkste Motiv, die eigenen vier Wände zu verlassen. Aber fast jeder Zweite gibt an, dass auch das Kulturerlebnis ein Bestandteil seines Reiseverhaltens ist. Zudem schätzen die bundesweit Befragten gerade Nordrhein-Westfalen in diesem Punkt als besonders vielversprechend ein. Also noch einmal: 23 Millionen Gäste allein bei uns – davon mehr als die Hälfte aufgeschlossen dafür, auch Kunst- und Kulturangebote zu nutzen –, da kann man wohl kaum von einem echten Nachfrageproblem sprechen. Oder doch? Eigentlich … … ist aber alles ganz anders, und genau deshalb hat der Tourismus NRW mit zahlreichen Partnern in den letzten Jahren viel geleistet, um
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die Kultur außerhalb der großen Häuser in den Metropolen an Rhein und Ruhr touristisch zu stärken. Das »Kulturreiseland NRW« – so der Titel unserer Anstrengungen – war dabei am Anfang keinesfalls eine Gegebenheit, sondern eher eine Art Sehnsuchtsort von uns: Denn wir wissen ja um die Entdeckungen, die überall im Land warten, und zwar nicht nur auf die Besucher, die aus besonderer Kenntnis heraus kunstvolle Mauern der karolingischen Renaissance, barocke Prunktreppen und seltene Wehranlagen aus der Nähe sehen wollen. Wir wissen um wunderschöne Ensembles, oft eingebettet in weitläufige Park- oder Grünanlagen, angeschlossen an Radwege oder mit der Möglichkeit zu ausgedehnten Spaziergängen. Und: Wir sehen, dass die Kultur des Landes immer voller Überraschungen ist. Industriekultur zum Beispiel ist in NRW nicht nur monumental und mit Welterbe-Status, sondern kann in vielen wunderbar auf bereiteten und gut erhaltenen Museen landauf, landab erlebt werden. Und vor allem: Nordrhein-Westfalen ist ein Land der Moderne und der zeitgenössischen Kunst; deren große Namen ebenfalls Routen durch das Land legen, man denke nur an die Beuys-Orte Düsseldorf, Krefeld, Kleve und Bedburg. Trotzdem rangieren Besucherzahlen und die interessierte Aufmerksamkeit häufig noch unter dem, was man sich für diese Einrichtungen eigentlich wünscht; das Thema treibt viele um, auch deutschlandweit. Allzu vieles läuft noch immer unter »Geheimtipp«. Das ist ganz nett fürs Marketing, aber eigentlich unbefriedigend. Denn der vermeintliche Reiz des »abseits« Liegenden wirkt im Auge des Reisenden leider oft eher aus- als einladend. Wie hinkommen, warum reingehen, wann am besten ankommen, wie lange bleiben und vor allem: was außerdem noch tun, wenn man schon mal da ist? – Fragen, die vor einer Reise oder einem Trip ganz klar und am besten inspirierend und bildhaft beantwortet werden müssen, gerade auch vor dem Hintergrund eines zunehmend digitalen, das heißt auf leicht zugängliche Informationen setzenden Reiseverhaltens. Tourismus kann hier unterstützen. Erlebnis und Produkt sind unsere Kernkompetenzen. Und wir sind der festen Überzeugung, dass von einer Stärkung des Kulturtourismus durch die Verlängerung und
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Vertiefung des Aufenthaltes vor Ort und eine vorbereitende und unterstützende Kommunikation alle nur gewinnen können: Die Kultureinrichtungen neue Besucher, die Besucher mehr Abwechslung und neue Perspektiven, die Regionen mehr touristische Wertschöpfung. Kulturtourismus stärkt Bindungen nach innen und vermittelt Botschaften nach außen – Faktoren, die im Übrigen eine erhebliche Rolle bei dem immer wichtiger werdenden Thema der »Standortattraktivität« spielen. Um das auszuspielen, braucht es aber neue Kooperationen. Auch die haben wir in unseren Maßnahmen angelegt. Es darf nicht dem Zufall überlassen werden, ob man auf die Frage nach einem guten Kaffee vor dem Museumsbesuch, einer schönen Einkaufsmöglichkeit oder nach der besten Radstrecke im Anschluss eine gute oder unzureichende Antwort bekommt. Wir kombinieren dazu schon im Vorfeld das Museum des Malers Peter August Böckstiegel in Werther mit Bonbons, das prächtige Schloss Drachenburg mit einem idyllisch gelegenen Milchhäuschen, das Herzogliche Schloss und Welterbe Corvey mit einer Manufaktur für Alltagskeramik. »Kulturpäckchen« haben wir das genannt; intensive Netzwerk- und Positionierungsarbeiten gingen dem voraus. Und wir haben bewusst andere Zugänge geschaffen. Der von uns erarbeitete Online-Guide ist nicht die Kunstgeschichte, sondern wir fragen danach, welches Erlebnis sich der Besucher denn wünschen könnte. Landpartie gefällig, oder doch lieber »handfest« Design und Manufaktur erleben? Zu Künstlern nach Hause gehen oder auch mal selbst tätig werden? – Die Wünsche der Touristen vorhersehen und ihnen Passendes anbieten, so präsentieren wir die Kultureinrichtungen. Und zwar keinesfalls mit der Haltung, dass in den Museen etwas »besser« gemacht werden soll. Die Kultur sollte sich hier auf ihr eigentliches »Kerngeschäft« besinnen. Wenn hierfür von den jeweiligen Trägern kein ausreichender Auftrag gegeben wird oder die Rückendeckung fehlt, dann kann auch Kulturtourismus nicht erfolgreich sein, denn touristische Maßnahmen können immer nur eine Ergänzung sein.
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Tourismus heißt: Denken aus der Sicht des Gastes. Immer mehr Kultureinrichtungen übernehmen mittlerweile diese Perspektive, indem sie anders kuratieren, titeln und führen. Das passt also gut zusammen und deshalb gehört dem Thema »Kulturtourismus« mehr Aufmerksamkeit. Der Blick über die eigene Landesgrenze hinweg macht dabei unbedingt klüger. Viele gute Beispiele und weiterführende Forschungsansätze zeigen, wie sich Orte, Einrichtungen und Regionen damit erfolgreich neu positioniert haben, dass sie nachfrageorientiert und einander wertschätzend die Kompetenzen von Kultur und Tourismus zusammengebracht haben. Einige Expertisen finden sich in diesem Band. Der eigentlich … … noch umfangreicher ausfallen könnte, weil die Liste guter Beispiele überall wächst. Ihnen allen wünschen wir viele Nachahmer, unermüdliche Unterstützer und erfreute Besucher. Dr. Heike Döll-König, Geschäf tsführerin des Tourismus NRW e.V.
Kulturtourismus im ländlichen Raum Eine Einführung Andrea Hausmann
Kulturtourismus gilt seit Jahren als Megatrend in Europa, dem auch für die Zukunft weiteres Wachstum prognostiziert wird. Diese positiven Aussichten begründen sich u.a. darin, dass Kulturtourismus ein Teilsegment im Tourismus darstellt, das sich mit anderen Teilsegmenten, wie z.B. dem Geschäftstourismus, dem Gesundheits- und Wellnesstourismus oder dem Naturtourismus, besonders gut kombinieren lässt. Zudem liegen in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen günstige Voraussetzungen vor. So ist die Gesamtentwicklung des Tourismus sehr positiv, wie sich in Deutschland an den seit vielen Jahren kontinuierlich steigenden Gästeankünften und Übernachtungen ablesen lässt. 2018 verzeichnete Deutschland knapp 146 Mio. Ankünfte und 390 Mio. Übernachtungen inländischer Gäste sowie 39 Mio. Ankünfte und 88 Mio. Übernachtungen ausländischer Gäste; das Wachstumsplus betrug bei diesen Kennzahlen durchschnittlich 3,9 % gegenüber dem Vorjahr (DTV 2019, S. 5). Für den Kulturtourismus ist zudem sehr förderlich, dass Deutschland das beliebteste Kurzurlaubsziel der Deutschen darstellt (mit den Bundesländern Bayern und NRW an der Spitze) und dass der Besuch kultureller/historischer Sehenswürdigkeiten jene Reiseaktivität darstellt, die neben dem Aufenthalt in der Natur am häufigsten von den Urlaubenden unternommen wird (DTV 2019, S. 14 und 16). Aber auch innerhalb Europas gilt Deutschland derzeit als das Urlaubs- und Kulturreiseziel Nummer eins – und liegt damit im Europa-Ranking vor den langjährigen Spitzenreitern Spanien und Frankreich. Begünstigend wirkt hier
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zweifellos, dass Deutschland über einen großen kulturellen Reichtum in attraktiven Metropolen und ländlichen Regionen verfügt, die auch im Vergleich mit anderen Ländern infrastrukturell sehr gut erschlossen sind (DTV 2019, S. 10). Was aber ist genau unter Kulturtourismus zu verstehen? Diesem Sammelband liegt folgendes Begriffsverständnis zugrunde: Kulturtourismus umfasst Tages- und Übernachtungstourismus, bei dem das Haupt- oder ein Nebenmotiv der auswärtigen Gäste darin besteht, das kulturelle Angebot einer Destination zu nutzen (Hausmann 2019, S. 3). Dieses Angebot kann sowohl immaterielle (Veranstaltungen, Bräuche etc.) als auch materielle Leistungen (Kultureinrichtungen, Denkmäler etc.) enthalten, die durch entsprechende Maßnahmen (Marketing, Vermittlung, Denkmalpf lege etc.) nutz- und konsumierbar gemacht werden (sollen). An der Erstellung kulturtouristischer Leistungen sind regelmäßig eine Vielzahl von Akteuren und Akteurinnen beteiligt; auf der Angebotsseite gehören hierzu z.B. die Kultureinrichtungen, Kulturverwaltungen, Tourismusorganisationen, Destinationen und sonstigen touristischen Leistungsträger (Hotellerie, Gastronomie, Transport etc.). Es liegt nahe, dass die exemplarisch genannten Akteure und Akteurinnen ganz unterschiedliche Interessen verfolgen, unterschiedlich mit Ressourcen ausgestattet sind und z.T. auch auf sehr unterschiedlichem professionellen Niveau agieren. Hieraus ergeben sich im Kulturtourismus erhebliche Herausforderungen im Hinblick auf die Qualitätssicherung, denn die Gäste, die selbst sehr heterogen sind (z.B. im Hinblick auf ihre Aufenthaltsdauer und -form, den Stellenwert von Kultur im Rahmen ihres Aufenthalts, kulturelle Vorkenntnisse und Vorlieben) interessiert in der Regel nicht, wer konkret eine Leistung erbringt, sondern nur, ob ihr Gesamterlebnis »(Kurz-)Urlaub« stimmt. Ein für die Analyse und Sicherung der Servicequalität hilfreiches Instrument stellt das Mapping bzw. Kartieren der sogenannten »Customer Journey« dar. Unter Customer Journey ist die idealtypische, chronologische Nachzeichnung der Reise potenzieller Kulturtouristen und Kulturtouristinnen zu verstehen. Sie besteht üblicherweise aus den drei Phasen »vor«, »während« und »nach« der Reise, die zwar nicht
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überschneidungsfrei sind, aber dabei helfen, die Aktivitäten der beteiligten Akteure und Akteurinnen einzelnen Phasen schwerpunktmäßig zuzuordnen. Dadurch werden die verschiedenen Kontaktpunkte, die on- und off line zwischen Angebot und Nachfrage im Verlauf einer Reise oder eines Ausf lugs entstehen, offen gelegt und es wird deutlich, wie die touristischen Leistungsträger aufeinander angewiesen sind und sich dementsprechend, wenn sie eine möglichst positive »Customer Experience« sichern wollen, aufeinander abstimmen sollten. Ein solches professionelles Monitoring ist nicht zuletzt auch für die Akteure und Akteurinnen im ländlichen Raum zu empfehlen, die in Sachen Professionalität, Vermarktung und Vernetzung z.T. noch erheblichen Nachholbedarf haben und seit Kurzem verstärkt in den Fokus von Tourismus- und Wirtschaftspolitik gerückt sind. Dies ist insofern neu, als lange Zeit der Kulturtourismus als Synonym zum Städtetourismus verstanden wurde (u.a. DTV 2006), da vorrangig die Städtedestinationen hiervon profitierten. Dass nunmehr der Destinationstyp »ländlicher Raum« zunehmend an Bedeutung im Tourismus gewinnt, liegt u.a. in folgenden Treibern begründet (Hausmann 2019a, S. 23f.): • Nachfrageseitige Treiber: Gesellschaftliche Trends, wie z.B. eine wachsende Sehnsucht nach intakter Natur und Abstand vom hektischen (Großstadt-)Alltag; zunehmendes Interesse an Authentizität, Tradition, Regionalität, Nachhaltigkeit und Entschleunigung; ein generell gestiegenes Umwelt-, Natur- und Tierwohlbewusstsein. • Angebotsseitige Treiber: Zum einen gilt Kulturtourismus vielerorts als »Steigbügel« für Wirtschaftsförderungsmaßnahmen, die auch der Bevölkerung vor Ort zugutekommen (z.B. durch Investitionen in die Infrastruktur), und insgesamt als Hoffnungsträger für konjunkturschwache Regionen, die einen notwendigen Strukturwandel vollziehen müssen, d.h. weg von der land- und forstwirtschaftlichen Produktion hin zu einer stärker dienstleistungs- und wissensbasierten Arbeit. Zum anderen wirkt sich auch der hohe Profilierungs- und Wettbewerbsdruck in der Reisebranche positiv
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aus, die laufend auf der Suche nach neuen Themen und einer Erweiterung ihrer Kapazitäten ist. Wie aber lässt sich der ländliche Raum konkret fassen? Wirft man einen Blick auf die Tourismuspraxis, so ist zunächst zu erkennen, dass der ländliche Raum sehr heterogen ist, je nachdem, wo er als Destinationstyp zum Einsatz kommt. So verfügt beispielsweise der ländliche Raum in Brandenburg, etwa an der Grenze zu Polen, über andere Merkmale, Voraussetzungen und Herausforderungen als der ländliche Raum in Baden-Württemberg, z.B. in der Bodensee-Region. Aber nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern auch innerhalb eines Bundeslandes können große Unterschiede zwischen den ländlichen Räumen bestehen. Dies lässt sich am Beispiel Nordrhein-Westfalens illustrieren: Während im Regierungsbezirk Düsseldorf das Bergische Land und der Niederrhein in direkter Nähe zu städtischem Gebiet liegen (Ruhrgebiet, Rheinschiene), gibt es in den Regierungsbezirken Detmold und Münster ländliche Räume, die eine größere Entfernung zu urbanen Strukturen aufweisen. Diese und andere Unterschiede haben zwangsläufig Konsequenzen für eine Vielzahl von Fragen des Kulturtourismusmarketings und -managements, wie z.B. im Bereich von Angebotsbündelung, Auf bau von Netzwerken, Notwendigkeiten der Digitalisierung etc. (Hausmann 2019b, S. 23f.). Für die theoretische Auseinandersetzung ist bei der Abgrenzung des ländlichen Raums ein Rückgriff auf die Raumordnung sinnvoll, bei der es sich um ein Ordnungskonzept bzw. Planungsinstrument der Geografie handelt. Hier wird der ländliche Raum als das Gebiet verstanden, das weder ein Verdichtungsraum noch die Randzone eines Verdichtungsraumes ist. Demzufolge kann der ländliche Raum als eine Gebietskategorie verstanden werden, die einen Gegenpol zum städtischen bzw. urbanen Raum darstellt. Auch das »Bundesministerium für Energie und Wirtschaft« (BMWi) berücksichtigt Kriterien der Raumordnung in seinen Analysen und legt ihnen in einem ersten Schritt folgendes Begriffsverständnis zugrunde: »Ländliche Räume umfassen […] Gemeinden unter 5.000 Einwohnern und Regionen mit
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einer Einwohnerdichte von weniger als 150 Einwohner/km², also alle Regionen außerhalb städtischer Verdichtungsräume. Dies entspricht etwa 60 % der Fläche Deutschlands« (BMWi 2014, S. 6). Hierbei bleiben jedoch einerseits die Wechselbeziehungen zwischen etwas größeren Kommunen (z.B. aufgrund von Eingemeindungen/Gebietsreformen) und dem »wirklich« ländlichen Umfeld sowie andererseits die ländlichen Gebiete innerhalb von Ballungsräumen unberücksichtigt. Daher erweitert das BMWi sein Begriffsverständnis in einem zweiten Schritt auf »touristisch stärker und geringer entwickelte Regionen, zentrale und periphere Räume, übernachtungsintensive und tagestouristisch relevante Gebiete« (ebd.). Hinter der Formulierung »ländlicher Raum« verbergen sich also nicht ganz eindeutig abgrenzbare und sehr unterschiedliche Gebiete (weshalb zuweilen auch der Plural verwendet und von ländlichen Räumen gesprochen wird) und ein breites Angebotsspektrum, das einen direkten Bezug zur Landwirtschaft und Regionalkultur haben kann, aber nicht haben muss. Mit Blick auf die Angebotsseite – im Weiteren wird unterschieden in Anbieter der Kernleistungen (Kultureinrichtungen, Beherbergungsgewerbe, Gastronomie etc.) und unterstützende sonstige Anbieter (Tourismusorganisationen, Destinationen) – weist der ländliche Raum Charakteristika auf, die allein oder in Kombination typisch für diesen Destinationstyp sind und die großen Einf luss nehmen auf den Erfolg oder Misserfolg bei der Umsetzung kulturtouristischer Maßnahmen (BMWi 2014, 17ff.): • Anbieter der Kernleistungen (Kultureinrichtungen, Beherbergungsgewerbe etc.): Großer operativer Enthusiasmus; Kleinteiligkeit und Semiprofessionalität; begrenzte und nicht konstante Verfügbarkeit von Angeboten (Öffnungszeiten etc.); Qualitätsdefizite (Angebotsund Servicequalität); gering ausgeprägte Markt- und Vertriebsorientierung; geringer Grad an Kooperationsfähigkeit/-bereitschaft; Fachkräftemangel (aufgrund mangelnder Karriereperspektiven, schwieriger Lebensbedingungen, ausgeprägter Saisonalität etc.).
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• Unterstützende Anbieter (Tourismusorganisationen/Destinationen): Keine aufgabenadäquaten Tourismusstrukturen und/oder keine aufgabenadäquate Zusammenarbeit (lokal/regional); Parallelstrukturen in der Vermarktung; fehlende Kompetenzen und/oder fehlender Wille zur Bündelung des kleinteiligen Angebots und zur überregionalen Markenbildung; Investitionsstau bei der Freizeitund Tourismusinfrastruktur; knappe Budgets; kleinteiliges/egoistisches Handeln (Lokalpatriotismus, Kirchturmdenken). Um die Professionalisierung des (Kultur-)Tourismus im ländlichen Raum angesichts dieser Charakteristika und Rahmenbedingungen voranzutreiben und die Dynamik der weiter oben beschriebenen Treiber zu nutzen, sind in Deutschland sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landesebene verschiedene Projekte mit einer Vielzahl von Akteuren in den letzten knapp 10 Jahren initiiert und öffentlich finanziert worden. Hierzu gehören z.B. • das Projekt »Tourismusperspektiven in ländlichen Räumen – Handlungsempfehlungen zur Förderung des Tourismus in ländlichen Räumen«, das im Jahr 2011 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) mit dem Ziel initiiert wurde, den Status quo zum Thema zu ermitteln sowie modellhafte Lösungen für Anbieter, Vermarkter, Netzwerke und die öffentliche Hand zu entwickeln. Mehr als 350 Fachleute aus Tourismuswirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung wurden in Expertengesprächen und auf vier Regionalkonferenzen einbezogen (BMWi 2014, S. 4ff.). Hierauf auf bauend wurde vom BMWi im Jahr 2015 das Projekt »Die Destination als Bühne: Wie macht Kulturtourismus ländliche Regionen erfolgreich?« ins Leben gerufen, um einerseits konkrete kulturtouristische Angebote zu entwickeln sowie andererseits die Gesamtentwicklung im ländlichen Raum zu stimulieren. Dazu wurden in verschiedenen Auswahlverfahren sechs Modellregionen – Oberlausitz-Niederschlesien, Ostfriesland, Zugspitzregion (ausführlich hierzu Holz in diesem Sammelband), An-
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halt-Dessau-Wittenberg (ausführlich hierzu Witt in diesem Sammelband), Mecklenburgische Seenplatte und die Oberschwäbische Barockstraße – ausgewählt, die jeweils individuelle Coachings von Tourismusberatungsunternehmen erhielten, um praxisorientierte Lösungen, d.h. vermarktungsfähige kulturtouristische Produkte zu erarbeiten. Diese sollten beispielhaft für andere ländliche Regionen sein, z.B. auch im Hinblick auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Tourismus und Kultur (ausführlich hierzu Bojunga/Feil in diesem Sammelband); • das Projekt »Innovationsprogramm KulturReiseLand NRW«, das gemeinsam von der Europäischen Union und dem Land Nordrhein-Westfalen gefördert wurde. Das Projekt hatte zum Ziel, Kulturangebote abseits der urbanen Zentren stärker in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern, ihre Vermarktung zu optimieren und die Bereiche Kultur und Tourismus professioneller zu vernetzen; insgesamt sollte das Profil des Bundeslandes NRW als erlebnisreiches Kulturreiseziel geschärft und dessen Position im Wettbewerb gestärkt werden. Hinsichtlich der Maßnahmen stehen auch hier Coachings jener Kultureinrichtungen im Vordergrund, die das größte ungenutzte touristische Potenzial aufweisen; zusätzlich wurden Werbemaßnahmen finanziert und es wurde ein landesübergreifender kulturtouristischer Wegweiser entwickelt. Umgesetzt wurde das Projekt von Tourismus NRW e. V. in Kooperation mit acht Landschafts-, Kultur- und Tourismusverbänden Nordrhein-Westfalens (ausführlich hierzu Burzinski in diesem Sammelband). Aber auch abseits dieser Projekte ist der ländliche Raum bzw. sind viele seiner Akteure und Akteurinnen selbst auch sehr aktiv und kontinuierlich auf der Suche nach Best Practices, tragfähigen Partnerschaften und neuen Erkenntnissen. Ein Indikator hierfür ist nicht zuletzt die Tatsache, dass an der groß angelegten Kulturtourismusstudie des Instituts für Kulturmanagement der PH Ludwigsburg und der Agentur »projekt2508« der ländliche Raum die einbezogenen Destinationsty-
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pen anführte (Burzinski et al. 2018, S. 26). Deutlich über ein Drittel der 323 teilnehmenden Kultureinrichtungen (39,6 %) und fast die Hälfte der 93 Kulturverwaltungen (48,4 %) gaben an, Akteure des ländlichen Raums zu sein (zu den anderen Kategorien gehörten Großstadt: 27,6 %, mittelgroße Stadt: 11,5 %, kleinere Stadt: 15,8 %, Sonstiges: 5,6 %). Daraus lässt sich schließen, dass die Ergebnisse dieser Studie, die erstmalig eine umfassende, multiperspektivische Bestandsaufnahme zum Kulturtourismus im deutschsprachigen Raum lieferte, gerade auch für diesen Destinationstyp Gültigkeit besitzen. Zu den Kernaussagen gehören dabei mit Blick auf die Herausforderungen der Zukunft: mangelhafte Infrastruktur des ländlichen Raums (v.a. schlechte Erreichbarkeit von Angeboten mit dem ÖPNV), fehlende »Kümmerer und Kümmerinnen« (d.h. kompetente Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen, die den Kulturtourismus professionalisieren können, z.B. durch eine Vernetzung touristischer Dienstleister und die Schaffung gemeinsamer Produkte; fehlende Ressourcen (insbesondere finanzielle Mittel, aber auch eine Unterausstattung mit Personal) sowie der Bevölkerungsrückgang bzw. die Abwanderungsquote in vielen ländlichen Räumen (Burzinski et al. 2018, S. 44 sowie auch die Beiträge von Burzinski und Pröbstle in diesem Sammelband). Im Kontext dieser und weiterer Projekte entschloss sich Tourismus NRW e. V. – touristischer Dachverband und touristisches Kompetenzzentrum für das Bundesland Nordrhein-Westfalen – dazu, einen Fachkongress zum Thema auszurichten, um auf diese Weise die bisherigen Erkenntnisse zu bündeln, gute und weniger gute Erfahrungsberichte aus der Praxis einzuholen, das Networking der Akteure und Akteurinnen untereinander zu fördern und den Bedarf an künftigen Maßnahmen zu identifizieren. Die Konzeption des Programms erfolgte unter Einbeziehung der wissenschaftlichen Expertise des Instituts für Kulturmanagement der PH Ludwigsburg, das in der Kulturtourismusforschung und -beratung seit Jahren sehr aktiv ist. Neben der Kulturtourismusstudie 2018 sind sowohl Publikationen (u.a. Hausmann/ Murzik 2011; Hausmann 2019a und 2019b) als auch weitere empirische Studien veröffentlicht worden, die sich z.B. mit den Unterschieden
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und Gemeinsamkeiten von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund als touristische Zielgruppen beschäftigen (Hausmann 2018) oder die die Voraussetzungen, Potenziale und Herausforderungen der Digitalisierung im Kulturtourismusmarketing aus Sicht von Angebot und Nachfrage untersuchen (Hausmann/Weuster 2017; Hausmann/ Schuhbauer 2019). Nach Auswahl und Kontaktierung der Referenten und Referentinnen, die erfreulicherweise unisono der Einladung gefolgt sind, wurde der Fachkongress am 7. Dezember 2018 unter dem Titel »Kulturtourismus im ländlichen Raum« in Münster ausgerichtet. Der Fachkongress war dabei Teil des von der Europäischen Union und dem Land Nordrhein-Westfalen geförderten Projekts »Innovationsprogramm KulturReiseLand NRW«, das von Tourismus NRW e. V. gemeinsam mit den Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe, dem Tourismusverbund Südlicher Niederrhein, dem Münsterland e.V., der Niederrhein Tourismus GmbH, der NRW-Stiftung, der OstWestfalenLippe GmbH und dem Zweckverband Region Aachen umgesetzt wurde. Das Projekt hatte zum Ziel, Kulturangebote abseits der urbanen Zentren des Landes in den Fokus zu stellen, ihre Vermarktung zu optimieren sowie die stärkere Vernetzung der Bereiche Kultur und Tourismus anzuregen. Unter der wissenschaftlichen Leitung der Autorin vorliegender Einführung gaben renommierte Fachleute aus Wissenschaft und Praxis des Kulturtourismus spannende Einblicke in die Erfolgsstrategien kulturnaher Angebote im deutschsprachigen Raum. Bei der Zusammenstellung des Kongressprogramms – und im Weiteren auch dieses Sammelbands, für den die Referenten und Referentinnen ihre Vorträge ausgearbeitet, präzisiert und erweitert haben und in dem weitere Fachleute zu Wort kommen – wurde Wert darauf gelegt, dass verschiedene Perspektiven Berücksichtigung finden. So sollte zum einen ein Blick über den Tellerrand geworfen und an den Erfahrungen aus dem deutschsprachigen Ausland partizipiert werden; die guten und manchmal auch weniger guten Erkenntnisse aus eigener praktischer Umsetzung des Kulturtourismus in den ländlichen Räumen der Schweiz und von Österreich lassen sich den interessanten Beiträgen
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von Forster und Teissl in diesem Sammelband entnehmen. Im Weiteren sollten die wegweisenden Ergebnisse der Kulturtourismusstudie 2018 mit konkretem Fokus auf den ländlichen Raum in Deutschland auf bereitet werden; nachzulesen sind die hierbei gesetzten Schwerpunkte im fundierten Beitrag von Pröbstle. Auf einer solchermaßen gelegten Grundlage galt es im Folgenden einerseits mehr über die Herausforderungen und Erfolgsfaktoren auf der Anbieterseite zu erfahren sowie andererseits mehr über die Bedürfnisse und Erwartungen auf der Nachfrageseite; in den kenntnisreichen Beiträgen von Bojunga/ Feil und Drews können diese Perspektiven nachgelesen werden. Nach der länderübergreifenden Betrachtung, der statistischen Unterfütterung und der Berücksichtigung der beiden Marktpole Angebot und Nachfrage ging es auf dem Fachkongress im Weiteren darum, ganz konkret von erfolgreichen Praxisbeispielen zu lernen. Witt und Holz berichteten vor Ort in Münster, was zu beachten ist, wenn kooperative Maßnahmen im Kontext von Vermarktung und Digitalisierung erfolgreich umgesetzt werden sollen; beide fokussieren dieses immerwährend aktuelle Thema auch in ihren Beiträgen in diesem Sammelband. Last but not least gibt Burzinski interessante Einblicke in das oben angesprochene, von Tourismus NRW e. V. angestoßene Projekt »KulturReiseLand« und formuliert dabei pointiert die wesentlichen Schritte, die für eine positive Weiterentwicklung des Kulturtourismus in ländlichen Räumen umgesetzt werden müssen. Die Herausgeberin dankt Tourismus NRW e. V. für die sehr schöne Zusammenarbeit, den Autorinnen und Autoren für ihre spannenden, kenntnisreichen Ausführungen und sie wünscht allen Leserinnen und Lesern viel Vergnügen und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre!
Literatur Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2014): Tourismusperspektiven im ländlichen Raum. Handlungsempfehlungen zur Förderung des Tourismus in ländlichen Räumen. https://
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www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Tourismus/touris musperspektiven-in-laendlichen-raeumen.pdf?__blob=publicati onFile&v=1. Zugegriffen: 19. August 2019. Burzinski, M., Buschmann, L., & Pröbstle, Y. (2018): Kulturtourismusstudie 2018. Empirische Einblicke in die Praxis von Kultur- und Tourismusakteuren. www.projekt2508.de/wp-content/ uploads/2018/05/Kulturtourismusstudie-2018-Webversion.pdf. Zugegriffen: 19. August 2019. Deutscher Tourismusverband (DTV) (2019): Zahlen, Daten, Fakten 2018. https://www.deutschertourismusverband.de/fileadmin/ Mediendatenbank/Bilder/Presse/Presse_PDF/ZDF_2018_Web.pdf. Zugegriffen: 20. August 2019. Deutscher Tourismusverband (DTV) (2006): Städte- und Kulturtourismus in Deutschland. Langfassung. https://www.deutschertourismusverband.de/service/touristische-studien/dtv-studien.html. Zugegriffen: 14. Mai 2019. Hausmann, A. (2019a): Einführung in den Kulturtourismus (Essentials – Praxis Kulturmanagement), Wiesbaden: Springer. Hausmann, A. (2019b): Kulturtourismusmarketing (Essentials – Praxis Kulturmanagement), Wiesbaden: Springer. Hausmann, A. (2018): Migranten als kulturtouristische Zielgruppe. https://kulturmanagement.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/subsites/2c-kuma-t-01/PDF/Forschung/Ergebnisbericht_Hausmann_ FINAL_Einzelseiten.pdf. Zugegriffen: 22. August 2019. Hausmann, A., & Schuhbauer, S. (2019): Information and communication technologies (ICTs) in cultural and heritage tourism. Results of a visitor survey. Konferenzpapier EURAM 2019 Annual Conference, 1-24. Hausmann, A., & Weuster, L. (2017): Possible marketing tools for heritage tourism: the potential of implementing information and communication technology. Journal of Heritage Tourism, 13(3), 273-284. Hausmann, A./Murzik, L. (Hg.) (2011): Neue Impulse im Kulturtourismus, Wiesbaden: Springer.
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Kulturtourismus in ländlichen Räumen der Schweiz Ein Essay – vier Thesen Stefan Forster Die Nachfrage nach Kulturtourismus steigt in der Schweiz. Insbesondere in den Städten bewegte sich die Zunahme der Nächtigungen in den letzten zehn Jahren im zweistelligen Prozentbereich. Im Gegenzug dazu verliert der für die Schweiz zentrale alpine Wintertourismus kontinuierlich an Anteilen. Über 70 Prozent der Schweizer Bevölkerung besucht mindestens eine Kulturausstellung oder ein Museum im Jahr (Bundesamt für Kultur, 2018). Dies zeigt das allgemein große Interesse an der Kultur. Vielfältige Potenziale für den Kulturtourismus zeigen sich neben den Städten auch für die ländlichen Räume. Diverse gesellschaftliche Trends wie der Wunsch nach Echtheit, Substanz und Einzigartigkeit lassen erahnen, welche Möglichkeiten sich auch für ländliche Regionen abzeichnen. Vor allem bietet Kultur attraktive Ansatzpunkte für die Differenzierung gegenüber anderen Regionen. In den westlichen Gesellschaften und Lebenswelten, die immer mehr mit austauschbaren Konsumgütern, Erlebnissen und Informationen überf lutet werden, ist die Einzigartigkeit zum knappen »Sehnsuchts-Gut« geworden. Die Suche nach Orientierung im Überf luss, nach unverwechselbarer Substanz, nach sinnstiftender Nachhaltigkeit und Qualität gewinnt an Bedeutung. Genau hier liegen auch die kulturtouristischen Potenziale des ländlichen Raumes.
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Vier Thesen zum Kulturtourismus in ländlichen Räumen Das Verständnis von Kultur und Tourismus ist vielfältig. Was dem Tourismus allerdings stereotyp anhaftet ist ein Banalitätsverdacht. Im Gegenzug gilt Kultur als elitär und brotlos. Auf jeden Fall ist Kultur, seit es Tourismus gibt, ein wichtiges Reisemotiv. Über eine Million Leute liefen im Sommer 2016 innerhalb von zwei Wochen über die »Floating Piers« von Christo auf dem Iseosee in Italien. Die im Januar 2017 eröffnete Elbphilharmonie in Hamburg wurde im ersten Jahr von 4,5 Millionen Menschen besucht. Die meisten kamen »nur«, um das Gebäude zu sehen. Überall in den Städten entstehen neue Orte, die Kunst, Handwerk, Ess- und Agrikultur wieder zelebrieren und Quartiere beleben. Designwerkstätten werden eingerichtet, Urban Farmers bepf lanzen Bürodächer, Gin-Destillerien entstehen in Hinterhöfen. Kultur und Kreativwirtschaft machen Städte wieder attraktiv und ökonomisch interessant. Tourismus ist eng gekoppelt an den gesellschaftlichen Wandel. Die Sehnsucht nach Kultur spiegelt den Wunsch der Menschen nach Sinn und ortsgebundener Substanz. Leider ist das nicht nur ein Segen. Die massenhafte Liebesbekundung der vielen Kulturhungrigen überfordern bisweilen Städte wie z.B. Barcelona oder Venedig. Der Blick über die sieben Berge hinweg, zeigt aber kulturtouristische Perspektiven für die ländlichen Räume der Schweiz. Denn genau die »Land-Provinz« hat großes Potenzial, weil sie die Ingredienzen – Kultur, Substanz und Lebensqualität – in sich trägt. Natürlich kleiner und unaufdringlicher als die »Elphi« in Hamburg und nicht auf die breite Masse ausgelegt, aber trotzdem bedeutungsvoll im Rahmen der ländlichen Realitäten. Darum sollen für diesen Beitrag vier Thesen zum Kulturtourismus in den ländlichen Räumen zur Diskussion gestellt werden.
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I. These: Kultur- und Kreativwirtschaft können ökonomische und gesellschaftliche Treiber für den ländlichen Raum als Wirtschafts- und Lebensraum sein Die besten Argumente für diese These bieten die Entwicklungen in diversen Städten. Im Zuge der Deindustrialisierung und dem rasanten Wandel in eine Dienstleistungsgesellschaft mussten großf lächige Areale und politisch-kulturelle Strukturen in vielen Stadtregionen neu erfunden werden. Kulturschaffende und Kreative füllten ganze Quartiere und Industriebrachen mit neuem Leben. Ihre »Werke« und Aktionen, die Produkte, die Veranstaltungen und das Lebensgefühl wurden zu einer sozialen und ökonomischen Leitkultur. Kultur machte die Städte wieder attraktiv. Viele neue Arbeitsplätze und Wertschöpfungsketten entstanden. Am Beispiel der Stadtentwicklung in Zürich in den letzten 30 Jahren kann diese Entwicklung – ausgehend von den kreativen Anfängen in Zürich-West – exemplarisch kulturell, ökonomisch und demographisch nachgezeichnet werden (INURA Zürich Institut, 2015). Wie so oft überborden gesellschaftlich-kulturelle Trends gerne ins Oberf lächliche, wenn sie zu erfolgreich sind. Unter dem Diktat des Profites wird bisweilen die Balance verloren und das System treibt bizarr-kapitalistische Blüten. Aber zum Glück ist Kultur- und Standortentwicklung nicht einfach mit trendigen Businessplänen steuerbar. Viele schlaue Stadtmarketing-Experten wollten den Bilbao-Effekt in der Vergangenheit kopieren und sind gescheitert, weil das kulturelle Umfeld und die Glaubwürdigkeit fehlten. Ein paar Designmöbel in skulpturaler UFO-Architektur und ein bärtiger Hipster hinter dem Tresen der Museumsbar sind durchschaubar, oberf lächlich und reichen nicht für eine substanzielle Positionierung. Trotzdem: Kultur und Kreativwirtschaft als ökonomische Treiber waren in den letzten Jahren tonangebend in vielen urbanen Räumen. Die Dichte der Angebote wächst stetig. Kulturveranstaltungen, Museen, Galerien, Kunsthandwerkstätten und allerlei kreative Pop-Up-Läden führen aber auch zu Überdruss und dem Wunsch nach mehr Leere. Das Fehlen von kulturellen »Leuchttürmen«, ikonischer Architektur
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und gestylten Designwelten ist heute kein Makel mehr, sondern das kulturtouristische Potenzial der Provinz. Es bieten sich viele Chancen für unternehmerisch-künstlerische Freiräume. Auf dem Land gibt es noch Orte, wo Kulturformate erprobt werden können, um Gäste zu gewinnen, Einheimische zu erfreuen und den touristischen Herausforderungen zu begegnen. II. These: Kulturtouristische Inhalte liefern Geschichten für viele Angebote. Sie sind nicht nur kommerziell interessant, sondern sie beeinf lussen maßgeblich die Wahrnehmung Alle stehen und staunen zwischen den gefüllten Regalen der Großverteiler. Kunden ringen um die Entscheidung, welcher Senf, welche Chips oder welches Deo ausgewählt werden soll. Es gibt einfach von allem viel zu viel. Zum Glück wird den Kunden durch die Hersteller der Konsumgüter »geholfen«. Sie suchen und erfinden Unterscheidungen. Sie kreieren Differenzen, damit Kaufentscheidungen leichter fallen. Der Senf ist bio, scharf oder grobkörnig. Die Chips sind handgemacht, mit Meersalz oder kalorienreduziert. Das Deo soll wahlweise 24, 48 oder gar 72 Stunden unangenehme Gerüche verhindern. In den Regalen tobt der Kampf der Differenzierung. Dass das wenig sinnvoll ist, dass der Überf luss – das »Zu-viel-haben-Wollen« – mental und ökologisch in eine Sackgasse führt, ist mittlerweile den meisten klar. Was allerdings das Konsumverhalten paradoxerweise kaum zu beeinf lussen scheint. Auch im Tourismus suchen die Destinationen nach Alleinstellungsmerkmalen, nach unverwechselbaren Inhalten, damit sie sich unterscheiden können. Skifahren, biken, wandern, sich erholen oder schöne Landschaften genießen, kann man an vielen Tourismusorten in den Alpen. Das einzige was wirklich differenziert, ist die aus dem Ort geschaffene Kultur. Kultur macht im Regal der vielen Tourismusangebote unterscheidbar. Kultur macht attraktiv. Dies obwohl viele dieser Kulturwerte in die touristische Gesamtrechnung nicht einf ließen, weil sie »einfach« da sind und scheinbar nichts kosten. Trotzdem sind sie entscheidend dafür, dass so viele Leute auf die
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Schweiz aufmerksam werden und ihre Ferien hier verbringen. Kulturwerte sind die Image-Träger, die Gesichter und Geschichten der ländlichen Räume. Diese sind nicht nur wichtig für den Tourismus, sondern auch als ökonomische und gesellschaftliche Standortfaktoren. Sie beinhalten das gespeicherte technische, soziale und ökonomische Wissen einer Gesellschaft. Darauf bauen soziale und ökonomische Innovationen auf. III. These: Der Kulturtourismus bietet die Möglichkeit, die Unterscheidung zwischen Gästen und Einheimischen neu zu denken. Er bringt die Menschen zusammen und fördert das gegenseitige Verständnis Diese These ist vielleicht vorerst gesellschaftsromantisches Wunschdenken. Denn oft ist es genau umgekehrt. Kulturtourismus kann aber auch die Verständigung zwischen dem Eigenen und dem Fremden verbessern. Fremdheit bezeichnet ja nicht einfach Hautfarbe oder Sprache, sondern eine Beziehung zwischen Menschen. Der Prototyp des Fremden ist der »Ausländer im Inland«. Eine Definition, die auf der Nationalstaaten-Idee auf baut. Erfunden vor rund 200 Jahren als Territorien zu Nationen gemacht wurden. Ohne die ideologische Überhöhung von »immerwährender Gemeinschaft« und »Heimat« kamen die neuen Nationalstaaten nicht aus. Dass der Fremde sich in dieser Situation bestens als Feindbild eignet, liegt auf der Hand. Bis heute ist diese einfache Erzählung meinungsbildender Mythos. Diese ref lexartige Angst vor dem Fremden mündet dann in einem »fremdenabhängigen« Land wie der Schweiz bisweilen in Realsatire. Wie sieht es aber aus mit der asiatischen Touristin im Glacier-Express auf dem Weg nach Zermatt, mit dem deutschen Feriengast im Engadin? Sie sind auch Fremde, aber als Gäste nur bedingt bedrohlich, weil zu ihnen eine kommerzielle Freundschaft gepf legt wird. Vor allem aber, weil sie als Gäste wieder gehen. Erst der Gast, der bleiben möchte, wird ungemütlich. Darum wird es zum Beispiel auch etwas komplizierter mit den Zweitwohnungsbesitzer und -besitzerinnen. Denn sie wollen partout nur temporär wieder gehen, sie mischen sich ein, wollen mit-
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bestimmen, dazugehören. Die Fremden stellen durch ihre Anwesenheit die Selbstverständlichkeit der bestehenden Ordnung in Frage. Sie sind der lebende Beweis dafür, dass alles ganz anders sein könnte. Hier sollten alle neugieriger, offener werden und die Entwicklungschance des Fremden erkennen. Tourismus ist ein kulturelles Phänomen. Er bezieht sich neben den kommerziellen Zielen auf die Interaktion zwischen den Menschen. Auf diese Integrationskraft als Tourismuskultur sollte gebaut und das Verhältnis zwischen Einheimischen und Gästen neu gedacht werden (Drews, K., 2017). In der globalen Welt werden die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren. Unser Alltag ist heute bereits geprägt von internationalem Austausch und globalen Herausforderungen. Die Menschen, die Informationen sind mobiler denn je. Darum wird auch regionale Kultur wieder wichtiger, weil dort die einmaligen Unterschiede zum globalen Einheitsbrei neu entdeckt werden können. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir uns auf die nationale Abschottungs-Idee zurückbesinnen, wie sie einige Ewiggestrige in der Schweiz und in verschiedenen europäischen Ländern wieder propagieren. Die Globalisierung und die Wiederentdeckung des Regionalen gehören zusammen, wie der globale »Big Mac« und der regionale »Bio-Schinken«, wie das Fremde und das Eigene, wie die Gäste und die Einheimischen. Eine Gesellschaft, die ihre eigenen Kulturwerte bewahrt und weiterentwickelt ist dynamisch und zukunftsgerichtet. Neue Ideen leben von fremden Impulsen, was die Geschichte des Tourismus kontinuierlich aufzeigt. In einer ganzheitlichen Betrachtung des Kulturtourismus geht es um ein gutes Leben für alle.
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IV. These: Die Tourismusverantwortlichen müssen mehr über Kultur wissen und mehr Verantwortung übernehmen, damit Kultur weiterhin geschaffen wird und erhalten bleibt. Auch die Kulturschaffenden sollten ihre latent vorhandenen Berührungsängste gegenüber dem Tourismus überdenken und sinnvolle Kooperationen geschickt nutzen Das Interesse der Reisenden an der Kultur ihrer Ferienregion ist oft groß. Denn ein fremdes Umfeld animiert zu einer bewussteren ästhetischen Wahrnehmung, zum Nachdenken über die eigene Kultur und die Unterschiede zur fremden. Vor dem »industriellen« Tourismus heutiger Prägung orientierten sich verschiedene Reiseformen am Motiv der Kulturbildung. Die »Grand Tour« der Aristokraten im 17./18. Jahrhundert, diente der Persönlichkeitsbildung, dem »Netzwerken« unter den Adligen Europas und der Aneignung von interkulturellen Fähigkeiten. Auch Handwerker und Studenten nutzten das Reisen als Bildungs- und Horizonterweiterung. Die Idee der Selbstbildung in der Begegnung mit fremden Kulturen, mit dem »Wahren und Schönen« wurde unter anderem durch Goethes »Italienische Reise« zum Reisemythos, der bis heute funktioniert. Darüber, ob nun das Reisen tatsächlich auch bildet, lässt sich streiten. Auf jeden Fall unterscheidet sich das heutige Tourismussystem deutlich von der klassischen Bildungsreise. Tourismus ist heute ein globales Massenphänomen, die Reisen sind viel kürzer und weiter, die »sehenswürdige« Kultur ist normiert und vor allem brachte die Kommerzialisierung eine Trennung zwischen Inhalt und Verkauf. Der Inhalt, das kulturelle Erbe, wurde produziert von Generationen vor uns. Der Inhalt wird aber auch stetig neu entwickelt, gestaltet, interpretiert von der heutigen Gesellschaft und den zeitgenössischen Kulturschaffenden. Die naheliegende Verknüpfung zum Tourismus wird aber oft vergessen. Im Gegenzug haben sich die Tourismusmacher und -macherinnen im Laufe der touristischen Ökonomisierung vom Inhalt verabschiedet. Sie entwickelten ausgeklügelte Verkaufsstrategien, Marketingkonzeptionen und ortlos-kulissenhafte Inszenierungen. Die Nachfrageentwicklung zeigt
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aber heute klar, dass sich die Gäste, die Besucher/-innen oder eben das Publikum nicht mehr mit inhaltsleeren und austauschbaren Allerwelts-Angeboten abspeisen lassen. Regionalität, ortsbezogene Kultur, Echtheit und Substanz sind gefragt. Genau diese Vorzeichen bringen auch den Tourismus und die Kultur wieder zusammen. Die Kultur muss sich vermehrt um eine zwar fundierte, aber auch erlebnisorientierte Vermittlung kümmern und mit dem Tourismus kooperieren. Die Tourismusverantwortlichen müssen mehr über Kultur wissen und sich letztendlich für die Kulturentwicklung und Erhaltung engagieren (Teissl, V.; Seltenheim K., 2017).
Schlussbetrachtung In den aufgeführten Thesen kommen verschiedene Ansatzpunkte für Entwicklungsmöglichkeiten zur Sprache. Daraus ergeben sich zweifellos viele kulturtouristische Optionen für die ländlichen Räume. Allerdings darf man sich aus regionalpolitischer Sicht auch keine Illusionen machen. Die ländlichen Räume werden weiterhin abhängig sein von der gesellschaftlichen Solidarität. Zwar sind die unternehmerischen Chancen des Kulturtourismus wachsend und vielversprechend, trotzdem dürfen die ländlichen Räume nicht nur daran gemessen werden. Denn sie pf legen, bewahren und entwickeln viele Werte, die nicht wirtschaftlich, dafür aber gesellschaftlich und ökologisch von großer Bedeutung sind. Darum wird es weiterhin notwendig sein, neben den ökologischen auch die soziokulturellen Leistungen mit regionalpolitischen Maßnahmen abzugelten und zu fördern. Als weiterer Grundsatz für eine ganzheitliche Betrachtung des Kulturtourismus in den ländlichen Räumen müssen die oben beschriebenen Entwicklungstrends nicht nur politisch, sondern auch räumlich-funktional, komplementär diskutiert werden. Das Land kann nicht ohne die Stadt gedacht werden – und umgekehrt. Denn die Beziehungen und Wirkungen zwischen den Räumen sind ökonomisch, politisch, kulturell und emotional vielfältig. Neben diesen räumlich-funktiona-
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len Herausforderungen gibt es für die allgemeine und kulturtouristische Entwicklungsfrage noch eine weitere Schlüsselstelle: Haben die Gemeinden und Regionen die Kraft, die sich bietenden Möglichkeiten zu nutzen? Gibt es genug Leute vor Ort, die das Engagement, das Wissen und das Können haben, Initiativen zu starten und partizipativ umzusetzen? Es braucht in den ländlichen Räumen ausreichend Menschen, die diese Möglichkeiten sehen und umsetzen können. Denn entscheidend sind die »Kulturtourismus-Kümmerer/-innen« vor Ort (Burzinski, M.; Buschmann, L.; Pröbstle, Y., 2018). Hier müssen auch regionalpolitische Fördermaßnahmen ansetzen, indem sie gute Ideen, aber vor allem auch kluge, innovative, unternehmerische Akteure und Akteurinnen unterstützen. Allerdings ist das nicht der allgemeingültige Königsweg, denn eine weitere Prämisse in dieser Frage ist die Tatsache, dass es nicht den einen, genau definierbaren ländlichen Raum gibt. Regionen sind vielfältige Systeme, die sehr unterschiedliche Ausgangslagen haben, was wiederum sehr verschiedene Lösungsansätze erfordert. Die Entwicklung des Kulturtourismus in den ländlichen Räumen ist darum eine äußerst individuelle Fragestellung, die analytisch und lösungsorientiert, aber immer auch an die Region gebunden angegangen werden muss.
Literatur Bundesamt für Kultur (2018): Taschenstatistik der Schweizer Kultur, Bern. Burzinski, M.; Buschmann, L.; Pröbstle, Y. (2018): Kulturtourismusstudie 2018. Empirische Einblicke in die Praxis von Kultur- und Tourismusakteuren. Institut für Kulturmanagement Ludwigsburg/projekt2508. Drews, K. (2017): Kulturtourismus im ländlichen Raum an »dritten Orten« der Begegnung als Chance zur Integration von Kultur- und Tourismusentwicklung. Hildesheim, Zürich, New York.
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INURA Zürich Institut (2015): Räume und Bewegungen der Kreativen in Zürich 1989 – 2014. Studie im Auftrag Stadtentwicklung Zürich. Teissl, V.; Seltenheim, K. (2017): Kulturtourismus in Tirol. Chancen und Widerstände in einer Alpenregion. Bielefeld.
Kulturtourismus als Vehikel für Wertekonsens? Erfahrungen aus Tirol Verena Teissl
In der Studie »Kulturtourismus in Tirol. Chancen und Widerstände in einer Alpenregion« haben Teissl/Seltenheim (2017) das Phänomen beforscht, warum in der alpinen Tourismusdestination Tirol kaum kulturtouristische Aktivitäten angeboten werden. Darunter verstanden die AutorInnen abseits von lokalen Brauchtumsveranstaltungen und Sightseeing historischer Bauten in der Landeshauptstadt die Einbindung der tirolweiten, zahlreichen zeitgenössischen Kulturangebote in die touristische Gesamtstrategie. Es interessierten zum einen die Gründe, warum Kulturtourismus in dieser Gesamtstrategie nur punktuell einen Stellenwert hat und welche Konsequenzen dies für wen mit sich bringt. Zum anderen interessierte die Auseinandersetzung mit den Potenzialen von Kulturtourismus in Tirol und welche Maßnahmen sie freisetzen könnten. Als kulturwissenschaftlich orientierte Arbeit spielten dabei insbesondere jene Potenziale eine Rolle, die eine nachhaltige Gesellschaftsentwicklung zu befördern vermögen, sowohl für die Bereisten als auch für die Reisenden. Um diesen Teil einer Möglichkeitsbestimmung zu bewältigen, wurde Kulturtourismus als Denkfigur angelegt, als Vehikel für kulturelle Nachhaltigkeit im Sinne von differenzierter, regionsspezifischer Auseinandersetzung und kultureller Bildung, wie dies zum Beispiel die europäischen Kulturhauptstädte vormachen (Fuchs 2017: 51ff.). Solche Beispiele zeigen einen immanenten Wettbewerbsvorteil gerade in der Überwindung des Zielkonf likts zwischen tourismusbetrieblicher Gewinnorientierung und kulturbetrieblichem Bildungsauftrag. Die AutorInnen konnten
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dazu neben dem breiten Forschungsstand zu Kulturhauptstädten und zu Kulturtourismus allgemein insbesondere auf den Publikationen von Siller auf bauen, der diesen Wettbewerbsvorteil für alpine Destinationen wiederholt erforscht hat (Siller 2010; Siller/Matzler 2011). Während Studien zu Kulturtourismus in deutschen Regionen vielfach dessen Vorteile für ökonomische und soziokulturelle Aufwertung in tourismusschwachen Regionen zeigen (Drews 2017; Hausmann/ Murzik 2011; Föhl et al. 2011; Eichbaum 2008), liegt in Tirol eine quasi konträre Ausgangslage vor. Tirol ist als alpine Winter- und Sommersportdestination äußerst erfolgreich. So wurden im »Tourismusjahr 2017/18 mit 12 Millionen Ankünften und 49,4 Millionen Übernachtungen neue Höchstwerte« verzeichnet (Tirol Werbung 2019a). Insofern gibt es kein ökonomisches Motiv für kulturtouristische Angebote. Ein ergänzender Kulturtourismus könnte allerdings für bestehende Herausforderungen unterstützend wirken, wie die relativ hohe Abhängigkeit von der Wetterlage, vom deutschen Quellmarkt (52 Prozent, ebd.), das Bestreben nach Internationalisierung (Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus 2019a), den hohen Altersdurchschnitt und die kurze Aufenthaltsdauer von TouristInnen in der Landeshauptstadt Innsbruck. Bislang wird jedoch – mit Ausnahme der Landeshauptstadt, wo der zuständige Tourismusverband auch auf Kulturangebote setzt – Kulturtourismus nicht als mögliche ergänzende Strategie verfolgt. Tourismusverbände sind Körperschaften öffentlichen Rechts und verantwortlich für die Bewerbung und Ausführung touristischer Angebote in ihrer Region. Tirol ist in 34 touristische Regionen unterteilt, für die jeweils ein Tourismusverband zuständig ist. Der Tourismusverband Innsbruck und seine Feriendörfer setzt v.a. auf Architektur, um der Stadt, z.B. durch Bauten von Zaha Hadid, ein modernes Image zu verleihen, sowie auf Musik, insbesondere auf Festivals zur Erhöhung der Aufenthaltsdauer (Teissl/Seltenheim 2017: 175ff.). Kulturangeboten werden also angesichts eines ökonomisch relativ gesättigten Tourismusmarkts in Tirol keine besondere Rolle zugedacht. Dass Kulturtourismus nicht nur zur Verbesserung der
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bestehenden Herausforderungen beitragen kann, sondern sich das Verhältnis aus Image und Identität neu gestalten ließe, lieferte den AutorInnen o.g. Studie ein weiteres Motiv zur Auseinandersetzung mit seinen Potenzialen. Es wird dabei mitgedacht, dass sich die Tourismuswirtschaft zwar ökonomischen Zielen widmet, aber auch Gesellschaften und Kulturbegegnungen mitgestaltet und einen aktiven Anteil an Kulturprozessen hat (Drews 2017; Hausmann/Murzik 2011; Picard/Robinson 2006). Im internationalen Kontext wird diese Rolle als Chance wahrgenommen: »International travel and tourism, both a driver and an outcome of globalisation, have had, and continues to have, a significant role to play in the re-formulation of social relationships, providing new economies, audiences, communicative networks and structures for the process of exchange as practised within a festival context« (Picard/Robinson 2006: 2f.). Tourismuspolitische Eingriffe gründen insofern nicht auf einem Tourismusverständnis als reine Wirtschaftsmaterie mit Gewinnmaximierung, sondern auf dem Bekenntnis, auch Rahmenbedingungen für soziale, soziokulturelle und ökologische Nachhaltigkeit zu ermöglichen (Teissl/Seltenheim 2017: 91; Zimmermann/Gamper 2012b: 34; Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus 2019a). Tourismuspolitik unterliegt in Österreich einer Kompetenzsplittung zwischen dem Bund und den Ländern und wird als Querschnittsmaterie im rechtlichen Sinne verstanden. Kulturtourismus erweist sich aber auch als Querschnittsmaterie im konzeptionellen Sinne, zumal Kultur eine Rolle in Tourismus und Tourismuspolitik spielt und umgekehrt touristische Interessen in die Kulturpolitik hineinspielen (Teissl/Seltenheim 2017: 89ff.; Wimmer 2011; Knapp 2005). Kulturtourismus als Querschnittsmaterie im konzeptionellen Sinne ernst zu nehmen, erscheint bei neuerlicher Betrachtung als Kernfrage für die Entfaltung seiner Potentiale, die neben ökonomischen Effekten in einem Beitrag zur Weiterentwicklung von Gesellschaft und Wer-
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tekultur liegen können. Mehrere Ereignisse seit dem Erscheinen der o.g. Studie zeigen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz der heimischen Tourismuswirtschaft einen kritischen Punkt erreicht hat. Ein rein ökonomisch gedachter Tourismus wird nicht mehr nur von Kunstund Kulturschaffenden kritisch ref lektiert, wie dies in den 1970er und 1980er Jahren manifest der Fall war und heute noch latent ist. Ökologisch motivierte Bürgerinitiativen fordern einen Ausbau-Stopp der skitouristischen Infrastruktur und das Referendum für eine neuerliche Olympia-Bewerbung der Stadt Innsbruck wurde von 53 Prozent der Befragten negativ beantwortet. Nachhaltige Lebensqualität und Sinnstiftung zeigen sich als drängende Interessen der Zivilgesellschaft. Kann Kulturtourismus als sektorenübergreifendes Konzept einen Beitrag zum Wertekonsens leisten? Diese Frage steht im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen und sie wird im Lichte der wichtigsten Ergebnisse o.g. Studie ref lektiert.
Gründe für fehlenden Kulturtourismus in Tirol Mehrere Kausalzusammenhänge wurden von den AutorInnen für den geringen Stellenwert von Kulturangeboten in der Tiroler Tourismuswirtschaft eruiert: • Seit den 1970er Jahren haben Tourismus- und Kultureinrichtungen ein schlechtes Verhältnis zueinander und es sind keine gemeinsamen Interessen geschaffen worden. • Das Narrativ der Alpen wird im Tourismusmarketing als »ländlich traditionell« vermarktet, wodurch zeitgenössische Kulturangebote aus der Erwartung von potenziellen Gästen gedrängt werden. • Eine konservative politische Haltung unterstützt das Narrativ von Ländlichkeit und Tradition. Diese Ergebnisse beruhten auf Diskurs- und Raumkonstruktionsanalysen (Foucault 1994; Wöhler 2011; Wöhler et al. 2010) und bestä-
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tigten sich in den empirischen Erhebungen. Diese bestanden aus zwei Fallstudien, zehn ExpertInnen-Interviews und einer Fokusgruppe sowie einer Netzwerkanalyse. Für die Fallstudien wurden je ein öffentlich-rechtliches und ein privatrechtlich-gemeinnütziges Museum analysiert; beide bieten Regionalgeschichte und Fragen zur Tiroler Identität an. Nur das öffentlich-rechtliche Museum wird auch touristisch vermarktet, es wurde allerdings wiederholt für seine stereotype Darstellung der Tiroler Identität sowie die lückenhafte Aufnahme der Zeitgeschichte kritisiert (Tschofner 2014). In den ExpertInnen-Interviews wurden VertreterInnen von Tourismus- und Kultureinrichtungen in Innsbruck sowie in jenen Tälern befragt, die sich durch starken Tourismus einerseits, durch lokale Kulturangebote andererseits auszeichnen. Dazu zählen das Zillertal mit seinen Festivals zu zeitgenössischem Theater sowie das Ötztal. Dort haben sich Museen und Kulturinitiativen zu dem regionalen Netzwerk »ÖNK – Ötztal Natur Kultur« zusammengeschlossen. Aus den Interviews ergaben sich weitere Faktoren: • Es gibt seitens touristischer Einrichtungen eine nur geringe Beschäftigung mit den Potenzialen von – zeitgenössischer – Kultur, sie wird in Einzelfällen sogar als Störfaktor für das Markenimage wahrgenommen. • Seitens der Kulturanbieter werden Gäste nur vereinzelt als Zielpublikum adressiert, zu Tourismuseinrichtungen besteht eine kritische Distanz. • Die vorherrschende Beziehung zwischen Tourismus- und Kultureinrichtungen ist eine reine Geldbeziehung, aus der kaum weiterführende Kooperationen folgen. Die Entwicklung von Tourismus- und Kulturangeboten nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubt ein vertieftes Verständnis der Gegenwart. Diese Entwicklung zeigt, dass es insbesondere in der aggressiven Phase des Massentourismus in den 1970er Jahren zu einer offenen Feindschaft zwischen Kultur- und Tourismusaktivitäten gekommen ist;
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auch in den Folgejahren kann bestenfalls von einer Parallelexistenz gesprochen werden. Die Diskursanalyse von Tourismus- und Kulturpolitik gibt den Blick frei auf einen folgenreichen Umstand: Die Diskursmächtigkeit von Marketing als Instrument der Tourismuspolitik kommt einer Definitionshoheit gleich. Der Kulturbegriff, der aus dem touristischen Marketing entsteht, ist zum einen ein weiter und umfasst auch Shopping und Kulinarik. Kulturangebote umfassen hochkulturelle Museen, prestigereiche Festspiele und Sehenswürdigkeiten der K.-u.-k.-Monarchie, zeitgenössische Angebote haben einen nur geringen Anteil an der Imagebildung Österreichs. Dies triff auch auf die Hauptstadt Wien zu, die mit historisierenden Bildern vermarktet wird (Wimmer 2011). Unter »Charakteristik und Kernelemente eines Kultururlaubes« nennt das zuständige Ministerium in Österreich: »häufig Städteurlaub, auch oft mit Landurlaub und dem Besuch von Kleinstädten verbunden« sowie »Sightseeing, Museumsbesuche, Spaziergänge und Restaurantbesuche, aber auch Tradition, das Stadtbild und die Atmosphäre« (Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus 2019b). Grundsätzlich wird – nicht nur in Österreich – Kulturtourismus mit Städtetourismus assoziiert und in ländlichen Regionen auf Tradition und Brauchtum eingeschränkt. Das »Land« hat aber viel mehr zu bieten, denn durch das kulturpolitisch ermöglichte Wachstum von privatrechtlich-gemeinnützigen Kulturangeboten ab den 1970er Jahren hat sich dieser Sektor in ganz Österreich stark ausgeprägt. Die als Kulturinitiativen bezeichneten Einrichtungen widmen sich der Vermittlung von zeitgenössischer Kunst und Kultur und werden als »kulturelle Nahversorger« bezeichnet. Da Kultur in vielen Bereichen Länderkompetenz ist, haben sich die Bundesländer diesbezüglich unterschiedlich entwickelt. So hat Kärnten das quantitativ schwächste Angebot, in Tirol verteilen sich hingegen privatrechtlich-gemeinnützige Kulturanbieter über das gesamte Bundesland. Der Dachverband der Tiroler Kulturinitiativen zählt 130 Mitglieder, davon ca. die Hälfte in den Tälern und kleineren Gemeinden, die andere Hälfte hat ihren Sitz in Innsbruck (TKI 2019). In Innsbruck gibt es außerdem ein breites Festival- und Hochkultur-Angebot. Diese An-
Kulturtourismus als Vehikel für Wertekonsens?
gebote werden zwar auf der Homepage des Tourismusmarketings angeführt, sie f ließen aber nicht in die Semantisierung des touristischen Raums Tirol ein. Die Propagierung hochkultureller Prestigeeinrichtungen prägte Hand in Hand mit der Marginalisierung zeitgenössischer Kunstformen das Verhältnis zwischen KünstlerInnen und Staat. Bis in die 1980er Jahre verstanden zeitgenössische KünstlerInnen es als ihre Aufgabe, den konservativen staatlichen Umgang mit Kultur zu kritisieren (Wimmer 2011; Knapp 2005). In Tirol schlug sich dieses Verhältnis zudem auf die Beziehung zwischen Kulturschaffenden, Tourismus und Politik nieder; Tourismus und Politik wurden oft als ineinander verf lochten wahrgenommen, als Architekten der Traditionsorientierung, welche Weltoffenheit, Sozialkritik und Zeitgenössisches an den Rand drängten (Teissl 2013; Plattner 1999). Ausdruck und Inbegriff waren etwa die Kurzfilm-Satire »Untergang des Alpenlandes« (1974) des zeitgenössischen Komponisten Werner Pirchner sowie die Drohungen, denen der Autor sozialkritischer Heimatliteratur, Felix Mitterer, angesichts seines Stückes »Stigma« (1982) ausgesetzt war. Auch die Absetzung des Mundartdichters und Volkskundlers Hans Haid als Obmann des von ihm gegründeten Ötztaler Heimatvereins anlässlich eines satirischen Gedichts über die Tiroler Schützen spiegelt das konservative Klima in den 1970er und 1980er Jahren (Teissl/Seltenheim 2017: 42f.; Plattner 1999). Die Kritik der Tiroler Kunst- und Kulturschaffenden richtete sich insbesondere gegen die starke Traditionsanhaftung. Zunehmend wurde daraus eine Parallelexistenz zwischen Kultur und Tourismus, wie sie gegenwärtig immer noch latent besteht. Man hat sich sozusagen auseinandergelebt. Dass es sich jedoch um keine friedliche Ko-Existenz handelt, zeigt der Fall der vierteiligen Fernseh-Satire »Pief ke-Saga« (1990, 1993) nach einem Drehbuch von Felix Mitterer. Darin werden »typische« Eigenschaften von deutschen Gästen und Tiroler TouristikerInnen sowie die Inszenierung des ländlichen Urlaubsparadieses auf gesellschaftskritische Weise dargestellt. Die Koproduktion von ORF und NRD hatte damals einen Skandal und eine breite öffentliche
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Diskussion in Tirol zur Folge, ausgelöst von den Befürchtungen der Tourismusbranche um einen Imageverlust bei den deutschen Gästen. Anlässlich des Jubiläums von 25 Jahren »Pief ke-Saga« werden diese Befürchtungen mittlerweile nicht nur als haltlos abgetan, sondern der Film wird als »Teil der österreichischen Identität« verstanden (ORF 2016).
Diskursmacht des Markenimages Ein entscheidender Faktor für das Narrativ der Ländlichkeit ist das Markenimage, das in Tirol vom Landschaftsmerkmal »Alpen« bestimmt wird. Mit welcher kulturellen Vorstellung der Alpenraum semantisiert wird, ist eine tourismuspolitische Entscheidung und wird von den zuständigen staatlichen Institutionen umgesetzt. Die Tourismuspolitik ist in Österreich noch relativ jung. 1991 wurde erstmals eine Sektion »Tourismus und historische Objekte« eingerichtet, 2006 erfuhr die Tourismuspolitik eine Aufwertung durch die Einrichtung eines parlamentarischen Tourismusausschusses (Teissl/Seltenheim 2017: 91f.; Zimmermann/Gamper 2012: 31). Seit der Regierungsübernahme der ÖVP-FPÖ-Koalition Ende 2017 ist die bundesweite Tourismuspolitik im Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus angesiedelt, in dem Tourismus, Umwelt und Landwirtschaft miteinander verknüpft werden (Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus 2017: 5). Neben direkten und indirekten Fördermaßnahmen touristischer Einrichtungen ist das Tourismusmarketing eine zentrale Staatsaufgabe dieser bundesweiten Tourismuspolitik (Zimmermann/Gamper 2012). Markenführung, Marktforschung und die weltweiten Bewerbungsstrategien obliegen der »Österreich Werbung«, einem gemeinnützigen Verein mit zwei Mitgliedern, aus deren Beiträgen er sich hauptsächlich finanziert: Zu 75 Prozent ist dies die Republik Österreich und zu 25 Prozent die Wirtschaftskammer Österreich (Teissl/Seltenheim 2017: 106; Stolba 2012: 193). Jedes der neun österreichischen Bundesländer verfügt außerdem über ein Markenführungs-
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institut, das die österreichweite Strategie mitträgt, zugleich aber auch mit starken Länderkompetenzen ausgestattet ist. In Tirol ist dies die »Tirol Werbung« als staatliche »Informations- und Serviceeinrichtung für Kunden und die interessierte Öffentlichkeit zur Förderung und Entwicklung des Tiroler Tourismus« (Tirol Werbung 2019b). Der Tirol Werbung obliegt die inhaltliche und ästhetische Gestaltung der Marke Tirol. Kultur im Sinne von Kulturangeboten ist für die Tirol Werbung kein so genanntes »A-Ziel«, der Kulturbezug wird vielmehr über Traditions- und Volkskultur hergestellt (Teissl/Seltenheim 2017). Die Raumkonstruktion der Tourismusdestination Tirol bewegt sich also im Rahmen des Erwartbaren: Die alpine Welt wird mit einer assoziativ passenden traditionellen Kulturvorstellung semantisiert. Zugleich greift die Tirol Werbung seit einigen Jahren bei der Gestaltung verstärkt zu modernen und künstlerischen Mitteln, sodass das Traditionelle nicht wie eine »Heidi-Welt« daherkommt. In der Kampagne »Sight-_Seeing« (2011-2012) wurden die Potenziale der künstlerischen Fotografie für eine zeitgemäße Werbeästhetik genutzt. Unter der Leitung des Kunstfotografen Wolfgang Scheppe entstanden durch formalästhetische Vorgaben attraktive Bilder. Tirol erscheint darin als reizvolle Mischung einsamer und zeitloser Berglandschaften und individueller Erlebnisse in dieser Landschaft; die abgebildeten Menschen wirken wie (moderne) Einheimische in ihrem Element. Es war ein innovatives Unterfangen und das herausgegebene Buch »Sight-_ Seeing« (Scheppe 2011) wurde mit dem Deutschen Fotobuchpreis 2012 ausgezeichnet. Da sich Tourismusmarketing vornehmlich an TouristInnen wendet, war die 2010 gestartete Kampagne »tirol.kultur« mit dem Claim »Keine Berge, trotzdem Tirol« überraschend, denn sie war ausschließlich der Bewerbung von (Leuchtturm-)Kulturangeboten gewidmet. Der Anfangseuphorie der Beteiligten aus Tourismus und Kultur folgte jedoch sogleich ein neuer Konf likt. Gegenseitige Erwartungen blieben unerfüllt und die Kampagne wurde wenige Jahre darauf mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit zur Evaluierung eingestellt. In dieser Kampagne ging es nicht um Angebotsentwicklung, sondern um die
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Bewerbung bestehender Angebote. An diesem Fall lässt sich veranschaulichen, dass die additive Herangehensweise nicht funktionierte. Kulturtourismus kann eine gemeinsame Basis ermöglichen, wenn er als konzeptionelle Querschnittsmaterie verstanden wird und, darauf auf bauend, entsprechende Kooperationen entwickelt werden (Teissl/ Seltenheim 2017: 112ff., Föhl 2011). Das Fehlen von gemeinsamkeitsstiftenden Konzepten bestätigte sich auch in der Netzwerkanalyse, deren Fokus auf die Beziehungsintensitäten zwischen Tourismuseinrichtungen und Kulturanbietern gerichtet war. Sie machte sichtbar, dass Geldbeziehungen vorherrschen, die nur in Einzelfällen zu Kooperationen führen. Lokale Tourismusverbände unterstützen gemeinnützige Kulturinitiativen finanziell, schätzen die Angebote aber als wenig attraktiv für Gäste ein (Teissl/ Seltenheim 2017: 120ff.). Auch umgekehrt adressieren Kulturanbieter ihre Angebote in erster Linie an Einheimische und sind zugleich froh über die finanzielle Unterstützung angesichts der oft knappen Kulturbudgets in den Gemeinden. Regelmäßige Austauschtreffen finden kaum statt und nur in Ausnahmefällen finden sich TourismusvertreterInnen in den Vereinsvorständen von Kulturanbietern (und umgekehrt). Als Best Practice stellte sich in diesem Zusammenhang ein Kulturverein im Lechtal heraus, der von einem Tourismusverband initiiert, aber von einer Kulturmanagerin und AkteurInnen aus der freien Szene programmiert wird (Teissl/Stura/Seltenheim 2016). Es zeigt sich also, dass das Imagemarketing auch diskursive Formationen beeinf lusst. Imagemarketing erfährt in der Ausprägung, wie es im Tourismus als wettbewerbsorientierter Dienstleistungssektor zum Einsatz kommt, den Stellenwert des dominanten Bezugssystems. Es findet nicht nur in den touristischen Strategien Umsetzung, sondern wird auch von kulturbetrieblichen AkteurInnen reproduziert, indem Gäste kaum als potenzielles Publikum wahrgenommen und keine Formen der Kooperation mit Tourismuseinrichtungen gesucht werden.
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Beispiele für Konsequenzen Der strategische Auf bau der Winter- und Ski-Destination Tirol hat viele Jahrzehnte in Anspruch genommen. Da Kultur nie inkludiert war, ist es wenig überraschend, dass sie kaum nachgefragt wird. Die aus Marktforschungen abgeleitete Ansicht, dass klassische SkitouristInnen im Zillertal nicht kulturinteressiert wären, wurde von einzelnen lokalen TourismusmanagerInnen in Frage gestellt (Teissl/Seltenheim 2017: 175ff.). Die Tatsache, dass zeitgenössische Kulturangebote nicht im Markenimage integriert sind, schwächt zudem den Erfolg von lokalen Einzelinitiativen. Das Narrativ der Ländlichkeit wirkt sich etwa auf die Landeshauptstadt Innsbruck durch einen Effekt der »Verländlichung« aus, was sich in einer kurzen Aufenthaltsdauer und der Dominanz von Bustourismus niederschlägt. Und auch wenn die Stadt ein Universitäts- und Bildungsstandort mit einem breiten Angebot von Festivals, Hoch- und Alternativkultur ist, so sind es hauptsächlich die historischen Sehenswürdigkeiten wie das »Goldene Dachl« und die Hof kirche, die touristisch in Anspruch genommen werden. Das Landesmuseum Ferdinandeum kam im Jahr 2018 mit 37.898 Eintritten auf nur knapp ein Drittel der Eintritte der nur 500 Meter entfernten Hofkirche mit 118.476 Eintritte (Schramek 2018). Eine außergewöhnliche und innovationsfreudige Initiative startete der Besitzer des legendären Arlberg Hospiz Hotel: Mit der »arlberg1800 Contemporary Art & Concert Hall« ließ Florian Werner die höchstgelegene Kunsthalle in den Alpen errichten und ging das Wagnis Hochkultur auf dem »Land« ein, mitten im Herzen einer Wintersportdestination. Im Herbst 2015 wurde das Kulturzentrum mit einem 230 Quadratmeter großen Konzertsaal und 700 Quadratmeter Ausstellungsf läche sowie einem Artist-in-Residence-Atelier eröffnet. Ende 2018 wurde bekannt, dass das Hospiz in finanzielle Schwierigkeiten geraten war und einer Krisensanierung unterzogen werden muss. Der Bau der eigenfinanzierten Kunsthalle, die auch für Kongresse genutzt wird, wurde vom installierten Krisenbeirat als Fehlentscheidung eingeschätzt, das Geld hätte anders in das finanziell bereits
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angeschlagene Hotel investiert werden sollen. Florian Werner, der seiner Kunstaffinität schon seit einem Jahrzehnt durch Artist-in-Residence Angebote in seinem Hotel Ausdruck verliehen hatte, sieht dies anders und verweist auf Qualitätsansprüche: »Was klingt besser: Konzertsaal oder Mehrzweckhalle? Ich bekomme einen Kongress in einen Konzertsaal, aber keinen guten Pianisten in eine Mehrzweckhalle« (Werner zit. in Hofer 2019). Es lässt sich an dieser Stelle nur vermuten, dass die Wahrnehmung der »arlberg1800 Contemporary Art & Concert Hall« positiver verlaufen wäre, wären zeitgenössische Kunst und Kultur auch auf dem »Land« Teil von Markenimage und Imagemarketing in Tirol. In der deutschen Presse wurde die Kunsthalle durchaus als Zukunftsstrategie interpretiert. Die Neubesetzung der Direktion der Tiroler Landesmuseen ab 2019 soll laut Presseberichten genutzt werden, um das Ferdinandeum als »Haus der Kunst« zu positionieren (Schramek 2018); ob sich darin auch kulturtouristische Interessen spiegeln werden? Spätestens an dieser Stelle ist es entscheidend, Kulturtourismus in seiner Ambivalenz zwischen Angebots- und Nachfrageorientierung zu ref lektieren. Für eine wirtschaftliche Dienstleistung wie Tourismus ist Nachfrageorientierung die zentrale Strategie. Im Kulturbetrieb ist die Frage komplexer: In den vergangenen Jahrzehnten war Angebotsorientierung die Norm, wobei sich die Ziele einzelner Kulturbetriebe aus ihrer Trägerschaft, den gemeinnützigen Bildungs- und Kulturaufträgen sowie dem Gebot gesellschaftlicher Relevanz ableiten. Sie haben also durchaus Regeln zu erfüllen, wenn diese auch zwischen normierenden Vorstellungen und einem relativ hohen Interpretationsspielraum oszillieren. Die Erkenntnis um die geringe soziale Reichweite von hochkulturellen, aber auch von alternativen Kulturangeboten führte zur Frage, ob mehr Nachfrageorientierung notwendig sei (exemplarisch Mandel 2009). Diese Nachfrage lässt sich aber nur begrenzt analog zu Urlaubsbedürfnissen über Marktforschungen erheben, da die kulturelle Allgemeinbildung und Kenntnisse über das enorme Repertoire von Kunst und Kultur nicht auf dem Niveau von ExpertInnen vorausgesetzt werden kann. Eine Aufgabe von Kulturbetrieben ist es deshalb, einem mög-
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lichst breiten Publikum Angebote zu unterbreiten, Kunstformen erlebbar zu machen und sich demokratischer, zielgruppenorientierter Vermittlungsansätze zu bedienen. Für intersektorale Handlungskonzepte wie Kulturentwicklungspläne und Regionalentwicklung bewährt sich vielerorts der Einsatz von partizipativen Methoden. Unter der Voraussetzung, dass auch Kulturtourismus als konzeptuelle Querschnittsmaterie akzeptiert wird, können partizipative Prozesse die vielfältigen Kompetenzen aus Kultur und Tourismus fruchtbar machen (Föhl et al. 2011).
Kulturtourismus als Denkfigur und Querschnittsmaterie Die von der Kulturtourismus-Expertin Yvonne Pröbstle formulierte leitmotivische Frage: »Als wer wollen wir uns darstellen?« bringt die Essenz des Kulturtourismus auf den Punkt: die Prozesshaftigkeit von Angebotsgestaltung oder/und -vermittlung sowie die Auseinandersetzung mit Image und Identität. Für einen ergänzenden Kulturtourismus fällt der Druck ökonomischen Erfolgs weg, Kulturtourismus kann als Vehikel für nachhaltige Impulse und als Katalysator fungieren. Ökonomische Effekte können folgen, etwa wenn die Aufenthaltsdauer in Innsbruck steigt oder vermeintliche »Schlechtwetterangebote« als eine tatsächlich attraktive Alternative empfunden werden. Gleichzeitig könnten auch größere, gesellschaftspolitische Themen nachhaltig und multiperspektivisch über die Querschnittsmaterie Kulturtourismus eröffnet werden. Als Beispiel soll hier die Geschichte Tirols während des Nationalsozialismus und die damit zusammenhängende Erinnerungskultur genannt werden. Zu diesem Thema arbeiten WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und Zivilorganisationen, dennoch erfährt es z.B. in den permanenten Ausstellungen der Landesmuseen wenig Präsenz und Tiefgang. 2013 kam es aufgrund von zwei Anlässen zu einem Beschluss der Tiroler Landesregierung, den Förderschwerpunkt Erinnerungskultur als kulturpolitische Richtlinie zu erlassen (Teissl/Seltenheim 2017: 127ff.). Dies wurde mit
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bestehenden Forschungslücken sowie einer »geringen Wahrnehmung und Berücksichtigung existierender Erkenntnisse in der kulturellen Praxis« begründet (Amt der Tiroler Landesregierung 2013; Teissl/Seltenheim 2017: 128f.). Im Jahr 2015 kam es zum Erlass einer weiteren kulturpolitischen Richtlinie für »Kultur – Volkskultur«, nachdem der Rechnungshof bericht Transparenzmängel in der Vergabe öffentlicher Mittel an volkskulturelle Einrichtungen kritisierte. Zu den Zielsetzungen zählte die »Aufarbeitung der Geschichte sowie deren Vermittlung« volkskultureller Vereine und Verbände; als künftige Förderkriterien für die volkskulturellen Bereiche wurden u.a. »interkulturelle Aktivitäten« und »die Herstellung von Synergien mit anderen Kultur- und Bildungseinrichtungen« festgelegt (Teissl/Seltenheim 2017: 131). Im Jahr 2018 wurde die Richtlinie zum Förderschwerpunkt »Erinnerungskultur« bis 2023 verlängert (Richtlinie der Landesregierung 2018). Da gerade die Volkskultur einen erheblichen Teil des Tiroler Markenimages ausmacht, entsteht hier ein intersektoraler Querschnittsbereich, welcher zur Bearbeitung eine Moderation und einen politischen Willen bräuchte. Eine gemeinsam entwickelte Angebots- und Vermittlungsstrategie zwischen Wissenschaft, Kultur und Tourismus wäre ein Modell-Projekt für die konzeptionelle, intersektorale Querschnittsmaterie Kulturtourismus. Im Fall Tirols könnte eine solche Kooperation zur Überwindung althergebrachter Ressentiments und, durch ein Zusammenrücken von Image und Identität, zur Modernisierung des Ländlichkeits-Narrativs beitragen.
Wertewandel, Wertekonsens Der »produktive Widerstand« zu touristischen Positionen findet auch in der Gegenwart noch statt, wie kritische Kunstprojekte des Fotografen Lois Hechenblaikner zeigen. Nachdem er zwei Jahrzehnte als Reisefotograf in Asien tätig war, widmet sich Hechenbklaikner seit seiner Rückkehr in die Tiroler Heimat der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Tourismus auf Landschaften und Menschen.
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Seine Fotografien werden u.a. in der Schweiz und in Deutschland ausgestellt, in Tirol hat er mehrere Kunstprojekte im öffentlichen Raum umgesetzt. Das jüngste mit dem Titel »WerteWandel« (2018) greift jene fünf Begriffe auf, die im Markenhandbuch Tirol (2012) als Werte der Marke Tirol genannt werden – »STARK, EIGENWILLIG, ECHT, VERBUNDEN, MUTIG«. Die Originaltexte aus dem Markenbuch werden zitiert und mit fünf seiner Fotografien zur Tourismusindustrie konterkariert; diese Text-Bild-Kollagen wurden in den Innsbrucker City Lights ausgestellt, einer »Landschaft der Werbung« gleich (Hechenblaikner 2019). Hechenblaikner führt so die in den 1970er Jahren entstandene Strömung von Tiroler Kunstschaffenden weiter, den Ausverkauf der Heimat durch den Tourismus zu kritisieren. Heute löst dies keine öffentlichen Skandale mehr aus. Vielmehr findet die Diskursstiftung andernorts statt. Das gestiegene ökologische Bewusstsein und die Sehnsucht nach Werten abseits der Verwertungslogik in einer »satten« Gesellschaft äußern sich in Bürgerinitiativen gegen neue Zusammenschlüsse von Skigebieten und dem negativen Ausgang des Referendums für eine neuerliche Olympia-Bewerbung Innsbrucks 2017. Wie auch bei der Volksbefragung zur Bewerbung von München, gelten der schlechte Ruf des International Olympic Comittees (IOC) sowie die Befürchtung einer nachhaltigen Steigerung der Lebenshaltungskosten als Motive für die Ablehnung. Tirolspezifische Gründe liegen in der Verkehrsbelastung, der bereits sehr gut ausgelasteten Nächtigungs-Infrastruktur und einem befürchteten Schaden für die Natur. Schließlich stellt Olympia im Kontext der heutigen Eventf lut nicht mehr ein besonderes Ereignis dar, verkörpert nicht mehr die Erlebnisgüter der Einmaligkeit, Festlichkeit und Internationalität, wie sie noch 1964 und 1976 TirolerInnen und Gäste in einen Ausnahmezustand versetzten. In seinem 2012 erschienen Buch »Der entfesselte Skandal« weist der Kommunikationstheoretiker Bernhard Pörksen Skandale als Offenbarung von Wertedebatten aus. In den 1990er Jahren hatte Mitterer in seiner Darstellung des »typischen« deutschen Gastes, der sich im Selbstbewusstsein des zahlenden Kunden wiegt, und dem profitgieri-
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gen Duckmäusertum der Tiroler GastgeberInnen ein Tabu gebrochen. Kulisse und Authentizität des Urlaubsparadieses prallten im Stil einer Parodie aufeinander, Rollenverhalten äußerte sich in spitzen Überzeichnungen und manche Bilder wurden zu Ikonen des kritisierten touristischen Skibetriebs. Mit der Ablehnung der Olympia-Bewerbung geriet in einer ersten Reaktion das Wahlvolk in die Kritik touristischer AkteurInnen. In einem zweiten Schritt wurde die Frage nach der Akzeptanz des Tourismus in der Gesellschaft diskutiert und auf den Bewusstseinswandel in der Bevölkerung hingewiesen. Tourismus erfahre sehr wohl Akzeptanz, es gehe aber um die konkrete Ausgestaltung und um qualitative Ansprüche, so der Tourismusexperte Mike Peters in einem Interview (Heubacher 2018). Aus den Ergebnissen der Studie von Teissl/Seltenheim (2017) zu Kulturtourismus in Tirol und den oben angeführten ergänzenden Beispielen, lässt sich festhalten, dass insbesondere das Fehlen ökonomischer Motive, die Kluft zwischen Tourismus- und Kultureinrichtungen sowie die Dominanz eines traditionsorientierten Imagemarketings Hürden für Kulturtourismus darstellen. Jüngere Ereignisse spiegeln eine Debatte um die gesellschaftliche Akzeptanz und Dominanz des Tourismus in Tirol wider. Auf einer konzeptuellen Ebene könnte sich ein intersektorales Verständnis von Kulturtourismus günstig auf einen Wertekonsens auswirken. Dies betrifft weniger die Miteinbeziehung bestehender Angebote in das Markenimage; diese könnten zwar in Form eines ergänzenden Kulturtourismus zur Bewältigung der bestehenden Herausforderungen beitragen. Wo es aber um die Entwicklung von gemeinsamen Strategien zu neuen Themengebieten geht, könnte das Vehikel Kulturtourismus zu einem Wertekonsens beitragen, wie im Fall der oben erwähnten Erinnerungskultur und einem modernisierten, dabei gleichzeitig historisch ref lektierten Verständnis von Volkskultur. Der vorherrschende Konjunktiv in den letzten Zeilen spiegelt wider, dass es derzeit noch keine Ansätze gibt, um selbiges voranzutreiben. Der Konjunktiv steht aber keinem Imperativ mehr gegenüber, wie Einzelinitiativen belegen. Vielleicht kommt die Zeit noch, um den Mehrwert von »neuen Geschichten« v.a. auf dem
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»Land« zu erkennen, um dritte Räume (Drews 2017) zu schaffen und Kooperationsprojekte für die nachhaltige Stärkung nicht nur der Ökonomie, sondern auch von gesellschaftlichen Werten zu nutzen.
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Kulturtourismus auf dem Land oder die Dialektik des Tourismus Aktuelle Beobachtungen, Zahlen und Fakten aus der »Kulturtourismusstudie 2018« Yvonne Pröbstle »Erschlossene Berge sind wie kaputt gegangenes Spielzeug.« (Reinhold Messner frei nach dem Alpinisten Paul Preuß) 2018 war ein touristisches Rekordjahr. Die Urlaubsreiseintensität kletterte erstmals auf 78 Prozent, d.h. mehr als drei viertel der deutschen Bevölkerung unternahm mindestens eine Urlaubsreise (= Dauer > 4 Tage). Außerdem zählte der BundesbürgerInnen 2018 durchschnittlich 2,49 Kurzurlaubsreisen zu seinen »schönsten Tagen des Jahres« (vgl. F.U.R. 2019). Doch der Reiseboom der letzten Jahrzehnte und besonders der jüngsten Vergangenheit birgt nicht nur Rekordzahlen und Erfolge. Destinationen, darunter häufig Großstädte und Metropolen, stehen vor der Herausforderung, dem Phänomen »Overtourism« entgegenzuwirken (vgl. exemplarisch UNWTO 2018). Bilder von Menschenmassen an touristischen Hotspots gehen durch die Presse und die sozialen Medien. Während sich das Gros der touristischen NomadenInnen davon jedoch (noch) nicht abschrecken lässt, macht sich ein kleiner Kreis von Entdeckern auf zu neuen Ufern, getreu dem Motto »Erschlossene Berge sind wie kaputt gegangenes Spielzeug«. Diese Entwicklung ist so alt wie der Tourismus selbst (vgl. ausführlich Enzensberger 1958). In Reiseberichten, ganz gleich welcher Herkunft,
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wird die Touristifizierung des jeweiligen Ortes beklagt: »Die Sommerfrische Europas ist jetzt überschwemmt mit Sightseeing-Touristen; die heiligen Stätten, wo früher noch unangefochten urtümliches Chaos und Finsternis walteten, sind nunmehr entweiht und vulgär geworden.« (Zitiert nach dʼEramo 2018: 19). Zu dieser bitteren Erkenntnis gelangte ein gewisser A. I. Shand in »Reisen in der guten alten Zeit. Reminiszenzen an den Kontinent, wie er vor vierzig Jahren war, verglichen mit den Erfahrungen der Gegenwart« (1902). Gut 100 Jahre später ist es im digitalen Zeitalter ein Leichtes geworden, seine Reiseerfahrungen zu teilen. Entsprechend rasch wird man auf tripadvisor und Co. fündig: »Jaja, Mona Lisa muss man gesehen haben… aber dann schaut sie Euch doch im Internet oder in einem Kunstband in Ruhe an. Dort werdet Ihr mehr entdecken als in 2 Meter Entfernung eingequetscht zwischen anderen Touristen, deren Interesse nur einem Selfie mit sich selbst und der Mona Lisa gilt. Brrrr….« (Kommentar des tripadvisor-users »dirkm 368« vom 11. September 2018). Über diesen und vielen weiteren Reiseberichten steht womöglich in unsichtbaren Lettern geschrieben: »Touristen sind immer die Anderen« (vgl. ausführlich Steinecke 2010: 1ff.).
Folgt auf den Boom des Städtetourismus eine neue »Landlust«? Auch wenn das beschriebene Phänomen also kein neues ist, gibt es gegenwärtig Indizien dafür, dass diese Entwicklung eine Diversifizierung des Marktsegments Kulturtourismus befördern wird: »Cultural tourism is now becoming a victim of its own success. […] Just as cultural tourists are becoming more experienced, more sophisticated and better able to structure their own experiences, so the cultural
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tourism product being offered is becoming more standardised, more rigid and less engaging. […] Clearly, new types of cultural tourism products are needed.« (Vgl. Richards 2013: 297). Und die Logik des Tourismus lässt vermuten, dass diese Entwicklung am ländlichen Raum nicht vorbeigehen wird: »Sheer numerical logic dictates that as tourism grows and people attain more travel experience, the frontier of discovery will shift from remote regions to those areas closer to home that have previously been ignored by tourists«. (Vgl. Richards/Russo 2014: 5) TourismusforscherInnen prognostizieren der Provinz gar eine vielversprechende Zukunft: »Ländliche Räume werden neu entdeckt, neu belebt, neu kultiviert« (vgl. Kirig 2013: 64). Erleben wir also nach dem Boom des Städtetourismus eine neue »Landlust« (vgl. ausführlich Baumann 2018)? Zum Vorteil dürfte dem »Stief kind des Tourismus« (Steinecke 2003: 2) dabei ausgerechnet das werden, was ländlichen Räumen lange Zeit als Manko ausgelegt wurde: »Die Provinz muss nicht dieselben Dinge besitzen wie eine Großstadt« (vgl. Kirig 2013: 64). Es ist nicht länger ein Makel, dass der ländliche Raum nicht dieselbe kulturelle Infrastruktur vorhalten kann, die wir in der Regel in Städten antreffen. Vielmehr tun sich im ländlichen Raum ungeahnte Potenziale auf. Etwa die Chance, künstlerische Freiräume zu ermöglichen und Formate zu erproben, die es im etablierten Kulturbetrieb schwer haben, für die im städtischen Raum Orte zum Experimentieren fehlen oder die als besonders geeignet erachtet werden, um Transformationsprozesse vor Ort anzustoßen.1 Gepaart mit dem Umstand, dass es in der Regel ländliche Räume sind, die als strukturschwach eingestuft werden, begründen die genannten Chancen mittlerweile eine ganze Reihe von Förderprogrammen für Kultur im ländlichen Raum. Das »Institut für Kulturpolitik der Kulturpoli1 Vgl. zum Thema Transformation im ländlichen Raum exemplarisch das Förderprogramm »TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel« der Bundeskulturstiftung. Weitere Informationen unter https://www.trafo-programm.de/ (letzter Zugriff: 19.03.2019).
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tischen Gesellschaft« vermeldete 2015 sogar: »So viel Förderung war nie!«, und zwar auf Länder-, Bundes- und EU-Ebene (vgl. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015: 81). Die Zeichen scheinen also günstig für ländliche Destinationen zu stehen – die EntdeckerInnen unter den TouristenInnen sehnen sich nach Refugien, sie suchen nach Alternativen, die es abseits der Metropolen und Großstädte zu erkunden lohnt, und gleichzeitig tun sich Förderperspektiven für den Kulturtourismus im ländlichen Raum auf. Hinzu kommt ein weiterer Vorteil in Zeiten, in denen die Suche nach »authentischen« Erfahrungen das Reiseverhalten beeinf lusst (vgl. ausführlich Schäfer 2015): Die Begegnung mit »echten« Locals, mit Einheimischen, lässt sich in der Vorstellung des Entdeckers im ländlichen Raum noch realisieren (vgl. ausführlich Drews 2017).
Daten und Fakten: »Kulturtourismusstudie 2018« Lassen sich diese Beobachtungen auch in Zahlen und Daten messen? Ist der ländliche Raum auf dem kulturtouristischen Vormarsch? Oder allgemeiner formuliert, welche Kultureinrichtungen und Destinationstypen profitieren gegenwärtig vom Kulturtourismus? Antworten auf diese Fragen liefern die empirischen Ergebnisse der »Kulturtourismusstudie 2018«, in der Kultur- und Tourismusakteure, darunter vor allem Kultureinrichtungen, Kulturverwaltungen und Tourismusorganisationen erstmalig systematisch für den deutschen Raum in mehreren Wellen befragt wurden. Gegenstand der Online-Befragungen waren u.a. Fragen zu Chancen und Herausforderungen des Kulturtourismus im Allgemeinen sowie zu spezifischen Marketing- und Vermittlungsstrategien/-maßnahmen und Kooperationsbeziehungen. Die Untersuchung wurde initiiert und verantwor-
Kulturtourismus auf dem Land oder die Dialektik des Tourismus
tet vom Ludwigsburger Institut für Kulturmanagement und der »projekt 2508 GmbH« in Bonn/Berlin.2
Tourismuszuwachs in jeder zweiten Kultureinrichtung Die Untersuchung belegt, dass touristische BesucherInnen für die Auslastung ausgewählter Kulturbetriebe eine zunehmend wichtige Rolle spielen: Etwa jede zweite Kultureinrichtung, darunter vornehmlich Museen und Kulturerbestätten wie Burg- und Schlossanlagen oder Industrierelikte und andere Denkmale, konnte in den vergangenen fünf Jahren einen Anstieg der touristischen BesucherInnen verzeichnen. In 30 Prozent der Fälle machen TouristenInnen sogar einen geschätzten Anteil am gesamten Besucherauf kommen von 50 Prozent und mehr aus. Kaum bis gar keine touristischen BesucherInnen verzeichneten dagegen nur rund 13 Prozent der befragten Akteure (vgl. Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 29).
Die Potenziale von Theater, Konzert und Co. sind begrenzt Kultureinrichtungen im Bereich der Darstellenden Kunst wurden im Rahmen der »Kulturtourismusstudie 2018« nicht explizit befragt. Andere Untersuchungen belegen allerdings, dass performative Angebote deutlich weniger von touristischen BesuchernInnen nachgefragt werden als beispielsweise museale Angebote (vgl. exemplarisch F.U.R 2012) – so genannte »Leuchttürme« ausgenommen (z.B. Salzburger Festspiele, Semperoper Dresden). Der Grund dafür liegt neben anderen in der begrenzten Verfügbarkeit solcher Angebote. Museen haben in der Regel tagsüber geöffnet, Theater und Co. finden in den Abendstunden statt, spontane Besuche sind hier eher ausgeschlossen. Wer über den Tag verteilt bereits Einrichtungen besucht und eine Destination erkundet hat, sehnt sich womöglich in den Abendstunden eher 2 Die gesammelten Ergebnisse der Studie sind online zugänglich unter www.kulturtourismusstudie.de.
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nach einem Glas Wein als nach einem Angebot, das abermals hohe Aufmerksamkeit und Konzentration fordert. Im Falle des Sprechtheaters dürfte außerdem die Sprachbarriere höher sein. Dagegen können sich internationale Gäste in Museen und Kulturerbestätten meist in Englisch oder anderen Sprachen informieren.
Überdurchschnittliche Zuwächse im ländlichen Raum Die Differenzierung nach Destinationstypen zeigt ferner, dass der ländliche Raum tatsächlich im Aufwärtstrend ist und eine Gleichsetzung von Städte- und Kulturtourismus der touristischen Praxis nicht mehr gerecht wird (vgl. Tabelle 1). Während für die Gesamtheit betrachtet jeder zweite Kulturbetrieb vom wachsenden touristischen Besucherstrom profitiert, liegt der Wert für Einrichtungen im ländlichen Raum mit 55 Prozent sogar über dem Durchschnittswert. Und auch der Anteil der touristischen BesucherInnen am gesamten Besucherauf kommen fällt mit 40 % noch einmal deutlich höher aus. Der Kulturtourismus ist demnach kein exklusives Spielfeld für Kultureinrichtungen, die in den Metropolen und sonstigen Städten angesiedelt sind, sondern ein destinationsübergreifendes Marktsegment (vgl. Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 29f.). Tabelle 1: Entwicklung der kulturtouristischen Nachfrage nach Destinationstyp (n= 276) »Konnten Sie in den letzten fünf Jahren einen Anstieg der touristischen Besucher verzeichnen?«
Mit »Ja« stimmten…
Großstädte (> 100.000 Einwohner)
52,1 %
Mittelgroße Städte (50.000 ≤ 100.000 Einwohner)
38,2 %
Kleinere Städte (25.000 ≤ 50.000 Einwohner)
47,8 %
Ländlicher Raum (≤ 25.000 Einwohner)
55,4 %
Quelle: Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 29f.
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Kunst und Kultur als wichtige Säulen im Destinationsmarketing Diese Ergebnisse korrespondieren mit der Einschätzung der befragten Tourismusorganisationen zur Relevanz von Kunst und Kultur im Destinationsmarketing (vgl. Tabelle 2). In rund 55 % der Fälle zählt das Kulturangebot neben anderen zu den profilgebenden Themen. Für ein Viertel der Destinationen stellt es die tragende Säule in der Positionierung und Vermarktung dar. Folglich verzichtet heute kaum mehr eine Destination gänzlich auf kulturelle Angebote bzw. ordnet Kunst und Kultur eine untergeordnete Rolle im Gesamtkonzept zu. Tabelle 2: Bedeutung von Kunst und Kultur für die Destination (n= 190) »Welche Bedeutung würden Sie der Kultur, dem Kulturerbe, der Kunst für Ihre Destination zuschreiben?« Sie sind einige von mehreren profilierenden Themen mit großer Bedeutung.
55,3 %
Sie sind unsere wichtigsten profilierenden Themen und stehen im Fokus unseres gesamten Marketings.
26,8 %
Sie sind nur Ergänzungsthemen ohne profilierende Bedeutung.
11,0 %
Sie haben derzeit nur eine geringe Bedeutung, sind aber entwicklungsfähig.
6,8 %
Quelle: Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 57
»Wie müssen kulturtouristische Angebote aussehen, um Erfolg zu haben?« Angesichts der vorgestellten Daten und Fakten dürfte die Freude zahlreicher Kultur- und Tourismusakteure groß sein – nicht zuletzt im ländlichen Raum. Allerdings sei an die Dialektik des Tourismus erinnert. Je mehr touristische BesucherInnen ländliche Destinationen entdecken werden, desto höher wird der Professionalisierungs- bzw.
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Profilierungsdruck sein. Im Mittelpunkt des Fachkongresses »Kulturtourismus im ländlichen Raum«, der Anlass gab für diesen Beitrag, stand die Frage: »Wie müssen kulturtouristische Angebote aussehen, um Erfolg zu haben?«3 Diese Frage lässt sich vor dem beschriebenen Hintergrund modifizieren: Welche Voraussetzungen sollten erfüllt und welche Potenziale aktiviert werden, um die Entwicklung des Kulturtourismus weiterhin zu fördern? Und welche Herausforderungen zeichnen sich dabei besonders im ländlichen Raum ab?
Kulturtourismus im ländlichen Raum braucht regionale »Kümmerer« und Koordinatoren Die »Kulturtourismusstudie 2018« belegt, dass Kultureinrichtungen und Tourismusorganisationen längst miteinander kooperieren, z.B. in der Erstellung gemeinsamer Informationsmedien oder bei der Realisierung von Marketingkampagnen. Allerdings handelt es sich überwiegend um punktuelle Kooperationen, die von konkreten Anlässen (z.B. Jubiläumsjahr, Sonderausstellung) geprägt sind. Ein regelmäßiger, informeller Austausch bzw. Transfer von Know-How oder die Abstimmung von Terminen bei der Planung von Veranstaltungen, finden z.B. nur in 46 bzw. 44 Prozent der befragten Tourismusorganisationen statt (vgl. Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 68f.). Dieser Gelegenheitscharakter bestätigt sich für Kooperationen, die Kulturbetriebe mit anderen Kulturakteuren oder touristischen Leistungsträgern unterhalten (vgl. ebd.: 39f.). Es scheint allerdings einen direkten Zusammenhang zwischen der Intensität der Kooperationsbeziehungen und dem Erreichen touristischer BesucherInnen zu geben, denn gerade Kultureinrichtungen mit regelmäßigen Kooperationen erzielen einen besonders hohen Anteil an TouristenInnen unter ihren BesuchernInnen (vgl. ebd.: 40).
3 https://www.touristiker-nrw.de/kultur-im-laendlichen-raum-steht-in-nrw-hochim-kurs-2/ (letzter Zugriff: 19.03.2019).
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Womit lässt sich dieser Zusammenhang begründen? Wer im Marktsegment Kulturtourismus erfolgreich agieren möchte, muss kooperationsbereit sein, denn ein singuläres Angebot induziert in der Regel noch keinen Tourismus. TouristenInnen fragen Leistungsbündel nach, die An- und Abreise, Unterkunft, Gastronomie und neben dem eigenen auch andere Kulturangebote und touristische Einzelleistungen umfassen. In der »Kulturtourismusstudie 2018« schätzten 50 Prozent der befragten Kultureinrichtungen ihr Angebot für so attraktiv ein, dass es einen Reiseanlass darstellt. In Großstädten steigt der Wert auf 59 Prozent, in ländlichen Destination sinkt er dagegen auf 46 % (vgl. Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 32). Unabhängig vom Destinationstyp sind solche Bewertungen erfahrungsgemäß nicht frei von einer gewissen »Betriebsblindheit«. Bei einer Bewertung durch den Gast würde das Urteil möglicherweise anders ausfallen. D.h. ein Großteil der Kultureinrichtungen, besonders im ländlichen Raum, ist auf die Kooperation mit anderen Kultureinrichtungen und touristischen Leistungsträgern angewiesen, um im Verbund an Attraktivität zu gewinnen und schließlich einen Reiseanlass zu generieren bzw. positiv auf die Aufenthaltsdauer des Gastes Einf luss zu nehmen. Diese Schlussfolgerung mag einleuchten. Die Praxis zeigt uns aber auch, dass es gerade in Kultureinrichtungen, die im ländlichen Raum angesiedelt sind, an personellen Ressourcen fehlt, um die erforderliche Intensität der Kooperationsbeziehungen herzustellen. Hier ist die Kulturarbeit häufig noch von ehrenamtlichen Strukturen geprägt, feste Mitarbeiter sind zahlenmäßig deutlich unterrepräsentiert (vgl. Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 28). Wenn Kultureinrichtungen nicht die Ressourcen auf bringen können, wer eignet sich dann als Impulsgeber, Netzwerker, Koordinator und »Kümmerer«? Die »Kulturtourismusstudie 2018« belegt, dass sich die Tourismusorganisationen der Destinationen tendenziell in der Verantwortung sehen, solche Aufgaben zu übernehmen. Die Kultureinrichtungen skizzieren allerdings ein anderes Bild. Abbildung 1 zeigt: Selbst- und Fremdwahrnehmung gehen deutlich auseinander.
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Abbildung 1: Leistungen von Tourismusorganisationen im Vergleich (n=190 bzw. 247)
Quelle: Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 77
Ob die genannten Leistungen tatsächlich nicht erbracht werden oder von den Kulturakteuren nicht wahrgenommen werden, kann an dieser Stelle nicht endgültig geklärt werden. Wir wissen aber aus der »Kulturtourismusstudie 2018« auch, dass Tourismusorganisationen in ländlichen Destinationen budgetär und personell deutlich schlechter ausgestattet sind als ihre Pendants in Großstädten und Flächendestinationen bzw. letztere häufiger spezifische Serviceleistungen anbieten können, die auf eine Vernetzung mit Kulturakteuren abzielen und Kooperationen befördern (vgl. Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 61f., 66f.). Zusammengefasst besteht also eine strukturelle Herausforderung darin, für die weitere Stärkung des Kulturtourismus im ländlichen Raum nachhaltige Lösungen für entsprechende »Kümmerer« und Koordinatoren zu finden. Dabei kann es sich lohnen, den touristischen Blick zu weiten und bestehende Modelle interkommunaler bzw. regionaler Kulturarbeit in den Fokus zu nehmen. Hierbei geht es grund-
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sätzlich um die Bündelung von Ressourcen sowie die Anregung von Kooperationen bzw. die Aktivierung von Netzwerken. Die Vermarktung und Vermittlung kulturtouristischer Angebote kann dabei ein Baustein sein (z.B. Kulturknotenpunkte Schleswig-Holstein, Lernende Kulturregion Schwäbische Alb, Metropolregion Rhein-Neckar I Kulturbüro; vgl. außerdem Freistaat Thüringen 2015: 39ff.).
Kulturtourismus braucht ein klares Profil – »Natur & Kultur« sind auch woanders »schön« Destinationen können sich heute nicht mehr damit begnügen »schön« zu sein, denn die Tourismuswerbung lässt den potenziellen Gast glauben, dass es genau das überall auf der Welt ist. Für ländliche Destinationen bedeutet dieser Wettbewerb, dass es nicht mehr ausreicht, »Natur« und »Kultur« zu addieren und gar zum Slogan zu deklarieren. Vielmehr gilt es die Eigenheiten und Besonderheiten eines Ortes zu erzählen, vor allem in einer Zeit, in der »going local« unter den reiseerfahrenen KulturtouristenInnen immer mehr zum »must-see« wird (vgl. Pröbstle 2017: 105f.). »Small-scale, less visited places that offer a taste of ›local‹ or ›authentic‹ culture. Tourists increasingly say that they want to experience local culture, to live like locals and to find out about the real identity of the places they visit« (vgl. Richards 2013: 299). Unter den Kultur- und Tourismusakteuren herrscht große Einigkeit darüber, dass in der Verständigung auf ein gemeinsames Profil die größte Herausforderung für die Zukunft liegt, denn die gegenwärtige Praxis sieht häufig noch anders aus (vgl. Burzinski/Buschmann/ Pröbstle 2018: 78). Viele Destinationen und ihre Kultureinrichtungen werben nach wie vor damit, ein »besonders vielfältiges Kulturangebot« vorweisen zu können und demonstrieren diese Eigenschaft mit einer Vielzahl an Flyern, Broschüren und Co. Gerade im ländlichen Raum, wo Kultur- und Tourismusakteure in der Regel mit deutlich begrenz-
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ten Ressourcen arbeiten müssen (s.o.), sollten solche Parallelstrukturen kritisch hinterfragt werden dürfen. Vielfalt begründet also noch kein Alleinstellungsmerkmal bzw. einen Reiseanlass. Warum aber fällt die Profilbildung bzw. -schärfung den Kultur- und Tourismusakteuren so schwer? Weil ein solcher Prozess bedeutet, gezielt Schwerpunkte zu setzen, ausgewählte Angebote hervorzuheben bzw. thematisch zu bündeln. Einzelne LeistungsträgerInnen befürchten in dieser Situation nicht selten, abgehängt zu werden und weniger als andere vom Gästeauf kommen einer Destination zu profitieren. Doch vielmehr das Gegenteil dürfte der Fall sein, wenn ein starkes Narrativ zu einer überzeugenden Profilentwicklung beiträgt und dadurch Reiseanlässe geschaffen werden. Ist der Gast erst einmal in der Destination angekommen, kann dort durch weiterführende Strategien und Maßnahmen auf die Vielfalt der Angebote aufmerksam gemacht werden. Mut ist also gefordert, wenn in der Positionierung zunächst auf weniger gesetzt wird, um am Ende damit mehr zu erreichen (vgl. Föhl/Pröbstle 2018).
Kulturtourismus muss digital aufholen – und dabei Chancen für den ländlichen Raum nutzen Ob mobiler Ticketverkauf, eine eigene App oder die Kontaktpf lege mit Kultur- und ReisebloggernInnen – der Kulturbetrieb meldet in Sachen Kulturtourismus digitalen Nachholbedarf an. Der Aussage »Wir würden die digitalen Möglichkeiten gerne viel stärker nutzen, es fehlen uns jedoch Personal und Know-how« stimmten im Rahmen der »Kulturtourismusstudie 2018« 86 Prozent der Befragten (teilweise) zu. Ein Blick auf die Marketingaktivitäten zeigt eine deutliche Dominanz klassischer Instrumente. Digitale Anwendungen stellen tendenziell die Ausnahme dar und kommen überwiegend in großstädtischen Kultureinrichtungen zum Einsatz, die erfahrungsgemäß budgetär und personell häufiger besser ausgestattet sind als entsprechende Kulturbetriebe im ländlichen Raum. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im Bereich der Vermittlung. Die Kultureinrichtungen weisen ein sehr
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differenziertes Führungsangebot vor, darunter Überblicks- (77 %), Themen- (72 %) oder Sonderführungen (54 %). Apps dagegen, die als Vermittlungsinstrumente eingesetzt werden können, kommen mit 18 % deutlich seltener zum Einsatz. In der offen formulierten Fragekategorie »Von Anderen lernen: Sind Ihnen Marketingmaßnahmen oder Vermittlungsangebote zur Ansprache touristischer Zielgruppen bekannt, die Sie als besonders innovativ erachten?« wurden auffallend häufig mobile Anwendungen genannt, ohne dass jedoch konkrete Beispiele benannt wurden, sieht man von Vorreitern wie dem »Frankfurter Städel Museum« ab (vgl. Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 36ff.). Die Tourismusorganisationen sind zwar digital einen Schritt weiter, doch auch hier dominieren nach wie vor analoge Marketinginstrumente die Arbeit. Zwar praktizieren 81 % der Destinationen Social-Media-Marketing und es nutzen rund drei viertel Newsletter und EMail-Marketing. Für 70 % gehört Mobile-Marketing bislang jedoch nicht zu den gängigen Instrumenten und für 53 % ist die Zusammenarbeit mit Kultur- und ReisebloggernInnen ebenso wenig an der Tagesordnung (vgl. Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 62ff.). Offensichtlich haben sich Marketing und Vermittlung also noch nicht ausreichend auf das Informations- und Kommunikationsverhalten der Digital Natives eingestellt. Gleichzeitig verschenken Kultur- und Tourismusakteure damit eine große Chance, vor allem wenn es darum geht, kulturelle Potenziale »erzählfähig« und dadurch für den Gast sichtbar zu machen. Denn der Tourismus lebt von konkreten Angeboten, nicht von Potenzialen. Es gibt kaum einen Ort oder eine Region, der oder die nicht hoch interessante, historisch relevante oder gar eine besonders eigentümliche und mancherorts vielleicht sogar kuriose Geschichten zu erzählen hätte. Allerdings sind solche Potenziale meist für den/die BesucherIn nicht sichtbar und in Form von konkreten Angeboten erlebbar. Für die Destinationen und ihre Kulturakteure stellt sich folglich die Herausforderung der Sichtbarmachtung. Die Potenziale müssen zum Sprechen gebracht werden. Dies mag besonders im ländlichen Raum eine Herausforderung darstellen, da
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institutionelle Orte, wie z.B. Museen fehlen, nicht mehr zeitgemäß, in den Öffnungszeiten nur beschränkt zugänglich oder schlecht erreichbar sind. Allerdings wäre es verkürzt, auf der Suche nach einer Strategie der Sichtbarmachung ausschließlich auf eine institutionelle Sichtbarmachung zu setzen, denn gerade digitale Möglichkeiten erlauben es heute, Geschichten auch außerhalb von gebauten Räumen und einer musealen Präsentation zu erzählen – was nicht ausschließt, dass sich beide Formen ideal ergänzen können.
Kulturtourismus bedeutet nicht nur mehr BesucherInnen, sondern auch die Chance auf neue BesucherInnen – für jeden Destinationstyp TouristenInnen bedeuten in erster Linie mehr BesucherInnen für Kultureinrichtungen. Gleichwohl verbinden die Befragten der »Kulturtourismusstudie 2018« mit dem Kulturtourismus weitere Zielsetzungen (vgl. Tabelle 3, S. 67). Auf Platz zwei ist der Nutzen des Kulturtourismus auffällig, der eine höhere Wertschätzung des Kulturangebots auf Seiten der Bevölkerung beschreibt, die dann auftritt, wenn das Kulturangebot von TouristenInnen nachgefragt wird. Weniger Zustimmung findet dagegen die Ansicht, man erreiche mittels des Kulturtourismus Nicht-BesucherInnen, die normalerweise in ihrem Alltag entsprechenden Angeboten fernbleiben. Diese geringe Zustimmung überrascht, zeigen doch Untersuchungen zur kulturtouristischen Nachfrage, dass auf Reisen die Bereitschaft steigt, sich mit Kunst und Kultur zu beschäftigen; aus Nicht-BesuchernInnen werden so zumindest temporär BesucherInnen (vgl. Mandel 2017, Pröbstle 2014: 292ff.). Insbesondere der so genannte »unterhaltungsorientierte Ausf lügler«, der normalerweise selten Kultureinrichtungen besucht, aber Ausf lüge zum Besuch von Sehenswürdigkeiten nutzt und sich dabei eher durch unterhaltende als rein informative Angebote angesprochen fühlt, entspricht diesem Besuchertyp (vgl. Pröbstle 2014: 305ff.). Bleibt also zu vermuten, dass der Kulturtourismus in seiner Rolle als Instrument der Besucherentwicklung bisher nicht explizit erkannt wurde. Die große
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Herausforderung und zukünftige Aufgabe für jede Kultureinrichtung, und zwar unabhängig vom Destinationstyp, besteht nun vor allem darin, diese potenziellen Besucher noch gezielter anzusprechen und Interesse für Kunst und Kultur zu wecken. Tabelle 3: Rolle des Kulturtourismus für Kultureinrichtungen (Mehrfachnennung möglich) (n = 276) Welche der folgenden Aussagen zur Rolle des Kulturtourismus treffen auf Ihre Institution bzw. Organisation zu? Touristen bedeuten mehr Besucher für unsere Institution bzw. Angebote.
74,6 %
Als touristischer Anziehungspunkt sensibilisieren wir auch die Bewohner für den Wert des Kulturangebots.
58,2 %
Die touristische Nutzung trägt zur Erhaltung des kulturellen Angebots bei.
56,0 %
Als Anziehungspunkt für Touristen erhöhen wir unsere Legitimation in der öffentlichen Diskussion.
48,3 %
Wir erreichen Menschen, die unsere Einrichtung im Alltag nicht besuchen würden.
34,4 %
Mit dem Kulturtourismus erhöhen wir unsere Chance auf Fördermittel.
24,1 %
Kulturtourismus spielt in unserer Arbeit (bisher) keine Rolle
14,6 %
Sonstiges
1,9 %
Quelle: Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 31
Kulturtourismus im ländlichen Raum muss hinterfragt werden dürfen und nachhaltig geplant werden Die fünfte und letzte der hier genannten Herausforderungen ist zugleich ein kritisches Fazit. Kultureinrichtungen und Destinationen verbinden mit dem Kulturtourismus diverse Chancen, die zur Koope-
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ration veranlassen und kulturtouristische Maßnahmen begründen (vgl. Tabelle 3 und Burzinski/Buschmann/Pröbstle 2018: 37). Ob diese Chancen allerorts gleich gegeben sind, wird dabei selten gefragt. Gerade in strukturschwachen Regionen wird unbeirrt am Hoffnungsträger Tourismus festgehalten. Es scheint »Common Sense« zu sein, dass Tourismus ein effektives Instrument der Regionalentwicklung ist. Zahlreiche so genannter Best Practice-Beispiele schüren zusätzlich den Willen, es anderen Regionen gleichzutun. Auch der Ehrgeiz von EntscheidungsträgernInnen spielt erfahrungsgemäß eine wesentliche Rolle, gerade bei einem grundsätzlich positiv besetzten Thema wie Tourismus. Darüber hinaus spielt die aktuelle Ausrichtung von Förderprogrammen einer touristischen Erschließung oder Weiterentwicklung in die Karten (vgl. Lehmeier 2015: 115ff.). Das gilt im Speziellen auch für das Marktsegment Kulturtourismus (vgl. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015, Pröbstle 2015). Und selbstredend befeuert auch eine Untersuchung wie die »Kulturtourismusstudie 2018« mit ihren positiven Zahlen zur Entwicklung des Kulturtourismus im ländlichen Raum entsprechende Vorhaben. Anstatt allerdings bedenkenlos den Vorwärtsgang einzulegen, sollte zunächst die »Fahrtauglichkeit« geprüft werden. Dazu gehört etwa die Frage, ob eine Kultureinrichtung an eine Destination »andocken« kann und eine ausreichende touristische Infrastruktur vorhanden ist. Fehlen beispielsweise gastronomische Angebote, Übernachtungsmöglichkeiten oder andere touristische Leistungen, werden die Möglichkeiten auf Erfolg begrenzt sein. Und natürlich sollte auch eine kritische Selbsteinschätzung erfolgen, was die Strahlkraft der eigenen Angebote für TouristenInnen angeht. Nicht jedes Kulturangebot lässt sich in seiner Attraktivität beliebig für eine kritische Masse von TouristenInnen steigern. Sind darüber hinaus die personellen wie budgetären Ressourcen derart begrenzt, dass kaum Spielraum für kulturtouristische Maßnahmen vorhanden ist, und gibt es keine PartnerInnen, die unterstützen könnten, sollte ebenfalls die Sinnhaftigkeit eines Tourismusprojekts in Frage gestellt werden.
Kulturtourismus auf dem Land oder die Dialektik des Tourismus
Überall dort, wo Kulturtourismus im ländlichen Raum bereits erfolgreich praktiziert wird und die Zeichen günstig stehen, eine entsprechende Entwicklung zu fördern, wäre es dagegen ein Desiderat, möglichst frühzeitig Maßnahmen mitzudenken, die auf eine nachhaltige Form des Tourismus abzielen und negativen Effekten vorbeugen. Denn ländliche Regionen werden – so lässt es die Dialektik des Tourismus vermuten – nach und nach mehr TouristenInnen anziehen. Aus »Geheimtipps« und »creative outposts« (vgl. Richards/Russo 2014: 4) der »tourismusgeplagten« EntdeckerInnen entstehen möglicherweise in Zukunft neue touristische »Hotspots« im ländlichen Raum.
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Freistaat Thüringen, Thüringer Staatskanzlei, Abteilung Kultur und Kunst (Hg.) (2015): Transformation kooperativ gestalten. Kulturentwicklungsplanung in den Modellregionen Kyff häuserkreis/ Landkreis Nordhausen und Landkreis Hildburghausen/Landkreis Sonneberg. Online verfügbar unter https://www.thueringen. de/de/publikationen/pic/pubdownload1605.pdf (letzter Zugriff: 20.03.2019). F.U.R – Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (2019): Reiseanalyse 2019. Erste ausgewählte Ergebnisse aus der 49. Reiseanalyse zur ITB 2019. Online verfügbar unter: https://reiseanalyse.de/ wp-content/uploads/2019/03/RA2019_Erste-Ergebnisse_DE.pdf (letzter Zugriff: 18.03.2019). F.U.R – Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e. V. (2012): Kultur spielt im Urlaub eine wichtige Rolle! In: https://www.ttr.tirol/ sites/default/files/2017-10/RA%202012_Kultur%20im%20Urlaub. pdf (letzter Zugriff: 19.03.2019). Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.) (2015): Förderpotenziale für die kulturelle Infrastruktur sowie für kulturelle Aktivitäten in ländlichen Räumen. Eine Bestandsaufnahme. Online verfügbar unter: https://www.kupoge.de/ download/Studie_laendliche-kulturarbeit.pdf (letzter Zugriff: 19.03.2019). Kirig, A. (2013): Tourismusreport 2014, Frankfurt a.M. Lehmeier, H. (2015): Warum immer Tourismus? Isomorphe Strategien in der Regionalentwicklung, Bamberg. Mandel, B. (2017): Touristische Besucher als Chance der Öffnung von Kultureinrichtungen für ein sozial diverses Publikum. In: Klein, A./Y. Pröbstle/T. Schmidt-Ott (Hg.): Kulturtourismus für alle? Neue Strategien für einen Wachstumsmarkt, Bielefeld, S. 39-58. Pröbstle, Y. (2014): Kulturtouristen. Eine Typologie, Wiesbaden. Pröbstle, Y. (2015): Förderkriterium Kulturtourismus. Chancen, Risiken und aktuelle Beispiele aus der Förderlandschaft. In: Sievers, N. (Hg.) (2015): Jahrbuch für Kulturpolitik 2014: Thema: Neue Kulturförderung, S. 115-122.
Kulturtourismus auf dem Land oder die Dialektik des Tourismus
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Die Destination als Bühne: Wie macht Kulturtourismus ländliche Regionen erfolgreich? Heike Bojunga/Thomas Feil »Gäste holen durch Tourismusorganisationen hat noch nie wirklich geklappt und wird in Zukunft noch weniger funktionieren.« 1
1.
Kann man mit Kultur die touristische Entwicklung ländlicher Regionen stärken?
Kultur zieht Gäste an, das zeigen die Übernachtungszuwächse im Städtetourismus. Die deutschen Tourismus-Metropolen vermarkten sich als »Magic Cities«2 mit einer kunstvollen Mischung aus Lebensart, beeindruckenden Wahrzeichen und spektakulären Veranstaltungen. Damit erfüllen sie ganz offenbar genau die Wünsche, Sehnsüchte und Träume ihrer Besucher*innen. Ländliche Regionen hingegen haben es deutlich schwerer. Natürlich gibt es auch hier »magische« Orte, die jedes Jahr millionenfach Besucher*innen anziehen, man denke nur an die 1 Beritelli/Laesser (2019). 2 Unter dem Label »Magic Cities – 10 Stars leuchten am deutschen Städte-Himmel« vermarket die Deutsche Zentrale für Tourismus die deutschen Tourismus-Metropolen im Ausland https://www.germany.travel/de/staedte-kultur/staedte/ma gic-cities/magic-cities.html
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Heike Bojunga/Thomas Feil
Nordsee-Inseln oder die bayerischen Alpen. Aber wie können sich die vielen ländlichen Gebiete und Mittelgebirgs-Regionen in Deutschland vermarkten, die nicht auf spektakuläre Landschaften, eine glanzvolle Geschichte oder ein cooles Metropolen-Image zurückgreifen können? Auch sie brauchen für die touristische Entwicklung jüngere, zahlungskräftige Gäste, also genau jene, die so gern in Städte reisen. Darüber hinaus spielt die Entwicklung des Tourismus im ländlichen Raum für den Erfolg des Deutschlandtourismus insgesamt eine zentrale Rolle. Diese Gründe bewogen das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, das Förderprojekt »Die Destination als Bühne – Wie macht Kulturtourismus ländliche Regionen erfolgreich?« aufzusetzen.3 Das Ziel des Projekts: gemeinsam mit den Destinations-Management-Organisationen (DMO) besucher*innenorientierte Produktkombinationen zu entwickeln und so zu vermarkten, dass Kultur und kulturelle Angebote mehr Gäste anlocken. Dabei sollte der Blick bewusst weit gefasst sein – nicht nur in Bezug auf den Kulturbegriff. Die Frage war: Wie können kulturtouristische Angebote auf dem Land besser vernetzt und mit nachhaltigen Effekten vermarktet werden und wie kann Kultur auf diese Weise zum Erfolgsfaktor und Treiber für die gesamte Entwicklung einer ländlichen Region werden? Welche Rolle hat dabei die DMO, welche Aufgaben haben die Kultureinrichtungen und die touristischen Anbieter? Und was sind die Erfolgsfaktoren bei der Erschließung neuer Gästegruppen? Mit der Oberlausitz, Ostfriesland, der Zugspitz Region, Anhalt-Dessau-Wittenberg, der Mecklenburgischen Seenplatte und Oberschwaben-Allgäu wurden sechs Modellregionen ausgewählt, in denen beispielhaft Lösungswege entwickelt werden sollten, die bundesweit auch auf andere Regionen übertragbar sind.
3 Das Projekt lief von 2015 bis 2018 und wurde von einer Arbeitsgemeinschaft bestehend aus dem »Deutschen Tourismusverband« (DTV), dem »Tourismusberatungs- und -forschungsunternehmen DWIF GmbH«, dem Beratungsunternehmen Kulturexperten Dr. Scheytt und der »Kulturmarketing-Agentur Sandstein Kommunikation GmbH« betreut.
Die Destination als Bühne
Doch kann eine DMO überhaupt etwas tun, um mit Kultur mehr Gäste in den ländlichen Raum zu holen? Oder gehört dies zu den »Mythen im Destinationsmarketing«,4 wie Pietro Beritelli und Christian Laesser behaupten? Da Tourismusorganisationen selbst keine touristischen Leistungen anböten und verkauften bzw. die Hauptattraktionen betrieben, so die beiden, könnten sie eben auch nicht einfach Gäste holen. Das klassische Verständnis von Marketing allein reiche in Zeiten allgemeiner Reizüberf lutung, großer Buchungsplattformen und multioptionaler Angebote jedenfalls nicht, auch weil die Reiseentscheidung der Gäste eine komplexe Angelegenheit sei, bei der viele Faktoren eine Rolle spielten. Was heißt das für das (klassische) kulturtouristische Destinationsmarketing? Ist es also nur »Firlefanz«, den man sich ebenso gut sparen kann? Und was genau ist dann die Rolle und die Aufgabe der Tourismusorganisationen? Nach unseren Erfahrungen aus den Modellregionen hat die jeweilige DMO drei Ansatzpunkte, ein Reisegebiet kulturtouristisch (weiter)zuentwickeln: • Die Gäste beteiligen: Besucher*innen sind längst »Prosumer«, die selbst kommunizieren und damit auch die Wahrnehmung von Kultur und kulturtouristischer Angebote mitgestalten.5 Sie lassen sich nicht einfach eine »Geschichte« erzählen, sondern werden selbst Teil davon. Das bedeutet, die eigene Kommunikationshaltung ebenso wie die klassische Angebotsgestaltung zu hinterfragen und das Wissen über Gästewünsche und -bedürfnisse zu erweitern. • (Besondere) kulturelle Angebote schaf fen: DMOs könnten nur dann Einf luss auf die Reiseentscheidung der Gäste nehmen, wenn sie selbst ein Kulturevent organisierten, konzipierten und durchführten oder eine touristische Attraktion wie ein bedeutendes Museum 4 Beritelli/Laesser (2019). 5 Beritelli/Laesser (2019): »Entscheidend ist der Sender der Botschaft, nicht der Kanal. Man sollte deshalb lieber Gäste inhaltlich und prozessual zur Kommunikation befähigen, statt selber zu kommunizieren.«
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selbst betrieben, so Beritelli und Laesser.6 Tatsächlich organisieren und betreiben DMOs Kulturangebote in den meisten Fällen nicht selbst. Die enge und vor allem langfristig angelegte Kooperation mit Kulturanbietern, die ihrerseits genügend Strahlkraft haben und offen sind für die kulturtouristische Vermarktung, ist deshalb eine der Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche kulturtouristische Entwicklung der Region. • Moderation und Unterstützung als zentrale Aufgabe begreifen: Wenn die DMO selbst kein Kulturanbieter sein kann bzw. kein Kulturevent organisiert, bekommt ihre Rolle als Moderator und Unterstützer in der Region eine kaum zu unterschätzende Bedeutung. Das heißt, dass »eine DMO Prozesse für gemeinsame produkt- und angebotsgestalterische Aufgaben übernimmt (Moderation und Unterstützung)«.7 Die Ergebnisse des Projekts zeigen, dass hier der Schlüssel für eine erfolgreiche kulturtouristische Entwicklung liegt. Kulturangebote müssen vernetzt und gemeinsam entwickelt werden, die Tourismusorganisation hat hier eine zentrale Rolle als Ansprechpartner, Treiber und Moderator. Dabei muss sie sowohl mit den touristischen Leistungsträgern als auch mit den Kulturanbietern eng zusammenarbeiten. Allerdings kann sie diese Rolle nur dort erfolgreich wahrnehmen, wo sie ausreichend handlungsfähig und mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet ist.
2. Kulturbegriff und Auswahl der Modellregionen Als Modellregion bewerben konnten sich alle Tourismusorganisationen im ländlichen Raum. Tatsächlich folgten 77 Regionen aus ganz Deutschland dem Aufruf des Deutschen Tourismusverbandes (DTV), an dem Projekt teilzunehmen. Das Interesse, Modellregion zu werden, war also groß. In einigen Reisegebieten gab es bereits Erfahrungen 6 Ebd. 7 Ebd.
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sowie enge und etablierte Kooperationen mit Kulturanbietern (in Ostfriesland zum Beispiel), andere standen noch ganz am Anfang. Um einen möglichst hohen Praxisbezug zu gewährleisten und die unterschiedlichen Formen von Kulturtourismus einzubeziehen, lag dem Projekt ein erweiterter Kulturbegriff zugrunde. Untersucht wurden Erscheinungsformen von Kulturtourismus aus drei Bereichen, wobei sich die kulturtouristische Vermarktung auch auf Mischformen aus den drei Bereichen bezog: • Regionale Identität und Alltagskultur: Regionen, in deren touristischer Vermarktung die regionale Identität und Authentizität (Kulinarik, Tradition, Brauchtum, altes Handwerk) eine besondere Rolle spielen. • Touristische Vermarktung von Hochkultur im Sinne von Geisteskultur: Dies umfasst die bildenden und darstellenden Künste sowie Design und Architektur. Hochkultur wurde hier insbesondere in Abgrenzung zur Alltagskultur verstanden, zum Beispiel Kultureinrichtungen (Museen, Theater, Bauwerke o.Ä.), Kulturveranstaltungen (Festivals, zeitlich begrenzte Angebote) oder andere besondere bzw. herausragende Attraktionen. • Kulturlandschaf t: Regionen, in denen die Kulturlandschaft (Weinbau, Bergbaufolgelandschaft, Seenlandschaften) bzw. die Inszenierung von Landschaft und Kultur für die touristische und kulturelle Vermarktung eine besondere Rolle spielen oder besonders prägend sind. Zur Auswahl der Modellregionen wurde in Abstimmung mit dem Auftraggeber und einem eigens für dieses Projekt eingerichteten Fachbeirat – mit Vertreter*innen aus den Landestourismusorganisationen, Ministerien des Bundes und der Länder, Verbänden und Branchenvertreter*innen – ein mehrstufiges Verfahren mit transparenten und nachvollziehbaren Kriterien entwickelt. Ziel war, dass sich ländliche Regionen (Reisegebiete) aus allen Flächenländern bewerben. Der Auswahl von geeigneten Modellregionen wurden vier Hauptkriterien zugrunde gelegt:
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• Reisegebiet im ländlichen Raum, • kulturtouristische Substanz, • touristischer Entwicklungsstand und Vernetzung der Destinationsmanagementorganisation (DMO), • Engagement und Aufgeschlossenheit für das Projekt. In den meisten Regionen waren Mischformen aus verschiedenen kulturtouristischen Angebotsformen vorhanden. Auf der Basis des oben beschriebenen erweiterten Kulturbegriffs wurden deshalb zunächst fünf verschiedene Angebotsformen von Kulturtourismus in ländlichen Regionen definiert und dafür jeweils spezifische Schnittstellenpartner, Aufgabenfelder und Ziele formuliert. So ist die Vernetzung von Museen mit dem Ziel, eine Kulturregion zu etablieren, eher für kulturtouristisch gut entwickelte Regionen (Reifephase) sinnvoll. Die Förderung von Kulturpionier*innen ist hingegen ganz typisch für Regionen, die erst am Anfang einer kulturtouristischen Entwicklung (Initialphase) stehen. Für beide Angebotsformen braucht es jeweils andere Partner, Ziele und Aufgaben (siehe dazu Abb. 1). Abbildung 1: Kulturtouristische Angebotsformen
Quelle: DWIF/Sandstein 2016
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3. Case-Studies aus den Regionen Das Projekt sollte vor allem die Umsetzungskompetenz vor Ort fördern. Ein zentraler methodischer Ansatz war deshalb, von den ganz unterschiedlichen Fragestellungen in den Regionen auszugehen und jeweils individuell auf ihre konkreten Bedürfnisse zugeschnittene Coachings und Workshops zu entwickeln. Deshalb wurden zunächst Auftaktgespräche mit den DMO-Manager*innen in den Modellregionen geführt. Leitfadengestützte Expert*innengespräche und umfangreiche Sekundäranalysen ergänzten die Gespräche vor Ort. Ziel war, ein klares Bild von der Ausgangslage und den Rahmenbedingungen zu erarbeiten, um möglichst präzise die Problemlagen und Fragestellungen herauszufiltern. Im Anschluss an die Gespräche und Befragungen wurden zur Vorbereitung von Workshops ein oder mehrere Handlungsfelder und Fragestellungen entwickelt und konkrete Ziele für die jeweilige Modellregion definiert. Ideen und Lösungswege sollten schon während der Projektlaufzeit in der Praxis erprobt werden und langfristig vor Ort gut umsetzbar sein. Die folgenden Case-Studies zeigen etwas ausführlicher, welche Fragestellungen in den einzelnen Regionen entwickelt wurden und zu welchen Erkenntnissen und Ergebnissen die praktische Umsetzung führte. Da aus unserer Sicht das Destinationsmanagement, wie oben ausgeführt, drei wesentliche Hebel hat, um eine Region kulturtouristisch zu entwickeln, ist die Darstellung entsprechend gegliedert: • Wie kann man Gäste beteiligen? In der Zugspitz Region wurden Gäste in dem transmedialen Rätsel »Der Ruf des Berges« Teil einer Geschichte. Das Beispiel zeigt, wie ein veränderter Blick auf die Gäste Kommunikation und Angebotsgestaltung beeinf lusst – und wie man Besucher*innen auch vor und nach einem Kulturevent in der Region halten kann. • Was braucht eine DMO, um kulturelle Angebote selbst zu entwickeln? In Ostfriesland und in der Welterberegion Anhalt-Dessau-Wittenberg war das Ziel, neue kulturelle Angebote und Veranstaltungs-
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formate zu entwickeln. Das Beispiel dieser Modellregionen zeigt, welche Voraussetzungen und welche Partner ein Reisegebiet dafür braucht. • Wie kann die Rolle der DMO als Moderator aussehen? Die Oberlausitz und die Mecklenburgische Seenplatte wiederum sind zwei sehr unterschiedliche Beispiele, die verdeutlichen, wie facettenreich und breit gefächert die Rolle der jeweiligen DMO als Moderator und Unterstützer sein kann. In allen Modellregionen stellte sich schnell heraus: Die Qualität der Zusammenarbeit von Destinations-Management und Kulturanbietern ist der entscheidende Erfolgsfaktor für alle drei Handlungsfelder. Relativ bald war aber auch klar, dass es gerade an dieser Schnittstelle zahlreiche Hemmnisse, strukturelle Unterschiede, Vorbehalte, sehr verschiedene Sichtweisen und Widersprüche gab. Kulturanbieter waren durch das touristische Vokabular (z.B. »wettbewerbsfähige Strukturen«, »marktkonforme Produkte«) schnell abgeschreckt, wünschten sich aber oft mehr Besucherorientierung, auf jeden Fall auch mehr Besucher*innen. Touristiker*innen wiederum sahen durchaus das Potenzial kultureller Leuchttürme oder besucherstarker Veranstaltungen (gerade auch, weil sie wussten, wie sehr Städte davon profitieren), fragten sich aber, wie sie die Gäste auch vor und nach einem Kulturevent in der Region halten könnten. Die letztendlich entscheidende, übergreifende Frage in allen Modellregionen war also: Welche (Mindest-)Voraussetzungen und welche strukturellen Rahmenbedingungen sind notwendig, damit dauerhafte und vertrauensvolle Kooperationen vor Ort gelingen?
3.1
Die Gäste beteiligen: Von der Zielgruppe zum »Prosumer«
Gleich in der ersten Projektphase wurde klar: Die Reisegebiete wissen viel zu wenig über ihre Gäste, um mit ihnen langfristig im Gespräch zu bleiben. Das behindert die Entwicklung besucherorientierter, marktfähiger Angebote, aber auch eine Kommunikation, die auf Gespräch
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und Dialog setzt. Der erste Schritt zu einer besucherorientierten Angebotsgestaltung und Vermarktung ist deshalb, belastbare Daten über Kulturtourist*innen zu gewinnen (z.B. über Marktforschung, aber auch über interaktive Angebote im eigenen Marketing und im Gespräch) und die Gästegruppen feiner zu differenzieren (z.B. anhand von Reisewünschen, Kulturinteressen, Besuchsverhalten). Darüber hinaus gilt es, die eigene Kommunikationshaltung zu verändern. Dazu gehört, die klassische Vorstellung von »Zielgruppen«, die mit Angeboten und Marketingmaßnahmen im wahrsten Sinne des Wortes »bombardiert« werden, zu hinterfragen. Gäste sind längst »Prosumer«. Das Wort ist eine Mischung der Begriffe »Producer« (Produzent) und »Consumer« (Konsument) und bezeichnet eine Konsumund Kommunikationshaltung, bei der Gäste zugleich Absender*innen und Empfänger*innen, Konsument*innen und Mitgestalter*innen von Produkten und Angeboten sind. Das bedeutet, zukünftig werden Gäste immer mehr sowohl die Angebote selbst als auch die Kommunikation darüber beeinf lussen und mitgestalten. Angebotsgestaltung und Kommunikation, digital und analog, sind deshalb viel stärker verknüpft als früher. Der Gast wird Teil einer Geschichte, er teilt seine Reiseerlebnisse oft in Echtzeit mit anderen, indem er sie über soziale Netzwerke beschreibt, empfiehlt, kommentiert und bewertet. In den digitalen Medien entsteht so ein Gespräch über das Reisegebiet, seine Angebote und die ganz subjektiven Erlebnisse der Besucher*innen. Idealerweise gelingt es den Destinationsverantwortlichen, Teil dieses Gesprächs zu werden. Das ist eine Herausforderung, denn es verändert die üblicherweise längerfristig angelegten Planungszyklen, Abstimmungsschleifen und Hierarchien im klassischen Destinationsmarketing. Die Verbindung digitaler und analoger Erlebnisse ist aber auch eine Chance, ein gutes Gespür für Gästebedürfnisse und die Stärken und Schwächen des eigenen Angebots zu bekommen. Und es bietet die Möglichkeit, (fast) in Echtzeit Erkenntnisse zum Gästeverhalten zu gewinnen und – zum Beispiel bei der Besucher*innenlenkung – darauf viel präziser als bisher zu reagieren.
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3.1.1 Beispiel Zugspitz Region: Wie Gäste Teil einer Geschichte werden Die Zugspitz Region ist touristisch grundsätzlich gut aufgestellt, die Vernetzung von Kulturangeboten ist allerdings ausbaufähig. Die Bayerische Landesausstellung 2018 mit dem Titel »Mythos Bayern – Wald, Gebirg und Königstraum« sollte deshalb genutzt werden, um weiterführende kulturtouristische Angebote in der Region zu vernetzen und zu vermarkten und so langfristige Effekte für die Region auch nach Abschluss der Landesausstellung zu erzielen. Dazu wurde eine neue Form des Storytellings entwickelt. In der aus dem Ausstellungsthema abgeleiteten, transmedial angelegten Geschichte »Der Ruf des Berges« wurden die Gäste Teil eines spannenden Rätsels, in das sie ganz nach eigenen Interessen und Bedürfnissen eintauchen konnten (vgl. hierzu auch den Beitrag von Holz in diesem Band). Durch eine sehr individuelle Ansprache und ein großes Maß an Flexibilität und Automatisierung konnten überraschende Effekte kreiert werden, die Neugierde weckten und zum Handeln animierten. Im Rahmen eines gemeinsamen Start- und Endpunktes entschieden die Rezipient*innen selbst, was sie erleben wollten und wie intensiv sie tatsächlich in der Geschichte mitwirkten. Im Gegensatz zur oft üblichen Besucher*innenführung z.B. entlang einer bestimmten Strecke, konnten die Gäste also ganz individuell aussuchen, welche Station sie besonders interessierte. Erlebnisse und Angebote wurden entsprechend inszeniert und dramaturgisch so verknüpft, dass die Teilnehmenden emotional gebunden werden (Neugier, Herausforderung, Lösung eines Rätsels, Belohnung). Gäste, die gerne mitmachen wollten, konnten sich online registrieren und in die Geschichte eintauchen. Sie wurden selbst zu Akteur*innen und erlebten eine Symbiose aus Wirklichkeit und Fiktion in der Region, in der sie ihren Urlaub verbrachten. Die Interaktion mit den Teilnehmenden lief komplett über Alltagsmedien und gängige Kommunikationskanäle wie Anrufe, SMS, Mails, Postsendungen, Social Media und Websites der Destinationen. Das hatte den Vorteil, dass keine zusätzliche Infrastruktur wie z.B. Beschilderung geschaffen
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werden oder Instrumente wie Apps oder Spiele technisch umgesetzt werden mussten. Für die DMO und die Anbieter hatte dieses Konzept mehrere Vorteile: Die einzelnen kulturtouristischen Angebote wurden über eine (fiktive) Handlung vernetzt, die sich jedoch auf reale Geschichten aus der Region bezog. Ausgehend von einer Basiserzählung konnten sich im Laufe der Zeit immer mehr Einzeleinrichtungen an die »Story« anschließen. Das Rätsel sollte Besucher*innen durch einen Mehrwert zum Angebot locken und Anlass für begleitende Kommunikation in digitalen (Website, soziale Medien) und analogen (Flyer, Presse etc.) Medien bieten. Damit wurden zusätzliche Anlässe geschaffen, Sehenswürdigkeiten zu besuchen und Gäste vor, während und nach der Reise anzusprechen. Dabei zeigte sich auch: Digitale Formate sind ein starker Anreiz zur Vernetzung der Partner in der Region. Dies vor allem deshalb, weil diese Formate wegen mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen der Leistungsträger und Kultureinrichtungen meist nicht alleine von einem Anbieter entwickelt und betreut werden können. Zukünftig könnte das Rätsel verstärkt für die Besucher*innenlenkung und in der Marktforschung eingesetzt werden, da es durch die ständige Interaktion zeitnah und aktuell Informationen über das Besucher*innenverhalten generiert.
3.2
Das Angebot: Kann und soll die DMO kulturelle Attraktionen anbieten?
Um es vorwegzunehmen: In keiner der Modellregionen hat die verantwortliche DMO selbst ein Kulturevent organisiert oder eine Kultureinrichtung selbst betrieben, hauptsächlich deshalb, weil dafür keine Ressourcen vorhanden waren. Insbesondere die langfristige Finanzierung solcher Projekte stellte eine große Hürde dar. Auffällig ist aber, dass die kulturtouristische Angebotsentwicklung in jenen Regionen besonders erfolgreich war, wo es starke Kultureinrichtungen gab, die auch überregional wahrgenommen wurden und die strukturell und vor allem auf der persönlichen Ebene eng mit der DMO kooperierten.
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Verstärkt wurde dieser Effekt dann, wenn Kultur-Partner die Ansprache von (möglichst vielen) Besucher*innen als relevanten Teil ihrer Tätigkeit und ihres Erfolgs ansahen. Dies war beispielsweise bei der Ferropolis GmbH (unternehmerischer Gewinn) oder bei der Kunsthalle Emden (gesellschaftspolitischer Anspruch) der Fall. Die folgenden Beispiele bestätigen zwar die These, dass die jeweilige DMO meist nicht allein Kulturevents oder eigenständige Formate anbieten kann, sie zeigen aber auch, dass es gelingen kann, eigene Formate zu entwickeln und zu einem touristischen Anziehungspunkt zu machen, wenn die DMO mit Kultureinrichtungen kooperiert. Die Modellregion Ostfriesland kam dem Anspruch, selbst ein Kulturevent zu organisieren, am allernächsten: Mit den kulturtouristischen Themenjahren gab es schon zu Projektbeginn 2015 Ansätze eines Formats und ein etabliertes Netzwerk. Die enge persönliche Zusammenarbeit der Kunsthalle Emden mit ihrem offenen Besucher*innenkonzept,8 der »Ostfriesland Tourismus GmbH« (OTG) und einem kulturtouristischen Unternehmen wie dem »Park der Gärten« war hier ein besonderer Glücksfall. Im Rahmen des Projektes wurde gemeinsam mit der Projektgruppe ein Finanzierungskonzept entwickelt, mit dem es zukünftig möglich ist, über Sponsoring und einen gemeinsamen Fonds sowohl die Rolle der DMO als Moderator zu gewährleisten als auch eigenständig Veranstaltungsformate anzubieten und zu vermarkten. In Anhalt-Dessau-Wittenberg stand die Entwicklung eines neuen Kulturevents im Mittelpunkt. Um junge Gäste, vor allem Festivalbesucher*innen, länger in der Region zu halten, wurden so genannte Satelliten-Konzerte an ungewöhnlichen Orten konzipiert. Auch hier
8 Die Kunsthalle Emden hatte seit ihrer Gründung den Anspruch, ein offenes Haus für die Emdener Bürger*innen zu sein und mit ihren Angeboten zu Austausch und Interaktion einzuladen. Dazu gehören neben Beteiligungsprozessen für Bürger*innen an den Ausstellungen selbst u.a. auch ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm, Malkurse und Workshops.
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kooperierte die DMO mit zwei Kultur-Unternehmen, der »Ferropolis GmbH« und der »MELT! Festival GmbH & Co. KG«. Sowohl in Ostfriesland als auch in Anhalt-Dessau-Wittenberg war die (Neu-)Ausrichtung bzw. strategische Planung der digitalen Kommunikation im Sinne eines Dialogs mit den Gästen wesentlicher Bestandteil des Projekterfolgs.
3.2.1 Ostfriesland: Wie man kulturtouristische Formate langfristig finanzieren kann Seit 2007 gab es in Ostfriesland kulturtouristische Themenjahre, ein fast schon eigenständiges Kultur-Format, das bereits erfolgreich Kulturanbieter und touristische Leistungsträger bündelte. Zum Zeitpunkt des Projektbeginns 2015 drohte sich jedoch das vorhandene Netzwerk aufzulösen, und die Finanzierung der Themenjahre war nicht mehr gesichert. Die drängendsten Fragen waren also: Woher kommt in Zukunft das Geld? Und wie kann man die Finanzierung langfristig sichern und von der aufwändigen Beantragung temporärer Fördermittel unabhängiger werden? Ein tragfähiges Finanzierungskonzept sollte es der DMO ermöglichen, auch eigenständig Kulturangebote bzw. bestimmte Formate zu konzipieren und umzusetzen. Um diese Weiterentwicklung kulturtouristischer Angebote zu finanzieren, wurde gemeinsam ein Konzept zur Ansprache von Sponsor*innen entwickelt. Dabei sollte Kultur nicht nur ein (temporärer) Reiseanlass sein, sondern als langfristiges, attraktives Angebot und Imagefaktor für die Region etabliert werden. Der Weg führte deshalb weg von der temporären Inszenierung (Themenjahre alle drei Jahre), hin zu einer übergreifenden Kulturmarke. Dafür wurde in einem Beteiligungsprozess vor Ort die Leitidee der Themenjahre – »Land der Entdeckungen« – zu einer Markenstrategie ausgebaut. Sie formulierte ein alleinstellendes Profil für die Kulturregion, definierte Zielgruppen, Markenwerte und die für die Region relevanten Kulturthemen. Die Marke als strategische Grundlage sollte als Dach für Kooperationen nach innen wirken, Kulturschaffende und Touristiker*innen inspirieren und vor allem die Basis für die An-
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sprache von Sponsor*innen bilden. Marken sind dann für Sponsor*innen interessant, wenn sie einen positiven Imagetransfer ermöglichen. Kultur ist in diesem Zusammenhang ein besonders geeignetes Thema, denn sie bietet den Unternehmen das, was ihnen oft fehlt: Emotionalität, Lebendigkeit und weiche Standortfaktoren. Bei der Entwicklung der Markenstrategie in der Projektgruppe vor Ort waren auch Vertreter*innen der regionalen Wirtschaft (Unternehmen, Wirtschaftsförderung, IHK) beteiligt. Das weitete den Blick und setzte wichtige Impulse. So stellte sich im Zuge des Prozesses heraus, dass der wichtigste Mehrwert für Sponsor*innen die Reichweite bei seinen Kund*innen in den digitalen Medien ist. Deshalb war es entscheidend, neben einem alleinstellenden Profil, gemeinsamen Zielgruppen und passenden Werten für einen Imagetransfer vor allem Kommunikationsmaßnahmen auf digitalen Kanälen zu entwickeln und anzubieten. Die wesentlichen Informationen zur Marke wurden in einer Kurzpräsentation zusammengefasst, die es der Ostfriesland Tourismus GmbH ermöglicht, bei verschiedenen Stakeholdern und Gremien kurz und bildhaft die Marke zu präsentieren. Dies sorgte dafür, dass Kultur kein Nischenthema blieb, sondern auch für die Gestaltung touristischer Aktiv-Angebote aufgegriffen wurde. Zum Beispiel nutzte die Arbeitsgruppe Radtourismus die Grundlagen der Markenstrategie (zentrale Botschaften, die Gliederung in Kernthemen, die Markenwerte), um Radtouren und neue Routen rund um Kulturthemen und kulturelle Sehenswürdigkeiten zu entwickeln. Die kulturtouristische Marke hatte letztendlich sogar Auswirkungen auf das gesamte Marketing der OTG, da die Strategie in die Konzeption des neu geplanten Webauftritts mit einf loss. Im Zuge des Projektes zeigte sich jedoch, dass vor allem die langfristige Finanzierung eines Umsetzungsmanagers/einer Umsetzungsmanagerin das Hauptproblem darstellte. Der/die Umsetzungsmanagner*in sollte bei der OTG angesiedelt sein und den gesamten Prozess koordinieren und moderieren. Deshalb wurde ein Konzept entwickelt, das neben dem Sponsoring auf Umschichtungen im Marketingbudget der OTG und einen Fonds zur Finanzierung eines Koordinierenden
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(»Dirigent*in«) setzt. In diesen gemeinsamen Topf zahlen alle beteiligten Partner ein (OTG, Kultureinrichtungen, touristische Leistungsträger, Landkreise etc.). Unternehmen haben die Möglichkeit, sich langfristig an dem Fonds zu beteiligen oder über Sponsoring einzelne kulturtouristische Angebote zu unterstützen. Um die Umsetzung für alle klar, verständlich und übersichtlich darzustellen, entschied sich die Arbeitsgruppe vor Ort für eine Abwandlung des Business Models Canvas. Dieses Modell wird üblicherweise für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle verwendet und hat den Vorteil, dass auf einer Seite (Canvas bedeutet Leinwand) alle wesentlichen Schlüsselfaktoren eines neuen Angebots oder Produkts (das Angebot, die notwendigen Tätigkeiten und Kompetenzen, anzusprechende Gästegruppen, Kommunikationskanäle und Vertrieb, Einnahmequellen und Kosten) in Abhängigkeit voneinander dargestellt werden können.9 Das besonders erfolgreiche Beispiel der Modellregion Ostfriesland zeigt: Sponsoring kann ein Modell sein, um die kulturtouristische Entwicklung voranzutreiben und kulturelle Angebote zu finanzieren. Es funktioniert aber nur dort, wo eine entsprechende Wirtschaftskraft vorhanden ist und nur dann, wenn die Tourismusregion gut entwickelt sowie inhaltlich und personell entsprechend aufgestellt ist. Es braucht aktive Treiber*innen, die gut vernetzt sind und Kontakte in der Region auf- und ausbauen. Die Installation einer solchen Treibergruppe, die in Ostfriesland neben der OTG und der Kunsthalle Emden auch aus engagierten Leistungsträgern, Wirtschaftsförderern und der Industrie- und Handelskammer (IHK) bestand, hat sich als entscheidend erwiesen für die anschließende Umsetzung der konzeptionellen Arbeiten. Grundlegend für den Erfolg der Gruppe waren die engen persönlichen Kontakte untereinander und vor allem die starke Eigeninitiative der beteiligten Partner. Um die kulturtouristische Entwicklung langfristig auf eine stabile Grundlage zu stellen, braucht es jedoch eine*n Koordinator*in (oder »Dirigenten«, wie er in Ostfriesland genannt wurde). Dafür ist neben dem Sponsoring ein langfristig 9 Osterwalder/Pigneur (2011).
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angelegtes Finanzierungskonzept erforderlich, wie beispielsweise ein Fonds, in den mehrere Beteiligte und Interessengruppen einzahlen.
3.2.2 Anhalt-Dessau-Wittenberg: Magic-Mystery-Events für junge Gäste In Anhalt-Dessau-Wittenberg stand die Vermarktung der kulturtouristischen Angebote rund um den Museums- und Veranstaltungsort »Ferropolis« im Mittelpunkt. Denn junge Besucher*innen kommen in die »WelterbeRegion« meist nur kurz und dann vor allem (und ausschließlich) für Festivals wie Melt!. Wie also kann es gelingen, sie auch für andere Kulturangebote zu interessieren und zu einem längeren Besuch in der Region motivieren? Und welche Kulturangebote könnten umgekehrt die älteren, klassischen Kulturtourist*innen nach »Ferropolis« locken? Der Tourismusverband WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg e.V. entwickelte in Zusammenarbeit mit der Ferropolis GmbH und der MELT! Festival GmbH & Co. KG ein Konzept für Magic-Mystery-Events, die junge, neue Gäste an außergewöhnliche Orte der Region (Kulturdenkmale) führen, die Orte für Konzerte öffnen und damit erlebbar machen sollten. Für die Umsetzung war es entscheidend, die Ferropolis GmbH und den Festivalveranstalter in alle Aktivitäten zu integrieren. Solche kulturellen Leuchttürme einzubinden, ist nicht immer einfach: Kultureinrichtungen mit überregionaler Strahlkraft sind in vielen Fällen nicht zwingend auf Kooperationen angewiesen, sondern haben eine eigenständige Programmplanung und ein eigenständiges Marketing. Hier gilt es, möglichst gemeinsame Interessen zu identifizieren, um Ansatzpunkte für eine Zusammenarbeit zu finden. In diesem Fall ergänzten sich die Interessen der DMO und der Kulturanbieter ausgezeichnet: Die Touristiker*innen wollten jüngere Gäste (also das Festivalpublikum) ansprechen, die Festivalveranstalter hingegen neue Angebote auch für ein älteres Publikum (also für die touristischen Gäste) entwickeln. Neben den Leuchttürmen braucht es aber auch engagierte, kreative und für die Region brennende Akteur*innen, denn sie sind wichti-
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ge Triebfedern, um neue Ideen überhaupt ersinnen und auf den Weg bringen zu können. Allerdings wurde im Projektverlauf auch deutlich, dass vielen, die Unterstützungsangebote annehmen oder sich beteiligen wollen, neben dem Tagesgeschäft häufig die Zeit für eine intensive Beschäftigung damit fehlt. Zum Projekt gehörte auch die Erarbeitung eines Online-Marketing-Konzeptes, das die verschiedenen digitalen Kanäle bündelte. Darüber hinaus gab es eine Schulung der Partner vor Ort, um Kultur-, Freizeit- und Veranstaltungsangebote verstärkt digital zu präsentieren und zu vermarkten. Für ein erfolgreiches Online-Marketing sind vor allem Kontinuität und strategisch geplante, regelmäßig wiederkehrende Maßnahmen erforderlich, um auf Dauer eine größere Sichtbarkeit zu erreichen (Blogger*innen-Camps oder »InstaWalks«). Einschränkend wirkten sich hierbei jedoch die begrenzten Finanzmittel aus. Dafür wurden folgende Vorschläge entwickelt: • Nicht in erster Linie auf die bezahlte Zusammenarbeit mit jenen Top-Inf luencer*innen zu setzen, die besonders hohe Reichweiten erzielen, sondern gründlich zu prüfen, welche Inf luencer*innen zur Region und ihren Themen passen. Möglicherweise geeignete Inf luencer*innen und ihre Plattformen sollten umfassend analysiert werden, um ihnen gezielt attraktive Vorschläge zu unterbreiten, die zu ihren Themen und Inhalten passen. Im Idealfall fallen dann keine Honorarzahlungen an, da die Aktion selbst den Inf luencer*innen bereits einen deutlichen Mehrwert bietet. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Inf luencer*innen mit dem Thema oder dem Image der Region/der Veranstaltung ebenfalls ihre Reichweite erhöhen können bzw. in anderer Weise davon profitieren. • Mit anderen Akteur*innen zu kooperieren, um gemeinsam entsprechende Aktionen mit einer höheren Sichtbarkeit zu konzipieren und umzusetzen. • Für die Finanzierung der Aktivitäten im Online-Marketing gilt es zudem zu klären, welche der bisher genutzten Marketinginstru-
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mente noch zielführend und welche ggf. verzichtbar sind. Abgesehen von den verschiedenen Printprodukten können beispielsweise häufig die Messeauftritte einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Auf diese Weise können Ressourcen frei werden, die sich für die Nutzung neuer, zeitgemäßer bzw. zielgruppenspezifischer Instrumente einsetzen lassen. Die Ergebnisse des Modellprojektes wurden in der Region erfolgreich weitergeführt. Eine erste Aktion war eine Blogger-Reise in Zusammenarbeit mit dem Reiseblog »Justtravelous«. Rund um das Reformationsjubiläum im Herbst 2017 und der dadurch erwarteten öffentlichen Aufmerksamkeit wurde die Reise bewusst so angelegt, dass in Anlehnung an Luthers 95 Thesen neuneinhalb Gründe für einen Besuch in der Welterbe-Region Anhalt-Dessau-Wittenberg zusammengestellt und verbreitet wurden. Darüber hinaus übernahm die Bloggerin in diesem Zeitraum auch die Redaktion der sozialen Netzwerke des Tourismusverbandes, um hier über ihre Erfahrungen zu berichten und Bilder zu veröffentlichen. Abgesehen vom bestehenden Facebook-Auftritt nutzte die Region diesen Anlass und die dadurch entstehenden Bilder zudem als Auftakt für ihre Präsenz auf Instagram (Enke/Borchers 2018).
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Die Rolle der DMO: Moderator und Unterstützer bei der Angebotsgestaltung
Die Erfahrungen aus dem Projekt belegen eindeutig, dass die Koordination, Bündelung und Unterstützung der Partner bei der Angebotsgestaltung die zentrale Aufgabe der DMO sein sollte. Vor allem dann, wenn kulturtouristische Angebote überregional ausstrahlen und in der Lage sein sollen, potenzielle Gäste zu einem Besuch der Region zu motivieren. In praktisch allen Regionen hatte die DMO hier eine ganz wesentliche Funktion. In Ostfriesland zum Beispiel war die Finanzierung eines Umsetzungsmanagers bzw. einer Umsetzungsmanagerin mit genau dieser Aufgabe ein zentrales Ziel und auch in der Zugspitz
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Region war die DMO der Impulsgeber und Manager des Projektes. Die Moderatoren-Rolle ist vor allem bezogen auf zwei Aspekte entscheidend: • Zum einen dort, wo es keinen kulturellen Leuchtturm gibt und viele kleinere Kulturangebote zu einem interessanten Angebot verbunden werden müssen wie zum Beispiel in der Oberlausitz; • zum anderen bei der Entwicklung digitaler Formate: Digitale Formate sind ein starker Anreiz zur Vernetzung der Partner in der Region. Dies vor allem deshalb, weil diese Formate wegen mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen der Leistungsträger und Kultureinrichtungen meist nicht von einem Anbietenden allein entwickelt und betreut werden können. Doch welche Organisationsstrukturen braucht man, um möglichst günstige Bedingungen für die Vernetzung und Vermarktung kulturtouristischer Angebote zu schaffen? Und wie kann man dies konsequent entwickeln und Hemmnisse minimieren? Da die DMO in aller Regel keine eigenständigen Kulturformate anbietet, sind enge Kooperationen sowohl mit öffentlichen Kultureinrichtungen als auch mit »Kultur-Unternehmen« absolut sinnvoll. Damit das langfristig gut gelingt, ist es jedoch notwendig, eine klare Aufgabenteilung zwischen Kultur und Tourismus zu definieren. Dabei sollte die Vernetzung bei den Kulturanbietenden beginnen, denn sie kennen ihr Angebot am besten. Die DMO wiederum kennt den (touristischen) Markt, die Reisewünsche und im Idealfall auch die Erwartungen, das Verhalten und die Wünsche der Gäste. Beide Partner profitieren bei der Angebotsgestaltung und der Vermarktung von dem Wissen und der Erfahrung des jeweils anderen. Das gelingt jedoch nur, wenn sich dabei auch ein verändertes Bewusstsein sowohl bei den Kulturanbieter als auch bei den Touristiker*innen entwickelt. Für die Kulturanbieter steht eher das kulturelle Thema im Vordergrund (das nicht »verwässert« werden soll), deshalb sehen sie mitunter die Vorteile nicht, die Vermarktungskooperationen
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mit Touristiker*innen bieten. Touristiker*innen hingegen erkennen oft die Chance nicht, die Kulturangebote für die Profilierung der Region darstellen können (zum Beispiel in Ergänzung von Natur- und Aktivangeboten). Für eine erfolgreiche Entwicklung als Kulturtourismus-Region braucht es also eine Struktur, die mehr als ein klar abgegrenztes Nebeneinander ist, und die stattdessen eher auf interdisziplinäre Zusammenarbeit setzt.
3.3.1 Oberlausitz: Vernetzung unter dem Dach »Kulturregion Sechs-Städte-Land« In der Oberlausitz existieren sehr viele, vielseitige und hochwertige Kulturangebote, die jedoch in der Region selbst oft nicht hinreichend bekannt sind und bisher kaum vermarktet wurden – sie sind am Markt (noch) viel zu wenig sichtbar. Das Coaching in der Oberlausitz zielte darauf ab, ein inhaltliches Konzept zur Vernetzung kulturtouristischer Anbieter zu schaffen und in einer entsprechenden Organisationsstruktur langfristig zu verankern. Vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt der Region war es entscheidend, zunächst ein Dachthema bzw. Kernthemen und Leuchttürme zu definieren, unter dem (kulturtouristische) Angebote vernetzt und passende Produktkombinationen und Vermarktungsstrategien entwickelt werden können. In einem längeren Beteiligungsprozess mit der Marketing-Gesellschaft Oberlausitz mbH (MGO) und Kultureinrichtungen in der Region wurde die Leitidee »Kulturregion Sechs-Städte-Land« erarbeitet. Dieser Bezug zur Geschichte des historischen Sechs-Städte-Bundes der Region bot viele inhaltliche Anknüpfungspunkte für die Entwicklung kulturtouristischer Angebote und schuf zugleich mit den Städten (Görlitz, Bautzen, Kamenz, Löbau, Zittau und dem polnischen Lauban) einen geografischen Rahmen für die touristische Vermarktung.
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Mindestanforderungen für die kulturtouristische Vermarktung Im Zuge des Projektes stellte sich jedoch heraus, dass die Strukturhemmnisse in der Region so gravierend waren, dass zunächst die damit zusammenhängenden Fragen bearbeitet werden mussten. Hemmend auf das Projekt wirkte sich zum einen die touristische Organisationsstruktur aus (acht Gebietsgemeinschaften, zwei konkurrierende Landkreise, nicht abgestimmte Alleingänge der Kommunen sowie fehlende Sanktionsmöglichkeiten der DMO), die dazu führte, dass die Tourismusorganisation faktisch kaum handlungsfähig war. Erschwerend kam eine – unter anderem aufgrund der komplexen Organisationsstruktur – völlig unzureichende personelle und finanzielle Ausstattung der DMO hinzu. Dazu kam die starke Zersplitterung der Kulturlandschaft in viele kleine, unabhängig agierende Anbieter. Damit fehlten in der Oberlausitz im Unterschied zu anderen Modellregionen und trotz des vergleichsweise großen Angebots impulsgebende Kultureinrichtungen bzw. Institutionen, die dem Projekt inhaltliche Substanz verliehen und es nach vorne brachten. Das fällt vor allem im Vergleich mit den Modellregionen Ostfriesland (Kunsthalle Emden) und der Welterbe-Region Anhalt-Dessau-Wittenberg (Festival »MELT!«) auf. In beiden Regionen gab es sehr enge (auch persönliche) Verbindungen zwischen einer starken und gut aufgestellten DMO mit einer Kultureinrichtung, die in beiden Fällen auch die Rolle eines kulturellen Leuchtturms und Treibers hatte. Die Modellregion Oberlausitz war deshalb, trotz des Engagements einzelner Beteiligter, kaum in der Lage, die im Zuge des Projektes entwickelten konzeptionellen Ansätze aus eigener Kraft langfristig umzusetzen. Auf der anderen Seite war aber an der Basis der Wille zur Zusammenarbeit und zur professionellen Vermarktung von kulturtouristischen Angeboten klar erkennbar (Workshops, Engagement des DMO-Managers). Ein Schwerpunkt lag also in der letzten Projektphase darauf, Grundlagen für eine Weiterentwicklung der bisherigen Ansätze zu schaffen.
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Am Beispiel der Modellregion Oberlausitz wird deutlich: Kultur ist kein Erfolgsgarant an sich. Um sich als Kulturtourismus-Region zu profilieren, müssen die entsprechenden strukturellen Grundlagen und Mindestanforderungen vorhanden sein oder geschaffen werden. Dazu gehört in erster Linie eine handlungsfähige DMO mit einer bezogen auf die Gebietsgröße angemessenen personellen und finanziellen Ausstattung. Dies ist die wichtigste Grundvoraussetzung überhaupt, denn ohne die DMO ist eine professionelle kulturtouristische Vermarktung nicht möglich. Notwendig ist mindestens eine Person in einer Vollzeitstelle, die Ansprechpartner*in für DMO, touristische Leistungsträger und Kulturanbietende ist und die das kulturtouristische Außenmarketing und das Innenmarketing koordiniert. Im Idealfall ist die DMO dann aktiver Impulsgeber, der die Kooperationen, Vernetzung und die Beteiligung vorantreibt und Initiativen, Ideen und Ansätze mit ähnlicher Zielsetzung bündelt, damit in der Region eine Dynamik entsteht. Die DMO hat eine wesentliche Rolle dabei, folgende Grundlagen zu schaffen: • Die Kooperation mit einem kulturellen Leuchtturm bzw. die Vernetzung mehrerer, qualitativ hochwertiger kultureller Angebote. Ein kultureller Leuchtturm mit überregionaler Strahlkraft und Entscheider*innen, die Interesse an und Kenntnisse in der kulturtouristischen Vermarktung haben, ist ideal und setzt in der Region wichtige Impulse. Fehlt ein solcher Leuchtturm, muss eine kritische Masse an Kulturangeboten vorhanden sein, die für die kulturtouristische Vermarktung geeignet sind. • Klarheit über den Kulturbegriff: Was bedeutet Kultur für uns und in unserer Region? Kultur auf dem Land ist nicht nur klassische Hochkultur, wie sie die meisten Gäste eher aus den Städten vermuten, sondern viel weiter gefasst. Genau das ist die Chance, vor allem dann, wenn Kulturerlebnisse mit Natur, Landschaft, persönlichen Begegnungen und Genuss verbunden werden. • Eine Leitidee bzw. ein konzeptionelles Dach zu schaffen, das die Leistungsfähigkeit und das Image der Region sowie die Bedürf-
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nisse der Gästegruppen realistisch einbezieht und an das möglichst viele Partner in der Region anknüpfen können. Entscheidend ist, dass auch die Kultureinrichtungen bereit sind, unter diesem Dach zu kooperieren. Die Vernetzung von Kultureinrichtungen findet derzeit noch oft nur themen- oder projektbezogen statt. Hier kommt es deshalb darauf an, Mehrwerte deutlich zu machen und ggf. Anreize zu schaffen – zum Beispiel, indem die finanzielle Förderung der Kultureinrichtungen (auch) an Kriterien wie die Kooperationsbereitschaft und den Vernetzungsgrad gekoppelt wird. • Eine möglichst anschauliche Vision, die eine regionale Identität (auch) über Kultur herstellt. In der Oberlausitz könnte das die Bewerbung Zittaus und des Sechs-Städte-Bunds als europäische Kulturhauptstadt 2025 sein. Die Bewerbung soll unter das Dach »Sechs-Städte-Bund« gestellt werden und Verbindungen zu der Region und der europäischen Partnerstädte schaffen. Die Stadt nutzt also das Potenzial, sich zusammen mit dem Umland als ländliche Kulturregion zu vermarkten.
3.3.2 Mecklenburgische-Seenplatte: »Online-Concierge« macht Kulturangebote sichtbar Trotz der enormen Bandbreite an Veranstaltungen in der Mecklenburgischen Seenplatte fand zu Projektbeginn keine gebündelte, überregional wirksame Präsentation des reichen Veranstaltungsportfolios statt. Veranstaltungen wurden größtenteils über zahlreiche individuelle gedruckte Werbeträger und – seltener – über die Onlinekanäle der Veranstalter und Tourismusorganisationen beworben. Den kleinteiligen Kulturanbietern fehlten häufig Zeit, Fachwissen und teilweise mangelte es auch am Willen, ihr Angebot so zu präsentieren, dass es für Tourist*innen attraktiv, auffindbar und verlässlich ist. Hierfür bräuchte es eine/n engagierte/n Akteur*in, wobei der regionale Tourismusverband diese Aufgabe aufgrund beschränkter Ressourcen in der Regel nicht neben dem Tagesgeschäft übernehmen konnte. Für die Erfassung und Auf bereitung der Kulturangebote in der Region war außerdem ein relativ hoher Aufwand erforderlich, da
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Texte und Bilder häufig fehlten und erst geschaffen werden mussten. Weder den Veranstaltern noch den Tourismusorganisationen war es mit den vorhandenen Personalkapazitäten möglich, das Einpf legen von Veranstaltungsdaten und deren Aktualität zu gewährleisten und gleichzeitig eine stimmige Vermarktungsstrategie für das Veranstaltungsportfolio zu formulieren und zu verfolgen. Wie können also Produktentwicklung, Vernetzung, Bündelung und Sichtbarkeit der regionalen Kulturangebote erhöht werden, um die Beratungsqualität für die Gäste zu verbessern? Im Zuge des Projekts wurden für die Konzeption und Umsetzung eines digitalen »Online-Concierges« wesentliche Grundlagen gelegt. Er sollte für Anbieter, Multiplikatoren und Gäste aktuelle Veranstaltungen nutzerfreundlich und zielgruppengerecht präsentieren und buchbar machen. Dazu gehörte auch die Bündelung aller Anbieter unter einem Dach zur gemeinsamen Vermarktung des reichen Portfolios an Veranstaltungen und weiteren Kulturangeboten. Darüber hinaus sollte langfristig ein/e Content Manager*in bzw. ein/e Online-Redakteur*in zur Pf lege der POI-Datenbank installiert werden. Die POI-Datenbank bildete die technische Grundlage für die stärkere Bündelung und Sichtbarkeit der zahlreichen kleinen Kulturangebote in der Region. Die Datenbank ermöglichte Multiplikatoren und Anbietern zugleich eine zielgerichtete Recherche. Im Rahmen des Projektes wurden 70 kulturelle Angebote erfasst und in der POI-Datenbank hinterlegt, sodass die Inhalte zukünftig im landesweiten Informationsnetzwerk zur Verfügung stehen und von den verschiedenen Ausspielungskanälen10 genutzt werden können. Zukünftig sollen Themenjahre (Jubiläen o.ä.) kreiert werden, die dem jährlichen Kanon an Veranstaltungen neue, polythematische Reize und Perspektiven verschaffen. Die Erstellung von gedruckten Werbeträgern soll auf ein möglichst einheitliches, wiedererkennbares und in quantitativer Hinsicht moderates Niveau schrumpfen; die Vermarktung via Onlinemedien soll dagegen verstärkt werden. 10 Zum Beispiel die Webseiten mecklenburgische-seenplatte.de, auf-nach-mv.de
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4. Fazit und Ausblick In allen Modellregionen zeigte sich: Die wichtigste Aufgabe der DMO ist, den Prozess der Angebotsgestaltung und die Kooperation der Anbieter zu gestalten, zu moderieren und zu unterstützen (man könnte auch sagen, aktiv anzutreiben). Das ist kein Selbstläufer: Um sich erfolgreich als Kulturtourismus-Region zu profilieren, müssen strukturelle Grundlagen vorhanden sein oder geschaffen werden. Dazu gehören eine handlungsfähige DMO und ein Kulturanbieter mit möglichst überregionaler Strahlkraft, Klarheit über den Kulturbegriff sowie eine tragfähige Leitidee. Auch bei der kulturtouristischen Vermarktung ist es wichtig, die Leistungsfähigkeit der Region und die vorhandenen Ressourcen realistisch einzuschätzen. Sind die notwendigen Mindestanforderungen vorhanden oder geschaffen worden, gilt es, Anreize für möglichst langfristig angelegte Kooperationen zu schaffen. Sowohl im Kulturbereich als auch im Tourismus sind Kooperationen noch immer viel zu oft rein projektbezogen, was in aller Regel dadurch ungünstig verstärkt wird, dass Fördermittel ebenfalls oft projektbezogen ausgereicht werden. Sich aus diesen Strukturen zu lösen, ist schwer. Im Rahmen des Modellprojekts zeigte sich, dass vor allem die Entwicklung digitaler Formate ein starker Impuls für eine langfristige Vernetzung sein kann. Damit dies gut gelingt, sind folgende Rahmenbedingungen notwendig: • Kooperationsstruktur mit einer klaren Aufgabenteilung: Um Kulturangebote langfristig erfolgreich zu entwickeln und zu vermarkten, ist es notwendig, eine klare Aufgabenteilung zwischen Kultur und Tourismus zu definieren und Partner zu benennen. • Veränderungsbewusstsein und Of fenheit schaf fen: Dazu muss sowohl bei den Kulturanbietern als auch bei den Touristiker*innen ein verändertes Bewusstsein geschaffen werden. Für die Kulturanbieter steht eher das kulturelle Thema im Vordergrund (das nicht »verwässert« werden soll). Die Vorstellung, die inhaltliche Programmgestaltung am Verhalten und den Erwartungen potenzieller Be-
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sucher*innen auszurichten, ist für viele Kultureinrichtung noch immer gewöhnungsbedürftig; vor allem dann, wenn es sich bei den Besucher*innen um scheinbar wenig kulturaffine Tourist*innen handelt. Andererseits ist in zahlreichen Kultureinrichtungen die Debatte um Besucher*innenansprache, neue Formate und Audience Development in vollem Gange und kann ein Ansatzpunkt für Kooperationen sein. Entscheidend ist dabei, dass auch Touristiker*innen die Chance sehen, die Kulturangebote für das Reisegebiet darstellen zu können, vor allem dann, wenn kulturtouristische Angebote als emotionale Erlebnisse für die Gäste gestaltet sind. • Impulse durch digitale Formate nutzen: Ein starker Anreiz für solche erfolgreichen Kooperationen sind digitale Angebote bzw. die Verbindung digitaler Formate und analoger Erlebnisse im Rahmen einer »Geschichte«. Dies vor allem deshalb, weil diese Formate aufgrund fehlender personeller und finanzieller Ressourcen meist nicht von einem Anbietenden allein entwickelt und betreut werden können. • Kommunikationshaltung und Angebotsgestaltung neu denken: Digitale Formate bedeuten aber auch, die Kommunikationshaltung und die Angebotsgestaltung zu verändern: Der Gast wird Teil einer Geschichte. Das verändert das Reise- und oder Kulturerlebnis, aber auch Marketing, Erlösmodelle und Marktforschung. Es bietet die Möglichkeit, (fast) in Echtzeit Erkenntnisse zum Besuchsverhalten zu gewinnen und stärkt das digitale Empfehlungsmarketing. Das sind Themen, die derzeit sowohl Kultureinrichtungen als auch Tourismusorganisationen umtreiben. Allerdings braucht es dafür einen langen Atem, Kontinuität und strategisch geplante, wiederholte Maßnahmen. Kooperationen sollten deshalb unbedingt langfristig (und nicht nur projekt- oder fördermittelbezogen) angelegt sein. • Die Gäste besser kennen lernen: Um solche Formate und Angebote entwickeln zu können, müssen sowohl die Kultureinrichtungen als auch die Tourismusorganisationen ihre Gäste besser kennen(lernen) und stärker differenzieren. Dafür braucht es zunächst belast-
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bare Daten (z.B. über Marktforschung, aber auch über interaktive Angebote im eigenen Marketing). Für die Anwendung im Destinationsalltag sind Modelle wie die Beispielbiografien von »Personas« sinnvoll und praktisch, weil damit Reisewünsche, Kulturinteressen, Besuchsverhalten anschaulich und konkret werden. Auch hier sind langfristige Kooperationen sinnvoll, um Ressourcen und Know-how gemeinsam zu nutzen. • Finanzierungsmodelle ohne Fördermittel entwickeln und in der Region verankern: Fördermittel können gerade in der Anfangsphase helfen, die Grundlagen für eine kulturtouristische Entwicklung der Region zu schaffen. Langfristig sollte man aber versuchen, sich aus der Abhängigkeit von Förderinstrumenten zu lösen. Denn Fördermittel haben auch Nachteile: Sie f ließen nur temporär, Eigenanteile müssen aufgebracht werden und sie müssen immer wieder neu beantragt werden. Das verbraucht viele Ressourcen und ist an bestimmte Strukturen und Bedingungen gebunden. Ein Standbein für eine eigenständige Finanzierung, insbesondere für wirtschaftsstarke Regionen, ist dabei das Sponsoring. Kultur als Imagefaktor sowie der zielgruppenorientierte Einsatz digitaler Medien schaffen Anreize und Mehrwerte im Marketing, die zur Ansprache von Sponsor*innen genutzt werden können. Ein langfristig angelegtes Finanzierungskonzept sollte jedoch nicht ausschließlich auf Sponsoring setzen. Es ist zu empfehlen, darüber hinaus weitere Möglichkeiten auszuschöpfen, insbesondere der Auf bau eines gemeinsamen Fonds, der alle Partner vor Ort in die Pf licht nimmt, und die Umschichtung des DMO-Budgets. • Mit internen Interessenkonf likten umgehen: Für die Entwicklung von kulturtouristischen Angeboten in ländlichen Räumen stehen für viele DMOs oft nicht die Ausrichtung auf Marktanforderungen und Besucher*innenbedürfnisse im Vordergrund, sondern die Erwartungen interner Stakeholder und lokale tourismuspolitische Anforderungen. Dies führt zu Interessenkonf likten sowie dazu, dass tendenziell Partikularinteressen bedient werden und Konzepte eher auf ihre »Gremienfähigkeit« statt auf ihre Relevanz für
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die Vermarktung von Produkten geprüft werden. Die Entwicklung tragfähiger Kooperationsstrukturen, notwendiger Organisationsanpassungen oder die Fokussierung auf zielgruppenorientierte Produkte und Themen, werden deshalb mitunter allein aufgrund interner Bedenken abgelehnt. In den Modellregionen hat sich herausgestellt, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Kultureinrichtungen und Touristiker*innen durchaus Impulse setzen und zu positiven Veränderungen führen kann. Das Projekt »Die Destination als Bühne« zeigt, wie es gelingen kann, diese Impulse aufzugreifen und erfolgreich weiter zu entwickeln. Die DMO hat dabei eine entscheidende Rolle als Moderator und Koordinator – oder, um im Kulturbereich zu bleiben: Sie ist der »Dirigent«.
Literatur Beritelli, P./Laesser, C. (2019): Gäste holen war gestern – Mythen im Destinationsmarketing. In: Gastro Journal, verfügbar unter https://cnews/detail/gaeste-holen-war-gestern-mythen-im-destinationsmarketing/, Stand 17. Januar 2019. Enke, N./Borchers, N. S. (2018): Von den Zielen zur Umsetzung: Planung, Organisation und Evaluation von Inf luencer-Kommunikation. In: Schach, A./Lommatzsch, T. (Hg.): Inf luencer Relations. Marketing und PR mit digitalen Meinungsführern, S. 177-200, Wiesbaden. Osterwalder, A./Pigneur, Y. (2011): Business Model Generation. Ein Handbuch für Visionäre, Spielveränderer und Herausforderer, Frankfurt a.M.
Die Nutzerperspektive: Der ländliche Raum als kulturtouristisches Reiseziel Katja Drews
Obwohl die Nachfrage nach Kulturtourismus in ländlichen Regionen in Deutschland ungebrochen im Aufwärtstrend liegt, besteht gleichwohl starker Bedarf an Detailkenntnissen sowohl über das Funktionieren der ländlichen Kulturtourismussysteme als auch über deren Publikum im deutschsprachigen Raum. Zwar ermitteln touristische Marktanalysen sehr engtaktig die touristische Nachfrage, damit neu entstehende Besuchsangebote schnell auf aktuelle Kundentrends reagieren können,1 doch gibt es im Bereich der Kulturnutzungsforschung bislang vergleichsweise wenig geschlossene und einheitliche Forschungen, die die Interessen und Perspektiven des Publikums für kulturelle Angebote in ländlichen touristischen Reisezielen untersuchen. Bisher herrscht eine management-orientierte Sicht auf Vermarktungsformen und -strategien vor, wenn es um die Betrachtung des ländlichen Kulturtourismus im deutschsprachigen Raum geht. Im internationalen Kontext gaben indessen Ethnografie und Tourismussoziologie den Startschuss für die Beschäftigung mit ländlichen oder besser gesagt: peripheren Reisezielen.2 Das Ländliche fand dann unter anderem mit dem Stichwort vom »Slow Tourism« Eingang in die hie1 Neben den in diesem Band vertretenen Darstellungen aus der Tourismusmarktpraxis s. etwa das »Tourismusbarometer« verschiedener Bundesländer, z.B.: Sparkassenverband Niedersachsen/dwif (2018). 2 Stellvertretend für das Themenfeld s.: Lauterbach, B. (2006).
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sige Ref lexion: langsames Reisen in ruhigen Regionen in Abgrenzung zum Städtetourismus.3 Doch auch die Beschäftigung mit Kooperationen und vor allem mit Angebotsnetzwerken sorgte zwangsläufig dafür, dass eine intensivere Analyse ländlicher Reiseregionen stattfand.4 Die systematischen Besonderheiten und Rahmenbedingungen von ländlichem Kulturtourismus wurden in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten unabhängig davon vielfach im Zusammenhang mit Kulturentwicklungsplanung behandelt.5 Obwohl also traditionell eher dem Städtetourismus zugeordnet, bieten sich für den Kulturtourismus in ländlichen Regionen nahezu naturgegebene Pluspunkte: Neben der »Ressource Landschaft« und den agrotouristischen Reisethemen (etwa den klassischen »Ferien auf dem Bauernhof«) kann gerade der Kultursektor in ruralen touristischen Destinationen wertvolle Beiträge im Gesamtangebot liefern. Andersherum stellt die Nachfrage aus dem Tourismusgeschehen für den lokalen Kulturbereich häufig ebenso eine wertvolle Ressource dar. Naheliegend ist es da, kulturelle Infrastruktur ländlicher Regionen mithilfe touristischer Prozesse stärken zu wollen und »endogene Kulturressourcen« dadurch zu erhalten oder sogar auszubauen. Lokal wirklich »gute« Kulturtourismusangebote kommen dabei allerdings nur zustande, wenn Intentionen und Interessen der Gäste zumindest ungefähr bekannt sind und Anbieter wissen, wie sie die potenziellen Gäste mit entsprechend passenden Informationen erreichen. Es gibt also gute Gründe genauer zu fragen: Wie sehen sowohl für touristische Gäste als auch für Einheimische – für alle Nutzergruppen also – interessante kulturelle Angebote aus? Genauere Kenntnisse hierüber bieten nicht zuletzt die Chance, das Querschnittfeld Kulturtourismus systematischer in die Diskussionen von Tourismusund Kultursystem zu integrieren und den Dialog zwischen beiden Sektoren voranzubringen. 3 Vgl. z.B.: Hlavac, C. (2011) oder Isenberg, W. (2011). 4 Vgl. etwa: Drdra-Kühn, K.; Wiegand, D. (2011). 5 Vgl. z.B.: Föhl, P. (2014).
Die Nutzerperspektive
Rahmenbedingungen von Kultur- und Tourismussektor in ländlichen Räumen Das Thema Kulturtourismus galt zunächst eher als Phänomen der Städte.6 In den Metropolen werden kulturaffine Gäste besonders leicht durch eine Vielzahl attraktiver Kultureinrichtungen und künstlerischer Programme erreicht. Selbst wenn die Gäste ihr Reiseziel nicht primär aus Kulturinteresse wählen, nehmen sie doch vor Ort die kulturellen Leuchttürme und Spezialangebote wahr und besuchen diese. Für ländliche Reiseziele schien diese Synergie dagegen lange Zeit schwerer herzustellen. Ein Hemmnis hierbei ist sicher die landläufige Meinung, dass die kulturellen Orte und Programme im ländlichen Raum weniger hochwertig sind und weniger Besonderheiten aufweisen als die Angebote in den Städten. Heute allerdings setzt sich – parallel zu einem beobachtbaren Wandel des Images ländlicher Räume generell – eine Akzeptanz der Annahme durch, dass auch die Kulturangebote in ländlichen Regionen durchaus interessant und einmalig sein können. Mit Blick auf die Rahmenbedingungen ländlicher Kulturregionen müssen indessen einige Herausforderungen gemeistert worden sein, damit diese positive Erwartungshaltung der Gäste auch bestätigt wird. Immerhin sind ländliche Regionen besonders häufig mit den Folgen des demografischen Wandels konfrontiert. Infrastruktur schwindet dort auch in kultureller Hinsicht. Damit einhergehend scheint das Grundrecht auf kulturelle Teilhabe regelrecht infrage gestellt: Menschen in ländlichen Regionen finden deutlich weniger durch öffentliche Mittel geförderte Kulturangebote und kulturelle Betätigungsmöglichkeiten vor als die Bewohnerinnen und Bewohner städtischer Lebensräume. So beeindrucken etwa die extrem auseinanderdriftenden Aufwendungen öffentlicher Mittel für Kultur, die im Jahr 2010 in deutschen Gemeinden ab 500.000 Einwohner bei 124 Euro pro Kopf und Jahr lagen und in Gemeinden unter 3.000 Ein6 Vgl. z.B.: Lauterbach, B. (2013) oder auch: Kagermeier, A.; Steinecke, A.; Freitag, C. (Hg.) (2011).
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wohner lediglich bei 3,50 Euro.7 Im Kulturfinanzbericht 2016 weisen die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder die öffentlichen Pro-Kopf-Kulturausgaben bis auf die Ebene der Bundesländer aus. Es bestätigt sich auch hier, dass die gering verdichteten Flächenländer Niedersachsen, Schleswig-Holstein und auch Rheinland-Pfalz die geringsten Kulturausgaben tätigen.8 Was genau also macht die touristischen Potenziale aus, die der Kultursektor gerade in ländlichen Regionen bietet? Durch die Schärfung des Blicks auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen entkräftet sich die landläufige Vorstellung, nach der »der« ländliche Raum »wesensmäßig anders« sei als das städtische Lebensumfeld. Raumwissenschaftlich wird der rurale Raum heute eher als unverdichtet gegenüber dem hochverdichteten Raum der Metropolen verstanden – es leben dort zwar weniger Menschen, doch diese haben ähnliche Bedürfnisse wie die Menschen in den Städten. Aus raumwissenschaftlicher Sicht gibt es somit nur in der Verdichtung der Lebensräume Unterschiede, Stadt und Land befinden sich in dieser Hinsicht lediglich an unterschiedlichen Stufen einer Skala.9 Angesichts der zunehmenden globalen Orientierung von Menschen und Wirtschaften, z.B. durch ähnliche digitale Bedingungen, setzt sich zunehmend die Vorstellung durch, dass städtische und ländliche Räume in einer Beziehung zueinander stehen und zusammenhängen. Es verfestigt sich das Bild eines sogenannten »relationalen Stadt-Land-Kontinuums«.10 Für das Thema des ländlichen Kulturtourismus stellt sich damit aber auch die Frage, ob diese Änderung in der Beziehung von städtischen und ländlichen Räumen zugleich die Sichtweise sowohl der Gäste als auch der Bewohner auf kulturtouristische Angebote im ländlichen Raum ändert. 7 Vgl.: Götzky, D. (2012): 93. 8 S. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2016: 36. 9 Einen Einstieg in diese Raumdiskussion liefert z.B. Glasze, G. (Hg.) (2009). 10 Vgl. im Überblick zur raumwissenschaftlichen Betrachtung ländlicher Regionen in den zurückliegenden Jahren: Drews, K. (2017b): 29-44.
Die Nutzerperspektive
Für den »neuen ruralen Kulturtourismus« ist ein weiteres Kriterium von Bedeutung: Kultur- und Tourismussektor richten sich zunächst an unterschiedlichen Wertesystemen aus. Für den Kultursektor ist in erster Linie der »Binnenwert Kultur« von Bedeutung mit seinem Streben nach kultureller Teilhabe möglichst vieler Menschen, die Selbstbildungsprozesse und Empowerment erfahren sollen, auch wenn es dem professionellen Kulturmanagement heute ein selbstverständliches Ziel ist, Kunstproduktionen und kulturelle Bildungsprozesse wirtschaftlich tragfähig zu betreiben. Im Tourismussektor dagegen herrscht das Primat der Wirtschaftlichkeit und Gewinnorientierung vor. Unter anderem deshalb stellt sich der Kulturtourismus generell als Querschnittsfeld zwischen den gesellschaftlichen Sektoren dar. Dementsprechend veranschaulicht die touristische Kulturangebotserstellung in der Praxis auch wie Wirtschafts- und Kultursektor Synergien entwickeln können. Entscheidende Ressourcen für Tourismus stellen die »authentischen« Bestände einer Region dar, die, neben den »schönen Landschaften«, eben auch das kulturelle Feld beinhalten. Als besonderes Charakteristikum von ländlichen Kulturregionen in Deutschland gilt nun seit einiger Zeit schon die Breitenkultur und überdurchschnittlich engagierte Einwohnerschaften.11 Demensprechend scheint es naheliegend, der Frage nachzugehen, welchen Anteil diese engagierten Einheimischen am kulturtouristischen System einer Region haben.
Voraussetzungen, um das Kulturtourismuspublikum ländlicher Regionen in den Blick zu bekommen Zur touristisch bedeutsamen Qualität regionaler »Authentizität« trägt das kulturelle Leben der Bewohner erheblich bei. Bei diesem Stichwort haben viele womöglich das touristisch auf bereitete Brauchtum von Schuhplattlern in Lederhosen und Frauen in Schwarzwaldtrach11 Vgl. z.B.: Schneider, W. (Hg.) (2014).
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ten vor Augen oder sie denken an »Heidi-Land«. Dergestalt in Traditionen gegossene touristische Narrationen laufen tendenziell Gefahr, mit dem eigentlichen Leben der dort Ansässigen nur noch wenig zu tun zu haben.12 Daher stellt sich angesichts der eingangs erwähnten Herausforderungen ländlicher Regionen ernsthaft die Frage, wie das aktuelle Kulturleben in sinnvolle Berührung mit touristischer Vermarktung gebracht werden kann. Denn das heute stattfindende Leben vor Ort prägt das Image einer touristischen Region entscheidend mit. Soll ländlicher Kulturtourismus vorangebracht werden, ist es dementsprechend unverzichtbar zu klären, welche kulturellen Angebote einerseits die Einheimischen und andererseits die touristischen Gäste der ländlichen Regionen nutzen. Zugleich stellt sich die Frage: Gibt es Unterschiede, wie Menschen auf Reisen und im Alltag Kultur nutzen? Bisherige Studien haben Unterschiede oder verbindende Elemente von Kulturbesuchen im Urlaub und im Alltag weitgehend vernachlässigt. Solche Erkenntnisse könnten jedoch vorliegende Kulturpublikumsstudien wie auch touristische Marktanalysen komplementär ergänzen. Stattdessen thematisieren bisherige Forschungen die Besuche von Kultur im Alltag und auf Reisen eher indirekt. Das Augenmerk lag bislang vielmehr auf der Frage, wie Tourismus- und Kulturmanagement in der Praxis optimal in Synergie treten können.13 Qualitative Auseinandersetzungen mit den Potenzialen und Bedingungen der kulturellen Bildung in touristischen Rezeptionskontexten fanden vergleichsweise selten statt.14 Einen entscheidenden Beitrag hierzu leistete Pröbstle mit einer qualitativ erarbeiteten Typologie kultureller Nutzungspro12 Vgl. zu dieser Problematik z.B.: Teissl, V.; Seltenheim, K. (2017), ebenso den Beitrag von Verena Teissl in diesem Band. 13 Vgl. beispielhaft für das breite Feld der Auseinandersetzung des Kulturmanagements mit Tourismus: Hausmann, A.; Murzik, L. (Hg.) (2011) sowie Quack, H.-D.; Klemm, K. (Hg.) (2013). Zur Einordnung im internationalen Kontext: Drews, K. (2016). 14 Einen ersten Einstieg in die Reflexion von kultureller Bildung im Tourismus lieferte Mandel, B. (2012). Jüngste Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten kulturel-
Die Nutzerperspektive
file von Reisenden.15 Bei den fünf identifizierten Typen von Kulturtouristen ist auch der Bezug zwischen Alltags- und Reisekulturnutzung von Bedeutung. Pröbstle ordnet die Touristen in einer ersten Messachse ein anhand ihres »Erfahrungsgrads«, was kulturelle Inhalte betrifft, ein Faktor also, der auch das alltägliche Kulturverhalten einschließt. In einer zweiten Achse verortet Pröbstle die Reisenden anhand des von ihnen beigemessenen »Stellenwerts von Kunst und Kultur auf Reisen«. So wird etwa unter touristischen Gästen die Gruppe der »aufgeschlossenen Entdecker« sichtbar, die als Zielpublikum für die kulturtouristische Ansprache besonders vielversprechend scheint.16 Die identifizierten Typen lassen sich in mancher Hinsicht mit habitus-, milieu- oder lebensstil-geleiteten Einordnungen von Kulturnutzergruppen in Einklang bringen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten in den Kulturwissenschaften und im Kulturmanagement ausformuliert wurden. Bourdieu,17 Schulze18 oder indirekt auch die anwendungsbezogenen Milieu-Studien des Sinus-Instituts19 tragen zu einem soziologischen Verständnis bei, nach dem sich kulturelle Teilhabe über soziale und habituelle Schranken hinweg verwirklichen kann oder aber im negativen Fall an den Hürden scheitert und damit als sozialer Ausschluss verfestigt. Dementsprechend interessant ist die Frage, ob im Tourismus auch diejenigen für Kulturangebote offen sind, die gemeinhin keine Konzerte, Theater und Museen besuchen, oder ob sich auch auf Reisen die gesellschaftlichen und sozialen Trennungen zwischen Kulturaffinen und -uninteressierten bestätigen. In diesem Zusammenhang geraten gerade die »Nicht-Besucher« in den
ler Bildung und Vermittlung bei gleichzeitiger Berücksichtigung tourismuswirtschaftlicher Anliegen: Klein, A.; Pröbstle, Y.; Schmidt-Ott, T. (Hg.) (2017). 15 Pröbstle, Y. (2014). 16 Vgl. ebd.: 304. S. ebenso den Beitrag von Yvonne Pröbstle in diesem Band. 17 Bourdieu, P. (1979). 18 Schulze, G. (1996). 19 Sinus Markt- und Sozialforschung GmbH (2018).
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Blick der aktuellen Forschung.20 Einerseits besteht ein soziokultureller Anspruch, kulturelle Hemmschwellen zu senken, andererseits machte sich dazu in den zurückliegenden Jahren die Kritik breit, dass die klassischen Kultureinrichtungen wie Theater, Konzerthäuser, Museen und Kunstausstellungen nur von einer kleinen Bevölkerungsgruppe, nämlich den eher Älteren und gut Gebildeten, besucht werden. Wie steht nun dazu der Kulturtourismussektor als ein generell auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtetes Arbeitsfeld: Sorgt er für neuartige Zugänge zum Kulturbesuch? Bisher weiß man von den Kulturbesucherinnen und -besuchern in Deutschland meist lediglich ausschnitthafte Details. Empirische Zuschauerstudien haben bislang eher nur fallbezogene Aussagekraft, denn repräsentative und regelmäßige Gesamterhebungen des deutschen Kulturpublikums fehlen. Es überwiegen Studien zum Teilpublikum einzelner Sparten, zu spezifischen Zielgruppen oder geografischen Regionen.21 Bekannt ist allerdings, dass im Alltag vor allem Konzerte, Kinobesuche sowie Museen und Ausstellungen unter den verschiedenen Kultursparten in Deutschland besonders nachgefragt werden.22 Demgegenüber betrachten die Tourismuswissenschaften Einzelaspekte und Entwicklungen des Reisemarktes. Die Umsätze und Besuchszahlen in einzelnen Regionen, Destinationen und touristischen Angebotsparten, auch kultureller Art, werden unter strategischen Gesichtspunkten ref lektiert. Ziel ist die vorausschauende Antizipation
20 Vgl. Renz, T. (2016). 21 Einen umfassenden aktuellen Überblick geben: Glogner-Pilz, P.; Föhl, P. S. (Hg.) (2016). Im empirischen Detail aussagekräftig sind die Studien des Zentrums für Kulturforschung zum Konzertpublikum, zum nach Alterslagen geordneten Publikum oder über die Kulturnutzung in speziellen Regionen (Keuchel, S.; ZfKf (2005/2008/2009)). 22 Das belegte bereits eine Studie des Zentrums für Kulturforschung aus dem Jahr 2005 für das deutsche Kulturpublikum (vgl. ZfKf (2005): 12, zit.n. Pröbstle (2014): 178).
Die Nutzerperspektive
künftiger Nachfrage, im Optimalfall deren aktive Lenkung.23 Hinsichtlich der Nachfrage von Kulturangeboten interessiert das alltägliche Kulturnutzungsverhalten der Gäste die Tourismuswissenschaften eher weniger. Auch der Frage, wie sich die Einheimischen touristischer Destinationen ins kulturelle Geschehen einbringen, wird bislang kaum nachgegangen. Um diese Wissenslücke zu schließen, führte die Verfasserin dieses Beitrages eine Studie durch, bei der ermittelt wurde, wie Einwohnerschaft und touristische Gäste ländliche Kulturtourismusangebote nutzen. 1.000 Gäste in verschiedenen touristischen Kultursparten in ländlichen Regionen gaben Auskunft, welche Angebote sie aufsuchen und wie sie ihre Kulturbesuche wahrnehmen. Das permanente regionale Kulturangebot in Form von Stätten des Historischen Erbes diente als eines von drei Erhebungsfeldern, befragt wurde das Publikum an vier Schlössern. Daneben wurden zwei performative Kulturangebotsarten mit jeweils langjähriger Veranstaltungstradition am Ort betrachtet. Konkret handelte es sich bei diesen »Kulturgeschehnissen« um Straßentheaterfestivals in Kleinstädten sowie ein touristisch ausstrahlendes soziokulturelles Theaterprojekt in ländlicher Lage Niedersachsens.
Neues empirisches Wissen über die Gäste im ländlichen Kulturtourismus Der statistische Anteil von Einheimischen und touristischen Gästen im Publikum der drei Erhebungsfelder erwies sich als heterogen. Während performative Kunstformen wie das kostenfreie, im öffentlichen Raum stattfindende Straßentheaterfestival und das soziokulturelle Landschaftstheater die Hälfte des Publikums aus dem direkten Umfeld vor Ort und im unmittelbaren Umland rekrutieren, besuchten weit weniger Einheimische aus dem Umland historische Stätten. Viel23 Z.B.: Kagermeier, A.; Steinecke, A.; Freitag, C. (Hg.) (2011).
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mehr stammt der weitaus größte Anteil der Schlossbesucher aus dem Radius von über 60 Kilometer Anreise.24 Welche kulturellen Nutzungsprofile werden sichtbar bei den angetroffenen Gästen? Tatsächlich bestätigt sich durch die Abfrage der sonstigen Besuche kultureller Angebote deutlich, dass sich unter den Touristen viele befinden, die im Alltag kulturell wenig aktiv sind. Durchgängig attestiert sich die Hälfte der Befragten eine nur geringe Alltagskulturnutzung. Demgegenüber reklamieren jedoch ca. 60 Prozent der Befragten für sich, auf Reisen immerhin mittelmäßig interessiert und aktiv zu sein.25 Tatsächlich also werden Nicht-Kulturnutzende auf Reisen zu Kulturgängerinnen und -gängern. Angezogen werden die Gäste statistisch bemerkenswert stark von Stätten des historischen Erbes im Vergleich zu den insgesamt abgefragten Kultursparten Kino, Theater, Musik/Konzerte, Museum/Ausstellung, Musical, Comedy, historische Stätten und Sonstiges. Für ihre Reisen geben zwischen 27 und 38 Prozent der Befragten an, diese Stätten zu besuchen. In der Häufigkeit folgen die ebenfalls permanenten Kulturangebote Museum und Ausstellungen (21 bis 28 Prozent). Im Alltag dagegen geben die meisten Befragten an, häufiger das Kino und Konzerte zu besuchen (zwischen 21 und 24 Prozent).26 Soziodemografisch fällt auf, dass die Besucherschaft der Straßentheaterfestivals und des soziokulturellen Landschaftstheaters vom Alter her wesentlich heterogener sind als das tendenziell betagte Publikum der Schlösser. Zudem ist ein deutlich akademischeres Publikum bei den Schlössern vorzufinden. Manches deutet darauf hin, dass an den befragten Schlössern das klassische Kulturpublikum anreist: eher älter und eher akademisch vorgebildet.
24 S.: Drews (2017b): 292f. 25 Ebd.: 294. 26 Vgl. ebd.
Die Nutzerperspektive
Die Rolle von Einheimischen und touristischen Gästen im Kulturpublikum Im touristischen Angebotssystem sticht besonders ins Auge, dass die Einheimischen eine, wenn nicht die relevante Rolle dabei spielen, Besuchende über kulturelle Angebote in der Region zu informieren. Die von fern Anreisenden geben zum größten Teil an, über Hinweise von »Freunden, Verwandten und Bekannten« auf das besuchte Kulturangebot aufmerksam geworden zu sein. Diese persönlichen Hinweise erweisen sich mit zwischen 30 und 50 Prozent als wirksamste Informationsquelle, weit vor Broschüren, Zeitungsberichten und dem Internet. Selbst bei den professionell vermarkteten historischen Stätten bestätigt sich dies. Bei genauerer Nachfrage erweisen sich die Motivatoren aus dem persönlichen Umfeld der touristischen Gäste zum großen Teil als gebürtige Bewohnerinnen und Bewohner der Region (77 Prozent der Motivatoren). Demgegenüber zeigen die zugezogenen Bewohnerinnen und Bewohner deutlich mehr Eigeninitiative beim Besuch von Kultureinrichtungen. Den Stätten des historischen Erbes schreiben die Besuchenden eine regelrecht ikonische Funktion für das Umland insgesamt zu: Die Gäste reisen an, weil sie das Schloss als beispielhaft für die besuchte Region ansehen. Zugleich zeigen sich die Befragten aber auch ganz besonders an den Menschen in der Vergangenheit der historischen Stätte interessiert. Sie erwarten, »Atmosphären« anzutreffen, in denen sich die Geschichtlichkeit des Besuchszieles regelrecht verdichtet. Touristische Gäste setzen darüber hinaus die besuchte Stätte in Verbindung zu historischen Einrichtungen der eigenen Heimatregion und erschließen sich dadurch im Nexus von »eigen« und »fremd« bauhistorische, heraldische oder landschaftsgärtnerische Zusammenhänge. Abseits des Baukulturerbes, an den performativen kulturtouristischen Zielen, zeigt sich die Bedeutung der Einheimischen für die Besuchenden von auswärts. In der Wahrnehmung von Einheimischen und touristischen Gästen erfahren die peripher gelegenen Theaterorte durch das Kunstgeschehen starke Uminterpretationen. Es entstehen
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neue Perspektiven auf Orte und Menschen, die im Alltag nicht greif bar sind. Bewohnerinnen und Bewohner sprechen besonders davon, dass in den langjährig etablierten Festivalorten eine regelrechte Gegenwirklichkeit zum Alltag entsteht. Wo sonst das negative Gefühl von Abgelegenheit oder Randständigkeit vorherrscht, wird der Heimatort während der Veranstaltungen als anziehungsstark für Menschen von außerhalb erlebt. Besonders thematisieren die befragten Einheimischen hier Aspekte wie Atmosphäre, Kommunikation, Vielfalt und schließlich auch den Aspekt, die Veranstaltungen als Treffpunkt mit anderen Gästen zu erleben, ohne sich verabredet zu haben. Eine »Generation Festival« ist aufgewachsen, die den Ort ohne dieses regelmäßige Kulturereignis gar nicht kennt oder sich vorstellen kann. Andere sprechen davon, dass das Festival ihre Heimatidentität zentral prägt, auch wenn es nur alle zwei Jahre für drei Tage stattfindet. Das Gefühl des »Auf lebens«, eine großstädtische Stimmung zu erleben, ohne Verabredung Bekannte aus entfernt liegenden Städten treffen zu können, viele Weggezogene und anderswo lebende Familienmitglieder in den Ort einzuladen: All dies sind Punkte, die für die Bewohnerinnen und Bewohner von Bedeutung sind und die ihnen aufgrund der langjährigen Tradition des spielerischen Kunstgeschehens auffallen.27 Die Wahrnehmungen der touristischen Gäste hingegen richten sich auf andere Aspekte. Für sie steht vielmehr im Vordergrund, ein überschaubares Setting vorzufinden. Ihnen fallen dabei vor allem die sichtlich engagierten Bewohnerinnen und Bewohner auf. Die engagierten Einheimischen identifizieren sich aus Sicht der von weiter her Anreisenden ganz offenkundig mit ihrem Ort und haben einen starken Zusammenhalt untereinander. Die Menschen im Publikum erfahren sich deshalb als »herzlich willkommene Gäste«. Dass die kleinen Orte so großen Aufwand betreiben, um das Kulturereignis regelmäßig stattfinden zu lassen, beeindruckt sie. Dadurch kann sich für einen kleinen ländlichen Ort sogar das Image verfestigen, außerordentlich »cool« zu sein. 27 S. ausführlich: Drews (2017b):204-228.
Die Nutzerperspektive
Was hier im buchstäblichen »globalen Dorf« passiert, kann auf eine grundlegende Logik reduziert werden: Es entstehen besonders offene und sichtbare Sozialräume – befördert durch den Umstand, dass ländliche Regionen offenbar besondere Voraussetzungen für kulturtouristische Begegnungen und gemeinsame Erlebnisse von touristischen Gästen und Einheimischen mit der regionalen Kunst und Kultur bieten. Zudem sind die Gästegruppen der Auswärtigen und Einheimischen selbst ein besonders relevanter Baustein im kulturtouristischen Erlebnis.
Begegnung an »dritten Orten« im ländlichen Kulturtourismus? Für das Verständnis des Zusammenspiels der unterschiedlichen Gästegruppen und der entstehenden Dynamiken von Selbstbeschreibung (Bewohnerschaft) und Wahrnehmung eines sozialen Raumes (touristische Gäste) bietet sich die Theorie von »dritten Orten« der Begegnung mit dem Soziologen Ray Oldenburg an.28 Für Oldenburg sind informelle Treffpunkte wie Bars, Bistros, Friseursalons oder Buchläden in einem Stadtviertel jene Orte des sozialen und kommunikativen Zusammenkommens, die in der vollmotorisierten Vorstadtgesellschaft der USA beinahe völlig verschwunden scheinen. Als beiläufige Treffpunkte, die durch Stammgäste und eine Offenheit für neu Hinzukommende gekennzeichnet sind, bieten sie – neben dem Zuhause (erster Ort) und der Arbeit (zweiter Ort) – vor allem eines: Kommunikation, Austausch, Zusammensein und Konvivialität. Die beiläufigen informellen Treffpunkte der Kommunikation scheinen radikal analog. Deutlich etikettiert Oldenburg sie als nicht-kommerzielle Orte, die nicht in erster Hinsicht auf irgendeine Form von Konsum ausgerichtet sind. Sie sind schlicht, spielerisch gestimmt und zweckfrei. Verschiedenste Typen der europäischen Café- und Gasthauskultur fallen laut 28 Oldenburg, R. (1991) und (2001).
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Oldenburg unter diese Kategorie: vom bayrischen Biergarten über den britischen Pub und das Wiener Kaffeehaus bis hin zum türkischen Teehaus.29 Die »dritten Orte« stellen für die Anwesenden ein »Zuhause außerhalb zuhause« (home away from home) dar,30 in dem das Zusammensein mit Gleichgesinnten über die »Mühen des Alltags« hinweghilft. Oldenburg betont zudem eine hohe soziale Resilienz von Stadtvierteln mit intakten »dritten Orten« gegenüber gesellschaftlichen Krisen und Konf likten. Das gegenwärtig außerordentlich en vogue befindliche Konzept der »dritten Orte«31 beinhaltet also ein Zusammenspiel von physischen, psychologischen wie auch sozialen Qualitäten. Welche Aspekte sprechen dafür, den Kulturtourismus in ländlichen Regionen mit diesem Konzept zu erfassen? Besonders augenfällig wird die Eignung dieses Konzepts, berücksichtigt man die großen Potenziale von Kunst und Kultur für Creative Placemaking32 und Community Building als künstlerische Form des Audience Developments kultureller Einrichtungen.33 Gezielt werden neue Publikumsgruppen angesprochen, indem Marketing- und Programmarbeit das soziale Umfeld adressieren. Hier haben offenkundig gerade ländliche Regionen sowohl ein besonderes Interesse wie auch Potenziale, die es angesichts der demografischen Herausforderungen für diese Regionen auszuschöpfen gilt. Wie lassen sich die Phänomene der direkten Begegnung, des Austausches, des gemeinsamen Teilhabens an Kunst- und Kulturevents in ländlichen Rei29 Oldenburg (2001): 21, 30. Vgl. auch: Drews (2017b): 133-148. 30 Oldenburg, ebd.: 136. 31 Gegenwärtig reklamieren sowohl Bibliotheken als auch soziokulturelle Zentren im deutschsprachigen Kulturraum wesentliche Kriterien des Konzepts »dritter Orte« für sich. Während die Erstgenannten damit den eigenen Auftrag in der jeweiligen Stadtgesellschaft neu erschließen, erforschen Letztere ihre programmatischen Grundlagen und ergründen dadurch aktuelle Gestaltungsprämissen. Das Bundesland NRW verabschiedete sogar jüngst ein eigenes Förderprogramm, das der Herausbildung von »dritten Orten« gewidmet ist. 32 S. u.a.: Markusen, A.; Gawda Nicodemus, A. (2014). 33 Borwick, D. (2012).
Die Nutzerperspektive
sezielen durch bewusste Förderung und gezielte Kulturtourismusentwicklung aufgreifen?
Den sozialen Faktor im Kulturtourismus ländlicher Regionen wahrnehmen Zu beobachten ist: Bewohner und Touristen begegnen sich in den von der Verfasserin untersuchten Beispielen von ländlichem Kulturtourismus, kommen miteinander in den Austausch und nehmen sich dabei gegenseitig als engagiert und interessiert wahr. Als Ergebnis daraus entstehen regelrecht »Wahrnehmungsräume«: Die Bewohnerschaft nimmt den positiven und interessierten touristischen Außenblick auf ihren Wohnort wahr, so dass auch sie ihren Ort positiver erleben. Auch die touristischen Gäste gehen von einer positiv-engagierten Selbstwahrnehmung der Ortsbewohner aus und finden gerade darin ein in ihren Augen spezifisches Charakteristikum ruraler Lebenswirklichkeiten (z. B einen größeren Zusammenhalt der Einheimischen im ländlichen Raum) bestätigt. Außen- und Innen-Perspektive geraten durch diese sich gegenseitig bedingenden Wahrnehmungsrichtungen der weither Anreisenden und der Bewohnerschaft regelrecht in Wechselwirkung. Auf diese Weise kommt es zur Belebung und damit zur Verdichtung der ländlichen Räume. Gleichzeitig werden die Geschehnisse dort stärker auch von außen wahrgenommen. Es ereignet sich etwas, das erstmals der französische Philosoph Henri Lefèbvre als »soziale Raumproduktion« beschrieb.34 Die deutsche Raumsoziologin Martina Löw knüpft an Lefébvres Konzept an35 und es liegt nahe, die Idee der sozialen Raumproduktion wie auch die heutige Raumwissenschaft36 34 Lefebvre, H.((1974) 1992). 35 Löw, M. (2001) und (2008). 36 Zur soziologischen und kulturwissenschaftlichen Raumwissenschaft: Glasze, G. (Hg.) (2009). Eine Einordnung des Themas Kulturtourismus in die raumwissenschaftliche Theorie findet sich bei Drews, K. (2017b): 158-169.
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zum Verständnis der Phänomene im Kulturtourismusfeld heranzuziehen. Tut man dies, erscheinen die am Kulturtourismus Teilnehmenden in ländlichen Räumen als »Raumhandelnde«. Dann wird mit Lefèbvre klar: Räume entstehen erstens durch von Planern konzipierten Raumstrukturen (den konzipierten Raum) und zweitens durch die Erlebnisse der Menschen im Alltagsraum (den gelebten Raum). Lefèbvre spricht drittens aber auch noch vom »Raum der Wahrnehmungen«.37 Alle drei Raumaspekte sind gleichzeitig anwesende Schichten von Räumen und tragen dazu bei, dass unterschiedliche Zugänglichkeiten für unterschiedliche Menschen bestehen. Für die heutigen Reisenden fallen uns technisch bedingte Besonderheiten solcher Raumzugänglichkeiten auf: Durch das Internet und die digitale Kommunikation werden die geografischen Aufenthaltsdaten und geodatenlokalisierten Social Media-Aktivitäten immer größerer Gruppen sichtbar. Die Wahrnehmung eines Raumes – etwa während eines Urlaubstrips – produziert diesen Raum, in jedem Fall aber: reproduziert ihn. Das oft geteilte Foto vom Eiffelturm oder vom Taj Mahal erhebt diese baukulturellen Ikonen zur touristischen Highlight-Sight. Insofern trägt gerade der Tourismus dazu bei, dass weltweit immer gleiche Bilder in den Köpfen der Menschen entstehen, die bei einem Besuch vor Ort auch genauso erwartet oder gesucht werden – es kommt somit zu einer immer wieder abgefragten Erzählung (Narration). Auch die touristische Inwertsetzung der kulturellen Stätten trägt dazu bei. Das gewählte Story-Telling und die intensive Nachfrage auf dem Tourismusmarkt verstärkt die Bedeutung dieser Sights38 und erzeugt gleichfalls Bilder in den Köpfen der Menschen. Dass damit auch negative Aspekte verbunden sein können, skizziert die Tourismussoziologie am Beispiel des Massentourismus mit seinen Auswir-
37 S.a.: Lefebvre, H. (2006). 38 S. u.a.: Luger, K.; Wöhler, K. (Hg.) (2010) oder: Lauterbach, B. (Hg.) (2010).
Die Nutzerperspektive
kungen z.B. auf Orte oder Traditionen, die durch den Besuch touristischer Massen ihre ursprüngliche kulturelle Authentizität verlieren.39 Dieser Problemlage gewahr, ist nun zu fragen, in welcher Weise das Zusammenspiel von Reisenden und Bewohnerschaften im entstehenden Wahrnehmungsraum Potenziale bieten und den Kultur- und Tourismussektor in ländlichen Regionen fördern kann. Die mediale Digitalisierung macht es möglich, dass auch ländliche Regionen stärker ins Bewusstsein der Menschen dringen, die nicht vor Ort sind – z.B. durch das Teilen von Fotos oder die Schilderung von Erlebnissen in den sozialen Medien. So werden ursprünglich eher abgeschiedene Ort sehr leicht zu einem »globalen Dorf«, in dem sozusagen Globalität (Sichtbarkeit und Auffindbarkeit weltweit) und Lokalität (das konkrete »Hier und Jetzt«) zugleich wirksam scheinen. In diesem lokalen »Hier und Jetzt« liefern die engagierten Einheimischen und im Kulturtourismus Tätigen einen wesentlichen Anteil. Ihren Beitrag im kulturtouristischen Geschehen könnte man etwa mit dem Statement auf den Punkt bringen: »Wir gestalten (durch unsere Produktivität, Kreativität, unsere Lebensgewohnheiten und Traditionen, unseren Umgang mit dem hiesigen kulturellen Erbe etc.) ein produktives, positives Lebensumfeld, in das wir Gäste einladen und sie dazu auffordern, teilzuhaben.« Von der Sache her entsteht in diesem Nebeneinander vom erfahrbaren lokalen und globalen »Dorf« ein hybrider Raum, den die Anwesenden mit ihren unterschiedlichen Blickrichtungen – einheimisch und ortsfremd, urban und rural – erschaffen. Somit kann also als spezifisches Potenzial ländlicher kulturtouristischer Reiseziele beschrieben werden, dass sie in besonderer Weise dazu befähigt sind überörtliche, translokale Sozialräume sichtbar zu machen. Das »glo-
39 Mit dieser kritischen Perspektive prägte der Tourismussoziologe Dean MacCannell bereits in den 1970er Jahren den Begriff von der »Staged authenticity« und hinterfragt damit das touristische Geschehen (MacCannell, D. (1973). Steinecke formulierte dagegen: Jede touristische Inwertsetzung ist ein Gewinn für die Destination (Steinecke, A. (2010)). Im Überblick: Drews, K. (2017b):103.
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bale Dorf« ersteht regelrecht im Zusammentreffen von urbaner und ruraler, lokaler und globaler Lebenswirklichkeit. Die überschaubaren Sozialräume im ländlichen Kulturtourismus sind zugleich »authentisch« und unverwechselbar, weil das spezifisch Lokale, die konkreten Menschen vor Ort etc. wesentlich deutlicher als etwa in einem großstädtischen Umfeld in Erscheinung treten. Besonderen Anteil daran haben die einheimischen Akteure, denn sie erzeugen jene »Netzwerke des Engagements«, von denen Produktivität und Positivimages ländlicher Regionen ausgehen, wie aktuelle Analysen immer deutlicher herausstellen.40
Aus Nutzerperspektive wünschenswert: Teilhabeorienterter Kulturtourismus in ländlichen Regionen Es gibt also einige Argumente, die dafür sprechen, die Bewohner ländlicher Tourismusdestinationen stärker in den Kulturtourismus einzubeziehen und bei der Entwicklung kulturtouristischer Angebote die bereits vorhandenen lokalen kulturellen Anknüpfungspunkte zu nutzen. Konkret weisen die empirischen Ergebnisse der hier vorgestellten Studie darauf hin, dass kulturtouristische Produkte mit Erfolg rechnen dürfen, wenn sie die Anziehungskraft der Stätten des historischen Erbes nutzen und die Gäste dann mit performativen, ereignishaften Kulturangeboten halten. Außerdem sollten die Einheimischen ganz bewusst in dreierlei Eigenschaften angesprochen und einbezogen werden: als Besuchende, Empfehlende und Vermittelnde der kulturtouristischen Angebote einer ländlichen Region. Für die Entwicklung einer touristischen Strategie ergeben sich daraus weitere Optionen für die Entwicklung von kulturtouristischen 40 Eine aktuelle Analyse dieses Phänomens lieferte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2017): »Von Netzwerken und Kirchtürmen. Wie engagierte Bewohner das Emsland voranbringen«.
Die Nutzerperspektive
Angeboten: Die aktuelle Ergebnislage der Kulturtourismus-Forschung legt es beispielsweise nahe, sich intensiv mit beteiligungsorientiertem Creative Tourism 41 zu befassen. Begegnungen mit Einheimischen und die ausdrückliche Kennzeichnung von lokal besonders typischen Orten und Treffpunkten, Bars, Restaurants etc. summieren sich heute unter dem Stichwort Meet the Locals und erfreuen sich steigender Nachfrage. Beispiele der Begegnung von lokalen Kreativen und Touristen und die überregionale Auffindbarkeit lokaler Kreativangebote auch in ländlichen Regionen sind Merkmale einer stattfindenden Umorientierung vom Kultur- zum Kreativtourismus. Zugleich sehen Museen und Ausstellungen zunehmend eine aktive Rolle der Gäste als Bestandteil des Kulturbesuchs vor. Passive Rezeption durch Konsumenten ist nicht mehr gefragt, sondern eher die aktive Co-Kreation in Form von interaktivem Einbezug, etwa in der selbstbestimmten Menüführung durch den Ausstellungsparcour oder durch das Abrufen von Gäste-Statements – idealerweise gleich im Social Media-Kanal, der neue Gäste als inspirierte Prosumentinnen und Prosumenten anspricht. Vielversprechend ist eine möglichst partizipative Geodatenlokalisierung kultureller Bestände in ländlichen Regionen wie etwa das Beispiel »Heimat-Netz« des Niedersächsischen Heimatbundes zeigt, bei dem die Tätigen in der Heimatpf lege selbst Inhalte und Orte in eine online zugängliche Datenbank einpf legen.42 Die digitale Sichtbarkeit kultureller Angebote, Akteure und Orte im Internet ist besonders dort wichtig, wo wenig Menschen »den Weg weisen«. Daraus lassen sich Kulturangebote ableiten, die auch touristisch genutzt werden können, z.B. geodatenbasierte Kulturereignisse, Kunstaktionen oder Stadtrundgänge. Ein Beispiel dafür, wie die zugleich partizipative und kreative Auf bereitung gelingen kann, zeigt z.B. die Kunstinszenierung Out of Bounds. GEHschichten eines Stadtteils des Künstlerkollektivs Theatre Fragile, in der die Geschichte eines Quartiers im westfälischen Detmold durch künstlerische Aktionen mit Bewohnerinnen und Be41 S. hierzu: OECD (2014). 42 https://heimat-netz.de
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wohnern erst gesammelt, künstlerisch auf bereitet und am Ende durch eine als Rundgang stattfindende Performance in Szene gesetzt wurde. Die Inhalte können dauerhaft mit einer App abgerufen und der Rundgang kann solcherart nachvollzogen werden.43 Für einen entwicklungsfreudigen ruralen Kulturtourismus ist es auf operationaler Ebene dementsprechend naheliegend, systematisch die Menschen aus der Region in den Blick zu nehmen. Weiter gedacht: Das gängige Customer Relationship Management (CRM) sollte um die Akteursgruppe der Bewohner ergänzt und die Einheimischen konsequent in die touristische Strategie einbezogen werden. Sinnvoll wäre ein Residents Relationship Management (RRM), das vom Tourismus- und Kulturmanagement einer Region bzw. Destination gemeinsam mit den politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Stakeholdern entwickelt, belebt und bearbeitet wird. Wie sich das Zusammenspiel der beiden Querschnittsfelder kulturelle Bildung und Kulturtourismus und damit die Begegnung von einheimischen und touristischen Gästen fördern lässt, veranschaulicht das Beispiel der frauenORTE Niedersachsen. Bei dieser kulturtouristischen Initiative des niedersächsischen Landesfrauenrates44 finden sich lokale Akteursgruppen zusammen: kommunale Gleichstellungsbeauftragte, Kultursektor, Bildungsbereich, Politik und – jeweils bedingt durch die biografischen Schwerpunkte einer bedeutsamen Frau der Stadtgeschichte – weitere Mitakteure, z.B. aus der Wirtschaft oder Bildung. Gemeinsam mit touristischen Akteuren werden lokalgeschichtliche Themen auf bereitet und mithilfe partizipativer Projekte (etwa mit Schulen und Kultureinrichtungen) Besuchsorte und Stadtrundgänge entwickelt, an denen bzw. durch die diese Geschichte greif bar wird. 43 https://www.theatre-fragile.de/files/download/TheatreFragile_OOB_booklet_ de.pdf. Eine ausführlichere Darstellung dieser und anderer geodatenbasierter Kunstproduktionen: Drews, K. (2017a). 44 https://www.frauenorte-niedersachsen.de. Vergleichbare Initiativen gibt es auch in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt.
Die Nutzerperspektive
Solche sozialräumlich hergeleiteten Verfahren zur kulturtouristischen Inwertsetzung nutzen nicht nur authentische Themen vor Ort, sondern es entsteht auch ein touristisches Story-Telling, das mit dem lokalen Leben Hand in Hand geht und nicht als Fremdkörper im Raum steht. Als Nebeneffekt ergibt sich im Idealfall eine Stärkung von lokaler Heimatidentität. Diese Strategie zu verfolgen, scheint auch deshalb so vielversprechend, weil die klassische Problematik des Tourismus (laut Enzensberger »zu zerstören, was er sucht«45) in einen Vorteil verwandelt wird. Teilhabeorientierte Tourismusstrategien beugen dagegen vor, dass im Binnentourismusraum ländlicher Regionen oder kleiner Städte »schlechte Folklore« mit nur idealisierten Konstrukten erzeugt und vermarktet wird. Die Argumente für eine demgegenüber auf Partizipation, Performanz und Transformation ländlicher Problemlagen ausgerichtete Kulturtourismusstrategie liegen auf der Hand: Authentizität, Empfehlungsrate und Fokussieren auf einen positiv wirksamen »sozialen Tourismusraum«. Es gibt also aus der Nutzerperspektive einige Argumente dafür, systematisch den »Link«, die Verbindung zwischen Bewohnerschaften und Reisenden als Kriterium ruraler Kulturtourismusentwicklung zu stärken. Beteiligungsorientierte Prozesse und Netzwerke von Akteurinnen und Akteuren versprechen, »partizipative Regionen« sichtbar werden zu lassen und damit auch »Destination als Kultur- und Lebensraum« zu verstehen.46 All dies sind Voraussetzungen dafür, die im Tourismus so relevante Kategorie von »Authentizität« kulturtouristischer Angebote besonders in ländlichen Regionen auszubauen und zu entwickeln.
45 Vgl.: Enzensberger, H. M. (1958). 46 Vgl.: Herntrei, M. (2014).
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Literatur Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2017): Von Netzwerken und Kirchtürmen. Wie engagierte Bewohner das Emsland voranbringen. Online verfügbar unter: https://www.berlin-institut. org-/fileadmin/user_upload/Von_Kirchtuermen_Und_Netzwer ken/Von_Kirchtuermen_Und_Netzwerken_Online.pdf, zuletzt geprüft am 30.3.2019. Borwick, D. (2012): Building communities, not audiences. The Future of the Arts in the United States. Winston-Salem. Bourdieu, P. (1979): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. Drdra-Kühn, K.; Wiegand, D. (2011): Netzwerke und Kooperationen – das kulturtouristische Potential im ländlichen Raum. In: Hausmann, A. und Murzik, L. (Hg.): Neue Impulse im Kulturtourismus, 139-154. Drews, K. (2016): Zeitschriftenreview. Disziplinen, Themen, Methoden der wissenschaftlichen Behandlung von Kulturtourismus. Aktuelle Debatten in internationalen Journals. In: Zeitschrift für Kulturmanagement 2016 (2), 145-151. Drews, K. (2017a): Creative Spacing. Die Performativität des Sozialen Raums und die Transformationspotenziale Darstellender Kunst im öffentlichen Raum, in: Jeschonnek, G. (Hg.): Darstellende Künste im öffentlichen Raum. 383-39, Berlin 2. Drews, K. (2017b): Kulturtourismus im ländlichen Raum an »dritten Orten« der Begegnung als Chance zur Integration von Kultur- und Tourismusentwicklung. Eine Befragung von touristischen und einheimischen Kulturbesuchern in ländlichen Regionen Niedersachsens. Online verfügbar unter: https://www.uni-hildesheim. de/bibliothek/forschen-publizieren/universitaetsverlag/verlags programm/ausser-der-reihe/katja-drews/, zuletzt geprüft am 30.3.2019. Drews, K. (2018): Ländlicher Kulturtourismus – »Dritte Orte« für (raum)produktive Transformation und partizipative Begegnung,
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Die WelterbeCard Ein innovatives Marketinginstrument zur Bündelung von Kulturhighlights und anderen Anbietern im ländlichen Raum Elke Witt
Die »WelterbeRegion« Anhalt-Dessau-Wittenberg Die WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg setzt sich administrativ aus den Landkreisen Anhalt-Bitterfeld und Wittenberg, der kreisfreien Stadt Dessau-Roßlau und der Stadt Bernburg (Saale) zusammen. Der Tourismusverband »WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg e.V.« hat derzeit 110 Mitgliederinnen und Mitglieder, die in Arbeitskreisen und Netzwerken zusammenarbeiten und von denen ca. 75 Prozent der privaten Tourismuswirtschaft zugehörig sind. Die Gewinnung von Mitgliedern aus der privaten Wirtschaft steht im Vordergrund, da die Haupttätigkeit des Verbandes auf die Förderung der Tourismuswirtschaft gerichtet ist. Der Kontakt zu den privaten Touristikern ist enger und die Zusammenarbeit besser, wenn diese über Mitgliedschaften an den Verband gebunden sind. Entsprechend dieser Philosophie besteht der Vorstand des Verbandes auch nur aus privaten Mitgliedern. Die Mitgliedslandkreise und Mitgliedskommunen arbeiten im Beirat zusammen (die Verwaltungsspitzen) und sichern vorrangig die finanzielle Ausstattung des Verbandes ab. Der Verein WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg e.V. ist eine von fünf regionalen Tourismusverbänden in Sachsen-Anhalt, welche in gleichen Strukturen arbeiten und an die Landesaktivitäten ange-
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bunden sind. Dadurch bestehen u.a. zusätzliche Möglichkeiten der Fördermittelakquise. Die Hauptaufgabe des Tourismusverbandes liegt im gemeinsamen Außenmarketing für die gesamte Region, was bei erfolgreicher Umsetzung zu einer Neugewinnung und Stabilisierung der touristischen Gästezahlen, der Stabilisierung der privaten Tourismuswirtschaft und der Verbesserung des touristischen Images, als Grundlage für höhere Gästezahlen, führen soll. Im Jahr 2015 wurde der erste Teil des Verbandsnamens von TourismusRegion zu WelterbeRegion geändert mit dem Ziel, die starken touristischen Potenziale der vier UNESCO-Welterbestätten der Region (die Lutherstätten in Wittenberg, das Bauhaus in Dessau, das Gartenreich Dessau-Wörlitz und das Biosphärenreservat Mittelelbe) und weiteres weltkulturelles Erbe der Region selbstbewusster nach außen zu kommunizieren. Der Marketingverbund Luther | Bauhaus | Gartenreich bündelt die Angebote der vier UNESCO-Welterbestätten und fungiert als Dachmarke der WelterbeRegion. Weitere attraktive kulturtouristische Angebote bietet Anhalt, ein ehemaliges Kurfürstentum und Namensgeber des zweiten Teils im Landesnamen. Die Industriekultur und die hervorragend sanierten Bergbaufolgelandschaften zwischen Wittenberg und Bitterfeld sind Ausdruck eines international beachteten Strukturwandels und werden touristisch intensiv genutzt. Im ländlichen Raum ergänzen Angebote des Aktiv- und Naturtourismus die kulturtouristischen Angebote der Welterbe-Region. Im Vordergrund des Aktivtourismus der Region stehen sieben überregionale touristische Radwege.
Die WelterbeCard Die WelterbeCard ist seit Markteinführung am 1.12.2016 das Hauptmarketinginstrument des Regionalverbandes. Die WelterbeCard ist eine All-Inklusive TouristCard. Nach Erwerb der WelterbeCard kann der Gast einmalig alle teilnehmenden Einrichtungen kostenfrei nutzen – sie gilt somit als »universelle Eintrittskarte« für ein ganzes Leis-
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tungsbündel. Um die Attraktivität zu gewährleisten, wurde eine hohe Anzahl verschiedenartiger Leistungsträger aus Kunst, Kultur, Natur, Freizeit und Sport in die WelterbeCard inkludiert. Durch dieses gemeinsame Marketing der großen Kultur-Highlights mit den Anbietern des ländlichen Raums werden Synergien geschaffen bzw. gestärkt. Die WelterbeCard wurde pünktlich zum Jubiläumsjahr Luther 2017 auf den Markt gebracht und galt in ihrer ersten Saison bis Jahresende 2017. Die darauffolgenden Saisons erstreckten sich in ihrer Laufzeit jeweils über das gesamte Kalenderjahr, d.h. jeweils vom 1. Januar bis 31. Dezember. Derzeit (2019) befindet sich die WelterbeCard in ihrer dritten Saison. Während die WelterbeCard in den ersten zwei Jahren seit ihrer Einführung jeweils 86 Leistungen beinhaltete, konnten im Jahr 2019 bereits 97 Leistungen inkludiert werden – ein erfreulicher Anstieg von elf neuen Leistungspartnern, viele davon an den Standorten der vier UNESCO-Welterbestätten. Die Card ist in zwei Modellen verfügbar. Zum einen ist sie als 24-Stunden-Card erhältlich und dabei ab dem Zeitpunkt der ersten Nutzung für 24 Stunden gültig. Erwachsene können diese für 19,90 Euro und Kinder für 12,50 Euro erwerben. Zum anderen gibt es die Drei-Tages-Card, die an drei frei wählbaren Tagen innerhalb eines Kalenderjahres genutzt werden kann. Für Erwachsene kostet sie derzeit 39,90 Euro, während Kinder 25,50 Euro zahlen.
Vorteile der WelterbeCard Große Vorteile für den Gast stellen vor allem die Preis- und Zeitersparnisse dar. Mit der WelterbeCard zahlt er einmalig und erhält freien Eintritt zu 97 Attraktionen in der gesamten Region Anhalt-Dessau-Wittenberg. Der Preis der Card ist so ausgelegt, dass die Nutzung der Leistungen per Card auf jeden Fall kostengünstiger ist als alle Leistungen vor Ort direkt und einzeln zu bezahlen. Des Weiteren erhalten die Kunden einen hochwertigen Reiseführer gratis, der schon vorab zur Vorbereitung der Reise genutzt werden kann. Die 24-Stun-
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den-Card ist besonders für Kurzaufenthalte geeignet, während die Drei-Tages-Card bei längeren Aufenthalten zu empfehlen ist. Außerdem schafft Letztere Anreize für Wiederholungsurlauber und Einheimische. Die Vorteile sowohl für die Akzeptanzstellen als auch für jene Partner, die eine Leistung in die WelterbeCard einbringen, liegen in der Gewinnung neuer Gäste, der Ansprache neuer Zielgruppen sowie der Stimulierung von Zusatzausgaben der Gäste aufgrund einer erhöhten Aufenthaltsdauer. Besonders zu erwähnen ist, dass Einheimische mit der WelterbeCard ihre Heimat besser kennenlernen können und dadurch zu einer nicht zu unterschätzenden Zielgruppe der Card werden. Darüber hinaus ist festzustellen, dass sich bei den Leistungspartnern der Welterbe-Region, die als Akzeptanzstelle am WelterbeCard-System angeschlossen sind, ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Dies unterstützt den gemeinsamen Marketingauftritt der Welterbe-Region. Die Leistungsanbieter in der Region werden gestärkt und vor allem die kleineren Einrichtungen aus dem ländlichen Raum profitieren von der Bündelung der Marketingmaßnahmen mit den UNESCO-Welterbestätten und den weiteren kulturellen Highlights der Region. Ebenso ist es durch die WelterbeCard möglich, mittels eines umfangreichen Online-Backup-Systems Daten zu gewinnen, die für statistische Auswertungen genutzt werden können. Diese werden den Leistungspartnern kostenfrei für das eigene Marketing zur Verfügung gestellt. Bis zum Jahresende 2018 konnten insgesamt 8.652 WelterbeCards verkauft werden. Somit ist das zum Projektstart im Interesse der Wirtschaftlichkeit der Card erklärte Ziel von mindestens 4.000 jährlich verkauften WelterbeCards erreicht worden. Das Verhältnis von 24-Stunden-Card zu Drei-Tages-Card beträgt derzeit 70 zu 30; es soll perspektivisch im Interesse einer höheren Aufenthaltsdauer der Gäste in der Region noch mehr zugunsten der Drei-Tages-Card verändert werden. Hochfrequentiert durch die WelterbeCard waren bisher das Asisi-Panorama Luther1517 und das Lutherhaus in Wittenberg, die
Die WelterbeCard
Gondeln im Gartenreich Dessau-Wörlitz und das Bauhausgebäude in Dessau.
Die WelterbeCard – Marketing 2019 Im Jahr 2019 soll das Marketing für die WelterbeCard weiterhin verstärkt und die WelterbeCard weiter stabilisiert werden. Für die Verbesserung des Innenmarketings bietet die WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg Marketingschulungen und Informationsveranstaltungen für Partner, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Tourismusinformationen und Verkaufsstellen sowie Hoteliers und andere Leistungsträger an. Dazu werden regelmäßig Newsletter an die Akzeptanz- und Verkaufsstellen versandt, ein jährliches Anwendertreffen organisiert und ein breites Netzwerk mit gezieltem Marketing im Zusammenhang mit einer entsprechenden Clusteranalyse aufgebaut. Die Clusteranalyse ist eine separate Auswertung der Nutzung und der Besucherströme für jeden einzelnen Leistungspartner der WelterbeCard, um den Zusammenhang zwischen Verkauf und Nutzerverhalten zu messen. Der Tourismusverband fokussiert sich auch auf die Qualitätssicherung, indem u.a. mit der Hochschule Harz Mystery Checks und Quellmarktanalysen durchgeführt werden. Das Außenmarketing soll 2019 u.a. durch die Herausgabe eines aktualisierten, hochwertigen Reiseführers mit Darstellung der Region und aller Leistungen sowie mit Plakaten, Flyern in deutscher und englischer Sprache und Auf klebern als Streuwerbemittel verstärkt werden. Durch eine Kooperation mit der »Investitions- und Marketinggesellschaft des Landes Sachsen-Anhalt« (IMG) zum 100-jährigen Bauhausjubiläum 2019 werden die WelterbeCard und ihre Partner mit dem Druck des Landeslogos »Bauhaus 100« auf der Card bundesweit beworben. Weiterhin werden ganzjährige Aktionen auf Facebook und Instagram durchgeführt (z.B. Gewinnspiele, Fotowettbewerbe, Adventskalender der Region) und Bloggerreisen unter dem Hashtag #WelterbeCard veranstaltet.
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Darüber hinaus ist ein Relaunch der Internetpräsenz, die auf Deutsch und Englisch verfügbar ist, geplant sowie die Einrichtung eines eigenen Presseraums auf cision.com in Zusammenarbeit mit Medienpartnern wie der Mitteldeutschen Zeitung. Neben einer Kooperation mit dem Kurt Weill Fest 2019 wurden zudem vier neue Premium- und Medienpartnerschaften mit dem ADAC, Melt!-Festival, Gesellschaft der Freunde des Dessau-Wörlitzer Gartenreiches e.V. und der Kurt-Weill-Gesellschaft geschlossen, über die die WelterbeCard z.B. mit einem Premiumrabatt von 10 Prozent erworben werden kann. Ende 2018 wurde zudem eine WelterbeCard-Nebensaisonkarte eingeführt, die vom 1.11.2018 bis zum 31.3.2019 gültig ist. Mit dieser werden ausschließlich nebensaisonale Leistungen zu einem geringeren Preis angeboten, um die nicht so besucherstarken Zeiten der Region im Marketing zu unterstützen. Außerdem wurde eine weihnachtliche Geschenkverpackung zur WelterbeCard gestaltet, die auf Anfrage kostenfrei erhältlich war. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nach zwei Laufzeiten eine ständig zunehmende Akzeptanz der WelterbeCard bei den Gästen und bei den Anschließern aus der WelterbeRegion zu verzeichnen ist. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der touristischen Akteure und damit auch das Bündnis zwischen den kulturellen Highlights und den Angeboten des ländlichen Raumes haben sich gefestigt. Dies ist eine gute Basis für das weitere erfolgreiche Außenmarketing und die touristische Gästegewinnung. Die WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg steht hinter ihrer WelterbeCard!
Internetquellen https://www.welterbecard.de https://www.anhalt-dessau-wittenberg.de/de/
Digitale Potenziale für die Vernetzung der Akteure im ländlichen Raum Ein Praxisbeispiel aus der »Zugspitz Region« Philipp Holz Die Digitalisierung ist eines der zentralen Themen im Tourismus, wenn nicht sogar eines der zentralen Themen branchenübergreifend. Jedoch trifft das Thema Digitalisierung nicht nur auf Zustimmung, sondern wird im gesellschaftlichen Kontext durchaus kontrovers diskutiert, da diese Thematik sowohl Chancen als auch Risiken mit sich bringt (Schmiech 2018, 2). Im folgenden Beitrag geht es insbesondere darum, wie durch digitale Möglichkeiten analoge Attraktionen im Tourismus in Wert gesetzt werden können. Der Fokus liegt in diesem Zuge auf der Vernetzung diverser Akteure im ländlichen Raum. In diesem Fall ist der ländliche Raum der Landkreis Garmisch-Partenkirchen, welcher unter dem Begriff »Zugspitz Region« touristisch vermarktet wird. Die nachfolgenden Ausführungen geben einen Überblick über die Struktur, Aufgaben und Ziele der »Zugspitz Region« im Allgemeinen sowie im Speziellen über die Entwicklung eines touristischen Produktes zur Stärkung der kulturtouristischen Akteure im ländlichen Raum.
Die Zugspitz Region GmbH Die Zugspitz Region stellt eine geschaffene Destination dar, welche mit den Landkreisgrenzen des Landkreises Garmisch-Partenkirchen gleichzusetzen ist. Die Kernaufgabe der Zugspitz Region, die offiziell unter dem Namen »Zugspitz Region GmbH« firmiert, ist
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die wirtschaftliche und nachhaltige Förderung des Landkreisses Garmisch-Partenkirchen. Die Entstehung des Unternehmens ist im Wesentlichen auf das Resultat einer Entwicklungsstudie für den Landkreis Garmisch-Partenkirchen zurückzuführen. Ein zentrales Ergebnis der Studie lag in der Erkenntnis, dass der Landkreis eine über die nationalen Grenzen hinaus bekannte Region ist, mit vielen Stärken und Chancen, aber auch mit Problemen und strukturellen Defiziten. Der Tourismus hatte deutliche Einbrüche zu verzeichnen: von über sechs Mio. Übernachtungen Anfang der 1990er Jahre auf rund vier Mio. im Jahr 2009. Die nachhaltige Entwicklung sollte sich daher nicht nur auf den Tourismus allein beschränken, sondern auch andere Wirtschaftsbereiche, wie z.B. Gesundheit und Gewerbe, umfassen (Zugspitz Region GmbH 2019). Im Jahr 2017 verzeichnete der Tourismus wieder rund fünf Mio. Übernachtungen sowie rund zehn Mio. Tagesgäste, die jährlich in die Region reisen (dwif 2018). Aktuell besteht die Zugspitz-Region aus den folgenden Gesellschaftern: Den 22 Gemeinden im Landkreis, dem Landkreis selbst sowie Partnern aus der freien Wirtschaft. Die GmbH setzt sich in den folgenden Handlungsfeldern für eine nachhaltige Entwicklung ein, mit dem Ziel, die Lebensqualität der Menschen zu stärken und die Region fit für die Zukunft zu gestalten: • • • • • •
Regionalmanagement; Gesundheit; Tourismus; Wirtschaft und Soziales; Landwirtschaft und Umwelt; Energie und Klimaschutz.
Nachfolgend liegt der Fokus auf dem Handlungsfeld Tourismus, da der Tourismus in der Zugspitz Region eine zentrale Rolle spielt und mit einem Brutto-Umsatz von rund 861 Mio. Euro p.a. zu einem der stärksten Wirtschaftszweige der Region zählt (dwif 2018).
Digitale Potenziale für die Vernetzung der Akteure im ländlichen Raum
Tourismus in der Zugspitz Region Wie bereits vorab dargestellt, ist die Tourismuswirtschaft ein zentraler wirtschaftlicher Faktor in der Zugspitz Region. Die oben erwähnten fünf Mio. Übernachtungen sowie die zehn Mio. Tagesgäste verteilen sich innerhalb der Zugspitz Region auf sechs touristische Destinationen (sortiert von Nord nach Süd): • • • • • •
Naturpark Ammergauer Alpen; das Blaue Land; das ZugspitzLand; das Zugspitzdorf Grainau; Garmisch-Partenkirchen; Alpenwelt Karwendel Mittenwald Krün Wallgau.
Die einzelnen Destinationspartner agieren wirtschaftlich eigenständig am Markt. Die Partner sind unterschiedlich strukturiert vom klassischen kommunalen Betrieb über Werbegemeinschaften bis hin zu Kapitalgesellschaften. Eine derartige diverse Struktur ist nicht selten, insbesondere im Deutschlandtourismus, bei welchem ein Großteil der touristischen Einheiten nach dem klassischen Community Model aufgebaut sind (Flagestad & Hope 2001, 452). Trotz einer solch vielseitigen und eigenständigen Strukturierung der Partner findet in der Zugspitz Region eine einheitliche und gemeinsam entwickelte Zielsetzung statt. Diese liegt in einer nachhaltigen überregionalen Tourismusentwicklung, welche sich überwiegend in einzelnen Projekten widerspiegelt, wie bspw. einem gemeinsamen Tourismustag, Vermarktung gemeinsamer Themen, Produktentwicklung bis hin zu einer einheitlichen technischen Infrastruktur. Bei der Konzeption der einzelnen Projekte liegt der Fokus auf einer ressourcenorientierten Entwicklung [Pechlaner 2003, 5f.] mit dem Schwerpunkt auf zwei zentralen touristischen Kernthemen:
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• Naturtourismus • Kulturtourismus Jene zwei Kernkompetenzen lassen sich auf Themen- und Produktebene herunterbrechen und bilden in Kombination in der Zugspitz Region eine einzigartige Kulturlandschaft. In diesem Zusammenhang ist das Thema Kultur in der Zugspitz Region stark mit der lokalen Tradition und der Natur vereint. Ein Beispiel für solch eine Symbiose sind die Buckelwiesen in der Alpenwelt Karwendel, welche heute noch auf traditionelle Art von Hand gepf legt werden und somit die Natur zur Bühne der heimischen Kultur wird. In diesem Zuge lassen sich noch weitere Beispiele anführen, die die Zugspitz Region und ihre Kulturlandschaft prägen. Allen voran die Zugspitze als höchster Berg Deutschlands sowie die kulturellen Besonderheiten wie bspw. die Passionsspiele in Oberammergau bis hin zum bunten Faschingstreiben (Maschkera) in Mittenwald. Zusammenfassend zeigt sich, dass die Region auf eine einzigartige Vielzahl von Ressourcen zurückgreifen kann, welche in Wert gesetzt werden müssen, um als touristisches Produkt platziert werden zu können und sich somit positiv auf die Reiseentscheidung auswirken. Insbesondere bei der Kernzielgruppe, der deutschen Gäste, liegt das Zusammenspiel aus Kultur und Natur aktuell im Trend (DTV 2017). Dieser beschriebene Prozess stellt auch die Grundlage für die Produktentwicklung und die Konzeption des digitalen Modellprojektes »Die Legende des Ruf des Berges« dar, welches zuzüglich die Akteure in der Zugspitz Region besser und stärker vernetzen soll.
Das digitale Modellprojekt in der Zugspitz Region Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) geförderten Projektes mit dem Titel: »Die Destination als Bühne: Wie macht Kulturtourismus ländliche Regionen erfolgreich?« wurde für ausgewählte Modellregionen die Möglichkeit geschaffen,
Digitale Potenziale für die Vernetzung der Akteure im ländlichen Raum
das Thema Vernetzung mit dem Thema Digitalisierung zu kombinieren. Im Fall der Zugspitz Region handelt es sich um eine innovative digitale Lösung, welche nachfolgend detaillierter dargestellt wird. Die Digitalisierung spielt im Tourismus eine zentrale Rolle, welche die Branche insgesamt und insbesondere die Interaktion mit dem Gast bzw. der Zielgruppe vor neue Gegebenheiten stellt. Diese gesellschaftliche Veränderung, die stark technologisch getrieben ist, sorgt für eine Umwandlung und Erweiterung der bisherigen Möglichkeiten. Diese Form der Veränderung bietet somit noch unerkannte Chancen, die sich ebenfalls positiv auf ländliche Strukturen auswirken können, da bspw. wie beschrieben, die Interaktion mit dem Gast schneller und einfacher stattfinden kann. So besteht zum Beispiel die Möglichkeit via Push-Nachrichten eine neue Form der Kommunikation, die insbesondere im dünn besiedelten ländlichen Raum Vorteile mit sich bringen kann, da die Information schneller zum Gast gelangt. Eine derartige Zielsetzung findet sich ebenfalls in dem geförderten Modellprojekt des BMWis: »Die Legende des Ruf des Berges« in der Zugspitz Region.
Die Legende des Ruf des Berges – Entstehung und Umsetzung Kultur ist in der Zugspitz Region ein zentrales Thema, welches sich zum einen in der gelebten Tradition sowie zum anderen in größeren kulturellen Veranstaltungen widerspiegelt. So beispielsweise bei den Passionsspielen in Oberammergau oder bei der Bayerischen Landesausstellung 2018 im Kloster Ettal, welche unter dem Motto »Mythos Wald, Mythos Gebirg, Mythos Königstraum – Der Mythos Bayern« in Ettal ausgerichtet wurde. Diese Veranstaltung war das zentrale Element des Förderprojekts des BMWis: die Destination als Bühne. Die Landessausstellung sollte als Hauptattraktion dienen, um weitere Akteure in der Region zu vernetzen und somit ebenfalls kulturinteressierte Gäste, welche aufgrund der Landesausstellung anreisen, weiter
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durch die Region zu führen. In diesem Zuge wurden in einem ersten Schritt mögliche Ziele der Vernetzung von kulturellen Angeboten rund um die Landesausstellung 2018 in Ettal mit den Akteuren in der Zugspitz Region diskutiert und definiert. Folgende Ziel sind das Ergebnis: • Erlebbarkeit des »Mythos Wald« im gesamten Landkreis; • Erhöhung der Verweildauer der Besucher in der Region; • wirtschaftlicher Nutzen der zusätzlichen Besucherströme auch außerhalb der Landessausstellung Ettal; • Identitätsstiftung; • Stärkung der kleinteiligen Kulturanbieter in den Orten; • Professionalisierung des Marketings der Kulturanbieter; • Stärkung der Zusammenarbeit. Diese gemeinschaftliche Zieldefinition war der Grundstein für die Umsetzung des BMWi-Förderprojektes, welches mit den Partnern Thadeus Roth, Sandstein Kommunikation und dwif Consulting umgesetzt wurde. Das Resultat ist das Produkt »Die Legende des Ruf des Berges«, welches sich eines transmedialen Storytelling Ansatzes bedient und auf eine Suddenlife Gaming-Technologie zurückgreift. Konkret bedeutet das, es wurde eine Geschichte erfunden, welche über mehrere Medien erzählt wird und dabei verschiedene Attraktionen vernetzt. Durch die Zuhilfenahme der Suddenlife Gaming Technik (lvz 2015), die sich durch plötzliche Interaktion an den Stationen mit dem Nutzer in Verbindung setzt und ihnen, in diesem Fall die Geschichte von Waldfried und Rosina, den fiktiven Protagonisten, näherbringt. Hierbei sind stets kleinere Rätsel und Aufgaben zu lösen, welche den Gast noch tiefer in die jeweilige Attraktion eintauchen lassen und für Begeisterung sorgen. Des Weiteren wird der Gast durch gezielte Tipps zu weiteren Orten und/oder Attraktionen geleitet, um die Aufenthaltsdauer und dadurch auch die Wertschöpfung zu erhöhen. Allerdings unterscheidet sich das Suddenlife Gaming-Modell in einem Punkt von anderen Modellen. Normalerwiese zeichnen sich Suddenlife Gaming-Modelle
Digitale Potenziale für die Vernetzung der Akteure im ländlichen Raum
durch eine plötzliche Interaktion aus, dem Überraschungsmoment. Im Fall des Produktes »Die Legende des Ruf des Berges« muss der User diese Geschichte selbst steuern und aktivieren. Diese Unterscheidung findet aufgrund der Urlaubssituation des Users statt, da es eine etwaige Belästigung des Gastes zu vermeiden gilt. Konkret bedeutet dies, dass der Gast nach Aktivierung der App jederzeit angerufen werden kann, dies jedoch selbst aktivieren muss. Daher entscheidet der Gast selbst, wann die Überraschung beginnt. Somit ist der technische Grundstein für das Produkt gelegt, allerdings sind noch die Anforderungen für teilnehmenden Betriebe sowie für die Nutzer zu definieren. Für die teilnehmenden Betriebe sowie für die Region selbst stehen zwei Punkte im Fokus. Zum einen die Kontextf lexibilität, welche es dem Betrieb ermöglicht einfache Anpassungen vorzunehmen sowie zum anderen die Anwendungsf lexibilität, was den Zukauf zusätzlicher technischer Geräte für die teilnehmenden Kulturbetriebe im ländlichen Raum überf lüssig macht. Somit ist auf Anbieterseite eine einfache und schnelle Umsetzung möglich sowie eine Veränderung oder Anpassung für die Zeit nach der Landesausstellung. Neben der Anbieterseite steht im weiteren Fokus die Seite des Konsumenten, des Gastes, in der Zugspitz Region. In diesem Zuge wurde die Zielgruppe der jungen Erwachsenen zwischen 30-49 Jahren definiert, die durchschnittlich vier Übernachtungen in der Region verbringen. Ebenfalls spielt die Anwendungsf lexibilität hier eine zentrale Rolle, da der Zugang so einfach wie möglich zu gestalten ist. In diesem Rahmen wurde eine Web-App konzipiert, welche sich gegenüber anderen Apps dahingehend unterscheidet, dass diese nicht mehr heruntergeladen werden muss. Der Gast wird somit während seines Aufenthalts spielerisch durch die Region geführt und durch den sogenannten Nachklang, eine Erinnerungsfunktion des Programms, sogar darüber hinaus. Nach der Gestaltung der Anforderungen für die Nutzer und die teilnehmenden Betriebe ging es im folgenden Schritt um die Umsetzung des Projekts in der Region. In der ersten Umsetzungsphase im Rahmen der Landesausstellung konnten folgende Betriebe in der Zugspitz Region gewonnen werden: die bayerische Landesausstellung, das Kloster
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Ettal, das Oberammergau-Museum, das Geigenbaumuseum Mittenwald, das Freilichtmuseum Glentleiten, die Tannenhütte, der Waldlehrpfad, das Passionstheater, das Pilatushaus und das Werdenfelsmuseum. Durch die Teilnahme der genannten Stationen ist die Zugspitz Region in der Fläche erlebbar, da die ersten teilnehmenden Stationen sich über die gesamte Region verteilen. Somit ist der zentrale Aspekt der Vernetzung in der Region gegeben. Des Weiteren stehen die eigenständigen Betriebe durch das Produkt erstmals in Verbindung miteinander. Somit sind die ersten Ziele wie gemeinsames Erleben der Region, Identitätsstiftung und Stärkung der Kulturanbieter gegeben. Um die Verweildauer und den wirtschaftlichen Nutzen zu erhöhen, verknüpft die Geschichte der Legende die einzelnen Stationen miteinander. Will der Gast alle Punkte sammeln und den Ruf erleben, so müssen die teilnehmenden Stationen angefahren und besucht werden. Abbildung 1: Beispiel für Kommunikationsmaßnahmen der Zugspitz Region
Quelle: ®Zugspitz Region GmbH
Digitale Potenziale für die Vernetzung der Akteure im ländlichen Raum
Final wurde das Projekt durch einheitliche Marketingkampagnen der Zugspitz Region GmbH unterstützt. Ziel dieser Kampagne war in erster Linie die Unterstützung der teilnehmenden Betriebe sowie die einheitliche Bild- und Textansprache für das Produkt. Die Umsetzung der Kampagne erfolgte in einem klassischen Marketing-Mix von PRArbeit über klassische Werbemittel am Point of Sale bis hin zu Social-Media-Aktivitäten (vgl. Abb. 1, S. 140, ®Zugspitz Region GmbH). Tabelle 1: Entwicklung der Website-Besucher und Anmeldungen der Web-App Besucher
Seiten
Anmeldungen
Mai
1121
8125
49
Juni
1319
7775
52
Juli
2213
24033
104
August
2416
18781
115
September
1756
10991
84
Oktober
1459
9069
69
Gesamt
10284
78774
473
Die Markteinführung der Web-App begann zur Eröf fnung der Landesausstellung. Insgesamt konnten über die Laufzeit der Landesausstellung vom Mai bis Oktober 2018 in Summe 473 Anmeldungen verzeichnet werden (vgl. Tab. 1). Im Vergleich zu den Website-Besuchern von 10.2084 zeigte sich, dass sich 4,6 Prozent der Besucher für das Produkt angemeldet haben. Des Weiteren war festzustellen, dass pro Besucher durchschnittlich 7,6 Seiten aufgerufen wurden.
Herausforderungen des Projektes Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Diese Metapher trifft auf die meisten Projekte zu. So auch bei der »Legende des Ruf des Berges«. So zeigten sich manche Herausforderungen erst im Laufe der Durchführung. In dem vorliegenden Fall sind die Herausforderungen
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unterschiedlich gelagert. Hierzu zählen sowohl interne Herausforderungen, welche sich speziell auf die Region beziehen, sowie externe Gegebenheiten auf die wenig Einf luss genommen werden kann. Zu den externen Herausforderungen zählt unter anderem die allgemeine Problematik diverser Förderprogramme, welche Projekte immer nur bis zu einer gewissen Phase fördern, wie bspw. bis zu der Projekteinführung. Weitere Kommunikationsmaßnahmen etc. müssen in solchen Fällen anschließend durch die Fördernehmer (der Region) selbst getragen werden. Eine derartige Gegebenheit kann somit zu einem Stopp des Projektes führen, da oft keine weiteren finanziellen Mittel zur Verfügung stehen oder kurzfristig freigegeben werden können. Weitere Herausforderungen ergaben sich aus der sehr unterschiedlichen Qualität der mobilen Netzabdeckung an verschiedenen Attraktionen. In diesem Fall kommt die allgemeine Problematik im ländlichen, insbesondere im alpinen ländlichen Raum zum Tragen, welche sich durchaus von der Netzabdeckung im urbanen Raum unterscheidet. Diese stellt jedoch für den Erfolg von digitalen webbasierten Produkten einen wichtigen Erfolgsfaktor dar, da für den reibungslosen Ablauf und ein zufriedenstellendes Nutzungserlebnis ein gutes mobiles Netz vorhanden sein muss. Dies gepaart mit dem zögerlichen Anmeldeverhalten der User, welches sich auf eine allgemeine Angst vor Datenpreisgabe zurückführen lässt (Renner & Renner 2011, 192) sorgt für eine verhältnismäßig geringe Anmeldungsquote. Betrachtet man das Anmeldeverhalten im Verhältnis zu der Besucherzahl der Landesausstellung, so meldeten sich von den rund 130.000 Besuchern der Landesausstellung lediglich 0,36 Prozent an. Neben dem zögerlichen Anmeldeverhalten ist ebenfalls davon auszugehen, dass das Produkt zu komplex ist. Dies lässt sich unter anderem auf die verhältnismäßig hohen Seitenaufrufe im Vergleich zu den Besuchern zurückführen (siehe Tab. 1, S. 141). Aber auch die Heterogenität der Attraktionen stellte eine Herausforderung dar. Es ist somit nicht als gegeben zu betrachten, dass das Interesse des kulturinteressierten Besuchers für alle Attraktionen die gleiche Ausprägung
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hat. In diesem Zusammenhang gilt es, die Attraktionen nach Themen zu unterscheiden, da die teilnehmenden Betriebe unterschiedliche Schwerpunkte haben, welche unterschiedliche Interessen ansprechen. Eine weitere Herausforderung zeigte sich in der Gästestruktur der Landesausstellung. In diesem Rahmen wurde festgestellt, dass ein Großteil der Besucher aus Schülergruppen bestand, welche die Ausstellung während eines eintägigen Schulausf lugs besuchten. Diese Gruppe trifft jedoch nicht auf die vordefinierte Zielgruppe zu. An dieser Stelle muss das Projekt jedoch klar als das gesehen werden, was esist – ein Modell. Somit dienen die Festlegungen der Herausforderungen in erster Linie als Rückkopplung zur Weiterentwicklung und Verbesserung des Produkts.
Weiterentwicklung Das Thema Weiterentwicklung spielt bei diesem Projekt eine zentrale Rolle, da neben dem Produkt die Vernetzung der Akteure im Fokus steht und das Projekt sich nachhaltig entwickeln soll. Neben der Vernetzung, stellt das Thema Besucherlenkung und Wertschöpfungssteigerung eine weitere Säule des Projektes und der Weiterentwicklung dar. Des Weiteren sind die beschriebenen Herausforderungen in dem zukünftigen Entwicklungsprozess zu berücksichtigen. So ist im ersten Schritt eine Erweiterung im Raum und der Zielgruppe nötig, um das Angebot nach Themen und Interessen zu gruppieren. Dies ist vorstellbar auf oberbayrischer Ebene sowie durch die Erweiterung um die Zielgruppe der Tagesgäste. Demnach würde sich das Produkt diversifizieren und somit unterschiedliche Bereiche abdecken. Es gilt somit das Produkt auf Basis der Erkenntnis, der ersten Phase weiterzuentwickeln, um es zu verbessern und stärker den Besucherbedürfnissen anzupassen (Grots & Pratschke 2009, 18). Eine mögliche Vorstellung, wie eine Weiterentwicklung unter den Voraussetzungen der Vernetzung, Besucherlenkung sowie Wertschöpfungssteigerung, ist, dass der Nutzer seine Präferenzen im Vorfeld in
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der Web-App definiert und anhand der Definition durch die Region geführt wird. Hierzu sollten zzgl. Parameter wie Verkehrsauf kommen und Besucherauf kommen bestimmter Attraktionen hinzukommen. Dies hätte zur Folge, dass der Gast effizient und einfach durch die Region geführt wird. Somit werden zum einen die Attraktionen weiter vernetzt und zum anderen werden Herausforderungen wie Stau und Übernutzung möglicherweise umgangen, was eine Abschreckung weiterer Gäste verhindert und somit Besucher in die Region zieht und die Wertschöpfung steigern könnte. Ob und wie eine derartige Weiterentwicklung stattfindet, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesagt werden. Was allerdings gegeben ist, sind die technischen Voraussetzungen in der Zugspitz Region für eine Entwicklung in diese Richtung.
Fazit Zusammenfassend ist es schwierig, das Projekt bzw. das Produkt nach der erst kurzen Laufzeit objektiv zu bewerten. Werden ausschließlich die Nutzerzahlen betrachtet, so kann nicht von einem Erfolg gesprochen werden. Allerdings sollte diese quantitative Kennzahl nicht der ausschlaggebende Punkt sein. Es sind qualitative Aspekte, die in den Fokus rücken wie bspw. die Vernetzung analoger Attraktionen durch Zuhilfenahme digitaler Medien. In diesem Zusammenhang kann als ein klarer Erfolg die Vernetzung der einzelnen kulturellen Akteure in der Region bezeichnet werden. Somit ist ein solches Projekt als Beginn zu sehen, welches durch diverse Anpassungen eine innovative Lösung aktueller Probleme im Destinationstourismus ermöglicht. Allerdings erfordert eine langfristig positive Entwicklung bei den gegebenen Strukturen insbesondere eines: Zeit. Insgesamt kann dennoch ein positives Fazit gezogen werden, da erste Erfolge erzielt wurden und ein Denkanstoß für weitere Entwicklungen gegeben wurde. In diesem Zusammenhang ist eine grundlegende Neugier oft der Schlüssel zum Erfolg.
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Literatur DTV (2017): Zahlen Daten Fakten: https://www.deutschertourismus verband.de/fileadmin/Mediendatenbank/Bilder/Presse/Presse_ PDF/ZDF_2017.pdf [Ansicht 26.02.2019]. dwif (2018): Wirtschaftsfaktor für die Zugspitzregion 2017, München. Flagestad, A. & Hope, C. A. (2001): Strategic success in winter sports destinations: a sustainable value creation perspective, Tourism Management, 22, S. 445-461. Grots, A. & Pratschke, M. (2009): Marketing Review St. Gallen, 26/2, S. 18-23. Leipziger Volkszeitung lvz (2015): https://www.lvz.de/Nachrichten/ Kultur/Leipziger-Start-Up-entwickelt-Geschichten-zum-Miterleben [Ansicht 26.02.2019]. Pechlaner, H. (2003): Tourismus-Destinationen im Wettbewerb, Wiesbaden, Deutscher Universitätsverlag. Renner, K.-H./Renner, T. (2011): Digital ist besser. Warum das Abendland auch durch das Internet nicht untergehen wird, Frankfurt a.M., Campus Verlag. Schmiech, C. (2018): Der Weg zur Industrie 4.0 für den Mittelstand, in: Wolff, D/Göbel, R (Hg.): Digitalisierung: Segen oder Fluch. Wie die Digitalisierung unsere Lebens- und Arbeitswelt verändert, Berlin, Springer-Verlag. Zugspitz Region GmbH (2019): https://www.zugspitz-region-gmbh.de/ de/wir-ueber-uns.html [Ansicht 05.02.2019].
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KulturReiseLand NRW: Acht Schritte zur Erneuerung des Kulturtourismus Matthias Burzinski
Der Kulturtourismus im ländlichen Raum hat sich in den letzten Jahren zu einem Dauerthema der touristischen Strukturförderung entwickelt. Auch in einem dicht besiedelten Bundesland wie Nordrhein-Westfalen (NRW) gibt es Räume abseits der urbanen Zentren, die in besonderem Gegensatz zu den traditionell kulturstarken Großstädten und Metropolen stehen. Grund genug für den »Tourismus NRW e.V.«, ein spezielles Innovationsprogramm KulturReiseLand NRW ins Leben zu rufen (Tourismus NRW e.V. 2019), um den Kulturtourismus in diesen Räumen voranzutreiben. Ziel des von 2016 bis 2019 durchgeführten Projektes war eine touristische Förderung und Inwertsetzung von Kultureinrichtungen, -initiativen und -netzwerken abseits der urbanen Zentren, um kulturtouristische Angebote neu zu entwickeln bzw. zu initiieren. Warum abseits der urbanen Zentren und nicht im ländlichen Raum? Legt man im Bundesland NRW die Einwohnerdichte als Maßstab zur Abgrenzung des ländlichen Raums zugrunde, lassen sich aufgrund der hohen Dichte kaum mehr ländliche Räume im Sinne der Kategorisierung des »Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung« identifizieren (BBSR 2019). Daher wurde im Rahmen des Projekts eine pragmatische Kategorisierung herangezogen, die vor allem die kulturelle Dichte an Einrichtungen als Maßstab zugrunde legte. Daraus entwickelte sich die rein projektimmanente Kategorie der Räume abseits der urbanen Zentren, also außerhalb von Köln, Bonn, Düsseldorf und der Metropole Ruhr.
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Der Gegensatz zwischen den beiden Raumkategorien wurde zudem von Beginn als touristisch produktiv angesehen, allein schon deshalb, weil die bevölkerungsreichen Metropolen immer auch Quellgebiete darstellen, etwa für Tagesausf lüge, und weil auch im kulturellen Bereich Stadt-Umland-Verf lechtungen das Land NRW mitprägen. Im Rahmen des Vorhabens wurden 46 Museen und Kultureinrichtungen unterstützt. Das Innovationsprogramm bestand aus mehreren Modulen, die sowohl aktivierende, die Nachfrage stimulierende Marketingmaßnahmen, als auch strategische, besonders nachhaltige Maßnahmen miteinander kombinierten. Neben einer breit angelegten Marketingkampagne wurden auch konzeptionelle Grundlagen für im Vorfeld des Projektes kuratierte kulturtouristische Themencluster sowie die individuellen Einzeleinrichtungen erarbeitet. Die Ziele waren: • Eine individuell angepasste kulturtouristische Strategie bzw. ein Maßnahmenpaket zu entwickeln, das der jeweiligen Einrichtung im kulturtouristischen Markt eine Neupositionierung ermöglicht; • kooperative Marketingmaßnahmen zwischen den beteiligten PartnerInnen, Projektbeteiligten und Einrichtungen zu initiieren, von denen alle Einrichtungen profitieren; • Anregungen für eine dauerhafte Vernetzung untereinander und mit touristischen Leistungsträgern zu geben. Flankierend zur individuellen Beratung jeder Einrichtung sollte jeweils ein Clusterkonzept für die jeweiligen thematischen Cluster erarbeitet werden, das wiederkehrende und typische Herausforderungen, Handlungsfelder und ggf. auch Lösungen skizziert. So konnten übergreifende Herangehensweisen identifiziert werden, die zudem Vernetzungsmöglichkeiten zwischen thematisch-inhaltlich gleich ausgerichteten Einrichtungen aufzeigten. Folgende Clusterkonzepte wurden erarbeitet: Moderne Kunst und Gegenwart/Künstlerhäuser, Literatur, Klöster und religiöse Tradition, Schlösser und Burgen, Industrie/Handwerk/Manufaktur, Regionales und historisches Erbe/ Freilichtmuseen.
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Der gesamte Prozess erstreckte sich über rund zwei Jahre intensiver Projektarbeit und rund 120 Termine und Workshops mit den beteiligten Akteuren. Diese Einblicke ermöglichten einen tiefen Einblick in ein touristisches Segment, das intensive Wandlungsprozesse durchläuft und nicht selten davon auch durchgeschüttelt wird.
Der Wandel muss normal werden Es gehörte ebenfalls zu den wichtigen Bausteinen des Projektes, dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht nur den beteiligten Einrichtungen und Partnern zugutekommen, sondern auch den anderen Kulturund Tourismusakteuren, die sich in NRW um eine Inwertsetzung des Kulturtourismus bemühen. Dazu wurde ein Leitfaden erarbeitet, der alle Ergebnisse und Erkenntnisse in eine praktikable Handreichung für das alltägliche kulturtouristische Geschäft transformiert. Leitlinie für die Erarbeitung des Leitfadens waren acht grundsätzliche strategische Ansätze und Key Learnings, die deutlich machen sollen, dass der Kulturtourismus sich substanziell weiterentwickeln muss, und zwar unauf hörlich.
Endlich Zielgruppenwissen aufbauen Viele Kultureinrichtungen und Museen pochen darauf, dass ihre Besucher eher den älteren Zielgruppen angehören und dementsprechend nach wie vor eher auf klassische Marketingmaßnahmen oder auch Vermittlungsmethoden ansprechen. Darin steckt oft ein doppelter Trugschluss. Zum einen sagen die aktuellen Besucherstrukturen wenig darüber aus, welche neuen Zielgruppen man mit anderen Instrumenten erreichen und inspirieren könnte. Mithin fehlt hier die Vision, neue Zielgruppen aktivieren zu können. Zum anderen verändert sich auch bei den älteren Zielgruppen massiv das Rezeptions- und Medienverhalten (ARD/ZDF-Medienkommission 2018). Hinzu kommt noch:
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Viele Museen verfügen gar nicht über entsprechende Daten, die tatsächlich ihre Besucher charakterisieren. Sie urteilen »nach Bauchgefühl«, was oft dazu führt, dass eigene subjektive Haltungen und Einschätzungen dominieren. Um den Spagat zwischen alternder Gesellschaft und nachrückenden Zielgruppen (Millennials, Generation Y und Z) tatsächlich zu schaffen, bedarf es eines fundierten Zielgruppenwissens. Dies gilt für Kultureinrichtungen und Kulturregionen gleichermaßen. Aufgabe ist es, die (kulturtouristischen) Zielgruppen prospektiv zu untersuchen, zu definieren und zu beobachten. Die Entwicklung von so genannten Personas ist dabei ein probates Mittel (Stickdorn et al. 2019a). Kernaufgabe ist es zudem, für jede relevante Zielgruppe, eine eigene Customer-Journey-Analyse (Stickdorn et al. 2019b) durchzuführen, um die relevanten Kontaktkanäle zu definieren. Das bedeutet letztlich: Auch Kultureinrichtungen und -regionen müssen zumindest im Marketing und beim Audience Development zu datengetriebenen Institutionen werden.
Ein eindeutiges Profil entwickeln Es ist eine Binsenweisheit, dass jedes Museum, jede Kultureinrichtung, jede Kulturregion ihr spezielles Profil entwickeln sollte. Unter kulturtouristischen Gesichtspunkten wird dies jedoch noch bedeutsamer. Denn: Kultureinrichtungen müssen deutlich mehr sein als Spezialmuseum, Kunstmuseum, Burg, Kloster usw. Und auch für Kulturregionen reicht es nicht mehr aus, sich generisch als Kulturregion zu positionieren. Vielmehr gilt es, die Erfahrungen herauszuarbeiten, die der Besucher nur hier machen kann. Welche Geschichte erzählen Museum und Region und was lösen sie damit aus? Dazu gehören auch Werte, Haltungen, Lebensorientierung für die Gäste und Besucher. In einem Wort: Eine Kulturmarke muss entstehen. Aus der kulturellen Subs-
KulturReiseLand NRW
tanz heraus, aber immer mit Bezug zu den persönlichen, sinnstiftenden Erfahrungen, nach denen die Besucher sich sehnen.
Erfahrungen statt Produkte Aus der maximal im kulturtouristischen Wettbewerb differenzierten Kulturmarke und dem Wissen um die Zielgruppen lassen sich neue Angebote kombinieren. Deren Wert bemisst sich jedoch nicht mehr allein nach dem künstlerischen oder auch historischen Wert der kulturellen Substanz, oft sogar gar nicht mehr. Vielmehr sind es die persönlichen Erfahrungen, das was der Gast und Besucher als persönliches Erlebnis, als sinnstiftendes Ereignis aus der Begegnung mit der Kultur mit sich trägt, die den Unterschied machen. Daher erleben wir eine verstärkte Nachfrage nach interaktiven Angeboten, in denen der Besucher nicht nur passiv konsumiert, sondern mit dem Kunstwerk, dem Objekt, dem Ort, dem Künstler, dem Vermittler, dem Kurator etc. interagiert. »Airbnb«, das ursprünglich als Sharing-Plattform gegründete Unternehmen, vermittelt mittlerweile auch so genannte Experiences, deren Komposition exakt diesen Bedürfnissen entspricht. Zurzeit ist dies das am schnellsten wachsende Segment des Unternehmens. Unter den Angeboten finden sich viele Touren, Aktivitäten und Erlebnisse, die fernab jeder klassischen Kultureinrichtung kulturelle Erfahrungen ermöglichen, etwa kreative Workshops, Begegnungen mit Künstlern etc. Erfahrungen lassen sich auch erzeugen, indem wir das kulturelle Erlebnis erweitern. Innerhalb des Innovationsprogramms wurde das durch die »Kulturpäckchen« als Kampagnenidee symbolisiert Tourentipps, in denen der Museumsbesuch mit Zusatznutzen und Erlebnissen zu einer mehrschichtigen Erfahrung erweitert wurde. Zum kulturellen Erlebnis gehören daher immer auch komplementäre Leistungen und Services. Beim Verkauf dieser Leistungen reicht es nicht aus, diese nur zu addieren und zu vermarkten. Stattdessen wird die persönliche Erfahrung beworben, die sich damit verbinden lässt.
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Vermittlung neu denken und modernisieren Was für das kulturtouristische Erlebnis gilt, gilt auch für die Vermittlung. Gerade auf Reisen und bei Ausf lügen sind auch vermeintlich kulturfernere Besucher offen für Kunst und Kultur. Aber: Sie interessieren sich nicht für Fakten, sondern für Geschichten, die sie berühren. Daher ist es dringend geboten, neue Vermittlungsformen zu entwickeln, die Neugierde wecken und neue Perspektiven ermöglichen. Die Digitalisierung ist ein indirekter Treiber dieser Entwicklung. Jüngste Studien zeigen, dass die Zeit, die Menschen mit digitalen Medien verbringen, enorm schnell ansteigt (ARD/ZDF-Medienkommission 2018). Da deren Zeit begrenzt ist, reduziert sich das Zeitbudget für klassische Medien, aber auch andere Kulturtechniken und traditionelle kulturelle Rezeption. Menschen werden künftig seltener ins Museum gehen. Der Bildgewalt, Emotionalität, Dramaturgie und Interaktivität der digitalen Medien sollte man begegnen. Dabei geht es jedoch nicht um die Entscheidung zwischen Adaption oder Ablehnung des Digitalen, sondern um das Verständnis dafür, dass diese Welten sich nicht mehr gegeneinander abgrenzen, sondern immersiv ineinanderf ließen. Für moderne und künftige Besucher wird dies zur Normalität werden. Museen und Kultureinrichtungen müssen hier eine Vorreiterrolle einnehmen.
Marketing endlich digitalisieren Ja, traditionelle Maßnahmen funktionieren noch: aber eben nur bei klassischen Zielgruppen. Das mobile Internet verändert den kulturtouristischen Informations-, Kommunikations- und Buchungsprozess in sämtlichen Phasen der Customer Journey. Gäste nutzen neue Endgeräte, Kommunikationskanäle und Plattformen, interagieren mit vollkommen neuen Marktteilnehmern, wie etwa Airbnb, die es vor wenigen Jahren noch gar nicht gab, und passen ihr Verhalten in enormer Geschwindigkeit den neuen Möglichkeiten an.
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Gleichzeitig stehen auch für die interne Ablauforganisation und das Prozessmanagement vollkommen neue Instrumente zur Verfügung, nicht nur beim Einsatz verschiedener Kommunikations- und Vertriebskanäle, sondern auch im Projektmanagement, in der Datenanalyse, im Wissensmanagement sowie in der Dokumentation etc. Digitalisierung bedeutet demnach Denken und Handeln in Netzwerkstrukturen und an Schnittstellen. Die Kultur- und Tourismusakteure müssen darauf mit Kooperations- und Entwicklungsaufgaben reagieren, die ein erheblich größeres Maß an Interaktion erfordern als bisher. Die Gefahr, dass die Anzahl an Menschen wächst, die Museen und Kultureinrichtungen nicht mehr besuchen, ist real. Mit jeder kulturellen Erfahrung, die Gäste außerhalb der klassischen Einrichtungen machen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie nie mehr zurückkehren. Ressourcen müssen daher auch auf digitale Kanäle umgeleitet werden, um den Anschluss nicht vollends zu verpassen. Dazu gehören soziale Medien, das gesamte Spektrum der aktivierenden Werbung auf Online-Plattformen, Suchmaschinenmarketing, Kooperationen mit Inf luencern, neue digitale Vertriebskanäle wie GetYourGuide, Airbnb bis hin zur Strukturierung des eigenen Contents als Linked Open Data. Die Datenarchitektur des eigenen Contents, der Geschichten, (Bewegt-)Bilder, Termine, Veranstaltungen, Texte usw. ist eine zentrale Herausforderung für das künftige Marketing. Da sich die Zahl der zu bespielenden Kanäle erhöht und sprachgesteuerte Suchprozesse, etwa über Amazons Alexa/Echo, Google Home oder Siri, hinzukommen, bedarf es zur Kostenreduktion und zur Effizienzsteigerung einer zentralen, medien- und kanalunabhängigen Datenhaltung und -verwaltung. Dabei hilft neben den Linked Open Data eine Orientierung an der so genannten »schema.org«. Schema.org ist eine Initiative, die eine einheitliche Ontologie für die Strukturierung von Daten auf Websites auf der Basis von bereits bestehenden Auszeichnungssprachen entwickelt. Sie regelt gewissermaßen die Erkennbarkeit der Daten durch Suchmaschinen.
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Kernkompetenz Storytelling ausspielen Das so genannte »Storytelling« hat sich als Instrument durchgesetzt, um die oben skizzierten essenziellen Erfahrungen, nach denen sich die Besucher sehnen, auch adäquat zu kommunizieren. Kultureinrichtungen, gerade Museen, verstehen sich eigentlich auf das Erzählen von Geschichten: Es ist eine ihrer Kernkompetenzen. Warum jedoch setzen sie es so selten im Marketing ein? Das eigene Profil, die Kulturmarke, die Themen, die sich bereits jetzt im museumspädagogischen und sonstigen Veranstaltungsprogramm widerspiegeln, bilden die Substanz und Basis. Für neue Kommunikations- und Vermittlungsformate gilt es jedoch, diese in Erlebnisse und Erfahrungen zu transformieren, die über Geschichten transportiert werden. Dafür steht von der »Heldenreise« bis hin zu anderen universellen Plots und Archetypen, ein breites Instrumentarium zur Verfügung. Die Wahl des idealen Formats zur Vermittlung der Geschichte orientiert sich im Idealfall an der »Customer-Journey-Analyse«. Sie erlaubt durch Analyse der Kontaktpunkte zum Besucher während aller Reisephasen einen Überblick darüber, wie ich meine Zielgruppen in welcher Phase über welche Kanäle erreiche. Auch ein vergleichsweise simpler Post in sozialen Medien, eine kurzes Video, Audiospuren etc. können Geschichten erzählen und nicht nur Fakten vermitteln.
Vernetzung über das Inhaltliche hinaus Fachliche, inhaltlich-substanziell begründete Netzwerke werden oft fein gesponnen. Fast jedes Museum arbeitet in thematisch definierten Netzwerken, oft sogar international. Das ist nicht zu kritisieren. Touristische und marketingtechnische Netzwerke werden in den meisten Kultureinrichtungen und -regionen jedoch konsequent vernachlässigt. Dabei zeigt schon die digitale Durchdringung, dass es auf allen Ebenen der Customer Journey nicht mehr ohne Partner geht.
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Zukunftsfähige kulturtouristische Netzwerke • führen ihr Thema mit den individuellen Bedürfnissen der Besucher zusammen; • ergänzen es durch motivgerechte, komplementäre Angebote; • inspirieren den Besucher durch die richtige Angebotskombination zur richtigen Zeit, sind demnach auch zielsituativ; • und nutzen individuelle Kommunikations- und Vertriebskanäle (vgl. Burzinski 2016: S. 39-46). Der Schlüssel zur Flexibilisierung des Angebots ist daher zweifelsfrei die Digitalisierung des Contents und eine Ausdifferenzierung der Kommunikations- und Austauschkanäle im oben skizzierten Sinne. Diese neuen Grundlagen müssen sich künftig jedoch auch in f luiden und agilen Austauschprozessen weiterentwickeln. Traditionelle Netzwerkstrukturen, etwa Vereine, Arbeitsgemeinschaften, manchmal auch GmbHs und die Tourismusorganisationen als Kümmerer und Koordinatoren, können dabei noch als Netzknoten dienen. Teams und projektgebundene Strukturen werden sich jedoch wesentlich schneller formieren und auch wieder auf lösen. Diese Prozesse müssen in digitalen Strukturen neu verstanden und erlernt werden.
Entschlackt die Strukturen und befreit die Kultureinrichtungen von ihren Fesseln Das möglicherweise größte Manko, das Kultureinrichtungen daran hindert, kulturtouristisch relevant zu bleiben, sind die traditionellen Strukturen, in denen sie arbeiten. Diese sind nach wie vor von Hierarchie geprägt. Wenn Museen und andere Kultureinrichtungen keinen Facebook- oder Instagram-Post absetzen dürfen, der nicht mehrfach gegengelesen und kontrolliert wird, führt das sämtliche Aktivitäten in digitalen Medien und auch das agile Netzwerken ad absurdum. Es ist dringend geboten, die Strukturen zu enthierarchisieren.
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Lange Entscheidungswege, falsche Ressourcengewichtungen, oft auch eine ablehnende Grundhaltung gegenüber dem Neuen, dem Digitalen lähmt – gerade im Kulturtourismus und Kulturmarketing. Dies ist um so verwunderlicher, als sich viele Kulturakteure, gerade auch in leitenden Positionen, nach wie vor als Avantgarde verstehen. Doch wo bleibt die Avantgarde, wenn es um die Chancen der neuen digitalen Möglichkeiten geht? Und hier geht es nicht nur um einige Besucher mehr oder weniger. Vielen ist die Tiefe, mit der neue Akteure, Start-ups, digitale Netzwerke, aber auch neue Kulturtechniken wie das Gaming disruptiv in gesellschaftliche Entwicklungen eingreifen, nicht bewusst. Wenn sich jedoch die nachwachsenden Generationen, angefangen mit den Millennials und alle nachfolgenden, von althergebrachten Kulturerfahrungen abwenden, kehren sie nur selten zurück. Es droht die Irrelevanz traditioneller Kultureinrichtungen in der öffentlichen und gesellschaftlichen Wahrnehmung. Wenn sich dies noch unheilvoll verbündet mit einer chronischen Unterausstattung und Ressourcenmangel, entsteht nicht selten ein Teufelskreis. Weniger Besucher, höhere Kosten, bei wachsendem Unverständnis gegenüber den immateriellen Werten und Wertschöpfungen von Kultur, führen zu einem erhöhten Rechtfertigungsdruck. Museen und andere Einrichtungen kämpfen permanent um ihre Existenzberechtigung und kreisen um sich selbst. Die eigentlichen Museumsfunktionen geraten ins Hintertreffen – und damit letztlich auch die Besucher. Möglicherweise ist die kulturtouristische Bedeutung hier eine nachrangige, vielleicht aber zeigen sich in ihrem Siechtum auch als erstes die gravierenden Herausforderungen, vor denen Kulturschaffende und Museen stehen.
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Literatur ARD/ZDF-Medienkommission (2018): ARD/ZDF-Onlinestudie. Siehe www.ard-zdf-onlinestudie.de/ (letzter Abruf: 28.05.2019). Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR): Über Raumbeobachtung. Siehe https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/ Raumbeobachtung/Ueber-Raumbeobachtung/ueberraumbeobachtung_node.html (letzter Abruf: 09.04.2019). Burzinski, Matthias (2016): »Die Renaissance der Kulturrouten. Wege, Ziele, Sackgassen«, in: KM Kultur und Management im Dialog, Nr. 110, 02.2016, S. 39-46. Stickdorn, Marc/Lawrence, Adam/Hormeß, Markus/Schneider, Jakob (2019a): Creating personas. Siehe https://www.thisisservice designdoing.com/-methods/creating-personas-2 (letzter Abruf: 27.05.2019). Stickdorn, Marc/Lawrence, Adam/Hormeß, Markus/Schneider, Jakob (2019b): Co-creating journey maps. Siehe https://www.thisisser vicedesigndoing.com/methods/journey-mapping (letzter Abruf: 27.05.2019). Tourismus NRW e.V. (2019): Innovationsprogramm KulturReiseLand NRW. Siehe https://www.touristiker-nrw.de/foerderpro jekte/innovationsprogramm-kulturreiseland-nrw/ (letzter Abruf: 09.04.2019).
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Heike Bojunga studierte Geschichte in Frankfurt a.M. und Berlin, ist seit 1998 Kommunikationsberaterin und seit 2008 Mitglied der Geschäftsleitung der »Internet- und Kommunikationsagentur Sandstein Kommunikation GmbH«. Sie ist spezialisiert auf die Themen Kulturvermittlung, Bildungsmarketing und Tourismus und berät vor allem Kultureinrichtungen und Destinationsmanagement-Organisationen. Matthias Burzinski ist seit 1995 als Berater, Autor, Journalist und Projektmanager im Tourismus-, Destinations- und Kulturmanagement tätig. Seit 2006 ist er Herausgeber und Geschäftsführer des touristischen Branchendienstes www.destinet.de, der auch als Netzwerkpartner im Kompetenzzentrum »Tourismus des Bundes« fungiert. Seit 2009 ist er zudem Leiter der Beratung in der »projekt2508 GmbH«. Dr. Heike Döll-König ist seit 2010 Geschäftsführerin des »Tourismus NRW e.V.«. Davor war die promovierte Germanistin seit 1989 in verschiedenen leitenden Positionen bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung tätig, unter anderem als Sprecherin des Arbeits- und des Wirtschaftsministeriums. Sie ist u.a. Mitglied im Präsidium des »Deutschen Tourismusverbandes« (DTV) und seit 2018 Mitglied des Beirats für Fragen des Tourismus der Bundesregierung. Dr. Katja Drews ist seit 2008 Kulturreferentin des Landkreises Holzminden und für das Kulturzentrum Weserrenaissance Schloss Bevern zuständig. Darüber hinaus ist sie regelmäßig Lehrbeauftrage an der
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Handbuch Kulturtourismus im ländlichen Raum
HAWK Hildesheim – Holzminden – Göttingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturtourismus und Kulturentwicklung im ländlichen Raum. Thomas Feil ist seit 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter des »dwif e.V,« seit 2003 Prokurist und seit 2010 stellvertretender GbR-Geschäftsführer der »Tourismusberatung dwif-Consulting GmbH«. Davor studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München Wirtschaft- und Sozialgeographie. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen angewandte Tourismusforschung, Destinationsmanagement und Organisationsberatung. Prof. Stefan Forster leitet seit 2007 den Forschungsbereich Tourismus und nachhaltige Entwicklung am »Institut Umwelt und Natürliche Ressourcen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften«. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind nachhaltige Regionalentwicklung in ländlichen Räumen, natur- und kulturnaher Tourismus und soziokulturelle Aspekte der Raumentwicklung. Prof. Dr. Andrea Hausmann ist seit 2017 Professorin am Institut für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Davor war sie von 2003 bis 2017 Professorin für Kulturmanagement an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und Leiterin des Masterstudiengangs »Kulturmanagement und Kulturtourismus«. 2008 war sie Visiting Professor an der University of Texas at Austin (USA) und 2017 an der Università degli Studi di Modena e Reggio nell’Emilia (Italien). Ihre Schwerpunkte in Forschung, Lehre und Beratungspraxis liegen im Kulturtourismusmarketing und im Personalmanagement von Kulturbetrieben. Philipp Holz ist seit 2017 Tourismusmanager bei der »Zugspitz-Region GmbH«. Nach einer Ausbildung zum Reisverkehrskaufmann studierte er Tourismus an der Hochschule München und Management
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
und Geographie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der University of Oulu. Dr. Yvonne Pröbstle ist Geschäftsführerin der 2013 gegründeten Agentur »KULTURGOLD« mit Sitz in Stuttgart. Sie beschäftigt sich mit den Potenzialen und Herausforderungen des Kulturtourismus. Weitere Arbeitsfelder liegen im Bereich der Kulturentwicklungsplanung sowie Evaluation und Besucherforschung. Die Kulturmanagerin ist darüber hinaus regelmäßig als Autorin, Dozentin und Referentin tätig. Prof. Dr. Verena Teissl ist seit 2010 Professorin für Kulturmanagement und Kulturwissenschaften an der FH Kufstein Tirol. Unter anderem war sie Mitbegründerin des Internationalen Film Festival Innsbruck, Projektleiterin bei der »Viennale – Internationales Film Festival Vienna« und Vorstandsmitglied des Fachverbandes Kulturmanagement. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen kulturmanageriale Praxis und Theorie, postkoloniale Theorien, Festival Studies und Kulturtourismus. Elke Witt ist Geschäftsführerin des Tourismusverbands »WelterbeRegion Anhalt-Dessau-Wittenberg e.V.«. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen im Bereich Tourismusmarketing für die vier UNESCO-Welterbestätten in der Region – Bauhaus Dessau, Luthergedenkstätten in Wittenberg, Gartenreich Dessau-Wörlitz und Biosphärenreservat Mittelelbe. Frau Witt ist Diplomgeografin und seit 1989 im Tourismus der Region tätig. Bis 1989 hat sie zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Umweltinstitut und später dann als Lektorin in einem naturwissenschaftlichen Verlag gearbeitet.
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Museum Anna Greve
Koloniales Erbe in Museen Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit 2019, 266 S., kart., 23 SW-Abbildungen, 4 Farbabbildungen 24,99 € (DE), 978-3-8376-4931-4 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4931-8
Bärbel Maul, Cornelia Röhlke (Hg.)
Museum und Inklusion Kreative Wege zur kulturellen Teilhabe 2018, 168 S., kart., 16 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4420-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4420-7 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4420-3
Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hg.)
Das Museum als Provokation der Philosophie Beiträge zu einer aktuellen Debatte 2018, 286 S., kart., 19 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4060-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4060-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Museum Andrea Kramper
Storytelling für Museen Herausforderungen und Chancen 2017, 140 S., kart., 15 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4017-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4017-9 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4017-5
Johanna Di Blasi
Das Humboldt Lab Museumsexperimente zwischen postkolonialer Revision und szenografischer Wende 2019, 292 S., kart., 16 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4920-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4920-2
Klaus Krüger, Elke A. Werner, Andreas Schalhorn (Hg.)
Evidenzen des Expositorischen Wie in Ausstellungen Wissen, Erkenntnis und ästhetische Bedeutung erzeugt wird 2019, 360 S., kart., 4 SW-Abbildungen, 77 Farbabbildungen 32,99 € (DE), 978-3-8376-4210-0 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4210-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de