Handbuch Islamische Religionspädagogik [1 ed.] 9783737013666, 9783847113669


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Handbuch Islamische Religionspädagogik [1 ed.]
 9783737013666, 9783847113669

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Ednan Aslan (Hg.)

Handbuch Islamische Religionspädagogik Teil 1

Mit 18 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Ednan Aslan, Kinder im islamischen Religionsunterricht. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1366-6

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Einführung Ednan Aslan Islamische Religionspädagogik: Geschichte und Gegenwart . . . . . . . .

17

Grundlagen der islamischen Erziehung und Bildung Ednan Aslan Erkenntnisquellen der islamischen Religionspädagogik

. . . . . . . . . .

43

Ednan Aslan Der Koran als Quelle der islamischen Religionspädagogik . . . . . . . . .

59

Tuba Is¸ık Die Bedeutung des Propheten Muhammad für die religiöse Bildung ˙

. . .

71

Anthropologische Grundlagen und Ziele der islamischen Erziehung und Bildung Zekirija Sejdini Anthropologische Grundlagen islamischer Bildungsvorstellungen und ihre Implikationen für die islamische Religionspädagogik . . . . . . . . .

83

Martin Kellner Bildbarkeit des Menschen im tafsı¯r – Elemente einer islamischen Anthropologie für den Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Khalid El Abdaoui Philosophie der islamischen Bildung: die drei Modelle . . . . . . . . . . . 129

6

Inhalt

Entstehung und Entwicklung der islamischen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen Yassir El Jamouhi A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur und die Anfänge der islamischen Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Yas¸ar Sarıkaya Die Rolle derʿulama¯ʾ in der islamischen Bildung und Erziehung

. . . . . 167

I˙lhami Güler Religiöse Autorität und menschliche Autonomie . . . . . . . . . . . . . . 185 Martin Kellner Die igˇa¯za als Synapse islamischer Bildung – Autorisierung und soziale Interaktion in muslimischen Lernkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Yas¸ar Sarıkaya Der Niedergang der traditionellen Erziehungsinstitution Medrese . . . . . 223

Islamische Erziehung und Bildung im Kontext der Institutionalisierung und Beheimatung des Islams in den pluralen Gesellschaften Europas Margit Stein / Veronika Zimmer / Rauf Ceylan Islamische Erziehung und Säkularisierung: Herausforderungen für muslimische Familien und den islamischen Religionsunterricht in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Meltem Kulaçatan / Harry Harun Behr Islamkunde und Rassismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Raida Chbib Angebote islamisch-religiöser Bildung in islamischen Organisationen und an staatlichen Bildungseinrichtungen in Deutschland . . . . . . . . . . . 293 Mouhanad Khorchide Die islamische Theologie an deutschen Universitäten am Beispiel des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster (ZIT) . . . . 315

7

Inhalt

Tarek Badawia »Wer ist bereit, diese ethischen Maximen zu übernehmen!?« Religionsethische Bildung im schulischen Islamunterricht . . . . . . . . . 335 Harry Harun Behr Islamischer Religionsunterricht zwischen religiöser, säkularer und identitärer Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Hacı-Halil Uslucan Die Formung des muslimischen Geistes: Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Asligül Aysel Religiöse Erziehung und Sozialisation in muslimischen Familien in Deutschland: Ein Blick in die bisherigen Forschungen und ihre Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Andreas Jacobs Die Institutionalisierung des Islams in Europa

. . . . . . . . . . . . . . . 425

Asligül Aysel Strukturelle und dynamische Prozesse um islamische Bildungsangebote in Schule und Universität am Beispiel von Deutschland . . . . . . . . . . . . 449

Der islamische Religionsunterricht im europäischen Kontext: Themen – Theorien – Problemfelder Abdel-Hakim Ourghi Die islamische Theologie und Religionspädagogik im westlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Ranja Ebrahim Der Koran im islamischen Religionsunterricht

. . . . . . . . . . . . . . . 503

Ulvi Karagedik Leitfaden zur Verwendung der Sunna im islamischen Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Naime Çakir-Mattner Genderkompetenz in der islamischen Theologie und Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545

8 Sara Kuehn Ästhetik im Islam

Inhalt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563

Dorothea Ermert Ästhetisches Lernen im islamischen Religionsunterricht . . . . . . . . . . 589 Ednan Aslan Frühkindliche Erziehung im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Betül Karakoç Moschee als pädagogischer Raum. Ein erweiterter Blick auf die religiöse Bildung und Erziehung in Moscheegemeinden . . . . . . . . . . . . . . . 631 Fahimah Ulfat Der Beruf der muslimischen Religionslehrkraft als Gegenstand islamisch-religionspädagogischer Theoriebildung und Forschung . . . . . 657 Vincent Biondo / Marcia Hermansen Islam und Citizenship . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Ayman K. Agbaria Islamische Erziehung zum religiösen Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . 691 Reza Hajatpour Theologische, philosophische und mystische Zugänge zur islamischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 Mizrap Polat Spiritualität als die Kompetenz der Verinnerlichung des Religiösen und Moralischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 Mizrap Polat Islamische Friedenspädagogik

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751

Evrim Ers¸an Akkılıç Islamische Erziehung und Radikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 Driss Tabaalite Der Islam im Dialog: Ein Streifzug durch die islamische Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Relevanz des Dialogs . . . . . . . . . . . 799

Inhalt

9

Fatima Cavis Interreligiöses und interkulturelles Lernen im islamischen Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 Jörg Imran Schröter Überlegungen zu einer islamischen Religionstheologie als Grundlage für das interreligiöse Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 Ednan Aslan Das Judentum im islamischen Religionsunterricht

. . . . . . . . . . . . . 865

Vorwort

Obwohl der Islam auf eine lange Wissenschaftsgeschichte zurückblickt, ist die islamische Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum eine junge Disziplin, erst im Begriff, sich mit einem eigenen Profil an den Universitäten zu verorten, um am wissenschaftlichen Entwicklungsprozess teilzuhaben und ihn mit einem eigenständigen Beitrag zu bereichern. Der Prozess der Etablierung der islamischen Religionspädagogik hat, nach einer langen Periode des Stillstands, nach den Ereignissen des 11. September 2001 rasant an Dynamik gewonnen, die schließlich in den politischen Beschluss mündete, die religiöse Erziehung muslimischer Kinder zu einer staatlichen Aufgabe zu machen. So wurden in Deutschland, Österreich und der Schweiz fast zeitgleich Standorte zur Ausbildung von Religionslehrer*innen eingerichtet – und damit Fakten geschaffen, die die personellen und fachlichen Ressourcen der Universitäten bzw. der muslimischen Organisationen zunächst einmal überforderten. Daher versuchten die neuen Standorte in der ersten Phase, ihren materiellen und personellen Bedarf mit Unterstützung aus dem Ausland zu decken. Die Verankerung der islamischen Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt zum Beispiel geht auf eine Stiftungsprofessur aus der Türkei zurück, und in Österreich wurde die Ausbildung islamischer Religionslehrkräfte in die Hände von arabischsprachigen Dozent*innen aus Ägypten gelegt. Dabei war die Einführung des islamischen Religionsunterrichts mit hohen Erwartungen seitens der Politik verbunden, insbesondere sollte er die Integration muslimischer Kinder und damit den Demokratisierungsprozess in der muslimischen Gemeinde im Allgemeinen vorantreiben und Fundamentalismus und Radikalisierung verhindern. Diese Erwartungen standen freilich im Gegensatz zu den Ansprüchen, die Menschen muslimischen Glaubens selbst an die religiöse Erziehung stellen: Ihnen geht es wesentlich darum, ihre Traditionen in welcher Umgebung auch immer weiterzupflegen und ihre muslimische Identität zu bewahren.

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Vorwort

Dies war also das Spannungsfeld, in dem es für die junge Wissenschaft der islamischen Religionspädagogik galt, sich in einem bis dahin wenig beachteten Bereich der akademischen Forschung und Lehre vor dem Hintergrund ihrer überlieferten Wissenschaftstradition im Kontext einer europäischen Wissenschafts- und Universitätskultur einzurichten und zu behaupten. Die dafür nötige Selbstreflexion konnte sich nun nicht mehr allein auf das eigene Selbstverständnis stützen, sondern musste über die eigene Theologie hinaus auch nichttheologische Wissenschaften mit einbeziehen. Das vorliegende Handbuch ist eine Kompilation von Beiträgen überwiegend muslimischer Religionspädagog*innen vor allem aus dem deutschsprachigen Raum, die aktiv am Aufbau der islamischen Religionspädagogik beteiligt sind und diese Pionieraufgabe an den verschiedenen Standorten unter nicht immer einfachen Verhältnissen übernommen haben. Somit spiegelt der Band auch die Lernprozesse wider, die die Autor*innen während deren Etablierungsphase an europäischen Universitäten durchlaufen haben. Das Buch möchte eine sinnvolle Handreichung für Lehrkräfte, Studierende und universitäre Einrichtungen sein, die sich theoretisch und praktisch mit der islamischen Religionspädagogik auseinandersetzen. Damit ist es als eine Einführung in die islamische Religionspädagogik zu betrachten. Der Band besteht aus sechs Teilen. Der erste Teil widmet sich der Geschichte der islamischen Erziehung, die für die Etablierung des Fachs von großer Relevanz ist – schließlich setzt die Reflexion der eigenen Tradition im Lichte der Moderne deren profunde Kenntnis voraus. Wie den Beiträgen zu entnehmen ist, geht die islamische Religionspädagogik nach wie vor äußerst behutsam mit der Tradition um – was gleichfalls als Ausdruck des Umstands gelten kann, dass sie sich in einer kritischen Phase eines neuen Wissenschaftsverständnisses befindet. Im zweiten Teil rücken die anthropologischen Grundlagen islamischer Bildungsvorstellungen und die damit verbundenen Konsequenzen für die religiöse Bildung ins Zentrum. Hierbei geht es insbesondere darum, das Menschenbild des Islams im Kontext einer pluralen Gesellschaft neu zu deuten. Die Entstehung und Entwicklung islamischer Bildungsinstitutionen sind Thema des dritten Teils des Bandes. Hier werden die ersten Werke zur islamischen Religionspädagogik und deren Akteure vorgestellt, die wichtige Hinweise zur Institutionalisierung des Islams in Europa geben (können). Nach diesem historischen Rückblick werden – im vierten Teil – aktuelle Fragen der islamischen Religionspädagogik diskutiert. Dabei wird deutlich, dass die gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Institutionalisierung des Islams in Europa steht, noch viele weitere innerislamische Debatten zur Erziehung muslimischer Kinder notwendig machen werden. Als direkt an den Entwicklungen Beteiligte versuchen die Autor*innen, Antworten auf jene Fragen zu

Vorwort

13

geben, die in der islamischen Bildungstradition noch nicht gestellt wurden oder nicht gestellt werden durften. Da das Hauptaugenmerk in diesem Handbuch dem islamischen Religionsunterricht gilt, erfolgt im fünften Teil eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Aufgaben des islamischen Religionsunterrichts. Neben den unhintergehbaren Quellen Koran und Sunna werden verschiedene andere Elemente der religiösen Erziehung in Europa thematisiert. Im letzten Teil des Buches werden diverse Modelle, Debatten und Berichte aus verschiedenen Ländern vorgestellt, in denen die islamische Erziehung auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Dabei wird ersichtlich, dass die Entwicklungen im Bereich der Religionspädagogik in westlichen Staaten in den islamischen Ländern aufmerksam verfolgt werden. Schließlich befindet sich die religiöse Erziehung in den islamischen Ländern in einem Wandlungsprozess, der vielfach mit heftigen Kontroversen unter den damit Befassten einhergeht. Diese Diskussionen haben keinen geringen Einfluss auf die Erziehungsvorstellungen von im Westen lebenden Muslim*innen und sind folglich auch für die europäische islamische Religionspädagogik von Relevanz. Aufmerksamen Leser*innen wird nicht entgehen, dass es sich bei einem Teil der Länderbeiträge um Übersetzungen aus anderen Sprachen handelt. Das liegt darin begründet, dass das Hauptkriterium bei der Auswahl der Autor*innen fundierte Sach- und Fachkenntnis war und wir die Beheimatung der islamischen Religionspädagogik und Theologie im deutschsprachigen Raum ja auch dadurch fördern wollen, dass wir sie auf ein entsprechendes sprachliches bzw. terminologisches Fundament stellen (dabei sind wir uns der Schwächen der Übersetzungen durchaus bewusst). Damit ein derart umfangreiches Projekt überhaupt zustande kommen kann, bedarf es unzähliger Beratungen und intensiver fachlicher Begleitung. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders meine Kollegin Tamara Nili-Freudenschuß erwähnen, die mich bei der Lektorierung der Beiträge unermüdlich unterstützt hat. Darüber hinaus danke ich meinen Kollegen Abdullah Takim und Martin Rothgangel für ihre wertvollen Hinweise zur Gestaltung dieses Handbuchs. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Frau Anette-Nida, die die Höhen und Tiefen, die eine solche Arbeit mit sich bringt, so gut kennt wie niemand anders und mir in all diesen Phasen immer zur Seite gestanden ist. Wien, Sommer 2021

Ednan Aslan

Einführung

Ednan Aslan

Islamische Religionspädagogik: Geschichte und Gegenwart

Zusammenfassung Anders als religiöses Lernen, bei dem es sich um ein Urphänomen der islamischen Praxis handelt, das seit jeher an unterschiedlichen Orten stattfand, ist die islamische Religionspädagogik eine relativ junge wissenschaftliche Disziplin, die sich erst im Zuge der Säkularisierung der islamischen Staaten herausbildete. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der Geschichte und Entwicklung der islamischen Erziehung auseinander. Er legt dar, auf welche Art und Weise und in welchem Rahmen islamische Erziehung erteilt wurde und wird und versucht, die Herausforderungen aufzuzeigen, mit denen sie sich konfrontiert sieht. Des Weiteren stellt der Beitrag die wichtigsten Institutionen der islamischen Religionspädagogik in Deutschland und Österreich vor und beleuchtet dabei auch die gesellschaftlichen Hintergründe, die ihre Entstehung begünstigten. Was in diesem Bereich schon erreicht wurde, wird ebenso benannt wie das, wo noch Handlungsbedarf besteht. In diesem Zusammenhang sind insbesondere der übermächtige Einfluss der islamischen Theologie und das Wirken von Akteuren aus den Herkunftsländern der Migrant*innen zu nennen, welche die Entfaltung der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum erschweren und es umso wichtiger erscheinen lassen, die Schüler*innen mit Pluralität zu konfrontieren und sie dazu zu ermutigen, sich kritisch mit der Tradition auseinanderzusetzen. Um dies leisten zu können, gilt es für die islamische Religionspädagogik, sich im deutschsprachigen Raum ein eigenes Profil zu erarbeiten und neue wissenschaftliche Ansätze zu entwickeln.

1.

Was macht eine Erziehung islamisch?

Im Koran finden sich keine eindeutigen Aussagen dazu, wie eine islamische Erziehung beschaffen sein müsse, und auch der Prophet sprach keine konkreten Empfehlungen für die Erziehung muslimischer Kinder aus. Wiewohl Religiosität

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Ednan Aslan

und Glauben die zentralen Themen von Koran und Sunna sind, bleibt ihre Ausgestaltung Aufgabe des Menschen. Zu Lebzeiten des Propheten und zur Zeit der ihm nachfolgenden vier Kalifen war die Moschee das Zentrum des religiösen Lernens für Männer und Frauen (Shalaby 1954). Diese Art von Erziehung zielte darauf ab, Gott in der Schöpfung zu erkennen und ihn zu lobpreisen, auf dass dem Menschen sowohl im Diesseits als auch im Jenseits ein glückliches Leben beschert werde. Als Berufungsinstanzen dienten dieser Erziehung einzelne Antworten Gottes (wahy) und prak˙ tische Ratschläge des Propheten. Mit einer Erziehung nach Koran und Sunna im heutigen Sinne hatte dies wenig zu tun, lagen doch beide noch lange nicht als abgeschlossene Quellen vor; tatsächlich sollten beide Quellen ihre heutige Form erst im Lauf der Zeit – entlang der aus der Lebenspraxis der Menschen erwachsenden Fragen – annehmen. Seit seiner Verkündigung lag es im Interesse der muslimischen Gemeinschaft, den Islam zu verbreiten und die Anhänger*innen anderer Religionen zum Islam zu bekehren (van Ess 1991). Mit der Verkündigung des Islams hielt eine neue Lerntradition auf der Arabischen Halbinsel Einzug, die beanspruchte, die Religion bzw. die religiöse Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen und persönlichen Identitätsmerkmal zu machen und den Menschen eine Orientierung in der Gestaltung ihrer Zukunft zu bieten. Unter den Kalifen wurden in allen Hauptorten der eroberten Regionen – Damaskus, Basra, Kufa, Kairo sowie im Iran – zentrale Moscheen errichtet, in denen nach dem Vorbild des medinensischen Modells Lernzirkel eingerichtet wurden, die sich insbesondere dem Studium des Korans und der Sunna des Propheten widmeten. Neben den Moscheen entstanden speziell für Kinder Elementarschulen (al-kutta¯b). Der zweite Kalif, ʿUmar, gab sogar Anweisungen bezüglich der Lehrinhalte, die Kindern an diesen Schulen vermittelt werden sollten (Saqeb 1992, S. 6). Während der Regierungszeit von ʿUmar wurden die muslimischen Kinder von christlichen Lehrkräften aus Hire unterrichtet und insbesondere im Schreiben und Lesen unterwiesen (al-Bala¯dhurı¯, X. S. 432–433). Für den Koranunterricht entsandte der Kalif Lehrkräfte aus Medina in die neueroberten islamischen Gebiete. Damit einhergehend ergab sich der Bedarf, diese Gebiete mit authentischen Koranexemplaren zu beliefern, um sowohl die Lehrkräfte als auch den Text des Korans gegen regionale Einflüsse zu feien. In dieser Phase der islamischen Geschichte existierten die Kutta¯b-Schulen neben den Moscheen als Orte der Alphabetisierung von Kindern (Dag˘ & Öymen 1974, S. 67). Die Umayyaden-Zeit war eine äußerst kritische Periode der islamischen Geschichte, in der aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Bildung und Erziehung in den Hintergrund traten. Zwar blieben die traditionellen Moscheen und Moscheezirkel weiterhin bestehen, für die islamischen

Islamische Religionspädagogik: Geschichte und Gegenwart

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Gelehrten aber wurde es immer schwieriger, sich dem massiven politischen Druck und der Verfolgung durch die Umayyaden-Kalifen zu entziehen und die islamische Lehre uneingeschränkt und frei von äußeren Zwängen zu praktizieren. In dieser Zeit blühten die Lehrzirkel um bestimmte Gelehrte und Geistesgrößen vor allem in Städten wie Mekka, Medina, Basra and Kufa auf. Gelehrte begannen sich in bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen wie Koran- oder Hadithwissenschaft zu spezialisieren, an Hochschulen fanden die ersten philosophischen Disputationen statt, die vor allem von den säkularen Wissenschaften der Griechen, Byzantiner und Hindus, der Chinesen und dem Nachlass der altägyptischen Zivilisation inspiriert wurden. Einer der Ersten, die sich für die griechische Philosophie interessierten, war ein Umayyaden-Prinz, der auch Bücher aus anderen Sprachen übersetzen ließ (Aras 2017). Die Übersetzung und anschließende Veräußerung von Schriftrollen oder Büchern waren für jene, die sich darauf verstanden, eine einträgliche Verdienstquelle; die Araber übersetzten in ihrer Wissbegier alles, was sie an Literatur auftreiben konnten (so wurden nach dem Brand der großen Bibliothek von Alexandria Unmengen an Schriftgut und altertümlichem Wissen der Europäer gerettet). Typischerweise fand zu jener Zeit die Erziehung ebenso außerhalb der Moscheen, in den Wohnungen von Gelehrten und Privatpersonen, auf Marktplätzen, in Bücherläden oder Bibliotheken, statt. Innerhalb der Moscheen wurden Kutta¯b-Schulen für die muslimischen Kinder und außerhalb Kutta¯b-Schulen sowohl für die christlichen als auch die muslimischen Kinder gegründet; an Letzteren waren auch jüdische oder christliche Lehrkräfte beschäftigt (Saqeb 1992, S. 6). Historischen Berichten zufolge wurden an solchen Schulen bisweilen mehr als 3.000 Schüler*innen unterrichtet. Über den genauen Inhalt der damaligen Curricula ist wenig bekannt, als sicher gilt jedoch, dass die Schüler*innen neben dem Koran auch Hadithe lernten. Alle Schüler*innen besaßen eigene Schreibtafeln, die nach dem Unterricht in besonderen sakralen Behältern gewaschen wurden; da auf den Tafeln Koranverse standen, wurde das Wasser anschließend in ein Grab geschüttet (vgl. Aycan et al. 2003, S. 58). Die damalige arabische Kultur war der iranischen und der byzantinischen Kultur zweifellos unterlegen. Bis zum Beginn des Kalifats von Hisˇa¯m (724–743) waren Griechisch und Persisch die offiziellen Verwaltungssprachen, daher waren die Kalifen der Umayyaden verhältnismäßig ungebildet (van Ess 1991, S. 3, 93). Angehörige der Umayyaden-Dynastie, die nach dem Niedergang verhaftet worden waren, gaben, nach den Ursachen des Niedergangs gefragt, die Vernachlässigung der Bildung und Erziehung ihrer Kinder an (Dag˘ & Öymen 1974, S. 80). In der Periode der Abbasiden- und der Seldschuken-Dynastie (750–1140) nahm die islamische Wissenschaft neue Gestalt an. Besonders hervorzuheben ist die Rolle der Kalifen Ha¯ru¯n ar-Rasˇ¯ıd und al-Maʾmu¯n ar-Rasˇ¯ıd in dieser Phase.

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Ednan Aslan

Al-Maʾmu¯n gründete sein berühmtes Bait al-Hikma (»Haus der Weisheit«) zur ˙ Förderung der rationalen Philosophie und weiterer Wissenschaften, um damit das Fundament für islamische Bildung und Kultur zu legen. Die Gründung der islamischen Universität (al-Madrasa al-Niza¯mı¯ya) in der zweiten Periode der ˙ Dynastie (1050–1140) verhalf der im sunnitisch geprägten Teil der islamischen Welt vermittelten Bildung zu einer neuen Qualität. Da¯r al-Hikma (»Ort der ˙ Weisheit«) in Kairo, die heutige al-Azhar, war in der Gründungsphase eine schiitisch orientierte Universität, welche später in eine sunnitische Universität umgewandelt wurde. Die islamische Erziehung entwickelte sich zu einem umfassenden System und verbreitete sich in allen Teilen der islamischen Welt. Wichtige Zentren der islamischen Bildung entstanden etwa in Delhi, Ghazni, Isfahan, Buchara und Bagdad. An den Universitäten wurden neben der Theologie auch Philosophie, Grammatik, Rhetorik, Literatur (Poesie und Prosa), Koranexegese, Koranrezitation, Hadithwissenschaften, Jurisprudenz und Theologie gelehrt (Shalaby 1954). Die Osmanen (1299–1920) verfügten über ähnliche Bildungseinrichtungen wie die Abbasiden- und die Seldschuken-Dynastie. Die Schulpflicht für Kinder wurde erst im 19. Jahrhundert eingeführt, davor war die elementare Bildung freiwillig und ein Privileg bestimmter Familien. Kinder traten im Alter von fünf bzw. sechs Jahren in die Sıbyan Mektebi (Kinderschule) ein, in der sie den Koran zu lesen und zu schreiben lernten. Zwar war deren Besuch auch Mädchen erlaubt, die Eltern bevorzugten es aber, ihre Töchter zu Hause zu unterrichten – der Weiterbildung des weiblichen Nachwuchses wurde wenig Bedeutung beigemessen (Güven 2004, S. 71). Nach der Grundausbildung hatten Schüler*innen die Möglichkeit, in bestimmten Zentren mada¯ris mit verschiedenen Schwerpunkten zu besuchen (Ipsirli 2003). Das Erziehungssystem dieser Zeit lässt sich in zwei Stufen einteilen: In der ersten Stufe lernten die Kinder an den Kutta¯b-Schulen das Schreiben und Lesen, dazu gehörte auch die Kenntnis bzw. das Auswendiglernen des Korans. In der zweiten Stufe ging es um eine umfassende Bildung mit dem Ziel, die Kinder mit der islamischen Lehre und mit weiteren Wissenschaften tiefer vertraut zu machen. Kutta¯b oder maktab waren Schultypen, die bereits in der Frühzeit des Islams bekannt und in jener Zeit in fast jedem Dorf anzutreffen waren. Als Vorbild hatten der muslimischen Gemeinde die iranischen oder byzantinischen Schulen gedient. Im Zuge der Verbreitung des Islams wurde diese Art von Schulen auch an anderen Orten bekannt. Zu beachten ist, dass es sich bei der al-kutta¯b für den Koran und der al-kutta¯b für das Schreibenlernen um verschiedene Schultypen handelte. Ibn Battu¯ta schrieb dazu: ˙˙ ˙

Islamische Religionspädagogik: Geschichte und Gegenwart

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»Der Schreiblehrer unterscheidet sich vom Koranlehrer. Der Erstere verwendet Gedichte und anderes Unterrichtsmaterial für seinen Unterricht. Dieses Material kann der Koranlehrer aus Respekt vor dem Koran nicht verwenden. Nach dem Koranlernen konnte das Kind mit dem Schreibenlernen anfangen.« (Shalaby 1954, S. 18)

Eine bedeutende Rolle bei der Bildung spielten des Weiteren Buchläden, eine Institution, deren Anfänge auf die Zeit der Abbasiden zurückgehen und die sich sehr schnell in den muslimisch besiedelten Städten verbreitete (al-Yaʿqu¯bı¯ erwähnt hundert Buchläden allein in einem Stadtteil von Bagdad), sowie die von Gelehrten für die Bildung der Studierenden zur Verfügung gestellten Privathäuser. An den geistigen Auseinandersetzungen nahmen immer wieder auch die Könige und das Personal des königlichen Hofes teil (Shalaby 1954). Nach Abschluss der Grundausbildung spielten die Moscheen weiterhin eine zentrale Rolle in der theologischen Ausbildung. In den Moscheen bildeten die Studenten einen halaqa (Lernkreis) um die Gelehrten, welche sie selbst aus˙ wählen durften – eine Tradition, die sich in allen Teilen der islamischen Welt ˇ ubair gab es allein in Alexandria über 12.000 Moscheen verbreitete. Laut Ibn G ˇ (Ibn-Gubair 1992, S. 43). Derartige Lernkreise wurden von allen berühmten Rechtsgelehrten der islamischen Rechtsschulen unterhalten (Shalaby 1954, S. 50). Neben Koran und Sunna wurden in diesen Moscheen auch Recht und Astronomie, arabische Poesie sowie arabische Grammatik unterrichtet (asSuyu¯t¯ı 1321, II, S. 137). ˙ Ab dem elften Jahrhundert büßten die mada¯ris ihre wissenschaftliche Dynamik allmählich ein, doch es sollte bis zum 17. Jahrhundert dauern, dass dieser Stillstand als solcher wahrgenommen wurde. Damals setzte sich vor allem die Einsicht durch, dass die Wissenschaft in den islamischen Ländern hinter den wissenschaftlichen Entwicklungen des sogenannten Westens zurücklag. Obgleich an dieser Stagnation der mada¯ris mehrere Faktoren beteiligt waren, lag der Hauptgrund darin, dass politische Interessen über wissenschaftlichen Erkenntnisdrang gestellt wurden. Versuche, die mada¯ris parallel zu den wissenschaftlichen Entwicklungen im Westen zu reformieren, sollten erfolglos bleiben. Sämtliche diesbezüglichen Bestrebungen vonseiten der Politik scheiterten am Widerstand der Gelehrten, die dem Vorwurf der wissenschaftlichen Rückständigkeit mit theologischen Argumenten zu begegnen versuchten. Damit war das goldene islamische Zeitalter, das vom zehnten bis ins 13. Jahrhundert andauerte, zu Ende. Ab dem 13. Jahrhundert verlor der in einer Atmosphäre der Toleranz und Gelehrsamkeit aufgekommene intellektuelle Schwung nach und nach seine Kraft. Ende des 18. Jahrhunderts hatten die wissenschaftlichen Entwicklungen in Europa die islamische Welt längst hinter sich gelassen; diese vermochte es weder, ihre geistige Niederlage aus eigener Kraft zu über-

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Ednan Aslan

winden noch aus den Entwicklungen im Westen zu lernen, geschweige denn, sie aufzuholen. Wiewohl es in beinahe allen islamischen Ländern Ansätze gab, die Bildungssysteme nach westlichem Muster zu reformieren, sollte es nur wenigen Ländern gelingen, aus diesen Reformen wirklich kontextorientierte Bildungskonzepte für die Zukunft ihrer Länder zu entwickeln. Unter diesen stellt die Türkei eine Ausnahme dar, weil das Land gleich nach dem Ersten Weltkrieg seine Unabhängigkeit erlangte und mit großer Härte daran ging, das Bildungssystem zu säkularisieren. Sämtliche religiösen und traditionellen Bildungseinrichtungen wurden verboten, die religiöse Erziehung unter staatliche Kontrolle gestellt. In verschiedenen Phasen wurden theologische Fakultäten gegründet, an denen Konzepte für religiöse Reformen und die Säkularisierung von Inhalten erarbeitet werden sollten. Viele Reformen scheiterten jedoch am Widerstand der Bevölkerung, die aus verschiedenen Gründen nicht bereit war, ihre Traditionen und Gewohnheiten ohne Weiteres abzulegen. So kam es zu Spannungen zwischen dem Religionsverständnis des Staates und jenem des unter Identitätsverlust leidenden und verängstigten Volks, als deren Folge das Verhältnis des Volkes zum Staat bis heute von Misstrauen geprägt ist.

2.

Die Entstehung der Religionspädagogik als wissenschaftliche Disziplin

Die religiöse Erziehung in den islamischen Ländern lässt sich nicht getrennt von den herrschenden politischen Systemen betrachten, in denen Mündigkeit und Autonomie im politischen und religiösen Denken oftmals als eine Bedrohung der Gesellschaftsordnung wahrgenommen werden. Dementsprechend gab und gibt es in diesen Ländern auch keine Bildungskonzepte, die die Menschen ermutigt hätten, Bürgerrechte einzufordern und sich als Individuen zu behaupten (Waghid & Smeyers 2014). Bei allem gesellschaftlichen Druck, die Stellung der Religion – aus der zahlreiche Herrscher ihre Legitimität ableiteten – in der Gesellschaft zu schützen bzw. zu kontrollieren, waren sich eben diese Herrscher dessen bewusst, dass die traditionelle Rolle der Religion unter den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht aufrechtzuhalten sein würde. So sah man sich bei den umfassenden Reformversuchen in den islamischen Ländern immer wieder mit der Frage konfrontiert, welche Stellung die Religion in den nunmehr säkularen Staaten einnehmen sollte (Rahman 1982, S. 141). Freilich ging es in diesen Debatten in erster Linie um die Neuformierung des Islams und weniger um religionspädagogische Fragen.

Islamische Religionspädagogik: Geschichte und Gegenwart

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Als eine der jüngsten wissenschaftlichen Disziplinen hat die Religionspädagogik erst nach den 1980er-Jahren langsam begonnen, eine eigenständige Form anzunehmen; erst nach der Einrichtung der unter dem Einfluss westlicher Modelle entstandenen theologischen Fakultäten erwachte das Bedürfnis, sich neben den dominierenden klassisch-theologischen Fächern auch mit Modellen der religiösen Erziehung zu befassen. Die Etablierung der islamischen Religionspädagogik als wissenschaftliches Fach in den islamischen Ländern kann also nicht unabhängig von den Entwicklungen, die sich an westlichen Universitäten vollzogen, betrachtet werden (Asikoglu 2020). Wiewohl man in Bildungsdebatten darin übereinkam, dass religiöse Erziehung nicht mehr allein auf Grundlage herkömmlicher Bildungs- und Erziehungsvorstellungen weitergeführt werden könne, gab es auf der Suche nach neuen Wegen zur Verankerung der Religionspädagogik an den theologischen Fakultäten kaum Alternativen zu westlichen Modellen, die sich aus der eigenen Geschichte ableiten hätten lassen (Asikoglu 2020).

2.1

Islamische Religionspädagogik

Wie bereits angedeutet, entstand die islamische Religionspädagogik in Reaktion auf die in den nunmehr säkular verfassten islamischen Staaten herrschenden neuen Bedingungen und in der Absicht, die Religion den geänderten Lebensverhältnissen anzupassen. Dabei, so der Konsens, konnte sich die islamische Lehre nicht darin erschöpfen, die Glaubenswahrheiten des Islams weiterzugeben. In diesem Prozess ging es um die Frage, wie sich die islamische Religionspädagogik auf die neuen Entwicklungen in den Humanwissenschaften wie Pädagogik und Psychologie einlassen bzw. aus den Erfahrungen anderer Religionen lernen könne, ohne mit der eigenen Tradition vollkommen zu brechen. Demnach sollte der Religionspädagogik als Wissenschaft die Aufgabe zukommen, Lern- und Bildungsprozesse im Kontext verschiedener Lernorte wie Schulen, Moscheen und weiterer religiöser Bildungseinrichtungen aus der eigenen Tradition heraus zu reflektieren und Theorien zur praktischen Bewältigung dieser Aufgabe zu entwerfen. Die Fachdidaktik des Islams nimmt die besonderen Faktoren der religiösen Erziehung an den staatlichen Schulen in den Fokus und setzt sich mit der Auswahl und Begründung religiöser Inhalte, mit Adressat*innen der religiösen Erziehung, Schüler*innen, Lehrer*innen, Methoden und den Orten der religiösen Erziehung auseinander (Kunstmann 2020, S. 13). Insofern als sie als theologisches Fach am stärksten von gesellschaftlichen Veränderungen betroffen ist und daher auch mehr als die Schulen umfasst (weil andere Lernorte der religiösen Erziehung des Islams auf die Leistungen der Religionspädagogik angewiesen sind), kann die Religionspädagogik als Motor

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der islamisch-theologischen Reformbemühungen angesehen werden. Mit den Lebensverhältnissen ändert sich auch der traditionelle Zugang zum Islam. Dank ihrer Interdisziplinarität verknüpft die islamische Religionspädagogik die klassischen Positionen der islamischen Theologie mit den Fragen der Gegenwart, im Bemühen, auf die Lebenswelt der Menschen muslimischen Glaubens mit adäquaten Antworten zu reagieren. 2.1.1 Was will die islamische Religionspädagogik? Islamische Religionspädagogik hat die Aufgabe, muslimische Kinder und Jugendliche insbesondere an den staatlichen Schulen nach islamischen Prinzipien religiös (at-tarbiya al-isla¯miyya, al-dı¯niyya) zu erziehen. In diese Erziehung fließen alle islamischen Idealvorstellungen bis hin zur Erlangung von Vollkommenheit ein. Islamische Erziehung soll die jungen Menschen dazu befähigen, im Einklang mit Koran und Sunna zu leben, ihren Glauben zu stärken, ihr Leben gemäß islamischen Werten zu gestalten, ihnen dabei helfen, Teil der Gemeinschaft zu werden, den Menschen nützlich zu sein, Harmonie zwischen Fühlen und Handeln herzustellen. Lebenslanges Lernen steht dabei im Zentrum, schließlich besteht das Ziel der islamischen Erziehung in der Vervollkommnung des Menschen nicht nur im irdischen Dasein, sondern auch mit Blick auf das Jenseits (Suripto 2018). So etwa besteht eine wesentliche Erwartung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich an den islamischen Religionsunterricht – neben einer soliden religiösen Ausbildung – in der Förderung der Identität, der Integration, des Selbst- und des Verantwortungsbewusstseins junger Menschen und der Entwicklung eines toleranten Umgangs mit Vielfalt (derislam.at 2020). Kaum weniger anspruchsvoll als diese idealen Vorstellungen sind die politischen Erwartungen an die islamische Erziehung. Islamische Erziehung soll aus den Kindern gute Bürger*innen machen, welche die Gesetze achten, dem Land dienen, sich für die Interessen des Landes einsetzen, bis hin zur Bereitschaft, für die nationalen Interessen ihr Leben zu opfern. Im europäischen Kontext kommen noch weitere Erwartungen an die islamische Erziehung hinzu, etwa jene, dass die Schüler*innen die Integrationsbemühungen des Staates unterstützen, dem wachsenden Fundamentalismus entgegentreten, die besondere Bedeutung der Landesverfassung verinnerlichen und selbstverständlich ihre Kenntnisse der Landessprache kultivieren (Uslucan 2011). All diese Forderungen sagen wenig darüber aus, wer das zu erziehende Subjekt eigentlich ist und ob die jungen Menschen tatsächlich in der Lage bzw. willens sind, all diesen Vorstellungen zu entsprechen (Smeyers 2012).

Islamische Religionspädagogik: Geschichte und Gegenwart

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2.1.2 Was kann islamische Religionspädagogik leisten? Den unterschiedlichen Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht muss sich die islamische Religionspädagogik stellen, um an ihnen zu wachsen. Wie weit ihr das gelingt, hängt von bestimmten Voraussetzungen ab. 2.1.2.1 Wo findet die religiöse Bildung statt? In Europa wird der Islam nach wie vor weitgehend von den religiösen Vorstellungen von autochthonen muslimischen Gemeinden geprägt. Mit anderen Worten haben Menschen mit Migrationshintergrund nicht tatenlos auf das Kommen des Religionsunterrichts gewartet, sondern eine solide religiöse Infrastruktur etabliert. Diese Strukturen pflegen weiterhin eine enge Beziehung zu den jeweiligen Herkunftsländern, die auf die Ausübung der Religion mit wachsender Professionalität Einfluss nehmen. So wurden Hinterhofmoscheen von modernen, deutlich sichtbaren, aufwändig gestalteten kostspieligen Moscheen in den Ballungszentren Europas abgelöst, die nicht ausschließlich Orte des Gebets, sondern auch Zentren für die religiöse Erziehung muslimischer Kinder sind. Darüber hinaus gibt es zahlreiche private islamische Schulen, welche sich als Alternative zu staatlichen Schulen anbieten und bei muslimischen Eltern auf großes Interesse stoßen. »Leider besuchen viele Kinder anschließend aus Mangel an islamischen Alternativen öffentliche Schulen ohne islamische Umgebung und Erziehung. Besonders groß und gefährlich ist die Lücke für 10–15-jährige Kinder, da in Wien keine anspruchsvolle islamische Haupt- oder Mittelschule zur Verfügung steht. Unser Ziel ist es, die muslimischen Kinder auch nach dem Kindergarten und ganz speziell im pubertären Alter zu betreuen und sie mit Allahs Hilfe auf ihr weiteres Leben vorzubereiten.« (Prospekt der Muhammad-Asad-Schule in Wien 2017)

Der Erfolg einer islamischen Religionspädagogik, die sich als eine Theorie der Praxis versteht, hängt davon ab, ob es ihr gelingt, ihre Voraussetzungen und Bedingungen im europäischen Kontext realistisch wahrzunehmen. Islamische Religionspädagogik braucht sowohl die erkennbare theologische Zuordnung als auch die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Reflexion des Kontexts, in den muslimische Kinder in einer durch Migration geprägten, pluralen Gesellschaft eingebettet sind. Dazu bedarf sie einer neuen wissenschaftlichen Grundlage und der pluralen Ausrichtung auf die Sozialwissenschaften wie Soziologie, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Psychologie usw. Von dieser Neuorientierung ist selbstverständlich auch die islamische Theologie tangiert, weil die Bedingungen der Praxis, welche die islamische Religionspädagogik zu verstehen und zu analysieren hat, sie beständig herausfordern müssen und werden. Das ist auch deshalb notwendig, weil die Art von Religiosität, die in den Moscheen gepredigt wird, im Alltag der Muslim*innen wenig Platz hat. Eine menschenorientierte

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Theologie kann nur wirken, wenn sie die unterschiedlichen Lebensweisen der Muslim*innen in Europa kennt. Die Auffassung, die junge Muslim*innen von ihrer Religion haben, steht jener der Elterngeneration oftmals diametral entgegen; manche Wissenschaftler*innen verstehen die Islamisierung sogar als Revolte gegen die alten religiösen Traditionen des Islams (Weiss, Ates & Schnell 2016, S. 3). Auf die Fragen der jungen Menschen, die der Islam aus der eigenen Tradition nicht kennt, muss die islamische Religionspädagogik Antworten finden. Auf der Suche danach wird man verschiedenen Formen der Religiosität innerhalb der islamischen Gemeinschaft begegnen. Gemäß den Empfehlungen der empirischen Studie von Aslan, Kolb & Yildiz zum Wandel, dem sich Muslim*innen in Österreich unterworfen sehen, ist die islamische Theologie angehalten, »in die real existierende Welt der Menschen muslimischen Glaubens einzutauchen, um den Wandel in deren religiösem Denken zu verstehen – allein auf Grundlage der islamischtheologischen Normativität lassen sich die sozialen Phänomene nicht deuten. Für die islamische Theologie bedeutet das auch, ihr traditionelles Instrumentarium in die Richtung empirischer Theologie zu erweitern bzw. sich interdisziplinär zu verorten. Die klassische Gelehrsamkeit einzelner Denker, die althergebrachten Schablonen von halal und haram reichen nicht aus, um komplexe Phänomene und Veränderungen wahrzunehmen, geschweige denn, sie zu erklären« (Aslan, Kolb & Yildiz 2017, S. 458). Dass die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition des Islams bei Schüler*innen Verunsicherung und Verwirrung verursachen kann, versteht sich von selbst. Dass die Lernenden mit Pluralität konfrontiert und aufgefordert sind, sich eine eigene Meinung zu bilden, sollte jedoch immer im Fokus pluralistischer Erziehung bleiben. In diesem Prozess geht es darum, zu lernen, dass die Pluralität nicht eine bloße Gegebenheit ist, sondern die niemals endende Herausforderung zur Selbstreflexion und zum gesellschaftskritischen Blick als Teil der Persönlichkeit. Dies kann auch dazu führen, dass Schüler*innen auf diesem Weg immer wieder neue Entscheidungen treffen. Die Welt immer wieder aus einer anderen Perspektive zu betrachten, sollte als Beweis einer dynamischen Identität begriffen werden. Ohne diese Reflexion könnte sich Pluralität als bloßes Oberflächenphänomen erweisen, dem keinerlei verinnerlichte pluralistische Überzeugung zugrunde liegt. Der Umgang mit Pluralität aber will gelernt sein, andernfalls mündet sie in Relativismus oder Extremismus. Eine gesunde und ausgeglichene Identität kann nur aus einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition, dem eigenen Umfeld und sich selbst entstehen. Der islamische Religionsunterricht bietet dabei die geeignete Atmosphäre, in der die Schüler*innen sich nicht nur mit den allseits geteilten, sondern auch mit

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konkurrierenden Ideengeschichten des Islams beschäftigen und daraus ihre eigene Orientierungsgrundlage beziehen. Innerislamische Pluralität und gesellschaftliche Vielfalt fügen sich nicht immer zu einem stimmigen Mosaik zusammen. So mögen die nachprophetischen Kriege, die Selbstzerstörung der saha¯ba des Propheten, mihna (Inquisi˙ ˙ ˙ tion) und viele andere Ereignisse Schüler*innen durchaus befremden oder ernüchtern, wenn nicht sogar ihres glorifizierten Leitbilds berauben, das ihnen seit jeher vermittelt wurde und das sie sich zu eigen gemacht haben; schlimmstenfalls schreiten sie zu dessen verbissener Verteidigung. Aber ohne diese dynamische Begegnung kann der ¯ıma¯n (Glaube) nicht verinnerlicht werden. 2.1.2.2 Kann der Glaube gelernt werden? Wenn der Glaube nicht verfügbar ist, wie soll man ihn dann lernen? Diese Frage ist nicht neu und ist seit der Offenbarung des Islams im siebenten Jahrhundert immer wieder gestellt worden. Der Begriff ¯ıma¯n, der im Koran als Synonym für den Glauben verwendet wird, ist wörtlich das Gegenteil von Angst und bedeutet »sich sicher und geborgen fühlen« (Ibn Manzu¯ r 1981). In der islamischen ˙ Theologie meint ¯ıma¯n eine Zufriedenheit des Herzens. Mit dem Glaubensbekenntnis ˇsaha¯da kann dem Koran zufolge der Islam als Religion, nicht jedoch der Glaube angenommen werden; der Glaube kann nur als ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit erfahren werden. Nach Fazlur Rahman bedeutet ¯ıma¯n »›feel secure in a person‹ or ›feel no interference in a person‹. In this sense, it is the same as the term ›muthma’inn‹ ie, ›a person who is relieved and satisfied in himself‹. The meaning of the term îmân is used in the sense of ›storing something to others for safety‹ (trust)« (Maraimbang, Harahap & Drajat 2019). Fazlur Rahman definiert den Islam ebenso wie ¯ıma¯n als »feel safe«, »intact«, »integrated« (Maraimbang, Harahap & Drajat 2019). Aus diesem Grund warnt der Koran davor, den Eintritt in den Islam als Institution mit ¯ıma¯n zu verwechseln: »Die Beduinen sagen: ›Wir haben Glauben erlangt.‹ Sag (zu ihnen, o Muhammad): ›Ihr habt (noch) nicht Glauben erlangt‹; ihr solltet (vielmehr) sagen: ›Wir haben uns (äußerlich) ergeben‹ – denn (wahrer) Glaube ist in eure Herzen noch nicht eingezogen« (Koran 49:14, in der Übersetzung von Asad). Wenn der Glaube also keine Institution und daher nicht erlernbar und erfassbar ist, weil das Seelenheil des Menschen und die ewige Seligkeit im Jenseits nur durch innere Zufriedenheit und persönliche Kommunikation mit Gott erlangt werden, ergibt sich die Frage, worin dann die Aufgabe der Religionspädagogik besteht. Schweitzer gibt darauf die Antwort, dass die Religionspädagogik die Kinder zum Glauben erziehen und bilden kann (Schweitzer 2006, S. 124). Der Koran bezeichnet sich selbst als hida¯ya (Rechtleitung) für jene Menschen, die ihr

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Leben in Kommunikation mit Gott gestalten möchten. Der Mensch benötigt die göttliche Rechtleitung, welche ihm durch eine Anzahl von Quellen zuteilwird. Die oberste Quelle göttlicher Rechtleitung ist Gott selbst, danach folgt die menschliche Verantwortung. Die göttliche Rechtleitung setzt voraus, dass der Mensch willens ist, Gottes Führung anzunehmen.

3.

Lage der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachen Raum

Mit der wachsenden Präsenz von Angehörigen des muslimischen Glaubens und deren Symbolen in der Gesellschaft ist auch die Frage nach der Zukunft der Muslim*innen in Europa immer mehr ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt. In dieser Debatte nehmen die Erziehung und die Bildung der muslimischen Kinder, die das Bildungssystem mit all seinen – insbesondere in den Großstädten auftretenden – Problemen oft überfordert, eine zentrale Rolle ein. Dafür, dass die religiöse Erziehung für die Integration dieser Kinder ein nicht unwesentlicher Faktor sein könnte, fehlte in den ersten Phasen der Migration das öffentliche Bewusstsein – tatsächlich wurde der hohe Stellenwert, welcher der Religion im Leben der muslimischen Migrant*innen zukommt, sehr spät erkannt. Dabei haben die in den 1980er-Jahren von Autoren wie Lähnemann und Tworuschka unternommenen, höchst lobenswerten Bemühungen, die von muslimischer Seite wenig beachtet oder gar abgelehnt wurden und allgemein als unnötige universitäre Nischenaktivitäten mit wenig Aussicht auf Realisierung galten, die spätere Richtung der islamischen Religionspädagogik entscheidend mitgeprägt (Lähnemann 2017). So etwa fanden diese Bemühungen in den Lehrplänen in Bayern und, etwas später, in NRW ihren Niederschlag – bereits Ende der 1980er-Jahre nahmen Lehrplanarbeiten für die Unterweisung muslimischer Kinder vielversprechende Gestalt an, die meiner Meinung nach als Grundlage für alle danach entwickelten Lehrpläne richtungsweisend war. Wenn man so will, handelte es sich bei diesen um den »Urquell« der muslimischen Lehrpläne in Deutschland. Was die 1990er-Jahre betrifft, so ist Lähnemann (Lähnemann 2012) zuzustimmen, der diese Zeit als Jahre der Stagnation betrachtet – angesichts der Tatsache nämlich, dass damals weder der türkische Staat noch islamische Organisationen die lebendige Auseinandersetzung als den Rahmen für die religiöse Erziehung wahrzunehmen gewillt waren. Im Gegenteil wurden Bemühungen in diese Richtung als Verrat am Islam oder an den Interessen der Herkunftsländer der Migrant*innen betrachtet. Dass die türkische Regierung noch bis vor kurzem die religiöse Erziehung in deutscher Sprache entschieden abgelehnt hat und

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muslimische Organisationen die von ihnen beschäftigten religiösen Geistlichen immer noch aus dem Ausland rekrutieren, ist nur ein Teil der Erklärung für die zu dieser Zeit herrschende Stagnation. In Österreich wurde in diesen Jahren zwar der islamische Religionsunterricht an staatlichen Schulen eingeführt, jedoch wurden beinahe alle Lehrer*innen – die übrigens noch heute einen großen Teil des Lehrkörpers bilden – aus dem Ausland geholt. Gleichzeitig wurden in eben dieser Phase von einzelnen muslimischen Organisationen oder Personen wesentliche konzeptionelle Anstrengungen zur religiösen Erziehung der muslimischen Kinder unternommen. Die Lehrpläne des Zentralrats der Muslime, die Arbeiten von Behr oder die Aktivitäten des Islamischen Sozialdienst- und Informationszentrums in Stuttgart sind nur einige Beispiele für diese Bemühungen (Behr 2005). Um die Jahrhundertwende gelang der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum schließlich der Durchbruch – sowohl in wissenschaftlicher und politischer Hinsicht als auch im Hinblick auf ihre innerislamische Rezeption: In Österreich wurde in diesen Jahren die Islamische Religionspädagogische Akademie (IRPA)1 gegründet. In Deutschland zeigten die islamischen Organisationen vermehrt Interesse am deutschsprachigen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen. Freilich entsprang das Interesse der muslimischen Verbände an dieser Entwicklung – nach meiner Beobachtung – weder in Deutschland noch in Österreich einem innerislamischen Diskurs, sondern verdankte sich allein dem öffentlichen Druck; die Verbände selbst haben einen innerislamischen Diskurs aus verschiedenen Gründen vermieden. Der wichtigste war wohl jener, dass sie nicht in der Lage waren und sind, diesen Diskurs in aller Offenheit und in der Mitte der Gesellschaft zu führen. Ihnen fehlten nicht nur die fachlichen Kompetenzen, um sich diesen Herausforderungen zu stellen, es gelang ihnen auch nicht, sich von den Zwängen der Herkunftsländer zu befreien. Sicherlich nicht nur aus den soeben angeführten Gründen sahen sich die Bundesländer letztlich veranlasst, den islamischen Religionsunterricht auch ohne die Verbände und trotz verfassungsrechtlicher Bedenken zu verwirklichen. Das älteste, in NRW gestartete, Projekt zum islamischen Religionsunterricht bildete eine gute Erfahrungsgrundlage für die weiteren Projekte in BadenWürttemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz usw. Parallel dazu wurden an bestimmten Hochschulen Einheiten mit der Absicht geschaffen, die angehenden Lehrkräfte auf ihre praktischen Aufgaben an diesen Projektschulen vorzubereiten. Ob diese eher provisorischen Maßnahmen in die 1 Die Islamische Religionspädagogische Akademie wurde in den 1980er-Jahren zur Ausbildung islamischer Religionslehrer*innen von der Islamischen Glaubensgemeinschaft gegründet und nach einer Schulreform im Jahre 2015 in Österreich geschlossen.

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Universitäten integriert werden oder ob daraus eine Art der Kooperation entsteht, hängt neben den politischen Interessen entscheidend von der wissenschaftlichen Überzeugungskompetenz der Universitäten ab. Die Verbände, aber auch die betroffenen Eltern wurden wohl oder übel ein Stück weit vom Staat mitgenommen. Was für den deutschsprachigen Raum befremdlich erscheinen mag, entspricht freilich genau der traditionellen Wirklichkeit in den islamischen Ländern, wo der Staat bei der Gestaltung der religiösen Erziehung eine führende Rolle innehat. Ein weiterer durch das Engagement des Staates bewirkter Schritt war die Gründung eines Lehrstuhls für die Religion des Islams an der Universität Münster im Jahre 2004; ihm folgte das IZIR (Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre) – damit wurde im Jahre 2007 in Osnabrück erstmals ein Lehrstuhl mit der Bezeichnung »Islamische Religionspädagogik« eingeführt. Das staatliche Engagement mündete in einer zukunftsweisenden Institutionalisierung der islamischen Religionspädagogik an den deutschen und österreichischen Universitäten – ebenfalls im Jahre 2007 wurde die islamische Religionspädagogik auch an der Universität Wien etabliert. Der muslimischen Gemeinschaft erwuchs damit die Aufgabe, die islamische Religionspädagogik entsprechend zu rekontextualisieren. Wie jedoch die Angebote der deutschen Universitäten zur islamischen Religionspädagogik aus dieser Anfangsphase belegen, muss diese in die neuen Strukturen noch hineinwachsen. Die Lehrangebote der jeweiligen Universitäten beschränken sich auf die Vermittlung von Kenntnissen über den Islam und der arabischen Sprache für die Lehrer*innen, welche ihre pädagogische Ausbildung auch an anderen Einrichtungen der Universität genossen haben. Das Problem begleitet die religionspädagogischen Abteilungen dieser Universitäten, weswegen die Religionspädagogik auf die Schulen, ganz besonders auf den islamischen Religionsunterricht im Rahmen eines bestimmten Lehrplans, abzielt und praktisch mit Religionsdidaktik gleichgesetzt wird. Dass dem praktizierten Religionsunterricht nicht zu entnehmen ist, was islamische Didaktik ausmacht, konnten auch die Kollegen Mohr und Kiefer (Kiefer 2010, S. 21–32) in ihrem Forschungsprojekt bestätigen. Die Lehrkörper arbeiten mit Methoden, die bereits vorhanden und eher auf säkulare Fächer zugeschnitten sind. Eine gewisse Rolle spielt auch die vom christlichen Religionsunterricht übernommene Korrelations- und Verschränkungsdidaktik. Die Lehrenden waren damit zwar hochzufrieden, nur wussten sie nicht, wie sie auf islamische Inhalte anzuwenden sei. Die Forschung belegte darüber hinaus, dass grundlegende Fragen zur islamischen Religionspädagogik nicht geklärt sind. Die dadurch entstandenen Konflikte zwischen schulischer und außerschulischer Erziehung dürften, auch wenn sie nicht mit dieser Deutlichkeit thematisiert werden, die Etablierung dieses Faches weiter erschweren.

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In Österreich waren die Muslim*innen mehr mit der für sie ungewöhnlichen Freiheit bezüglich der religiösen Erziehung beschäftigt. Diese Freiheit bot einerseits eine gute Chance zur Entwicklung einer neuen Religionspädagogik im Lande, andererseits ist sie aber mit der Gefahr verbunden, dass an diese neue Aufgabe nicht angemessen herangegangen wird. Das äußert sich schon allein darin, dass sich die IRPA für die Bewahrung der islamischen Theologie einsetzt und der islamischen Religionspädagogik nur vermittlungstechnische Aufgaben zutraut. Gegenüber diesem beanspruchten Primat der Theologie versucht sich die islamische Religionspädagogik als Theorie von Erziehung und Bildung an der Universität Wien zu profilieren. Ob die junge Abteilung dieser Aufgabe gewachsen ist, bleibt abzuwarten. Der eigentliche Schwung in der Etablierung der religionsbezogenen Wissenschaften kam mit der Empfehlung des deutschen Wissenschaftsrates im Jahr 2010 zur Weiterentwicklung der islamischen Studien, die zusätzlich zu den bereits bestehenden Lehrstühlen für Islamische Religionspädagogik eingerichtet werden sollten (Wissenschaftsrat 2020). Im Bericht werden vier Berufsfelder festgelegt, auf die das Ausbildungsangebot der zukünftigen Islamischen Studien abzielen soll: 1) islamische Religionslehrer*innen, 2) islamische Religionsgelehrte, 3) qualifizierte Kräfte in der Sozialarbeit sowie 4) islamische Theolog*innen für die universitäre Forschung und Lehre. Basierend auf der Empfehlung des Wissenschaftsrates wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung zwischen 2010 und 2012 vier Standorte als Zentren für islamische Theologie ausgewählt: Münster/Osnabrück, Tübingen, Frankfurt/Gießen und Nürnberg/Erlangen. Über fünf Jahre werden diese vier Zentren mit ca. 20 Millionen Euro gefördert. Kern der Fördermaßnahmen sind Forschungsprofessuren und die Einrichtung von wissenschaftlichen Nachwuchsgruppen.

3.1

Standorte der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachen Raum

Im deutschsprachigen Raum gibt es eine Reihe von Standorten, an denen islamische Religionspädagogik gelehrt wird. Da die Zukunft der islamischen Religionspädagogik von den Leistungen und der Profilierung dieser Zentren abhängt, seien sie im Folgenden kurz vorgestellt.

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3.1.1 Frankfurt am Main: Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam Die Geschichte des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main geht auf einen im Jahr 2002 vom türkischen Präsidium für religiöse Angelegenheiten gestifteten Lehrstuhl für Islamische Religion zurück. Seit 2010 wird der Bachelorstudiengang »Islamische Studien« als Monofach angeboten. Die didaktische Aufbereitung der islamischen Theologie obliegt der an der Universität Gießen angesiedelten Abteilung »Islamische Theologie und ihre Didaktik«. 3.1.2 Münster: Zentrum für islamische Theologie am Centrum für Religiöse Studien Im Jahr 2002 verkündete die Universität Münster, dass sie als erste deutsche Hochschule Lehrer*innen für den Islamunterricht ausbilden werde. Dafür wurde an ihrem Centrum für Religiöse Studien (CRS) ein Lehrstuhl für Islamische Theologie eingerichtet. Für die Ausbildung wurde in weiterer Folge ein neuer Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik gegründet. Dieser Lehrstuhl ist um die Aufwertung der Kala¯m-Wissenschaft bemüht und stellt die Idee einer »Theologie der Barmherzigkeit« in den Mittelpunkt einer zu entwickelnden modernen Theologie. Das Konzept ist ambitioniert, muss sich jedoch gegen eine jahrhundertelang gefestigte Tradition durchsetzen, welche das Herzstück der islamischen Wissenschaften in der Normenlehre (d. h. fiqh und usu¯l al-fiqh), und nicht im kala¯m, ˙ sieht. Neben dem Studiengang »Islamunterricht«, der lediglich als Erweiterungsfach belegt werden kann, wird laut Ankündigung des CRS im Rahmen des neuen Zentrums für islamische Theologie ab dem Wintersemester 2012/2013 auch der Studiengang »Islamische Theologie« angeboten. 3.1.3 Osnabrück: Zentrum für Interkulturelle Islamstudien (ZIIS) In Niedersachsen wird Islamunterricht bereits seit Beginn des Schuljahres 2003/ 2004 an einigen Schulen angeboten. Da es jedoch für das Projekt an gut ausgebildeten muslimischen Lehrkräften fehlte, wurde an der Universität Osnabrück ein vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen gefördertes Weiterbildungsprogramm für 15 Studierende des Lehramtes (Grund-, Haupt- und Realschule) sowie für Lehrer*innen muslimischen Glaubens ins Leben gerufen. Im Wintersemester 2007/2008 bot die Universität Osnabrück erstmals den Studiengang »Islamische Religionspädagogik« als Erweiterungsfach im Master-

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studiengang an. Dieser richtete sich an Studierende des Lehramts sowie an Absolvent*innen eines Lehramtsstudiengangs, denen damit die Möglichkeit gegeben werden sollte, im dritten Erweiterungsfach die notwendigen Kompetenzen für das zukünftige Schulfach »Islamischer Religionsunterricht« zu erwerben. Zum Curriculum des viersemestrigen Studiengangs gehörten wichtige Inhalte der islamischen Fachwissenschaften, Fachdidaktik sowie auf die Bedürfnisse der islamischen Religionspädagogik abgestimmte Kompetenzen des Arabischen. Darüber hinaus ist am ZIIS auch seit 2010 das bundesweit erste Weiterbildungsprogramm für Imame und Seelsorger*innen in Deutschland angesiedelt. Ab dem Wintersemester 2012/2013 wird »Islamische Theologie« als Monofach und »Islamische Religionspädagogik« als reguläres zweites Unterrichtsfach angeboten. Dies wurde möglich, nachdem in Niedersachsen der islamische Religionsunterricht nach den Vorgaben des Grundgesetzes als reguläres Schulfach zugelassen wurde. Dafür wurde ein theologischer Beirat, bestehend aus den Vertretern der Landesverbände »Schura Niedersachsen« und »DITIB Niedersachsen«, gegründet. Die Universität Osnabrück eröffnet somit Lehramtsstudierenden die Möglichkeit, das Unterrichtsfach »Islamische Religionspädagogik« als reguläres zweites Unterrichtsfach zu studieren. 3.1.4 Erlangen-Nürnberg: Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre (IZIR) An der Universität Erlangen-Nürnberg wurde im Jahr 2002 das Interdisziplinäre Zentrum für Islamische Religionslehre (IZIR) gegründet. Es sollte als Plattform für die Ausbildung von islamischen Religionslehrkräften dienen, nachdem der bayrische Landtag im Jahr 2000 die Einführung des islamischen Religionsunterrichts zunächst als Schulversuch beschlossen hatte. Zu seinen Aufgaben gehört es, die rechtlichen Rahmenbedingungen und fachlichen Standards für den islamischen Religionsunterricht zu formulieren und in Schulversuche umzusetzen. Im März 2006 wurde eine Professur für »Islamische Religionslehre« als Erweiterungsstudiengang eingerichtet. Das Angebot richtet sich an Studierende aller Lehramtsstudiengänge für öffentliche Schulen, welche an der Universität Erlangen-Nürnberg studieren, sowie an Studierende anderer islambezogener Studiengänge. Zu den Studieninhalten gehört neben Religionspädagogik und der Fachdidaktik des Islamunterrichts auch die theologische und historische Auseinandersetzung mit den religiösen Schriftquellen des Islams und seine Ideengeschichte (IZIR 2012). Weiters wurde an der Universität Erlangen-Nürnberg in diesem Jahre ein Fachbereich für Islamische Studien (DIS) im Sinne der Empfehlungen des Wissenschaftsrates eingerichtet. Zum Studiengang »Islamische Religionslehre« soll ein Bachelor- und Masterstudiengang für jene Studierende entstehen, die keinen

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Lehrberuf anstreben, sondern sich als Imam, Seelsorger*in oder Wissenschaftler*in qualifizieren wollen. 3.1.5 Tübingen: Zentrum für Islamische Theologie An der Universität Tübingen wurde im Sommer 2011 ein Zentrum für islamische Theologie eingerichtet. Dieses durch Finanzierung des Landes Baden-Württemberg und durch Bundesmittel geförderte Zentrum entstand als Teil einer Universität, die über eine international renommierte universitäre theologische Tradition verfügt. Der Studiengang soll Studierende für Berufe im interkulturellen Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft qualifizieren. Geplant ist ebenfalls, einen Studiengang »Islamische Religion« als Ergänzungsfach für Lehramtsstudierende einzurichten (Universität Tübingen 2012). Die Institutionalisierung der islamischen Theologie an der Universität Tübingen wird von einem siebenköpfigen konfessionsgebundenen muslimischen Beirat begleitet. 3.1.6 Islamische Religionspädagogik in Österreich Die rechtlich besonders günstige Stellung des Islams in Österreich zeigt sich darin, dass bereits im Schuljahr 1982/1983 islamischer Religionsunterricht als Schulfach eingeführt werden konnte – eine Errungenschaft, die vielen anderen westeuropäischen Ländern aufgrund diverser Probleme bislang verwehrt blieb (Leimgruber 2010, S. 39). Die Einführung basiert auf dem Religionsunterrichtsgesetz von 1949, welches besagt, dass religiöser Unterricht an öffentlichen Schulen vom Staat finanziert wird und unter Aufsicht der jeweiligen Religionsgemeinschaft steht. Derzeit nehmen etwa 78.000 muslimische Schüler*innen Islamunterricht in Anspruch. Das Fach wird an über 3.000 österreichischen Schulen angeboten, circa 600 islamische Religionslehrer*innen sind in diesem Bereich an öffentlichen und privaten Schulen beschäftigt (Kramer 2020). Die Lehrenden für die Primarstufe werden an der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule in Wien (KHP-Islam 2020) und seit 2007 im Rahmen des Masterstudiengangs »Islamische Religionspädagogik« an der Universität Wien für die höheren Schulen ausgebildet (Aslan 2008, S. 12; Leimgruber 2010, S. 45). 3.1.7 Universität Innsbruck Neben der Universität Wien wird auch an der Universität Innsbruck das Fach »Islamische Religionspädagogik« als Bachelor-, Master- und Lehramtsstudiengang angeboten. Dieses Studium bietet eine religionspädagogische Ausbildung

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und qualifiziert für die Bereiche Bildung und Gemeinde, Religionsunterricht sowie Seelsorge und soll die Studierenden befähigen, an den öffentlichen Schulen als Religionslehrer*innen zu arbeiten (uibk 2020).

4.

Wohin geht die islamische Religionspädagogik?

Wie bereits erwähnt, ist es der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum noch nicht gelungen, ein eigenes Profil zu entwickeln. Aus einer Krisensituation heraus sind diverse Zentren entstanden, deren Aufgabe es eigentlich wäre, rasch auf bestimmte schulische Situationen muslimischer Kinder zu reagieren. Da man es aber verabsäumt hatte, den der Religionspädagogik zugrundeliegenden Religionsbegriff zu definieren, sahen sich die in diesen Zentren tätigen Kolleg*innen bald mit didaktischen Herausforderungen des islamischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen konfrontiert. Eine islamische Religionspädagogik, die imstande wäre, ihre eigene theologische Begründung und Expertise zu leisten, nahm kaum Konturen an. Unter dem öffentlichen Zwang, die akademische Anschlussfähigkeit des Islams zu beweisen, verlor die islamische Religionspädagogik ein Stück ihrer wissenschaftlichen Orientierung, die es ihr ermöglicht hätte, sich zwischen ihrer eigenen Tradition und der Gegenwart zu positionieren. Auf die Fragen nach dem Gegenstandsbereich der Religionspädagogik, den Forschungsmethoden, der der religiösen Bildung zugrundeliegenden Theorie oder nach dem Bildungsanspruch im schulischen und außerschulischen Bereich wurden bis heute keine überzeugenden Antworten gefunden. Auch ist nicht ganz geklärt, wer diese Fragen überhaupt stellen und wer sie beantworten sollte. In dieser kurzen Darstellung sollten zunächst die vorhandenen »Baustellen« der islamischen Religionspädagogik an den Universitäten benannt werden, deren Fertigstellung im Sinne der Gestaltung einer situationsbezogenen und traditionserschließenden Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Nach der vom Wissenschaftsrat in Deutschland im Jahre 2010 ausgesprochenen Empfehlung verlor die Entwicklung der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum nicht nur an Schwung, sondern auch ein Stück Bedeutung für die Muslim*innen: Statt in den Händen von Theolog*innen des Übergangs sah sich der Islam nunmehr unter der Kuratel der Theologie mit ihrer historisch-traditionellen Ausrichtung und ihrem Anspruch auf alleinige Zuständigkeit für die Lehre des authentischen Islams. Das wachsende Gewicht der Theologie ruft das Bild einer islamischen Religionspädagogik als halb fertiges Haus vor Augen, das nur darauf wartet, von der Theologie mit einem dichten Dach versehen zu werden.

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Bemerkenswert ist auch, dass die Religionspädagog*innen, die eigentlich den Bereich der Religionspädagogik abdecken sollten, sich mehr mit der klassischislamischen Theologie befassen und in der Lehre dementsprechende Angebote machen. Dies führt dazu, dass die kritische Auseinandersetzung mit der islamischen Theologie in den Hintergrund tritt und die Hoffnung auf eine kontextorientierte Theologie weiter schwindet. Um die Verbände zufriedenzustellen oder mehr Studierende anzuwerben, werden Lehrkräfte rekrutiert, die nicht nur eine klassische Position vertreten, sondern auch bestimmten Verbandinteressen gehorchen. Das mag dazu beitragen, dass sich die Verbände mit der Lehre an den Universitäten identifizieren und möglicherweise die Absolvent*innen als Imame in ihren Moschee-Gemeinden beschäftigen. Aus den Erfahrungen in den Niederlanden wissen wir jedoch, dass dieser Wunsch nicht so einfach zu erfüllen ist. Diese Entwicklung könnte die islamische Religionspädagogik auf eine Anwendungswissenschaft reduzieren und ihre eigene Profilierung der Theologie gegenüber verhindern – in dem Sinn, dass es ihr verwehrt wird, aus eigenen Fragestellungen heraus theologische Antworten zu formulieren. Dies könnte in einer folgenschweren Verengung münden, welche die Weiterführung der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum letztlich verunmöglicht. Davon ist nicht nur die Zukunft der islamischen Religionspädagogik betroffen, sondern ebenso die der islamischen Theologie, weil diese, um sich hier kontextualisieren zu können, eben auch die Praxis verstehen und erklären muss. Da die islamische Theologie diese Leistungen nicht mit eigenen traditionellen Ressourcen erbringen kann, ist sie auf die Unterstützung der islamischen Religionspädagogik angewiesen, um normative Aspekte zu reflektieren und diese der Praxis gegenüberzustellen. In Österreich befindet sich die islamische Religionspädagogik im Grunde genau in diesem Kampf, in dem sie sich der Übermacht der islamischen Theologie entgegenstellen und alles daran setzen muss, um sich von rechtlichen und gemeinschaftlichen Zwängen zu befreien, da nämlich die Rechtsgrundlage in Österreich die Position der islamischen Theologie begünstigt und die Rolle der islamischen Religionspädagogik eigentlich sehr eng fasst. In den nächsten acht bis zehn Jahren werden wir sehen, ob die Absolvent*innen der Islamischen Religionspädagogik innergemeinschaftlich etwas zu deren Profilierung beitragen können. Wichtig in diesem Prozess ist auch, dass die islamische Religionspädagogik sich durch eigene Forschung als Anwalt der faktischen Lebenswirklichkeit der Muslim*innen profilieren kann. Die Frage nach der allfälligen Erkennbarkeit eines islamisch-religionspädagogischen Profils der erwähnten Zentren ließe sich demnach so beantworten, dass es sich bei der islamischen Religionspädagogik nach wie vor um eine Baustelle handelt, welche darauf wartet, dass sich Nachwuchswissenschaftler*innen ernsthaft und mit möglichst objektiv-wissenschaftlichem Engagement an ihr zu

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schaffen machen – selbst im Wissen darum, dass sich ihre Fertigstellung mit der Einrichtung der theologischen Zentren verzögern wird.

5.

Schlussbemerkungen

Der religiösen Bildung und Erziehung wurde im Laufe der islamischen Geschichte stets größte Bedeutung beigemessen – die Literatur zu Charakter und Haltung nimmt im Fächerkanon des Islams eine besondere Stellung ein. Und gemäß dieser Literatur sind es das Leben des Propheten Muhammad und die ˙ Aussagen des Korans zu ethischen Fragen, die sich ein Mensch muslimischen Glaubens zum Vorbild zu nehmen hat. Eine Gesellschaft nach dem Vorbild des Propheten einzurichten – dazu hatte die muslimische Gemeinschaft allerdings kaum die Chance: Die Zeit der Offenbarung des Korans bzw. die Prophetie des Muhammad war nur von kurzer Dauer und die nachfolgenden Perioden waren ˙ durch von den Gefährten des Propheten geführte Kriege, durch Korruption und Vertreibungen gekennzeichnet (Akbulut 2019). So wurde der Islam nach dem Ableben des Propheten von den auf ihn folgenden Dynastien zwar politisiert, eine ideale Gesellschaft nach muslimischen Vorstellungen ließ sich so jedoch nicht verwirklichen. Entsprechend groß war unter diesen Ausgangsvoraussetzungen die Herausforderung, eine religiöse Erziehung zu institutionalisieren, für die weder die Geschichte noch die Gegenwart ein Beispiel kannte. Die Illusion, dass eine von guten und nach idealen Vorstellungen erzogenen Muslim*innen gebildete ideale Gesellschaft möglich sein sollte, hielt sich gleichwohl aufrecht. Die islamische Religionspädagogik in Europa ist Teil dieses Erbes, das sie nicht einfach ausschlagen kann. Dabei läge die einzige Möglichkeit zum Gelingen einer neuen Religionspädagogik in Europa genau darin, dass sich die Muslim*innen von Illusionen lösen und die Rolle und Möglichkeiten einer Religion in ihrem Leben und ihrer Gesellschaft neu bewerten. Die Voraussetzungen für eine kontext- und schülerorientierte Religionspädagogik in Europa, die eine wissenschaftlich fundierte Reflexion der Geschichte und Gegenwart leistet, sind durchaus gut. Aus einer breiten, offenen und inklusiven Debatte können Institutionen und Konzepte entstehen, die der jungen Generation den ¯ıma¯n (Glaube) erlebbar und erfahrbar machen. Was es dazu braucht, sind Mut und Kritikfähigkeit.

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Grundlagen der islamischen Erziehung und Bildung

Ednan Aslan

Erkenntnisquellen der islamischen Religionspädagogik

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag widmet sich den Wissensquellen der islamischen Religionspädagogik. Zu Beginn wird – ausgehend von den Fragen, warum wir wissen müssen, um zu glauben, und ob Glaube erlernt werden kann – ein Blick in die islamische Tradition geworfen. Es wird dargelegt, was die Hauptquellen des Islams unter Wissen verstehen und in diesem Zusammenhang auf wichtige Kala¯mWissenschaftler Bezug genommen. Auf die historische Darstellung folgt ein Überblick darüber, wo die islamische Religionspädagogik heute steht und worauf sie ihre Erkenntnisse gründet; es wird argumentiert, in welcher Hinsicht diese Erkenntnisse für die religiöse Bildung von Relevanz sind. Dieser Beitrag versteht sich als Versuch, die Grundlagen einer Wissenschaftstheorie der islamischen Religionspädagogik aus der eigenen Tradition heraus zu begründen und ihr Erkenntnisfeld abzustecken. Es soll aufgezeigt werden, auf welchen Quellen die Erkenntnisse der islamischen Religionspädagogik basieren bzw. welche theologischen Begründungen hinter diesen Erkenntnissen stehen.

1.

Einleitung

Die zentralen Fragen, die sich in Bezug auf die islamische Religionspädagogik ergeben, sind die nach ihrer Begründung, danach, aus welchen Quellen sie ihre Inhalte schöpft, wie sie diese zu ihrer Grundlage macht und welche wissenschaftstheoretischen Konzepte sich daraus – auch in Hinblick auf ihre Kontextualisierung in Europa – ableiten lassen. All diese Fragen, deren Beantwortung einen Einblick in die Verfasstheit des Fachs gibt, sind im Grunde nicht neu. Unter welchen Verhältnissen und in welchen Kontexten auch immer wir uns mit ihnen beschäftigen, bleibt stets die Frage, wie wir auf Erkenntnisse stoßen, wozu wir

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diese benötigen und vor allem, was wir wissen müssen, um zu glauben. Diese Gedankengänge gehören zu den zentralen Fragen der Kala¯m-Wissenschaft (Kindi 2014). All diese Fragen veranlassen uns, einen Schritt zurückzugehen, zurück in die islamische Geschichte und Tradition, um Antworten darauf zu finden, warum wir wissen müssen, um zu glauben, oder auch, ob Glaube erlernt werden kann. Das historische Interesse verdankt sich also dem Bemühen um wissenschaftstheoretische Konzepte, die helfen können, eine islamische Religionspädagogik zu legitimieren und zu kontextualisieren.

2.

Wozu muss der Mensch wissen?

2.1

Was ist Wissen?

Unter Absehung von gegenwärtigen Definitionen von Wissen (arab.ʿilm) ist für unseren Beitrag relevant, was die Hauptquellen des Islams unter Wissen verstehen. In seinem berühmten Werk The Concept of Knowledge in Medieval Islam untersucht Rosenthal die etymologischen Wurzeln dieses Begriffs und weist anhand der arabischen Poesie nach, dass im arabischen Raum ein Poet (sˇa¯ʿir) als »one who knows« und die Dichtung (sˇiʿr) als »knowledge« galt. Alrawashdeh kommt nach der Analyse zahlreicher a¯ya¯t aus dem Koran zu der – von anderen Gelehrten geteilten – Erkenntnis, dass der Begriff ʿilm im Koran als »eindeutiges Zeichen« für eine bestimmte Sache steht, das dazu dient, diese von anderen Sachen zu unterscheiden. Die Begriffeʿa¯lam,ʿa¯la¯ma, die als »Zeichen« oder »Beleg« verstanden werden können, haben dieselbe Wortwurzel wie ʿilm (Alrawashdeh 2015). Unstrittig ist, dass die ersten Adressaten des Korans unter Wissen etwas ganz anderes verstanden haben als die Menschen von heute. Izutsu (2008, S. 58) sucht die Definition dieses Begriffs im Koran und findet die Antwort in der Sure alRaʿd: »Also haben Wir denn von droben diese (göttliche Schrift) erteilt als eine Verordnung in der arabischen Sprache. Und fürwahr, wenn du den Vorlieben und Abneigungen der Menschen dich fügen solltest nach all dem (göttlichen) Wissen [ʿilm], das zu dir gekommen ist, du würdest keinen haben, dich vor Gott zu schützen, und keinen dich (vor Ihm) zu beschützen.« (Koran 13:37)

Auch wenn der Koran das vorislamische Verständnis von Wissen nicht gänzlich infrage stellt, weist er mit Nachdruck darauf hin, dass Wissen im Sinne des Korans im Gegensatz zu den Neigungen und Vermutungen der Araber*innen, was die Quellen des Wissens betrifft, stehen, und hebt sich selbst als die einzige

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sichere Quelle des Wissens hervor: Das göttliche Wissen bildet das Gegenteil von zann und hawa (Mutmaßungen, Wunschglaubensvorstellungen). ˙ Fairu¯za¯ba¯dı¯ definiert den Begriff ʿilm im Sinne seiner Etymologie als ein Zeichen, das es ermöglicht, in einem unbekannten Terrain Orientierung zu finden (Alrawashdeh 2015, S. 31). Gemäß an-Nasafı¯ gestattet Wissen dem Menschen, sich selbst und seine Umgebung zu verstehen und zu deuten (al-Nasafı¯ 1990, S. 12) – eine Definition, an der sich auch die islamischen Wissenschaften, die sich nach an-Nasafı¯ mit diesem Thema beschäftigten, orientierten. Demnach ermöglicht uns Wissen, Wahrnehmungen, Traditionen und Erfahrungen zu deuten und daraus Theorien abzuleiten. Wenn Wissen eine Voraussetzung für das Begreifen der Welt ist, dann sind die Fragen, die uns in Bezug auf die islamische Religionspädagogik beschäftigen werden, dieselben, die seit dem Ableben des Propheten Muhammad die isla˙ mische Theologie beschäftigen: »Was sind die Quellen des Wissens?« »Wozu brauchen wir Wissen, was müssen wir wissen?« »Wie können wir uns Wissen aneignen?« Zu den frühen Kala¯m-Wissenschaftlern, die sich mit diesen Fragen befassten, ˇ uwainı¯ (gest. 1085) und al-Ba¯qilla¯nı¯ (gest. 1013), welche die zählen etwa al-G Meinung vertraten, dass der Mensch zunächst danach trachten müsse, sich Wissen anzueignen und sich darüber Gedanken zu machen (nazar). Abu¯ Ha¯sˇim ˙ geht einen Schritt weiter – für ihn ist das Hinterfragen der Quellen sowohl des religiösen als auch des weltlichen Wissens religiöse Pflicht, deren Erfüllung allein echte Erkenntnis zu liefern vermag (Atay 1968, S. 3f.). Für islamische Theologen setzte also Wissenserwerb bestimmte Fähigkeiten voraus, mit anderen Worten bedingte die Beantwortung der Frage nach dem Was jene nach dem Wie. Daraus folgte die Frage danach, was man denn wissen solle. Im Koran werden drei Quellen genannt, die es uns ermöglichen, Wissen anzueignen. Die erste Quelle sind die Sinneswahrnehmungen, die Vernunft und das Herz (bas¯ıra). Hüseyin Atay möchte als vierte Quelle die Offenbarung selbst ˙ (wahy) nicht mit dem Begriff Herz im emotional-spirituellen Sinn in Verbindung ˙ bringen, da die Wahrnehmung durch das Herz die Fähigkeiten des Verstandes überschreiten würde (Atay 1968), wahy jedoch als Offenbarung Gottes in ihren ˙ diesseitigen Dimensionen für den Menschen rational nachvollziehbar sein müsse. Die jenseitigen Dimensionen zu begreifen, erforderte die Überwindung der Grenzen des menschlichen Verstandes (Koran 9:35, 20:35), und vor Handlungen, die nicht wissensbasiert sind, wird im Koran ausdrücklich gewarnt: »Und befasse dich nie mit etwas, wovon du kein Wissen hast: wahrlich, (dein) Gehör und Augenlicht und Herz – sie alle – werden dafür (am Gerichtstag) zur Rechenschaft gezogen werden.« (Koran 17:36)

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Im Koran werden ausschließlich jene Erkenntnisse als Wissen bezeichnet, die auf dem Verstand und auf der Wahrnehmung beruhen. Daher lehnt der berühmte muslimische Theologe al-Ma¯turı¯dı¯, der als zentrale Persönlichkeit der hanafiti˙ schen Rechtsschule gilt, die frömmelnde Religiosität, welche nicht auf Erkenntnis, sondern auf Nachahmung basiert, ab (Matüridi 1981, S. 249): »Der erhabene Gott hat die Menschen zu nichts verpflichtet, ohne dass Er für dessen Verständnis einen Ausweg gezeigt hätte. Wenn ein Mensch unter seinen Voraussetzungen nicht in der Lage wäre, die Anweisungen Gottes zu verstehen, wäre er dazu nicht verpflichtet, danach zu handeln (…) Gott hat dem Menschen jedoch Beweise erschaffen, damit er seine Anweisungen erkenne.« (Matüridi 1981, S. 251)

Al-Ma¯turı¯dı¯ zufolge führen die Wege zum Wissen erstens über ʿiya¯n (Wahrnehmung durch Sinnesorgane, Gefühle), zweitens über ahba¯r (Überlieferung, ˘ Vorkenntnisse, das Wissen, das wir als bekannt voraussetzen) und drittens über nazar (Verstand, kritische Betrachtung) (Matüridi 1981). Diese drei Wege er˙ gänzen einander und führen zu fundiertem Wissen. Wer sich nicht um den Wissenserwerb bemüht, riskiert nach al-Ma¯turı¯dı¯ die Verführung durch das Böse, dessen Einfluss in der Gesellschaft durch die Unwissenheit des Menschen begünstigt wird (Matüridi 1981, S. 248). Der Begriffʿiya¯n inkludiert nach al-Ma¯turı¯dı¯s Darstellung nicht nur das, was wir mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen, sondern ebenso verschiedene emotionale Zustände wie Freude, Trauer, aber auch das Gewissen (Özcan 1993, S. 59f.). Die Grundlage für die Funktion von ʿiya¯n als Erkenntnisquelle findet alMa¯turı¯dı¯ im Koran: »Und Gott hat euch hervorgebracht aus den Leibern eurer Mütter, nichts wissend, – aber Er hat euch mit Gehör und Augenlicht und Geist versehen, auf daß ihr Grund haben möget, dankbar zu sein.« (Koran 16:78)

Wenn al-Ma¯turı¯dı¯ von ahba¯r spricht, meint er nicht nur die Offenbarung, son˘ dern auch die Erfahrungen und Erkenntnisse der Menschheit. Hierbei ist weder religiöse noch ethische Einschränkung möglich, da die Erkenntnisse der Menschen nicht nach ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft zu beurteilen sind. Auf der anderen Seite sieht al-Ma¯turı¯dı¯ wahy als Quelle des Wissens. Özcan, der ˙ sich mit der Wissenstheorie von al-Ma¯turı¯dı¯ intensiv beschäftigte, deutet dessen Verständnis von wahy in drei Dimensionen: »So versteht man wahy sowohl als ˙ Wissen als auch den Weg zum Wissen, so wie das Wissen, das auf diesem Weg angeeignet wird« (Özcan 1993, S. 83). Damit baut al-Ma¯turı¯dı¯ ahba¯r auf zwei ˘ Grundlagen: Gottes Offenbarung und die Erkenntnisse der Menschen. Die Verkündigungen der Propheten als eine besondere Quelle zu begreifen, gehört zur Wissenschaftstheorie des Islams, die auf Übereinstimmung mit dem Verstand und mit dem Koran überprüft werden muss (Kahraman 2001, S. 164–182).

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Interessant in der islamischen Tradition gestaltet sich nun die Frage, ob der Mensch seinen Verstand oder Gottes Offenbarung als erste Erkenntnisquelle erkennen muss. Die Muʿtazila- und Ma¯turı¯dı¯ya-Schulen gehen davon aus, dass der Mensch ohne die Offenbarung Gottes mit seinem Verstand in der Lage ist, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. In den Lehrschulen des Islams werden nicht Nachahmung oder Inspiration als Wege zur Erkenntnis gesehen, sondern der Verstand (nazar) und menschliche Bemühung (istidla¯l) (ar-Ra¯zı¯ 1991, S. 250). ˙ Damit setzt die Offenbarung den Verstand voraus, wird also von den Menschen auf Grundlage einer bewussten Entscheidung angenommen oder abgelehnt (Alper 2012, S. 130). In der islamischen Theologie herrscht bezüglich der Frage, ob der Mensch die Offenbarung oder den Verstand als Hauptquelle für geistige Erkenntnisse benutzen sollte, breiter Konsens. Eine eindeutige Antwort, welche für die islamische Theologie maßgebend ist, gab der islamische Theologe Fahr ˘ ad-Dı¯n ar-Ra¯zı¯. Nach ar-Ra¯zı¯ leugnet der Mensch sich selbst, wenn er die wörtliche Bedeutung des Texts über den Verstand stellt, dann nämlich widerspricht er dem Wesen einer Tatsache, die seine Existenz begründet (ar-Ra¯zı¯ 1991, S. 142). In diesem Sinn hebt auch al-Ra¯g˙ib al-Isfaha¯nı¯ die Bedeutung des Ver˙ standes in der Religiosität der Menschen hervor, betont aber zugleich, dass es ein mühsamer Weg sei, immer nach dem Verstand zu handeln; dennoch sei dieser eine tugendhafte Weise, zu einer Entscheidung zu gelangen (al-Isfahanî 1980, S. 108). Nach dieser historischen Darstellung, die für das Weiterdenken der islamischen Theologie unerlässlich ist, können wir uns nun der eigentlichen Frage zuwenden, nämlich, woraus die Erkenntnisse der islamischen Religionspädagogik resultieren und weshalb diese Erkenntnisse für die religiöse Bildung von Relevanz sind.

3.

Wo steht die islamische Religionspädagogik?

Bevor wir uns den Fragen nach dem Was, dem Woher und dem Wozu zuwenden, bedarf es zuerst der Klärung dessen, wo die islamische Religionspädagogik steht, um diese Fragen adäquat beantworten zu können. Historische Belege dafür, dass die islamische Religionspädagogik im theologischen Kanon der Islamwissenschaften verankert war, gibt es nicht, obwohl in der islamischen Wissenschaftstradition sehr früh mit der Kategorisierung und Definition einzelner Wissenschaftszweige begonnen wurde. Die ersten Arbeiten ˇ a¯bir b. Hayya¯n (815), al-Kindı¯ (866), al-Fa¯ra¯bı¯ (950), Ibn dazu finden sich bei G Sı¯na¯ (1037), Ibn Hazm (1064), al-G˙azza¯lı¯ (1111) und Saçaklizade (1732) (Bakar ˙ 1998, S. xiii). Türker sieht die eigentlichen Hintergründe dieser Klassifikation im Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Religion einerseits und den

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Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gruppen der muslimischen Gemeinde in Bezug auf existenzielle Fragen. In diesen ging es im Wesentlichen darum, welche Wissenschaften den Menschen letztendlich unendliche Glückseligkeit versprechen. Aus welchen Erkenntnisquellen schöpft also die islamische Religionspädagogik – vor allem in Europa – und wie begründet sie ihre Erkenntnisquellen? Was die Kategorisierung der islamischen Wissenschaftsdisziplinen und ihrer Erkenntniswege betrifft, sah Hayya¯n die Lösung darin, die Wissenschaften in zwei Kategorien – die mit dem Jenseits und die mit dem Diesseits befassten – zu klassifizieren (Türker 2011, S. 539). Al-Fa¯ra¯bı¯ listet in seinem Werk Ihsa¯ʾ al-ʿulu¯m ˙˙ sechs Wissenschaftsdisziplinen neben der Metaphysik auf (al-ʿilm al-ila¯hı¯), die sich darum bemühen sollten, die Wahrheit hinter der sichtbaren Natur zu erkennen (Bakar 1998, S. 122f.). In dieser Tradition steht auch al-G˙azza¯lı¯, der die Orientierung in der islamischen Theologie nachhaltig und entscheidend geprägt hat. Auch al-G˙azza¯lı¯ unterteilt die Wissenschaften in zwei Zweige: a) religiöse Wissenschaften (sˇarı¯ʿa) und nichtreligiöse Wissenschaften (g˙ayr ˇsarı¯ʿa). In den religiösen Wissenschaften findet eine weitere Ausdifferenzierung in die Beschäftigung mit irdischen und jene mit jenseitigen Dingen statt (Treiger 2011). In dieser Reihe können weitere Werke aufgelistet werden, doch ob es sich nun um Werke zu den nichtreligiösen oder zu den religiösen Wissenschaften handelt – die islamische Erziehung wird in keinem als eigenständiges Fach erwähnt. Daraus sollte jedoch nicht abgeleitet werden, dass islamische Gelehrte sich nicht mit der Frage der Erziehung beschäftigt hätten. Vielmehr haben sie sich bereits früh sowohl mit der Erziehung als auch mit der Didaktik befasst, dabei ist es ihnen aber nicht gelungen, neben den dominierenden theologischen Fächern die religiöse Erziehung als eigene Disziplin zu etablieren (Günther 2016). Daran hat sich an vielen renommierten Universitäten der islamischen Welt bis heute nichts geändert, weder an den Universitäten in Saudi-Arabien noch an der Azhar wird die islamische Religionspädagogik als Wissenschaftsdisziplin angeboten (Aslan 2013, S. 46–57). Dass die islamische Religionspädagogik in den islamischen Ländern keine lange Tradition hat, hängt mit der Säkularisierung dieser Länder zusammen. An den türkischen Universitäten etwa, welche sehr früh mit der Modernisierung des Bildungswesens begannen, konnte islamische Religionspädagogik erst in den 1980er-Jahren an den theologischen Fakultäten als eigener Lehrstuhl etabliert werden (Tosun 2009). Für die islamische Religionspädagogik in Europa folgt daraus, dass sie besonderen Wert darauf legen sollte, für die Entwicklung in den islamischen Ländern anschlussfähig zu sein, andererseits jedoch würden zu hohe Erwartungen diese Länder hinsichtlich ihrer Möglichkeiten überfordern.

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Im deutschsprachigen Raum hat die islamische Religionspädagogik nach der Jahrhundertwende an Schwung gewonnen, sodass sie sich bereits vor der islamischen Theologie an den Universitäten etablieren konnte (wobei hier nicht der Ort ist, die Hintergründe dieser Entwicklung zu erörtern, hier gilt es lediglich festzuhalten, dass die islamische Religionspädagogik an allen theologischen Standorten als wissenschaftliche Disziplin verankert wurde). Noch sind die islamischen Theolog*innen und Religionspädagog*innen an den europäischen Standorten nicht so weit, eine wissenschaftstheoretische Debatte über das Verhältnis der Religionspädagogik zu anderen theologischen Disziplinen zu führen – eine solche wird ihnen über kurz oder lang freilich nicht erspart bleiben, wenn ihnen wirklich daran gelegen ist, die Wissenschaftlichkeit der islamischen Theologie an den europäischen Universitäten zu begründen. Zumindest aber erübrigen sich angesichts der aktuellen Situation in der islamischen Welt und in Europa – jedenfalls vorläufig – die nicht enden wollenden und mühseligen Debatten der christlichen Kolleg*innen über die Verortung der Religionspädagogik unter dem Dach der Theologie. Die Etablierung der theologischen Zentren im deutschsprachen Raum löste eine Entwicklung aus, die insofern bemerkenswert ist, als die Kolleg*innen an den religionspädagogischen Studiengängen, die eigentlich den Bereich der Religionspädagogik abdecken und dementsprechende Angebote in der Lehre machen sollten, ihre Freude an der islamischen Religionspädagogik schnell verloren und begannen, sich eher mit der Gestaltung der klassisch-theologischen Disziplinen beschäftigen. Dabei drängt sich das Bild von der islamischen Religionspädagogik als halb fertiges Haus auf, das nur darauf wartet, von den Theolog*innen in Beschlag genommen zu werden. Sollten die Entwicklungen in diese Richtung fortschreiten, wäre es für die islamische Religionspädagogik um ihrer Zukunft willen vonnöten, sich intensiver mit dem Problem ihrer Positionierung unter dem Dach der islamischen Theologie zu beschäftigen. Diese Auseinandersetzung wäre jedoch in einem anderen Rahmen zu führen, denn dieser Beitrag versteht sich in erster Linie als ein Versuch, die Grundlagen einer Wissenschaftstheorie der islamischen Religionspädagogik aus der eigenen Tradition heraus zu begründen und das Erkenntnisfeld der Religionspädagogik abzustecken, also aufzuzeigen, aus welchen Quellen die islamische Religionspädagogik ihre Erkenntnisse schöpft bzw. welche theologischen Begründungen hinter diesen Erkenntnissen stehen und ob diese geeignet sind, der in Europa entstehenden islamischen Religionspädagogik ein eigenes Profil zu verleihen.

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4.

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Kritik der Religion (dı¯n)

Ungeachtet der ab dem 20. Jahrhundert einsetzenden Reformbewegungen geht es in der Religionspädagogik weiterhin überwiegend um die Vermittlung dogmatischer Lehrinhalte, deren Verinnerlichung Kinder zu aufrichtigen, vollkommenen Menschen machen würde. In den 1970er-Jahren kamen zahlreiche bekannte muslimische Wissenschaftler*innen in Mekka zusammen und beratschlagten sich darüber, wie die islamische Erziehung vom westlichen Einfluss befreit und auf ein solides, islamisches Fundament gestellt werden könnte. Dabei wurde als das Ziel der islamischen Erziehung die Lebensführung im Einklang mit der Scharia definiert. »The aim of Muslim education is the creation of the ›good and righteous man‹ who worships Allah in the true sense of the term, builds up the structure of his earthly life according to the Shari’a (law) and employs it to subserve his faith.« (Hussain & Ashraf 1979, S. 42)

Dies entspricht dem in den europäischen Ländern verfolgten Ansatz in Bezug auf islamische Erziehung an staatlichen Schulen, in Medresen sowie Koranschulen, wo ebenfalls religiöse Inhalte unhinterfragt weitergegeben werden. Wer sich dagegen wehrt, kann sich kaum Hoffnung machen, bei der Mehrheit der muslimischen Bevölkerung Gehör zu finden (Aslan 2011). Auf diese Weise entfernt sich der Islam nicht nur von seiner ursprünglichen Bedeutung, sondern auch von den jungen Menschen, die in ihm immer weniger Bezüge zu ihrer Lebenswelt finden (Aslan, Kolb & Yildiz 2017, S. 59ff.). Seit einigen Jahren wird vor dem Hintergrund wachsender fundamentalistischer Tendenzen nicht nur in den islamischen Ländern, sondern auch in Europa kaum eine Trennung zwischen Religion als Zugehörigkeitsmerkmal und Glaube als fundamentaler Verfassung der Seele vorgenommen. Religiosität ist weniger ein soziales als ein seelisches Phänomen (Tietze 2001, S. 86): »Sprachlich betrachtet ist festzustellen, dass sich ›religiös‹ sowohl auf Religion wie auch auf Religiosität beziehen kann. Obwohl eine Unterscheidung beider Begriffe sinnvoll ist, lässt sich eine strikte Trennung zwischen Religion und Religiosität nicht durchführen. Religiosität ist vielmehr als anthropologisches Gegenstück von Religion als soziologischer Größe zu verstehen.« (Rothgangel 2012, S. 21)

Die wachsende Identifikation muslimischer Jugendlicher mit der Religion kann nicht als Anzeichen dafür verstanden werden, dass die institutionelle Macht der klassischen Gelehrten bzw. Institutionen des Islams im Alltag der Menschen schwächer geworden ist. Eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Institutionen der Muslim*innen ist unvermeidlich (Aslan, Kolb & Yildiz 2017; Tietze 2001). In dieser Phase kann die islamische Religionspädagogik nicht nur

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einen wichtigen Beitrag zum Erkenntnisgewinn, sondern auch zur Selbstreflexion der islamischen Theologie leisten. Nach dem Ableben des Propheten Muhammad sind verschiedene wissen˙ schaftliche Disziplinen und Institutionen entstanden, welche aufgrund ihrer Machtstrukturen und Interessen nicht nur den Zugang zum ursprünglichen Sinn des Islams erschwerten, sondern sich anschickten, sämtliche Spuren zu dieser Sinnquelle zu verwischen. In der islamischen Welt bildeten sich Mada¯hib-Sekten ¯ undʿAqı¯da-Schulen, die als Religion anerkannt werden und deren Stellung nicht infrage gestellt wird. Die Tradierung der festgefahrenen religiösen Traditionen wird kaum einer kritischen Betrachtung unterzogen und die islamischen Staaten setzen viel daran, diese Institutionen und die ihnen zugrunde liegenden Machtverhältnisse zu schützen. Diese institutionellen Machtverhältnisse, welche die Erneuerungs- und Reformbewegungen im Islam verunmöglichen, gälte es aufzudecken, um zu erreichen, dass religiöse Bildung mehr leistet als die bloße Fortführung der althergebrachten Verhältnisse. Eben dazu – nämlich die traditionellen Machtverhältnisse zu hinterfragen, um neue Orientierungen finden zu können – ruft der Koran auf: »Aber wenn ihnen gesagt wird: ›Folgt dem, was Gott von droben erteilt hat‹, antworten manche: ›Nein, wir werden (nur) dem folgen, das wir unsere Vorväter glauben und tun gefunden haben.‹ Wie, selbst wenn ihre Vorväter ihren Verstand überhaupt nicht gebrauchen und bar aller Rechtleitung waren?« (Koran 2:170)

Mit dieser a¯ya erfolgte nach Ansicht jener kritischen Theologen, welche der Entstehung dieser Machtverhältnisse äußerst misstrauisch gegenüberstanden, der erste – dankbar angenommene – Aufruf, sich Gedanken darüber zu machen, wie negative Machtverhältnisse und pseudoreligiöse Autoritäten umgangen werden könnten, um in Freiheit zu religiösen Erkenntnissen gelangen zu können. Al-Ma¯turı¯dı¯ empfiehlt als Voraussetzung für den Erkenntnisgewinn eine kritische Auseinandersetzung mit den geltenden Traditionen, Informationen und herrschenden Meinungen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft (ahba¯r). Dazu gehört auch die Offenbarung, welche durch intellektuelles Be˘ mühen (istidla¯l) verstanden werden muss, weil der Verstand vorrangig bzw. die Offenbarung vom Verstand abhängig ist – denn welchen Sinn hätte göttliche Offenbarung für verstandeslose Wesen? Göttliche Offenbarung wird für die Menschen nur durch den Verstand begreifbar (Özcan 1993, S. 174). In diesem Sinne wird eine religiöse Überzeugung (ı¯ma¯n), die auf Nachahmung (taqlı¯d-i ¯ıma¯n) beruht, nicht nur als Glauben abgelehnt, sondern sogar als Gefahr für den Glauben gesehen (Matüridi 1981, S. 79). Im erkenntnistheoretischen System von al-G˙azza¯lı¯ sehen wir auch, dass Offenbarung und Rationalität nicht miteinander in Konflikt treten müssen. Weil jedoch dieser Konflikt nicht ausgeschlossen

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werden kann, entwickelte er »das Gesetz der Interpretation« (qa¯nu¯n al-ta’wı¯l), durch das solche Konflikte gelöst werden können (Griffel 2013, S. 300). Hier entsteht die zentrale Frage der islamischen Religionspädagogik, wie die Religion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse von heute reagieren und den Islam mittels eines hermeneutischen Ansatzes verstehen und interpretieren kann. An dieser Stelle reichen die althergebrachten methodischen Möglichkeiten islamischer Theologie nicht aus, weshalb die islamische Religionspädagogik diesbezüglich auf die Methoden anderer Wissenschaften angewiesen ist. Al-Fa¯ra¯bı¯ (950) wies bereits sehr früh auf die Notwendigkeit des Methodenpluralismus hin, um die vielfältigen Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven verstehen zu können. Um Menschen zu verstehen, reicht es nicht aus, nur Informationen über Gott zu haben, ohne ihn im Leben erfahren zu können (Fa¯ra¯bı¯ 1999, S. 52). Neben hermeneutischen Methoden würde eine empirische Forschung es der Religionspädagogik ermöglichen, die Lebenswirklichkeit der Menschen zu analysieren. Die daraus gewonnenen Forschungsergebnisse könnten nicht nur das Profil der Religionspädagogik schärfen, sondern darüber hinaus religiöse Autoritäten und Institutionen mit den gesellschaftlichen Wirklichkeiten konfrontieren. Das kann dazu führen, dass die Menschen Gott entspannter und in der Gewissheit, angenommen zu werden, entgegentreten und sich mit dem Gefühl der Geborgenheit von einer restriktiven, belastenden Religion befreien. In religionspädagogischen Bildungsprozessen erwirbt das Subjekt nicht nur Wissen über Religion, sondern auch die Fähigkeit, die Stellung der Religion selbst im eigenen Leben zu beurteilen bzw. in verschiedenen Lebenssituationen davon Gebrauch zu machen.

4.1

Wahrnehmen und Handeln

Entstanden aus einem lebendigen Dialog zwischen Gott und Menschen, liefert der Koran eine Antwort auf Fragen, die die Menschen bewegen. Daraus ergibt sich die Frage, ob dieser Dialog ein geschichtlicher oder ein übergeschichtlicher Dialog ist. Es hängt von der Gestaltung der Kommunikation ab, wie die Menschen diesen Dialog lebendig halten können. Die ersten Adressaten des Korans wurden nicht in schriftlicher, sondern in mündlicher Form angesprochen. Wenn die ersten Adressaten des Korans bzw. die Wirkung des Korans auf diese Menschen verstanden werden soll, dann muss der Kontext des gesprochenen Wortes verstanden werden, um den Sinn des Texts erfassen zu können. Eben darum haben sich muslimische Exegeten bemüht, indem sie versuchten, den historischen Kontext des Korans detailliert zu analysieren (Rahman 1980). Daraus ergab sich, dass die Menschen im mündlichen Kontext, in einer vitalen und authentischen Kommunikation mit Gott, den Inhalt des Buchs mitbeeinflusst

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haben, oder anders formuliert: Der Koran ist ein aus der Wechselwirkung zwischen Gott und dem Menschen entstandenes Gemeinschaftswerk. »Die Offenbarung war dann ein offener Prozess zwischen dem Immanenten und dem Transzendenten. Der Koran ist ja auch voll von Beispielen dafür. Die Adressaten fragten, was ist, wenn Frauen ihre Tage haben, und Gott gab Antwort (2: 222). Sie fragten über den Neumond, und Gott gab Antwort (2: 189). Sie fragten, ob es recht ist, in den Friedensmonaten Krieg zu führen, Gott gab Antwort (2: 217). Der Koran verweist auf Fragen bzw. Äußerungen der Adressaten in fünfzehn Stellen durch yas’alunaka (›sie fragen dich‹) und in Hunderten von Stellen durch qala (›er sagte‹), qalat (›sie sagte‹), qalu (›sie sagten‹), yaquluna (›sie sagen‹) usw. und reagiert auf sie irgendwie. Man kann aber nicht behaupten, dass diese von den Adressaten gestellten Fragen alle möglichen Fragen seien, die der Mensch je an Gott richten könne.« (Özsoy 2010, S. 37)

Ohne weitere Ausführungen kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der überwiegende Inhalt des Korans einen menschlichen Hintergrund (asba¯b annuzu¯l) hat. Darüber hinaus kommt es im Koran nicht selten vor, dass in der Offenbarung die Fragen der Menschen dazu geführt haben, dass eine zuvor gegebene Antwort korrigiert bzw. ausführlicher erklärt wurde (na¯sih, mansu¯h). ˘ ˘ Die Fragen der Menschen und deren Praxis sind der Boden, aus dem eine am Menschen orientierte Theologie wächst. Indem die Menschen mit ihren aus ihrer eigenen Lebenssituation resultierenden Anliegen wahrgenommen werden, werden sie gleichzeitig zum Handeln aufgefordert (Koran 22:40). Demgegenüber wird die Annahme des Glaubens ohne entsprechendes gesellschaftliches Handeln in den islamischen Denkschulen nicht als gutes Verhältnis zwischen Gott und den Menschen angesehen (Rahman 2004, S. 19). Das Begreifen dieser Wahrnehmung als Handlungsauftrag kann nicht allein mit den Empfehlungen des Korans oder des Propheten bewerkstelligt werden, da die Offenbarung ein abgeschlossener Prozess ist, die Menschheit sich jedoch in einem ununterbrochenen, dynamischen Wandelprozess befindet. Die islamische Theologie benötigt tiefgreifende Forschung, um aus dieser Wahrnehmung Handlungskonzepte ableiten zu können. Der Nutzen dieses Konzepts für die islamische Religionspädagogik könnte darin liegen, dass es die Schüler*innen an die Wirklichkeiten des Lebens heranführt und zu solidarischem Handeln befähigt. Dafür brauchen die islamische Theologie und die islamische Religionspädagogik eine gewisse Offenheit gegenüber den Theorien und Methoden der Gegenwart. Diesbezüglich wäre eine Haltung, welche die Wissenschaften in islamische und »unislamische« unterteilt, nicht im Sinne des Islams. Aus diesem Grunde sind die Bemühungen der Bewegung »Islamisierung des Wissens« bei einigen islamischen Wissenschaftlern wie al-Attas and al-Faruqi (al-Faruqi 1982) daran gescheitert, dass Wissenschaft mit theologischen Einschränkungen nicht zu kontextualisieren ist. Damit der Religionspädagogik diese Handlungsorientierung gelingt, ist eine Öffnung ge-

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genüber den humanwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Methoden notwendig. Die Frage, ob islamische Überlegungen zur Handlungstheorie mit den humanwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Methoden zu vereinbaren sind, richtet sich nicht nur an die islamische Religionspädagogik; allerdings ist die Öffnung gegenüber den Humanwissenschaften alternativlos, wenn es gilt, sich der Praxis zuzuwenden. Diese Interdisziplinarität bietet nicht nur die Möglichkeit, Erkenntnisse für die islamische Religionspädagogik zu nutzen, sondern gestattet es darüber hinaus, die Erkenntnisse anderen Wissenschaften zur Verfügung zu stellen. Die herkömmlichen, aus der islamischen Theologie bekannten Methoden reichten in der Geschichte nicht aus, um die muslimische Praxis zu verstehen, und auch in der Gegenwart wird sie nicht genügen, um den Sorgen, Fragen und Erwartungen der Menschen an die Theologie und die Religionspädagogik gerecht zu werden, geschweige denn, darauf mit gezielten wissenschaftlichen Maßnahmen zu reagieren.

4.2

Umgang mit Koran und Sunna

In der muslimischen Welt findet die Aussage »Alles nach Koran und Sunna« vermeintlich breite Zustimmung, ohne inhaltliche Debatte darüber, was es bedeuten soll, das private und das gesellschaftliche Leben nach Koran und Sunna zu gestalten. Betrachtet man nun die diesbezügliche Praxis in unterschiedlichsten islamischen Ländern, stellt man fest, dass sich diese Aussage nur im Zusammenhang mit bestimmten praktischen Anwendungen wie dem Auspeitschen, dem Alkoholverbot oder der Verschleierungspflicht für Frauen bewahrheitet, die in der Bevölkerung mitnichten breite Zustimmung finden. Nicht von ungefähr sind sämtliche Versuche der Gründung eines islamischen Staates in vielen Teil der Welt gescheitert (Fatah 2015), da die damit verbundenen Ideale keineswegs geteilt werden, sondern die Menschen vielmehr veranlassen, scharenweise aus diesen Regionen zu flüchten oder dies zumindest zu versuchen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die zitierte Aussage der Lebenswirklichkeit der Menschen entsprechen müsste, damit die Befürworter*innen andere nicht als Feind*innen Gottes verurteilen. Wenn wir davon sprechen, dass die Offenbarung im Koran immer einen Bezug zum Leben hat, verweisen wir darauf, dass der Koran aus einem Dialog zwischen Menschen, Natur und Gesellschaft entstanden ist, darauf, dass die Inhalte und Antworten des Korans Resultat des Offenbarungsprozesses sind, der die Menschen über 23 Jahre begleitete. Auch wenn die Koranwissenschaften diese Tatsachen nicht immer belegen können und meinen, dass nicht alle Inhalte des Koran einen Offenbarungsanlass haben, bedeutet dies nicht, dass eine a¯ya ohne

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belegbare Herabsendungsgründe keinen Offenbarungsanlass gehabt hätte. Außer politischen, konfessionellen und ethnischen Gründen kann der Koran auch verborgene, unbelegbare Herabsendungsgründe – wie die psychologische Verfasstheit der Menschen – gehabt haben (I˙slamog˘lu 2014, S. 31–35). So betrachtet lässt sich sagen, dass der Herabsendungsgrund des Korans zweifelsohne der Mensch ist und folglich die Offenbarung als Ergebnis dieses Dialogs verstanden werden muss. Gott sucht diesen Dialog und reagiert auch auf die Handlungen der Menschen. I˙slamog˘lu listet einige Beispiele für dieses lebendige Verhältnis zwischen Menschen und Koran auf (I˙slamog˘lu 2014, S. 32): »So gedenkt Meiner, und Ich werde euer gedenken.« (Koran 2:152) »Wenn ihr (Mir) dankbar seid, werde Ich euch ganz gewiß mehr und mehr geben.« (Koran 14:7) »Sie vergessen Gott, und so vergißt Er sie.« (Koran 9:67)

Diese Liste von Beispielen dafür, dass Gott den Dialog sucht und auf das Verhalten der Menschen reagiert, ließe sich fortsetzen. Nun stehen wir vor der Aufgabe zu erkennen – nicht nur, wie wir Gott verstehen, sondern auch, wie Gott uns versteht. Dafür benötigt die islamische Religionspädagogik einen Zugang zu Koran und Sunna, der es ermöglicht, eine offene, ungehemmte Kommunikation zu führen. Mit Blick auf eine solche freie und fruchtbare Kommunikation entsteht für die Religionspädagogik die Aufgabe, die Lernenden im Lernprozess dazu zu befähigen, Koran und Sunna aus ihrer eigenen Perspektive zu reflektieren und so das Gegebene eigenständig mit gesunder Neugier zu buchstabieren, ohne fertige Antworten inhalieren zu müssen. Im theoretischen Bereich hilft es der Religionspädagogik, auf verschiedene Methoden und Theorien zurückzugreifen, damit das neue Verständnis den Lernenden neue Interpretationsräume schafft. Neben historischen Methoden der Koranauslegung (Goldziher 1920) würden auch Annäherungen an den Koran mit den Methoden der Geisteswissenschaften (Özsoy 2010, S. 59) wie der Anthropologie, Semantik, Hermeneutik und Semiotik ihn zu einem dynamischen Medium des Lernprozesses machen (Vetter 2002). Damit kann der Koran in Bewegung kommen und zu einem dynamischen Objekt der Kommunikation werden (Heger 2017, S. 434). Wissenschaftstheoretisch bedeutet dies für die Religionspädagogik, eine abgeschlossene Offenbarung im Lernprozess wieder zu öffnen. Denn eine fundierte Religionspädagogik kann sich nicht wissenschaftlich isolieren und sich nur auf die Suche in der Geschichte machen, um sich mit Fragmenten eigener Wissenschaftsgeschichte zufriedenzugeben. Diesen Abschnitt können wir mit den Worten eines der bekanntesten Gelehrten der islamischen Geschichte, Abu¯ Hanı¯fa, aus seinem Werk al-ʿA¯lim wa al˙

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Mutaʿallim abschließen, der auf die Frage, welche wir heute beantworten müssen, bereits eine Antwort gab: »Der Gelehrte (möge Allah sich seiner erbarmen) sagte: ›… Doch sage zu ihnen, wenn sie dir sagen: ›Reicht dir das, was den Gefährten Allahs ausgereicht hat etwa nicht aus?‹, folgendes: ›Ja, sicher würde mir das, was ihnen reichte, auch ausreichen, würde ich mich in ihrer Situation und Stufe befinden, doch die Lebenswirklichkeit, in der sie lebten und die, in der wir leben, ist nicht die gleiche.‹‹« (Hanı¯fa 2017) ˙

5.

Abschließende Bemerkungen

Glaube ist nicht allein das Ergebnis eines gelungenen Lernprozesses, somit kann keine Religionspädagogik Glauben als Produkt einer Wissenschaftlichkeit versprechen. I¯ma¯n ist letztendlich ein Geschenk Gottes (hida¯yah). »WAHRLICH, du kannst nicht jeden rechtleiten, den du liebst: aber Gott ist es, der rechtleitet, wer (rechtgeleitet werden) will.« (Koran 28:56)

Der Wahrheit auf die Spur zu kommen ist nicht ausschließlich eine wissenschaftliche Aufgabe, die sich allein mit wissenschaftstheoretischen Mitteln bewältigen ließe. Die Religionspädagogik ist angehalten, die Fragen der Kinder ernst zu nehmen und sich gemeinsam mit ihnen auf die Suche nach Antworten zu begeben. Was die islamische Religionspädagogik in diesem Lernprozess also tun kann, ist die Schüler*innen zu ermutigen, ihre Fragen offen und ohne Scheu zu stellen, im Vertrauen darauf, in der Gesellschaft und möglicherweise bei Gott Gehör zu finden, von Gott wahrgenommen zu werden (Alston 2006). In diesem Prozess kann die islamische Religionspädagogik auf ein breites historisches Repertoire von Methoden und Theorien, welche auf die Bedeutung der Tradition verweisen, zugreifen. Die pluralistischen Gesellschaften Europas fordern dazu heraus, auf neue Verhältnisse unter neuen Voraussetzungen zu reagieren. Das bedeutet, dass eine zukunftsfähige islamische Religionspädagogik die Pluralität der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Gegenwart wahrnimmt und in der eigenen Tradition weiterdenkt, um mit einem eigenen Profil die wissenschaftstheoretische Landschaft in Europa zu bereichern.

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Ednan Aslan

Der Koran als Quelle der islamischen Religionspädagogik

Zusammenfassung Der Koran ist nicht nur die wichtigste Quelle für die religiöse Lebensführung von Menschen muslimischen Glaubens im Allgemeinen, sondern auch eine zentrale Berufungsinstanz der islamischen Erziehung. Daher kann auch die islamische Religionspädagogik nicht umhin, bei der Vermittlung der »Religion« außer auf wissenschaftliche Erkenntnisse auch auf den Koran Bezug zu nehmen, andernfalls würde sie weder bei den Religionsgemeinden noch bei den Gläubigen Anerkennung finden. Der vorliegende Beitrag geht jenen Stellen des Korans nach, die für eine theologische Begründung der islamischen Religionspädagogik relevant sind, und diskutiert sie unter dem Aspekt ihrer Gegenwartsrelevanz.

1.

Einleitung

1.1

Was ist der Koran?

Das Wort »Koran« bedeutet »lesen« bzw. »rezitieren«, kann aber auch als »Sammlung« oder »Zusammenführung« übersetzt werden. Die Offenbarung des Korans an den Propheten Muhammad erstreckte sich über einen Zeitraum von ˙ mehr als 20 Jahren, unter verschiedenen, teils bekannten, teils unbekannten Umständen und auf unterschiedliche Art und Weise (mara¯tib al-wahy). Sie fand ˙ in Form einer Traumvision, einer Eingebung im Wachzustand, durch die Vermittlung des menschgewordenen Erzengels Gabriel oder aber begleitet von einem dröhnenden, glockenähnlichen Ton statt. Die Umstände der Offenbarung (wahy) entziehen sich dem menschlichen Verstand, sie erfordern den Glauben an ˙ die Wahrhaftigkeit des Propheten Muhammad und daran, dass er den Menschen ˙ die wahre Botschaft Gottes verkündet hat. Über die Rolle des Propheten im Prozess der Offenbarung gibt es in der islamischen Theologie unterschiedliche Auffassungen – manchen zufolge war sie

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auf die eines Verkünders beschränkt, der das Wort und den Sinn des Korans unverändert, ohne eigenes Zutun weitergegeben hat (Yavuz 2012). Im Koran selbst (26:192–196, 17:106 und 3:3–4) heißt es dazu wie folgt: »von Gott durch einen aufrichtigen Vermittler in das Herz des Propheten Muhammed in einer verständlichen arabischen Sprache herabgesandt«. Der Koran beinhaltet die universalen Erkenntnisse der Menschheit, bestätigt die Offenbarungen früherer Völker und hilft den Menschen, das Gute vom Bösen zu unterscheiden (Islamog˘lu 2014, S. 87). Die Sprache des Korans ist klar und verständlich, damit die Offenbarung allen Menschen zugänglich ist.1 »UND NIEMALS haben Wir einen Gesandten anders als (mit einer Botschaft) in der Sprache seines eigenen Volkes entsandt, auf daß er ihnen (die Wahrheit) klar machen möge…« (Koran 14:4)2

Das lässt sich so verstehen, dass nicht die Sprache des Korans, sondern seine in dieser Sprache ausgedrückte Botschaft göttlichen Ursprungs ist. Dies heißt eben nicht, dass die Sprache Gottes die arabische Sprache ist. Im Folgenden soll es nun um jene koranischen Begriffe und Inhalte gehen, die auf die Bedeutung der Erziehung und Bildung hinweisen.

2.

Koranische Begriffe zur Erziehung und Bildung

2.1

Tarbiya (Erziehung)

Wie der Erziehungswissenschaftler Mursı¯ Munı¯r in seinem bekannten Werk AlTarbiya al-isla¯miyya schreibt, ist der Begriff tarbiya (islamische Erziehung) in der islamischen Kultur relativ neu; er wird weder im Koran noch in der Sunna des Propheten erwähnt (Mursı¯ 1977, S. 48). Tarbiya wird jedoch aus dem Begriff rabb3 gebildet, einem zentralen Begriff des Korans, der von der Wurzel rabba abgeleitet wird und so viel bedeutet wie »etwas zur Vervollkommnung führen«, »etwas pflegen«,4 »etwas formen« oder »bilden« (Ibn Manzu¯r 1990). Im Koran finden sich auch weitere aus der Wortwurzel rabba abgeleitete Begriffe, die sich 1 Weitere Literatur zum Koran: Khoury, A. Th. (1992). Der Koran. Übersetzung unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn; Rahman, F. (1980). Major themes of the Qur’an. Chicago: University of Chicago Press; Bobzin, H. (1999). Der Koran. Eine Einführung. München: Beck; Nöldeke, T. (1909–19). Geschichte des Qorans. Bearbeitet von Friedrich Schwally, I, II. Leipzig: Hansebooks. 2 Sämtliche in diesem Beitrag zitierten Koranstellen sind der Übersetzung von Asad (2009) entnommen. 3 Der arabische Begriff raba¯ (‫ )ﺭﺑﺎ‬bedeutet wörtlich »vermehren« (siehe Koran 2:276). ِ 4 »Sagte (Pharao): ,Haben wir dich nicht unter uns aufgezogen ‫› ُﻧ َﺮﺑّ َﻚ‬als du ein Kind warst?‹« (Koran 26:18)

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auf die Vermehrung der Ernte und das Wachsen der Pflanzen beziehen (Koran 69:10, 30:39). Die attributive Form rabba¯nı¯ beschreibt diejenigen, die von Gott erzogen bzw. begleitet werden; tarbawı¯, die Adjektiv-Form dieses Begriffs, wird auch in diesem Sinne im pädagogischen Bereich verwendet. Ibn al-Anba¯rı¯ (884–940) führt drei Bedeutungen für den Begriff rabb an: Besitzer, d. h. erhabener Herr bzw. Gott, demgegenüber Gehorsam gilt, sowie wohlwollender Machthaber bzw. allmächtiger großzügiger Gott, der für die Angelegenheiten seiner Geschöpfe Sorge trägt. Murabbı¯, der Erzieher, soll ausgehend von diesem Begriffsinhalt für die Erziehung sowie die Fürsorge und Verwaltung der Belange der zu Erziehenden zuständig sein (Dawoud 2018, S. 22). Im Zusammenhang mit tarbiya werden im Koran weitere synonyme Begriffe wie tansˇiʾa (Bildung), siya¯sa (Leitung, Steuerung) und isla¯h (Umerziehung, ˙ ˙ Verbesserung usw.) verwendet. Als Synonym für tarbiya findet sich des Öfteren auch der Begriff taʾdı¯b, der allerdings umfassender und ein Ergebnis von tarbiya ist. Durch taʾdı¯b erwerben die Kinder jene Kompetenzen, die sie für ihre sozialen und religiösen Handlungen benötigen (Ahmed 2016). Dieser Begriff besagt, dass der Mensch durch sein Handeln Seelenfrieden findet, also durch Übereinstimmung seiner Natur mit seinem Tun mit sich ins Reine kommt (Çag˘rıcı 1994). Wie dieser kurzen Ausführung zu entnehmen ist, besitzt der Begriff rabb im Koran vielfältige Bedeutungen, weshalb er nicht eindeutig ins Deutsche übersetzt werden kann. Um seine natürlichen Eigenschaften und seine Talente entfalten zu können, bedarf der Mensch der Erziehung. Ra¯ g˙ib al-Isfaha¯nı¯ definiert tarbiya in seinem ˙ arabischen Wörterbuch als eine Tätigkeit, die den Menschen schrittweise zur Vervollkommnung führt (al-Isfaha¯ nı¯ 1962). Der Prophet Muhammad sieht sich ˙ ˙ selbst in der Funktion als von Gott erzogener Lehrer für die muslimische Gemeinschaft (Ibn Ma¯gˇa, Muqaddima 17). In der ersten Sure des Korans wird Gott als rabbi l-ʿa¯lamı¯na (»Erhalter aller Welten«) bezeichnet. In dieser Eigenschaft ist Gott nicht nur Erzieher der Menschen, sondern eine Instanz, welche die Regeln für deren Lebensweise festlegt und ihnen Orientierung bietet: »ʾinna lla¯ha rabbı¯ wa-rabbukum. Wahrlich, Gott ist mein Erhalter wie auch euer Erhalter.« (Koran 3:51) »da¯likumu lla¯hu rabbukum la¯ ʾila¯ha ʾilla¯. So ist Gott, euer Erhalter; es gibt keine ¯ Gottheit außer Ihm.« (Koran 2:163)

In dieser Eigenschaft ist Gott nicht nur Schöpfer, sondern ein Gott, der den Menschen rechtleitet.

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2.2

Fitra ˙

Ein weiterer koranischer Begriff, welcher der islamischen Erziehung eine klar menschenzentrierte Richtung vorgibt, ist der Begriff fitra5. Dieser leitet sich von ˙ der Wortwurzel fatr ab und bedeutet »natürliche Veranlagung«. Asad sieht darin ˙ die dem Menschen angeborenen Eigenschaften: »Fitra bezeichnet in diesem Zusammenhang die angeborenen intuitiven Fähigkeiten des Menschen, zwischen Recht und Unrecht, Wahr und Falsch zu unterscheiden und damit Gottes Existenz und Einheit zu verspüren.« (Asad 2009, S. 776)

Der Koran ruft den Menschen dazu auf, sich dieser Natur zu besinnen, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können: »UND so richte dein Gesicht standhaft zu dem (einen immer wahren) Glauben hin und wende dich ab von allem, was falsch ist, in Übereinstimmung mit der natürlichen Veranlagung, die Gott dem Menschen eingegeben hat. (Denn) keine Veränderung zum Verderben dessen, was Gott also erschaffen hat, zu erlauben – dies ist der (Zweck des einen) immerwahren Glaubens; aber die meistens Menschen wissen es nicht.« (Koran 30:30)

Die Orte, an denen die Sozialisation eines Individuums stattfindet, sind die Familie und die Gesellschaft. An ihnen ist es, ihm eine Erziehung angedeihen zu lassen, die es ihm ermöglicht, sich zu einem kultivierten, zivilisierten und moralischen Menschen zu entwickeln. Denn obwohl der Mensch seiner Naturveranlagung nach nicht böse ist, kann er durch die gesellschaftlichen Verhältnisse verdorben werden. Damit kommt der Erziehung die Aufgabe zu, die Naturveranlagung des Kindes in die richtigen Bahnen zu lenken, um aus ihm einen verantwortungsbewussten Menschen werden zu lassen.

2.3

Tazkῑya

Der Begriff tazkῑya hat seinen Ursprung in der Wortwurzel zaka¯ und bedeutet »reinigen«, »Rückführung zum Ursprung« oder »aufrichtige Charaktereigenschaft« (Ibn Manzu¯r 1990, S. 357). In der islamischen Literatur wird darunter die Reinigung des Herzens von allen schlechten und die Förderung aller guten Charaktereigenschaften verstanden. Dies ist der erste Schritt eines Menschen, der den Wunsch hat, sich weiterzubilden, in Richtung Entfaltung seiner besten Charaktereigenschaften. Doch diese Reinigung kann der Mensch nicht selbst bewerkstelligen, dazu bedarf er der Rechtleitung Gottes:

5 Mehr zum Begriff fitra siehe Swadique, Hudawi & Podiyd (2019).

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»Und wäre nicht Gottes Gunst gegen euch und Seine Gnade, nicht einer von euch wäre jemals rein geblieben…« (Koran 24:20)

Durch diese Reinigung kann es dem Menschen gemäß dem Koran letztlich gelingen, Glückseligkeit zu erreichen: »Einen glückseligen Zustand wird fürwahr erlangen, wer dieses (selbst) an Reinheit wachsen läßt.« (Koran 91:9)

2.4

Hida¯ya, irsˇa¯d, rasˇῑd

Der im Islam zentrale Topos der göttlichen Rechtleitung, für den vorwiegend die Wörter huda¯ und hida¯ya gebraucht werden, leitet sich von der arabischen Konsonantenwurzel y-d-h in der Bedeutung »auf den rechten Weg führen«, »leiten«, »den Weg zeigen« ab (Wehr 1985, S. 1344).6 Nach islamischem Verständnis kann der Mensch Seelenheil und ewige Seligkeit im Jenseits nur durch das Wandeln auf dem rechten Weg, das heißt durch eine Lebensführung im Einklang mit den rechtlichen und moralischen Prinzipien des Islams erlangen. Der Koran bezeichnet sich selbst als hida¯ya für jene, die ihr Leben in Kommunikation mit Gott gestalten möchten. Der Mensch benötigt die göttliche Rechtleitung, die ihm durch eine Anzahl von Quellen zuteilwird. Die erste Quelle ist Gott selbst, danach folgt die menschliche Verantwortung. Die göttliche Rechtleitung setzt voraus, dass der Mensch überhaupt in der Lage ist, sich für Gott zu entscheiden. Dies zu gewährleisten ist Aufgabe der islamischen Erziehung und ihrer Bildungsmaßnahmen (Kelsay 1994). Dass als Medium der göttlichen Rechtleitung auch ein »gewöhnlicher« Mensch fungieren kann, zeigt sich in der islamischen Tradition des na¯siha – des aufrichtigen Ratschlags, den alle ˙˙ wohlwollenden Menschen muslimischen Glaubens anderen erteilen sollen. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer koranischer Begriff zu nennen, irsˇa¯d, was als »geistige Reife« verstanden werden kann. Demnach ist rasˇ¯ıd eine Person, die mündig ist, eigene Entscheidungen zu treffen bzw. Verantwortung für ihre Handlungen zu tragen. Im Koran wird dieser Begriff unter anderem auch als Synonym für eine richtige Entscheidung verwendet: »Es soll keinen Zwang geben in Sachen des Glaubens. Deutlich unterschieden geworden ist nun der rechte Weg von (dem Weg des) Irrtums; wer darum die Mächte des Übels verwirft und an Gott glaubt, hat fürwahr eine höchst unfehlbare Stütze ergriffen, die niemals nachgibt: denn Gott ist allhörend, allwissend.« (Koran 2:256)

6 Mehr zu diesen Begriffen siehe Aslan & Modler-El Abdaoui (2015).

64 2.5

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Taʿlῑm

Taʿlῑm leitet sich von der Wortwurzelʿilm (Wissen, Kenntnis) ab und meint das Wissen über Natur, oder anders formuliert: Taʿlῑm beschreibt die Kompetenzen, die ein Mensch benötigt, um in der Gesellschaft handeln und seiner Verantwortung gerecht werden zu können. Durch taʿlῑm werden kognitive Kenntnisse erweitert. Im Koran wird Gott als Erkenntnisquelle vorgestellt, die den Menschen die Erscheinungen und Hintergründe (hikma) der Schöpfung begreifen lässt (Koran ˙ 2:31, 12:101). Taʿlῑm umfasst die Gesamtheit der Lern- und Lehrmethoden der Erziehung, die den Menschen zur Erkenntnis und zu selbstbewusstem Handeln führt. Diese Methoden sind in der sogenannten A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l–mutaʿallim-Literatur, den ersten pädagogischen Werken der islamischen Wirkungsgeschichte, festgehalten.

2.6

Qalb

Qalb, das Herz (abgeleitet von der arabischen Konsonantenwurzel q-l-b), ermöglicht es dem Menschen, zu hören (Koran 22:46), zu denken (Koran 17:46) und zu fühlen (Koran 13:29). Der Begriff wird im Koran insgesamt 132-mal in verschiedenen Formen genannt. Qalb bezeichnet das Herz nicht als Organ im anatomischen Sinn, sondern als den Sitz des Gewissens (Koran 3:8, 49:7), des Gefühls (Koran 3:103, 8:63, 33:51), des Bewusstseins (Koran 16:108, 45:23) und der Vernunft (Koran 2:97, 3:7, 7:100, 18:57). Wenn es heißt, dass der Glaube im Islam die Bestätigung des Herzens erfordere (Koran 3:167, 9:60, 16:22, 49:14, 74:31), sind darin auch das Wissen (ʿilm) (Koran 6:25, 9:87), die Weisheit (hikma) ˙ (Koran 45:23) und die Charaktereigenschaften (Koran 8:2, 22:32, 26:89, 39:23) inbegriffen. Mit diesem Begriff wird der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit erfasst, als jemand, den es mit all seinen unterschiedlichen Aspekten wahrzunehmen gilt.

2.7

Lubb

Lubb bezeichnet die Essenz einer Sache, es ist »die ohne Rückgriff auf die Sinne auskommende und von jeglicher Art von Zweifel bereinigte, in der Beurteilung von Wahrheiten ausgereifte Vernunft« (Esen 2010). Im Koran erscheint dieser Begriff im Zusammenhang mit Menschen, die fähig sind, zu denken, zu beurteilen und zu erkennen:

Der Koran als Quelle der islamischen Religionspädagogik

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»…bleibt euch denn Meiner bewusst, o ihr, die ihr mit Einsicht versehen seid (ya-ʾuli lʾalba¯bi).« (Koran 2:197) »Sag: ›Können diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen, für gleich erachtet werden?‹« (Koran 39:9)

ʾUli l-ʾalba¯b beschreibt im Koran jene Menschen, die ihr Handeln und ihre Lebensführung an dem orientieren, was sie mit der Vernunft wahrnehmen und mit dem Herzen verstehen (Koran 13:19).

2.8

Fu’a¯d

Fu’a¯d kann ebenfalls mit »Herz« übersetzt werden, mit dem Unterschied jedoch, dass fu’a¯d im poetischen Sinne ein liebendes, wünschendes, leidendes und brennendes Herz beschreibt (Çalık 2011). Çalık leitet diese Definition aus der a¯ya 28:10 ab, die das Leiden der Mutter Moses (wa-’asbaha fu’a¯du ’ummi mu¯sa¯ ˙ ˙ fa¯rig˙an) beschreibt. In der islamischen Religionspädagogik sind diese Begriffe von Relevanz, weil der Koran den Menschen, wie erwähnt, als ein ganzheitliches Wesen darstellt und daher die Vernunft, die Handlungen und das Herz (das Innerste des Menschen) als eng zusammenhängend in das Zentrum der islamischen Erziehung rückt.

2.9

Kita¯b, qalam

Kita¯b wird aus der arabischen Wortwurzel kataba abgeleitet und bedeutet »Zusammenlegung der Schriften«. Der Koran weist immer wieder auf die Bedeutung von Schrift (kita¯b) hin, konkret wird diese in verschiedenen Formen an 322 Stellen erwähnt (Batar 2019). Im Koran wird mit diesem Begriff auf die Bedeutung der wissenschaftlichen Begründung von Argumenten und die Unzulässigkeit von Mutmaßungen hingewiesen: »Bringt also diese eure göttliche Schrift hervor, wenn ihr die Wahrheit sprecht!« (Koran 37:157) »Sag: ›Kommt denn herbei mit der Thora und rezitiert sie, wenn, was ihr sagt, wahr ist!‹« (Koran 3:93)

Auch wenn der Koran mit dem Begriff kita¯b sich selbst und auch andere heilige Schriften bezeichnet, darf seine Bedeutung nicht darauf reduziert werden; kita¯b bedeutet viel mehr als heilige Schriften. Neben kita¯b wird der Begriff qalam (Schreibfeder) in verschiedenen Suren erwähnt (Koran 3:44, 31:27, 68:1–2, 96:4); eine Sure, die achtundsechzigste, wurde

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Ednan Aslan

sogar danach benannt (al-Qalam). In der chronologischen Ordnung der Offenbarung nimmt diese Sure höchstwahrscheinlich die dritte Stelle ein (Asad 2009, S. 1082). In seinem Kommentar zur Su¯ra al-ʿAlaq, welche mit der Aufforderung an die Menschen, zu lesen, beginnt, schreibt Asad über die symbolische Bedeutung der Schreibfeder im Koran Folgendes: »Die ›Schreibfeder‹ wird hier als Symbol für die Kunst des Schreibens gebraucht, oder spezieller für alles mittels Schreiben festgehaltene Wissen: und dies erklärt den symbolischen Aufruf ›Lies!‹ am Anfang von Vers 1 und 3. Die einzigartige Fähigkeit des Menschen, mit Hilfe schriftlicher Aufzeichnungen seine Gedanken, Erfahrungen und Einsichten von Individuum zu Individuum, Generationen zu Generationen einer kulturellen Umgebung zur anderen weiterzugeben.« (Asad 2009, S. 1175)

Die beiden Begriffe, die im Koran als Symbole für die Fähigkeit zu schreiben und zu argumentieren verwendet werden, weisen zugleich darauf hin, dass der Einzelne unaufhörlich an der fortwährenden Wissensakkumulation der Menschheit teilnimmt (Asad 2009, S. 1175): Damit fordert der Koran die Menschen auf, ihre Erkenntnisse zu erweitern und mit Gottesbewusstsein ihren Platz im Diesseits und Jenseits zu finden.

3.

Der Koran ist kein Fachbuch für Erziehung und Bildung

Aus dem Umstand, dass der Koran eine Vielzahl an Begriffen enthält, die auf die Bedeutung der Erziehung hinweisen, sollte nun nicht der Eindruck entstehen, dass der Koran etwa ein Buch der Pädagogik oder einer anderen Humanwissenschaft sei. Dennoch haben sich nicht wenige Gelehrte der Theologie bemüht, die Anzahl der im Koran vorkommenden Wissenschaften aufzulisten; dazu zogen sie Stellen heran wie »da Wir dir von droben, Schritt für Schritt diese göttliche Schrift erteilt haben, um alles klar zu machen« (Koran 16:89) oder »obwohl es kein Tier gibt, das auf der Erde wandelt, und keinen Vogel, der mit seinen zwei Flügeln fliegt, die nicht (Gottes) Geschöpfe sind wie ihr selbst: keine einzige Sache haben wir in Unserer Bestimmung ausgelassen« (Koran 6:38). Ibn al-ʿArabı¯ al-Maʿa¯firı¯ bestimmt in seinem bekannten Werk Qa¯nu¯n at-taʾwı¯l fı¯-t-tafsı¯r (Brockelmann 1996, S. 457) die Zahl der im Koran erwähnten Wissenschaften mit einer einfachen Formel: Er multipliziert die Wörter des Korans mit vier (ihm gemäß hat jedes Wort im Koran vier unterschiedliche Bedeutungen) und kommt so auf eine Anzahl von 77.450 Wissenschaften. Der bekannte andalusische Koranexeget as-Suyu¯t¯ı führt ver˙ schiedene koranische a¯ya¯t als Beispiele für bestimmte Wissenschaften an: »An example of a science is the verse: intaliqu¯ ʽila zillin dῑ tala¯ti ˇsuʽab (77:30, 31), which ¯ ¯ ¯ ˙ ˙ is the title for the science of engineering. This is because the triangle is the foremost of

Der Koran als Quelle der islamischen Religionspädagogik

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forms, and when any one of its sides is raised facing the sun no shadow is formed, and this is because of the sharpness of its edges. And by way of ridicule God Almighty orders the people of Hell Fire to seek shelter under an object with this shape! And the verse: waka-da¯lika nurῑ ’ibra¯hῑma malaku¯ta s-samawa¯ti wa-l-’ardi wa-li-yaku¯na minal-muqinῑn ¯ ˙ (6:75) serves as a title for the sciences of metaphysics, polemics and astronomy.« (AsSuyuti 2020, S. 114)

As-Suyu¯t¯ı geht sogar noch einen Schritt weiter und nennt bestimmte Handwerke ˙ wie die Tischlerei, Glaserei, Bäckerei, Kochkunst, Reinigung und Lackiererei, die ihren Ursprung ebenfalls im Koran hätten (as-Suyu¯t¯ı 1857). ˙ Al-G˙azza¯lı¯ berichtet von Gelehrten, die einer a¯ya aus dem Koran 60.000 Bedeutungen zuschreiben, womit der Koran insgesamt 77.200 Bedeutungen hätte. Nach al-G˙azza¯lı¯ inkludiert der Koran sämtliche Wissenschaften7 und Lösungen für alle Probleme der Menschheit (al-G˙azza¯lı¯ 1993). Für nicht wenige Wissenschaftler*innen ist der Koran darüber hinaus ein Buch der Magie (Biesterfeldt & Günther 2018) – eine Ansicht, die nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart viele Fürsprecher hat; ihnen gilt der Koran als Zentrum aller Wissenschaften und Wunder (Adalı 2010; Yahya 2003). Diese Lesart des Korans muss freilich als sehr emotional, wenn nicht gar einfältig erachtet werden, schließlich wurde der Koran nicht offenbart, um Wissenschaft und Technologie zu lehren. Der Koran ist ein Buch der hida¯ya (Rechtleitung), in dem es etwa beim Thema Himmel nicht um dessen physikalisch-wissenschaftliche Erklärung geht, sondern um die Tugenden, die zum Eingang in ihn verhelfen. Im Koran finden sich zwar Hinweise zur Lösung von Problemen, deren Umsetzung jedoch hängt von den geistigen Anstrengungen des Menschen ab. Der Koran fordert die Menschen auf, ihren Verstand zu gebrauchen, um Natur und Gesellschaft zu verstehen. Die islamische Religionspädagogik kann den Herausforderungen der Bildung und Erziehung der Gegenwart nicht mit fertigen Konzepten aus dem Koran begegnen, ihm jedoch durchaus allgemeine Prinzipien entnehmen, welche die Menschen mit ihren eigenen Fähigkeiten zu deuten und formen vermögen. Wird von den Prinzipien des Korans gesprochen, dann bildet die offene Kommunikation8 das Zentrum islamischer Erziehung, die es in der Beziehung zu Gott anzustreben gilt. Gott sucht das Gespräch mit den Menschen, die er in die Mitte der Offenbarung rückt und denen er großes Vertrauen9 schenkt. In diesem 7 »The Koran is a focal source for Ghaza¯lῑ, who refers to it as ›the fathomless ocean‹ from which emerges all knowledge, even logic, medicine, arithmetic, and geometry, which was inherited from the ancient Greeks, minhu yatasha abu ʿilm al- awwalῑn wal’l a¯khirῑn.« (Said 2013, S. 40) 8 »Aber euer Erhalter sagt: ›Ruf zu Mir, (und) Ich werde euch erhören.‹« (Koran 40:60) 9 »…Auf Gott sollen denn die Gläubigen ihr Vertrauen setzen!« (Koran 3:160); »UND SIEHE! Dein Erhalter sagte zu den Engeln: ›Seht, Ich bin dabei, auf Erden einen einzusetzen, der sie erben wird.‹« Kommentar von Asad: »Wörtl.: ›auf Erden einen Nachfolger einzusetzen‹ oder

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Ednan Aslan

offenen Dialog hat der Mensch die Freiheit,10 sich für oder gegen den Glauben zu entscheiden. Eine gebildete Religiosität im Sinne des Korans bezieht sich auf die Überzeugung vom Menschen als ganzheitliches, freies Wesen und kritisiert die blinde Religiosität. Mit diesem Vertrauen handelt der Mensch im Auftrag Gottes und richtet sich dementsprechend in seiner Lebenswelt ein. In dieser Entwicklungsphase benötigt der Mensch die Hilfe der Erziehung,11 um sich bilden zu können. Diese Erziehung soll die Bildung vermitteln, die jungen Menschen Selbstbestimmung ermöglicht und sie in die Lage versetzt, sich selbst und ihre Umwelt zu erkennen und sich weiterzuentwickeln.12 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine am Koran orientierte Erziehung die Entscheidungsfähigkeit des Subjekts im Blick hat. Islamische Erziehung schützt die Freiheit des Menschen und unterstützt ihn dabei, mit der Freiheit umzugehen und in seinem Lebensumfeld Orientierung13 zu finden. Eine gelungene islamische Erziehung erweitert die sinnlichen Qualitäten und die Spiritualität des Menschen, ohne seine leiblich-endliche Verfasstheit aus den Augen zu verlieren.

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10 11 12

13

einen ›Statthalter‹. Der Begriff khalifa – vom Verb khaliafa ›er folgte (einem anderen) nach‹ hergeleitet – wird in dieser Allegorie gebraucht, um die rechtmäßige Oberhoheit des Menschen auf Erden zu beschreiben, die am angemessensten übertragen wird mit ›er wird die Erde erben‹ (in dem Sinne, daß sie ihm in Besitz gegeben wird).« (Asad 2009, S. 34) »Und sag: ›Die Wahrheit (ist nun gekommen) von eurem Erhalter: lasse den an sie glauben, wer will, und lasse sie verwerfen wer will.‹« (Koran 18:29) »[…] der (den Menschen) den Gebrauch der Schreibfeder gelehrt hat – den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte« (Koran 96:4–5). »Das Gleichnis des Lebens dieser Welt ist nur das des Regens, den Wir vom Himmel herabsenden, und der von den Pflanzen der Erde aufgenommen wird, wovon die Menschen und Tiere Nahrung beziehen, bis – wenn die Erde ihren kunstvollen Schmuck angelegt hat und verschönt worden ist, und diejenigen, die auf ihr wohnen, glauben, daß sie die Herrschaft über sie erlangt haben, – da Unser Gericht auf sie herabkommt, bei Nacht oder bei Tag, und Wir lassen sie (wie) ein niedergemähtes Feld werden, als ob es kein Gestern gegeben hätte. Also klar legen Wir diese Botschaften dar für Leute, die denken.« (Koran 10:24) »Es war der Monat Ramadan, in dem der Qur’an (zuerst) von droben erteilt wurde, als Rechtleitung für den Menschen und evidenter Beweis dieser Rechtleitung und als Maßstab, mit dem das Wahre vom Falschen zu unterscheiden ist.« (Koran 2:185)

Der Koran als Quelle der islamischen Religionspädagogik

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Tuba Is¸ık

Die Bedeutung des Propheten Muhammad für die religiöse ˙ Bildung

Zusammenfassung Der Prophet und Gesandte Muhammad gilt vielen Menschen muslimischen ˙ Glaubens als nachzuahmende Orientierungsfigur für ihre Lebensgestaltung, insbesondere mit Blick auf seinen moralischen Charakter, der im Koran immer wieder als beispielhaft hervorgehoben wird. Aus koranischen Formulierungen wie »Gehorchet Gott und gehorchet seinem Gesandten!« entwickelte sich in der gelebten Frömmigkeit eine bemerkenswerte Verehrung des Propheten, die von der Anerkennung als Vorbild bis zu verschiedenen Formen des Personenkults reicht. Nun besteht der religionspädagogische Anspruch darin, den Gesandten weniger in seiner regulativen Funktion für die muslimische Glaubensgemeinschaft als vielmehr hinsichtlich der exzeptionellen Dimension seiner ethischen Wirkkraft zum Thema zu machen. Hierfür wird für den islamischen Religionsunterricht anhand des Propheten eine Lerntheorie des ethischen Lernens entfaltet, deren Dreh- und Angelpunkt ein konstruktivistisches Modellverständnis ist. Das konstitutive Moment des ethisch-religiösen Lernens liegt in der Schulung der moralischen Urteilskompetenz, für die der Gesandte Muhammad als Modell ˙ zu fungieren vermag. Die Modellhaftigkeit von Handlungsentscheidungen soll die Schüler*innen zu der Frage führen: Wie soll ich handeln? Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass für die Plausibilisierung des eigenen ethischen Handelns die prophetische Begründung höhere Relevanz hat als normative Handlungsmuster. Denn moralisch richtiges Handeln ergibt sich aus richtigen Einstellungen, persönlichen Haltungen und Charaktereigenschaften. Die Vorbildlichkeit des Propheten soll helfen, diese Eigenschaften und Haltungen zu reflektieren, um sich seiner selbst bewusst zu werden.

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1.

Tuba Is¸ık

Begründungsgrundlagen

Die Thematisierung der prophetischen Gestalt unter dem Aspekt ihrer regulativen Kraft für das alltägliche Leben von Muslim*innen ist ein zentraler Diskussionsgegenstand nicht nur der islamischen Theologie, sondern auch der religiösen Bildung und damit eine wesentliche Fragestellung der islamischen Religionspädagogik. Wenn islamisch-religiöse Bildung im schulischen Kontext zur Subjektwerdung beitragen und Schüler*innen dazu befähigen soll, sowohl allgemein als auch konkret zur Religion Stellung zu beziehen, steht die traditionell favorisierte Nachahmungsdidaktik konsequenterweise zur Disposition. Wenn in muslimischen Kreisen der Zusammenhang zwischen Erziehung und dem Propheten Muhammad diskutiert wird, ist eine elementare Assoziation die ˙ der Vorbildrolle des Propheten und damit in religionspädagogischer Hinsicht das »Vorbildlernen«. Diese Form des Imitationslernens gründet sich theologisch auf ein invariables Bild des Propheten, den es zu lieben, zu verehren, zu bewundern und dem es nachzueifern gilt. Diese Lerntheorie war lange Zeit nicht nur in der islamischen Frömmigkeit, sondern auch in der islamischen Bildung verbreitet und ist in weiten Kreisen weiterhin populär. Die traditionelle Vorstellung des Vorbildlernens rekurriert auf blinder Nachahmung (taqlı¯d), mit der bereits im frühen Kindesalter begonnen werden solle (Giladi 1992, S. 55). Mit diesem Verständnis geht die Überzeugung einher, dass die alltäglichen und zwischenmenschlichen Verhaltensweisen Muhammads für die Muslim*innen ˙ Vorbildfunktion und Verbindlichkeit hätten – wofür sowohl der Koran als auch die Hadithsammlungen eine umfassende Grundlage bieten. Eine entscheidende Koranstelle, die von der Mehrheit der Exegeten und Rechtsgelehrten als konstitutive Grundlage der Vorbildlichkeit des Gesandten betrachtet wird, ist Sure 33, Vers 21: »Wahrlich, im Gesandten Gottes habt ihr ein gutes/schönes Beispiel für jeden, der (mit Hoffnung und Ehrfurcht) dem Letzten Tag entgegensieht und unaufhörlich Gottes gedenkt.« Diese Stelle wird zunehmend nicht nur in ihrer grundsätzlichen Verbindlichkeit verstanden, wonach es gelte, die eigene alltägliche Lebensgestaltung am Beispiel des Propheten zu orientieren, sondern auch auf das Leben und die Schöpfung übertragen, in dem Sinn, dass diese aus dem Blickwinkel der Offenbarung zu betrachten und in dieser Betrachtungsweise das Leben und die Schöpfung zu lesen seien. Der iranische Philosoph Mohammad Mojtahed Shabestari bezeichnete diese Einstellung als »die prophetische Lesart der Welt« (Amirpur 2013, S. 230ff.). Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die prophetische Tradition zwar das Handeln, die Haltungen und das Sprechen Muhammads insgesamt, also das, was als »Sunna« bezeichnet wird, umfasst, es ˙ bis dato jedoch unter den Gelehrten keine einhellige Meinung dazu gibt, ob sich die Gefolgschaft, die im traditionellen Verständnis mit Nachahmung gleichgesetzt wird, auf alle Handlungen des Propheten ausweiten lässt und wie Nach-

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ahmung bzw. Imitation verstanden werden kann. Im Islam der Spätmoderne kam es innerhalb fundamentalistischer Strömungen zu einer Pervertierung und Verengung dieser Vorstellung, als deren Ergebnis eine wortwörtliche Leseart des Korans favorisiert, die Sunna des Propheten vollständig normativ aufgeladen und versucht wurde, den Propheten bis ins kleinste Detail zu imitieren. Ich betrachte die Vorbildhaftigkeit weitaus abstrakter und affektiver. Der Prophet inspirierte durch die teilweise poetisch aneinandergereihten Offenbarungsworte Visionen einer besseren Welt als jener, in der alle lebten. Er packte die Menschen bei ihren Gefühlen, er motivierte seine Zuhörerschaft durch Liebe und Anteilnahme, um Gleichheit und Einheit zu fördern. Er berührte ihre Herzen durch seine Liebe bzw. seine guten, auf rationalen Gedanken basierenden Gefühle. Muhammad entfachte eine leidenschaftliche Solidarität, die er mit indi˙ vidueller Freiheit und Kritikfähigkeit verband. In den Worten von Tor Andrœ zusammenfasst, haben wir »alle Ursache, anzunehmen, dass Muhammad wirklich die Kunst, Herzen zu gewinnen, in seltenem Maße verstanden hat« (Andrœ 1918, S. 212). Mit diesem Aufsatz soll mithin eine Richtung aufgezeigt werden, die in der islamischen Tradition ihren Ausgang insbesondere in den mystischen Strömungen nahm: nämlich die prophetische Gestalt in ihrer Gesamtheit als Antwort auf die anthropologische Frage nach dem Menschen zu verstehen. Das heißt, wegzukommen von einem Prophetenprofil und einer Nachahmung, die, gegenwärtig betrachtet, sich als nichts mehr und nichts weniger erweisen als eine Form ohne Inhalt, hin zu einer Modellrolle, durch die der Prophet Werte, Tugenden und personale Eigenschaften repräsentiert, die der Kultivierung würdig sind. Denn werden ergänzend zu Koran 33:21 weitere Koranstellen und Hadithe herangezogen und anders interpretiert, kann die Vorbildlichkeit Muhammads ˙ besonders in Bezug auf die Intersubjektivität auf ihre ethische Dimension hin geschärft werden. Dies gilt etwa für die Koranstelle: »Und du bist wahrlich von großartigem Charakter« (Koran 68:4) sowie den Hadith: »Ich wurde entsandt, um den guten Charakter zu vervollkommnen« (Bucha¯rı¯, Musnad 8939). Damit ist ˘ der Fokus auf den Charakter (ahla¯q), konkret auf die guten Eigenschaften des ˘ Propheten als Person, gerichtet. Dieses Geflecht von Koranversen und Hadithen über die charakterliche Vorzüglichkeit (ahla¯q) des Propheten wurde in der Tradition zumeist dahinge˘ hend gedeutet, dass der Gesandte einen edlen Charakter hatte und das unter seinen Zeitgenossen durchgesetzte Verständnis von ahla¯q daher der Revision ˘ und Entwicklung bedurfte. Vor diesem Hintergrund können etwa die im Koran festgehaltenen göttlichen Ermahnungen in der Weise verstanden werden, dass das Fehlen und Scheitern zum charakterlichen Reifungsprozess dazugehört und der Mensch stets auf der Suche nach dem guten Leben sein solle. Demnach ist die »Vervollkommnung des Charakters« sozusagen ein anzustrebendes Ziel, für das

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der Prophet mit seinem Charakter und seiner Lebensweise exemplarisch steht, wenn er die Gläubigen dazu aufruft, sich in diesen charakterlichen Vervollkommnungsprozess zu begeben, der nicht darin besteht, charakterlich perfekt zu sein, sondern danach zu streben, ein charakterlich guter Mensch zu werden und sich als Mensch zu bewähren. Diesbezügliche Hadithe sowie Koranverse1 lassen folglich den Schluss zu, dass die Betrachtung der besonderen personalen Eigenschaften des Propheten die vorrangige Bestimmung seiner Mission war. Ich gehe von der Annahme aus, dass die anthropologische Verständigung darüber, was Menschen ausmacht, und die Frage, was Menschen tun sollen, in einem Konnex stehen. Daher zieht die Frage nach der Bestimmung des Menschen insbesondere die Frage nach sich, wie der Mensch ethisch sein soll, um Mensch zu werden. Damit stehen zwei entscheidende Fragen in einer sehr engen Relation: Welche Zielbestimmung hat religiöse Erziehung und Bildung in der Gegenwart? sowie: Was ist die Bestimmung des Menschen aus islamischer Perspektive? Mit Rekurs auf diese Koranverse und Hadithe, von denen an dieser Stelle nur wenige angeführt werden sollen, stellt die prophetische Lebensweise eine Antwort auf die übergeordnete Frage dar, wie ein gutes und prosperierendes Leben (auch als Gesellschaft) möglich wird. Die Herausforderung liegt folglich darin, diese im siebenten Jahrhundert eingebetteten Antworten des Propheten in die Gegenwart zu übersetzen, um sie zu würdigen und lebbar machen zu können. Daher richtet sich der Fokus dieses Aufsatzes auf den Propheten in seiner ethischen Gestalt. Der Prophet war bekanntlich Offenbarungsempfänger, und als unmittelbarer Ansprechpartner Gottes stand er in einer tiefen Verbindung zu ihm. Seine Gotteserfahrungen drückten sich nicht nur verbal als koranischer Text aus, sondern ebenso in Zeichen, Symbolen und Erfahrungen, die in Hadithen überliefert sind und heute kanonisiert vorliegen. Muhammad verkörpert in ˙ seiner Person die Dynamik der Interpretationskraft des Korans für seinen Kontext, das heißt, er ist der lebendige Koran. Dieser Aspekt macht ihn sowohl für den gelebten Glauben als auch für ein adäquates Verständnis der Botschaft des Korans unersetzlich. Erst durch die in der Sunna überlieferte Sprachspielpraxis und die Lebensform des Propheten wird die Bedeutung vieler koranischer Aussagen verständlich und sprachspielpraxeologisch rekonstruierbar (Is¸ık 2014). Somit gehen Sunna und Koran Hand in Hand: Die prophetische Tradition ist demnach wie ein Kommentar zum Koran bzw. als dessen Exemplifizierung zu verstehen. In diesem Aufsatz soll jedoch weniger der Prophet als exegetischer Protagonist und noch weniger als eine Gestalt, deren alltägliche Handlungen es mimetisch zu wiederholen gilt, thematisiert, sondern vielmehr die ethische Dimension seiner Person als eine regulative Kraft im Leben eines Menschen mu1 Wie auch z. B. Koran 3:31: »Sprich: Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir. So liebt euch Gott und vergibt euch eure falschen Handlungen.«

Die Bedeutung des Propheten Muhammad für die religiöse Bildung ˙

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slimischen Glaubens erörtert werden. Eine regulative Kraft, die dann im eigenen kulturellen und zeitlichen Kontext zur Entfaltung gelangen soll. Zu dieser (ethischen) Kompetenz soll der islamische Religionsunterricht unter anderem hinführen. In diesem Sinne ist das Ziel des vorliegenden Textes, eine Didaktik des ethischen Lernens am Modell des Propheten Muhammad bzw. eine Modellethik ˙ zu entfalten; eine Didaktik, die sich vom Konzept der blinden und repetitiven Nachahmung abhebt und sich an wichtigen Koordinaten wie an personen-, sachund situationsadäquaten Lehr- und Lernprozessen orientiert.

2.

Im Horizont des Modelllernens

Modelllernen ist eine sozial-kognitive Lerntheorie, die auf Albert Bandura zurückgeht. Sie besagt, dass der Beobachter an einem Modell bzw. Vorbild wahrgenommene Verhaltensweisen in neue Situationen transformiert (und sich aneignet) oder bestehende Verhaltensmuster durch das Beobachtete verändert (Bandura 1976). Mit Referenz auf Bandura hebt sich der vorliegende Ansatz deutlich von einem Imitationslernen ab und plädiert für eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Modell. Das bedeutet, im Gegensatz zu einem verknöcherten Verständnis eines Imitationslernen wie »Handle so wie der Prophet!«, einem Lernen, das auf schlichte Reproduktion des beobachteten Verhaltens abstellt und kaum ethische Urteilsfindung schult, soll das Lernen am Modell kognitive und handlungsorientierte Prozesse initiieren, die insbesondere auf die moralische Urteilskompetenz und das Denkvermögen abzielen und dazu angetan sind, diese zu fördern. Das Lernen an Modellen hat als Ausgangspunkt das selbstreflexive Subjekt und bietet die Möglichkeit, sich die Menschlichkeit anderer genauer anzuschauen und daraus für das eigene Mensch- und Muslimsein zu lernen. Die Orientierung und die Auseinandersetzung beziehen sich somit nicht auf den gesamten Lebensweg, sondern auf die jeweils herausgearbeiteten (ethischen) Teilsegmente (Mendl 2015). Ein Lernen am Modell benötigt demzufolge Narrationen. Mit erzählten Narrativen werden Bilder geschaffen. Dadurch werden Bilder zu Vor-Bildern, die die Schüler*innen »bilden«. Folglich wäre dann handlungsorientierten Narrationen gegenüber Hadithen, die normative Leitsätze abbilden, der Vorzug zu geben. Die Lerntheorie des Modelllernens habe ich in der Didaktik des Prophetischen Lernens umfangreich ausgearbeitet (Is¸ık 2013). Diese besagt in Kürze, dass anhand von bündigen, an den Bedürfnissen der Schüler*innen orientierten ausgewählten Lebensabschnitten eine Identifikation mit dem Propheten ermöglicht und zugleich Wege eröffnet werden sollen, sowohl über Ähnlichkeiten als auch über Divergenzen zwischen dem Vorbild und dem eigenen Leben zu reflektieren. Dieser konstitutive Aspekt verlangt höchste Aufmerksamkeit, da es vor allem

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darum geht, die Situationen, in denen der Prophet sich befindet, die Beziehungsgeflechte, in denen er lebt, die kulturellen Gewohnheiten, Traditionen, Tabus und Erwartungen zu erörtern. Erst dann lässt sich feststellen, worin die Unterschiede zum eigenen Leben liegen. Im Anschluss dürfte die Frage folgen: Wie würde der Prophet an meiner Stelle handeln? Diese wesentliche Fragestellung lädt ein, über die Beweggründe des Propheten zu reflektieren und eigene Entscheidungen argumentativ zu plausibilisieren. Ein Zusammenwirken aus Einfühlungs-, Beobachtungs- sowie Abwägungsvermögen und (Selbst-)Reflexion sind elementare Bestandteile dieses Deliberationsprozesses. Ebenso entscheidend bei der Begründung von Identifikation ist die Herausarbeitung dessen, was ein Vorbild bzw. Modell aus seinen kontextuellen Möglichkeiten gemacht hat und wo es selbst in seinen Handlungsmöglichkeiten an Grenzen gestoßen ist. Denn mit dem Vorbild soll kein unerreichbares Ideal gezeichnet werden, sonst würde die Barmherzigkeit Gottes am vorbildhaften Menschen kaum sichtbar werden. Dieser lerntheoretische Ansatz wird nun weitergedacht und auf seine ethische Dimension hin fokussiert. Das ethische Modelllernen soll moralisch gehaltvolle Erzählungen vom und über den Propheten Muhammad, die die moralische Tiefengrammatik der islamischen Tra˙ dition bilden, in den Blickpunkt rücken. Wenn der islamische Religionsunterricht den Horizont der islamischen Kultur und ihrer moralischen Weltsicht eröffnen soll, bedarf es der Diskussion und Reflexion im Religionsunterricht, wie der Prophet eine religiös begründete Orientierung für das ethische Handeln darstellt. Intendiert ist keineswegs, allgemein ethische Maximen oder suggestive Bilder für ein normatives Bewusstsein zu vermitteln. Das ethische Modelllernen beabsichtigt keine Abrichtung oder Dressur des Kindes, ihm geht es um die Selbstwerdung; die Schülerin/der Schüler soll nicht Muhammad werden, sondern ˙ sie/er selbst, also Ich werden. Es könnte die Vorstellung entstehen, dass dies beim ethischen Lernen mit Blick auf das Modell der Werterhellung, die von Schüler*innen erwartet, dass sie sich mit den moralischen Einstellungen und Wertentscheidungen des Modells auseinandersetzen (Ziebertz 2010), stattfindet. In meinem didaktischen Ansatz soll die ethische Auseinandersetzung jedoch nicht auf Werte begrenzt bleiben, sondern im Horizont einer modern gedachten Tugendethik ausgeweitet werden auf charakterlich erstrebenswerte Eigenschaften, die zur Selbstwerdung (und zur Menschwerdung) führen und die in reflexiven Lernprozessen zu verorten sind. Der Prophet und Gesandte Muhammad wird demnach mit den seinen Ver˙ haltensweisen zugrunde liegenden Motiven und seinem Charakter das Beispiel, mithilfe dessen Schüler*innen ihre Person spiegeln und sich mit Bezug auf die Kultivierung von erstrebenswerten Eigenschaften (und Gefühlen) orientieren können. Denn der Prophet beeindruckte die Menschen weniger durch Rituale, die für sein Umfeld im Grunde nichts Neues waren, sondern durch seine In-

Die Bedeutung des Propheten Muhammad für die religiöse Bildung ˙

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tentionen, Haltungen und Tugenden, auf die sich aus seinem Verhalten und seinen Handlungen rückschließen lässt. Entscheidend an der ethischen Ausweitung des Vorbilddenkens ist folglich, den prophetischen Spuren in seinen eigenen Schuhen zu folgen und sich in einem besseren Menschsein zu üben. Mit Blick auf die anthropologische Frage sollte der Prophet den Schüler*innen eben nicht als das ethische Ideal präsentiert werden; stattdessen sollte sein Modellsein eher in seinem Menschsein bzw. in seiner Menschlichkeit gesucht werden, die sich in seinem Charakter spiegeln. Es ist diese Seite an ihm, die für diesen Ansatz von Interesse ist.

2.1

Ein modellhafter ahla¯q ˘

Wie kann nun der ahla¯q des Propheten, der so selbstverständlich als Charakter ˘ definiert wird, modellhaft für Schüler*innen stehen, insbesondere in einem schulischen Rahmen, in dem Religionsunterricht nicht auf Aneignung abzielt? Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst, den Begriff ahla¯q näher zu ˘ konturieren. Das Bedeutungsfeld von ahla¯q variiert, was sich in unterschiedlichen Über˘ setzungen niederschlägt. Etymologisch bildet der Begriff ahla¯q die Pluralform ˘ des Wortes hulu¯q und vereint laut Lı¯san al-ʿArab, dem umfangreichsten Wör˘ terbuch der arabischen Sprache, Bedeutungsfelder wie Charakter, natürliche Veranlagung, Wesen, Disposition sowie Angewohnheit (Ibn Manzu¯r 1993, S. 88f.; ˙ Wehr 2009, S. 360ff.). Kurz, er bezieht sich auf die innere Anlage des Menschen, das heißt auf Eigenschaften und Haltungen, die sowohl lobens- als auch tadelnswert sein können. Charakter bzw. hulu¯q ist ebenso eng mit dem primären ˘ koranischen Wort für Schöpfung, halq, verwandt, es meint die Physis, also die ˘ körperliche Beschaffenheit des Menschen. Demnach bezieht sich ahla¯q sowohl ˘ auf das Innere als auch auf das Äußere des Menschen. Daraus lässt sich folgern, dass zu einem guten ahla¯q, also einer guten Verfassung, nicht nur die seelische, ˘ sondern auch die körperliche Konstitution gehört. Anders gewendet: Eine gute charakterliche Verfassung spiegelt sich auch im Körper. In frühen Traditionen des islamischen Erbes lassen sich daher auch Beschreibungen der körperlichen Schönheit des Propheten finden (Schimmel 1989). Ferner ist die Kohärenz zwischen Charaktereigenschaften und der guten (gesundheitlichen) Verfassung des Körpers eine Thematik, die schon die antiken Philosophen und Ärzte wie Galen sowie muslimische Philosophen wie Abu¯ Bakr ar-Ra¯zı¯, vor allem in seinem Werk At-Tibb ar-ru¯ha¯nı¯ (Die geistige Medizin) (al-Abd 1978), aufgegriffen haben; das ˙ ˙ ˙ soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Ausgehend von der Grunddefinition von ahla¯q als der Gesamtheit der dem ˘ Menschen innewohnenden personalen Eigenschaften ließe sich sagen, dass Gott

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den Charakter sowie die ethische Lebensführung des Propheten rühmt. Damit wird ein lobenswerter Charakter mit einer guten Lebensführung verknüpft. Insofern als Ethik nach der Art und Weise von Verhalten und Lebensführung fragt und zugleich darüber reflektiert (Hübner 2018), ob und inwiefern diese Lebensführung gelungen ist, offenbart sich mit den angeführten Zitaten für einen Menschen muslimischen Glaubens, dass der Prophet Muhammad eine sowohl ˙ ethisch lobenswerte als auch gottgefällige Lebensweise präferierte. Lobenswerte Charaktereigenschaften entwickeln und prägen sich aus, sofern eine charakterliche Disposition zum Guten hin eingelebt wird und der Mensch sukzessive das Potenzial entwickelt, in einer bestimmten Situation der Handlungsentscheidung das ethisch Gute und Adäquate zu wählen. Das moralisch Gute und Adäquate zu wählen, setzt indessen einerseits die Fähigkeit voraus, einen Situationszusammenhang hinreichend kalkulieren und abschätzen zu können und andererseits sich selbst, sprich eigene charakterliche Schwächen, Gewohnheiten, Haltungen, Emotionen und Eigenschaften gut zu kennen. Vor diesem Hintergrund tritt der Prophet in seinen Narrationen deswegen als Vorbild hervor, weil er ununterbrochen mit einer alten Welt und ihren ethischen Vorstellungen konfrontiert ist und mit seinen Entscheidungen hierzu ethisch alternative Handlungsmuster und Begründungswege aufzeigt. Im Reflexionsprozess gilt es, die moralischen Urteile des Propheten zur Disposition zu stellen und zu durchdenken. In der ethischen Nachfolge zu stehen, bedeutet schließlich, in der Absicht zu stehen, die eigene Verfasstheit zum Guten hin zu kultivieren. (Ethische) Lernprozesse sollten daher im Kontext von Modelllernen kontextualisiert und situativ eingebettet initiiert werden. In der Kontextualisierung tritt ein konstruktivistisches Moment zum Vorschein: Der Prophet tritt als Modell zurück, die Betrachtung der »Fremdbiografie« bzw. Lebensentscheidung des Propheten führt zu einer weiteren wesentlichen Frage: Wie würde ich mich in der geschilderten Situation verhalten? Die Schüler*innen werden dazu motiviert, über für sie wichtige Werte zu reflektieren und darüber, welche erstrebenswerten Eigenschaften in den entsprechenden Situationen relevant sind, und wenn die eigene Handlungsentscheidung anders ausfallen sollte, ist dies ein ebenso wichtiger Lernprozess, der reflektierendem Urteilen vorausgeht. Es dürfte deutlich geworden sein, dass dem Begriff der Tugend eine zentrale Rolle zukommt, sofern – nach Swanton – Tugenden jene personalen Eigenschaften meinen, die den Menschen disponieren, auf Dinge auf hervorragende oder zumindest hinreichende Weise zu reagieren (Swanton 2003, S. 19f.). Vor diesem Paradigma sind die Person und das Handeln des Propheten sowie die eigenen ethischen Entscheidungen zu bewerten. Das theoretische Wissen um gute Haltungen oder um gute personale Eigenschaften allein reicht bei Weitem nicht aus, um als tugendhaft zu gelten, auch wenn es der erste Schritt in diese Richtung ist. Erst wenn die Handlungsdisposition zu einem festen Bestandteil

Die Bedeutung des Propheten Muhammad für die religiöse Bildung ˙

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des Charakters geworden ist, sich also als Charaktereigenschaft verfestigt hat, kann von tugendhaftem Handeln gesprochen werden. Doch da sich im Religionsunterricht keine guten Eigenschaften »einüben« lassen, kann der Religionsunterricht lediglich der Ort sein, an dem das moralisch Gute auf einer Reflexionsebene erörtert wird.

3.

Fazit

Ein ethisches Modelllernen soll die Schüler*innen befähigen, eigene Dispositionen und Eigenschaften zu reflektieren und am Beispiel des Propheten zum Guten hin zu schulen, das heißt, den eigenen ahla¯q zu kultivieren. ˘ Es dürfte deutlich geworden sein, dass eine detailgetreue Imitation nicht zielführend sein kann. Wer sich dem muslimischen Glauben verpflichtet fühlt, sollte meines Erachtens nicht danach trachten, ihr/sein Leben als eine Kopie des Lebens Muhammads zu gestalten. Gott ruft den Menschen im Koran ständig ˙ dazu auf, nachzudenken, zu hinterfragen, selbst zu überlegen und misst diesen individuell erbrachten, unablässigen Bemühungen des Menschen mehr Wert zu als einem blinden, unreflektierten Gehorsam (Koran 11:51; 21:66; 28:60). Die Dynamik des Lebens und unterschiedliche Lebensumstände verlangen einem Menschen muslimischen Glaubens ab, Verhaltensweisen beständig zu reflektieren und mit entsprechenden Inhalten zu füllen. Unter diesem Aspekt – nämlich als Hilfe, um einen neuen Blick auf die eigenen Handlungen und Denkweisen zu gewinnen – ist auch die prophetische Tradition zu begreifen, andernfalls bleibt die Sunna eine ein für alle Mal konservierte, der bloßen Imitation überlassene Form ohne einen für das Individuum relevanten Inhalt. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass das traditionelle pädagogische Konzept des Vorbildlernens im Sinne einer unreflektierten Verhaltensübernahme im Kontext von religiöser Bildung recht eigentlich ausgedient hat. Wenn das Ziel von religiöser Erziehung und Bildung, insbesondere im Rahmen des schulischen Religionsunterrichts, religiöse Mündigkeit ist, dann führt der Weg dorthin nicht über die Übernahme verfestigter Ideale und Rollenbilder, sondern über die reflektierte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Personen. Ein erstarrtes Prophetenbild, das schlicht Imitation gebietet, kann nicht zur Selbstwerdung eines gläubigen Menschen beitragen und ihm auch nicht helfen, zu seinem eigenen Selbst zu finden. Gegenwärtig brauchen unsere Gesellschaften Kinder und junge Menschen, die fähig sind, sich vom Einfluss fremder Urteile zu befreien und mithilfe der Kultivierung von personalen Eigenschaften eine eigene ethische Urteilskompetenz auszubilden.

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Tuba Is¸ık

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Anthropologische Grundlagen und Ziele der islamischen Erziehung und Bildung

Zekirija Sejdini

Anthropologische Grundlagen islamischer Bildungsvorstellungen und ihre Implikationen für die islamische Religionspädagogik

Zusammenfassung Die wissenschaftliche Konzeptionalisierung der islamischen Religionspädagogik an westeuropäischen Universitäten befindet sich in ihrer Orientierungs- und Selbstvergewisserungsphase. Als eine wissenschaftliche Disziplin, die mit der wichtigen und schwierigen Aufgabe konfrontiert ist, einerseits eine jahrtausendealte – und folglich weitgehend in anderen Kontexten entstandene – Tradition religiöser Bildung aus dem gegenwärtigen Kontext heraus weiterzudenken und andererseits dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit zu genügen, steht die islamische Religionspädagogik vor enormen Herausforderungen. In Anbetracht dieser neuen Situation, die durch die Etablierung der islamischen Theologie und Religionspädagogik an deutschsprachigen Universitäten entstanden ist, geht es in diesem Beitrag darum, die anthropologischen Grunddispositionen der islamischen Theologie für die islamische Religionspädagogik fruchtbar zu machen. In diesem Sinne erscheint eine anthropologische Wende – wie sie der katholische Theologe Karl Rahner angestoßen hat, indem er neben Gott auch den Menschen in den Mittelpunkt theologischer Überlegungen stellte – für die islamische Religionspädagogik unabdingbar. Der Beitrag beleuchtet zunächst den aktuellen Zustand der islamischen Religionspädagogik und zentrale Prinzipien (Pluralitätsfähigkeit, Subjektorientierung, Erfahrungsorientierung und Bildungsorientierung), die sich in den vergangenen Jahrzehnten für eine zeitgemäße Religionspädagogik im westeuropäischen Kontext als bedeutsam herausgestellt haben. Im Zuge einer Analyse von Koran und Sunna wird dargelegt, wie Bildung bzw. religiöse Bildung in den theologischen Quellen verstanden und welches Menschenbild darin vertreten wird. Besonderes Augenmerk gilt in diesem Zusammenhang den anthropologischen Grunddispositionen Geschöpflichkeit, Würde, Vernunft, Freiheit und Verantwortung des Menschen. Aus der Analyse dieser Grunddispositionen werden Implikationen und Impulse für die Konzeptualisierung religionspädagogischer Bildungsprozesse abgeleitet und skizziert, die sowohl den Prinzipien

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Zekirija Sejdini

einer zeitgemäßen Religionspädagogik als auch den islamisch-anthropologischen Grundlagen gerecht werden.

1.

Einführung

Der Islam hat in Westeuropa eine lange Geschichte. Die muslimische Präsenz, so wie wir sie heute kennen, hingegen verdankt sich weitgehend der Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte in den 1960er-Jahren, in deren Zuge die Anzahl der in Westeuropa lebenden Muslim*innen signifikant zugenommen hat. Demgegenüber ist die wissenschaftliche Verortung der islamischen Theologie und der Religionspädagogik an den europäischen Universitäten ein relativ neues Phänomen, das in den letzten Jahren aus unterschiedlichen, insbesondere gesellschaftspolitischen, Gründen vor allem in Österreich und Deutschland an Relevanz gewann. Dennoch wurden erste Ansätze einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit theologisch-religionspädagogisch relevanten Themen erst infolge der Etablierung islamischer Studienrichtungen an österreichischen und deutschen Universitäten ab 2006 sichtbar (Aslan 2012; Sejdini 2017a). Naturgemäß steht die wissenschaftliche Konzeptionalisierung der islamischen Religionspädagogik im universitären Kontext erst am Anfang – genauer befindet sie sich in einer Orientierungs- und Selbstvergewisserungsphase, denn außer mit den üblichen Anfangsschwierigkeiten haben die neuen Studienrichtungen mit zusätzlichen – islamspezifischen und situationsbedingten – Herausforderungen zu kämpfen. Dazu zählen unter anderem die hohen Erwartungen der Gesellschaft und der politischen Akteure im Hinblick auf Themen wie Integration und Deradikalisierung sowie nicht zuletzt der Mangel an wissenschaftlich qualifiziertem Personal im Bereich der islamischen Religionspädagogik (Aslan 2008, S. 74; Brunner 2012). Neben den organisatorischen, personellen und gesellschaftspolitischen Hürden bestehen auch inhaltliche Unzulänglichkeiten. Zu diesen zählen beispielsweise die unzureichende innerislamische Diskussion, das Fehlen seriöser Grundlagenforschung im Bereich der islamischen Fachdidaktik und die dürftige Berücksichtigung der Lebensrealität der Schüler*innen (Ucar 2008, S. 121), aber auch der Mangel »an einer theologisch begründbaren und dennoch vernunftorientierten Theorie islamischer Bildung und Erziehung, die pragmatisch gedacht wird« (Behr 2008, S. 49). Die erwähnten Defizite und Schwierigkeiten liegen vor allem in der Tatsache begründet, dass die vorhandenen islamischen religionspädagogischen Konzepte aus Zeiten und Kontexten stammen, die mit den aktuellen europäischen Gegebenheiten wenig gemein haben. Daher bedarf es bei der Konzeptualisierung islamischer Religionspädagogik im Rahmen europäischer Universitäten vor

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allem einer neuen Sichtweise auf grundsätzliche anthropologische Fragestellungen. In diesem Sinne erscheint eine »anthropologische Wende« (Eicher 1970), wie sie von Karl Rahner angestoßen wurde, indem er den Menschen in den Mittelpunkt theologischer Überlegungen stellte, unabdingbar. Im Bemühen, die Grundlinien einer islamischen Religionspädagogik aus islamisch-anthropologischer Perspektive zu skizzieren, behandelt der erste Abschnitt die Entwicklung der islamischen Religionspädagogik sowie einige zentrale Prinzipien, die sich laut dem Religionspädagogen Reinhold Boschki (2017, S. 87–90) in den vergangenen Jahrzehnten für die Religionspädagogik im westeuropäischen Kontext als besonders bedeutsam herausgestellt haben. In der Folge widmet sich der Beitrag einer Analyse des Korans und der Sunna. Der zweite Abschnitt geht zunächst der Frage nach, wie Bildung bzw. religiöse Bildung in diesen islamisch-theologischen Quellen gefasst und verstanden wird. Gegenstand des dritten Abschnitts sind die anthropologischen Grundlagen, auf denen das Menschenbild in Koran und Sunna aufbaut. Von besonderer Wichtigkeit ist hierbei die Frage nach der Geschöpflichkeit, Würde, Vernunft, Freiheit und Verantwortung des Menschen. Diese anthropologischen Grundlagen werden daraufhin untersucht, ob sich aus ihnen Implikationen und Impulse für die Konzeptualisierung religionspädagogischer Lehr- und Lernprozesse ableiten lassen, die den von Boschki genannten zentralen religionspädagogischen Prinzipien gerecht werden. Diese – anthropologisch fundierten – Grundsätze einer islamischen Religionspädagogik werden im abschließenden vierten Abschnitt dargelegt, in dem darüber hinaus auch Gedanken und Perspektiven betreffend die weitere Entwicklung der islamischen Religionspädagogik Platz finden sollen.

2.

Bestandsaufnahme und Herausforderungen für die islamische Religionspädagogik

2.1

Beschreibung des Ist-Zustands

Dass Bildung zu den relevanten Themen des Islams gehört, wird durch zahlreiche Koranverse und Überlieferungen des Propheten Muhammad ebenso belegt wie ˙ durch eine Reihe von Beispielen in der Geschichte des Islams, die allesamt deren hohe Stellung hervorheben. Auch unter Expert*innen gilt die Affinität des Islams zur Bildung als unumstritten (Günther 2013, S. 360; Bilgin 1998). Dann gibt es die zahlreichen wissenschaftlichen Beiträge von muslimischen Gelehrten, vor allem bis ins zwölfte Jahrhundert, die vom großen Interesse des Islams an der Bildung zeugen, das neben der allgemeinen Bildung, wie in anderen Religionen, seit jeher insbesondere der religiösen Bildung galt. Einen

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enormen Beitrag zum hohen Stellenwert der Bildung im Allgemeinen und der religiösen Bildung im Besonderen sowie zur Verbreitung der islamischen Botschaft innerhalb der islamischen Gemeinde leistete der Prophet Muhammad, der ˙ sich die Bildung des Menschen von Beginn an angelegen sein ließ und sich dafür persönlich einsetzte (Günther 2016). Die – so wird vermutet – zu Beginn des 13. Jahrhunderts in der »muslimischen Welt« einsetzende allgemeine Stagnation hatte zwangsläufig negative Auswirkungen auf die Bildung im Allgemeinen und damit verbunden auch auf die religiöse Bildung (Lewis 2002, S. 222). Ging man anfänglich davon aus, dass diese Stagnation auf bestimmte Phasen und Bereiche beschränkt und daher überwindbar sei, zeigte sich spätestens zu Beginn des durch Aufklärung und Industrialisierung gekennzeichneten 18. Jahrhunderts, dass ein Ende dieses Niederganges unabsehbar ist. Endgültig besiegelt wurde diese schmerzhafte Realität durch die Kolonialisierung vieler muslimischer Länder, die dem einst unterlegenen Westen aufgrund dessen technischen Fortschritts nichts entgegenzusetzen hatten (Krämer 2007, S. 267ff.). Die westliche Dominanz rief im Herrschaftsbereich des Islams unterschiedlich akzentuierte Reformbewegungen auf den Plan, deren gemeinsames Ziel es war, die muslimischen Gebiete zu befreien und sich von der geistigen und intellektuellen Bevormundung der Kolonialmächte zu emanzipieren (Diner 2005, S. 84–106). Die Erfolge dieser Reformbewegungen fielen relativ bescheiden aus – auch im Bereich der religiösen Bildung blieben die anfänglichen Hoffnungen unerfüllt. Die Gründe dafür sind vielfältig und können nicht monokausal erklärt werden, auch wenn es dazu diverse Ansätze gegeben hat (Benzine 2012). Dennoch lässt sich sagen, dass die Aversion gegenüber allem, was mit den Kolonialmächten in Verbindung gebracht wurde, entscheidenden Einfluss darauf hatte, dass sich weitgehend jene Kräfte durchsetzten, die den Ausweg aus der spirituellen und intellektuellen Krise nicht in der Anpassung an den Zeitgeist sahen, sondern in einer blinden Nachahmung der Urgemeinde des Propheten Muhammad. Diese gingen davon aus, dass die besten Lösungen für aktuelle ˙ Herausforderungen in der Vergangenheit zu finden seien und wehrten sich mit Vehemenz gegen Erneuerungen, besonders, wenn diese mit dem Westen assoziiert wurden (Krämer 2007, S. 265–267). Es ist evident, dass eine solche Lesart von Theologie und Religionspädagogik einem subjekt- und kontextorientierten Verständnis von Religionspädagogik wesentlich widerspricht. Wiewohl das ihr zugrunde liegende rückwärtsgewandte Paradigma nicht islamspezifisch ist, sondern sich auch in anderen religiösen Traditionen da und dort wiederfindet, gilt es heutzutage – zumal im europäischen Kontext – als längst überholt (Lachmann 2013, S. 59). Ein wesentliches Merkmal dieses Verständnisses von Theologie und Religionspädagogik ist sein objektivistischer respektive essenzialistischer Zugang zur Wahrheit. Der von

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seinen Apologeten vertretene exklusivistische Ansatz pocht auf die alleinige Gültigkeit des eigenen Glaubens und schließt alle anderen Glaubenstraditionen vom Heil aus. Diesem Ansatz gemäß besteht das Ziel religiöser Bildung darin, die religiösen Gebote und Verbote zu verinnerlichen und die bestehenden Traditionen unhinterfragt weiterzuführen. Ganz im Gegensatz zu diesem repressiven und rückwärtsgewandten Konzept wird religiöse Bildung gegenwärtig vor allem subjekt- und kontextbezogen betrieben. Das bedeutet, dass nicht der absolute Gehorsam gegenüber religiöser Autorität das Ziel religiöser Bildung bildet, sondern die Stärkung der Mündigkeit und der Entscheidungsfähigkeit des Menschen, die auch zu Traditionskritik befähigt (Mette & Schweitzer 2002, S. 37).

2.2

Herausforderungen für die islamische Religionspädagogik

Die Auseinandersetzung zwischen einer objektivistisch-essenzialistisch ausgerichteten Religionspädagogik und einer, die sich eher als subjekt- und kontextbezogen versteht, hat auch in Europa eine lange Geschichte, in deren Verlauf sich weitgehend letztere Ausrichtung durchgesetzt hat. Für die Entwicklung dieses Ansatzes haben sich im Allgemeinen vier zentrale Prinzipien als besonders bedeutsam herausgestellt. Es sind dies die Pluralitätsfähigkeit, die Subjektorientierung, die Erfahrungsorientierung sowie die Bildungsorientierung (Boschki 2017, S. 87–90). Diese gelten als Maßstäbe, die elementare Vorannahmen, Elemente und Zielhorizonte religionspädagogischer Lehr- und Lernprozesse in sich vereinen. Der Erhebung der Pluralitätsfähigkeit zu einem Leitgedanken religionspädagogischer Konzepte (Boschki 2017, S. 87f.) lag die Einsicht zugrunde, dass bei der Konzipierung und Realisierung von Lehr- und Lernprozessen in der pluralen Gesellschaft der Gegenwart die unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen, die heterogenen ethnischen und sprachlichen Hintergründe der Lernenden systematisch zu berücksichtigen sind (Klutz 2015; Strutzenberger-Reiter, Kromer & Lindner 2015; Grümme 2017). Damit bildet religiöse Pluralismusfähigkeit nicht nur den Ausgangspunkt, sondern auch die Zielsetzung religiöser Bildungsprozesse, die es religionspädagogisch und religionsdidaktisch entsprechend zu gestalten gilt (Englert 2002, S. 93ff.; Schweitzer 2014, S. 133ff.; Pemsel-Maier & Schambeck 2014; Kraml & Sejdini 2015). Der Subjektorientierung als dem zweiten Prinzip religionspädagogischer Konzepte liegt die Frage nach den Lebenszusammenhängen von Menschen im Hier und Jetzt zugrunde. Das ist so zu verstehen, dass »Subjekte des Lernens – empirisch und hermeneutisch – in die Mitte religionspädagogischer Reflexion [gerückt werden], um ihre Bedingungen und Voraussetzungen zu klären, ohne

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dabei die zentralen Inhalte und die elementaren Gegenstände des Themas zu vernachlässigen, beziehungsweise (…) ohne die zentralen Glaubenswahrheiten zu nivellieren« (Boschki 2017, S. 88). Subjekte werden dabei nicht entkoppelt von ihren sozialen Kontexten und Lebenswelten gedacht, sondern als mit diesen untrennbar verwoben verstanden (Schwab 2002, S. 167). Folglich gilt es, persönliche Rahmenbedingungen und Kontexte stringent in religionspädagogische Konzeptionen einzubeziehen (Kunstmann 2017). Zudem ist die Konstituiertheit als Subjekt nicht etwas, das einem Menschen qua Geburt zufällt, sondern erst erlangt werden muss, oder mit den Worten von Peter Biehl: »Subjekt muß der Mensch im Prozeß seiner Bildung erst werden, Person ist er immer schon« (Biehl 2005a, S. 40). Analog ist auch Religiosität oder der Glaube einem Menschen nicht als ausgeprägtes Merkmal in die Wiege gelegt. Vielmehr handelt es sich dabei um eine – wie es der Religionspädagoge Martin Rothgangel ausdrückt – »anthropologische Dimension, die der Entfaltung bedarf und auch entfaltet werden kann« (Rothgangel 2013, S. 23). In diesem Sinne trägt religiöse Bildung zur spirituellen Identitätsbildung, zur Subjektwerdung – verstanden als die Aneignung von Mündigkeit, Autonomie und Freiheit (Mette 2005, S. 66; Schröder 2012, S. 234; Schweitzer 2015) – beziehungsweise zur Menschwerdung (Sejdini, Kraml & Scharer 2017) der Lernenden bei. Das dritte Prinzip der Gestaltung von religionspädagogischen Lehr- und Lernprozessen ist die Erfahrungsorientierung (Boschki 2017, S. 89). Dieser Leitgedanke, den Peter Biehl auch als die »Schlüsselkategorie der RP« (Biehl 2001, S. 421) überhaupt bezeichnet, hängt eng mit der Subjektorientierung zusammen und begreift menschliche Lebenserfahrungen und -realitäten als wichtigen religionspädagogischen Maßstab. Erfahrungen zeichnen sich in diesem Zusammenhang dadurch aus, dass sie »anders als ein Erlebnis, über sinnliche Erregung hinaus mit einer mehr oder weniger bewussten Deutung und verfügbaren Erinnerung verbunden [sind]. Erfahrungen sind persönlich zugeordnete Erlebnisse« (Kunstmann 2010, S. 177). Erfahrungsorientierung bildet nicht nur einen Ausgangspunkt – in dem Sinn, dass religionspädagogische Konzeptionen die Erfahrungswelt der Lernenden kennen sollten –, sondern konstituiert zugleich den religionspädagogischen Zielhorizont. Auf dem Weg dorthin geht es darum, »die Lebenserfahrung der Menschen mit den Erfahrungen des Glaubens [zu] ›korrelieren‹, also in Beziehung [zu] setzen« (Boschki 2017, S. 89). Erst durch solche Angebote kann die Religionspädagogik zur Subjektwerdung Lernender beitragen (Kunstmann 2010, S. 179). Das vierte und letzte Prinzip, das sich laut Boschki in den vergangenen Jahrzehnten als besonders bedeutsamer Maßstab für die Religionspädagogik im westeuropäischen Kontext erwiesen hat, ist die Bildungsorientierung. Im Jahr

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2005 sprach Peter Biehl noch von einer »Wiederentdeckung der Bildung in der gegenwärtigen Religionspädagogik« (Biehl 2005b), mittlerweile hat sich der Begriff als Leitkategorie in der Religionspädagogik etabliert (Rothgangel 2013, S. 32). Die besondere Leistung der religiösen Bildung besteht darin, dass sie junge Menschen bei der Ausbildung von Artikulationsfähigkeit und beim Abwägen von Entscheidungen unterstützt (Boschki 2017, S. 92) und damit maßgeblich zur religiösen Mündigkeit beiträgt. Im Begriff der Bildung laufen Subjekt- und Erfahrungsorientierung sowie Pluralitätsfähigkeit zusammen. Auch dies verleiht der religiösen Bildung ihren Doppelcharakter: »Religiöse Bildung ist zugleich Weg und Ziel: Weg deshalb, weil die kreative und existentielle Auseinandersetzung mit überlieferten religiösen Formen und Inhalten einen Prozess darstellt, der die menschliche Person im Ganzen betrifft. Ziel ist religiöse Bildung insofern, als sie auf religiöse Mündigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der lernenden Subjekte ausgerichtet ist.« (Boschki 2017, S. 78)

Darüber hinaus lässt sich der Bildungsbegriff in der Religionspädagogik auch als anthropologische Kategorie deuten – und zwar deshalb, weil die Fähigkeit des Menschen, sich Bildung anzueignen, durchaus theologisch begründet, nämlich »als Implikat seiner Geschöpflichkeit« (Schröder 2012, S. 226; siehe auch Biehl 2005a) verstanden werden kann. Muslimische Religionspädagog*innen stehen nun vor der Herausforderung, einerseits die muslimische Tradition unter Wahrung ihrer Authentizität fortzuführen und andererseits die genannten Prinzipien als konstitutive Elemente einer gegenwartsbezogenen islamischen Religionspädagogik zu integrieren. Eben dafür bedarf es der bereits angesprochenen »anthropologischen Wende«, die den Menschen mit allen seinen anthropologischen Dispositionen in den Mittelpunkt religiöser Bildung stellt. Diese Wende impliziert ein Umdenken dahingehend, dass der Mensch nicht mehr als bloßer Empfänger der göttlichen Botschaft, sondern gleichermaßen als Träger einer konstitutiven Rolle bei der Gestaltung der Offenbarung wahrgenommen wird und versucht wird, diese Interdependenz aus der Perspektive der Gegenwart auszugestalten. Auf diese Weise soll religiöse Bildung – wie bereits zur Entstehungszeit des Islams – den Menschen zur Orientierung verhelfen und sie bei ihrer Lebensgestaltung unterstützen (Günther 2013, S. 363). Auf diesen Aspekt wird im weiteren Verlauf des Beitrags näher eingegangen. Zuvor folgt im nachfolgenden zweiten Abschnitt ein kurzer Überblick über die Grundlagen religiöser Bildung in den wichtigsten islamischen Quellen, dem Koran und der Sunna.

90

Zekirija Sejdini

3.

Grundlagen (religiöser) Bildung in den islamischen Quellen

Die Anzahl der Quellen, aus denen sich die islamische Theologie speist, ist mit vier festgelegt. Es sind dies neben dem Koran, der als Primärquelle gilt, die Sunna als zweite Quelle, der Konsens oder die Übereinstimmung der islamischen Rechtsgelehrten (al-igˇma¯ʾ) sowie der Analogieschluss (al-qiya¯s). Nicht nur, weil es der Ausrichtung dieses Beitrags entspricht, sondern auch aufgrund ihres normativen Charakters stehen im Folgenden die beiden Quellen Koran und Sunna im Mittelpunkt.

3.1

(Religiöse) Bildung im Koran

Als Gottes Wort ist der Koran die zentrale Quelle des Islams und damit auch die Grundlage aller theologischen Disziplinen. Er bildet das Fundament der islamischen Religionspädagogik ebenso wie das der religiösen Bildung. Angesichts seiner enormen Bedeutung verwundert es nicht, dass im Koran eine breite Palette an Themen behandelt wird. Dazu gehört auch die Bildung. Wie alle anderen Themen wird im Koran auch Bildung nicht systematisch behandelt. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die heilige Schrift des Islams über eine Zeitspanne von ca. 20 Jahren sukzessive offenbart und erst nach dem Ableben des Propheten Muhammad durch dessen Gefährten in einem Buch ˙ zusammengefasst wurde. Dies erklärt auch, warum der Koran weder thematisch noch chronologisch gegliedert ist – ein Umstand, der bei vielen uneingeweihten Leser*innen zu Irritationen führt. Die Aussagen zu bestimmten Themen, darunter auch jene mit Bezug zur Bildung, sind über verschiedene Kapitel des Korans verstreut und in einen bestimmten Kontext eingebettet. Um sich einen Gesamtüberblick zum Thema Bildung zu verschaffen, bedarf es einer systematischen Auseinandersetzung mit dem gesamten koranischen Text. Nach den zentralen koranischen Aussagen zu urteilen, ist die Haltung des Korans der Bildung gegenüber eindeutig positiv. Mehr noch wird er als der wahre Impetus hinter der Hochachtung der Muslim*innen für die Bildung mit all den dazugehörigen Komponenten betrachtet (Günther 2013, S. 358). Eine besondere symbolische Bedeutung wird in diesem Zusammenhang den ersten offenbarten Versen des Korans beigemessen. Diese dem Propheten Muhammad im Jahr 610 ˙ n. Chr. hinabgesandten Verse beginnen mit dem Anruf Iqra’, mit dem Muhammad aufgefordert wird, zu lesen bzw. zu rezitieren. Darin heißt es: ˙ »LIES [arab. Iqra’] im Namen deines Erhalters, der erschaffen hat, den Menschen – erschaffen hat aus einer Keimzelle! Lies – denn dein Erhalter ist der Huldreichste, der

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(den Menschen) den Gebrauch der Schreibfeder gelehrt hat, – den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte!« (Koran 96:1–5)

Die Umstände, unter denen diese Verse offenbart worden sind, lassen mehrere Interpretationen zu, sodass die genaue Bedeutung dieser an den Propheten gerichteten Aufforderung im Dunkeln bleiben muss. Dennoch werden diese Verse immer mehr als Appell an alle Menschen muslimischen Glaubens ausgelegt, sich im allgemeinen Sinne zu bilden und weiterzuentwickeln. Dies impliziert auch die tiefe Reflexion über die gesamte Schöpfung, die dem Menschen dazu verhelfen soll, sich selbst, sein Umfeld, seine Umwelt und seinen Schöpfer zu erkennen und damit unaufhörlich geistig und intellektuell zu wachsen. Neben diesen Versen mit hohem symbolischen Charakter gibt es eine Reihe von Koranversen, welche die Bedeutung von Bildung auf direkte oder indirekte Weise hervorheben (Koran 59:2, 19:13, 2:266, 10:24, 13:3, 16:11, 30:21). So heißt es in einem dieser Verse: »Sag: ›Können diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen, für gleich erachtet werden?‹ (Aber) nur diejenigen, die mit Einsicht versehen sind, bedenken dies!« (Koran 39:9)

Außer durch diese affirmativen Koranverse wurde die Haltung der muslimischen Gemeinschaft zur Bildung maßgeblich durch den persönlichen Zugang des Propheten Muhammad geprägt. Schließlich bestand dessen Aufgabe neben der ˙ Verkündung des Wortes Gottes auch darin, die Botschaft umzusetzen und damit als Vorbild für die Gemeinde zu wirken. Zur Illustration werden nachfolgend einige ausgewählte prophetische Überlieferungen, deren Gesamtheit die zweite islamische Quelle darstellt, beleuchtet.

3.2

(Religiöse) Bildung in der Sunna

Der hohe Stellenwert der Aussagen und Handlungen des Gesandten Muhammad, ˙ die unter dem Begriff Sunna subsumiert werden, ist durch zahlreiche Koranverse belegt (Koran 21:107, 4:80). Von der religiösen Autorität des Propheten zeugt auch seine Wahrnehmung in der muslimischen Gemeinde als der erste menschliche Lehrer und als »lebendiger Koran« (von Stosch 2016, S. 37). Zudem besitzt die Sunna für die Mehrheit der muslimischen Gelehrten einen normativen Charakter, der auch im Alltag von Muslim*innen eine gewichtige Rolle spielt. Ähnlich wie im Koran wird das Thema Bildung auch in den umfangreichen – als Hadithe bezeichneten – Überlieferungen der Sunna in einer Vielzahl von Zusammenhängen behandelt – dies ebenfalls mit einer durchwegs positiven Konnotation. Die affirmative Haltung gegenüber Bildung, wie sie in der Sunna zum Ausdruck kommt, wird nachfolgend anhand ausgewählter Beispiele be-

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leuchtet. Ein wichtiger Hadith, der hohe Berühmtheit erlangt hat, ist jene Überlieferung, in der das Streben nach Wissen zur religiösen Verpflichtung (fard) erklärt wird. Darin heißt es: »Der Erwerb von Wissen(schaft) ist Pflicht für ˙ jede Muslimin und jeden Muslim« (Ibn Ma¯gˇa 1998, S. 214f.). Zwar ist nicht eindeutig geklärt, welches Wissen hier konkret gemeint ist – vielen Deutungen zufolge ist es das religiöse –, zumeist aber wird der Hadith als allgemeine Aufforderung zum Wissenserwerb interpretiert. Gestützt wird diese Annahme durch eine zweite Überlieferung, in der Muslim*innen aufgefordert werden, nach Wissen zu streben und Wissen zu erwerben, auch dann, wenn es in China vorliegen sollte (al-Hindı¯ 2005, S. 1294). Da dieser Hadith die Natur des zu erwerbenden Wissens nicht näher definiert, darf angenommen werden, dass hier auch das nichtreligiöse Wissen gemeint ist. Die positive Konnotation von Wissen und Bildung und dem Streben danach in der prophetischen Tradition macht auch eine weitere Überlieferung deutlich, die hier erwähnt sei. Darin heißt es: »Alle Weisheit ist das verlorene Eigentum eines Muslims, so wo immer er es findet, soll er es aufnehmen« (at-Tirmid¯ı 1996, S. 417). ¯ In der Sunna gilt in der Regel nicht nur der Erwerb von Bildung und Wissen, zu dem alle Muslim*innen angehalten sind, als höchst erstrebenswert, auch die Tätigkeit des Ausbildens und Lehrens wird überaus geschätzt. In einer Überlieferung aus der Hadithsammlung von Muslim heißt es: »Bei Allah, wenn Allah durch dich auch nur einen einzigen Mann auf den rechten Weg führt, so ist das besser für dich als der Besitz von roten Kamelen!« (Abu¯ ʾl-Husain Muslim 1991, ˙ S. 1872). Die Dimension der in dieser Äußerung der Wissensvermittlung entgegengebrachten Hochachtung lässt sich daran ermessen, dass der Vergleichsmaßstab, der Besitz von roten Kamelen, in jener Zeit Ausweis eines immensen materiellen Reichtums war. Ein weiterer Hadith empfiehlt den Muslim*innen, Bildungsprozessen nicht teilnahmslos gegenüberzustehen, sondern sich aktiv daran zu beteiligen. Diese prophetische Überlieferung lautet wie folgt: »Sei entweder der Lehrer, der Schüler, der Zuhörer oder der Förderer; vermeide es auf ˇ arra¯ hı¯ o. J., S. 175). jeden Fall, der Fünfte zu sein« (al-G Nicht weniger große Bedeutung kommt dem Weg der Erlangung von Wissen, mit anderen Worten Lehr- und Lernprozessen, zu. Dies lässt sich etwa an einem zweiten Hadith der Sammlung von Muslim ablesen: »Wer einen Weg beschreitet, um Wissen zu erlangen, dem wird Allah deswegen den Weg zum Paradies leicht machen« (Abu¯ ʾl-Husain Muslim 2006, S. 1242). ˙ Die erwähnten Quellen wurden jahrhundertelang von muslimischen Gelehrten als Belege für die Bedeutung der Bildung und als Grundlage für die Entwicklung unterschiedlicher Konzepte genutzt. Besondere Aufmerksamkeit haben dabei unter anderem die Einteilung der Wissenschaften, Ratschläge für eine gute Lehre oder Verhaltensregeln zwischen Lernenden und Lehrenden erfahren (Günther 2016, S. 54). Auch wenn die Referenz jeglicher religionspäda-

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gogischer Konzeptualisierung Koran und Sunna bildeten, entstand daraus über die Jahrhunderte eine reiche religionspädagogische Tradition, in die verschiedene Gedanken muslimischer Intellektueller, die versucht haben, unter Bezugnahme auf diese Quellen ihren Lebensumständen entsprechende Konzepte zu entwickeln, eingeflossen sind. Auf diese Kurzdarstellung der Bedeutung von Bildung und religiöser Bildung in den theologischen Quellen folgt im nachstehenden Abschnitt die Untersuchung der anthropologischen Grundlagen.

4.

Anthropologische Grundlagen: Das Menschenbild als Ausgangspunkt

Wie schon zu Beginn angedeutet, kann der Ausgangspunkt einer »anthropologischen Wende« in der islamischen Religionspädagogik, die dazu führt, dass sie jene Prinzipien erfüllt, die sich bereits in der Religionspädagogik im westeuropäischen Kontext bewährt haben, in dem in den theologischen Quellen angelegten Menschenbild liegen. Dies ist deshalb von Relevanz, weil ein religionspädagogisches bzw. religionsdidaktisches Konzept, das dem Begriff einer theologisch inspirierten Religionspädagogik gerecht werden will, nur unter Bezugnahme auf das theologische Menschenbild entstehen kann (Lachmann 2013). Ursprungsorte der anthropologischen Grundlagen des Islams sind die theologischen Quellen, insbesondere die Primärquelle, der Koran, und die Sekundärquelle, die Sunna. Dabei finden sich zu Aspekten des Menschenbildes in den theologischen Quellen – ähnlich wie zum Thema Bildung oder religiöse Bildung – mitunter ambivalente Aussagen, die mehrere Interpretationen zulassen. Dies führte dazu, dass in der Geschichte der Koranexegese, auch wenn sie sich auf dieselben religiösen Quellen bezog, durchaus plurale Menschenbilder zum Vorschein kamen. Der Grund dafür liegt darin, dass bei der Interpretation der anthropologischen Aussagen in den theologischen Quellen die Perspektivität und Kontextbezogenheit stets eine wichtige Rolle spielen. Bei der inhaltlichen Bestimmung anthropologischer Grundlagen gilt es also, sowohl die Verbundenheit mit der muslimischen Tradition zu wahren als auch ein Menschenbild zu gewinnen, das sich aus den islamischen Quellen speist und sich dabei dennoch für Kontexte der Gegenwart, humanistische Prinzipien und zeitgenössische Ansätze in der Religionspädagogik in Westeuropa als anschlussfähig erweist. Der Fokus der Analyse der anthropologischen Grundlagen liegt auf fünf Merkmalen, die sowohl in den islamischen Quellen als auch in Gelehrtenkreisen immer wieder vorgebracht werden. Dabei handelt es sich um

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die menschliche Geschöpflichkeit, Würde, Vernunft, Freiheit und Verantwortung, aus denen sich Implikationen für die islamische Religionspädagogik ableiten lassen.

4.1

Geschöpflichkeit

Ein grundlegendes anthropologisches Merkmal des islamischen Menschenbilds ist die Geschöpflichkeit. Laut dem Koran ist der Mensch ein Lebewesen, dessen Dasein sich dem Willen Gottes verdankt, das also nicht etwa aus sich selbst heraus oder aufgrund willkürlicher Prozesse entstanden ist (Koran 16:4), und das aus Stoffen erschaffen wurde, die unabhängig von ihm und bereits vor ihm existierten. Geschöpflichkeit besagt damit sowohl, dass die Menschen Teil der Schöpfung, endlich und in ihrer Existenz auf einen Schöpfer angewiesen sind, als auch, dass sie in einer Wirklichkeit gegründet sind, die unendlich über den Menschen und die Welt hinausweist (Sejdini et al. 2017, S. 51). Seine Existenz schuldet der Mensch also nicht sich selbst oder dem Zufall, sondern einer höheren, absoluten Instanz. Koranische Textstellen erzählen von der Schöpfung des Menschen und der Welt als Ergebnis der freien Entscheidung des einen und einzigen Gottes (Koran 2:30–35). Aus islamischer Sicht stellt die Verbindung der Spezies Mensch zum göttlichen Schöpfer einen wichtigen anthropologischen Grundsatz dar. Erschaffen aus verschiedenen Elementen (Erde, Lehm, Schlamm und Ähnlichem), musste der Mensch mehrere Entwicklungsstufen (Koran 15:26, 32:7, 76:1–2, 96:2) durchlaufen, ehe ihm Gott seinen Geist einhauchte (Koran 38:72, 32:9, 15:29) und er so zum eigentlichen Menschen wurde. Dieser Akt füllte die stoffliche Form mit Leben und verlieh dem Menschen das Potenzial, ein dem einzigen Gott ergebener Mensch zu sein und Gottes Existenz zu erkennen (Koran 30:30); damit konstituierte er die Natur bzw. die Veranlagung des Menschen (fitra). Der Akt des ˙ Einhauchens bewirkte die Transformation einer feuchten Tonmasse in ein mit göttlichem Geist und seelischen sowie geistigen Fähigkeiten ausgestattetes geistiges Wesen (Hajatpour 2014, S. 79). Verschiedene Stellen im Koran weisen auf die Fürsorge hin, die Gott bei der Erschaffung des Menschen walten ließ (Koran 7:54, 55:10–13, 67:23). Andreas Renz betont in diesem Zusammenhang, »in dieser Sorge Gottes für den Menschen, indem er ihm alles gibt, was er zum täglichen Leben braucht, erweist Gott seine Güte und Weisheit. So sind die koranischen Schöpfungsaussagen nicht bloße Vorgangsbeschreibungen, vielmehr dienen sie der Betonung der göttlichen Allmacht und Barmherzigkeit und sollen beim Menschen Dankbarkeit und Ehrfurcht evozieren« (Renz 2002, S. 354).

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Folglich ist Gott nicht nur als Schöpfer zu verstehen, sondern ebenso als Erhalter und Bewahrer der Schöpfung. Laut dem Koran kommt dem Menschen in der Schöpfung eine zentrale Rolle zu. Als Statthalter Gottes auf Erden besitzt er die Fähigkeit, »das Universum kennenzulernen, über die Existenz zu reflektieren, die Dinge zu benennen, Wissen zu produzieren und Kultur zu schaffen« (Albayrak 2019, S. 113). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Schöpfung dem Menschen zur freien Verfügung steht, in dem Sinn, dass er nach Gutdünken und ohne Rücksicht zum eigenen Nutzen auf sie zugreifen könnte. Vielmehr ist ihm die Schöpfung bloß zur Nutzung anvertraut, weshalb die besondere Stellung des Menschen mit einer großen Verantwortung für die gesamte Schöpfung einhergeht. Das Konzept der Anvertrauung (ama¯na) impliziert die zeitlich begrenzte Verfügung über etwas, nicht dessen dauerhafte Inbesitznahme, und aus ihm folgt, dass der Mensch für sie von Gott zur Verantwortung gezogen wird (Sejdini 2016b, S. 297f.). Der Mensch wird im Koran als ein Wesen beschrieben, dessen Lebensweg nicht von vornherein festgelegt ist, sondern Zeit seines Lebens einem Prozess der Formung unterliegt. Dies macht ihn beispielsweise offen für Veränderungen und Entwicklungen, zum Guten wie auch zum Bösen (Albayrak 2019, S. 112). Für seine Entscheidungen und Taten wird er dereinst im Jenseits zur Rechenschaft gezogen. Zwar verfügt der Mensch als Gottes Geschöpf über eine natürliche Disposition zum Glauben und ist durchaus fähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, jedoch hindern ihn innerliche und äußerliche Faktoren daran, seine Existenz ausschließlich dem Guten zu widmen. Um sich zum Guten hin zu entwickeln und die Stufe einer »Kultivierung des Selbst« (Jensen 1990, S. 205) zu erlangen, ist er auf (religiöse) Bildung angewiesen. Eine weitere anthropologische Grunddisposition von religionspädagogischer Relevanz ist neben der Geschöpflichkeit die Würde des Menschen; diese ist Gegenstand der folgenden Darstellung.

4.2

Würde

Auch die Würde des Menschen, ein weiterer bedeutsamer Bestandteil des Menschenbildes, hält Implikationen für die islamische Religionspädagogik bereit. Im Koran finden sich verschiedene Stellen, die auf eine von Gott gegebene, unantastbare Würde des Menschen hinweisen. Den wichtigsten diesbezüglichen, direkten, Hinweis liefert Sure 17, Vers 70. Darin wird hervorgehoben, dass alle Menschen, also keineswegs nur Muslim*innen, von Gott mit Würde ausgestattet sind (Sejdini 2016a, S. 22). Beschrieben wird die Würde als eine der grundlegendsten Eigenschaften des Menschen, die unveräußerlich ist und weder verletzt noch angegriffen werden darf (Albayrak 2019, S. 114f.). Die Relevanz dieses

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Verses liegt in der Botschaft, dass die Würde nicht Muslim*innen vorbehalten ist, sondern allen Menschen zukommt – unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Herkunft, Glaube und Geschlecht. Darüber hinaus enthält der Koran auch indirekte Hinweise auf die unantastbare und gottgegebene Würde des Menschen. Dabei handelt es sich um Stellen, die nicht explizit die Würde des Menschen thematisieren, sondern verschiedene Aspekte seiner Einzigartigkeit, die der Unterstreichung der Besonderheit der Gattung Mensch dienen können. Zu erwähnen sind beispielsweise jene Koranstellen, in denen es heißt, dass der Mensch in der bestmöglichen Form erschaffen (Koran 32:7) oder dass ihm als einzigem Lebewesen der göttliche Geist eingehaucht wurde (Koran 32:9). »Dass jeder Mensch ein einzigartiges Werk Gottes ist, [kann als] Beweis für die Existenz der Menschenwürde« (Albayrak 2019, S. 114) interpretiert werden. Auch die Ernennung des Menschen zum Stellvertreter Gottes auf Erden (Koran 2:30) impliziert, dass ihm Würde, Ehre und Verantwortung für die Erfüllung dieser Aufgabe zuerkannt wurden. Die Würde des Menschen ist eng mit anderen Eigenschaften und Fähigkeiten verbunden, die ihm qua Schöpfung zukommen, etwa der Vernunft. Dieser widmen sich die anschließenden Ausführungen.

4.3

Vernunft

Ein weiteres entscheidendes anthropologisches Merkmal, welches das islamische Menschenbild auszeichnet, ist die menschliche Vernunft. Der Koran spricht davon, dass Gott den Menschen bereits im Mutterleib nach seinen Wünschen formt und ihm kognitive Veranlagungen, Erkenntnisfähigkeit und Vernunft verliehen hat (Koran 16:78). Derart ausgestattet ist der Mensch angehalten, seine Umwelt zu erforschen, in Kommunikation mit anderen Menschen zu treten, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen und diese wiederum in den Dienst der Menschheit zu stellen. Immer wieder fordert der Koran den Menschen auf, seine Vernunft zu gebrauchen, um sich und die Gesellschaft weiterzuentwickeln (Koran 6:32), und er tadelt jene, die ihre Vernunft nicht zum Reflektieren einsetzen (Koran 8:22, 10:100). Dementsprechend verfügen Menschen über die Gabe, zu denken, zu begreifen, zu erkennen und logisch zu schlussfolgern (Koran 39:9). Gleichwohl sind sie keineswegs nur mit positiv konnotierten Charaktereigenschaften ausgestattet. So spricht der Koran von den dem Menschen innewohnenden Neigungen und Trieben wie Egoismus, Geiz, Ungeduld oder Undankbarkeit, die keine Grenzen kennen und die ihm in sozialen Kontexten zum Nachteil gereichen können (Koran 14:34, 21:37, 59:9). Eben deswegen kommt der Vernunft und der Ratio-

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nalität eine existenzielle Rolle zu, die es mittels Erziehung und Sozialisation zu bilden und zu entwickeln gilt. So vermag der Mensch zu lernen, seine angeborenen Neigungen und Triebe zu erkennen und sie so zu steuern, dass sie ihn nicht daran hindern, seine Aufgabe als Statthalter Gottes auf Erden zu erfüllen. Dank seiner Vernunft ist der Mensch in der Lage, sich von der göttlichen Botschaft ansprechen zu lassen, diese zu erkennen und auf sie zu antworten. Diesbezüglich heißt es in Sure 38, Vers 29: »(All dies haben Wir erläutert in dieser) gesegneten göttlichen Schrift, die Wir dir offenbart haben (o Muhammad), auf daß die Menschen über ihre Botschaften nachsinnen mögen und daß jene, die mit Einsicht versehen sind, sie sich zu Herzen nehmen mögen.«

Demnach besteht die Funktion der Offenbarung darin, dem Menschen Einsicht zu schenken, auf dass er die göttliche Wahrheit erkenne. Ob diese Einsicht Ergebnis von spirituellem Erkennen oder von rationaler Logik ist, wird nicht näher erläutert. Klar ist, dass gemäß dem Koran Glaube und Vernunft keineswegs Gegensätze sind – der Weg zum göttlichen Heil führt über den Gebrauch der Vernunft, bei dem es sich meist um einen selbständigen, aktiven und eigenverantwortlichen Akt handelt. Nicht zuletzt beschreibt der Koran den Menschen als lernfähiges Wesen (Koran 96:1). Muhammad Asad merkt in seinem Kommentar an, dass die Vernunft es dem Menschen erlaube, Wissen zu akkumulieren sowie Einsichten und Erkenntnisse zu erlangen, »die der einzelne Mensch nicht von sich aus weiß« (Asad 2017, S. 1175). Sebastian Günther kommentiert die koranische Aufforderung, seinen Verstand zu benutzen, wie folgt: »Bemerkenswerterweise werden die Menschen im Koran wiederholt dazu aufgerufen, ihren Verstand zu benutzen. Sie sollen die Welt und das Universum nicht nur mit dem Herzen, sondern eben auch rational begreifen und reflektieren, um so zu Gott zu finden und sich Gottes Willen ganz hinzugeben. Das verstandesmäßige Lernen nimmt somit – neben der spirituellen Gotteserfahrung – im Koran und in der Religion des Islams generell einen wichtigen Platz für die Bildung und Erziehung der Menschen ein.« (Günther 2016, S. 52)

Trotz der klaren koranischen Aussagen, die keinen Zweifel daran lassen, dass die Vernunftbegabung ein konstitutiver Teil des Menschen ist, der ihn überhaupt erst dazu befähigt, als Kommunikationspartner Gottes zu fungieren, wird dieser Tatsache in theologischen Kreisen oft wenig Beachtung geschenkt, mit denkbar negativen Folgen für religionspädagogische Konzeptionen. Wenn religionspädagogische Konzepte sowohl dem koranischen Menschenbild als auch den gegenwärtigen religionspädagogischen Ansätzen entsprechen wollen, ist bei ihrer

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Entwicklung diese anthropologische Grunddisposition angemessen zu würdigen. Die Vernunft ist nicht nur eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der Mensch überhaupt von Gott angesprochen werden kann, sondern bildet auch die Grundlage seiner Freiheit, ein weiteres für die Religionspädagogik wesentliches anthropologisches Merkmal. Dieses soll im nachfolgenden Abschnitt behandelt werden.

4.4

Freiheit

Die menschliche Freiheit ist das vierte anthropologische Merkmal, mit dessen Wesen und Grenzen sich muslimische Theolog*innen und Philosoph*innen von den frühen Anfängen bis in die Gegenwart auseinandergesetzt haben (Wielandt 1994, S. 101–103). Dies liegt zum einen darin begründet, dass die verschiedenen islamischen Denkschulen im Verlauf der Geschichte unterschiedliche erkenntnistheoretische Ansätze verfolgten, und zum anderen im Umstand, dass sich im Koran sowohl Äußerungen finden, in denen die Freiheit des Menschen anerkannt und auf die Eigenverantwortung des Menschen hingewiesen wird (Koran 6:164), als auch Verse, die den Eindruck erwecken, der Mensch besäße keinen freien Willen und würde lediglich seiner Vorbestimmung folgen (Koran 9:51, 57:22). Eine genauere Analyse des Korans lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass der koranische Gesamtduktus das Prinzip der Freiheit als grundlegendes menschliches Wesensmerkmal unterstützt. Tatsächlich würde eine Position, die allein die Vorherbestimmung des Menschen vertritt, »sowohl dem Grundsatz der Menschenwürde als auch dem Gedanken der Eigenverantwortung des Menschen widersprechen, die ebenso im Koran verankert sind« (Sejdini et al. 2017, S. 56). Einerseits also eine wesentliche Eigenschaft des Menschen, die ihn von anderen Lebewesen und Geschöpfen unterscheidet, zeichnet sich Freiheit andererseits durch einen ambivalenten Charakter aus, in dem Sinn, dass sie zum Heil oder zum Unheil führen kann. Während Unheil dann eintritt, wenn Menschen ihren angeborenen Neigungen, Vorlieben und Trieben ungehemmt nachgehen, können sie Heil dadurch erlangen, dass sie sich trotz ihrer Freiheit dazu entscheiden, sich nicht von ihren Trieben leiten zu lassen. Auf diesen Spannungszustand weist eine zentrale Stelle im Koran hin, in der die Freiheit des Menschen als mögliche Quelle von Unheil schon von den Engeln erkannt wurde. In Sure 2, Vers 30 wird dies wie folgt geschildert: »UND SIEHE! Dein Erhalter sagte zu den Engeln: ›Seht, ich bin dabei, auf Erden einen einzusetzen, der sie erben wird.‹ Sie sagten: ›Willst Du auf ihr einen solchen einsetzen,

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der darauf Verderbnis verbreiten und Blut vergießen wird – während wir es sind, die Deinen grenzlosen Ruhm lobpreisen und Dich preisen und Deinen Namen heiligen?‹ (Gott) antwortete: ›Wahrlich, Ich weiß, was ihr nicht wißt.‹« (Koran 2:30)

Im Gegensatz zu den Engeln, die ausschließlich im Sinne Gottes handeln, kann der Mensch kraft seiner Freiheit sich eben auch für Unheil und Verderbnis entscheiden (Sejdini 2019, S. 33). Gleichzeitig aber – und das wissen die Engel dem Vers zufolge nicht – wohnt der Freiheit das positive Potenzial inne, »jene Seite des Menschen, die zum Guten neigt, zu speisen und wachsen zu lassen« (Albayrak 2019, S. 114). Freilich sind der Freiheit des Menschen Grenzen gesetzt – allein dadurch, dass es ihm nicht möglich ist, die Existenzbedingungen, die für ihn geschaffen wurden oder in die er hineingeboren wurde, zu überwinden, in andere Existenzsphären oder Dimensionen auszuweichen, sodass er dazu »gezwungen« ist, sich mit den gegebenen Verhältnissen zu arrangieren (Koran 3:83). Was er sehr wohl kann, ist autonom zu agieren – in Bezug auf seinen Willen, seine Entscheidungen, seine Präferenzen und Handlungen. Folglich ist er »im historischen Existenzbereich frei« (Albayrak 2019, S. 113). Sein freier Wille schließt sogar die Option ein, einer beliebigen Religion beizutreten, einem beliebigen Glauben anzuhängen oder aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten (Koran 2:256, 18:29). Diese Freiheit ist jedoch keineswegs Ausdruck menschlicher Allmacht, die der Mensch sich gegen den Willen Gottes nehmen könnte, sondern beruht ausschließlich auf dessen ausdrücklichem Wunsch, dessen ausdrücklicher Erlaubnis. Demnach ist Freiheit die Prädestination des Menschen. Mit anderen Worten ist es sein Schicksal, sich frei entscheiden zu müssen (Lahbabi 2011, S. 91). Genauso wie die Freiheit an die Vernunftbegabung geknüpft ist, ist die Verantwortung – als weiteres menschliches Merkmal – eng mit der Freiheit und der Vernunft des Menschen verwoben. Auf dieses fünfte Merkmal des islamischen Menschenbildes soll, bevor wir uns den Implikationen für die islamische Religionspädagogik zuwenden, nun kurz eingegangen werden.

4.5

Verantwortung

Die Aspekte Geschöpflichkeit, Würde, Vernunft und Freiheit dürfen weder als statisch noch isoliert voneinander betrachtet werden, denn sie sind in ein weiteres anthropologisches Merkmal eingebunden, das Gott dem Menschen verliehen hat: die Verantwortung, der die Spezies Mensch für sich und seine Umwelt stets gerecht zu werden hat. Nach islamischem Verständnis knüpft die Verantwortung des Menschen an seine anthropologischen Grundgegebenheiten – Würde, freier Wille und die Fähigkeit zum rationalen Denken – an (Sejdini et

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al. 2017, S. 59). Der Koran spricht davon, dass der Mensch für alle seine Entscheidungen und Handlungen individuelle Verantwortung zu übernehmen hat, die er keinesfalls auf andere oder Gott abschieben kann (Koran 17:15, 35:18). Demgemäß werden alle Menschen für ihre Taten im Jenseits zur Rechenschaft gezogen (Koran 67:2). Die besondere Verantwortung des Menschen resultiert aus seiner besonderen Stellung innerhalb der Schöpfung, namentlich aus dem bereits angesprochenen Konzept der Anvertrauung (ama¯na), das eben impliziert, dass die Privilegierung des Menschen mit der Verantwortlichkeit für die Schöpfung einhergeht. Im Koran heißt es dazu: »Wahrlich, wir hatten das Anvertraute (von Vernunft und Willen) den Himmeln und der Erde und den Bergen dargeboten: aber sie weigerten sich, es zu tragen, weil sie Angst davor hatten. Doch der Mensch nahm es auf sich.« (Koran 33:72)

So also ist die Verantwortung des Menschen eine natürliche Konsequenz daraus, dass Gott ihm die Schöpfung zur Verfügung gestellt hat und er diese Verantwortlichkeit auf sich genommen hat, wobei die menschliche Freiheit eben keineswegs als uneingeschränkte Herrschaft über die Schöpfung, die willkürliches Handeln erlaubt, verstanden werden darf (Cragg 1968, S. 24). In Sure 75, Vers 36 heißt es dazu: »DENKT der Mensch also, daß es ihm selbst überlassen bleibt, nach Belieben vorzugehen?« Diese Textstelle untermauert das Argument, dass der Mensch in seiner Freiheit nicht uneingeschränkt ist, sondern Sorge für die Schöpfung tragen muss, um so das von Gott in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Denn für die dem Menschen gewährte zeitlich begrenzte Verfügung über die Schöpfung erwartet Gott von ihm einen verantwortungsvollen und sorgsamen Umgang, für den er sich in letzter Instanz auch verantworten muss (Sejdini 2016b, S. 298). Diese in den theologischen Hauptquellen niedergelegten anthropologischen Grundannahmen bilden ein unverzichtbares Fundament, auf dem sowohl die islamische Theologie als auch die islamische Religionspädagogik die Entwicklung verschiedener religionspädagogischer bzw. -didaktischer Konzepte gründen muss. Die religionspädagogischen Implikationen, die sich aus dem vorgestellten Menschenbild ergeben, und deren konkreter Stellenwert für die islamische Religionspädagogik sind Gegenstand des folgenden Abschnitts.

5.

Implikationen für die islamische Religionspädagogik

Die Konzeptualisierung einer für die Gestaltung von religiösen Bildungsprozessen fruchtbaren, gegenwartsbezogenen islamischen Religionspädagogik und -didaktik muss an den islamischen anthropologischen Grundlagen ansetzen. Mit

Anthropologische Grundlagen islamischer Bildungsvorstellungen

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Blick auf Bildungsprozesse ist die Orientierung an bestimmten Menschenbildern deswegen unumgänglich, weil sich nur so ein spezifisches Bildungsverständnis herausbildet, auf dessen Basis Heranwachsende ihre Subjektivität konstruieren. Darauf weist der Wiener Bildungswissenschaftler Erich Ribolits hin. Ihm zufolge verbindet ein anerkannter Bildungsbegriff »die unterschiedlichen Interessen, die seinen Durchbruch begründet hatten, zu einem konsistenten Menschenbild sowie einer Theorie, wie Menschen qua Beschulung dazu gebracht werden können, eine mit diesem Menschenbild in Einklang stehende Selbstinterpretation zu entwickeln und sich (dadurch) selbst entsprechend zu formen« (Ribolits 2015, S. 170). Dies stellt die islamische Religionspädagogik vor die Aufgabe, das von ihr vertretene Menschenbild zu reflektieren und darauf gründende Konzepte zu entwickeln, die dazu angetan sind, Bildungsprozesse zu initiieren und zu begleiten, die den Anforderungen der Gegenwart Rechnung zu tragen vermögen – schließlich rekurrieren religionspädagogische Ansätze nicht nur auf die Vergangenheit, sondern zielen ebenso auf die Gegenwart und die Zukunft ab. Oder mit den Worten des deutschen Pädagogen und Theologen Helmut Peukert: »Die Interpretation einer lebendigen religiösen Tradition will nicht nur ihre Genese und ihr historisches Verständnis rekonstruieren, sie zielt vielmehr in ihrer praktischen Auslegung, ihrer ›Anwendung‹ auf eine gegenwärtige Situation. Denn die nächste Generation steht immer vor der Frage, ob diese Tradition ihr selbst auf Zukunft hin Lebensmöglichkeiten eröffnet oder verschließt.« (Peukert 2004, S. 83)

Was die theologische Fundierung angeht, bietet dieses Menschenbild für eine zeitgemäße islamische Religionspädagogik, die jene Prinzipien systematisch aufgreift, verschiedene Anknüpfungspunkte, die seit einigen Jahrzehnten auch in der Religionspädagogik im westeuropäischen Kontext als besonders relevant erachtet werden – gemeint sind die Pluralitätsfähigkeit, die Subjekt- und Erfahrungsorientierung sowie die Bildungsorientierung. Wie dies aussehen könnte, soll nachfolgend skizziert werden:

5.1

Pluralitätsfähigkeit

Als Leitgedanke religionspädagogischer Konzepte hebt die Pluralitätsfähigkeit, wie zuvor erwähnt, nicht auf homogene Gruppen von Lernenden, sondern auf die gesellschaftliche Heterogenität ab. Sie ist in einer weltanschaulich-religiös pluralen Gesellschaft sowohl Ausgangspunkt als auch Zielsetzung religiöser Bildungsprozesse. Ein zentrales Moment, an dem das religionspädagogische Prinzip der Pluralitätsfähigkeit anknüpfen kann, ist die in der Theologie verankerte gottgegebene

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und unantastbare Würde des Menschen. Die theologische Begründung der Würde aller Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft oder religiöser Zugehörigkeit bildet ein wichtiges Fundament, auf dem eine islamische Religionspädagogik, die sich um die Einbindung vielfältiger und unterschiedlich gelebter Formen von Religiosität bemüht und die versucht, die Lernenden zu einer differenzsensiblen Wahrnehmung und Kommunikation sowie zu einem entsprechenden Handeln in der Gesellschaft der Gegenwart zu befähigen, aufbauen kann. Demnach ist ein weiteres konstitutives Element jeglicher religionspädagogischer Konzeptionen die Idee der Gleichheit aller Menschen. Diese darf weder aufgrund der weltanschaulich-religiösen Ausrichtung noch wegen der Einstellung eines Menschen zu Gott infrage gestellt werden. Die Verinnerlichung dieses Prinzips setzt einen wertschätzenden Umgang mit religiöser Vielfalt und die Absage an exklusivistische Ansätze, die von der Überlegenheit der eigenen Religion ausgehen und andere vom Heil ausschließen, voraus (Sejdini 2016a, S. 27f.). Eine grundsätzliche Herausforderung für die islamische Religionspädagogik besteht darin, die kulturelle und religiöse Pluralität und Vielfalt der europäischen Gegenwartsgesellschaften in ihre theologischen und religionspädagogischen Reflexionen aufzunehmen, um dem Anspruch gerecht zu werden, die Anerkennung und Wertschätzung anderer Religionen und Menschen anderen Glaubens zu fördern (Sejdini 2017b, S. 176). So dringend notwendig es ist, ist dieses Vorhaben alles andere als leicht. Eine der größten Hürden bei der Herstellung einer theologisch und religionspädagogisch begründbaren, wahrhaftigen Wertschätzung weltanschaulich-religiöser Pluralität ist der in der einen oder anderen Form von den Religionen erhobene latente Wahrheitsanspruch. Einen möglichen Ausweg böte die – analog zu der gegenüber der anthropologischen Grunddisposition der Freiheit des Menschen geforderten – Einsicht, dass Glaube als persönliche Erfahrung zu verstehen ist, zu der sich der Mensch nach eigener Überzeugung positionieren muss, ohne irgendwelche Konsequenzen zu befürchten. Dieser Ansatz könnte der Schlüssel sein zu einer wertschätzenden Haltung gegenüber dem Anderen in einer multikulturellen und multireligiösen demokratischen Gesellschaft.

5.2

Subjekt- und Erfahrungsorientierung

Ein wichtiger Bestandteil gegenwärtiger religionspädagogischer Konzeptionen, auf den auch die islamische Religionspädagogik Rekurs nehmen muss, ist die Subjekt- und Erfahrungsorientierung – ein Konzept, das die Subjekte des Lernens und ihre Erfahrungen in den Mittelpunkt religionspädagogischer Refle-

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xionen rückt. Eine weitere Frage, die sich für die islamische Religionspädagogik im Kontext der »anthropologischen Wende« neben der nach Pluralitätsfähigkeit stellt, ist die, welche Bedeutung den Erfahrungen der Lernenden eingeräumt wird. Die anthropologischen Dispositionen des Menschen, beispielsweise seine Vernunft oder Freiheit, bieten in dieser Hinsicht verschiedene Anknüpfungspunkte für subjekt- und erfahrungsorientierte Prinzipien, die in der islamischen Religionspädagogik bis dato noch zu selten Berücksichtigung finden (Sejdini 2015, S. 24). Für eine religionspädagogische Konzeption impliziert eine solche Ausrichtung Verschiedenes. Zum einen ist der Glaube als ein Angebot Gottes zu verstehen. Da der Mensch bei seiner Schöpfung mit einem freien Willen ausgestattet wurde, kann er den Glauben annehmen oder ablehnen. Dessen hat sich die islamische Religionspädagogik gewahr zu sein und folglich muss sie den ihr Anvertrauten diese Entscheidungsmöglichkeit zugestehen, ohne dass sie den Verlust von Anerkennung oder Ansehen befürchten müssen. Zudem ist sie angehalten, Angebote auch für jene bereitzustellen, die sich nicht zum Glauben bekennen, aber dennoch an religiöser Bildung teilhaben möchten. Zum anderen hat eine zeitgemäße islamische Religionspädagogik die Unverfügbarkeit des Glaubens zu achten. Die Wahrung der Freiheit ist die Voraussetzung für einen subjektorientierten und selbstbestimmten Zugang zum Glauben. Allein der Versuch, jemandem den Glauben aufzuzwingen, ist weder gestattet oder erwünscht noch im Sinne Gottes, denn Zwang vernichtet den Glauben – dies macht der Koran unmissverständlich klar. So heißt es in Sure 18, Vers 29: »Und sag: ›Die Wahrheit (ist nun gekommen) von eurem Erhalter: lasse denn an sie glauben, wer will, und lasse sie verwerfen, wer will.‹« Die Zielsetzung religionspädagogischer Bildungsprozesse sollte folglich darin bestehen, Lernende bei ihrer Subjektwerdung und bei der selbständigen Entfaltung ihres Glaubens beziehungsweise der Entwicklung eines eigenen Zugangs zum Glauben zu unterstützen. Ein Vorbehalt gegenüber einer Religionspädagogik, die sich an den Lebensund Erfahrungswelten der Lernenden ausrichtet, könnte aus der Befürchtung entstehen, dass darüber Inhalte zu kurz kommen (vgl. Boschki 2017, S. 88; Sejdini 2017c, S. 195). Dem wäre entgegenzuhalten, dass es gerade für Religionspädagog*innen und Religionslehrer*innen von Vorteil ist, die Lebensrealität und die Erfahrungshorizonte der Lernenden zu kennen, gilt es doch, diese für Bildungsprozesse fruchtbar zu machen. Denn nur wenn sie an die Erfahrungen der Heranwachsenden anknüpfen und ihre eigenen Inhalte aus deren Perspektive reflektieren und aufarbeiten, können religiöse Bildungsprozesse zu nachhaltigen Ergebnissen führen. Nicht zuletzt trägt ein solcher Zugang dazu bei, dass die Erlebnisse, Erfahrungen und Lebensrealitäten muslimischer Lernender als

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konstitutiver Teil religionspädagogischer Bildungsprozesse berücksichtigt werden und verhindert so deren Degradierung zu passiven Empfänger*innen.

5.3

Bildungsorientierung

Eine weitere Herausforderung für eine islamische Religionspädagogik, die den gegenwärtigen konzeptionellen Ausrichtungen gerecht werden will, stellt das Prinzip der Bildungsorientierung dar. Auch diesfalls bieten die anthropologischen Grundsätze des islamisch-theologischen Menschenbildes verschiedene Anknüpfungspunkte für religiöse Bildungsprozesse. So korrespondiert der anthropologische Leitsatz, wonach der Mensch seine Vernunft selbständig, aktiv, eigenverantwortlich und dauerhaft gebrauchen solle, mit dem religionspädagogischen Auftrag, Bildung auf die religiöse Mündigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Lernenden (Boschki 2017, S. 78) auszurichten. In konzeptioneller Hinsicht kann dies für die islamische Religionspädagogik Verschiedenes bedeuten. Zum einen ist festzuhalten, dass Glaube auf der einen sowie Vernunft und Wissenschaft auf der anderen Seite nicht in Widerspruch zueinander stehen. Die islamische Religionspädagogik hätte demnach dafür zu sorgen, dass die dennoch wahrgenommene Kluft zwischen dem Glauben und der Vernunft sich tendenziell schließt und nicht etwa für unüberbrückbar erklärt wird. Die religionspädagogische Thematisierung des Glaubens sollte sich nicht über wissenschaftliche Erkenntnisse hinwegsetzen, sondern diese vielmehr als Möglichkeit zu einem konstruktiven Dialog betrachten (Behr 2014, S. 58). Ein solcher Ansatz stünde auch im Einklang mit theologischen Grundlagen. Denn »[d]ie Aufgabe der Offenbarung besteht in der Stimulierung der Menschen zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung und nicht in der Übermittlung einer eigenen Art von wissenschaftlichen Erkenntnissen« (Sejdini 2016a, S. 28). Im Umkehrschluss ist der Versuch, wissenschaftliche Ergebnisse theologisch zu verifizieren, nichts anderes als eine theologische Verengung und widerspricht ¨ zsoy 2006). damit gewissermaßen der Grundintention der Offenbarung (O Zum anderen ist der Mensch laut dem Koran dazu angehalten, seine Vernunft anzuwenden, um seine Umwelt zu erforschen und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen (Koran 6:32). Entsprechend hat sich eine islamische Religionspädagogik weder als Indoktrinierung noch als Unterweisung oder Belehrung über bestimmte Wahrheiten zu verstehen, sondern als Begleitung der sich bildenden Subjekte auf dem Weg der Wahrheitssuche. Dies bedeutet in weiterer Folge auch, dass die islamische Religionspädagogik Zweifel und Kritik Raum geben muss. Nur so wird ein religionspädagogischer Ansatz dem Prinzip der Bildungsorientierung gerecht.

Anthropologische Grundlagen islamischer Bildungsvorstellungen

6.

105

Schlusswort

Was nach der Skizzierung der Implikationen und Impulse für die Konzeptualisierung religionspädagogischer Lehr- und Lernprozesse, die sowohl den Prinzipien einer zeitgemäßen Religionspädagogik als auch den islamisch-anthropologischen Grundlagen gerecht werden, bleibt, ist dafür zu plädieren, dass der Weg der Etablierung der islamischen Religionspädagogik – aber auch der islamischen Theologie im Allgemeinen – an westeuropäischen Universitäten konsequent weiterverfolgt wird. Der universitäre Rahmen bietet eine einzigartige Möglichkeit, die islamische Religionspädagogik auf eine Weise weiterzudenken, die sowohl die Berücksichtigung der reichhaltigen islamischen religionspädagogischen Tradition als auch die Einhaltung der Kriterien und Standards einer westeuropäischen Universität gewährleistet. Dass dem so ist, liegt mit den Worten des deutschen Islamwissenschaftlers Reinhard Schulze darin begründet, dass es in universitären Kontexten nicht um eine »Perpetuierung bisheriger islamischer Wissensbesta¨ nde« geht, »sondern die sa¨kulare Universita¨ t bedingt eine Ordnung von ›islamischem‹ Wissen, die dem Charakter einer sa¨kularen Universita¨ t entspricht« (Schulze 2012, S. 183). Dies bedeutet – wie aus den vorangegangen Ausführungen hervorgeht – mitnichten den Bruch mit islamischen Wissenschaftstraditionen, sondern vielmehr die Adaptierung islamisch-religionspädagogischer Ansätze und Wissensbestände an europäische Kontexte und ihre Eingliederung in die Verfahrensweisen und die akademische Arbeit an säkularen Universitäten. Nur so können religionspädagogische Konzepte und religionsdidaktische Modelle entstehen, die Muslim*innen »in ihren jeweiligen Kontexten die Möglichkeit eröffnen, auf islamische Weise Mensch zu werden« (Sejdini 2015, S. 27), und dabei gleichzeitig den Maßstäben einer zeitgemäßen Religionspädagogik zu gehorchen.

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Martin Kellner

Bildbarkeit des Menschen im tafsı¯r – Elemente einer islamischen Anthropologie für den Religionsunterricht

Zusammenfassung Theologisch geprägte Menschenbilder sind wesentliche Faktoren für die Ausgestaltung religionspädagogischer Konzepte. Im folgenden Artikel werden einige grundlegende Elemente islamischer Anthropologie dargestellt: Anhand einiger koranexegetischer Werke wird aufgezeigt, wie man im klassischen islamischen Schrifttum die Natur, die Sonderstellung und die grundlegende innere Konstitution des Menschen versteht. Diese Elemente eines islamischen Menschenbildes werden abschließend in Hinblick auf religionspädagogische Kontextualisierungen dargestellt.

1.

Einleitung

Jedem religionspädagogischen Ansatz liegen bestimmte Vorstellungen darüber zugrunde, was den Menschen in »seiner Besonderheit, seinen Entwicklungsmo¨ glichkeiten und seinem Gestaltungspotential« ausmacht (Utsch 2006, S. 308). Dementsprechend basiert Pädagogik auf bestimmten Ideen hinsichtlich der Natur und des Potenzials von Menschen: »Bildungs- und Erziehungsprozesse sind zwangsläufig zielgerichtet. Die Ziele gründen im Menschenbild, das weltanschaulich, individuell und weithin vorrational begründet ist« (Fraas 2000, S. 41). Dieses Menschenbild kann, muss aber nicht theologisch begründet werden. Im Folgenden sollen einige Grundlinien zum islamischen Menschenbild dargelegt werden; es geht dabei nicht um die Frage der Plausibilität einer theologischen Anthropologie und ihrer rationalen Begründbarkeit (vgl. Langenfeld 2018, S. 15– 18), vielmehr sollen entsprechende Konzepte aus Sicht der islamischen Theologie dargestellt und zugänglich gemacht werden. Dies geschieht im vorliegenden Artikel aus einer textzentrierten Perspektive: Ziel ist es, koranische Narrative, welche in theologischen Diskursen über die Natur des Menschen verwendet

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Martin Kellner

werden, aus einer exegetischen Perspektive zu betrachten, denn »islamische Anthropologie hat sich seit jeher im interpretierenden Umgang von Muslimen mit dem Korantext entfaltet« (Wielandt 1994, S. 97). Dazu werden schwerpunktmäßig thematisch relevante Ausführungen klassischer Standardwerke der sunnitischen Koranexegese herangezogen, ohne dass dabei alle relevanten Themen abgedeckt werden, denn »das Menschenbild des Korans ist vielschichtig« (Berger 2010, S. 178). Es geht weder um vollständige Darstellung dieser Thematik noch um das Postulat eines koranischen Menschenbilds, welches hermeneutische Vielfalt ignoriert. Ziel ist es, einige in der Exegese-Literatur prominente Diskurslinien über die Natur des Menschen, seine Verantwortung, seine Würde und sein Potenzial darzulegen. Im Abschluss daran soll die Relevanz dieser Konzepte für den islamischen Religionsunterricht in einigen Aspekten dargestellt werden.

2.

Grundlegendes zum Menschenbild im Koran

Im Koran werden für den Begriff »Mensch« unterschiedliche arabische Wörter verwendet: Das am häufigsten verwendete Wort ist insa¯n1. Eine kurze Betrachtung der etymologischen Herleitung dieses Wortes gibt einen ersten Einblick in das Bedeutungsfeld, in welchem der Begriff »Mensch« im klassischen Arabisch und damit auch im koranischen Text zu verorten ist: Wie die meisten Wörter in semitischen Sprachen wird das Wort von drei Wurzelkonsonanten abgeleitet – jedoch gibt es in Hinblick auf dieses Wort »Mensch« eine Meinungsverschiedenheit darüber, von welcher Wurzel der Begriff insa¯n stammt. Die Hauptmeinung der Gelehrten von Basra ist die, dass es auf die Wurzel ʾ-n-s zurückzuführen ist, welche auf die Bedeutung von »Geselligkeit« zurückgeht. Der Mensch ist demnach von seiner Natur her mehr als andere Lebewesen auf soziale Kontakte, auf Gesellschaft und Koexistenz mit anderen angewiesen. Nach der anderen Meinung – vertreten durch die philologische Schule von Kufa – geht das Wort auf die Wurzel n-s-y zurück, was »Vergesslichkeit« bedeutet (vgl. Fayu¯mı¯ al-Muqriʾ 1987, S. 10). Damit verbunden ist die Annahme, dass der Mensch von seinem Wesen her vergesslich ist und daher Erinnerung braucht. Der Koran als die wesentlichste skripturale Quelle der Religion wird in diesem Sinn auch Erinnerung bzw. Mahnung (dikr) genannt, die dem vergesslichen Menschen das We¯ sentliche wieder ins Bewusstsein bringen soll: »Wir haben die Mahnung hinabgesandt. Und wir geben auf sie acht« (Koran 15:9).2 Der Mensch wird aus isla1 Das Wort insa¯n und seine Ableitungen kommen 58-mal im Koran vor; Synonyme sind basˇar und ibn (banu¯) a¯dam. 2 Die Übersetzung des Korans folgt hier Rudi Paret (1979).

Bildbarkeit des Menschen im tafsı¯r

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mischer Sicht also von Gott angesprochen, ermahnt und erinnert, und diese »Kommunikationssituation, die der Koran schafft, ist bereits ein fundamentales Element muslimischer Anthropologie« (Zirker 1999, S. 97). Wesentlichstes Ziel dieser Kommunikation ist es, den Menschen in seiner individuellen Verantwortlichkeit zum Zustand des Gottesdienstes (ʿiba¯da bzw. ʿubu¯dı¯ya) hinzuführen: »Und Ich habe die Dschinn und die Menschen nur dazu geschaffen, daß sie mir dienen« (Koran 51:56). Nach al-G˙azza¯lı¯ besteht die Herausforderung an den Menschen darin, sowohl mit dem Schöpfer als auch mit den Geschöpfen in richtiger Weise umzugehen (vgl. al-G˙azza¯lı¯ 2004, S. 264). Die doppelte Bedeutung des Begriffs insa¯n hängt also mit zwei Ebenen der conditio humana aus islamischer Sicht zusammen: Einerseits ist der Mensch bedürftig nach Gesellschaft und muss lernen, dieses Zusammenleben mit anderen Menschen bzw. Geschöpfen verantwortungsvoll zu gestalten, und andererseits ist er vergesslich und verliert dabei oft das aus dem Auge, was für ihn wesentlich ist. In der Koranexegese wird in diesem Zusammenhang ein ursprünglicher Bund der Seelen mit Gott erwähnt, an welchen Menschen ob ihrer Vergesslichkeit immer wieder erinnert werden müssen. Dieser »Urvertrag« wird mit folgendem Vers begründet: »Und (damals) als dein Herr aus der Lende der Kinder Adams deren Nachkommenschaft nahm und sie gegen sich selber zeugen ließ! (Er sagte:) ›Bin ich nicht euer Herr?‹ Sie sagten: ›Jawohl, wir bezeugen es.‹« (Koran 7:172). Richard Gramlich weist darauf hin, dass ein derartiger Bund auch mit der Vorstellung über eine ursprüngliche Natur des Menschen einhergeht: »Die Scho¨ pfung der Urnatur, in die die Erkenntnis des einen Herrn eingesenkt ist, ist eine Art Naturvertrag, der eine naturrechtliche Pflicht zur Anerkennung und Verehrung des einen Gottes begru¨ ndet« (Gramlich 2009, S. 229). In dem Sinn besteht die Notwendigkeit, dem Menschen in seiner Vergesslichkeit durch die Erinnerung (den Koran) den zuvor geschlossenen Bund mit Gott ins Gedächtnis zu rufen. Im Sufismus wird die Praxis der spirituellen Läuterung als Methode angesehen, diesen bereits bestehenden »Bund mit Gott« wieder ins Bewusstsein zu bringen (vgl. Böwering 2003, S. 355). Der Mensch braucht im koranischen Sinn also Offenbarung, um mit seiner eigenen Schwäche umgehen zu können, auf die an zahlreichen Stellen im Koran hingewiesen wird: »Allah will euch Erleichterung gewähren. Der Mensch ist ( ja) von Natur schwach« (Koran 4:28). Der Mensch ist also »gut und in der Lage, Gott zu erkennen. Andererseits ist er schwach und verführbar« (Berger 2010, S. 178). Eine Manifestation dieser Schwäche sind negativ konnotierte Eigenschaften, die im Koran folgendermaßen beschrieben werden: »Der Mensch ist ja stets voreilig« (Koran 17:11) und »Der Mensch ist seinem Herrn gegenüber wirklich undankbar (indem er ihm seine Wohltaten überhaupt nicht dankt) und bezeugt das (sogar selber). Und er ist von heftiger Liebe zu den Gütern (dieser Welt) erfüllt« (Koran 100:6–8). Dieser eher problematischen Grundveranlagung des

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Martin Kellner

Menschen – manche Autor*innen sprechen von einem »düsteren Menschenbild« (Tischler 2010, S. 36) – steht die Tatsache gegenüber, dass der Mensch laut Koran trotz aller erwähnten Schwächen und Unzulänglichkeiten ein von Gott geehrtes Wesen ist: »Und Wir haben ja die Kinder Adams geehrt« (Koran 17:70). Die Charakteristiken der menschlichen Natur, welche im Koran in dieser Weise beschrieben sind, implizieren aber gleichzeitig auch ein positives Potenzial: »Der Mensch trägt damit seine ursprüngliche Würde in sich und zugleich ist sein Wesen unbestimmt und daher offen für Selbstverwirklichung und Weiterentwicklung« (Hajatpour 2016, S. 26). Die Basis dieses Entwicklungspotenzials ist die Existenz des freien Willens, der nach Meinung des ägyptischen Koranexegeten al-Sˇaʿra¯wı¯ eines der wesentlichsten Merkmale darstellt, welche den Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden (al-Sˇaʿra¯wı¯ 1991, Bd. 12, S. 7681). Diese Ehrung des Menschen ist auch deshalb von Bedeutung, weil mit ihr oft für ein religiös konnotiertes Konzept von Menschenwürde argumentiert wird (vgl. Ebrahim 2017, S. 3–7). Im folgenden Abschnitt soll daher die Begründung der Sonderstellung des Menschen aus koranexegetischer Perspektive anhand des Schöpfungsmythos dargestellt werden.

2.1

Sonderstellung des Menschen im koranischen Schöpfungsmythos3

Der Mensch ist im Verständnis muslimischer Denker im Vergleich zu allen anderen Geschöpfen besonders geehrt und trägt deshalb auch eine besondere Verantwortung, weil die besonderen Fähigkeiten sowohl im Guten als auch im Schlechten eingesetzt werden können: »Der Mensch in seiner Natur unterscheidet sich von den anderen Geschöpfen im Positiven wie auch im Negativen« (Kowanda-Yasin 2011, S. 103). Im Folgenden sollen jene Aussagen aus dem Koran zitiert werden, welche in der islamischen Literatur als die wesentlichsten Belege für eine islamisch konnotierte Anthropologie gelten. Diese werden hier zitiert und kurz kommentiert, wobei besonders auf jene Elemente der koranischen Schöpfungsgeschichte eingegangen wird, welche für die Skizzierung eines islamischen Menschenbilds prägend sind und welche in der Koranexegese die Sonderstellung des Menschen begründen. In der zweiten Sure wird die Erschaffung des Menschen folgendermaßen beschrieben: »Und (damals) als dein Herr zu den Engeln sagte: ›Ich werde auf der Erde einen Nachfolger (khaliefa) einsetzen‹! Sie sagten: ›Willst du auf ihr jemand (vom Geschlecht 3 Die Verwendung des Begriffs »Mythos« entspricht hier der Definition von Chipman (2001, S. 5): »a sacred narrative which explains how the world and humanity reached their present«.

Bildbarkeit des Menschen im tafsı¯r

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der Menschen) einsetzen, der auf ihr Unheil anrichtet und Blut vergießt, wo wir (Engel) dir lobsingen und deine Heiligkeit preisen?‹ Er sagte: ›Ich weiß (vieles), was ihr nicht wißt.‹« (Koran 2:30)

Bemerkenswert an dieser Textstelle sind die Ankündigung der Erschaffung des Menschen als Statthalter, die Einwände der Engel gegen diese Rolle mit der Begründung der konflikthaften Veranlagung des Menschen und daraufhin die Andeutung einer Besonderheit, welche nur Gott bekannt ist und welche den hohen Rang des Menschen begründet. Ein wichtiger Aspekt dieser koranischen Geschichte ist das Wissen der Engel über künftiges Unheil, welches der Mensch auf der Erde anrichten wird. In der klassischen Exegese stellt sich dabei die Frage, woher die Engel dieses Wissen beziehen bzw. wie sie das durch den Menschen entstehende Unheil voraussehen können. Im 14. Jahrhundert schreibt al-Qurtubı¯,4 dass die dem Menschen zu˙ gedachte Rolle auf dessen Natur hinweist: Wenn Gott den Menschen zum halı¯fa ˘ (Statthalter, Nachfolger, Bevollmächtigten) macht, dann bedeutet die bloße Schaffung einer derartigen Führungsrolle, dass Unheil und Übel verhindert werden müssen – dem Menschen wird also die Funktion des Statthalters deshalb verliehen, weil es die Natur seiner Gattung überhaupt erst notwendig macht (vgl. Qurtubı¯ 2006, Bd. 1, S. 409). Diese Konzeption eines Stellvertreters Gottes auf ˙ Erden mit der Aufgabe, Gerechtigkeit und Ordnung zu wahren, kann natürlich weitreichende Folgen für die religiöse Begründung von politischen Ideologien haben (vgl. Adam 2001, S. 201–247). Der Wesensgehalt dieser »Statthalterschaft« (hila¯fa) wird aber in der Tafsı¯r˘ Literatur vielfältig interpretiert: Ibn ʿAsˇu¯r zufolge ist ein Kalif (halı¯fa) jemand, ˘ der für jemand anderen eine Aufgabe übernimmt bzw. jemanden in einer bestimmten Funktion nachfolgt. Dies sei im metaphorischen Sinn zu verstehen, da ein Geschöpf niemals die Handlungsmacht Gottes übernehmen kann – vielmehr sei dem Menschen diese Statthalterfunktion nur in bestimmten Aspekten überantwortet. So sei es die Aufgabe des Menschen, so weit wie möglich für Gerechtigkeit auf der Erde zu sorgen, und dies sei eine Statthalterschaft im Auftrag Gottes (Ibn ʿAsˇu¯r 1984, Bd. 1, S. 399). Al-Ra¯zı¯ legt dar, dass der Begriff darauf hindeutet, dass jemand den Platz eines anderen einnimmt bzw. jemand anderem nachfolgt; im Kontext dieses Verses bedeutet das, dass entweder Adam selbst (nicht aber seine Nachkommen) halifa Gottes ist, oder aber dass die ˘ Menschen nach Adam die Aufgabe hätten, dem ersten Propheten in seiner Rolle 4 Zur Bedeutung des Werks von al-Qurtubı¯ vgl. Arnaldez, R.: al-Kurtubı¯. In P. Bearmann, Th. ˙ ˙ Encyclopaedia of Islam ˙ & W. P. Heinrichs (Hrsg.), Bianquis, C. E. Bosworth, E. van Donzel (Second Edition). https://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/al -kurtubi-SIM_4553?s.num=0&s.f.s2_parent=s.f.book.encyclopaedia-of-islam-2&s.q=kurtubi. Zugegriffen: 20. Juni 2019.

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nachzufolgen; in diesem Sinn würde es sich also nicht um eine »Stellvertretung Gottes« handeln, die dem Menschen auferlegt wird, sondern um die Weiterführung einer prophetischen Aufgabe (Ra¯zı¯ 1981, Bd. 1, S. 180–181). Dies ist insofern relevant, als die Idee der Rolle des Menschen auf der Erde davon mitgeprägt wird, ob man ihn als Statthalter Gottes oder aber als Vertreter eines vorausgegangen Propheten ansieht – beide Ansätze finden sich in der vormodernen Tafsı¯r-Literatur. Die Ausgangsfrage jedoch war, weshalb die Engel in der koranischen Geschichte darüber verwundert waren, dass dem Menschen diese Sonderstellung gewährt werden soll: Al-Qurtubı¯ erwähnt in diesem Zusammenhang eine ˙ Überlieferung, die besagt, dass die Erde schon vor der Erschaffung des Menschen mit Geistwesen (gˇinn) bevölkert gewesen und die Prädiktion der Engel aus »Erfahrung« mit jenen Geschöpfen entstanden sei, die das Potenzial der Auflehnung gegen Gott in sich tragen würden (Qurtubı¯ 2006, Bd. 1, S. 409–410). ˙ Eine andere Erklärung, welche al-Ra¯zı¯ dem schiitischen Ima¯m Muhammad al˙ Ba¯qir (gest. 677 n. Chr.) zuschreibt, besagt, dass es vor der Erschaffung von Adam schon viele andere menschliche Wesen auf der Erde gegeben habe: »Vor Adam – welcher unser Stammvater ist – gab es bereits Millionen Adams oder mehr« (Ra¯zı¯ 1981, Bd. 19, S. 183) – diese Überlieferung wird von anderen Autoren wie alAlu¯sı¯ heftig bestritten und wird im Zusammenhang mit Glaubensinhalten wie der (Un-)Erschaffenheit der Erde und dem religiösen Konzept der Abstammung des Menschen diskutiert (Jalajel 2009, S. 162–163). Nachdem in dem besprochenen koranischen Narrativ von der Erschaffung des ersten Menschen die Rede ist, wird dieser im darauffolgenden Vers namentlich genannt: »Und er lehrte Adam alle Namen. Hierauf legte er sie den Engeln vor und sagte: ›Tut mir ihre Namen kund, wenn (anders) ihr die Wahrheit sagt!‹ Sie sagten: ›Gepriesen seist du! Wir haben kein Wissen außer dem, was du uns (vorher) vermittelt hast. Du bist der, der Bescheid weiß und Weisheit besitzt.‹ Er sagte: ›Adam! Nenne ihnen ihre Namen!‹ Als er sie ihnen kundgetan hatte, sagte Allah: ›Habe ich euch nicht gesagt, daß ich die Geheimnisse von Himmel und Erde kenne? Ich weiß (gleichermaßen), was ihr kundgebt, und was ihr (in euch) verborgen haltet.‹« (Koran 2:31–33)

Das hier beschriebene Erlernen der »Namen aller Dinge«5 zeigt nach manchen Exegeten, dass der Mensch in Hinblick auf Wissen höher stehe als die Engel (vgl. Sˇaʿra¯wı¯ 1991, Bd. 1, S. 247) – die Fähigkeit, »Dinge zu benennen«, sich also 5 Dafür, worum es sich dabei genau handle, gibt es in der exegetischen Literatur unterschiedliche Erklärungen: Die bekannteste Erklärung ist die, dass es sich um die Namen aller Dinge, also aller Geschöpfe handle; zudem wird gesagt, es gehe dabei um die »Namen Gottes«, oder aber um die Kenntnis aller benennbaren Dinge. Ein anderer Ansatz ist der, dass es sich um die Fähigkeit des sprachlichen Ausdrucks handle (vgl. Qurtubı¯ 2006, Bd. 1, S. 420–424). ˙

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sprachlich artikulieren zu können, stellt nach Meinung der vormodernen Koranexegeten das besondere Potenzial des Menschen dar, durch das sich diese Gattung von anderen unterscheidet und besonderen Respekt und Ehrerbietung verdient. Diese wird im koranischen Narrativ mit der Niederwerfung der Engel vor dem Menschen dargestellt: »Und (damals) als wir zu den Engeln sagten: ›Werft euch vor Adam nieder!‹ Da warfen sie sich (alle) nieder, außer lblies. Der weigerte sich und war hochmütig. Er gehörte nämlich zu den Ungläubigen. Und wir sagten: ›O Adam! Verweile du und deine Gattin im Paradies, und eßt uneingeschränkt von seinen Früchten, wo ihr wollt! Aber naht euch nicht diesem Baum, sonst gehört ihr zu den Frevlern!‹ Da veranlaßte sie der Satan, einen Fehltritt zu tun, wodurch sie des Paradieses verlustig gingen, und brachte sie so aus dem (paradiesischen) Zustand heraus, in dem sie sich befunden hatten. Und wir sagten: ›Geht (vom Paradies) hinunter (auf die Erde)! Ihr seid (künftig) einander feind. Und ihr sollt auf der Erde (euren) Aufenthalt haben, und Nutznießung auf eine (beschränkte) Zeit.‹« (Koran 2:34–36)

Dieser Schöpfungsmythos wurde bereits in der frühen exegetischen Literatur reich ausgestaltet (vgl. Kister 1993, S. 113–114). Viele Überlieferungen, welche im Genre der Prophetengeschichten (qisas al-anbiya¯ʾ) verwendet wurden, sind aus ˙ ˙ der jüdischen Literatur übernommen worden und darüber hinaus haben auch die Ausführungen muslimischer Autoren wieder in die rabbinischen Narrative zurückgewirkt (vgl. Schöck 1993, S. 39–55). Wesentlich im Hinblick auf den vorliegenden Artikel ist die Tatsache, dass es zwar zahlreiche Parallelen zur jüdischen und christlichen Schöpfungsgeschichte gibt (vgl. Chipman 2002, S. 429– 431), zugleich aber auch wichtige Abgrenzungen vorzunehmen sind: So wird das »Essen vom Baum« als Fehler von Adam und Eva (hawwa¯) interpretiert, dessen ˙ Wurzel in der Verführung beider durch Satan gesehen wird, nicht aber als Verführung Adams durch seine Frau (Haddad & Smith 1982, S. 136). In der Textstelle zum Schöpfungsmythos werden also einige wesentliche Punkte angesprochen, welche Grundelemente einer religiös geprägten Anthropologie in der islamischen Literatur konstituieren, nämlich die Idee vom Menschen als »Statthalter« (halı¯fa), die Erwähnung negativer Neigungen im Men˘ schen (»Unheil stiften« und »Blut vergießen«), die Begründung der Sonderstellung des Menschen und die Beziehung zwischen Gott, Mensch und Satan. 2.1.1 Der Ausdruck der Ehrung des Menschen Die Geschichte von Adam und Eva versinnbildlicht, dass der Mensch aus koranischer Perspektive eine besondere Stellung unter den Geschöpfen einnimmt – nicht umsonst nämlich, so wird in der Exegese-Literatur immer wieder betont, wurde den Engeln befohlen, sich vor dem Menschen zu verneigen.

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Eine Koranstelle, in der die besondere Ehrung des Menschen zum Ausdruck kommt, ist Vers 17:70: »Und wir waren gegen die Kinder Adams huldreich6 und haben bewirkt, daß sie auf dem Festland (von Reittieren) und auf dem Meer (von Schiffen) getragen werden, (haben) ihnen (allerlei) gute Dinge beschert und sie vor vielen von denen, die wir (sonst noch) erschaffen haben, sichtlich ausgezeichnet.«

Eine Thematik, die in der klassischen Tafsı¯r-Literatur immer wieder diskutiert wird und wichtige Rückschlüsse auf die Konzeption eines Menschenbildes erlaubt, ist die Frage, wie die Ehrung des Menschen, welche im Vers 17:70 angesprochen wird, konkret zum Ausdruck kommt bzw. wie sich diese Sonderstellung in der materiellen Welt manifestiert. Al-Qurtubı¯ nennt in diesem Zusammenhang folgende Aspekte: ˙

»Dass der Mensch den anderen Lebewesen gegenüber bevorzugt sei, sei daran zu erkennen, dass alles in der Schöpfung dem Menschen dient, und dass ihm so viele gute und angenehme Dinge zur Verfügung gestellt werden.« (Al-Qurtubı¯ 2006, Bd. 13, S. 125– ˙ 129)

Die Aussage »auf dem Festland und auf dem Meer getragen« interpretiert er so, dass dem Menschen als einzigem Lebewesen der willentliche Gebrauch von Transportmitteln ermöglicht wird – kein anderes Geschöpf nämlich könne sich von Tieren, Schiffen etc. tragen lassen und dabei die Richtung selbst bestimmen. Zudem, so al-Qurtubı¯, wurde der Mensch durch physische Eigenschaften wie ˙ körperliche Schönheit und aufrechten Gang ausgezeichnet. Des Weiteren unterscheide den Menschen die Fähigkeit, durch Hilfsmittel wie Geld wirtschaftliche Transaktionen zu tätigen. Außerdem zeige sich die Sonderstellung des Menschen durch das Tragen von Kleidung sowie die Versorgung durch Nahrung, die aus mehreren Zutaten zusammengesetzt wird. Als wichtigste Eigenschaft des Menschen bezeichnet er jedoch dessen kognitive und linguistische Fähigkeiten, wobei er sich dabei auf autoritative Aussagen vergangener Gelehrter beruft – so zum Beispiel auf eine Aussage von alDahha¯k, der im ersten Jahrhundert islamischer Zeitrechnung lebte: Der legte in ˙ ˙˙ seiner Interpretation dieses Verses dar, dass der Mensch durch Sprach- und Unterscheidungsfähigkeit (al-nutq wa-l-tamyı¯z) geehrt sei (Qurtubı¯ 2006, Bd. 13, ˙ ˙ S. 226). ¯ sˇu¯r, der Mensch würde sich deshalb geIm 20. Jahrhundert schreibt Ibn ʿA genüber anderen Lebewesen auszeichnen, weil nur er in der Lage sei, seinen eigenen Lebensstil weiterzuentwickeln (bi-tatawwur fı¯ uslu¯b haya¯tihı¯); die dem ˙ ˙ 6 In anderen Werken wird der Vers folgendermaßen übersetzt: »Wir haben die Kinder Adams geehrt.« https://koransuren.com/koran/die_nachtwanderung_17.html. Zugegriffen: 28. Juli 2019.

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Menschen eingegebene göttliche Inspiration, Transportmittel zu entwickeln, werde im Koran mit dem Tragen selbst (»und sie über Land und Meer getragen«) gleichgesetzt. Er betont außerdem den Unterschied zwischen der Ehrung des Menschen in sich selbst (takrı¯m) und der Bevorzugung gegenüber anderen Lebewesen (tafd¯ıl) ˙ ¯ sˇu¯r 1984, Bd. 15, S. 166). Ein Ausdruck dieser Bevorzugung gegenüber (Ibn ʿA anderen Lebewesen sei, dass dem Menschen die gesamte Schöpfung dienstbar gemacht wurde, entsprechend der Aussage in Sure Luqma¯n: »Habt ihr nicht gesehen, daß Allah (alles), was im Himmel, und was auf der Erde ist, in euren Dienst gestellt und euch mit seinen Gnadengaben (ni’am) – äußerlich sichtbar und im verborgenen – reichlich bedacht hat?« (Koran 31:20). Der Anthropozentrismus, der in diesen Aussagen zum Ausdruck kommt, wird in der islamischen Literatur meist durch die Unterscheidung des Menschen von anderen Lebewesen – ausgedrückt in der Rolle des halı¯fa – begründet (Kowanda˘ Yasin 2011, S. 98). In der Literatur wird zuweilen darauf hingewiesen, dass die Würde des Menschen nicht an religiöse Einstellungen bzw. an religiöse Praxis gebunden wird: »Daher sagt al-Alu¯sı¯: ›Jeder und alle Mitglieder des Menschengeschlechts, einschließlich des Frommen und Sünders, sind begabt mit Würde, Adel und Ehre, welche nicht gesondert dargelegt und bestimmt werden können.‹ Mustafa al-Siba¯ʿı¯ und Hasan al-ʿI¯lı¯ ˙ haben gleicherweise bemerkt, dass Würde ein verbrieftes Recht jedes Menschen ungeachtet der Hautfarbe, Abstammung oder Religion ist.« (Kamali & Köse 2013, S. 21–22)

2.1.2 Gottesebenbildlichkeit des Menschen? Im Zusammenhang mit der außergewöhnlichen Stellung des Menschen im Universum, welche in der Exegese-Literatur vielfach beschrieben wird, stellt sich die Frage, inwiefern sich das Konzept der Gottesebenbildlichkeit des Menschen im muslimischen Schrifttum findet. Zwei Textbelege deuten zunächst in diese Richtung: Einerseits findet sich im Koran eine Aussage, dass Gott dem Menschen nach dessen materieller Erschaffung seinen Geist eingehaucht hat: »… und ihn hierauf (zu menschlicher Gestalt) geformt und ihm Geist von sich7 eingeblasen hat, und (der) euch Gehör, Gesicht und Verstand gegeben hat. Wie wenig dankbar seid ihr!« (Koran 32:9). Dies könnte zunächst so verstanden werden, als würde der Mensch einen göttlichen »Funken«, einen Teil des »göttlichen Geistes« in sich tragen, durch welchen er zum Leben gekommen ist. In der klassischen Exegese-Literatur wird aber genau das oftmals zurückgewiesen – al-Qurtubı¯ erklärt den koranischen ˙ 7 Wörtlich: »von seinem Geist«.

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Ausdruck folgendermaßen: Es gibt eine von Gott erschaffene Seele (ru¯h), welche ˙ so außergewöhnliche Eigenschaften hat, dass Gott sich selbst diese erschaffene Entität durch eine Genitivkonstruktion (ru¯hihı¯) zuschreibt. Demzufolge han˙ delt es sich also nicht um eine Seele Gottes, sondern die von ihm erschaffene und unterschiedene Seele, welche Gott gehört.8 Von dieser erschaffenen Entität – nicht von sich selbst – haucht Gott dem Menschen also etwas ein, um ihn damit auszuzeichnen und ihn zu ehren (Qurtubı¯ 2006, Bd. 7, S. 232 und Bd. 17, S. 15). ˙ Der zweite Textbeleg aus den islamischen Primärquellen, welcher eine Art von Gottesebenbildlichkeit des Menschen suggerieren könnte, ist folgender Hadith: »Gott erschuf Adam entsprechend seiner Gestalt« (inna lla¯ha halaqa a¯damaʿala¯ ˘ su¯ratih).9 ˙ Dieser Hadith findet im wahhabitischen Schrifttum besondere Beachtung; der einflussreiche saudische Mufti Ibn Ba¯z schrieb dazu eine eigene Abhandlung mit dem Titel »Die feste Überzeugung der Leute des Glaubens über die Erschaffung Adams gemäß der Gestalt des Allerbarmers« (ʿaqı¯dah ahl al-ı¯ma¯n fı¯ halqi a¯dama ˘ ʿala¯ su¯rat al-rahma¯n). Dies kann als eines von vielen Beispielen für die Kon˙ ˙ struktion eines anthropomorphistischen Gottesbildes im wahhabitischen Schrifttum gelten (vgl. Gharaibeh 2012, S. 107–111). In der traditionellen Hadithexegese hingegen wird diese Aussage nicht dahingehend verstanden, dass der Mensch nach dem Bild Gottes erschaffen sei (was gemäß asˇʿaritischer und matu¯ridischer Theologie unmöglich ist, da Gott über Form und Begrenzung erhaben sei). Vielmehr bekommt das Bild des Menschen durch die Verbindung zu Gott eine besondere Bedeutung – es wurde also so verstanden, »als habe Gott den Menschen nach dem für ihn, den Menschen vorgesehenen Bild geschaffen« (Berger 2010, S. 181). Eine andere Erklärung ist die, dass das Possessivpronomen (»entsprechend seiner Gestalt«) nicht auf Gott, sondern auf Adam zurückgehe (vgl. Richter-Bernburg 2011, S. 69; Takim 2008, S. 47).

2.2

Psychische Entitäten im Koran

Ein wesentliches Element für die Entwicklung muslimischer Konzepte über die Natur des Menschen ist die koranische Beschreibung der psychischen Struktur von Individuen. Dabei nimmt der Begriff »Herz« (qalb) einen wesentlichen Platz ein, an mehreren Stellen ist von »Krankheit des Herzens« (Koran 2:10, 24:50, 8 Eine ähnliche Konstruktion findet sich im Ausdruck bayt Alla¯h, das »Haus Gottes«, nämlich die Kaʿba in Mekka: Auch wenn jedes Haus im absoluten Sinne Gott gehört, so wird doch diesem religiös-spirituellen Zentrum ein besonderer Rang zugeschrieben, welcher durch die besitzanzeigende Form zum Ausdruck kommt. 9 Überliefert von al-Buha¯rı¯ und Muslim. ˘

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47:20) die Rede, was Tritton (1971, S. 495) mit »unhealthy mind« wiedergibt. An anderer Stelle ist vom Zustand des »heilen Herzens« (Koran 26:89, 37:84) die Rede. Das »Herz« wird als zentrale psychospirituelle Struktur verstanden, in der das Bewusstsein angesiedelt ist. Al-G˙azza¯lı¯ beschreibt das Herz als instabiles Zentrum des Menschen, in welchem unterschiedliche, teilweise gegenläufige Impulse und Bedürfnisse miteinander konkurrieren. Psychische Gesundheit wird dementsprechend als ein positives Gleichgewicht zwischen unterschiedlichen seelischen Impulsen gesehen (Ashy 1999, S. 245). Neben dem Herzen werden aber auch andere Entitäten der menschlichen Psyche erwähnt: Der Begriff nafs – meist als »Seele« übersetzt – steht etymologisch mit den Begriffen Atmen, der Lebenskraft, aber auch mit dem Begriff »Selbst« zusammen. Nafs wird im Koran mit drei verschiedenen Attributen bzw. Eigenschaften erwähnt: a) die Seele, die zu Sünden aufruft (al-nafs al-amma¯rah bi-l-su¯ʾ): »Und ich behaupte nicht, daß ich unschuldig sei. Das (Menschen-) Wesen verlangt (nun einmal) gebieterisch nach dem Bösen,10 – davon sind jene ausgenommen, derer mein Herr sich erbarmt. Er ist barmherzig und bereit zu vergeben« (Koran 12:53); b) die sich selbst tadelnde, reumütige Seele im Sinne der Motivation zur moralischen Läuterung: »Ich schwöre bei jeder reumütigen Seele« (Koran 75:2); c) die Seele, die Ruhe und Frieden gefunden hat: »O du Seele, die du Ruhe gefunden hast, kehre zu deinem Herrn zufrieden und mit Wohlgefallen zurück« (Koran 89:53).

In der Literatur wird häufig ein spiritueller Weg des Menschen gezeichnet, der von der inneren Neigung zum »Bösen« über den »Zwischenzustand« der tadelnden Seele bis hin zur inneren Befriedung führt (vgl. Ashy 1999, S. 248–249). Diese Aufgabe der inneren Läuterung wird mit dem Vers belegt: »Wohl ergehen wird es ja jemandem, der sie (die Seele) läutert« (Koran 91:9). Eine weitere im Koran beschriebene psychische Ebene des Menschen ist jene des sogenannten ru¯h, oft als »Geist« übersetzt: »Man fragt dich nach dem Geist. ˙ Sag: Der Geist ist Logos (amr) von meinem Herrn. Aber ihr habt nur wenig Wissen erhalten« (Koran 17:85). Mit dem Begriff ru¯h bezeichnet man oft jenen ˙ Aspekt der Seele, welcher für spirituelle Erkenntnisse empfänglich ist und im ständigen Konflikt mit den »niedrigeren« Bedürfnissen des nafs steht (vgl. Skinner 2019, S. 1090). Ein weiterer zentraler Begriff in der muslimischen Konzeption der psychischen Realität des Menschen ist ʿaql, meist mit »Verstand«, »Intellekt« oder »Ratio« übersetzt – dieses Wort kommt im Koran nur in verbaler Form vor (Koran 2:171, 13:4 u. a.) und weist etymologisch auf die Bedeutungen »etwas 10 Nach Bubenheim und Elyas (2004): »Die Seele gebietet fürwahr mit Nachdruck das Böse.«

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binden« bzw. »fixieren«. ʿAql ist eine psychische Kraft, durch welche verschiedene Sachverhalte kognitiv miteinander in Verbindung gebracht werden bzw. an bestimmte Konstanten gebunden werden; gleichzeitig ist der Begriff von seiner Bedeutung her als psychisches Potenzial zu sehen, welches es dem Menschen ermöglicht, sein eigenes Verhalten zu koordinieren und sich an geistige Konzepte zu binden. Die für die religiöse Praxis zentrale Verantwortlichkeit eines Individuums (taklı¯f) ist an die beiden Bedingungen Geschlechtsreife (bulu¯g˙) und Verstand (ʿaql) gebunden (Tritton 1971, S. 494). Wesentlich an der Vielschichtigkeit der koranischen Narrative bezüglich der psychischen Natur des Menschen ist die Tatsache, dass jedes Individuum aus dem Gesagten heraus als dynamisches System aufgefasst wurde – »as a structured, self regulated and evolving phenomenon« (Briki & Amara 2017, S. 836).

3.

Religionspädagogische Einordnung

Die hier dargelegten Konzepte bilden Bausteine einer noch sehr ungenau umrissenen islamischen Anthropologie, welche für die Entwicklung einer reflektierten islamischen Religionspädagogik von Bedeutung ist, denn »Pädagogik und Religionspädagogik setzen […] bestimmte Anthropologien voraus, bestimmte Menschenbilder« (Grümme 2012, S. 15). Bezogen wurden die hier vorgestellten Narrative aus den Primärquellen Koran und Sunna und deren Auslegung. Es bleibt hier zu betonen, dass wir es nicht mit einem monolithischen Konzept zu tun haben, sondern mit unterschiedlichen Zugängen zu islamischen Quellentexten, aus welchen bestimmte Elemente eines Menschenbildes abzuleiten sind. Es kann hervorgehoben werden, dass Meinungsvielfalt und -heterogenität zu dynamischen Interpretationen führen, welche Hajatpour als »eine permanente Neuschöpfung geistiger Prozesse im Glaubensleben« beschreibt (Hajatpour 2013, S. 25). Mit diesen Bemerkungen ist ein erster Hinweis darauf gegeben, wie man religionspädagogisch mit islamischen Menschenbildern umzugehen hat: »Es sind normative, starre, unwandelbare Menschenbilder, die gerade deshalb problematisch werden, weil man von ihnen her die Lebensgeschichte einzelner verstehen will und Ziele pädagogischen Handelns anlegt. Den Menschen auf ein Bild festzulegen, wird dem Menschen nicht gerecht, weil es den Menschen in ein starres Gerüst zwängt.« (Grümme 2012, S. 106)

Vielmehr sind die exegetischen Ausführungen aus der Tafsı¯r-Literatur als Impulse zu verstehen, welche einer reflektierten Pädagogik als Grundmaterial dienen können. Hier könnten folgende Aspekte muslimischer Vorstellungen über die Natur des Menschen aus religionspädagogischer Sicht relevant sein:

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Das Konzept der Schwäche des Menschen kann einen Anknüpfungspunkt für Selbstreflexion im Rahmen des Religionsunterrichts darstellen und die eigene Erfahrung im Umgang mit sich selbst kann in einem subjektbezogenen Religionsunterricht genutzt werden. So verweist Fuchs darauf, dass theologische Anthropologie auch im Spannungsfeld von Sollen und Sein verortet ist, was im Zeitalter digitaler Inszenierung sehr spannungsreich sein kann: »Dieses sich unmittelbar anschließende Spannungsfeld betrifft nun insbesondere die jugendlichen Managementstrategien, die sich nicht selten auch als Impression Management verstehen. Dabei ist das Ausbalancieren von Authentizität und Inszenierung nur eine Facette. Die andere betrifft Erfahrungen von Schwäche, Gebrochenheit und Krankheit, die auch Jugendliche machen und die nicht Teil des schönen, attraktiven und perfekten ›Happy Life‹ zu sein vermögen.« (Fuchs 2016, S. 145)

In Hinblick auf Prozesse von Identitätsfindung ist zu überlegen, welchen Beitrag eine religiöse Reflexion über die Erfahrung von Schwäche für eine Religionspädagogik leisten kann. Die im islamischen Schrifttum thematisierte grundsätzliche Gottesbeziehung des Menschen bzw. die im Koran angesprochene Disposition zum Glauben muss in der Religionspädagogik reflektiert und anhand von empirischen Untersuchungen weiter überdacht werden (vgl. Ulfat 2018, S. 13). Das Motiv der Ehrung des Menschen aufgrund seines Menschseins könnte ein wichtiges Element einer toleranzfördernden Religionspädagogik werden, welche das Konzept einer von religiösen Überzeugungen unabhängigen Menschenwürde zum Inhalt hat. In Hinblick auf die Interpretation des Verses 17:70 vertreten die meisten zeitgenössischen Koranexegeten »die Ansicht, damit solle gesagt sein, Gott selbst habe allen Menschen mit ihrem Menschsein von vornherein eine besondere Würde eingestiftet, die entehrende Behandlung durch andere Menschen verbietet« (Wielandt 1994, S. 99). Ein wesentliches Motiv, mit dem das Konzept der Menschenwürde im klassischen islamischen Schrifttum verbunden wird, ist die große Bedeutung des menschlichen Verstands aus der Sicht muslimischer Exegeten – auch wenn es zwischen Muʿtazila und sunnitisch-orthodoxen Strömungen Unterschiede zum Verhältnis zwischen Verstand und Offenbarung gibt, ist dennoch die Rolle des Denkens und des sprachlichen Ausdrucks unbestritten wichtig und diese Gewichtung kann auch als Kritikpunkt an einer rein reproduzierenden Religionspädagogik verstanden werden. Die Diskussion über die Frage der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und das sehr umstrittene wörtliche Schriftverständnis bekannter wahhabitischer Exegeten zeigt, dass die Abgrenzung von diesem Religionsverständnis auch in tieferen systematisch-theologischen Ebenen geschehen kann. Salafismus sollte nicht an bestimmten äußeren Merkmalen festgemacht, sondern als spezifischer

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Modus des Umgangs mit islamischen Primärquellen definiert werden. Das Verständnis der theologischen Tiefenstruktur derartiger islamischer Deutungstraditionen ist für die Entwicklung einer Religionspädagogik von Bedeutung, welche unter anderem auch präventiv wirken will (vgl. Ceylan & Kiefer 2013, S. 151–159). Betrachtet man die Konzeption der psychischen Konstitution des Menschen aus islamischer Sicht, so sieht man, dass diese als sehr komplex und in gewissem Maße auch widersprüchlich gedacht wird. Dies steht einem rein formalistischen Religionsverständnis entgegen, in dem der Gläubige einfach nur bestimmten Anweisungen zu folgen hat, um damit »religiös zu funktionieren«. Verbunden mit der Würde des Menschen aus koranischer Sicht und der bedeutenden Stellung des Geistes ist auch ein hohes Ideal von Bildung, welche nicht nur auf rein religiöses Wissen beschränkt ist. Im Koran »finden sich wiederholt konkrete Aussagen sowohl zur Vermittlung bzw. Aneignung religiösen und profanen Wissens als auch zum kognitiven Verstehen sowie zur Bildung und Erziehung der Menschen als Individuen und als Gemeinschaft« (Günther 2016, S. 52).

4.

Fazit

In den islamischen Primärtexten finden sich zahlreiche Aussagen, welche Bausteine für ein islamisches Menschenbild (bzw. für islamische Menschenbilder) darstellen. Diese sind in der Exegese-Literatur weiter ausformuliert worden und aus ihnen haben sich teilweise komplexe, dynamische Vorstellungen darüber entwickelt, was den Menschen, seine Stellung unter anderen Lebewesen, seine Eigenheiten, seine Aufgaben und Verantwortungen ausmacht und welchen besonderen Herausforderungen der Mensch in seinem Leben aus religiöser Sicht gegenübersteht. Die diesbezüglichen Texte in der Tafsı¯r-Literatur können aufbereitet und selektiv im Religionsunterricht verwendet werden, wenn sie entsprechend kontextualisiert werden. Von besonderer Bedeutung sind dabei Narrative über die Erschaffung und die psychische Konstitution des Menschen. Die Aussagen über die dem Menschen inhärente Würde können eine toleranzfördernde Wertehaltung begünstigen. Koranische Konzepte zu psychischen Entitäten im Menschen könnten eine differenzierte Auseinandersetzung mit spirituellen Potenzialen erleichtern und zugleich ein rein formalistisches Religionsverständnis zugunsten subjektzentrierter Ansätze modifizieren. Zudem kommt den Narrativen über die besondere Rolle des Intellekts als Grundmerkmal menschlicher Existenz eine Rolle in der theologischen Tiefenstruktur islamischer Religionspädagogik zu.

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Eine weitere Erschließung muslimischer Vorstellungen zu religiöser Anthropologie wäre wünschenswert und wird angesichts des enormen Umfangs und der Vielfalt innerhalb der klassischen und modernen Exegese-Literatur ein komplexes Forschungsgebiet bleiben.

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Khalid El Abdaoui

Philosophie der islamischen Bildung: die drei Modelle

Zusammenfassung Mit der Offenbarung des Korans an den Propheten Muhammad endet nach ˙ islamischem Verständnis die gˇa¯hilı¯ya (Zeit der Unwissenheit) auf der Arabischen Halbinsel. Auf der Grundlage der koranischen Aufforderung zu Bildung, kritischer Reflexion und dem Streben nach Wissen und Weisheit entfaltete sich allmählich ein Prozess, der zur Blüte der Wissenschaften in der islamischen Welt und zur Entstehung eines außergewöhnlich vielschichtigen Bildungssystems führte. Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage nach der Philosophie der islamischen Bildung. Es wird davon ausgegangen, dass in diesem Bildungssystem drei unterschiedliche Konzeptionen miteinander konkurrierten: ein juristisch angelegtes, ein humanistisch-rational angelegtes und ein mystisches Modell. ˇ a¯birı¯ (gest. Mithilfe des intrakulturellen Ansatzes von Mohammed ʿAbed al-G 2010), den dieser in seiner Analyse des arabisch-islamischen Denkens anwendet, werden zunächst die erkenntnistheoretischen Grundlagen der drei Modelle sowie die zugehörigen Bildungsinstitutionen analysiert. In einem nächsten Schritt wird die dahinterstehende Philosophie freigelegt. Anschließend werden einige Gründe für den allmählichen Niedergang bis zum Scheitern dieser Bildungsmodelle in der Moderne untersucht – ein Scheitern, das die Verbreitung des europäischen Modells der Bildung in der gesamten islamischen Welt ermöglichte. So wurde ein Paradigmenwechsel eingeleitet, der bis heute nachwirkt.

1.

Einleitung

Über Jahrhunderte ist es dem islamischen Bildungssystem und seinen Institutionen gelungen, eine Basis für zivilisatorische Leistungen in unterschiedlichen Wissenschaften zu schaffen und gleichzeitig die islamischen Normen und Prinzipen zu achten. Dahinter standen eine sehr weit gefasste Definition von talabu al-ʿilm (»das Wissen suchen«) und eine Vorstellung von Wissenschaft(en), ˙

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Khalid El Abdaoui

nach der das Religiöse und das Säkulare eine Einheit bildeten. Dies führte dazu, dass sich viele herausragende muslimische Gelehrte über ihre fundierte Auseinandersetzung mit den religiösen Wissenschaften wie tafsı¯r, hadı¯t, fiqh und ˙ ¯ kala¯m hinaus auch mit Mathematik, Medizin, Astronomie usw. beschäftigten und es dabei zu beachtlichen Leistungen brachten. Zwar erlitt dieses System mit der Zerstörung Bagdads durch die Mongolen im Jahre 1258 n. Chr. und mit dem Tod vieler Gelehrter sowie der Zerstörung zahlreicher Bibliotheken, mada¯ris, Bima¯resta¯n-Einrichtungen (Krankenhäuser) und anderer Bildungseinrichtungen einen herben Rückschlag, konnte sich aber dennoch über Jahrhunderte weiter aufrechterhalten (vgl. Griffel 2000, S. 6). Erst durch den Kontakt mit der europäischen Moderne im 19. Jahrhundert wurde man sich in der muslimischen Welt des Ausmaßes der zivilisatorischen Rückständigkeit des Bildungssystems und damit der Notwendigkeit von bildungspolitischen Reformen bewusst. Die muslimischen Herrscher entsandten zunächst Studenten nach Europa, damit diese dort eine akademische Bildung erhielten – in der Hoffnung, dass die neue Elite nach ihrer Rückkehr als Träger der Modernisierung fungieren könne. Auch für muslimische Gelehrte, die mit den Errungenschaften der europäischen Moderne Bekanntschaft gemacht hatten, wurden die Unzulänglichkeiten des islamischen Bildungssystems, seiner Philosophie und seiner Institutionen im Vergleich zu jenen des modernen und fortschrittlichen Europas immer deutlicher. Insbesondere das Modell der madrasa, das seit dem zehnten Jahrhundert die tragende Institution des islamischen Bildungssystems war, geriet in die Kritik (vgl. Makdisi 1981, S. 9). Das »juristische« Modell der mada¯ris, in dem in erster Linie fiqh als Leitdisziplin der religiösen Wissenschaften gelehrt wurde, war jedoch nicht das einzige Bildungsmodell, das in der muslimischen Welt verbreitet war. Es gab auch andere Modelle, die ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen vornehmlich aus den rationalen und mystischen Strömungen des Islams schöpften: – das »rational-humanistische« Modell, als dessen wichtigste erkenntnistheoretische Quelle die Vernunft galt und das sich durch seine Offenheit gegenüber unbekannten und antiken Wissenschaften auszeichnete; – das »mystische« Modell, das den murı¯dı¯n (in Ausbildung befindlichen angehenden Sufis) versprach, durch die enge Begleitung eines ˇsaih oder mursˇid ˘ als spiritueller Führer eines bestimmten Sufi-Ordens zur marʿifa (Erkenntnis) und haqı¯qa (Wahrheit) zu gelangen. ˙ In den folgenden Ausführungen werde ich zunächst die erkenntnistheoretischen Grundlagen der drei Modelle sowie die zugehörigen Bildungsinstitutionen analysieren und versuchen, die dahinterstehende Philosophie freizulegen. Dabei orientiere ich mich am intrakulturellen Ansatz und an der Analyse arabischˇ a¯birı¯ (gest. 2010) in seinem islamischen Denkens, die Mohammed ʿAbed al-G

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vierbändigen Werk Kritik der arabischen Vernunft1 vorgelegt hat. Von Interesse ˇ a¯birı¯ erforschten drei Erkenntnissysteme baya¯n, ʿirfa¯n sind hierbei die von al-G 2 und burha¯n, welche ihm zufolge dem arabisch-islamischen Denken insgesamt zugrunde liegen und die den drei zuvor erwähnten Bildungsmodellen gegenˇ a¯birı¯ 2009b, S. 37f.). Anschließend werde übergestellt werden könnten (vgl. al-G ich auf einige Gründe für das Scheitern dieser Bildungsmodelle in der Moderne eingehen. Es war dies ein Prozess des Niedergangs, der aufgrund der vielschichtigen und höchst unterschiedlichen politischen und sozialen Bedingungen in den damaligen Zentren der islamischen Bildung wie Bagdad, Kairo, Fes, Cordoba oder Istanbul entsprechend unterschiedlich verlaufen ist. Letztendlich bildete er jedoch die Voraussetzung dafür, dass sich ab Beginn des 20. Jahrhunderts das europäische Modell der Universitäten in der gesamten islamischen Welt verbreiten konnte.

2.

Das juristische Modell: fiqh als Leitdisziplin in der madrasa

Mit dem Auftreten des Islams auf der Arabischen Halbinsel im siebenten Jahrhundert endet für die dort ansässigen Stämme – als die Ersten, die der göttlichen Offenbarung teilhaftig wurden – die Zeit der Unwissenheit (al-gˇa¯hilı¯ya). Durch die prophetische Offenbarung empfingen jene, die sich der neuen Glaubenslehre angeschlossen hatten, das Wissen direkt von Gott, über das hinaus es nichts zu ergründen gab, da im Koran die Erklärung für alles vorlag: »Und Wir haben dir das Buch offenbart als klare Darlegung von allem und als Rechtleitung, Barmherzigkeit und frohe Botschaft für die (Allah) Ergebenen« (Koran 16:89). Dieses Wissen beinhaltete Glaubensgrundlagen, Gebote und Verbote, die Geschichte der Propheten und früherer Völker sowie die Regeln ethischen Verhaltens. Zwar ruft der Koran auch dazu auf, über die Wunder der Schöpfung Gottes nachzudenken, dies ist jedoch nicht in erster Linie als Aufforderung zu verstehen, sich mit rationalen Wissenschaften zu beschäftigen und autonom die Offenbarung zu 1 Dessen erster Band erschien 1984 unter dem Titel Takwı¯n al-‘aql al-‘arabı¯ (»Die Genese der arabischen Vernunft«). 1986 folgte Binyat al-‘aql al-‘arabı¯ (»Die Struktur der arabischen Vernunft«), 1990 der dritte Band Al-ʿAql al-siya¯sı¯ al-ʿarabı¯ (»Die politisch-arabische Vernunft«) und 2001 schließlich AlʿAql al-ahla¯qı¯ al-ʿarabı¯ (»Die ethisch-arabische Vernunft«). ˘ 2 Baya¯n (Indikation) bezeichnet die Wissenschaften der Exegese und der Auseinandersetzung mit den offenbarten und tradierten Texten (Koran und hadı¯t); in diesen nehmen fiqh und usu¯l ¯ ˙ al-fiqh eine zentrale Rolle ein. Das Epistem des ʿirfa¯n˙ (Illumination) umfasst dagegen alle intellektuellen Leistungen der sufistischen, gnostischen und batinistischen Richtungen in der islamischen Geschichte. Burha¯n umfasst alle Erkenntnisse, die aus der Rezeption und Weiterentwicklung der griechischen Philosophie und von griechischem Gedankengut durch muslimische Gelehrte hervorgingen. Es handelt sich dabei um ein Wissenssystem, welches vor allem auf demonstrativer Beweisführung und Begründung beruht.

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erlangen, denn diese Zeichen sind bereits Teil der göttlichen Offenbarung und der prophetischen Überlieferung. Wissen heißt zuerst glauben, sich mit Koran und Sunna zu beschäftigen und ein Leben nach deren ethischen Geboten zu führen (vgl. van Ess 1966, S. 13f.). Nach dem Tod des Propheten merkten die Gläubigen jedoch schnell, dass die Antworten auf aktuelle Fragen nicht alle direkt im Koran zu finden sind. Es bedurfte also einer tieferen und gründlicheren Auseinandersetzung mit der Offenbarung, den prophetischen Überlieferungen und den Aussagen der saha¯ba (Prophetengefährten), um unter Verwendung der ˙ ˙ raʾy (freien Rechtsfindung) und des qiya¯s (Analogieschluss) aus ihnen Antworten abzuleiten. Dieser Impuls kann als die Geburt des fiqh als einer der ersten islamischen Wissenschaften betrachtet werden. Der systematisch-theoretischen Ausgestaltung dieser neuen Disziplin nahmen sich die Arbeiten von großen Imamen wie Abu¯ Hanı¯fa (gest. 767), Ma¯lik ibn Anas (gest. 795) und besonders asˇ˙ Sˇa¯fiʿı¯ (gest. 820) an, auf die jeweils eine madhab (Rechtsschule) des sunnitischen ¯ Islams zurückzuführen ist. So entstand neben dem Wissen, das zunächst ausschließlich im Koran und in der Sunna vorlag, ein neues Wissen. Gläubige, die ihr Leben nach den Vorstellungen und Vorschriften des Islams ausrichten wollten, mussten sich mit fiqh als der Wissenschaft von ʿiba¯da¯t (gottesdienstliche Verrichtungen und Handlungen), muʿa¯mala¯t (zwischenmenschliche Beziehungen im sozialen Zusammenleben), ahla¯q (moralische Handlungen) und iʿtiqa¯da¯t ˘ (Glaubensgrundlagen) beschäftigen. Diese Art von Wissen konnte man zuerst in Moscheen erwerben, da an jedem Ort, der im Namen der Verbreitung der Lehre des Islams erobert oder gegründet worden war, zuerst eine große Moschee gebaut wurde. Moscheen waren von Anfang an nicht nur Kultstätten, sondern gleichzeitig Gerichte, Zentren des politischen Diskurses und nicht zuletzt auch Bildungseinrichtungen. Somit wurden die Moscheen die ersten Institutionen des Lernens im Islam (vgl. Shalaby 1954, S. 48). Mit der Zeit nahm die Anzahl der Studenten in den Moscheen zu und damit auch die Größe der halaqa¯t (Studi˙ enkreise), die von anerkannten Gelehrten geleitet wurden (vgl. Makdisi 1981, S. 18). Innerhalb dieser wurden oftmals neue Problematiken und Themen erarbeitet, welche heftige Diskussionen und Debatten nach sich zogen und die in der Moschee, wo die Menschen andächtig in Ruhe ihre Gebete verrichten wollten, nicht adäquat zu behandeln waren. Parallel zum Fortschritt und zur Verbreitung des Wissens entstand ein Lehrkörper aus Gelehrten, die ihren Lebensunterhalt jedoch nicht ohne regelmäßige Förderung bestreiten konnten. Gleichzeitig galt es, den Unterhalt, die Verpflegung und Unterbringung einer wachsenden Anzahl von Studierenden zu sichern. Diese Herausforderung machte die Einrichtung von neuen Bildungsinstitutionen unumgänglich. Als solche war die madrasa eine natürliche Entwicklung, welche sich im Grunde aus zwei Institutionen speiste: der Moschee als Ort des Lernens und der sogenannten ha¯ne als Residenz für die ˘ Studierenden (ebd., S. 27). In diesem Kontext markierte die Eroberung von

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Bagdad durch die Seldschuken im Jahre 1055 eine tiefgreifende Veränderung in der Geschichte der islamischen mada¯ris. Gefördert durch Niza¯m al-Mulk (gest. ˙ 1092), den Wesir des Sultans Alp Arslan (gest. 1092), entstand ein Netz von Bildungsinstitutionen, die als Madrasa Niza¯miyya bekannt wurden (vgl. lbn ˙ Halika¯n 1978, S. 129). Studienabgänger, die ihre Ausbildung in mada¯ris erhalten ˘ hatten, waren qualifiziert, administrative, religiöse und juristische Funktionen im Dienst der sunnitischen Politik der Seldschuken zu übernehmen und bekleideten in der Folge oft wichtige religiöse Ämter (vgl. ad-Dahabı¯ 1996, S. 463). ¯ ¯ Die Madrasa Niza¯miyya wurde zu einem Erfolgsmodell, das auch andernorts ˙ Nachahmung fand. Es verbreitete sich in der ganzen islamischen Welt und avancierte bis zur Gründung der Universitäten nach europäischem Vorbild Anfang des 20. Jahrhunderts zur islamischen Bildungsinstitution par excellence. Der Schwerpunkt der Ausbildung in den mada¯ris lag zunächst auf dem fiqh einer bestimmten madhab. Im zwölften Jahrhundert wurde das Curriculum der ma¯ da¯ris erweitert, sodass von da an verschiedene mada¯hib innerhalb einer madrasa ¯ studiert werden konnten (vgl. Makdisi 1961, S. 55). Die Grenzen dieses Modells waren bereits von Anfang an erkennbar. Al˙Gazza¯lı¯ (gest. 1111) – selbst Gelehrter und Inhaber eines Lehrstuhls für fiqh und usu¯l al-fiqh an der Madrasa Niza¯miyya in Bagdad und Nischapur (al-G˙azza¯lı¯ ˙ ˙ 1992, S. 29) – kritisiert in seinem Hauptwerk Ihya¯ʾ ʿulu¯m ad-dı¯n (»Die Wieder˙ belebung der Wissenschaften der [islamischen] Religion«) die Überbetonung der äußerlichen Form der Religionsausübung gegenüber der innerlichen Frömmigkeit (al-G˙azza¯lı¯ 2011, S. 8f.). Auch bei seinen Kollegen beobachtet er einen Hang zu taqlı¯d und einen »Rechtsschulen-Fanatismus«. Denen, so G˙azza¯lı¯, gehe es meist nicht darum, ihre Ansichten mit demonstrativen Methoden zu überprüfen, sondern vielmehr darum, die Meinungen ihrer jeweiligen Rechtsschulen abzusichern. Er kritisierte außerdem die Argumentationspraxis der muslimischen fuqaha¯ʾ bei der Anwendung des qiya¯s: Einige Gelehrte würden zum Beispiel dazu neigen, ihre Prämissen für selbsterklärend zu halten und sie deswegen nicht mehr zu erwähnen. Andere wiederum akzeptierten ohne Überprüfung weitverbreitete Meinungen als sichere Grundlagen (vgl. Rudolph 2005, S. 79ff.). ˇ a¯birı¯ kommt zum Schluss, dass durch diese Art Auch der Gegenwartsdenker al-G der Anwendung des qiya¯s im Bereich des fiqh besonders seit dem elften Jahrhundert nur noch scheinwissenschaftliche Erkenntnisse produziert worden seien, was bei den Gelehrten zu einem Realitätsverlust geführt habe. Denn durch den Verzicht auf die detaillierte Untersuchung und Analyse der wesentlichen Gültigkeitsbedingungen eines neuen Normenfindungsfalls, d. h. die genaue Analyse von ʾasl oder maqı¯s ʿalayeh (Ausgangsfall) und farʿ oder maqı¯s (Ab˙ leitung) sowie die Bestimmung des beiden gemeinsamen Wesenszuges ʿilla (Grund), sei das Analogieverfahren zu einem rein geistigen Mechanismus geˇ a¯birı¯ 2009, S. 76f.). Diese Entkoppelung der theoretischen worden (vgl. al-G

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Überlegungen und praktischen Anwendungen vom fiqh der Realität sowie der Hang zum taqlı¯d im Lehrprogramm der mada¯ris sollten dieses Bildungsmodell letztendlich in eine Krise stürzen.

3.

Das rational-humanistische Modell: Bait al-hikma und ˙ die Aneignung der antiken Wissenschaften

Parallel zur Entstehung des auf fiqh als Leitdisziplin basierenden juristischen Bildungsmodells entwickelte sich ein rational-humanistisches Modell, dessen Wurzeln im kala¯m, in Übersetzungen von Werken aus der Antike und in der daraus entstandenen islamischen Philosophie zu finden sind. Anstatt von der Gegebenheit des Wissens durch die Gnade Gottes oder durch den Analogieschluss – wie im fiqh praktiziert – auszugehen, stellt dieses Modell al-ʿaql (die Vernunft) und an-nazar (die Spekulation) in den Mittelpunkt. Die rationale ˙ Spekulation, so die Hoffnung der muslimischen mutakallimu¯n und Philosophen, sollte es ermöglichen, die grundlegenden Glaubensvorstellungen des Islams – wie den Gottesglauben, den (strengen) Monotheismus oder die Prophetie – zu erschließen. Neben dieser nach innen gewandten Leistung versprach man sich von diesem neuen rationalen Zugang zur Offenbarung auch Nutzen in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Andersgläubigen. Denn die Anwendung des fiqh war nur für Belange oder in der Bildung von Menschen muslimischen Glaubens geeignet. Wer jedoch Andersgläubige an den Islam heranführen wollte oder den Disput mit ihnen suchte, musste sie zuerst durch rationale Spekulation, und nicht von der Offenbarung her, von der Richtigkeit oder zumindest dem Standpunkt des islamischen Denkens überzeugen können (vgl. van Ess 1966, S. 15). Mit der Zeit vermischte sich kala¯m mit einer zunächst »fremden« Disziplin: al-falsafa, der Philosophie, die Mitte des zweiten Jahrhunderts der higˇra, d. h. während des abbasidischen Kalifats, Einzug in die islamischen Wissenschaften hielt. Unter dem Begriff falsafa fassten muslimische Gelehrte allgemein das Wissen und die Wissenschaft zusammen, besonders all das, was als Übersetzung von griechischen Werken vorlag. Die Summe dessen wurde in der arabischen Literatur des Mittelalters als ʿulu¯m al-ʾawa¯ʾil (»Die Wissenschaften der Früheren«) bezeichnet, an denen die Naturwissenschaften einen wesentlichen Anteil hatten (vgl. Rosenthal 1965, S. 106f.). Der dem Begriff falsafa am nächsten kommende arabische Begriff ist hikma (Weisheit) – ein Wort, das sowohl im ˙ Koran als auch in der Sunna häufig zu finden ist, weswegen es viele muslimische Philosophen als Synonym für den aus dem Griechischen entlehnten Begriff »Philosophie« benutzten. Dabei bezog sich hikma nicht nur auf die Weisheit als ˙ Produkt spekulativen und philosophischen Denkens im engeren Sinn, sondern

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wurde für alle Formen des Wissens aus der Antike verwendet, welche als rationale Wissenschaften oder antike Wissenschaften beschrieben wurden. Al-Kindı¯, der als erster muslimischer Philosoph gilt, sah die Hauptaufgabe der Philosophie in der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis der ersten Ursache (Gott). Das war es, was die Beschäftigung mit der Philosophie für die muslimischen »Humanisten«, zu denen auch er zählte, erstrebenswert machte. Dazu formulierte al-Kindı¯ in seinem Hauptwerk Fi al-falsafa al-ʾula¯ (»Über die erste Philosophie«): »In der Tat, die angesehenste in Grad und würdigste in Rang unter den menschlichen Künsten ist die Philosophie, deren Definition die Kenntnis der wahren Wesen der Dinge ist, soweit das für die Menschen möglich ist. Denn das Ziel des Philosophen ist, in Bezug auf seine wissenschaftliche Tätigkeit, die Wahrheit zu erreichen, und im Hinblick auf seine Aktionen, wahrheitsgemäß zu handeln; nicht dass diese Aktivität endlos ist, denn wir unterlassen dies und die Aktivität hört dann auf, sobald wir die Wahrheit erreicht haben. Wir finden nicht die Wahrheit, die wir suchen, ohne eine Ursache zu finden. Die Ursache für die Existenz und Fortdauer aller Dinge ist der wahre Eine. Denn jedes Ding, das ein Wesen besitzt, besitzt auch Wahrheit. Der wahre Eine existiert zwangsläufig, also existieren die Wesen auch.« (Al-Kindı¯ 1978, S. 25f.)

Die Beschäftigung mit der Philosophie war unter muslimischen Gelehrten durchaus umstritten.3 Daher waren es nicht die Moscheen, sondern private Häuser, Bibliotheken oder die sogenannten »Häuser der Weisheit«, wo sich die Gelehrten neben dem Religiösen auch den Naturwissenschaften und Philosophien ungehindert widmen konnten (vgl. Beinhauer-Köhler 1994, S. 76). In der Tat dienten in der islamischen Geschichte die meisten Bibliotheken neben ihrer klassischen Funktion auch als Bildungseinrichtungen. Die erste islamische »Akademie« Bait al-Hikma in Bagdad z. B. verdankt ihre Gründung einer Sammlung ˙ von Büchern. In ihr waren wertvolle Bücher in verschiedenen Sprachen zu beinahe sämtlichen bekannten Wissenschaften aufbewahrt und sie war im dritten Jahrhundert der higˇra das wichtigste Zentrum für die Übersetzung und Rezeption der antiken Wissenschaften. Die übersetzten Bücher wurden kopiert und interessierten Gelehrten zur Verfügung gestellt (vgl. Micheau 1996, S. 987). Wie allen Quellen zu entnehmen ist, beherbergte das Bait al-hikma sowohl religiöse ˙ 3 In einem Artikel über »die Stellung der alten islamischen Orthodoxie zu den antiken Wissenschaften« aus dem Jahre 1916, der große Wirkung entfaltete, wies Goldziher auf eine grundlegende Opposition der sunnitischen Gelehrten gegenüber der Beschäftigung mit Philosophie hin, die sich wie ein roter Faden durch die islamische Geschichte zieht. Obwohl der Artikel bereits ca. hundert Jahre alt ist, sind die Beobachtungen, die Goldziher darin formuliert, weiterhin aktuell: Seine Sichtweise wurde u. a. von Georg Makdisi, Majid Fakhri und Jonathan Berkey wiederholt und rezipiert. Neue Forschungen und die Erschließung alter Werke nach Goldziher ergaben jedoch ein differenzierteres Bild von der Zeit nach dem zwölften Jahrhundert, einer Zeit, in der ihm zufolge die »anti-philosophische« Position der Orthodoxie geherrscht hatte.

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als auch philosophische und (natur-)wissenschaftliche Werke. Diese Bibliotheksakademie wurde ein Modell für andere Herrscher, Prinzen und Mäzene in der ganzen islamischen Welt, die in weiterer Folge ähnliche Institutionen ins Leben riefen (vgl. Shalaby 1954, S. 73). Die meisten dieser Bibliotheken wurden an die Paläste der Kalifen angegliedert. Zunächst nicht öffentlich und der Nutzung durch Kalifen und Prinzen vorbehalten, wurden sie später auch für Gelehrte, Forscher und Personen von hohem Rang zugänglich (ebd., S. 73). Solche Akademien waren weniger Orte eines konventionellen Unterrichtsbetriebs als vielmehr eine Art Forschungsinstitutionen, in welchen sich Mediziner, Astronomen, Philosophen, Mathematiker, Wissenschaftler und Übersetzer unterschiedlicher Konfessionen trafen, miteinander diskutieren, sich austauschten und gemeinsam arbeiteten (vgl. Micheau 1996, S. 988f.). Außer solchen Akademien dienten zudem die Privathäuser von Gelehrten von Anfang der islamischen Geschichte an als wichtige Stätten der Weiterbildung und Vermittlung der religiösen und später auch der antiken Wissenschaften. Besonders für Gelehrte, die bei Machthabern in Ungnade gefallen waren oder denen gegenüber das soziale Umfeld feindlich eingestellt war, wurden die privaten Häuser zu einem Zufluchtsort, an dem sie ihrer Lehrtätigkeit ungestört nachgehen konnten. Dies galt vor allem für die Beschäftigung mit und die Lehre der Philosophie. In den Privathäusern versammelten sich die Studenten, um unter der Leitung eines Meisters eine Abhandlung zu studieren, den Sinn eines Textes zu ergründen und Unklarheiten zu beseitigen (ebd., S. 994f.). Doch genau so plötzlich wie sie nach den ersten Übersetzungen im achten Jahrhundert begonnen hatte, endete die Beschäftigung mit der griechischen Philosophie kurz nach dem Tod von Ibn Rusˇd (gest. 1198). Über die Ursachen des Untergangs dieser vielfältigen Tradition in den verschiedenen Teilen der islamischen Welt besteht in der Forschung kein Konsens (vgl. Griffel 2000, S. 6), fest steht aber, dass die Philosophie im Islam damit nicht ausgestorben war. Vielmehr erlebte sie danach einen grundsätzlichen Wandel. Sie wurde entweder als wissenschaftliche Methode in den kala¯m integriert oder als Erleuchtungstheologie und Philosophie hikmat al-isˇra¯q im Schiitentum und vereinzelt im Sufismus ˙ ˇ a¯birı¯ zufolge burha¯n (oder »das rational weiter betrieben. Dadurch geriet al-G Denkbare«) zunehmend unter den Einfluss sowohl des hermeneutischen Epistems des baya¯n als auch des hermetischen Epistems des ʿirfa¯n. Aus der Verschmelzung dieser drei Ordnungen in der islamischen Wissenschaftsgeschichte ˇ a¯birı¯ 2009c, ging das Epistem des burha¯n als der große Verlierer hervor (vgl. al-G S. 485ff.).

Philosophie der islamischen Bildung: die drei Modelle

4.

137

¯ wiya als Bildungsinstitution Das mystische Modell: za

Einen anderen Weg zur Erkenntnis des göttlichen Wissens und seiner Weitergabe schlug der tasawwuf (arabische Bezeichnung für Sufismus) ein. Bis um das ˙ zwölfte Jahrhundert beruhte die Idee und Praxis des tasawwuf auf individueller ˙ Frömmigkeit und Spiritualität. Demnach gestaltet sich die Beziehung eines gläubigen Menschen zu Gott als ein ständiger Prozess der spirituellen Läuterung, der sich äußerlich durch Praktiken wie Meditation und – einzeln oder in Gruppen rezitierten – dikrullah (Gedenken Gottes) manifestiert (vgl. Hussain ¯ 2011, S. 155). Auch angesehene Theologen waren zuvor einflussreiche Sufis gewesen, so z. B. al-Hasan al-Basrı¯ (gest. 728), der besonders eine asketische Le˙ ˙ bensführung predigte, oder al-Ha¯rit al-Muha¯sibı¯ (gest. 857), der im neunten ˙ ¯ ˙ Jahrhundert in einer der zahlreichen Moscheen von Bagdad lehrte; eine weitere bedeutende Vertreterin des Sufismus war Ra¯biʿa al-ʿAdawiyya (713/714–801), die besonders die mystische Liebe und Freundschaft zu Gott betonte. Im späten neunten Jahrhundert spaltete sich die Wissenschaft des tasawwuf dann in zwei ˙ Stile auf, die von Historiker*innen des Sufismus als einerseits »nüchtern« und andererseits »berauscht/betrunken« bezeichnet wird. Einer der wichtigen Vertreter der berauschten Form des Sufismus war Abu¯ Yazı¯d al-Basta¯mı¯ (gest. 874), ˙ der in Bagdad lebte und lehrte. Er war für seine ekstatischen Auftritte bekannt, mit denen – also mit seiner »betrunkenen« Art des Sufismus – er bei den zeitgenössischen fuqaha¯ʾ für ständige Meinungsverschiedenheiten sorgte. Als Vertreter eines »nüchternen« sunnitischen Sufismus gilt der Mehrheit der Gelehrten ˇ unaid von Bagdad (gest. 910), weil dieser überzeugt hingegen Abu¯ l-Qa¯sim al-G war, dass jedes Streben nach Spiritualität den Regeln und Verhaltensvorschriften der Scharia gehorchen müsse. Während des elften Jahrhunderts empfing dann die Idee, dass die innere Dimension des Islams klar im Koran und in der Sunna festgelegt und mit der Scharia zu vereinbaren sei, in den Schriften von al-G˙azza¯lı¯ ihre Krönung, sodass diese Art des tasawwuf nunmehr sogar als Teil des Ma˙ instream-Islams angesehen wurde (ebd., S. 157). Die Institutionalisierung des Sufismus in Form von Orden, den sogenannten turuq (Sg. tarı¯qa), lässt sich jedoch erst Ende des zwölften Jahrhunderts nach˙ ˙ weisen. Diese Sufi-Orden, die ihre geistige Abstammung – über ʿAlı¯ b. Abı¯ Ta¯lib ˙ oder Abu¯ Bakr – auf den Propheten Muhammad zurückführen, sollten zu einigen ˙ der wichtigsten sozialen Organisationen in der gesamten islamischen Welt werden. An der Spitze der hierarchisch (oft gar militärisch) organisierten, auf einer Meister-Schüler-Beziehung basierenden Sufi-Orden stand ein ˇsaih, pı¯r oder ˘ mursˇid (spiritueller Meister), um den sich die Schüler scharten, um von ihm unterwiesen zu werden. In vielen Dörfern und Städten war ein solcher ˇsaih oder ˘ mursˇid die einzige Quelle religiösen Wissens und religiöser Erziehung. Er leitete

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die Gebete, hielt die Predigten und begleitete den dikr und die Meditation (vgl. ¯ Schimmel 2014, S. 68f.). Eine bedeutende Rolle in der Erziehung und Unterweisung eines großen Teils der muslimischen Gemeinden nach dem Sufi-Modell spielte eine Institution namens za¯wiya. Za¯wiya bezeichnete ursprünglich einen Teil oder eine Ecke eines religiösen Gebäudes, etwa einer Moschee. Diese zawa¯ya¯ waren nicht nur der Wissenschaft des tasawwuf gewidmet, sondern auch allen anderen Wissen˙ schaften, die in der Moschee gelehrt wurden. Die Zulassungsbestimmungen für eine za¯wiya waren alles andere als streng, in den meisten Fällen reichte die individuelle spirituelle Anziehung, um sich anschließen zu können, auch durfte man jederzeit wieder gehen. Die zawa¯ya¯ wurden nicht nur von den Massen, sondern auch von der Elite unterstützt, zum Teil sogar vom Sultan. Eine bedeutende Anzahl von Sultanen, Prinzen und anderen Aristokraten unterstützte offiziell eine bestimmte tarı¯qa und/oder einen bestimmten ˇsaih. Mit dem Prozess ˙ ˘ der Ausdifferenzierung von sufischen Gemeinschaften entwickelte sich der Begriff za¯wiya in Richtung der Bezeichnung für eine Sufi-Institution, die mit einem bestimmten Sufi-Orden verbunden war oder im Namen eines bestimmten ˇsaih ˘ erbaut wurde. Oftmals wurde der ˇsaih nach seinem Tod in der za¯wiya begraben ˘ und sein Grab zum Schrein für die tarı¯qa umfunktioniert (vgl. Hussain 2011, ˙ S. 166f.). Zwar wurden viele sufische Praktiken ebenso wie die zur Ehrung des verstorbenen ˇsaih an diesen Schreinen jährlich organisierten Feste von Gelehrten ˘ und Juristen als häretisch kritisiert, dennoch konnte sich der Sufismus in vielen Teilen der islamischen Welt auf lange Sicht als Teil des Mainstreams etablieren. In vielen Orten verschmolzen die mada¯ris und die zawa¯ya¯ langsam zu einer Institution.

5.

Die Krise der islamischen Bildungsmodelle

Mit dem Aufkommen der madrasa begann der Niedergang jener Institutionen, die sich auch mit den antiken Wissenschaften beschäftigten und das rationalhumanistische Modell der islamischen Bildung verkörperten. Dieser Prozess lässt sich besonders ab dem zwölften Jahrhundert, als die Bezeichnung Da¯r alʿilm oder Bait al-hikma aus den historischen Quellen verschwand, beobachten, ˙ was auf das Aussterben dieser Institutionen hindeutet (vgl. Makdisi 1981, S. 10). Dafür waren viele Faktoren maßgebend: – Die meisten wissenschaftlichen Einrichtungen, die das rational-humanistische Modell vertraten, standen unter der Schirmherrschaft eines Kalifen, eines Wesirs oder eines wichtigen Staatsdieners, der sie gegründet hatte oder förderte (vgl. Micheau 1996, S. 985). Im Verlauf der islamischen Geschichte war

Philosophie der islamischen Bildung: die drei Modelle

139

diese Art der Wissenschaftsförderung jedoch weder kontinuierlich noch gleichmäßig geografisch verteilt (vgl. Shalaby 1954, S. 205). – Die durch die madrasa verbreitete »orthodox-juristische« Religionspolitik war zunächst das Ergebnis eines vorangegangenen Spezialisierungs- und Differenzierungsprozesses der islamischen Wissenschaft. Im Zuge dieses Prozesses kam es einerseits zur Herausbildung der vier sunnitischen Rechtsschulen und andererseits zum Abklingen der Auseinandersetzung zwischen den traditionalistischen und rationalistischen Zugängen in der islamischen Theologie. In den mada¯ris wurde dann bewusst die Förderung der Rechtsschule des Herrscherhauses betrieben. Dahinter stand die Erkenntnis, dass es politisch lohnend war, das Studium der eigenen Rechtsschule zu fördern, um die eigene religiös-politische Richtung gegenüber Andersgläubigen zu stärken. – Die »Umwandlung« der Bibliotheken von Kalifenpalästen in Madrasa-Bibliotheken hatte unweigerlich Einfluss auf die Auswahl der dort aufbewahrten Werke und Bücher. Die Sammlungen reflektierten vor allem die Interessen der Gründer und Betreiber der mada¯ris an Werken, welche die »orthodoxe« sunnitische Lehre repräsentierten. »Kontroverse« Bücher verschwanden allmählich aus den Sammlungen: Werke muʿtazilitischer Autoren oder muslimischer Philosophen waren dort nur noch selten zu finden – es sei denn, es handelte sich um naturwissenschaftliche oder medizinische Werke (vgl. Micheau 1996, S. 998). Der Niedergang der Institutionen des rational-humanistischen Modells war das bildungsinstitutionelle Vorzeichen eines paradigmatischen Wandels hin zum Triumph des Traditionalismus über die rationalen Ansätze im Islam. Diese negative Tendenz verstärkte sich in einigen Fällen, nämlich dann, wenn eine Verschmelzung zwischen madrasa und za¯wiya stattfand. Einige mada¯ris wurden zu Einrichtungen, in denen es kaum oder gar keinen Unterricht gab, zu Orten, an denen Sufis den Koran rezitierten, meditierten und den dikr ausübten und an ¯ denen selbst fiqh nur am Rande unterrichtet wurde (vgl. Hussain 2011, S. 169f.). Diese Situation spiegelt am anschaulichsten die Antwort von al-G˙azza¯lı¯ wider, die er einem seiner Schüler auf die Frage gab, »welche Wissenschaft am nützlichsten sei, damit er sich danach richten und die andern, unnützen Wissenschaften lassen könne«. Ihm entgegnete al-G˙azza¯lı¯: »Kala¯m [dogmatische Theologie], madhab [die verschiedenen Lehren der Rechts¯ schulen], Medizin, Sternkunde, Poesie, Prosodie, die dawa¯wı¯ des Buhturi und des ˙ Mutanabbi, die hama¯sa (des Abu¯ Tamma¯m) solle er auf keinen Fall studieren; das sei ˙ Zeitverschwendung. Von der Wissenschaft der sˇariʿa solle er nur so viel lernen, um Gottes Befehle richtig ausführen zu können.« (Al-G˙azza¯lı¯ 1933, S. 12)

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Das Studienprogramm, das al-G˙azza¯lı¯ empfiehlt, impliziert die totale Hinwendung zum Jenseits. Denn besonders in seiner letzten Lebensphase war er davon überzeugt, dass die Wissenschaften nicht um der Erkenntnis willen studiert werden sollten. Ein Studierender solle sich nur auf das Erlernen jener Teile der religiösen Wissenschaften konzentrieren, die für ein frommes Leben notwendig sind (vgl. Ritter 1960, S. 121). All diese ab dem zwölften Jahrhundert einsetzenden Prozesse führten zu einer immer komplizierteren Abstraktion und zur Entfernung des islamischen Bildungssystems der madrasa und za¯wiya bzw. der dort gelehrten Fächer von der Realität und mündeten schließlich in der Entkoppelung theoretischer Überlegungen von praktischen Anwendungen sowie der Vernachlässigung der humanistischen und sozialen Komponente der islamischen Botschaft.

6.

Fazit

Die göttliche Offenbarung an den Propheten Muhammad erweckte den Drang ˙ nach ʿilm (Wissen) und taʿlı¯m (Bildung) und ließ die muslimische Gemeinde in diesem Sinne tätig werden. Dies war der Ausgangpunkt für die Entstehung, Entwicklung und Entfaltung von drei unterschiedlichen Bildungsmodellen in der islamischen Geschichte: dem juristischen, dem humanistisch-rationalen und dem mystischen Modell. Die Analyse deren erkenntnistheoretischer Grundlagen zeigt, dass sich hinter diesen Modellen unterschiedliche philosophische Sichtweisen und Wertvorstellungen verbargen, die in ihren Prämissen wie auch historisch betrachtet miteinander konkurrierten. Die Widersprüche der einzelnen Konzeptionen traten besonders mit Anbruch der Moderne zum Vorschein, obwohl sich Anzeichen dafür bereits ab dem zwölften Jahrhundert erkennen lassen. Ein wichtiger Faktor dabei war der Geist des taqlı¯d, der sich sowohl im fiqh als auch in den sufischen Orden mehr und mehr durchsetzte und in der breiten muslimischen Gesellschaft mehr Anklang fand als die rationalistischen und spekulativen Lehren der Theologen und Philosophen. Beide Typen, das juristische und das mystische Bildungsideal, waren in der Tat pragmatisch ausgerichtet und erfüllten die Ansprüche sowohl der breiten Massen als auch der Machthaber. Im »juristischen Modell« war das Studienprogramm der mada¯ris darauf ausgerichtet, die wortwörtliche Beachtung der göttlichen Befehle und Vorschriften zum Bildungsideal zu erheben. Das Erlernen von Dingen hingegen, die nicht unmittelbar religiösen Zwecken dienten, galt als Zeitverschwendung. Im »mystischen Ideal« gab man sich der Verachtung für die diesseitige Welt hin und hielt das Studium von Wissenschaften mit Relevanz für das Diesseits als verlorene

Philosophie der islamischen Bildung: die drei Modelle

141

Zeit, wie es al-G˙azza¯lı¯ ausdrückte.4 Sowohl im juristischen als auch im mystischen Bildungsideal wurde die Unmündigkeit des Subjekts festgeschrieben. Allerdings boten beide eine gewisse Glaubenssicherheitsgarantie – damit konnte das humanistische Bildungsideal der Philosophen und Theologen nicht mithalten. Der Siegeszug der beiden Bildungsideale führte zu einem Gleichgewichtsverlust im Hinblick auf die Lehre und die Weiterentwicklung der islamischen Wissenschaften. Dessen desaströses Ausmaß wurde erst mit dem Aufkommen und den Konsequenzen der europäischen Moderne im 19. Jahrhundert wirklich sichtbar.

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Entstehung und Entwicklung der islamischen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen

Yassir El Jamouhi

¯Ada ¯ b-al-ʿa ¯ lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur und die Anfänge der islamischen Religionspädagogik*

Zusammenfassung Die A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur mit ihren Verhaltensregeln für Lehrende und Lernende nimmt eine besondere Stellung in der islamischen Ideengeschichte ein. Diese Textgattung behandelt verschiedene pädagogische Ansätze, die aus unterschiedlichen intellektuellen Disziplinen (u. a. der Philosophie, Theologie und Mystik, dem Recht und der Belletristik, aber auch den Naturwissenschaften und der Medizin) schöpften und damit einen produktiven interdisziplinären Wissensbereich in der islamischen Gelehrsamkeit hervorbrachten. Dies bezeugen zahlreiche, schon ab dem neunten Jahrhundert vorwiegend in arabischer Sprache verfasste bildungstheoretische Traktate und Handbücher, die theoretische und praktische Ratschläge zu Fragen des Lehrens und Lernens beinhalten. Um den Anfängen der islamischen Bildungstheorien nachzuspüren, zeigt dieser Beitrag exemplarisch unterschiedliche pädagogische Ansätze der A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur in der klassischen Zeit des Islams (9.–15. Jh.) auf und analysiert wesentliche Charakteristika dieser Bildungsschriften.

1.

Einleitung »Trage vor im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen aus einem Blutklumpen erschaffen hat! Trag vor! Dein Herr ist edelmütig wie niemand auf der Welt; er, der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er zuvor nicht wusste.« (Koran 96:1–5)1

* Dieser Beitrag ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereichs 1136 »Bildung und Religion«, Teilprojekt D 03 an der GeorgAugust-Universität Göttingen unter der Leitung von Professor Dr. Sebastian Günther entstanden. 1 Zitate aus dem Koran folgen in diesem Beitrag der Übersetzung von Rudi Paret (hier und im Weiteren mitunter leicht angepasst wiedergegeben).

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Diese ersten fünf Verse der Sure 96 (al-ʿAlaq, »Der Blutklumpen«) stellen in der islamischen Tradition die Urszene nicht nur der Menschwerdung, sondern auch der islamischen Religionsstiftung dar.2 Mit dem zweimal anaphorisch wiederholten Imperativ iqraʿ, »trage vor« bzw. »lies«, fordert der Erzengel Gabriel Muhammad zum – in der monotheistischen Tradition als gängiger liturgischer ˙ Topos geltenden – Lobpreis Gottes auf (vgl. Neuwirth 2011, S. 275). Gleichzeitig markiert dieser Anfangsimperativ die göttliche Berufung Muhammads zum ˙ Propheten und die Übermittlung des Auftrags, die Menschheit über Gottes Botschaft zu unterrichten. Der sich daran anschließende Hymnus rekurriert auf das Erschaffen (halq) und das Lehren (taʿlı¯m) als göttliche Kräfte. Die Verbin˘ dung dieser zentralen Formen göttlichen Wirkens besitzt eine Tiefendimension, welche die bedeutende Stellung des Lehrens (taʿlı¯m) in der islamischen Tradition unterstreicht. Denn nach diesem Gründungsnarrativ wäre der primordial aus Schöpfungsmaterie – nämlich dem Blutklumpen – erschaffene Mensch ohne die ihm durch die Offenbarung zukommende Belehrung und die damit einhergehende Teilhabe am göttlichen Wissen ein unvollkommenes Wesen. Demnach lässt sich die Vermittlung religiösen Wissens im Hinblick auf die Konstitution islamischer Identität als Mittel und Zweck zugleich betrachten. Religiöses Wissen fungiert zudem als Voraussetzung, um Gottes Belehrungen und Warnungen zu verstehen, wie beispielsweise in Sure 39 (az-Zumar, »Die Gruppen«) hervorgehoben wird: »Sag: Sind (etwa) die Wissenden den Nichtwissenden gleich (zu setzen)? (Doch) nur diejenigen, die Verstand haben, lassen sich mahnen« (Koran 39:9). Nicht nur im Koran, auch in der Prophetentradition wird der zentrale Stellenwert des Wissens (ʿilm) und der Wissensvermittlung im Islam ausdrücklich betont.3 Hier ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff ʿilm in der islamischen Tradition sowohl religiöse als auch profane Wissenselemente umfasst.4 In zahlreichen prophetischen Überlieferungen finden sich wiederholt konkrete Ratschläge und Anweisungen zum Lehren und Lernen, die – von koranischen Vorstellungen ausgehend – den grundsätzlichen Nährboden für die ab dem neunten Jahrhundert n. Chr. einsetzenden Reflexionen über die Wissensvermittlung in der islamischen Religionsgemeinschaft bildeten.

2 Überliefert zuerst in der sı¯ra (Prophetenbiografie) von Ibn Isha¯q; siehe Ibn Hisˇa¯m (1955, ˙ S. 236–237); vgl. hierzu Neuwirth (2011, S. 275) und Günther (2016a, S. 211–212). 3 Zur Rolle des Propheten Muhammad als Spiritus Rector der Muslime siehe Scheiner (2015, ˙ S. 235–268). 4 Zum Wissenskonzept in der islamischen Geistesgeschichte siehe Rosenthal (2007). Zur mündlichen und schriftlichen Wissensvermittlung im klassischen Islam siehe z. B. Rosenthal (1947); Schoeler (2009).

¯ da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur und die Anfänge der isl. Religionspädagogik A

2.

147

¯Ada ¯ b al-ʿa ¯ lim wa-l-mutaʿallim als disziplinübergreifendes Genre innerhalb der klassischen arabischen Literatur

Die Reflexionen über Fragen des Lehrens und Lernens fanden ihren literarischen Ausdruck in umfassenden, vorwiegend in arabischer Sprache verfassten, bildungstheoretischen Traktaten und Handbüchern, welche sich aufgrund ihrer inhaltlichen Dichte und thematischen Vielfalt zu einem eigenen literarischen Genre in der klassischen arabischen Literatur entwickelten, das sich gezielt mit a¯da¯b al-ʿa¯lim wa-l-mutaʿallim (»Verhaltensregeln des Gelehrten/Lehrenden und des Lernenden«) befasste.5 Damit wurde eine disziplinübergreifende Schnittstelle zwischen verschiedenen Wissensbereichen der islamischen Gelehrsamkeit geschaffen, an der Koranexegeten, Hadith- und Rechtsgelehrte, Theologen, Philosophen, Literaten, Naturwissenschaftler und Mediziner wirkten. Dabei nahmen sie zum einen Bezug auf ihre umfangreichen Erfahrungen als Dozierende an religiösen Hochschulen (madrasa) und privaten Lehrzirkeln (magˇlis).6 Zum anderen stützten sie sich auf die im Wirkungsbereich des Islams kontinuierlich weitergepflegten plurikulturellen Wissensbestände und fusionierten diese – nach der Etablierung des Arabischen als Lingua franca – zu einer islamischen paideia (adab),7 die bildungstheoretische Entwürfe aus vorislamischer Zeit mit religiösen Grundsätzen des Islams harmonisierten und »zum Wohle der Gemeinschaft« (Günther 2013, S. 364) nutzbar machten. Günther unterscheidet innerhalb dieses bildungsphilosophischen Konglomerats drei grundsätzliche Bereiche, nämlich »(a) die im alten Arabien präsenten paganen, jüdischen und christlichen Bildungsvorstellungen; (b) die autoritativen Aussagen zu Wissen und Erziehen im Koran sowie die dem Propheten Muhammad zugeschriebenen ˙ normativen Aussprüche und Traditionen; sowie (c) das antike griechische, altiranische und indische intellektuelle Erbe in seiner kreativen Rezeption durch die Muslime« (Günther 2013, S. 365).

5 Zur generellen Periodisierung der islamischen Geistesgeschichte im Allgemeinen und der Verwendung des Begriffs »klassisch« im Besonderen siehe u. a. Khalidi (1994, S. xi); Günther (2005a, besonders S. xviii–xx). 6 Einen Überblick über die verschiedenen Institutionen des Lernens im Islam einschließlich ihrer Entwicklung und Charakteristika vermittelt Makdisi (1981). Zur Bildungseinrichtung madrasa im Speziellen siehe Pedersen et al. (2012). 7 Gedacht sei hier insbesondere an die These vom Islam als einer »inklusiven Kultur«, die u. a. auf die Arbeiten des US-amerikanischen Arabisten Gustav Edmund von Grunebaum, etwa Der Islam im Mittelalter, erschienen 1963, zurückgeht. Genannt seien zudem die daran anknüpfenden Arbeiten von Angelika Neuwirth zum »Denkraum Spätantike«, welche die Relektüre kanonischer und älterer Traditionen als wichtiges Moment in der Herausbildung einer islamischen paideia reflektieren; siehe beispielweise Neuwirth (2010) sowie Schmidt, Schmid & Neuwirth (2016). Zum Begriff adab siehe z. B. Gabrieli (2012).

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Vor diesem Hintergrund entwickelten die klassischen muslimischen Gelehrten umfassende bildungstheoretische Gedankenmodelle, die – je nach theologischer, philosophischer oder juristischer Schule – differenzierte theoretische und praktische Ratschläge zu Fragen des Lehrens und Lernens lieferten. Diese kreisten insbesondere um die Interaktion von Lehrenden und Lernenden sowie von Lernenden untereinander im Unterrichtsgeschehen. Detailliert erörtert wurden dabei Ziele, Inhalte, ethische Grundlagen, Methoden und Techniken des Lernens und Lehrens. Beachtlichen Raum nahmen darin die ethisch-moralisch angemessenen Verhaltensweisen der Unterrichtsbeteiligten ein.

2.1

A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur: Charakteristika und Richtungen

Innerhalb der A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur ist eine Vielzahl an pädagogischen Ansätzen anzutreffen, die unterschiedlichen intellektuellen Gedankenmodellen verpflichtet sind. Diese beziehen sich zwar auf gemeinsame pädagogische Sachverhalte, legen jedoch verschiedene Gottes-, Menschen- und Weltbilder zugrunde, vertreten teilweise differente Vorstellungen vom idealen Lehrer und Schüler, bestimmen entsprechende Ziele, Inhalte und Methoden des Lehrens und Lernens, spezifizieren bestimmte Begriffe von Wissen, Bildung und Erziehung, wenden unterschiedliche Argumentationsstrategien an und unterscheiden sich zu guter Letzt in der Positionierung zu und der Gewichtung von einzelnen bildungstheoretischen Wissensbeständen. Grundsätzlich können innerhalb der A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur traditionell-religiöse, philosophisch-ethische und spirituell-mystische Ansätze unterschieden werden, auch wenn die Grenzen nicht immer leicht zu ziehen sind. Selbstredend bilden die genannten Ansätze aufgrund der Vielzahl ihrer Vertreter und der Vielfalt ihrer Konzeptionen keine homogenen pädagogischen Gedankenmodelle. Dennoch erweist sich die Unterscheidung nach der disziplinären, über die jeweilige Konfessionalität hinausgehenden Verortung der Autoren als tragfähig und zugleich inklusiv für die Zwecke des vorliegenden Beitrags. 2.1.1 Traditionell-religiöse Ansätze Fragen zur Ethik im Allgemeinen und zu a¯da¯b al-ʿa¯lim wa-l-mutaʿallim im Besonderen nehmen im Wirken muslimischer Hadith- und Rechtsgelehrter bedeutenden Raum ein.8 Ausgehend von der prophetischen Überlieferung »Die

8 Diese pädagogische Richtung wird auch als madrasat al-atar (Spur, Zeichen) bezeichnet. In ¯ diesem Zusammenhang meint atar Überlieferungen, die den Gefährten des Propheten zuge¯

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Gelehrten sind die Erben der Propheten« (Abu¯ Da¯wu¯d 2009, S. 485, HadithNr. 3641) betrachteten sich jene Gelehrten als Nachfolger des Propheten hinsichtlich der Fortführung des Auftrags, die Menschheit über Gottes Botschaft zu unterrichten. Ihre vielfältigen pädagogischen Entwürfe sind in zahlreiche Traktate und Handbücher eingeflossen. Einig sind sie sich darin, dass die Ziele und Inhalte sowie die ethischen Prinzipien des Lehrens und Lernens im Koran und im Hadith grundsätzlich definiert sind. Letztere fungieren dementsprechend als die Hauptquellen für die Herleitung von Verhaltensregeln für Lehrende und Lernende. Die neuere Forschung geht davon aus, dass das früheste, pädagogisch intendierte Traktat wahrscheinlich Ende des achten Jahrhunderts entstanden ist (vgl. Günther 2016b, S. 55). Es trägt den Titel al-ʿA¯lim wa-l-mutaʿallim (»Der Gelehrte und der Lernende«)9 und wird traditionell dem frühislamischen Rechtsgelehrten Abu¯ Hanı¯fa an-Nuʿma¯n b. Ta¯bit (gest. 767), dem Namensgeber der sunnitischen ¯ ˙ Rechtsschule Hanafı¯ya, zugeschrieben; möglicherweise geht es aber auf einen ˙ seiner Schüler, Abu¯ Muqa¯til as-Samarqandı¯ (gest. 823), zurück.10 Das Werk ist nach sokratischem Vorbild in Dialogform verfasst.11 Als Dialogteilnehmer erscheinen Abu¯ Hanı¯fa als Gelehrter (ʿa¯lim) und as-Samarqandı¯ als Schüler (mu˙ taʿallim). Eingeleitet wird der Dialog mit der Bitte des Schülers: ‫ ﻭﺃﺭﺟﻮ ﺃﻥ‬،‫ ﺃﺗﻴﺘﻚ ﺃﻳّﻬﺎ ﺍﻟﻌﺎﻟﻢ – ﻭﻫﻮ ﺃﺑﻮ ﺣﻨﻴﻔﺔ – ﻷﻧﺘﻔﻊ ﺑﻤﺠﺎﻟﺴﺘﻚ ﻟﻤﺎ ﺃﺗﻴ ّﻘﻦ ﻣﻦ ﻓﻀﻠﻚ‬:- ‫ﻗﺎﻝ ﺍﻟﻤﺘﻌﻠّﻢ – ﻭﻫﻮ ﺃﺑﻮ ﻣﻘﺎﺗﻞ‬ .‫ ﻟﺘﺴﺘﺤ ّﻖ ﺑﺬﻟﻚ ﺍﻟﺜﻮﺍﺏ ﻣﻦ ﺍﻟﻠﻪ ﺳﺒﺤﺎﻧﻪ‬،‫ ﻓﺎﻓﺘﻨﻲ ﻋﺎﻓﺎﻙ ﺍﻟﻠﻪ ﺇﻥ ﺃﻧﺎ ﺳﺄﻟﺘﻚ‬،‫ﻳﻨﻔﻌﻨﻲ ﺍﻟﻠﻪ ﺗﻌﺎﻟﻰ ﺑﻚ‬ »Der Schüler – gemeint ist Abu¯ Muqa¯til – sagte: Oh Gelehrter – gemeint ist Abu¯ Hanı¯fa – ˙ ich kam zu Dir, um von Deiner Gesellschaft zu profitieren, wenn ich mich Deiner Huld vergewisserte. Und ich hoffe, dass Gott, der Erhabene, mir durch Dich Nutzen zukommen lässt. Also bitte ich Dich darum, möge Gott Dich segnen, mir zu antworten, wenn ich Dich frage. Möge Dir damit der Lohn Gottes des Erhabenen gebühren!« (Abu¯ Hanı¯fa & as-Samarqandı¯ 2004, S. 571)12 ˙

9 10

11 12

schrieben oder als Bezeichnung für einen Bericht über den Propheten selbst verwendet werden. Einen guten Überblick hierüber liefert Robson (2012). Dem Beitrag liegt die Edition von al-Kautarı¯ (2004) zugrunde. Einen guten Überblick über ¯ den pädagogischen Wert dieses Werkes liefert Günther (2016b, S. 55–57). Eine genauere Betrachtung des Inhalts des Traktats sowie der dem Text vorangestellten Überlieferungskette in den jeweils vorhandenen Manuskripten erschwert eine dezidierte Beantwortung der Frage der Verfasserschaft und der Datierung des Werkes. Nichtsdestotrotz macht sie zum einen deutlich, dass das Traktat nicht von Abu¯ Hanı¯fa verfasst wurde; zum anderen schwächt sie die in der neueren Forschung vertretene˙ These der Verfasserschaft durch Abu¯ Muqa¯til as-Samarqandı¯ (gest. 823) – ein Schüler von Abu¯ Hanı¯fa – ab; vgl. Schacht ˙ (2014, S. 42–52). (1964, insbesondere S. 97–99); al-Kautarı¯ (2004, S. 563–567); Rudolph ¯ Grundlegend erforscht ist die wissensvermittelnde Funktion von Dialogen in der Antike vor allem in den Arbeiten von Föllinger (2005); ders. (2006). Zur Wissensvermittlung in klassischarabischen Dialogen siehe beispielsweise Forster (2017). Falls nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser.

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Diese einleitende Bitte zeichnet den Prototypen eines idealen fortgeschrittenen Schülers, der sich aus eigenem Antrieb auf die Suche nach einem geeigneten Lehrer begibt. Bereits sein Anliegen, sich der Gesellschaft des ihm offensichtlich bekannten Lehrers anzuschließen, um Antworten auf die ihn umtreibenden Fragen zu finden, deutet auf den Dialog als zweckdienliche Unterrichtsform hin. Dabei handelt es sich insbesondere um theologische und dogmatische Fragen, auf die Abu¯ Hanı¯fa – entgegen den Erwartungen von Abu¯ Muqa¯til – keine ab˙ schließenden Antworten gibt. Stattdessen geht er so vor, dass er Abu¯ Muqa¯til in den Prozess der diskursiven Wissensgenerierung à la Sokrates einbezieht, ihn zum selbständigen Nachdenken anregt und ihm zugleich genügend Freiheit bei der thematischen Gestaltung des Gesprächs gewährt. Diese subjektzentrierte didaktische Methode der religiösen Unterweisung legt zudem einige zentrale Eigenschaften des idealen Lehrers offen. Mit seiner modellhaften und reflexiven Weise der Anleitung versucht Abu¯ Hanı¯fa, den fragenden Schüler für das eigene ˙ Denken zu sensibilisieren, ihn auf verschiedene Phänomene und Aspekte aufmerksam zu machen und beim Aufbau einer ausdauernden Lernbereitschaft zu fördern sowie ihm Denk- und Argumentationsstrategien aufzuzeigen, wie der Reaktion von Abu¯ Muqa¯til zu entnehmen ist: .‫ ﻟﻘﺪ ﺯﺩﺗﻨﻲ ﻓﻲ ﻃﻠﺐ ﺍﻟﻌﻠﻢ ﺭﻏﺒﺔ‬:‫ﻗﺎﻝ ﺍﻟﻤﺘﻌﻠّﻢ‬ .‫ ﻟﻘﺪ ﻛﺸﻔﺖ ﻋﻨ ّﻲ ﺍﻟﻐﻄﺎﺀ‬:‫ﻗﺎﻝ ﺍﻟﻤﺘﻌﻠّﻢ‬ .‫ ﻟﻘﺪ ﻓﺘﺤﺖ ﻟﻲ ﻣﺴﺄﻟﺔ ﻟﻢ ﺃﻫﺘﺪ ﺍﻟﻴﻬﺎ‬:‫ﻗﺎﻝ ﺍﻟﻤﺘﻌﻠّﻢ‬ »Der Schüler sagte: Du hast mich motiviert, noch intensiver nach Wissen zu suchen. Der Schüler sagte: Du hast es mir enthüllt. Der Schüler sagte: Du hast mir eine Frage offenbart, auf die ich nicht gekommen wäre.« (Abu¯ Hanı¯fa & as-Samarqandı¯ 2004, S. 572–575) ˙

Ein weiteres pädagogisches Werk stammt vom Rechtsgelehrten Ibn Sahnu¯n (gest. ˙ 870) aus Kairouan. Es trägt den Titel A¯da¯b al-muʿallimı¯n (»Die Verhaltensregeln 13 der Lehrenden«) und gilt in der Forschung als der früheste erhaltene, in arabischer Sprache verfasste pädagogische Leitfaden (vgl. Günther 2013, S. 366). Während Abu¯ Hanı¯fa in der Beantwortung von as-Samarqandı¯s Fragen sich ˙ pädagogisch-didaktischer Formen zum Umgang mit fortgeschrittenen Lernenden bedient, stellt Ibn Sahnu¯n Lehrer und Lernende im Grundschulalltag in den ˙ Vordergrund. Charakteristisch für Ibn Sahnu¯ns pädagogische Schrift ist die ju˙ ristische Perspektive bei der Behandlung von Fragen des Lehrens und Lernens. So gehen die von ihm festgelegten Verhaltensregeln für Lehrer über ethisch-moralische Prinzipien hinaus. Für ihn besteht zwischen dem Lehrer und den Eltern der Schüler eine Vereinbarung, welche die Rechte und Pflichten beider Parteien umfassend regelt. Den Lehrer betrachtet er als Angestellten, der Anspruch auf 13 Ed. ʿAbd al-Wahha¯b (1972).

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Lohn und Urlaub hat. Trotz des geringen Umfangs der Schrift von nur wenigen Seiten greift Ibn Sahnu¯n zahlreiche pädagogisch relevante Themen auf. Ein˙ geleitet wird der Leitfaden mit diversen prophetischen Aussagen, wie etwa »Der Beste unter euch ist derjenige, der den Koran lernt und lehrt« (al-Buha¯rı¯ 2009, ˘ S. 1284, Hadith-Nr. 5027), welche den besonders hohen Stellenwert des Auswendiglernens des Korans in der religiösen Unterweisung hervorheben (vgl. Ibn Sahnu¯n 1972, S. 75–83). Weitere zentrale Themen, für die Ibn Sahnu¯n ent˙ ˙ sprechende koranische und prophetische Belege heranzieht, sind u. a. Gerechtigkeit in der Unterweisung von Knaben, der Umgang mit geschriebenen koranischen Textstellen, erlaubte und verpönte Formen des Umgangs mit Schülern. Zu den zentralen Pflichten des Lehrers zählt Ibn Sahnu¯n die uneingeschränkte ˙ Konzentration auf die Unterweisung der Schüler. So dürfe der Lehrer keinesfalls ˇ adem Unterricht fernbleiben. Auch die Teilnahme am Totengebet (Sala¯t al-G ˙ na¯za) und der Krankenbesuch dürften ihm nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt werden, gälten für ihn doch die Pflichten eines Angestellten (vgl. Ibn Sahnu¯n 1972, S. 100). Zudem sieht Ibn Sahnu¯n den Lehrer in der Pflicht, im ˙ ˙ Unterricht das Gerechtigkeitsprinzip einzuhalten. Er solle einen gerechten Umgang mit reichen und armen Schülern pflegen, andernfalls wäre er ein Verräter (ha¯ʾin) (vgl. Ibn Sahnu¯n 1972, S. 113). Des Weiteren ist der Lehrer ange˙ ˘ halten, einen geeigneten Raum für seinen Unterricht zu mieten – die Moschee sei dafür nicht der geeignete Ort (vgl. Ibn Sahnu¯n 1972, S. 114). Sollte der Lehrer ˙ gegen seine Pflichten verstoßen, so stehe es den Eltern und dem Herrscher zu, ihn zurechtzuweisen und ihm die Ausübung des Unterrichts zu verbieten. Neben den Pflichten gesteht Ibn Sahnu¯n dem Lehrer auch verschiedene Rechte zu. Für seine ˙ Unterrichtsdienste dürfe der Lehrer einen Lohn einfordern und habe zudem Anspruch auf eine Sonderzahlung, wenn der Schüler das Auswendiglernen des Korans abgeschlossen hat (vgl. Ibn Sahnu¯n 1972, S. 83). Geschenke dürfe er ˙ hingegen keinesfalls verlangen. Sollten ihm jedoch Schüler etwas ungefragt schenken, stehe es ihm frei, dies anzunehmen. ‫ ﻓﺎﻥ ﺃﻫﺪﻭﺍ ﺍﻟﻴﻪ ﻋﻠﻰ ﺫﻟﻚ ﻓﻬﻮ‬،‫ ﻭﻻ ﻳﺴﺄﻟﻬﻢ ﻓﻲ ﺫﻟﻚ‬،‫ﻭﻻ ﻳﺤ ّﻞ ﻟﻠﻤﻌﻠّﻢ ﺃﻥ ﻳﻜﻠّﻒ ﺍﻟﺼﺒﻴﺎﻥ ﻓﻮﻕ ﺃﺟﺮﺗﻪ ﺷﻴﺌﺎ ﻣﻦ ﻫﺪﻳﺔ ﻭﻏﻴﺮ ﺫﻟﻚ‬ .‫ ﺍﻻ ﺃﻥ ﻳﻬﺪﻭﺍ ﺍﻟﻴﻪ ﻣﻦ ﻏﻴﺮ ﻣﺴﺄﻟﺔ‬،‫ﺣﺮﺍﻡ‬ »Es ist nicht zulässig für den Lehrer, von den Knaben etwas zu verlangen, was über seinen Lohn hinausgeht, etwa ein Geschenk oder Ähnliches. Er darf sie zudem nicht danach fragen. Sollten sie ihm jedoch dennoch etwas schenken, dann ist das [Geschenkte] verboten, es sei denn, sie beschenken ihn ungefragt.« (Ibn Sahnu¯n 1972, S. 96) ˙

Ibn Sahnu¯ns pädagogischer Leitfaden hat die A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim˙ Literatur maßgeblich geprägt. Umfassend rezipiert und weiterentwickelt wurde sein pädagogisch-didaktischer Ansatz von dem ma¯likitischen Hadith- und Rechtsgelehrten Abu¯ l-Hasan ʿAlı¯ b. Muhammad al-Qa¯bisı¯ al-Maʿa¯firı¯ (gest. ˙ ˙ 1012) in seinem Traktat ar-Risa¯la al-mufassala li-ahwa¯l al-mutaʿallimı¯n wa˙˙ ˙

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ahka¯m al-muʿallimı¯n wa-l-mutaʿallimı¯n (»Das ausführliche Sendschreiben über ˙ die Umstände der Lernenden und die Verhaltensregeln der Lehrenden und Lernenden«) (al-Qa¯bisı¯ 1986). Das Werk ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil widmet sich al-Qa¯bisı¯ der Klärung der zentralen Begriffe ¯ıma¯n (Glaube), isla¯m (Islam), ihsa¯n (gutes Handeln) und istiqa¯ma (Aufrichtigkeit) sowie sala¯h ˙ ˙ ˙ (Rechtschaffenheit). Ausführlich erörtert werden im zweiten Teil Unterrichtsthemen, Lehrmethoden, soziale Unterrichtsformen, Entlohnung des Lehrers sowie Verhaltensregeln des Lehrenden und des Lernenden. Auch die Frage, ob muslimische Schüler von christlichen und jüdischen Lehrern unterrichtet werden können, wird behandelt und mit entsprechenden Quellenbelegen begründet (vgl. al-Qa¯bisı¯ 1986, S. 120). Im dritten Teil geht al-Qa¯bisı¯ noch einmal auf das Thema der Entlohnung des Lehrers ein und nennt konkrete Lösungen für verschiedene Probleme, die bei der Erziehung auftreten können. Weitere prominente, traditionell-religiös ausgerichtete pädagogische Schriften sind beispielsweise: ¯ gˇurrı¯ – Ahla¯q al-ʿulama¯ʾ (»Die Charakterzüge der Gelehrten«) von Abu¯ Bakr al-A ˘ (gest. ca. 970), ˇ a¯miʿ baya¯n al-ʿilm wa-fadlihi (»Kompendium zur Erläuterung des Wissens – G ˙ und seiner Vorzüge«) von Yu¯suf b. ʿAbd Alla¯h b. Muhammad b. ʿAbd al-Barr ˙ (gest. 1071), ˇ a¯miʿ li-ahla¯q ar-ra¯wı¯ wa-a¯da¯b as-sa¯miʿ (»Das Kompendium zu den – al-G ˘ Charakterzügen des Überlieferers und den Verhaltensregeln des Zuhörers«) von al-Hat¯ıb al-Bag˙da¯dı¯ (gest. 1071), ˘ ˙ – Taʿlı¯m al-mutaʿallim tarı¯q at-taʿallum (»Die Unterweisung des Lernenden in ˙ der Methode des Lernens«) von Burha¯n ad-Dı¯n az-Zarnu¯gˇ¯ı (12.–13. Jahrhundert) und – Tadkirat as-sa¯miʿ wa-l-mutakallim fı¯ a¯da¯b al-ʿa¯lim wa-l-mutaʿallim (»Me¯ morandum für den Zuhörer und den Sprecher über die Verhaltensregeln des ˇ ama¯ʿa (gest. Gelehrten und Lernenden«) von Muhammad b. Ibra¯hı¯m b. G ˙ 1333).

2.1.2 Philosophisch-ethische Ansätze Einen wesentlichen Bestandteil der A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur bilden des Weiteren philosophische und ethische Abhandlungen. Charakteristisch für die philosophisch-ethisch orientierten pädagogischen Ansätze ist die systematische, weitgehend objektive und umfassende Rezeption früherer bildungstheoretischer Traditionen der Menschheitsgeschichte, die den Vertretern dieser intellektuellen Haltung als komplementär zu bzw. in Harmonie mit isla-

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mischen Grundsätzen erschienen.14 Während Hadith- und Rechtsgelehrte den Koran und die Prophetentradition als Hauptquellen heranzogen, stützten sich Philosophen und Ethiker bei der rationalen Herleitung und Begründung ethischmoralischer Verhaltensweisen der Unterrichtsbeteiligten vor allem auf die Logik, insbesondere auf die des Aristoteles. In diesem Zusammenhang schrieb der islamische Philosoph Abu¯ Nasr Muhammad al-Fa¯ra¯bı¯ (um 872–950) in seinem ˙ ˙ wissenschaftstheoretischen Grundlagenwerk Ihsa¯ʾ al-ʿulu¯m (»Die Aufzählung ˙ der Wissenschaften«):15 ‫ﻓﺼﻨﺎﻋﺔ ﺍﻟﻤﻨﻄﻖ ﺗﻌﻄﻲ ﺑﺎﻟﺠﻤﻠﺔ ﺍﻟﻘﻮﺍﻧﻴﻦ ﺍﻟﺘﻲ ﺷﺄﻧﻬﺎ ﺃﻥ ﺗﻘ ّﻮﻡ ﺍﻟﻌﻘﻞ ﻭﺗﺴ ّﺪﺩ ﺍﻻﻧﺴﺎﻥ ﻧﺤﻮ ﻃﺮﻳﻖ ﺍﻟﺼﻮﺍﺏ ﻭﻧﺤﻮ ﺍﻟﺤ ّﻖ ﻓﻲ ﻛ ّﻞ‬ .‫ ﻭﺍﻟﻘﻮﺍﻧﻴﻦ ﺍﻟﺘﻲ ﺗﺤﻔﻈﻪ ﻭﺗﺤﻮﻃﻪ ﻣﻦ ﺍﻟﺨﻄﺄ ﻭﺍﻟﺰﻟﻞ‬،‫ﻣﺎ ﻳﻤﻜﻦ ﺃﻥ ﻳﻐﻠﻂ ﻓﻴﻪ ﻣﻦ ﺍﻟﻤﻘﻮﻻﺕ‬ »Die Kunst der Logik liefert zusammenfassend Regeln, deren Kennzeichen es ist, die Vernunft zu berichtigen und den Menschen auf den Weg der Korrektheit und zur Wahrheit bei allem zu führen, wo es möglich ist, dass bei den Vernunftgehalten ein Irrtum auftritt, und [sie liefert] Regeln, die ihn schützen und vor Fehlern und Irrtum bewahren.« (Al-Fa¯ra¯bı¯ 1991, S. 13; übersetzt von F. Schupp: al-Fa¯ra¯bı¯ 2005, S. 23, hier leicht angepasst.)

Zu den bedeutendsten frühen Philosophen und Ethikern, die durch ihre bildungstheoretischen Überlegungen entscheidende pädagogische Impulse lieferten, zählen der Moralphilosoph und Historiker Miskawaih16 (gest. 1030), die Ihwa¯n as-safa¯ʾ (»Die Lauteren Brüder«)17 (10. Jahrhundert) und der Arzt und ˙˙ ˘ Universalgelehrte Ibn Sı¯na¯18 (gest. 1037), der in Europa unter dem latinisierten Namen Avicenna bekannt ist. Um die Charakteristika dieser philosophischethisch orientierten Richtung herauszustellen, ist insbesondere das in der islamischen Ethik zweifellos prominenteste Werk Tahd¯ıb al-ahla¯q (»Die Kultivie¯ ˘ rung der Charakterzüge«) von Miskawaih, der bis heute als einer der einflussreichsten Ethiker im Islam gilt, hervorzuheben. Strukturell besteht das Werk aus sechs Abhandlungen. Diese behandeln Grundlagen der Ethik, den Charakter und die Erziehung, das Gute und die Glückseligkeit, die Gerechtigkeit, die Liebe und die Freundschaft und schließlich die Psyche.19 Pädagogisch relevante Aus-

14 Arkoun (1982) und Kraemer (1986) fassen diese geistige Haltung unter dem Begriff »Humanismus«. 15 Zu den bildungsphilosophischen Auffassungen al-Fa¯ra¯bı¯s siehe Günther (2010, besonders S. 15–20). 16 Zu Autor und Werk vgl. u. a. Arkoun (1982); Endreß (2012). Für einen konzisen Überblick über Miskawaihs bildungstheoretische Überlegungen siehe El Jamouhi (2020). 17 Einen guten Überblick über diese Gruppe von Philosophen liefert Marquet (2012). 18 Zu Autor und Werk vgl. Goichon (2012). Zu Ibn Sı¯na¯s bildungstheoretischen Grundpositionen vgl. Günther (2013, S. 370). 19 In Anlehnung an die Edition von Zurayk (1966) und die französische Übersetzung von Arkoun (1969).

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sagen finden sich im Kapitel zur Erziehung von Jugendlichen und Knaben, das mit folgendem Hinweis beginnt: .‫ﺻﺔ ﻧﻘﻠﺖ ﺃﻛﺜﺮﻩ ﻣﻦ ﻛﺘﺎﺏ ﺑﺮﻭﺳﻦ‬ ّ ‫ﻓﺼﻞ ﻓﻲ ﺗﺄﺩﻳﺐ ﺍﻷﺣﺪﺍﺙ ﻭﺍﻟﺼﺒﻴﺎﻥ ﺧﺎ‬ »Ein Kapitel zur Erziehung der Jugendlichen, insbesondere der Knaben. Das meiste hiervon habe ich von Brysons Schrift übernommen.« (Miskawaih 1966, S. 55)

Gemeint ist damit das Werk Oikonomikos (griech. Οι᾿κονομικός) des griechischen Philosophen Bryson (vermutlich spätes erstes Jahrhundert n. Chr.), das überwiegend in arabischer Übersetzung überliefert ist.20 Das Kapitel beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung der Entwicklungsstadien der menschlichen Kräfte. Erörtert werden zudem die Funktionen der Kräfte der Seele, wobei das Schamgefühl bei den Knaben als Signal für das Erwachen der Verstandeskraft interpretiert wird. Anschließend präsentiert Miskawaih die Verhaltensregeln, die Lehrer bei der Erziehung von Jugendlichen und Knaben beachten sollten. Diese umfassen folgende Bereiche: Kleidung, Ess- und Trinkverhalten, Auswendiglernen von sittlich angemessenen Sprüchen und Gedichten, Meidung alkoholischer Getränke, Verbot der Teilnahme an Trinkgelagen, Verbot des Schlafens in üppigen Betten, Bewegung und Sport, nonverbales Verhalten, Sprechverhalten, Verhalten beim Bestraftwerden, Verhalten gegenüber anderen Kindern, Spielverhalten und Verhaltensregeln gegenüber erziehenden Personen (vgl. Miskawaih 1966, S. 55–63). Der Ausgangspunkt von Miskawaihs pädagogischem Ansatz besteht in der Annahme der Veränderbarkeit des menschlichen Charakters durch Bildung, die sich in seiner kritischen Auseinandersetzung mit den betreffenden theoretischen Positionen in der griechischen Philosophie widerspiegelt: ‫ ﻭﺇﻟﻰ‬،‫ ﻭﻷ ّﻥ ﺍﻟ ّﺮﺃﻱ ﺍﻷ ّﻭﻝ ﻳﺆ ّﺩﻱ ﺇﻟﻰ ﺇﺑﻄﺎﻝ ﻗ ّﻮﺓ ﺍﻟﺘﻤﻴﻴﺰ ﻭﺍﻟﻌﻘﻞ‬،‫ ﻷ ّﻧﺎ ﻧﺸﺎﻫﺪﻩ ﻋﻴﺎﻧﺎ‬،‫ﻭﻫﺬﺍ ﺍﻟ ّﺮﺃﻱ ﺍﻷﺧﻴﺮ ﻫﻮ ﺍﻟﺬﻱ ﻧﺨﺘﺎﺭﻩ‬ ‫ ﻭﺇﻟﻰ ﺗﺮﻙ ﺍﻷﺣﺪﺍﺙ ﻭﺍﻟﺼﺒﻴﺎﻥ ﻋﻠﻰ ﻣﺎ ﻳﺘّﻔﻖ ﺃﻥ ﻳﻜﻮﻧﻮﺍ ﻋﻠﻴﻪ ﺑﻐﻴﺮ ﺳﻴﺎﺳﺔ‬،‫ﺭﻓﺾ ﺍﻟﺴﻴﺎﺳﺎﺕ ﻛﻠّﻬﺎ ﻭﺗﺮﻙ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﻫﻤﺠﺎً ﻣﻬﻤﻠﻴﻦ‬ .‫ ﻭﻫﺬﺍ ﻇﺎﻫﺮ ﺍﻟﺸﻨﺎﻋﺔ ﺟ ًّﺪﺍ‬.‫ﻭﻻ ﺗﻌﻠﻴﻢ‬ »Wir vertreten die letztere Meinung, weil wir sie offensichtlich erfahren und weil die erstere Meinung zur Aufhebung der Differenzierungs- und Verstandeskraft sowie zur Ablehnung jedweder Erziehung führt. Damit geht einher, dass Menschen undiszipliniert und vernachlässigt zurückgelassen werden und dass Jugendliche und Knaben dementsprechend ohne Führung und Unterweisung verlassen werden. Dies aber ist Ausdruck höchster Verwerflichkeit.« (Miskawaih 1966, S. 32)

20 Zur Überlieferung dieser Schrift in arabischen Quellen und zur Problematik ihrer Verfasserschaft vgl. Ritter (1916); Plessner (1928); Swain (2013). Eine vergleichende Analyse von Oikonomikos und Tahd¯ıb al-ahla¯q ist in meinem im Druck befindlichen Aufsatz mit dem ¯ Titel Diversität und Diskurs im˘ klassischen Islam: Eine Fallstudie zu Miskawaihs Rezeption von Brysons Oikonomikos enthalten.

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Die Vernachlässigung der Bildung des menschlichen Charakters und die Verweigerung von Erziehung und Besserung hätten somit zur Folge, dass jeder Mensch entsprechend seiner eigenen Natur aufwachse und sein Leben lang im Zustand des Kindes verbleibe, das dem folge, was seinen »obszönen Veranlagungen« entspreche. Neben ihrer Leistung, den menschlichen Charakter zu verändern, kommt der Bildung für Miskawaih eine transformative Funktion zu: Mit ihr lasse sich das Böse im Menschen zum Guten transformieren (vgl. Miskawaih 1966, S. 31). Pädagogisch besonders relevant ist Miskawaihs Betonung der individuellen Besonderheiten der Lernenden, die signifikanten Einfluss auf die Lerngeschwindigkeit und Lernstrategien haben könnten und von Lehrenden berücksichtigt werden müssten. In Miskawaihs pädagogischem Ansatz nimmt der Lehrer eine spezielle Stellung ein. Der Lernende solle ihm Respekt, Liebe und Gehorsam entgegenbringen (vgl. Miskawaih 1966, S. 134). Liebe gebühre dem Lehrer sogar in einem höheren Maß als den Eltern. Dies begründet Miskawaih zum einen mit der noblen Rolle des Lehrers bei der Bildung der menschlichen Seele. Zum anderen betrachtet er Lehrer als die Ursache der realen und intellektuellen Existenz des Menschen, indem sie ihn zur Erreichung der vollkommenen Glückseligkeit anleiteten. Aus diesem Grund sieht Miskawaih im Lehrer den »spirituellen Vater und menschlichen Gott« (wa¯lid ru¯ha¯nı¯ wa-ab basˇarı¯) (Miskawaih 1966, S. 149), der in der ˙ Pflicht stehe, die Lernenden entsprechend dem von ihm dargelegten ethischpädagogischen Programm zu unterweisen. Die besondere Aufgabe des Lehrers liege in seiner Leitungsfunktion, die Lernenden zu motivieren, sich sowohl mit theoretischen als auch mit praktischen Wissenschaften zu beschäftigen, um intellektuelle und praktische Glückseligkeit gleichermaßen erlangen zu können. Die Zuschreibung von spirituellen und göttlichen Eigenschaften an Lehrer weist zudem klare Bezüge zur pädagogischen Funktion des Propheten Muhammad als ˙ Vermittler göttlicher Botschaften und religiösen Wissens auf. Dabei handelt es sich um eine Verbindung, die die Vorbildfunktion des Lehrers konstituiert, aus der sich die Verehrung und der Gehorsam gegenüber dem Gelehrten herleitet und begründet. Ein weiteres Element von Miskawaihs pädagogischen Überlegungen betrifft die dauerhafte Pflicht, der jede erziehungsberechtigte Person zu genügen habe. Dieser bildungstheoretische Aspekt unterstreicht zum einen die Relevanz der Nachhaltigkeit in der Bildung und impliziert zum anderen die Idee lebenslangen Lernens, die in der islamischen Bildungsphilosophie und Bildungsethik als religiöse Pflicht formuliert ist. Als Leitgedanke in Miskawaihs pädagogischen Überlegungen ist darüber hinaus die Korrelierung von Wissen und Handeln zu nennen, »verbunden mit dem ethischen Anspruch, dass das erworbene Wissen nicht allein dem Individuum, sondern der Gemeinschaft der Muslime bzw. der Menschheit insgesamt zugutekommen solle« (Günther 2016a, S. 211). Während

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Bildung den Prozess und das Ergebnis der Auseinandersetzung mit theoretischen und praktischen Wissenschaften umfasst (vgl. Miskawaih 1966, S. 39), bildet Ethik den reflektierten, verhaltensbezogenen Rahmen der Aneignung jenes Wissens im Hinblick auf sich selbst und auf das Gegenüber diesseits und jenseits der alltäglichen menschlichen Erfahrung. Ein weiterer, bildungsrelevanter Aspekt – einer, den auch Ibn Sı¯na¯ in seinem al-Qa¯nu¯n fı¯ t-tibb (»Der Kanon der Medizin«) betonte (Ibn Sı¯na¯ 1999, S. 220)21 – ˙˙ betrifft die Harmonie zwischen physischen und psychischen Komponenten in der Erziehung. Aus physischer Perspektive – so Miskawaih – stellt das Kindesalter jene Lebensphase dar, in der die Bereitschaft, Wissen zu erwerben und sich Ethik anzueignen, am stärksten ausgeprägt ist. In psychologischer Hinsicht sei zu beachten, dass Menschen entsprechend ihrer Rangstufe in den jeweiligen Wissenschaften und Künsten zu ihrer je eigenen Glückseligkeit (as-saʿa¯da al-ha¯ssa) ˘ ˙˙ geleitet werden sollten. Dass die Bedingungen hierfür vielfältig sind, hält Miskawaih für essenziell und existenziell. Darin sieht er den Sinn der menschlichen Existenz sowie die Legitimation der Bildung. Miskawaihs pädagogisches Programm kann als repräsentatives Beispiel für philosophisch-ethisch orientierte Ansätze innerhalb des pädagogisch orientierten ethischen Schrifttums gelten. Insbesondere die Fusion philosophischer, religiöser und mystischer Dimensionen in Miskawaihs pädagogischem Programm wurde von späteren Autoren wie al-G˙azza¯lı¯ (gest. 1111), der bis heute zu den bedeutendsten religiösen Gelehrten des Islams zählt, und dem persischen Theologen Fahr ad-Dı¯n ar-Ra¯zı¯ (gest. 1210) rezipiert, deren pädagogische Auf˘ fassungen sich vornehmlich durch eine spirituell-mystische Perspektive auszeichnen. 2.1.3 Spirituell-mystische Ansätze Mystische und asketische Tendenzen, deren Anfänge auf das achte Jahrhundert zurückgehen, hatten einen weitreichenden Einfluss auf das pädagogische Schrifttum im Islam.22 Im Kern geht es dabei um die Herzensbildung und -reinigung des murı¯d (Adept) durch die pädagogische Anleitung seines ˇsaih (Mei˘ ster). Dies erfolgt in der Regel durch die Ausführung regelmäßiger, individueller oder gemeinschaftlicher spiritueller Übungen, etwa durch die Rezitation ritueller (Bitt-)Gebete, die unter dem Sammelbegriff wird (Pl. awra¯d) zusammengefasst werden. Ein zentrales Ritual stellt das sogenannte dikr (Gottesgedenken) dar, ¯ welches durch die Rezitation der asma¯ʾ Alla¯h al-husna¯ (»die schönsten Namen ˙ 21 Vgl. dazu etwas ausführlicher Günther (2006, S. 376–380); ders. (2016a, S. 222). 22 Einen grundlegenden Überblick über den Sufismus im Islam vermittelt Reichmuth (2014).

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Gottes«) und andere, vom ˇsaih zugewiesene religiöse Formeln vollzogen wird.23 ˘ Das in der Regel auf bedingungslosem Gehorsam basierende Sˇaih-murı¯d-Ver˘ hältnis wird traditionell durch die sogenannte tarı¯qa (spiritueller Pfad) be˙ stimmt, wobei der Begriff tarı¯qa häufig auch als Bezeichnung für den Orden gilt ˙ oder aber zur Bezeichnung einer mystischen Bruderschaft verwendet wird, die üblicherweise den Namen ihres ˇsaih bzw. Begründers trägt.24 Zu den be˘ deutendsten frühen islamischen Mystikern gehören Ibra¯hı¯m b. Adham (gest. ca. 782), Abdalla¯h b. al-Muba¯rak (gest. 794), al-Fudail b. ʿIya¯d (gest. 803), Bisˇr al˙ ˙ Ha¯fı¯ (gest. ca. 841), al-Ha¯rit al-Muha¯sabı¯ (gest. 857), as-Sarra¯gˇ (gest. 988), al˙ ˙ ¯ ˙ Qusˇairı¯ (gest. 1074), al-G˙azza¯lı¯ (gest. 1111), as-Suhrawardı¯ (gest. 1234) und Muhyı¯ d-Dı¯n b. ʿArabı¯ (gest. 1240). ˙ Zur exemplarischen Illustration einiger pädagogischer Grundzüge islamischer Mystik ist hier al-G˙azza¯lı¯ hervorzuheben, der als einer der einflussreichsten und wirkmächtigsten Denker im religiös geprägten islamischen Bildungs- und Ethikdiskurs gilt.25 Seine zentralen Aussagen zu religiös geprägter Bildung im Allgemeinen und Verhaltensregeln für Lehrende und Lernende im Besonderen finden ihren Niederschlag in seinem theologischen Hauptwerk Ihya¯ʾ ˙ ʿulu¯m ad-dı¯n (»Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften«).26 Seine detaillierten pädagogisch-ethischen Ratschläge für Lernende subsumierte er insgesamt unter zehn Kernpunkte (vgl. al-G˙azza¯lı¯ 2005, S. 60–67): .‫ﺃﻣﺎ ﺍﻟﻤﺘﻌﻠّﻢ ﻓﺂﺩﺍﺑﻪ ﻭﻭﻇﺎﺋﻔﻪ ﺍﻟﻈﺎﻫﺮﺓ ﻛﺜﻴﺮﺓ ﻭﻟﻜﻦ ﺗﻨ ّﻈﻢ ﺗﻔﺎﺭﻳﻘﻬﺎ ﻋﺸﺮﺓ ﺟﻤﻞ‬ »Was den Lernenden angeht, so sind seine offenkundigen Verhaltensregeln und Aufgaben [zwar] vielfältig. Ihre Abgrenzungen ordnen jedoch zehn Grundsätze.« (AlG˙azza¯lı¯ 2005, S. 60)

a) Aus spirituell-mystischer Perspektive definiert al-G˙azza¯lı¯ das Wissen als »Herzensdienst« (ʿiba¯dat al-qalb). Dementsprechend erachtet er die Reinigung der Seele von Lastern und schlechten Eigenschaften als die allererste Aufgabe, der sich der Lernende zu widmen habe. Eine weitere zentrale Aufgabe des Lernenden bestehe darin, sich voll und ganz dem Studium hinzugeben. Damit gehe die Notwendigkeit einher, sich von den Angelegenheiten des Alltags zu lösen und sich sogar von Familie und Heimat zu distanzieren. Zur Begründung zitiert er die koranische Aussage: »Gott hat keinem Mann zwei Herzen in seinem Innern gemacht« (Koran 33:4). 23 Dazu etwas ausführlicher Reichmuth (2014) und Anetshofer & Karateke (2001, S. 7). 24 Grundlegendes zum Begriff tarı¯qa vermitteln Geoffroy et al. (2012). ˙ ihn als den großen Architekten des klassischen islamischen 25 Sebastian Günther bezeichnet Bildungsdenkens. Vgl. Günther (2016a, S. 222); ders. (2016b, S. 62). 26 Eine wertvolle Zusammenfassung der zentralen pädagogischen Aussagen al-G˙azza¯lı¯s bietet Günther (2006, S. 383–385).

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b) Überdies dürfe sich der Lernende weder über das Wissen noch über einen Lehrer erheben. Vielmehr müsse er sich dem Lehrer ganz ergeben und seinen Ratschlag so aufnehmen, wie der unwissende Patient dem besorgten und geschickten Arzt willfahrt. c) Darüber hinaus müsse der Lernende in den Anfängen seines Lernprozesses die unterschiedlichen Lehrmeinungen anderer Gelehrter ignorieren und sich stattdessen auf die Lehrmeinung seines Lehrers beschränken. Erst nach der Verinnerlichung grundlegender Erkenntnisse gemäß der Lehrmethode seines Lehrers dürfe er sich mit den Ansichten anderer Gelehrter auseinandersetzen. Andernfalls könnte er seinen Verstand überfordern und sich damit in Verlegenheit bringen. d) Von besonderer Bedeutung ist zudem, dass sich der Lernende für einen Lehrer entscheide, der sich seine Lehrmeinung unabhängig bildet und sich nicht ständig nur auf die Auffassungen anderer Gelehrter bezieht. Vor Letzterem warnt al-G˙azza¯lı¯ ausdrücklich. e) Des Weiteren rät al-G˙azza¯lı¯ dem Lernenden, sich zunächst mit den Grundlagen aller »löblichen Wissenschaften« (ʿulu¯m mahmu¯da) zu beschäftigen ˙ und sich im Anschluss daran den wichtigsten Aspekten eines Wissenschaftsgebietes gezielt zu widmen. f) Ferner ist auf einen geordneten Studienverlauf zu achten. Dabei müsse der Lernende mit den wichtigsten Wissenschaftsgebieten anfangen, um sich schließlich der vornehmsten aller Wissenschaften hinzugeben, nämlich der »Wissenschaft des Jenseits« (ʿilm al-a¯hira) in ihren Teilbereichen »Wissen˘ schaft der praktischen Religion« und »Wissenschaft der mystischen Enthüllung« (ʿilm al-muʿa¯mala wa-ʿilm al-muka¯ˇsafa). g) Im Übrigen impliziere die Beachtung eines geordneten Studienverlaufs, dass die Hinwendung zu einem neuen Wissenschaftsgebiet erst nach umfassendem Studium des dem Lernenden auferlegten Curriculums erfolgen sollte. h) Darüber hinaus müsse der Lernende wissen, wie die edelste aller Wissenschaften erkannt werden kann. Dazu müsse er in der Lage sein, zum einen die Quintessenz der jeweiligen Wissenschaft einzuschätzen und zum anderen deren Gültigkeit und Beweiskraft zu beurteilen. So sei z. B. die Quintessenz der Religionswissenschaft das ewige Leben und die der Medizin das vergängliche Leben. Demzufolge sei die Religionswissenschaft ehrenwerter. i) Das höchste Ziel eines jeden Lernenden bestehe darin, sich Gott zu nähern. Von zentraler Bedeutung für die Erreichung dieses Ziels sei die spirituelle Vervollkommnung des Lernenden, die durch die Wissenschaft des Jenseits ermöglicht werde. Nichtsdestotrotz müsse der Lernende allen anderen Wissenschaftsgebieten, etwa der Lehre der Rechtsgutachten (ʿilm al-fata¯wa¯), der Grammatik und der Sprachwissenschaft, Respekt zollen.

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j) Schließlich sollte der Lernende das Verhältnis der verschiedenen Wissenschaften zu deren Hauptziel beurteilen können. Sollte er außerstande sein, die Dinge des Diesseits und des Jenseits zu verbinden, müsse er sich auf die unvergänglichen Dinge konzentrieren. Denn das ultimative Ziel bestehe im ewigen Glück, Gott zu begegnen. Für Lehrer formulierte al-G˙azza¯lı¯ acht Verhaltensregeln (vgl. al-G˙azza¯lı¯ 2005, S. 67–71): a) Der Lehrer sollte sich gegenüber seinen Schülern fürsorglich und barmherzig verhalten, wie ein Vater gegenüber seinen eigenen Kindern. b) Der Lehrer sollte in seiner Lehrtätigkeit dem Propheten als Vorbild folgen. Für seine Unterrichtsdienste dürfe er weder Lohn noch Dank verlangen bzw. erwarten, vielmehr müsse sein unbedingtes Ziel sein, sich Gott zu nähern, indem er in die Herzen seiner Schüler Wissen einpflanzt, wie ein Bauer, der sein Feld bestellt. c) Der Lehrer sollte seinen Schülern uneingeschränkt als Ratgeber zur Verfügung stehen. Er sollte dafür Sorge tragen, dass die Schüler die Lernstufen ordnungsgemäß durchlaufen und den vorgesehenen Lehrplan einhalten. d) Ein weiterer, pädagogisch besonders relevanter Aspekt, den al-G˙azza¯lı¯ zu den »Raffinessen der Kunst des Lehrens« (al-G˙azza¯lı¯ 2005, S. 69) zählt, betrifft die Bestrafung der Schüler. Er rät dem Lehrer ausdrücklich, bei moralisch unangemessenen Handlungen des Schülers zu dessen Disziplinierung nicht auf offenen Tadel, sondern möglichst auf freundliche Andeutungen und gnädige Nachsicht zu setzen. e) Ferner dürfe der Lehrer keine abfälligen Aussagen über andere Fächer treffen, die er nicht lehrt. Vielmehr sollte er den Lernenden den Weg für das Studium anderer Wissenszweige bereiten. f) Anstatt die Schüler mit zu anspruchsvollem Lernstoff zu überfordern, sollte der Lehrer eher bemüht sein, sie entsprechend ihren individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu unterweisen. g) Überdies sollte der Lehrer seine Lehrinhalte so verständlich wie möglich aufbereiten und es unterlassen, auf weitere Aspekte des Lernstoffs zu verweisen, die eines gründlicheren Studiums bedürfen. Denn das könnte die Schüler in Verlegenheit bringen und demotivieren. h) Zu guter Letzt sollte der Lehrer seinen Worten entsprechende Handlungen folgen lassen. Diese eben skizzierten Ratschläge bilden den allgemeinen Rahmen für alG˙azza¯lı¯s spirituell-mystisch orientierten pädagogischen Ansatz, der in abschließender und weiterführender Form in seinem ethischen Traktat Ayyuha¯ l-

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walad (»O Kind!«) zum Ausdruck kommt,27 das sich vorrangig mit Fragen der höheren Bildung befasst, auch wenn der Titel auf den ersten Blick anderes vermuten lässt. Das Werk wurde erstmals im Jahr 1838, und zwar von Josef von Hammer-Purgstall, ins Deutsche übersetzt (vgl. al-G˙azza¯lı¯ 1838). Aus der Einleitung des Traktats geht hervor, dass mit dem al-walad (Kind, Sohn) ein Schüler al-G˙azza¯lı¯s gemeint ist, der ihn um Rat und Anleitung bittet. Drei Leitgedanken gilt es hier hervorzuheben. a) Fürsorgliche Anleitung: Interessanterweise weist die Anrede des Schülers mit »Kind« bzw. »Sohn« einen unmittelbaren Bezug zur ersten Verhaltensregel auf, die al-G˙azza¯lı¯ in seinem früheren Werk Ihya¯ʾ ʿulu¯m ad-dı¯n für Lehrer ˙ formulierte, gemäß welcher der Letztere sich gegenüber seinen Schülern so fürsorglich verhalten solle wie ein Vater zu seinen Kindern. b) Korrelation von Wissen und Handeln: Al-G˙azza¯lı¯ betont nachdrücklich, dass die Schüler aus abstrakten Erkenntnissen praktischen Nutzen ziehen können sollten. Denn »Wissen ohne Handeln ist Irrsinn [gˇunu¯n] und Handeln ohne Wissen ist unmöglich [la¯ yaku¯n]« (al-G˙azza¯lı¯ 2010, S. 108). c) Spirituelle Reinigung der Seele (tasawwuf): Für al-G˙azza¯lı¯ besteht das höchste ˙ Ziel allen Lernens darin, sich Gott zu nähern. Der Garant für die Erreichung dieses Ziels sei die spirituelle und ethische Vervollkommnung des Lernenden. Diese hier beispielhaft skizzierten pädagogischen Ratschläge al-G˙azza¯lı¯s haben die islamische Bildungsethik in bedeutendem Maße geprägt. Seine Ideen sind nicht nur von zeitgenössischen und späteren Autor*innen umfassend rezipiert und weiterentwickelt worden. Ihr weitreichender Einfluss ist auch im modernen islamischen Bildungsdiskurs nach wie vor spürbar und für die islamische Religionspädagogik von erheblichem Interesse.

3.

Fazit

Rekapitulierend ist festzuhalten, dass a¯da¯b al-ʿa¯lim wa-l-mutaʿallim ein disziplinübergreifendes Genre innerhalb der klassischen arabischen Literatur darstellt, welches mehrere Gedankenansätze unter einem Dach subsumiert. Diese sind u. a. traditionell-religiös, philosophisch-ethisch und spirituell-mystisch ausgerichtet. In Bezug auf die traditionell-religiösen pädagogischen Ansätze ist festzuhalten, dass diese die A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur nicht nur in den Anfängen, sondern nachhaltig geprägt haben. Die Vertreter dieser pädagogischen Richtung stützen sich bei der Herleitung und Begründung der detail27 Inzwischen wurde dieses Traktat von der UNESCO in der Reihe Meisterwerke der Weltliteratur in zahlreichen Sprachen veröffentlicht.

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reichen Verhaltensregeln für Lehrende und Lernende vornehmlich auf koranische und prophetische Aussagen. Hinsichtlich der literarischen Darstellungsund Argumentationsstrategien in den betreffenden Schriften dominiert insgesamt ein überwiegend deskriptiver, oftmals belehrender Schreibstil. In textstruktureller Hinsicht ist zu konstatieren, dass die gesichteten Schriften in Bezug auf den Aufbau, die inhaltliche Kategorisierung und die thematische Reihenfolge große typologische Ähnlichkeiten aufweisen. Den Ausführungen zu den vielfältigen Verhaltensregeln der Unterrichtsbeteiligten werden meistens eine allgemeine Einführung in die Vorzüge des Wissenserwerbs sowie ein Überblick über den Stellenwert des Lehrenden und Lernenden und die Notwendigkeit der völligen Hingabe bei der Wissenssuche vorangestellt. Bei philosophisch-ethisch orientierten pädagogischen Ansätzen ist zu unterstreichen, dass ihre Vertreter sowohl religiöse als auch philosophische bildungstheoretische Wissensbestände umfassend rezipierten und in ihre pädagogischen Überlegungen einbezogen. Dabei scheuten sie sich nicht, neben den zentralen islamischen Quellen auch Konzeptionen wichtiger nichtmuslimischer Denker zu übernehmen, im Falle der nichtmuslimischen Philosophen vor allem jene des Sokrates und des Aristoteles, aber auch nichtmuslimischer Zeitgenossen, wie das Beispiel Miskawaihs zeigt, der bei einem christlichen Lehrer studierte und diesen rezipierte. Überdies ist festzuhalten, dass bei den betreffenden Ansätzen, aber auch bei spirituell-mystisch ausgerichteten Ideen Bildung und Religion in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. In diesem Zusammenhang gilt es, den Aspekt der religiös bedingten Pflicht der Bildung und die Stellung des Lehrers als eines spirituellen Vaters und menschlichen Gottes bei Miskawaih bzw. als eines fürsorglichen Vaters bei al-G˙azza¯lı¯ hervorzuheben. Diese vielfältigen Bildungsauffassungen klassischer muslimischer Autoren erlauben den Schluss, dass die A¯da¯b-al-ʿa¯lim-wa-l-mutaʿallim-Literatur das moderne Attribut »pädagogischdidaktisch« zu Recht für sich beanspruchen kann (vgl. dazu auch Günther 2013, S. 364). Sie markiert die Geburtsstunde und das klassische Erbe einer breit gefächerten, den Ideen sowie der Kreativität und Aufgeschlossenheit ihrer klassischen Autoren Ausdruck verleihenden islamischen Bildungstheorie und Religionspädagogik.

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Yas¸ar Sarıkaya

¯ ʾ in der islamischen Bildung und Die Rolle derʿulama Erziehung

Zusammenfassung Der vorliegende Artikel widmet sich der Stellung der ʿulama¯ʾ und ihrer Bedeutung im Zusammenhang mit Bildung und Erziehung. Zu Beginn werden die Herausforderungen benannt, welche sich bei der Auseinandersetzung mit dieser Thematik ergeben, und dazu einige grundlegende Erläuterungen vorgebracht. Anschließend wird das Thema in vier Schritten behandelt, die diesen Beitrag gliedern. Diese sind die Genese der Gelehrtenklasse, die Organisation der Gelehrten im System der osmanischen Ilmiye, der Zerfall des traditionellen Systems der Gelehrten und die Neuformierung angesichts der Säkularisierung sowie abschließend dieʿulama¯ʾ in der Moderne.

1.

Einführung

Der Begriff ʿulama¯ʾ (Sg. ʿa¯lim) bezeichnet eine Gruppe von muslimischen Spezialisten, die aufgrund ihrer – durch Absolvierung einer Theologieausbildung erworbenen – profunden Kenntnis der religiösen Disziplinen autorisiert und befähigt sind, religiöse Schriftquellen zu lehren und zu deuten, sich zu religiösen Themen zu äußern, Fragen zu beantworten und Urteile (Fatwas) abzugeben. Die ʿulama¯ʾ wirken jedoch nicht nur im religiös-theologischen Bereich, sondern darüber hinaus in den Bereichen Erziehung und Bildung sowie Justiz. Mithin handelt es sich dabei um einen Sammelbegriff für religiöse Fachleute (wie Rechts- und Hadithgelehrte, Koranexegeten etc.) und Amtsinhaber (wie Mufti, Richter, Lehrer etc.).1 Das Ansinnen, einen Artikel überʿulama¯ʾ zu schreiben, birgt eine Reihe von Herausforderungen. Die erste Schwierigkeit bereitet der Begriff der ʿulama¯ʾ 1 Zu einem Gesamtüberblick über die Rolle und Positionen der ʿulama¯ʾ im islamischen Mittelalter und im Modernisierungsprozess siehe Rahman (1984).

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selbst, der eine homogene Klasse von Gelehrten mit einer festen Struktur impliziert. Die Klasse der ʿulama¯ʾ besitzt indes seit den frühen Jahren des Islams einen heterogen-multiplen Charakter. Die zweite Schwierigkeit resultiert aus räumlichen, geografischen und periodischen Unterschieden. Um welcheʿulama¯ʾ handelt es sich – um dieʿulama¯ʾ der unterschiedlichen Gruppierungen, die sich in der Umayyadenzeit entwickelten, um jene der institutionalisierten Schulen und Systeme während der Abbasidenzeit oder um die, welche in der seldschukischen und osmanischen Zeit unter staatlicher Aufsicht organisiert wurden? Die dritte Schwierigkeit ergibt sich aus den verschiedenen religiösen, wissenschaftlichen und beruflichen Gruppen, die alle mit dem Titel ʿulama¯ʾ bezeichnet werden. So etwa stehen der Klasse der Rechtsgelehrten (fuqaha¯ʾ), die sich auf das islamische Recht spezialisiert haben, aber innerhalb verschiedener Rechtsschulen agieren, die Hadithgelehrten (muhadditu¯n) gegenüber, die sich mit der Si¯ ˙ cherstellung, Bewahrung und Tradierung der prophetischen Überlieferungen befassen. Eine weitere, aus Theologen (mutakallimu¯n) bestehende, Gruppe von ʿulama¯ʾ widmet sich der Verteidigung der islamischen Glaubensprinzipien. Darüber hinaus gibt es die Sufis, die ihre Autorität nicht aus ihrer Ausbildung in Schulen, sondern vielmehr aus ihrer Zugehörigkeit zu einer mystischen Bruderschaft beziehen, die gleichwohl keine homogene Struktur verbürgt – selbst innerhalb derselben Bruderschaften, Rechts- und Theologieschulen bestehen Differenzen bezüglich Ansichten und Praktiken. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten werde ich die Rolle derʿulama¯ʾ in Bezug auf Bildung allgemein, fragmentarisch und so weit wie möglich repräsentativ darstellen. Zu diesem Zweck bietet sich eine generelle und überblicksmäßige Betrachtung des Themas anhand der folgenden vier Hauptphasen an: a) Genese der Gelehrtenklasse, b) Organisation der Gelehrten im System der osmanischen Ilmiye: das Gelehrten-Establishment, c) Zerfall des traditionellen Systems der Gelehrten und Neuformierung angesichts der Säkularisierung, d) ʿulama¯ʾ in der Moderne. Dabei liegt der Fokus meiner Darstellung auf den sunnitischen Gelehrten, die insbesondere ab dem zwölften Jahrhundert die islamische Erziehung und Bildung und damit das sunnitisch-islamische Denken, von den Seldschuken und Osmanen bis hin zu weiten Teilen der gegenwärtigen sunnitischen Welt, maßgeblich geprägt haben.

Die Rolle derʿulama¯ʾ in der islamischen Bildung und Erziehung

2.

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Die Genese der Gelehrtenklasse

Die islamische Denktradition erkennt eine zentrale Autorität in Gestalt einer Institution wie der Kirche nicht an. Anstatt auf einer Institution beruht die religiöse Autorität im Islam auf eigener Expertise, dem fundierten Wissen und der Fachkompetenz eines Gelehrten in religiös-theologischen Disziplinen sowie auf dessen Anerkennung durch die Gemeinschaft. In vielen Moscheen etablierte sich bereits im ersten Jahrhundert der Hidschra eine Unterrichtsform (halqa), eine Art »Erwachsenenbildung«, in deren Mittel˙ punkt diverse religiöse Themen und Inhalte standen, die von einem Lehrenden oder Gelehrten den um ihn versammelten Studierenden vermittelt wurden. Oft gab es in einer Moschee mehrere solcher Lernkreise, und da die Moschee eine offene Institution war, stand es jedem frei, an jenem Kreis teilzunehmen, den er zu besuchen wünschte. Die Einrichtung der Studien- und Lernkreise geht wahrscheinlich auf einen Bedarf an Antworten auf neue Probleme zurück, die sich unter anderem aus der raschen geografisch-politischen Expansion des Islams in die benachbarten Kultur- und Zivilisationszentren ergaben. Religiöse Fachleute sahen sich vor die Aufgabe gestellt, auf Basis des Korans und der Sunna des Propheten bzw. der ersten Muslimgemeinde das religiöse Wissen zur Lösung bestimmter theologischer, juristischer und moralischer Fragen zu erschließen und aufzubereiten, damit es eine kongruente, islamisch-religiöse Tradition fixiere und ein islamkonformes Leben sicherstelle. Zur Lösung mancher Fragen mochte die Kenntnis der überlieferten prophetischen Praxis (Sunna) ausreichen, in vielen anderen Fällen jedoch wurde deutlich, dass es neue Wege, Systeme, Methoden und Begriffe zu entwickeln galt. Den Kern bildete dabei die Frage: Woran können wir uns orientieren – am überlieferten Wissen, das auf der göttlichen Offenbarung gründet, oder auch an der autonomen Anstrengung der menschlichen Vernunft? Daraus kristallisierten sich zwei Hauptansätze oder methodische Zugänge heraus. Die Schule der ahl al-hadı¯t (oft als »Traditionalisten« bezeichnet), vertreten ˙ ¯ insbesondere von den Theologen und Rechtsgelehrten Muhammad ibn Idrı¯s asˇ˙ Sˇa¯fiʿı¯ (gest. 819) und Ahmad ibn Hanbal (gest. 855), setzte sich für die Lehr˙ ˙ meinung ein, dass sämtliche Fragen und Probleme aus den Bereichen Recht, Theologie, Ritus und Ethik mithilfe der – im Koran und in den Hadithen überlieferten – Offenbarung gelöst und begründet werden müssten. Koran und Hadith seien dabei sowohl hinsichtlich ihres Ursprungs als auch im Hinblick auf ihren religiösen und epistemologischen Stellenwert gleichwertige Quellen. Beide zusammen enthielten – unmittelbar oder implizit, offen oder indirekt – Antworten auf alle gegenwärtigen und in Zukunft neu entstehenden Fragen, denn Gott habe im Koran sowie durch das Medium seines Propheten ein für alle Mal

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gesprochen. Die Aufgabe eines Lehrers oder Gelehrten liege darin, dieses fertige, konservierte Wissen zu entdecken und für das Volk aufzubereiten. Demnach war der Bereich des Religiösen der rationalen Durchdringung entzogen, kam es dem Menschen nicht zu, über Angelegenheiten der Religion frei und eigenständig nachzusinnen. Daher verzichten »Traditionalisten« auf eine eigene, vernunftbasierte Lösung bzw. selbständige Interpretation. Anders als die ahl al-hadı¯t standen Vertreter der ahl ar-raʾy (»Leute der freien ˙ ¯ Meinung«, »Rationalisten«), zu der die Hanafiten und die Muʿtazila zählen, für die Ansicht, dass religiöse Texte mithilfe der Vernunft nachvollzogen und ergründet werden können. Es gelte, über die tieferen Zusammenhänge und Gründe in den religiösen Quellen nachzudenken und daraus Normen oder Glaubensgrundsätze abzuleiten. Besonders gegenüber dem Hadith war diese Schule skeptisch, weshalb ihr ein kritischer Umgang mit Überlieferungen attestiert werden kann. Die lebendigen und kontroversen Debatten führten alsdann zur fortlaufenden Entwicklung islamisch-theologischer Disziplinen, darunter Koranexegese und Rechtslehre (fiqh), sowie zur Bildung und Genese lokaler Rechtstraditionen, die später in Rechtsschulen mündeten. Während die hanafitische Rechtsschule den Ansatz der »Rationalisten« verkörperte, setzte sich die Methode der »Traditionalisten« in den sˇa¯fiʿı¯tischen und hanbalitischen Rechtsschulen fort.

2.1

Die Entwicklung der Medrese als asˇʿarı¯tische Bildungsinstitution

Ab dem zehnten Jahrhundert wurden die Bildungsbestrebungen allmählich systematisiert und institutionalisiert. Neben Elementarschulen (kutta¯b, türk. Mekteb), deren Ursprung bis in die vorislamische Zeit zurückreicht, entwickelte sich die Medrese als ein Lernort für weiterführende und höhere Bildung in Zentralasien, im Irak und in Syrien und verbreitete sich dann rasch in der gesamten islamischen Welt. Den Gipfel ihrer Institutionalisierung erreichte die Medrese zweifellos während der Zeit des Seldschuken-Wesirs Niza¯ m al-Mulk um ˙ die Mitte des elften Jahrhunderts. Der Wesir führte die Erziehungs- und Bildungsaktivitäten, die zunächst in den und um die Moscheen in Form von individuellen Lesekreisen stattgefunden hatten, in den von ihm eingerichteten Niza¯mı¯ya-Medresen zusammen und baute sie zu einer Institution mit Plan und Ziel ˙ aus. Die darin systematisierte Bildungs- und Lehrtätigkeit wurde in Bezug auf das Programm und den Lehrstoff durch ihre spirituelle Kette (türk. silsile) bis in die Zeit des Propheten Muhammad zurückgeführt, in manchen Lehrbüchern sogar ˙ – über den Propheten und Gabriel – bis zu Gott selbst. Welches Theologieverständnis der islamisch-theologischen Ausbildung im islamischen Mittelalter zugrunde lag, lässt sich am besten am Beispiel der In-

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stitution der Medrese erschließen. Schon in der Gründungszeit lehrten an den Niza¯mı¯ya-Medresen in Bagdad und Nischapur die großen Gelehrten der Asˇʿa˙ rı¯ten. Es handelt sich dabei um eine Theologieschule mit sunnitisch-orthodoxen Lehrmeinungen, die sich an der Offenbarung orientierte und sich gegenüber freiem Denken und selbständigem Urteil despektierlich positionierte.2 Der berühmteste der asˇʿarı¯tischen Gelehrten war Abu¯ Ha¯mid Muhammad bin Mu˙ ˙ hammad al-G˙ azza¯lı¯ (gest. 1111), dessen theologisch-philosophische Ideen und ˙ Kommentare bis heute kontrovers diskutiert und bewertet werden. Vor ihm ˇ uwainı¯ (gest. hatte auch sein Lehrer Abu l-Maʿa¯lı¯ ʿAbdalmalik ibn Abdalla¯h al-G 1085), ebenfalls ein einflussreicher asˇʿarı¯tischer Theologe, an der Niza¯mı¯ya in ˙ Nischapur gelehrt.3 Auch Muhammad asˇ-Sˇahrasta¯ nı¯ (gest. 1153), der seine ˇ uwainı¯s Schülern absolvierte, unterrichtete drei Theologieausbildung bei al-G Jahre an der Niza¯miya in Bagdad.4 Neben al-G˙azza¯lı¯, der durch seine theologisch-philosophischen Diskurse wesentlich zur Entwicklung eines sunnitisch-theologischen Paradigmas asˇʿarı¯tischer Prägung beigetragen hat, spielte auch Fahraddı¯n ar-Ra¯zı¯ (gest. 1210), ebenfalls ˙ Asˇʿarı¯t, eine elementare Rolle in der traditionellen islamischen Hochschulbildung an der Medrese. Das von ihm systematisch konstruierte theologische Paradigma, welches bis zur Modernisierungsphase der islamischen Bildung gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschend bleiben sollte, wurde von seinen Schülern verbreitet: im Irak, Iran, in Transoxanien und Ostanatolien vor allem durch At¯ıraddı¯n al-Abharı¯ (gest. 1265) und dessen Schüler Qutbaddı¯n asˇ-Sˇ¯ıra¯zı¯ ¯ ˙ (gest. 1311) sowie Qutbaddı¯n ar-Ra¯zı¯ (gest. 1366) und im Osmanischen Reich ˙ ˇ urgˇa¯nı¯ (gest. 1413). unter anderen von Sayyid Sˇarı¯f al-G Die Asˇʿarı¯ten hatten nicht nur bei der Gründung und Entwicklung der Medrese entscheidend mitgewirkt. Auch die Lehrpläne sowie die im Lehrbetrieb der Medrese verwendeten Lehrbücher prägten sie nach ihrem Theologieverständnis. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich Werke der Asˇʿarı¯ten zu kala¯m und Logik (mantiq), die bereits zwischen dem zehnten und 14. Jahrhun˙ dert verfasst wurden, als Lehrbücher im Unterrichtswesen der Medrese etablieren konnten. Hierzu gehörten insbesondere die Werke al-Mawa¯qif von ʿAdud addı¯n al-I¯gˇ¯ı (gest. 1355) und al-Maqa¯sid von Saʿd addı¯n at-Tafta¯ za¯ nı¯ (gest. 1390). ˙ Das an der Niza¯mı¯ya vertretene theologische Paradigma bestimmte alsdann ˙ das gesamte Bildungswesen sowie die muslimische Gelehrsamkeit der sunnitischen Welt. Die Osmanen, die sonst der – eher rationalistisch orientierten – 2 Zu einer knappen Darstellung der Schule siehe Watt & Marmura (1985); Watt (1960). 3 Sein theologisches Werk al-ʿAqı¯da an-niza¯mı¯ya wurde von Helmut Klopfer unter dem Ti˙ tel Das Dogma des Imâm al-Haramain al-Djuwainî und sein Werk al-’Aqîdat an-nizâmîya ins ˙ ˙ Deutsche übersetzt. 4 Sein Kita¯b al-mihal wa n-nihal (»Buch der Gruppierungen und Glaubensrichtungen«) gehört zu den Standardwerken der islamischen Bildung und Gelehrsamkeit.

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hanafitisch-ma¯turı¯dischen Tradition angehörten, übernahmen beispielsweise das seldschukische Modell der Medrese, samt Organisation, Administration und Curricula. Auch an ihren Medresen wurde die geistige Kette für die theologischen ˇ uwainı¯ (gest. Wissenschaften im Allgemeinen über al-G˙azza¯lı¯ (gest. 1111), al-G 1084), Abdalqa¯hir al-Bag˙da¯dı¯ (gest. 1033) und Abu¯ Bakr al-Baqilla¯nı¯ (gest. 1077) bis zum Begründer des asˇʿarı¯tischen kala¯m, Abu¯ l-Hasan al-Asˇʿarı¯ (gest. 927), ˙ zurückgeführt (vgl. Karlıg˘a 1999). Die am meisten rezipierte Abhandlung zur sunnitischen Glaubenslehre in der theologischen Ausbildung an der osmanischen Medrese war al-ʿAqa¯ʾid des bereits erwähnten Theologen al-I¯gˇ¯ı, dessen theologische Ideen das sunnitisch-islamische Denken über Jahrhunderte hinweg bis ins 20. Jahrhundert maßgeblich prägten. Während al-ʿAqa¯ʾid in der ersten Ausbildungsphase an der Medrese – als Einführung in die islamischen Glaubenslehren – gelehrt wurde, studierte man in den höheren Jahrgängen zwei Kommentarschriften zu al-ʿAqa¯ʾid, die eine ˇ urgˇa¯nı¯ und die andere von Saʿdaddı¯n at-Ta¯fta¯za¯ni. Auch in von Sayyid Sˇarı¯f al-G der Abschlussphase der Ausbildung an der Medrese standen die Kala¯m-Texte der Asˇʿarı¯ten mit theologisch-philosophischen Erläuterungen am Programm. Dazu zählten vor allem al-I¯gˇ¯ıs al-Mawa¯qif fı¯ ʿilm al-kala¯m mit Kommentaren von alˇ urgˇa¯nı¯ (Sˇarh al-mawa¯qif) und at-Ta¯fta¯za¯ni (Sˇarh al-maqa¯sid). G ˙ ˙ ˙

3.

Die Organisation der Gelehrten im System der osmanischen Ilmiye: das Gelehrten-Establishment

Im Osmanischen Reich waren die Gelehrten hierarchisch in einer Institution organisiert, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts Ilmiye genannt wird (vgl. Majer 1978, S. 2, Anm. 4).5 Als Institution der erzieherischen, theologisch-juristischen Obliegenheiten war die Ilmiye einer der staatstragenden Pfeiler neben der Askeriye (Institution des Heeres) und der Kalemiye (Organisation der Zivilbürokratie) des Osmanischen Reiches (Findley 1980, S. 15). Der Einflussbereich der Ilmiye erstreckte sich auf das Erziehungs- und Rechtswesen sowie auf gewisse Verwaltungs- und Aufsichtsämter. An der Spitze der Ilmiye stand der ˇsaih al-isla¯m (türk. S¸eyhülislam), dessen ˘ Zuständigkeitsbereich alle Ämter der Ilmiye umfasste.6 Ihm unterstanden nicht nur alle Richter, die dem Volk Recht in Gegenständen des bürgerlichen und des Strafrechts sprachen, sondern auch alle Lehrer, welche in den Schulen wirkten, die Professoren, die, wiederum untereinander hierarchisch organisiert, an den 5 Zur osmanischen Ulema siehe Klein (2007). 6 Zur Entwicklung und Funktion des Amts des ˇsaih al-isla¯m siehe Uzunçars¸ılı (1988); Repp ˘ (1986).

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Medresen religiös-theologisches Wissen generierten sowie für die Ausbildung von Lehrern und Imamen sorgten, weiters die Muftis, welche als Gutachter in religiösen Fragen wirkten, und schließlich die Inhaber der religiösen Ämter, die in den Moscheen der Masse der Bevölkerung nahestanden. Als Oberhaupt der Körperschaft der Ilmiye war der ˇsaih al-isla¯m dem Großwesir gleichrangig – so ˘ wurde er fallweise zu Versammlungen in den Palast eingeladen, um seinen Rat in Fragen der Religion, des Gerichtswesens und in rechtlichen Angelegenheiten zu erteilen (vgl. Hammer-Purgstall 1827–1828, VI, S. 355; VII, S. 333; Uzunçars¸ılı 1988, S. 178).7 Die Gelehrten, die in nahezu allen Bereichen des sozialen, kulturellen und religiösen Lebens mitwirkten, definierten eine Form von Rechtgläubigkeit, an der jeder Einzelne die Korrektheit seines Glaubens und Handelns messen sollte. Dergestalt übten sie als religiöse Autoritäten eine Orientierungsfunktion aus und verkörperten eine Art soziale Kontrollinstanz in der muslimischen Gesellschaft. Als Inhaber wichtiger Posten in den juristischen und religiösen Institutionen – wie etwa Gerichten und Moscheen – sowie in Bildungseinrichtungen (mekteb und Medrese) dienten sie der Bewahrung und Tradierung einer einheitlichen sunnitischen Identität, um die muslimische Gesellschaft vor potenziellen Spaltungen bzw. vor nichtislamischen Tendenzen zu schützen, was ihnen andererseits ein faktisch weitreichendes Monopol auf die Beeinflussung oder Kontrolle verschiedener Bereiche der Gesellschaft sicherte. Dies stärkte die Kompetenz der Gelehrten in Bezug auf die Wissens- und Normenproduktion sowie zur Generierung und Vermittlung eines islamisch-orthodoxen Glaubens und Handelns.

3.1

Die Basis der Autorität der Gelehrten

Grundlage der Autorität der Gelehrten bildete das fundierte Fachwissen in den religiösen Wissenschaften, vor allem in der islamischen Jurisprudenz und den Textwissenschaften (Koran- und Hadithwissenschaften). Den Zugang zu diesen Disziplinen stellte die gute Kenntnis der arabischen Sprache sicher, der beim Verstehen und Interpretieren der arabischsprachigen religiösen Texte eine Schlüsselrolle zukam und die besonders den nichtarabischen Gelehrten Anerkennung verlieh. Das religiöse Wissen, speziell in theologisch-juristischen Fächern, das die Kompetenz zur Vermittlung verlieh, wurde im Zuge des Unterrichts an der Medrese in einer Lehrer-Schüler-Relation genealogisch weitergereicht und in von den Lehrern ausgestellten Zeugnissen dokumentiert. Diese 7 Nach Gibb & Bowen war seine Bedeutung in mancher Hinsicht größer als die des Sultans, kam es ihm doch zu, höchste Rechtsentscheidungen zu fällen und seine Zustimmung zu einer Kriegserklärung zu erteilen (vgl. Gibb & Bowen 1959, S. 85).

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Lizenzen (igˇa¯za) wiederum befähigten einerseits zur Weitertradierung des erlangten Wissens und verliehen andererseits dem Inhaber eine gesellschaftliche Autorität, kraft der der Gelehrte sodann als Lehrer, Professor, Mufti, Richter etc. tätig werden konnte. Ein zentrales Element der Autorität des Gelehrten war und ist zudem seine Anerkennung durch die muslimische Gesellschaft. Gesellschaftliches Ansehen erlangt der Gelehrte nicht nur dadurch, dass er über profunde Fachkenntnisse in Koran, Hadith und fiqh verfügt, sondern darüber hinaus durch sein mit den etablierten und kanonisierten Normen übereinstimmendes Denken und Handeln. Fehlt einem Gelehrten das gesellschaftliche Ansehen, wird seine Autorität je nach politischer Konstellation geschwächt, begrenzt oder sogar zunichte gemacht. Letzteres könnte zum Beispiel dann passieren, wenn der Gelehrte Ideen und Thesen öffentlich macht, die vom Mainstream-Islam abweichen. Darüber hinaus kann gesellschaftliche Anerkennung einem Gelehrten traditionellerweise auch aus einer bestimmten religiösen Bezeichnung erwachsen. Dies gilt vor allem für den Sayyid-Titel, der auf die genealogische – und auch spirituelle – Abstammung vom Propheten Muhammad verweisen soll. Die Sufis ˙ beispielsweise bedürfen dieses Status, den sie zuweilen bei einer Kontemplation (mura¯qaba) durch den Propheten Muhammad bestätigen lassen. Auf diese ˙ Weise wird versucht, dem Sufi nachträglich den Ehrentitel eines sayyid zu verleihen, eine Praxis, die sich in alten Genealogien häufiger findet (vgl. Pakalın 1993, S. 200). Der Sayyid-Status verhalf offensichtlich zu Ansehen und Autorität vor allem in Fragen der Religion, Ethik und Mystik. Dabei standen die Prophetenabkömmlinge in den muslimischen Gesellschaften schon seit den frühen Zeiten des Islams nicht nur in hohem Ansehen, sondern es wurden ihnen in fast jedem islamischen Land besondere soziale und rechtliche Privilegien zugestanden. Das galt auch für das Osmanische Reich, wo sie durch das Amt des naqı¯b alasˇra¯f, welches die Abstammung vom Propheten bescheinigte, vertreten waren. Das heißt jedoch nicht, dass sie immer zur herrschenden Klasse gehörten – tatsächlich rekrutierten sie sich aus allen Schichten und übten häufig sogar sozial niedere Berufe aus (vgl. Uzunçars¸ılı 1988, S. 161–172; Pakalın 1993, II, S. 647f.).

3.2

Das Verhältnis zwischen Sufis und Gelehrten

Hier sei darauf hingewiesen, dass neben dieser im Staatsapparat angesiedelten Klasse der Gelehrten eine weitere Gruppe einen gewissen Einfluss auf die Massen der muslimischen Gesellschaften hatte, nämlich die unterschiedlichen Orden angehörenden Sufis. Trotz sufismusfeindlicher Gutachten der orthodoxen, sich am äußeren Sinn der Schriftquellen orientierenden Gelehrten wie etwa Ibn alˇ auzı¯ (gest. 1201), Ibn Taimiyya (gest. 1328) oder Birgiwı¯ Mehmed Efendi (gest. G

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um 1573) haben sich im islamischen Mittelalter zahlreiche Orden entwickelt, die sich der Pflege innerer moralischer und religiöser Qualitäten widmeten, welche dem Individuum die spirituelle Nähe zum Propheten Muhammad bzw. zu Gott ˙ ˇ ala¯laddı¯n Muversprachen. Hierzu zählten insbesondere die Mevleviyye des G hammad bin ar-Ru¯mı¯ (gest. 1273), deren Anhänger auch die »tanzenden Der˙ wische« genannt werden, die Naqsˇbandiyya des Baha¯ʾaddı¯n Naqsˇband (gest. 1389), die in Zentralasien und im Osmanischen Reich (und heute in der Türkei) große Anhängerschaft fand, und die Halwatiyya des Pir ʿUmar Halwati (gest. ˘ ˘ 1347), die vor allem in Anatolien und auf dem Balkan starken Zulauf erfuhr. Alle diese Bruderschaften sind auch heute in weiten Teilen der islamischen Welt präsent (abgesehen von Ländern wie Saudi-Arabien, in denen die puritanische, antimystische Wahha¯bı¯ya die vorherrschende Rechtsschule darstellt) und wirken auch weiterhin im Bildungsbereich.8 Die Vereinbarkeit mystischer Übungen mit den theoretischen und praktischen Grundsätzen des orthodoxen Islams, die seit der islamischen Frühzeit einen Streitpunkt zwischen Rechtsgelehrten und Mystikern bildete, wurde durch Gelehrte wie Abu¯ Ha¯mid Muhammad al-G˙azza¯lı¯ (gest. 1111) und Abu¯ Saʿı¯d ˙ ˙ Muhammad al-Ha¯dimı¯ (gest. 1762) sunnitisch-islamisch mit Verweis darauf si˙ ˘ chergestellt und begründet, dass zahlreiche anerkannte Rechtsgelehrte zugleich als Sufis und viele Sufis zugleich als Rechtsgelehrte wirkten und, der anhaltenden Kritik zum Trotz, im Volk großes Ansehen genossen.9 Die Schriften zu Theologie, Recht, Ethik und Mystik von al-Ha¯dimı¯ beispielsweise, der selbst als Sufi der ˘ Naqsˇbandiyya-Bruderschaft fungierte, erfreuten sich großer Wertschätzung. Sie wurden in vielen osmanischen Medresen und im 19. Jahrhundert sogar in modernen Schulen als Kompendien und Lehrbücher der religiösen Wissenschaften verwendet. Neben al-G˙azza¯lı¯s Ihya¯ʾ ʿulu¯m ad-dı¯n (»Die Wiederbelebung der ˙ Wissenschaften von der Religion«) gilt al-Ha¯dimı¯s Moralkompendium (al-Ba˘ rı¯qa) seit Jahrhunderten bis heute als Grundwerk der sufischen und ethischen Erziehung in vielen Lesezirkeln von Nigeria bis Dagestan. Darüber hinaus ist es 8 Zu einer Gesamtdarstellung der islamischen Mystik und mystischen Bruderschaften siehe Schimmel (1985). In meinem Artikel Sufis und Gelehrte als Medresengründer und -patrone im osmanischen Konya (18.–19. Jahrhundert) habe ich gezeigt, wie auch die Sufis im osmanischen Konya des 18. und 19. Jahrhunderts im Bildungsbereich aktiv engagiert waren, um ihr Einflussgebiet zu erweitern (Sarıkaya 2009). 9 Die »Leute des Äußeren« vertraten die Auffassung, dass nur der Wortlaut von Koran und Hadith Quelle der Erkenntnis sei. Daher seien viele Praktiken der Sufis – etwa die intensiven Übungen und der Rückzug in die Klausur – eine Übertreibung und unerlaubte Neuerung (bidʿa) in der Religion. Die »Leute des Inneren« hingegen warfen ihren Antagonisten vor, die Religion auf äußere Regeln zu reduzieren und die Aspekte der Spiritualität des Islams zu missachten. Der Konflikt spitzte sich im 17. Jahrhundert so weit zu, dass es in Istanbul zu regelrechten Straßenschlachten kam, welche auch für die innere Sicherheit ein ernsthaftes Problem darstellten.

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ihm zu verdanken, dass bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der kleinen Stadt Hadim bei Konya ein überregionales Bildungszentrum (Moschee, Medrese, Sufi-Konvent etc.) mit großem Einzugsgebiet entstehen konnte. Er war es, der an diesem Ort ein umfangreiches Bildungsnetzwerk aufbaute und dafür sorgte, dass in Sufi-Konventen die Medrese-Bildung und die mystische Erziehung eng miteinander vernetzt waren.10 Nach al-Ha¯dimı¯ kommt der Hinwendung zu Ethik und Mystik, dem Studium ˘ der Methoden und Ansichten der Weisen und der Lebensweise der Sufis deshalb Bedeutung zu, weil die Beschäftigung mit der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh), dem Hauptfach im Lehrplan der Medrese, zwar lobenswert, aber nicht hinreichend sei – die bloße Hingabe an den fiqh lasse das Herz erstarren und mache es krank, und das kranke Herz sei weit entfernt von Gott. Rechtsgelehrte, die sich extrem dem fiqh hingeben und den Vorzügen der mystischen Erkenntnisse gegenüber blind sind, besäßen denn auch ein versteinertes Herz, da sie ständig mit »äußeren« und »weltlichen« Dingen zu tun hätten. Daher sei der bloße fiqh ohne Askese (zuhd) und Weisheit (hikma) nutzlos. Damit plädiert al˙ Ha¯dimı¯ eindeutig für die Harmonie von Recht (fiqh) und Mystik (tasawwuf) (vgl. ˙ ˘ al-Ha¯ dimı¯ 1884, I, S. 379). ˘ Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der klassischen Zeit die Aktivitäten der Gelehrten im Bildungsbereich von der Gründung einer Schule über Stiftungen bis hin zur Fixierung der Lehrpläne und Lehrbücher reichten. Mithin waren sie zuständig für die Ausbildung von Personal für die religiöse Bürokratie (Lehrer, Imame, Richter etc.). Aber auch die Tradierung des kanonisierten religiösen, juristischen und theologischen Wissens war ihre Aufgabe, kraft der sie faktisch ein anhaltendes Monopol auf das in der Gesellschaft herrschende Gottes-, Welt- und Menschenbild besaßen.

4.

Der Zerfall des traditionellen Systems der Gelehrten und seine Neuformierung angesichts der Säkularisierung

Bis zur Modernisierungsphase in der islamischen Welt ca. Mitte des 19. Jahrhunderts lag die große, monopolartige Macht im Bereich der islamischen Erziehung und Bildung in den Händen der ʿulama¯ʾ. Erst im Zuge der staatlichen Modernisierungspolitik (wie im Fall des Osmanischen Reichs und Ägyptens) im 19. Jahrhundert verloren die ʿulama¯ʾ allmählich an Einfluss. Reformen in den Bereichen Bildung und Recht engten ihre Tätigkeitsfelder ein, da der Staat kaum mehr auf die Unterstützung durch dieʿulama¯ʾ angewiesen war. Im Gegenteil: Die

10 Zu Leben und Werk siehe Sarıkaya (2005).

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Ilmiye-Bürokratie, in der klassischen Zeit eines der Grundorgane des Staates, wurde nun als nachhaltiges Hindernis für Modernisierung und Säkularisierung wahrgenommen. Zwar unterstützte ein Teil der ʿulama¯ʾ die staatliche Politik und übernahm sogar Aufgaben in den dafür eingesetzten Kommissionen. Diesbezüglich konnte Uriel Heyd (gest. 1968) zeigen, dass die Reformmaßnahmen Selims III. und Mahmûds II. vom Oberhaupt der Ilmiye mitgetragen wurden.11 Tatarcık Abdullah etwa forderte in einem dem Sultan vorgelegten Projekt die Übernahme westlicher militärischer Wissenschaften und Drilltechniken, die systematische Übersetzung technischer Werke ins Türkische sowie die Beschäftigung ausländischer Lehrer und Experten im Osmanischen Reich. Die Historiker Ahmed Cevdet und Ahmed Lütfi gehörten ebenfalls zu jenen ʿulama¯ʾ, die in ihren Arbeiten die Vorzüge und die Rechtmäßigkeit westlicher Erneuerungen hervorhoben.12 Viele andere Gelehrte wie Abdulhak Molla, Mustafa Behçet Efendi und Osman Saib Efendi beteiligten sich aktiv an der Einrichtung neuer militärischer und technischer Schulen (vgl. Berkes 1978, S. 180f.). Dennoch lässt sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich eine deutliche Ausgrenzung und Isolierung der Gelehrten beobachten. Traditionelle Institutionen wie Medresen wurden zwar noch nicht infrage gestellt, fanden jedoch kaum mehr staatliche Unterstützung. So existierten in der Folge jahrzehntelang zwei Arten von Bildungssystemen nebeneinander – das eine repräsentiert durch die traditionelle Medrese, das andere durch neu eingerichtete Schulen. Dieser Dualismus führte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Formierung zweier Typen von Gebildeten bzw. Intellektuellen, was wiederum geistige, soziale und kulturelle Spannungen nach sich zog. Auf die Politik des Staates, die die Klasse der ʿulama¯ʾ zunehmend diskreditierte und sogar als Ursache für Rückständigkeit ansah, reagierte ein Teil der ʿulama¯ʾ mit dem Slogan »Die Religion ist in Gefahr!« (»Din elden gidiyor!«). Im Zuge der ab dem 19. Jahrhundert innerhalb der muslimischen Gesellschaften (vor allem in Ägypten, Indien und im Osmanischen Reich) geführten Modernisierungsdebatten stellten viele muslimische Theologen und Intellektuelle die Plausibilität, Tragfähigkeit und Zeitgemäßheit der an den Medresen gelehrten islamisch-systematischen Theologie infrage. Insgesamt wurde das Medresensystem als Hauptgrund für den Niedergang des islamisch-theologischen Denkens ausgemacht. Wie Fazlur Rahman zu Recht betont, lag der Grund der Stagnation jedoch eher in der Art und Weise, wie die orthodoxe Gelehr11 Zu den Unterstützern unter den ʿulama¯ʾ gehörten Velizâde Mehmed Emin, Tatarcık Abdullah, Mehmed Tahir, Abdü’l-Vehhâb, Mustafa Asim, Mehmed Esad und Mustafa Behçet (vgl. Heyd 1993, S. 29f.). 12 Zu diesen und weiteren Beispielen siehe Heyd (1993, S. 30f.).

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samkeit ihre Lehrinhalte entwickelt hatte. Die asˇʿarı¯tischen Theologen definierten ihre Aufgabe als Verteidigung und Rechtfertigung der von ihnen festgelegten Glaubenslehren gegen »Häretiker«, mit denen in erster Linie die Muʿtazila und Schia gemeint waren. Diese Herangehensweise hatte zur Folge, dass »die orthodoxen Lehrinhalte vollkommen abgeschottet wurden von jeglicher Anfechtung, intellektueller Herausforderung und jeglichen Gegenargumenten durch Andersdenkende« (Rahman 2002, S. 259).13 Die traditionelle islamisch-systematische Theologie wurde auch hinsichtlich der Lehrmethode kritisiert. »Indem man sich auf das Studium bestimmter Bücher fokussierte und nicht die Themen in ihrer Komplexität im Blick hatte«, so Rahman, »förderte man eine Form des Lernens, die nicht auf fundiertem Verstehen, sondern auf sturem Memorieren basierte« (ebd., S. 260f.). Rahman verweist dabei auf den Umstand, dass in den späteren Jahrhunderten des islamischen Mittelalters keine Originalwerke, sondern lediglich umfangreiche Kommentare zu bereits bestehenden Werken verfasst wurden. »Diese Kommentarwerke konnten zwar viel Scharfsinn und Originalität aufweisen; auf grundlegendes, originelles Denken in einer bestimmten Thematik stößt man allerdings selten« (ebd., S. 262f.). Tatsächlich stellten die erwähnten Kommentare oder Subkommentare zu einem bereits verfassten und zum Standard erhobenen Werk die Lehrbücher und Lehrmaterialen der Medrese dar. Am Ende des Jahrhunderts waren viele Theologen in dem Wunsch einig, die traditionelle Medrese durch Aufnahme moderner Fächer und Übernahme geisteswissenschaftlicher Methoden des Westens zu erneuern.14 Der berühmte Reformtheologe Muhammad ʿAbduh beispielsweise gab einen wichtigen Anstoß zur Änderung des Curriculums der Azhar-Universität, der Hochburg traditionellen islamischen Lernens, das beispielsweise um moderne geisteswissenschaftliche und auch naturwissenschaftliche Fächer ergänzt wurde; darüber hinaus wurden Primar- und Sekundarstufe auf die hochschulische Bildung hin ausgerichtet (vgl. Rahman 2002, S. 268). Auch im Osmanischen Reich gab es seit Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Bemühungen um die Reformierung des Unterrichtswesens an der Medrese. Die weitverbreitete Überzeugung, dass die islamischen Wissenschaften den inhaltlichen und methodischen Bedürfnissen der Zeit nicht entsprächen, schlug sich im Ruf nach Erneuerung nieder, eine Forderung, die in wissenschaftlichen Kreisen immer stärkeren Nachhall fand. In der Folge erschienen zunächst neue Korankommentare im Bereich der Tafsı¯r-Wissenschaft. Im Bereich der islamischen Jurisprudenz wurde die Forderung laut, den Weg zur eigenständigen Interpre13 Die Übersetzungen stammen vom Verfasser. 14 Zu einer Übersicht über die Erneuerungsbemühungen im Osmanischen Reich siehe Sarıkaya (1997).

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tation, der im islamischen Mittelalter von konservativen Gelehrten für verschlossen erklärt wurde, wieder frei zu machen.

4.1

Dieʿulama¯ʾ in der Moderne

Erinnern wir uns zunächst an einige epochale Ereignisse und Entwicklungen, die im 20. Jahrhundert stattgefunden haben: Das Osmanische Reich, welches auf dem Millet-System aufgebaut war, zerfiel als Folge des Ersten Weltkrieges. Nach einem Unabhängigkeitskrieg gegen die Alliierten wurde 1923 die Republik Türkei als Nationalstaat gegründet. Weite Teile der islamischen Welt blieben jedoch noch einige Jahrzehnte unter Kolonialherrschaft. Eine traumatische Demütigung stellte insbesondere der Verlust Palästinas dar, ein Problem, das die islamische Welt bis heute herausfordert. Ägypten erlangte 1922, nach Jahrzehnten britischer Herrschaft, seine Souveränität zurück und wurde zu einem der ersten unabhängigen Staaten auf dem afrikanischen Kontinent. Pakistan wurde 1947 gegründet. Viele andere muslimische Staaten erlangten ihre Unabhängigkeit erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die neuen »unabhängigen« Staaten wurden nach dem Prinzip des Nationalstaats gegründet, folgten mithin einer Politik des nation building. Eine grundlegende Frage war daher jene nach dem Verhältnis zwischen Islam und Nationalstaat. Welche Rolle sollte oder durfte die Religion und damit die religiöse Geistlichkeit nun in einem säkularen Nationalstaat spielen? Die moderne Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk und Ismet Inönü (gest. 1973) war entschlossen, das »Niveau der modernen Zivilisation« zu erreichen und dafür Reformen durchzuführen, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens sukzessive nach den Prinzipien Laizismus und Nationalisierung bzw. Türkisierung umgestalten sollten. Der Abschaffung des Kalifats (1924) folgten die Schließung der Sufi-Konvente, die Ablösung des traditionellen Schulwesens (1924), die Übernahme des Schweizer Privatrechts (1926), das vor allem die Einehe, das Scheidungsrecht und die Gleichstellung von Mann und Frau garantierte, die Abschaffung des Islams als Staatsreligion und die Einführung des lateinischen Alphabets (1928).15 Die Religion wurde aus dem Curriculum der Schulen definitiv entfernt. Die radikale Nationalisierungspolitik erreichte ihren Höhepunkt in der hochumstrittenen Türkisierung des Gebetsrufs. Diese Politik kam von oben, sie wurde dem Volk von der bürokratischen Elite auferlegt und mithilfe zahlreicher Gesetze erzwungen. Um die Religion unter der Kontrolle des säkularen Staates zu halten, wurde eine zentrale Organisation geschaffen – das Diyanet oder »Amt für religiöse Angelegenheiten«, das jedoch in weiten Teilen der Gesellschaft über eine 15 Zu einer detaillierte Darstellung vgl. Berkes (1978).

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lange Periode hinweg keinen guten Ruf als kompetente Autorität in religiösen Fragen genoss. Eine der schmerzhaftesten Konsequenzen dieser Politik bestand darin, dass der Islam in den Untergrund geriet, wodurch islamische Erziehung und Bildung nunmehr illegal, hinter geschlossenen Türen, organisiert und erteilt wurden. Die gegenwärtigen religiösen Gruppierungen und Bewegungen in der Türkei – von den Süleymancıs über die Nurcus und Gülenisten bis hin zu Milli Görüs –, welche bereits jahrzehntelang auch im Bildungsbereich agieren und die Deutungshoheit in religiösen Fragen für sich beanspruchen, entstanden als Reaktion auf jene Politik des unerbittlichen Laizismus. Auch in Ägypten beobachten wir eine ähnliche Entwicklung. Muhammad Ali (gest. 1849) hatte bereits im 19. Jahrhundert – parallel zu den Reformen im Osmanischen Reich – zahlreiche Modernisierungsmaßnahmen eingeleitet, die ebenfalls zur Säkularisierung des öffentlichen Lebens führen sollten. Die Gründung der Muslimbruderschaft durch Hasan al-Banna¯, die sich im ganzen Mitt˙ leren Osten zu einer Massenbewegung entwickeln sollte, lässt sich unter anderem auch als Reaktion auf diese Politik verstehen. Gamal Abdel Nasser (gest. 1970) unterdrückte die Muslimbruderschaft im Namen der Ideologie des Arabismus. Im Iran betrieben die Pahlavi-Monarchen ebenfalls eine radikale Säkularisierungs- und Nationalisierungspolitik, die sich vor allem in der Entmachtung der ʿulama¯ʾ, der Wiederbelebung der alten persischen Kultur, im Ersatz der Scharia durch ein Zivilgesetz sowie im symbolträchtigen Verbot der traditionellen Kleidung manifestierte. Der aus dem öffentlichen Leben weitgehend verbannte Islam formierte sich fortan im Untergrund, getragen von – als charismatisch empfundenen – Gelehrten und Sufis, darunter Said Nursi (gest. 1960) und Süleyman Hilmi Tunahan (gest. 1959) in der Türkei, Hasan al-Banna (gest. 1949) und Sayyid Qutb (gest. 1966) in Ägypten sowie Abu¯ l-Aʿla¯ Maudu¯dı¯ (gest. 1979) in Pakistan. Diese dramatische Entwicklung führte zur Entstehung zahlreicher religiöser und politischer Gruppen, die das authentisch-islamische Wissen, die echte religiöse Erziehung und Bildung, letztlich die Wahrheit für sich beanspruchten und noch beanspruchen. Nicht nur in der Türkei, sondern auch und vor allem in der arabischen Welt wurde der Islam nachdrücklich zur Rechtfertigung politischer Interessen sowie als Medium zur Ideologisierung eingesetzt. Mithin war das 20. Jahrhundert, wie Ali Bardakog˘lu, ein zeitgenössischer Islamgelehrter aus Istanbul, beklagt, »geprägt vom Aufkommen und von der Konkurrenz verschiedener Ideologien. Muslime haben auf diese Entwicklung reagiert, indem sie den Islam als ein ideologisches und politisches System ins Feld führten, das mit den anderen Ideologien wie dem Sozialismus konkurrieren sollte. Damit wurde der Islam ein Teil der muslimischen Identitätskrise und Identitätspolitik, die vor allem vom Unterlegenheitsgefühl angesichts des wissenschaftlichen und tech-

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nischen Fortschritts des Westens angestoßen wurde. An die Stelle von Wissen und Vernunft traten Gefühle, Enttäuschungen und Wünsche« (Bardakog˘lu 2017, S. 22 [Übers. d. Verf.]). Wir haben es mit einem gegenwärtigen Problem zu tun, das die islamische Welt geistig, religiös und kulturell gefangen genommen hat. Die exklusivistischen und salafistischen Ideologien schöpfen ihre religiöse Rhetorik aus religiösen Schriften und Konzepten und begründen diese mit deren wortwörtlichen Auslegung ohne Beachtung des jeweiligen Kontextes.16

5.

Fazit

In der Ideen- und Bildungsgeschichte haben die muslimischen Gelehrten je nach Epoche und Land auf unterschiedliche Weise Einfluss auf die islamische Erziehung genommen. Seinen Höhepunkt erreichte ihr Einfluss unter der religiösen und rechtlichen Struktur des Staates in der klassischen Zeit, während er durch Modernisierung und Säkularisierung eingeschränkt wurde. In der Neuzeit wirken die Gelehrten weiterhin auf die Institutionen, die religiöse Bildung anbieten, ein. Es hat sich bereits ein neuer Typus von Gelehrten entwickelt, die lokal und global wirken und sich dabei moderner und digitaler Medien wie Fernsehen und Facebook bedienen. Ihr populärster und zugleich umstrittenster Vertreter ist Yusuf al-Qaradawi, der ungeachtet dessen, dass er seit 2017 von Saudi-Arabien und Ägypten auf der Terrorliste geführt wird, einen großen Einfluss auf die Massen der arabischen Welt hat. In der Türkei ist gegenwärtig eine Reihe von Fernsehpredigern populär, darunter etwa Nihat Hatibog˘lu, die auf nahezu alle Alltagsthemen, selbst auf Fragen, deren Erörterung einer fundierten Fachexpertise in Medizin, Wirtschaft, Psychologie oder Soziologie bedürfte, eine Antwort zu haben glauben. Sie propagieren generell ein konservatives Islamverständnis, wodurch sie besonders bei den Bevölkerungsschichten, die Neuerungen skeptisch gegenüberstehen, hohes Ansehen genießen. Gegenüber diesen populären traditionalistischen Gelehrten haben reformorientierte Theologen kaum eine Chance, ihre Ansätze und Thesen publik zu machen. In vielen Ländern werden sie, je nach politischen Gegebenheiten, vielmehr unterdrückt, denunziert oder ausgegrenzt. So musste der ägyptische Koran- und Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (gest. 2010) sein Land verlassen, ähnlich erging es dem pakistanischen Reformer Fazlur Rahman (gest. 16 Hierzu gehören Konzepte, die oft gerade Jugendliche stark bewegen, wie beispielweise der Traum von einem Leben in einem imaginierten »Islamischen Staat« sowie Begriffe wie »Kalifat«, kufr und »Märtyrer«.

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1988) und dem iranischen Philosophen Abdolkarim Soroush. In der Türkei werden Vertreter der »Ankaraner Schule« gegenwärtig zunehmend diskreditiert. In der Tat bildet diese Differenz zwischen Bewahrern und Modernisten die moderne Version der Schulen der »Traditionalisten« und der »Rationalisten.« Es ist eine Tatsache, dass traditionalistische Strömungen im Laufe der Geschichte die religiöse Bildung insgesamt und mithin das theologische Denken maßgeblich geprägt und bestimmt haben. Obwohl es viele Theologen und Intellektuelle gibt, die seit dem 19. Jahrhundert ein vernunftorientiertes, kritisch-reflexives und zeitgemäßes Religionsverständnis des Islams initiiert und unterstützt haben, ist das traditionelle religiöse Konzept in der islamischen Welt immer noch wirksam. Die Zukunft wird zeigen, ob sich dieses historische Schicksal der kulturellen und politischen Dominanz des traditionellen islamischen Denkens zugunsten der reformorientierten Gelehrten ändern wird und ob die gegenwärtig in Europa lehrenden und forschenden muslimischen Theolog*innen dabei eine Rolle spielen können und wenn ja, welche dies sein wird.

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I˙lhami Güler

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag werden unterschiedliche Aspekte der religiösen Autorität thematisiert. Dazu wird zu Beginn der theoretische Rahmen, der für diesen Themenbereich von Relevanz ist, beschrieben. Hierzu scheint es grundlegend, sich zuerst mit den Fragen auseinanderzusetzen, was überhaupt unter Autorität zu verstehen ist und welche Arten der Autorität zu unterscheiden sind. Daran anschließend wird die religiöse Autorität im Koran näher beleuchtet und hinsichtlich dessen dargestellt, welche Formen der Autorität von Gott im Koran besetzt werden. Auf einen Überblick über die Gruppen, die sich im Laufe der Geschichte mit der Autorität Gottes beschäftigten und über die von diesen eingenommenen Standpunkte folgt ein Kapitel zur Übertragung der göttlichen Autorität sowie ein weiteres über nach islamischer Sicht verwerfliche Autoritäten. Das letzte Kapitel widmet sich der Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit bzw. nach Gott sowie der Funktion von Gesetzen und dem Gewissen in diesem Kontext.

1.

Definition von Autorität

Autorität meint einerseits die Fähigkeit eines Subjekts, über die Köpfe anderer hinweg zu agieren, ohne dass diese sich dem widersetzen, selbst, wenn sie es könnten. Andererseits ist sie die Fähigkeit eines Subjekts, auch ohne Einvernehmen mit anderen auf diese einzuwirken. Das autoritär handelnde Subjekt verändert äußerliche menschliche Beziehungen, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen. Autorität begründet sich nicht durch die schiere Existenz des Subjekts, das sie besitzt, sondern durch dessen Eigenschaften. Nicht die Substanz bringt die Autorität hervor, sondern die Prädikation. Als das wichtigste Moment, das Autorität schafft, erweist sich der Umstand, dass das autoritäre Subjekt bei jenen,

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die ihm ausgesetzt sind, auf Wohlwollen und auf das Bewusstsein, in dessen Schuld zu stehen, trifft. Autorität bezieht ihre Legitimität aus dem Gefühl des Verschuldetseins. Das autoritäre Handeln besteht nicht in der Ausübung von Gewalt, sondern schließt diese vielmehr aus: Autorität entsteht aus Respekt, nicht aus Angst. Sie bringt Menschen dazu, etwas zu tun, was sie von sich aus nicht tun würden, und das ohne die Androhung von Gewalt. Der Gebrauch von Macht durch die Autorität – im Sinne von Nötigung und Bestrafung – kann nur dann als legitim und legal erachtet werden, wenn er sich gegen jemanden richtet, der sich Regeln und Gesetzen, die er aus freiem Willen als das einzige und absolute Recht akzeptiert und anerkannt hat, ungerechtfertigterweise und willkürlich beziehungsweise eigenmächtig widersetzt. Wird aber Macht willkürlich gebraucht, hat man es nicht mit Autorität, sondern mit Tyrannei zu tun. Ein Delikt, das sehr wohl Bestrafung rechtfertigt, ist die Uneinsichtigkeit in sein Dasein als Schuldner, die sich in Undankbarkeit, in Blasphemie oder im Verstoß gegen moralische und juridische Gesetze, die dadurch begründet sind, dass sie allen zugutekommen, äußert. Das Gesetz kann aber auch auf unfaire, rechtswidrige Weise durchgesetzt werden, sodass der Gehorsam ihm gegenüber nur durch Gewalt und Unterwerfung zu haben ist. In diesem Fall kommt Gehorsam weder freiwillig noch aufgrund von Respekt zustande. Diese Definition von Autorität beschreibt die grundlegenden Eigenschaften, die Gott – also seine Identität, seine Persönlichkeit und seinen Charakter – ausmachen: Sie besagt, dass er auf mich einwirken kann, ohne dass ich die Möglichkeit hätte, mich ihm zu widersetzen. Nun aber schreiben Menschen, die Gott als die höchste Autorität anerkennen, oftmals – unberechtigterweise – auch Normalsterblichen (Klerikern, Führungspersönlichkeiten, dem oder der Geliebten etc.) oder dem Staat, einer Partei, einer Nation, dem Geld oder der Gesellschaft eine göttliche beziehungsweise heilige Autorität zu, der sich zu widersetzen im Unterschied zur göttlichen Autorität sehr wohl möglich ist. Es genügt eben nicht, zu behaupten, dass die Autorität existiert – ihre Existenz muss auch begründet und gerechtfertigt sein; der Begründung bedürfen sowohl die Selbstbehauptung der Autorität als auch der Widerstand ihr gegenüber. Fehlt es an der Begründung und der Rechtfertigung, herrscht nicht Autorität, sondern lediglich Brutalität und Tyrannei. Der Grund, weshalb es in Religionen Aberglauben und Fanatismus gibt, liegt darin, dass Autorität ohne Begründung vorgestellt, mit anderen Worten Gott als absolute, konzentrierte Macht begriffen wird.1 1 Die hier verhandelte Theorie basiert auf den Darstellungen Alexandre Kojeves in seinem Werk Der Autoritätsbegriff (unter dem Titel Otorite Kavramı ins Türkische übersetzt von M. Ers¸en); siehe Kojeve 2004, S. 13–66.

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

1.1

187

Arten von Autorität

Legitime Autorität tritt auf menschlicher Ebene in drei Formen auf; eine vierte Form der Autorität entspricht der Tyrannei: a) die Autorität des Vaters beziehungsweise der Eltern über die Kinder; Begründung: Zeugung, Fürsorge, Schutz, Mitgefühl, Barmherzigkeit; b) die Autorität des Oberhaupts über das Volk; Begründung: Weisheit, Weitblick, Urteilskraft, Schutz; c) die Autorität des Richters; Begründung: Gerechtigkeit, Fairness; d) die Autorität des Herrn über den Knecht; Begründung: Risikobereitschaft, Brutalität. Die erste Form wurde von christlichen Theologen, die zweite von Aristoteles, die dritte von Platon und die vierte von Hegel als einzig legitime Autorität artikuliert. Als Beispiel für die erste Form werden die Autorität verstorbener Vorfahren, älterer Menschen oder Legenden über lebende Personen oder die Autorität des Autors über sein Werk angeführt. Die zweite Form kann an der Autorität des Verwalters, des Vorgesetzten, des Generalstabs, von Gelehrten oder Experten exemplifiziert werden. Die Autorität des Schiedsrichters, Senats, Inspektors, Geistlichen oder Zensors sind Beispiele für die dritte Form. Zur letzten Form zählen die Autorität der Aristokraten oder Soldaten über das Volk, die Autorität des Mannes über die Frau und die Autorität des Siegers über den Besiegten. Die Autorität des Herrn über den Knecht ähnelt der des Menschen über die Natur und Tierwelt – mit dem Unterschied, dass sich Natur und Tiere dem Menschen unbewusst und zwangsläufig unterwerfen, während sich der Knecht zwar ebenfalls zwangsläufig, aber – aus Angst – bewusst seinem Herrn unterwirft.

2.

Die religiöse Autorität im Koran

Gemäß der Thora fließen in die Autorität Gottes sämtliche dargestellte Formen der Autorität ein. Der Gott Jahwe ist gleichzeitig Vater, Oberhaupt, Richter und Herr. Gott, »der Herr über die Heere«, ist einer, dessen Zorn schnell »aufflammt« (Josua 7:1) und in dessen Verhalten gegenüber den Nichtgläubigen sich die Autorität des Siegers über den Besiegten geltend macht. Im Evangelium dagegen ist der »Herr der Himmel« nicht länger »Richter« beziehungsweise politisches »Oberhaupt«, sondern vor allem der »Vater unser im Himmel«. Im Koran ist Allah der Schöpfer (ha¯liq), der Herr der Welten (ma¯lik), Richter (ha¯kim) und ˙ ˘ Herr (rabb) – nicht im Sinne eines Despoten, sondern im Sinne eines Erziehers und (Schutz-)Herrn hinsichtlich seiner religiösen Beziehung zum Menschen, seinem Diener (ʿabd). Allah ist der Herr des Himmels und der Erde, der Herr

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188

über Mensch und Tier. Er waltet über freie Menschen, die einen freien Willen besitzen, wobei dieses Walten auf einer moralischen, rechtlichen Vereinbarung und einem Versprechen beruht und somit begründet ist. Die Beschreibung der religiösen Beziehung zwischen Allah und den Menschen im Koran als Beziehung zwischen Herr und Diener meint nicht, dass es sich dabei um die Autorität eines Patrons über seinen Sklaven handelt; vielmehr nimmt diese Bezug auf die damals bei den Arabern herrschende Gesellschaftsstruktur samt dem dazugehörigen sozialen Bewusstsein. Die allgemeine Beziehung Allahs zur Menschheit ist im moralischen, rechtlichen und politischen Sinne eine »Freundschafts- oder Feindschaftsbeziehung« (Koran 2:98, 2:257, 6:51, 4:45, 8:60 etc.2).

2.1

Schöpfer (ha¯liq) ˘

Allah ist der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Menschen, der Tiere und der Pflanzen. Er sorgt für alle Menschen, ohne dabei zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu unterscheiden. Er ist allerbarmend und barmherzig. Ihm verdanken alle Geschöpfe ihre Existenz. Als Gegenleistung für diese Gnade, diese Gunst, dieses Geschenk, diese Güte, dieses Erbarmen und dieses Wohlwollen erwartet er von den Menschen, dass sie kraft ihres Gewissens, das er ihnen bei ihrer Schöpfung verliehen hat, in Dankbarkeit erkennen/an ihn glauben (ı¯ma¯n) und ihn respektieren/ihm dienen (ʿiba¯da). Wer diese Gegebenheit nicht anerkennt und würdigt, dem fehlt es folglich an Ehrerbietung, Wertschätzung und Realitätssinn; der verhält sich somit unrechtmäßig, undankbar und wirklichkeitsfremd (ka¯fir).

2.2

Der Herr der Welten (ma¯lik)

Aus Erbarmen mit den Menschen beschloss Allah, sie rechtzuleiten (hida¯ya) und entsandte seine Propheten zu ihnen, um sie von der Falschheit ihrer erfundenen, gottvergessenen Weltanschauungen (sˇirk) zu überzeugen. Aufgrund seiner Weisheit und aus Verantwortung für die Zukunft der Völker richtete er mittels seiner Offenbarungen eine Ermahnung an die Menschen. Diejenigen, die sich gegen ihn, seine Warnungen und seine Propheten auflehnten, belegte er mit seiner Strafe. Er ist der »Herr der Menschen« (ma¯lik an-na¯s) (Koran 114:2). In seiner letzten Offenbarung stellte sich Allah den Arabern als »weiser König« (ma¯lik, ra’ı¯s) vor. Er besitzt Weisheit, er ist barmherzig, allerbarmend, verzei2 Alle zitierten Koranpassagen entstammen der Übersetzung von Abu-r-Rida¯ Muhammad ibn ˙ ˙ Ahmad ibn Rasu¯l. ˙

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

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hend, gerecht, allgewaltig, vergeltend und auch bestrafend (rahma¯n, rah¯ım, ˙ ˙ ʿafuww, g˙afu¯r,ʿadl, g˘abba¯r, muntaqı¯m und qahha¯r). In den politischen Verhältnissen, in denen sich die Muslime in Mekka und Medina befanden, stand er stets auf der Seite der Unterdrückten und Gerechten; er ermutigte sie zum Kampf und leistete ihnen Unterstützung; er betrachtete sie als seine Anhänger (hizb) (Koran 5:56), während er die Gegner der Muslime ˙ – einige religiöse Stämme und Götzendiener – als seine eigenen Gegner erachtete (Koran 8:60), nicht etwa wegen Blasphemie, sondern aufgrund ihrer Grausamkeit und Ungerechtigkeit (Koran 60:7–9). Er entwarf den Kriegsplan bei der Schlacht von Badr (Sure 8: al-Anfa¯l), er unterstützte die Muslime in kriegerischen Auseinandersetzungen und er ermahnte sie, wenn sie sich zu Übertreibungen und Grenzüberschreitungen hinreißen ließen (Koran 2:194, 2:231, 5:2). Während Allah gegen alle, die sich als undankbar, grausam oder despotisch erwiesen, mit angemessener Strenge vorging, begegnete er den Gläubigen und Gerechten stets mit Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Es ist unmöglich, die im Koran dargestellte Gewalt (blutige Kämpfe, gˇiha¯d, Bild der Hölle, Bürgerkriege) der frühislamischen Zeit von der anthropologischen Natur der Araber, die ihren Ursprung in der Unwissenheit (gˇa¯hilı¯ya) und in der Wüste hat (figˇar), voneinander getrennt zu betrachten. Der Koran lässt keinen Zweifel daran, dass Allahs eigentliches religiöses Ziel und sein eigentlicher religiöser Plan der Frieden und das Heil sind (Koran 3:186, 42:43, 4:128, 5:28).

2.3

Der Richter (ha¯kim) ˙

Gott will, dass die Menschen in ihrer Beziehung zu ihm und in ihren Beziehungen untereinander Gerechtigkeit walten lassen. Die Barmherzigkeit ist eine Tugend Gottes, die in seiner Beziehung zu den Menschen zur Geltung kommt. Seine absolute Macht gründet in seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Dabei wird Erbarmen in zwischenmenschlichen Beziehungen im Koran nur einmal empfohlen (Koran 90:17), weitaus wichtiger ist Gerechtigkeit – nach ihr sollen nach Allahs Willen alle Menschen auf Erden streben. Da das diesseitige Leben nicht zwangsläufig auf Gerechtigkeit beruht, müssen sie die Menschen selbst verwirklichen: »O ihr, die ihr glaubt, seid auf der Hut bei der Wahrnehmung der Gerechtigkeit…« (Koran 4:135) und »O ihr, die ihr glaubt! Setzt euch für Allah ein und seid Zeugen der Gerechtigkeit…« (Koran 5:8). Das ist der Hauptinhalt dessen, worüber die Menschen von Gott geprüft und im Jenseits beurteilt werden und wonach sie ihre verdiente Strafe (Hölle) oder Belohnung (Paradies) erhalten. Dabei wird niemandem auch nur ein Hauch von Ungerechtigkeit widerfahren.

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190

3.

Die göttliche Autorität in der Theologie

3.1

Die Rationalisten (Muʿtazila)

Die Ersten, die in der systematischen Theologie (kala¯m) über die Autorität Gottes nachgedacht haben, waren die Muʿtaziliten. Die ersten zwei ihrer fünf Grundprinzipien sind die Einheit Gottes und die Gerechtigkeit, die beide in Zusammenhang mit Allahs Autorität stehen. Gemäß den Muʿtaziliten basiert Gottes Autorität insbesondere auf der Autorität des Richters (Gerechtigkeit) sowie des einzigen Herrn und Schöpfers. Als Beweis dafür führen sie an, dass Allah den Menschen nichts auferlege, das sie nicht bewältigen können: Er erschaffe das Beste und Schönste für die Menschheit, und den Menschen werde im Jenseits das zuteil, was sie durch ihr Verhalten auf der Erde verdient haben. Es ist zu beachten, dass die hier erwähnten Verpflichtungen Gottes nicht ontologischer, sondern moralischer Natur sind. Der Mensch ist in Bezug auf sein Handeln frei. Das moralisch Gute und Schlechte zu entdecken ist Sache des menschlichen Verstandes und des Gewissens. Die Offenbarung beziehungsweise Allah befürˇ abba¯ r 1988, worten nur das Gute und verbieten das Schlechte und Böse (‘Abd al-G S. 301ff.).

3.2

Asˇʿarı¯ya

Im Gegensatz zu den Muʿtaziliten fassten die Asˇʿariten Gottes Autorität als die Autorität des Herrn auf. Allah ist derjenige, dessen Weisheit unerforschlich ist, der Allmächtige und der Allwissende. Für sein Handeln bedarf es keiner Gründe. Eine Sache oder eine Handlung ist deshalb gut, weil Allah sie als gut definiert, und sie ist schlecht, weil er sie für schlecht befindet. Eine Sache oder eine Handlung kann nicht von sich aus gut oder schlecht sein. Die Gerechtigkeit Gottes drückt sich darin aus, wie Allah über sein Eigentum waltet. Im Jenseits wird er nach Gutdünken die Ungläubigen in das Paradies und die Gläubigen in die Hölle schicken – die Menschen gelangen nicht deshalb ins Paradies und in die Hölle, weil sie es verdienen, sondern durch Allahs Willen. An seinen Taten hat der Mensch keinen Anteil, denn es gibt keinen Urheber beziehungsweise Schöpfer außer Allah. So ist der Mensch zwar äußerlich frei, jedoch im Grunde zu seinen Handlungen gezwungen. Der (partikuläre) Wille des Menschen ist von Gott erschaffen (al-Asˇ‘arı¯ 1975, S. 47ff.).

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

3.3

191

Ma¯turı¯dı¯ya

Bei der Ma¯turı¯dı¯ya wird Allahs Autorität als die Autorität des Oberhaupts, des Richters und des Vaters verstanden und Gott mit seiner Eigenschaft der Weisheit erklärt. Alle Taten Gottes basieren auf einem Zweck, einem Willen und einer Weisheit. Wie die Muʿtaziliten denken auch die Vertreter der Ma¯turı¯dı¯ya, dass Allah den Menschen nichts auferlegt, was sie nicht bewältigen können, und sie verteidigen die Ansicht, dass Gottes Weisheit sehr wohl ergründbar ist. Darüber hinaus betonen sie den freien Willen und die Verantwortung des Menschen und halten den menschlichen Verstand für fähig, selbständig zwischen Gut und Böse zu unterscheiden (al-Ma¯ turı¯dı¯ 2002, S. 22ff.).

3.4

Die Mystik (tasawwuf) ˙

Die Sufis beschrieben Gottes Autorität – in Anlehnung an die Vorstellung der Asˇʿarı¯ya – als Synthese aus der Autorität des Herrn und des Vaters. So wenig Bedeutung sie der richterlichen Autorität beimaßen, so gering schätzten sie auch die politische Autorität des Oberhaupts. Ähnlich wie die Christen verteidigten sie die bedingungslose Barmherzigkeit des Vaters und die absolute Herrschaft des Herrn, also den Schicksalsglauben. Die Theorie von der Einheit des Seins (wahdat ˙ al-wugˇu¯d) unterstützt die Autorität des Herrn, indem sie die gesamte Schöpfung ˇ a¯ birı¯, als Manifestation des göttlichen Willens zur Erschaffung versteht (vgl. al-G 1990, S. 251ff.).

4.

Die Übertragung der göttlichen Autorität

Autorität wird durch Vererbung, Wahl oder Ernennung übertragen und ist im Wesentlichen nicht an eine Person gebunden. Konkretisiert, realisiert und materiell ausgestattet wird Autorität von dem, der sie repräsentiert. Es ist nicht die Existenz dessen, der sie hervorgebracht hat und in Händen hält, das Autorität konstituiert, sondern dessen Handlungen und Attribute. Wer Handlungen setzt und Eigenschaften besitzt, die Autorität begründen, wird selbst zur Autorität. Während Allahs Autorität vollkommen und absolut ist, nimmt sie bei jenen, an die sie übergeht, ab, da diese nicht vollkommen sind. Die Propheten beziehen ihre Autorität kraft Ernennung. Sie verkünden den Menschen die Empfehlungen Gottes, die sie mittels Offenbarungen erhalten haben (Überbringer der Botschaft); diesen Empfehlungen entsprechend müssen sie sich auch selbst verhalten und die Empfehlungen, die sie aussprechen, dürfen nicht mit der göttlichen Offenbarung im Konflikt stehen.

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192 4.1

Die Autorität Muhammads ˙

»O ihr, die ihr glaubt, gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und denen, die unter euch Befehlsgewalt besitzen. Und wenn ihr über etwas streitet, so bringt es vor Allah und den Gesandten, wenn ihr an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag…« (Koran 4:59) »Aber nein, bei deinem Herrn; sie sind nicht eher Gläubige, bis sie dich zum Richter über alles machen, was zwischen ihnen strittig ist, und dann in ihren Herzen keine Bedenken gegen deine Entscheidungen finden und sich voller Ergebung fügen.« (Koran 4:65) »Wer dem Gesandten gehorcht, der hat Allah gehorcht…« (Koran 4:80)

Da Muhammad ein Mensch war, unterlag er in seinen Entscheidungen auch ˙ Irrtümern. In der Tat wurden manche seiner Entscheidungen von Gott korrigiert (Koran 9:43, 17:74, 80:1–10). Die an den Propheten übertragene Autorität ist jene eines Oberhaupts und Richters. Seine Aufgabe als Überbringer der Botschaft wird im Koran folgendermaßen beschrieben: »Rufe zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung auf, und streite mit ihnen auf die beste Art…« (Koran 16:125). Seine Pflicht ist es, die Menschen zu ermahnen und nicht, sie zu bedrängen (Koran 88:22). Als politisches Oberhaupt der muslimischen Gemeinschaft begab sich Muhammad an die vorderste Front, ging Risiken ein, ˙ stellte Strategien auf und kämpfte. Das Erbe der Muhammad als Prophet, Oberhaupt und Richter übertragenen ˙ Autorität, also die Dauerhaftigkeit und die Verbindlichkeit von Hadith und Sunna nach seinem Tod, wurde in der islamischen Jurisprudenz (usu¯l al-fiqh) ˙ heftig debattiert. Ahmad ibn Hanbal und asˇ-Sˇa¯fiʿı¯ vertraten die Meinung, dass ˙ ˙ sämtliche Hadithe und die Sunna – ähnlich der göttlichen Autorität – für alle Zeiten und für jeden definitiv verbindlich seien. Ima¯m Ma¯lik und Abu¯ Hanı¯fa ˙ dagegen behaupteten, dass, je nach der Natur der Rechtsbestimmungen, manche verbindlich seien und manche nicht. Diese Ansicht wurde auch von den Muʿtaziliten geteilt. Die Autorität des Oberhaupts, also die Muhammad von Allah übertragene ˙ politische Autorität, wurde bei den Sunniten an die Quraisˇ weitergegeben; bei den Schiiten wurde diese Autorität mittels der Ima¯ma¯t-Genealogie, im Rahmen der prophetischen Nachkommen (ahl al-bait) vererbt, während sie durch die Charidschiten überhaupt nicht weitergeführt wurde, da sie dort als richterliche Autorität verstanden wurde.3

3 Zur Autoritätsfrage nach dem Tode des Propheten im Sunnitentum, Schiitentum und der Ha¯rigˇ¯ıya vgl. Dabas¸i 1995; vgl. weiters Mebruk 2014, S. 113ff. ˘

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

4.2

193

Die Autorität der Gelehrten (ʿulama¯ʾ)

Die Formulierungen »die Gelehrten der Kinder Israels« (ʿulama¯ʾ banı¯ isra¯ʾı¯l, Koran 26:197), »die Leute der (früheren) Mahnung« (ahl ad-dikr, Koran 16:43), ¯ ¯ »diejenigen, die ein gründliches Wissen haben« (al-ra¯sihu¯n fi-l-ʿilm, Koran 3:7) ˘ und »die Rabbiner und Gelehrten« (ahba¯r, Koran 5:44, 5:63) beziehen sich auf die ˘ historischen jüdischen Gelehrten, deren Autorität – diesfalls als Richter – durch Gott bestätigt worden war. Davon, dass rechtschaffene und sachkundige Personen auch die Autorität zur Interpretation des Korans oder religiöser Inhalte übertragen bekamen, zeugen Passagen aus dem Koran, in denen es heißt »…die unter ihnen, die es entschleiern könnten…« (Koran 4:83) und »…in Glaubensfragen wohl bewandert…« (Koran 9:122). Jüdische Gelehrte, die diese Autorität nicht in gebührender Weise ausübten (Koran 5:63), wurden mit Eseln, die Bücher schleppen, verglichen (Koran 62:5). Was die Autorität der Gelehrten bestimmte, waren die Angemessenheit, die Glaubhaftigkeit und die Wahrhaftigkeit ihrer Begründungen sowie die Stärke der von ihnen vorgebrachten Beweise – und nicht zuletzt ihre moralische Qualifikation (Frömmigkeit).

4.3

Die Autorität der Vorgesetzten und Verwalter

An Formulierungen im Koran wie »…die unter euch Befehlsgewalt besitzen…« (Koran 4:59), »…die unter ihnen Befehlsgewalt besitzen…« (Koran 4:83) und die Eigentümer »…der anvertrauten Güter…« (Koran 4:58) lässt sich ablesen, dass die Autorität zur Lösung von das Allgemeinwohl betreffenden politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Problemen denen übertragen wird, die die nötige Qualität, Fähigkeit und Kompetenz besitzen. Diese Art von Autorität entspricht jener des Richters und Oberhaupts. In Vers 3:159 ergeht an den Propheten Muhammad der Befehl, sich – als Autorität – zur Lösung gesellschaftli˙ cher Probleme mit den Muslimen zu beratschlagen. An einer weiteren Stelle im Koran verlangt Allah, dass die Muslime ihre gesellschaftlichen Probleme durch Konsensfindung in einem Beratungskomitee (sˇu¯ra¯) lösen (Koran 42:38). Demnach kann politische Autorität auch per Wahl (igˇma¯ʿ) verliehen werden, und zwar sowohl durch die Mehrheit der Wähler als auch aufgrund der Qualifikation und der Eigenschaften des Gewählten. Freilich ist der Wille der Mehrheit nicht zwangsläufig immer richtig. Die göttliche Autorität wird nicht – wie es die Schiiten sehen – über Muhammad durch Vererbung an seine Kinder (ahl al-bait) ˙ weitergegeben; ebenso wenig ist den Sunniten recht zu geben, die – aufgrund des Hadiths »Die Imame (Kalifen/Verwalter) stammen von der Quraisˇ ab« – behaupten, dass die göttliche Autorität auf den in der vorislamischen Zeit (gˇa¯hilı¯ya) verwurzelten Stamm der Quraisˇ übertragen wurde.

194

I˙lhami Güler

Die grundlegenden Elemente der muslimischen Identität sind der Glaube und die guten Taten und dies schließt die Etablierung einer theokratischen oder aristokratischen Autorität im Islam aus. Die Autorität von dessen Repräsentanten leitet sich von ihrer moralischen Qualifikation und fachlichen Kompetenz ab. Die Erlaubnis zum Einsatz und zur Betätigung ihrer Autorität wird ihnen nicht durch Gott, sondern durch die Gunst des Volkes (Wahl, Abstimmung, Beratschlagung) zuteil. Sollten sie ungerecht handeln, ist das Volk von der Pflicht, ihnen zu gehorchen, entbunden und ihre Autorität verliert ihre Legitimität.

5.

Der »ewige Pakt« zwischen Gott und Mensch: Das Gewissen

Der Koran spricht davon, dass Gott beim Schöpfungsakt dem Menschen von seinem eigenen Geiste (ru¯h) eingehaucht habe (Koran 15:29). An einer anderen ˙ Stelle heißt es, dass den Menschen der »…Sinn für ihre Sündhaftigkeit und für ihre Gottesfurcht eingegeben…« (Koran 91:8) worden sei. In beiden Aussagen tritt als weitere Quelle der Autorität das Gewissen als moralische Eigenschaft und Urteilskraft zum Vorschein. Das Gewissen ist es, das in der Beziehung Gottes zu den Menschen seine Taten – den Schöpfungsakt ausgenommen – als der Autorität würdig anerkennt. Gott ist der Schöpfer des Gewissens, wird jedoch auch durch das Gewissen entdeckt und in der Waagschale des Gewissens gewogen. Allah hat sich im Koran in dieser Waagschale gewogen und uns präsentiert. Die Verteidigung der Einheit Gottes (tauh¯ıd) und seiner Attribute (asma¯ʾ al-husna¯) ˙ ˙ gegenüber dem Polytheismus (sˇirk) erfolgte durch das Gewissen. Die Religion als Beziehung zwischen Gott und den Menschen wurde metaphorisch mittels des »ewigen Paktes« etabliert. Im Gegenzug zu seinem immerwährenden Segen, seinem Wohlwollen, seiner Gunstbezeugung, seinem Geschenk und seinem Erbarmen, die er den Menschen zuteilwerden ließ, verlangt Allah, dass diese sich gemäß ihrer aus der Dankbarkeit des Glaubens und der Gottesdienste (ı¯ma¯n und ʿiba¯da) resultierenden Verantwortung verhalten. Um sich dessen zu vergewissern, fragte er das Gewissen der Menschen: »Bin Ich nicht euer Herr?« Dieses erwiderte: »Doch, wir bezeugen es« (Koran 7:172). Die religiöse Beziehung zwischen den Propheten und den Völkern, denen sie entsandt wurden, wurde vertraglich weitergeführt (Koran 2:27, 3:81, 4:21, 5:70). Das Gewissen ist das Selbst und der Kern des Menschen, der in der Lage ist, ein moralisches Urteil hervorzubringen. Jeder, der Verstand hat, kann diesen Kern aktivieren (Koran 2:179, 3:190, 13:19, 38:43 etc.). Eine andere Bezeichnung für das Gewissen ist Einsicht (bas¯ıra): »Nein, der Mensch ist Zeuge gegen sich selber, auch wenn er seine ˙ Entschuldigung hervorbringt« (Koran 75:14–15).

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

5.1

195

Das Gewissen als Sehen und Hören

Die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, eben das Gewissen, wurde im Koran auch im übertragenen Sinn als Sehen und Hören ausgedrückt. Wer die Zeichen (a¯ya¯t) Allahs in der Natur (Sonnensystem, Erde und alles darauf Befindliche) sehen und in seiner Offenbarung hören kann, hat ein Gewissen. Sehen und Hören schärft den Sinn für gewissenhaftes Handeln. »…Es sind jene, die auf das Wort hören und dem Besten von ihm folgen…« (Koran 39:18). »Und wenn der Koran verlesen wird, so hört zu und schweigt in Aufmerksamkeit, auf dass ihr Erbarmen finden [euch inspirieren lassen, Anm. d. Verf.] möget« (Koran 7:204). Es gibt unzählige Verse, die auf die Naturereignisse hindeuten und mit den Worten »Seht ihr denn nicht…?« beginnen. 5.1.1 Das Herz, der Verstand und die Weisheit des Nachdenkens Im Koran ist das im religiösen Kontext im Sinne des Gewissens Denkende das Herz. Das Herz bringt sowohl den Verstand als auch die Fähigkeit zum moralischen Empfinden des Menschen zum Ausdruck. Religiöses Handeln wiederum setzt unweigerlich das Nachdenken (Begreifen, Überlegen, Sich-Erinnern) voraus – die Nachahmung, der blinde Glaube und die Selbstverpflichtung gegenüber den Vorfahren werden als Autorität abgelehnt. Die Idee im Koran ist jene der vollendeten Weisheit (hikma ba¯lig˙a, Koran 54:5). »…Und wem da Weisheit gegeben ˙ wurde, dem wurde hohes Gut gegeben…« (Koran 2:169). Der Prophet beziehungsweise die Offenbarung kann nur diejenigen zum wahren Glauben leiten, deren Gewissen »lebendig« ist (Koran 36:70). Anders als die Bedeutungen der arabischen Begriffe der gedanklichen Genauigkeit (dabt), des Verbindens (rabt), ˙ ˙ ˙ des Aufhörens (kaff) und des Unterscheidens (farq) sowie der lateinischen Termini causa und ratio und des griechischen logos ist der Verstand nicht im Sinne der physischen, ontologischen, natürlichen Logik zu verstehen, sondern umfasst vielmehr ein moralisch-religiöses Verständnis beziehungsweise eine moralisch-religiöse Interpretation. Es ist die Autorität dieses Verstandes, die den Glauben und die guten Taten hervorbringt. Der Koran spricht nicht über Wissenschaft (Wirklichkeit/Tatsache), sondern über Wissen (Wahrheit oder Unwahrheit). Das türkische Sprichwort »Ein schwacher Baum trägt keine Früchte« (»Tohumu çelik olanın, meyvesi olmaz«) deutet an, dass der Glaube nicht durch den reinen Verstand (Kausalität, Philosophie) hervorgebracht werden kann.

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6.

Verwerfliche Autoritäten

6.1

Die Autorität des inneren Triebes (nafs) und der persönlichen Begierde (hawa¯)

Die hier vorgenommene Analyse zielt nicht auf die kategorische Ablehnung der Instinkte oder Wünsche – schließlich sind dies grundlegende Elemente der biopsychischen Integrität des Menschen, die ihn am Leben erhalten. Die Instinkte oder den inneren Trieb (nafs) abzutöten, mag die Absicht mancher Mystiker sein, ist aber nicht der religiöse Anspruch des Korans. Was dieser kritisiert, ist, dass diese Wünsche und Instinkte derart überhandnehmen und vom gesamten Selbst in einer Weise Besitz ergreifen, die die Aktivierung des Gewissens – ein weiteres Grundelement des Menschseins – und der moralischen Natur verunmöglicht. Als Prozess der Entfremdung hindert eine solche Entwicklung den Menschen daran, sich ein moralisches, konsequentes und kohärentes Selbst im Sinne eines inneren Triebes aufzubauen. Wenn Menschen ihre alltäglichen Beziehungen oder Situationen, die sie beobachten, als wertvoll oder wertlos beziehungsweise als gut oder schlecht einstufen, dann tun sie dies hauptsächlich in Bezug auf ihre eigenen zufälligen individuellen Beziehungen zu diesen, also im Lichte der eigenen individuellen Bedingungen. Hierbei handelt es sich um die Bewertung einer Handlung hinsichtlich ihrer Konsequenzen für den, der sie bewertet. Der Nutzen beziehungsweise der Schaden, den der Bewertende von einer Handlung erwartet, wird der Handlung als ihr Wert zugeschrieben. Der erste Schritt der Beurteilung, also der Blick auf die Ursachen der Handlung, wird übersprungen und der Nutzen oder der Schaden, den diese Handlung zufällig für den Bewertenden hervorbringt, also die indirekte Folge der Handlung, wird zum Maßstab ihres Werts erhoben. Ein individuelles Werturteil wird gefällt und dann wird dieses individuelle Werturteil der Handlung als Eigenschaft, das heißt als Wert, zugeschrieben (Kuçuradi 1988, S. 8). Ali Schariati beschreibt den inneren Trieb als den stärksten, stabilsten und am schwierigsten zu überwindenden der vier »Kerker«, die den Menschen daran hindern, seine Freiheit zu erlangen und moralische Kreativität zu entfalten (die anderen drei Kerker seien die Natur, die Geschichte und die Gesellschaft). Anders als den Kerkern der Natur, der Geschichte und der Gesellschaft, denen durch kritisches Denken zu entkommen sei, sei dies beim Kerker der Triebe äußerst schwierig. In diesem Fall kann der Mensch, wenn er über »sich selbst« spricht, nicht begreifen, dass dies das ihm innewohnende freie Ich [Gewissen, Anm. d. Verf.] ist, dass er als »sich selbst« nur eine echte und allgemeine Person wahrnehmen kann (Schariati 1984, 78ff.). Der schwer zu identifizierende Instinkt, das Verlangen und die intensive Lust, die zu den grundlegenden Elementen der menschlichen Natur gehören und sich

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

197

immer als »normal« darstellen, werden im Koran als hawa¯ bezeichnet (Koran 48:14, 7:176, 25:43, 23:71 etc.). Es ist ziemlich schwierig, diese Außenwand, von der das menschliche Gewissen umgeben ist, zu überwinden. »Und wenn ihnen gesagt wird: ›Stiftet kein Unheil auf der Erde!‹, so sagen sie: ›Wir sind doch die, die Gutes tun.‹« (Koran 2:11). »Sprich: ›Sollen Wir euch die nennen, die bezüglich ihrer Werke die größten Verlierer sind? Das sind die, deren Eifer im irdischen Leben in die Irre ging, während sie meinten, sie täten gar etwas Gutes.‹« (Koran 18:103–104). Die Antwort der Midianiter auf die Warnungen des Propheten Jitro (Sˇuʿayb) lautete: »…Heißt dein Gebet, dass wir das verlassen sollen, was unsere Väter anbeteten, oder dass wir aufhören sollen, mit unserem Vermögen das zu tun, was uns gefällt? Du bist doch wahrlich der Milde und der Mündige!« (Koran 11:87). Das ist die instrumentelle, verstandesmäßige Rechtfertigung und die Anpassung der unterdrückerischen, verführerischen und zwingenden Instinkte und Begierden (hawa¯) an das gesellschaftliche Denkmuster durch die selbstsüchtige Intelligenz. Das Gegenteil der Begierde ist die Wahrheit. Der Koran beschreibt die Konsequenz davon, dass die Begierde statt der Wahrheit zur Kultur, zum Lebensstil oder zur Weltanschauung wird, folgendermaßen: »…Und wenn die Wahrheit sich nach ihren Begierden gerichtet hätte; wahrlich, die Himmel und die Erde und wer darin ist, wären in Unordnung gestürzt worden…« (Koran 23:71). Als Summe der zahllosen Interessen, leidenschaftlichen Wünsche und zügellosen Triebe verdeckt die Begierde das Gewissen, dem allein die Fähigkeit zur richtigen Einschätzung zukommt, indem sie das Ich zur Gänze umhüllt (Koran 2:34, 7:146, 74:23 etc.). In diesem Fall fängt der Mensch an, sich als kompetent zu betrachten (istig˙na¯, Koran 80:5, 92:8). Dies ist eine wichtige Quelle für alle Arten von Unmoral: »Doch nein! Der Mensch übt Gewalttätigkeit, weil er sich im Reichtum sieht« (Koran 96:6–7). Das ist nicht nur die Tragödie des Satans (Koran 2:34), sondern auch die Lage besessener Menschen. Ein Mensch, der seine Begierden vergöttlicht, gerät unweigerlich in Verwirrung, da seine Ohren und sein Herz für die Wissensvermittlung versiegelt und seine Augen geblendet sind (Koran 45:23). Somit wird er sich selbst fremd. Das ist das, was der Koran bezüglich der Moral als ketzerische Auffassung und Sünde bezeichnet, wenn er das Verdecken der Wahrheit oder des Gewissens meint.

6.2

Die Autorität von Gemeinschaft, Kultur, Tradition und Geschichte

Als soziales Wesen übernimmt der Mensch im Laufe seines Lebens die kulturell definierten moralischen Werte der Gesellschaft, in die er hineingeboren und in der er aufgewachsen ist. Sein Bewusstsein, sein Ego und seine Persönlichkeit werden diesen Werten entsprechend geformt. Freuds Konzept des »Über-Ich«

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kristallisiert alle Wertcodes, die es in sich trägt, als Gewissen, Ego und Persönlichkeit des Individuums, das ein Mitglied der Gesellschaft ist, heraus. Normalerweise handelt und sozialisiert sich das Volk so, dass es die dominierende soziale Ordnung weiterführt, ohne die herrschende Rechtsordnung zu verletzen, und ein Individuum, das gegen die soziale Ordnung und die Rechtsordnung handelt, fühlt sich schuldig. Die menschliche Zivilisation entwickelt sich durch soziale und kulturelle Organisationen und wird auch von diesen fortgesetzt. Diese Strukturen dringen ab dem Säuglings- und Kindesalter in jedes einzelne Individuum ein und bestimmen sein Selbst. Aus diesem Grund fühlt sich das Kind schuldig, wenn es aufwächst und diese Strukturen aufbricht (Roth 2001, S. 17). Folglich ist das Über-Ich als gesellschaftliches Gewissen beziehungsweise öffentliche Meinung das Gewissen, das geerbt wird. Kuçuradi beschreibt die Art und Weise, wie das Individuum im Alltag moralische Bewertungen vornimmt, indem es die ethischen Werturteile und -muster der Gesellschaft, in die es hineingeboren wurde, verwendet, folgendermaßen: »Von reellen Werten kann dann die Rede sein, wenn die Wertzuschreibung nicht inszeniert und von Gruppendynamiken beeinflusst wird, durch die ein Individuum sich gezwungen fühlt, ›Ja‹ zu sagen, sondern der moralische Charakter im Vordergrund steht. Das, was bei einer solchen Bewertung gemacht wird, ist die Übertragung einer bereits zuvor als gut oder schlecht definierten Verhaltensweise auf ein Verhalten, mit dem man konfrontiert wird. Außerdem wird hier auch durch ein einfaches Nachdenken – gemäß dem allgemeinen Werturteil – eine Schlussfolgerung bezüglich des Verhaltens gezogen, denn das spezifische Werturteil des Individuums, also der Wert, der einer Handlung und einem Verhalten beigemessen wird, ist nichts anderes als eine logische Folgerung. Auf diese Art bewerten in der Regel bigotte Menschen. Das ist der Bewertungsstil der Gruppen (Gesellschaften/Kulturen), die die fest verwurzelten Werturteile, die das Verhalten bestimmen, als endgültige und wahrhaftige Größen betrachten und diesen daher den höchsten Wert zuweisen. Dadurch verspüren sie die Notwendigkeit, sie beschützen zu müssen, sehen des Weiteren die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe als die wichtigste Eigenschaft an und messen somit dieser Mitgliedschaft den höchsten Wert bei.« (Kuçuradi 1988, S. 18)

Dies ist mehr oder weniger die Art und Weise der Beurteilung verschiedener religiöser, kultureller und ethnischer Gruppen und Gesellschaften auf der Welt. »Im Allgemeinen hat der Mensch nach seinem Tod mehr Autorität, als er im Leben hatte. Das Testament hat mehr Autorität als der Befehl eines lebenden Mannes [›Aus einem Kalb wird kein Ochse.‹ oder ›In den Augen der Mutter bleibt das Kind immer ein Kind.‹, Anm. d. Verf.]. Das gegebene Wort ist nach dem Tod der Person noch verbindlicher als davor. Die Gebote des verstorbenen Vaters werden strenger eingehalten als zu dessen Lebzeiten. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass es unmöglich ist, gegen einen Toten vorzugehen; daher haben die Toten per definitionem Autorität. Und die Unmöglichkeit, sich dieser zu widersetzen, gibt der Autorität der Toten eine göttliche/ heilige Eigenschaft. Die Ausübung der Autorität durch den Verstorbenen verursacht

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

199

keine Gefahr für ihn selbst. Von daher kommt die Stärke oder Schwäche dieser Autorität. Kurz gesagt handelt es sich hierbei um eine besondere Form göttlicher Autorität.« (Bergson 1986, S. 86)

Die Autorität der Tradition, der Geschichte und der Gesellschaft stellt eine Mischung aus der Autorität des Vaters und des Herrn dar. Die Gesellschaft, die den Koran erhielt, war – wie alle anderen auch – eine, in der die Tradition, der polytheistische Glaube und eine fest verwurzelte Kultur vorherrschten, die das individuelle Bewusstsein und das tiefgründige Gewissen des Einzelnen verdeckten und vernichteten. Auf die Bestrebungen des Korans, das individuelle Bewusstsein zu befreien und das Gewissen wiederzubeleben, erwiderten die Menschen dieser Gesellschaft: »… ›Nein! Wir folgen dem, bei dem wir unsere Väter vorgefunden haben.‹« (Koran 2:170), »… ›Uns genügt das, wobei wir unsere Väter vorfanden« (Koran 5:104) oder »Und wenn sie eine Schandtat begehen, sagen sie: ›Wir fanden unsere Väter dabei …‹« (Koran 7:28). Der Koran lehnt das Beharren der polytheistischen Araber auf ihrer aus der Vergangenheit übernommenen Tradition und Kultur als unumstößlicher Richtschnur unter Berufung auf seine eigene Botschaft strikt ab: »O ihr, die ihr glaubt, nehmt nicht eure Väter und eure Brüder zu Beschützern, wenn sie den Unglauben dem Glauben vorziehen…« (Koran 9:23). Außerdem sind jene, die bedingungslos und ohne zu hinterfragen sagen »… ›Unser Herr, wir gehorchten unseren Häuptern und unseren Großen…‹« (Koran 33:67), diejenigen, welche die Prüfung nicht bestanden haben und in die Hölle kommen werden. Diese Tendenz, die im Allgemeinen vom Bedürfnis des einfachen Menschen nach Schutz und Sicherheit oder von seiner Trägheit herrührt, konzeptualisierte Bergson im religiösen und moralischen Kontext als »statischen Glauben« und »statische Ethik«. Diese Art von Moral und Religion entsteht aus Gewohnheiten und ist gesellschaftlich, konservativ und unpersönlich. Diese Religion und Moral ist ein Vorzug von geschlossenen Gesellschaften: »Die Gruppe befindet sich bereits im Ich des alleinlebenden Individuums, sie treibt es an oder bedroht es. Sie möchte vom Einzelnen, dass dieser auf sie hört und sich ihrem Befehl unterwirft. Hinter der Gesellschaft gibt es übernatürliche Kräfte, an die die Gruppe gebunden ist und die die Gesellschaft für das Handeln des einzelnen Individuums verantwortlich machen…« (Kojeve 2004, S. 21)

Erich Fromm bringt die Tatsache, dass die Gedanken, die das Individuum für seine eigenen hält, eigentlich die der Gesellschaft sind, folgendermaßen zum Ausdruck: »Die Entfremdung des Denkens ist nicht viel anders als die Entfremdung des Herzens und der Emotionen. Oft glaubt der Mensch, dass er etwas völlig durchdacht hat und dass seine Auffassung das Ergebnis seines eigenen Denkens ist. Aber in Wirklichkeit hat er sein Ich und sein Denkvermögen den Idolen der Öffentlichkeit, der Medien oder des

200

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Staates übertragen. Obwohl er glaubt, dass diese Idole seine eigenen Gedanken ausdrücken, ist es in Wirklichkeit so, dass er ihre Gedanken als die seinen akzeptiert, weil er sie zu seinen Göttern der Weisheit und der Erkenntnis gemacht hat. Aus eben diesem Grund wird er zu einem Sklaven, der von diesen Idolen abhängig ist, weil er sein Denkvermögen ihnen überlassen hat.« (Fromm 1973, S. 73)

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sich Fromm auf den Zustand des Gewissens in modernen, sogenannten offenen, und nicht in traditionellen, geschlossenen Gesellschaften bezieht. Hinsichtlich der Tatsache, dass eine Person ihr persönliches, individuelles Gewissen nicht verwirklichen kann, gibt es aber keinen Unterschied zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften. Das, was der Koran als »den Gehorsam gegenüber der Lebensweise der Vorfahren«, was Kuçuradi als »Wert beimessen«, Freud als »Über-Ich« und Bergson als »statischer Glaube« und »statische Ethik« bezeichnet, nennt Fromm »autoritäres Gewissen«: »Das autoritäre Gewissen ist die Stimme einer verinnerlichten externen Autorität, der der Eltern, des Staates, der Gesellschaft oder einer anderen Autorität in der Kultur, in der man lebt. Es ist nicht möglich, über das Gewissen zu sprechen, solange die Beziehungen der Menschen zu den Autoritäten – abgesehen von den moralischen Sanktionen – äußerlich sind. Weil ein solches Verhalten durch die Angst vor der Bestrafung und die Hoffnung auf eine Belohnung gelenkt wird, ist es immer abhängig von der Existenz dieser Autoritäten, von ihrer Kenntnis dessen, was der Mensch tut, und von ihrer Macht beziehungsweise Fähigkeit, den Menschen zu belohnen oder zu bestrafen.« (Fromm 1991, S. 145f.)

Je nach moralischer Natur der Autorität tut auch das autoritäre Gewissen zufällig Gutes oder Schlechtes, denn der Inhalt dieser Handlungen wird aus den Befehlen und Geboten der Autorität und nicht aus dem eigenen Gewissen abgeleitet. Die Befriedigung des Gewissens ist die Befriedigung der verinnerlichten externen Autorität, und Gewissensbisse sind die Folge von deren Nichtbefriedigung. Die größte Befriedigung erfährt der Einzelne durch die Liebe und die Bewunderung seitens der Autorität (Fromm 1991, S. 148). Diese »Guten« verurteilen diejenigen, die ihre Tugenden mit ihrem eigenen Gewissen entdecken. Zwei der vier »Kerker«, die laut Ali Schariati den Menschen daran hindern, seine Freiheit zu erlangen und das individuelle Gewissen und die Kreativität zu entfalten, sind die Geschichte und die Gesellschaft (Kultur): »Das, was ich sagen möchte ist, dass der Mensch als eine Art Lebewesen ein Produkt der Gesellschaft, der Natur und der Geschichte ist. Falls er sich bereits im Prozess der Menschwerdung befindet, wird er sich allmählich und stufenweise von diesen ›Kerkern‹ befreien und frei sein.« (Schariati 2013, S. 69)

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

6.3

201

Die Autorität der Götzen und der von Gott Entfremdeten (ta¯g˙u¯t) ˙

Die Götzen sind nichts als leere Namen, welche die Götzendiener im Zuge der Entfremdung von sich selbst und ihren Vorfahren erfunden haben (Koran 53:23). Deren Autorität stammt nicht von Allah (Koran 3:151, 6:81, 22:71, 30:35), vielmehr haben die Götzendiener sie als Vermittler zwischen Gott und sich selbst eingeführt (Koran 6:94). Das von Gott Entfremdete (ta¯g˙u¯t) stellt als »teuflische ˙ Macht« die Mächte des Korach (Qa¯ru¯n; ökumenisch), des Pharaos (politisch) und von Ha¯ma¯n (religiös) dar, gegen die Moses kämpfte (Koran 29:39). Auˇ a¯lu¯t; Koran 2:246–251) als teuflische Macht ßerdem ist damit auch Goliath (G gemeint, gegen die König Salomon (Sulaima¯n) in Fortführung der religiösen Lehre Moses ebenso wie der Sohn Salomons, David, und dessen Kommandant Ta¯lu¯t, gekämpft haben. ˙ Jede Autorität, die versucht, sich dem Gesetz, der Justiz, der Kontrolle, der Befragung und der Rechtfertigung (Gewissen) zu entziehen, ist eine tyrannische Autorität (ta¯g˙u¯t), ganz gleich, wie sie genannt wird. ˙ 6.4

Die Autorität von Geistlichen und der Kirche

Anders als die auf Transparenz, auf Verständnis, Überzeugung, Frömmigkeit (taqwa¯) und Belegen basierende Autorität der muslimischen Gelehrten (ʿulama¯ʾ) gründet die Autorität von Rabbinern und Klerus (Kirche) in Christentum und Judentum darauf, dass sie – als selbsternannte Vertreter Gottes – sich selbst eine göttliche Befugnis zuschreiben und dadurch die Menschen täuschen (Koran 9:31, 34). Dies bringen sie nicht zuletzt mit ihrer Kleidung zum Ausdruck. Im Islam waren es Imame, Scheichs, die vermeintlichen Messiasse (Mahdis) sowie die sogenannten Maximen der Gläubigen (qaws, qutb etc.), die behaupteten, die gleiche Autorität zu besitzen. Die solcherart beanspruchte Autorität ist freilich nicht die der Gelehrten (ʿulama¯ʾ), sondern der Missbrauch der Autorität des Herrn.

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202

7.

Die permanente Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit beziehungsweise nach Gott zwischen Gesetz und Gewissen

7.1

Die Natur des Gesetzes

Das positive Gesetz wird unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit und mit Blick auf das öffentliche Interesse konzipiert. Aber es kann auch Gesetze geben, die von der Regierung unter Missachtung der Gerechtigkeit erlassen wurden, auch können private (nicht legitime) Interessen im Rahmen der verbindlichen Gesetzgebung zum Gesetz gemacht werden. Einfach oder marxistisch ausgedrückt: Es kann sein, dass das Gesetz zum Instrument der herrschenden Klasse beziehungsweise der politischen Macht wird. Das Ziel der legitimen politischen Macht, die auf Gerechtigkeit beruhen sollte, ist es, diese Gesetze im Hinblick auf die Gerechtigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls zu adaptieren. Das göttliche positive Gesetz fällt ein absolut gerechtes Urteil über das, was erlaubt und verboten (hala¯l/hara¯m) ist. Das menschliche positive Gesetz hingegen versucht, ein ˙ ˙ relativ faires Urteil zu fällen. Im islamischen Denken wird Ersteres als Scharia, Letzteres als Gewissen bezeichnet. Des Weiteren wird in der Unterscheidung zwischen Rechtsgutachten (fatwa¯) die gesetzliche Auslegung des Muftis verstanden, während Frömmigkeit (taqwa¯) die individuelle Suche des Gewissens nach der Gerechtigkeit meint, die über das Rechtsgutachten hinausgeht. Auch wenn der Satz »Eine gerechte Strafe ist zu akzeptieren« das Vertrauen in die Tatsache, dass das Gesetz auf Gerechtigkeit beruht, unterstreicht, kann der Zeitenwandel beide Arten von Urteilen (menschliches und göttliches Gesetz) relativieren. Die Relativität des menschlichen Gesetzes wird in der magˇalla (dem Zivilgesetzbuch des Osmanischen Reiches) als »Mit den Zeiten können sich auch die Urteile ändern« ausgedrückt, und die Relativität des göttlichen Gesetzes schlägt sich im Koran als Abrogation und Erneuerung (nash/tabdı¯l) nieder ˘ (Koran 2:106, 16:101, 13:38). Das positive Gesetz (Scharia) wird also aus Gründen der Gerechtigkeit immer wieder durch den Menschen (Gewissen) und durch Allah (Offenbarung) erneuert. Nach der letzten Offenbarung (Koran) erfolgten diese Erneuerungsbemühen mittels Rechtsfindung (igˇtiha¯d), Analogieschluss (qiya¯s), Konsens der Gelehrten (igˇma¯ʿ al ʿulama¯ʾ) oder Abstimmung unter den Gläubigen (sˇu¯ra¯).

7.2

»Das Gesetz des Gesetzes«

Das grundlegende Problem ist hier die Tatsache, dass sich die Struktur der Gerechtigkeit und die des positiven Gesetzes nie überschneiden können:

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

203

»Das Konzept der Gerechtigkeit ist eine höhere Instanz, die über das Gesetz urteilt. Es kann als ›das Gesetz des Gesetzes‹ betrachtet werden. Wenn man jedoch versucht, das Konzept der Gerechtigkeit zu finden, es anzutreffen und es auf ein solides Fundament zu stützen, ist es unvermeidbar, im Abgrund des Nicht-Begründbaren, Nicht-Beschreibbaren und Nicht-Darstellbaren zu enden. Es ist eine unvermeidbare Schauerund Sorgenquelle, genauso wie der Gott der Thora (Jahwe), der sein Gesicht nicht zeigt.« (Direk 2005, S. 111)

Dieses Problem betrifft die Relativität des Gewissens, die sowohl im Koran als auch von Freud und Jung angesprochen wurde, und hat keine Lösung. Auch wenn wir dem Gewissen allgemeine Eigenschaften zuschreiben, wie etwa die formelle Eigenschaft, kritisch zu sein oder die Würde und Ehre des Menschen zu beschützen, ist es in der Praxis dem Menschen selbst überlassen, zu erkennen, was seine Eigenschaften sind. Ich möchte dabei auf folgendes Zitat hinweisen, welches ich Kafka zuschreibe: »Das Tor zum Gesetz steht einer Person offen.« Bekanntlich musste auch Kants moralisches Gesetz formell bleiben. Für das Gesetz des Gesetzes gilt: »Um über eine kategorische, absolute, definitive Autorität verfügen zu können, darf das kategorische Gebot (Struktur der Gerechtigkeit) keine Geschichte und keine Genealogie haben und darf keine absolute, endgültige Geschichte [d. h. formales positives Gesetz, Anm. d. Verf.] verursachen… Auch wenn Geschichten [d. h. Beispiele, Anm. d. Verf.] bezüglich des Gesetzes erzählt werden, betreffen nur sie die Bedingungen/Umstände, die außerhalb des Gesetzes liegen, oder die [geschichtliche, Anm. d. Verf.] Art und Weise der Offenlegung/Bekanntgabe des Gesetzes.« (Direk 2005, S. 122)

Davon sind auch die Bestimmungen zu Erlaubtem und Verbotenem (hala¯l/ ˙ hara¯m) in einem Aspekt davon betroffen. Die Zuflucht zur Tradition, um – wie ˙ Pascal – Relativismus zu vermeiden, ist aus den genannten Gründen keine endgültige Lösung. Daher wird die apodiktische Behauptung, dass die Tradition (Gesetz) der Wahrheit entspreche, im Koran auf das Heftigste kritisiert (Koran 7:28, 43:22, 31:21, 5:104 etc.). Die Gesamtheit aller gewissenhaften, gerechten und richtigen Bestimmungen bis in alle Ewigkeit daran zu messen, was Allah einem Volk in einem bestimmten Zeitraum und an einem bestimmten Ort als erlaubt (hala¯l) oder verboten (hara¯m) vorgeschrieben hat, und diese dogmatisch zu ˙ ˙ wiederholen, ist eigentlich ein Verrat an dieser Struktur der Gerechtigkeit. Das Prinzip »Dort, wo das göttliche Urteil herrscht, gibt es keinen Platz für Rechtsfindung [igˇtiha¯d]« stellt nur eine dogmatische Schwärmerei dar, denn »…dort, wo Gott [d. h. das Urteil, das er für einen Zeitraum gefällt hat, Anm. d. Verf. (Koran 13:38)] als die Quelle des Gesetzes angesehen wird, ist der Name ›Gott‹ das Siegel des Kreislaufes, in welchem das Ergebnis den Grund hervorbringt. Der Name ›Gott‹ unterdrückt die Beziehung des Gesetzes zur Zeit, zur Geschichte und zur Gesellschaft und nimmt dem Gesetz die Zeitgebundenheit weg. Es ist [in dieser Hinsicht, Anm. d.

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204

Verf.] eine Fantasie, dass alles im Simulacrum eines einzigen Momentes auftreten wird.« (Direk 2005, S. 130)

Ohne in diese Falle zu tappen, ist es immer möglich, dass unser individuelles Gewissen aus der Beschreibung Allahs, die der Koran vorstellt (asma¯ʾ al-husna¯), ˙ aus Gottes Geboten und Empfehlungen schöpft. »…Keine geheime Unterredung zwischen dreien gibt es, bei der Er nicht vierter wäre, noch eine zwischen fünfen, bei der Er nicht sechster wäre, noch zwischen weniger oder mehr als diesen, ohne dass Er mit ihnen wäre, wo immer sie sein mögen…« (Koran 58:7). Das Gewissen ist nicht neutral, sondern »blutet«, »schmerzt« und »brennt« immer wieder. Die Sprachlosigkeit ist eine Manifestation dieser Vorgänge im Gewissen.

7.3

Das Problem des Gewissens und der Frömmigkeit (taqwa¯)

Im Gegensatz dazu ist es auch ein Verrat an der Gerechtigkeit, wenn ein Individuum oder eine Gesellschaft glaubt, das Gewissenhafte, Gerechte und Richtige gefunden zu haben. Richtig wäre es, immer in einem Zustand der Unsicherheit, des Bangens, der Angst zu sein, nicht in die Falle zu tappen und wachsam zu bleiben. Die folgenden Verse Ziya Gökalps drücken genau das aus: »Der Pfad der Moral ist sehr schmal, der Charakter erfordert die Beständigkeit.«4 Das Frömmigkeitsbewusstsein (taqwa¯) im Koran ist im Wesentlichen auch etwas Derartiges, wie Fazlur Rahman sagt: »Wir wissen, wie subjektiv das menschliche Gewissen ist. Taqwa¯ weist genau auf diese Transzendenz hin. Denn das, was Taqwa¯ impliziert, ist, dass – obgleich die Wahl, die Anstrengung und die Entscheidung bei uns liegen – die tatsächliche objektive Bewertung unseres Tuns und Handelns letztendlich durch Allah erfolgt.« (Fazlur Rahman 1997, S. 14)

Die Aussage »Allah weiß es am besten«, die nach der individuellen Interpretation (tafsı¯r) des göttlichen Wortes durch die klassischen Gelehrten getätigt wurde, deutet auf ihre Sorgfalt hin, denn das, was der Koran als hawa¯, also persönliche Begierden (Koran 53:23) bezeichnet, welche im Menschen tief verwurzelt und schwer zu diagnostizieren sind, und das Wünschen (Koran 22:52, 75:16, 20:114), also die Annahme, dass der Verstand beziehungsweise Geist sich richtig verhält (d. h., dass dieser die absolute Wahrheit gefunden hat), können an die Stelle des Gewissens treten. Kurz gefasst: Es ist problematisch, sich zwischen dem Bremspedal des Gesetzes und dem Gaspedal des Gewissens fortzubewegen. Die folgende Aussage, die der Überlieferung nach vom Propheten Muhammad ˙ stammt, betont die Ungewissheit des »Gesetzes des Gesetzes«: In Bezug auf die 4 Originalwortlaut: »Ahlak yolu pek dardır/ Tetik bas önü yardır.«

Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

205

Sure Hu¯d, nämlich auf Vers 112 (»Handle du darum aufrichtig, wie dir befohlen worden ist…«) heißt es aus dem Munde des Propheten: »Sie hat mich altern lassen.«

7.4

Die Vorteile des Gesetzes

Der Vorteil des positiven Gesetzes besteht darin, dass es zahlreiche (subjektivrelative) Gewissenskonflikte beseitigt. Der Vorteil des Gewissens ist es, zu erkennen, dass ein Gesetz untergraben wird, oder die Ungerechtigkeiten im Gesetz zu bemerken: »Dort, wo es kein Gesetz gibt, gibt es auch keine Gerechtigkeit jenseits des Gesetzes. Denn eine Gerechtigkeit jenseits des Gesetzes verlangt ein Gesetz, das durch Anwendung von Gewalt erlassen wurde. Es ist auch schwierig, sich vorzustellen, dass ein Gesetz existiert, dem die Idee der Gerechtigkeit fehlt, weil die Gerechtigkeit des Gesetzes im Namen des jenseits von ihm selbst vorhandenen Gewissens wirkt.« (Direk 2005, S. 112)

In Europa haben sich die Menschenrechte, der Rechtsstaat und die Unterstützer des Verfassungsgesetzes – also die Befürwortung des positiven Gesetzes – als Folge von langjährigem Despotismus und von Gewissenssubjektivismus entwickelt. Das Konzept des Nationalstaats stützt sich nicht nur auf das von der Bourgeoisie geschaffene Kapital und auf die Nation, sondern auch auf das Prinzip der Herrschaft des Rechts, das für Stabilität und inneren Frieden sorgt. Die von Europa und den USA ausgehende Ungerechtigkeit gegenüber »den anderen« kommt im Allgemeinen entweder verdeckt oder mittels ihrer Geheimdienste unter dem Deckmantel der Außenpolitik daher.

7.5

Die Missachtung des Gesetzes und die Subjektivität des Gewissens: Herrschaft der Mafia

Der Vorteil des Rechtsstaats beziehungsweise einer offenen Gesellschaft liegt in der Möglichkeit, Ungerechtigkeiten im Gesetz oder seine Untergrabung durch Diskussion und Konsensfindung (igˇma¯ʿ, ˇsu¯ra¯, Demokratie) zu beseitigen, während der Appell an das subjektive Gewissen und an religiöse Vorschriften (hala¯l/ ˙ hara¯m) – wobei die positive Gesetzgebung verboten und ihre Umsetzung und ˙ Kontrolle verhindert werden – die Gefahr birgt, in den Strudel des interpretativen und religiösen Subjektivismus (z. B. wie im Falle der Charidschiten, der Kirche oder des IS) zu geraten. Dies ebnet den Weg zur Bildung einer Mafia und der Kollaboration mit der politischen Mafia, wie es in Italien, dann in Russland und in der Türkei der Fall war. Die Mafia aber produziert ihr eigenes, vom positiven

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Gesetz unabhängiges Gewissen und Gesetz, dessen Formen Willkür und Mord und Totschlag sind.

8.

Fazit

Die Autorität – einschließlich der göttlichen – ist nicht in der Person selbst oder in ihrem Wesen (Ontologie, Physik, Macht) begründet, sondern in deren Attributen und Handlungen. Die Quelle dieser Autorität ist das – von Gott erschaffene – Gewissen, das sinnlich zu erfassen und dessen habhaft zu werden unmöglich ist. Das Gewissen ist wie die Plejaden, denen man – als Gesetz des Gesetzes – ständig nachjagt. Die Versicherung für das Gewissen ist Gott. Gott ist das Um und Auf der Existenz und das Gewissen das Um und Auf der Menschheit. Es ist zu bedauern, dass die Theologie diese Beziehungen und infolgedessen die menschliche Existenz vielfach und nachhaltig verdorben hat. Das gilt sowohl für die Geschichte als auch für die Gegenwart.

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Religiöse Autorität und menschliche Autonomie

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Martin Kellner

Die igˇ¯aza als Synapse islamischer Bildung – Autorisierung und soziale Interaktion in muslimischen Lernkulturen

Zusammenfassung Ein wesentliches Element des institutionalisierten Religionsunterrichts in vielen islamischen Kulturen ist die Einrichtung individueller Berechtigungen. Die in diesem Zusammenhang entstandene igˇa¯za sorgte als ein wichtiges Instrument in der Bildungssoziologie dafür, dass die Rezeption schriftlicher Quellen an persönliche Lehrer-Schüler-Beziehungen gebunden war. Dies gewährleistete einerseits die Richtigkeit der Transkripte in einer intellektuellen Kultur, in der sich der Buchdruck erst sehr spät etablierte, und erschwerte andererseits die religiöse Autodidaktik. In diesem Artikel wird die Institution der igˇa¯za in ihren Grundlagen und in ihrer Bedeutung für zeitgenössische islamische Bildungsprozesse vorgestellt.

1.

Einleitung

Im 15. Jahrhundert berichtet Ibn Hag˘ar al-ʿAsqala¯nı¯, dass bei der Beerdigung der ˙ mamlukischen Hadithgelehrten Zaynab bint al-Kama¯l »eine ganze Kamelladung mit igˇa¯za¯t« gebracht wurde, welche die Breite ihres religiösen Wissens und ihre außergewöhnliche Stellung in der damaligen Gelehrsamkeit dokumentierten (Sayeed 2002, S. 75). Von Interesse ist diese Erwähnung einerseits aus historischbiografischer Sicht und andererseits deshalb, weil sie auf bedeutsame Aspekte der vormodernen muslimischen Bildung verweist. Derartige Berichte geben Aufschluss über die Anbindung von Gelehrten an transnationale Bildungsnetzwerke, über die Altersstruktur im Erwerb und in der Weitergabe von Wissen, die Struktur von Autorisierungsprozessen und die Rolle von Frauen allgemein im Bereich der religiösen Bildung jener Zeit (Rapoport 2007, S. 37). Bereits in sehr jungem Alter wurde Zaynab bint al-Kama¯l – wie zahlreiche derartige Zeugnisse belegen – an Gelehrte aus Bagdad, Kairo, Harran und Aleppo angebunden, in der Zeit von 1313–1339, also im Alter zwischen 67 und 94 Jahren,

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sollte sie dann ihre eigenen Schüler*innen autorisieren (Sayeed 2002, S. 82). Die Aktivitäten zwischen der frühen Phase des Wissenserwerbs und der späten Phase der Weitergabe werden – wie auch in anderen ähnlichen Gelehrtenbiografien der Fall – in der Literatur nicht näher beschrieben. Ob dies mit der mangelnden Teilnahme von Frauen im heiratsfähigen Alter an öffentlichen Bildungsprozessen zu tun hat oder damit, dass die später – also nach dem Erwerb von igˇa¯za¯t im frühen Alter – erlangten Zertifikate für nicht mehr erwähnenswert erachtet wurden, ist unklar (vgl. Sayeed, S. 90). Für viele Studierende jener Zeit war der frühe Einschluss in Überlieferungsketten, auch aufgrund des Strebens nach kurzen asa¯nid, eine wichtige Motivation, von Gelehrten zu profitieren, besonders dann, wenn ihre Lehrer längst verstorben waren. Für die Erforschung vormoderner islamischer Bildungsprozesse sind die Berichte über derartige Persönlichkeiten eine wesentliche Quelle. In diesem Beitrag wird die Institution der igˇa¯za, die vormoderne muslimische Bildungsprozesse besonders in der sunnitischen Welt mitprägte, dargestellt, systematisiert und im Zusammenhang mit materiellen Kulturen des religiösen Lernens in der islamischen Geistesgeschichte analysiert. Zunächst gilt es, den Begriff igˇa¯za von zeitgenössischen Verwendungen im Zusammenhang mit religionspädagogischer Forschung abzugrenzen: Als eine relativ neue, vor allem angesichts religionsrechtlicher Bedingungen in Deutschland bedeutsam gewordene Form der religiösen Autorisierung stellt die Verleihung einer igˇa¯za durch Religionsverbände heute das Pendant zum kirchlichen nihil obstat dar. In der muslimischen religiösen Bildung repräsentiert die igˇa¯za gemeinhin keine Autorisierung durch eine staatliche bzw. kirchliche Institution, sondern bestätigt unmittelbare soziale Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Vor dem Hintergrund der Verlagerung religiöser Bildungsaktivitäten in den virtuellen Raum (aktuell durch die pandemiebedingten Einschränkungen von realen Kontaktmöglichkeiten und Reiseaktivitäten) ist auch die Abkehr von derartigen Sozialisierungsformen in Hinblick auf die geistige und ideologische Verfasstheit der muslimischen Community von großem Interesse. In diesem Beitrag wird das Konzept der igˇa¯za im Kontext unterschiedlicher Formen religiöser Autorisierung sowie im Hinblick auf die Dokumentation historischer Bildungsprozesse und auf die Zertifizierung von Lernenden in spezifischen Formen sozialer Bildungsnetzwerke beleuchtet.

Die igˇa¯za als Synapse islamischer Bildung

2.

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Igˇ¯aza: Bedeutung und Systematik

Das Wort igˇa¯za ist ein Verbalnomen des vierten Verbstammes aus der Wurzel gˇ-w-z und hat folgende Bedeutungen: »Erlaubnis; Befugnis; Genehmigung, Bestätigung; Lizenz = frz. licence als akadem. Grad; Erlaubnisschein; Urlaub; Ferien« (Wehr 1977, S. 133). Im fachspezifischen Sinn bezeichnet igˇa¯za eine besondere, vielen islamischen Lernkulturen inhärente Form der Autorisierung, durch die Lernende an die Überlieferungs- und Übermittlungsketten ihrer Lehrer*innen angeschlossen werden. Die historische Entstehung dieses Phänomens liegt weitgehend im Dunkeln, ʿAbd Alla¯h Fayya¯d datiert in seiner ausführlichen Monografie zu ˙ diesem Thema die erste schriftliche igˇa¯za in der islamischen Geschichte auf das dritte Jahrhundert islamischer Zeitrechnung (Fayya¯d 1967, S. 21). Was aber ˙ macht die igˇa¯za aus? Ein wesentliches Merkmal ist, »dass die einzige Form der Autorisierung eines Theologen als Theologe die des Schülers durch seinen Lehrer ist, an der keinerlei weitere Institutionen Anteil haben. (…) Diese Form der Autorisation wird durch rituelle Handlungen, die in unterschiedlicher Art und Weise die Unterweisung der Gemeinde durch den Gottesgesandten nachbilden, konstituiert und findet darin ihren symbolischen Ausdruck. (…) Wer dergestalt mit dem Gottesgesandten verbunden ist, kann andere gleichermaßen anbinden.« (Bakker 2012, S. 505)

Diese Aufnahme in eine derartige Sukzessionskette (isna¯d, sanad oder silsila) wird entweder nur mündlich ausgesprochen oder aber auch schriftlich dokumentiert. Man kann in diesem Zusammenhang zwischen einer schriftlichen und einer mündlichen igˇa¯za einerseits und zwischen einer igˇa¯za zu verschriftlichten oder zu nicht verschriftlichten Inhalten andererseits unterscheiden. Von manchen Autoren wird die schriftliche igˇa¯za, die natürlich auch für die Rekonstruktion von Wissenssystemen von größter Bedeutung ist, als die eigentliche Form der Lehrerlaubnis bezeichnet: »The ija¯za is the certificate of reading or hearing, which is sometimes written on manuscripts, usually near the colophon or on the title page.« (Witkam 1995, S. 123)

Diese schriftliche igˇa¯za wurde entweder – wie im Zitat erwähnt – auf die Textdokumente selbst geschrieben oder aber als eigenständiges schriftliches Dokument ausgefertigt, in dem die Informationen zu den Überliefererketten detailliert dargelegt wurden (vgl. al-Fayya¯d 1967, S. 27). Diese Dokumentation von Netz˙ werken einander autorisierender Personen erlaubt lehrreiche Einblicke in die islamische Geistesgeschichte. Von besonderer Aussagekraft sind dabei jene Dokumente, in denen eine Gelehrtenpersönlichkeit alle ihre Lehrer und Überlieferungsketten auflistet – diese autobiografischen Informationen über indivi-

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duelle Lernkarrieren nennt man fahrasa, masˇyaha, masˇ¯ıha, barna¯magˇ, tabat ¯ ˘ ˘ oder muʿgˇam (Schmidtke 2006, S. 95). Notizen auf Manuskripten, in denen festgehalten wird, wer bei exakt datierten Lesungen bestimmter Texte anwesend war und zur Weitergabe des jeweiligen Buches autorisiert wurde – sogenannte sama¯ʿa¯t –, sind eine reichhaltige bildungsgeschichtliche Quelle, da sie Aufschluss darüber geben, durch welche soziale Strukturen muslimische Bildungsprozesse geprägt waren (vgl. dazu Hirschler 2011, S. 73). Heute liefern derartige Niederschriften der Autorisierung durch die igˇa¯za wertvolle Hinweise auf die intellektuellen Biografien von Persönlichkeiten wie der zu Beginn erwähnten Zaynab bint al-Kama¯l. In Hinblick auf den Geltungsbereich einer igˇa¯za gibt es unterschiedliche Varianten: So kann sie an bestimmte Personen oder aber an nicht genau definierte Personengruppen (zum Beispiel alle im Unterricht anwesenden Studierenden) verliehen werden. Des Weiteren unterscheidet man zwischen einer igˇa¯za, welche einen bestimmten Umfang bzw. eine bestimmte fachliche Geltung hat, von einer inhaltlich nicht näher definierten igˇa¯za – etwa des Inhalts: »Ich gebe dir die Erlaubnis der Überlieferung in all dem, was mir von meinen Lehrern überliefert wurde« ˇ azu¯lı¯ o. J., S. 1). (vgl. al-Yu¯lu¯ al-G Innerhalb von mystischen Traditionen stellt die igˇa¯za eine spirituelle Autorisierung dar – auch im Sufismus bzw. in einer bestimmen tarı¯qa wird die Berechtigung der Weitergabe von Lehren durch eine igˇa¯za bekundet: »In Sufi as in other Islamic religious and intellectual traditions, one acquires a teaching silsilah only through a formal ijazah from one’s shaykh – a practice in place apparently since even before the emergence of formalized tariqah orders.« (Graham 1993, S. 516; vgl. dazu auch Trimingham 1998, S. 192)

Die igˇa¯za ist also keineswegs eine reine Zertifizierung von Wissen, sondern die Bestätigung von Kontakten innerhalb der komplexen Netzwerke religiöser Gelehrsamkeit. Entsprechend den erwähnten Geltungsbereichen kann die igˇa¯za in vier Kategorien unterteilt werden: 1) »die igˇa¯zaʿilmı¯ya, die wissensbezogene igˇa¯za, 2) die igˇa¯za taqdı¯rı¯ya, die igˇa¯za der Wertschätzung, 3) die igˇa¯za takrı¯mı¯ya, die igˇa¯za der Ehrerbietung und 4) die igˇa¯zaʿa¯mma, die allgemeine igˇa¯za.« (Lohlker 2011, S. 43–44) Über die Zertifizierung von Lern- und Bildungsprozessen hinaus dient die igˇa¯za der Anbindung von im Bereich religiöser Gelehrsamkeit tätigen Personen an zeitlich und örtlich oft weit gespannte Netzwerke – diese Funktion wird im folgenden Abschnitt näher beschrieben.

Die igˇa¯za als Synapse islamischer Bildung

3.

213

Soziale Aspekte der igˇ¯aza

Betrachtet man das Igˇa¯za-System auf sozialer Ebene, so erweist sich, dass dieses die Einbettung religiöser Autorität in größere gesellschaftliche Strukturen fördert, was wiederum die Voraussetzung für die Entstehung von Orthodoxien, aber auch von einer gewissen religiös-geistlichen Stabilität mit all ihren Vor- und Nachteilen ist. Viele Formen von islamischen Lernkulturen waren und sind zwar einerseits von größeren hermeneutischen Communities geprägt, gleichzeitig aber basieren sie auf dem individuellen Verhältnis zwischen einzelnen Lehrenden und Lernenden: »In Islam it is the personal relationship between teacher and pupil that, through the generations of scholars, has produced a powerful driving force that ensures a continuity of its own« (Witkam 1995, S. 124). Die igˇa¯za stellt eine Synapse, einen Verbindungspunkt zwischen zwei Personen in einer größeren Matrix von Überlieferertraditionen und interpretativen Gemeinschaften dar. Die dadurch entstehenden Lernprozesse dienen aber nicht nur der Reproduktion erstarrter Inhalte; die individuelle Verbundenheit (alittisa¯lı¯ya) innerhalb dynamischer Netzwerke ist von der Grundidee her auch ˙ darauf ausgerichtet, theologische Kompetenz zu fördern: »For most Muslims, religious traditionalism has been most readily expressed through specific historical connection to a past formed by connected persons. The isnad is a ›continuous support‹ only insofar as it is an unbroken chain of trustworthy persons whom one can name, and whose personal authorization, or ijdzah, confirms the reliability of whatever tradition has been transmitted through so many generations. It is in this that the Muslim spirit of traditionalism lies, not in some imagined atavism, regressivism, fatalism, or rejection of change and challenge – especially since this same traditional ittisaliyah has served modernists as well as reactionaries as authority for their ideas. What the isnad paradigm reminds the student of Islam, and, at some deeper level, what it presumably reminds the Muslim specifically, is that a personally guaranteed connection with a model past, and especially with model persons, offers the only sound basis in an Islamic context for forming and re-forming oneself and one’s society in any age.« (Graham 1993, S. 522)

Das Konzept der igˇa¯za berührt also grundlegende Fragen der Rückbindung, Bewahrung und Erneuerung innerhalb religiös geprägter Communities und steht damit in engem Zusammenhang mit Grundfragen der islamischen Theologie und Religionspädagogik. Mit der igˇa¯za wird, wie bereits beschrieben, eine Sukzessionskette hergestellt, die zur Überlieferung bestimmter Texte, zur Tradierung von als autoritativ angesehenen Werken und zur Lehre bestimmter Wissenschaften legitimiert. »Außerdem wird die gleiche Form der Autorisation – analog zur Autorisation für auf den Gottesgesandten zurückgeführte Stoffe – für alle anderen Arten von Inhalten, die

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für die Theologie von Bedeutung sind, angewandt, so dass es keinen für einen Theologen relevanten Bereich gibt, der nicht von der individuumszentrierten Überlieferungs- und Autorisationsstruktur erfasst wird (…).« (Bakker 2012, S. 505)

Die durch das Igˇa¯za-System etablierten intellektuellen, skripturalen und spirituellen Genealogien sind als ein Element anzusehen, welches islamische Geisteskulturen kennzeichnet. »I do not contend that Islam is unique in valuing personal connectedness, for such valuation might well be taken as a fundamental, even defining, sociological trait of ›traditional‹ as opposed to ›modern‹ societies. I suggest rather that whereas Muslims have elaborated this emphasis in different ways, at different times, and in different sectors of their collective life, they have always done so in ways that are characteristic, identifiable, and central.« (Graham 1993, S. 501)

Indem die igˇa¯za Lernende durch die jeweiligen Vorgänger in eine Sukzessionskette stellt, wird religiöse Autorität generiert und regeneriert, der Erwerb der igˇa¯za berechtigt nachfolgende Personen, neue Lernende in diese Kette aufzunehmen. In bildungssoziologischer Hinsicht ist diese Struktur von außerordentlicher Bedeutung – und zwar insofern, als sie in dem Bereich, in dem die igˇa¯za verliehen wurde, Egalität zwischen beiden Seiten, Lehrendem und Lernendem, herstellt. Dies unterscheidet die igˇa¯za von der Autorisierung im akademischen System, in dem sie vom jeweils Ranghöheren dem Rangniedrigeren erteilt wird. Ein weiterer Punkt, in dem sich die igˇa¯za von der akademischen Graduierung unterscheidet, ist die im Igˇa¯za-System fehlende institutionelle Anbindung: »The whole process is not unlike the diplomas which students of present day universities consider as the culmination of their study, the difference being that these ija¯za¯t reflect the relationship between two natural persons, rather than between a student and his institution of education.« (Witkam 1995, S. 129)

Auch wenn in vormodernen islamischen Bildungsinstitutionen ebenfalls unterrichtet und geprüft wurde, galt als zertifizierende Instanz nicht die Institution, sondern die Lehrkraft: »Institutions of learning never developed a corporate character: students did not graduate with ›degrees‹ from particular madrasas, but rather received a number of certificates and teaching licences from individual, named teachers. Madrasas and Sufi lodges functioned as meeting-points for scholars and students and were a source of income for both, but they never monopolised higher education.« (El Shamsy 2008, S. 105)

Erst im 15. Jahrhundert wurde im Osmanischen Reich ein Madrasa-System entwickelt, welches nicht mehr ausschließlich auf persönlichen Lehrer-SchülerBeziehungen, sondern auf standardisierten Curricula basierte. Die igˇa¯za im

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klassischen Sinn blieb aber weiterhin parallel zu diesen Strukturen bestehen (vgl. ebd., S. 105) – trotz der zunehmenden Institutionalisierung ist nachzuweisen, »dass auch in den Madrasas das direkte Lehrer-Schüler-Verhältnis, das so kennzeichnend für den Lehrbetrieb im frühen und mittelalterlichen Islam ist, fortbestand« (Günther 2018, S. 259). Mit der Implementierung des islamischen Religionsunterrichts an heimischen öffentlichen Schulen hat der Begriff der igˇa¯za eine neue Bedeutung erhalten: Nunmehr als Bezeichnung für eine durch Religionsverbände ausgestellte Zertifizierung verwendet, unterscheidet sich die igˇa¯za grundsätzlich von dem, was man in der islamischen Bildungsgeschichte darunter verstanden hat. Es geht dabei nicht mehr um die Anbindung von Individuen an Communities, sondern eben um die religionsrechtlich relevante Zertifizierung bekenntnisgebundener Studieninhalte. Diese Bedeutungsübertragung fand in anderer Form auch in zahlreichen arabischen Staaten statt, wo man unter igˇa¯za entweder das Abschlusszeugnis einer Schule und Universität, aber auch ganz simpel »Schulferien« versteht – die Erlaubnis also, der Institution Schule für eine bestimmte Zeit fernzubleiben.

4.

Igˇ¯aza und Medien islamischen Wissens

In der Frühzeit des Islams war die mündliche Tradierung religiöser Texte von zentraler Bedeutung – diese ging erst schrittweise im Zuge der Verbreitung schriftlicher Wissenstradierung verloren. Wiewohl die ersten Verschriftlichungen des koranischen Textes bereits in den ersten Jahrzehnten der islamischen Geschichte entstanden, ist dessen mündliche Überlieferung in seinen unterschiedlichen Lesarten und phonetischen Varianten bis heute wichtig geblieben. Auch im Bereich der Überlieferung von Hadithen, deren systematische Niederschrift im Wesentlichen im zweiten und dritten Jahrhundert muslimischer Zeitrechnung stattfand, blieb die mündliche Weitergabe und die Autorisierungsmethode durch igˇa¯za¯t von entscheidender Bedeutung – die Kultur des living sanad, der Weitergabe von Hadithen mit ununterbrochener Tradierungskette, blieb trotz der Verschriftlichung des Überlieferungsmaterials aufrecht (Brown 2007, S. 61f.). Von der starken Verbindung der igˇa¯za mit dem Bereich der Hadithtradierung zeugt der Umstand, dass das Wort im engeren Sinn auf einen bestimmten Überlieferungsmodus in der Weitergabe prophetischer Aussagen hindeutet: »When used in its technical meaning, this word means, in the strict sense, the third of the eight methods of receiving the transmission of a hadı¯t̲h̲« (Vajda et ˙ al. 2012).

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Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Herstellung von Papier in den islamischen Kernländern schon sehr früh bekannt war – die Abbasiden konnten sich schon im achten nachchristlichen Jahrhundert einen wesentlichen technologischen Vorsprung in diesem Bereich erarbeiten. Im Gegensatz dazu stand die Entwicklung in Bezug auf die Technik des Buchdrucks, die sich erst ab dem 19. Jahrhundert langsam in der islamischen Welt durchzusetzen begann. Es gibt unterschiedliche Erklärungsansätze dazu, wie diese Divergenz zwischen technologischer Machbarkeit und mangelnder Akzeptanz zustande kam (vgl. Kellner 2019, S. 195). Nicht zu unterschätzen dürfte dabei jedenfalls die erwähnte bedeutende Rolle der oralen Übermittlung gewesen sein, die, wie ausgeführt, parallel zur systematischen Verschriftlichung religiöser Literatur ein charakteristisches Merkmal intellektueller Traditionen in islamischen Kulturen blieb: »But beyond this narrow definition there is in fact involved the principle, fundamental in Islam, of the pre-eminent value attached to oral testimony, a principle which has been maintained through all the fictions to which id̲j̲a¯za and the other methods of transmission have given rise from a very early date and which still today continue to influence Muslim traditional thinking.« (Vajda et al. 2012)

Bereits sehr früh unterschied man in der Weitergabe von Hadithen zwischen unterschiedlichen Interaktionsformen zwischen Lehrern und Schülern, zunächst zwischen dem Hören von Überlieferungen vom Lehrer (sama¯ʿ), dem Vorlesen in Präsenz des Lehrers (qira¯’a) und der Weitergabe von Hadithen durch igˇa¯za – also die Erlaubnis, etwas zu überliefern, auch wenn man es nicht vollständig vom Lehrer gehört oder vor ihm vorgetragen hatte. Diese letzte Form illustriert ein Bericht, dem zufolge Ima¯m al-Sˇa¯fiʿı¯ einem Gelehrten die igˇa¯za erteilt habe, eines seiner Bücher zu unterrichten, ohne dass dieser jemals mit dem ima¯m studiert hätte (El Shamsy 2008, S. 99). Dieser Fall zeigt, dass der bloße Kontakt zwischen den beiden im Überlieferungsprozess als das konstituierende Element in der Autorisierung angesehen wurde. Dies korrespondiert auch mit der Tatsache, dass bereits kleine Kinder – wie die eingangs erwähnte spätere Hadithgelehrte Zaynab bint al-Kama¯l in ihren jungen Jahren – von Gelehrten an Überlieferungsnetzwerke angebunden wurden. Wenn es sich also so verhält, dass die igˇa¯za als eine Anbindung an Gelehrsamkeit auch im Sinne von Vertrauensvorschuss zu verstehen ist und das Studium der betreffenden Inhalte auch auf anderen Wegen absolviert werden konnte, stellt sich eine andere Frage: War die igˇa¯za in vormodernen islamischen Bildungsprozessen notwendig, um bestimmtes Wissen für sich beanspruchen zu dürfen? Im 15. Jahrhundert hält al-Suyu¯t¯ı in seinem koranwissenschaftlichen Werk Al˙ itqa¯n fı¯ʿulu¯m al-Qur’a¯n fest, dass die igˇa¯za keine Bedingung für das Unterrichten des Korans sei, solange man selbst wisse, dass man dafür entsprechend quali-

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fiziert ist. In Bezug auf die Überlieferung von Hadithen hingegen erwähnt er die Behauptung von Ibn Khayr, der zufolge Konsens darüber besteht, dass ohne die Anbindung an Überlieferungsketten die Tradierung von Hadithen nicht erlaubt ist (vgl. Suyu¯t¯ı 2010, S. 158). ˙ Analog dazu hat sich auch nach dem Prozess der Verschriftlichung unterschiedlicher Wissenszweige die Bedeutung der mündlichen Tradierung erhalten: »Though, in the end, books became accepted as the ordinary medium, the individual and personal approach nevertheless remained intact« (Witkam 1995, S. 125). Eine neue Ausrichtung bekam religiöse Bildung im Islam durch diverse Reformbewegungen, von denen hier die Strömung der Salafiya erwähnt sei. Als charakteristische Merkmale dieser Bewegungen können der Anspruch der direkten Rückbindung an die als autoritativ geltenden Quellen des Frühislams, die Ablehnung der gewachsenen Traditionslinien und der Trend zu autodidaktischem Lernen gelten: »This autodidact attitude toward the scriptures is encouraged by Salafi ideology, which rejects centuries of Islamic thought« (Sageman 2004, S. 76; vgl. dazu auch Böttcher 2013, S. 492). Ein Ansatz zum Verständnis der traditionellen islamischen Religionspädagogik ist die Betonung ihres ganzheitlichen Charakters (vgl. Takim 2017, S. 117) und die stetige Verbindung von Bildung und Erziehung, die ihrerseits nur im zwischenmenschlichen Kontakt zu realisieren ist. Dieser wird durch die Institution der igˇa¯za als Bedingung religiöser Bildung etabliert.

5.

Covid-19 und die Online-Igˇ¯aza

Seit einigen Jahren werden im Internet zahlreiche religiöse Bildungsprogramme angeboten, in deren Rahmen man beispielsweise eine igˇa¯za in der Koranrezitation im Online-Studium erwerben kann (Ejazaonline 2017). Die Verwendung digitaler Medien in muslimischen Bildungsprozessen schafft hier neue Gegebenheiten in der Gestaltung sozialer Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Die igˇa¯za in diesem Bereich bleibt im Sinne der Anbindung erhalten, die Begegnung findet aber in neu erschlossenen Räumen statt, was der Rolle der Autorisierung in religiösen Bildungsprozessen eine neue Dynamik verleiht. Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen im Bereich traditioneller Bildungsformen organisierte das World Muslim Communities Council im Frühjahr 2020 in Zusammenarbeit mit dem Verband islamischer Universitäten und einer Reihe von Hochschulen, Bildungsinstitutionen, politischen Gremien und Agenturen für Hochschulbildung eine internationale Konferenz mit dem Titel »Challenges of Higher Islamic Education after Corona« (The World Muslim Communities Council 2020).

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Wie aus den auf der Homepage veröffentlichten Informationen hervorgeht, erörterte die Konferenz die Herausforderungen der Corona-Krise, die einen neuen und beispiellosen Wendepunkt in der Geschichte der Bildungseinrichtungen darstelle, da diese Einrichtungen während der von den Regierungen auferlegten Sperrfrist auf Fernunterricht zurückgreifen mussten. Es wurde diskutiert, wie das Hochschulsystem angesichts der gravierenden Änderungen, die die islamische Bildung wohl zu gewärtigen habe, hinsichtlich seiner Philosophie, seiner Ziele, Systeme, Lehrpläne und Methoden überdacht werden müsse. Nach diesen Überlegungen zu schließen, sieht man sich offenbar gezwungen, aufgrund der Notwendigkeit von Fernlehre im Bereich islamischer Wissenschaften religiöse Bildung neu zu definieren; in den Erklärungen dieser Konferenz ist von einer Neubestimmung der zu schulenden Kompetenzen im Sinne des Übergangs vom kognitiven zum kompetenzorientierten Lernen die Rede (»developing new evaluation systems that depend on measuring mental skills not cognitive achievement«). Bei aller Zustimmung zur Kompetenzorientierung in religiösen Bildungsprozessen ist aber auch festzuhalten, dass die Schirmherrschaft über diese Konferenz bei einem autoritären Staat liegt, womit die angedeutete globale Zentralisierung religiöser Bildung nicht ganz unproblematisch ist. Die im Prinzip dezentrale, individuumszentrierte Natur islamischer Bildung steht zunächst in deutlichem Gegensatz zu derartigen bildungspolitischen Initiativen; inwiefern nun gesteuerte Globalisierung und Digitalisierung mit der Schaffung sinnvoller Qualitätsstandards und notwendiger Qualifizierungskriterien einhergehen wird, bleibt abzuwarten. Ein erleichterter Zugang zu religiöser Bildung führt ja zunächst einmal zu einer quantitativen Ausweitung von Ressourcen, wie das beispielsweise im Bereich des Fatwa-Wesens zu beobachten ist (vgl. Haggag 2019). Gleichfalls abzuwarten bleibt, wie staatlich gelenkte Zentralisierungstendenzen auf diese Prozesse wirken – es ist vorstellbar, dass politisch-religiös ambitionierte Nationalstaaten in Hinblick auf die Akkumulierung ideologischer Einflusssphären durchaus von der Digitalisierung islamischer Bildung profitieren könnten. Die neuen transnationalen Räume werden ja oft durch nationale Hegemoniebestrebungen auch im religiösen Bereich geprägt (vgl. Lohlker, 2000, S. 10). Zugleich ist aber denkbar, dass strukturell schwächere Bildungsträger durch die prinzipielle Verfügbarkeit notwendiger technologischer Mittel ebenfalls neue Segmente im Sektor der religiösen Bildung erschließen können. Inwiefern sich diese Neustrukturierungen auf den Stellenwert der Institution igˇa¯za auswirken werden, bleibt zu beobachten.

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6.

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Schlusswort »Die soziale Synapse ist der Raum zwischen uns und anderen. Sie ist auch das Medium, durch das wir zusammen in größere Organismen wie Familien, Stämme, Gesellschaften und die menschliche Spezies insgesamt eingebunden sind.« (Cozolino 2007, S. 13)

Die Synapse als ein neurophysiologischer Raum der Weiterleitung von Impulsen zwischen zwei gleichartigen Neuronen samt der daraus resultierenden Entwicklung von Netzwerken bietet sich auch als sinnvolles Gleichnis für das Wesen der igˇa¯za an. Die Einbindung Lernender in überindividuelle Netzwerke, die Bedeutung von Kontakt, Interaktion und intellektueller Weitergabe zwischen Individuen können mit dem Bild der sozialen Synapsen verdeutlicht werden; die so entstehenden Netzwerke stellen eine Matrix dar, durch die islamische Bildungsprozesse untersucht werden können. »Wer spricht für den Islam?« ist eine wissenschaftlich und gesellschaftlich hochrelevante Frage (vgl. Krämer & Schmidtke 2006, S. 2ff.), die bei der Gestaltung islamischer Bildungsprozesse, bei der Gestaltung von schulischem Religionsunterricht, der Zertifizierung von Lehrkräften und der Definition von religiöser Expertise in den muslimischen Communities gestellt werden muss. Dass diese Frage in absehbarer Zeit endgültig beantwortet wird, ist kaum zu erwarten, die Bedeutung von intellektueller Vernetzung, zwischenmenschlicher Interaktion und institutionellen Rahmenbedingungen bleibt jedenfalls evident.

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Yas¸ar Sarıkaya

Der Niedergang der traditionellen Erziehungsinstitution Medrese

Zusammenfassung Der folgende Beitrag bietet einen Überblick über die Institution der Medrese ausgehend von ihrer Entstehung bis hin zu ihrem allmählichen Niedergang ab dem 16. Jahrhundert und beleuchtet insbesondere die Gründe ihres Niedergangs. Nach einer Erläuterung der Funktion der Medrese werden Schwerpunkte der Lehre dargestellt. Anschließend wird auf die vielschichtige Kritik eingegangen, welcher sich die Medrese bereits früh gegenübersah – hierbei handelte es sich vor allem auch um Forderungen der Erneuerung und Reformierung. In diesem Zusammenhang werden die wichtigsten Kritiker und ihre Standpunkte vorgestellt. Es folgt eine Beschreibung der Reformbemühungen, in deren Zuge versucht wurde, die traditionelle Ausbildung an der Medrese durch Aufnahme moderner Fächer sowie durch Übernahme geisteswissenschaftlicher Methoden zu bewahren. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion der Gründe des Niedergangs und einer Bewertung des Lehrsystems der Medrese.

1.

Einleitung

Die Medrese entwickelte sich ab dem elften Jahrhundert, insbesondere nach der Gründung der Niza¯mı¯ya-Medresen durch den Seldschuken-Wesir Niza¯m al˙ ˙ Mulk, zum zentralen Ort der mittleren und höheren islamischen Bildung. Als solcher stellte sie – samt ihrem System und ihrer Organisationsstruktur – über die Jahrhunderte hinweg, bis zur Säkularisierung und Modernisierung des Bildungswesens in muslimischen Gesellschaften, die tragende Bildungsinstitution dar. Im Osmanischen Reich beispielsweise bildete die Medrese die einzige Stütze der ʿIlmiye-Klasse, eines der institutionellen Grundpfeiler des Staates neben der Askeriye (Institution des Heeres) und der Kalemiye (Organisation der Zivilbürokratie) (vgl. Findley 1980). Für die Bekleidung eines Amts oder sonstigen Postens innerhalb der ʿilmiye – besonders im Bildungs- und Rechtswesen – war

224

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das Studium an der Medrese die Grundvoraussetzung. Mithin fungierten die Medresen primär als eine Art »Hochschule« zur Deckung des staatlichen Bedarfs an ausgebildetem und qualifiziertem Personal in den Bereichen Bildung, religiöse Dienste und Justiz. Ab dem 19. Jahrhundert gingen sie jedoch ihrer institutionellen, erzieherischen und curricularen Monopolstellung in muslimischen Gesellschaften nach und nach verlustig. Zwar besteht die Medrese in vielen Ländern – so in Indien, Indonesien und Pakistan – parallel zu den staatlichen Lernorten bis heute fort, in der Türkei aber wurde sie 1924 endgültig abgeschafft.1 In der wissenschaftlichen Literatur zur islamischen Erziehungs- und Bildungsgeschichte herrscht die Grundannahme vor, dass die Medrese, welche ursprünglich eine modellhafte Einrichtung der höheren islamischen Bildung darstellte, parallel zu den anderen traditionellen Institutionen ab dem 16. Jahrhundert allmählich und nachhaltig stagnierte – man spricht dabei von einem »Niedergang« der Medrese. Dieser Frage will ich im vorliegenden Aufsatz nachgehen. Eingangs möchte ich gleich drei Punkte herausstellen: a) Auch wenn die Medrese eine traditionelle bzw. vormoderne islamische Bildungsinstitution ist, gibt es diesen Schultypus, wie erwähnt, in vielen Ländern nach wie vor, entweder offiziell (wie in Pakistan) oder inoffiziell (wie in der Türkei), entweder mit traditionellem Lehrplan oder mit einem erweiterten und modernisierten Curriculum. In diesem Artikel geht es um die traditionelle Medrese-Institution, wie sie bis etwa zum Anfang des 20. Jahrhunderts existierte; die gegenwärtig in der islamischen Welt und neuerdings im Westen, besonders in England, betriebenen Typen von Medresen werden hingegen nicht berücksichtigt. b) Der Begriff »Niedergang« benennt ein komplexes und umfassendes Phänomen. Der technische und finanzielle Zusammenbruch einer Institution lässt sich ebenso als Niedergang darstellen wie die Entartung bzw. zutage tretende Unzulänglichkeit ihres Lehrsystems, der Verlust an Bedeutung, Einfluss und Relevanz oder auch ihre Schließung infolge einer politischen Entscheidung. In diesem Artikel wird der Niedergang der Medrese eher im Sinne der Einbuße ihrer Funktion als tragender und zentraler Lernort für den jeweiligen Staat bzw. die Gesellschaft infolge der Modernisierung bzw. Säkularisierung diskutiert. Denn Tatsache ist, dass ihr die strukturelle, institutionelle und intellektuelle Dynamik fehlte, um den zunehmenden Wandel der geistigen und wissenschaftlichen Paradigmen mitzutragen oder gar selbst anzuregen und somit den sozialen, politischen und kulturellen Anforderungen gerecht zu werden. Die Türkei reagierte auf diese Unfähigkeit eben mit der Schließung dieser Institution, aber auch in jenen muslimischen Ländern, in denen 1 In einigen westlichen Ländern wie in England und Kanada lässt sich gegenwärtig ein Wiederbelebungsversuch der Medrese-Tradition beobachten.

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sie nach wie vor Bestand hat, gilt sie längst nicht mehr als zentraler Bildungsort innerhalb des staatlichen Schul- und Universitätswesens. c) Als die tragende, zentrale Institution der mittelalterlichen höheren islamischen Bildung war die Medrese in der gesamten islamischen Welt verbreitet. Da es unmöglich ist, in einem Artikel sämtliche Typen von Medresen, die sich im Lauf der Zeit herausbildeten, abzuhandeln, wird in diesem Artikel die seldschukisch-osmanische Tradition als Beispiel angeführt, zeichnet sich diese doch dadurch aus, dass sie hinsichtlich der Medrese weitgehend die gesamte islamische Welt repräsentiert. Andere Länder finden beiläufig Erwähnung.

2.

Das Unterrichtswesen der Medrese: Schwerpunkte der Lehre

Einige Historiker*innen, darunter der Orientalist George Makdisi (gest. 2002), definieren die Medrese als Ort des Studiums speziell der islamischen Jurisprudenz (fiqh) gemäß einer der etablierten und anerkannten islamischen Rechtsschulen (madhab). Ihr Hauptzweck sei es gewesen, Rechtsgelehrte (besonders ¯ Richter und Muftis) auszubilden, denen es in der Folge oblag, Gutachten oder Urteile zu diversen Fragen und Aspekten der Religionspraxis im Rahmen der zugehörigen Rechtsschule zu erteilen (vgl. Makdisi 1981). Dementsprechend nahm der fiqh – in der Regel einer, manchmal mehrerer etablierter Rechtsschulen – im Fächerkanon der Medrese-Ausbildung einen festen Platz ein. Da der fiqh, anders als die »Systematische Theologie« (kala¯m), neben ihrem theoretischwissenschaftlichen Gehalt auch einen starken praktischen Bezug zum Alltagsleben sowie zur Glaubenspraxis der muslimischen Gemeinde hatte, bedurften Inhaber von Ämtern sowie Experten in religiösen (z. B. ima¯m, muftı¯) und juristischen (qa¯d¯ı) Berufs- und Handlungsfeldern fundierter Kenntnisse in dieser ˙ Disziplin gemäß der etablierten und anerkannten Rechtsschule. Darüber hinaus wurden aber auch andere Fächer studiert bzw. gelehrt – darunter »Systematische Theologie« (kala¯m), Logik (mantiq) und Rhetorik (bala¯g˙a). Hadithsammlungen, ˙ wie etwa der Sah¯ıh von al-Buha¯rı¯ und jener von Muslim, gehörten ebenso zum ˙ ˙ ˙ ˘ Lehrprogramm wie bestimmte koranexegetische Werke. Daran wird deutlich, dass es sich bei der Medrese um eine Institution zum Studium der sogenannten »Traditionswissenschaften« (al-ʿulu¯m an-naqlı¯ya)2 handelte, weswegen es nicht

2 Die an der Medrese gelehrten Wissenschaften wurden nach ihren erkenntnistheoretischen Quellen in verschiedene Kategorien unterteilt. Die auf Offenbarung und religiöse Texte bezogenen Disziplinen wie Koran- und Hadithwissenschaften wurden als »Traditionswissenschaften« (al-ʿulu¯m an-naqlı¯ya) bezeichnet, jene, die auf Vernunft beruhten – also etwa Philosophie und Naturwissenschaften –, galten als »rationale Wissenschaften« (al-ʿulu¯mʿaqlı¯ya).

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verwundert, dass die auf Vernunft basierten »rationalen Wissenschaften« (alʿulu¯m al-ʿaqlı¯ya) kein primärer Bestandteil des Lehrkanons waren. Auch die Philosophie war – anders als die »Systematische Theologie« (kala¯m) sowie Logik und Rhetorik, die ebenfalls wesentliche Lehrinhalte darstellten – generell umstritten, in einzelnen Ländern und Zeitabschnitten sogar verboten. Mancherorts umfasste das Lehrprogramm auch Fächer wie Arithmetik, Astronomie und Geometrie.3 Im 18. Jahrhundert brachten die einflussreichen indischen Gelehrten Sˇa¯h Walı¯yulla¯h ad-Dihlawı¯ (gest. 1762) und Mulla¯ Niza¯maddı¯n (gest. 1748) frischen ˙ Wind in das in Indien etablierte Bildungssystem der Medrese. Das von Mulla¯ Niza¯maddı¯n entwickelte, auch als Dars-i Niza¯mı¯ bekannte, Programm, welches ˙ ˙ bis heute weitgehend erhalten ist, räumt den »rationalen Wissenschaften« (die neben Mathematik und Astronomie auch die Philosophie einschlossen) eine große Rolle ein. Sˇa¯h Walı¯yulla¯h wiederum leistete neue Beiträge im Bereich der Hadith- und Koranstudien. Der Hadith sollte jedoch besonders ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Aktivitäten der ahl al-Hadith an Gewicht gewinnen.4 Während sich das Studium der islamischen Jurisprudenz (fiqh) an sunnitischen Medresen generell an einer der anerkannten Rechtsschulen orientierte, war die Theologie (kala¯m) stark durch die orthodoxe Schule der Asˇʿarı¯ya bestimmt und geprägt: Schon zur Gründungszeit lehrten an den vom SeldschukenWesir Niza¯m al-Mulk zur Förderung des sunnitischen Islams (in Form der ˙ Asˇʿarı¯ya) eingerichteten Niza¯mı¯ya-Medresen in Bagdad und Nischapur die ˙ großen Vordenker der Asˇʿarı¯ten. Der berühmteste von ihnen war al-G˙ azza¯ lı¯ (gest. 1111), dessen theologisch-philosophische Ideen und Kommentare bis heute kontrovers diskutiert und bewertet werden. Vor ihm hatte bereits sein ˇ uwaynı¯ (gest. 1085), ebenLehrer Abu¯ l-Maʿa¯lı¯ ʿAbdalmalik ibn ʿAbdalla¯h al-G falls ein einflussreicher asˇʿarı¯tischer Theologe, an der Niza¯mı¯ya in Nischapur ˙ gelehrt.5 Muhammad asˇ-Sˇahrasta¯ nı¯ (gest. 1153), der seine Theologieausbildung ˙ ˇ uwaynı¯s Schülern absolviert hatte, unterrichtete drei Jahre an der Nibei al-G za¯mı¯ya in Bagdad.6 Neben al-G˙ azza¯ lı¯ beeinflusste auch Fahraddı¯n ar-Ra¯zı¯ (gest. ˙ ˙

3 4 5 6

Zu grundlegenden Auskünften über die Lehrprogramme der Medresen siehe Makdisi (1981); Shalaby (1954); I˙zgi (1997). In Indien wurden diese Fächer sowie grundlegende Quellenwerke des Altindischen (Sanskrit) zur Zeit von Muhammad Akbar (reg. 1556–1605) in das Programm aufgenommen (vgl. Keay ˙ 1938). Zur Gelehrtenkultur in Indien siehe Preckel (2005) sowie Malik (1997). Sein theologisches Werk al-ʿAqı¯da an-niza¯mı¯ya wurde von Helmut Klopfer unter dem Titel ˙ Das Dogma des Imâm al-Haramain al-Djuwainî und sein Werk al-’Aqîdat an-nizâmîya ins ˙ ˙ Deutsche übersetzt. Sein Kita¯b al-mihal wa n-nihal (»Buch der Gruppierungen und Glaubensrichtungen«) gehört zu den Standardwerken der islamischen Bildung und Gelehrsamkeit.

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227

1210), ebenfalls Asˇʿarı¯t, das theologische Denken an der Medrese. Das von ihm systematisierte theologische Leitbild wurde von seinen Schülern in weiten Teilen der islamischen Welt verbreitet.7 Die Asˇʿarı¯ten wirkten nicht nur an der institutionellen Gründung und Entwicklung der Medrese maßgeblich mit, sondern gestalteten auch die Lehrpläne sowie Lehrbücher nach ihrem Theologieverständnis. Hierzu gehören insbesondere die Werke al-Mawa¯qif von ʿAdudaddı¯n al-I¯gˇ¯ı (gest. 1355) oder al-Maqa¯sid ˙ von Saʿdaddı¯n at-Tafta¯ za¯nı¯ (gest. 1390). Fortan bestimmte das an der Niza¯mı¯ya ˙ vertretene theologische Paradigma das gesamte Bildungswesen sowie die muslimische Gelehrsamkeit der sunnitischen Welt. Selbst die Osmanen, die sich ansonsten der hanafitisch-ma¯turı¯dischen Tradition verpflichtet sahen, übernahmen das seldschukische Modell der Medrese samt Organisation, Administration und Curricula.8

2.1

Kritik an der Medrese

Bereits in früheren Epochen war die Medrese aus unterschiedlichen Gesichtspunkten heraus immer wieder Gegenstand von Kritik gewesen. So etwa machte Ibn Haldu¯n (gest. 1406) mit Blick auf die traditionelle Bildung in den Maghreb˘ Ländern geltend, dass rigorose, radikale und repressive Erziehungsmethoden erheblichen Schaden anrichteten, da sie die menschliche Natur verderben und der Aneignung negativer Traditionen Vorschub leisten würden (vgl. Hamdi 2009, S. 220ff.). Für ihre Kritik der osmanischen Medresen in Istanbul sind der osmanische Bürokrat Koc¸i Bey (gest. 1650) und der Universalgelehrte Ka¯tib Çelebi (gest. 1657) bekannt. Auch der osmanische Geschichtsschreiber Gelibolulu Mustafa Ali (gest. 1600) klagte zu Beginn des 17. Jahrhunderts darüber, dass der Unterricht an den Medresen unregelmäßig und oft von unqualifizierten Lehrern, die sich ihre Posten zum Teil erkauft hätten, erteilt würde (Mustafa Ali 1978– 1982). Wie den anderen Institutionen des Staatsapparats wurde also auch der Medrese ein anhaltender Mangel an Dynamik und Effektivität bescheinigt. Freilich waren die Defizite in Sachen fachlicher Qualifikation und Expertise der Gelehrten sowie Qualität und Effektivität des Unterrichts zu einem Gutteil der allgemeinen sozioökonomischen Entwicklung des Landes geschuldet. Korruption, besonders die Vetternwirtschaft bei der Ämtervergabe, und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit unter qualifizierten Absolventen vor allem in 7 Im Irak, Iran, in Transoxanien und Ostanatolien v. a. durch At¯ıraddı¯n al-Abharı¯ (gest. 1265) ¯ und dessen Schüler Qutbaddı¯n asˇ-Sˇ¯ıra¯zı¯ (gest. 1311) sowie Qutbaddı¯n ar-Ra¯zı¯ (gest. 1366), im ˙ ˇ urgˇa¯nı¯ (gest. 1413); Osmanischen Reich u. a.˙ durch Sayyid Sˇarı¯f al-G siehe dazu Karlıg˘a (1999). 8 Zu osmanischen Medresen siehe I˙zgi (1997); Atay (1983); Uzunçars¸ılı (1988).

228

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Anatolien führten zu Unzufriedenheit und vereinzelt zu Zusammenrottungen oder gar Aufständen der Studentenschaft.9 Während die Kritik zunächst jedoch nicht grundsätzlich gegen das Bildungssystem der Medrese gerichtet war, sondern sich primär auf Probleme innerhalb des Lehrbetriebs bezog, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fundamentale, folgenschwere Vorwürfe laut, die bis zum Befund reichten, dass die Institution Ursache für den Niedergang des islamischen Denkens sei. In der Tat war sie im Laufe der Geschichte statisch geblieben und hatte sich mithin als unfähig erwiesen, mit den sich ändernden Bedingungen und Entwicklungen Schritt zu halten. Weder Lehrpläne noch Lehrmethoden waren wesentlich weiterentwickelt und aktualisiert worden. »Indem man sich auf das Studium bestimmter Bücher fokussierte und nicht die Themen in ihrer Komplexität im Blick hatte«, so Fazlur Rahman (gest. 1988), »förderte man eine Form des Lernens, die nicht auf fundiertem Verstehen, sondern auf sturem Memorieren basierte« (Rahman 2002, S. 189). Die Gelehrten hätten es nicht vermocht, ein dynamisches und kreatives Denk- und Lehrsystem zu entwickeln und sich so an die wissenschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Im Gegenteil hätten die asˇʿarı¯tischen Theologen an Lehrinhalten festgehalten, die, so Rahman, »vollkommen abgeschottet von jeglicher Anfechtung, intellektueller Herausforderung und von Gegenargumenten durch Andersdenkende« (ebd., S. 186) waren. Diese Starrheit und Stagnation war besonders im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts spürbar. Die Nutzlosigkeit des Unterrichtsprogramms und die Unzulänglichkeiten der herkömmlichen Lehrmethode wurden beispielsweise von Ali Suavi (gest. 1878), einem osmanischen Pädagogen, Theologen und Reformator, thematisiert.10 Dieser schilderte im Jahre 1868 den Fall eines fiktiven zeitgenössischen Medrese-Absolventen, der ein Studium, bestehend aus den Fächern Arabisch (Grammatik und Syntax), Rhetorik, Logik, Jurisprudenz, Theologie und auch Philosophie, durchlaufen und im Alter von 30 Jahren abgeschlossen hatte. Davon, dass er nunmehr über eine solide Wissensbasis verfügte, konnte freilich keine Rede sein. Weder war er imstande, sein über lange Zeit erlerntes Arabisch schriftlich oder mündlich anzuwenden, noch gingen seine Kenntnisse in der Jurisprudenz (fiqh) über jene eines Laien hinaus (Ali Suavi 1867b). Ali Suavi monierte zudem den Mangel an gut qualifizierten Gelehrten sowie das Ausbleiben von theologischen Schriften, die originale, kreative und wegweisende Ideen präsentieren würden – lieber beschäftige man sich mit

9 Zu allgemeinen Problemen der Bildung in der osmanischen Medrese (Korruption, Ämterverkauf, Vetternwirtschaft usw.) siehe neben Mustafa Alis Nushatü’s-selâtin auch Koçi Bey (1277, S. 33–37); Katib Çelebi (1941–1943, S. 680). 10 Ali Suavi (1839–1878), Lehrer, Redakteur, Prediger und Verfechter des »Osmanismus«. Zu seiner Biografie und Denkweise siehe Çelik (1994).

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Kommentarwerken, Subkommentaren und Randbemerkungen zu bereits vorliegenden Werken, die allesamt wenig Substanz aufwiesen (Ali Suavi 1867a). Im Gegensatz dazu suchten viele Gelehrte die Ursachen nicht primär im System der Medrese, sondern vielmehr in der neuen Politik des Staates. Alizâde Hoca Muhyiddin, ein Vertreter der Ulema und Medrese-Lehrer, beklagte in einem 1897 in Kairo verfassten und 1908 der religiösen Behörde in Istanbul vorgelegten umfassenden Entwurf zur Verbesserung der Medresen den schlechten Zustand der Medrese und den Verfall ihrer Gebäude, Räumlichkeiten, Wohnheime und Stiftungen. Die Verantwortung dafür sah er bei der osmanischen Führung, namentlich bei Abdulhamid II.: Habe der Staat vom 15. bis zum 19. Jahrhundert die Medresen geschützt und gefördert, seien sie später – besonders nach den »Neuordnungen« (Tanz¯ıma¯t) von 1839 – zunehmend ver˙ nachlässigt worden. Der Staat hätte kein Interesse mehr gehabt, Gelehrte auszubilden, die sowohl in religiös-theologischen als auch in rational-weltlichen Wissenschaften bewandert waren (Alizâde Hoca Muhyiddin 1314, S. 4f.). In einer Stellungnahme aus dem Jahre 1913, die von 200 Medrese-Professoren unterzeichnet wurde, wird ebenfalls der Politik die Schuld an den Mängeln im System der Medrese zugewiesen (siehe Sarıkaya 1997). Daran wird deutlich, dass Gelehrte und Studierende der Medrese den wesentlichen Grund für den Niedergang der Lehre in den gewandelten politischen Prioritäten und Entscheidungen des Staates sahen.

2.2

Reformvorschläge zur Bewahrung der Medrese

Ende des 19. Jahrhunderts waren sich viele Theologen – von Istanbul über Kairo und Kasan bis nach Indien – in dem Bestreben einig, die traditionelle Ausbildung an der Medrese durch Aufnahme moderner Fächer sowie durch Übernahme geisteswissenschaftlicher Methoden des Westens zu erneuern. So etwa gab der berühmte Reformtheologe Muhammad ʿAbduh (gest. 1905) einen wichtigen Anstoß für die Umgestaltung des Curriculums der Azhar-Universität, der Hochburg traditionellen islamischen Lernens. Dazu gehörten beispielsweise dessen Ergänzung um moderne geisteswissenschaftliche und auch naturwissenschaftliche Fächer sowie die Ausrichtung der Primar- und Sekundarstufe hin auf die hochschulische Bildung.11 Auch im Osmanischen Reich wurden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Bemühungen zur Reformierung des Unterrichtswesens der Medrese 11 Zu ausführlichen Informationen vgl. Rahman (1984, S. 192); ders. (1984, S. 63ff.). Zwei weitere grundlegende Reformen wurden an der Azhar, die nach wie vor die angesehenste islamische Hochschule in der islamischen Welt darstellt, in den Jahren 1911 und 1961 umgesetzt.

230

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unternommen.12 Die weitverbreitete Überzeugung, dass die islamischen Wissenschaften den inhaltlichen und methodischen Bedürfnissen der Zeit nicht entsprachen, mündete im Ruf nach einer Erneuerung, und diesbezügliche Forderungen wurden in wissenschaftlichen Kreisen immer lauter. Im Jahre 1867 kamen 15 Bildungsexperten zusammen – der Großteil davon Professoren an Medresen Istanbuls –, um Schwächen und Probleme im Bildungssystem der Medrese jener Zeit zu besprechen und über eine Neuorganisation zu beraten. Als Ergebnis lag zum ersten Mal eine urkundliche Bestätigung dessen vor, dass das existierende System mit traditionellem Programm und herkömmlichen Methoden an den Bedürfnissen der Gegenwart vorbeiging. Die vorgeschlagenen Reformmaßnahmen betrafen in erster Linie die Einteilung des Studiums in Schulstufen sowie die Festlegung der Fächer und Lehrwerke nach Schuljahren. Nicht nur das theologische Wissen sollte dabei gefördert und gelehrt werden, sondern auch die Fähigkeiten und Kenntnisse auf dem Gebiet der mathematischen Wissenschaft (Atay 1983, S. 191). Der bereits erwähnte Pädagoge und Theologe Ali Suavi forderte, die Bildung an der Medrese sukzessiv in drei Stufen zu gliedern. In der ersten Stufe sollten auch Fächer wie Türkisch, Geometrie, Astronomie, Geografie und Geschichte gelehrt werden, die zweite und die dritte Stufe sollten dem Studium des islamischen Rechts sowie der modernen Sozialund Geisteswissenschaften gewidmet sein. Nur so könnten Fachleute (Theologen, Imame, Lehrer etc.) ausgebildet werden, die mit den geistigen und wissenschaftlichen Herausforderungen der Zeit vertraut wären und somit das Spannungsfeld zwischen Islam und Wissenschaft konstruktiv meistern könnten (Ali Suavi o. J., S. 414f.).13 Ein erstes umfassendes Reformkonzept legte der bereits erwähnte Gelehrte Alizâde Hoca Muhyiddin im Jahre 1897 vor. Dieses sah die Integration der Medrese in das öffentliche Bildungssystem vor, wodurch jeder Studierende nach dem Abschluss berechtigt sein würde, sich an einer höheren Medizin-, Jura- oder Zivilbeamtenschule einzuschreiben. Das neue Lehrprogramm sollte neben den traditionellen Disziplinen auch moderne mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer enthalten. Arabisch sollte seinen Status als allgemeine Unterrichtssprache in religiös-theologischen Disziplinen beibehalten, in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern sowie in Philosophie und Geschichte hingegen auf die arabischen Provinzen beschränkt bleiben und in türkischen Gegenden der türkischen Sprache Platz machen. Außerdem wurde Französisch als Fremdsprache empfohlen (Alizâde Hoca Muhyiddin 1314, S. 4f.). Ferner sprach sich Hoca Muhyiddin für die Reorganisation der Unterrichtsabteilung bei der 12 Zu einer Übersicht siehe Sarıkaya (1997). 13 Zur Analyse und Interpretation seiner Ansichten über die Reform der Medrese siehe Çelik (1994, S. 650–656).

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obersten religiösen Autorität des Staates (S¸eyhülislam) aus – er schlug die Bildung einer Fachkommission vor, die sowohl die religiös-theologischen als auch die modernen Geistes- und Naturwissenschaften vertreten und zudem über Kenntnisse einer europäischen Fremdsprache verfügen würde. Die Aufgaben dieser Kommission sollten die Herausgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die Übersetzung neuer wissenschaftlicher Werke, Aufsätze und Abhandlungen in sämtlichen Fachbereichen ins Türkische, die jährliche Entsendung von zehn Theologiestudenten nach Europa sowie die Ausarbeitung einer neuen, den Bedürfnissen jener Zeit gerecht werdenden islamischen Theologie umfassen (Alizâde Hoca Muhyiddin 1314, S. 24f.). Nach einem langen, von vielen Debatten begleiteten Reformprozess wurden die osmanischen Medresen mittels zweier Verordnungen – aus dem Jahr 1910 bzw. 1914 – grundlegend reorganisiert. Auch das Lehrprogramm wurde um neue Fächer erweitert. Dem damit verfolgten Ziel der Wiederbelebung der Medrese und der Steigerung ihrer Attraktivität stand allerdings die Tatsache entgegen, dass der osmanische Staat mit großen innen- und außenpolitischen sowie diplomatischen Problemen zu kämpfen hatte. Vor allem aber sah er sich mit gravierenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Schwierigkeiten konfrontiert – eine Folge der Balkankriege und des daran anschließenden Ersten Weltkriegs –, die 1918 zum faktischen Zusammenbruch des Osmanischen Reiches führten. Daher blieben diese Reformversuche schließlich größtenteils ergebnislos. Nach Ausrufung der Republik Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches im Jahre 1923 wurden die Medresen durch ein Gesetz zur »Vereinheitlichung der Bildung« (tevhid-i tedrisat) 1924 endgültig abgeschafft. Dies bedeutete das Ende des traditionellen Bildungswesens in der Türkei. Auch Indien war Schauplatz von kontroversen Debatten und Erneuerungsbewegungen im Bereich der islamischen Bildung. Tenor der Kritik war, dass die Medresen nicht mit den Entwicklungen in der Welt Schritt halten und sich daher nicht selbst erneuern könnten. Ein entscheidender Wendepunkt für das muslimische Bildungssystem in Indien trat nach 1858 ein, als die Briten dem Mogulreich ein Ende setzten. Im Anschluss daran sollte die traditionelle Medrese-Ausbildung im Rahmen der Neustrukturierung des Bildungswesens nach europäischem Muster umgestaltet werden, Colleges traten an die Stelle von Medresen. Eine Gruppe muslimischer Gelehrter, die sich dem orthodox-puritanischem Gedankengut verpflichtet sah, versuchte, dieser Herausforderung mit der Errichtung einer neuen Medrese zu begegnen: 1866 in Deoband im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh gegründet, wurde diese Medrese nach der Eröffnung neuer Abteilungen Da¯r al-ʿulu¯m Deoband genannt. In der Folge entstanden fast 40 mit der da¯r al-ʿulu¯m verbundene Medresen. Mittlerweile geht die Anzahl der von den Deobandis ins Leben gerufenen Medresen in die Tausende.

232

Yas¸ar Sarıkaya

Auch andere religiöse Bewegungen in Indien gründeten Medresen, um ihre Lehren zu vermitteln bzw. zu verbreiten. Zu nennen ist hier beispielsweise der Nadwat al-ʿUlama¯ʾ (»Rat der Gelehrten«), eine 1892 in Kanpur gegründete Bildungsgesellschaft. Diese unterhält seit 1898 ein »Haus der Wissenschaften« (da¯r al-ʿulu¯m), in dem ein Bildungssystem angewandt wird, welches das traditionelle Medrese-System mit Elementen der westlichen Bildung zu verbinden sucht. Eigene Medresen werden auch von der Barelwi-Bewegung, die sich im späten 19. Jahrhundert um den Sufi-Gelehrten Ahmad Riza Khan (gest. 1921) auf dem indischen Subkontinent formierte, sowie von schiitischen Muslimen betrieben – dies in verschiedenen Städten Indiens, hauptsächlich in Lucknow und Bombay (vgl. Kaur 1990).

2.3

Die Frage des Niedergangs

Die Geschichte der Medrese wird von muslimischen Bildungshistoriker*innen generell parallel zur politischen Geschichte behandelt. Wie in Bezug auf viele andere traditionelle Institutionen wird auch mit Blick auf die Medrese von einer Phase der Genese, einer des Aufstiegs und einer des Niedergangs gesprochen. Dieser Sichtweise zufolge markiert beispielsweise das Ende des 16. Jahrhunderts den Beginn eines Niedergangsprozesses der osmanischen Medrese – parallel zu jenem des Systems der politischen Ordnung. Während diese Institutionen, so die vorherrschende Meinung, bis zum Ende des 16. Jahrhunderts sowohl organisatorisch als auch vom Lehrsystem her mustergültig funktionierten, habe sich danach allmählich eine Denkweise durchgesetzt, die sich gegen die »auf Vernunft basierten Wissenschaften« (al-ʿulu¯mʿaqlı¯ya) stellte. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung beschränkte sich das Lehrprogramm auf die religiösen Traditionswissenschaften (al-ʿulu¯m an-naqlı¯ya), während etwa Philosophie und Naturwissenschaften ausgeschlossen wurden. In manchen traditionalistisch ausgerichteten Medresen wurde selbst die »Systematische Theologie« (kala¯m) als zweifelhaft angesehen und entsprechend ignoriert. Zudem wurden Posten vermehrt aufgrund von Bestechung und Privilegien mit mangelhaft qualifizierten Lehrkräften besetzt. Diese negative Entwicklung beeinträchtigte zunehmend das gesamte Unterrichtswesen an der Medrese. Soweit die übliche Darstellung. Hierzu stelle ich folgende Frage: Wurden die auf Vernunft basierten Wissenschaften wirklich vernachlässigt? Gewiss hatten Korruption und Unregelmäßigkeiten, wie die Besetzung von Posten mit nicht qualifizierten Lehrpersonen, gravierende Folgen für das Unterrichtswesen an der Medrese. Die These jedoch, dass der Niedergang der Medrese der Vernachlässigung der »rationalen Wissenschaften« (al-ʿulu¯m ʿaqlı¯ya) geschuldet sei, ist meines Erachtens nicht plausibel. Die Medrese ist Ort des

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Studiums der religiös-theologischen Wissenschaften, insbesondere der islamischen Jurisprudenz, und mithin zuständig für die Ausbildung von Fachleuten im religiösen und juristischen Bereich.14 Die »rationalen Wissenschaften« waren ein gelegentliches, individuelles Betätigungsfeld einzelner Gelehrter, meist außerhalb der Lehrtätigkeit an der Medrese. Und selbst wenn sie zuweilen Eingang in die Lehrpläne der Medrese fanden, gehörten sie bestenfalls zu jenen Disziplinen, die als »Hilfswissenschaften« studiert wurden. »Rationale Disziplinen« (al-ʿulu¯m ʿaqlı¯ya), die vor dem 16. Jahrhundert zum Fächerkanon der Medrese gehört hatten, wurden in der Regel auch nach dem 16. Jahrhundert unterrichtet, und es gab grundsätzlich eine curriculare Kontinuität und eine lange konstante Lehrtradition (betreffend Lehrprogramm, Unterrichtsziele, Inhalte usw.). Eine entscheidende und umfassende curriculare und organisatorische Neugliederung und Änderung im Lehrsystem der islamischen Bildung wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert bzw. durchgeführt. Die Frage, die sich hier stellt, ist also jene nach einem Zusammenhang zwischen dem Niedergang der Medrese und der Stellung der »auf Vernunft basierten« Wissenschaften. Hält man sich nun vor Augen, dass beispielsweise die osmanischen Medresen ihre Blütezeit im 15. Jahrhundert erlebten – worauf war dies zurückzuführen? Etwa darauf, dass die »auf Vernunft basierten Wissenschaften« zum Fächerkanon gehörten? Damit ist angedeutet, dass sich hier kein eindeutiger und unmittelbarer Zusammenhang konstatieren lässt. Denn im Lehrsystem der Medrese standen die »Traditionswissenschaften« im Vordergrund – mit dem Hauptzweck, Lehrer, Richter, Muftis etc. für verschiedene Posten des Gelehrtenestablishments auszubilden. Daher sollten bei der Diskussion und Bewertung des Lehrsystems der Medrese besonders folgende Aspekte berücksichtigt werden: – das theologische und wissenschaftliche Verständnis, welches die Medrese seit ihrer Gründung vertreten hat, – der historische Kontext, – die Relevanz und Funktion der Medrese für den Staat und die Gesellschaft.

2.3.1 Das theologische und wissenschaftliche Verständnis Das an der Medrese seit ihrer Institutionalisierung im zwölften Jahrhundert gültige theologische Paradigma basiert auf den Grundlagen der sunnitischen Glaubenslehre, die, wie bereits gezeigt, stark von den Autoren der asˇʿarı¯tischen Theologieschule geprägt ist. Charakteristisch dafür ist der Standpunkt, dass die 14 Viele türkische Bildungshistoriker sehen einen Grund für den Niedergang der Medrese in der Vernachlässigung der rationalen Wissenschaften. Siehe Yaltkaya (1940, S. 463–467); Atay (1983, S. 133–173); Uzunçars¸ılı (1988, S. 67–70).

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Vernunft – und damit das rationale Denken – der Offenbarung untergeordnet ist. Diese Fokussierung auf die Überlieferungswissenschaften schlug sich an den Medresen in der Form nieder, dass Lernen faktisch in sturem Memorieren bestand und Wissenschaften, von denen angenommen wurde, dass sie für Glauben und Gottesdienst nicht von Nutzen seien, eine Randexistenz führten. Darüber hinaus war die gesamte Lehre an den Medresen sowohl von der Überzeugung getragen, dass es auf dem Gebiet der Religion nichts Neues zu sagen gebe, das Tor der »freien Anstrengung« (igˇtiha¯d) folglich geschlossen sei, als auch von der Pflicht, die von den früheren großen Gelehrten festgelegten religiösen Grenzen zu wahren. Eine solche Denkweise offenbart jedoch fundamentale methodische und inhaltliche Probleme im theologischen Paradigma. Insbesondere die Überzeugung, dass es nichts Neues zu sagen gebe, schmälerte nicht nur den wissenschaftlichen und intellektuellen Denkhorizont, sondern erstickte auch jedwede Chancen und Potenziale für einen dynamischen Fortschritt und eine grundsätzliche Anschluss- und Anpassungsfähigkeit an die neuen Bedingungen, die sich im Laufe der Zeit herauskristallisierten. Ein Lehrsystem, das Studierende nicht dazu befähigt, kritisch-reflexiv zu denken, Probleme selbständig zu lösen, kreative Ideen und Konzepte zu entwickeln, kann auch nicht für die neuen geistigen und wissenschaftlichen Herausforderungen der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Ortes gerüstet sein. Betrachtet man die religiös-theologische Literatur, die über die gesamte Geschichte des Osmanischen Reiches hinweg verfasst wurde, ist denn auch festzustellen, dass die Zahl jener Werke, welche bahnbrechende und schöpferische Ideen und Interpretationen beinhalten, denkbar gering ist. Fazlur Rahman sieht den Hauptgrund dafür in dem der Medrese zugrunde liegenden Wissensbegriff und -verständnis und liefert dafür eine prägnante Erklärung: »Während in der Moderne Wissen als etwas betrachtet wird, das es mit dem Verstand, dem eine aktive Rolle zugewiesen wird, zu entdecken und zu ergründen gilt, war im Mittelalter Wissen etwas, das man erwerben oder gewinnen konnte. D. h. es herrschte kein kreatives, sondern ein passives und rezeptives Verständnis von Wissen vor.« (Rahman 2002, S. 191)

2.3.2 Historischer Kontext Hinsichtlich der Epoche, in der sie gegründet wurde, handelt es sich bei der Medrese um eine Institution der islamischen Bildung des islamischen Mittelalters. Historisch betrachtet fiel ihre Entstehung in die Zeit nach der Genese bzw. der Kanonisierung der islamischen Wissenschaften – der Theologie und Jurisprudenz ebenso wie der Koran- und Hadithwissenschaften, für deren Entwicklung bzw. Kanonisierung sie demnach keine grundlegende und entscheidende Rolle spielte. Die Medrese diente vielmehr als Ort der Vermittlung der etablierten

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Wissenschaften, deren Haupt- und Referenzquelle die dazugehörigen kanonisierten Werke waren. Und so konzentrierte sich die wissenschaftliche Tätigkeit der Gelehrten im Laufe der Zeit auf die Kommentierung von Werken, von denen jedes auf seinem Gebiet als Maßstab und Standard angesehen wurde. Worum es also generell ging, war die Bewahrung und Tradierung bzw. Aneignung und Weitergabe des bereits vorhandenen und kanonisierten Wissens. Ein weiteres grundlegendes Thema im historischen Kontext ist die der Medrese zugedachte politische Rolle. Diese bestand – nach ihrer Integration in den Staatsapparat unter den Seldschuken gegen Ende des elften Jahrhunderts – darin, den sunnitischen Glauben gegen die konkurrierenden Schulen (damals die schiitischen Fatimiden in Ägypten) zu verteidigen. Damit komme ich zum dritten Aspekt. 2.3.3 Relevanz und Funktion der Medrese für den Staat Unter dem seldschukischen Großwesir Niza¯m al-Mulk (gest. 1092) wurde die ˙ Medrese systematisch und institutionell im Staatsapparat verankert, um fortan einerseits der staatlich geförderten religiösen Denkweise zum Durchbruch zu verhelfen und andererseits Fachleute auszubilden, die als Lehrer, Richter und Muftis eingesetzt werden konnten. Dies gilt auch für die Osmanen. In ihrer Funktion als islamische Bildungseinrichtung, die bei der Ausbildung der staatlichen Elite, der Beamten, Professoren, Richter, Muftis und anderer wichtiger Würden- und Amtsträger eine zentrale Rolle spielte, entsprach die Medrese den Anforderungen des Staates. Die Gelehrten wiederum dienten dem Staat, indem sie ein seiner Räson konformes Wissen vermittelten. Eine elementare Entwicklung, welche die Medrese zunehmend überflüssig machte, trat mit der »Neuorientierung« des Staates (z. B. in Ägypten und dem Osmanischen Reich) ein, ein Phänomen, welches insbesondere durch die Begriffe »Verwestlichung«, »Modernisierung«, »Erneuerung« etc. definiert wird. Die Einrichtung von Schulen nach europäischem Muster ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts führte schließlich zur Trennung von weltlich-öffentlicher und religiöser Bildung. Im Osmanischen Reich versuchte der Staat ab 1839 konsequent, den Einfluss der Medrese weitgehend und nachhaltig einzudämmen, da er in ihr ein Hemmnis sah, das seiner Modernisierungs- und Säkularisierungspolitik per se entgegenstand. In der Folge begannen die Gelehrten, die zuvor für die Modernisierung des Heereswesens und die Einrichtung technisch-militärischer Schulen plädiert hatten, von der neuen Politik Abstand zu halten (Findley 1980, S. 62). Nach mehreren Jahrzehnten der Reformen unterschiedlichster Art erließen die Osmanen 1869 eine »Verordnung zur öffentlichen Bildung« (Maârifi Umûmiye Nizâmnâmesi), in der das gesamte Bildungswesen nach dem Vorbild

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des französischen Systems zusammengefasst wurde.15 Für die Medrese sollte sich dies als tödlicher Schlag erweisen. Nunmehr war sie nicht mehr eine tragende Einrichtung des Staates, sondern nur noch ein Lernort, der jenseits der staatlich geförderten öffentlichen Schulen lediglich geduldet war. Sozialen Aufstieg und berufliche Sicherheit aber versprach allein das neue Schulsystem: Um Beamter werden oder eine gehobene Stelle antreten zu können, bedurfte es des Abschlusses einer staatlich geförderten Schule, die gegenüber der Medrese technisch und finanziell besser und moderner ausgestattet, effektiver organisiert und ausgebaut war (Findley 1980, S. 62). Somit brachte das Studium an der Medrese nicht nur kein Prestige mehr mit sich – diese Entwicklungen ließen die Medrese für den Staat zunehmend zum Ballast werden, der zunächst ignoriert wurde, dessen man sich in der Folge jedoch entledigen wollte. Mit der Niederlage und dem Ende des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg waren die Anfang des 20. Jahrhunderts eingeleiteten Reformmaßnahmen zur Wiederbelebung bzw. Erhaltung der Medrese gescheitert, bevor sie nachhaltig hatten umgesetzt werden können. Anders als in der Türkei konnte sich die Medrese in vielen anderen muslimischen Ländern als eine Bildungsinstitution (entweder integriert im staatlichen Bildungswesen oder als private Ausbildungsstätte für Geistliche) bis heute halten. So gibt es etwa in Indien heute noch – trotz vieler Einschränkungen aufgrund neu gegründeter Universitäten – viele Medresen, die, wie erwähnt, von verschiedenen muslimischen Schulen bzw. Gruppen unterhalten werden. Und auch in Pakistan wurden nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1947 neue Medresen eingerichtet, die ungeachtet der landesweiten Implementierung moderner Bildungseinrichtungen von der Grundschule bis zur Universität nicht an Bedeutung verloren haben. In der Zeit von Zia-ul-Haq (gest. 1988) wurden Medresen-Diplome sogar als Universitätsdiplomen gleichwertig anerkannt, sofern bestimmte Prüfungen bestanden wurden. 1984 überschritt die Anzahl der Medresen im ganzen Land 1.800.16 In Syrien bieten viele Medresen außerhalb des staatlichen Bildungswesens noch heute eine religiöse Ausbildung an. Da jedoch die Abschlüsse nicht anerkannt werden, gehen viele Studierende nach Ägypten, um ihr Theologiestudium an der Azhar-Universität zu absolvieren.17 In England wetteifern verschiedene muslimisch-religiöse Gruppen – besonders pakistanischer oder indischer Herkunft – über die Medrese um Einfluss und Macht.18 15 16 17 18

Der ganze Text ist im Düstûr (1. Reihe, II, 1289, S. 184–219) in arabischer Schrift zu finden. Zu den Medresen in Pakistan vgl. Rahman (1984, S. 42, 112ff.). Diese Information basiert auf der Auskunft meines Mitarbeiters Ibrahim Alkresh. So etwa bietet Darul Uloom Leicester neben den Islamkursen auch eine Sekundarschulbildung für Jungen gemäß dem nationalen Lehrplan an, während Cambridge Muslim College einem modernen Lehrprogramm für Mädchen und Jungen folgt. Für diese Information danke ich Dr. Idris Nassery von der Universität Paderborn.

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3.

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Fazit

Die Medrese ist eine Institution des islamischen Mittelalters, die aus der religiöstheologischen und wissenschaftlichen Denkweise jener Zeit hervorgegangen ist und unverkennbar deren Züge trägt. Im Zuge der Ende des 18. Jahrhunderts in einem großen Teil der islamischen Welt in Angriff genommenen Modernisierung wurde die Medrese als traditionelle Institution zum Gegenstand vielschichtiger Kritik und zum Adressaten der Forderung nach Erneuerung. Die Unzulänglichkeit und Inflexibilität des Systems sowie die Unfähigkeit der Gelehrten, das Unterrichtswesen gemäß den jeweiligen zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten nachhaltig zu erneuern, waren ebenso ein wichtiger Grund für den Niedergang der Medrese wie die ab dem 19. Jahrhundert gewandelten politischen Prioritäten und Entscheidungen des Staates (»Verwestlichung«, »Modernisierung«, »Säkularisierung« etc.). Die Medrese, davor eine fundamentale Institution im Staatsapparat, stellte danach nur noch eine Altlast oder eine aus der Zeit gefallene Institution dar, die man zunächst faktisch ignorierte und dann – vergeblich – den modernen Anforderungen entsprechend zu reformieren versuchte. In der Türkei wurden die Medresen im Jahre 1924 geschlossen, während sie in einigen anderen Ländern jenseits des offiziellen staatlichen Bildungssystems bis heute erhalten sind. Deutlich wird gleichwohl, dass die Medrese, auch wenn sich weltweit Wiederbelebungsbestrebungen beobachten lassen, heute in keinem Land die Bedeutung und die Relevanz für den Staat und die Gesellschaft besitzt, die sie einst in der Geschichte innehatte. Vor diesem historischen Hintergrund dürfte Versuchen der Wiederbelebung kaum Aussicht auf Erfolg beschieden sein – in dem Sinn, dass diese eine Perspektive für eine zeitgemäße islamische Bildung versprechen könnten. Wollen wir uns der Metapher von der Geschichte als einem unaufhaltsam strömenden Fluss bedienen, könnten wir sagen, dass die Medrese als Institution des islamischen Mittelalters in diesem Fluss lange versunken ist.

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Islamische Erziehung und Bildung im Kontext der Institutionalisierung und Beheimatung des Islams in den pluralen Gesellschaften Europas

Margit Stein / Veronika Zimmer / Rauf Ceylan

Islamische Erziehung und Säkularisierung: Herausforderungen für muslimische Familien und den islamischen Religionsunterricht in Deutschland

Zusammenfassung Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist das Feld der gesellschaftlichen Sozialisationsinstanzen Familie und Schule, in denen die Vermittlung des Islams an Kinder und Jugendliche in Deutschland inmitten einer christlich und säkular geprägten Mehrheitsgesellschaft stattfindet. Der Beitrag beginnt mit einem Überblick über Werteorientierungen unterschiedlich religiös geprägter Personengruppen, wobei hier der Schwerpunkt auf den Kindern und Jugendlichen liegt. Wie im christlichen Kontext zeigt sich auch im muslimischen Bereich ein religiöser Wandel von der Eltern- zur Kindergeneration mit einer Abschwächung insbesondere religiöser alltagsbezogener Werte. Darauf aufbauend wird der Frage nachgegangen, ob – und wenn ja, wie – sich christlich geprägte und muslimisch geprägte Familien hinsichtlich wichtiger Erziehungsziele und Erziehungspraktiken voneinander unterscheiden. Was sich konstatieren lässt, ist die in muslimischen Elternhäusern im Vergleich zu christlich oder säkular geprägten Familien nach wie vor große Rolle der religiösen Erziehung. Nach dem Blick auf die primäre Sozialisationsinstanz Familie wird ein Perspektivenwechsel auf die sekundäre Sozialisationsinstanz Schule vollzogen und hierbei besonders auf den in Deutschland neu eingeführten islamischen Religionsunterricht. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf ein Konzept, welches sich zur Aufgabe gemacht hat, eine religionsüberspannende, gemeinsam geteilte Ethik für die säkulare Gesellschaft zu entwerfen. Von entscheidender Bedeutung ist die Herstellung eines überreligiösen, geteilten Wertekonsenses, der in der säkularen Gesellschaft nicht nur Personen unterschiedlichster religiöser Überzeugungen, sondern auch Nichtgläubige sowie nicht konfessionell gebundene Gläubige einschließt.

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1.

Margit Stein / Veronika Zimmer / Rauf Ceylan

Einleitung: Die Ausübung des Islams in Familien und Schulen in Deutschland

Die Befassung mit religiöser Erziehung und Sozialisation, vor allem mit speziellem Fokus auf den Islam in der säkularen deutschen Gesellschaft, ist ein gesellschaftliches Erfordernis, leben in Deutschland doch immer mehr Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit oder mit Migrationshintergrund, darunter viele, die der Religion des Islams angehören. So stellen die größte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund zumeist muslimisch geprägte türkischund kurdischstämmige Personen dar. Von den 82,43 Millionen in Deutschland lebenden Menschen sind 10,62 % Ausländer*innen (Statistisches Bundesamt 2018, S. 21). Aufgeschlüsselt nach primär muslimisch geprägten Herkunftsländern sind davon 1.483.515 Türk*innen, 698.950 Syrer*innen, 237.265 Iraker*innen, 208.505 Kosovar*innen sowie 102.760 Iraner*innen (Statistisches Bundesamt 2018, S. 63f.). Weitere knapp 10 % der in Deutschland lebenden Menschen sind deutsche Staatsbürger*innen mit Migrationshintergrund, womit sich der Gesamtanteil aller Migrant*innen auf 22 % (18,58 Mio.) der Bevölkerung beläuft (Statistisches Bundesamt 2017, S. 39). Von diesen sind aktuell 15 % Migrant*innen der ersten Generation – also selbst im Ausland geboren – und 7 % Migrant*innen der zweiten Generation, die bereits im Land geboren wurden, aber mindestens einen Elternteil haben, der nach 1949 im Ausland geboren und nach Deutschland eingewandert ist (Statistisches Bundesamt 2017, S. 39). Die Anzahl von Menschen, die entweder einen ausländischen Pass oder einen Migrationshintergrund haben, nimmt gegenwärtig auch durch weltweite Flüchtlingsbewegungen sprunghaft zu. Die Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für das Jahr 2015 belegt die monatliche Zunahme der Erstanträge: »Im bisherigen Berichtsjahr 2015 wurden 274.923 Erstanträge vom Bundesamt entgegengenommen. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 116.659 Erstanträge; dies bedeutet deutlich mehr als eine Verdoppelung der Antragszahlen (+135,7 %) im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der Folgeanträge im bisherigen Jahr 2015 hat sich gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreswert (19.380 Folgeanträge) um 47,2 % auf 28.520 Folgeanträge erhöht. Damit konnte das Bundesamt insgesamt 303.443 Asylanträge im Jahr 2015 entgegennehmen; im Vergleich zum Vorjahr mit 136.039 Asylanträgen bedeutet dies mehr als eine Verdoppelung der Antragszahlen (+123,1 %).« (BAMF 2015, S. 4)

Sehr häufig stammen Fluchtmigrant*innen aus vorwiegend islamisch geprägten Ländern. So kamen etwa laut BAMF im September 2015, dem Monat mit den meisten Neuankommenden, die meisten Erstanträge von Flüchtlingen aus Syrien

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(16.544), Albanien (6.624) und Afghanistan (2.724). Von den etwa 1,1 Mio. schutzsuchenden Neuzugewanderten waren 2015 gemäß einer Studie der Bertelsmann Stiftung (2016) 63,3 % Muslim*innen (Bertelsmann Stiftung 2016). Insbesondere vor dem Hintergrund, dass unter den Migrant*innen im Vergleich zu den einheimischen Deutschen überdurchschnittlich viele Personen im sogenannten bildungsrelevanten Alter sind – gemäß dem Statistischen Bundesamt (2017, S. 39) beträgt der Anteil bei den unter 25-Jährigen bereits 33,5 %, bei den unter 10-Jährigen 37,7 % und bei den unter 5-Jährigen 38,1 % (im Vergleich: bei den über 75-Jährigen < 10,0 %) –, muss sich das gesellschaftliche und wissenschaftliche Interesse auch darauf richten, neben pädagogischen Konzepten für das interkulturelle Zusammenleben in der Schule auch die Grundlagen einer eigenständigen religiösen – muslimischen – Identität zu erarbeiten. Seit der »Islamisierung der Integrationsdebatte« hat sich Religion in den letzten Jahren zu einem wichtigen Faktor im Bemühen um die Eingliederung muslimischer Kinder und Jugendlicher – auch mit Fluchthintergrund – in die deutsche Gesellschaft und insbesondere in das deutsche Schulsystem entwickelt, wenngleich Schweitzer in seiner Schrift Religiöse Bildung in der Kindheit ist ein Zukunftsthema festhält, dass insbesondere die religiöse Erziehung und Bildung muslimischer Kinder in den säkularen Gesellschaften Europas nach wie vor ein Forschungsdesiderat darstellt (Schweitzer 2008, S. 28). Ungeachtet dessen wurden im Bereich der Förderung der Integration und Inklusion muslimischer Kinder und Jugendlicher in Deutschland seit den 2000er-Jahren wichtige integrationspolitische Errungenschaften erzielt. 2006 trat erstmals die Deutsche Islamkonferenz zusammen und skizzierte unterschiedlichste Handlungsfelder der Integration, deren Abarbeitung in der – so Kiefer und Malik – »Herausbildung eines moderaten und hier beheimateten – nationalen – Islam«, der sich souverän und eigenständig neben anderen religiösen Bekenntnissen in der säkularen Gesellschaft behauptet, münden sollte (Kiefer & Malik 2008, S. 99). Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist das Spannungsfeld, in dem die Vermittlung des Islams an Kinder und Jugendliche in Deutschland stattfindet. Der Beitrag beginnt mit einem Überblick über unter Menschen mit unterschiedlicher Geisteshaltung verbreitete grundsätzliche – geteilte und unterschiedliche – Werteorientierungen bzw. religiöse Vorstellungen, wobei der Schwerpunkt auf muslimischen, christlichen und bekenntnislosen Personen, und hierbei auf Kindern und Jugendlichen, liegt. Darauf aufbauend wird der Frage nachgegangen, ob – und wenn ja, wie – sich christlich geprägte und muslimisch geprägte Familien hinsichtlich wichtiger Erziehungsziele und Erziehungspraktiken voneinander unterscheiden. Nach dem Blick auf die primäre Sozialisationsinstanz Familie wird ein Perspektivenwechsel auf die sekundäre Sozialisationsinstanz Schule vollzogen und hierbei besonders der in Deutschland

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neu eingeführte islamische Religionsunterricht betrachtet. Es werden dabei Ergebnisse einer aktuellen Studie zur Sicht angehender islamischer Religionslehrkräfte auf das Verhältnis des Islams zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie zur Säkularisierung referiert. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf ein Konzept, welches sich zur Aufgabe gemacht hat, eine religionsüberspannende, gemeinsam geteilte Ethik für die säkulare Gesellschaft zu entwerfen.

2.

(Religiöse) Werteorientierungen muslimisch und christlich geprägter Menschen in Deutschland

Auch wenn sich Personen unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse kulturübergreifend hinsichtlich ihrer Wertestruktur nicht grundlegend voneinander unterscheiden (Schwartz & Huismans 1995; Schwartz & Bardi 2001; Schwartz et al. 2001), divergiert die Wichtigkeit, die bestimmten Werteorientierungen beigemessen wird, graduell. Dies gilt sowohl im weltweiten Kulturvergleich (Schwartz & Bardi 2001; Stein 2017a) als auch bezogen auf die in Deutschland lebenden Menschen (Stein 2016, 2017b, 2017c). Diese Zusammenhänge lassen sich auch auf Basis des international angelegten Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung aufzeigen, der auch in Deutschland durchgeführt wurde und in erster Linie Daten zu Religiosität und Werteorientierung erfasst. Es bestehen hohe korrelative Zusammenhänge zwischen dem religiösen Bekenntnis und den Wertorientierungen und, in abgeschwächter Form, zur Religiosität mit ihren unterschiedlichen Dimensionen. Nachfolgend werden die Werteorientierungen bzw. religiösen Orientierungen der drei größten weltanschaulichen Gruppen in Deutschland dargestellt, die sowohl bezüglich der absoluten Zahlen als auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung des Handbuchs in den Fokus der Betrachtung rücken, nämlich Angehörige des Islams und des Christentums sowie Menschen ohne Bekenntnis. Es lassen sich drei Religions- oder Wertemilieus separieren (Stein 2016, 2017c), die auch von der Shell Jugendstudie (Albert, Hurrelmann, Quenzel & TNS Infratest Sozialforschung 2010) und ebenso von Boos-Nünning (2011) aufgezeigt werden, nämlich die primär in den östlichen Bundesländern lebenden religionsfernen Bekenntnislosen, die stark an Religion interessierten Muslim*innen und die Christ*innen, die nicht unbedingt tief religiös sind, aber dennoch ein Bekenntnis zu Gott ablegen und die in erster Linie in den westlichen Bundesländern leben. Bezüglich der Werteorientierung sind den Muslim*innen im Vergleich zu den anderen Gruppen vor allem die bewahrenden Werte Sicherheit, Konformität und Tradition wichtig. Auch einer aufstiegsorientierten Leistungsethik und hedo-

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nistischen Genusswerten messen sie tendenziell höhere Bedeutung bei. Von eher untergeordneter Bedeutung sind für sie im Vergleich zu den Christ*innen und Bekenntnislosen die Werte Selbstbestimmung und Kreativität. Den Bekenntnislosen sind in höherem Maße als den beiden anderen Gruppen die Selbstaktualisierungswerte Selbstbestimmung und Stimulation wichtig. Sie möchten ein kreatives, eigenständiges und aufregendes Leben führen, jenseits der Festschreibungen durch eine moralische oder religiöse Instanz. Darüber hinaus schätzen sie die materialistischen Werte Macht, operationalisiert über Reichtum, und Hedonismus. Sie gönnen sich gerne Gutes und sind weniger stark als die Christ*innen an Traditionen interessiert. Die Christ*innen messen den Traditionen eine prinzipielle, wenn auch nicht so große Bedeutung bei wie die Muslim*innen. Ihr Interesse an neuen Ideen und Kreativität ist stärker ausgeprägt als bei Muslim*innen, aber geringer als bei Bekenntnislosen. Sie sind die Gruppe, die in Bezug auf den wichtigsten Wert für alle Gruppen, die Mildtätigkeit, die höchsten Werte aufweist. Die unterschiedliche Wertepriorisierung innerhalb der drei großen Bekenntnisgruppen in Deutschland spiegelt sich auch in dem der Religion zuerkannten Stellenwert sowie in der Bedeutung unterschiedlicher Dimensionen der religiösen Erfahrung wider. Die wichtigste Rolle spielt die Religion bei Muslim*innen, die geringste naturgemäß bei Bekenntnislosen; die Christ*innen nehmen in dieser Hinsicht eine Mittelposition ein (Stein 2016, 2017a, 2017b, 2017c). Insgesamt war laut Religionsmonitor 2013 den Muslim*innen mit 89 % die Religion am wichtigsten, gefolgt von den Katholik*innen mit 64 % und den Protestant*innen mit 58 % vor den Konfessionslosen mit 10 %. Was die Praktizierung des Glaubens in Form der ritualisierten Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen religiöser Natur betrifft, so besuchten die Katholik*innen zu 33 % am häufigsten mindestens monatlich Gottesdienste, vor den Muslim*innen mit 30 % spirituellen Ritualen/Moscheebesuchen und den Protestant*innen (18 %) (Pollack & Müller 2013, S. 17). Der Religionsmonitor 2008 richtete seinen Blick insbesondere auf die in Deutschland lebenden Muslim*innen und befragte insgesamt 2.007 Personen persönlich am Telefon. Insgesamt gaben 90 % an, religiös zu sein, 41 % davon bezeichneten sich als hochreligiös. Insgesamt zeigten sich 70 % der Bevölkerung in Deutschland als religiös und 18 % als hochreligiös. Bei den Muslim*innen waren am stärksten religiös geprägt die türkischstämmigen (91 %) vor den bosnischstämmigen (85 %) und den persischstämmigen (84 %) Befragten (Bertelsmann Stiftung 2008, S. 6). Differenziert nach Glaubensrichtung bekannten sich die Sunnit*innen (47 %) in höherem Ausmaß als hochreligiös als die Schiit*innen (29 %) und die Alevit*innen (12 %) (Bertelsmann Stiftung 2008, S. 15). Demnach lautet das Resümee des Religionsmonitors 2013 der Bertelsmann Stiftung wie folgt: Trotz »einem bedeutenden Niveau der Säkularisierung […]

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Margit Stein / Veronika Zimmer / Rauf Ceylan

existiert immer noch eine überwiegend religiös geprägte Kulturtradition« (Pickel 2013, S. 18).

2.1

(Religiöse) Werteorientierungen muslimisch und christlich geprägter Kinder und Jugendlicher in Deutschland

Die Divergenzen in den Werteorientierungen und religiösen Orientierungen von Erwachsenen sowie die Differenzierung zwischen den drei weltanschaulichen Gruppen der Muslim*innen, der Christ*innen und der Bekenntnislosen bilden sich ebenso im Kindes- und Jugendalter ab. Gemäß LBS-Kinderbarometer 2007, das die Wichtigkeit von Glauben im Kindesalter analysiert, bemisst sich die Wichtigkeit der Religion in erster Linie an der religiös-kulturellen Zugehörigkeit. Von den einheimisch-deutschen Kindern erachten 38 % Religion als bedeutsam für das spätere Leben – hier die christlichen Kinder wiederum entsprechend stärker als die bekenntnislosen –, gegenüber 50 % der Kinder mit Migrationshintergrund und sogar 74 % der Kinder mit türkisch-islamischen Wurzeln (LBSKinderbarometer 2007). Auch bei der Gebetshäufigkeit wird der Unterschied zwischen den einheimisch-deutschen und den Kindern mit Migrationshintergrund deutlich. 2013 beteten insgesamt 33 % der Kinder in den Familien häufig oder zumindest manchmal (Westen: 36 %, Osten: 13 %), während Kinder mit Migrationshintergrund zu 44 % zumindest manchmal beten. Jedoch ist auch der Anteil der betenden Kinder mit Migrationshintergrund laut den mittlerweile drei Erhebungen der World Vision Kinderstudie 2007, 2010 und 2013 stark gesunken – von 69 % im Jahr 2007 auf 51 % im Jahr 2010 und 44 % im Jahr 2013. Bei den muslimischen Kindern beteten 2013 immer noch 64 % häufig (Hurrelmann & Andresen 2007, 2010, 2013). Die Dreiteilung in religiös (stark) interessierte einheimisch-deutsche junge Westdeutsche, nichtreligiöse einheimisch-deutsche junge Ostdeutsche und religiöse migrantische Kinder und Jugendliche findet sich auch in der Shell Jugendstudie (Albert, Hurrelmann, Quenzel & TNS Infratest Sozialforschung 2010). Diese geht davon aus, dass Jugendliche dann als religiös eingestuft werden können, wenn sie bezüglich ihres Gottesbildes entweder an einen persönlichen Gott oder eine höhere überirdische Macht glauben. Nach dieser Einteilung sind 49 % der Jugendlichen in Deutschland im weitesten Sinne religiöse Menschen. Insgesamt sind es in erster Linie die Jugendlichen mit islamischem Hintergrund (64 %) und aus anderen christlichen Konfessionen (orthodoxe Kirchen und Freikirchen) (69 %), die an einen persönlichen Gott glauben. Von den Katholiken glauben 32 % und von den evangelischen Christen 26 % an einen persönlichen Gott und gelten somit als »klassisch« religiöse Personen. Jugendliche, die an-

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geben, an eine höhere Macht oder ein göttliches Prinzip zu glauben, können als sogenannte religiös-kreative Menschen angesehen werden, die Bestandteile unterschiedlicher religiöser Überlieferungen kombinieren, was man sehr häufig bei den christlich geprägten Jugendlichen, weniger bei jungen muslimischen Gläubigen, findet (Gensicke 2010). Die Intensität des Glaubens divergiert bei jungen Menschen unterschiedlicher ethnischer Prägung deutlich, wie auch Boos-Nünning und Karakas¸og˘lu (2011) in der Studie Viele Welten leben feststellten, in der weibliche Jugendliche mit Migrationshintergrund befragt wurden. Als sehr stark beziehungsweise stark religiös bezeichneten sich – in absteigender Intensität – insbesondere jugoslawischstämmige Katholikinnen (74 %), Musliminnen türkischer Herkunft (59 %), griechischstämmige Orthodoxe (51 %) und Musliminnen bosnischer Herkunft (43 %). Bei einem Vergleich der Werte von Migrant*innen mit denen von einheimisch-deutschen jungen Menschen lassen sich Werteunterschiede im weitesten Sinne insbesondere in Form der stärkeren religiösen Verortung der jungen Menschen mit Migrationshintergrund, eines stärkeren Familialismus und einer stärkeren Betonung von rigideren Sexualnormen ausmachen (Boos-Nünning & Karakas¸og˘lu 2011; Boos-Nünning 2011). Auch Kerner, Stroezel und Wegel (2006) konnten zeigen, dass sich muslimische von christlichen Jugendlichen bezüglich der Beurteilung traditioneller Wertorientierungen dahingehend unterscheiden, dass die Dimensionen »normorientierte Leistungsethik«, »konservativer Konformismus« und »religiöse Orientierung« von Ersteren als wichtiger eingeschätzt werden. In eine ähnliche Richtung, jedoch weniger deutlich, weisen die Ergebnisse von Feige und Gennerich (2008). Ceylan (2014) geht davon aus, dass die Entwicklungen, denen in säkularen Gesellschaften das christliche Leben unterworfen ist, auch im muslimischen Leben Niederschlag finden werden – wenn auch zeitlich versetzt, was er in seiner Dissertation mit dem Schlagwort des »Cultural Time Lag« umreißt. Demnach wäre auch im muslimischen Kontext die Bedeutung des religiösen Bekenntnisses und religiöser Werteorientierungen bei jungen Menschen zusehends im Schwinden begriffen, ebenso wie die Ausübung religiöser Rituale. In diese Richtung weisen neben den referierten Ergebnissen der World Vision Kinderstudie auch die Befunde der Studie Muslimische Familien im Wandel von Ates¸ (2014) und von Weiss (2014) zu Personen mit muslimischem Hintergrund. Diesen zufolge ist für ein starkes religiöses Bekenntnis auch im muslimischen Bereich eine von den Eltern vorgelebte hohe Religiosität unabdingbar, jedoch keine hinreichende Bedingung mehr. Also gilt auch hier wie im Kontext der christlichen Erziehung: Religiöse Kinder lassen zumeist unbedingt den Rückschluss auf ein religiöses Elternhaus zu, während umgekehrt von einem reli-

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giösen Elternhaus nicht zwangsläufig auf religiös praktizierende Kinder geschlossen werden kann. 2.1.1 Der Blick auf die Eltern: Erziehung in muslimisch und christlich geprägten Familien in Deutschland im Vergleich Alle bei der Betrachtung der Religiosität von jungen Menschen genannten für Deutschland repräsentativen Erhebungen – bis auf Viele Welten leben (BoosNünning & Karakas¸og˘lu 2011) – werden als Trendanalysen in bestimmten Abständen neu aufgelegt, lassen jedoch als Querschnittserhebungen ohne Längsschnittdesign keine kausalen Aussagen über den Zusammenhang zwischen religiöser Erziehung und Sozialisation im Elternhaus und dem Glauben der Kinder und Jugendlichen zu. Dass zwischen religiöser Erziehung und Sozialisation in muslimischen Familien und den religiösen Verortungen der Kinder ein Zusammenhang besteht, kann nur aus Forschungen zur Tradierung von Werten und Überzeugungen insgesamt theoretisch abgeleitet werden. Die Religiosität und Erziehungserfahrungen in den Familien wurden erst teilweise in Studien an jungen Muslim*innen selbst oder deren Eltern erhoben (vgl. die Studien und Expertisen von Karakas¸og˘lu-Aydın 2000; Klinkhammer 2000; Frese 2002; Nökel 2002; Karakas¸og˘lu & Öztürk 2007; Uslucan 2008; Aygün 2010; Boos-Nünning 2011; Boos-Nünning & Karakas¸og˘lu 2011; Frindte, Boehnke, Kreikenbom & Wagner 2011; Ates¸ 2014; Weiss 2014; Uygun-Altunbas¸ 2017). Einem Ergebnis zufolge kommt eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung der Werteorientierung sowie der religiösen Selbstverortung dem Elternhaus als primärer Sozialisationsinstanz zu (Stein 2012). Von Karakas¸og˘lu-Aydın (2000) wurde erstmals eine Typologisierung vorgenommen, welche die religiöse Orientierung sowie die damit zusammenhängenden Erziehungsvorstellungen von Muslim*innen wiedergibt. Mithilfe des Glock’schen Ansatzes der Dimensionen der Religiosität identifizierte Karakas¸og˘lu-Aydın (2000, S. 178ff.) sechs Typen religiöser Orientierung: Atheist*innen, Spiritualist*innen, sunnitische und alevitische Laizist*innen sowie pragmatische und idealistische Ritualist*innen. Die Studie hebt den betont intellektuellen Zugang zur religiösen Orientierung der Interviewten und deren Distanzierung von dem traditionalistischen Verständnis der Religion der Eltern hervor. Auch Uygun-Altunbas¸ (2017) arbeitet mit dem Ansatz differenter Typen von Erziehungsmustern und konzentriert sich dabei auf in Deutschland lebende Familien türkischer Herkunft mit akademischem Hintergrund. In ihrer Studie unterscheidet sie zwischen vier religiösen Erziehungstypen, nämlich dem idealistischen Erziehungstyp, der nach Sinn und Orientierung strebt, dem ritualistischen Erziehungstyp, der Wert auf die Einhaltung von religiösen Vorschriften legt, dem identitätssuchenden Erziehungstyp, der Identität und Persönlichkeit in

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den Vordergrund stellt, und dem ethischen Erziehungstyp, der in erster Linie moralischen Grundsätzen verpflichtet ist. Alle genannten Studien belegen die große Rolle der religiösen Erziehung in muslimischen Elternhäusern für die spätere Religiosität. Die religiöse Erziehung findet dabei meist nicht repressiv statt, sondern wird auf freiwilliger Basis »offen«, »traditionell« oder »streng-traditionell« (Nökel 2002, S. 291ff.) oder auch durch soziale Kontrolle (Karakas¸og˘lu-Aydın 2000) erteilt. Von den Befragten wird oftmals die unreflektierte Weitergabe von Religion kritisiert (Klinkhammer 2000; Tietze 2001; Frese 2002; Öztürk 2007; Aygün 2010). Dabei hat die direkte, bewusst und intentional angelegte religiöse Erziehung einen weniger gewichtigen Einfluss auf die religiöse Werteentwicklung von Kindern und Jugendlichen als die indirekte, unbewusste Erziehung (Stein 2008, 2012), wie etwa auch die Studie Muslimische Familien im Wandel an 363 Familien zeigte: »Demnach ist es nicht die aktive religiöse Erziehung, die Auswirkungen auf die religiösen Praktiken der Kinder hat. Vielmehr ist es vor allem die eigene ›vor‹-gelebte religiöse Praxis« (Ates¸ 2014, S. 108). Hajdar et al. (2012, 2014) erhoben in einer Studie in Deutschland die Werteorientierungen bei 849 Eltern-Kind-Paaren, davon 46 % mit Migrationshintergrund. Insgesamt zeigen sich zwischen Eltern und Kindern hohe Übereinstimmungen, in den Familien mit Migrationshintergrund waren die Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Kind jedoch signifikant geringer als bei den einheimisch-deutschen Familien. Hajdar et al. (2012, 2014) führen dies darauf zurück, dass die Minderheitenkultur oder -religion mit der Mehrheitskultur bzw. -religion teilweise konfligiert und Kinder und Jugendliche stärker als ihre Eltern die Übernahme der Werte der Mehrheitskultur auch als bereichernd und lohnend erleben. Dies kann psychologisch damit erklärt werden, dass die Wahrnehmung der eigenen Werte oder der Werte der Familie als mit den Werten der säkularen Mehrheitskultur in Konflikt stehend eine kognitive Dissonanz und damit verbunden emotionales Unbehagen auslöst (Hajdar et al. 2012, 2014). Biesinger et al. halten fest: »Bezeichnend sind hier starke Spannungen zwischen der von den Jugendlichen angeeigneten Religion und der in den Familien tradierten Religion, deren Realisierung gleichwohl nur auf Zeit abgelehnt bzw. ›für jetzt‹ noch zurückgestellt wird« (Biesinger et al. 2005, S. 158). Zu einem ähnlichen Schluss gelangt Uslucan: »Besonders Schulkinder müssen enorme Syntheseleistungen vollbringen und eine äußerst flexible Persönlichkeit ausbilden, wenn sie in ihrem Alltag beständig mit Ideen, Regelsystemen und Weltdeutungen konfrontiert sind, die konträr zueinander sind, um weiterhin handlungsfähig zu bleiben. So sind bspw. Kritikfähigkeit und Eigenständigkeit relevante Werte, die sowohl mit Blick auf schulische Leistungen als auch Berufserfolg gegenwärtig als zentral zu erachten sind. Herrscht jedoch in der Familie keine Diskussions- und Streitkultur, wird der Gehorsam darüber hinaus religiös legitimiert

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und dadurch die Kritik an Autoritäten zu einem Denktabu erklärt, so lassen sich diese Kompetenzen bei Kindern nur schwer ausbilden.« Uslucan (2008, S. 51)

In der diesbezüglichen Studie Muslimische Familien im Wandel geht Ates¸ (2014) auf der Basis von 363 muslimischen Eltern-Kind-Dyaden u. a. der Frage der intergenerationalen Weitergabe des Glaubens nach. Dabei werden die eigene, subjektive Einschätzung der Religiosität der Befragten, die Rolle von Religion in den Erziehungszielen sowie die Rolle des Lernortes Gemeinde berücksichtigt. Ein zentrales Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass bei der Fortführung dieser Praktiken in der nächsten Generation die religiöse Praxis der Eltern eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Ates¸ 2014). Doch wie im christlichen Kontext zeigt sich auch hier ein religiöser Wandel von der Eltern- zur Kindergeneration, konkret werden spezifische religionsbezogene Normen im Generationentransfer schwächer (Weiss 2014; zum »Cultural Time Lag« siehe auch Ceylan 2014). Wie die religiösen Einstellungen der nachfolgenden Generationen beschaffen sind, ob es gelingt, religiöse Werte zu tradieren, hängt im Wesentlichen von der religiösen Erziehung und Sozialisation ab; weitere Einflussgrößen sind der sozioökonomische Hintergrund sowie der gesellschaftliche Umgang mit dem Islam im Kontext religiöser Identifikation. Zugleich – auch das zeigen die Ergebnisse – findet hinsichtlich der religiösen Praxis in lebensnahen Bereichen eine Angleichung an die gesamtgesellschaftlichen säkularen Verhältnisse statt – in der Form, dass religiöse Gebote und Verbote etwa im Bereich der Sexualität zugunsten individueller Freiheiten relativiert werden bzw. an Gültigkeit verlieren (Ates¸ 2014; Weiss 2014; Ceylan 2014). Speziell zur Frage, welche religiösen Inhalte in säkularen Gesellschaften von muslimischen Eltern wie und in welchen Altersphasen in der Primärsozialisation an die eigenen Kinder vermittelt werden, erweist sich der Forschungsstand als defizitär (Ceylan & Stein 2016a; 2016b). Auf diesen defizitären Zustand weist auch Uslucan in seiner Untersuchung zur Werteerziehung in muslimischen Familien hin: »Was die Quellenlage betrifft, so ist vorab zu bemerken, dass explizit zum Thema ›islamische Erziehung‹ kaum empirisch-wissenschaftliche Literatur existiert, dieses jedoch beiläufig im Rahmen von allgemeinen Erziehungs- und Integrationsfragestellungen behandelt wird. Dies scheint eine echte Forschungslücke zu markieren, die einer genaueren empirischen Untersuchung bedarf.« (Uslucan 2008, S. 2)

Der Blick auf die muslimischen Familien und deren Vermittlung des Islams an die Kinder wäre auch deshalb von besonderem wissenschaftlichen Interesse, weil »die religiöse Kindererziehung im Islam zumindest in Deutschland – wieder im Vergleich zum Christentum – weit weniger institutionell und also weit mehr allein auf die Familie und die Familienerziehung angewiesen ist« (Biesinger et al. 2005, S. 158).

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Vor diesem Hintergrund konstatiert Uslucan, dass in der religiösen Erziehung und Sozialisation in muslimischen Familien den Elementen Glauben an den Koran, Glaubenspraxis sowie islamisch-ethische Lebensführung eine besondere Bedeutung zukommt (Uslucan 2008, S. 34). Zugleich werde infolge des geringen religiösen und weltlichen Bildungsstandes der muslimischen Eltern die Verantwortung für die religiöse Erziehung und Sozialisation der eigenen Kinder oftmals den Moscheen übertragen (Uslucan 2008, S. 34f.). Diese Erkenntnis von Uslucan deckt sich mit den Ergebnissen der Studie zu Koranschulen von Alacacıog˘lu (1999). Zudem konnte »anhand der bisherigen Quellen […] gezeigt werden, dass Gehorsam, elterliche Kontrolle und (Selbst)Disziplinierung im islamischen Sinne zentrale Elemente in der islamischen Werteerziehung darstellen. Die Erziehung der eigenen Kinder ist bei muslimischen Eltern hinaus vielfach angelehnt an ein Muster der eigenen Sozialisation« (Uslucan 2008, S. 51). Auch Karakas¸og˘lu und Öztürk (2007) beklagen die defizitäre empirische Datenlage zur religiösen Erziehung in muslimischen Familien. Ähnlich wie Uslucan wählen sie daher eine pragmatische Herangehensweise an die Thematik, indem sie ihre Forschungsergebnisse indirekt durch Ableitungen aus den vorliegenden Studien zu türkisch-muslimischen Familien herausarbeiten. Demnach hat die Religion in türkisch-muslimischen Familien großen identifikatorischen Wert. Aus den Ergebnissen der Studie von Alacacıog˘lu (1999) leiten sie ab, dass ein wesentliches Ziel der Erziehung die Vermittlung der islamischen Glaubensinhalte (Rezitation des Korans, die Glaubenspraxis) ist. Allerdings kommen die Autor*innen zu dem Ergebnis, dass die religiöse Erziehung nicht dem islamischen Ideal entspricht. Diese Erkenntnis formulieren sie mit dem Verweis auf Studien mit jungen Muslim*innen, die sowohl ihre eigene religiöse Erziehung in der Familie kritisierten als auch die Effizienz in Moscheen in Frage stellten (Karakas¸og˘lu & Öztürk 2007, S. 157ff.) und »die islamische Erziehung im Elternhaus […] als eher intuitiv und floskelhaft beschrieben« (Karakas¸og˘lu & Öztürk 2007, S. 224). Wie die Studie von Uslucan (2008) bestätigt also auch diese Untersuchung zum einen den hohen Stellenwert der Religion in muslimischen Familien, zum anderen untermauert sie die These, dass die religiöse Erziehung nicht optimal verläuft. Ceylan (2014) führte Expert*inneninterviews in muslimischen Gemeinden, um Informationen über die religiöse Erziehung in muslimischen Familien zu erhalten. Aus den Berichten der Expert*innen (Imame, Vorstand, Predigerinnen usw.) über ihre Erfahrungen mit den muslimischen Kindern und Jugendlichen im Gemeindeunterricht sowie über Elterngespräche ließen sich Erkenntnisse über die Methoden und Inhalte der religiösen Erziehung in Familien sowie über deren Erwartungen an die Gemeinden gewinnen. Bezüglich der Methodik konnte festgestellt werden, dass Imitation, Rezitation, Memorieren, Spielen, Erleben, Lesen und Hören – also die Kombination von funktionalem und intentionalem

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Lernen – einen wichtigen Platz einnehmen. Grundsätzlich bestätigen die Expert*innen aus den Gemeinden die aufgestellten Thesen zur mangelnden religiösen Erziehung und Sozialisation in muslimischen Familien (Ceylan & Stein 2016a, 2016b). Allerdings differenzieren sie bei den Familien hinsichtlich zweier großer Kategorien, nämlich eines hohen und eines geringen Bildungsniveaus. Die Problematisierung der religiösen Erziehung setzt vor allem an den Familien mit niedrigem Bildungsniveau an (vgl. auch Uygun-Altunbas¸ 2017). Hier ist die Erziehung nicht nur sehr stark oral geprägt – kommt also weitgehend ohne pädagogische Hilfsmittel wie Bücher usw. aus –, infolge der eigenen Überforderung mit der religiösen Erziehung und Sozialisation wird auch viel mit Angstpädagogik gearbeitet. Diese Information deckt sich also weitgehend mit den Thesen der zitierten Tübinger Studie von Biesinger et al., die ebenfalls Angst als Instrument der religiösen Erziehung identifizierte: »Auch das Bild von einem strafenden Gott tritt hier häufiger hervor« (Biesinger et al. 2008, S. 158). Unabhängig von dieser Differenz wird in muslimischen Familien auf die religiösen Inhalte Gotteserkenntnis und -liebe, Liebe zu Muhammad, Erlernen kleinerer ˙ Bittgebete, den Glauben an das Jenseits und kleinere Geschichten aus dem Koran Wert gelegt.

3.

Der Blick auf die islamischen Religionslehrkräfte: Das Verhältnis des Islams zur säkularen Demokratie

In den letzten Jahren wurde von politisch-gesellschaftlicher Seite in Deutschland verstärkt die Einführung eines staatlich verantworteten islamischen Religionsunterrichts propagiert (Uslucan 2011) – dies nicht zuletzt mit dem Ziel, eine Brücke zwischen dem Islam und den säkularen bzw. großteils christlich geprägten europäischen Gesellschaften zu schlagen und junge Muslim*innen auf das Leben in eben diesen Gesellschaften vorzubereiten (Stein, Ceylan & Zimmer 2017; Zimmer, Ceylan & Stein 2017). Noch ist der Unterricht nicht flächendeckend eingeführt, doch es fand bereits ein zehnjähriger Modellversuch zur Einführung des islamischen Religionsunterrichts statt, der auch von einer Befragung von Schüler*innen und Eltern, nicht jedoch der Lehrkräfte und Studierenden der islamischen Theologie, flankiert wurde (Ballasch 2011). Schätzungen zufolge müssen in den nächsten Jahren etwa 2.000 Anwärter*innen auf den Beruf einer Lehrkraft für den islamischen Religionsunterricht ausgebildet werden (Geschäftsstelle der Deutschen Islam Konferenz & Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2011). Den angehenden Lehrkräften, die den Unterricht in den nächsten Jahren zu verantworten haben und die gegenwärtig an

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den neu gegründeten Zentren für Islamische Theologie in Deutschland ausgebildet werden (Aslan 2000), sollte daher besonderes Augenmerk zuteilwerden. Lehrkräfte gelten als Mediator*innen des gesellschaftlichen Wandels. Sie fungieren u. a. als Multiplikator*innen hinsichtlich der politisch-religiösen Einstellungen der jungen muslimischen Generation und spielen eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung zwischen islamischer Tradition und Ausübung des Islams und der säkularen Gesellschaft sowie bei der Befähigung der Schüler*innen, damit umzugehen. Mit Blick darauf wird insbesondere die Rolle der Lehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht (IRU) bzw. die Rolle religiöser Autoritäten allgemein in der Unterweisung muslimischer Kinder und Jugendlicher kontrovers diskutiert. In Deutschland sind die Rolle der Lehrkräfte im IRU, insbesondere als Modelle für muslimische Kinder und Jugendliche, sowie ihre religiösen Selbstverortungen und politischen Überzeugungen in wissenschaftlicher Hinsicht noch größtenteils unerforscht. Eine Ausnahme bildet lediglich die Dissertation von Çelik (2017) zu den Erwartungen der Muslim*innen an den islamischen Religionsunterricht in Deutschland insbesondere vor dem Hintergrund eines Islams in der säkularen Gesellschaft und in Kooperation zwischen der Glaubensgemeinschaft und dem Staat. In die Dissertation flossen auch Befragungen von Religionslehrkräften ein, dennoch bleibt der Blick auf die politischen Haltungen größtenteils an der Oberfläche. Von Zimmer, Stein und Ceylan (2019) wurde eine Befragung angehender Lehrkräfte für den IRU in Deutschland durchgeführt, in deren Mittelpunkt dezidiert deren Umgang mit dem säkularen Staat im Mittelpunkt steht. Die Studie schließt eine große Forschungslücke in Bezug auf die religiöse und politische Überzeugung (angehender) islamischer Religionslehrkräfte als Mediator*innen des gesellschaftlichen Wandels und Multiplikator*innen von Bildungs- und Erziehungsprozessen. Die Religiosität und die politische Haltung der nachfolgenden Generation von Muslim*innen in Deutschland einschließlich ihrer Identifikation mit Deutschland und den Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden zukünftig maßgeblich durch die Lehrkräfte geprägt. Die Erhebung, die 2016 stattfand, wurde als eine einmalige, qualitative Interviewstudie konzipiert, da die Haltungen und Selbstverortungen aufgrund der Informationstiefe der Interviews am besten auf Basis einer qualitativen Erhebung ermittelt werden können. Die Interviews verliefen entlang eines an den zentralen Fragestellungen orientierten semistrukturierten Leitfadens (Mayring 2010). Im Rahmen der Studie wurden Interviews mit 32 islamischen Studierenden des Universitätsstandorts Osnabrück mit dem Berufsziel islamische Religionslehrkraft durchgeführt. Alle Personen bis auf eine wiesen einen Migrationshintergrund auf. Dabei ließen sich grundsätzlich drei Typen (angehender) Lehrkräfte herauskristallisieren, die entsprechend den den Typ konstituierenden

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Merkmalen als Neuentdecker*innen, Verteidiger*innen und Reflektierer*innen bezeichnet wurden. Alle drei Gruppen umfassten in etwa gleich viele Personen. Die religiöse Typenbildung erfolgte anhand der Glock’schen (1969) Glaubensdimensionen und deren Erweiterung durch Boos-Nünning (1972): 1. Dimension der religiösen Erfahrung: Empfinden; 2. Dimension des religiösen Glaubens: Überzeugung; 3. Dimension der religiösen Praxis: Rituelles; 4. Dimension der Konsequenzen: Auswirkungen auf die Alltagsgestaltung; 5. Dimension des religiösen Wissens: Vertrautheit mit Lehrsätzen sowie 6. Bindung an religiöse Gemeinden. Insgesamt konnten alle 32 interviewten angehenden Lehrkräfte einem Typus zugeordnet werden (zu einer genaueren Darstellung der Religiosität der Befragten und den Haltungen zum islamischen Religionsunterricht siehe die Beiträge von Stein, Ceylan & Zimmer 2017; Zimmer, Ceylan & Stein 2017). Die Neuentdecker*innen zeichnen sich als religiöse Menschen aus, deren Religiosität eher durch Aneignung der tradierten Religiosität im Sinne einer übernommenen religiösen Identität nach Marcia (1993) entstanden. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass in der Herkunftsfamilie und bei anderen Autoritäten beobachtete religiöse Haltungen und Einstellungen ohne eine vertiefende und kritische eigenständige Auseinandersetzung in das eigene Überzeugungssystem integriert werden. Die Verteidiger*innen hatten zwar bereits eine religiös geprägte Kindheit, in der Jugend fand jedoch eine vertiefte, eigenständig motivierte Auseinandersetzung mit der Religion statt, und daher zeichnen sie sich durch eine reifere und vertieftere Religiosität aus, die sie auch die unreflektiert-religiösen Praktiken der Eltern eher kritisch betrachten lässt (vgl. Klinkhammer 2000; Nökel 2002). Dieser Typus entscheidet sich bewusst für die Religion. Diese Form der religiösen Identität wird nach Marcia (1993) als erarbeitete Identität bezeichnet. Die Religion gibt dem Leben der Religionsverteidiger*innen erst einen tieferen Sinn. Die eigene Religiosität wird von den Interviewten als sehr hoch eingeschätzt, jedoch erst ab der intensiven Auseinandersetzung mit der Religion in der Pubertät. Wie die anderen Typen wuchsen auch die Reflektierer*innen in einer religiösen familiären Umgebung auf. Auch sie schätzen die eigene Religiosität als sehr hoch ein und setzen sich intensiv mit ihr auseinander. Die Reflektierer*innen befassen sich intensiv mit dem eigenen religiösen Verhalten, für das sie sich bewusst entschieden haben. Nach Marcia (1993) befinden sich die Reflektierer*innen in einem noch nicht abgeschlossenen »Moratorium«. Die Neuentdecker*innen fühlen sich stark dem Herkunftsland der Eltern zugehörig und unterscheiden kaum zwischen ihrer Religion – dem Islam – und ihrer kulturellen Prägung. Hingegen unterscheiden die Verteidiger*innen ebenso

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wie die Reflektierer*innen in diffiziler Weise zwischen Islam, den kulturellen Traditionen des Herkunftslandes der Eltern und der deutschen Gesellschaft, mit der sie sich stark identifizieren. Die Reflektierer*innen verorten sich zudem in erster Linie regional, etwa als Bürger*innen ihrer Heimatstadt (Ceylan, Stein & Zimmer 2019; Zimmer, Stein & Ceylan 2019a, 2019b). Diese Erkenntnisse decken sich mit den Ergebnissen früherer Erhebungen, etwa der Studie Muslime in Deutschland von Brettfeld und Wetzels, denen zufolge sich die muslimische Wohnbevölkerung in Deutschland sehr unterschiedlich regional und national verortet (Brettfeld & Wetzels 2007). Die Religion hat für alle Interviewten eine hohe Bedeutung, wirkt sich aber je nach Typus unterschiedlich stark auf den Privatbereich, auf Partnerschaft und Freundschaft, aus. So legen Neuentdecker*innen großen Wert darauf, dass Freunde und Ehepartner*innen der gleichen Religionsgemeinschaft angehören, unterscheiden aber kaum zwischen Religion und Ethnie. Die Verteidiger*innen beschränken sich zwar bei der Wahl der Freunde weder auf die Ethnie noch auf die Religion, bevorzugen jedoch bei der Wahl der Partner*innen Personen mit der gleichen Religionszugehörigkeit, wobei sie innermuslimisch frei entscheiden. Nur bei den Reflektierer*innen spielt die Religionsgemeinschaft weder bei der Wahl der Freunde noch bei der Partnerwahl eine dominante Rolle. Ähnliche Ergebnisse finden sich auch in früheren Studien. S¸en und Sauer (2006) berichten, dass für zwei Drittel der türkischstämmigen Muslime nichtmuslimische Schwiegertöchter, insbesondere aber nichtmuslimische Schwiegersöhne ein großes Problem darstellen. Dies bestätigen auch Heckmann et al. (2000), Worbs und Heckmann (2003) sowie Boos-Nünning und Karakas¸og˘lu (2011). Auch dass die Auswahl des Freundeskreises unabhängig von der eigenen Religion erfolgt, wird von früheren Studien untermauert (Alacacıog˘lu 2000; Kelek 2002). Alle befragten Personen zeigten eine hohe Zustimmung zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und zu den Wertevorstellungen, wie sie etwa in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert sind. Einen Widerspruch zwischen Islam und Grundgesetz sehen die Befragten nicht, auch wenn insbesondere die Neuentdecker*innen westliche individualisierte Lebensentwürfe, wie etwa ein Zusammenleben ohne Trauschein oder homosexuelle Lebensformen, ablehnen, die allerdings ebenfalls durch die deutsche Gesetzgebung geschützt sind. Somit lässt sich der Befund von Brettfeld und Wetzels (2007, S. 173), wonach etwa 10 % der in Deutschland lebenden Muslim*innen gegenüber den Grundprinzipien demokratischer Strukturen und Verfahren eine ausgesprochen reservierte bis ablehnende Haltung einnehmen würden, nicht auf den Bereich der (angehenden) islamischen Religionslehrkräfte übertragen. Bei Brettfeld & Wetzels fand sich zudem ein starker Zusammenhang zwischen Religiosität und Demokratieferne – demnach stünden 15 % der hochreligiösen Muslim*innen dem deutschen Grundgesetz distanziert gegenüber. Auf die (angehenden) Reli-

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gionslehrkräfte, die alle als hochreligiös zu bezeichnen sind, trifft dies nicht zu: Alle Interviewten bekennen sich zum Grundgesetz und lehnen Gewalt – außer zum Zweck der Selbstverteidigung – ab. Tatsächlich liefern die Ergebnisse der Studie von Zimmer, Ceylan & Stein (2019) Hinweise darauf, dass die Einstellung zur Demokratie weniger mit der Ausprägung der Religiosität als vielmehr mit der Ausprägung der Reflexionsbereitschaft zusammenhängt. Demnach können sich reflektierende muslimische Personen eher mit dem Grundgesetz identifizieren, was auch die vorliegenden Interviews nahelegen. Daher sind vor allem die Reflektierer*innen bzw. auch die Verteidiger*innen, die beide als hochreflektiert anzusehen sind, dem Grundgesetz in stärkerer Weise verbunden als die eher unreflektierten Neuentdecker*innen, die es bei der Ausbildung der (angehenden) Lehrkräfte daher vorrangig in den Blick zu nehmen gilt. Im Mittelpunkt sollten dabei insbesondere der Bereich der Reflexion der eigenen Identifikation mit der Religion und der eigenen Historie der persönlichen Glaubensfindung sowie die Unterschiede zwischen Religion und Tradition stehen – immerhin macht der Typus Neuentdecker*in etwa ein Drittel der untersuchten Personen aus. Und eine eigene hohe Reflexion ist Voraussetzung, um Schüler*innen als adäquates Rollenmodell eines aufgeklärten, reflexiven und selbstkritischen Islams in der modernen säkularen Gesellschaft und einer autonomen Befassung mit der Religion zu dienen. Vor dem Hintergrund der Diasporasituation sollten ein moderner, aufgeklärter Religionsunterricht und die Ausbildung zur islamischen Religionslehrkraft insbesondere das Zusammenleben in der säkularen Gesellschaft in den Blick nehmen.

4.

Fazit: Aufbau eines neuen umfassenden, übergreifenden Ethos unterschiedlicher Religionen im säkularen Staat

Unsere Gegenwart ist angesichts weltweiter Migrationsprozesse und religiöser Fundamentalismen bei gleichzeitigen Säkularisierungstendenzen von einer generellen, tiefen Verunsicherung über die geistigen Grundlagen des Einzelnen wie der Gemeinschaft geprägt. Von einem hohen Maß an Verunsicherung und vom Gefühl der Bedrohung durch Angehörige anderer Religionen berichtet auch der Religionsmonitor 2013. Und auch wenn »die meisten Bürger in den Untersuchungsländern auch der Überzeugung [sind], dass jede Religion einen wahren Kern besitzt und man allen Religionen gegenüber offen sein sollte« (Pickel 2013, S. 33), also eine prinzipielle Bereitschaft zur religiösen Toleranz zeigen, stieß die Aussage »›Alle Religionen haben einen wahren Kern‹ bei bedeutenden Gruppen innerhalb des Islams (32 %)

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[…] oder bekennenden Atheisten (knapp 37 %)« auf Ablehnung (Pickel 2013, S. 33). An die Stelle dogmatischer Überzeugungen sollte daher die Frage rücken, welche gemeinsam geteilten Werte die Grundlage unserer Gesellschaft bilden und kohäsiv wirken bzw. welche Werte einen gemeinsam geteilten, unveräußerlichen Kern von Religion konstituieren könnten. Werten wird ja nicht nur eine psychisch stabilisierende Funktion für den Einzelnen zugeschrieben, sondern auch das Potenzial zur Konsolidierung des Zusammenlebens der Gemeinschaft (Stein 2008). Das Leben im Einklang mit Werteüberzeugungen und das Bewusstsein vom wertgestützten Handeln des Anderen stärken das Vertrauen in eine positive menschliche Gemeinschaft. Dies gilt insbesondere für das Vertrauen zwischen Personen aller Religionen und Überzeugungen in der säkularen, demokratischen, weltanschaulich-religiös neutralen Gesellschaft. Bei allen Forderungen nach weltanschaulicher Neutralität des Staates wird dieser erst handlungsmächtig, wenn ein grundlegender Konsens darüber herrscht, welche Überzeugungen es zu teilen gilt. Hierzu gehören etwa das Bekenntnis zum inneren Frieden, der in gewaltloser Aushandlung erzielt wird, sowie das Bekenntnis zu einer bestimmten Rechtsordnung, zur Demokratie und den Menschenrechten (Küng 1999). Kohäsion wird jedoch nicht bereits durch die oftmals beschworene Verfassungs- und Grundgesetztreue erzielt, sondern bedarf geteilter Wert- und Leitlinien, welche die Verantwortung für die Mit-, Um- und Nachwelt einschließen. Küng schlussfolgert: »Gesetze sind noch keine Sitten. Auch das Recht braucht ein moralisches Fundament! Die ethische Akzeptanz der Gesetze […] ist Voraussetzung jeglicher politischer Kultur. Was nützen den einzelnen Staaten oder Organisationen […] immer neue Gesetze, wenn ein Großteil der Menschen gar nicht daran denkt, sie auch einzuhalten […].« (Küng 1999, S. 56f.)

Von entscheidender Bedeutung ist die Herstellung eines überreligiösen, geteilten Wertekonsenses, der in der säkularen Gesellschaft nicht nur Personen unterschiedlichster religiöser Überzeugungen, sondern auch Nichtgläubige sowie nicht konfessionell gebundene Gläubige einschließt. Mit Blick auf Wertekonvergenz analysierten Dahlsgaard, Peterson & Seligman (2005) anhand eines Vergleichs die Wesensinhalte der wichtigsten Religionen (nach den Jahreszahlen ihrer Entstehung genannt: Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus, Hinduismus, Judentum, Christentum, Islam) und wichtiger philosophischer Strömungen (athenische Lehren) sowie moderner Konzepte von psychologischem Wohlbefinden und von Reife. Dabei kristallisierten sich sechs Kerntugenden heraus, die in allen Überzeugungssystemen wesentlich handlungsleitend sind:

258 1. 2. 3. 4. 5. 6.

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Weisheit und Wissen; Mut; Menschlichkeit; Gerechtigkeit; Mäßigung; Transzendenz.

In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten von Küng, der als »Maximen elementarer Menschlichkeit« in allen Religionen die fünf großen Gebote herausstellt: »(1) nicht töten; (2) nicht lügen; (3) nicht stehlen; (4) nicht Unzucht treiben; (5) die Eltern achten und die Kinder lieben« (Küng 1999, S. 82). Diese allgemein gültigen Gebote sind als universale normative Richtschnur jeweils situativ zu verorten. Gleichzeitig muss sich jede Religion, jede religiöse Vorschrift und Regel daran bemessen lassen, wie sehr sie der Menschlichkeit zuträglich ist und ein friedliches, freies und glückliches Miteinander der Menschen unterschiedlichster Bekenntnisse in der säkularen Gesellschaft befördert. Denn oftmals sind es nicht die unveräußerlichen, unteilbaren Werteüberzeugungen in den Religionen, die unvereinbar mit dem Gleichheitsgebot oder der Menschenwürde sind, sondern Konventionen, welche sich im Laufe von Jahrhunderten herausgebildet haben und als Traditionen den Wertekern von Religionen überlagern.

Literaturverzeichnis Alacacıog˘lu, H. (1999). Außerschulischer Religionsunterricht für muslimische Kinder und Jugendliche türkischer Nationalität in NRW. Eine empirische Studie zu Koranschulen in türkisch-muslimischen Gemeinden. Münster: Münsterscher Verlag für Wissenschaft. Alacacıog˘lu, H. (2000). Deutsche Heimat Islam. Münster: Waxmann. Albert, M., Hurrelmann, K., Quenzel, G., & TNS Infratest Sozialforschung (Hrsg.). (2010). Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Frankfurt a. M.: Fischer. Aslan, E. (2012). Situation und Strömungen der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum. Theo Web – Zeitschrift für Religionspädagogik, 11(2), (S. 10– 18). Ates¸, G. (2014). Religiöse Praktiken bei muslimischen Familien: Kontinuität und Wandel in Österreich. In H. Weiss, P. Schnell & G. Ates¸ (Hrsg.), Zwischen den Generationen. Transmissionsprozesse in Familien mit Migrationshintergrund (S. 95–112). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Aygün, A. (2010). Religiöse Sozialisation und Entwicklung bei islamischen Jugendlichen in Deutschland und in der Türkei: Empirische Analysen und religionspädagogische Herausforderungen. Religious diversity and education in Europe, Vol. 23. Münster: Waxmann.

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Islamkunde und Rassismuskritik1

Zusammenfassung In diesem Beitrag werden Begriffe zusammengeführt, die jeweils einer steten definitorischen Begleitung bedürfen. Was unter Rassismus, Didaktik oder Islam zu verstehen ist, bleibt schon für sich genommen den Dynamiken unterschiedlicher Standpunkte und Wissenschaftstraditionen unterworfen. Inwieweit ihre Zusammenführung in einer gedachten Kreuzungsmitte, also mit intersektionalen Konnotierungen – die Untersuchung der Verwobenheiten und Wechselwirkungen von Ungleichheitskategorien (Winker & Degele 2009) – von race, class und gender einerseits sowie Migration, Bildung und Religion andererseits, zu Klärung und Orientierung beitragen kann, bleibt vorerst Verhandlungssache. Der vorliegende Artikel versteht sich deshalb als ein Debattenbeitrag aus der gemeinsamen Feder von zwei Autor*innen, die sich zwischen Erziehungswissenschaft, islamischer Theologie, Gender- und Migrationsforschung verorten.

1.

Bildungstheoretische Überlegungen

Inwiefern der islamische Religionsunterricht (IRU) eine rassismuskritische Unterrichtsplanung benötigt und ermöglicht, soll eingangs anhand der intersektionalen Verortungen dieses Topos angedacht und erörtert werden. Das Begriffsfeld »Islamkunde« wird im dritten Teil zu klären sein. Ein rassismuskritischer Umgang mit Themen innerhalb des islamischen Religionsunterrichts macht es notwendig, seine Etablierung sowie sein Potenzial unter besonderer Inblicknahme der Religion des Islams zu betrachten. Die Er1 Dieser Artikel erscheint im Kontext des vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts »Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten« an der Goethe-Universität Frankfurt.

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weiterung des rassismuskritischen Ansatzes in der Unterrichtssituation um den Aspekt der Religion des Islams fußt auf der »Anerkennung des Anderen« (Mecheril et al. 2010), die einen Teil des Lernprozesses bildet. Bei Anerkennungsformen geht es insbesondere darum, dass Bedingungen hergestellt und gewährleistet werden, die es Menschen ermöglichen, als Subjekte zu handeln, ohne auf essenzialisierende Bezugs- und Erklärungsmerkmale reduziert zu werden. In der Unterrichtssituation gehört hierzu die Reflexion der eigenen Bilder, der eigenen (religiösen, häuslichen, politischen) Narrative, der Wahrnehmungsstrukturen und der gesellschaftlichen Selbstpositionierungen. Ziel ist, sich bewusst mit dem Thema Rassismus und der eigenen Positionierung auseinanderzusetzen, um zu einer Form des wechselseitigen Erkennens und Anerkennens zu gelangen. Die Frage des Rassismus in der modernen Einwanderungsgesellschaft verweist auch auf die Praxis des islamischen Religionsunterrichts. Dort finden sich spezifische Formen antisemitischer Narrative, die Dethematisierung von Afro-Türken oder Muslim*innen aus zentralafrikanischen Ländern oder die Abwertung eines sogenannten »arabischen« importierten Islams. Dazu gehört auch die Skandalisierung habitueller religiöser und ästhetischer Praktiken (beispielsweise Gebetsformen und diverse Zugänge zum religiös bedingten Fasten) unterschiedlicher islamischer, als abweichend markierter Glaubensrichtungen. Ein weiteres Beispiel, das sich an den bisherigen Forschungsergebnissen der Verfasserin und des Verfassers dieses Beitrags festmachen lässt, ist die steigende Tendenz zum Rückzug in migrantisch und muslimisch markierte Gruppierungen unter Adoleszent*innen und jungen Erwachsenen. Die Rückzugstendenzen gründen zum Teil in langjährigen und alltäglichen Diskriminierungserfahrungen innerhalb der Dominanzgesellschaft. Dazu werden religiöse Aneignungspraktiken in Form von Islamizitäten umgesetzt. Muslim*in zu sein wird zunächst der familiären, nationalen oder kulturellen Herkunft zugewiesen und nicht unbedingt der Selbstpositionierung derjenigen, die es betrifft. Letztgenannten wird die Deutungshoheit über das eigene Selbst vonseiten der Dominanzkultur (Rommelspacher 1995) weitgehend abgesprochen. Das religiöse Signum bewegt sich zwischen Dingen, die zunächst während der Kindheit unbewusst zur Farbgebung der Lebenswelt beitragen, und Dingen, die erst nach und nach ins Bewusstsein treten. Es bewegt sich zwischen Zuschreibung und Aneignung, zwischen sichtbaren und nicht sichtbaren Markierungen, zwischen absichtlichen und versehentlichen Markierungen und zwischen unterschiedlichen Tonalitäten der Adressierung. Diese können inkludierend oder exkludierend, neugierig, distanziert oder indifferent, aufwertend oder abwertend, ermutigend oder viktimisierend, stärkend oder verletzend sein. Beide perspektivischen Zugänge, also der bildungstheoretische und der religionsbezogene, sind in den Kontext der hiesigen Bildungslandschaft eingebettet, die sich unter den migrationsgesellschaftlichen Vorzeichen eines Landes mit

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langjähriger Einwanderungsgeschichte entfaltet – eine Einwanderung, die in Teilen so ungeliebt war und immer noch ist, dass es bis heute nicht gelungen ist, Migration als deutsche Nachkriegsidentität anzuerkennen und eine gelassene Haltung, wenn nicht gar positive Affinität zu Migration als Normalfall des Menschheitsgeschehens zu entwickeln. Es fällt unter anderem auch in den Verantwortungsbereich der Schule, dass das Dispositiv zu Fremdenfeindlichkeit im engeren Sinne und zu gesellschaftlichen Zugehörigkeits- und Ausgrenzungsdiskursen im weiteren Sinne unwidersprochen bleibt. Es wird als ein wichtiges Segment deutscher Geschichte ausgeblendet und damit von Generation zu Generation weitergegeben. Das geht auch die Islamkunde etwas an – sei es hinsichtlich ihrer Zielgruppen mit vermutet überwiegender Migrationserfahrung im sozialen Nahfeld, sei es als Unterricht im Kontext des Bildungsauftrags der öffentlichen Schule, der sich in der Regel auch in so bezeichneten überfachlichen Kompetenzen wie etwa »Sozialkompetenz« oder »kommunikativer Kompetenz« spiegelt. Religiöse Repräsentationen des Islams (zum Beispiel Moscheebau), die Institutionalisierung islamischer Gemeinden und die Einrichtung des islamischen Religionsunterrichts stehen seit Jahren für den Zuwachs an Vertrauen zwischen Muslim*innen und staatlichen Institutionen, für eine gemeinsame Integration und für so etwas wie Normalität, was beispielsweise die Grundrechtsgewährung religiöser Freiheits- und Gestaltungsrechte angeht. Gegenwärtig aber verschlechtert sich die Lage. Jugendliche Muslim*innen geben in Interviews zweierlei zu Protokoll: den zunehmenden Verlust an Normalitätsempfindung im täglichen Schulleben sowie zunehmende Entfremdungsgefühle und Diskriminierungserfahrungen. Der islamische Religionsunterricht droht aus dem Paradigma der Selbstverständlichkeit und Normalität herauszufallen. Die heute in Deutschland wieder vielerorts diskutierte Abwicklung des islamischen Religionsunterrichts oder zumindest die Reduktion seines Formats auf einen Sonderunterricht für Sonderlinge wird in einer zunehmend aggressiven Tonation unter dem Diktum des Sicherheits- und Integrationsdispositivs diskutiert und verhandelt. In den Hintergrund rücken dabei die Belange und Interessen der hier lebenden Muslim*innen, von denen die Dominanzgesellschaft nicht weiß, was sie eigentlich denken und fühlen (Amir-Moazami 2018; Spielhaus 2012). Dabei war schon in den 1970er-Jahren absehbar, dass die eingewanderten Muslim*innen und auch der Islam zur Bundesrepublik dazugehören würden. Im sogenannten »Kühn-Memorandum« hielt der ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Fritz Kühn, bereits im Jahr 1979 fest, dass ein Religionsunterricht für die »große Gruppe der muslimischen Kinder befriedigend gelöst werden muss«, um aus seiner Sicht »problematische Selbsthilfeversuche wie Koranschulen« zu vermeiden (Kühn 1979). Fritz Kühn plädierte damals für die Übernahme des Religionsunterrichts für muslimische

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Schüler*innen in den regulären Unterricht an den Schulen. Er erkannte die Diskrepanzen zwischen den Lebenswirklichkeiten der aus dem Ausland stammenden Imame und denen der eingewanderten und in Deutschland geborenen Kinder und Jugendlichen. Natürlich lässt sich auch hier, trotz dieses progressiven Ansatzes, der Kontrollbedarf erkennen, der aufseiten des Staates formuliert wurde. Dennoch waren die damaligen Entwicklungen von besonderen Dynamiken gekennzeichnet. Innerhalb der Bildungslandschaft taten sich 1979 Mitglieder dreier türkisch-islamischer Organisationen zusammen und richteten eine Petition an das nordrhein-westfälische Kultusministerium, einen islamischen Religionsunterricht zu verankern (Schiffauer 1997). Das Kultusministerium bejahte die Petition und beauftragte von sich aus einen Mitarbeiter des damals neu gegründeten Landesinstituts für Lehrerfortbildung in Soest, ein Curriculum für die Grundschulen zu entwickeln. Verschiedene Lehrkräfte und islamische Organisationen taten sich daraufhin zusammen und konzipierten einen gemeinsamen Lehrplan für die ersten acht Schuljahre. Trotz einiger Monita vonseiten des Amtes für Religionsangelegenheiten in der Türkei (Türkiye Cumhuriyeti Diyanet ˙I¸sleri Bas¸kanlıg˘ı) sowie einiger weiterer islamistisch orientierter Gemeinschaften begann die schrittweise Umsetzung des Projekts. Mit Blick auf das Integrationsanliegen hält der Ethnologe Werner Schiffauer fest, dass dieses von zahlreichen Widersprüchen gezeichnet war. Einerseits sei das Anliegen erkennbar gewesen, ein Integrationsangebot zu machen und dazu einen islamischen Religionsunterricht einzuführen. Andererseits sei das Kultusministerium bereits damals darauf bedacht gewesen, nicht nur die formale, sondern auch die inhaltliche Ausgestaltung des islamischen Religionsunterrichts selbst in die Hand zu nehmen und nicht den einzelnen migrantisch organisierten Gemeinden zu überlassen. Schiffauer stellt fest, dass das nordrhein-westfälische Kultusministerium den einfacheren Weg wählen und sich ausschließlich mit der Diyanet in der Türkei, vertreten durch die DITIB in Deutschland, hätte zusammentun können. Andere Bundesländer verweigerten eine solche Projektidee und Umsetzung mit dem Argument, dass die islamischen Organisationen in sich gespalten seien und man hier keinen erkennbaren, die Muslim*innen in ihrer Gesamtheit vertretenden Ansprechpartner habe, mit dem es sich zu kooperieren lohne. Das Problem war also damals schon nicht, dass es auf muslimischer Seite keinen Ansprechpartner gab – es gab schlichtweg zu viele davon. Dies zu einer Zeit, da zum Beispiel der Loseblatt-Kommentar zum Grundgesetz von MaunzDürig vom Islam noch als einer sogenannten »Fremdreligion« sprach. Im Übrigen wird die damalige Bereitschaft der diversen muslimischen Religionsvereine unterschätzt, sich zu dem Zwecke zu verbinden, einen solchen Ansprechpartner zu konsolidieren. Das Problem, dass die staatliche Seite die Zusage schuldig blieb, dann auch mit so einem Partner weiterzuarbeiten, verschärfte sich Mitte der

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1980er-Jahre. In Reaktion darauf forderten die Moscheevereine ihre politischen Kontakte zu weiter reichenden Zielvereinbarungen auf, ehe man die Mühe auf sich nehmen werde, die innermuslimischen Widerständigkeiten zu überwinden. Die damaligen Argumentationen klingen auch heute noch vertraut und redundant zugleich, obwohl seitdem knapp 40 Jahre vergangen sind. Klaus Gebauer, seinerzeit der Hauptinitiator in NRW, ein »Agnostiker mit katholisch-jesuitischem Einschlag« (Schiffauer 1997), verstand sein Projekt als Arbeit »an der offenen Gesellschaft«. Er betonte, dass eine Frontstellung gegen die islamischen Gemeinden abzulehnen sei – und diese »eher eingebunden als bekämpft werden« sollten. Gebauer erklärte, dass »eine Konfrontation […] nur eine Belastung für die Kinder [bedeute], auf deren Rücken die Konflikte ausgetragen werden. Die Folgen wären nur gegenseitige Blockade. Statt Konfrontation ist, bei aller Wahrung der Unterschiede, Kooperation zu suchen« (zitiert nach Schiffauer 1997). Es lohnt sich, diese Initiativen und ihre Geschichte sowie die weitsichtigen Perspektiven auf die Kinder und Jugendlichen im Blick zu behalten. Die heutige Situation hat eine Vorgeschichte. Trotz des Anwerbestopps im Jahr 1973, der durch die Ölkrise ausgelöst wurde, wuchs die Zahl der muslimischen Bevölkerung in Westdeutschland stetig an – ein Prozess, der mit der Anwerbephase seit den 1960er-Jahren seinen Anfang genommen hatte. Parallel dazu entwickelte sich eine emanzipatorische und selbstbewusste muslimische Bewegung, die sowohl aus herkunftsdeutschen Konvertit*innen als auch aus Muslim*innen aus unterschiedlichen Herkunftsländern bestand (Kulaçatan, Behr & Agai 2017). Die Geschichte der Muslim*innen in Deutschland und die Etablierung muslimischer Institutionen ist ohne den globalen Charakter sowie das Bewusstsein um die Migrationsgesellschaft im Einwanderungsland Deutschland nicht zu verstehen (ebd.). Und hier gerät die gesellschaftliche Realität, die seit damals ein fester Bestandteil der Geschichte der Bundesrepublik ist, mit der Trägheit der Realitätsannahme der Politik aneinander. Zivilgesellschaftliche Organisationen sowie weitsichtige Akteur*innen in den etablierten Parteien wurden nicht müde, der pluralen Gesellschaft Gesicht, Gestalt und Format zu geben und diese auch unabhängig vom lange gültigen Primat der befristeten Aufenthaltsdauer und des Anwerbestopps einzufordern. Andererseits bestimmten in der Bundesregierung und in verschiedenen Landesregierungen Abwehrmechanismen und fehlende, da nicht intendierte, Integrationspolitiken den Umgang mit dem »Mehr« der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Folglich steht nach wie vor das fehlende Narrativ für ein bundesdeutsches Wir in globaler und nationaler Perspektive, das zu schaffen in den verschiedenen Zäsuren der letzten 50 Jahre möglich gewesen wäre. Diese Chancen dürfen als verpasst gelten. Über das heutige Wir schiebt sich das Narrativ des mutmaßlich verlorenen Deutschen, der trotzigen nationalen Identitätssuche und der aggressiv

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inszenierten Forderung nach Homogenität. Vieles davon hat Eingang in die Befindlichkeiten und Debatten der Gesellschaft gefunden, oft unter Preisgabe von Debattenkultur und Anstand (Sarrazin 2012; Lengsfeld 2018). In diesem Konglomerat an subkutan entzündlichen Rassismen, die inzwischen ohne Scham zutage treten dürfen, stellt sich nun die Frage, wie sich hierin die Inhalte des islamischen Religionsunterrichts rassismuskritisch umsetzen lassen, zumal die Etablierung von islambezogenen Unterrichtsformaten stets in Abhängigkeit von gesellschaftspolitischen Leitbilddebatten und ordnungspolitischen Nützlichkeitserwägungen vonstattengegangen ist – und nicht etwa aus einer intrinsischen Anerkennung des Islams als Gegenstand mit allgemeinem Bildungswert. Hinsichtlich des hier aufbereiteten Topos bildet deshalb eine kurze Skizzierung der anthropologischen Signatur des Korans den Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen. Die Frage des rassismuskritischen Potenzials ergibt sich nicht nur aus dem Koran, der Biografie Muhammads oder der ethischen ˙ und sozialen Komponente des Islams als Religion und Lebensstil, sondern auch aus einem übergeordneten Bildungsbegriff im Kontext der Migrationsgesellschaft in Deutschland. Aus diesem Grund wird im zweiten Teil der theoretischen Überlegungen auf den Begriff »Human Flourishing« von Ulrike Auga und auf die sogenannten »epochaltypischen Schlüsselprobleme« nach Wolfgang Klafki Bezug genommen, die für eine rassismuskritische Betrachtung hilfreich sind. Anhand dieser Grundlagen werden im weiteren Verlauf einige Fragestellungen des rassismuskritischen Profils der Islamkunde aufgefächert. Einen wichtigen Ausgangspunkt für das Bildungsverständnis bilden theologisch-anthropologische Ansätze im Islam. Sie entwerfen den Menschen als stets lernfähiges Wesen. Die anthropologische Signatur des Korans versteht den Menschen als grundsätzlich entwicklungsfähiges Individuum (Behr 2014). Der Mensch ist demzufolge fähig zur Entwicklung, der er gleichzeitig bedarf. Diese Entwicklungsidee begreift den Menschen darüber hinaus als Individuum, dem alle Dispositionen mitgegeben wurden, die für seine Vervollständigung notwendig sind. Die heterogenen Potenziale, die der Mensch in sich trägt, kann und muss er selbstständig entdecken, freilegen, ausbauen und pflegen (Behr 2014a). Das Ziel religiöser Bildung ist allerdings nicht, ein Ideal absoluter Vervollständigung zu erreichen, wie es die aus der Tradition des Islams stammende Terminologie al-insa¯n al-ka¯mil vermuten ließe, zumal diese vielfach in der durchaus problematischen Übersetzung mit »der vollkommene Mensch« (Behr 2014) wiedergegeben wird. Zu groß sind die hier lauernden Gefahren: die Frustration angesichts des Unerreichbaren, der Machbarkeitsfetischismus mit Blick auf Prozesse von Bildung als Erziehung und Unterricht (Koch & Schorch 2004) und schließlich der Missbrauch durch totalitäre Bildungsideen. In diesem Zusammenhang lässt sich die arabische Vokabel ka¯mil eigentlich nicht steigern – weder hinsichtlich der sachlichen noch der sozialen oder der persönlichen Be-

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zugsnorm. Was hier in ethischer Hinsicht zum Ausdruck kommt, gehört ebenso wie der Begriff der »Würde« (kara¯ma) im Koran (17:70) zum nicht skalierbaren Humanum. Was die verschiedenen individuell angelegten Potenziale des Menschen angeht, hat die Anmutung des stets Unerreichbaren seinen festen Platz in muslimischen Denk- und Lebenswelten. Die Heftigkeit der Ambivalenz dieser Vorstellung lässt sich jedoch abschwächen. Es wäre ein Trugschluss, anzunehmen, dass Kinder und Jugendliche hin zu diesem Ideal erzogen werden müssten, um hernach als Erwachsene lediglich festzustellen, dass sie nach wie vor unvollständig sind. Die intrinsische Motivation, die diesem Gedanken zugrunde liegt, kristallisiert sich vielmehr aus der Überzeugung heraus, dass sich Anstrengungen in der Religion lohnen – einem »spirituellen Leistungsmotiv« gleich (Behr 2014). Der sich diesem Entwurf anschließende soziale Bezugshorizont bezieht sich auf die religiösen Entwicklungspotenziale eines Menschen als autonomes Subjekt und die damit verbundenen Ideale im Umgang mit gesellschaftlichen, das heißt kollektiven Aushandlungsprozessen. Zu diesen Aushandlungsprozessen gehören diskursive Entwicklungen, in denen es um den Austausch gemeinsamer Erfahrungen und Interessen geht, die religiös konnotiert sein können, aber nicht müssen. Dabei kommt der religiösen Erziehung eine wesentliche Bedeutung zu, wenn sie sich zum Ziel setzt, auf die »innere und äußere Dialektik als Motor der Kommunikation zu verweisen« (Behr 2014). In dieser Skizzierung der anthropologischen Signatur des Korans wird deutlich, dass der Mensch nicht defizitär angelegt ist, sondern als entsprechend seiner Altersentwicklung und sozialräumlichen Lebenswelt beweglich und lernfähig. Theoretische Stufentheorien der religiösen Entwicklung haben sich in der islamischen Religionspädagogik nicht durchsetzen können; im Vordergrund steht vielmehr die Erfahrung, dass in den konkreten sozialen Situationen, in denen sich reale Personen befinden, sehr differente Ausprägungen von Denken, Sprechen und Handeln ihren Ausdruck finden können. Schon Pädagogen der islamischen Frühzeit ab dem zehnten Jahrhundert bevorzugten gegenüber etwa der spätantiken Septennienlehre einen empirischen Blick auf die Person (Djahani-Gürsoy 2009). Zudem geht es beim Ausbau der dem Menschen innewohnenden Potenziale nicht vorrangig um das Festzurren von Rechten und Pflichten, sondern um das, was Kinder und Jugendliche aus ihrer eigenen Religiosität heraus zum Ausdruck bringen können. Hierbei kommt Religion als Wissenskategorie ins Spiel. Die Theologin Ulrike Auga bezeichnet Religion im Zusammenhang mit den Dimensionen der Erfahrung, der mentalen und sozialen Konzeption und der Anschauung von Welt als einen Ort der »Entstehung von neuem Wissen und gesellschaftlicher Imagination« (Auga 2013). Auga erkennt in der Religion das Potenzial für ein gesellschaftlich geteiltes Imaginäres. Mit Bezug auf die vorherigen Darstellungen zur anthropologischen Signatur des Korans lässt sich hier eine Brücke zur Kategorie

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des sozialen Bezugshorizonts schlagen, in dessen Rahmung sich »gutes Leben« und »menschliches Blühen« (Auga 2013) als Bildungsidee beschreiben lassen. Diese Vorstellung bezeichnet Auga als »Human Flourishing«. Erst dadurch wird das Entstehen von Handlungsfähigkeit möglich, die von epistemischer Gewalt befreit ist (Auga 2013). Mit epistemischer Gewalt werden diejenigen gesellschaftlichen (Re-)Produktionsverhältnisse und -mechanismen bezeichnet, die dazu führen, dass Angehörige sozial marginalisierter Gruppen in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen entweder nicht gehört oder nur als Repräsentant*innen der vermeintlich »Anderen« wahrgenommen werden (Castro Varela & Dhawan 2003). Hier begegnen sich die Vorstellungen muslimischer Kinder und Jugendlicher von einem eifersüchtigen und strafbereiten Gott und der Härte des Islams mit ihrer zuweilen empfundenen Ohnmacht, selbst nichts ausrichten zu können. Sie fühlen sich spirituell entmündigt und durch soziale Loyalitätserwartungen religiös fremdbestimmt. Solcherart Narrative der epistemischen Gewalt bedürfen der Dekonstruktion und Dechiffrierung. An diesem Punkt kann das rassismuskritische Potenzial des IRU ansetzen, indem der Koran und die Sunna als beherrschbare Kategorien von Wissen und Kulturalität eröffnet werden. Das bedeutet, dass islamische Unterrichtsangebote dazu anregen sollen, das Umfeld sowie das eigene Verhalten kritisch zu betrachten und sich mit den Mitmenschen in angemessenen Formen auseinanderzusetzen. Das Einüben der persönlichen Kritik- und Artikulationsfähigkeit ermöglicht erst die damit einhergehende Verantwortung; die Jugendlichen werden auf dem Weg hin zu einer bewussteren und aktiveren Selbstbestimmung selbst zu Vorbildern (Behr 1998). Der erzieherische Anteil an solchen Unterrichtsangeboten bedeutet auch, hinsichtlich der eigenen intrinsischen Motive überhaupt erst rechenschaftsfähig zu werden und das eigene Handeln zu bewerten (ebd.). Im Sinne von Augas »Human Flourishing« und von Religion als Wissenskategorie gilt es, den Koran im islamkundlichen Unterricht – und generell in der islamischen Erziehung in Familie oder Gemeinde – nicht als ein Buch im Sinne der Heiligen Schrift zu verstehen, aus dem Gesetze zu extrahieren sind (Amirpur 2013). Vielmehr dient er den Menschen als ein »Leitfaden« (arab. hudan), was bereits mit den ersten Versen des Korans klargestellt wird. Die Menschen sollten laut Fazlur Rahman, einem der frühen prominenten Vertreter wissenschaftlicher Islamstudien und intellektueller Religiosität an der Universität Chicago, gemäß den ethischen und sozialen Bestimmungen des Korans leben, ohne sich auf den kleinen Teil der Gesetzesbestimmungen zu kaprizieren. Fazlur Rahman legt den Fokus auf den moralischen Kern und nicht auf die legalistischen Fragen bezüglich dessen, was geboten und verboten ist (Amirpur 2013).

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An diese Überlegungen schließt sich die Frage nach dem generellen Bildungsbegriff und seinen heutigen Herausforderungen an. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki spricht vom Paradigma der »epochaltypischen Schlüsselprobleme«, das Eingang in die allgemeine Lehre und damit auch in den islamischen Religionsunterricht finden muss. Zu den epochaltypischen Schlüsselproblemen gehören laut Klafki Gleichberechtigung und Menschenrechte, Frieden und Demokratie, Interkulturalität, ein kritischer Umgang mit Technikfolgen und ihren globalen Auswirkungen sowie Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und der Überwindung gesellschaftlich produzierter Ungleichheiten. Klafki bezeichnet die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit als Zentralproblem und fächert verschiedene Formen der sozialen Ungleichheit auf: »Zwischen sozialen Klassen und Schichten, zwischen Männern und Frauen, zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen, zwischen Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, und denen, für die das nicht gilt, zwischen Ausländern in Gastländern und der einheimischen Bevölkerung, aber auch zwischen verschiedenen Volksgruppen einer Nation; positiv formuliert lautet die Aufgabe: multikulturelle Erziehung; zum anderen geht es um die Ungleichheit in internationaler Perspektive; hier ist das eklatanteste Beispiel […] das Macht- und Wohlstands-Ungleichgewicht zwischen sogenannten entwickelten und wenig entwickelten Ländern.« (Klafki 1996, S. 59)

Nun sind einige Begriffe, die hier unter den epochaltypischen Schlüsselproblemen summiert werden, durchaus problematisierbar. Allerdings lassen sich an etlichen Stellen der Definition nach Klafki konkrete Inhalte und gegenwartstheologische Positionierungen des islamischen Religionsunterrichts anbinden. Dabei geht es um die Übersetzung rassismuskritischer Anforderungen der Migrationsgesellschaft in das religiöse Unterrichtsformat – auch unter Berufung auf den Koran. Ein zusätzliches Gegenwartsproblem ist die weltweite Fluchtmigration (Castro Varela & Mecheril 2016), ausgelöst durch Kriege sowie die fortschreitende globale Umweltzerstörung und Vereinseitigung der Produktionsverhältnisse zugunsten des Konsums in den Industriestaaten. Klafki verteidigt das Demokratieprinzip, an dem sich die Allgemeinbildung orientieren müsse: »Allgemeinbildung muss, sofern das Grundrecht auf die ›freie Entfaltung der Persönlichkeit‹ gewährleistet werden soll, als Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten verstanden werden.« (Klafki 1996, S. 54)

Wie sich diese Dimensionen im Zusammenspiel mit den epochaltypischen Schlüsselproblemen, mit der islamischen Signatur und mit Blick auf das »Human Flourishing« umsetzen lassen und welche Widerstände es dabei zu überwinden gilt, wird im Folgenden erörtert.

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2.

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Islamkunde

Eine Vokabel wie »Islamkunde« bedarf der Präzisierung. Das Kürzel ist, ähnlich dem Wort »Islamunterricht«, ganz der Vorliebe für prägnante Nominalisierungen und dem damit einhergehenden Verlust an inhaltlicher Genauigkeit geschuldet. Theoretische Spiegelbegriffe wie »Christentumskunde« oder »Judentumskunde« machen die semantischen Verschiebungen deutlich: Solche Fachbezeichnungen existieren für die Schule nicht – anders als Religionswissenschaft, Islamwissenschaft oder Judaistik als akademische Disziplinen (DW 2010, S. 4ff.). Es gibt auch keinen »christlichen« Religionsunterricht, sondern katholischen, evangelischen und andere. Mit »Islamkunde« wurden in den vergangenen Dekaden die diversen Unterrichtsangebote an den öffentlichen Schulen in Deutschland bezeichnet, die eine auf den Islam bezogene Signatur aufweisen (Mohr 2006). Als sich die Konferenz der Ministerpräsidenten im Zuge ihrer Krisensitzung nach 9/11 dazu durchrang, die breite Einführung solcher Angebote in Deutschland anzumahnen, hatte sie ein bestimmtes Bild vor Augen: einen Unterricht nämlich, der gleichzeitig muslimische Identität und staatsbürgerliche Gesinnung fördern soll: »Entsprechend dem Bildungsauftrag unserer Schulen sollen die jungen Muslime auf der Basis der Wertordnung des Grundgesetzes darin unterstu¨ tzt werden, verantwortungsbewusste Bu¨ rgerinnen und Bu¨ rger unseres demokratischen Rechtsstaates zu sein […]. Ein islamisches Unterrichtsangebot kann jungen Muslimen helfen, ihre eigene religiöse Identität in unserer Gesellschaft zu reflektieren und zu stärken.« (MP 2001; Behr 2004)

Das ist eine sehr optimistische Auslegung des bekannten Diktums des Frankfurter Verfassungsgelehrten Ernst-Wolfgang Böckenförde, dem zufolge der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht gewährleisten kann, nämlich vom sittlichen Potenzial seiner Bürgerinnen und Bürger (Böckenförde 1976, S. 221– 252). Will heißen: Religiöse Identität ist nicht nur dann von fundamentaler Bedeutung für die staatsbürgerliche Identität, wenn sie kritisch reflektiert, sondern auch, wenn sie ausdrücklich gestärkt wird. Es ist erstaunlich, dass eine solche Haltung nicht nur im unmittelbaren Nachgang, sondern als direkte Reaktion auf die Anschläge in New York so klar formuliert wurde. Die Diskussion, die über den damaligen Kanzleramtsminister angestoßen wurde, verlief indes nicht konfliktfrei; die Argumente lagen zwischen dieser Stellungnahme und restriktiven Alternativen, die an Radikalenerlass und Berufsverbot erinnert hätten. Die medialen Islamdiskurse lösen immer wieder auch generelle Nachfragen aus, was die »Veränderung der Rolle von Religion« (Steinberg 2020) betrifft. Dazu noch einmal zurück zu Böckenförde: Ihm ging es zunächst um die Frage der Verhältnisbestimmung von Grundrechten und sozialem Kapital und nur am

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Rande um Religion. Die religiösen Institutionen wissen dies aber auf ihre staatstragende Daseinswahrnehmung und auf ihre institutionelle Selbstbehauptung hin zu interpretieren. Allerdings impliziert das Diktum auch seine Umkehrung, nämlich dass die Religionen (hier ausdrücklich Plural) von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht schaffen können, nämlich paritätische Rechte in Gewährleistung durch den säkularen Staat und in Formaten der Kooperation (die sogenannte »hinkende Trennung«). Damit ist ein Zusammenspiel von Struktur und Funktion beschrieben, in dem sich religiöse Positionierungen und Lebensstile, die Ethik des demokratischen Subjekts und staatsbürgerliche Sittlichkeit wechselseitig stützen. Jeder Religionsunterricht unterliegt damit einem impliziten Diskursparadigma, das über die religiöse Unterweisung hinaus auf den Bildungsauftrag der Schule verweist. Das kann mit dem konfessionellen Anspruch des Religionsunterrichts als religiös-institutionelles Proprium kollidieren. Der schulische Religionsunterricht in der öffentlichen Schule erscheint gelegentlich wie ein Territorium, das gegen jeden säkularen Eroberungsversuch streng bewacht und hart verteidigt wird. Das liegt an der Geschichte dieses Fachs als Pfund aus den preußischen und Weimarer Kulturkampfdebatten (Willmann 1884; Eggerdsorfer 1928). Es lag deshalb auf der Hand, dass muslimisch-migrantische Vereine, die religiös positioniert sind, sich die Sache mit der Anerkennung als Mitgestalter religiöser Unterrichtsbestallung für die eigene institutionelle Akkreditierung und die Nobilitierung zu eigen gemacht haben. Man mag das kritisieren oder ablehnen, aber einschlägige Regelungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland greifen auf diesen Diskurs zurück und bestimmen die Grammatik lateranvertraglicher Verständigung zwischen kirchlicher und staatlicher Institution.2 Die Debatten um die Förderung islamisch-theologischer Lehrstühle in Deutschland durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung ab 2010 und um deren mitunter prekäre Besetzungen verweisen auf beide Kraftvektoren des Böckenförde-Diktums: Muslimische Gemeinschaften sehen sich in ihrer religiösen Deutungshoheit durch den Staat provoziert, muslimische Hochschullehrer*innen im Fachbereich »Islamische Theologie« durch religionsgemeinschaftliche Einmischung in ihrer Wissenschaftsfreiheit bevormundet. Die erste Professur für Islamische Religionslehre in der Doppeldeutigkeit dieser 2 GG Art. 140: »Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.« Damit wird beispielsweise ein Verständnis von Religionsgemeinschaft, das sich über Organisationsgrad, Verfasstheit und Zugehörigkeit definiert, auch für Religionen ohne Kirche, etwa den Islam, gedanklich vorgeformt – also gleichsam verkirchlicht. Ein hohes Maß an Wiedererkennbarkeit solcher Prinzipien begünstigt seitens der Rechtspflege in den dafür zuständigen Kultusministerien die Anerkennung von solchen Gemeinschaften als Kooperationspartner des Staates für die Belange des schulischen Religionsunterrichts.

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Denomination, nämlich Lehre im Sinne der islamisch-theologischen Systematik und im Sinne der Fachdidaktik des islamischen Religionsunterrichts, wurde im Jahr 2005 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg besetzt. Die Bestellung einer Professur für Islamische Theologie zwei Jahre zuvor darf als Ölschuss gelten: Der 2004 dorthin berufene Jurist und ordentliche Professor für Religion des Islams am Centrum für Religiöse Studien (CRS) der WWU Münster geriet aufgrund seiner radikalkritischen Dekonstruktion islamischer Traditionsbestände in Konflikt nicht nur mit den assoziierten muslimischen Beiräten. Er wurde in die Philologie, Schwerpunkt Geistesgeschichte im Vorderen Orient in nachantiker Zeit, versetzt. Damit entzündete sich bereits in der Startphase solcher akademischen Formate ein Fundamentalstreit um die Frage, inwieweit sich hoheitliche Mitbestimmungsrechte etwa in Form des nihil obstat auf nicht christliche Gemeinschaften übertragen lassen. Auch gab es Bedenken, inwieweit dieser Griff nach dem klerikalen Lehrzuchtbesteck (Behr 2017) überhaupt mit der islamischen Tradition und mit muslimischem Selbstverständnis vereinbar ist. Diese im Grunde genommen ja ganz natürlichen und nicht unproduktiven Geburtswehen einer übrigens nicht nur in Deutschland neuen akademischen Disziplin wirkten sich unmittelbar auf das Fachprofil von Islamkunde und islamischem Religionsunterricht aus. Die gegenwärtigen islamischen Unterrichtsangebote bewegen sich auf einem Kontinuum zwischen Religion und Ethik; zwischen religionswissenschaftlich-kundlicher und religiös-verkündigender Ausrichtung. Inwieweit sich ein solcher Unterricht eher kognitivierend oder habitualisierend artikuliert, ob er diskursiv geöffnet oder dogmatisch geschlossen wird, ob er sich stärker am Motiv der Kulturtransmission imaginierter Zielgruppen (»türkische Schüler*innen«) oder an deren mutmaßlichem spirituellen Progressionsinteresse (»muslimische Jugendliche«) orientiert – all das hängt von religionsverfassungsrechtlichen Situierungen, regelpolitischen Zielsetzungen und ideologischen Gangarten muslimischer Beteiligungsgemeinschaften in den verschiedenen Bundesländern ab (vgl. dazu exemplarisch die Debatte um die islamische Lehrbefugnis; Behr 2012). Zwischen dem Modell eines »islamischen Religionsunterrichts« gemäß Grundgesetz Artikel 7 Absatz 3 im Bundesland Hessen, einem weniger hoch aufgehängten Modell mit muslimischem Beirat wie dem sogenannten »Schura-Gremium« (eingedeutscht von arab. ˇsu¯ra¯ für »Beratung«) in Niedersachsen und dem NRW-Modell der »Islamkunde« mit seiner ganz eigenen Konfliktgeschichte, dem »islamischen Unterricht« in etatistischer Alleinverantwortung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus ohne Mandat muslimischer Religionsgemeinschaften oder dem auf einem Staatsvertrag der Bürgerschaft und einer Konzeption so bezeichneter dialogischer Theologie beruhenden Hamburger Modell des »Religi-

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onsunterrichts für alle« hat sich seit etwa Mitte der 1980er-Jahre bis heute viel vorwärts bewegt, einiges treibt inzwischen aber auch wieder stromabwärts.

3.

Diskursschneisen

Noch einmal zurück zur Ministerpräsidentenkonferenz vom Oktober 2001. Mit ihrem Votum gerieten die politischen Entscheidungsträger*innen in gewisser Weise in die Bredouille: Wird das Signum »muslimisch-religiös« als Bestandteil einer Bildungsprogrammatik von der parlamentarischen Entscheidung bis hin zur exekutiven Verwirklichung angelegt, bedarf es neben der programmatischen und fachlichen auch der juristischen Präzisierung. Und hier sind die staatlichen Institutionen vor allem nach 9/11 an Ergebnissen orientiert, auf deren Zustandekommen sie gemäß den religionsbezogenen subjektiven Freiheitsrechten und der Pflicht zur staatlichen Zurückhaltung hinsichtlich Einmischung in die Formatierung religiöser Lehre aber keinen direkten Einfluss haben. Allerdings reichen die Kontroversen um den islamischen Religionsunterricht viel weiter zurück. Erste Anläufe von engagierten deutschen Muslim*innen in Richtung eines eigenen Religionsunterrichts gab es, wie bereits angesprochen, schon in den 1970er-Jahren. Wenn beispielsweise heute immer noch und immer wieder aufs Neue das Klischee bedient wird, ein schulischer Islamunterricht solle dazu beitragen, dem Koranunterricht in den sogenannten »Hinterhofmoscheen« (Behr 2009) das Wasser abzugraben, dann verrät das zunächst etwas über die Wahrnehmung von als randständig markierten sozialen Milieus durch Menschen, die es eingedenk des Memorandums von Fritz Kühn seit nunmehr vier Dekaden eigentlich besser wissen müssten (Kühn 1979): Integration ist Realität; es gibt keine Integrationsverweigerung, sondern eine Wahrnehmungs- und Anerkennungsverweigerung. Und all das indiziert am Ende doch eine Art Verständigung über einen Islam mit quasi staatsreligiöser Deklination, wenn sich der Blick auf Muslim*innen richtet. Die undemokratische Nebenrede geht ähnlich stillschweigend und offenbar Hand in Hand mit der Entfremdung der Verfassungswirklichkeit vom Verfassungstext durch die bürgerliche Konsensverschiebung vonstatten, so wie das kurz nach der Wende von einer durch die deutschdeutschen Einigungsdebatten sensibilisierten Politikwissenschaft beschrieben wurde (Kreuder 1992). Am Ende dieser Verschiebung lauert die Gefahr, durch eine vorgeschobene Wertedebatte grundgesetzliche, demokratische, freiheitliche und rechtsstaatliche Normen zu unterlaufen. Und gleichsam auf der anderen Straßenseite wartet eine Bürgerlichkeit auf, die sich in dem Maße dominativ gegenüber den in Deutschland lebenden Muslim*innen geriert, wie sie selbst verroht (Heitmeyer 2017). Offenbar passend zum Karfreitag 2018 geriet die Annahme öffentlich in

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Umlauf, dass die ostdeutsche Bevölkerung homogener als die westdeutsche sei, weshalb man mit Nachsicht betrachten müsse, dass dort Ausländer*innen mehr Ablehnung entgegengebracht werde. Auch das wiederkehrende logische Paradoxon von heimischen Muslimen und fremdem Islam zeigt auf, dass im Abgleich mit ähnlichen Verständnisbekundungen für eine überfremdungsängstliche Bevölkerung nach Hoyerswerda, Solingen und Mölln auch heute noch in einer sogenannten Volkspartei, die sich in der bürgerlichen Mitte verortet, erhöhter Sensibilisierungsbedarf besteht. Diese »rhetorische Umwegkommunikation« (Shooman 2018) sowie weiter reichende Zugehörigkeitsdebatten gehören in das Arsenal der Kampfsprache, unter deren Getöse die Zugbrücke zur Teilhabe an der bürgerlichen Mittelschicht hochgezogen wird. Denn wenn die bildungsfernen Migrant*innen auf einmal ihre Hausaufgaben machen und zu bildungsnahen Naturalisierten werden, wenn sie dann beruflich aufsteigen, ins Frankfurter Europaviertel ziehen, Aktienpakete kaufen und große deutsche Autos fahren, während Konzerne, die einst auf den Schultern von Gastarbeiter*innen ihr Kapital erwirtschafteten, Megagewinne einfahren und zum Dank dafür ihre Belegschaften in die Obhut eines Staates entlassen, der sich zunehmend schlank macht, was die soziale Wohlfahrtspflege angeht – dann treten Sozialneiddebatten und ein Verteilungskampf auf den Plan, der auf der Straße ausgetragen wird (Beck 2015). Es handelt sich dabei um Diskurs-Schneisen (Amir-Moazami 2018 spricht von »Diskursexplosion«), mit denen eine Topografie hergestellt wird, die Zulässiges von Unzulässigem zu trennen versucht, eine Art mentales Terraforming. Dabei fällt auf, dass die als andersartig Markierten über die ihnen zugewiesenen Qualia scheinbar gar nicht selbst verfügen dürfen, während sich die Markierenden über das Gesinnungsargument, das gar kein Argument darstellt, der eigenen Markierung entziehen. Die Semantiken, mit denen die »Anderen« als »die« Anderen etikettiert und adressiert werden, häufen sich von Tag zu Tag an – und das mit einer Geschwindigkeit, die den Rassismus als Alltagshabitus zunehmend normal erscheinen lässt. Die Sache hat Fahrt aufgenommen, der sprachliche Tabubruch ist, was Rassialisierung angeht, inzwischen in der Mitte der Bürgerlichkeit situiert (Kemper 2017). Der israelische Psychologe und Konfliktforscher Dan Bar-On, der 2008 verstorben ist, warnte vor der Illusion, über das Zeichnen von Gegenhorizonten das vermeintlich Eigene re-inszenieren und eine national-homogene Empfindung herstellen zu können. Das Verhängnis sei, dass das damit kurzzeitig wärmende Strohfeuer plötzlich das eigene Haus in Brand setzt. Zum mühseligen Unterfangen, sich mit dem »Anderen in mir« (Bar-On 2001) auseinanderzusetzen, gebe es keine psychologisch und soziologisch plausible Alternative. Dass Islamophobie (Begriff nach EIR 2018), Kopftuchhass, Aversion gegen Fremde, Frauenfeindlichkeit, Kriminalisierung von Geflüchteten, nationalkapitalistische Neoliberalität und Sozialdarwinismus zunehmend gegen Muslim*innen ge-

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richtet sind, verschleiert den Blick darauf, dass sich diese Kräfte grundsätzlich gegen jedes marginalisierte Kollektiv richten: Alleinerziehende, Obdachlose, als sexuell deviant Identifizierte, dauerhaft Erkrankte, Arbeitslose, ökonomisch Schwache: »For, if they take you in the morning, they will be coming for us that night« (James Baldwin in einem Brief an Angela Davis vom 19. November 1970; Baldwin 1970). Die Ausgrenzung der Schwächsten durch die Schwachen gaukelt soziale Bindekraft vor, und das ist ein uraltes Narrativ in allen Religionen zwischen Ost und West und zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Und genau an dieser Stelle liegt ein erstes Scharnier zwischen dem Islam und der gegenwärtigen Lage in Deutschland. Auf der einen Seite sind da breite Segmente der bundesdeutschen Gesellschaft, die sich vor grundlegende Humanitätsanforderungen gestellt sehen und die ihren eigenen Rassismus nicht als solchen zu erkennen vermögen. Und auf der anderen Seite steht eine islamische Theologie, die in die Gesellschaft hineinspricht und sich aufmacht zu sagen, was der Islam zu sagen hätte. Besonders provozierend ist es, wenn sie sich just in einer Situation in die Leitbilddiskurse einmischt, in der nicht dem Islam als System, sondern den Muslim*innen als Menschen das Recht und die Kompetenz abgesprochen wird, etwas in dem Land mitzubestimmen, in dem sie nicht nur leben, sondern zu dessen materiellem und immateriellem Wohlstand sie unverbrüchlich beitragen. Der islamische Religionsunterricht spricht also in eine muslimische Schülerschaft hinein, die sich angenommen fühlen soll. Das hingegen, woran sie glaubt und was der Gegenstand der schulischen Befassung ist, wird diffamiert – übrigens auch mit Blick auf die Wissenschaftspropädeutik des Fachs in der gymnasialen Kollegstufe, denn: Wie vertritt man eigentlich ein Fach, und wie belegt man es als Studienangebot an mittlerweile einem halben Dutzend deutscher Universitätsstandorte, wenn es angeblich nicht zu Deutschland gehört? Die empirischen Untersuchungen zu religiösen Positionierungen junger Muslim*innen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (das LOEWE-Projekt zu religiösen Positionierungen, RelPos) zeigen, dass die Interviewten sich ihrer Situation sehr bewusst sind. Sie geben ihren Eindruck zu Protokoll, dass die Politik auf ihnen »wie auf einem Trampolin herumhüpfe, nur um selbst an Höhe zu gewinnen«. Um das klar anzuzeigen: Das rassismuskritische Potenzial einer islamischen Fachdidaktik entfaltet sich in Richtung der Gesamtgesellschaft und nicht als Spartenkompetenz muslimischer Schüler*innen, die irgendeine Nachhilfe in Staatsbürgerkunde bräuchten – diese benötigen in vielen Fällen eher die Lehrkräfte, die ihnen gegenübersitzen. Auch die aufkeimenden Debatten um einen als spezifisch muslimisch, migrantisch, männlich und jung deklarierten Antisemitismus (Wendt 2018) lenken vom eigentlichen Problem einer tiefer liegenden sozialpsychologischen Grammatik ab. Dass sich der Islam nicht aus-

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schließlich an Muslim*innen richtet, sondern im Grunde an alle Menschen, liegt zunächst daran, dass seine gesamte Anthropologie auf pädagogische Perspektiven hin ausgerichtet ist (Behr 2014a, 2014b). Der Koran entfaltet nicht nur religiöse, spirituelle, soziale und politische Entwicklungsideen; vielmehr sind in ihm, als Diskursdokument der mediterranen Spätantike (Neuwirth 2013), die Verhandlungen um solche Entwicklungen zu Text geronnen. Abgesehen vom muslimischen Gläubigkeitsparadigma vom Koran als der »Rede Gottes« ist er in dieser Hinsicht zuerst Wort seiner Zeit, folglich ebenso Produkt wie Prädikat der Geschichte – was nebenbei bemerkt auch ein ideengeschichtlich verhärtetes, innermuslimisches Kontroversargument darstellt.

3.1

Koranische Diskurse

Im Folgenden soll exemplarisch verdeutlicht werden, dass die heutigen bundesdeutschen und europäischen, rassistisch aufgeladenen Debatten um Migration auch auf das narrative Erbe religiöser Erinnerungsgemeinschaften verweisen – dies mit Blick auf den Islam und seine Zentralschriften. Das ist notwendig, um Fragen der Didaktik im Sinne der Methodenlehre, der Bildungslehre (Behr 1998) und über religionspädagogische Erörterung an theologisches Denken anzulehnen. Damit ist aber noch keine Aussage darüber getroffen, wo die normative Kraft ruht – ob aufseiten der religiösen Gelehrsamkeit, die aus der Tradition heraus auf die Situation blickt (zum Beispiel ausgeprägt in Fragen religiöser Rechtsbestimmungen), oder aufseiten einer praktischen Theologie, die ihre Normativität aus der Situation heraus entwickelt (etwa in Fragen der Seelsorge). Da wäre zum Beispiel, um einen schrifthermeneutischen Zugang zur rassismuskritischen Profilgewinnung religiösen Islamunterrichts zu eröffnen, das Narrativ »jener Stadt« in Sure 36 des Korans, deren Mächtige sich als in der Mitte stehend wähnten. Sie schoben ihre randständige Bevölkerung in die Faubourgs und Favelas ab, ähnlich den Prostituierten, Totengräbern, Fremden und Wanderern, die – kaum dass es eine feste Stadtmauer gab – des Nachts vor die Tore des mittelalterlichen München entlassen wurden, die sich unerbittlich hinter ihnen schlossen. Sie kamen dann im Frauenholz oder im Hasenbergl unter, die heute noch prekäre Wohnbezirke der Weltstadt mit Herz sind. Die islamische Tradition bezeichnet solche abgedrängten Menschen als ahl as-sabı¯l (auch ibn as-sabı¯l), zum Beispiel in Koran 2:177; sie betteln nicht, sondern hoffen und warten (2:273). Auch Geflüchtete gehören dazu, zu deren Versorgung und Betreuung der Koran in 4:98 aufruft, denn ihnen gebühren »Mittel und Wege« (h¯ıla wa-sabı¯la), um ˙ entweder weiterzuziehen oder zu bleiben, je nachdem, was ihnen hilft. All das konnten die Münchner damals aber nicht wissen, und auch nicht, dass einige Jahrhunderte zuvor und ein paar Tausend Kilometer südöstlich des Petersbergls

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an der Isar, nämlich im Medina des siebenten nachchristlichen Jahrhunderts, Muhammad und seine Gemeinschaft der Devise folgten, die »Fremden« nicht an ˙ den Rand der Straße zu drängen, sondern sie in der Mitte gehen zu lassen, um ihnen die Gewissheit zu geben, dass sie sicher und geborgen sind; die Stadt war von Menschen mit eigener Fluchterfahrung bevölkert. Ein wichtiger Hinweis für die Öffnung hin zur Vielfalt der Welt, und damit ein antirassistisches Argument, findet sich in der Sure mit den Byzantinern, die auf die Vielfalt der Menschen als beziehungsfähige Wesen hinweist: »Zu Seinen Zeichen gehört, wie er aus Erde euch erschuf, dann wart ihr plötzlich Menschen und habt euch auf den Weg gemacht. Und zu Seinen Zeichen gehört, wie er aus euch selbst Partnerwesen schuf, so dass ihr zur Ruhe kommt. Und Er legte Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch. Darin liegen Zeichen für Menschen, die nachdenken. Und zu Seinen Zeichen gehören die Errichtung der Himmel und der Erde und die Vielfalt eurer Sprachen und Hautfarben. Darin liegen Zeichen für diejenigen, die Bescheid wissen.« (Al-Ru¯m; Koran 30:20–22)

Abschiebehaftzentren können, was solche und andere islamische Standards der Humanität angeht, sicher keine »Ankerzentren« sein, vielmehr sind sie Stätten systematischer und ungestörter Menschenrechtsverletzung. Die Verwendung des Begriffs »Anker« ist mit Blick auf die Grundsätze der »christlichen Seefahrt«3 an Zynismus nicht zu überbieten. Der Koran greift die Sache mit der »Verjagung aus der Mitte« (taharrusˇ) in Sure 36, Vers 13 auf. Es könnte sich bei jener Stadt in Sure ˙ 36, so vermuten alte Fahrensmänner der Koranauslegung wie Zamahsˇarı¯ oder ˘ Dariaba¯dı¯, um die Stadt Antiochia gehandelt haben – ähnlich wie Korinth eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft. Ein Gesandter nach dem anderen wird dort in das forum geschickt, und zwar nicht mit dem Auftrag zu religiöser Mission, sondern – so ist das übrigens immer bei den Altpropheten im Koran oder im hebräischen Texterbe – um ihre Bewohner zu Gerechtigkeit und Humanität aufzurufen. Da rufen die Mächtigen der Stadt den zugereisten Systemkritikern zu, gefälligst zu schweigen, sonst werde man »mit Steinwürfen« schon zu antworten wissen. Interessanterweise bringen sie ein Argument vor und sagen: »Ihr seid ein schlechtes Omen!« Wie kommen sie zu diesem Urteil? Sie haben ihr Vogelorakel konsultiert (Vers 18). Und das ist eine für rassistische Narrative typische Dramaturgie: die Mischung aus irrationaler Fehlform eines enthumanisierten Glaubens (sˇirk), der Angst vor dem Verlust von Investoren (sˇuraka¯’) und der Verletzung basaler mitmenschlicher Rechte (fasa¯d), die sich beispielsweise auch in Sure 6, Verse 128f. entfaltet. Was sich da in Antiochia bis 3 Vgl. Rupert Neudeck in Saphir 2011, S. 92. Der Ausdruck verweist auf mittelalterliche Texte zur friedlichen Handelsschifffahrt, die auf Psalm 107 Bezug nehmen; es ist auch zu vermuten, dass er als Gegenbegriff zur »arabischen Seefahrt« mit besonderem Bezug zur Piraterie der Korsaren verstanden wurde.

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zur unabwendbaren Katastrophe aufschaukelt, erinnert an eine Art neoliberaler Esoterik, nämlich den Glauben, die unsichtbare Hand des Marktes regle schon alles zum Guten, solange nur die Glocke an der Börse kontinuierlich läutet. Die gescholtenen Gottesmänner weisen das Omen zurück: »Eure Vögel bleiben bei Euch!« (arab. ta¯’irukum maʿakum) – oder neudeutsch: »Was ihr da macht, wird ˙ euch um die Ohren fliegen.« Was damit zum Ausdruck kommt, ist nicht einfach nur eine Demarkation zwischen guten und bösen Mächten oder strittigen Marktplatzideologien, sondern eine fundamentale Erfahrungsdiskrepanz. Erfahrung ist indes ein unverzichtbarer Marker des Lernprozesses. Der Kalifatstheoretiker und Universalge˘ ama¯ʿa verstand Lehren und Lernen lehrte des islamischen Hochmittelalters Ibn G über den persönlichen Zuwachs an Kenntnissen und Fähigkeiten hinaus (tazkiya) vor allem als gesellschaftliches System (tarbiya), für das der Staat verantwortlich zeichne. Deshalb wies er darauf hin, dass Lernen nicht von Papier zu Kopf, sondern von Herz zu Herz geschehe. Mit dem Verweis auf das Herz als Sinnbild des Subjekts verweist er auf die gute Haltung des Subjekts als Grundlage guter Staatlichkeit gemäß Sure 13, Vers 11 des Korans. Diesen Gedanken kann man weiterdrehen: Lernen erfordert Kommunikation, Kommunikation erfordert Begegnung, Begegnung erfordert Bewegung – physische und geistige. Und wenn man versteht, dass Migration in der Biografie eines einzelnen Menschen zumeist der Ausnahmefall bleibt, in der Menschheitsgeschichte aber der Normalfall – ja, dass ohne Migration gesellschaftliche Entwicklung gar nicht möglich ist, dann wird auch klar, warum nicht Luthers »Türke«, sondern Rassismus und Ausgrenzung die eigentlichen Antichristen sind. Dieser Punkt ist für den islamischen Religionsunterricht, nicht zuletzt aus einer interreligiösen Perspektive, in höchstem Maße relevant.

3.2

Politische und religiöse Retrodoxie

Dass sich Menschen in Gesinnungsblasen einigeln und sich bis zu einem gewissen Grad auch politisch einkasteln lassen, ist kein deutscher Sonderweg. Trotzdem muss auch für Deutschland klar benannt werden, wie sich Prozesse der schleichenden Umgestaltung des Rechtsstaats auf der Grundlage der öffentlichen Skandalisierung von Migration und der Dämonisierung des Islams manifestieren. Dazu gehört, dass Migration als Bedrohung der Nationalgemeinschaft betrachtet wird und dieses als »Abwehrnationalismus« bekannte Phänomen auf die Dispositive der inneren Sicherheit, des sozialen Zusammenhalts, der Bewahrung der sozialen Sicherungssysteme und der kulturellen Identität gleichsam aufschwimmt. Zwischen dem Haushaltstitel für ein Bundesinstitut zur Erforschung und Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts (Burchard 2017) oder dem

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Streit um die Essener Tafel und der Proklamation einer nationalen Leitkultur (de Maizière 2017) entfaltet sich eine unsägliche Angst politischer Institutionen und Entscheidungsträger*innen, erst die Deutungshoheit, dann die Diskurshoheit und schließlich die Kontrolle über das System zu verlieren, und damit die Stimmen bei der Wahl. Die politische Situation in und außerhalb Europas scheint sich auf eine weitgehende Abwicklung der Demokratie zuzubewegen (DRA 2017). Diese Entwicklung korrespondiert mit religiös-fundamentalistischen (etwa den pentecostalen in den beiden Amerikas; Berger 2017) Wahrnehmungen der Demokratie als einer Art Religion des Unglaubens. Dort, wo es um die Kaprizierung auf eine wie auch immer geartete »Flüchtlingskrise« geht und wo Islam, Migration, Integration und das Sicherheitsdispositiv in den Vordergrund gespielt werden, verlieren sich die eigentlich relevanten Themen im Qualm der rhetorischen Nebelkerzen. Es gibt keine Flüchtlingskrise, sondern viel eher eine Krise im Umgang mit Geflüchteten. Dabei geraten wichtige Themen aus dem Blick, die einerseits systemkritisch dekliniert sind, andererseits zunehmend islamischtheologisch bearbeitet werden müssen, da sie Warnhinweise der koranischen Botschaft berühren: der Rückbau sozialer Gerechtigkeit, die Gefährdung des politischen Friedens, die Verletzung der Mindeststandards der Kinder- und Menschenrechtscharta, der Abbau von Funktionsstrukturen der Demokratie, die Vernachlässigung ökologischer Nachhaltigkeit, die Instrumentalisierung der Geschichte und die Absage an die Orientierungsfunktion von Wissenschaft. Parallel dazu entfaltet sich eine neue Hochkultur religiöser Rigidisierung, die hier als Retrodoxie bezeichnet werden soll und die den politischen Dekretismus nicht nur dort spiegelt, wo sie sich, etwa wie im Falle der AKP in der Türkei, der feindlichen Übernahme des religiösen Erbes schuldig macht und sich an Menschen vergeht, die ihr vor Jahren einmal ihre Stimme gegeben haben. Retrodoxie kann sich durchaus dort aus der Mitte religiösen Denkens entfalten, wo entweder eine kritische Theologie oder eine in der republikanischen Bürgerschaft gefestigte und intellektuelle moralische Religiosität fehlt. Gemeint ist mit Retrodoxie die Zuspitzung religiöser Differenzkriterien, die inter-religiöse (kulturelle Kodierungen von Religion) und intra-religiöse (Hetero- und Orthodoxie) Facetten aufweisen können. Gemeint ist die Fokussierung auf Traditionalisierung und das religiöse System, etwa die postmoderne Ideologie halachisch anmutender Rechtgläubigkeit als vermeintliches Signum des Islams an sich (ahl as-sunna wal-g˘ama¯ʿa). Gemeint ist die religionsgemeinschaftliche Tribalisierung auch gegen den säkularen Verfassungsstaat (zum Beispiel die Einführung religiöser Gerichte, sogenannter »Sharia Courts« in Malaysia) und die Totalisierung und Viktimisierung des religiösen Selbst (»Es geht um mich, und es geht ums Ganze.«).

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Didaktische Konkretionen

Damit eine rassismuskritische Pädagogik und Fachdidaktik des Islams im Unterricht als schulisches Diskursunterfangen überhaupt Raum greifen kann, ist es erforderlich, auf der curricularen Ebene klar erkennbare religiöse, das heißt theologisch verifizierbare Kompetenzen und Bildungsstandards zu formulieren. Andernfalls würde den Lehrkräften die Legitimation dazu fehlen, mangelt es ihnen ja oft schon am Mut, sich kritisch zu positionieren. Das liegt unter anderem daran, dass ihnen die Einführung des islamischen Religionsunterrichts als so etwas wie ein staatliches Gnadengeschenk präsentiert wurde, das Wohlverhalten verlange. Sie sind sich der ambivalenten Interessen am islamischen Religionsunterricht bewusst. Präzisierungen auf der curricularen Ebene wurden für den islamischen Religionsunterricht der Sekundarstufe eines deutschen Bundeslandes zwar unlängst vorgenommen (Behr 2017a), in dieser Form aber auf dem Weg der Implementierung vom zuständigen Ministerium angehalten. Bildungsziele, die auf eine positive Glaubensaffinität zum Islam und auf die Bekräftigung des religionsgemeinschaftlichen Zusammenhalts hin angelegt sind, gerieten ins Visier. Es scheint nicht erwünscht zu sein, dass der islamische Religionsunterricht am Ende zu einem Zuwachs an schulischem Erfolg und an persönlicher Stärke führt. Genau das aber, und nicht etwa Glaube oder religiöse Lebensstilfragen, ist das Leitmotiv muslimischer Eltern, ihre Kinder zum islamischen Religionsunterricht anzumelden (Behr 2008). Auch wenn es zum Beispiel um die Fähigkeit geht, eine religiöse Position sprachlich klar und auch gegen Widerstände zu behaupten, wenn auf die spirituelle Orientierungsfunktion von Texten des Korans verwiesen wird, oder wenn mittelbar nicht nur religiöse, sondern migrationsgesellschaftliche Kompetenzen gestärkt werden, wird die Arbeit an solchen Curricula zum Spießrutenlauf für ihre Autor*innen. Dabei kommt es heute darauf an, traditionskritische Kompetenzen anzubahnen, die nicht auf Kosten religiöser Identifikation gehen. Im Islam gilt, anders als im Christentum, das saeculum immer als tragendes Element der eigenen theologischen Tradition (Asad 2003; Behr 2017c). Aus fundamentaler Religionskritik heraus ist der Islam überhaupt erst entstanden. Das Anknüpfen an das eigene theologiegeschichtliche Erbe beginnt mit der unterrichtlichen Thematisierung von Fehlformen der persönlichen Haltung, die zwischen politischem Dekretismus, religiöser Retrodoxie und ideologischer (islamistischer, völkischer) Radikalisierung nach den Herzen und Köpfen der Kinder und Jugendlichen greifen. Worum es hier gehen muss, ist nicht, solche Formen zu islamisieren, sondern ihre Problematik zu generalisieren, denn sogar dschihadistische Radikalisierung hat oft gar keine religiöse, sondern eine als säkular zu beschreibende Grundlage. Ob der Religionsunterricht hier generell präventiv wir-

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ken kann, ist umstritten, da dafür die empirischen Belege fehlen (Ceylan & Kiefer 2018). Aber was die Lehrkräfte aus dem Unterricht mitzuteilen haben, macht Mut, auch wenn es noch weitgehend impressionistisch ist. In Anlehnung an die Notwendigkeit einer rassismuskritischen Unterrichtsgestaltung sowie an Augas Konzept der Religion als Ort der Entstehung von neuem Wissen und hinsichtlich ihres Potenzials für ein geteiltes gesellschaftliches Imaginäres soll im Folgenden auf Begrifflichkeiten eingegangen werden, die die Anerkennung des »Anderen« avisieren sowie die eigene Reflexionsfähigkeit in den Mittelpunkt rücken. Das Schulbuch Saphir informiert zum Beispiel in altersgerechter Sprache über folgende Fehlformen des Umgangs mit Religion, die über die religiöse Sphäre hinaus wirken; die Kritik an diesen Formen ist im islamischen Texterbe selbst verankert (al- ʿAlwa¯nı¯ 1993). Das Schulbuch Saphir strukturiert solche Fehlformen wie folgt: »Chauvinismus (›Wir sind die allen anderen überlegene Gruppe.‹) Damit ist die Vorstellung gemeint, anderen aufgrund bestimmter Merkmale u¨ berlegen zu sein. Diese können körperlicher, kultureller, religiöser, politischer oder sozialer Natur sein (Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Religion, Bildungsgrad, Einkommen …). Totalitarismus (›Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.‹) Damit ist das Bestreben gemeint, die sozialen und politischen Verhältnisse auch mit Zwangsmitteln an einem bestimmten Bild des Menschen auszurichten, das von einer dominanten Gruppe vertreten wird. Diese möchte damit Menschen ausgrenzen, die als Konkurrenz wahrgenommen und deshalb als andersdenkend oder andersartig bezeichnet werden. Politische Systeme, in denen sich ein undemokratisches Gesellschaftssystem, die Zerstörung des Rechtsstaats, strukturelle Gewalt, Führerkult und politische Utopien zu einem System der Unfreiheit verbinden, werden auch mit dem Begriff ›Faschismus‹ gekennzeichnet. Rigorismus (›Genau so und nicht anders!‹) Damit ist vor allem eine persönliche Lebenshaltung gemeint, die rigide (starr, hart) an Grundsätzen (Prinzipien) festhält. Das Risiko besteht darin, Bedingungen des Umfelds, der Situation und der Belastbarkeit für vernünftige Entscheidungen aus dem Auge zu verlieren. Als ›Fanatismus‹ gilt die ausschließliche Fixierung auf eine bestimmte Idee, eine Person oder Gegenstände in Verbindung mit übersteigerten Gefühlen. Radikalismus (›Alles oder nichts – jetzt oder nie!‹) Damit ist die Vorstellung gemeint, soziale und politische Verhältnisse ›von Grund auf‹ (lat. radix: die Wurzel) und schnell zu erneuern. Schrittweise und angepasste Veränderungen (Reformen) werden abgelehnt. Religiöser oder politischer Radikalismus birgt deshalb das Risiko des Extremismus (lat. exterus: außen liegend), das heißt der zunehmenden Entfernung von einer Mitte, in der noch der Ausgleich unterschiedlicher Interessen (Kompromiss, Konsens) möglich wäre. Von ›Islamismus‹ wird gesprochen, wenn sich radikale Ideen des Islams extremistisch ausformen.

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Fundamentalismus (›Alle anderen haben unrecht.‹) Damit ist eine persönliche Haltung oder eine gemeinschaftliche Ausprägung des Denkens gemeint, die keine anderen Wahrheiten als die eigene zulässt und die zugleich tolerantes Miteinander und die Verständigung mit Andersdenkenden oder Andersgläubigen ablehnt. Im religiösen Bereich wurde der Begriff zuerst mit Blick auf christliche Gruppen in den USA ab Ende des 19. Jahrhunderts geprägt, die ihr wortwörtliches Bibelverständnis u¨ ber wissenschaftliche und theologische Erkenntnisse stellen. Später wurde er auf amerikanische Juden und auf Muslime übertragen.« (Saphir 2010, S. 188ff.)

Solche Taxierungen betten sich in ein grundlegendes und so einfach wie möglich gehaltenes Schema religionsbezogener Kompetenzen ein, das erstmals für den Unterricht an der Kollegstufe in der Deutschen Evangelischen Oberschule in Giza, Ägypten entwickelt und gemeinsam mit den dortigen Lehrer*innen für die islamische, evangelische, katholische und koptische Religionslehre erfolgreich erprobt wurde (Behr 2011, 2013): Religion leben (Inszenierung), Gemeinschaft gestalten (Institution), Welt deuten (Interpretation), Religion verstehen (Infragestellung) und Verantwortung übernehmen (Intention; eine detaillierte Beschreibung der Kompetenzbereiche und Leitperspektiven findet sich auch im Beitrag von Behr in diesem Band).

4.

Beispiel Koranauslegung

Wenn islamkundliche Unterrichtsangebote zwischen Kunde und Verkündigung darauf abheben, antirassistische Haltungen anzubahnen und einzuüben, dann muss bereits bei der Kultur des Zugriffs auf die Heilige Schrift der Hebel angesetzt werden. Die Textarbeit mit dem Koran ist schon heikel genug und wird umso schwieriger, addiert man die kulturell heterogen kodierten Tabugrenzen und die hermeneutische Verunsicherung muslimischer Lehrkräfte hinzu. In der Ausbildung muslimischer Lehrkräfte für das Fach erweist sich die Verschlusssache Koran als die größte Baustelle. Deshalb kommt es zunächst darauf an, die Schüler*innen von der Überhöhung des heiligen Papiers zu entwöhnen und sie mit den exegetischen Möglichkeiten der islamischen Theologiegeschichte vertraut zu machen. Meistens hängen Schüler*innen wie auch Studierende in der Feedbackschleife eines wortwörtlichen Koranverständnisses fest. Als wären sie umgeben von Dornen, haben sie Angst sich zu verletzen, sobald sie sich bewegen. Dabei ist der literale Zugang durchaus wichtig und zulässig, aber er reiht sich ein in eine Vielfalt weiterer Zugänge, die exemplarisch anhand der Koranstelle 2:102 veranschaulicht werden sollen, in der erzählt wird, warum zwei Engel nach Babylon geschickt werden:

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»Der literale Schriftsinn orientiert sich an der Texttreue, es geht um den Wortlaut. Die Exegese knüpft daran an, dass Ha¯rut und Ma¯rut wirklich so heißen. Die beiden wurden geschickt, um die Menschen in Babylon zu prüfen und sie den Unterschied zwischen Zauberei und göttlichem Wunder zu lehren. Fazit: Engel sind Engel. Dieser Schriftsinn ist der unter muslimischen Studierenden und Schüler*innen am weitesten verbreitete, der auch die größten Probleme hinsichtlich der ethischen Orientierung mit sich bringen kann, etwa was spätantike patriarchale Geschlechtsrollen byzantinischer Prägung, zum Beispiel in 4:34–35, oder die Rechtfertigung von Gewalt, zum Beispiel in Rechtsverfolgungskontexten angeht. Der allegorische Schriftsinn orientiert sich an der Idee der literarischen Figur. Die Exegese deutet auf Ha¯rut und Ma¯rut als Sinnbilder, ähnlich der Art, wie die Geschichte von Kain und Abel einen inneren Zwiespalt des Menschen zwischen dem, der er ist, und dem, der er sein will, darstellt – und hinsichtlich seiner Entscheidungen zum Nutzen oder Schaden. Fazit: Engel stehen für Zustände des Menschen. Der epische Schriftsinn deutet auf die Narrativität und blickt auf zusätzliche religiöse Erzählungen, auch auf den Nebengleisen anderer Religionen. Hinsichtlich der Exegese spielt eine Rolle, dass Ha¯rut und Ma¯rut offenbar über die Menschen lästern. Gott schickt sie deshalb nach Babel mit dem Auftrag, besser zu sein. Sie versagen und müssen als gefallene Engel unter den Menschen weilen. Auf ähnliche Legenden verweisen die Bibel und andere Quellen, zum Beispiel 1 Mos 6,2–4, der Judasbrief 6, der zweite Brief des Petrus 2,4, die Henoch-Bücher oder der Midrasch Akbir. Fazit: Engel stehen für Charaktere. Der kritische Schriftsinn sucht nach Hintergrundinformation, was die historischen, soziokulturellen, psychosozialen, biografischen, kulturräumlichen oder andere Kontexte angeht. Er ist in besonderem Maße auch an bezugswissenschaftlicher Klärung interessiert und damit anfällig dafür, Markierungen ausgesetzt zu sein, die normativen Setzungen Dritter entspringen, die sich selbst aber der Markierung entziehen. Das bedeutet die Notwendigkeit doppelter Kritik – etwa an der Literalität und gleichzeitig an den dominanzgesellschaftlichen Algorithmen ihrer Infragestellung. Für die Exegese gilt zum Beispiel folgende Alternative: Die Bezeichnungen Ha¯rut und Ma¯rut gehen auf zwei der sieben Allegorien (Amschaspand) des Zoroastrismus zurück: die Wahrhaftigkeit (Haurvata¯t) und die Langlebigkeit (Amereta¯t); ihr Vorkommen im Koran belegt ideengeschichtliche, kulturelle und sprachliche Entwicklungen. Fazit: Engelsvorstellungen sind geschichtlich und interkulturell entstanden. Der intentionale Schriftsinn ist, wie oben mit Blick auf Narrative von Vertreibung, Flucht und Migration schon beleuchtet, an der Durchsetzung ethischer Prinzipien orientiert. Das bedeutet für die Exegese: Ha¯rut und Ma¯rut veranschaulichen die Verantwortung des Menschen seinen Mitmenschen gegenüber. Engel zeigen das Gute, das ein Mensch einem anderen tut. In diesem Sinne stehen Engel für Haltung und Hand des Menschen. Der typologische Schriftsinn ist an der Verallgemeinerung orientiert. Er ist ähnlich dem allegorischen, im Unterschied zu ihm aber noch stärker, auf die thetische Verdichtung aus. Die Exegese verdeutlicht dies: Ha¯rut und Ma¯rut stehen, so wie alle Engel, für die

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unmittelbare Wirkmacht und das Einschreiten Gottes; sie repräsentieren Haltung und Hand Gottes. Der anagogische Schriftsinn ist an der persönlichen Haltung des Individuums gegenüber Gott orientiert. Für die Exegese kann das bedeuten, dass Ha¯rut und Ma¯rut für die Hoffnung des Menschen stehen, dass er von Gott nicht alleingelassen wird und dass es eine jenseitige Wirklichkeit gibt. Engel stehen also gleichsam für das Heilsversprechen der Religion. Hier werfen Schüler*innen in vielfältigen Variationen eine ihrer zentralen Anfragen an den islamischen Religionsunterricht auf: Können wir uns darauf verlassen, dass das mit der Religion wirklich funktioniert? Sie stellen, und das ist das Atemzentrum dieses Schriftsinns, die Vertrauensfrage. Der lyrische Schriftsinn schließlich ist auf das ästhetische Empfinden hinsichtlich der religiösen Inszenierung ausgerichtet. Das bedeutet für die Exegese, dass Ha¯rut und Ma¯rut literarisch zu verstehen sind. Sie tauchen als Figuren im Rahmen etwa der kunstvollen Rezitation des Korans auf und tragen zum sinnlich-ästhetischen und spirituellen Erleben der Schrift im Kontext eines bestimmten Ritus oder einer bestimmten Zeit bei, zum Beispiel im Fastenmonat Ramadan. Ähnlich dem anagogischen Schriftsinn kann auch die Empfindung eine Rolle spielen, dass Engel physisch präsent sind und dass sie ihre Schutzfunktion offenbaren. Engel sind folglich lyrische Figurationen der subjektiven Imagination.« (Behr 2018)

Das Ringen um den adäquaten Schriftsinn und die Diskussion der dahinterstehenden Absichten können für lebensweltliche Orientierungsfragen eine ungeahnte Bedeutung entfalten. Beispielweise wurde im Herbst 2017 in einem Vortrag des Verfassers vor muslimischen Jugendlichen in einer Frankfurter Moschee die analytische Kraft des kritischen Schriftsinns mit der Zielgerichtetheit des intentionalen Schriftsinns zusammengeführt. Die wissenschaftliche islamische Theologie wurde daraufhin befragt, ob die Teilnahme an den damals bevorstehenden Bundestagswahlen »islamkonform« sei (eine weit verbreitete, problematische Vokabel) – ob also der Koran überhaupt zulasse, sich als Muslim*in an einem demokratischen System aktiv zu beteiligen. Dazu führte der Referent zunächst diverse Koranverse, die für sich genommen disparat im Koran verteilt sind, zu einem scheinbar ontologischen Ganzen zusammen. Den zitierten Versen ist zwar gemein, dass sie auf die persönliche Haltung des Subjekts abzielen, damit aber ist bereits ein Algorithmus der intentionalen Auswahl gegeben. Wichtig zu wissen ist, und das ist fast allen muslimischen Religionslehrkräften nicht bewusst (was an ihrer in dieser Hinsicht noch mangelhaften Ausbildung liegt, die wiederum in einer islamischen Theologie in Deutschland gründet, die in gewisser Weise an einer narzisstischen Funktionsstörung leidet): Eine moraltheologisch anmutende Hermeneutik der Schrift und die thematische Korrelation zwischen einer religiös begründeten Haltung und einem solidargemeinschaftlichen Habitus, etwa rahma und Menschlichkeit, raza¯na und Gelassenheit, taqwa¯ und ˙ ˙ Achtsamkeit oder nas¯ıha und Solidarität, stehen weder außerhalb islamisch le˙˙

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gitimer Theologie, noch handelt es sich hierbei um ein häretisches Nebengleis, sondern um etwas, das in die Mitte der hermeneutischen Auslegungskunst (alistinba¯t; vgl. im Koran 4:82–83) gehört. ˙ An besagten Vortrag schloss sich eine Diskussion darüber an, inwiefern sich die Abstraktion eines solchen religiösen Tugendkatalogs in politischem Verhalten manifestieren könne, das von rassismus- und systemkritischer sowie demokratischer Haltung geprägt sei und ideologisch nicht so abgehoben, dass es sich nicht mehr in konkretes Verhalten in den lebensweltlichen Segmenten übersetzen lasse. Als Leitfrage warfen die Jugendlichen auf, was es für sie als Muslim*innen bringe, sich in Deutschland politisch zu engagieren. Am Ende fanden sie Antwortvorschläge wie zum Beispiel »für diejenigen einstehen, die keine Stimme haben, um die Verbesserung der Gesellschaft ringen, nicht Meinungen, sondern Haltungen vertreten«. In diesem Sinne, so der Tenor der Disputant*innen, sei eine Islamisierung im positiven und weltoffenen Sinne zu vertreten, die sich nicht allein auf das Beste der muslimischen Gemeinschaft, sondern der Gesellschaft insgesamt konzentriert und eine nationale Solidargemeinschaft anstrebt. Wenn islamischer Religionsunterricht das leisten kann, dann schafft er eine wichtige Grundlage für kritische Einstellungen in beide Richtungen, nämlich wider den erlittenen und den verschuldeten Rassismus.

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Raida Chbib

Angebote islamisch-religiöser Bildung in islamischen Organisationen und an staatlichen Bildungseinrichtungen in Deutschland

Zusammenfassung Lange glaubte Deutschland, religionspolitisch und -rechtlich zur Ruhe gekommen zu sein, denn das »Verhältnis zwischen Staat und den traditionellen christlichen Großkirchen«, so Thomas Langer und Ralf Poscher, hielt man für umfassend geregelt. Doch Transformationsprozesse im religiösen Feld mit schrumpfenden großkirchlichen Mitgliedszahlen sowie anwachsenden und sich diversifizierenden Glaubens- und Weltanschauungsgruppen stellen den Rechtsrahmen auf die Probe und werfen Fragen zur Regulierung des Bereichs der Religion durch die Politik auf. Der Islam hat sich über diverse Fragen in Deutschland erst zu Beginn der 2000er-Jahre zu einem Handlungsfeld politischer Instanzen entwickelt. Bis dahin lässt sich die staatspolitische Haltung bezüglich muslimischer Angelegenheiten im Lande – etwa mit Rosenow-Williams (2014) – als »Nichteinmischungspolitik« beschreiben, die stark vom Rückkehrideal der damaligen Gastarbeiter*innen geprägt war. Unter diesen Umständen entwickelte sich die muslimische religiöse Landschaft in reiner Selbstorganisation fort. Religiöse Bildung wurde lange Zeit ausschließlich innermuslimisch, im Rahmen der Glaubensgemeinschaften oder ihrer Dachverbände, geregelt. Im Verlauf der vergangenen beiden Jahrzehnte hat sich in Relation zu Muslim*innen und ihren religiösen Angelegenheiten in Deutschland eine staatspolitische Kehrtwende vollzogen. Welche institutionelle Infrastruktur sich unter diesen Umständen u. a. zur Vermittlung islamisch-religiöser Wissensbestände innermuslimisch in Deutschland herausgebildet hat, bildet die erste Frage dieses Beitrags. Wie im Verlauf religionspolitischer Dialogprozesse und Maßnahmen staatlicher Instanzen in Bezug auf Muslim*innen islamisch-religiöse Wissensproduktion an öffentlichen Einrichtungen etabliert wurde, bildet einen weiteren Gegenstand der vorliegenden Erörterung. Auf Grundlage dieses Überblicks lässt sich schließen, dass die innerhalb islamischer Institutionen entwickelten Unterweisungs- und Bildungsangebote vielfältig und auf den glaubenspraktischen Bedarf hin aus-

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gerichtet sind. Sie bleiben ohne Bezug zur islamischen Wissensproduktion und -vermittlung an öffentlichen Einrichtungen.

1.

Einleitung

Islamische Organisationen mitsamt der Bereitstellung religiöser Bildung für Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland haben sich fernab öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit allmählich ausgebildet. Dabei entwickelten sie sich nicht im luftleeren Raum, sondern in Wechselwirkung mit verschiedenen gesellschaftlichen Umständen und Bezugsmomenten. Die moderne Gesellschaft stellt sich nach der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann als Gesamtheit von Systemen und ihren sozialen Umwelten sowie als in mehrere funktionale Bereiche differenzierbares kommunikatives System dar (vgl. u. a. Luhmann 1977, 2002). Religionsgemeinschaften lassen sich aus dieser theoretischen Perspektive als organisierte Kollektive des Funktionssystems der Religion betrachten, die sich über sinnhaft strukturierte, umweltbezogene Kommunikationsprozesse generieren. Das heißt, ihr Handeln vollzieht sich stets in Relation zu und in Verarbeitung von bestimmten Aspekten aus ihrer gesellschaftlichen Umwelt, wie aus dem sozialen Feld (z. B. Muslim*innen und soziale Arbeit oder Seelsorge), aus dem öffentlich-medialen Diskurs (Verarbeitung öffentlicher, manchmal politischer Diskursbestandteile über Religion) oder auch aus dem wirtschaftlichen Bereich (Finanzfragen aus religiöser Perspektive oder Finanzierungsfragen von Religionsgemeinschaften) usw. Die Betrachtung von islamischer Institutionalisierung aus einer solchen Perspektive ermöglicht es, Organisationen des Islams bzw. des weiteren Religionsfeldes mitsamt ihren Wechselbeziehungen zu weiteren sozialen Bereichen, wie im vorliegenden Fall zum Bildungssystem, zu untersuchen. Die Organisierung islamischer Religionsausübung und -vermittlung ist dementsprechend ein fortlaufender Prozess, der weiterhin dem Wandel gesellschaftlicher und politischer Bedingungen unterliegt. Es zeigt sich von einer solchen Warte, dass die Entwicklung islamischer Organisationen und die Ausgestaltung religiöser Bildung für Muslim*innen in Deutschland in besonderer Weise geprägt sind von a) demografischen und sozioökonomischen Voraussetzungen, also der Zusammensetzung der muslimischen Bevölkerung und ihrem Wandel infolge ihrer Erweiterung und Pluralisierung u. a. durch fortlaufende Zuwanderungsbewegungen, durch soziale Ausdifferenzierung und die Generationenfolge, sowie von b) politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen: Religionsverfassungsrechtliche Bestimmungen in Deutschland wie auch öffentliche Diskurse und religi-

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onspolitische Maßnahmen wirken sich auf den weiteren Verlauf islamischer Institutionalisierung aus (vgl. Chbib 2017, S. 163ff.). In den folgenden Abschnitten sollen zunächst die Genese und die fortlaufende Institutionalisierung des Islams in Deutschland rückblickend skizziert werden. Der nachfolgende Abschnitt widmet sich sodann der Frage der Ausformung von Bildungsangeboten im Verlauf der Diversifizierung der muslimischen Bevölkerung und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung ihrer religiösen Infrastruktur. Darüber hinaus werden wesentliche institutionelle Strukturen herausgearbeitet, über die religiöses Wissen vermittelt und gemeinschaftlich verarbeitet wird. Wie sich die staatliche Haltung in Bezug auf Regulierungserfordernisse islamischer Glaubensfragen und auf die Zusammenarbeit mit islamischen Gemeinschaften wandelt und darüber der Weg zur Etablierung islamischer religiöser Bildung und Wissensproduktion an öffentlichen Bildungseinrichtungen frei wird, behandelt der dritte Abschnitt. Nach dieser Zusammenschau erörtert der Beitrag die Frage des Zusammenhangs zwischen binnenislamisch bzw. innergemeinschaftlich bereitgestellten islamischen Wissensangeboten auf der einen Seite und der staatlich ermöglichten islamtheologischen Wissensgenerierung und dem schulischen Religionsunterricht auf der anderen Seite.

2.

Genese und Etablierung islamischer Organisationen in Deutschland

In Deutschland hat die Organisierung im Sinne der Ausbildung und Verfestigung inländischer islamischer Institutionen durch Muslim*innen zur gemeinschaftlichen Ausübung ihrer Religion und zur Vermittlung ihrer Lehre erst in jüngerer Zeit begonnen. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts, haben sich hierzulande einzelne kleine Gemeinschaften von Muslim*innen zu religiösen Zwecken ausgebildet,1 deren Kontinuität allerdings nicht über den Zweiten Weltkrieg hinaus gewahrt werden konnte (vgl. Lemmen 2017, S. 311). Die bis dato bestehenden größeren wie auch kleinen religiösen Gemeinschaften von Muslim*innen in Deutschland sind in ihrer heutigen Form erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Sie sind gewissermaßen das sozialstrukturelle Produkt einer fortlaufenden Selbstorganisation und der eigenständigen Ausgestaltung von religiösen und anderen Belangen durch verschie1 Z. B. Wokoeck (2009); vgl. erste Arbeiten zu ihrer Vergemeinschaftung, v. a. Abdullah (1979, 1993); nachfolgend zu bestimmten Aspekten und frühen Gemeinschaften vgl. z. B. Motadel (2009) oder Höpp (1997).

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dene Gruppen von Lai*innen. Insofern ist die Institutionalisierung islamischer Religion seit ihren Anfängen maßgeblich von den sie tragenden Mitgliedern mit ihren jeweiligen biografischen, sozioökonomischen sowie bildungsbezogenen Hintergründen und von ihren konkreten Lebensumständen und Erfahrungen vor Ort geprägt (Chbib 2018, S. 401ff.). Zur gemeinsamen Wahrnehmung religiöser Belange riefen hauptsächlich Gruppen von damaligen Migrant*innen kleine, meist ethnisch geprägte, manchmal aber auch multinationale Ortsvereine zur Pflege religiöser wie auch kultureller Bräuche ins Leben.2 Lange Zeit stammte der Großteil der in Deutschland ansässigen Muslim*innen aus der Türkei, aus Südeuropa und Nordafrika. Dies hat sich nach der jüngsten Immigration von Geflüchteten Mitte der 2010er-Jahre geändert, sodass der Anteil der türkischstämmigen Muslim*innen 2015 gemessen an der gesamten muslimischen Bevölkerung auf etwa 50 % gesunken ist.3 Zugleich ist die muslimische Bevölkerung weit heterogener geworden, wodurch sich das organisierte Islamfeld ausdifferenziert hat. In den zahlreichen zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren entstandenen ethnisch geprägten landsmannschaftlichen religiösen Vereinen und vereinzelt auch innerhalb ethnisch diverser Glaubensgruppierungen wurden Gemeinschaftsgebete, religiöse Lernkreise und Feierlichkeiten abgehalten. In Privatwohnungen, in umfunktionierten Räumlichkeiten, in Fabriken, an Universitäten bzw. manchmal sogar in kirchlichen Räumen und später an dafür angemieteten Orten wurden unter Anleitung von Lai*innen religiöse Ritualhandlungen durchgeführt. Im Zuge dessen wurde die gemeinsame religiöse Bildung in Ermangelung von ausgebildetem religiösem Personal zumeist in Eigeninitiative, von Lai*innen, organisiert.4 Damit war der Grundstein für eine praktisch-religio¨ se Wissensvermittlung innerhalb der Gemeinden gelegt. Darüber hinaus bemühten sich die ethisch-religiösen Gruppierungen um die Pflege der eigenen Kultur und sozialer Kontakte innerhalb der eigenen Zuwanderergruppe sowie um gegenseitige Unterstützung bei der Integration, wie über Angebote zur Hausaufgabenhilfe. Mit der Zeit sind mit der Nachkommenschaft von Zuwander*innen, den jungen deutschen Muslim*innen der zweiten und dritten Generation, und mit deutschen Konvertit*innen die von Beginn an vereinzelt vorhandenen deut2 Beachtenswert hierbei ist die empirische Untersuchung von Jörn Thielmann zur Formierung und Ausgestaltung islamischer Gemeinschaften im Südwesten Deutschlands (Thielmann 2005). 3 Er ist den Schätzungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge von 67,5 % (Stand 2011) auf 50,6 % (2015) der Bevölkerung muslimischen Glaubens gesunken (Stichs 2016). 4 Einen diachronen Abriss hierzu präsentiert die Autorin dieses Beitrags exemplarisch anhand der Erforschung islamischer Institutionalisierung in einer Stadt (vgl. Chbib 2021).

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schmuslimischen Gemeinschaften gewachsen. 1988 wurde in der Bundesrepublik Deutschland die Zahl bestehender Moscheen bzw. muslimischer Gebetsstätten auf 894 geschätzt (Priesmeier 1988, S. 59ff.), 24 Jahre später, im Jahr 2012, waren es bereits 2.350 (Halm & Sauer 2012, S. 58). Demnach hat sich die Ausbildung islamischer Gemeinschaften innerhalb eines Vierteljahrhunderts um nahezu das Dreifache erweitert, was dem Bedarf der wachsenden muslimischen Bevölkerung an religiöser Versorgung Rechnung trug: Immerhin lag deren Zahl nach Schätzungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge 2016 bei 4,4– 4,7 Millionen, was einem Anteil an der deutschen Gesamtbevölkerung von 5,4– 5,7 % entsprach (Stichs 2016). Muslim*innen sind in Deutschland unterschiedlich verteilt – in den Großstädten der alten Bundesländer machen sie einen weit höheren prozentualen Anteil an der Bevölkerung aus als im Bundesdurchschnitt.5 Mit der Zunahme der Zahl an Muslim*innen und deren zunehmenden Heterogenität gehen zudem weitere institutionelle Ausdifferenzierungsprozesse islamischer Vergemeinschaftung einher. Besonders deutlich wird dies in der Betrachtung der organisatorischen Entwicklung islamischer Vereinigungen auf der Mesoebene einer Stadt (vgl. Chbib 2021). Eine in der Stadt Bonn am Rhein durchgeführte diachrone Forschung hat ergeben, dass erstens neben den lange bestehenden ethnisch geprägten dachverbandszugehörigen Moscheen weitere kleine Gebetsstätten entstehen, von denen manche nach einer Weile wieder geschlossen werden. Daraus ergibt sich ein Nebeneinander von größeren dachverbandszugehörigen ethnoreligiösen Religionsgemeinschaften und einer Reihe weiterer, ethnoreligiöser und multinationaler Moscheegemeinden ohne Dachverbandsanbindung. Zudem wird, zweitens, exemplarisch deutlich, wie die vergleichsmäßig wenigen multinationalen Gebetsstätten mit der ethnischen Ausdifferenzierung der lokalen muslimischen Bevölkerung wachsen, sich konsolidieren und ihre Angebote erweitern. Mit der ansteigenden Zahl in Deutschland geborener bzw. eingebürgerter Muslim*innen sind drittens weitere partikulare Interessen in Verbindung mit dem Religiösen aufgekommen. Auch dies zieht institutionelle Fortentwicklungen nach sich, die sich innerhalb bestehender muslimischer Einrichtungen (z. B. weitere Sport- und Freizeitangebote) oder außerhalb als Gruppenneugründungen niederschlagen. Deutschsprachige Religionskreise, muslimische Jugendbewegungen, Fraueninitiativen, studentische Vereinigungen, aber auch die deutschsprachige salafistische Protestbewegung haben sich ausgehend von Trägergruppen mit ähnlichen Interessen aus dem Spektrum deutscher Bil5 In Essen z. B. wird der Anteil von Muslim*innen an der Stadtbevölkerung auf 15,1 % geschätzt (vgl. RAA Verein NRW 2020); zur Verteilung muslimischer Glaubensgemeinschaften in NRW vgl. Hero, Krech & Zander (2008).

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dungsaufsteiger der Bildungsmitte bis hin zu jenen aus niedrigen Einkommensgruppen gebildet, die weitere, über das bestehende Angebot an ethnischreligiösen Moscheevereinen hinausgehende, muslimische Vereinigungen und Projekte hervorgebracht haben.6

2.1

Islamische Bildungsangebote innerhalb und außerhalb islamischer Dachverbände

Die Religionslehre bildet nicht nur im Hinblick auf den Islam einen der wesentlichen Gründe und den Zweck von Vergemeinschaftung. Neben dem Vollzug von Gebetsriten gehört die Vermittlung oder Tradierung religiöser Wissensbestände prinzipiell zu den Grundpfeilern einer Glaubensgemeinschaft, die diese lebendig und beständig halten. Im organisierten Feld des Islams in Deutschland wird das religiöse Wissen innerhalb unterschiedlicher islamischer Dachverbände, Moscheegemeinden und weiterer muslimischer Vereinigungen vermittelt: »Die Moschee ist in der Regel auch eine Stätte religiöser Unterweisung. Im Gebetsraum oder in anderen Räumen findet der Koranunterricht für Kinder und Jugendliche statt« (Lemmen 2017, S. 314). Unter den Formen muslimischer Vergemeinschaftung hat sich in Deutschland von Beginn an die religiöse Strukturform der Moscheegemeinde als grundständige und über verschiedene ethnische Gruppierungen bzw. religiöse Strömungen und Lehrrichtungen hinweg dominierende Form umfassender geistlich-islamischer Kommunikation durchgesetzt. Moscheegemeinden lassen sich grob in ethnoreligiöse Dachverbandsmoscheen, dachverbandslose lokale, ethnisch geprägte Moscheegemeinden7 sowie internationale Moscheezentren unterteilen.8 Religiöse Bildung wird in unterschiedlicher Form angeboten und richtet sich selten an alle Moscheemitglieder gleichermaßen. Sie vollzieht sich vielmehr fragmentarisch und wendet sich an verschiedene Zielgruppen bzw. Abteilungen. 6 Ähnlich beobachten Spielhaus und Färber am Beispiel Berlin die Ausbildung muslimischer Vereinigungen jenseits der Moscheegemeinden (vgl. Spielhaus & Färber 2006). 7 Über die quantitative Befragung zu Strukturen und Angeboten der Gemeinden islamischer Dachverbände stellte sich heraus, dass bei etwa 95 % jeweils eine bestimmte ethnische Gruppe innerhalb der Gemeinde zu mindestens 70 % dominiert, wobei jedoch zwei Drittel der Moscheegemeinden angaben, dass sie von Muslim*innen unterschiedlicher Herkunft besucht würden (Halm & Sauer 2021, S. 59). Solche, mehrheitlich von einer ethnischen Gruppe dominierten Gemeinden werden hier als »ethnoreligiös« bezeichnet. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei den meisten dachverbandszugehörigen Moscheen in Deutschland um eine herkunftsethnisch homogene Gemeindeform handelt. Unter dachverbandslosen Gemeinden vor Ort sind häufiger ethnisch diverse Gemeinden zu finden. 8 Ausführlich werden die verschiedenen Organisationstypen von Moscheen beschrieben in Chbib (2018, S. 203ff).

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So erhalten Frauen auf sie zugeschnittene, meist auch von weiblichen Lehrerinnen oder Leiterinnen vermittelte religiöse Bildung,9 und auch Kinder und Jugendliche lernen in eigenen Gruppen.10 Besonders für die religiöse Wissensvermittlung an Jungen und Männer spielt der Imam bzw. Hodscha einer Moschee eine wichtige Rolle. Zu den religiösen Bildungsangeboten, die gemäß einer Studie zu Strukturen und Angeboten der Gemeinden in 95 % der islamischen Organisationen in Deutschland den Moscheebesucher*innen bereitgestellt werden, gehören Korankurse und Islamunterricht für Kinder und Jugendliche (Halm & Sauer 2012, S. 74). Das Predigen – insbesondere im Rahmen der Freitagsgebete – als feste rituelle Form der religiösen Wissensvermittlung praktizieren nahezu alle der befragten sunnitischen und schiitischen Imame (vgl. Halm & Sauer 2012, S. 344ff.). Hinzu kommen sogenannte religiöse Gesprächskreise für Erwachsene und andere Kurse zur Unterweisung in religiösen Fragen, welche von zwei Dritteln des befragten Religionspersonals mindestens eine Stunde in der Woche regelmäßig durchgeführt werden (ebd., S. 350). Es ist davon auszugehen, dass sich die im Rahmen der Untersuchung befragten (männlichen) alevitischen Dedes sowie Imame bzw. Hodschas mit diesen Lehrangeboten in erster Linie an Männer richten. Untersuchungen zur religiösen Bildung von Frauen innerhalb islamischer Organisationen bzw. Moscheegemeinden zeigen, dass diese oftmals eigene Bildungsformen und -strukturen hervorbringen.11 Zusammengenommen lassen sie den Schluss zu, dass der Umfang und die Art der Bildungsangebote für Frauen in einer Gemeinde von der Verfügbarkeit weiblicher Führungspersönlichkeiten bzw. sachkundiger Personen sowie der allgemeinen Ausrichtung der Organisation abhängen (Spielhaus & Chbib 2021). Wie Gerdien Jonker in ihrer komparativen Analyse erläutert, ermöglichen nach Geschlechtern getrennte Räume Frauen Autonomie und die Freiheit, Aktivitäten nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, wobei sie jedoch in vielfältiger Weise in islamische Traditionen ein9 Frühe empirisch gestützte Analysen zu religiöser Selbstorganisation und Bildung von Frauen innerhalb und außerhalb von Moscheegemeinden finden sich z. B. bei Klinkhammer (2000) und Nökel (2002). 10 Bei etwa 80–90 % der dachverbandszugehörigen Moscheegemeinden sind die Aktivitäten über verschiedene, nach Geschlechtern getrennte Abteilungen für Frauen, Jugend- und Seniorenarbeit ausdifferenziert (vgl. Halm & Sauer 2012, S. 72). 11 Mit den Aktivitäten von Frauen befassen sich beispielsweise in Bezug auf die Islamische Gemeinschaft Millî Görüs¸ Schiffauer (2010) und Meng (2004), den Verband islamischer Kulturzentren Jonker (1999) und im Rahmen der DI˙TI˙B Akca (2020). Weitere Einblicke bieten die Aufsätze von Jonker (2004) sowie von Jouli & Amir-Moazami (2006), die sich dezidierter dem Engagement von Musliminnen unter bestimmten Fragestellungen in diversen islamischen Gemeinschaften widmen. Darüber hinaus befassen sich Studien zur individuellen Religionspraxis von Musliminnen teilweise mit deren religiöser Vergemeinschaftung und setzen sich mit Gruppenbildungen innerhalb und außerhalb von Moscheen auseinander (vgl. Klinkhammer 2000; Nökel 2002).

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gebunden sind. Basierend auf ihrer Studie zu Religionsexpert*innen und Frauenaktivitäten in den drei größten türkisch-islamischen Organisationen in Deutschland bescheinigt Jonker den Frauen im Rahmen ihrer Aktivitäten ein hohes Maß an Kreativität. Ihrer Beobachtung zufolge werden über die weiblich geprägte religiöse Bildung »traditionell-islamische« Denkrichtungen fortgeschrieben, aber auch »innovative« Interpretationen haben ihren Platz. Den Unterschied zwischen den Aktivitäten der Frauengruppen und jenen der männlichen Moscheebesucher in den türkischen islamischen Organisationen sieht Jonker im stärker ausgeprägten »religiösen« Charakter Ersterer. Anstatt politischer Kontroversen stehen bei den Frauen in der Bildungsarbeit Hermeneutik, Pietismus und Sufismus im Vordergrund. Nach Jonker sind die Moscheebesucherinnen insbesondere »Expertinnen in der Exegese der islamischen Tradition in Bezug auf die Rolle von Frauen und Kindern« (Jonker 2003). Die religiöse Wissensvermittlung ist innerhalb einer multiethnischen, mehrsprachigen Moschee schwieriger zu organisieren und umzusetzen als in einer monoethnischen Gemeinde. Während ethnisch weitgehend homogene Gemeinden von ihrer Anlage her meist auf bestimmte religiöse Lehrrichtungen oder -instanzen (wie z. B. die der hanafitischen oder der malikitischen Rechtsschule) festgelegt sind, bleiben die plural verfassten Moscheen in ihrer religiösen Ausrichtung weitgehend diffus. Sie sind vom religiösen Selbstverständnis und der darauf beruhenden Gemeinschaftsvorstellung her inklusiv ausgerichtet, indem sie Menschen unterschiedlicher Ethnien, Sprachen und Glaubensrichtungen gleichermaßen einbinden. Die speziellen Herausforderungen und Chancen, die sich für die Religionsentwicklung und -vermittlung unter derart pluralen Bedingungen ergeben, werden in der Literatur nur ansatzweise angesprochen. In der Untersuchung zu einer solchen Gemeinde in der Stadt Augsburg stellt Jörn Thielmann fest, dass sich in solchen Gruppierungen in der Regel Deutsch als Lingua franca durchsetzt (Thielmann 2005, S. 174). In seinem Vergleich einer türkisch-islamischen mit einer supranationalen Gemeinde stellt er zudem fest, dass in ethnoreligiösen Gemeinden neben kultischen Handlungen, wie Gebeten und dem Koranunterricht, das ethnisch geprägte soziale Leben im Vordergrund steht. In supranationalen Gemeinden sei hingegen das religiöse Profil schärfer, charismatische Führungspersönlichkeiten sowie Lai*innen seien aktiver und die religiöse Dialogarbeit nach außen werde stärker vorangetrieben (vgl. Thielmann 2005, S. 170). Wunn zufolge, die eine im Jahr 1993 von Gläubigen aus 15 Herkunftsnationen gegründete Gebetsstätte in Hamburg untersucht hat, will man angesichts der staatsbürgerlichen Verankerung in Deutschland und der multinationalen Hintergründe der Gemeindemitglieder eine »geistliche Heimat für alle Muslime sein« und daher weder einer bestimmten Schule noch einer bestimmten Theologie folgen, was sie als »theologische Offenheit« deutet (Wunn 2007, S. 175). Entsprechend – so viel lässt sich der Untersuchung einer interna-

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tionalen Moschee in Bonn entnehmen – organisiert sich die Vermittlung religiösen Wissens über eine Mehrzahl an kleinen Angeboten auf Deutsch und in anderen Sprachen, die sich an bestimmte Gruppen von Moscheebesucher*innen richtet und die zu einem großen Teil über Lai*innen erfolgt, und zwar in einem stärkeren Maße als bei ethnoreligiösen Moscheen (vgl. Chbib 2018, S. 309ff.). Eine strukturell unterkomplexe, aber religiös äußerst wirksame Form der Organisierung islamisch-geistlicher Kommunikation bilden sogenannte gruppenförmige fokussierte islamische Gemeinschaften, die sich im weiteren Verlauf zu spezialisierten Vereinen, sozialen Bewegungen, Gruppennetzwerken oder zu teil-virtualisierten Gruppengemeinschaften ausbilden können. Mit Fokus auf bestimmte geistliche Kommunikationsformen entstehen innerhalb solcher Gruppen zur Pflege von Spiritualität (z. B. Sufi-Gruppen) oder religiöser Bildung (z. B. deutschsprachige Korankreise, private Frauengruppen) islamische Gruppennetzwerke bzw. -bewegungen, die sich nicht zwingend als Verein eintragen (z. B. sogenannte salafitische Predigerbewegungen oder einfache religiöse Jugendprojekte). An den Teilnehmerzahlen gemessen handelt es sich bei der Mehrheit solcher Vereinigungen um kleine Gruppen, die nicht zu einer bestimmten Moscheegemeinschaft zählen. Viele verfügen nicht über eigene Räumlichkeiten und sind oft nicht als Vereine eingetragen. Ihre Bildungsaktivitäten werden häufig von Lai*innen abgehalten. Schließlich bildeten sich in Deutschland verschiedene Initiativen zum Aufbau muslimischer Bildungseinrichtungen jenseits des etablierten Dachverbandsspektrums. Ältere Beispiele sind etwa das Zentrum für islamische Frauenforschung und Frauenförderung e. V./ZIF, das Mitte der 1990er-Jahre aus einem aus muslimischen Studentinnen, Pädagoginnen und Islamwissenschaftlerinnen bestehenden Runden Tisch zur Situation muslimischer Frauen in Deutschland hervorging. Ausgehend von der gemeinsamen Feststellung eines Bedarfs an einer islamischen Grundlagenforschung aus weiblicher Sicht – im Anbetracht »defizitärer Theologien« – nahmen sie ihre Arbeit »an einer dezidiert frauenzentrierten islamischen Theologie« weit vor der Etablierung islamischer Theologien an deutschen Hochschulen auf. Neben der ehrenamtlich durchgeführten akademischen Arbeit richteten sie sich mit ihren Bildungsangeboten an muslimische Frauen, die sie zu fördern versuchten (vgl. Aries 2007, S. 187f.). Ein Beispiel für ein frühes öffentlich gefördertes, unabhängiges muslimisches Bildungsprojekt ist die 2004 in Berlin gegründete Muslimische Akademie in Deutschland e. V. Die in Absprache mit verschiedenen kirchlichen, zivilgesellschaftlichen und politischen Institutionen gegründete Akademie zielte darauf ab, sich in der demokratischen Erwachsenenbildung aus muslimischer Perspektive am interreligiösen und interkulturellen gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen (vgl. Aries 2007, S. 189–199). Als weitere aktuellere Institution lässt sich zudem exemplarisch die Errichtung des Zentrums für Islamische Religionspä-

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dagogik Niedersachsen (ZIRP) anführen, das aus der wachsenden Nachfrage nach Informationen und Materialien für den Bereich Islam und Schule entstanden ist. Über dieses werden Lehrkräftefortbildungen sowie allgemeine Weiterbildungsveranstaltungen organisiert (Abdelrahman & Klausing 2017, S. 359ff.).

2.2

Entwicklung einer staatlichen Kooperation und die Organisation islamreligiöser Bildung an öffentlichen Einrichtungen

Nachdem sich der Islam über bundesweite Dachverbände institutionell verfestigt hatte, nahmen gegen Mitte der 1990er-Jahre gerichtlich ausgetragene Auseinandersetzungen um Fragen der Anerkennung islamischer Gemeinschaften zu. Verschiedene Rechtsstreitigkeiten vor Verwaltungsgerichten betrafen die Umsetzung religiöser Riten, wie das Schächten oder Bestattungen, aber auch früh das Recht der Religionsgemeinschaften zur Bereitstellung islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen. Matthias König (2005) stellt hierzu fest, dass zur damaligen Zeit Entscheidungen zu religionspraktischen Angelegenheiten in hohem Maße an das Rechtssystem delegiert wurden. Das heißt, bevor sich politische Instanzen islambezogenen Fragen zuwandten, hatte sich bereits das Rechtssystem mit diesen befasst und maßgeblich zur Ausgestaltung des Zusammenlebens mit Menschen muslimischen Glaubens und ihrer Gleichstellung mit christlichen Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft beigetragen. Vor den 1990er-Jahren hatte sich »die Politik«, wie Mathias König mit Blick auf die damalige Zeit feststellt, zudem längere Zeit darauf ausgeruht, dass praktische Fragen der Integration muslimischer Zuwander*innen von der gewerkschaftlichen Arbeiterwohlfahrt (AWO) behandelt wurden. Diese nahm sich insbesondere der Belange der damaligen Gastarbeiter*innen und in der Folge von weiteren Gruppen von Immigrant*innen an. Besonders als Reaktion auf den zunehmend von muslimischer Seite artikulierten Wunsch nach Anerkennung und entsprechender Einforderung der Zulassung bestimmter religiöser Riten (v. a. Bestattung und Schächten) und Gewährung von Rechten (v. a. Religionsunterricht an Schulen) seien Kontroversen um das Verhältnis von Religion und Staat aufgerollt worden (König 2003, S. 220). Dies machte sich in Deutschland über abstrakt geführte Diskussionen in den 1990er-Jahren rund um das Verhältnis zwischen Islam und Demokratie und über normativ geführte Debatten zu einem europaverträglichen Islam (Euro-Islam) und der Notwendigkeit einer Anpassung an einer sogenannten Leitkultur bemerkbar. Dabei bildete die Frage nach religiösen Bildungsangeboten für muslimische Kinder an öffentlichen Schulen, ähnlich wie sie dort durch kirchliche Institutionen bereitgestellt werden, eines der ersten Themen, die an staatliche, insbesondere gerichtliche Instanzen herangetragen wurden (Yavuzcan 2017, S. 178ff.).

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Das erstmals bereits Ende der 1970er-Jahre vorgebrachte Anliegen verschiedener islamischer Dachverbände, als Religionsgemeinschaften einen entsprechenden Unterricht nach Art. 7 GG ausrichten zu dürfen, ist laut König seinerzeit abgewiesen worden. Nach damaliger Argumentation sei deren Mitgliederstruktur von Ausländer*innen dominiert gewesen, sodass die verfassungsmäßigen Kriterien für die Anerkennung als Religionsgesellschaft nach dem Grundgesetz – Bestandsdauer und Stabilität – nicht erfüllt gewesen seien. Insgesamt habe der Islam nicht über eine angemessene Repräsentationsinstanz verfügt (König 2004, S. 204). Von Beginn an zeigte sich somit, dass die Frage der Bereitstellung religiös-islamischer Bildungsangebote an Schulen stark mit der Organisationsweise und dem Organisationsgrad sowie letztlich mit der rechtlichen und politischen Anerkennung islamischer Institutionen verflochten gewesen war und weiterhin ist. Nicht nur König (2004) stellt nach dieser ersten Phase staatspolitischer Indifferenz einen Paradigmenwechsel in der öffentlichen Haltung zum Islam in Deutschland um die Jahrtausendwende fest. In Anlehnung an Untersuchungen von Rosenow-Williams (2012, 2014), Riem Spielhaus und Martin Herzog (2015) sowie Matthias König (2003, 2005) lässt sich der Weg hin zu einer modernen deutschen Islampolitik grobschematisch folgenderweise umreißen: a) Nach einer Periode der weitgehenden Abwendung der deutschen Innenpolitik von islambezogenen Themenstellungen, die Nicola Tietze (2008, S. 218 zitiert nach Rosenow 2014) als »period of non-recognition« und Rosenow als »Ignoranz« der organisatorischen Entwicklung des Islams seitens der Politik betrachtet, kam es zu b) einer Phase der Sondierung und kritischen Beobachtung des Islamfeldes Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre. c) Hierauf folgte eine Zeit großer Aufmerksamkeit mit Konzentration auf zwei Politikbereiche der Sicherheits- und der Integrationspolitik. Neben sicherheitspolitischen Maßnahmen setzten staatliche Akteure auf Gespräche mit muslimischen Verbandsvertretern im Rahmen von integrationspolitisch motivierten Dialogforen. d) Aus dem langjährigen Austausch innerhalb dieser Dialogforen ergaben sich zu Beginn der 2010er-Jahre verschiedene konkrete Maßnahmen, wie Partnerschaften und Kooperationsprojekte, sowie rechtliche Regelungen unterschiedlicher Art in den einzelnen Bundesländern. Das zweite Stadium der Befassung staatlicher Instanzen mit Fragen islamischer Religion und muslimischer religiöser Praxis und muslimischen Religionsgemeinschaften lässt sich demnach als »Phase der Sondierung« beschreiben. Zu dieser Zeit sind umfassende Publikationen zum Islam und zu den islamischen Organisationen in Deutschland entstanden. Mit der fortschreitenden Konsoli-

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dierung muslimischer Gemeinschaften werden diese zunehmend als migrantische Organisationen der deutschen Gesellschaft betrachtet, statt, wie zuvor üblich, primär als ausländische Entitäten. Angesichts der politischen Entwicklungen in muslimisch geprägten Regionen und der Furcht vor mit diesen zusammenhängenden Aktionen sowie in Anbetracht kontroverser öffentlicher Diskurse insbesondere zu Fundamentalismus und Parallelgesellschaften ist die Beobachtung muslimischer Gruppierungen staatlicherseits besonders über zwei Perspektiven geschärft worden: Erstens werden sie von politischer Seite hinsichtlich ihres Gefahrenpotenzials durchleuchtet und dabei zunehmend zum Gegenstand des Verfassungsschutzes und der Sicherheitspolitik. Oder sie werden, zweitens, hinsichtlich ihrer Anpassungsbereitschaft an die Gesellschaft bzw. bezüglich ihres möglichen Segregationspotentials überprüft und daher zunehmend Gegenstand der damaligen Ausländerbeauftragten und schließlich der Integrationspolitik. Das Umschwenken von der Behandlung des Islams als Teil der Ausländer*innen- und Außenpolitik auf seine Einbettung in die Innenpolitik korrespondiert mit der zunehmenden Festlegung des Lebensmittelpunktes vieler Muslim*innen auf Deutschland und mit deren Auseinandersetzung mit eigenen religiösen Fragen im Kontext der Erfordernisse ihres dauerhaften Lebens in der deutschen Gesellschaft. So umschreibt Werner Schiffauer in seiner ethnologischen Studie dieses Phänomen etwa mit der Herausbildung eines sogenannten »Diaspora-Islam der zweiten Generation«, der in direkter Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Umfeld unter anderem »werteplural-individualistische« Auffassungen von Religion hervorbringe (vgl. Schiffauer 2004), oder aber es lassen sich Protestformen eines neuorthodoxen Verständnisses beobachten, die Kiefer und Ceylan später als salafistische Bewegungen identifizieren (vgl. Kiefer & Ceylan 2013). Zu den politischen Annäherungsschritten, die für diese Sondierungsphase kennzeichnend waren, gehört etwa die Einladung einiger islamischer Dachverbände, darunter des Zentralrats der Muslime in Deutschland e. V. (ZMD) und des türkisch-islamischen Verbands der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB), zu einer Anhörung im Deutschen Bundestag im Jahre 1999. Knapp ein Jahr danach stellte die CDU/CSU-Fraktion eine Anfrage an den Bundestag zur Rolle des Islams in Deutschland, was als Anzeichen für die wachsende Aufmerksamkeit seitens der Politik für den Islam als innenpolitisches Thema gelten konnte. Der Verfassungsschutz gehörte zu den ersten Behörden, die aus sicherheitspolitischen Erwägungen umfassend Daten zu muslimischen Gruppierungen erhoben, zusammenstellten (z. B. Bundesamt für Verfassungsschutz 1994) und diese Art der Betrachtung religiöser wie auch nichtreligiöser muslimischer Gruppierungen in der Folgezeit kontinuierlich weiter betrieben. Dieser sicher-

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heitspolitische Aspekt wird in Politik und Öffentlichkeit entsprechend häufig aufgegriffen und wirkt sich nachhaltig auf die Wahrnehmung muslimischer Institutionen und damit auf den nachfolgenden Umgang mit ihnen aus. Hinzu kamen vonseiten politischer Instanzen Erörterungen betreffend den Stand der Integration von Muslim*innen, die üblicherweise – ausgehend vom festgestellten Handlungsbedarf – Möglichkeiten zu deren besseren gesellschaftlichen Einbindung ausloteten. Damit wurden Muslim*innen mit ihren religiösen Belangen Gegenstand von Ausländer- und dann von Integrationsbeauftragten, deren Kompetenzen seit 1993 gestärkt wurden. Zu den ersten Versuchen, die religiösen Belange von Muslim*innen im Rahmen integrationspolitischer Überlegungen zu diskutieren, gehörten z. B. die von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung 1999 initiierten öffentlichen Fachgespräche unter dem Titel »Integration mit ›R‹« – wobei das »R« für »Religion« stand. Auf eine solche Aufmerksamkeit waren die islamischen Dachorganisationen nach einer langen Zeitspanne öffentlichen und politischen Desinteresses nicht vorbereitet. Über vielerlei kritische Nachfragen und öffentliche Darstellungen gerieten sie vermehrt unter Druck und in die Defensive und gingen dazu über, über eigene deutschsprachige Darstellungen das aus ihrer Sicht verzerrte Bild des Islams und islamischer Gemeinschaften zurechtzurücken und ihre Strukturen besser auf die Bedingungen im Lande abzustimmen. Nicht zuletzt aufgrund der skeptisch-beobachtenden Haltung von staatlicher Seite blieb die Frage der rechtlichen Anerkennung bestehender größerer islamischer Dachverbände ungelöst und damit der Weg zur Umsetzung eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts versperrt. Stattdessen entstand in NRW mit der Einführung der »Islamischen Unterweisung« 1986 ein erstes Bildungsangebot für muslimische Schüler*innen. Diese war lange Zeit lediglich ein Bestandteil des muttersprachlichen Unterrichts, wurde also zumeist in türkischer Sprache erteilt. So blieb laut Michael Kiefer der Islam »im schulischen Kontext lediglich eine Ausländerreligion« (Kiefer 2005). In der dritten Phase, insbesondere nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA, wurden Deutschlands Muslim*innen mit ihren Institutionen zunehmend zum Gegenstand sicherheitspolitischer Maßnahmen und zugleich, unter Betonung defizitärer sozialer Sachlagen, Gegenstand integrationspolitischer Bemühungen. Beide Politikbereiche bildeten den Ausgangspunkt für erste strukturell formalisierte Formen einer Annäherung zwischen dem Staat und von diesem ausgewählten Repräsentant*innen der muslimischen Bevölkerung, den sogenannten »Dialogforen« (vgl. Chbib 2011; Rosenow-Williams 2014). Ebenso wie die Rechtsinstanzen vorher sahen sich indessen staatliche Akteure islamischen Organisationsstrukturen gegenüber, die nicht den kirchlichen entsprachen und plural, mit einer nur ansatzweise vorhandenen formalen Mitgliedererfassung, verfasst waren.

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Für die politische Befassung mit dem Islam sowie mit Muslim*innen in Deutschland ergab sich daraus folgende Situation: Islambezogene Fragen häuften sich und wurden von einer kritischen Öffentlichkeit mit teils antiislamischen Protestbewegungen gerahmt. Relevante staatliche Akteure standen unter Handlungszwang. Diese Konstellation schlug sich in der Frage nieder, wie man angesichts eines plural verfassten organisationalen Islamfeldes ohne rechtlich anerkannte Institutionen zur Lösung drängender Fragen wie der nach einem Religionsunterricht vorgehen sollte. Letztlich erreichten die politischen Entscheidungsträger im Verlauf ihres Dialogprozesses mit Muslim*innen wichtige richtungsweisende Einigungen in Bezug auf die Frage der Etablierung islamischer Wissensproduktion und entsprechender religiöser Bildungsangebote an öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und Hochschulen. Michael Kiefer sieht gleich zu Beginn der Deutschen Islamkonferenz 2006 Fragen der religiösen Bildung von Muslim*innen an öffentlichen Einrichtungen an erster Stelle: »Seit der Einberufung der ersten Deutschen Islamkonferenz (DIK) im Jahr 2006 sind zwei strategische Handlungsfelder erkennbar. Ganz oben auf der Agenda steht die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts für die geschätzten 800.000 bis 900.000 muslimischen Schülerinnen und Schüler. Im zweiten Handlungsfeld soll die Akademisierung des Islams vorangetrieben werden.« (Kiefer 2011)

Leitend bei der Einführung des Fachs »Islamische Theologie« an deutschen Hochschulen waren v. a. integrationspolitische Erwägungen (Engelhardt 2017, S. 66f.). Die Einigung zwischen staatlichen und muslimischen Vertreter*innen über die Notwendigkeit einer Etablierung des Fachs machte den Weg frei für Empfehlungen des deutschen Wissenschaftsrates (WR) von 2010, wonach an zwei bis drei universitären Standorten sogenannte »Islamischer Studien« eingerichtet werden sollten. Da der bekenntnisneutrale Staat gemäß verfassungsrechtlicher Vorgaben nicht die Inhalte eines theologischen Studienganges bereitstellen kann, schlug der Wissenschaftsrat Beiräte vor, über die eine Kooperation der Universitäten mit den bestehenden islamischen Organisationen ermöglicht werden sollte. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates fanden rasch die Zustimmung der Bundesregierung, die für die Standorte jeweils vier Millionen Euro als Anschubfinanzierung bereitstellte (vgl. Kiefer 2011). Neben den von der Deutschen Islamkonferenz ausgehenden Impulsen und Empfehlungen wurden in manchen Bundesländern ähnliche, jeweils eigenständig strukturierte Gesprächs- und Verhandlungsforen ausgerichtet.12 Diese gingen 12 Riem Spielhaus nennt in ihrer Expertise den Runden Tisch der Landesregierung zum islamischen Religionsunterricht (Niedersachsen seit 2002). Der Runde Tisch in Hessen wurde in einen Beirat überführt (Hessen seit 2009); Islamforum Berlin (seit 2005), Runder Tisch Islam (Baden-Wu¨ rttemberg ab 2011), Runder Tisch Rheinland-Pfalz (seit 2012), Dialogforum Islam

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mit einer am föderalen Prinzip orientierten Ausdifferenzierung muslimischer Dachverbände einher, indem sie zunehmend Landesstrukturen ausbildeten (Lemmen 2017, S. 321). Einem Gutachten von Spielhaus und Herzog (2015) für die Friedrich-EbertStiftung zufolge lassen sich grob verschiedene religionspolitische Ansätze der deutschen Bundesländer in Bezug auf die strukturelle Integration des Islams und die Regelung religionsbezogener Fragen, wie jener nach der Bereitstellung eines islamischen Religionsunterrichts an Schulen, erkennen. Seither hat – bis auf die vergleichsweise kleine Gemeinschaft der Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) zunächst in Hessen (2013) und ein Jahr später in Hamburg – keiner der bestehenden größeren islamischen Dachverbände den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR) erhalten. Stattdessen haben Landesregierungen sich andere Wege zur Kooperation mit Muslim*innen gebahnt, etwa über Staatsverträge (Hamburg und Bremen) und Vereinbarungen oder gesetzgeberische Maßnahmen, um Fragen islamischer Religionspraxis und -belange zu regeln (Spielhaus 2020). Die ausbleibende Anerkennung islamischer Religionsgemeinschaften hat in den meisten Bundesländern dazu geführt, dass kein islamischer Religionsunterricht in Verantwortung der bestehenden islamischen Gemeinschaften durchgeführt wird: »Stattdessen werden entweder alternative Modelle praktiziert, in denen islamische Organisationen in übergreifenden Kommissionen, Beiräten oder über lokale Vertreter_innen eingebunden sind. Dies ist zum Beispiel in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein- Westfalen der Fall. Oder es wird eine in alleiniger staatlicher Verantwortung stehende Islamkunde, also kein Religionsunterricht, erteilt, wie etwa in Bayern oder Schleswig-Holstein. Der islamkundliche Unterricht ist hier als Ersatz für einen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht gedacht. Vereinfacht gesagt möchte er religiöse Inhalte neutral vermitteln und nicht zum religiösen Glauben erziehen.« (Ulfat, Engelhardt & Yavuz 2021, S. 22)

Gegenwärtig nehmen etwa 60.000 Schüler*innen in Deutschland am islamischen Religionsunterricht oder am islamkundlichen Unterricht teil. Dies ist nur ein Bruchteil aller muslimischen Schulkinder, deren Anzahl auf 580.000 geschätzt wird. Doch obwohl der Wunsch nach einem Religionsunterricht bei muslimischen Kindern und Eltern weit verbreitet ist13 und die Ergebnisse seiner Evaluierung – wo vorhanden – gut sind (z. B. Uslucan 2015 zu NRW), muss die Verbesserung seiner Qualität gesichert werden. Dafür ist die Steigerung der (Nordrhein-Westfalen 2013–2017). 2019 gründete die Landesregierung stattdessen die Koordinierungsstelle »Muslimisches Engagement in NRW« (vgl. Spielhaus 2020, S. 3). 13 Insgesamt befürworten 76 % der befragten Muslim*innen ab 16 Jahren die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen (Haug, Müssig & Stichs 2009, S. 187).

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Ausbildungsqualität über die Erarbeitung diesbezüglicher Standards nötig (vgl. Ulfat, Engelhardt & Yavuz 2021).

3.

Resümee und Ausblick

Der Auf- und Ausbau einer religiösen Grundversorgung und der hierfür nötigen religiösen Infrastruktur im Zuge der Institutionalisierung des Islams hat sich aus dem Bedarf der jeweiligen muslimischen Gruppierungen ergeben. Die meisten von ihnen sind ab dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zugewandert oder sind Nachkommen von muslimischen Migrant*innen und damit deutsche Muslim*innen. Aufgrund der zunehmenden Heterogenität der muslimischen Bevölkerung und der damit verbundenen unterschiedlichen Anforderungen und Bedarfe an die religiöse Bildung, wie das Lehrniveau, die Sprache, die Erfahrungswerte und damit verbundene Alltagsfragen, aber auch, was religiöse Orientierungen und diverse Lehrrichtungen anbelangt, sind vielerlei islamische Bildungsangebote entstanden. Die meisten religiösen Unterweisungen werden erstens in formalisierter Weise innerhalb von Moscheegemeinden abgehalten und richten sich an die verschiedenen Gemeindegruppierungen (z. B. standardisierte Predigten, Koranunterricht und wöchentliche religiöse Unterweisungen für Kinder und Jugendliche). Dies vollzieht sich innerhalb von ethnoreligiösen Dachverbandsmoscheen unter Anleitung von hierfür ausgebildeten religiösen Autoritäten wie Imamen/Hodschas oder durch ausgebildete weibliche Lehrkräfte. In kleineren Moscheegemeinschaften oder internationalen Moscheezentren werden viele Angebote von Lai*innen durchgeführt. Daneben haben sich, zweitens, außerhalb von Moscheen kleine Gruppierungen gebildet, die ihren Schwerpunkt auf bestimmte Dimensionen der gemeinschaftlichen Glaubenserfahrung und der damit verbundenen Glaubensvermittlung (z. B. spirituelle Gruppen) legen oder einer sehr spezifischen Lehre angehören. Solche auf bestimmte Zielgruppen fokussierte Glaubensgruppen und Netzwerke bieten neben den Moscheegemeinden eigene Formen religiöser Bildung an. Drittens sind einige Initiativen zur Ausbildung eigenständiger muslimischer Bildungsinstitutionen zu verschiedenen Zwecken entstanden, wie islamische Akademien. Somit beschränkt sich die islamisch-religiöse Bildungslandschaft nicht nur auf den weiten Rahmen islamischer Dachverbände, sondern hat sich darüber hinaus verästelt und erweist sich als strukturell, inhaltlich und thematisch vielförmig. Die meisten Bildungsangebote haben insbesondere den Charakter der Vermittlung und Vertiefung des einfachen Praxiswissens, der Glaubensverge-

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wisserung und der Erörterung von Alltagsthemen aus religiöser Perspektive. Nur vereinzelt finden sich darunter Vereinigungen, die Inhalte auf einem höheren Niveau der akademischen Wissensentwicklung austauschen oder vermitteln. Zudem erreichen die islamischen Bildungsangebote zumeist nur den Kreis der Mitglieder bzw. Besucher*innen von Moscheegemeinden, nicht aber Gläubige, die institutionell ungebunden sind und bleiben wollen. Entsprechend sind die Inhalte und Formen ihrer Vermittlung angesichts der Vielzahl ethnisch geprägter Gemeinschaften zuvörderst an deren jeweilige Sprachen und kulturelle Gepflogenheiten gebunden und weniger auf die deutsche Sprache und Fragen des gesellschaftlichen Alltags in Deutschland ausgerichtet. Daher ist es bislang nicht gelungen, über die breit aufgestellte binnenislamische Selbstorganisation religiöser Bildung in Deutschland zwei Grundbedarfe zu decken: den Bedarf an einer Wissensproduktion auf akademischem bzw. auf hohem Bildungsniveau und jenem an einem breiten Angebot in deutscher Sprache, das sich an die große Zielgruppe junger Muslim*innen außerhalb der Gemeinden richtet. Für beides ist ein Zugang zu islamreligiöser Tradierung an öffentlichen Bildungseinrichtungen nötig, was über die islampolitischen Entwicklungen der vergangenen zehn bis 15 Jahre möglich wurde. Die Etablierung und verfassungskonforme Ausgestaltung islamisch-theologischer Studien an deutschen Hochschulen und des islamischen Religionsunterrichts an Schulen setzt eine tragende Kooperation zwischen islamischen Gemeinschaften und einschlägigen staatlichen Instanzen voraus. Ihr Bestand und ihre Inhalte können ohne die Akzeptanz durch Muslim*innen, u. a. den religiös praktizierenden Teil, nicht wirksam werden. Beides erfordert eine gute Kooperation zwischen Staat und islamischen Gemeinschaften, die jedoch bis jetzt in den meisten Bundesländern nicht nachhaltig geregelt werden konnte. Dennoch war eine Kooperation soweit gegeben, dass der Prozess der Organisierung und Bereitstellung islamischer Wissensproduktion an Hochschulen seit 2010 erfolgreich angelaufen ist. Die generierten Wissensbestände universitärer Theologie stehen jedoch nahezu bezugslos zu den islamischen Gemeindeangeboten und deren Bildungsinhalten, sodass der Wissenstransfer kaum gegeben ist. Der bekenntnisorientierte Religionsunterricht nach Maßgabe des Grundgesetzes konnte bislang kaum an den Schulen abgehalten werden. Nachdem die Bemühungen zur Einbettung tradierter islamischer Wissensbestände in Institutionen der höheren Bildung so weit fortgeschritten sind und die Voraussetzung für eine adäquate Ausbildung von islamischen Religionslehrkräften geschaffen wurde, ist es an der Zeit, politische Blockaden aufzubrechen und in der Frage der Anerkennung islamischer Dachverbände und der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit ihnen weitere Schritte zu wagen.

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Mouhanad Khorchide

Die islamische Theologie an deutschen Universitäten am Beispiel des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster (ZIT)

Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag werden die zentralen Inhalte der Ausbildung von Theolog*innen und Religionslehrer*innen für den islamischen Religionsunterricht am Beispiel des Zentrums für Islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (ZIT) vorgestellt. Dabei wird aufgezeigt, wie die Etablierung der islamischen Theologie an den Universitäten sowie des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen Räume der Reflexion hinsichtlich der Spannungen zwischen öffentlicher und privater Religion schafft. Es folgt ein Kapitel zur Relevanz einer reflektierenden religiösen Bildung muslimischer Jugendlicher in Deutschland, die die religiöse Mündigkeit zum Ziel hat, wobei verschiedene relevante Ansätze vorgestellt werden. Im letzten Kapitel wird schließlich die Notwendigkeit der Vermittlung eines Religionsverständnisses thematisiert, welches sich mit demokratischen Grundwerten vereinen lässt, wobei deutlich wird, dass die Ausbildung von Imamen darauf ausgerichtet sein muss, die europäische Dimension in die theologische Ausbildung zu implementieren.

1.

Einleitung

Die Errichtung von islamischen Theologiestudiengängen an deutschen Hochschulen entsprechend den Empfehlungen des Wissenschaftsrats vom Januar 2010 ist ein revolutionärer Schritt in der akademischen Landschaft in Deutschland, der die wissenschaftliche Erforschung und Vermittlung islamischer Inhalte auf Augenhöhe mit den anderen in Deutschland etablierten Theologien stellt. Die Einrichtung islamisch-theologischer Studien an deutschen Universitäten eröffnet Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen die Möglichkeit, inhaltliche theologische Themen und Fragestellungen, die den Islam betreffen, zu reflektieren. Denn die Gleichstellung der islamischen Theologie mit anderen Theolo-

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gien an deutschen Universitäten ist für den Islam mit der Herausforderung verbunden, ähnlich den christlichen und anderen Theologien seine Positionen zu theologischen und ethischen, aber auch zu gesellschaftlichen Aspekten darzulegen und diese der Be- und Hinterfragung durch andere auszusetzen. Dies bietet Muslim*innen die Möglichkeit, sich aktiv mit ihrer Religion auseinanderzusetzen, aktiv nach Antworten auf metaphysische und ethische, aber auch auf gesellschaftliche Fragen zu suchen und traditionelle Positionen innerhalb der islamischen Theologie kritisch zu reflektieren. Durch die bewusste Zuwendung zur Religion soll sich die islamische Identität nicht über die Abgrenzung zu anderen Weltanschauungen etablieren, sondern vielmehr durch einen spirituellen und ethischen Kern, der es dem Einzelnen ermöglicht, das »Muslimsein« für sich definieren zu können. Weil islamische Theologie von muslimischen Wissenschaftler*innen verantwortet wird, die sich intellektuell und sachlich mit dem Islam auseinandersetzen, wird ein innerislamischer Diskurs gefördert, der sich intellektuell und ohne Scheu mit den verschiedenen Positionen innerhalb der islamischen Theologie kritisch auseinandersetzt. Es können aufgeklärte sowie humanistische Ansätze in der islamischen Ideengeschichte ausgearbeitet und daraus Konzepte entwickelt werden, die einen Beitrag zur Erneuerung längst überholter Positionen, vor allem innerhalb des islamischen Rechts, leisten sollen. Der Islam wird von der Mehrheit der Muslim*innen – aber auch der NichtMuslim*innen – als Gesetzesreligion angesehen. Ein Islamverständnis, das im Islam primär eine Gesetzesreligion sieht, also bemüht ist, ein juristisches Schema zu entwickeln, das möglichst alle Lebensbereiche erfasst und lediglich nach religiösen Dogmen und Normen fragt, ein Islamverständnis, in dem es hauptsächlich um die unreflektierte Befolgung von Geboten und Verboten geht, ist nicht als Grundlage eines zeitgemäßen islamischen Diskurses geeignet, der die Situation des Menschen in seiner Beziehung zu Gott ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. Aufgeklärte und humanistische Ansätze lassen sich allerdings in der islamischen Ideengeschichte nicht nur bei muslimischen Philosoph*innen antreffen, sondern auch in der islamischen systematischen Theologie (kala¯m), wie beispielsweise bei den Muʿtaziliten, in der Literaturwissenschaft sowie in der islamischen Mystik, aber auch in der islamischen Rechtslehre selbst. Allerdings werden diese Ansätze innerhalb der islamischen Ideengeschichte kaum rezipiert. Die akademische Beschäftigung mit dem Islam bietet eine Plattform für eine sachliche Auseinandersetzung und ruft sie ins islamische geistige Bewusstsein. Die Etablierung Islamischer Studien an deutschen Universitäten ermöglicht einen systematischen interreligiösen sowie interdisziplinären nationalen, aber auch internationalen Austausch, von dem nicht nur die islamische Theologie, sondern auch die anderen beteiligten Theologien und Disziplinen profitieren können. Durch solche Kooperationen können theoretische, aber auch empirische Forschungsprojekte entstehen, die den Islam in unterschiedlichen Per-

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spektiven untersuchen. Auch der Islam bekommt dadurch die Möglichkeit, einen Beitrag zur Bereicherung anderer Disziplinen zu leisten und eigene koranische Ansätze z. B. zu gesellschaftsethischen Fragen zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Die akademische Vernetzung mit theologischen Fakultäten in der islamischen Welt bietet eine Plattform des fachlichen Austausches mit diesen Ländern, was die Etablierung eines transnationalen aufgeklärten islamischen Diskurses befördern kann. Neben der Etablierung des islamischen Religionsunterrichts und der islamischen Theologie an staatlichen Institutionen ist es notwendig, flächendeckende und systematische Fort- und Weiterbildungsangebote für Menschen in sozialen Berufen, Schulen und Kindergärten, aber auch für Ärzt*innen, Beamt*innen, Seelsorger*innen und Menschen in ehrenamtlichen Berufen bereitzustellen, damit diese den Islam sowie kulturelle und religiöse Besonderheiten der Muslim*innen kennenlernen können. Diese Angebote sollen die Verständigung in der Gesellschaft unterstützen und daher gemeinsam mit den Muslim*innen konzipiert und verantwortet werden. So können mit den Muslim*innen gemeinsam die Möglichkeiten und Herausforderungen besprochen und analysiert werden. In diesem Beitrag möchte ich exemplarisch auf die Ausrichtung der Ausbildung von Theolog*innen und Religionslehrer*innen für den islamischen Religionsunterricht am Zentrum für Islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (ZIT) eingehen. Dabei soll der Fokus nicht auf der strukturellen Entwicklung des ZIT liegen, das ich seit dem Jahr 2011 leite, sondern auf der inhaltlichen Ausrichtung.

2.

Spannungen zwischen öffentlicher und privater Religion

Die unverkennbare Spannung zwischen der öffentlichen und der privaten Religion gewinnt im islamischen Kontext in Deutschland spezifisches Gewicht und zeigt die Chancen, aber auch die Herausforderungen der Etablierung der islamischen Theologie an deutschen Universitäten sowie des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. In den letzten Jahren wurde deutlich, dass es sich, gerade wenn es um den Islam in Europa geht, auch um ein gesellschaftspolitisches Anliegen handelt, in dessen Zentrum die Frage nach der Integration, aber auch die sicherheitspolitische Frage steht. Entsprechend wurde die Einführung der islamischen Theologie an deutschen Universitäten sowie die Etablierung des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen in Deutschland von Beginn an von integrationspolitischen Überlegungen begleitet. Dazu merkt Brigitte Schepelern Johansen in ihrem schon im Jahre 2008 erschienenen Aufsatz »Legitimizing Islamic Theology at European Universities«, der sich auf die Situation in Europa bezieht, an:

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»Die öffentlich institutionalisierte und formalisierte Bildung wird zu einem Mittel, um muslimische religiöse Autoritäten und damit Muslime im Allgemeinen zu beeinflussen. Europäische Politiker scheinen ähnliche islamische Diskurse, Praktiken und Organisationsformen umgestalten zu wollen für diejenigen, die für das Christentum oder andere anerkannte Religionsgemeinschaften entwickelt wurden: (…) Die Idee ist, dass die Einrichtung einer islamischen Hochschulbildung in einem formalisierten Umfeld dem Islam und den Muslimen eine institutionalisierte und kontrollierte Position verschaffen würde innerhalb der europäischen Gesellschaften.« (Schepelern Johansen 2008, S. 450)

Es handelt sich also um Überlegungen zu gezielten Maßnahmen, um bestimmte Entwicklungen innerhalb der islamischen Communities in Europa zu ermöglichen. Dazu gehört vor allem die theologische Reflexion über die Frage nach Interpretationen des Islams, die nicht im Widerspruch zu demokratischen Grundwerten und den Menschenrechten stehen. Durch die Etablierung der islamischen Theologie an den Universitäten sowie des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen werden Räume für solche Reflexionen geschaffen, die bislang kaum in Deutschland vorhanden waren. Die Schaffung dieser Räume bietet gleichzeitig eine Reibungsfläche zwischen privater und öffentlicher Religion. Denn gerade in der Situation der Migration spielt Religion für viele Muslim*innen eine verstärkt identitätsstiftende Rolle, die sich nicht selten in einer gewissen Apologetik befindet, da der Islam gerade seit dem 11. September 2001 stark mit Gewalt und Terror assoziiert wird, weshalb Muslim*innen sich ständig in eine Rechtfertigungsecke gedrängt fühlen. Diese apologetische Haltung hat jedoch eine Kehrseite, und zwar die nicht seltene Gleichsetzung von kritischer Reflexion theologischer Positionen mit Islamkritik. Dies führte oft zu einer reflexartigen Ablehnung jeglicher selbstkritischen Haltung. Aber gerade diese Entwicklung zeigt die Notwendigkeit eines geschützten Raumes für einen reflektierten Zugang zum eigenen Glauben, in dem eigene religiöse Positionen und Argumente neu gewichtet werden können. Im Folgenden möchte ich die angesprochenen Spannungen zwischen öffentlicher und privater Religion anhand von zwei Beispielen veranschaulichen, mit dem Ziel, zu verdeutlichen, warum gerade die islamische Theologie als akademisches Fach an deutschen Universitäten und der islamische Religionsunterricht an öffentlichen Schulen eine nicht nur intellektuelle, sondern und vor allem eine gesellschaftliche Chance bieten: zum einen das Beispiel der Identität vieler junger Muslim*innen und zum anderen die Frage nach der Rolle der Moscheegemeinden als Orte der religiösen Erfahrung, aber auch der religiösen Bildung sowie die Notwendigkeit der Imam-Aus- und Fortbildung in Deutschland.

Die islamische Theologie an deutschen Universitäten

3.

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Die Anfälligkeit ausgehöhlter religiöser Identitäten für den Fundamentalismus

Gerade der Prozess der Entwicklung religiöser Identität bei vielen muslimischen Jugendlichen in Deutschland zeigt, wie private und öffentliche Religion in diesem Kontext in produktiver, aber auch spannungsgeladener Wechselbeziehung zueinander stehen können. Meine These dazu lautet, dass das Fehlen von reflektierten Zugängen zur Religion – hier in der Gestalt des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, aber auch der Moscheegemeinden, deren Angebote die Lebenswirklichkeit der jungen Muslim*innen ansprechen – ein geistiges Vakuum hinterlassen würde, welches das Rekrutieren solcher Jugendlichen in fundamentalistische Milieus begünstigen würde. Gerade in der Situation der Migration, in der sich Muslim*innen als religiöse Minderheit wahrnehmen, entdecken viele Jugendliche auf der Suche nach Anerkennung in einem geschützten »Wir« im Islam eine identitätsstiftende Quelle, wissen jedoch zugleich wenig über die Inhalte ihrer Religion. Ich möchte hier kurz auf dieses Phänomen, das ich »ausgehöhlte religiöse Identität« nenne, eingehen, um aus religionspädagogischer Perspektive für die Notwendigkeit eines reflektierten islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen zu argumentieren. Dieses Phänomen zu verstehen, ermöglicht zugleich die Konzipierung entsprechender religiöser Angebote, mit denen vor allem diese Jugendlichen erreicht werden können und ihnen zu religiöser Mündigkeit verholfen werden kann. Denn gerade extremistische Angebote erreichen solche Jugendlichen, die ihre Religiosität an Dritte zu delegieren bereit sind und nicht gelernt haben, ihre Religiosität selbst in die Hand zu nehmen und selbst zu bestimmen, weil ihnen das Werkzeug dazu fehlt. Grundsätzliches: Nur, wenn ich weiß, wer ich bin und ich mir meiner Identität sicher bin, habe ich keine Angst, mich dem Anderen zu öffnen und in ihm das Neue zu begrüßen. Die Begegnung des Islams mit Europa Mitte des 20. Jahrhunderts im Zuge der Arbeitsmigration führte jedoch zu Identitätsverunsicherungen auf beiden Seiten, was nicht selten Distanz statt Nähe hervorrief. Ist heute in Deutschland von Muslim*innen die Rede, dann spricht man hauptsächlich von den ehemaligen »Gastarbeiter*innen«, die im Zuge der Anwerbeabkommen in den 1960er- und 1970er-Jahren als Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen sind, von deren Familien, die in den 1980er-Jahren im Rahmen der Familienzusammenführung nachgekommen sind, sowie von deren Nachkommen, die mittlerweile in zweiter und dritter Generation in Deutschland geboren wurden. Es ist mehr oder weniger ein Zufall, dass es sich bei vielen der ehemaligen »Gastarbeiter*innen« um Muslim*innen handelt. Dadurch überlagern sich verschiedene Dimensionen des Andersseins, der Fremdartigkeit, und

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so verschärfen sich Probleme der Abgrenzung, der Anpassung und der Integration; ethnische Dimensionen überlagern sich mit nationalen, religiösen und sozioökonomischen (Casanova 2004). War in den 1960er- und 1970er-Jahren von »Gastarbeiter*innen« die Rede, so begann man in den 1980er- und 1990er-Jahren, als die Arbeitsmigration durch die Familienzusammenführung sichtbar geworden war, von »Ausländer*innen« zu sprechen. Spätestens seit dem 11. September 2001 spricht man von »Muslim*innen«, gemeint sind aber noch immer die ehemaligen Gastarbeiter*innen und deren Nachkommen. Mit dieser Verschiebung der Wahrnehmung wurden aus den typischen sozialen Problemen einer Gastarbeiterschaft religiöse Probleme. Die Kategorie »Muslim« rückt immer stärker als Deutungsmuster für soziale Defizite der Gastarbeiterschaft in den Vordergrund. Die Religion sei das Problem, sei das Integrationshindernis, heißt es oft. Muslim*innen finden sich entsprechend in einer Rechtfertigungsposition wieder. Betrachtet man die Debatten um das Thema Islam der letzten Jahre, dann sind diese entweder von sicherheitspolitischen Fragen überschattet, oder es geht um Moscheebauten, Minarette und das Kopftuch. Gerade Angehörige der sogenannten zweiten und dritten Generation der Muslim*innen fühlen sich mit der hiesigen Gesellschaft stark verbunden, ihre Distanz zur Heimatkultur ihrer Großeltern ist groß. Je stärker sie sich integriert fühlen, desto größer sind auch ihre Erwartungen an das Aufnahmeland; das zeigt sich vor allem im Anspruch auf Gleichbehandlung und Chancengleichheit in allen gesellschaftlichen Institutionen (Bildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt), aber auch in der Erwartung, allgemein anerkannt und akzeptiert zu sein (Mehrländer 1983). Dies ist Ausdruck ihrer Integration in der Gesellschaft. Die erste Generation der Gastarbeiter*innen aus islamischen Ländern kam primär aus der Türkei und Nordafrika, war also in einem islamischen Land aufgewachsen. Die Angehörigen dieser Generation wurden in ihren Heimatländern sozialisiert und internalisierten dort Werte und Normen. Für sie war Religion nicht mehr als ein Teil ihrer Herkunftsidentität. Eine reflexive Zuwendung zur eigenen Kultur und zur eigenen Religion setzte vor allem mit dem Familiennachzug ein (Schiffauer 2002). Die Bedeutung der Religion in der zweiten und dritten Generation differenzierte sich stärker aus. Das begründet sich dadurch, dass diese Generationen in ihrer Sozialisation, Sprache und Identitätsentwicklung stärker einer Spannung zwischen den Orientierungen der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft ausgesetzt sind und ihnen dabei Religion als (mögliche) Bewältigungsstrategie dient. Die Erwartungen der Jugendlichen an die europäischen Gesellschaften sind hoch. Hier, wo sie geboren und aufgewachsen sind, wünschen sie sich eine Heimat, die ihnen nicht nur Chancengleichheit im Bildungssektor, am Arbeitsmarkt und am Wohnungsmarkt bietet, sondern auch eine innere Heimat, in der

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sie sich als anerkannte Menschen entfalten können. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt und haben die Jugendlichen das Gefühl, diskriminiert zu sein, dann kommt es zu verschiedenen Reaktionen. Manche kapseln sich ab, sie gehen zu beiden Systemen – zur Kultur der Eltern und zur Mehrheitsgesellschaft – auf Distanz. Viele Jugendliche greifen aber auch reaktiv bei der Suche nach einem sicheren »Wir-Gefühl« auf die Religion zurück. Auf die Frage, als was sie sich fühlen, bezeichnen sie sich selbst hauptsächlich als Muslim*innen, der Islam bedeute für sie sehr viel. Diese Form der islamischen Identität bezeichne ich als »Schalenidentität« (Khorchide 2007, 2010). Für die Konstruktion einer kollektiven Identität bedienen sich diese Jugendlichen eines Islams »ohne Inhalt«; der Islam, den sie leben, ist mit einer leeren Schale zu vergleichen. Die Religion dient der Konstruktion einer kollektiven Identität, die auch Schutz vor dem »Anderen« bietet. »Schalenmuslim*innen« stützen sich also auf ausgehöhlte (entkernte) Identitäten. Diese Jugendlichen fühlen sich als unwillkommene Ausländer*innen sowie als benachteiligte Außenseiter*innen. Durch den Islam, der vor allem als Bindeglied zu anderen Migrantenjugendlichen gleicher Herkunft bzw. Religion gesehen wird, können sie ein gewisses Gefühl der Sicherheit aufbauen. Sie halten sich überwiegend an die gottesdienstlichen kollektiven Praktiken. Diese finden ihren Ausdruck in der Gemeinschaft, werden im Bezug zur Gruppe verrichtet und von ihr mehr oder weniger kontrolliert. Viele Jugendliche fasten also im Monat Ramadan, viele männliche Jugendliche gehen freitags zum gemeinschaftlichen Freitagsgebet in die Moschee und Mädchen tragen ein Kopftuch; so erfüllen sie die Erwartungen der sozialen Kontrolle seitens der eigenen Community und konstruieren gleichzeitig eine reaktive kollektive Identität, die ihnen das notwendige Gefühl der Sicherheit und Stärke vermittelt. Diese religiöse kollektive Identität ist also als Reaktion zu verstehen – einerseits auf die Erwartungen der Eltern und der eigenen Community, andererseits auf das Gefühl der Nicht-Anerkennung seitens der Mehrheitsgesellschaft und somit als Selbstfindungsprozess in einem »anderen« sicheren Kollektiv, in dem ihre Zugehörigkeit zu diesem nicht ständig hinterfragt wird. Gerade aus dem letztgenannten Grund wird diese Identität über die Beschreibung des Anderen und weniger über die Beschreibung des Eigenen skizziert. Das heißt: Wenn Jugendliche beschreiben, was sie als Muslim*innen ausmacht, geben sie weniger an, was sie sind, sondern vielmehr, was sie nicht sind. Ihre islamische Identität ist nicht selten eine der Ab- und Ausgrenzung. Entsprechend (über)betonen sie solche Elemente in der Religion, die sie über die Anderen (Nichtgläubigen) erhöhen. Dazu gehört vor allem die Vereinnahmung Gottes und seiner Gnade nur für sich und die eigene Gruppe. Es kommt bei Jugendlichen der zweiten Generation zu einer Umwertung: Hier geboren und aufgewachsen erwarten sie, hier eine Heimat geboten zu bekom-

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men, in der sie sich heimisch fühlen können. Bei Nichterfüllung dieser Erwartungen beginnen die Jugendlichen, kulturelle Gegensätze zu konstruieren und vorhandene zu übertreiben. Es kommt zur Überbetonung von Differenzen. Gemeinsamkeiten in den Einstellungen und Vorstellungen, aber auch religiöse Gemeinsamkeiten werden heruntergespielt. Begriffe wie Aufklärung oder Moderne werden pauschal als »westlich« abgelehnt, ohne sich mit deren Inhalten zu beschäftigen. Hier besteht die Gefahr der Instrumentalisierung der Religion, im Sinne einer reaktiven Rückbesinnung, die sich durch das Festhalten an sichtbaren Symbolen äußert, um Grenzen zwischen Kollektiven auf der Basis religiöser Differenz zu ziehen. Eine immer stärkere Identifikation mit dem Islam und zugleich eine kaum reflexive Beschäftigung mit dem Islam führen zur Aushöhlung der Religion. Denn es geht bei dieser Identifikation mit dem Islam nicht primär um Spiritualität, um Gotteserfahrung, um Inhalt, sondern hauptsächlich um die äußere, identitätsstiftende Fassade. Und genau hier wird das salafistische/fundamentalistische Angebot attraktiv, denn dieses spaltet die Welt in Gut und Böse. Die Guten liebt Gott, die Bösen verdammt er bis in die Ewigkeit. Salafisten seien die einzigen, die von Gott geliebt werden, sie seien letztendlich die Sieger, die Auserwählten. Dazuzugehören gibt ein Gefühl der Stärke und vor allem der Überlegenheit. Das restriktive Gottesbild der Salafisten verleiht Macht, denn an der Seite eines kriegerischen Gottes zu stehen, dessen Botschaft eine Kampfansage ist, macht mächtig. Ein barmherziger, liebender Gott, dessen Barmherzigkeit seinem Zorn vorauseilt, ist hingegen ein schwacher Gott, daher konstruieren fundamentalistische Gruppierungen einen patriarchalischen Gott, der seine Männlichkeit immer wieder mit Zorn und Gewalt unter Beweis stellt. Sich mit solchen fundamentalistischen Gedanken zu identifizieren ist letztendlich Ausdruck innerer Ohnmacht, die manche Jugendlichen, aber nicht nur Jugendliche, durch die Identifikation mit einer mächtig auftretenden Religion zu kompensieren versuchen. Solche ausgehöhlten Identitäten sind stark anfällig für politische Instrumentalisierung und entsprechende Rekrutierung in fundamentalistischen Milieus. Jürgen Oelkers bringt diese Gedanken auf den Punkt: »Die politische Bearbeitung dieser Probleme dürfte umso schwieriger werden, je weniger die sozio-ökonomische Integration gelingt, je geringer der Schulerfolg der Kinder ist, je mehr verschiedene Generationen Desintegration erleben und je härter die eigene Kultur abgeschottet wird. Von der anderen Seite aus gesagt: Je weniger die aufnehmende Kultur bereit ist, Integrationswillige aufzunehmen, je stärker sich die fundamentalistische Diskussion entwickelt und je weniger echte Chancen sich die Mitglieder der fremden Kultur ausrechnen können, desto mehr verschärft sich das Problem. Religiöse Überzeugungen lassen sich dabei politisch instrumentalisieren, und dies umso mehr, je weniger Kontakt mit anderen Kulturen besteht.« (Oelkers 2011, S. 120–121)

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Daher benötigen die jungen Menschen muslimischen Glaubens einen reflektierten Zugang zum Islam, ansonsten entsteht eine ausgehöhlte religiöse Identität, die zwar zu einer starken Identifizierung mit dem Islam führt, aber gleichzeitig einen hohen Mangel an Wissen und Reflexion über dessen Kernbotschaften erkennen lässt. Religiosität wird dadurch entkernt und was bleibt, ist eine äußere Fassade, in der Symbole und Äußerlichkeiten eine größere Rolle spielen als ethische und spirituelle Inhalte des Glaubens. Ein schülerorientierter islamischer Religionsunterricht schafft daher Raum für die Reflexion theologischer, ethischer, spiritueller und weltanschaulicher Fragestellungen – auch über das eigene Bekenntnis hinaus. Er liefert zugleich Impulse für verantwortliches Handeln. Dies setzt jedoch voraus, dass entsprechende Lehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht ausgebildet sind, die über verschiedene Kompetenzen verfügen.

4.

Die Rolle der Imam-Ausbildung und der Moscheegemeinden im Prozess der Etablierung eines reflektierten Zugangs zum Islam

Dadurch, dass in Deutschland über viele Jahre kein islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen angeboten wurde (in NRW wurde dieser erst 2012 an einigen Schulen eingeführt), waren und sind die Moscheen ein wichtiger Ort der Vermittlung von Religion. Den Imamen kommt dadurch eine wichtige Rolle zu, denn das Bild des Islams vieler Muslim*innen hängt davon ab, welche religiösen Inhalte durch die Moscheegemeinden kommuniziert werden. Da der Islam allerdings kein Lehramt und keine Kirche kennt, gibt es eine große Bandbreite von religiösen Auslegungen des Islams, die in den Moscheegemeinden unterschiedlich vertreten sind. Daher hängt die integrative Rolle der Moscheen von deren religiösen Angeboten ab. Man kann weder pauschal attestieren, dass Moscheen einen Beitrag gegen die Radikalisierung junger Menschen leisten, noch pauschal den Moscheen diese Rolle absprechen. Das Dilemma in Deutschland besteht darin, dass die meisten großen Moscheegemeinden im Laufe der Zeit politische Strukturen aufgebaut haben und eher politischen als religiösen Agenden folgen. Dadurch verpassen sie nicht selten den Anschluss an die eigene Basis. Die Ergebnisse empirischer Studien, die zeigen, wie Moscheegemeinden und religiöse Praxis immer unattraktiver für junge Muslim*innen werden, müssten gerade diese Gemeinden zum Umdenken bewegen, und zwar im eigenen Sinne und im Sinne ihrer religiösen Überzeugung. In seiner Studie über türkischstämmige Muslim*innen in Deutschland aus dem Jahr 2016 kommt der Soziologe Detlef Pollack zu dem Ergebnis, dass Angehörige

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der zweiten und dritten Generation weniger häufig die Moschee besuchen als die erste Generation (23 vs. 32 Prozent wöchentlich oder öfter) und auch deutlich seltener bekunden, mehrmals am Tag das persönliche Gebet zu verrichten (35 vs. 55 Prozent) (Pollack, Müller, Gergely & Dieler 2016, S. 11). Gleichzeitig gewinnt die salafistische Szene gerade unter jungen Muslim*innen immer mehr an Attraktivität. Es ist nicht ausreichend, sich vom Salafismus und vom Extremismus zu distanzieren und diese zu verurteilen. Was die Jugendlichen dringend benötigen, sind Gegenangebote zum Fundamentalismus, die mit der Lebenswirklichkeit dieser Jugendlichen harmonieren und sie nicht vor die Wahl stellen, entweder Deutsche oder Muslim*innen zu sein, sondern ihnen die Grundlagen für eine harmonierende mehrdimensionale Identität bieten: sowohl Deutsche*r als auch Muslim*in.

4.1

Die wichtigsten Moscheegemeinden in Deutschland

Als erster islamischer Dachverband in Deutschland wurde im Jahre 1973 der türkische Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) gegründet. Danach folgten die ebenfalls türkische Islamische Gemeinschaft Millî Görüs¸ (IGMG) und die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) als Ableger des türkischen Religionsministeriums Diyanet. Später wurde der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) als Zusammenschluss mehrerer arabischer, türkischer und schiitischer Vereine gegründet. Neben diesen vier großen Dachverbänden folgten ab den 90er-Jahren die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken (1994), die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS) (2009) sowie das Bündnis malikitischer Gemeinden in Deutschland (BMG) (2018), das überwiegend aus marokkanischstämmigen Gemeinden besteht. In Deutschland gibt es etwa 2.350 islamische Gebetsräume und Moscheen (Halm, Sauer, Schmidt & Stichs 2012, S. 58). Viele dieser Moscheegemeinden leisten gemeinnützige Arbeit, wobei vor allem die Wohlfahrtspflege einen wichtigen Teil darstellt. Hinzu kommen Freizeit-, Bildungs- und Betreuungsangebote. Dabei sind die meisten Gemeinden auf das Engagement Ehrenamtlicher angewiesen. Dennoch wird starke Kritik an den großen Dachverbänden geübt; vor allem wird ihnen immer wieder vorgeworfen, an erster Stelle politischen Agenden zu folgen und weniger an einem weltoffenen Islam für Muslim*innen in Deutschland und Europa interessiert zu sein. Die Abhängigkeit dieser oder einiger dieser Verbände vom Ausland ist hoch problematisch. Für Verstimmung sorgte zum Beispiel 2017 die Affäre um DITIB-Imame, die Informationen über mutmaßliche Gülen-Anhänger in ihren Gemeinden oder Regionen gesammelt und nach Ankara geschickt haben sollen. Die Bundesanwalt-

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schaft stellte die Ermittlungen gegen die beschuldigten Imame im Dezember 2017 ein (Generalbundesanwalt 2017). In den letzten Jahren war der Fokus auch immer wieder auf die Inhalte der Freitagspredigten in den Moscheen gerichtet. Die Kritik richtete sich vor allem gegen Freitagspredigten der DITIB wegen nationalistischer Untertöne, besonders nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 oder im Januar 2018, als viele DITIB-Imame in Deutschland einem Aufruf der türkischen Religionsbehörde Diyanet folgten und für einen Erfolg der türkischen Truppen beteten, die gerade in Syrien einmarschiert waren. Hin und wieder wurden Predigten bekannt, in denen Frauen und Homosexuelle, aber auch Juden diskriminiert wurden. Die eigentliche Herausforderung bleibt dennoch die nicht seltene Entfernung der Inhalte der Freitagspredigten von der Lebenswirklichkeit der Muslim*innen in Deutschland, vor allem der muslimischen Jugendlichen. Und genau diese Lücke wird nicht selten von den fundamentalistischen Angeboten geschlossen. Daher muss hier betont werden, dass die Moscheegemeinden nicht nur dann einen Beitrag zum Frieden leisten, wenn sie keine fundamentalistischen bzw. gewaltgeladenen Gehalte vermitteln, sondern wenn sie menschenfreundliche und lebensnahe religiöse Angebote machen als Antwort auf den Fundamentalismus, aber auch auf die spirituellen Bedürfnisse der Muslim*innen.

4.2

Imame in Deutschland: Es kommt nicht nur auf die Sprache der Predigt, sondern und vor allem auf deren Inhalte an

In der öffentlichen Debatte wurde und wird weiterhin in Deutschland über die Notwendigkeit diskutiert, dass Imame auch auf Deutsch predigen sollen. Es ist keine Frage, dass die Predigt muslimischer Imame auf Deutsch bzw. zumindest eine Zusammenfassung der Predigt auf Deutsch für mehr Transparenz der Arbeit der Imame sorgen wird, aber auch, und das ist in meinen Augen noch wichtiger, für mehr Ansprechbarkeit der Predigten für Muslim*innen, vor allem für muslimische Jugendliche, welche die deutsche Sprache viel besser beherrschen und verstehen können als die Sprachen der Herkunftsländer ihrer Eltern. Allerdings ist die Sprache allein weder das eigentliche Problem noch die eigentliche Lösung, denn worauf es im Grunde ankommt, sind die Inhalte, die den Menschen in den Moscheegemeinden vermittelt werden. Viele salafistische Prediger in Deutschland tragen ihre Gedanken in ihren Moscheen und in öffentlich zugänglichen Medien auf Deutsch vor und erreichen dadurch eine breite Basis an muslimischen Jugendlichen. Und gerade dieses Beispiel der salafistischen Prediger zeigt, wo das eigentliche Problem liegt. Es ist die Frage: Welcher Islam wird an deutschen Moscheen vermittelt? Diese Frage ist deshalb zentral,

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weil die meisten Muslim*innen nicht selbst im Koran nachlesen bzw. sich mit islamischer Literatur auseinandersetzen, sondern sich auf das verlassen, was sie von sogenannten religiösen Autoritäten hören; für sie ist das der richtige Islam. Und da Imame für viele Muslim*innen als solche Autoritäten gelten, tragen diese eine große Verantwortung bei der Etablierung des jeweiligen Islambildes, das sie predigen. Als Leiter des größten islamisch-theologischen Zentrums in Deutschland1 bin ich bei der Frage der Imam-Ausbildung an deutschen Universitäten unmittelbar involviert. Daher möchte ich hier in Stichpunkten skizzieren, welche Inhalte die Ausbildung von Theolog*innen an deutschen Universitäten besonders reflektieren sollten, um einige theologische Hürden zu überwinden.

5.

Religiöse Mündigkeit als Grundsatz und die Notwendigkeit einer reflektierten religiösen Bildung

Die religiöse Bildung muslimischer Jugendlicher in Deutschland muss der angesprochenen Entwicklung der Entstehung ausgehöhlter religiöser Identitäten Rechnung tragen und ein Angebot machen, das diese entkernten Identitäten mit einem sinnvollen Gehalt füllt. Moderne religiöse Bildung versteht sich im Dienste des Subjekt-Werdens des Individuums und seiner Selbstbestimmung. Heute geht es bei der religiösen Bildung um Aneignungsprozesse. Bei diesem Konzept der Aneignung steht der Mensch als Subjekt selbst, mit seiner Lebenswirklichkeit, seinen Erfahrungen, Erwartungen, Wünschen, Bedürfnissen usw. beim Prozess der religiösen Bildung im Vordergrund. In einer modernen islamischen Bildung geht es heute also nicht um das Eintrichtern von Glaubensgrundsätzen und die Vermittlung von endgültigen Antworten, sondern darum, Menschen zu befähigen, ihre eigene Religiosität zu entwickeln und wahrzunehmen sowie die Bedeutung religiöser Inhalte individuell zu reflektieren, damit sie ihre Religiosität selbst verantworten können. Das Subjekt muss sich also selbst einbringen. Wenn es aber in religiöser Bildung um ein subjektives Betroffensein von Religion geht, dann setzt dies eine dialogische Theologie voraus, welche die Beziehung Gott-Mensch nicht als Gehorsamkeitsbeziehung, sondern als dialogische reflektiert (Khorchide 2012, 2015).

1 Zurzeit gibt es am Zentrum für Islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ca. 800 Studierende.

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5.1

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Die Notwendigkeit der Überwindung religiösen Exklusivismus

Gerade durch das Insistieren auf den alleinigen Wahrheitsanspruch der eigenen Überzeugungen bleibt kaum Raum für andere Wahrheitsansprüche. Denn der religiös begründete Exklusivismus besteht darauf, dass außerhalb der eigenen Religion keine heilshafte Erkenntnis der transzendenten Wirklichkeit bzw. Offenbarung vermittelt werden kann. Anderen Religionen kommt somit keine heilsvermittelnde Funktion zu. Der Exklusivismus ist allerdings nicht mit dem eigenen Wahrheitsanspruch zu verwechseln. Dieser kann zwar, muss aber nicht exklusivistisch vertreten werden. Denn wenn ich daran glaube, dass meine Religion der Weg zur Wahrheit ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass es nicht andere Wege zur Wahrheit gibt. Damit relativiere ich keineswegs meinen Wahrheitsanspruch. Im religiösen Exklusivismus steckt eine Grundlage für Gewalt, weil er eine Form der Ablehnung des »Anderen« darstellt. Und wenn diese Ablehnung im Namen Gottes geschieht, dann nimmt sie absolute Züge an, und wir wären nicht mehr weit entfernt von dem, was man Religionskriege nennt. Die Geschichte der drei monotheistischen Religionen kennt das zur Genüge. Der religiös begründete Exklusivismus ist im Islam längst nicht nur unter Salafisten und muslimischen Fundamentalisten verbreitet. Diese Haltung steht noch bis heute stark in der Mitte der konservativen islamischen Theologie. Aber hier sind die Fragen berechtigt: Wie kann man diese Position mit der Rede von einem allen Menschen in bedingungsloser Liebe und Barmherzigkeit zugewandten Gott zusammenbringen? Ist ein Gott, der Menschen nur deshalb für die Ewigkeit in eine Hölle verdammt wegen dem, was sie sind (Nicht-Muslim*innen) und nicht für etwas, was sie verbrochen haben, ein gerechter Gott? Sicher nicht. Daher gehört in den Moscheegemeinden auch die Frage kritisch reflektiert: An welchen Gott glauben Muslim*innen?

5.2

Die Notwendigkeit der Anwendung hermeneutischer Ansätze der Koranauslegung, wie die historisch-kritische Methode

Sowohl in der Bibel als auch im Koran wird Gewalt angesprochen. Die Frage, die sich heute stellt, ist die nach dem Umgang mit solchen Stellen in unseren heiligen Schriften. Liest man sie ahistorisch, läuft man Gefahr, sie für eine Instrumentalisierung für politische Zwecke freizugeben. Auch wenn der Koran für Muslim*innen als göttliche Botschaft gilt, schließt dies keineswegs die Möglichkeit einer historischen Kontextualisierung seiner Aussagen aus. Denn worauf es ankommt, ist das Verständnis vom Akt der Offenbarung als dialogische Kommunikation in der Geschichte und durch diese statt als monologische Be-

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lehrung durch Gott (Khorchide 2018). Der Koran, verstanden als Medium und zugleich Resultat einer Kommunikation zwischen dem Verkünder und der Gemeinde Muhammads im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel, setzt für ˙ sein Verstehen voraus, die Situation dieser Kommunikation zu berücksichtigen. Eine literalistische, also wortwörtliche, Lesart des Korans ignoriert diese Tatsache, dass der Koran diskursiv im Akt der Kommunikation verkündet wurde und daher auch nur diskursiv verstanden werden kann. Es ist daher ein Unterschied, ob die Aufforderung im Koran 2:191 als solche zu verstehen ist, alle NichtMuslim*innen jederzeit zu töten oder als deskriptive Aussage in einer bestimmten, historisch bedingten kriegerischen Auseinandersetzung. Ein historisch-kritischer Zugang zum Koran entschärft die Gewaltpotenziale in ihm, weil sie dadurch nicht mehr mit einem ahistorischen Bewusstsein als vom Himmel gefallene Imperative gelesen, sondern als Produkt von historisch gewachsenen Auseinandersetzungen erfasst werden, die für Muslim*innen zugleich die Involviertheit Gottes in ihrer Geschichte darstellt.

5.3

Das Liebesethos als Friedenspotenzial im Islam reflektieren

Der Islam, wie auch das Christentum und das Judentum, besitzt ein religiöses Ethos als moralischen Universalismus. Damit meine ich keineswegs ein Weltethos, das Religionen ersetzen soll, sondern ein religiöses Ethos, das alle Menschen, egal welchem Glauben bzw. welcher Weltanschauung sie angehören mögen, erfasst. Gerade das Liebesethos der drei monotheistischen Religionen geht über das Gerechtigkeitsethos hinaus. Es geht um Nächstenliebe. Liebe schließt nicht die Gerechtigkeit aus, sondern geht über sie hinaus.

5.4

Die Notwendigkeit der Trennung von religiösen und politischen Institutionen als Schutz der Religion vor Instrumentalisierung durch die Politik und als Schutz der Politik vor Instrumentalisierung durch die Religion

Säkularität will sowohl den Staat vor religiösen Machtansprüchen als auch Religionen vor politischer Instrumentalisierung schützen und ist daher als Basis für die religiöse Neutralität des Staates zu verstehen. In einem säkularen Staat wird niemand zu einem Glauben gezwungen. Gleichzeitig wird die religiöse Gemeinde vor staatlichen Eingriffen geschützt und der Staat verzichtet auf die Favorisierung einer spezifischen religiösen oder säkularen Weltsicht (Koenig 2012, S. 296).

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Jürgen Habermas hat nach dem 11. September 2001 in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels geäußert, auch wer nicht religiös sei, sollte die Kraft, die aus den religiösen Quellen kommen kann, nicht verleugnen. Habermas möchte den religiösen Gemeinschaften in der postsäkularen Gesellschaft einen Platz in der Öffentlichkeit einräumen, weil er der Überzeugung ist, dass Menschen Wertebindungen brauchen, und er befürchtet in einer Gesellschaft ohne Religion ein Wertevakuum (Habermas 2001, S. 8). »Werte fallen nicht vom Himmel«, betont auch Clemens Sedmak (Sedmak 2007, S. 118) und verweist auf die besondere Bindekraft religiöser Orientierungen. Daher bedeutet die Trennung von Politik und Staat keineswegs, dass religiöse Werte, wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, soziale Solidarität usw. keine Rolle mehr im öffentlichen Diskurs spielen dürfen, sondern dass Religionen keine Machtansprüche für sich stellen dürfen (Stichwort Scharia als Gesetz Gottes statt der geltenden Gesetze des Rechtsstaats).

6.

Der Islam und die demokratischen Grundwerte

Gerade moderne plurale Gesellschaften benötigen ein hohes Maß an Partizipation und Teilhabe ihrer Bürger*innen, wenn sie funktionieren sollen. Gerade demokratische Staaten sind stärker auf eine eigene politische Identität angewiesen als despotisch oder autoritär regierte Gesellschaften (Taylor 2010, S. 16), denen wir in vielen islamischen Ländern begegnen. Was hält aber unsere europäische Gesellschaft zusammen? Gibt es eine Wertebasis Europas, die auch für Muslim*innen gilt? Drei zentrale Werte der Französischen Revolution sind für ein friedliches und konstruktives Zusammenleben unentbehrlich: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der katholische Religionspädagoge Josef Freise interpretiert sie für uns heute als Verbundenheit, Solidarität und »compassion« (Freise 2014, S. 115–117). Auch wenn diese Werte zumeist als säkulare und »religionsfreie« Werte verstanden werden, muss jeder diese mit der eigenen religiösen oder nichtreligiösen Tradition verbinden. Werte müssen zur gelebten Lebenswirklichkeit werden, damit sie keine leeren Parolen bleiben. Um den Islam mit demokratischen Grundwerten in Harmonie zu bringen, bedarf es, den Koran in seinem historischen Kontext des siebten Jahrhunderts auf der Arabischen Halbinsel zu verorten und entsprechend zu lesen. Der Koran wurde diskursiv verkündet und kann daher auch nur im Diskurs verstanden werden. Das heißt, ohne den historischen Kontext der Verkündung des Korans kann der Koran nur missverstanden werden. Sich diskursiv mit diesen und weiteren theologischen Herausforderungen auseinanderzusetzen, setzt nicht nur fundiertes theologisches Wissen voraus,

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sondern auch fundierte Kenntnisse der Lebenswirklichkeit von jungen Muslim*innen in Europa. Es geht weniger um die Frage, wo Imame ausgebildet werden sollen, sondern vielmehr um die theoretisch-theologischen Grundlagen der Imam-Ausbildung. In seiner Studie über den außerschulischen islamischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen betont Alacacioglu zwar die Bedeutung des Unterrichts in den sogenannten Koranschulen für die Sozialisierung der Kinder und Jugendlichen und seine Rolle bei der Erziehung der muslimischen Jugendlichen zu gesetzestreuen Bürger*innen und bewertet diese Zielsetzung des Religionsunterrichts als positiv, sie »entspricht dem modernen religionspädagogischen Verständnis von Religionsunterricht« (Alacacioglu 1999, S. 258). Er stellt allerdings fest, dass dieser Unterricht stärker im Sinne affirmativer Vermittlung normativ-religiöser Vorgaben ausgerichtet ist: Der Katechismus bestimmt »eindeutig die Ziele und Inhalte des Religionsunterrichts sowie das didaktische Vorgehen. Die Aussagen des Katechismus gelten als unhinterfragbar und werden den Schülern in den didaktischen Formen des Memorierens und der Textanalyse nahe gebracht. Dieses Verständnis des Religionsunterrichts hat ebenso weitreichende Auswirkungen auf das Lehrer-SchülerVerhältnis: Der Lehrer gilt hier als Verkünder der Wahrheiten des Katechismus, der Schüler als jemand, der zu diesen Wahrheiten geführt werden muß« (ebd., S. 255). Daraus ergibt sich die Herausforderung, die Imam-Ausbildung so zu gestalten, dass sie einerseits dem Bedürfnis der Muslim*innen nach der Wahrung einer islamischen Identität gerecht wird und andererseits einen Beitrag zur Herstellung von Harmonie zwischen dem Muslimsein und dem Europäersein leistet. Durch die religiöse Erziehung in den Moscheen sollten die jungen Muslim*innen nicht nur befähigt werden, ihr Leben in eigener Verantwortung zu führen, sondern zugleich ihrer Verpflichtung gegenüber dem Staat und der Gesellschaft gerecht zu werden. Dies setzt allerdings voraus, den Islam so zu verstehen und zu interpretieren, dass er gläubigen Muslim*innen eine theoretische Grundlage liefert, um über Traditionen, die mit modernen Werten wie Menschenrechten, Pluralismus und Demokratie nicht vereinbar sind, kritisch zu reflektieren. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass eine falsch verstandene Religion, die für politische Zwecke instrumentalisiert wird, zu einer Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden kann. Die Ausbildung von Imamen muss daher darauf ausgerichtet sein, die europäische Dimension in die theologische Ausbildung zu implementieren.

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7.

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Resümee

Die bisherigen Ausführungen zeigen die starke Verschränkung zwischen der Identitätssuche junger Muslim*innen in Deutschland, dem islamischen Religionsunterricht, der akademischen Ausbildung von Religionslehrkräften für den Religionsunterricht und jener der Theolog*innen sowie den Entwicklungen in den Moscheegemeinden. Vertreter Letzterer sitzen in den konfessionellen Beiräten sowohl des Schulministeriums als auch der Universitäten Münster und Paderborn in NRW und gestalten daher im Hintergrund die Ausrichtung an diesen staatlichen Institutionen mit. Gleichzeitig fehlt diesen Gemeinden meist die notwendige theologische Reflexion, um den Islam in eine moderne Gesellschaft zu bringen. Auf der anderen Seite haben wir muslimische Akademiker*innen, die Theologie als Wissenschaft auffassen. Was bedeutet das genau? Das Medium wissenschaftlicher Praxis sind Diskurse, in denen die Stärke oder Schwäche von Argumenten für oder gegen den jeweils thematisierten Geltungsanspruch gewichtet und die Kriterien der Gewichtung argumentativ ausgehandelt werden. Der Theologie als Wissenschaft geht es demnach um die rationale Validierung, Falsifizierung oder Modifikation von Behauptungen, damit es verantwortbar – hinreichend gerechtfertigt – erscheint, sie zu teilen, zu reformulieren oder zurückzuweisen. Islamische Theologie an der Universität zu betreiben bedeutet, religiöse Überzeugungen und Positionen der diskursiven Überprüfung auszusetzen, um sich fortan in rational gerechtfertigter Weise auf sie beziehen zu können. Wer dies seriös betreibt, muss sich mit aller hinreichend begründeten Kritik an diesen Überzeugungen und Positionen rational auseinandersetzen und diese Positionen nur insoweit für gerechtfertigt halten, als sie dieser Kritik standhalten. Der Warnung des katholischen Theologen Jürgen Werbick vor einer Ideologisierung theologischer Diskurse2 ist daher beizupflichten, denn wer behauptet, dass seine religiösen Überzeugungen nicht propositional seien und man deshalb nicht in die diskursive Überprüfung des Für und Wider eintreten könne, weil man gar nicht wüsste, was es bedeutet, Argumente und Gegenargumente geltend zu machen, zeigt eine Form der Ideologisierung von Glaubensüberzeugungen, die nichts mehr mit dem Diskurs an einer Universität zu tun hat. Wer islamische Theologie betreiben will, muss sich daher diskursiv auf Argumente einlassen. Das endgültige Ergebnis dieser Auseinandersetzung müsste erst am Ende und nicht schon zu Beginn des Reflexionsprozesses stehen. Diskursivität bedeutet aber zugleich, sich auf möglichst viele Argumente, Gegenargumente, Methoden und Disziplinen, die mittel- oder unmittelbar den Reflexionshorizont erweitern können, einzulassen. Das heißt aber auch, dass sich die 2 Vgl. für die folgenden Ausführungen den Beitrag von Jürgen Werbick (Werbick 2012).

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islamische Theologie auf Forschungsergebnisse benachbarter Disziplinen, wie die der christlichen und jüdischen Theologie, aber auch der Islamwissenschaft einzulassen hat. Gerade in diesen wissenschaftlichen Diskursen findet die Ausbildung von islamischen Religionslehrkräften und Theolog*innen, die später auch Imame werden können, statt, und zwar entsprechend akademischen Standards. Und so entstehen Reibungsflächen zwischen diesen akademischen Diskursen und den muslimischen Gemeinden, die zu einer produktiven Weiterentwicklung nicht nur der islamischen Theologie, sondern auch des privaten Glaubens, der in den Moscheegemeinden vermittelt und zum Teil praktiziert wird, führen kann. Die akademische Reflexion des Glaubens kann somit die private Verantwortbarkeit der eigenen religiösen Praxis und deren Entfaltung entsprechend der freiheitlichdemokratischen Grundordnung unserer Gesellschaft fördern. Das Ausfallen solcher Reibungsflächen kann vor allem den islamischen Fundamentalismus fördern, denn dort, wo die Jugendlichen sich mit ihrer Religion identifizieren und für sie einen Schutzraum suchen, aber nur einen dogmatischen statt einem reflektierten Zugang geboten bekommen (vor allem in den sozialen Netzwerken), dort droht die Radikalisierung dieser Jugendlichen.

Literaturverzeichnis Alacacioglu, H. (1999). Außerschulischer Religionsunterricht für muslimische Kinder und Jugendliche türkischer Nationalität in NRW. Eine empirische Studie zu Koranschulen in türkisch-islamischen Gemeinden. Münster: Lit-Verlag. Casanova, J. (2004). Der Ort der Religion im säkularen Europa. Transit – Europäische Revue, 2004, 27, (S. 86–105). Freise, J. (2014). Die Bedeutung der Religionen für Werteorientierung und Zusammenhalt in Europa. In J. Freise & M. Khorchide (Hrsg.), Wertedialog der Religionen (S. 115–134). Freiburg im Breisgau: Herder. Generalbundesanwalt. (2017). Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Informanten der Türkei wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit eingestellt. https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/Presse mitteilung-vom-06-12-2017.html. Zugegriffen: 18. August 2021. Habermas, J. (2001). Der Riss der Sprachlosigkeit. Frankfurter Rundschau, 240. Halm, D., Sauer, M., Schmidt, J., & Stichs, A. (2012). Islamisches Gemeindeleben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Herausgegeben vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). https://www.bmi.bund.de/SharedDoc s/downloads/DE/publikationen/themen/heimat-integration/dik/islamisches-gemeind eleben-in-deutschland.pdf ?__blob=publicationFile&v=2. Zugegriffen: 18. August 2021. Khorchide, M. (2007). Die Bedeutung des Islam für MuslimInnen der zweiten Generation. In H. Weiss (Hrsg.), Leben in zwei Welten. Zur sozialen Integration ausländischer Ju-

Die islamische Theologie an deutschen Universitäten

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Tarek Badawia

»Wer ist bereit, diese ethischen Maximen zu übernehmen!?« Religionsethische Bildung im schulischen Islamunterricht

Zusammenfassung Im vorliegenden Artikel wird ein Beitrag der islamischen Religionspädagogik zur Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit bei muslimischen Schüler*innen an öffentlichen Schulen beschrieben. Den ersten Impuls gibt ein prophetischer Spruch, in welchem es um einige ethische Grundsätze geht, die dem ethischen Handeln aus islamischer Sicht zugrunde liegen. Am verallgemeinerbaren Inhalt dieser Grundsätze wird eine religionsethische Dimension erkannt. Im Unterschied zu einer anderen Kategorie von Aussagen mit konkreten Aufforderungen zur religionspraktischen Normen- bzw. Regelkonformität erweitert der zitierte Spruch die Handlungsperspektive des Individuums um die Dimension der Allgemeinheit in der Gesellschaft bzw. um die des Allgemeinwohls. Die Argumentationslinie setzt an einer bekannten Kritik an der Praxis des Islamunterrichts in öffentlichen Schulen an, wonach in diesem nicht genug Wissen vermittelt werde. Stattdessen – so die Kritik vieler Skeptiker*innen – wird viel geredet und diskutiert. Der Autor greift diese Kritik auf und entgegnet ihr mit dem Verweis auf den Stellenwert von Schlüsselkompetenzen wie Reflexivität, Diskursivität und Rollenübernahme für die Wertebildung und Entwicklung der Fähigkeit zur autonomen Urteilsbildung anhand bildungstheoretischer, entwicklungspsychologischer und theologischer Grundkenntnisse. Abschließend wird anhand der Dilemma-Methode aus der klassischen islamischen Bildung als Beispiel für die Erlernbarkeit von Moral (in Abgrenzung zu herkömmlichen Belehrungsmethoden) illustriert, wie diese religionsethische Praxis gestaltet werden kann.

1.

Problemaufriss

»Wer ist bereit, diese ethischen Maximen zu übernehmen!?« Der Appell ist einer dialogischen Szene zwischen dem Propheten Muhammad und einigen seiner ˙ Gefährten entnommen, in der diese zur Kultivierung einer ethischen Haltung

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ermutigt werden. Entgegen dem heutzutage unter Muslim*innen weitverbreiteten Modus einer belehrenden, ermahnenden Tugendlehre im Sinne der Normenbzw. Regelkonformität erweitert der Ausspruch die Handlungsperspektive des Individuums um die Dimension der Allgemeinheit in der Gesellschaft bzw. um die des Allgemeinwohls. In der Szene richtet sich der Prophet an die versammelten Menschen mit dem Appell, die in weiterer Folge angeführten fünf ethischen Maximen1 zu übernehmen.2 Der arabische Originaltext lässt – religionspädagogisch betrachtet – differenzierte Beschreibungen dieses Appells zu, indem diese pädagogisch-appellative Einladung in drei Schritten konkretisiert wird: Wer erklärt sich bereit, die folgenden fünf religionsethischen Grundsätze anzunehmen, sie persönlich umzusetzen und sie dann anderen beizubringen? Auf die große entgegengebrachte Bereitschaft hin verkündete der Prophet die folgenden fünf ethischen Maximen: 1. Hüte dich vor jeder (verbotenen) Schandtat! Dann bist du der Fromme unter den Menschen. 2. Nimm es wahr und nimm es an, wie Gott dich versorgt! Dann bist du der Reichste! 3. Sei gütig zu deinem Nachbarn! Dann bist du ein wahrhaftig (vertrauensvoller) Gläubiger (muʾmin). 4. Wünsche jedem, was du dir selber wünschst! Dann bist du wahrhaftig ein Gottergebener. 5. Lache niemanden aus! Dies zerstört den Frieden der Herzen untereinander.3 Die prophetische Verkündung steckt den Rahmen dieses programmatischen Beitrags ab, in dem die folgenden Impulse zur religionsethischen Ausrichtung der islamisch-religiösen Bildung an öffentlichen Schulen um die Frage kreisen: Welchen Beitrag soll die religiöse Bildung im Rahmen der allgemeinen Wertebildung an öffentlichen Schulen leisten? Mit der Frage wird im Folgenden an eine wichtige theologisch-systematische Differenzierung angeknüpft, die im angeführten Zitat zum Ausdruck kommt. Die Aussage verweist auf zwei – für die Ethikdebatte bis in die Gegenwart – wichtige Ebenen: die Ebene der konkreten moralischen Norm (z. B. »Das Gebet

1 Im Original lautet der Ausdruck man yaʾhut annı¯ ha¯ʾula¯ʾi al-kalima¯t? (»Wer nimmt diese ˘ ¯ Worte von mir an?«). 2 Und offensichtlich in Anwesenheit von Nichtmuslim*innen, wie man dem Kontext dieser Überlieferung entnehmen kann. 3 Nach Tirmid¯ı (Nr. 2305), Ibn Ma¯g˘a (Nr. 4217), Ahmad (Nr. 8095), Grad: sah¯ıh; vgl. Hadith¯ ˙ ˙ ˙ Enzyklopädie (o. J.). https://www.dorar.net (zugegriffen: 8. Januar 2021);˙ eigene, paraphrasierende Übersetzung des Autors.

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ist für die Gläubigen eine [auf bestimmte Zeiten] festgelegte Vorschrift.«)4 und die Ebene der ethischen Prinzipien (z. B. »Das Verrichten des Gebets dient der Förderung einer inneren ethischen Haltung gegen Schändliches und Verwerfliches.«).5 Die Unterscheidung der beiden Ebenen ist für die folgenden Ausführungen grundlegend. Begrifflich treffen hier zwei Konzepte aufeinander, die jeweils ihre moraltheologische Begründung und Berechtigung haben. Bei dem einen handelt es sich um eine durch religiöse Frömmigkeit motivierte Normenkonformität im Sinne der absoluten Übereinstimmung und Einhaltung von religiös-praktischen bzw. gemeinschaftlich vordefinierten Erwartungen und Normen. Der religionspraktische Verbindlichkeitscharakter solcher Gebote wird theologisch u. a. mit den Konzepten von Gefolgschaft (arab. ittiba¯ʿ), Gehorsam (ta¯ʿa) oder der Verpflichtung zur Umsetzung (iltiza¯m) erklärt.6 Dagegen betont ˙ das zweite Konzept der Orientierung an den ethischen Zielsetzungen der konkreten Gebote (maqa¯sid) die prozessuale Bildung und Entwicklung von Refle˙ xivität (tafakkur) und der Fähigkeiten, moralisch-ethische Urteile auszubilden (malaka ahla¯qiya). ˘ Die im Hadith zitierten ethischen Leitsätze orientieren sich eindeutig am zweiten Konzept und sollen in diesem Beitrag eine religionsethische Richtung vorgeben, die ich für die eigene Arbeit und Profilbildung der islamischen Religionspädagogik (im Folgenden IRP) an öffentlichen Schulen für sinnvoll erachte. Ich gehe zunächst davon aus, dass die Leitsätze – zumindest auf den ersten Blick – selbsterklärend sind. Sie geben einen entscheidenden Impuls aus einer theologisch-ethischen Perspektive für eine universalisierbare ethische Haltung vor. Diese ethische Haltung wird in jedem der Leitsätze mit einer Grundkategorie muslimischer Religiosität (ʿabd, muʾmin, muslim, muhib, g˙any) verbunden. Die ˙ Verbindung beider Ebenen ist für das hier angestrebte Bildungsziel religiöser Bildung sehr wichtig. Im Anschluss an den Theologen und Philosophen Falaturi soll durch diese Verbindung beider Ebenen die Förderung einer »inneren Haltung der Öffnung für die Wahrheit der Anderen« (Falaturi 2017, S. 473) erzielt werden. Beide Konzepte werden als gleichwertig und für die religiöse Entwicklung relevant betrachtet. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der schulische Religionsunterricht auf der verfassungsrechtlichen Grundlage nach Art. 7 Abs. 3 4 Vgl. Koran 4:103 zum Pflichtcharakter des rituellen Gebets als religiöses Gebot. Dies wird in der Aussage zwar nicht erwähnt, aber an dieser Stelle als Gegenbeispiel zur Klärung der ethischen Qualität der hier genannten Leitsätze genannt. Alle Koranübersetzungen in diesem Beitrag stammen aus Paret (2014). 5 Vgl. Koran 29:45 zur (sozial-)ethischen Begründung und Sinnhaftigkeit des täglichen rituellen Gebets. 6 Das ist lediglich der formale Charakter dieser Verbindlichkeitskonzepte. Ob und aus welchem Motiv eine Person diese praktiziert und einhält, wird damit nicht angesprochen.

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GG angeboten wird, stellt sich einerseits die Was-Frage nach den Inhalten, die im Einklang mit dem GG vermittelt werden können.7 Andererseits interessiert fachdidaktisch die Frage, ob und wie die genannten ethischen Grundsätze im Rahmen des IRU gelernt werden können. Im schulischen Kontext gehe ich – auch im Zusammenhang mit religiöser Bildung – von der Erlernbarkeit (nicht primär der Lehrbarkeit) von Moral (ahla¯q) aus. Es soll im Folgenden schrittweise be˘ gründet werden, dass Schlüsselkompetenzen wie Reflexivität, Diskursivität und Rollenübernahme für die Wertebildung und Entwicklung einer Fähigkeit zur autonomen Urteilsbildung im Rahmen religiöser Bildung an öffentlichen Schulen unverzichtbar sind (vgl. Badawia 2018, S. 249f.). Das kann religiöse Bildung für junge Muslim*innen an öffentlichen Schulen leisten und nicht die – in manchen muslimischen Kreisen sozial gewünschte – Frömmigkeit oder die Anhäufung von Wissen.

2.

»Im IRU wird nur geredet!«

Wer im Handlungsfeld des IRU arbeitet und seine Beobachtungen macht, kennt die folgende Problemanzeige (v. a. durch Eltern oder Verbandsvertretungen). Es ist inzwischen fast zu einer dauerhaften Krise der Ansprüche und (unrealistischen) Erwartungen geworden, bei der die Fachvertreter*innen des IRU und Islamlehrkräfte an staatlichen Schulen u. a. mit dem Vorwurf konfrontiert werden, dass »die Kinder bei euch im Unterricht kein religiöses Wissen erwerben, sie bekommen nicht gezeigt, was hala¯l und hara¯m ist; im schulischen IRU wird ˙ ˙ nur geredet!«8 Der Erfolg des IRU wird überwiegend an den Kriterien der erlernten Disziplin und an der Menge des erworbenen Wissens über »den« Islam gemessen und bewertet (vgl. Badawia 2012; Khalfaoui 2010; Mohagheghi 2010). Ich will diesen Vorwurf nicht inhaltlich diskutieren, weil mir dies nicht zielführend erscheint, v. a. weil er sehr stark emotional besetzt ist. Aber ich räume ihm – im Sinne des genannten vierten Leitsatzes – bewusst seine Berechtigung ein – eine Perspektive, die ich mir folgerichtig auch von den Fachvertreter*innen wünsche. Dieser Vorwurf muss meines Erachtens aufgearbeitet werden und darf nicht als unberechtigte Beschwerde von »nörgelnden« Eltern, denen man es nie recht machen kann, abgewiesen werden. Er muss aufgeklärt werden, damit zwischen beiden Angeboten religiöser Bildung inner- und außerhalb der Schule 7 Die Debatte über die Grenzen des IRU begleitete die erste Entstehungsphase dieses Vorhabens vor gut einem Jahrzehnt (vgl. hierzu exemplarisch Dietrich 2011, S. 125–135). 8 Diese von mir paraphrasierte und noch härtere Positionen werden Fachvertreter*innen und Islamlehrkräften in vielen Kontexten der politischen Verhandlungen um den IRU, aber auch bei der religionspädagogischen Aufklärungsarbeit über Konzept und Arbeitsweise religiöser Bildung an öffentlichen Schulen entgegengebracht.

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eine gewisse Kontinuität mit einem besseren Ertrag für die jungen Muslim*innen zustande kommen kann. Ich fasse diesen Vorwurf im positiven Sinne als Appell an die Fachleute auf, zu klären, wie religiöse Bildung an staatlichen Schulen funktioniert. Bevor dies im Folgenden erläutert wird, sei zunächst anhand des Vorwurfs »Es wird bei euch nur geredet!« – die gute Intention vorausgesetzt – der gravierende Dissens der Erziehungs- und Bildungsansprüche zwischen schulischem IRU und außerschulischer religiöser Unterweisung festgehalten. An diesem Dissens stellt sich nach den bisherigen bildungspolitischen und religionspädagogischen Erfahrungen im IRU doch noch die Frage nach dem formalen Ziel religiöser Bildung an öffentlichen Schulen, die ich in Anlehnung an den theologischen Ethikansatz von Nekroumi (2018) wie folgt beantworten will: Die Entsendung des Propheten diente nicht nur der Vervollständigung der damals geltenden Tugenden, sondern bezweckte vielmehr die Ausbildung eines ethischen Selbst, was zu den notwendigen Zielen der ˇsarı¯′a gehört (vgl. Nekroumi 2018, S. 10). Dieses Ziel ist angesichts der zunehmend komplexeren ethischen Herausforderungen und Unübersichtlichkeiten des Alltags nur im Medium einer reflexiven Diskursivität erreichbar (vgl. exemplarisch Gutzwiller-Helfenfinger 2010, S. 199f.; Heidrink 2008, S. 98ff.; Lind 2009, S. 61ff.; Kenngott 2012, S. 145ff.). Es erfordert Wissen und Fähigkeiten, von denen uns vermutlich ein Teil im Laufe der primären Sozialisation auf den Weg gegeben wird, die wir aber im Laufe eines lebenslangen Lernprozesses vervollkommnen und erweitern müssen. Im IRU wird also nicht »nur geredet«, sondern es wird gefragt, diskutiert, argumentiert, analysiert und Position bezogen (vgl. unter Stichwort »Kompetenz« im Abschnitt »Wer ist gebildet?«).

2.1

Der autonome, kompetente Heranwachsende

Zum besseren Verständnis des gesamten institutionellen Rahmens der schulischen Bildung ist ein kurzer Blick auf den Diskurs über die ethisch-moralische Erziehung in der öffentlichen Bildung sehr hilfreich. Dieser Diskurs wird – wie die Bildungsforscher*innen Benner und Nikolova (2016) ihn historisch rekonstruieren – unter einem zentralen reformpädagogischen Grundsatz geführt, nämlich dem der »Autonomie des Kindes«. Dieser besagt, »dass in modernen Gesellschaften die disziplinierende Unterwerfung von Kindern unter gesellschaftliche Regeln und die Vergesellschaftung der Einzelnen in Akte einer Selbstgesetzgebung eingebettet sind, welche Heranwachsenden schon früh abverlangen, aus Einsicht und begründeten Urteilen moralisch zu handeln« (Benner & Nikolova 2016, S. 16). Der entscheidende Hinweis betrifft meines Erachtens den Aspekt des Handelns aus Einsicht und aufbauend auf begrün-

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deten Urteilen. Exemplarisch9 lässt sich hier Émile Durkheim zitieren, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts diesen zentralen Gedanken prägte: »Um moralisch zu handeln [… müssen wir uns] der Gründe unseres Handelns bewußt sein, und zwar so deutlich und vollständig wie möglich. Dieses Bewußtsein vermittelt unserer Handlung jene Autonomie, die das öffentliche Bewußtsein von nun an von jedem wirklich und völlig moralischen Wesen verlangt. Wir können sagen, daß das dritte Element der Moral10 die Einsicht der Moral ist. Die Moralität besteht nicht mehr einfach daraus, gewisse bestimmte Handlungen bewußt zu vollbringen; die Regel, die diese Handlung vorschreibt, muß auch frei gewollt sein, d. h. frei angenommen, und diese freie Annahme ist nichts anderes, als eine aufgeklärte Annahme […] Die Intelligenz ist ein Moment der Moralität geworden und wird es immer mehr […]. Das erklärt den Platz, den wir der Moralerziehung in unseren Schulen zuweisen. Denn die Moral lehren, heißt nicht, sie predigen und eintrichtern: es heißt, sie erklären.« (Durkheim 1984, S. 164f.)

Mit Durkheim wird hier beispielhaft eine Stimme zitiert, die die Notwendigkeit einer zu Einsicht und Reflexion befähigenden Moralerziehung im staatlichen Bildungssystem (im westeuropäischen Raum) begründet. Als Fachvertreter, politischer Mitgestalter und Beobachter des IRU stellt man fest, dass solche institutionellen Rahmenbedingungen, die selbstverständlich auch für das neue Fach IRU gelten, im Diskurs der Erwartungen (v. a. aufseiten der muslimischen Eltern und Vertretungen) untergehen. Daher ist, denke ich, die Zeit reif, dass sich die junge Disziplin der IRP im europäischen Kontext aus dem Dilemma der fremdbestimmten Erwartungen emanzipiert und aus eigenen fachlichen Ressourcen und Begegnungen mit der Tradition das eigene Profil bzw. mehrere Fachprofile entwickelt und schärft. Der Plural ist bewusst gewählt, weil es nach den bisherigen Konzeptions-, Implementierungs- und Aufbauphasen sicherlich mehr als nur einen religionspädagogischen Ansatz der IRP geben kann und soll.

3.

Wer ist gebildet?

Der eingangs zitierte Hadith trifft nun in der Praxis auf den genannten Vorwurf. Wir haben es konzeptionell mit zwei unterschiedlichen Akzentsetzungen und Ausrichtungen zu tun, deren Verhältnis zueinander im Kontext öffentlicher Schulen bestimmt werden soll. Aus den zwei Aussagen »Wer ist bereit, diese ethischen Maximen zu übernehmen!?« und (etwas zugespitzt formuliert) »Im 9 Zum historischen Verhältnis von Demokratie, Bildung und Schule im europäischen Kontext vgl. Osterwalder (2011). 10 Die davor genannten Elemente sind 1) die disziplinierende Unterwerfung der Kinder unter die Regeln der gesellschaftlichen Ordnung und 2) der Anschluss jedes Einzelnen an die soziale Gruppe.

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IRU wird nur geredet, aber nichts gelernt!« ergibt sich das Spannungsfeld von religiöser Bildungstradition und schulischen Anforderungen der Gegenwart. Beiden Aussagen – und das ist der Diskussionsfokus in diesem Beitrag – liegen zwei kategorisch unterschiedliche Auffassungen von religiöser Bildung zugrunde, die sich zwar außerhalb der staatlichen Schule nicht ausschließen mögen, aber innerhalb der schulischen Bildungsarbeit zueinander in ein neues Bestimmungsverhältnis eintreten sollen bzw. können. In Anlehnung an Klafkis Theorie der kategorialen Bildung (1958) möchte ich zu diesem Dissens die berechtigte Frage formulieren: Wer ist eigentlich (religiös) gebildet? Derjenige, der sich nahezu enzyklopädisches Wissen angeeignet hat, oder derjenige, der sich das Handwerkzeug des Lernens bzw. der Urteilsbildung erarbeitet hat und mit dieser erworbenen Fähigkeit (Ressource oder Kompetenz) andere Lernsituationen besser bewältigen und meistern kann? Die Frage ist der islamischen Bildungstradition sicherlich nicht fremd. Der Koran ist unmissverständlich in seiner Kritik an denjenigen, die über Wissen verfügen, aber nicht dementsprechend handeln (vgl. u. a. Koran 2:204, 4:81, 7:176, 61:2). In seinem Traktat »O Kind!« spricht der Bildungstheologe und Philosoph al-G˙azza¯lı¯ (gest. 1111) das Thema an und argumentiert, dass Wissen ohne Handeln Torheit und Handeln ohne Wissen undenkbar sei (vgl. al-Gaza¯lı¯ 2003, S. 9). Indizien für die unabdingbare Verknüpfung beider Kategorien sind in der islamischen Bildungslehre reichlich vorhanden und können an dieser Stelle nicht im Einzelnen referiert werden. Hier geht es um die Frage nach dem Kern der Bildungsaufgabe und folglich nach dem Grundverständnis von Moralerziehung und ethischer Bildung. Die allgemeine Klafki’sche Frage nach dem Spannungsverhältnis von Wissen und Handeln, die alle Fächer betrifft, ließe sich für den IRU wie folgt spezifizieren: Geht es um eine materielle Werteübertragung und Weitergabe von tradierten Werte- und Normvorstellungen11 oder soll es nicht vielmehr darum gehen, die Schüler*innen zur selbstständigen moralischen Urteilsbildung und Wertekommunikation in einer demokratischen und weltanschaulich pluralen Gesellschaft zu befähigen? Man muss gestehen, dass die Rede von einem »Entweder-oder« eigentlich falsch ist und die Debatte um die angestrebte konstruktive Verhältnisbestimmung beider Kategorien verzerrt. Denn ohne Wertevermittlung kann keine Kompetenzbildung stattfinden, und eine kommunikative und diskursive IRU kann nicht ohne religiöses Grundwissen arbeiten. Aber in der Praxis sieht es so aus, als würde es vielen muslimischen Eltern nur darum gehen, dass ihre Kinder so viele Informationen über den Islam und so viel aus den 11 Ich spreche hier bewusst von Vorstellungen und will damit deutlich machen, dass in den ethnisch, kulturell, traditionell und sogar regional geprägten Vorstellungen von Sitte und Moral Abweichungen vom Ursprünglichen zu beobachten sind.

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heiligen Schriften wie möglich nach Hause mitbringen (vgl. Badawia 2012; Ucar 2011; Uslucan 2011). Die gültigen Lehrpläne für den IRU – so der Religionspädagoge Harry Behr – »lassen kaum Zweifel daran, dass die Deutung von Welt und die Herstellung von Sinn zu seinen Zielkoordinaten gehören, und zwar im Sinne der Kompetenzen muslimischer Schülerinnen und Schüler. Sie müssen einüben können, was dazugehört, zum Beispiel den selbstverantworteten Umgang mit Quellen. Sie sind, was ihre religiösen Entscheidungen angeht, autonome Subjekte. Sie haben das Recht, ihren Standpunkt im Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz zum Islam als Unterrichtsgegenstand selbst zu bestimmen. An diesem Punkt muss immer wieder daran erinnert werden, dass es in der Schule weder darum geht, die Versäumnisse häuslicher religiöser Sozialisation aufzufangen, noch den muslimischen Gemeinden etwas wegzunehmen« (Behr 2012, S. 7f.). Gegenüber dem genannten Klafki’schen Ansatz der kategorialen Bildung spricht Harry Behr den Ansatz der Kompetenzorientierung an, der seit der Jahrtausendwende die schulische Bildungslandschaft prägt. Nach Franz Weinert sind Kompetenzen »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert 2001, S. 27). Kompetenz ist nach diesem Verständnis eine Disposition, die Personen befähigt, bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen, also konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen (vgl. Willems 2015, S. 20). Die Weinert’sche Definition schließt also Aspekte wie Wissen, Verstehen, Können, Handeln und Erfahrung ein und berücksichtigt bei der situativen Nutzung von Problemlösungen auch emotionale, soziale und willensbezogene Kompetenzen.

4.

Moralentwicklung zwischen Lehr- und Lernbarkeit – ein entwicklungspsychologischer Exkurs

Vor dem Hintergrund der bisher dargestellten Aspekte wird an dieser Stelle ein Perspektivenwechsel vorgenommen. Ich verlasse für einen Augenblick das Handlungsfeld der IRP und erlaube mir einen kurzen Exkurs in die Entwicklungs- bzw. Moralpsychologie mit der Absicht, die Grundidee der Erlernbarkeit von Moral als Kompetenz etwas näher zu beleuchten. Ich rücke hier von der religiös motivierten Haltung der Lehrbarkeit von Moral ab und suche in der Entwicklungspsychologie nach Erkenntnissen, wie sich – objektiv betrachtet – die moralische Kompetenz entwickelt. Einen Zugang hierzu kann die Theorie des

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Moralpsychologen Jean Piaget (1896–1980) verschaffen. Deren Stufen der kognitiven Entwicklung beschreiben nicht nur einen lebenszeitlichen Entwicklungsverlauf, sondern zeigen zugleich Strukturen aktueller Denkprozesse auf. Das bedeutet, dass mit den Stufen der Denkentwicklung immer auch die Schritte des Erkennens deutlich gemacht werden können (vgl. Piaget 1973, S. 288). Ein zentraler Begriff in diesem kognitiven Entwicklungsprozess lautet Dezentralisierung, und zwar im Zusammenhang mit dem egozentrischen Sprechen des Kindes. Die Überwindung des egozentrischen Sprechens erfolgt nach Piaget durch den Austausch mit anderen und vollzieht sich in einem Prozess der für die moralische Entwicklung wichtigen Dezentralisierung. Ihre Grundlage ist das anschauliche Denken (viertes bis ca. achtes Lebensjahr), das noch ganz von dem frühkindlichen Egozentrismus beherrscht ist und eine Wirklichkeitsauffassung zeigt, in der das Kind unbewusst die Wirklichkeit dadurch entstellt, dass es – so Piaget – »den eigenen Standpunkt von dem der anderen nicht unterscheidet, und zwar, weil ihm die Koordinierung der Standpunkte fehlt« (Piaget 1971, S. 181). Aufgrund eines noch fehlenden Regelbewusstseins in dieser Phase ist das kindliche Denken »einseitig« und an die konkrete Situation des Augenblicks gebunden. Das Kind weiß demnach noch gar nicht, dass es die Dinge von einem Standpunkt aus betrachtet und dass sie von einem anderen Standpunkt aus anders erscheinen. Es nimmt seine Sichtweise als einzig mögliche an oder genauer: Weil es nicht weiß, dass es sich um eine Sichtweise handelt, ist sie für das Kind die einzig mögliche. Mit »entstellen« will Piaget sagen, dass das Vorstellungsbild des Kindes dadurch Verzerrungen aufweist, dass es nicht auf einen spezifischen Standort der Betrachtung bezogen wird und sozusagen absolute Gültigkeit hat. Das »Entstellen« geschieht unbewusst. Die Logik ist nicht beteiligt. Entstellen heißt, dass ein Kind unter Umständen den gleichen Sachverhalt höchst unterschiedlich beurteilt, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein, weil die augenblicklichen Eindrücke alle Aussagen beherrschen. Mit der Dezentrierung wird dieses anschauliche Denken verlassen und der frühkindliche Egozentrismus überwunden. Dem Kind erschließen sich neue Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, seine Vorstellungen bekommen einen inneren Zusammenhang und gewinnen logische Züge und somit auch eine Weisungsfunktion im praktischen Handeln. Die Bewusstheit eines Standpunkts hängt aufs Engste mit dem Vollzug der Koordination unterschiedlicher Standpunkte zusammen. Diese müssen aufeinander bezogen werden, sonst wären sie nicht verschiedene Standpunkte zu ein- und derselben Sache. Sie sind keine beliebige Aneinanderreihung von Eindrücken und Auffassungen, sondern unterschiedliche Auffassungen zu einer bestimmten Sache, aus denen die Herausforderung erwächst, nach Gemeinsamkeiten zu fragen. Bewusstsein des eigenen Standpunkts und Koordinierung der Standpunkte anderer sind die beiden Seiten derselben Medaille. Im Vollzug der Koordinierung

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kommt zunehmend die Eigengesetzlichkeit eines Sachverhalts zum Vorschein. Die Erkenntnis, dass es andere Standpunkte mit anderen Perspektiven gibt, setzt voraus, dass die beteiligten Personen sich auf eine gemeinsame Sache beziehen. Die Überwindung des Egozentrismus geschieht wohl am auffälligsten in der Sprachentwicklung. Standort, Perspektive und objektive Eigenständigkeit werden in einem konstruktiven Zusammenhang begriffen (vgl. Piaget 1971, S. 185). Im Bewusstwerden des Standorts bildet sich zugleich das Selbstbewusstsein aus, das sich insbesondere in der Fähigkeit zur argumentativen Stellungnahme zeigt. Das Bewusstsein des Standorts ist immer mit dem Bewusstsein der unterschiedlichen Perspektiven verbunden. Die Entwicklung dieses Bewusstseins setzt immer Kommunikationsprozesse voraus. Nur dadurch, dass das Kind sich mit anderen unterhält und sich mit ihnen verständigt, in den unterschiedlichsten Situationen, tagtäglich und bei allen möglichen Gelegenheiten, erfährt es, dass es andere Auffassungen gibt. Das Kind wird – im positiven Sinne – genötigt, sich darauf einzulassen, und es wird genötigt, sich mit anderen abzustimmen und unterschiedliche Auffassungen unter einen Hut zu bringen, sie zu »koordinieren«. Die erfahrenen Differenzen machen zunehmend die eigene Individuallage bewusst. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass es nicht genügt, lediglich Differenzen zu erleben und Unterschiede zu registrieren. Entscheidend ist allein die Notwendigkeit, sich im Hinblick auf eine Sache verständigen zu müssen und zu wollen. Denn nur daraus ergeben sich sie Koordinierungsprozesse, die der Motor der Entwicklung sind. Die Fähigkeit zu solchen Konstruktionen entsteht nun nicht spontan und ist nicht eines Tages in der Entwicklung des Kindes da, sondern entwickelt sich in vielfältigen Kommunikationsprozessen, die z. B. im Rahmen religiöser Bildung im IRU arrangiert werden können und sollen. In der Theorie des symbolischen Interaktionismus von G. H. Mead (1863– 1931) wird das Entstehen eines besonnenen Verhaltens aus einem anderen Blickwinkel beschrieben, in dem die Dezentrierung eine wichtige Funktion bekommt. Der Prozess der Ablösung des Egozentrismus wird als Aufgabe der innermenschlichen Entwicklung dargestellt, die erst im kommunikativen Austausch entsteht. Der innere Dialog und die Bedingungen für diesen Dialog treten ins Zentrum der Überlegungen. Das Standortbewusstsein legt den Grundstein für die Identitätsentwicklung, und die dazugehörige Erkenntnis von Perspektiven wird zur Möglichkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen (vgl. Mead 1983, S. 200–205). Die Dezentralisierung gibt in diesem Kontext wichtige Hinweise darauf, was die kognitive Dimension der Moral ausmacht und wie ihre Erlernbarkeit überhaupt verstanden werden kann. Für den Heranwachsenden ist das im positiven Sinne immer ein inneres Drama der Selbstverortung im Dialog, das sich im Prozess der Rollenübernahme abspielt. In diesem Prozess identifiziert sich das Kind mit der Meinung seiner »bedeutungsvollen Anderen« und entwickelt durch deren Reaktion zunehmend ein Bewusstsein für sich selbst. In diesem

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Wechselprozess von Sich-Identifizieren und Identifiziert-Werden durch andere bildet sich das (moralische) Selbst des Kindes aus, seine Identität. Indem das Kind sich mit den Augen der anderen zu sehen beginnt, beginnt auch der Prozess der bewussten Steuerung des eigenen Verhaltens. Die Rollenübernahme ist daher kein bloßer Anpassungsprozess, sondern schließt immer eigenes Stellungnehmen ein (vgl. Kenngott 2012, S. 39–43). Das Individuum kommuniziert relativ kontinuierlich mit sich selbst, während es seine Rolle spielt. Es muss wissen oder herauszufinden versuchen, was sein Teil der Situation ist oder sein sollte. Das bedingt Selbstidentifikationen im Sinne der besonderen Reaktionen, die hervorgerufen oder unterdrückt werden (vgl. Lindesmith & Strauss 1994, S. 66). In den für ein bestimmtes Alter typischen Rollenspielen wird dies zudem spielerisch durchprobiert. In solchen Rollenspielen kann sich das Kind bestimmten Rollenerwartungen verweigern und lernen, Nein zu sagen. Dieses Neinsagen ist eine erste emotionale Form der Selbstbehauptung, die zunächst ganz auf den intuitivemotionalen Bereich beschränkt bleibt, sich aber im Verlauf der Entwicklung zu einer reflektierten Position mit eigener Stellungnahme entwickeln kann. Für die Theorie des symbolischen Interaktionismus sind solche dialogischen Prozesse auch deshalb von großer Bedeutung, weil in solchen Interaktionen die Verhaltensregeln bzw. Anstandsregeln von den primären Bezugspersonen abgelöst werden und es dadurch zur Konzipierung des »allgemeinen Anderen« kommt. Das Kind erhält zwar in der primären Sozialisation seine spezifische, kulturell bedingte Prägung, aber es entwickelt in einem offenen Kommunikationsprozess – ohne Angst vor Sanktionen – die Fähigkeit, sich selbst zu steuern. Hierzu hilft die Einbindung des Kindes in eine Gruppe. Denn dies bedeutet über das emotional positive Gefühl der Zugehörigkeit auch die Verstrickung in ein Kommunikationssystem, in dem mit der Identifikation mit der allgemeinen Meinung zugleich die Selbstidentifikation stattfindet. Ein weiteres wichtiges Modell in diesem Zusammenhang ist der »herrschaftsfreie Diskurs« oder die »ideale Sprechsituation« im Sinne von Jürgen Habermas (1995). Aufbauend auf die Theorien Piagets und Meads verwendet der zeitgenössische Philosoph Jürgen Habermas in Wahrheit und Rechtfertigung ebenfalls den Begriff der Dezentrierung, und zwar zur Kennzeichnung des sich in Rede und Gegenrede vollziehenden Verständigungsprozesses. »Im Diskurs soll sich eine Weltansicht am Widerspruch der anderen abarbeiten, daß sich mit fortschreitender Dezentrierung der je eigenen Perspektive die Sinnhorizonte aller Beteiligten erweitern.« (Habermas 1999, S. 73)

Nach Habermas sollte eine ideale Sprechsituation systematische Verzerrungen der Kommunikation ausschließen: »Und zwar erzeugt die Kommunikationsstruktur nur dann keine Zwänge, wenn für alle Diskursteilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuführen, ge-

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geben ist. […] Ideale Sprechsituationen müssen zunächst zwei triviale Bedingungen erfüllen: 1. Alle potenziellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chance haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, sodass sie jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können. 2. Alle Diskursteilnehmer müssen die gleiche Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, sodass keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt« (Habermas 1995, S. 177). Habermas geht es bei einer solchen »idealen Sprechsituation« nicht um die Konstruktion eines Ideals, sondern um das kommunikative Handeln und die in ihm angelegten Implikationen. Als Fazit dieses kurzen Exkurses lässt sich der folgende Kerngedanke festhalten: Die Fähigkeit, »sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, ist ein wichtiger, wenn nicht der entscheidende Impuls für moralisches Handeln« (Kenngott 2012, S. 16). Wie die exemplarisch gewählten Theorieansätze deutlich machen, hängt die Entwicklung und Entfaltung dieser Fähigkeit davon ab, wie weit bzw. in welcher Hinsicht Urteilende den sozialen Kontext in den Lernprozess einbeziehen. Übertragen auf den IRU an öffentlichen Schulen, gibt es zu deren am »Prinzip der Demokratie« (Triki 2009) orientierten Bildungsprozessen meines Erachtens keine Alternative.

4.1

Das Gemeinwohl als Leitkategorie ethischen Denkens und Handelns

Die bisherige Argumentationslinie ging aus vom prophetischen Appell zur Übernahme ethischer Maximen über den Gegenwartsbezug zum Etablierungsdiskurs der IRP und führte dann zu einem Exkurs zur entwicklungs- und moralpsychologischen Begründung der Fähigkeit des Menschen, moralische Urteile zu bilden. Wenn man nun vom gesellschaftlichen Phänomen der Pluralität kultureller, religiöser und weltanschaulicher Orientierungen in einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung ausgeht, stellt sich für eine religionsethisch orientierte IRP, wie sie hier vertreten wird, die Frage nach dem Maßstab in dem (unvermeidbaren) Fall, dass in konkreten Alltagssituationen vor allem im Bildungssektor divergente Normen und abweichende moralische Prinzipien aufeinandertreffen und miteinander kollidieren. Nach welchen übergeordneten Prinzipien können und sollen junge Muslim*innen als zukünftige Bürger*innen dieser Zivilgesellschaft ihre Entscheidungen treffen? Gibt es für die islamisch-religionsethische Ausrichtung theologische Leitkategorien?

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Begrifflich ist die Moralerziehung in der Offenbarungslehre hauptsächlich in den zwei zentralen Schlüsselkonzepten ahla¯q (Charaktereigenschaften) und ˘ adab (Benehmen) verankert, die hauptsächlich im Rahmen der primären Sozialisation verortet werden. Eine personenbezogene Lehre zur persönlichen Disziplinierung und bewussten Lebensführung nach Regeln der islamischen Spiritualität findet sich unter dem Konzept der tazkiyya (Selbstbildung). Eine sozial-kommunikative und gesellschaftsorientierte Morallehre hat sich – so der ˘ a¯birı¯ (2001) – aufgrund der starken Domimarokkanische Sozialphilosoph al-G nanz der rechtstheoretischen Theoriebildung in der islamischen Wissenstradi˘ a¯birı¯ tion über die Jahrhunderte kaum herauskristallisieren können (vgl. al-G 2001, S. 105–110). In seiner wegweisenden Studie zur Rekonstruktion der »mo˘ a¯birı¯ diskursanalytisch ralisch-ethischen Vernunft Arabiens« rekonstruiert al-G die Entwicklungslinie moralisch-ethischer Denkstrukturen der islamischen Tradition: Was ist die theologisch-ethische Kernkategorie des Islams im Vergleich zu griechisch, persisch, mystisch und arabisch geprägten Morallehren? Die aus seiner umfangreichen Literaturanalyse abgeleitete Antwort lautet: das »rechte Handeln« (al-ʿamal as-sa¯lih) auf den Ebenen von Individuum und Ge˙˙ ˙ sellschaft. Bezogen auf die sozialethische Dimension lässt sich diese Kernkategorie als »Ethik des Gemeinwohls« (ahla¯q al-maslaha) (ebd., S. 595–596) be˙ ˙ ˘ zeichnen. Die Kategorie des »rechten Handelns« bzw. des »Wohltuns« stellt einen Impetus dar, der nach islamischer Vorstellung – in Anlehnung an den folgenden Vers – überkonfessioneller Natur ist und die Lehren aller Propheten durchzieht: »Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören, die Christen und die Sabier, (alle) die, die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu, und sie brauchen keine Angst zu haben, und sie werden nicht traurig sein.« (Koran 2:62)

Zur etwas näheren Erläuterung dieser Leitkategorie sei in aller gebotenen Kürze auf den Ansatz des Moraltheologen al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m (1182–1262) verwiesen, der in seinem für die Theorieentwicklung einer islamischen Ethik inspirierenden Werk Qawaʿid al-ahka¯m fı¯ masa¯lih al-ana¯m (»Allgemeine Maxime ˙ ˙ ˙ zum Allgemeinwohl der Menschen«) bereits im 12. Jahrhundert die religiös motivierte Einhaltung von Geboten in ein religionsethisches Reflexionsverhältnis gesetzt hat. Das Werk lässt sich in einen Theoriediskurs der islamischen Theologie über die »Allgemeinen Zielsetzungen und Prinzipien der Scharia« (maqa¯sid asˇ-sˇarı¯ʿa) einordnen. Die Orientierung an allgemeinen Prinzipien und ˙ Zielsetzungen (der Maqa¯sid-Theorie) sieht sich mit Gegebenheiten der Lebens˙ welt konfrontiert und bemüht sich um Perspektiverweiterung über die herkömmlichen Lesarten der klassischen Rechtsschulen hinaus. Im Vergleich zu der »Was-Frage« nach den konkreten Geboten, praxisbezogenen Urteilen (Was soll ich tun? – ahka¯m fiqhiyya) und der »Warum-Frage« nach dem Begründungs˙

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muster und Ableitungsregeln der konkreten Urteile (usu¯l-al-fiqh) eröffnet die ˙ »Wozu-Frage« die Perspektive für die Wahrnehmung, Analyse und eine persönliche, vernunftgeleitete Urteilsbildung gemäß der Kategorie des Gemeinwohls (maslaha). ˙ ˙ In diesem Werk baute al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m anhand von 24 allgemeinen Prinzipien eine Systematik auf, in deren Zentrum die Kernkategorie des Gemeinwohls steht. Alles, so schreibt er, was Gott in seiner Offenbarung an Geboten vorgeschrieben hat, dient einem einzigen Ziel, nämlich dem, »das Gute für den Menschen zu erzielen und das Üble von ihm abzuwenden« (vgl. al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m, Bd. 1, S. 4). Das Gute ist nach der islamischen Glaubenslehre in zwei Dimensionen aufzuteilen: eine diesseitige und eine jenseitige Dimension. Zum Guten im Jenseits kann der Mensch nach al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m allein durch die Offenbarung gelangen. Das Gute für den Einzelnen ist in der ersten Dimension gleichbedeutend mit dem Heil des Einzelnen im Reich Gottes (masa¯lih al-a¯hira). Für das ˙ ˙ ˘ Diesseits dagegen, d. h. für das Erkennen von Gut und Übel im zwischenmenschlichen Umgang (masa¯lih al-ʿiba¯d) gelten die Quellen der Vernunft, der ˙ ˙ Erfahrung, der Lebensklugheit und der sachangemessenen Abwägung (ebd., Bd. 1, S. 8). Er geht in allen Alltagserfahrungen und Entscheidungssituationen von dem Grundsatz aus, dass es im Alltagshandeln – im Unterschied zu den religiösen Gewissheiten – »weder ein absolut Gutes noch ein absolut Übles« gibt (ebd., S. 5). Alles unterliegt der Abwägungsvernunft, und nur der einzelne Mensch kann für sich und seine Lebenssituation entscheiden, wie er seine Entscheidung nach dem Maslaha-Prinzip fällt. Es ist bemerkenswert, dass sich al˙ ˙ ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m bereits damals der Methode des »moralischen Dilemmas« (intuitiv) bedient hat. Bei der Erklärung der »Regel zum Aufeinandertreffen zweier Übel« beschreibt er die Regel an 70 Beispielen. Unter anderem verweist er auf das folgende (negative) Dilemma der Seenotrettung: Ein vollbesetztes Boot gerät in Seenot. Der Kapitän stellt fest, dass die Rettung des Boots und möglichst vieler Personen nur gelingen kann, wenn ein Teil der Last geopfert wird. Wie soll man vorgehen? Das Dilemma – wie es nach al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m im islamischen Kontext vermittelt wird – wird durch zwei Zusatzinformationen erläutert: 1) Ein theologisches Gebot lautet: »Keiner darf vorsätzlich in den Tod gestürzt werden«, auch nicht im Wege eines Losverfahrens, weil alle Menschen gleich sind, weswegen der Kapitän das Wohl aller gewährleisten muss; 2) der Mensch ist verpflichtet, sein Handeln an der bestmöglichen Lösung innerhalb seines Handlungsspielraums auszurichten. D. h., für das, was außerhalb des eigenen Vermögens liegt, trägt der Mensch keine moralische Verantwortung. Al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m verweist weiters darauf, dass, bevor man über Menschenleben spricht, alles andere (Gegenstände, Monetäres, Tiere etc.) geopfert werden sollte,

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weil es den geringeren Verlust darstellt. Das Wohl des Menschen und der Schutz seines Lebens sind für ihn zwei von der Scharia geschützte Güter, die es um jeden Preis zu wahren gilt (vgl. ebd., 1. Bd., S. 81). Ich belasse es an der Stelle bei diesem kurzen Verweis auf diesen Ansatz ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit und halte den folgenden religionspädagogisch relevanten Gedanken fest: Mit al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m wird deutlich, dass Moral lernbar ist. Man kann moralische Werte und Prinzipien aufstellen und man kann diese lehren wie mathematische Lehrsätze. Die Fähigkeit, ihnen gemäß zu leben, d. h. sie bei der Lösung alltäglicher Probleme anzuwenden, und auch unter schwierigen Bedingungen konsistent und differenziert moralisch zu urteilen, lässt sich hingegen nicht lehren. Diese Fähigkeit kann nur durch eigene Praxis angeregt und gefördert werden. Al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m vollzieht in seinem Werk den notwendigen Perspektivenwechsel, indem er nicht die bereits bekannten und jedem zugänglichen Werte und Normen auflistet und »predigt«, sondern religionspädagogisch den Leser*innen dabei hilft, die Fähigkeit zur Anwendung von Prinzipien selbst zu entwickeln. Der Ansatz ist sicherlich methodisch noch ausbaufähig, aber er ist auf jeden Fall mit dem heutigen Diskurs der Moralerziehung kompatibel und anschlussfähig.

5.

Fazit

Die IRP befindet sich zwar seit gut einem Jahrzehnt in einer Konstituierungsphase und hat noch mit widrigen institutionellen Umständen zu tun, aber sie verfügt inzwischen über reichlich Praxiserfahrung, um im Aushandlungsprozess von diversen Erwartungen mutige Schritte zur eigenen fachlichen Autonomie wagen zu können. Aus der Fachlogik heraus ging die Diskussion in diesem Beitrag von einem prophetischen Spruch aus, in dem ich eine religionsethische Dimension der IRP erkenne, die ich als das Ziel einer religiösen Bildung an öffentlichen Schulen bestimmen will. Die religionsethische Dimension in dem zitierten prophetischen Spruch geht über die religionspraktische Normenkonformität (im Sinne von richtig – falsch, regelkonform – regelwidrig) weit hinaus und setzt an der Entwicklung der ethisch-moralischen Fähigkeit des Einzelnen in einem sozialethischen Kontext an, und zwar im Sinne der Frage, was für das Gemeinwohl gut ist. Die prophetische Aussage erweitert durch die Vorgabe von allgemeinen ethischen Maximen die (religiöse) Moralerziehung um die Perspektive der autonomen Moral im Sinne der gegenseitigen Achtung der Menschen füreinander. Aus mangelndem Verständnis für den Bildungsauftrag der religiösen Bildung an öffentlichen Schulen in einer demokratischen, pluralen Gesellschaft wird der jungen Disziplin der IRP ein gewisses Misstrauen entgegengebracht, sodass sie sich mit unrealistischen Erwartungen konfrontiert sieht.

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Am Beispiel der zu fördernden moralischen Diskursfähigkeit wurde der Versuch unternommen, mithilfe entwicklungs- und moralpsychologischer Erkenntnisse die Bedeutung der Entwicklung moralisch-ethischer Urteilsbildungskompetenz zu veranschaulichen. Damit wurde das Ziel verfolgt, das Potenzial, aber auch die Grenzen schulischer Lernprozesse in Fragen der religiösen Bildung zu markieren. In schulischen Bildungsprozessen haben nach aktuellen Bildungsstandards zwar die moralischen Ideale und Vorsätze, auch die religiösen, ihren festen Platz in den Lehrplänen, für ein reifes moralisch-demokratisches Handeln im Interesse des Gemeinwohls steht jedoch bei Heranwachsenden im Mittelpunkt, die Fähigkeiten zu entwickeln, diese Ideale und Vorsätze in ihrem aufgrund der Pluralität von Weltanschauungen und Lebensentwürfen komplexen Umfeld konsistent und differenziert umzusetzen. Religiöser Bildung an öffentlichen Schulen sind durch die Staatszielbestimmung des GG bekanntlich inhaltliche Grenzen gesetzt, die auch jegliche Art von Indoktrination und Verletzungen des Selbstbestimmungsrechts der Schüler*innen ausschließen. Mit der programmatischen Entscheidung für die religionsethische Ausrichtung der IRP an öffentlichen Schulen wird – selbstverständlich – mithilfe islamisch-theologischer Kategorien und Werte ein konstitutiver, zweifacher Beitrag zur Selbstvergewisserung mit der eigenen islamischen Wertetradition sowie zur Bildung einer »inneren Haltung der Öffnung für die Wahrheit der Anderen« geleistet. Mit dem Moraltheologen al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Sala¯m wurde ein Beispiel für eine Leitkategorie ethischen Denkens aus der Tradition (maslaha) angeführt, anhand dessen ˙ ˙ eine religionsethische Reflexion im Umgang mit ethisch relevanten Konfliktsituationen demonstriert wird. Mit der vorgeschlagenen religionsethischen Ausrichtung der IRP ist auch die Hoffnung verbunden, dass junge Muslim*innen in die Lage versetzt werden, zu wissen, nach welchen übergeordneten ethischtheologischen Prinzipien sie Entscheidungen treffen können, und in diesem Sinne am Allgemeinwohl der Gesellschaft konstruktiv mitwirken.

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Harry Harun Behr

Islamischer Religionsunterricht zwischen religiöser, säkularer und identitärer Positionierung1

Zusammenfassung Der islamische Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen ist ein vergleichsweise neues Fach. Die Genese seines Fachprofils unterliegt dem Einfluss unterschiedlicher Zugriffe auf den Islam: als Gegenstand unterschiedlicher akademischer Fachkulturen, als Referenz islamischer Religionspädagogik, als Fluchtpunkt sozialer Identitäten, als Bezugshorizont jugendlicher Lebenswelten oder als Kontroversthema staatlicher Ordnungspolitik. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass in öffentlichen wie fachlichen Diskursen allgemeine Fragen von Fremdheitsmarkierung im Kontext von Migration und Bildung im transnationalen Raum besonders dann mitschwingen, wenn es um Muslim*innen geht. Deshalb treten fundamentale spirituelle, ethische und soziale Orientierungsfragen, aber auch Fragen nach Lebensstilen oder ästhetischer Erfahrung seitens der Zielgruppen dieses Unterrichts in besonderem Maße zutage. Das kann die Lehrkräfte vor unerwartete Herausforderungen stellen. Der vorliegende Beitrag beleuchtet diese Thematik unter Berücksichtigung theologischer, bildungstheoretischer, pädagogischer und didaktischer Aspekte. Vieles, was hier zur Sprache gebracht wird, beruht auf Auswertungen empirischer Daten aus der Forschung des Verfassers. Der Beitrag versteht sich als ein Debattenbeitrag. Er bietet aber nicht nur Anregung für die fachliche Konsolidierung des islamischen Religionsunterrichts und für seine Integration in den schulischen Alltag als Normalfall: Möglicherweise bringt der Diskurs um den Islam in seiner fachlichen und schulischen Rahmung Erkenntnisse mit sich, die für andere Fächer Impulse der Erneuerung bedeuten.

1 Dieser Artikel erscheint im Kontext des vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts »Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten« an der Goethe-Universität Frankfurt.

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1.

Harry Harun Behr

Was macht den islamischen Religionsunterricht »islamisch«?

Die Verknüpfung von Begriffen wie »soziale Arbeit«, »Pädagogik« oder »Unterricht« mit einer bestimmten Religion bezeichnet zunächst die institutionelle Zuordnung zu einer Religionsgemeinschaft und nicht unbedingt zu einem theologischen System. Das ist ein im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland angelegtes Gestaltungsmerkmal, dort, wo es um die Ausbildung von religiös mandatiertem Personal zwischen Rückbindung an die lehrzuchtermächtigte Institution, persönlicher Gewissensfreiheit sowie theologischer und pädagogischer Letztverantwortung geht. Die Theologie, die Philosophie und die Pädagogik des Islams erfassen dieses berufliche Selbstverständnis der Letztverantwortung in der pädagogischen Situation mit dem Fachbegriff al-mug˘tahid bi-nafsih (Behr 2009). Was in diesem Zusammenhang als »islamisch« bezeichnet werden kann, unterliegt damit der Deutungshoheit der betreffenden Religionsgemeinschaft. Inwieweit sich die religiöse Signatur auch aus den disziplinären Fachprofilen akademischer Wissenschaften ergibt, lässt sich diskutieren. Das betrifft zunächst die Theologie, im Weiteren aber auch die Religionspädagogik und den Religionsunterricht. Der Grund dafür liegt darin, dass sich die Grundsatzdebatte um religiöse Indikative auch dort entzünden kann, wo die Religionspädagogik gar nicht in Dissens zur religiösen Institution gerät, sondern zu ihren artverwandten Wissenschaften. Es ist die akademische Religionspädagogik, die diesen Diskurs gestalten muss, damit sie nicht zur Transferwissenschaft zwischen religiöser Lehre und praktischem Handlungsfeld verkommt. Allerdings ist fraglich, ob sich die Sache mit Religion und den fachlich ausdifferenzierten Pädagogiken der Handlungsfelder und der Lebensalter heute überhaupt noch im Integral einer so bezeichneten Religionspädagogik berechnen lässt. Das liegt daran, dass vonseiten der Erziehungswissenschaft (general education) unterstellt wird, spiritual education als praktisch-theologische Wissenschaft bewege sich über ihre religiöse Rückbindung im Schutzraum einer auf die Einheit von Schrift und Bekenntnis fixierten Normativität. Damit ließe sich ihr vonseiten säkular orientierter Wissensdisziplinen grundlegend die Wissenschaftlichkeit absprechen. Deshalb ist in diesem Zusammenhang auch die Frage zu stellen, ob die Religionspädagogik des Islams im Chor mit ihren jüdischen und christlichen und damit wesensverwandten Religionspädagogiken singen oder aber sich auf ihr Solo konzentrieren soll. Immerhin bilden die Religionen gemeinsam mit den Fächern Ethik und Philosophie so etwas wie eine schulische Solidarfachschaft der Geisteswissenschaften. Aber mit Blick auf Kirchlichkeit als institutioneller Rahmung oder auf theologische Lehrzucht bestehen hier Unterschiede: Die im Islam als Lehre tradierten Systematiken und Wissenskulturen sind heterogen und plural. Allein die Vielfalt der ideengeschichtlich und theologisch entstandenen und heute noch vorfindlichen Glaubenslehren, Gegenwartskulturen und

Zwischen religiöser, säkularer und identitärer Positionierung

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Lebensstile des Islams lässt ihre konfessionell dogmatische Überprägung nicht zu.2 Genau in diesem Differenzkriterium liegt aber auch die Chance eines neuen Fachs, zwischen akademischer Interdisziplinarität und überfälliger Verschränkung von Wissenschaft in ihren sozialen Handlungsbezügen, etwa mit Blick auf Gender-, Rassismus- und Migrationsforschung, seine eigene Fachkultur zu entwickeln und zu formulieren.3 Das führt zu der Überlegung, wo genau die Differenzkriterien zwischen jüdischem, katholischem, evangelischem und islamischem Religionsunterricht liegen: wirklich in Gottesbild, Christologie und Praxeologie – oder auf der Ebene der Anthropologie, der Theorie von Religion und Religiosität und folglich des Kompetenzmodells, so wie es neueren curricularen Rahmungen zugrunde gelegt wird?4 Dazu ein Beispiel, warum zum Zwecke der Konturierung der »Islamischkeit« mutiger auf den Koran als auf die Mitte des muslimischen Selbstverständnisses zurückgegriffen und er mit Blick auf nutzbare Konzeptionen befragt werden sollte. Zum einen argumentiert der Koran nämlich dort, wo er in sozial und emotional kontingente Situationen hineinspricht, gar nicht so sehr religiös, sondern vielmehr pragmatisch. Das tritt in Texten wie Sure 4, Verse 82 und 83 hervor, in denen – einer Diskurstheorie gleich – die Abwägung von Sachargumenten (u¯lul-’amr) am religiös autoritativen Argument entlanggeführt wird. Nicht einmal Muhammad selbst in seiner so bezeichneten Rolle als »Gesandter ˙ Gottes« (rasu¯lul-la¯h) präsidiert in 4:83 über das Geschehen, sondern sieht sich in das Geschehen gestellt. Damit folgt der Koran, ähnlich der alttestamentarischen sophia, dem Paradigma der koranischen hikma, der »Weisheitlichkeit im Han˙ deln«. Mit Bezug auf die Religionspädagogik lassen sich daraus drei Bezugspunkte ableiten, die sich anthropologisch, bildungstheoretisch und kompetenzbezogen formulieren lassen: die Selbstführung als Person (tazkiya), das soziale Handlungsfeld (ta’dı¯b) und der Islam als Lehre im Sinne eines fachlich vereinbarten Standards (taʿlı¯m). Damit sind mögliche Normenkollisionen verbunden, die eine Neuverhandlung religiös begründeter Autorität nahelegen. Das wirft die Frage auf, wie konfessionell offen oder geschlossen islamischer Religionsunterricht sein darf und mit welchem normativen Format die fachdidaktische Analyse in Konkurrenz zu religiösen Traditionen und kulturellen Konventionen tritt. Hier geht es nicht nur um Religion an sich, sondern darum, wie der Umgang mit Religionsfragen kulturell und sozial kodiert ist. Denn es sind nicht nur die vorfindlichen arabi2 Zur Frage von Säkularität und Religionskritik als Teil des islamisch-theologischen Erbes siehe vertiefend Behr (2017a und 2017b). 3 Zur Rolle von Religion als Orientierungsfaktor aus intersektionaler Perspektive siehe vertiefend Behr (2017c). 4 Zur Anthropologie des Korans siehe vertiefend Behr (2014).

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schen, türkischen, pakistanischen, ost- und südostasiatischen, russischen, albanischen, bosnischen und anderen muslimischen Identitäten und Lebensstile, die auf unterschiedlichen Kodierungen des Islams beruhen. Es ist die Gesamtheit des islamischen Erbes in Form von Schrifttum und Konvention, über das sich ein erhebliches Maß an früheren und gegenwärtigen inneren Abweichungen von einer gedachten Ideallinie des Islams mitteilt. Das führt unter Muslim*innen in epochalen Intervallen zu der Versuchung, als Reaktion auf moderne Pluralisierungsprozesse eine Art Reinform des wahren Islams zu formulieren – oft leider weniger von theologischem Sachverstand begleitet als von erfundener Tradition, exzessivem Puritanismus und politischer Ideologisierung.5 Provokant gefragt: Was bedienen denn die rückwärtsgewandten Konstruktionen des Islams zwischen Odaliske und Kopftuch, wenn nicht auch ein gerüttelt Maß an Romantik? Nun ließe sich hier der Einwand erheben, was anderes denn Religionen überhaupt seien als erfundene Traditionen. Und nicht jede Erfindung ist a priori schlecht – im Gegenteil: Sogar der grundlegenden Systematik dessen, was man in osmanischer Tradition als »kleinen islamischen Katechismus« (tam ilmiha¯l) bezeichnen könnte, den Schüler*innen eines gut geführten Laienkurses einer Moschee als taugliche Säule des Islams und des Glaubens kennenlernen (und der auch in christlichen Religionsbüchern steht, dort, wo es um die Lerneinheit Islam geht), liegen Entscheidungen muslimischer Herrschaftsbestellung einige Jahrhunderte nach dem Ableben Muhammads zugrunde. In diese Entscheidungen ˙ sind politische, rechtliche und theologische Erwägungen eingeflossen. Das berühmte Diktum des Frankfurter Rechtswissenschaftlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass der Staat von Voraussetzungen lebe, die er selber nicht schaffen kann, gilt auch für die Religion als Agens des sozialen Kapitals: Die Religion lebt von Voraussetzungen, die sie selber nicht gewährleisten kann. Das betrifft auch den Islam, und zwar nicht nur im Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes, auf das sich Böckenförde bezieht und dessen Gewicht für das Funktionieren von Religion Udo Di Fabio, einst Richter am Bundesverfassungsgericht, mit seinem Hinweis auf »verlässliche Institutionen« (Di Fabio 2015) unterstreicht. Rechtsnormen des Korans müssen nicht zwanghaft als bindende Normen eines irreführenderweise als »islamisch« bezeichneten Rechts im Sinne einer göttlichen Willensbekundung verstanden werden. Sie lassen sich auch als Zustandsbeschreibungen des in damaliger Zeit unhinterfragt geltenden byzantinischen Rechts lesen. Immerhin macht der Koran nämlich genau das, was sich Muslim*innen heute gemeinhin zu versagen scheinen: Er historisiert und stellt diese Normen zur Disposition, eher als göttliche Anfrage, wenn nicht sogar als Kritik,

5 Vgl. zum Beispiel die unter muslimischen Schüler*innen im Rhein-Main-Gebiet recht populäre Plattform www.realitaet-islam.de (zugegriffen: 20. August 2018).

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und weniger als Imperativ. All das gehört in einen Religionsunterricht in säkularer Rahmung, der sich heute als »islamisch« bezeichnen lassen möchte.

1.1

Wer sind die Zielgruppen des islamischen Religionsunterrichts?

In diesen grundsätzlichen Unterschieden, das Verständnis von Religionsunterricht betreffend, gründen möglicherweise Normenkollisionen. Denn das Fachprofil des islamischen Religionsunterrichts wird bestimmt durch den Bildungsauftrag der öffentlichen Schule, das Motiv der Kulturtransmission seitens seiner Träger*innen, den Wunsch nach mehr religiöser Progression seitens seiner Nutzer*innen, den kulturpolitischen Gestaltungsanliegen und den öffentlichen Leitbild- und Globaldiskursen um den Islam. Für die jungen Muslim*innen in den Klassenzimmern, aber auch in den Seminarräumen und Hörsälen an den Universitäten, können damit ganz konkrete Loyalitätskonflikte in ihrer jeweiligen Lebenswelt verbunden sein. Genau hier liegt eine Möglichkeit für die Religionspädagogik des Islams, sich über ein eigenes Profil von Gepflogenheiten und Erwartungen, wie sie an den islamischen Religionsunterricht herangetragen werden, zu emanzipieren. Zahlreiche Texte des Korans wie die oben erwähnte vierte Sure zeigen auf, wie das, was der Islam als »Wohl« (istisla¯h) bezeichnet, ˙ ˙ grundsätzlich auf die Spannung zwischen dem Wohl der Gemeinschaft und demjenigen der oder des Einzelnen verweist. Das trifft im Falle der Religionspädagogik besonders in der Gemeindearbeit und Sozialen Arbeit zu. Was junge Muslim*innen vom Religionsunterricht erwarten, ist ziemlich heterogen. Die Vorstellungen oszillieren zwischen habitualisierenden und kritischen Elementen – das Gebet erlernen und »die Sache mit dem Beten« infrage stellen oder den Koran auf Arabisch lesen lernen und »den koranischen Quellcode hacken« (tadabbur; Koran 4:82). Eine muslimische Studentin gab in einem Interview mit dem Verfasser dieses Beitrags zu Protokoll: »Ich will nicht wissen, wie was im Islam geht – dazu kann ich ja in die Moschee gehen. Ich will wissen, was genau der Islam ist und wie er funktioniert. Das wollte ich schon als Schülerin, und jetzt noch mehr als Studentin. Können Sie sich meinen Ärger vorstellen, wenn mir dann eine muslimische Dozentin im ersten Semester verklickern will, in der Biografie Mohammeds drücke sich das planvolle Handeln Gottes aus?«6

Hierin zeigt sich, dass das existenziell Gedeutete, die philosophische Anfrage und das intellektuelle Hinterfragen bereits entwicklungsbedingt für die spirituelle Orientierung relevant sein können, wobei die Religion ins Spiel kommen kann,

6 Solche hier nicht näher spezifizierten Zitate stammen aus Interviews des Verfassers mit muslimischen Jugendlichen.

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aber nicht unbedingt muss. Bei genauerem Hinsehen lassen sich Erscheinungsformen des Zugriffs auf Religion ausmachen, die jeweils unterschiedliche didaktische Arrangements des Unterrichts nahelegen, zum Beispiel: der individuierend-reflektierende Zugang zu Glaube und Religion, die Verhältnisbestimmung von Person, moralischem System und Gewissen oder die Infragestellung des wechselseitigen Zusammenhangs von Menschsein und Letztgültigem. Eine für den Islam theologisch besondere Rolle spielt dabei die Frage nach dem Nutzen praktizierter und veröffentlichter Religion: Von Religion als Ankerplatz für die persönliche Standortbestimmung im Sinne eines weltlich anmutenden Vorteils war bereits zu Zeiten Muhammads die Rede, was im Koran ˙ seinen Niederschlag gefunden hat. Koranstellen wie 64:17 oder 80:4 thematisieren mit Blick auf ihren historischen Entstehungskontext unumwunden den gar nicht so anrüchigen Mehrwert von Religion (manfaʿa; Koran 31:12, 80:4). Sie beschreiben, wie die Gestaltung des Lebens entlang neuer religiöser Motive zu Spannungen führen konnte oder aber aus Spannungen resultierte, die sich aus längst überfälligen Verhältnisbestimmungen entwickelten: zwischen Altem und Neuem zum Beispiel, zwischen tradierter Religion und neuer Religiosität, zwischen Religion als Kultur und einer neuen Kultur von Religion. Es sind im Grunde genommen diese Spannungsfugen, die die Entstehung des Islams im siebenten Jahrhundert bedingten. Sie traten unter Umständen auch dort auf den Plan, wo es damals um die Neu- und Umgestaltung des Lebens im Zuge der Konversion zum Islam ging. Das ist der Grund dafür, warum er eine eigentümliche, produktive Spannung lebendig hält: Einerseits stellt sich Muhammad in die religiösen Traditionen, andererseits aber begründet er damit ˙ zugleich den behutsam eingeleiteten Bruch mit dem Tradierten (vgl. Koran 2:142–152, 2:177; auch 5:48ff., 2:213–214 oder 16:24). Solche Spannungen resultierten einerseits aus den soziokulturellen Konstellationen, speisten sich andererseits aber auch aus den psychosozialen Befindlichkeiten der handelnden Subjekte. Hier liegt eine weitere zentrale Korrelationsebene des islamischen Religionsunterrichts, denn die Distanz zwischen den mekkanischen und den heutigen jugendlichen Lebenswelten mutet bisweilen kurz an. Auf historische Dekonstruktionen dieser Art kann die pädagogische Hermeneutik des Korans in der Sekundarstufe nicht verzichten (Schröder et al. 2017). Denn für junge Muslim*innen hier und heute scheinen sich die normativen Bewältigungsaufgaben auf nicht normative Krisen, also unerwartete und verschärfte Problemlagen zuzuspitzen. Was Islam und Muslimsein eigentlich bedeuten, konkretisiert sich aus den Lebenswelten der Schüler*innen heraus in konkurrierenden Formen, die sowohl auf Religion als soziale Vergiftung als auch auf Religion als spirituelle Ressource deuten: kulturräumliche Zugehörigkeit, sichtbarer Lebensstil, numinoses Erleben, gesinnungsorientierte Solidargemeinschaft, verantwortungsethischer Geltungsanspruch, mediale Dämonisie-

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rung, theologisches Fachprofil oder der aktive religiöse Selbstentwurf. Solche »Islamizitäten«7 wurzeln zunächst in dem, was für diese Altersgruppe charakteristisch und für ihre Entwicklung spezifisch ist. Darüber hinaus betreffen sie die Herausforderungen an die generelle Standortbestimmung als Person auch in der religiösen Dimension. Forderungen nach einer wachen Auseinandersetzung mit der Religion gründen in fundamentalen und umfassenden spirituellen jugendlichen Orientierungsmustern, so wie sie gegenwärtig in der Forschung des Verfassers zu religiösen Positionierungen junger Muslim*innen sichtbar werden. Vorläufig lassen sich vier voneinander unterscheidbare Muster (patterns) beschreiben. Erstens sprechen wir von »physischer Integrität«, die sich auf alle Bereiche bezieht, die das körperliche Empfinden, die Heilung seelischer Brüche, die Verarbeitung von Traumata, die Fragmentierung von Identitäten in physischen und anderen Empfindungssphären betreffen. In diesem Zusammenhang verweisen die Gesprächspartner*innen darauf, wie und warum sie etwa Diskriminierungserfahrung zunächst als körperliche Beeinträchtigung empfinden. Zweitens lassen sich »subkulturelle Affinitäten« beschreiben, welche die religiöse Artikulation auf die Ebene des sichtbaren, oft auch provokanten Lebensstils heben. Das erschöpft sich aber nicht im Jugendlich-Ostentativen, sondern führt zur Suche nach Anschluss an alternative soziale Netzwerke und zum Ringen um ein Verständnis des Islams, das mehr in der konzeptuellen und kulturellen Progression als in dem Anliegen der kulturellen Transmission gründet – gemäß dem Diktum: »Culture does not make people. People make culture« (Adichie 2014, S. 46). Drittens stellt sich heraus, dass die Verhandlung und Infragestellung von sozialen Autoritäten des jeweiligen Umfelds eine wichtige Rolle bei religiösen Orientierungen spielt; das lässt sich vereinfacht als »kritisches Bewusstsein« bezeichnen (zur Frage der Verhandlung von Autorität siehe unten im Abschnitt 4 »Bildungsstandards«; vgl. auch Badawia 2016). Viertens belegen die empirischen Befunde einen Aspekt, den die US-amerikanische Forschung zur Psychologie der Radikalisierung als »quest for appreciation« (Kruglanski 2014) angedacht hat, bislang aber noch nicht an die religiöse Systematik anschließen kann. Gemeint ist das, was wir als »kosmische Beheimatung« bezeichnen und das Elemente der ludischen, experimentellen, kognitiven, kosmogonischen, spirituellen und ästhetischen Selbstverortung vereint. In diesem Segment können religiöse Narrationen und Narrative ihre je eigene Wirkung entfalten. Es ist wichtig, dass Jugendliche über solche Narrative verfügen und mit narrativen Zugängen zur Welt und zum Dasein umgehen können, was die Bedeutung eines klugen schulischen Religionsunterrichts unterstreicht (Behr 2018).

7 Begriff nicht nach Esposito 2017 (islamicity), sondern nach Kulaçatan/Behr 2016.

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In regelmäßigen Abständen bringen Schüler*innen im islamischen Religionsunterricht der höheren Jahrgangsstufen ihre Befürchtung zum Ausdruck, mit der misslungenen Verhältnisbestimmung zwischen dem gesellschaftlichen Erwartungshorizont und der Ausprägung der eigenen Religion womöglich auch die eigene Zukunft zu verspielen. Sie stellen die Vertrauensfrage, wenn sie sich im islamischen Religionsunterricht nach dem Zusammenhang von Religion, Person und Erfolg erkundigen. Sie zielen damit auf die religiös begründete Verhältnisbestimmung zwischen zwei Regelkreisen mit ihrer je eigenen Wirklichkeit: einerseits dem vorfindlichen Kontext, seinen Akteuren und Erwartungen und andererseits der Frage, wie und wer man selbst gerne sein möchte und was man als junger Mensch erwarten darf.

1.2

Welche Bildungsstandards des islamischen Religionsunterrichts gibt es?

Die Diffusion zwischen den erkennbaren und verborgenen Identitäten muslimischer Schüler*innen zu moderieren, bindet ein Gutteil der zeitlichen und nervlichen Ressourcen von Islamlehrkräften. Hier ist immerhin die Rede von einer der zentralen Herausforderungen an den islamischen Religionsunterricht: Es geht nicht nur um die Sachfrage, sondern auch um die Berücksichtigung der Orientierungsfunktion für die Beteiligten, mithin um die didaktische Führung und den pädagogischen Takt des Unterrichts. Solche Abklärung zielt auf die Person der einzelnen Schüler*innen, auf die Sache im Sinne des Unterrichtsgegenstands, der sie begegnet, und auf die Situation, in der die Begegnung stattfindet. Das geschieht nach eigenen religionspädagogischen und theologischen Standards. Diese umfassen nicht nur die allgemeinen Bildungsstandards schulischer Kernfächer, zum Beispiel interkulturelles Lernen, sondern auch spezifisch religiöse Maßstäbe. Die Normen- und Loyalitätskonflikte zwischen Subjekt und Kollektiv, zwischen Tradition und Situation und zwischen Text und Geist (damit sind die soziale, die spirituelle und die hermeneutische Kompetenzebene beschrieben) verweisen auf Konfliktpotenziale in den religiösen Orientierungsdiskursen und ihren sozialen Rahmungen. Die pädagogische Moderation von Autoritätsbeziehungen kann sich unter Rückgriff auf das geistige Erbe des Islams an folgenden Unterscheidungen von Autorität orientieren: sulta im Sinne der Berufung und ˙ Ermächtigung, istiqa¯ma im Sinne des Gewissens und der persönlichen ethischen Selbstpositionierung und hug˘g˘a als das überzeugende Argument. Mit diesen ˙ Werkzeugen hätte die islamische Religionspädagogik die Chance, zur religiösen Verhältnisbestimmung zwischen zwei Polen beizutragen, die in gewisser logischer Paradoxie zueinander stehen. Auf der einen Seite steht religionsbezogen das Anliegen einer unverwechselbaren fachlichen Identität. Auf der anderen

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Seite steht lebensweltbezogen die Absage an kulturräumliche, ethnische und ideologische Essenzialisierungen der so bezeichneten »Islamizitäten«.

1.3

Welche schrifthermeneutischen Grundlinien einer islamischen Bildungsidee lassen sich finden?

Der folgende Abschnitt führt aus, was heutigen Curricula für den islamischen Religionsunterricht der Sekundarstufe an theologischen und anthropologischen Ideen zugrunde gelegt werden könnte. Entsprechende Grundlagen sind wichtig für das generelle Verständnis der pädagogischen Intentionen des islamischen Religionsunterrichts: Der Koran wird aus gläubiger Perspektive heraus als »Rede« oder »Wort« Gottes (Qur’a¯n; 12:1–3, 42:7) verstanden. Gemeinsam mit den vorbildlichen Handlungsweisen (sunna) und weisheitlichen Überlieferungen (hadı¯t) Muham˙ ˙ ¯ mads bildet er den zentralen Bezugspunkt für das Nachdenken über die Welt im Zusammenhang mit religiöser Erfahrung. Der Koran entwirft den Islam als konkreten Lebensstil und als spirituellen Weg (sˇirʿa, minha¯g˘; 5:48, 49:14–15) und unterstreicht religiöse Vielfalt als Ausdruck des menschlichen freien Willens (10:19, 11:118). Er vertritt den Anspruch auf Gültigkeit und Wahrheit als Vervollkommnung und Erfüllung vorausgegangener religiöser Lehren (3:19 und 110, 5:48, 21:92, 23:52), betont dabei aber die Notwendigkeit von Verständigung und Toleranz (2:62, 2:136, 2:256, 16:125). Die religiösen Thematiken der Schrift gruppieren sich um die in der ersten Sure des Korans (Al-Fa¯tiha) entfalteten ˙ Zentralmotive des sich mitteilenden Gottes als dem Herrn der Welten, dem Gnädigen, dem Barmherzigen und dem Richter des Gerichtstages (1:1–4). Die pädagogische Ableitung zielt auf drei zentrale Aspekte des islamischen Gottesbildes: dem des Einen (3:18), dem des Weiten bzw. Hohen (2:255) und dem des Nahen (2:186). Die theologische Anthropologie des Islams formuliert wichtige Grundlagen für das muslimische Verständnis von Bildung und Erziehung. Sie sieht den Menschen als frei und verantwortlich in die Welt gestellt (2:30), zugleich aber auch als von Gott getragen (2:22, 17:70). Diese These des natürlichen Existenzrechts des Menschen spielte für die Entwicklung der Idee von Individuum, Identität und Humanität im europäischen Humanismus in der venezianischen Renaissance eine wichtige Rolle. In der Erkenntnis der Unfertigkeit und Schwäche des Menschen (4:28, 20:115) liegt das Entwicklungspotenzial seines Humanums und seiner Kraft (31:17). Das Dasein und dessen bisweilen krisenhafte Bewältigung (12:53, 75:2, 90:5–6) sind von Gott gegeben und vorgesehen und bedingen einen lebenslangen Lernweg, dessen Ankerplatz die Erkenntnis und Liebe Gottes und die Heimkehr zu ihm sind (89:27–30).

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Der Koran begreift pädagogisches Handeln als Begleiten im Spannungsfeld zwischen Führen und Loslassen (31:12–19, 66:6). Das Mensch-Sein ereignet sich aus schöpfungstheologischer Sicht des Islams als Prozess der Mensch-Werdung. Es gründet in der freien Entfaltung eines gegebenen Potenzials zwischen Selbstund Mitverantwortung. Grundlage dieser Entwicklung ist die Verschränkung der persönlichen Beziehung des Menschen zu Gott (2:186) und zur sozialen Umwelt (3:103, 3:110). Die Beziehung von Gott und Mensch verändert sich, je nachdem, wie sich die Begegnung mit Gott auch in der zwischenmenschlichen Begegnung ereignet. Für den Mitmenschen da zu sein, ist folglich ein wichtiges islamisches Prinzip (30:21–22, 4:36, 2:177, 49:13). Dabei geht es um Empathiefähigkeit und positive Handlungsbereitschaft ungeachtet religiöser, kultureller, sprachlicher, sozialer oder geschlechtsbezogener Zugehörigkeiten. Hier spiegelt sich die menschliche Daseinsbereitschaft für Gott (ʿiba¯da) als Grundlage der islamischen Sozialethik, die zugleich eines der zentralen Bildungsziele des Islams darstellt. Die pädagogische Anthropologie des Islams konnte weitere kategoriale Leitmotive für die Erziehung gewinnen, etwa die Stärkung der Urteilskraft (tahkı¯m) ˙ auf Grundlage zuverlässiger Informationsbestände (taʿlı¯m) und die Befähigung zur Selbstführung hinsichtlich eigenverantworteter Ziele (tazkiyya). In den Zielekanon fallen die bewusste soziale und religiöse Selbstverortung (tasa¯win), die Förderung des Zutrauens in Gott und des Selbstvertrauens (tawakkul) sowie die Einübung von Achtsamkeit gegenüber Gott, der Welt, den Mitmenschen und zu sich selbst (taqwa¯). Von besonderer Bedeutung für die Gestaltung des zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens sind die Bereitschaft zu Einvernehmen (tafa¯hum) und Solidarität (tada¯mun) mit der mitmenschlichen Gemeinschaft, die ˙ Fähigkeit, Andersartigkeit auszuhalten und wertzuschätzen (tasa¯muh al-ta˙ ba¯yun) sowie die Schulung der religiösen Sprachfertigkeit (kala¯ma, baya¯n). An diese Leitmotive ließen sich theologisch begründete, fachspezifische Kategorien anschließen, die zugleich auf überfachliche Kompetenzen verweisen.8 Denn das Fach »Islamische Religion« unterstützt die persönliche Orientierung in der eigenen Religion. Es schult die Fähigkeit, sich aus der Perspektive der islamischen Lehre und des persönlichen Glaubens heraus mit anderen Konfessionen und Weltanschauungen auseinanderzusetzen und zu eigenständigen Sichtweisen und Entscheidungen zu finden. Das Fach fördert damit die Bereitschaft der Schüler*innen, sich gegenüber Andersdenkenden verständnisvoll und anerkennend zu verhalten und sich teilnahmsvoll über die eigene religiöse und kulturelle Verortung hinaus zu positionieren. Damit fördert das Fach insgesamt die Fähigkeit zu verantwortlicher Teilhabe an der demokratischen, rechtsstaatlich 8 Zu den Kompetenzen von Religionsunterricht in der Sekundarstufe aus interreligiöser Perspektive siehe vertiefend van der Velden (2013).

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verfassten und religiös wie kulturell pluralen Zivilgesellschaft. In dieser Hinsicht bearbeitet der Unterricht auch prekäre religiöse Rechtfertigungsdiskurse und führt sie der kritischen Reflexion zu, beispielsweise in Fragen von Gewalt, von der Ungleichbehandlung der Frau, von Menschenrechtsverletzungen und der Verletzung grundgesetzlich verankerter Freiheitsbestimmungen, von ideologischer Radikalisierung und Rigidisierung sowie der Skandalisierung alternativer Lebensentwürfe und partnerschaftlicher Lebensstile. Diesem Entwurf liegt die Überzeugung zugrunde, dass religiöse Bindung stets in der Verantwortlichkeit der oder des Einzelnen liegt. Der Glaube gründet im Islam sowohl in der Gabe Gottes als auch in der Entschlusskraft der Person. Demnach leistet der islamische Religionsunterricht im Rahmen des Bildungsauftrags der Schule auch einen Beitrag hinsichtlich der Glaubensbefähigung. Insofern trägt er zu einer Kultur und zu einem Ethos des Umgangs mit dem Unverfügbaren bei, so wie das in den religionsbezogenen Normen des deutschen Grundgesetzes Gestalt angenommen hat.

1.4

Kompetenzbereiche des islamischen Religionsunterrichts

Hier folgt eine kurze Darstellung jener Kompetenzen und Leitprinzipien, wie sie sich für den islamischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe veranschlagen lassen. Sie helfen bei der theologischen Justierung, der curricularen Formatierung, der Schulbuchdidaktik oder der Konzeption der Aus- und Weiterbildung von Lehrer*innen und unterstützen die Strukturierung der intra- und der interreligiösen Begegnung: Religion leben Dieser Kompetenzbereich berührt Religion auf der Ebene der Inszenierung. Die Lernenden setzen sich mit religionsbezogenen Praxen des Islams und mit Fragen des religiösen Lebensstils auseinander. Sie gewinnen systematisierte Kenntnisse über den Islam hinsichtlich seiner Lehren und seiner fachsprachlichen Grundlagen. Sie bearbeiten und bewerten Aspekte der spirituellen, kulturellen und ästhetischen Dimension des Islams und erörtern Fragen religiöser Orientierung. Gemeinschaft gestalten Dieser Kompetenzbereich berührt Religion auf der Ebene der Institution. Die Lernenden bearbeiten Fragen der religionsbezogenen Vergemeinschaftung und der gesellschaftlichen Institutionalisierung des Islams in sozialer, historischer und kulturräumlicher Dimension. Sie gewinnen Einblick in die religiösen und sozialen Aufgabenbereiche der Moschee als Teil des gemeinschaftlichen islami-

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schen Lebens und setzen sich mit Aspekten der Gestaltung des muslimischen Gemeindelebens und der eigenen Teilhabe auseinander. Welt deuten Dieser Kompetenzbereich berührt Religion auf der Ebene der Interpretation. Die Lernenden erörtern im Islam tradierte Deutungen der Welt und setzen sie in Beziehung zu persönlichen religions- und glaubensbezogenen Perspektiven sowie zu anderen religiösen oder philosophischen Weltanschauungen. Sie lernen einfache Grundlagen der islamisch-theologischen Auslegung des Korans, der Hadithe und anderer religiös bedeutsamer Zentralschriften des Islams kennen und üben sie an exemplarischen Texten ein. Religion verstehen Dieser Kompetenzbereich berührt Religion auf der Ebene der Infragestellung. Die Lernenden nähern sich der Frage nach der Plausibilisierung von Religion aus unterschiedlichen wissenschaftsnahen Perspektiven heraus. Sie lernen einfache islamisch-theologische sowie religionswissenschaftliche Modelle und Theorien zu Entstehung und Funktion von Religion kennen und setzen sich mit dezidiert religionskritischen Positionen auseinander. Verantwortung übernehmen Dieser Kompetenzbereich berührt Religion auf der Ebene der Intentionalität. Die Lernenden setzen sich mit Fragen religiöser Handlungsmotive im gesellschaftlichen Kontext auseinander. Sie gewinnen Einblick in grundlegende Elemente der islamischen Normen- und Methodenlehre. Sie erörtern ethische und moralische Aspekte des absichtsvollen und vorausschauenden Handelns mit besonderem Bezug zu islamisch begründeten Prinzipien und persönlich verantworteten Handlungsabsichten.

1.5

Bildungstheoretische Leitperspektiven des islamischen Religionsunterrichts

Es genügt jedoch nicht, Kompetenzhorizonte anzuzeichnen, an die sich dann Feinkompetenzen im Sinne von Operatoren anlehnen lassen. Dort, wo es um die konkrete thematische und methodische Umsetzung auf der Ebene der Stoffverteilung und der Unterrichtsvorhaben für das gesamte Schuljahr geht, ist nach den konkreten Kenntnissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Bereitschaften zu fragen. Zudem bedarf es einer weiteren religionspädagogischen Übersetzung. Dabei müssen angesichts einer gegebenen Thematik die drei Bezugspunkte der Sache, der Person und der Situation zum Zwecke theologiegestützter Kritikfä-

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higkeit integriert werden. Hierbei können die folgenden drei bildungstheoretischen Leitperspektiven helfen: Individuum und Gemeinschaft Diese Leitperspektive betrifft das Verhältnis einer einzelnen Person und ihrer subjektiven Religiosität zur Gemeinschaft und der durch sie vertretenen Lehre. Diese mitunter spannungsgeladene Beziehung bildet eine der zentralen dramaturgischen Linien des Korans: Der Islam stärkt die Autonomie des religiösen Individuums gegenüber dem religiösen Kollektiv und damit die Selbstverantwortung. Zu den klassischen hermeneutischen Regeln gehören an dieser Stelle Prinzipien wie der religiöse Lehrsatz »nach bestem Wissen und Gewissen« auch ohne Textbeleg (ra’ı¯), das fallbezogene Bemühen um eine sachlich begründete religiöse Lehrmeinung (ig˘tiha¯d), die sittliche Norm (ʿurf), der Konsens der Religionsgelehrten (ig˘ma¯ʿ) oder die kulturelle Norm (ʿa¯da). Im Wechselspiel mit den nachfolgend genannten Prinzipien ermöglichen sie eine große Vielfalt an Zugängen zum islamischen Erbe. Tradition und Situation Diese Leitperspektive mit besonderem Bezug zur Situation durchdringt die Auseinandersetzung mit dem Islam in seiner Historizität und Aktualität. Der Koran deutet auf die soziale Schieflage als Folge der Abwendung des Menschen von Gott, des unkritischen Umgangs mit den Traditionen und des Missbrauchs von Religion als Instrument des Machterhalts. Gemäß der klassischen islamischen Nomenklatur sind hierfür bestimmte Auslegungsprinzipien relevant, zum Beispiel: der Blick für das Wohl (maslaha) des Einzelnen und der Gemeinschaft ˙ ˙ und der Einzelfallbezug (istisla¯h), der die Situation der Betroffenen zu verbessern ˙ ˙ beabsichtigt. Sie bilden ein wichtiges Korrektiv gegenüber der Konsensorientierung, die als bloßer Anspruch auf Gesinnung in den Lebenswelten muslimischer Jugendlicher zu den erwähnten Loyalitäts- und Rollenkonflikten führen kann. Text und Geist Diese Leitperspektive mit besonderem Bezug zur Sache deutet auf den hermeneutischen Algorithmus der islamisch-religiösen Auslegung des Korans. In der Regel werden die folgenden klassischen islamisch-hermeneutischen Prinzipien der Textauslegung und Urteilsfindung angeführt: der Koran und seine Bedeutung (Qur’a¯n), Muhammad und die Merkmale seines Verhaltens (sunna), der ˙ Konsens der Religionsgelehrten (ig˘ma¯ʿ) und der Analogieschluss (qiya¯s) im Sinne der Präzedenz früherer religiöser Lehrmeinungen für heutige Herausforderungen. In den unterschiedlichen Denkschulen des Islams treten zur Auslegung entlang der konkreten Denomination des koranischen Wortlauts weitere Aus-

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legungsprinzipien hinzu, die das sinnorientierte Verstehen des Korans sowie spirituelle Aspekte stärken. Dazu zählen zum Beispiel das Vernunftargument (ʿaql) oder die Annäherung an den Koran über verschiedene Ausprägungen des Schriftsinns (literal, allegorisch, episch-narrativ, kritisch, intentional, typologisch, anagogisch oder lyrisch-ästhetisch).

1.6

Wie stehen die Leitperspektiven mit den Inhalten in Verbindung?

Islamischer Religionsunterricht orientiert sich nicht nur an Kompetenzen und Diskursprinzipien, sondern auch an Themen und Inhaltsfeldern, die hier im Zusammenhang mit den Leitperspektiven dargestellt werden: Koran, Hadith und religiöses Texterbe Der Koran als Wort Gottes wird in den religiösen Alltagskulturen von Muslim*innen sowohl als Text im kommunikationstheoretischen Sinne (Qur’a¯n) als auch als ein Buch (mushaf) erfahren, von dessen Heiligkeit sie sich anrühren ˙˙ lassen (tama¯ss; 39:23, 56:79). In diesem Zusammenhang stehen tradierte Konventionen im Sinne von Lese- und Auslegungsregeln bis hin zu religiösen Habitusgeboten. Sowohl die Lesung des Korans als ritualisierter Modus der Textbegegnung als auch das Lesen im Sinne einer Auseinandersetzung mit seinen Inhalten sind als spirituelle und ästhetische Zugänge wichtige Bestandteile der sinn- und verstandesorientierten Erschließung. Ähnlich wie für den Koran besteht für die Textarten der Überlieferungen (hadı¯t) oder der Kommentarwerke ˙ ¯ (tafsı¯r) der Konsens, dass der analytische und hermeneutische Zugriff auf diese Schriften Gelehrten vorbehalten ist. Zugleich zeigt sich in muslimischen Gegenwartskulturen aber ein stark etabliertes Laienelement. Die damit gegebene Gegenständigkeit von persönlichem und aktualem Zugriffsrecht einerseits und von gemeinschaftlicher und institutioneller Zugriffstradition andererseits eröffnet immer wieder produktive Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit zwischen religiösem Virtuosentum und Expertentum, die pädagogisch und didaktisch nutzbar gemacht werden. Das autoritative Moment der Deutung des Korans bildet sich hier nicht in den Kraftvektoren unterschiedlicher Deklinationen von Gelehrsamkeit ab, sondern resultiert aus den geistigen Bewegungen durch die Zwischenräume (inter-esse; vgl. auch den osmanischen Begriff dihliz für das islamisch-philosophische Konzept des »Zwischenraums« im Sinne des religiösen Moratoriums) zwischen Schrift, Person, Situation und Interpretation. Gemeint mit diesen geistigen Bewegungen sind zum Beispiel die Verhältnisbestimmungen zwischen tradiertem Verständnis und persönlichem Verstehen, zwischen rekonstruiertem und aktuellem Kontext oder zwischen dem vorfindlichen Textmaterial (Lokution; bestimmend; nusu¯s) und seiner damals wie heute ˙ ˙

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kontextabhängigen Bewegungsabsicht (Perlokution; plausibilisierend; maqa¯sid). Dieser kommunikationstheoretische Zusammenhang wird vom Koran selbst in Stellen wie 3:7 oder 4:82–83 thematisiert und hat als Prinzip der Entschleierung (istinba¯t) und als prüfendes Vergleichen (baya¯n) Eingang in die theologische ˙ Hermeneutik des Korans gefunden. Die islamischen Auslegungstraditionen sowohl hinsichtlich ihrer Methoden als auch ihrer schriftlichen Kompendien deuten dabei immer wieder auf die Notwendigkeit einer gesunden Balance zwischen diesen unterschiedlichen Modi. Zu den theologischen Kompetenzzielen, angefangen von grundlegender Erfahrungsorientierung bis hin zur gymnasialen Wissenschaftspropädeutik, gehört deshalb, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Mut zum verstehenden Zugang zum islamischen Schrifttum in einem Umfang zu steigern, der den Lern- und Lebenssituationen der Zielgruppen angemessen ist und der sie in ihrer religiösen Empfindung nicht beeinträchtigt, sondern unterstützt, und zwar durch die Mittel und Verfahren der didaktisierenden Gestaltung. 1.6.1 Glaubenslehre und theologische Konzeptionen Mit der Systematisierung des persönlichen Zugangs zum Islam als pädagogisches Ziel dieses Inhaltsfelds ist indirekt die religiöse Autonomiefähigkeit des Menschen als Subjekt angesprochen: Glaube und Vernunft als theologische Kategorien sowie Gottes-, Welt- und Selbstbild, oder aber die Verhältnisbestimmung von Freiheit und Bindung bleiben ungeachtet der dargebotenen Normativität des religiösen Erbes stets individuell erfahrbar. In genau dieser Frage aber unterscheiden sich die klassischen Kala¯m-Schulen der islamischen Theologie. Auf der Seite der Tradition stehen, jeweils in Kompendien und bis zu einem gewissen Grade kanonisch gefasst, die Religionslehre in ihren unverhandelbaren Grundlagen (usu¯l) und ihrer Erkenntnistheorie (ʿulu¯m) sowie die Glaubenslehre ˙ (ʿaqı¯da) in ihrer deklinierten Kosmogonie. Daneben aber gewinnen die Religion als Lebensweise und -stil (dı¯n) und die Tiefenstruktur des Glaubens als persönliche Haltung (yaqı¯n) erst in der Verlebendigung durch das religiöse Subjekt Gestalt. Religion als Spur aus der Vergangenheit (milla) und als Weg zu Gott und hin auf ein gutes Lebensziel (sabı¯l, sira¯t) wird durch die persönliche Gangart (saʿı¯; ˙ 92:4) und Anstrengungsbereitschaft des Individuums bestimmt. In letzter Konsequenz lässt sich die Selbstverantwortung des Subjekts nicht durch die Verantwortung des Kollektivs ersetzen (2:286, 53:38–41, 91:9–10, 92:4–10), was auch die islamische Konzeption des Gewissens (saut al-qalb) berührt. ˙ Paradigmatisch für das Verständnis des mündigen Subjekts gegenüber dem vorfindlichen autoritativen System im Sinne der geistigen Bewegung steht im Koran das Beispiel von Abraham, dem Wanderer durch die physikalische und seelische Topografie (2:258, 6:74–83 und 21:51–73). Das Gefüge von einerseits

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dem Koran als materialem Text, seiner Auslegungstradition und dem kollektiven Bezug, und andererseits dem Geist der Aussagen des Korans, seiner situativen Auslegungsnotwendigkeit und der individuellen Ansprache, deutet auf die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität der koranischen Lehren. Insgesamt ergeben sich dadurch für die Unterrichtsarbeit viele Möglichkeiten, Querbezüge zu ähnlichen Diskursen in den jüdischen und christlichen Theologien sowie in anderen geistes- und humanwissenschaftlichen Bereichen herzustellen. Zum Bildungsauftrag des islamischen Religionsunterrichts gehört es, solche Zusammenhänge transparent zu machen und die kognitive und spirituelle Beweglichkeit der Schüler*innen zu erhöhen, auf dass sie nicht nur mehr über den Islam wissen, sondern mehr vom Islam verstehen. Neben den religiös habitualisierenden Elementen des islamischen Religionsunterrichts verwirklicht sich hier auch sein Anspruch, das Denken zwischen Regelleitung und Freiheit zu lehren und einzuüben. 1.6.2 Ethik, Moral und religiöse Fragen des Zusammenlebens Das pädagogische Ziel dieses Inhaltsfelds ist es, die soziale Partizipation und die religiöse Selbstwirksamkeitserfahrung zu erhöhen sowie zielorientiert und selbstinitiiert (proaktiv) zu kommunizieren. Als zentrale Bereiche werden Grundlagen der islamischen Philosophie behandelt, dies mit vielfältigen Querbezügen zu Fragen der Ethik und Metaphysik. Neben grundsätzlichen Fragen nach dem Sinn und Ziel des menschlichen Daseins ist auch das zivilgesellschaftliche Zusammenleben von besonderer Bedeutung, vor allem mit Blick auf die Erschließung von Handlungsmöglichkeiten im näheren sozialen Feld bis hin zur globalen Perspektive. In diesem Zusammenhang werden anhand des religiösen Erbes des Islams Imperative des guten Handelns konkretisiert. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf den lebensweltlichen Bezügen junger Muslim*innen mit ihrer sich entwickelnden Selbstpositionierung zur eigenen Person, zu Familie und Gesellschaft, zu Gott und zum Islam als religiöses und kulturelles Erbe. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Feldes ist das Religionsgespräch auf Augenhöhe (3:64) als Überbegriff für interreligiöse, multireligiöse und transreligiöse Diskurse in Geschichte und Gegenwart (mit möglichen Länderschwerpunkten) sowie das Spannungsverhältnis aus konkurrierenden Wahrheitsansprüchen zwischen religiöser und nicht religiöser Weltanschauung. Dort, wo es im Spannungsfeld von Tradition und Situation, Subjekt und Gemeinschaft oder Glaube und Vernunft um die einvernehmlichen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse von Normen und Loyalitäten (tada¯mun, tafa¯hum) geht, die ˙ in den unterschiedlichen sozialen Handlungsfeldern entstehen können, kommt in besonderem Maße die Diskursorientierung des islamischen Religionsunterrichts als didaktisches Prinzip zum Tragen.

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1.6.3 Gesandte Gottes und religiös bedeutsame Personen Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem islamischen Schrifterbe zwischen Buchstabe und Geist der Heiligen Schrift entfaltet sich eine spezifische Problematik. Gemeint ist die Verhältnisbestimmung von theologischem Wahrheitssatz und historischem Wirklichkeitssatz. Es wäre erkenntnistheoretisch zu kurz gegriffen, von einer Opposition zwischen religiösem Dafürhalten und wissenschaftlicher Expertise oder zwischen gläubiger und kritischer Lesart zu sprechen. Die islamische Ideengeschichte hat immer wieder bewiesen, dass polemisch verkürzte Säkularitätsparadigmen, die ihrerseits wie Glaubenssätze formuliert werden können, für die verstehende Erschließung der Genese und Exegese des Korans nicht brauchbar sind. Zur didaktischen Herausforderung kann es indes werden, wenn vonseiten einer kritisch interessierten und spirituell neugierigen Schüler*innenschaft generell die angesprochene Vertrauensfrage an die Religion gestellt wird. Die ideologische Engführung etwa der Textart des Hadiths als Chronik der Gleichzeitigkeit von Religion und Geschichte, von Wahrheit und Wirklichkeit, warf nicht nur in der frühmittelalterlichen Hadithkritik als theologische Teildisziplin des Islams Grundsatzfragen auf. Sie stellt auch heute junge Muslim*innen vor große Herausforderungen. Das gilt vor allem dann, wenn sich der islamische Religionsunterricht in die Mitte des schulischen Fächerkanons begibt, zu dessen Bildungsauftrag auch die Kompetenz gehört, kritisch mit Quellen und mit eigenen Voreingenommenheiten umzugehen. Die Schüler*innen bekunden ihre Suche nach der Plausibilisierung des religiösen Arguments oftmals damit, dass sie nach »richtigen Antworten«, nicht nach »Imam-Antworten« verlangen, da sie Letztere bereits in der Moschee erhielten. Das signiert nicht etwa einen Verlust an spirituellem Erleben, sondern im Gegenteil die Vertiefung der religiösen theoreia. Didaktische Zugänge liegen zum einen in der Nutzung bezugswissenschaftlicher Verknüpfungen des islamischen Religionsunterrichts, zum anderen in der deutlicheren Unterscheidung von Explikation und Narration, von erklärendem (empireia) und verstehendem (anamnesis) Wissen. Die dahinter wirkende theologische Axiomatik gründet in der Dynamisierung der persönlichen Auffassung des Zusammenhangs von koranischer Lehre und der Frühzeit des Islams als einer Zeit des religiösen, kulturellen und sozialen Aufbruchs und nicht als einer Zeit des Stillstands. Überdies nimmt in der koranischen Prophetenlehre die Vorbildfunktion (’uswa) Muhammads als ˙ »Siegel der Gesandten Gottes« (ha¯tamu n-nabı¯yyı¯n) eine zentrale Rolle ein. Diese ˘ gründet sowohl im Wesen Muhammads als Mensch wie auch in seinem pro˙ phetischen Amt.

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1.6.4 Geschichte, Orte und religiös bedeutsame Ereignisse Verstärkt wird die didaktische Herausforderung durch die mögliche Spannung zwischen religiöser Erinnerungsgemeinschaft und wissenschaftlich regelgeleiteter Historie. Dabei wird die islamische Geschichte, aus religiöser Perspektive jedenfalls, auch als eine Erfüllung geschichtlicher Vorsehung im Sinne von Deute-Ereignissen auf die Ankunft und Wirkungszeit Muhammads betrachtet. ˙ Diese Wahrnehmung wirkt bis heute in aktuelle Funktionstexte wie religiöse Literatur- und Filmproduktion, muslimische Jugendkulturen, Predigten oder Schulbücher hinein. Diese Ebenen des Geschichtsverständnisses, im Sinne von Heilsgeschichte und historisierender Lesart, müssen nicht in Opposition zueinander gestellt werden. Zwar können beide Betrachtungsweisen vorübergehend zu Orientierungsschwierigkeiten führen, diese aber lassen sich didaktisch produktiv nutzen. An den islamischen Religionsunterricht ergeht deshalb auch der Auftrag, seinen Beitrag zur Versachlichung des Geschichtsbildes zu leisten, ohne dabei die religiöse Geschichtsperspektive gänzlich abzulehnen. In diesem Zusammenhang ist an einen stärkeren methodischen Einbezug von Religion als spezifisch spirituellem, kulturpsychologischem und ästhetischem Erfahrungskontext zu denken: Der Islam als Ideen- und Kulturgeschichte birgt ein unschätzbares Erbe, dessen positive Wirkung auf die europäische Geschichte wissenschaftlich noch nicht genügend erschlossen und für die Zwecke der soziokulturellen Beheimatung von Muslim*innen im heutigen Europa noch nicht abschließend formuliert ist. Darin besteht auch ein Auftrag der theologischen Grundlagenforschung als Referenzwissenschaft der islamischen Religionspädagogik. 1.6.5 Andere Religionen und Weltanschauungen Hier stehen zunächst das Judentum und das Christentum und ihr mit dem Islam vergleichbares Selbstverständnis als monotheistische Schriftreligion im Mittelpunkt. Von Interesse sind die jeweils unterschiedlichen theologischen Ausdifferenzierungen, die jeweilige Bezugnahme auf Abraham sowie christologische und andere schrifthermeneutische und theologische Fragestellungen. Von besonderer Bedeutung sind verbindende Erinnerungskulturen wie zum Beispiel prophetische Narrative von Unterdrückung und Befreiung, von Flucht, Vertreibung und Ankunft oder von Beheimatung und Entfremdung. Zur Sprache kommen verschiedene einflussreiche innerjüdische und innerchristliche Ausprägungen theologischer Schulen und Konfessionen, etwa im Zusammenhang mit der Spannung zwischen traditions- oder reformorientierten Reformulierungen der Lehre oder zwischen religiöser Institution und Laienbewegung. Mit besonderem Bezug zur Geschichte geht es hier auch um die gegenseitige Be-

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einflussung zwischen Judentum, Christentum und Islam in Spätantike, Mittelalter, Renaissance, Neuzeit und Gegenwart hinsichtlich zentraler theologischer Debatten wie etwa Verantwortung und Schuld, Humanismus, Theodizee, Krieg und Frieden, Gewalt und Gewaltverzicht, Gewissen, Schriftmorphologie und Literalität sowie metaphorisch-allegorischer Auslegung (Exegese) der Schrift. Gerade mit Blick auf gegenwärtige retrodoxe Entwicklungen in den Religionen muss das Gebot der Toleranz gegenüber Andersgläubigen und Andersdenkenden mit besonderem Bezug auf die Eröffnung des Heilsanspruchs in Koran 3:64, 4:122–124 oder 5:48 unterstrichen werden. Religion über konfessionelle Tribalisierungen, über die Kaprizierung auf erfundene Traditionen, über die Totalisierung und die Viktimisierung des Selbst oder die Verhärtung des vermeintlich religiös Eigenen zu deklinieren führt letztlich zur Zerstörung der Religion. In das Lernfeld eines analytisch und diskursiv angelegten islamischen Religionsunterrichts fallen auch religiöse und philosophische Deutungssysteme anderer Herkunft, etwa unterschiedliche regionale Ausprägungen von Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Lamaismus, Shintoismus und anderer asiatischer Religionen. Das umschließt auch indigene Religionen, etwa die der First Nations, animistische Vorstellungen und Kulte (der Glaube an die Beseelung der Natur) und Geisterglaube. Zudem sollten humanistische, anthroposophische und esoterische Positionierungen berücksichtigt werden – dies vor allem dann, wenn sie für die religiösen Positionierungen hinsichtlich des Glaubens an Gott als Herausforderung oder gar Provokation empfunden werden. Schließlich ermöglicht dieses Lernfeld auch die Bezugnahme auf Religionskritik im Sinne dezidiert artikulierter Positionierungen gegen Religion im Allgemeinen und gegen den Islam im Besonderen. Das schließt Phänomene von Islamkritik und Islamophobie ein. Gemeint sind damit Rigidisierung und Radikalisierung als Querschnittthema, die Sensibilisierung mit Blick auf die Gefahr der voreiligen Islamisierung sozialer, ökonomischer und politischer Konfliktursachen und religionsbezogener Zuschreibungen im Zusammenhang mit Ausgrenzungsdiskursen, die im islamischen Religionsunterricht unter Bezugnahme etwa auf Erkenntnisse der Migrations-, Rassismus- und Genderforschung intersektional betrachtet werden. Eine besondere Chance dieses Lernfelds – und das ist ein theologisches Argument – besteht schließlich darin, nicht nur etwas übereinander zu erfahren, sondern voneinander zu lernen. Die Spannung von Selbstverortung und Zuschreibung, von Aufbruch und Ankunft und von Selbst- und Fremdbestimmung berührt nicht nur die jüngsten Fluchtbewegungen über das Mittelmeer, sondern reicht tiefer in das kollektive Gedächtnis von Gesellschaften in globaler Perspektive, und zwar ungeachtet ihrer jeweiligen Religion oder Religion an sich. Migration ist mit Blick auf die Menschheitsgeschichte der Normalfall, in der Biografie der einzelnen Menschen mit ihren konkreten Namen, Identitäten und

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Geschichten aber der Ausnahmefall – verbunden mit der Angst, in der Welt verloren zu gehen. In der Nachfolge Abrahams, des Wanderers, ist diese Menschheitserfahrung zu Text geronnen. Gott ruft in Jesaia 43,1–7 Jakob, der sich in der Welt freigesetzt sieht, zu: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen!« Damit bietet Gott ihm sichere Heimat in der Unwägbarkeit der Welt. Dieser Bezug zum semantischen Feld »Israel« spiegelt sich im Koran in der allegorischen Figur des ʿImra¯n als einem der Sippennamen Jakobs, vermutlich mit Bezug zu Amram, Urenkel Jakobs und Gatte von Jochebet, Tochter von Levi und Mutter von Mose, Aaron und Mirjam. Dass später im Koran Maria, die Mutter Jesu, als »Schwester Aarons« und »Tochter ʿImra¯ns« angerufen wird (3:33, 62:12), deutet auf die religiöse Linie und spirituelle Verbindung, die nicht an Generationengrenzen Halt macht (ähnlich wie die Verbindung zwischen Jesus und Moses in Matthäus 2). Der islamische Religionsunterricht kann nicht zuletzt in Kooperation mit der Fächergruppe Religion und Philosophie aufzeigen, dass es mit Blick auf die religiösen Narrative nicht um materiale Geschichtswirklichkeiten geht, und auch nicht so sehr um das erklärende Wissen, das in den bislang geltenden Islamlehrplänen noch das Regime führt, sondern um Typologien und Modalitäten des Verhaltens, um existenzielle Fragen des Lebens und um verstehendes Wissen. Schließlich wird mit dem Fach auch eine Antwort auf die zunehmend an Ideologie und Gesinnung ausgerichteten, auf Fehlinformationen fußenden und schädlichen Ontologisierungen des Islams erwartet. Der Schlüssel zu einer gesunden Gestaltung des religiösen Lebens liegt nicht darin, Recht zu haben, sondern im Aufbau der Bereitschaft und der Fähigkeit zuzuhören, hinzusehen, nachzudenken, mitzufühlen und Recht zu geben. Das sind die Schlüsselkompetenzen zur Überwindung religiöser Egozentrik. Diese allerdings stellt die Lehrerbildung für das Fach gegenwärtig vor eine noch größere Herausforderung als der islamische Religionsunterricht selbst. Das wäre aber ein anderes Thema.

2.

Schlussbemerkung

Islamischer Religionsunterricht im deutschsprachigen Raum muss sich gegenwärtig gegen zwei Kontexte seiner Implementierung zur Wehr setzen. Auf der einen Seite steht die Überprägung eines präventiv wirkenden Unterrichts unter den Dispositiven von Sicherheit, Migration und Integration. Auf der anderen Seite steht die feindliche Übernahme des Islams durch seine eigenen Anhänger*innenschaften. Beiden Seiten gemein sind drei Typen der Fehlkonstruktion: erstens die Essenzialisierung des Islams zu einem systematischen und geschlossenen Ganzen im Sinne von Bekenntnis, Schrift und Lehre, zweitens die konfessionalistische Verdinglichung von »Gemeinschaft im Islam« (ummat al-

Zwischen religiöser, säkularer und identitärer Positionierung

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isla¯miyya) zur »Gemeinschaft der Muslim*innen« (ummat al-muslimı¯n) über die Konstruktion von Zugehörigkeit, drittens die Ontologisierung vermeintlicher Binäroppositionen wie West und Ost, heimisch und fremd, modern und traditionalistisch, liberal und konservativ, barmherzig und gerecht oder freiheitlich und totalitär. Das Fach kann sowohl für die religiöse als auch für die gesamtgesellschaftliche Solidargemeinschaft nur dann Früchte tragen, wenn es alle drei Typen in die Kritik stellt und eine globale und universale Perspektive dessen anzeichnet, was den islamischen Gesellschaftsentwurf auszeichnet: die tolerante (samha), friedfertige (salma), sichere (’amna) und gerechte (ʿadla) Gesellschaft ˙ in der vielfältigen Gemeinschaft aller.

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Hacı-Halil Uslucan

Die Formung des muslimischen Geistes: Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule

Zusammenfassung Gegenstand dieses Beitrags sind islamische Erziehungsziele im Spannungsfeld elterlicher Projektionen und schulischer bzw. religionsunterrichtlicher Angebote. Er beginnt mit einer Darstellung der Familie als primäre Sozialisationsinstanz, um danach – mit Blick auf die islamische Erziehung – auf die Spezifika der Diaspora-Situation – konkret der Muslim*innen in Deutschland – einzugehen. Daran anschließend wird der bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht (IRU) in Schulen vor dem Hintergrund der Konvergenz bzw. Divergenz mit elterlichen Vorstellungen thematisiert. Hierzu werden empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitung des IRU im Bundesland Nordrhein-Westfalen herangezogen, welche in den Jahren 2014 bis 2017 erfolgte. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Frage, was – aus einer pädagogisch-psychologischen Perspektive – Aspekte einer zeitgemäßen islamischen Erziehung sein könnten.

1.

Wer ist überhaupt Muslim*in? Probleme der Operationalisierung/Messung der Zugehörigkeit zum Islam

Wissen wir eigentlich, von wem genau die Rede ist, wenn es um »Muslim*innen« geht? Woran wird Muslim*insein festgemacht? Handelt es sich dabei um eine externe Zuschreibung oder um eine Selbstidentifikation? Die Schwierigkeiten einer gezielten Zusammenführung von Ergebnissen zum Islam bzw. hier speziell zur islamischen Erziehung in Deutschland liegen u. a. darin, dass die Vielzahl der vorliegenden kultur-, erziehungs- oder religionswissenschaftlichen Studien nur selten untereinander anschlussfähig ist. Oftmals besteht kaum Konsistenz in der Operationalisierung, da unterschiedliche Merkmale herangezogen und verschiedene Typologien verwendet werden. Darüber hinaus werden muslimische Zugehörigkeiten oft von vornherein mit Migrationshintergrund gleichgesetzt

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(Muslim*in ist gleich Migrant*in). Auch wenn diese Gleichung überwiegend nach wie vor zutrifft, nimmt die Bedeutung dieser Zuordnung im Zeit- und Generationenverlauf deutlich ab. Als nicht weniger problematisch erweist sich der Umstand, dass die Frage auf die Religionszugehörigkeit beschränkt und auf eine Analyse nach gelebter Religiosität verzichtet wird. Religion dient dann als »Container« für eine Reihe impliziter Annahmen. Aber auch dort, wo Religiosität explizit erfasst wird, ist der Differenzierungsgrad unterschiedlich stark ausgeprägt: Manchmal handelt es sich dabei um eine Selbsteinstufung nach der Stärke der Religiosität, manchmal wird die emotionale Bindung an oder die persönliche Bedeutung von Religion als Indikator verwendet, dann wieder wird sie anhand quantitativer Merkmale wie etwa der Häufigkeit religiöser Praktiken (Besuch religiöser Veranstaltungen, tägliches Gebet etc.) gemessen (Sauer & Halm 2019). Während etwa Diehl & Koenig (2009) neben der religiösen Praxis und der Bindung an die Religion auch die Bedeutung von Religiosität als Erziehungsziel betrachten, wird in der Studie von Frindte et al. (2011) die subjektive Religiosität durch die Religiosität des sozialen Umfelds ergänzt. Hadjar et al. (2018) hingegen ziehen lediglich die Selbstauskunft zur Frömmigkeit der Familie (»Wie fromm ist Ihre Familie?«) als Merkmal der Religiosität heran. Deutlich umfassender sind die Skalen des Religionsmonitors (Bertelsmann Stiftung 2008), die individuelle Religiosität anhand von mehreren Kerndimensionen (Ideologie, Intellekt, Erfahrungen, private und öffentliche religiöse Praxis, Alltagsrelevanz etc.), aus denen ein Zentralitätsindex der Religion gebildet wird, bestimmen. Eine differenziertere Position nimmt diesbezüglich exemplarisch eine jüngere Arbeit von Uygun-Altunbas (2017) ein, deren umfassende Definition von Religiosität sich u. a. an den fünf zentralen Glock’schen Dimensionen – der religiösen Erfahrung, der ideologischen Dimension, der rituellen religiösen Praxis, dem religiös motivierten Handeln sowie der Dimension des religiösen Wissens (vgl. Glock 1969) – orientiert und diese nachvollziehbar begründet. Für eine umfassende Messung der Religiosität käme der im Folgenden entwickelte Katalog infrage, der sowohl für Fragen der Teilhabe als auch für empirische sozial- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen als Basics Verwendung finden könnte: Zentrale Aspekte zur Messung muslimischer Religiosität: – Zugehörigkeit zum Islam, nach Konfessionen/Glaubensrichtungen differenziert; – subjektiver Grad der Religiosität und Alltagsrelevanz der Religion; – Häufigkeit der Ausübung verschiedener religiöser Praktiken (wie etwa Beten, Fasten, Einhaltung von Ernährungsvorschriften, beabsichtigte Pilgerfahrt, Almosengabe, Freitagsgebet [für Männer], Kopftuchtragen bei Frauen); – religiöse Erziehung in der Kindheit/Jugend – Religiosität der Eltern;

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– Einstellung zur Rolle von Religion in Gesellschaft und Politik (wie etwa Ansichten zur Vereinbarkeit von Demokratie bzw. Moderne und Islam, Orthodoxie, Missionierung/exklusiver Heilsanspruch, Toleranz gegenüber anderen Religionen, Laizismus); – Einstellung zu strittigen religiösen Fragen (wie etwa gemeinsamer Sportunterricht, Klassenfahrten, Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität, Kopftuch, Geschlechterrolle, Wahl eines/einer nichtmuslimischen Ehepartner*in, Sterbehilfe); – Identität (Religion als Identitätsstifter); – soziales Kapital/Netzwerke (wie etwa interreligiöse und interethnische Kontakte, Engagement in [religiösen] Organisationen); – Segregation, Marginalisierungs-/Fremdheitsempfinden; – sozialer Status/Bildungsstatus der Eltern. An den angeführten Aspekten wird deutlich, wie anspruchsvoll eine umfassende Messung von (muslimischer) Religiosität ist, die qualifizierte Antworten auf den Zusammenhang von Religion und Erziehung bzw. spezifische Merkmale muslimischer Erziehung liefern will. In diesem Zusammenhang ist an die jüngst von Mouhanad Khorchide (2018) wiederholte Forderung zu erinnern, der Vielfalt des Islams eingedenk zu sein und zu unterstreichen, dass es »den Islam« (und folglich auch »den Muslim«) in der Form nicht gibt, sondern er sowohl historisch als auch gegenwärtig je nach Weltgegend völlig unterschiedlich (in Indonesien anders als in Saudi-Arabien oder Bosnien etc.) gelebt, gedeutet und diskursiv verhandelt wird.

2.

Die primäre Rolle der Eltern bei der Herausbildung des Geistes

Zunächst wäre zu fragen, warum diese Thematik nach wie vor aktuell bzw. von Relevanz ist. Hier könnte ein Blick auf die demografische Zusammensetzung des institutionellen pädagogischen Alltags bereits erste Hinweise liefern: So haben in der Bundesrepublik mindestens ein Drittel aller Kinder einen Migrationshintergrund – und die Tendenz ist steigend. Mit Blick auf die religiöse Zusammensetzung ist daher anzunehmen, dass eine zwingende Konsequenz dieser Entwicklung eine vielgestaltige religiöse Prägung von Kindergärten und Schulen sein wird. Dass hierbei auf muslimische Familien und Kinder fokussiert wird, ist ziemlich naheliegend, denn nach dem Christentum ist der Islam in Deutschland mit gegenwärtig etwas mehr als fünf Millionen Angehörigen die zweitgrößte Religion. Darüber hinaus wird in einer Vielzahl von Studien deutlich, dass Muslim*innen im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften im Allgemeinen eine höhere sowie intensivere Religiosität aufweisen (Frindte et al. 2011;

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Haug, Müssig & Stichs 2009; Bertelsmann 2008), wiewohl es zwischen den verschiedenen Herkunftsländern große Unterschiede gibt. Was nun die für unseren Kontext relevante Gruppe der Kinder und Jugendlichen betrifft, so belegt eine Studie von Schweitzer bereits im Jahre 2012, dass sowohl in nichtkonfessionellen als auch in konfessionellen Trägern etwa 13 % der Kinder (also jedes achte Kind) muslimischen Glaubens sind, wobei dieser Anteil in Ballungsgebieten bereits bei Raten von 18 bis 27 % steigt. Deutlich wird dort ebenfalls, dass im Vergleich zu christlichen Kindern die muslimischen von einer stärker gelebten Religiosität in ihren Familien berichten. Wollte man diesen empirischen Gegebenheiten Rechnung tragen, wäre eine Forderung die, mehr muslimische Erzieher*innen in den Kindergärten einzustellen, was jedoch insbesondere in konfessionell (christlich) orientierten Kindergärten schwierig sein dürfte, wenn diese die Zugehörigkeit zum Christentum restriktiv auslegen. Doch Kinder sind bereits vor wie auch während der Kindergartenzeit religiösen Erziehungsimpulsen ihrer Eltern ausgesetzt: Weltweit – und keinesfalls nur in islamischen Haushalten – bildet die Familie den Ort der elementaren religiösen Werteerziehung; und das betrifft sowohl die zeitliche Vorrangigkeit als auch die affektive Nachhaltigkeit. Weltweit ist die Familie der Ort, an dem elementare Gefühle wie Sicherheit, Geborgenheit, Liebe, Vertrauen, Hilfsbereitschaft etc., welche eng an religiöse Vorstellungen (etwa jene von einem gnädigen, vergebenden Gott) gekoppelt sind, zuerst und auch am intensivsten erlebt werden. Diese werden als Werte, als wünschenswerte Handlungen und Praktiken vermittelt, und dies je nach Religiosität der Familie mit oder ohne Gottesbezug. Eltern sind insofern die ersten Lehrer*innen und Bildner*innen des kindlichen (religiösen) Geistes. Hierbei zeigt die empirische Religionsforschung, dass von den Müttern die stärkeren Einflüsse ausgehen, was die künftige religiöse Sozialisation des Kindes betrifft (Martin, White & Perlman 2003). Auch frühere Studien stellten positive Zusammenhänge zwischen eigener und familialer Religiosität fest: So korrelierte z. B. eine positive Einstellung zu Religion stark (r = .45) mit religiösen Praktiken in der eigenen Familie (Hood et al. 1996). Religiöse Werte werden also insbesondere über die Familie transmittiert. Familie ist der zentrale Ort, an dem in der Kindheit »religiöses Kapital« akkumuliert wird. Von daher kann davon ausgegangen werden, dass die religiöse Sozialisation in der Familie die künftige Einbettung in andere religiöse Sozialisationsinstitutionen wie Peers, Kirche/Moschee etc. »kanalisiert« (vgl. Martin, White & Perlman 2003). Eine größere Studie von Boos-Nünning & Karakasoglu (2005) mit jungen Migrantinnen ergab ebenfalls, dass etwa 54 % der Befragten explizit den Wunsch hegen, die eigenen Kinder später gemäß den eigenen religiösen Grundsätzen zu erziehen. Junge Frauen mit türkischem und griechischem Hintergrund waren dabei am stärksten an der religiösen Erziehung ihrer Kinder interessiert (dem-

Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule

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nach ist dieses Bestreben nicht nur Angehörigen des Islams eigen). Hingegen lehnte etwa ein Viertel der Befragten eine religiöse Erziehung für die eigenen Kinder ab. Kulturpsychologische Studien zur Werteforschung (Smith & Schwartz 1997) zeigen, dass Religiosität in den meisten Fällen positiv mit traditionellen Werten und negativ mit Hedonismus und Stimulation korreliert. Zugleich variieren Werteauffassungen jedoch nicht nur nach kulturellem Kontext, sondern auch nach biografischen und lebensgeschichtlichen Zusammenhängen. So favorisieren jüngere Menschen eher Werte wie Relevanz von Offenheit, Stimulation und Hedonismus, während ältere Menschen eher an der Wichtigkeit von Traditionen, Konformität und Sicherheit festhalten. Insofern kann eine Spannung in den Werteauffassungen der Generationen als ein kulturübergreifend immanentes Phänomen verstanden werden, das jedoch bei (muslimischen) Migrant*innenfamilien verschärft wird, da Eltern in ihrem islamischen Selbstverständnis stärker eine kollektivistische Wertebindung zeigen, Kinder jedoch im Prozess der Akkulturation deutlich intensiver mit individualistischen Werten konfrontiert werden, wodurch sie den Assimilations- und Akkulturationsdruck deutlich stärker spüren. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine islamisch-religiöse Erziehung in der Diaspora bzw. in einer als Diaspora wahrgenommenen Situation für muslimische Familien deutlich anspruchsvoller. Weshalb ist dies so? Während eine religiöse Sozialisation in den islamischen Herkunftsländern vom sozialen Kontext unterstützt und vielfach unreflektiert als eine Alltagsgewissheit übernommen bzw. habitualisiert wird, das soziale Umfeld für die Eltern also koedukativ wirkt, ist davon auszugehen, dass in der Migrationssituation – also dort, wo dieser alltägliche, bestätigende und unterstützende Kontext entfällt – die religiöse Erziehung deutlich intensiver von den Eltern selbst übernommen werden muss. So muss eine Mutter im türkischen Trabzon oder Konya ihrem Kind die eigene Religion wenig erklären, in der Differenzerfahrung, in der Begegnung mit einer anderen oder areligiösen Umwelt (etwa in Deutschland oder einem anderen westeuropäischen Land) hingegen schon. Schiffauer (1991) beobachtete in seinen frühen Studien in der Migration eine »Islamisierung des Selbst«, welche mit einer Individualisierung einhergehe, da in der Fremde der Islam nicht so sehr die Funktion der kollektiven Vergegenwärtigung und Plausibilisierung der Alltagswirklichkeit habe. Nicht zuletzt erfolgt auch eine »Islamisierung« der Migrant*innen aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft: Vor allem (türkische oder arabische) Migrant*innenjugendliche werden vielfach als »junge Muslim*innen« betrachtet, auch wenn sie nicht immer ihre Religion kennen oder praktizieren. Im Gegenzug können diese Fremdzuschreibungen – insbesondere, wenn sie langanhaltend und dominant sind – auch irgendwann in das Selbstbild integriert werden, sodass ursprüngliche Fremdzuschreibungen zu Selbstzuschreibungen werden – Migrant*innen quasi

382

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»Muslim*innen wider Willen« werden – und der Konstruktionscharakter der »islamischen Identität« verwischt wird (Tietze 2001). Die Zugehörigkeit zum Islam kann dann ein Ausdruck der Selbstausgrenzung (von der Mehrheitsgesellschaft) und Differenzierung sein, zugleich aber ein eher individuell biografisches Merkmal religiöser Bindung darstellen. Auch kann sie als Begründung der Verschiedenheit von der Mehrheitsgesellschaft instrumentalisiert werden (Defensivkultur und Distinktionsbemühung). In Migrationskontexten ist die (eigene religiöse) Gemeinde nicht vorgegeben, sondern kann gewählt werden. Durch die stärker individuelle Beschäftigung mit der Religion steht dann die Suche nach »religiöser Wahrheit« im Vordergrund; in der Folge wird die Zugehörigkeit zum Islam eher spiritualisiert, die Bildung von religiösen »Intensivgruppen« eher gefördert; wiewohl es sich z. B. um dasselbe äußere Verhalten handeln mag (so etwa das Tragen eines Kopftuchs oder das Fasten im Fastenmonat Ramadan), sind die Gründe der Religiosität in der Migrationssituation andere bzw. zeigen ein deutlich stärker bewusstes Moment (als in den Herkunftsorten), da sie, wie bereits angemerkt, eine scharfe Differenz zur sozialen Mitwelt markieren (vgl. auch Uslucan 2010a). Dies wird auch in einer jüngeren Studie von Uygun-Altunbas bestätigt, die in ihrer Typologie diese Gruppe als »Idealisten« bezeichnet, bei welchen die Suche nach Sinn und Orientierung durch den (islamischen) Glauben im Vordergrund steht (vgl. UygunAltunbas 2017, S. 155ff.).1 Relativ unkontrovers ist daher die Feststellung, dass der Islam in Europa bzw. Deutschland vor anderen Herausforderungen steht, sich weder aus einer bruchlosen Fortführung der Tradition noch immanent mittels eines Rekurses auf die religiöse Lehre legitimieren kann, sondern sich vielmehr in einer neuen sozialen Umwelt bemühen muss, »erkannt und anerkannt zu werden« (vgl. Aslan 2010, S. 278). Wenn wir uns jedoch wieder den muslimischen Eltern in Deutschland widmen, so ist die Frage zu stellen, über welche Potenziale sie verfügen, um eine situationsangemessene Orientierung und Wertevermittlung zu gewährleisten. Dies wird insbesondere dann zum Problem, wenn die eigenen Vorstellungen von Religion auf ländlich-traditionellen Auffassungen basieren, welche eher eine Fortführung von Alltagsgewissheiten bilden und kaum religiös bzw. theologisch fundiert sind. Zwar ist die religiöse psychische Entwicklung von jedem Einzelnen selbst zu leisten, wenn sie sich aber nicht auf verlässliche, kompetente Erwach1 Neben den »Idealisten« identifiziert sie als Typen die »Ritualisten«, für welche die Befolgung islamischer Praktiken im Vordergrund steht, die »Identitätssucher«, für die die Religiosität stark mit der (muslimischen) Identitätsentwicklung des Kindes assoziiert ist, sowie eine weitere Gruppe, die sie als »Ethiker« bezeichnet, bei denen normativ-ethische Grundhaltungen des (islamischen) Glaubens als zentrale erzieherische Dimensionen im Vordergrund stehen. Dem ist kritisch hinzuzufügen, dass die vorgenommene Differenzierung zwischen »Idealisten« und »Ethikern« nicht immer trennscharf ist.

Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule

383

sene verlassen kann, wird dies kaum gelingen. Um mit einem Bild zu sprechen: Die Stufen nach oben muss jeder selbst erklimmen, Erwachsene aber können dem Kind als stützendes, haltgebendes Geländer zur Verfügung stehen (vgl. Reich 2001). Hierbei besteht jedoch insbesondere für muslimische Eltern die Schwierigkeit, vor dem Hintergrund ihrer oft geringen Bildungsvoraussetzungen auf (religiöse) Fragen Antworten geben zu müssen, die so in den Herkunftsländern des Islams nicht gestellt werden und eher für ein Zusammenleben multireligiöser bzw. multiethnischer Kontexte typisch sind (so etwa, ob der christliche Gott derselbe wie Allah oder der »Josef« in der Bibel derselbe wie der »Yusuf« im Koran sei). Hier sind interreligiöse bzw. multireligiöse Kompetenzen gefragt, die kaum ein Bestandteil der religiösen Erziehung der Eltern in den Herkunftsländern gewesen sein können. Eine idealtypische Forderung der religiösen Erziehung ist insofern an eine doppelte Zielsetzung gebunden: 1. Wieweit werden Kinder und Jugendliche zu einem Verständnis der eigenen religiösen und kulturellen Herkunft befähigt? und 2. Wieweit kann bei ihnen gleichzeitig auch eine Öffnung, eine Haltung der Aufgeschlossenheit gegenüber Menschen anderen Glaubens und kultureller Herkunft erreicht werden?

3.

Rolle der Schule

Bekanntermaßen stellt sich die Schule für alle Kinder als die erste »große Zwangsinstitution« dar. Zugleich ist sie der Ort, an dem Kinder mit Gleichaltrigen mit einer anderen Sprache, Kultur, Religion etc. in Berührung kommen. Dieser Übergang vom Elternhaus zur Schule als zentraler Erlebnis- und Deutungsraum stellt nicht nur für muslimische, sondern für alle Kinder ein kritisches Lebensereignis dar. Die nun auf das Kind einwirkenden unterschiedlichen Anforderungen müssen wahrgenommen, verstanden und bewältigt werden, aber zugleich gilt es auch, eine »lebbare« Synthese mit den eigenen Vorstellungen, Erwartungen und Wünschen auszubilden. Vor allem für muslimische Kinder gestaltet sich dieser Übergang möglicherweise schwierig. Wenn sie zuvor keinen Kindergarten besucht, im familialen Kontext wenig nachbarschaftliche Bezüge zur Mehrheitsgesellschaft gehabt haben und so in der Schule das allererste Mal mit unterschiedlichen kulturellen sowie religiösen Hintergründen konfrontiert werden, werden ihnen die Unterschiede und Inkonsistenzen zwischen den Wertvorstellungen ihres eigenen familialen und religiösen Kontextes und den durch die Schule vermittelten Werten der Aufnahmegesellschaft deutlich vor Augen geführt. Gerade mit Blick auf ein interkulturelles bzw. multireligiöses Zusammenleben wäre daher die Forderung, den bekenntnisorientierten religiösen Unterricht durch eine interreligiöse Unterrichtsgestaltung zu ersetzen, und zwar gemeinsam mit allen Schüler*innen, pädagogisch zweifellos sinnvoll.

384

Hacı-Halil Uslucan

Schließlich liegt es im Wesen eines bekenntnisgebundenen Unterrichts, der Bildung eines geschlossenen Überzeugungssystems, welches zu Überlegenheitsansprüchen und zur Abwertung anderer religiöser Überzeugungen führt, Vorschub zu leisten (vgl. ausführlich Uslucan 2010b und 2012), was letztlich auch dem Grundsatz der Neutralität des Staates widerspricht (vgl. auch Leimgruber 2010). Natürlich müsste, im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes, diese Regelung für alle Religionen gelten. Da bekenntnisgebundener Religionsunterricht jedoch Verfassungsrang hat2 und eine Verfassungsänderung bei den gegebenen politischen Mehrheitsverhältnissen in absehbarer Zeit kaum realistisch erscheint, muss also die Aufgabe sein, mit dieser Vielfalt produktiv umgehen zu lernen. Unabhängig von der rechtlichen Dimension (siehe hierzu ausführlicher Oebbecke 2010) genießt der Religionsunterricht, als ein wählbares Unterrichtsfach, in der Bevölkerung hohe Akzeptanz; dies gilt auch für den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht (IRU). So stimmten in einer Untersuchung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR 2016) bereits 2016 etwa 78 % der Befragten ohne Migrationshintergrund der Aussage zu, dass Religionsunterricht ein wählbares Unterrichtsfach sein sollte; mit Blick auf den islamischen Religionsunterricht (IRU) waren es immer noch etwa 65 %. Türkeistämmige Befragte hingegen stimmten der Aussage, dass der IRU ein wählbares Unterrichtsfach sein sollte, mit ca. 85 % zu. Hinsichtlich der zentralen Aufgaben der Schule ist festzuhalten, dass diese nicht nur eine Selektions-, Allokations- und Qualifizierungsfunktion hat, sondern ihr auch stets eine Sozialisierungs- und Legitimationsfunktion zukommt – insbesondere hat sie dafür zu sorgen, dass Schüler*innen die Rechtmäßigkeit der bestehenden sozialen Ordnung anerkennen (Fend 1981). Für den IRU bedeutet das, dass er eine Art gültiges, autoritatives, autorisiertes Wissen über den Islam produzieren und das in der islamischen Geschichte produzierte Wissen re-produzieren muss. Dies führt vielfach zu Spannungen mit dem elterlichen Wissen über die (»wahre«) Religion, über die gültige Deutung ihrer Inhalte, welche sich vielfach an den Herkunftsländern orientiert. Zugleich steht der »Schulislam« jedoch in einem Spannungsverhältnis zu den Vorstellungen darüber, was in der (islamischen) Gemeinde als der »wahre Islam« betrachtet, was in Moscheen etc. verbreitet wird. Obwohl muslimische Stimmen davor warnen (so etwa Ceylan 2010), dieses Verhältnis in einer exkludierenden binären Logik des Entwederoder (Moschee versus Schule) zu verhandeln, und eine komplementäre Sichtweise einfordern (Schule als Ort der kritischen Reflexion der religiösen Tradi2 Anders als die Fächer Mathematik und Deutsch ist Religionsunterricht grundgesetzlich geschützt; gleichwohl erlaubt es die Religionsfreiheit Eltern, ihr Kind vom Religionsunterricht abzumelden, was auf Mathematik oder Deutsch nicht zutrifft.

Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule

385

tionsaneignung, die im Elternhaus und in der Moschee vorwiegend erfolgt), gilt doch festzuhalten, dass allein durch die institutionellen Rahmenbedingungen der Schule nicht von einem bruchlosen Übergang gesprochen werden kann. Vor diesem Hintergrund soll im nächsten Abschnitt der Frage nach Divergenzen/Inkompatibilitäten sowie Übereinstimmungen zwischen elterlichen Vorstellungen und den von den Schüler*innen berichteten Lerninhalten bezüglich des Islams nachgegangen werden.

3.1

Ergebnisse der Evaluation des IRU3

Im Schuljahr 2014/15, dem Beginn der wissenschaftlichen Begleitung/Evaluation, wurde im Bundesland NRW an insgesamt 52 Grundschulen und 40 weiterführenden Schulen islamischer Religionsunterricht erteilt. Diese Zahl ist in den Folgejahren sukzessive gestiegen. Für die Evaluation wurde aus pragmatischen Überlegungen eine Auswahl von acht bis zehn Schulen (vier bis fünf Grundschulen und vier bis fünf weiterführende Schulen) getroffen. Für die Vorauswahl der Schulen wurden folgende Kriterien herangezogen: 1. Die ausgewählte Schule sollte einen hohen Anteil an muslimischen Schüler*innen aufweisen. 2. Sie sollte sozialräumlich bzw. regional und strukturell (Bevölkerungszusammensetzung, sozio-ökonomische Ausstattung etc.) heterogen sein, um Konfundierungseffekte auszuschließen, etwa in ärmlichen Regionen bzw. schlecht ausgestatteten Schulen, in denen bestimmte Schüler*innenmerkmale nicht auf die religiöse Zugehörigkeit der Schüler*innen selbst, sondern auf die Qualität der schulischen bzw. ökologischen Ressourcen zurückzuführen sind. 3. Die wissenschaftliche Begleitung sollte mit den vorhandenen (zeitlichen, finanziellen etc.) Ressourcen erfolgreich bewältigbar sein; die damit verbundenen Fragestellungen sollten dennoch exakt und genau beantwortet werden, also valide Informationen liefern können.

3 Die wissenschaftliche Begleitung/Evaluation des islamischen Religionsunterrichts in Nordrhein-Westfalen baut auf vier Dimensionen auf: 1. der theologischen Dimension des Unterrichts bei Lehrkräften und Schüler*innen, 2. der pädagogisch-psychologischen Dimension bei Lehrkräften und Schüler*innen, 3. der integrationspolitischen Dimension bei Eltern und Schüler*innen, 4. der Akzeptanz des Unterrichts bei Schüler*innen, Eltern, Lehrkräften und dem wissenschaftlichen Beirat des islamischen Religionsunterrichts. In diesem Beitrag fokussieren wir jedoch lediglich auf pädagogisch-psychologische Dimensionen und Fragen der Akzeptanz des IRU.

386

Hacı-Halil Uslucan

3.1.1 Empirische Ergebnisse aus der dritten Befragungswelle 2017 Stichprobenbeschreibung: Elternstichprobe An der dritten Befragung nahmen insgesamt 150 Eltern teil; rund 60 % davon waren weiblich. Etwa die Hälfte war in Deutschland geboren, je ein Viertel (26,4 %) stammte aus der Türkei oder einem anderen Land (23,6 %). Beinahe alle befragten Elternteile haben die islamische Religionszugehörigkeit. Nur zwei Elternteile gaben an, dass sie nichtmuslimisch seien (evangelische und christlichorthodoxe Religionszugehörigkeit). Zusätzlich wurden die Eltern gefragt, welcher Religion ihre (Ehe-)Partnerin oder ihr (Ehe-)Partner angehört. Fast alle muslimischen Elternteile gaben an, dass ihre (Ehe-)Partnerin oder ihr (Ehe-) Partner die islamische Religionszugehörigkeit hat. Nur zwei muslimische Elternteile haben (Ehe-)Partner*innen, welche der christlichen Religion angehören. Insgesamt sind unter den 129 angegebenen Ehen/Partnerschaften zwei interreligiöse Ehen/Partnerschaften. Rund 96 % der Eltern bezeichnen sich selbst als gläubig (42 % als »eher stark gläubig« und 54 % als »eher gläubig«; nur knapp 4 % betrachten sich selbst als explizit »nicht gläubig«. Schüler*innenstichprobe Insgesamt nahmen an der dritten Erhebung 138 Schüler*innen weiterführender Schulen teil. Davon besuchten 11,7 % die fünfte, 31,4 % die sechste, 20,4 % die siebte sowie 36,5 % die achte Jahrgangsstufe. Das Geschlechterverhältnis war nahezu ausgeglichen (51,4 % Mädchen, 48,6 % Jungen). Mehr als 90 % von ihnen waren in Deutschland geboren. Freundeskreise waren weitestgehend national gemischt (bei rund 70 %), lediglich 25 % der Befragen gaben an, ausschließlich nichtdeutsche Freund*innen zu haben. Auch mit Blick auf die Religionszugehörigkeit innerhalb des Freundeskreises herrschte großteils Indifferenz: So war es für 70 % eher gleichgültig, ob ihre Freund*innen muslimisch seien oder nicht; lediglich 12,4 % legten Wert darauf, ausschließlich mit Muslim*innen befreundet zu sein. 72,3 % der Schüler*innen besuchten außerhalb der Schule einen Islamunterricht in der Moschee. Im Folgenden fokussieren wir aus der Vielzahl der empirischen Ergebnisse auf die Dimensionen »elterliche Erwartungen an den und Zufriedenheit mit dem IRU« sowie auf die Schüler*innenangaben zu Formen und Inhalten religiösen Wissenserwerbs durch den IRU. Orte religiöser Sozialisation: Islamunterricht und Moscheebesuche Die Schule kann keineswegs als der einzige bzw. als der privilegierte Ort religiöser

Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule

387

Sozialisation und Wissensvermittlung betrachtet werden. So haben rund 72 % der befragten Schüler*innen außerhalb der Schule an einem Islamunterricht in der Moschee teilgenommen, auch in den früheren Erhebungswellen betrugen diese Raten zwischen 57 % und 61 %. Rund 41 % besuchten die Moschee sogar zweimal oder öfter in der Woche, also häufiger als den IRU. Insofern gehen weder die (positiven) Effekte beim Wissenszuwachs über den Islam, der Reifung der religiösen Persönlichkeit etc. noch negative, und zwar eventuelle Radikalisierungstendenzen, allein auf das Konto der Schule. Das heißt aber zugleich, dass sich die Schüler*innen permanent in einem Spannungsfeld aus unterschiedlichen Institutionen (Moschee: freiwillig, wenig strukturiert, nicht immer pädagogisch-didaktisch profiliert vs. Schule: höchst strukturiert und pädagogisch didaktisch ausgebildetes Personal) befinden. Wiewohl der IRU auf eine recht hohe Akzeptanz stößt, dürfte sich das Angebot der Moscheen bei den Schüler*innen noch größerer Beliebtheit erfreuen. Knapp 62 % gaben an, ihre Kenntnisse über den Islam lieber in der Moschee zu erwerben; mit großem Abstand folgten die Schule (zwischen 21,7 % bei Mädchen und 26 % bei Jungen) und das Elternhaus (zwischen 5 % bei Jungen und 15 % bei Mädchen). Vor diesem Hintergrund steht der IRU vor der veritablen Herausforderung, seine Angebote und Formate gegenüber der »Konkurrenz Moschee« attraktiver zu gestalten. 3.1.2 Erwartungen der Eltern an den islamischen Religionsunterricht Was wünschen sich Eltern vom islamischen Religionsunterricht? Wie zufrieden sind sie mit dem Angebot des IRU? Anhand von 15 Aussagen wurden die Erwartungen der Eltern ermittelt.4 Zunächst wurden sie gefragt, ob der IRU ihren Vorstellungen von religiöser Lehre/Erziehung entspricht. Entgegen den Erwartungen (denn die eigene religiöse Sozialisation kann kaum in Deutschland bzw. im Rahmen eines Islamunterrichts in einer deutschen Schule erfolgt sein) äußerten rund drei Viertel der Befragten, dass der islamische Religionsunterricht ihren Vorstellungen von religiöser Lehre/Erziehung zum größten Teil oder voll und ganz entspreche.

4 Als zentrale Quellen, aus welchen sich elterliche Erwartungen mit Blick auf den islamischen Religionsunterricht speisen, hat Mohagheghi drei Dimensionen vorgeschlagen: a) aus einer traditionell-kulturellen Prägung, b) aus einer religiösen Prägung und c) aus den Anforderungen eines Lebens in einer Migrationssituation (vgl. Mohagheghi 2010). Wir haben hier stärker die ethischen, religiösen und kulturellen Aspekte in den Vordergrund gestellt; Fragen betreffend das gesellschaftliche, soziale Zusammenleben etc. wurden von uns separat, unabhängig von der Einstellung zum IRU, erfasst.

388

Hacı-Halil Uslucan Entspricht der IRU Ihren Vorstellungen von religiöser Lehre/Erziehung? (in %)

50,0

25,0

20,7 4,3

überhaupt nicht

etwas

zum größten Teil

voll und ganz

Abbildung 1: IRU und elterliche Vorstellungen von religiöser Lehre/Erziehung

Nur knapp 5 % der Eltern sahen eine deutliche Divergenz zwischen dem IRU und ihren eigenen Vorstellungen von islamischer Erziehung und weitere 20 % sprachen von Abweichungen gegenüber ihren eigenen Überzeugungen. Deutlich wurde darüber hinaus, dass die Mehrheit der Eltern allen Aussagen in hohem Maße zustimmte; eine Feinanalyse ließ jedoch erkennen, dass bei den elterlichen Erwartungen die ethischen Kompetenzen und Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung gegenüber dem Erwerb theologischer Kompetenzen (etwa dem Auswendiglernen von Suren, dem Erlernen der arabischen Sprache) überwiegen. Das ist insofern überraschend, als es bedeutet, dass der IRU aus elterlicher Sicht nicht primär der Festigung der religiösen Kompetenz, sondern allgemein der ethischen Reife des Kindes dienen, also eher zur Persönlichkeitsstärkung und moralischen Reifung beitragen soll; in der Typologie von UygunAltunbas (2017) repräsentieren die befragten Eltern also eher die »Idealisten« als die »Ritualisten«, auch wenn die Vermittlung der fünf Säulen und der Glaubensgrundsätze des Islams vergleichsweise ebenfalls hohe Zustimmungswerte erhalten.5 Im Einzelnen hatten die Items »Ich erwarte, dass mein Kind im IRU lernt, ein guter Mensch zu sein« (98,7 %), »Ich erwarte, dass mein Kind im islamischen Religionsunterricht über respektvolles Miteinander lernt« (97,9 %) sowie »Ich erwarte, dass mein Kind im islamischen Religionsunterricht über Barmherzigkeit 5 Demgegenüber hatte in einer früheren wissenschaftlichen Begleitung des islamischen Religionsunterrichts im Land Niedersachsen noch eine Vielzahl der Eltern die Erwartung gehegt, ihr Kind möge im IRU Gebetsuren, Koransuren etc. lernen, also stärker die ritualistische Dimension in den Vordergrund gestellt (vgl. Uslucan 2007).

389

Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule

und Toleranz lernt« (97,9 %) die größte Zustimmung. Die niedrigste Zustimmung gab es für die Aussage »Ich erwarte, dass mein Kind im islamischen Religionsunterricht lernt, den Koran auf Arabisch zu lesen« (53,4 %). Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht (in %), dass mein Kind lernt, ein guter Mensch zu sein

14,2

lernt, dass der Islam die einzig wahre Religion ist

84,5

10,3 9,7

lernt, dass Allah der einzige wahre Gott ist

9,7

lernt, Bittgebete (Dua) aufzusagen

11,6

71,7 82,6 30,8

52,1

lernt, das Pflichtgebet zu verrichten

14,6

32,6

45,1

lernt, Suren aufzusagen

16,6

29,7

46,9

lernt, den Koran auf Arabisch zu lesen

stimmt nicht

27,1

stimmt eher nicht

19,4

stimmt eher

20,1

33,3

stimmt genau

Abbildung 2: Erwartungen der Eltern an den IRU Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht (in %), dass mein Kind über Gemeinsamkeiten zwischen Islam und anderen Religionen lernt

30,6

über andere Religionen lernt 17,9

80,0

10,1

über die islamische Familie lernt

87,8 26,0

über die Hadithe (hadis) etwas lernt über die fünf Säulen des Islams lernt über die Glaubensgrundsätze (Iman) lernt

stimmt nicht

52,8

21,5

über Barmherzigkeit und Toleranz lernt über respektvolles Miteinander lernt

61,1

stimmt eher nicht

68,5

21,8 13,6 20,1

stimmt eher

Abbildung 3: Weitere Erwartungen der Eltern an den IRU

63,9 82,3 77,1

stimmt genau

390

Hacı-Halil Uslucan

3.1.3 Elterliche Motivation für die Teilnahme des Kindes am IRU Die Motive der Eltern, ihr Kind zum IRU anzumelden, können vielfältig sein. Wir haben sie hierzu befragt, und 112 Elternteile (ca. 75 %) haben die offene Frage »Warum möchten Sie, dass Ihr Kind am islamischen Religionsunterricht teilnimmt?« beantwortet. Die folgende Tabelle gibt die zentralen Motive für die Teilnahme am islamischen Religionsunterricht wieder: Tabelle 1: Motive der Teilnahme des Kindes am IRU Warum möchten Sie, dass Ihr Kind am islamischen Religionsunterricht teilnimmt? Anzahl Wissen über den Islam Islamische Werte und Praxis und islamische Lebensführung für das Diesseits und Jenseits

50

Wissensvermittlung durch qualifizierte Lehrkraft und Schule Aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit

19 12

20

Gebete, Suren und Koran lernen Gleichberechtigung für muslimische Schüler*innen

7 5

Wissen über den Islam auch in deutscher Sprache

4

Es zeigt sich also, dass Wissensvermittlung, insbesondere durch qualifizierte Lehrkräfte, das dominante Motiv der Eltern bildet. Dicht dahinter folgen spezifisch religiöse Werte bzw. der Erwerb einer islamischen Persönlichkeit, vergleichsweise wenig Bedeutung wird hingegen dem Erlernen der für die rituelle Praxis erforderlichen Kompetenzen (wie etwa Gebeten und Koransuren) beigemessen. Vermutlich nehmen Eltern an, dass diese besser in den Moscheen vermittelt werden können. 3.1.4. Zufriedenheit mit dem islamischen Religionsunterricht Die Zufriedenheit der Eltern mit dem islamischen Religionsunterricht wurde anhand von 13 Items über den Unterricht, die fachlichen und sozialen Kompetenzen der Lehrkraft, das Unterrichtsklima sowie über die Motivation und den Kompetenzerwerb der Schüler*innen ermittelt. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der IRU von den Eltern recht positiv beurteilt wird.

391

Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule Zufriedenheit mit dem islamischen Religionsunterricht Mit dem Wissensszuwachs meines Kindes über den Islam

(in %) 43,1

44,5

Mit den Anforderungen der Lehrkraft an die Kinder

38,0

52,8

Mit dem Lerntempo meines Kindes

41,4

48,6

Mit der Motivation meines Kindes, am IRU teilzunehmen

52,4

36,4

Mit dem Lernklima im Unterricht

40,9

50,4

Mit dem Umgang der Lehrkraft mit den Kindern

52,1

40,1

Mit dem Engagement/Aktivität der Lehrkraft

45,6

41,9

Mit dem Wissen und Können der Lehrkraft

50,4

39,7

Mit dem Unterricht insgesamt

40,7

49,7

Mit dem Umfang der Hausaufgaben

50,3

35,0

Mit den Bildern und Texten in den Lehrbüchern

51,4

33,6

Mit den Inhalten des IRU

nicht zufrieden

eher unzufrieden

38,6

47,6

Mit den Lehr–und Lernmaterialien

42,1

49,0

eher zufrieden

sehr zufrieden

Abbildung 4: Zufriedenheit der Eltern mit dem IRU

So haben sich mit den einzelnen Inhalten des IRU 91,1 % und mit dem IRU insgesamt etwa 90,4 % der Befragten zufrieden gezeigt. Mit dem Umgang der Lehrkraft mit den Schüler*innen waren 92,2 % und mit dem Wissen und Können der Lehrkraft 90,1 % der befragten Eltern zufrieden. Allenfalls zeigt sich eine leichte Unzufriedenheit (etwa bei 15 % der befragten Eltern) hinsichtlich der Lehrmaterialen und der Qualität der Lehrbücher. Diese Monita sind auch aus früheren Untersuchungen bekannt. Insofern scheint in Sachen Verbesserung der Qualität des IRU nach wie vor echter Handlungsbedarf zu bestehen.

4.

Gläubigkeit und religiöse Erziehung

Bei der Frage nach der eigenen Gläubigkeit schätzten sich etwa 96,3 % der Eltern als eher gläubig oder eher stark gläubig ein (nicht gläubige bzw. religiös indifferente Eltern melden vermutlich ihre Kinder erst gar nicht zum IRU an). Weitergehende korrelationsstatistische Analysen zum Zusammenhang zwischen eigener Gläubigkeit und Gläubigkeit der Herkunftsfamilie der Eltern ergaben einen signifikant positiven Zusammenhang (r= .49**), mit Blick auf den eigenen Bildungshintergrund und Gläubigkeit jedoch leichte, aber signifikante, negative Zusammenhänge (r= .–17*); d. h. Eltern aus religiösen Familien waren ebenfalls

392

Hacı-Halil Uslucan

eher religiös, und je niedriger der eigene Bildungsstatus, desto höher war die Religiosität der Eltern. Die religiöse Unterweisung des Kindes in der Familie wurde anhand von vier Items ermittelt. Religiöse Erziehung (in %) 14,8

22,0

13,3

18,3

23,1

31,0

30,3 41,1

ja, fast immer

29,4 29,6

28,9 31,2

24,6

34,3

ja, oft ja, aber eher selten nein, nie

22,5

5,7 Moscheebesuch mit Kind

Bringen Sie Ihrem Kind etwas über den Islam bei?

Lehren Sie Ihrem Kind, den Koran zu lesen?

Ermuntern Sie Ihr Kind zum gemeinsamen Gebet?

Abbildung 5: Religiöse Erziehung

Etwa 63,1 % der Eltern gaben an, ihren Kindern oft oder fast immer etwas über den Islam beizubringen. 45,8 % besuchten mit ihren Kindern oft oder fast immer eine Moschee und 48,6 % ermunterten ihre Kinder oft oder fast immer zum gemeinsamen Gebet. Darüber hinaus lehrten 36,4 % der Eltern ihren Kindern zu Hause oft oder fast immer, den Koran zu lesen. Dabei stellte sich heraus, dass tendenziell die Mütter wesentlich stärker in die religiöse Unterweisung eingebunden waren als die Väter, was die bereits formulierten theoretischen Annahmen bzw. frühere Befunde zur gewichtigeren Rolle der Mütter bei der religiösen Erziehung bestätigt. Die Befunde machen deutlich, dass insbesondere eine religiöse Unterweisung zu Hause recht dominant ist, nur 5–6 % der befragten Eltern verneinten dies; bei der deutlich größeren Mehrheit fanden religiös belehrende, motivierende und aktivierende Interaktionen statt.

393

Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule

5.

Schüler*innensicht: Lehr- und Lerninhalte des islamischen Religionsunterrichts

Um einen Überblick über die angeeigneten Inhalte des IRU zu bekommen, wurde auf eine reine Wissensabfrage verzichtet; stattdessen wurden den Schüler*innen 14 ausgewählte Aussagen bezüglich der Inhalte des IRU-Curriculums vorgelegt und sie wurden gebeten, anhand einer vierstufigen Skala anzugeben, inwieweit sie den jeweiligen Aussagen zustimmen. Die Ergebnisse zeigen, dass die im Unterricht erworbenen Kenntnisse stark variieren: So gaben etwa 96 % der Befragten an, gelernt zu haben, dass Muhammad der Prophet Allahs ist, etwa 95 %, dass der Koran Allahs Wort ist, ˙ weitere 90 % haben Kenntnisse über die Vita des Propheten Muhammad sowie ˙ über die islamischen Feste erlangt. Rund 60 % haben berichtet, auch über andere Religionen etwas gelernt, über den IRU also eine Basiskompetenz für den interreligiösen Dialog erworben zu haben. Etwa 50 % – und damit deutlich weniger der Befragten – gaben an, auch etwas über die Feste und Gotteshäuser anderer Religionen gelernt zu haben. Im Einzelnen ergaben sich folgende Befunde: Im islamischen Religionsunterricht habe ich … (in %) über die Feste anderer Religionen gelernt über die Gotteshäuser anderer Religionen gelernt über andere Religionen gelernt über das Leben des Propheten Mohammed gelernt über die islamischen Feste gelernt gelernt, ein Bittgebet (Dua) aufzusagen gelernt, die Sure Fatiha aufzusagen gelernt, das Glaubensbekenntnis (Schahada) aufzusagen

26,5

23,5

24,2

25,8

24,8

25,6

24,1

25,6

69,7

20,5

6,8

64,1

25,2

8,4

68,2

16,7

11,4

66,7

12,1

9,8

gelernt, dass Mohammed der Prophet Allahs ist gelernt, dass der Koran das Wort Allahs ist gelernt, dass Juden und Christen auch an Gott glauben

stimmt nicht

60,6

15,2

10,6

13,6

47,3

20,9

12,4

19,4

gelernt, dass Moses und Jesus auch Propheten Allahs sind

37,8

22,8

20,5

18,9

87,3 82,7

12,8 16,3

stimmt eher nicht

8,1

24,4

stimmt eher

51,1

stimmt genau

Abbildung 6: Schüler*innensicht zu islamspezifischen Fragen

Jenseits von islamspezifischen Fragen wurden auch Items zu ethischen Dimensionen des Lebens erhoben. Dabei wurde deutlich, dass aus Sicht der Schüler*innen vom IRU starke ethische Impulse ausgehen: So berichteten mehr als 93 % der Schüler*innen, im IRU gelernt zu haben, freundlich zu anderen Men-

394

Hacı-Halil Uslucan

schen zu sein und anderen Menschen zu helfen, wie die untere Abbildung deutlich macht. Was wurde im islamischen Religionsunterricht gelernt? (in %) rde 28,7

64,7

25,2

69,6

stimmt nicht stimmt eher nicht stimmt eher stimmt genau

Im IRU habe ich gelernt, Im IRU habe ich gelernt, anderen freundlich zu anderen Menschen Menschen zu helfen zu sein Abbildung 7: Schüler*innensicht zu ethischen Dimensionen

6.

Fazit

Stellen wir die elterlichen Vorstellungen und Erwartungen bezüglich des IRU den von den Schüler*innen gegebenen Antworten gegenüber, zeigt sich eine hohe Konvergenz; die denkbare und zunächst angenommene Disparität – die aus der unterschiedlichen religiösen Sozialisation der Eltern herrühren könnte – ist nicht erkennbar. Muslimische Eltern erwarten vom IRU weitestgehend die Formung einer von ethischen Grundsätzen geleiteten islamischen Persönlichkeit. Diese Erwartung spiegelt die Praxis des Unterrichts aus Schüler*innensicht wider. Insofern scheinen bestimmte wissenschaftliche sowie sozialpolitische Bedenken gegenüber den (negativen) Folgen eines bekenntnisorientierten Unterrichts von der Empirie nicht gedeckt zu sein, wiewohl kritisch hinzuzufügen ist, dass »weiche« Fächer, wie der Religionsunterricht, von den Schüler*innen generell gut bewertet werden. Relevanter ist freilich eine andere kritische Perspektive, und zwar nicht nur gegenüber einer islamischen, sondern jeder religiösen Erziehung gegenüber: Aus ihrer Innenperspektive und ihrem Selbstverständnis heraus beanspruchen Religionen stets, einen positiven Beitrag leisten zu können. Deckt sich dies jedoch

Islamische Erziehung im Spannungsfeld von Elternhaus und Schule

395

auch mit einer areligiösen bzw. religionskritischen Außenperspektive? Das scheint zumindest höchst umstritten zu sein. Sowohl das Christentum als auch der Islam haben historisch tief sitzende Ängste und Horrorszenarien in Geschichte und Gegenwart hinterlassen (Inquisition, Hinrichtungen im Namen der Religion, Selbstmordattentate etc.). Von dieser Warte aus können die positiven Persönlichkeitsmerkmale einer religiösen Erziehung also durchaus bestritten werden, so kann eine religiöse Erziehung auch als Grund für eine rigide, verklemmte, untertänige Persönlichkeit betrachtet werden, wie etwa an sektenförmigen evangelikalen Elternhäusern zu beobachten (vgl. Nipkow 2001). Ferner ist aus psychologisch-wissenschaftlicher Sicht die Fortführung des magischen Denkens (etwa der Glaube an die Engel, an die Auferstehung etc.), das typischerweise im Alter von etwa vier bis sechs Jahren gegeben ist, bedenklich bzw. mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild kaum vereinbar. Diese Vorstellungen sind sowohl dem Islam als auch dem Christentum eigen. Aus erziehungspsychologischer Sicht hat z. B. Buggle bereits im Jahr 1992 die kritische Forderung erhoben, Kinder nicht mit der Bibel zu konfrontieren, da das Gottesbild der Bibel derart primitiv und grausam sei, dass sie »auf den Index jugendgefährdender Bücher gesetzt werden müsste« (vgl. auch Oser & Bucher 2002, S. 942). Gerade eine religiöse Erziehung, die mit Drohungen (Hölle) und Verheißungen (Paradies) operiere, verhindere die Entwicklung einer reifen, mündigen Religiosität, bei welcher der Einzelne aus absoluter Freiheit zu Gott findet. Deshalb ist aus psychologischer Sicht, und vor allem mit Blick auf das Kindeswohl, genau zu eruieren, welche »Motivationsformen« muslimische bzw. generell religiöse Eltern verwenden, um ihre Kinder zur Religiosität anzuhalten. Inwieweit sind Zwang, Angst und Rigidität Merkmale der (elterlichen) Erziehung? So ist in einigen Studien deutlich geworden, dass eine angstbesetzte religiöse Sozialisation, bei der Gott in erster Linie als strafende Instanz auftritt, bei sensiblen Personen anstatt zu starker Religiosität eher zu einem Bruch mit der Religion führt (Oser, Di Loreto & Reich 1996), also eher kontraproduktive Effekte zeitigt. Recht einheitlich sind hingegen die Belege in der pädagogischen Forschung gegen ein autoritär-strenges Erzieherverhalten: Ein überwiegend an Strafe orientiertes Erzieherverhalten führt nicht zur Bildung von disziplinierten Persönlichkeiten, sondern kann bei Kindern und Jugendlichen Disziplinlosigkeit, Widerstand, Aggression und Gewalt, aber auch passive Unterwerfung hervorrufen (vgl. Hurrelmann 1994). Dagegen kann die Vermittlung eines Gottesbildes, das Gott als eine schützende, bergende und bedingungslos liebende Macht darstellt, für Kinder selbstwertstabilisierend sein (Grom 1982). Mit Blick auf die religiöse Sozialisation von muslimischen Jugendlichen zeigt eine frühere Studie von Sandt (1996), dass im Gottesbild muslimischer Jugendlicher in Deutschland (im Alter von 14 bis 17 Jahren aus verschiedenen Schultypen) eher die Allmächtigkeit und Allwissenheit Gottes dominiert, nicht jedoch die Vorstellung von Gott als stra-

396

Hacı-Halil Uslucan

fende, richtende Instanz, und auch die Daten des IRU in NRW zeigen tendenziell, dass Schüler*innen eher mit humanistischen und zu Pluralität befähigenden Dimensionen des Islams konfrontiert werden. Abschließend ist daran zu erinnern, dass der IRU nicht mit überzogenen Erwartungen und uneinlösbaren Hoffnungen überfrachtet werden sollte: Der IRU ist weder ein »Wundermittel« zur »Integration der Muslim*innen« noch ist er das probateste Mittel zur Bekämpfung von Extremismus und zur Prävention einer dschihadistischen Ideologisierung, als das er manchmal verstanden und propagiert wird. Dazu sind die Effekte eines lediglich zwei Stunden pro Woche erteilten Unterrichts auf die Persönlichkeitsbildung (in jeglicher Richtung) viel zu marginal; und ebenso ist im Sinn zu behalten, dass die Schule nicht der einzige Ort religiöser Bildung und Reifung ist.

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Asligül Aysel

Religiöse Erziehung und Sozialisation in muslimischen Familien in Deutschland: Ein Blick in die bisherigen Forschungen und ihre Ergebnisse

Zusammenfassung Der vorliegende Artikel befasst sich mit dem Forschungsstand zu religiöser Erziehung und Sozialisation in muslimischen Familien in Deutschland. Ziel des Beitrags ist es, einen Überblick über das Thema zu geben, dabei zentrale Fragen, Thesen und Annahmen aufzugreifen und erweiternd zu diskutieren. Die religiöse Erziehung und Sozialisation in muslimischen Familien vollzieht sich in einem Spannungsfeld von religiösen Selbst- und Fremdzuschreibungen, was vornehmlich der Migrations- und Minderheitensituation geschuldet ist. Der Diskriminierungsdiskurs und der Wunsch nach gesellschaftlicher Teilhabe spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Darüber hinaus trägt eine undifferenzierte Forschungslage zu einem verzerrten Bild von muslimischen Familien bei, womit ein wissenschaftlicher Defizitblick einhergeht, wie im Folgenden dargelegt wird.

1.

Einleitung

Ein Blick in die Forschungslandschaft zeigt, dass eine Vielzahl an empirischen Studien parentale, jugendliche und kindliche Perspektiven auf religiöse Erziehung und Sozialisation festhält. Dennoch muss der Literaturlandschaft ein »Armutszeugnis« ausgestellt werden. So hält Rauf Ceylan fest: »Zwar trifft man in der Literatur auf Aussagen über das religiöse Innenleben sowie über die Erziehungsmethoden und -inhalte in den Familien, aber ohne Verweis auf empirische Quellen. In den meisten Fällen handelt es sich um Ableitungen aus der Theorie islamischer Erziehung oder um subjektive Erfahrungen im sozialen und beruflichen Umfeld der Autoren und Autorinnen, die nicht über die Forschungslücke hinwegtäuschen können.« (Ceylan 2014, S. 146)

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Diese Feststellungen Ceylans stimmen – ebenso wie der Befund von Uslucan (2013, S. 33), dass obwohl der Familie im Sozialisierungsprozess der Kinder eine große Bedeutung zukommt, die Aufmerksamkeit bisher weitestgehend auf religiöse Quellen und Traditionen gerichtet wurde, die sich der Familie im Islam und der schulischen Bildung widmen – nur zum Teil. Tatsächlich stellt sich die Forschung hier ein Armutszeugnis aus – nicht, weil es an empirischen Studien fehlen würde, sondern aufgrund deren Pauschalität, Unschärfe und nicht hinreichenden Spezifik. Darüber hinaus öffnet sie zwei Spannungsfelder, auf die noch im Einzelnen eingegangen wird. Ein Blick auf die empirischen Studien über muslimische Familien im deutschen Kontext ist deshalb von Relevanz, weil sich erstens über muslimische Familien in den Köpfen ein homogenes Bild festgesetzt hat, zu dem Studien mit beigetragen haben, und weil zweitens auf muslimische Familien migrationsspezifische Herausforderungen zukommen, was eine religiöse Erziehung und Sozialisation in hohem Maße beeinflusst. So konstatiert Uslucan (2010, S. 207), dass sich Jugendliche aus (muslimischen) Migrantenfamilien etwa neben allgemeinen Entwicklungsaufgaben zusätzlich mit der Frage der Zugehörigkeit zu einer Minderheit auseinandersetzen müssen, die einheimische, nicht migrierte Jugendliche nicht in gleicher Weise betrifft. Zugehörigkeitsfragen als Herausforderungen im Rahmen einer Zuwanderungsgeschichte lassen sich auf muslimische Eltern übertragen, die mit der religiösen Erziehung ihrer Kinder erneut vor dem Problem der Vermittlung der »eigenen« Ethnizität, Kultur und Religion stehen. Daraus entstehen unterschiedliche Formen der islamisch-religiösen Erziehung. Diese Themenkomplexe werden für gewöhnlich in der Migrations- und Integrationsforschung behandelt. Mit der Frage nach dem muslimischen Leben in einer säkularen Gesellschaft und seiner Integration befassten sich Öztürk (2007) und Gönüleglendiren (2013). Öztürk (2007) richtete seinen Blick auf die Einstellungen, Handlungen und die Religiosität muslimischer Jugendlicher in Deutschland. Er erhob 2004 und 2005 eine Stichprobe aus Jugendlichen mit unterschiedlichen Hintergründen (Deutschland, Türkei, Indien) in Berlin. Öztürk legte die Wichtigkeit einer religiösen Erziehung für die türkischen Eltern dar und konstatierte eine Unzufriedenheit der Jugendlichen mit dem religiösen Wissen der Eltern, welche ansteigt, wenn Fragen nicht beantwortet werden können (vgl. Öztürk 2007, S. 224ff.). Gönüleglendiren (2013) erarbeitete auf der Grundlage religionssoziologischer und psychologischer Theorien aus einer sozialisations- und identitätstheoretischen Perspektive die Bedeutung der islamischen Religion für Muslim*innen in einer säkularen Gesellschaft. Die theoretische Studie befasst sich mit der Frage, ob der Islam Kultur- und Identitätskonflikte begünstigt oder verursacht (vgl. Gönüleglendiren 2013, S. 4), und sie kommt zum Schluss, dass der Islam als Sinndeutungssystem einen Orientierungsrahmen für soziales Handeln bieten

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kann (vgl. ebd., S. 242). Demnach ist es jeder Familie selbst überlassen, welchen Sinn sie der Religion beimisst. Diese Erkenntnisse lassen u. a. danach fragen, welche Bedeutung der Religion überhaupt zukommt und welche Folgen sich daraus für das Familienleben ergeben.

2.

Bedeutung des Islams in muslimischen Familien

Festzuhalten ist, dass Studien einen mittelmäßigen bis hohen bzw. sehr hohen Stellenwert der Religion in muslimischen Familien belegen. So liefert Stöbe (1998, S. 94) eine Analyse zu der Fragestellung, inwiefern die islamische Religion Auswirkungen auf Familien mit türkischer Herkunft hat. Er konstatiert, dass viele Familien nicht auf eine Unterscheidung von Tradition/Kultur und religiöser Erziehung achten. Darüber hinaus hält Stöbe fest, dass der Islam als Werteorientierung den Rahmen der Erziehungsformen für die Familien bildet. Dies sind Erkenntnisse, die auf die heutigen Verhältnisse nicht mehr oder nur noch teilweise zutreffen, wie die späteren Studien zeigen. Auch die Shell Jugendstudie (2000) liefert Erkenntnisse zum Stellenwert der religiösen Erziehung bei türkischen muslimischen Jugendlichen. Die Studie besteht aus einer quantitativen und qualitativen Stichprobe, die in den Jahren 1998 und 1999 erhoben wurde, bei der deutsche, italienische und türkische Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren bundesweit befragt wurden. Es wurde festgestellt, dass 64 % der befragten jungen muslimischen Männer und 74 % der jungen muslimischen Frauen ihre eigenen Kinder ebenfalls religiös erziehen wollen. Daran lässt sich erkennen, dass eine religiöse Erziehung selbst bei jungen Menschen eine große Bedeutung hat. Die Expertise mit dem Titel Migrationsfamilien als Partner von Erziehung und Bildung von Boos-Nünning (2011), welche im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt wurde und die Lebenssituationen, Familienstrukturen und Erziehungsstile in Migrationsfamilien aufgreift, konstatiert, dass Werte wie Familialismus, Mehrsprachigkeit, Respekt und Achtung vor Älteren, Bildungsaspirationen, Sexualmoral, religiöse Erziehung und Religiosität im Vergleich zu einheimisch deutschen Familien eine deutlich höhere Gewichtung haben. Darüber hinaus spricht die Expertise die Benachteiligungen der Familien im Bildungssystem an, geht auf die komplizierte Beziehung wie auch auf die Defizite in der Unterstützung bei der Erziehung und Bildung ein und widmet sich zuletzt dem Thema, sie als Partner zu gewinnen. Wiewohl die Expertise ihren Blick auf Migrationsfamilien richtet, liefert sie u. a. Erkenntnisse über muslimisches religiöses Leben. Der Vergleich von Migrantenfamilien mit einheimischen Familien zeigt klare Unterschiede auf.

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Boos-Nünning und Karakasoglu (2006) stellen hingegen fest, dass in allen Migrationsfamilien, mit Ausnahme der Aussiedlerfamilien, die religiöse Erziehung einen mittleren Stellenwert hat (vgl. Boos-Nünning & Karakasoglu 2006, S. 115ff.). Die im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführte repräsentative Mehrthemenbefragung, in der in den Jahren 2001 bis 2002 insgesamt 950 junge Frauen deutscher, türkischer, griechischer und italienischer Herkunft sowie jugoslawische Aussiedlerinnen zum Stellenwert der religiösen Erziehung im Rahmen der familialen Sozialisation befragt wurden, legt dar, dass in der religiösen Erziehung Unterschiede bestehen, wenn Menschen unterschiedliche Migrationshintergründe haben. Junge Frauen aus Aussiedlerfamilien fühlen sich weniger religiös erzogen, wohingegen junge Frauen griechischer Herkunft am meisten eine religiöse Erziehung empfinden. Mehr als die Hälfte der muslimischen Familien (hier mit türkischem Migrationshintergrund) werden religiös erzogen, was von drei Vierteln positiv bewertet wird. Yalcin-Heckmann (1998) wiederum lenkt den Blick auf die Wichtigkeit und die Bedeutung der Korankurse für muslimische Eltern und auf die Schwierigkeiten, die damit einhergehen. In ihrer Arbeit über die frühen 1990er-Jahre, mit einer Stichprobe von 82 Interviews, geführt mit acht- bis neunjährigen Kindern, 14- bis 15-jährigen Jugendlichen und Eltern, welche zwischen 1990 bis 1993 in Nürnberg generiert wurde, stellte sich heraus, dass Eltern mehrheitlich Korankurse befürworten, in denen Kindern religiöses Wissen und Moral ohne Zwang beigebracht werden, was nach den Eltern »identitätsfördernd« ist. Eine bestimmte politische Ideologie bzw. Agenda hinter den religiösen Organisationen oder die mangelnde fachliche Qualifikation der Imame sind häufig ausschlaggebende Gründe, die eigenen Kinder nicht an einem Korankurs teilnehmen zu lassen (vgl. Yalcin-Heckmann 1998, S. 167f.). Die Studie zeigt, dass Familien sich zwar eine religiöse Bildung wünschen, jedoch diverse Anstrengungen, die mit dem Korankurs einhergehen, sie daran hindern, ihre Kinder in den Korankurs zu schicken. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Korankurse und der Einführung der islamischen Religionslehre an öffentlichen Schulen, die für die Eltern eine Alternative bzw. Ergänzung zu Korankursen darstellen, bedarf es heute einer neuen Sichtweise der muslimischen Familien auf religiöse Bildung. Karakasoglu & Öztürk (2007) bestätigen in ihrem Artikel, in dem sie einen Blick auf im Zeitraum 1995 bis 2006 durchgeführte empirische Forschungen zu türkischen Familien werfen, ein religiöses Erziehungsideal in der Migrationsgesellschaft. Demnach ist türkischen Eltern eine allgemeine religiöse Erziehung äußerst wichtig, da Religion einen hohen identifikatorischen Wert besitzt. Mangels entsprechenden religiösen Wissens lassen Eltern ihre Kinder am Korankurs in den Moscheegemeinden teilnehmen. Zur Kompensierung dieser

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parentalen Defizite wird ein islamischer Religionsunterricht in der Schule gewünscht. Eine wichtige Erkenntnis der beiden Forscher ist die, dass muslimische Heranwachsende in ihrer religiösen Erziehung und Sozialisation weder von ihren Familien noch von islamischen oder staatlichen Organisationen unterstützt werden. Die Vielfältigkeit und Bedeutung der Religiosität wird auch in weiteren Studien bestätigt, so etwa in der quantitativen Repräsentativbefragung der Bertelsmann Stiftung (2008), die sich mit der muslimischen Religiosität in Deutschland befasst und Muslim*innen eine hohe Religiosität bescheinigt. So gaben 66 % der Befragten an, selbst religiös erzogen worden zu sein, für 51 % spielt die eigene Religiosität eine große Rolle in der Erziehung der eigenen Kinder (vgl. Bertelsmann Stiftung 2008, S. 8). Darüber hinaus bestätigt die Studie, dass Frauen ihren Glauben privat ausleben, Männer hingegen eher gemeinschaftlich. Religiöse Bildung und Erziehung nimmt für 94 % eine zentrale Rolle ein (vgl. ebd., S. 7f.).

2.1

Studien zu muslimischen Familien in Deutschland

Im Folgenden werden entlang der vorhandenen Sekundärliteratur die religiöse Erziehung in muslimischen Familien, die Erziehungsvorstellungen der Eltern und Erziehungswirklichkeiten diskutiert und ihr Kontext analysiert. Viele dieser Studien beziehen sich auf türkische Migrant*innen, die im Rahmen des Anwerbeabkommens 1961 als Arbeitnehmer nach Deutschland kamen. Die zu diesem Thema vorliegenden theoretischen und empirischen Studien decken zwei grobe Bereiche ab, die nacheinander skizziert werden. Der erste Bereich widmet sich den Erziehungsvorstellungen und -stilen sowie -typen der Eltern. Diese Studien gehen den Fragen nach, wie religiöse Erziehung in muslimischen Familien erfolgt und wie sich die diesbezüglichen Bedingungen und Möglichkeiten gestalten. Der zweite Teilbereich stellt die Formen der religiösen Sozialisation von muslimischen Heranwachsenden und ihre Übernahme oder Distanzierung von parentalen religiösen Vorstellungen dar. Darüber hinaus gibt es Studien, die nur bedingt Auskunft zum Thema religiöse Erziehung und Sozialisation in muslimischen Familien geben. Auf einige dieser Arbeiten wird im Rahmen des vorliegenden Beitrags lediglich hingewiesen. 2.1.1 Religiöse Erziehungsstile und -typen in muslimischen Familien An der repräsentativen Studie von Alamdar-Niemann (1992) nahmen 100 vollständige und acht unvollständige Familien türkischer Herkunft aus Westberlin teil. Auswahlfaktoren waren Geschlecht und Schulzugehörigkeit der Kinder im Alter von 12 bis 16 Jahren aus Haupt- und Gesamtschulen. Alamdar-Niemann

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erkennt innerhalb der türkischen Community in Deutschland drei vorherrschende Erziehungsstile: Der permissiv-nachsichtige Stil (1) zeichnet sich dadurch aus, dass Eltern mit sehr viel Nachsicht und Verständnis auf ihre Kinder eingehen und ihnen viel Freiraum für individuelle Handlungen lassen. Von scharfer Kontrolle und Bestrafung wird abgesehen. Beim leistungsorientierteinfühlsamen Erziehungsstil (2) lässt sich eine deutlich stärkere parentale Beeinflussung und Kontrolle erkennen. Eltern richten klare Leistungserwartungen an ihre Kinder, agieren dabei aber zuvorkommend und unterstützend. Der religiös-autoritäre Erziehungsstil (3) legt großen Wert auf religiöse Aktivitäten und die Entwicklung religiöser Weltanschauungen. Eltern üben Kontrolle über ihre Kinder aus (vgl. Alamdar-Niemann 1992, S. 219ff.). Die repräsentative Studie von Alamdar-Niemann liefert zwar eine gute Einführung in das Thema, ist jedoch nicht mehr aktuell. Mittlerweile haben sich neue religiöse Erziehungsformen herausgebildet. Merkens (1997) befragte Jugendliche der siebten bis neunten Klasse türkischer Herkunft und einen gleichgeschlechtlichen Elternteil. Die Studie umfasste eine kleine Stichprobe von Kindern mit längsschnittlichen Daten. Die Eltern-KindDyaden wurden in Berlin – wo eine hohe Migrant*innendichte herrscht – und in Weingarten und Friedrichshafen – wo diese gering ist – in türkischer und deutscher Sprache erhoben. Merkens erkannte im Gegensatz zu Alamdar-Niemann (1992) zwei Milieus: ein traditionalistisches/fremdbestimmtes und ein modernisiertes/selbstbestimmtes. Mit Blick auf die religiöse Erziehung stellte sich heraus, dass Berliner Väter »die stärkste Hinwendung zu religiösen Werten erkennen lassen [, während] sich die Friedrichshafener/Weingartener Mütter diesem Erziehungsziel gegenüber am distanziertesten« (Merkens 1997, S. 61) verhalten. Was die Studie von Merkens interessant macht, ist, dass sie eine unterschiedliche Gewichtung des Stellenwerts der Religion bei muslimischen Vätern und Müttern erkennt. Eine Einteilung der familiären Erziehung in traditionalistisch/fremdbestimmt und modernisiert/selbstbestimmt ist jedoch zu grob und nicht differenziert. 2000 folgte die Studie Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen von Karakasoglu-Aydin, für die von Mai 1996 bis Januar 1997 acht türkische Diplom-Pädagogikstudentinnen und eine Sozialpädagogikstudentin sowie 16 Lehramtsstudierende im Alter zwischen 20 bis 26 Jahren interviewt wurden. Karakasoglu-Aydin arbeitete sechs unterschiedliche Typen religiöser Orientierung heraus – Atheistinnen, Spiritualistinnen, sunnitische Laizistinnen, alevitische Laizistinnen, pragmatische Ritualistinnen und idealistische Ritualistinnen. Sie legte dar, dass sich Studierende von ihren Eltern in ihren offenen Haltungen unterscheiden: Während Eltern ein traditionalistisches Religionsverständnis pflegen, wenden sich Studierende in ihrem religiösen Verständnis von dem ihrer

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Eltern ab. Dabei sticht heraus, dass nur die Ritualistinnen die religiösen Vorstellungen ihrer Eltern in ihre Erziehungsvorstellungen einbringen und sich eine fundierte islamische Erziehung wünschen. Karakasoglu-Aydin konnte nachweisen, dass zwischen der Religiosität der Interviewten und ihren religiösen Erziehungsvorstellungen ein Zusammenhang besteht (vgl. Karakasoglu-Aydin 2000, S. 413f.). Für den Nachweis eines Wandels der familiären religiösen Erziehung fehlen jedoch die Befragungen von Kindern. Denn bestimmte Erziehungsvorstellungen zu haben, heißt nicht, sie auch in der Realität umzusetzen. Darüber hinaus beschränkte sich die Studienautorin in ihrer Stichprobe auf türkische Studentinnen. Es ist davon auszugehen, dass bei Einbindung von Befragten verschiedener Konfessionen und aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Milieus mehrere Typen anzutreffen sind. 2002 publizierte Toprak eine qualitative Studie, in der er zu dem Schluss gelangte, dass die wichtigsten Erziehungsziele türkischer Familien die Vermittlung von Respekt, Gehorsam, Leistungsbereitschaft, religiösem Pflichtbewusstsein und Nationalstolz sind und die Familien eine geschlechtsspezifische Erziehung verfolgen (vgl. Toprak 2002, S. 34). Auf Basis einer kleinen Stichprobe von zwölf Befragten türkischer Herkunft bzw. mit Migrationshintergrund zwischen 21 und 39 Jahren arbeitet Toprak drei Erziehungstypen türkischer Familien heraus: (1) den konservativ-spartanischen Stil, (2) den verständnisvollnachsichtigen Stil und (3) einen zwischen den Polen Tradition und Moderne angelegten Erziehungsstil (ebd., S. 140). Während die konservativ-spartanische Erziehung mit der Erwartung von absolutem Gehorsam und einer strikten Geschlechtertrennung einhergeht, ähnelt die verständnisvoll-nachsichtige Erziehung dem permissiv-nachsichtigen Stil bei Alamdar-Niemann (ebd., S. 162). Hier sind zumeist beide Elternteile mit Vorbildfunktion an der Erziehung beteiligt. Die Religion selbst spielt eine eher untergeordnete Rolle (ebd., S. 169). Auch in der Erziehung zwischen Tradition und Moderne gelten Eltern als Autoritätspersonen, aber Gehorsam wird nicht aufgezwungen. Obwohl Religion eine geringe Rolle spielt, wird von den Kindern die Erfüllung grundsätzlicher muslimischer Pflichten, etwa die Verrichtung des Gebets, erwartet. Gemeinsam ist den drei Erziehungsstilen, dass sie die innerfamiliären Verhältnisse festigen und die Loyalität der Kinder garantieren sollen (vgl. Mafaalani & Toprak 2011, S. 48). Die Angst vor einem familiären Auseinanderdriften in der Migration und einer schwindenden Loyalität der Kinder gegenüber der Kernfamilie wird in Aysel (2018) betont. Die darin aufgestellte, am Beispiel deutsch-türkischer Familien aus Duisburg erarbeitete Feda-Vefa-Theorie besagt, dass Eltern ihre Kinder durch Selbstaufopferung (türk. Feda) für ihre Familie und der auf diese Weise erzeugten Loyalität (türk. Vefa) an sich binden (vgl. Aysel 2018, S. 287, 294f.).

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Zehn Jahre später brachte Toprak unter dem Titel Unsere Ehre ist uns heilig eine weitere Studie zu muslimischen Familien heraus, in der er zwischen vier Familientypen unterschied: dem konservativ-autoritären, dem religiösen, dem leistungsorientierten und dem modernen Typ. Die Grundlage für diese Typenbildung bildete eine Stichprobe von 61 Teilnehmenden zwischen 14 und 69 Jahren aus 22 Familien türkischer, kurdischer und arabischer Herkunft sowie sunnitischer, schiitischer und alevitischer Konfession aus den Städten München, Berlin und Dortmund, mit denen insgesamt 28 Interviews, davon 18 Einzel- und zehn Gruppeninterviews, geführt wurden (vgl. Toprak 2012, S. 13).1 Die ersten drei Typen zeigen bezüglich einiger Aspekte Überschneidungen mit dem konservativ-spartanischen Typus. Sowohl beim konservativ-spartanischen als auch beim konservativ-autoritären Typus wird großer Wert auf eine geschlechtsspezifische Erziehung und auf Traditionen gelegt. Der religiöse Typus weist in Sachen Strenge in der religiösen Erziehung Ähnlichkeiten mit dem konservativ-spartanischen Erziehungsstil auf. Religiöse Werte und Normen stehen im Mittelpunkt des Familienlebens und werden durch einen autoritären Erziehungsstil an die Kinder tradiert. Dabei ist das Bildungsniveau der Eltern nicht immer niedrig, sondern höchst unterschiedlich. Typus 1 und 2 zeichnen sich durch eine geschlechtsspezifische Erziehung aus. Der leistungsorientierte Typus gibt sich bezüglich der hohen Bildungserwartungen an die Kinder autoritär und ist in diesem Punkt dem konservativ-spartanischen Typus ähnlich (ebd., S. 15f.). Obwohl autoritär geprägt, handelt es sich dabei nicht um eine geschlechtsspezifische Erziehung, wie bei den Typen 1 und 2.2 Nur die moderne Familie sticht durch gleichberechtigte Erziehung hervor, bei der sich beide Elternteile gleichermaßen um ihre Kinder kümmern. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf dem Begriff der Ehre. Die Arbeit kann im Rahmen der Thematik »islamische Erziehung« herangezogen werden, stellt jedoch keine repräsentative Studie zur religiösen Erziehung in muslimischen Familien dar. Die Studie Cultural Time Lag (Ceylan 2014), die auf 29 Interviews mit Expert*innen der Landesverbände DITIB und Schura Niedersachsen beruht, verfolgt das Ziel, die Entwicklungen der Moscheekatechese und des islamischen Religionsunterrichts sowie pädagogische Herausforderungen und die damit einhergehenden Transformationsprozesse und Konflikte festzuhalten. Zu diesem Zweck untersucht der Autor diverse religiöse Erziehungsvorstellungen muslimischer Eltern, allerdings aus der Perspektive von Expert*innen. Die Studie

1 Zu einer Kurzdarstellung mit zentralen Ergebnissen siehe Blaschke-Nacak & Hößl (2016, S. 175–196) und zu einer Rezension siehe https://www.socialnet.de/rezensionen/12868.php. 2 Zum Thema Bildungsaspirationen siehe Tepecik (2011); El-Mafaalani (2012); Aysel (2018).

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erfasst nur die Erziehungsvorstellungen von muslimischen Eltern, die an eine Gemeinde gebunden sind. Die interviewten Expert*innen unterscheiden zwischen praktizierenden muslimischen Familien, die ideale Vorstellungen davon haben, wie eine normative islamische Erziehung auszusehen hat, und die sich Materialien zur Hilfe nehmen, und nicht praktizierenden muslimischen Familien, deren religiöses Wissen auf mündlicher Überlieferung basiert, sich mit der Tradition und einer Angstpädagogik entlang des Konzepts eines strafenden Gottes zum Aufbau einer muslimischen Identität vermischt und unreflektiert übernommen wird (vgl. Ceylan 2014, S. 333, 337). Im Groben hält Ceylan – wie bereits Wensierski & Lübcke 2012 – fest, dass Kinder unterschiedlich sozialisiert werden, ein Großteil der muslimischen Eltern ein niedriges religiöses Bildungsniveau hat und ein geringer Anteil ihre Kinder religiös erzieht. Es gibt auch jene Eltern, die ihren Kindern bewusst religiöse Verantwortung mit auf den Weg geben, und jene, die religiöse Erziehung als eine Aufgabe der Moscheegemeinde betrachten und diese Aufgabe an sie delegieren, wie auch an weitere Autoritäten im Bekannten- und Verwandtenkreis, was u. a. auch für die Moscheegemeinden eine Überforderung darstellt. Dabei wäre es für Ceylan sinnvoller, wenn Eltern, die ihre Kinder bewusst zu religiöser Eigenverantwortung erziehen wollen, sich nicht von Gemeinden distanzieren. Diese grobe Zweiteilung der muslimischen Eltern ist nicht ausreichend, insbesondere in Anbetracht vorliegender Studien, die bereits mehrere Elterntypen herausarbeiten konnten. Darüber hinaus gibt die Studie lediglich Auskunft über Familien, die eine Gemeindeanbindung haben, sei diese fest oder lose, und lässt die handelnden Subjekte, also die Eltern, nicht zu Wort kommen. Differenzierter ist hingegen die Studie Religiöse Sozialisation in muslimischen Familien von Uygun-Altunbas (2017). Diese fragt nach den elterlichen Motivationen, Orientierungen und Einstellungen hinsichtlich der religiösen Erziehung und legt die bislang umfangreichsten Erkenntnisse über Erziehungstypen in muslimischen Familien vor. Die Studie wird daher an dieser Stelle etwas ausführlicher dargestellt. Auf der Grundlage qualitativ erhobener Stichproben erarbeitete die Autorin vier Erziehungstypen (Idealisten, Ritualisten, Identitätssucher, Ethiker), die einen detaillierten Einblick in die Vielfalt sunnitisch-türkischer Familien aus Neuss, deren Mitglieder zwischen 21 und 45 Jahre alt waren, geben. Der idealistische Typ strebt nach Sinn und Orientierung sowohl im Diesseits als auch im Jenseits (vgl. Uygun-Altunbas 2017, S. 214). Die Religion mitsamt ihren Quellen dient als Sinnsystem, das die Grundhaltungen für Erziehungsvorstellungen und -handlungen bestimmt. Die Sinndeutungen vor allem von Ritualen können unterschiedlich ausfallen. Es handelt sich bei diesem Typus um Eltern, die sich bewusst und reflektiert mit dem Islam auseinandersetzen. Ihnen

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geht es vor allem darum, ihre Kinder Selbstverantwortung und Pflichtbewusstsein zu lehren. Diese sollen dazu befähigt werden, sich eigenständig mit ihrer Religion zu befassen und ein Leben nach religiösen Vorschriften zu führen (S. 156). Kinder sollen durch die religiöse Erziehung in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden (S. 160). Ziel ist eine positive Lebenseinstellung, die auf einer emotionalen Bindung zu Gott und auf Gottvertrauen (arab. tawakkul) beruht und nicht nur auf dem Wissen um die Existenz eines einzigen Gottes (S. 204). Die Grundlage für das Streben nach einer religiös-optimistischen Sinnorientierung ist es dennoch, die Religion zu kennen und den ethischen Grundprinzipien der Religion zu folgen (vgl. S. 157, 160ff.). Druck und Zwang werden so weit wie möglich vermieden. Die Idealist*innen legen großen Wert darauf, dass die Religion aus innerer Überzeugung heraus praktiziert wird und sich nicht mit der Nachahmung von Ritualen begnügt (S. 208). Eltern, die diesem Typus entsprechen, sind sich ihrer eigenen Vorbildfunktion bewusst. Im Sinne eines liebevollfürsorglichen Erziehungsstils (S. 225) hören sie ihren Kindern aktiv zu, versetzen sich in sie hinein und erklären ihnen Sachverhalte kreativ-spielerisch und altersgemäß. Sie hinterfragen, begründen und reflektieren diese und motivieren ihre Kinder dazu, eine eigene Position einzunehmen (S. 218ff.). Die so erzielte Selbstständigkeit führt im Idealfall zu innerer Zufriedenheit und religiöser Mündigkeit. Darüber hinaus legen Idealist*innen großen Wert auf den Besuch der Moschee und auf das Gemeindeleben. Moscheen bzw. islamische Gemeinden sind für Idealist*innen nicht nur Räume religiöser Praxis, sondern ebenso Orte des sozialen Zusammenlebens, in denen Kontakte gepflegt und neu geknüpft werden, Orte der Zugehörigkeit und der Geborgenheit (S. 303f.). Darüber hinaus sind Moscheen für idealistische Eltern unabhängige Stellen, an denen Muslim*innen sich Wissen über den Islam aneignen können (S. 306). Relevant ist hier insbesondere die Koranrezitation in arabischer Sprache, die als eine primäre Aufgabe der Moscheen betrachtet wird. Trotz Bevorzugung moderner Unterrichtsformen kommt den traditionellen Methoden eine wichtige Rolle zu. Dies betrifft vor allem das Auswendiglernen (S. 316). Idealistische Eltern sind im Regelfall engagiert und bringen sich in vielfacher Weise in den Schulalltag ihrer Kinder ein (S. 341). Sie wünschen sich eine stärkere Berücksichtigung islamischer Normen und Werte in der Schule, um Diskriminierung zu vermeiden. Diesbezüglich kommt den Lehrpersonen eine Schlüsselrolle zu. Denn sie sind diejenigen, die Diskriminierungen im Unterricht unterbinden und stattdessen Vielfalt, Toleranz, Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft fördern können und sollen. Vom islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen erhoffen sich Idealist*innen, dass dadurch die Identitätsentwicklung und Integration ihrer Kinder gefördert wird. Die strukturierte Form, wie den Kindern religiöse Inhalte nahegebracht werden, und ihr identitätsstiftender Charakter im Vergleich zu Moscheegemeinden wird gelobt. Kritisiert wird

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häufig die unzureichende Qualifikation der Lehrkräfte und das geringe zeitliche Ausmaß des Unterrichts (S. 338). Ritualistische Eltern treten laut Uygun-Altunbas als »Ordnungshüter« auf (S. 229). Sie legen großen Wert auf die Einhaltung von Ritualen sowie auf Disziplin und Respekt vor älteren Menschen, selbst wenn sie einen liebevoll-fürsorglichen Erziehungsstil ohne Zwang pflegen. Selbstverantwortung und Selbstständigkeit haben einen geringeren Stellenwert (S. 246), der Fokus liegt auf einer praxisorientierten Form der religiösen Erziehung, die den Vorstellungen einer klassisch-islamischen Erziehung am nächsten kommt. Berücksichtigung erfahren die Kernaspekte des Islams, z. B. das Kennen und Befolgen der fünf Säulen, die Einhaltung der Gebote (arab. hala¯l) und die Vermeidung von allem ˙ Verwerflichen (arab. hara¯m). Die religiösen Regeln sollen Struktur in den Alltag ˙ bringen (S. 174). Eltern üben bei der Vermittlung der islamischen Religion eine Vorbildfunktion aus (S. 242). Sich dessen bewusst, dass das reine Befolgen von religiösen Geboten und Verboten, wenn diese nicht reflektiert werden, Ablehnung hervorrufen kann, legen die Eltern besonderen Wert auf die ethisch-moralischen Grundsätze (arab. ahla¯q) und auf anständiges Benehmen (arab. adab) ˘ sowie die spirituelle Beziehung zu Gott, die Halt, Geborgenheit, Sicherheit und inneren Frieden gibt (vgl. S. 169, 171, 174f., 229). Die altersgemäße Vermittlung von Gottesehrfurcht und Gottesliebe gilt als ausgewogene islamische Erziehung (S. 175f.). Moscheen und das Gemeinschaftsleben haben eine essenzielle Bedeutung, jedoch keine so tiefgehende wie bei den Idealist*innen. Sie ermöglichen es, die religiösen Gesetze und Rituale des Islams zu praktizieren und an Kursen und sogenannten Sohbet-Gruppen teilzunehmen, in deren Rahmen religiöse Inhalte mit Gleichaltrigen besprochen werden können (S. 306). Damit gelten Moscheen und islamische Gemeinden als Stätten des Religionserwerbs und der religiösen Bildung, welche der parentalen Arbeit unterstützend zur Seite stehen. Sie sind Orte eines disziplinierten und strukturierten Zugangs zur Religion (S. 307). Auch das Verrichten der Gebete fällt für die Eltern hauptsächlich in den Zuständigkeitsbereich der Moscheen. Unterstützt und gefördert werden Strukturen und Freundschaften, welche die religiöse Entwicklung der Kinder nicht beeinträchtigen und sie nicht von der Befolgung der rituellen Vorschriften abhalten (vgl. S. 377, 407). In diesem Kontext wird der starke Einfluss der Medien auf Kinder von den Eltern als große Herausforderung wahrgenommen. Vom islamischen Religionsunterricht wiederum erhoffen sie sich eine zusätzliche Unterstützung in der religiösen Bildung der Kinder. Beim Typus Identitätssucher handelt es sich um Eltern, denen es wichtig ist, in der Erziehung auf die Persönlichkeit und Identität des Kindes einzugehen. Religiöse Erziehung und Sinnfragen sollen den Persönlichkeitsentwicklungsprozess des Kindes fördern (vgl. S. 176, 257). Vorschriften und Regeln sind dennoch

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von hoher Relevanz. Das meint vor allem, dass muslimische Kinder in einem christlichen Land in der Schule neben den christlichen auch ihre eigenen religiösen Feste und Feierlichkeiten kennenlernen. Der Kontakt zu anderen Religionen und ihren Symbolen wird als bereichernd für die eigene Religiosität wahrgenommen. Die kollektive Identität (wir) soll darüber mit der eigenen Identität (ich) zusammengebracht werden. Identitätssuchende Eltern bevorzugen eine liebevoll-fürsorgliche Erziehung (S. 264). Für sie gilt die Familie als der primäre Ort der religiösen Sozialisation und Wertevermittlung. Eine Delegierung der religiösen Erziehung an die islamischen Gemeinden wird aus diesem Grund abgelehnt, selbst wenn Moscheen und islamischen Gemeinden insgesamt eine hohe Wertschätzung zuteilwird (vgl. S. 307, 323). Für die Eltern leitet sich vor allem aus ihrem Minderheitenstatus die große Verantwortung ab, die islamische Religion in ihren Alltag einzubauen (S. 410). Unterstützt wird die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen, der das Miteinander von Muslim*innen und Nichtmuslim*innen stärken soll. Repräsentant*innen des Typus der Ethiker verfolgen das primäre Ziel, gute und nützliche Menschen zu sein, sowohl für sich selbst als auch für die Umwelt. Sie bevorzugen eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Religion und legen großen Wert auf das Hinterfragen und Reflektieren religiöser Themen (S. 286). Verantwortungsbewusstsein und Selbstständigkeit werden bei diesem Typus am stärksten gefördert (S. 296). Die Religion nimmt diesbezüglich eine eher untergeordnete Rolle ein. Werten wie Hilfsbereitschaft und Respekt gegenüber anderen kommt eine wichtigere Rolle zu als der bloßen Befolgung religiöser Verpflichtungen und Rituale. Den Ethiker*innen zufolge dient die Moral schließlich dazu, sich auf die Religion zu beziehen und die Religion auszuleben, um sich dem einen Gott (arab. tauh¯ıd) zu nähern (S. 201). ˙ Die Eltern dieses Typus unterscheiden zwischen einer religiösen und einer allgemeinen Erziehung (S. 184). Moderne Erziehungsziele und die Grundprinzipien der islamisch-religiösen Erziehung werden als miteinander vereinbar betrachtet (vgl. S. 195, 198). Im Gegensatz zu den genannten Typen zeichnen sich Ethiker*innen durch einen niedrigeren Gemeinschaftsbezug aus. Sie bevorzugen einen individuellen Zugang zur Religion. Dennoch haben Moscheen und islamische Gemeinden hinsichtlich der religiösen Erziehung und Sozialisation ihrer Kinder für sie einen hohen Stellenwert. Denn an diesen Orten wird den Kindern bewusst, dass es in Deutschland eine muslimische Realität gibt, die es zu respektieren gilt (S. 310). Sakrale Orte schaffen den nötigen Raum und die notwendige Atmosphäre, um in Kontakt mit gleichaltrigen muslimischen Kindern zu kommen, in einen Dialog zu treten und gemeinsam zu beten. Darüber hinaus legen Ethiker*innen großen Wert auf das Erlernen der Koranrezitation (S. 325). Lehrkräfte in islamischen Gemeinden wie Hodschas sollten Vorbilder sein, die

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aufgeschlossen und nachsichtig auf die Kinder eingehen (S. 326). Erwartet wird eine professionelle Unterweisung durch ein pädagogisch geschultes Personal, das den Unterricht mit altersgerechten Lernmaterialien und mithilfe neuer, kreativer Methoden gestaltet (S. 327f.). Der interreligiöse Dialog gilt als unabdingbar für eine offene Weltsicht und eine pluralistische Perspektive (S. 311). Freilich kann dieser Pluralismus auch zu innerer Zerrissenheit führen. Die religiöse Erziehung und ein friedliches Miteinander sollen dieser Gefahr entgegenwirken (S. 417). Daher ist eine religiöse Lebensweise nach islamischen Vorschriften von großer Bedeutung, insbesondere dann, wenn es um das Thema Freundschaft geht (S. 381). Zwischenmenschlichen Beziehungen kommt in der religiösen Erziehung ein höherer Stellenwert zu als Büchern und anderen Lehrmaterialien mit religiösem Inhalt (S. 392). Von der Schule verlangen die Ethiker*innen eine erhöhte Sensibilität für muslimische Kinder und die Wertschätzung der Religion, da dies die Kinder in ihrer religiösen Identität stärke und zeige, dass sie dazugehören und gleichwertig sind (S. 311). Im islamischen Religionsunterricht sollen sich die Schulkinder verstandesmäßig mit den religiösen Inhalten befassen, um die Hintergründe von Ritualen und Vorschriften zu verstehen. Hier sei auch auf die Studie Muslimische Bildungs- und Erziehungsvorstellungen. Die Erwartungen von Eltern und Lehrkräften an den islamischen Religionsunterricht von Tufan-Destanoglu (2019) verwiesen, welche auf einer quantitativen Befragung von 370 Eltern und 81 Lehrkräften basiert und der zentralen Frage nachgeht, »ob trotz der Unterschiede in den ethnischen, religiösen, kulturellen, gesellschaftlichen, sozialen Hintergründen, im Alter, Geschlecht, Bildungsniveau und der beruflichen Tätigkeit der muslimischen Eltern und islamischen Religionslehrkräfte Gemeinsamkeiten in den Erwartungen an den IRU zu verzeichnen sind« (S. 155). Darüber hinaus beinhaltet die Studie eine qualitative Vorbefragung, um unterschiedliche Meinungen, Interessenslagen und Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht festhalten zu können. Dieses etappenweise Verfahren ermöglichte die Entwicklung eines Kodierleitfadens. Tufan-Destanoglu führt in ihrer Studie den Nachweis, dass muslimische Eltern eine nicht allzu starke konservative Einstellung pflegen (S. 164) und ihre Erwartungen an den IRU sich voneinander unterscheiden. Eine Rangfolge der von Eltern befürworteten Unterrichtsmodelle zeigt, dass an erster Stelle ein wertevermittelnder islamischer Religionsunterricht steht, mit dem Ziel, Schüler*innen moralische Werte (Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Respekt, Akzeptanz) nahezubringen; an zweiter Stelle findet sich ein kompetenzorientierter islamischer Religionsunterricht, der Schüler*innen befähigt, den eigenen Glauben zu verstehen, an dritter Stelle folgt ein bekenntnisorientierter islamischer Religionsunterricht, der dazu angetan ist, den Glauben zu vertiefen, an vierter Stelle steht

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ein theologisch und praxisbezogener islamischer Religionsunterricht, in dem Schüler*innen lernen, das Erlernte mit religiösen Handlungen zusammenzubringen und das Schlusslicht bildet ein islamkundlicher Unterricht, der das Ziel hat, Schüler*innen zu befähigen, sich selbstbestimmt mit dem Glauben auseinanderzusetzen, wie anhand einer Pyramidenabbildung dargestellt (S. 165). Tufan-Destanoglus Erkenntnisse bestätigen die diversen Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht, die letztlich auf die unterschiedliche Rolle und Funktion des Islams in den muslimischen Familien zurückgehen. 2.1.2 Formen der religiösen Sozialisation durch Übernahme oder Zurückweisung von parentalen religiösen Vorstellungen Mit der Frage, ob Kinder bzw. Heranwachsende parentale religiöse Erziehungsvorstellungen übernehmen oder aber sich davon distanzieren, befassen sich die Studien, welche im Folgenden vorgestellt werden. Im Jahr 2000 erschien die qualitative Studie Klinkhammers zur Religiosität türkisch-sunnitischer Frauen. Klinkhammer geht der Frage nach, wie junge Frauen die elterliche Religionsvorstellung übernehmen. Hierzu führte sie 19 problemzentrierte Interviews mit Frauen zwischen 20 und 31 Jahren, die weder ein Studium noch eine Ausbildung abgeschlossen hatten bzw. dabei waren, eine Ausbildung zu absolvieren. Von den 19 Befragten wurden sieben berücksichtigt. Wie Karakasoglu-Aydin (2000) stellte auch Klinkhammer eine Distanzierung von elterlichen Religionsvorstellungen fest. Sie fand heraus, dass auf eine reflektierte Vermittlung der Religion mehr Wert gelegt wird als auf unhinterfragte Nachahmung (vgl. Klinkhammer 2000, S. 283). Anders als die Studie von KarakasogluAydin berücksichtigt die Stichprobe Befragte ohne ein abgeschlossenes Studium und Ausbildung. Der Mehrwert der Studie liegt darin, dass sie Religiosität an der familiären und nicht an der ethnischen Herkunft festmacht (vgl. Klinkhammer 2000, S. 284). Eine verlässliche Erkenntnis kann mit einer Stichprobe aus ausschließlich türkisch-sunnitischen Frauen jedoch nicht gewonnen werden. Gegenüber den vorherigen Studien tritt in der von Nökel (2002) durchgeführten Studie der Aspekt des Wandels der religiösen Erziehung(svorstellungen) deutlicher hervor. Die Stichprobe, welche von 1994 bis 1996 im Bielefelder Raum und im Einzugsgebiet von Frankfurt erhoben wurde, setzt sich aus 18 mit muslimischen Frauen im Alter von 18 bis 28 Jahren und mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund geführten Interviews zusammen. Auch hier ist die Ablösung vom traditionellen »volksreligiösen« (vgl. Nökel 2002, S. 74) Islamverständnis der Eltern zu erkennen, das auf tradierten Gebräuchen und Autoritäten aufbaut. An dessen Stelle tritt ein neues Verständnis von Islam, indem die Frauen ungeachtet ihres religiösen Hintergrundes den Islam neu für sich entdecken, sich

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»enttraditionalisieren« (ebd., S. 19) – vor allem dann, wenn Eltern einer Volksreligiosität anhängen und keinen akademischen Hintergrund haben. Die interviewten Frauen haben, bis auf fünf, keine systematische religiöse Erziehung erhalten (ebd., S. 289). Die Frauen – »Neo-Muslimas«, wie Nökel sie bezeichnet – setzen sich intellektuell mit dem Islam auseinander. Ihr Islamverständnis beruht auf einer selbstreflexiven und kritischen Auseinandersetzung mit der Religion, sie sind also keine gehorsamen »Objekte« wie ihre Eltern, sondern religiös handelnde Subjekte (ebd., S. 69). Und genau darin ist der Wandel zu erkennen. Die Auseinandersetzung mit der Religion erfolgt bewusst. Nökel liefert eine Erklärung dafür, weshalb und wie eine fehlende bzw. mangelnde religiöse Erziehung zu einem reflektierten Religionsverständnis führt und beleuchtet damit einen bewusst umgesetzten religiösen Wandel in den Familien. Frese (2002) befasst sich in seiner Studie mit zwei zentralen Fragestellungen, um religiöse Sozialisationsformen zu eruieren: Wie wird in religiösen Gemeinden geglaubt? Und wie sind die Bedingungen in den Gemeinden für die Heranwachsenden? Religion wird den Befragten zufolge durch das Nachahmen parentaler Verhaltensmuster erworben. Durch die Eltern, vor allem durch den Vater, werden Jugendliche in die Moscheegemeinden eingeführt. Mit dem Eintritt in die Pubertät werden die auferlegten Regeln infrage gestellt (vgl. Frese 2002, S. 219); dabei fällt den jungen Menschen die fehlende Auseinandersetzung mit ihren Eltern über den islamischen Sinngehalt auf, weshalb der religiösen Bildung ein besonderer Stellenwert zukommt. Im Gegensatz zu der geistigen Auseinandersetzung von muslimischen Frauen in den Studien von Nökel (2002) und Klinkhammer (2000) wird religiöses Wissen in einem Prozess des Sich-Abgrenzens, der Zustimmung, der Weiterentwicklung und Abgleichung von Meinungen anhand der Lektüre verarbeitet. Aufschlussreich ist die Studie vor allem deshalb, da sie muslimische Jugendliche berücksichtigt, die sowohl im Elternhaus als auch in der Gemeinde eine systematische religiöse Erziehung genießen. Hier erfolgt keine rein intellektuelle Auseinandersetzung mit der Religion, sondern ein Zusammenbringen der unterschiedlichen Erkenntnisse, die auf unterschiedlichen Lernsettings beruhen, wie Elternhaus, Hodschas, religiöse Verbände und Lektüre. Tietze (2001) hingegen konzentrierte sich in ihrer Studie auf die Religiosität muslimischer Männer in Deutschland und Frankreich und konnte darlegen, dass – wie auch die auf Frauen bezogenen Studien von Klinkhammer (2000) und Karakasoglu-Aydin (2000) zeigen – nicht die blinde Nachahmung parentaler traditioneller Religionserziehung, sondern das Selbstverständnis als Muslim*in dafür bestimmend ist, worauf die Handlungsmöglichkeiten aufbauen (vgl. Tietze 2001, S. 76f.). Tietze gelang es, den Islam als Selbstverständnis aufzuschlüsseln.

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Darüber hinaus legte sie ihren Fokus auf die Religiosität der muslimischen Männer, die bislang in der Forschungslandschaft zu kurz kam. Aygün (2010) lieferte eine vergleichende Studie zur religiösen Sozialisation von Jugendlichen türkischer Herkunft in Deutschland und türkischer Jugendlicher in der Türkei im Alter von 15 bis 25 Jahren. Hierzu befragte er insgesamt 70 türkische Jugendliche, davon 29 aus Deutschland (NRW) und 41 aus der Türkei (Istanbul). Aygün geht den Fragen nach, ob sich religiöse Instanzen auf die Glaubenshaltung der Jugendlichen förderlich oder hinderlich auswirken, wie das im Islam seinen Ausdruck findet und ob es Unterschiede zwischen den in Deutschland und den in der Türkei sozialisierten Jugendlichen gibt. Er typisiert vier Glaubensstile – traditionell, ideologisch, laizistisch (säkular) und individuell – und konstatiert, dass der familiäre Einfluss in der späteren Religiosität eine wesentliche Rolle spielt, was sich in der »Perspektivenübernahme« der religiösen Einstellungen zeigt und identitätsstiftend ist (vgl. Aygün 2010, S. 90ff.). Der Familie und den Moscheevereinen kommt in der Migrationssituation ein höherer Stellenwert zu als bei Jugendlichen in der Türkei.3 Diese Erkenntnis steht im Gegensatz zu den bisher durchgeführten Studien, welche eine Loslösung von elterlichen Vorstellungen sehen, wenn Heranwachsende sich kritisch-reflexiv mit der Religion auseinandersetzen. Aygün stellt fest, dass eine kritisch-rationale Auseinandersetzung mit der Religion sich eher bei älteren und gebildeten Jugendlichen zeigt (ebd., S. 103f.). Aygün gelang es, die religiöse Perspektivenübernahme in der Familie aufzuzeigen. Seine Studie wird jedoch aufgrund seines Ansatzes, der stark kategorisiert und wertet, kritisiert. El-Mafaalani & Toprak (2011) erarbeiteten eine Expertise zu Sozialisationsbedingungen von muslimischen Migrantenkindern in Deutschland, die von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegeben wurde. Die beiden Autoren erklären die Einflüsse der Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Peers und bestätigen unterschiedliche muslimische Lebenswelten. Diese Expertise, die auf Vorarbeiten der beiden Autoren beruht, wird aufgrund ihrer Inaktualität und Pauschalität kritisiert. Tatsächlich gelingt es den beiden nicht, neue wissenschaftliche Ergebnisse vorzulegen, vielmehr handelt es sich um eine Fusion und Zusammenfassung ihrer vorherigen Arbeiten. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf die qualitative Studie von Wensierski & Lübcke (2012), in der biografische Porträts von Jugendlichen unterschiedlicher ethnischer Herkunft zwischen 20 und 30 Jahren festgehalten werden, die auf einer Stichprobe von 107, zwischen 2006 und 2008 in Hamburg, Berlin, Hannover 3 Hier sei angemerkt, dass der Wert der Familie auf einem Feda-Vefa-Konzept basiert, ein Austausch zwischen den Eltern, die ihre eigenen Wünsche hintanstellen, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern (sich – in der eigenen Wahrnehmung – also für die Familie aufopfern), und dem Entgegenkommen der Kinder und dem Erfüllen der elterlichen Wünsche, v. a. durch das Bestreiten des Bildungsweges; siehe dazu Aysel (2018).

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und im Ruhrgebiet geführten Interviews beruhen. Die dabei erhobenen pluralen Alltagskulturen und Lebensentwürfe junger Muslim*innen geben Aufschluss über Migrantenmilieus. Insgesamt konnten vier Typen mit vier Untertypen herausgearbeitet werden, die jeweils unterschiedliche Beziehungen zur Religion haben. Diese sind (1) säkularisierter jugendbiografischer Verselbständigungsprozess, (2) bikulturelle Identitätsproblematik, (3) Re-Islamisierung im Gefolge der Adoleszenz und (4) islamisch-selektiv modernisierte Jugendbiografie. Während für die ersten zwei Typen die Religion eine eher geringe Rolle spielt, hat sie für die letzten zwei eine größere Bedeutung: Der Islam ist für Typus 3 identitätsbestimmend und für Typus 4 handlungs- und orientierungsleitend. Diese Studie zeigt, dass Religion bei muslimischen Jugendlichen unterschiedliche Ausprägungen annimmt, die auf ihrer Sozialisation aufbauen. Mit Blick auf die Wertvorstellungen und Religiosität muslimischer Familien, die sich in zahlreiche und vielfältige Gruppen unterteilen und sich in ihrer religiösen Ausrichtung, ethnischen Herkunft, in ihren Lebensläufen und -entwürfen wie auch in ihrer Religiosität unterscheiden, lässt sich festhalten, dass, selbst wenn traditionelle Erziehungs- und Lebensformen in muslimischen Familien noch präsent sind, diese sich zunehmend transformieren. Interessant ist die Erkenntnis, dass die jüngere Generation weniger religiös aktiv ist als die Elterngeneration, d. h. weniger oft sakrale Orte besucht oder das rituelle Gebet verrichtet, sich aber für religiöser hält. Diese Selbsteinschätzung lässt sich eher als »ein demonstratives Bekenntnis zur eigenen kulturellen Herkunft« (Pollack, Müller, Rosta & Dieler 2016, S. 12) verstehen, als dass sie die tatsächliche Religiosität widerspiegelt. Hier sei ebenfalls auf eine Vorstudie zu religiösen Erziehungs- und Sozialisationsformen und -bedingungen in muslimischen Familien von Aysel (2016– 2018) hingewiesen. Diese Vorstudie zu einer geplanten größeren Repräsentativstudie möchte die unterschiedlichen Formen der islamischen Erziehung und Sozialisation deutschlandweit darlegen, die sich im Vor- und Grundschulalter in der familiären Umgebung wiederfinden lassen, und basiert auf Interviews mit Eltern und auf einem partizipativen Ansatz der symbolischen Interviewform mit Kindern. Die Studie richtet den Blick auf die religiösen Erfahrungen und die Sozialisation von Kindern im Vor- und Grundschulalter, auf die religiösen Erziehungsvorstellungen und -ziele von Eltern und auf die familiäre religiöse Erziehung und Sozialisation. Bezweckt wird eine differenzierte Darstellung der unterschiedlichen Formen islamischer Erziehung und Sozialisation, um die Frage zu beantworten, welches religiöse Wissen innerhalb der Familie weitertradiert wird, inwiefern das erworbene religiöse Wissen auf formale und nonformale Lernsettings zurückgeht und welche religiösen Kompetenzen die Vor- und Grundschulkinder in unterschiedlichen Lernorten erwerben.

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Mittels Dyaden-Untersuchung wurde mit mindestens einem Elternteil bzw. einer/einem Erziehungsberechtigten ein leitfadengestütztes Interview und mit Kindern zwischen vier und ca. elf Jahren, die den Kindergarten und/oder den sunnitisch- oder alevitisch-islamischen Religionsunterricht in der Grundschule und/oder an Koranschulen islamischer Gemeinden oder einen anderen Religionsunterricht (katholisch oder evangelisch) oder Ethikunterricht oder nichts dergleichen besuchen, eine symbolische Interviewform mit einem partizipatorischen Ansatz durchgeführt. In diesen ersten Untersuchungen konnten bisher drei Lernsettings – (1) Familie und Schule, (2) Familie und Moschee, (3) Familie, Schule und Moschee – bestimmt und sechs Konzepte (Vor-Typen) herausgearbeitet werden. Diese sind: I. Islam als Teil der Identität Der Islam wird als eine Identitätsform verstanden und in der Form weitertradiert. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Religion findet nicht statt. Was in den unterschiedlichen Lernorten über den Islam gelehrt wird, wird von Eltern und Kindern mit Interesse verfolgt. Eltern dieses Typus besitzen einen niedrigen Bildungsstand. II. Islam als Sinn des Lebens Der Islam wird als Sinn des Lebens verstanden. Gute Taten zu vollbringen und dem Leben positiv gegenüberzustehen, stellen die Grundzüge einer religiös-ethischen Erziehung dar. Dem g˘iha¯d, im Sinne eines inneren Kampfes, kommt dabei ein hoher Stellenwert zu. Eltern dieses Typus besitzen einen hohen Bildungsstand und befassen sich kritisch mit dem Islam. III. Islam als innerer Halt Der Islam wird als ein Medium für den inneren Halt verstanden und schaltet sich insbesondere in schlechten Lebenszeiten ein. Eltern dieses Typus besitzen einen mittleren Bildungsstand. IV. Islam als Tradition Eltern fühlen sich zwischen einem traditionellen Islam-Verständnis und einer säkularen Weltanschauung hin- und hergerissen. Trotz einer kritischen Auseinandersetzung mit der Religion wird die islamische Tradition normativ verstanden und darf nicht hinterfragt werden. Eltern dieses Typus besitzen einen mittleren Bildungsstand. V. Islam als Tradition und Kultur Die Religion wird als ein Teil der Tradition und der eigenen Herkunftskultur verstanden. Modern-säkulare Lebensformen werden grundsätzlich akzeptiert, jedoch nicht praktiziert. Die religiöse Erziehung und Sozialisation findet in der Herkunftssprache statt. Eltern dieses Typus besitzen einen mittleren Bildungsstand.

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VI. Islam als Tradition, Kultur und politische Orientierung Die Religion gilt als Teil der Tradition und der eigenen Kultur. Hier besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zum vorherigen Konzept: Ungeachtet einer generellen Offenheit gegenüber anderen Sprachen und Kulturen besteht eine sehr deutliche Distanz innerhalb der eigenen Kultur und eine Verschlossenheit gegenüber anderen Islamauslegungen. So wird die eigene religiös-politische Auslegung (hier: DITIB) für den einzig richtigen Islam gehalten. Andere Auslegungsformen werden misstrauisch betrachtet. Eltern dieses Typus besitzen einen niedrigen Bildungsstand. Diese ersten Ergebnisse der Rekonstruktionen von Familieninterviews zeigen die Vielfältigkeit muslimischer Familien in Deutschland und ihrer religiösen Erziehungs- und Sozialisationsformen. Die soziale Lage der Familien, der Bildungsstand und das religiöse Kapital formen eine familiäre religiöse Haltung und somit auch die Erziehungsformen der Eltern, die ihre Kinder auf dem Weg zur religiösen Mündigkeit begleiten (sollen). Die Studie beabsichtigt, eine größere Stichprobe mit alevitischen, schiitischen und sunnitischen Familien unterschiedlicher Rechtsschulen und unterschiedlicher ethnischer Herkunft zu erheben. Nur durch das Hinzuziehen der verschiedenen muslimischen Lebensformen kann eine vollständige Studie über den gelebten Islam in Deutschland gewonnen werden.

3.

Conclusio

Wie dargestellt, unterscheiden sich die Typisierungen nicht stark voneinander, haben jedoch auch keinen Bezug zueinander. Die bislang differenzierteste Arbeit stammt von Uygun-Altunbas, bei der es sich jedoch nur um eine kleine Stichprobe handelt, die ausschließlich Sunnit*innen türkischer Herkunft umfasst. Groß angelegte, repräsentative Studien zu muslimischen Familien mit unterschiedlichen religiösen Lebensweisen (gemeindegebunden, privat, individuell, kollektiv), Ansichten zum Islam (konservativ, säkular, spirituell, mystisch, fundamentalistisch), ethnischen und konfessionellen Facetten, politischen Orientierungen (konservativ, sozialdemokratisch, liberal, elitär, sozialistisch, nationalistisch, patriotisch, internationalistisch, progressiv) sowie religiösen Erziehungsvorstellungen und Alltagspraktiken unter Berücksichtigung der sozialen und kulturellen Ressourcen (Bildungsgrad, sozioökonomische Lage, Milieu) fehlen nach wie vor. Angesichts der Vielfalt des muslimischen Lebens sind repräsentative Studien dieser Art längst überfällig. Nach Sichtung der bestehenden Forschungsarbeiten über muslimische Familien lässt sich zusammenfassend Folgendes festhalten: Muslimische Familien

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werden häufig religiös homogenisiert, der Fokus richtet sich meist auf hanafı¯˙ tisch-sunnitische türkische Familien. Selbst wenn Differenzierungen vorgenommen werden, indem unterschiedliche Erziehungsstile oder der Wandel einer religiösen Erziehung und Sozialisation innerhalb der Familie herausgearbeitet werden, sind diese nicht ausreichend, um einen repräsentativen Gesamteinblick in die religiöse Erziehung und Sozialisation in muslimischen Familien deutschlandweit zu vermitteln. Vielmehr entsteht ein verzerrtes Bild davon. Mit Blick auf die Forschungslage kann von zwei Spannungsfeldern gesprochen werden: Zum einen befinden sich Eltern, wenn sie ihre Religion an ihre Kinder weitergeben, in einem Spannungsfeld von religiösen Selbst- und Fremdzuschreibungen, was der Migrationssituation geschuldet ist und die Schere zwischen »wir« und »sie« weiter aufgehen lässt. Zum anderen werden sie durch einen wissenschaftlichen Defizitblick zusätzlich belastet, wie in weiterer Folge ausgeführt wird. a) Islam tradieren im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdzuschreibungen In islamischen Ländern besteht bezüglich religiöser Themen eine unreflektierte Alltagsgewissheit, die im Migrationskontext nicht gegeben ist. Aus diesem Grund erhält das muslimische soziale Umfeld als zustimmendes und bekräftigendes Kollektiv ein besonderes Gewicht. In der Migrationssituation lässt sich oftmals ein Prozess der »Islamisierung des Selbst« beobachten, die von der individuellbewussten Auseinandersetzung mit dem Islam begleitet ist (vgl. Weiss & Strodl 2016, S. 53f.). Diese stellt eine besondere Form der Spiritualisierung dar, die mit einer Suche nach »religiöser Wahrheit« einhergeht: So wird die religiöse Gemeinde selbst ausgewählt, der Islam wird ausschließlich als Religion und nicht als Teil der Kultur gesehen. Es verwundert nicht, dass sich die junge Generation (mit höherer Bildung) bewusster mit dem Islam befasst und religiöse Inhalte nicht unreflektiert von der Elterngeneration übernimmt. Diehl & König (2009, S. 302) zeigen in ihrer Studie jedoch, dass das Ausleben der Religion der Theorie der symbolischen Religiosität von Gans (1979) entspricht, welche die Transformation der Religiosität im Generationenverlauf meint. Demnach beschränkt sich die Religion auf den Privatbereich. Aber auch die Position, wonach der Islam nicht nur eine Religion, sondern Teil der Kultur ist und damit als Zugehörigkeits- und Abgrenzungskriterium (von der Mehrheitsgesellschaft) gilt, ist unter den in Deutschland wohnhaften Muslim*innen vertreten, wie die Studie Akzeptanz, Formation und Transformation anhand des islamischen Religionsunterrichts belegt. Eine Betonung des Islams im Zugehörigkeits- und Abgrenzungskontext wird durch Diskriminierungserfahrungen in der Migrationssituation verstärkt (vgl. Krech 2009, S. 10). Insbesondere in den letzten Jahren und vor allem nach dem 11. September 2001 wurde der Islam stärker ethnisiert und kulturalisiert. Migrant*innen aus mehrheitlich

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muslimischen Ländern werden als religiös handelnde Subjekte betrachtet, selbst wenn sie nicht gläubig sind oder einer anderen Religion angehören (vgl. Thielmann 2008, S. 14; Barz 2018, S. 5). Infolgedessen hat sich unter Muslim*innen ein Muslim-Bewusstsein zementiert, das durch Fremdzuschreibungen determiniert wird. Festzuhalten bleibt, dass ein »Religiositätsprozess« in der Migrationssituation eine völlig andere Dynamik entwickelt als in muslimischen Ländern und von den Beteiligten deutlich stärker reflektiert wird (vgl. Spielhaus 2013, S. 10f.). Mit Bezug auf die religiöse Erziehung stellt sich die Frage, wie der Islam – als Religion und/oder Kulturtradition – in einer säkularen Gesellschaft an die nächste Generation weitertradiert wird. Mit der Familienzusammenführung ab 1973 suchten die eingewanderten Muslim*innen nach Wegen, ihren Kindern religiöse Werte, Normen und Pflichten zu vermitteln (vgl. Celik 2017, S. 1; Aysel 2018, S. 39). Nicht selten stellte diese Aufgabe für die jeweiligen Familien eine große Herausforderung dar. Kanacher (2001, S. 247) akzentuiert die Selbstzweifel muslimischer Eltern, ihre Kinder nicht hinreichend religiös erziehen zu können, da ihr eigenes religiöses Wissen auf einfachen, nicht reflektierten, ländlich-traditionellen Anschauungen beruht (vgl. auch Uslucan 2013, S. 34). Um diese Lücke zu schließen, schicken sie ihre Kinder in sogenannte Koranschulen. Kanacher stellt fest, dass sich für muslimische Migrant*innen zwischen der Individualismus-Orientierung im christlichen Abendland und dem Kollektivismus im Islam in der Moderne ein religiös bedingter Identitätskonflikt ergibt (vgl. auch Aygün 2013, S. 227f.). Muslimische Schulkinder sehen sich heute noch vor die Herausforderung gestellt, diese unterschiedlichen Weltanschauungen zu synthetisieren (vgl. Mafaalani & Toprak 2011, S. 10). b)

Muslimische Familien im Spannungsfeld zwischen einem wissenschaftlichen Defizit- und dem Selbstblick Was ältere und neuere Studien einhellig bestätigen, ist das Moment der Verhinderung durch Diskriminierungserfahrungen und deren Auswirkungen auf Lebensbereiche wie Schule oder Arbeit. Neben dem stetigen Kampf um soziale Anerkennung (im Sinne von Wertschätzung) sehen sich muslimische Familien einem Anpassungsdruck und der Notwendigkeit der Selbstbehauptung gegenüber (vgl. Aysel 2018, S. 295–303). Geht es darum, muslimische Eltern als Partner für Schulen zu gewinnen, sollte die islamische Vielfalt anerkannt und respektiert und der einseitige Defizitblick auf muslimische Familien überwunden werden, so die Empfehlung von El-Mafaalani und Toprak (2011). Der wissenschaftliche Defizitblick und Integrationserwartungen führten dazu, dass die zugewanderten Muslim*innen oftmals mit Themen wie nicht hinreichende Schul- und Berufsausbildung, Kriminalität, Fanatismus, Gewaltbereitschaft, Benachteiligung der Frau, Ehrenmorde, Zwangsheiraten, religiöse Radikalisierung und traditionelle Sexualmoral in Verbindung gebracht werden.

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Diese integrationshemmenden und konfliktreichen Themen werden häufig an familiären Erziehungsformen und -mustern festgemacht (vgl. Boos-Nünning 2011, S. 7), wohingegen positiv besetzte und anschlussfähige Werte, wie eine hohe Bildungsaspiration oder das Erlernen mehrerer Sprachen, Muslim*innen häufig abgesprochen werden (vgl. Boos-Nünning 2011, S. 51f.; Aysel 2018, S. 280; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000, S. 109; Becker 2010; Tepecik 2011). Entgegen gängiger Vorurteile assoziieren die meisten Muslim*innen mit dem Islam Friedfertigkeit, Toleranz, Achtung der Menschenrechte und Solidarität (vgl. Pollack et al. 2016, S. 18). Dabei erfüllt der Islam im Migrationskontext zahlreiche Funktionen, wie Lebensorientierung, Rückzugsort, Halt, Stabilität und Struktur im Alltag (vgl. Kanacher 2001, S. 194, 246; Spenlen 2013, S. 32; Uslucan 2013, S. 37; Thiessen 2009, S. 7). Migration in ein fremdes Land geht häufig mit sozialen Ängsten einher. Sprachbarrieren, Diskriminierung und Deklassierung verstärken diesen Zustand und führen nicht selten zum Rückzug in das Eigene und Bekannte, hin zu Familie und Religion bzw. religiöser Gemeinschaft oder Organisation – selbst dann, wenn keine religiösen Bindungen zur islamischen Community gegeben sind (vgl. Spielhaus 2013, S. 10f.). Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft, gute Deutschkenntnisse und wertschätzende Arbeitsverhältnisse lassen das Gefühl der sozialen Anerkennung und Wertschätzung steigen und verhindern sowohl den Rückzug in das Eigene als auch fundamentalistische Tendenzen (vgl. Pollack et al. 2016, S. 15).

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Andreas Jacobs

Die Institutionalisierung des Islams in Europa

Zusammenfassung Aufgrund der Tatsache, dass Muslim*innen in Europa keinen einheitlichen religionspolitischen Normenrahmen vorfinden, standen und stehen sie vor der Herausforderung, ihre religionspolitischen Ordnungen in die Strukturen der europäischen Nationalstaaten zu integrieren. Der vorliegende Artikel widmet sich dem Prozess, den Hintergründen, Ausprägungen und Implikationen der Institutionalisierung des Islams in Europa. Zu Beginn wird ein dem besseren Verständnis dienender Überblick über die traditionellen islamischen Institutionen gegeben. Daran anschließend wird die Institutionalisierung in verschiedenen europäischen Ländern näher betrachtet. Dabei werden die Institutionalisierungsprozesse des Islams in Europa auf vier miteinander verflochtenen Ebenen beschrieben und die Beziehung zwischen Islamverbänden und dem Staat beleuchtet. Zuletzt werden einige Aspekte angeführt, welche auf die Chancen und Risiken der Institutionalisierung des Islams in Europa aufmerksam machen sollen.

1.

Einleitung

Muslim*innen haben es in Europa mit religionspolitischen und religionsrechtlichen Strukturen und Systemen zu tun, die sich grundsätzlich von jenen in beinahe allen islamischen Ländern unterscheiden. Sie sehen sich auch Rahmenbedingungen gegenüber, die äußerst heterogen sind. Über die demokratischen Mindeststandards der Religionsfreiheit und das allgemeine Prinzip der Trennung von Staat und Religion hinaus existiert in Europa kein einheitlicher religionspolitischer Normenrahmen. Muslim*innen stehen daher vor der Herausforderung, die Institutionen ihrer Religionsausübung in die verschiedenen religionspolitischen Ordnungen der einzelnen europäischen Nationalstaaten zu integrieren. Sie sind hierbei mit dem Grundproblem konfrontiert, dass der Islam

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zumindest theologisch keine zentralisierte Organisationsstruktur kennt, in Europa aber die hier praktizierten und erwarteten Formen der Institutionalisierung von Religion annehmen muss, um als gesellschaftlicher Akteur und als Kooperationspartner für staatliche Bürokratien anerkannt zu werden. Diese Anpassungsprozesse sind für die Zukunft des Islams in Europa von entscheidender Bedeutung. Der vorliegende Beitrag untersucht die Hintergründe, Ausprägungen und Implikationen dieser Anpassungsprozesse. Den Auftakt zu den Überlegungen bildet eine Skizzierung des klassischen islamischen Institutionenverständnisses und der institutionellen Wirklichkeit des Islams in den muslimischen Ländern. Hiervon ausgehend wird die Entstehung islamischer Institutionen in unterschiedlichen europäischen Kontexten nachgezeichnet. Dies ermöglicht anschließend eine Verortung der islamischen Institutionenlandschaft in den verschiedenen religionsrechtlichen Ordnungen einzelner europäischer Staaten. Den Abschluss bilden Überlegungen zu Risiken und Chancen der Institutionalisierung des Islams in Europa. Im vorliegenden Zusammenhang werden »Institutionen« vor allem im spezifischeren Sprachgebrauch der Organisationssoziologie als formal verfasste und strukturierte Organisationseinheiten verstanden. Als »Institutionalisierung« wird also ein Prozess der organisatorischen Reife verstanden, der Formalisierung, Hierarchiebildung, Bürokratisierung und Professionalisierung vorantreibt und dadurch die Voraussetzung für eine kontinuierliche und strategiefähige politische und gesellschaftliche Intervention schafft. Aus vergleichbaren Prozessen der Institutionalisierung ist bekannt, dass hiermit oft eine Entradikalisierung und eine Integration in bestehende politische und gesellschaftliche Prozesse einhergeht. Institutionalisierung kann daher auch als funktionale Normalisierung in einer Gesellschaft begriffen werden (Rucht & Roose 2001, S. 263).

2.

Religiöse Institutionen in der islamischen Tradition

Obwohl das Fehlen hierarchischer Strukturen für den Islam prägend ist, hatte er neben einer rituellen, personalen, ethischen, ästhetischen und kognitiv-ideologischen Dimension von Beginn an auch eine institutionelle Komponente. Diese Komponente ist bereits in den fünf Pflichten (arka¯n al-isla¯m), insbesondere in der Aufforderung zum Gebet (sala¯t), zur Almosengabe (zaka¯t und sadaqa) und ˙ ˙ zur Pilgerfahrt (hag˘g˘) angelegt. Vor allem das Gebet in Gemeinschaft, das bis heute als zentrales religiöses Identitätsmerkmal gilt, führte zur Entstehung der ersten Institution des Islams: der Moschee (masg˘id). Der Gebetsort entwickelte sich bereits zu Lebzeiten des Propheten zu einem räumlich festgelegten und

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damit zentralen Bestandteil des liturgischen und sozialen Miteinanders. Moscheen galten dabei nicht als sakrale Orte, verfügten aber über eine Reihe von festgelegten architektonischen Elementen (Waschmöglichkeit, Gebetsnische und zum Teil eine Kanzel für die Freitagspredigt) sowie – mit dem Vorbeter (ima¯m) und dem Gebetsrufer (muʾaddin) – über einen zugeordneten Personalbestand. ¯¯ Bereits in der islamischen Frühgeschichte lässt sich eine Ausdifferenzierung der Rolle des Imams belegen. Aus der Funktion des Vorbeters entwickelten sich weitere Ämter und Institutionen, die sich der Seelsorge, theologischen Fragen, der Wissenschaft, der Rechtsprechung oder der Verwaltung widmeten. Hierzu zählten zunächst die Lehranstalten (madrasa, Pl. mada¯ris), die sich meist im Umfeld größerer Freitagsmoscheen ansiedelten, ihnen folgten zum Teil Bibliotheken, medizinische Einrichtungen und weitere angegliederte Institutionen. Seit dem islamischen Mittelalter kam der Gelehrtenschaft (ʿulama¯ʾ) innerhalb dieser institutionellen Netze eine herausragende Stellung zu (Roy 2006, S. 162). Zur Organisation dieser Infrastruktur wurden unter Rückgriff auf vorislamische Traditionen sogenannte »Fromme Stiftungen« (waqf, Pl. awqa¯f) gegründet. Deren Funktion bestand zunächst darin, finanzielle Mittel ausschließlich für religiöse und gemeinnützige Zwecke einzusetzen. Diese Mittel waren dem staatlichen Zugriff entzogen (Kogelmann 2003, S. 16). Trotz der daraus resultierenden Steuerverluste lagen die Stiftungsaktivitäten durchaus im Interesse des Staates, da in vielen islamischen Territorien kaum kommunale Verwaltungsstrukturen existierten und die Stiftungen durch die Übernahme administrativer und sozialer Aufgaben zur Stabilisierung und Systemerhaltung beitrugen (Aslan 2015, S. 134). Unter der Aufsicht eines einflussreichen Verwalters (wa¯lı¯) errichteten und unterhielten die Stiftungen weitgehend autonom städtische Infrastruktur, Moscheen, Sufi-Konvente, Schulen, Waisenhäuser, Hospitäler, Armenküchen und Herbergen. Selbst die Bezahlung der muslimischen Gelehrten und Juristen (ʿulama¯ʾ und fuqaha¯ʾ) wurde oft den Stiftungen überlassen, was in vielen Fällen zu einer Abhängigkeit der Gelehrten vom Waqf-System führte. Die Symbiose zwischen privaten Stiftern und dem islamischen Staat prägte über Jahrhunderte die islamische Geschichte (Aslan 2015, S. 132). Diese Symbiose und damit die Blütezeit der islamischen Stiftungen endete mit dem Beginn der Neuzeit. Hierfür waren mehrere Entwicklungen verantwortlich. Zum einen erwies sich das Stiftungswesen als korruptionsanfällig und unflexibel, zum anderen weckten die einflussreichen und finanzstarken Stiftungen immer öfter die Begehrlichkeiten der in der Auseinandersetzung mit den Kolonialmächten erstarkenden Zentralstaaten. Vor allem in Ägypten (seit Muhammad Ali), im Iran (unter den Pahlavi-Monarchen) und in der Türkei (unter Atatürk) wurden mit dem Aufbau moderner Verwaltungsapparate viele Stiftungen obsolet oder in den neu entstehenden Staat integriert (Kogelmann 2003, S. 22; Rohe 2009, S. 163). Die bislang einflussreichen ʿulama¯ʾ wurden entmachtet, viele Sufi-Bruderschaften

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unterdrückt und zahlreiche mada¯ris geschlossen oder in staatlich kontrollierte Anstalten umgewandelt. Mit Ausnahme von Pakistan existieren heute in allen islamischen Ländern staatliche oder staatsnahe Gremien für religiöse Angelegenheiten, welche die Organisation und damit auch die Inhalte des Islams kontrollieren. Anders als in Europa, wo die Nationalstaaten den Kirchen abgegrenzte, eigenständige Räume zuwiesen und gleichzeitig leistungsfähige Sozialsysteme und Infrastrukturen aufbauten, kam es im islamischen Raum durch die Aufspaltung der Institutionenlandschaft in tradiertes Stiftungswesen und moderne staatliche Verwaltungsapparate zur Schwächung beider. Die Stiftungen verloren ihre bisherige Bedeutung und der Staat war nicht in der Lage, die ausfallenden Funktionen durch eigene Angebote effektiv zu kompensieren. Diese Leerstellen füllten vielerorts Akteure eines neu entstandenen religiös-politischen Parallelsektors: die Islamisten (Roy 2006, S. 97, 165). Diese neuen Akteure waren bei der Besetzung religiöser und sozialer Freiräume auch deshalb so erfolgreich, weil die Entstehung von Freiräumen für zivilgesellschaftliches Engagement und das Erstarken unabhängiger gesellschaftlicher Gruppen (Bürgertum, Arbeiterbewegung etc.) staatlicherseits unterbunden wurde. Der Niedergang des islamischen Stiftungssystems macht daher einerseits die heute für die islamische Institutionslandschaft kennzeichnende Staatsnähe und die damit verbundenen Schwierigkeiten beim Aufbau eigenständiger muslimischer Institutionen in Europa verständlich, andererseits kann der Verfall des Waqf-Systems aber auch Erklärungen für den Aufstieg islamistischer Gruppen und für die Skepsis vieler Muslim*innen gegenüber staatlichen Eingriffen in religiöse Infrastruktur liefern.

2.1

Islamische Institutionen in der europäischen Gegenwart

Die dauerhafte Ansiedlung von Muslim*innen im modernen Europa steht also in Zusammenhang mit der institutionellen Krise in den islamischen Herkunftsländern. Vor die Tatsache gestellt, dass die traditionellen Institutionen islamischer Daseinsfürsorge marginalisiert, verstaatlicht oder abgeschafft waren und die staatlichen Alternativangebote weitgehend dysfunktional blieben oder nicht existierten, sahen sich viele Menschen in der Region auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen zur Auswanderung veranlasst. Institutionell stießen die muslimischen Neuankömmlinge in Europa weitgehend auf Neuland. Vor dem Ersten Weltkrieg existierten auf dem Gebiet der heutigen EU-Staaten – mit Ausnahme Österreichs und der muslimisch geprägten Balkanländer – nur sehr vereinzelt islamische Institutionen. In der Regel waren dies einzelne Moscheen oder Gräberfelder, die als Zeichen diplomatischer und politischer Anerkennung für islamische Akteure oder Partnerländer – etwa des Osmanischen

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Reichs im Falle Deutschlands – errichtet wurden. Zu Eigengründungen muslimischer Institutionen kam es erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Damals waren es vor allem Student*innen, teilweise aber auch Geschäftsleute und das diplomatische Personal, die in größeren Städten erste Moscheen und Vereine gründeten. In Berlin etwa entstand damals die repräsentative Moschee der Lahore-Ahmadiyya-Bewegung, in Großbritannien südasiatische und zypriotisch-muslimische Gruppen und in den Niederlanden die ersten indonesischen Moscheegemeinden (Landmann 2005). Die Anwerbung von Arbeitskräften aus islamischen Ländern seitens verschiedener nord- und westeuropäischer Länder ab Mitte der 1950er-Jahre hatte vorerst keinen unmittelbaren Institutionalisierungsschub zur Folge. Viele der damals nach Europa kommenden »Gastarbeiter« sahen seinerzeit keine Notwendigkeit zur Gründung von größeren Moscheen und Vereinen, da sie ihren Aufenthalt als nur vorübergehend betrachteten. Die Institutionalisierung des Islams begann in Europa daher vielerorts als lokale Basisinitiative einzelner Personen und kleinerer Gruppierungen, die zunächst vor allem die Sicherung religiöser Grundbedürfnisse zum Ziel hatte. Zum Teil griffen diese Basisinitiativen auf die Unterstützung transnationaler Netzwerke islamischer (und islamistischer) Gruppierungen zurück. Erst später, und oft mithilfe offizieller Religionsbehörden in den Herkunftsländern, bildeten die einzelnen örtlichen Initiativen nationale Dachorganisationen, die bis heute die politische und gesellschaftliche Wahrnehmung des Islams in Europa dominieren. Die Institutionalisierungsprozesse des Islams in Europa können daher auf vier miteinander verflochtenen Ebenen beschrieben werden. 2.1.1 Die lokale Ebene Der Etablierungsprozess islamischer Institutionen in Europa ging in den meisten Fällen von der lokalen Ebene aus. Vor allem die Gründung und der Betrieb von Gebetsräumen und Moscheen beruhten auf der Eigeninitiative örtlicher Akteure. Im Allgemeinen verliefen diese Prozesse mühsam und spiegelten die oft prekären sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten wider (Landmann 2005, S. 563). Trotz ihres zunächst oft provisorischen Charakters bildeten diese Moscheegründungen in vielen Fällen aber den Ausgangspunkt für die Ansiedlung weiterer islamischer Institutionen und Dienstleister. So entstand vor allem ab den 1980er-Jahren eine große Zahl von islamischen Grassroot-Initiativen in den Bereichen Unterricht, Spendenwesen, Sozialarbeit, Seelsorge, Presse, Ernährung, Körperpflege, Beerdigung, Pilgerfahrt, die im weiteren Sinne auf die Erfüllung islamischer Vorschriften und Traditionen abzielten. Überhaupt waren diese Initiativen oft durch die Verknüpfung einer ethnisch, national, sprachlich und religiös begründeten Bedürfnisansprache charakteri-

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siert. Aus europäischer Sicht ähnelten (und ähneln) viele der damals entstandenen Moscheevereine daher Institutionen der Traditions- und Heimatpflege, die nicht selten von den Partikularinteressen einzelner ethnisch oder konfessionell geprägter Gruppen bestimmt wurden und über enge Verbindungen in die Herkunftsländer verfügten. Als Sonderfälle islamischer Institutionalisierung auf lokaler Ebene müssen Versuche gewertet werden, eigene Stätten der islamischen Erziehung und Rechtsprechung in Europa zu etablieren. Auch diese Initiativen gingen häufig von örtlichen Initiatoren aus, wenngleich ihr Unterhalt und ihre Finanzierung nicht selten internationale und transnationale Bezüge aufwiesen. Hier ist die Situation aufgrund unterschiedlicher Rechtsrahmen und Traditionen in Europa sehr uneinheitlich. Während vor allem in Großbritannien, aber auch in Dänemark und in den Niederlanden zahlreiche islamische Schulen in unterschiedlicher Trägerschaft entstanden, blieb in Deutschland und Frankreich dergleichen eher die Ausnahme (Berglund 2015, S. 6). Auch bei der Etablierung schariarechtlicher Strukturen spielte das traditionell multikulturalistisch geprägte Großbritannien eine besondere Rolle. Seit 1978 arbeiten hier sogenannte »Islamic Shariʿah Councils«, deren Anrufung als Schlichtungsgerichte seit 1996 möglich ist. 2.1.2 Die transnationale Ebene Der Aufbau lokaler Strukturen geschah in vielen Fällen mit Unterstützung und auf Initiative transnationaler Netzwerke. Prägend für die islamische Institutionenbildung in Europa waren vor allem solche Gruppierungen, die entweder in ihren Heimatländern unter Verfolgung oder Diskriminierung litten oder die sich aufgrund konfessioneller oder ethnischer Besonderheiten von der Mehrheitsbevölkerung in den Herkunftsländern absetzten. Als Beispiel für erstere Gruppierung ist vor allem die Muslimbruderschaft (MB) zu nennen, als Beispiele für letztere die verschiedenen mystischen oder religiös-nationalen Gruppierungen mit türkischem oder südindischem Hintergrund sowie einige Sondergruppen (Reetz 2010). Als eine der erfolgreichsten Gruppierungen ist in diesem Zusammenhang die vor allem in Deutschland und Österreich aktive Millî-Görüs¸-Bewegung zu nennen. Die in der Türkei Ende der 1960er-Jahre als religiös motivierte politische Oppositionsbewegung entstandene Gruppierung konnte sich zu einer der größten islamischen Organisationen in Europa entwickeln. Bemerkenswert und in mancherlei Hinsicht symptomatisch für die islamische Institutionenbildung in Europa ist dabei ihr Doppelcharakter. Während Millî Görüs¸ in der Türkei zunächst in Gestalt unterschiedlicher politischer Oppositionsparteien auftrat, strebt sie in Europa den Status einer Religionsgemeinschaft an.

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Einen vergleichbaren Doppelcharakter trägt die ebenfalls in Europa sehr aktive Muslimbruderschaft. Ähnlich wie Millî Görüs¸ wurde die MB vor dem Hintergrund innenpolitischer Verfolgung schon früh in Europa aktiv. Bereits in den 1960er-Jahren gründeten aus Ägypten zugewanderte Muslimbrüder die Münchner Moschee, aus der später die Islamische Gemeinschaft in Deutschland/ Deutsche Muslimische Gemeinschaft (IGD) hervorging. In Frankreich waren es vor allem libanesische Vertreter der Bruderschaft, welche die Gründung der Union des Organisations Islamiques de France (UOIF) vorantrieben. Auch in anderen europäischen Ländern hatten viele MB-nahe Moscheevereine und Dachverbände einen Organisationsvorsprung. Dementsprechend gelten einflussreiche Dachverbände und Lobbygruppen wie die Muslim Association of Britain (MAB), die Unione delle Comunità e Organizzazioni Islamiche in Italia (UCOII), die Liga Kultur in Österreich, Islamiska Forbündet in Schweden und eine Reihe andere als MB-nah (Klausen 2006, S. 46–65). In vielen Fällen ist allerdings umstritten, was mit der Verortung »MB-nah« gemeint ist (Klausen 2006, S. 54f.). Lorenzo Vidino definiert als zuordnende Kriterien die Übernahme der von Hassan al-Banna, dem Gründer der MB, etablierten Organisationsstruktur sowie den Glauben an die inhärent politische Natur des Islams (Vidino 2015). Europaweit existiert nach diesen Kriterien eine Vielzahl von Moscheegemeinden, Thinktanks, Lobbygruppen und NGOs, die untereinander kaum operationale Bezüge aufweisen, aber ein ähnliches Islamverständnis vertreten und sich oft als authentisch muslimische Ansprechpartner des Staates inszenieren. Dieser Einfluss zeigt sich auch auf überstaatlicher Ebene. Die Mehrzahl der transnational agierenden europäischen Organisationen und Lobbygruppen, wie etwa die Federation of Islamic Organizations (FIOE) in Markfield, Großbritannien, das Forum of European Muslim Youth and Student Organisations (FEMYSO) mit Sitz in Brüssel und der auf Initiative der FIOE gegründete, in Dublin ansässige European Council of Fatwa and Research (ECFR) gelten als MB-nah. Nach Einschätzung von Vidino ist die MB dank dieser Strukturbildung zur wichtigsten und politisch einflussreichsten transnationalen islamischen Organisation in Europa herangewachsen (Vidino 2017, S. 8). 2.1.3 Die internationale Ebene Deutlich sichtbarer als die transnational agierenden Gruppierungen sind in vielen europäischen Ländern Gruppierungen, die direkt oder indirekt von offiziellen Religionsbehörden islamischer Länder oder von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) bzw. der Islamischen Weltliga (MWL) gefördert oder gegründet wurden. Diese Gründungen geschahen zumeist in Reaktion auf bzw. in Zusammenhang mit den geschilderten Strukturbildungen oppositioneller Gruppierungen und reflektierten die Vorstellung der Initiatoren, dass

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Muslim*innen in Europa keine bürgergesellschaftlichen Akteure ihrer jeweiligen Länder, sondern vielmehr Schutzbefohlene ausländischer Staaten darstellten (Silvestri 2010, S. 40f.). Als Beispiele werden im Folgenden lediglich Deutschland und Frankreich näher beleuchtet, vergleichbare Strukturen entstanden aber, vor allem ab den 1980er-Jahren, auch in den übrigen EU-Staaten. In Deutschland reagierte der türkische Staat bzw. die türkische Religionsbehörde Diyanet auf die zunehmende Strukturbildung transnationaler islamischer Gruppen mit der Gründung der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (türk. Diyanet ˙I¸sleri Türk ˙Islam Birlig˘i, abgekürzt DI˙TI˙B) im Jahr 1984 (Beilschmidt 2015, S. 47). Ziel war es, den türkischen oder türkischstämmigen Muslim*innen in Deutschland ein vom türkischen Staat kontrolliertes Angebot religiöser Infrastruktur zu machen, das deren Bindung an die Türkei sicherstellt. Diese Form der zwischenstaatlich organisierten Religionsdiplomatie und insbesondere das Angebot der Entsendung von Imamen durch Diyanet wurden zunächst als Arrangement im beiderseitigen Nutzen begriffen. Die religionspolitischen Interessen des säkularen Bündnispartners Türkei schienen komplementär und die Rückbindung der damaligen »Gastarbeiter« an das Herkunftsland sowie die ausländische Finanzierung grundsätzlich begrüßenswert. In der Folge etablierte sich ein System, in dem DI˙TI˙B nahezu ausschließlich von der türkischen Religionsbehörde entsandte Imame beschäftigt, denen die deutschen Behörden im Gegenzug problemlos mehrjährige Aufenthaltserlaubnisse erteilen. Die Imame haben in der Mehrzahl ein theologisches Studium absolviert und bleiben in der Regel vier bis fünf Jahre in Deutschland. Als türkische Staatsbeamte sind sie gegenüber dem Religionsattaché des zuständigen türkischen Konsulats weisungsgebunden. Frankreich baute ein ähnliches System auf. Von Beginn an war hieran die Hoffnung geknüpft, dass durch die Akkreditierung von Imamen, die von Partnerländern ausgebildet und entsandt wurden, islamistischen Bewegungen und Predigern Einhalt geboten werden könne (Jacobs & Lipowsky 2019, S. 4f.). Dies brachte ein – oft »islam consulaire« genanntes – System hervor, in dem Imame durch Beamtenstatus eng an die Herkunftsländer gebunden und von den Konsulaten der Entsendeländer betreut wurden. Algerien etwa engagiert sich vor allem im Netzwerk der Großen Moschee von Paris (GMP). Marokkanische Religionsbehörden kooperieren mit der Fédération nationale des musulmans de France (FNMF) und Diyanet agiert über den Comité de coordination des musulmans turcs de France (CCMTF) im Land (Klausen 2006, S. 56). Einen Sonderfall der internationalen Islam-Diplomatie stellen repräsentative Zentralmoscheen oder Islaminstitute dar, die oft mit Unterstützung der Regierungen islamischer Länder errichtet wurden. Derartige Projekte sollten der außen- wie innenpolitischen Imagepflege dienen und gleichzeitig einen staatlich geförderten (und kontrollierten) islamischen Ansprechpartner schaffen. Pro-

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minentestes Beispiel einer solchen Zentralmoschee ist die 1926 als kolonial geprägte Privilegierung der algerischen Mitbürger vom französischen Staat errichtete GMP. Die GMP wurde in den Nachkriegsjahren als zentrale Anlaufstelle der französischen Islampolitik aufgebaut und gemeinsam mit Algerien finanziert, konnte aber u. a. wegen ihrer Nähe zum französischen und algerischen Staat nie einen Alleinvertretungsanspruch durchsetzen (Stegmann 2018, S. 97–190). Auch anderswo blieben internationale Vorzeigeprojekte einer Top-down-Institutionalisierung islamischen Lebens in Europa weitgehend erfolglos bzw. wurden diese zunehmend kritisch gesehen. So etwa konnte 1995 – nach 20 Jahren Planung und Bau – in Rom die damals größte Moschee Europas vom italienischen Staatspräsidenten eingeweiht werden. Doch der von Saudi-Arabien finanzierte Prestigebau wurde von den islamischen Gemeinden nie wirklich angenommen (Ferrari 2018, S. 422). Problematisch verlief ein ähnliches Projekt in Belgien. In Brüssel wurde 1978 eine von Saudi-Arabien finanzierte Zentralmoschee mit angegliedertem Kulturzentrum eröffnet. Die Kontrolle der Moschee durch Saudi-Arabien und die OIC rief wegen der Entsendung salafistischer Prediger bereits früh Unmut hervor. 2018 gab Saudi-Arabien dem politischen Druck und der zunehmenden Kritik aus den islamischen Gemeinden nach und übertrug die Leitung der Moschee an den belgischen Staat bzw. an den Belgischen Zentralrat der Muslime (EMB). Dies korrespondiert mit dem auch in anderen europäischen Ländern seit einigen Jahren feststellbaren Rückzug der offiziellen saudischen Religionspolitik aus islamischen Institutionen in Europa. 2.1.4 Die nationale Ebene Die Formierung islamischer Organisationen auf nationaler Ebene stellte in Europa oft den vorerst letzten Schritt der Strukturbildung dar. Vor allem ab den 1990er-Jahren entstanden in den meisten europäischen Staaten sogenannte »Zentral-« oder »Dachverbände«, welche den ihnen angehörigen Vereinen verschiedene Dienstleistungen anboten und sich als deren Interessenvertretungen gegenüber staatlichen Stellen positionierten. Nicht selten nahmen sie dabei in Anspruch, stellvertretend für »die« Muslim*innen zu handeln. Ungeachtet einer verbreiteten Außenwahrnehmung als muslimische »Quasi-Kirchen« verfügen diese Dachverbände oft nur über geringe theologische Kompetenz und Autorität. Entsprechend der geschilderten Entstehungsgeschichte ihrer Mitgliedsvereine sind sie in den meisten Fällen von ethnisch-nationalen Herkunftsbezügen, von religiösen Sondergruppen und von Akteuren aus dem Spektrum des legalistischen Islamismus geprägt. Von diesen Organisationen bzw. von ihrer Mitwirkung innerhalb staatlicher Kooperationsstrukturen auf nationaler Ebene ist in der Regel die Rede, wenn von der »Institutionalisierung des Islams in Europa«

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gesprochen wird. Sie werden daher im anschließenden Abschnitt zur Kooperation zwischen Staat und Islamverbänden genauer betrachtet.

2.2

Die institutionelle Neuordnung des Islams in Europa

Beim Vergleich zwischen der klassischen islamischen Institutionsgeschichte und der neuzeitlichen Institutionalisierung islamischen Lebens in Europa ist zunächst festzuhalten, dass Letztere weder in Form noch in Inhalt an klassische Traditionen anknüpfte. Es gab bislang kaum Versuche, etwa durch die Gründung von Stiftungen in Europa an die Waqf-Tradition anzuknüpfen. Stattdessen organisierten sich Muslim*innen in Migranten- und Heimatvereinen, aber auch in Form von NGOs, Thinktanks und Advocacy-Gruppen, die nicht nur religiöse Dienstleistungen bereitstellen, sondern in steigendem Maße auch in der Rechtsberatung, der Forschung, der Lobbyarbeit und der Medienproduktion aktiv sind. Dies zeugt von einer weit fortgeschrittenen strukturellen Anpassung an europäische Rechtsordnungen und Lebenswirklichkeiten. Diese Anpassung vollzog sich auch sprachlich. Statt von ha¯naqa (Konvent) oder madrasa spricht man von ˘ colleges (Schulen) oder Instituten. Aus einer tarı¯qa (Bruderschaft) werden Ge˙ meinschaften oder Vereine. Und selbst der Imam wird gelegentlich zum faith leader. Treiber dieser Entwicklung waren aus naheliegenden Gründen nicht zuletzt solche Gruppierungen, die aufgrund von Diskriminierung und Verfolgung auch in ihren Ursprungsländern ein hohes Maß an organisatorischer Flexibilität und Anpassungsbereitschaft zeigen mussten: die Netzwerke legalistischer Islamisten wie der MB, sufische Bruderschaften wie die Süleymancılar oder die Nurculuk und schließlich Sondergruppen wie die Ahmadiyya oder die Aleviten. Dies erklärt, weshalb Netzwerke aus dem Spektrum der Traditionalist*innen sowie der legalistischen Islamist*innen in Europa oft deutlicher hervortreten als die in der Regel unorganisierten Anhänger*innen eines in den Herkunftsländern staatlich organisierten Mehrheitsislams. Erst in jüngerer Zeit machen einige institutionelle Neugründungen jüngerer Muslim*innen von sich reden, welche den Islam in Europa aus seiner bisherigen ethnisch-nationalen sowie traditionell-konservativen Verfasstheit lösen und zu neuen Formen mit einer modernen, eigenständigen konfessionellen Prägung entwickeln wollen. Aufgrund ihrer bislang fehlenden Breitenwirkung bleiben diese Initiativen im vorliegenden Zusammenhang allerdings ebenso unberücksichtigt wie die medial oft stark rezipierten Organisationsgründungen säkularer oder liberaler Einzelpersonen und Kleingruppen.

Die Institutionalisierung des Islams in Europa

3.

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Islamverbände als Kooperationspartner des Staates

Mit der Verstaatlichung islamischer Institutionen in fast allen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens begründete sich der Anspruch auf umfassende religiöse Daseinsfürsorge durch die öffentliche Hand. Die staatlichen IslamBürokratien legen theologische Lehrinhalte fest, definieren die legitime Religionspraxis und stellen die religiöse Infrastruktur zur Verfügung. Dieses System staatlicher Vereinnahmung wird zwar gelegentlich kritisiert, aber in den meisten Fällen grundsätzlich akzeptiert bzw. als selbstverständlich betrachtet. Indem der Staat sich mit wenigen Ausnahmen selbst als »islamisch« definiert und legitimiert, überbrückt er die auch im Islam angelegte Differenz zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre und lässt religiöse Selbstorganisation und eine grundsätzliche Neudefinition der Beziehung zwischen religiösen und staatlichen Institutionen nur eingeschränkt zu. In Europa stellt sich die Situation grundlegend anders dar. Zum einen begreifen sich alle europäischen Staaten in unterschiedlichen Abstufungen und Verständnissen als säkular, zum anderen garantieren sie ein Ausmaß an Religionsfreiheit, wie es nirgendwo im sogenannten »islamischen Raum« existiert. Für Muslim*innen in Europa ergeben sich hieraus drei Herausforderungen: Erstens sind sie – wie gesehen – in stärkerem Maße zur religiösen Selbstorganisation gezwungen als in den meisten islamischen Ländern. Zweitens leben sie in einem Umfeld, in dem unterschiedliche islamisch begründete Wahrheitsansprüche nebeneinander existieren und zum Teil im Wettbewerb zueinander stehen. Drittens müssen sie zur Wahrung von Privilegien und Rechten gegenüber Staat und Gesellschaft kooperationsfähig werden. Die Herstellung dieser Kooperationsfähigkeit ist ein von Land zu Land sehr unterschiedlicher und hochkomplexer Prozess, der oft verkürzend mit dem Begriff der »Anerkennung« beschrieben wird.

3.1

Die »Anerkennung des Islams«

Die von Muslim*innen oft zu hörende Klage über eine mangelnde »Anerkennung des Islams« in Europa (Klausen 2006, S. 69) ist angesichts steigender Islamfeindlichkeit gesellschaftlich und politisch gerechtfertigt, juristisch ist sie aber unhaltbar. Die Mehrzahl der europäischen Rechtsordnungen kennt keine Form der Anerkennung von Religionen. Einige Länder verwenden diese Terminologie, verstehen hierunter aber die Anerkennung der Rechtsfähigkeit als Organisation gegenüber dem Staat. Der Staat erkennt hier also nicht bestimmte spirituelle Wahrheitsansprüche oder eine Religion an, sondern die jeweils spezifische Form ihrer Organisation. Erfüllt diese Organisation verschiedene Kri-

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terien (z. B. Rechtstreue, theologische Autorität, Beitrag zur Gesellschaft etc.), kann sie einen bestimmten Rechtsstatus zuerteilt bekommen. Grundsätzlich lassen sich in Europa drei Typen religionspolitischer Ordnungen unterscheiden. Vor allem in Deutschland und Österreich findet sich erstens das sogenannte »Kooperationsmodell«. Nach diesem Modell interpretiert der Staat Säkularität nicht als Religionsferne, sondern als Religionsneutralität. Vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Wertschätzung der sinnstiftenden Leistungen von Religion(en) für Staat und Gesellschaft eröffnet er vielfältige Kooperationsmöglichkeiten mit (allen) Religionsgemeinschaften. In Großbritannien (England und Schottland), Skandinavien und einigen südeuropäischen Ländern findet sich zweitens das Modell der »Staatskirche bei gleichzeitiger Gleichbehandlung aller übrigen Religionen«. Hier sind zwar ebenfalls vielfältige Formen der Zusammenarbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaften möglich, meist aber keine spezifischen Rechtsformen für Religionsgemeinschaften vorgesehen. Drittens existiert vor allem in Frankreich ein laizistisches System der »strikten Trennung von Staat und Religion«, das aber ebenfalls Formen der Interessenvermittlung zulässt. Historisch wurde in den meisten Fällen versucht, den Islam in diese bestehenden religionspolitischen Ordnungen zu integrieren, ohne weiterreichende rechtliche Änderungen vorzunehmen. Als erstes modernes europäisches Land erließ Österreich-Ungarn bereits im Jahre 1912 ein Gesetz, das die religiösen Belange von Muslim*innen regelte (Bair 2018, S. 49–56). In Belgien erkannte der Staat die »administrativen Führungsorgane der islamischen Religion« 1974 per Gesetz an. In den Niederlanden wurde der Islam zunächst als weitere »Säule« in das religionspolitische Rahmensystem integriert und entsprechend behandelt, ohne dass hier eine vorgegebene Form religiöser Selbstorganisation vorausgesetzt wurde. Das Fehlen einer geschriebenen Verfassung hat auch in Großbritannien dazu geführt, dass es dort keine formale Anerkennung von muslimischen Gruppen als Religionsgemeinschaft gibt. Sowohl in Großbritannien als auch in den Niederlanden existieren aber Formen der Privilegierung von Religionsgemeinschaften (z. B. das Recht auf eigene Schulen). Anderswo bestehen spezifische Rechtsformen für Religionsgemeinschaften (z. B. Körperschaft des öffentlichen Rechts, KdöR, in Deutschland und Österreich, confessione religiosa in Italien). In Deutschland, Italien und Dänemark erfüllt allerdings fast keine der islamischen Gemeinden die daran geknüpften Voraussetzungen. Insgesamt haben es muslimische Gemeinden in Europa also mit sehr heterogenen religionspolitischen Rahmenbedingungen zu tun. Es existieren weder einheitliche Kriterien noch klare Vorstellungen, wie sich muslimische Verbände in diese Rahmenbedingungen integrieren können. Daraus resultieren zum Teil strukturelle Benachteiligungen. In Deutschland beispielsweise firmiert der größte Moscheeverband (DI˙TI˙B) mit fast 1.000 Gemeinden lediglich als einge-

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tragener Verein, während die Heilsarmee mit bundesweit nur etwa 3.000 Mitgliedern als KdöR anerkannt ist. Auch formal und sprachlich gibt es Schieflagen. In Dänemark können islamische Gemeinden zwar Privilegien und öffentliche Mittel beantragen, müssen sich hierzu aber an das »Kirchenministerium« (Kirkeministeriet) wenden. Erschwerend kommt in manchen Ländern hinzu, dass der Rechtsstatus von Religionsgemeinschaften auf lokaler und föderaler Ebene ausgehandelt wird und – je nach politischer Konstellation – im landesweiten Vergleich sehr unterschiedlich ausfallen kann.

3.2

Das Problem der Ansprechpartner

Als Hauptproblem bei der Etablierung von strukturierten Beziehungen zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften wird oft das Fehlen eines einheitlichen und theologisch kompetenten Ansprechpartners auf muslimischer Seite gesehen. Dies liegt u. a. daran, dass die europäische Rechtsfigur der »Religionsgemeinschaft« in der islamischen Tradition keine Entsprechung findet. In Deutschland beispielsweise haben Gerichte wiederholt festgestellt, dass es sich bei den hier existierenden Verbänden nicht um Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes handelt (Eißler 2018). Dies stellt den deutschen Staat bei der grundgesetzlich geforderten Bereitstellung von islamischem Religionsunterricht vor erhebliche Probleme. Denn dieser Religionsunterricht kann nur von den Religionsgemeinschaften verantwortet werden. Als Übergangslösung wurden daher in vielen deutschen Bundesländern sogenannte »theologisch kompetente Beiräte« eingerichtet, welche die Funktion von Vertreter*innen islamischer Religionsgemeinschaften einnehmen. Ähnliche Übergangslösungen finden sich auch anderswo in Europa. Allerdings war das Fehlen staatlich anerkannter islamischer Religionsgemeinschaften in Europa zumindest teilweise auch durch die europäischen Regierungen und Behörden selbst verschuldet. Bis in die 2000er-Jahre war es für viele europäische Regierungen einfacher, politisch opportuner und kostensparender, die Organisation der religiösen Angelegenheiten muslimischer Minderheiten in Europa an die islamischen Herkunftsländer zu delegieren. Auch dies trug dazu bei, dass sich zwar islamische Vereine und Organisationen etablieren konnten, aber kaum repräsentative Religionsgemeinschaften im Sinne der jeweiligen Rechtsverständnisse. Vor dem Hintergrund globalpolitischer Ereignisse wie der sogenannten »Rushdie-Affäre« (ab 1989), des zweiten Golfkriegs (1990/91), vor allem aber der Terroranschläge des 11. September 2001 wurde dieser Zustand in den meisten europäischen Ländern als Problem erkannt. Mit jedem Mal wurde der Ruf nach einer institutionellen Neuregelung der Beziehungen zwischen den europäischen

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Staaten und ihren muslimischen Bürger*innen lauter. In vielen Fällen war dieser Ruf mit Erwartungen einer wie auch immer gearteten Demokratisierung und Europäisierung »des Islams« verbunden. Diese Neuregelungsbemühungen hatten zwei – aufeinander bezogene – Ansatzpunkte: Einerseits wurden muslimische Repräsentativorgane staatlicherseits gefördert und aufgebaut (bottom-up), andererseits wurden offizielle Konsultationsforen zwischen dem Staat und diesen Repräsentativorganen sowie anderen islamischen Institutionen eingerichtet (top-down). 3.2.1 Islamische Repräsentativorgane Vorreiter in den Bemühungen um Repräsentativorgane bzw. repräsentative Dachverbände war aufgrund seiner spezifischen Gesetzeslage und Tradition Österreich, wo bereits 1979 die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) per Gesetz als KdöR und offizielle Vertretung der österreichischen Muslim*innen staatlicherseits anerkannt wurde (Bair 2018, S. 58–62). Auch in Belgien setzte die Diskussion über ein einheitliches Vertretungsorgan bereits in den 1970er-Jahren ein, endete aber aufgrund von Akzeptanzfragen und Streitigkeiten zwischen den einzelnen ethnisch geprägten muslimischen Gruppen erst 1996 mit der Schaffung des Exécutif des musulmans de Belgique (EMB) (Christians 2009, S. 17). 1990 hatten sich bereits in Schweden der Sveriges muslimska råd und 1992 in Spanien die Comisión Islámica de España (Arigita 2010) als vergleichbare Repräsentativorgane auf staatlichen Druck hin gebildet. 2004 erfolgte die Gründung des Contactorgaan Moslims en Overheid und 2005 der Contact Group Islam (in der Minderheitenströmungen organisiert sind) in den Niederlanden. Im gleichen Jahr konstituierte sich in Italien die Consulta per l’islam italiano (Ferrari 2018, S. 424). Die Schwierigkeiten und Grenzen der oft staatlich angeregten Dachverbandsgründungen lassen sich exemplarisch an Großbritannien und Frankreich zeigen. In Großbritannien hatte in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre vor allem der damalige Innenminister Michael Howard auf die Bildung eines zentralen muslimischen Ansprechpartners für die britische Regierung gedrängt. In Reaktion hierauf gründete sich 1997 der Muslim Council of Britain (MCB). Die anschließenden Versuche des britischen Staates, den MCB zur Unterstützung politischer und militärischer Maßnahmen (Afghanistan 2001/02, Irak 2003) zu bewegen, – sowie die hieraus resultierende Entfremdung – machten dann rasch die Grenzen der Kooperationsmöglichkeiten deutlich (Morey & Yagin 2011, S. 83). Ähnlich ernüchternd verlief dieser Prozess in Frankreich. Unter dem Eindruck der sogenannten »Kopftuch-Affäre« rief der damalige Innenminister Pierre Joxe 1990 den Conseil de réflexion sur l’islam de France ins Leben, der eine einheitliche Vertretung der französischen Muslim*innen etablieren sollte, aber zunächst bei

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den muslimischen Vereinen auf Ablehnung stieß. Auf diesen Erfahrungen aufbauend, unternahm der Staat ab 1999 einen erneuten Versuch, der nach langwierigen Konsultationen 2003 zur Wahl des Conseil français du culte musulman (CFCM) führte. Der CFCM soll alle französischen Moscheen repräsentieren, steht aber seit Jahren in der Kritik. Sowohl vonseiten vieler Muslim*innen als auch vonseiten staatlicher Institutionen wird er als ineffektiv, zerstritten und auslandsgesteuert charakterisiert (Vöcking 2018, S. 36). 3.2.1.1 Staatliche Kooperationsforen In Deutschland blieb die Suche nach einer repräsentativen und einheitlichen muslimischen Interessenvertretung auch formal weitgehend erfolglos. Zwar hatte sich hier 1994 der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) gegründet, aber es gelang diesem nicht, die großen türkisch geprägten Vereine DI˙TI˙B, Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) sowie den durch die Millî-Görüs¸Bewegung geprägten Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IR) unter sein Dach zu ziehen. Das Bundesinnenministerium entschied sich daher Mitte der 2000er-Jahre zur Einberufung eines Konsultationsforums zwischen Staat, Verbänden und unabhängigen Einzelpersonen auf Bundesebene, das als Nebeneffekt die Gründung eines islamischen Repräsentativorgans zeitigen sollte. Die 2006 erstmals einberufene Deutsche Islam Konferenz (DIK) veranlasste die vier großen islamischen Verbände dann zwar zur Schaffung des Koordinationsrates der Muslime (KRM), der KRM verfügt bislang allerdings lediglich über eine gemeinsame Geschäftsordnung, hat aber keinerlei institutionelle Infrastruktur aufgebaut und ist weitestgehend unsichtbar geblieben (Deutscher Bundestag 2015, S. 7). Der Streit über Teilnahme und Vertretungsansprüche prägt von Beginn an die DIK. Während die erste Phase (2006–2010) noch als wichtiges politisches Signal gewertet wurde, war bereits damals die Auseinandersetzung über den Mitgliederkreis offensichtlich (Busch & Goltz 2011). Der Konflikt setzte sich in der zweiten (2010–2014) und dritten Phase (2014–2018) fort, obwohl in letzterer bereits keine Einzelpersonen mehr eingeladen waren und lediglich über eher unpolitische Sachfragen debattiert wurde. In der Vorbereitung der vierten Phase der DIK (seit Ende 2018) schlagen sich diese Erfahrungen dahingehend nieder, dass man feste Formate oder dauerhafte Mitgliedschaften nunmehr vermeiden will (Kerber 2018). Der die DIK begleitende Dauerstreit um Themen sowie Teilnehmer*innen war auch für vergleichbare Konsultationsformate in anderen Ländern kennzeichnend. In Italien wurde 2016 der Consiglio per le relazioni con l’Islam eingerichtet, um ein regelmäßig tagendes Kontaktorgan zwischen Innenministerium und den großen Islamverbänden zu schaffen (Ferrari 2018, S. 424). Relativ schnell regte sich auch hier Kritik an der Teilnehmerauswahl und an dem staatlichen Bemü-

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hen, die muslimischen Teilnehmer*innen auf ein Bekenntnis zu einem »Islam italiano« zu verpflichten (Morucci 2018, S. 10). Die auch hier festzustellende securitization (»Versicherheitlichung«) war prägend für nahezu alle vergleichbaren Bemühungen um die Errichtung von Kooperationsforen zwischen Staat und muslimischen Akteuren in Europa.

3.3

Institutionalisierung, Lehre und Theologie

Europäische Staaten greifen aber nicht nur institutionell, sondern auch inhaltlich in den Aufbau islamischer Strukturen ein. Betroffen ist insbesondere der Bereich der islamischen Bildung bzw. der Aufbau von theologischer Lehrautorität. Vor allem in Frankreich wurde der Staat diesbezüglich früh aktiv. Auf Drängen des Innenministeriums rief die GMP bereits 1993 ein Institut zur Ausbildung einheimischer Imame ins Leben. Außerdem denkt die französische Politik schon seit den 1970er-Jahren darüber nach, an der Straßburger Universität einen Lehrstuhl für Islamische Theologie einzurichten. Hintergrund ist die historisch bedingte Besonderheit, dass im Elsass das Gesetz zur Trennung von Staat und Religionen aus dem Jahr 1905 keine Anwendung findet (Akgönül 2009, S. 135). Bislang wurden diesbezügliche Überlegungen aufgrund politischer und verfassungsrechtlicher Vorbehalte aber nicht weiter vorangetrieben. In Ermangelung staatlich-akademischer Angebote zur Ermöglichung einer Imam-Qualifizierung hat die französische Regierung allerdings ab 2008 unter verschiedenen Bezeichnungen ein- bis zweijährige Studiengänge mit den Fächern »Politik, Religion und Laizität« gefördert, die auch dazu dienen sollen, ausländische Imame stärker in den französischen Kontext einzubinden (Zwilling 2014). In Deutschland begann ab 2010 auf Anregung der DIK und des Wissenschaftsrates die Etablierung eigenständiger islamischer Theologien an deutschen Hochschulen als Grundlage für die Ausbildung muslimischer Religionslehrkräfte, Seelsorger*innen und Imame. Bis heute konnten an fünf Universitätsstandorten Institute mit rund zwei Dutzend Professuren eingerichtet werden. Ein weiterer Standort (Berlin) wurde 2019 eröffnet. Die Lehrstühle und Institute sind mittlerweile personell, finanziell und akademisch etabliert und viele der Lehrstuhlinhaber*innen sind gefragte Gesprächspartner von Politik und Medien (Ceylan & Jacobs 2018). In Großbritannien hat der Staat Fragen der islamischen Lehre lange den islamischen Verbänden überlassen. Dementsprechend existieren hier traditionelle islamische Lehranstalten, die zum Teil sogar unter der klassischen Bezeichnung da¯r al-ʿulu¯m firmieren und pakistanische oder indische Ausbildungsmethoden nach Großbritannien übertragen haben. Derartige Einrichtungen werden zunehmend kritisch betrachtet und sind in jüngerer Zeit ebenfalls zum Gegenstand

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staatlicher Interventionen und Reformbemühungen geworden (Reetz 2010, S. 307). Bei den muslimischen Gemeinschaften stoßen staatlich initiierte Projekte zum Aufbau islamischer Lehrautorität in der Regel auf Zurückhaltung bzw. Ablehnung. Erfahrungen aus Frankreich, den Niederlanden und neuerdings auch aus Deutschland zeigen, dass europäisch ausgebildete Imame Akzeptanzprobleme in den örtlichen Gemeinden haben und oft keine Anstellung in Moscheen finden. Dies liegt an mehreren Faktoren. Zunächst sehen viele Muslim*innen staatliche Einmischung in religiöse Inhalte grundsätzlich als übergriffig und illegitim an. Streitigkeiten wie die um die Besetzung der Beiräte für die Lehrstühle für Islamische Theologie in Deutschland zeigen exemplarisch die Sorge vor einer staatlich kontrollierten »Vorzeige-Theologie«. Daneben werden Zweifel an den akademischen und theologischen Standards der staatlich geforderten und geförderten Religionspädagogik vorgebracht (Aslan 2012, S. 18). Schließlich vermuten Beobachter aber auch, dass manche Muslim*innen schlicht Probleme mit Lehrautoritäten haben, die nicht den gleichen ethnischen Hintergrund haben wie sie selbst (Lewis 2017, S. 260). 3.3.1 Risiken und Chancen der Institutionalisierung des Islams in Europa Die Diskussion über die Institutionalisierung des Islams in Europa verläuft auch deshalb so kontrovers und emotional, weil sie bislang als weitgehend geklärt geltende Aspekte der Religionsfreiheit und der Säkularität neu aufwirft. In der Debatte über die Organisation von Muslim*innen in Europa und über ihre Kooperation mit dem Staat werden also zumindest einige Grundsätze der Staatsordnung mitverhandelt. Es ist daher wenig erstaunlich, dass in allen europäischen Staaten von unterschiedlichen Akteuren auf Probleme und Risiken der Institutionalisierung hingewiesen wird. Diese Kritik lässt sich in drei Aspekten bündeln: Erstens greife die staatlich geförderte Institutionalisierung des Islams in das Grundrecht auf Religionsfreiheit ein. Zweitens beruhe sie auf einem System der strukturellen Privilegierung von christlichen Kirchen und passe daher nicht zum Islam. Drittens fördere sie eher randständige Gruppen innerhalb des islamischen Spektrums. 3.3.1.1 Eingriff in die Religionsfreiheit Nahezu alle staatlich geförderten oder betriebenen Institutionalisierungsbemühungen waren sicherheits- und/oder gesellschaftspolitischen Überlegungen und Interessen geschuldet. Sie beruhten nur in Ausnahmefällen auf den funktionalen Bedürfnissen islamischer Glaubenspraxis (Amir-Moazami 2018, S. 9). Klagen über unangemessene staatliche Eingriffe in das jeweilige Verständnis des Grundrechts auf Religionsfreiheit müssen also ernst genommen werden. In

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vielen Fällen bedarf es der Abwägung und Einzelfallprüfung, um zu entscheiden, ob das staatliche Interesse an einer Mitgestaltung islamischer Institutionen gerechtfertigt ist oder ob es das Recht auf religiöse Selbstbestimmung verletzt. 3.3.1.2 Benachteiligung gegenüber den Kirchen Die religionsrechtlichen Regime in Europa reflektieren die hiesigen religiösen Traditionen und gehen daher oft von den kirchlichen Strukturen, entsprechenden Voraussetzungen und Annahmen aus. Diese betreffen vor allem die Erwartung klarer Programme und Mitgliederlisten sowie eindeutiger Führungsstrukturen und Besitzverhältnisse. Da der Islam in Europa diesen Anforderungen in den meisten Fällen bislang nicht entspricht, wird oft das Argument vorgebracht, dass er nicht zu den europäischen Religionsverfassungsordnungen passe bzw. von diesen strukturell diskriminiert werde. Viele islamische Organisationen und Strukturen ähneln tatsächlich eher pietistischen Kreisen, die sich um Einzelpersönlichkeiten scharen (Reetz 2007, S. 127–133). Muslimische Stimmen warnen davor, die traditionelle Flexibilität und Offenheit in den islamischen Gemeindestrukturen gegen eine staatlicherseits erwartete »Verkirchlichung« einzutauschen (IGGiÖ 2018, S. 631). Diese staatlich angeordnete »Kommunitarisierung« widerspreche aber nicht nur islamischen Traditionen (Silvestri 2010, S. 43). Das Drängen auf die Entwicklung verfassungskonformer Strukturen gehe schließlich auch zulasten von Akzeptanz und Anschlussfähigkeit der geschaffenen Institutionen in den eigenen Communitys (Aslan 2012, S. 16). 3.3.1.3 Förderung von Randgruppen Der Ansatz des Aufbaus von »islamischen Kirchen« als Ansprechpartner des Staates birgt also die Tendenz, Akteure mit klaren Strukturen, Hierarchien und professionellem Mitarbeiterstab aufzuwerten. Innerhalb des islamischen Spektrums in Europa standen solche Akteure bislang vor allem staatlichen Religionsbehörden oder den MB nahe. Olivier Roy verweist in diesem Zusammenhang auf die funktionale Übereinstimmung zwischen der bürokratischen Staatslogik und der Organisationsstrategie der Muslimbrüder, was aus seiner Sicht u. a. die Prägung des CFCM durch die MB erkläre (Roy 2006, S. 207). Auch anderswo in Europa zeigte sich, dass staatliche Institutionalisierungsforderungen einerseits und die Zurückdrängung des Einflusses religionspolitischer Behörden aus dem Ausland andererseits mit einer Aufwertung MB-naher Institutionen einhergingen.

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3.3.2 Chancen der institutionellen Erneuerung Die Institutionalisierung des Islams in Europa birgt jedoch auch Chancen. Die bisherige Dominanz von auslandsgesteuerten Organisationen ist zugleich ein Umstand, der für staatliche Bemühungen um eine institutionelle Neuausrichtung des Islams in Europa spricht. Denn die Alternative zum europäischen Staat war bislang oft der nahöstliche Staat. Mit dem Scheitern des sogenannten »Arabischen Frühlings« und den politischen Veränderungen in der Türkei, insbesondere seit dem gescheiterten Putsch 2016, haben sich Hoffnungen auf demokratische Reformimpulse aus islamischen Ländern als trügerisch erwiesen. Tatsächlich nutzen vor allem die Türkei, der Iran, Marokko und einige Golfstaaten religiöse soft power zunehmend als Instrument der politischen Einflussnahme. Viele islamische Organisationen sind daher weniger als Akteure einer einheimischen religiösen Zivilgesellschaft zu betrachten, sondern eher als Vollstrecker der politischen und ideologischen Agenda externer Parteien, Regierungen und Interessenträger. Die in den letzten Jahren festzustellenden Verhärtungen in den Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und »ihren« Islamverbänden ist also nicht nur hausgemacht. Sie reflektieren auch die politischen Verwerfungen im Nahen Osten. Daher kommen überall in Europa seit einigen Jahren Zweifel an der lange gehegten Vorstellung auf, dass mit islamischen Institutionen, die ausländischen Religionsbehörden und Parteien nahestehen oder sich auf Ideen der MB berufen, »Staat zu machen« sei. Vor allem unter jüngeren, in Europa sozialisierten Muslim*innen gibt es Absetzbewegungen und den Wunsch, der Abhängigkeit von türkischen, saudischen oder marokkanischen Religionsbehörden etwas entgegenzusetzen. Erste Gründungsinitiativen islamischer Akteure der zivilen oder religiösen Bildung und das Entstehen von Gemeinden unabhängiger Muslim*innen weisen in diese Richtung (Karahan 2018, S. 16). 3.3.2.1 Das Entstehen einer muslimischen Zivilgesellschaft Der Prozess der Anpassung islamischer Organisationsstrukturen ist also bereits im Gange. Dieser Prozess ist keineswegs beispiellos. Auch der Protestantismus musste sich erst mit der Verkirchlichung abfinden und die katholische Kirche erhebliche staatliche Eingriffe hinnehmen. Ebenso geschah die Gründung christlich geprägter Institutionen, wie etwa des deutschen Caritasverbandes, oft gegen den Willen der Amtskirchen. Außerdem ist das, was von Muslim*innen in Europa als anmaßend empfunden wird, im islamischen Raum die Norm: die führende Rolle des Staates bei der Definition und Organisation religiösen Lebens (Aslan 2012, S. 12). Der Blick in den Nahen Osten zeigt aber auch, dass hier Staatsversagen und das Scheitern einer muslimischen Zivilgesellschaft Hand in Hand gehen. Die

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europäischen Demokratien garantieren Religionsfreiheit und ermöglichen zugleich funktionierende Zivilgesellschaften. Der Anpassungsprozess an die neuen Rahmenbedingungen mag schwierig und teilweise schmerzhaft sein, bietet letztendlich aber auch neue Entfaltungsmöglichkeiten. Das Beispiel der jüdischen Religionsgemeinschaften, welchen kirchliche Strukturen ebenfalls fremd sind, zeigt: Ein solcher Prozess ist keineswegs einfach, kann aber durchaus gelingen.

4.

Fazit

Es ist absehbar, dass die Institutionalisierung dem Islam in Europa eine eigene Prägung geben wird. Das Aufkommen von an europäische Strukturen angepassten Institutionen des Islams und seine Reorganisation als plurale Minderheitenreligion hat bereits heute Folgen für die Selbstwahrnehmung von Muslim*innen in Europa. So wird der Freitag vielerorts als Äquivalent zum Sonntag der Christ*innen zum Feiertag des Islams, obwohl dies nicht der klassischen Lehrmeinung entspricht. Imame werden als Berufsgeistliche und quasi-klerikale Amtsträger gesehen, obwohl sie dies historisch nie waren (Roy 2006, S. 204). Mit seiner institutionellen Anpassung und Ausrichtung betritt der Islam in Europa also formal und damit letztendlich auch theologisch und dogmatisch Wege, die ihm in den allermeisten islamischen Ländern verschlossen bleiben. Dieser Prozess steht erst ganz am Anfang, aber er ist im Sinne der europäischen Staaten und Gesellschaften. Und er ist ebenso im Sinne der hier lebenden Muslim*innen. Denn nur mit einem Glaubensverständnis, das die jeweiligen gesellschaftlichen Umstände und Lebenswirklichkeiten aufgreift und erklärt, lässt sich das von vielen zurzeit als konflikthaft und widersprüchlich empfundene Verhältnis zwischen Islam und Gesellschaft in Europa entspannen. Zwei grundsätzliche Trends bestimmen gegenwärtig das Verhältnis zwischen islamischen Institutionen und Staat(en) in Europa. Erstens zeichnet sich ab, dass sich die institutionelle Heterogenität islamischer Strukturen in Zukunft verfestigen und weiter ausbilden wird. Prägten in den 1970er- und 1980er-Jahren Desinteresse und Delegierung den Umgang des Staates mit dem Islam, war es in den 1990er- und 2000er-Jahren das Drängen auf Vereinheitlichung. Dieses Drängen hatte nur in Ausnahmefällen Erfolg. Die entstandenen Dachverbände waren meist von internen Konflikten und weitgehend fehlender religiöser Autorität geprägt. Wo dies – anders als in Österreich – nicht gesetzlich geregelt wurde, konnte sich die von Politik und Gesellschaft geforderte »eine Adresse des Islams« eben auch nicht etablieren. Tatsächlich hat sich das institutionelle Kräftefeld des Islams in Europa durch Neugründungen, Abspaltungen und

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Emanzipationsprozesse weiter ausdifferenziert. Vieles spricht dafür, dass dieser Prozess anhalten wird. Zweitens ist offenkundig, dass angesichts der sich herausbildenden Vielfalt muslimischer Institutionen die Kooperations- und Regelungsnotwendigkeiten zwischen Staat(en) und religiösen Akteuren weiter zunehmen werden. Dies widerspricht der verbreiteten Säkularisierungsvermutung und könnte eine strikte Trennung von Religion und Politik oder eine politische Laissez-faire-Haltung gegenüber Religionen zu einem Auslaufmodell werden lassen (Cavuldak 2018, S. 575f.). Tatsächlich formiert sich überall in Europa über die Aushandlung des rechtlichen und gesellschaftlichen Status des Islams das Politikfeld der Religionspolitik neu. Trotz aller Schwierigkeiten und Schieflagen sollten islamische Akteure diese Dynamik nutzen, um muslimische Glaubenspraxis jenseits religionsfreiheitlicher Beschränkungen neu aufzustellen. Der so entstehende »europäische Islam« wäre dann kein Projekt staatlicher und mehrheitsgesellschaftlicher Bevormundung. Er wäre vielmehr ein Projekt der dauerhaften Anerkennung und Organisation muslimischer Präsenz in Europa.

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Asligül Aysel

Strukturelle und dynamische Prozesse um islamische Bildungsangebote in Schule und Universität am Beispiel von Deutschland

Zusammenfassung Der folgende Beitrag widmet sich den jüngsten funktionalen Entwicklungen in der islamischen Bildungslandschaft in Deutschland, die von diversen Erwartungen unterschiedlicher Akteure und Systeme begleitet werden. Um diese und die damit einhergehenden strukturellen sowie kommunikativen Schwierigkeiten zu beleuchten, richtet sich der Blick auf den Islamunterricht in öffentlichen Schulen in drei Bundesländern und den Studiengang »Islamische Theologie« an deutschen Universitäten. Die aktuelle Situation der islamischen Bildungsangebote ist verortet inmitten der divergenten Kräfteverhältnisse von Systemen wie Politik, Justiz und islamischen Verbänden, die anhand der verfügbaren Primär- und Sekundärliteratur, Stellungnahmen wie auch Online-Quellen untersucht und diskutiert werden.

1.

Einleitung

Die islamische Bildungsgeschichte in Deutschland in öffentlichen Bildungseinrichtungen ist von einem dreimaligen Paradigmenwechsel gekennzeichnet, der sich durch die lange und kontrovers geführte Migrations- und Integrationsdebatte zieht. Während sich der erste Paradigmenwechsel auf einen dauerhaften Verbleib der muslimischen Migrant*innen in Deutschland bezieht, ist der zweite im Zusammenhang mit globalen islamistischen Radikalisierungstendenzen zu sehen. Damit ist die Erwartung verbunden, dass eine islamische Bildung in öffentlichen Institutionen gegen islamistische Tendenzen wirken kann. So bezeichnet Yavuzcan den islamischen Religionsunterricht als ein »Mittel gegen religiösen Analphabetismus« (Die Rheinpfalz 2018; ntv 2018), welches Kinder und Jugendliche vor der extremistischen Falle schützen solle. Der dritte Paradigmenwechsel steht im Kontext der Entstehung und Entwicklung einer muslimischen

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Asligül Aysel

Identität und Mündigkeit anstelle einer nationalen und/oder ethnischen, wodurch zum einen die Religion eine stärkere Akzentuierung erhält und das Religiöse wiederentdeckt wird (vgl. Joas 2004, S. 122ff.; Höhn 2004) und zum anderen das soziale Leben »islamisiert« wird (vgl. Tiesler 2006, S. 124ff.). Vor dem Hintergrund des hitzig debattierten Integrationsprozesses der Muslim*innen in Deutschland, welcher insbesondere durch die islamfeindlichen Aussagen und Ressentiments des ehemaligen Berliner Innensenators und Bundesbankvorstandes Thilo Sarrazin einen schweren Rückschlag erlitten hat, und der zweigleisigen Islamisierungsrhetorik wie den sicherheitspolitischen Maßnahmen gegen einen radikalisierten Islam haben sich viele Bundesländer mit einem Islamunterricht positionieren wollen (vgl. Ohlms 2011, S. 53), um heranwachsende Muslim*innen nicht radikalen Tendenzen auszuliefern und sie zu religiöser Mündigkeit zu führen sowie in die Gesellschaft zu integrieren (vgl. Sahin 2010, S. 4). Trotz des großen Interesses am Islamunterricht schreitet sein Ausbau in öffentlichen Schulen nur langsam voran und kommt mitunter gar ins Stocken. Ein Großteil der muslimischen Kinder und Jugendlichen erhält keinen Islamunterricht in Schulen und Moscheegemeinden (vgl. Wissenschaftliche Dienste 2016, S. 4). Dabei stellt die Schule als Ort der Wissens- und Kompetenzaneignung sowie der Auseinandersetzung mit sich selbst und mit anderen einen für den Erwerb religiöser Mündigkeit geradezu prädestinierten Ort dar. Muslimische Schulkinder werden hier darin bestärkt, die eigene Religion kennenzulernen und zu verstehen, religiöse und kulturelle Zusammenhänge zu erschließen und in einen offenen Dialog mit Nicht- bzw. Andersgläubigen zu treten (vgl. Sarıkaya & Aysel 2020). Das Angebot an islamischer Bildung in öffentlichen Einrichtungen stellt eine organisatorische Herausforderung für die jeweiligen Bundesländer dar. Islamische Bildungsangebote befinden sich in einem Dreieck von Akteuren der Politik, muslimischen Organisationen und Justiz (siehe Abbildung 1), die in wechselseitiger und teils dependenter Beziehung zueinander stehen. Dieser Beitrag erörtert, welche Herausforderungen und Problematiken sich in diesem Dreieck der strukturellen Einbindung von islamischen Bildungsangeboten zeigen. Richten wir vorab einen kurzen Blick auf den Kontext.

2.

Erste Bemühungen um islamisch-religiöse Bildungsangebote

Erste islamische Ausbildungsangebote gehen zwar auf die Nachkriegszeit zurück – Beispiele dafür sind die sogenannten »Mullah-Lehrgänge«, die ab 1944 für Imame zur Betreuung der muslimischen Soldaten vom Islaminstitut in Kooperation mit der Universität Göttingen veranstaltet wurden (vgl. Çelik 2017, S. 12, mit Verweis auf Abdullah 1981, S. 27–34; Hamdan 2011, S. 15; Abdullah 1987,

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451

Abbildung 1: Strukturelle Einbindung der islamischen Bildungsangebote in Deutschland

S. 56), und die 1951 gegründete Geistliche Verwaltung der Muslimflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland in München, um die ca. 6.000 muslimischen Flüchtlinge aus der Sowjetunion und dem ehemaligen Jugoslawien seelsorgerisch zu betreuen –, doch ist der Beginn von geplanten, dauerhaften islamischen Bildungsangeboten vielmehr auf die sogenannte »Gastarbeitermigration« zurückzuführen (vgl. Lemmen 2000). Durch den Zuzug von muslimischen »Gastarbeitern« und den darauf folgenden Familiennachzug kam die Frage nach religiöser Bildung und Erziehung und nach sakralen Bauten auf die politische Agenda (Ohlms 2011, S. 51). Obwohl die Geschichte der muslimischen Migrant*innen in Deutschland bereits mehr als 60 Jahre umfasst, hatten diese sich nicht auf einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland eingestellt (Aysel 2018, S. 37). Schwierigkeiten und neue Hindernisse in der Lebensplanung der »Gastarbeiter«-Familien bestärkten diese darin, den Aufenthalt in Deutschland auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Die Bleibeabsichten wurden von der Politik lange ignoriert, ebenso die Bedürfnisse muslimischer Eltern und ihrer Kinder nach einem religiösen Leben und einer religiösen Erziehung. Kulturelle Vereine, sogenannte »Hinterhofmoscheen« – erste Moscheegemeinden, die von außen nicht sichtbar waren – und viele weitere Migrantenselbstorganisationen wie auch islamische Verbände gründeten sich in diesem Kontext (Karacuban & Azzaoui 2010, S. 23; Çelik 2017, S. 1, 13, mit Verweis auf S¸en & Aydin 2002, S. 8–15). Die neu gebildeten muslimischen Vereinigungen gingen auf die Bedürfnisse der Muslim*innen ein, gaben ihnen Raum für die Religionsausübung und boten Religionsunterricht für Kinder an (vgl. Çelik 2017, S. 18f.; Dörfer-Kir 2018, S. 44). Sie waren jedoch in der Regel schlecht

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Asligül Aysel

ausgestattet und die Imame nicht hinreichend qualifiziert (vgl. Kiefer 2011, S. 61).1 Die Förderung der Muttersprache und das Umfunktionieren von Fabrikhallen in Gebetsräume und Hinterhofmoscheen, welche später zum großen Integrationshindernis erklärt und gleichzeitig deklassiert wurden, offenbarten den zweigleisigen Kurs der Integrationspolitik (vgl. Aysel 2018, S. 43–47; Sahin 2010, S. 4). Die zugewanderten muslimischen Familien konnten ihre religiösen Bedürfnisse nur provisorisch abdecken. Aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal verliefen die ersten Bemühungen um religiöse Bildungsangebote schleppend. In den 1970er-Jahren wandten sich muslimische Vereinigungen, die daran interessiert waren, den Islamunterricht aus den Hinterhöfen in die Schulklassen zu integrieren, an die Kultusministerien der jeweiligen Länder, um die Einführung und Erteilung eines islamischen Religionsunterrichts zu bewirken (vgl. Uygun-Altunbas 2008, S. 3f.; Maizière 2011, S. 17).

2.1

Islam an öffentlichen Schulen: Kontroverse Diskussionen und Hürden

Die Debatten um die Einführung eines ordentlichen islamischen Religionsunterrichts als Regelfach an staatlichen Schulen nach Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes reicht zurück bis in die frühen 1970er-Jahre. Es handelt sich um das längste und am kontroversesten diskutierte schulpolitische Projekt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Kiefer 2011, S. 60f.; Uygun-Altunbas 2008, S. 3f.). Aufgegriffen wurde das Thema des bekenntnisorientierten Islamunterrichts von der Deutschen Islam Konferenz. In der ersten Phase 2006 bis 2009 wurde die Frage der Einführung des Unterrichts ausgiebig diskutiert (Maizière 2011, S. 11; Wall 2011, S. 90, 92), v. a. ob eine islamische Organisation die Voraussetzung einer Religionsgemeinschaft im Sinne von Art. 7 Abs. 3 GG (Wall 2011; Çelik 2017, S. 31) erfülle und ob muslimische Vereinigungen auf der Grundlage des Religionsverfassungsrechts als Ansprech- und Kooperationspartner für die entsprechenden Länderministerien gelten könnten. Denn der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gilt in Deutschland als ordentliches Fach und wird durch das Grundgesetz abgesichert (vgl. Khorchide 2009, S. 85–94). Der Staat schafft einen freien und öffentlichen Raum für die Erteilung des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts. Dessen Inhalte und Ziele werden nicht von ihm bestimmt, sondern er überlässt diese Aufgabe den Religionsgemeinschaften. Der Staat kooperiert mit ihnen, überprüft die von ihnen erarbeiteten Lehrpläne für 1 Zu einer ausführlichen Darstellung siehe u. a. Alacacioglu (1999); Ceylan (2008); Çelik (2017); Mediendienst Integration (2018a).

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den Unterricht mit Blick auf verfassungsrechtliche Bestimmungen, fügt den Unterricht in den bestehenden Lehrkanon ein und nimmt eine fördernde Stellung und weltanschauliche Neutralität ein (vgl. Maizière 2011, S. 8, 10; Çelik 2017, S. 31f.). Ist einmal die Anmeldung zum Unterricht erfolgt, besteht Teilnahmepflicht. Die Leistungen der teilnehmenden Schüler*innen sind versetzungsrelevant und werden benotet. Was »islamische Religionsgemeinschaft« als verfassungsrechtlicher Begriff meint, wurde 2008 im Zwischenresümee der Deutschen Islam Konferenz aufgegriffen und konkretisiert: »Demnach muss eine muslimische Organisation natürliche Personen umfassen und ein Minimum an organisatorischen Strukturen vorweisen. Ferner sollte der Gegenstand der Organisation die Pflege eines gemeinsamen religiösen Bekenntnisses sein, dessen umfassende Erfüllung die Organisation zu gewährleisten habe« (Kiefer 2011, S. 62f.; siehe auch Aslan 2003; Wall 2009). Die Organisation der Religionsgemeinschaft ist ein Kernanliegen, um als Kooperationspartner des Staates gelten und agieren zu können. Es geht also um die Frage, ob die vielen lokalen islamischen Vereine und Dachorganisationen »als Religionsgemeinschaften im Sinne der einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen anzusehen sind oder nicht« (Maizière 2011, S. 12; siehe auch Spaenle 2011, S. 23; zu weiteren Ausführungen zu den islamischen Vereinigungen siehe Schmitt 2003; Chbib 2011, 2017). Bei einer Religionsgemeinschaft handelt es sich um einen dauerhaften Zusammenschluss von Religionsangehörigen, die das Ziel verfolgen, ihre Religion auszuüben und zu pflegen und ihre Konfession mit ihrer Organisationsstruktur in Übereinstimmung zu bringen (vgl. Wall 2011, S. 94). Sie haben das Recht der Selbstbestimmung, was sich auf die organisatorische Struktur der Gemeinschaft bezieht, und werden durch die Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG) geschützt (vgl. Wall 2011, S. 92f.). Zur Erteilung eines bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts haben Religionsgemeinschaften Mindestanforderungen zu erfüllen, z. B. sich der Religionsausübung zu widmen, als Organisation eine bestimmte Mitgliederzahl aufzuweisen, klare Regeln zur Mitgliedschaft zu haben und verfassungstreu zu sein (vgl. Maizière 2011, S. 13; Ohlms 2011, S. 52; Wall 2011, S. 92f.). Die Anforderungen an die Religionsgemeinschaften sind im Grunde genommen gering. Es scheitert vielmehr an der Organisation der islamischen Gemeinden, die hauptsächlich aus der Einwanderergeschichte und den sich in der Folge entwickelten Strukturen hervorgegangen und damit höchst heterogen sind (vgl. Wall 2011, S. 93, 95) und unterschiedliche Erwartungen an islamische Bildungsangebote richten. Die Mitgliederstruktur stellt für die Dachverbandsorganisationen ein großes Hindernis dar, den Voraussetzungen zu genügen. Eine Religionsgemeinschaft hat ebenfalls auf der Dachverbandsebene zu agieren, anstatt sich ausschließlich für die Interessen der Unterorganisationen einzusetzen (vgl. Maizière 2011, S. 13; Wall 2011, S. 94).

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Um das Organisationsproblem zu überwinden und den islamischen Religionsunterricht schnellstmöglich einzuführen, wurde eine modifizierte Beiratslösung vorgeschlagen. Es setzte sich die Meinung durch, dass mit dem islamischen Religionsunterricht nicht gewartet werden kann, bis die Religionsgemeinschaften in den Ländern anerkannt werden (vgl. Topcu 2011). Gesucht wurde nach pragmatischen Übergangslösungen, die vom Deutschen Juristentag unterstützt wurden. In solchen Fällen ist als Übergangslösung denkbar, mit im Land verbreiteten Organisationen zu kooperieren, die auf dem Weg zur Anerkennung als Religionsgemeinschaft im rechtlichen Sinne sind, weil sie bereits Aufgaben wahrnehmen, welche für die religiöse Identität ihrer Mitglieder wesentlich sind. Damit ist die Erwartung verbunden, dass diese Organisationen innerhalb einer absehbaren Frist alle Merkmale einer Religionsgemeinschaft erfüllen. Ein Beirat als Zwischenlösung ist nur dann sinnvoll, wenn die Religionsgemeinschaft als eine Organisation nicht die Voraussetzungen erfüllt und mit dem gebildeten Beirat schrittweise an die Anforderungen des Grundgesetzes herangeführt werden kann (vgl. Spaenle 2011, S. 16; Wall 2009, S. 63; siehe auch Kiefer 2015). Bedenken gegen die Übergangslösungen gab es allen voran von muslimischen Vertreter*innen. Sie hatten die Befürchtung, dass diese Sonderstellung der Religionsgemeinschaften zur Dauerlösung werden könnte (vgl. Pürlü 2011, S. 107; Spenlen 2018, S. 6). Ein anderer Ansatz ist die Vertretung lokaler Moscheegemeinden auf Landesebene über einen Beirat oder die Begleitung von Modellversuchen durch Runde Tische oder Arbeitsgruppen, an denen Muslim*innen wie auch muslimische Theolog*innen und Pädagog*innen unmittelbar mitwirken. So wurden in den einzelnen Bundesländern, in welchen unterschiedliche Regelungen gelten, verschiedene Formen des Islamunterrichts entwickelt, die in neun Bundesländern und 800 öffentlichen Schulen angeboten und zum Teil in Modellversuchen erprobt werden: Diese reichen von Islamunterricht im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts und islamkundlichen Modellversuchen unter staatlicher Verantwortung oder in Kooperation mit muslimischen Vereinigungen hin zum bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht in Kooperation mit islamischen Religionsgemeinschaften – die Reichweite des Islamunterrichts in Deutschland ist groß.2 Trotz der großen Nachfrage und der hohen Akzeptanz des Unterrichts, wie unterschiedliche Studien belegen (Uslucan & Yalcin 2018; Schröter 2015; Sarıkaya & Aysel 2020), ist die Zukunft des Islamunterrichts ungewiss. Dabei stehen Kooperationen mit Islamverbänden wie der DITIB aufgrund des möglichen Einflusses durch Dritte in der Kritik und wurden in einigen Bundesländern einer 2 Eine kurze Übersicht über den Islamunterricht in den einzelnen Bundesländern bieten Kiefer (2018); Mediendienst (2018b, 2018c) sowie Hackner (2019) in ihrer Bachelorarbeit.

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gutachterlichen Prüfung unterzogen (vgl. Mediendienst Integration 2018b; Goldmann 2018; siehe auch Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof 2017). Diese Unabhängigkeitsfrage der DITIB sticht in drei Fällen besonders hervor, wie nachfolgend dargelegt wird. 2.1.1 Die Kommissionslösung als Ersatzkonstruktion für eine Religionsgemeinschaft in Nordrhein-Westfalen Das Land NRW ist seit 1978 bemüht, den islamischen Religionsunterricht systematisch einzuführen und zu entwickeln. Die erste Initiative zur Einführung eines islamischen Religionsunterrichts ging 1978 vom damaligen Vertreter des Islamischen Weltkongresses, Salim M. Abdullah, aus. Im Dezember 1979 beauftragte das Kultusministerium das Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest mit der Ausarbeitung eines Lehrplans für islamischen Religionsunterricht. Massive Kritik an der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts kam seitens der evangelischen Kirche, die die Mitwirkung der islamischen Religionsgemeinschaften zurecht bemängelte – und zwar deshalb, weil sie nicht den Anforderungen des Grundgesetzes genügten (Kiefer 2011, S. 61f.). 1982 wurde das Curriculum für die Grundschule von einer heterogen zusammengesetzten Kommission mit einem Vertreter des Landesinstituts, mit Bezirksdezernenten, mit vier Muslimen und vier Nichtmuslimen, sechs Lehrkräften, zwei Islamwissenschaftlern, zwei evangelischen Religionspädagogen und, nach Beratungen mit dem türkischen Erziehungsministerium, auch mit den universitären Instituten für Islamische Theologie in Ankara, Istanbul und Konya fertiggestellt (vgl. Çelik 2017, S. 42). Eingeführt wurde »Islamische Unterweisung« 1986 als Bestandteil des muttersprachlichen Unterrichts. Zwischen 1987 und 1989 wurden 600 Lehrer*innen für das Fach fortgebildet. 1988 wurden die Arbeiten zur Entwicklung eines Schulbuchs für Grundschulen aufgenommen. 1991 folgten Curricula für die Jahrgangsstufen 5 und 6 und 1996 für die Jahrgangsstufen 7 bis 10. Weitere Anträge auf Einführung des islamischen Religionsunterrichts wurden 1994 vom Vorgänger des ZMD und 1996 vom Islamrat eingereicht und vom Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW abgelehnt, da die Organisationen keine Religionsgemeinschaften seien (Spenlen 2015, S. 311). Aufbauend auf der »Islamischen Unterweisung« folgte der Schulversuch »Islamkunde in deutscher Sprache« in Nordrhein-Westfalen seit dem Schuljahr 1999/2000 in den Jahrgangsstufen 1 bis 10 (Kiefer 2011, S. 65). Die Islamkunde in deutscher Sprache stellt den ältesten und mit einem Angebot in 83 Schulen mit 7.439 teilnehmenden Schüler*innen größten Schulversuch dar (vgl. Bildungsportal des Landes Nordrhein-Westfalen o. J.b). Insgesamt haben 109 Lehrkräfte (davon 43 Lehrerinnen und 66 Lehrer) eine Lehrbefugnis. Ausgearbeitet wurden

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die Lehrpläne für »Islamkunde in deutscher Sprache« für die Klassen 1 bis 4 und »Islamkunde in deutscher Sprache« für die Sekundarstufe I von muslimischen Expert*innen. Eingeführt wurde die Islamkunde ohne Mitwirkung der muslimischen Vereinigungen (Verbände, Gemeinden). Der Unterricht beinhaltete keine glaubensverkündenden Aspekte, es handelte sich bei genauerem Hinsehen nicht um einen strikt religionskundlichen Unterricht. Das Fach galt als versetzungsrelevant und durfte ausschließlich von muslimischen Lehrkräften erteilt werden (Kiefer 2009, S. 97f.). Das Schulministerium NRW organisierte weitere Fortbildungskurse für Islamkunde, womit Lehrende eine unbefristete Unterrichtserlaubnis für die Primar- und Sekundarstufe I erwerben konnten (Çelik 2017, S. 44). Es sei erwähnt, dass die Ausbildung aufgrund ihrer kurzen Dauer von zwei Semestern und geringer Qualifikationsmaßnahmen kritisiert wurde. Beanstandet wurde auch, dass die Ausbildung nicht mit einer Prüfung abschloss und die Lehrkräfte durch das Bildungsministerium beauftragt wurden, das ausschließlich auf deren muslimische Herkunft, nicht aber auf inhaltliche Kenntnisse achtete. 2011 wurde von Schulministerium und Koordinationsrat der Muslime eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, um den islamischen Religionsunterricht auf den Weg zu bringen. Im selben Jahr folgte die Verabschiedung des Gesetzes zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (vgl. 7. Schulrechtänderungsgesetz). Eingeführt wurde der bekenntnisorientierte Islamunterricht als Modellversuch in NRW im Schuljahr 2012/13 an Grundschulen und 2013/14 an weiterführenden Schulen, welcher 2019 auslief (Mediendienst Integration 2018c, S. 9). Zum Schuljahr 2017/18 wurde er in 155 Schulen angeboten, insgesamt nahmen 11.393 Schüler*innen teil und 133 Lehrer*innen erhielten dafür eine Lehrbefähigung. Die Ausbildung der Lehrer*innen erfolgt seit 2012/13 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Teilnahmepflicht besteht ausschließlich für die angemeldeten Schüler*innen. Der Unterricht findet wöchentlich in zwei Unterrichtsstunden statt. Die Mindestteilnehmerzahl ist zwölf. In Sachen Unterricht kooperierte das nordrhein-westfälische Kultusministerium mit einem Beirat als gesetzliche Vertretung der islamischen Religionsgemeinschaften, bestehend aus acht Mitgliedern, mit jeweils einem Vertreter der vier großen muslimischen Dachverbände (ZMD, DITIB, VIKZ, Islamrat) mit einer wissenschaftlichen oder theologischen und religionspädagogischen Qualifikation und vier weiteren Experten mit entsprechender Qualifikation (vgl. GV. NRW. 2011, S. 728; Bildungsportal des Landes Nordrhein-Westfalen o. J.a). Laut dem am 22. Dezember 2011 in NRW erlassenen Gesetz war es die Aufgabe des Beirats, die Konformität der Unterrichtsinhalte mit dem deutschen Grundgesetz, die Erstellung und Auswahl der Unterrichtsvorgaben, Lehrpläne und Lehrbücher zu gewährleisten. Der Beirat organisierte darüber hinaus Fortbildungspro-

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gramme für die Lehrkräfte und erteilte die Lehrbefugnis (igˇa¯za, vergleichbar mit der missio canonica bzw. vocatio) für die islamische Religionslehre (vgl. Çelik 2017, S. 46f; Spenlen 2018, S. 221). Der Unterricht wurde im Auftrag des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen wissenschaftlich begleitet. 2018 wurde ein Bericht der Landesregierung zum islamischen Religionsunterricht vorgelegt, der sowohl die allseitig positive Anerkennung zeigt als auch das große Interesse am Unterricht und an der Erfüllung der Zielsetzungen des Unterrichts in Bezug auf religiöse Bildung, interreligiösen Dialog und Integration der muslimischen Kinder in die Gesellschaft (vgl. Uslucan & Yalcin 2018, S. 209f.). Mit dem automatischen Ende des Modellversuchs im Juli 2019 kam es zur Neuordnung des islamischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen von NRW. Damit sollte der Unterricht rechtssicher fortgesetzt, ausgebaut und die Möglichkeit für weitere Zusammenarbeit mit islamischen Vereinigungen geschaffen werden (vgl. IslamiQ 2019a). Laut der Neuregelung wurde der bisher bestehende Beirat durch eine Kommission abgelöst (14. Schuländerungsgesetz). Das Gesetz zum islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach trat am 1. August 2019 mit einer Laufzeit von sechs Jahren in Kraft. Die Kommission besteht aus unterschiedlichen muslimischen Vertreter*innen und berücksichtigt die Vielfalt des Islams (vgl. Oppitz 2019). Mitglied der Kommission können islamische Organisationen werden, die erstens eigenständig und staatsunabhängig, zweitens verfassungstreu sind und die Grundrechte der Schüler*innen sowie die »Grundprinzipien des freiheitlichen Religionsverfassungsrechts des Grundgesetzes« (14. Schuländerungsgesetz) achten und drittens die dauerhafte Kooperation gewährleisten. Jedes Mitglied hat eine Stimme. Das hat zur Folge, dass der Einfluss der großen islamischen Verbände wie DITIB, Islamrat, Zentralrat der Muslime und Verband der Islamischen Kulturzentren im bisherigen Beirat geschwächt und der Einfluss der kleineren muslimischen Gruppen, z. B. des Liberal-Islamischen Bundes (LIB) oder der reformerischen muslimischen Gemeinschaft NRW, gestärkt wird. Die Verantwortung für den islamischen Religionsunterricht wird von vier Stimmen der großen Verbände auf mehrere muslimische Vereinigungen verteilt. Die Ablösung des Beirats durch eine Kommission löste heftige Kritik aus, weil dadurch nicht nur die großen muslimischen Vereinigungen erheblich geschwächt und die »politisch gewünschte[n] liberale[n] muslimische[n] Vereinigungen« (AIWG o. J., S. 7) gestärkt worden seien – selbst wenn sie im Vergleich zu den großen Vereinigungen mit ihrer äußerst kleinen Gemeindestruktur eine geringe Rolle spielen –, sondern auch die Kommission als eine »verfassungswidrige Hilfskonstruktion« (Berg 2019) bezeichnet wurde. Solch eine Kommission könne die Aufgaben einer Religionsgemeinschaft nicht übernehmen und diese auf Dauer nicht ersetzen (vgl. Friso 2019). Darüber hinaus wurde der

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Landesregierung vorgeworfen, mit dieser Entscheidung keine rechtlich klaren »Kriterien zur Aufnahme islamischer Organisationen in die Kommission« (AIWG o. J., S. 7) benannt zu haben, die für alle Antragsteller gleichermaßen gelten, und deshalb gegen den Grundsatz der Trennung von Staat und Religion zu verstoßen (vgl. MIGAZIN 2019a). Weiters wird bemängelt, dass der Staat Muslim*innen bestimmte Formen der Zusammenarbeit aufzwingen würde (vgl. IslamiQ 2019a). Ihre »jeweilige theologisch-religiöse Ausrichtung [sollte kein] Entscheidungskriterium ihrer Aufnahme in die Kommission werden« (AIWG o. J., S. 7). Islamische Verbände fordern ihre Anerkennung als Religionsgemeinschaft sowie einen zügigen Übergang des islamischen Religionsunterrichts als Regelfach (vgl. Oppitz 2019). Positiv hervorgehoben wird hingegen das Zusammenbringen aller islamischen Organisationen wie auch die »geringere Abhängigkeit des islamischen Religionsunterrichts von der Entwicklung einzelner Organisationen bzw. ihrer Einschätzung durch die Politik« (AIWG o. J., S. 4). Die Kritiken sind divers. Diese mögen gerechtfertigt sein oder nicht. Zu konstatieren ist, dass die Kommission in der Absicht eingesetzt wurde, den ausländischen Einfluss wie den des türkischen Staates auf die großen Verbände, die in Teilen vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet wurden und werden, zu reduzieren (vgl. Pick 2019), was die Machtkonstellationen im sozialen Feld neu verteilt – eine Problematik, für die das Land Baden-Württemberg ebenfalls einen gesonderten Weg gefunden hat, wie im Folgenden dargelegt wird, und mit der das Land Hessen in starkem Maße zu kämpfen hat. 2.1.2 Eine öffentliche Stiftung als Ersatzkonstruktion für eine Religionsgemeinschaft in Baden-Württemberg Der »bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht« als Modellprojekt läuft in Baden-Württemberg seit dem Schuljahr 2006/07 an Grundschulen nach einem Curriculum, das nach dem sunnitischen Bekenntnis entwickelt worden ist; an ihm nehmen sunnitische, schiitische und alevitische Kinder teil. Die Bildungsinhalte wurden unter ministerieller Leitung von vier sunnitischen Verbandsvertretern, einem Vertreter der Aleviten und zwei Religionspädagogen erarbeitet (Mohr & Kiefer 2009, S. 39). Für die Grund- und Hauptschulen wurde der Lehrplan des Erlanger Modells eingeführt (Seiser 2011, S. 88; SWR International 2018; Mediendienst Recherche 2018, S. 10). 2016 wurde ein neuer Bildungsplan von Lehrkräften fertiggestellt. Ca. 6.100 Schüler*innen besuchten den islamischen Religionsunterricht im Schuljahr 2017/18 an 93 Grund- und weiterführenden Schulen. Erteilt wird der Unterricht von muslimischen Lehrkräften, die an Qualifizierungsmaßnahmen der pädagogischen Hochschulen Ludwigsburg, Karlsruhe, Weingarten und

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Freiburg i. Br. teilnehmen. Wissenschaftlich begleitet und positiv evaluiert wurde das Modellprojekt von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe (vgl. Schröter 2015). Von 2006 bis 2015 galten muslimische Eltern, deren Kinder am islamischen Religionsunterricht teilnahmen, als offizielle Ansprechpartner*innen des Kultusministeriums in Baden-Württemberg. Geplant war, einen eigenen Verein nach dem Erlanger Modell zu gründen, was jedoch fehlschlug. Expert*innen, die im engen Kontakt zu Lehrer*innen, Student*innen, Eltern, Schüler*innen und Verbänden standen und sich für den islamischen Religionsunterricht einsetzten, waren inoffizielle und beratende Ansprechpartner*innen und die treibende Kraft hinter dessen Einführung. Nach Gesprächen im Ministerialrat wurde nach einer neuen Lösung gesucht, um eine rechtlich fundierte Struktur aufzubauen. Als Kooperationspartner sollte ein Projektbeirat die Arbeit aufnehmen, der 2015 mit dem Ziel eingerichtet wurde, eine gemeinsame Trägerschaft für den Unterricht zu entwickeln (vgl. Baden-Württemberg 2015). Diesem Projektbeirat gehörten Vertreter von vier muslimischen Verbänden mit hohen Mitgliederzahlen – DITIB, Landesverband der Islamischen Kulturzentren (LVIKZ), Islamische Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg (IGBW) und Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD) – sowie vier wissenschaftliche Vertreter an. Dieser Projektbeirat stand dem Kultusministerium als Beratungsgremium zur Seite und war für die Einführung und Weiterentwicklung von Bildungsplänen, die Erstellung von Unterrichtsmaterialien, die Erarbeitung von Unterrichtsmodellen und Lehrerfortbildungsprogrammen zuständig. Unterzeichnet haben die im Beirat vertretenen islamischen Verbände ebenfalls eine »Gemeinsame Erklärung zur Förderung eines friedvollen Miteinanders an Schulen in Baden-Württemberg« (siehe km.bw o. J.). Aufgrund organisatorischer und juristischer Probleme sowie politischer Ungereimtheiten aufseiten der Verbände, die den konfessionsgebundenen Islamunterricht begleiteten, hat das Land Baden-Württemberg den Unterricht neu organisiert. Beschlossen wurde nach Ablauf des Modellprojekts 2017/18, den Unterricht ohne »wirkliche« Ansprechpartner weiterzuführen: »Wir hatten im IRU bis jetzt auch keine wirklichen Probleme, sodass ein Ansprechpartner nötig gewesen wäre.«3 Es handelte sich nicht um eine dauerhafte Lösung. Anstelle einer fehlenden islamischen Religionsgemeinschaft und um einen direkten, einheitlichen und verfassungskonformen Ansprechpartner zu haben, aber auch, um auf andere Muslim*innen eingehen zu können, die nicht ausschließlich türkisch geprägt sind, wurde ein sunnitischer Schulrat als Stiftung öffentlichen Rechts gegründet, der zu Beginn des Schuljahres 2019/20 in Kraft trat und den Unterricht zunächst bis 2025 verantwortet und organisiert. Dieser sunnitische Schulrat steht dem Kultusmi3 Zitat aus einem Expertengespräch, das für diesen Beitrag geführt wurde.

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nisterium als Beratungsgremium zur Seite, übernimmt die Trägerschaft für den islamischen Religionsunterricht, kümmert sich um Einführung und Weiterentwicklung der Lehrinhalte und des Lehrmaterials im Unterricht, erarbeitet die Unterrichtsmodelle, wählt das Lehrpersonal aus und organisiert Ausbildungen und Fortbildungen für Lehrkräfte (vgl. Wacker 2016, S. 3f.; Soldt 2018; BadenWürttemberg 2019). Dieser Schulrat besteht aus einem Vorstand aus fünf Experten (mit dreijähriger Amtszeit), die durch die muslimischen Verbände entsandt und in Zusammenwirkung mit dem Land benannt werden (vgl. Pick 2019), und einer theologischen Schiedsstelle, einer Geschäftsstelle mit Landesangestellten und Islamexpert*innen. Während der Vorstand für die Beaufsichtigung der Geschäftsstelle, für Fragen der fachlichen Schulaufsicht, die Inkraftsetzung von Bildungsplänen, die Unterrichtsmaterialien- und Schulbuchzulassung und die Erteilung der igˇa¯za (Lehrbefugnis für den islamischen Religionsunterricht) zuständig ist, ist die Schiedskommission, die aus drei ausgewiesenen unabhängigen muslimischen Expert*innen besteht, für die interne Gerichtsbarkeit, d. h. die theologische und rechtliche Prüfung der Beschlüsse des Vorstandes zuständig. Sie kann diese zurückweisen oder ersetzen. Der Schulrat gibt den muslimischen Verbänden zwar Mitspracherecht, aber nicht die alleinige Entscheidungsmacht (vgl. Soldt 2018; evangelisch.de 2018; Jacquemain 2018; Luig 2018). Kritik wurde auch im Fall Baden-Württemberg geäußert: Beanstandet wurde erstens, dass drei von fünf Vorstandsmitgliedern vom Land bestätigt worden seien und dass der Staat in die Religionsfreiheit eingreife (Allgöwer 2019; MIGAZIN 2019b), zweitens, dass es sich erneut um eine Übergangsregelung handele, bis eine islamische Religionsgemeinschaft anerkannt werde (Die Stiftung 2019). Bemängelt wurde drittens, dass nicht alle islamischen Verbände mitmachen würden (Deutschlandfunk 2019). Während die LVIKZ und die IGBD ihre Mitarbeit an der Stiftung zusagten, welche vertraglich verankert wurde, lehnten DITIB als der größte Dachverband in Baden-Württemberg und die IGBW die Zusammenarbeit ab, u. a. mit der Begründung, das Kultusministerium in ihrem Alleingang nicht unterstützen zu wollen (IGBW o. J.). Festzuhalten ist, dass DITIB einen eigenen Antrag für den islamischen Religionsunterricht zu stellen beabsichtigt und andere Verbände einlädt, sich daran zu beteiligen. »›Wir stellen den Antrag, und natürlich können die anderen Verbände bei uns mitmachen.‹ So gesehen wollte DITIB den Zepter« (Expertengespräch). IGBW wiederum wurde aufgrund antidemokratischer und antiwestlicher Einstellungen vom Verfassungsschutz beobachtet, die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs¸ (IGMG), die in der IGBW organisiert ist, geriet in Verruf und stieg aus (vgl. Ziehe 2015). Des Weiteren wird an der Stiftung kritisiert, dass sie nicht die Vielfältigkeit der Muslim*innen widerspiegle, selbst wenn die Stiftung für alle Verbände offen sei

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und diese jederzeit einsteigen könnten. Außerdem fehle ein Kriterienkatalog zur Feststellung, »ob ein Dozent im sunnitischen Sinne gehandelt hat. Was ist sunnitisch und was ist nicht sunnitisch?« (Expertengespräch). Um einen religiös korrekten Umgang zu erreichen, wird vorgeschlagen, sunnitische Akteure an den Tisch zu holen, die an einem Strang ziehen. Während Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg mit ihren Übergangsregelungen eine rechtssichere Grundlage für interessierte Studierende, die islamische Religionslehrer*innen werden wollen, bieten, schlägt Hessen einen rückläufigen WeEg ein. Welche Schwierigkeiten durch die An- und Aberkennung einer islamischen Religionsgemeinschaft auftreten können, zeigt sich besonders an diesem Fall. 2.1.3 Vom bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht in Kooperation mit der anerkannten islamischen Religionsgemeinschaft DITIB Hessen hin zur staatlich verantworteten Islamkunde: Der Fall Hessen Eingeführt wurden in Hessen zwei Formen des bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts sunnitischer Ausrichtung der beiden politisch anerkannten Religionsgemeinschaften DITIB Landesverband e. V. und Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland K. d. ö. R. zum Schuljahr 2013/14, zunächst an 27 Grundschulen. Damit gilt Hessen als das erste Bundesland, das den islamischen Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG eingeführt und in staatlicher Verantwortung entwickelt hat (vgl. Hessisches Kultusministerium o. J.). Der Islamunterricht hatte somit denselben Status wie der katholische und evangelische Religionsunterricht. Die beiden Religionsgemeinschaften achteten auf die Übereinstimmung des Unterrichts mit den freiheitlich-demokratischen Grundsätzen des Landes und erteilen die Lehrerlaubnis. Der Unterricht wird von in Deutschland ausgebildeten staatlichen Lehrkräften in deutscher Sprache durchgeführt. Die Mindestteilnehmerzahl für den islamischen Religionsunterricht liegt bei acht Schüler*innen (Çelik 2017, S. 38f.). Zum Schuljahr 2017/18 wurde der bekenntnisorientierte Unterricht in 69 Schulen angeboten, davon waren 56 Grundschulen und 13 weiterführende Schulen. Es nahmen 3.350 Schüler*innen teil, ca. 3.200 davon am Religionsunterricht des DITIB und 150 am Religionsunterricht der Ahmadiyya (Mediendienst Integration 2018c, S. 7). Die Kerncurricula wurden in Anlehnung an das niedersächsische Kerncurriculum entwickelt, welches die unterschiedlichen theologischen Ausrichtungen im Islam berücksichtigt, und an die hessischen Bildungsstandards angepasst (Reitschuster 2011, S. 82). In Hessen startete 2019 ein neuer Schulversuch »Islamunterricht« für die siebte Klasse, welcher ab dem Schuljahr 2020/21 auf jene Standorte ausgedehnt

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werden soll, an denen bisher der bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht erteilt wurde. Das Land Hessen bietet mit dem neuen Modell keinen bekenntnisorientierten Unterricht, dessen Grundsätze in Art. 7 Abs. 3 GG festgelegt sind; es handelt sich um ein religionskundliches Angebot, das in alleiniger Verantwortung des Kultusministeriums steht und damit ein Provisorium wie in anderen Bundesländern darstellt – und das, obwohl die Unterrichtsakzeptanz hoch ist, wie die Studie Akzeptanz, Formation und Transformation anhand des islamischen Religionsunterrichts zeigt (vgl. Sarıkaya & Aysel 2020, siehe auch: Petermann 2020). Kritik gibt es auch in diesem Fall. Genannt sei insbesondere die per YouTubeVideo an muslimische Eltern gerichtete Aufforderung des Zentralrats der Muslime – Landesverband Hessen, ihre Kinder nicht zum staatlich verantworteten Islamunterricht zu schicken, sondern stattdessen in den Ethikunterricht, mit der Begründung, dass kein muslimischer Verband an der Organisation des Unterrichts beteiligt worden sei und dieser nicht das sunnitische Glaubensverständnis und die sunnitischen Glaubenswirklichkeiten widerspiegle. Abgelehnt wird auch, dass der Staat die Inhalte des Unterrichts festlegt, was der Zentralrat der Muslime als einen Eingriff in die Religionsfreiheit versteht. Der Ethikunterricht stellt dabei eine Alternative dar, jedoch nur so lange, bis die muslimischen Vereinigungen die Inhalte des Unterrichts selbst bestimmen könnten (vgl. Barkan 2020). Ein grober Blick in die Kommentare zeigt, dass die Empfehlung des ZMD von Muslim*innen als »Augenöffner« verstanden wird. Die Zusammenarbeit in Sachen bekenntnisorientierter Islamunterricht mit dem türkisch-islamischen Verband DITIB wurde im April 2020 nach einem Gutachten durch das Kultusministerium in Hessen wieder beendet. Die Vereinbarung mit der Ahmadiyya-Religionsgemeinschaft war von der Entscheidung nicht betroffen. Hessen ist nach Angaben des Kultusministers das einzige Bundesland, in dem es eine Zusammenarbeit mit der DITIB für einen bekenntnisorientierten Islamunterricht gab. Der Grund für deren Beendigung sei die mangelnde Unabhängigkeit der DITIB vom türkischen Staat. »Der hessische Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz hat heute nach eingehender Prüfung der von DITIB Landesverband Hessen e.V. (›DITIB Hessen‹) eingereichten Unterlagen und auf Basis aktualisierter gutachterlicher Einschätzungen von Prof. Dr. Mathias Rohe (islamwissenschaftlich), Dr. Günter Seufert (turkologisch) und Prof. Dr. Josef Isensee (verfassungsrechtlich) mitgeteilt, dass die Vollziehung des Bescheids von 2012 zur Einrichtung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts in Kooperation mit DITIB Hessen zum Ende des laufenden Schuljahres ausgesetzt wird. Dies bedeutet, dass ab dem neuen Schuljahr 2020/2021 der fragliche Religionsunterricht bis auf Weiteres nicht mehr erteilt wird; eine diesbezügliche Kooperation mit DITIB Hessen findet nicht mehr statt. Davon sind alle bisherigen 56 Standorte in der Grundschule sowie zwölf weiterführende Schulen (5. und 6. Jahrgangsstufe) betroffen.

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Der in Kooperation mit Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland K. d. ö. R. eingerichtete weitere bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht bleibt davon unberührt.« (Hessisches Kultusministerium 2020)

3.

Parallele Diskussionen über Ausbildungsangebote in islamischer Theologie an deutschen Universitäten

Zur Einführung des Islamunterrichts an öffentlichen Schulen gehört auch die Aus- und Fortbildung von islamischen Religionslehrer*innen an pädagogischen Hochschulen und Universitäten und damit die Etablierung von Zentren für islamische Theologie an Hochschulen, um auf die wachsende Pluralität des muslimischen Lebens in Deutschland wissenschaftlich eingehen zu können (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung o. J.; siehe auch Sahin 2008). Auf dieser Grundlage wurden zunächst fünf Zentren für die islamische Theologie (Osnabrück, Münster, Frankfurt a. M./Gießen, Tübingen, ErlangenNürnberg) vom Staat unterstützt.4 Zu diesen gesellten sich zwei weitere in Paderborn und Berlin. Empfohlen wurde vom Wissenschaftsrat, Beiräte für die Zentren einzurichten, ähnlich wie für den Islamunterricht. 2015 gründeten die Zentren gemeinsam die Deutsche Gesellschaft für islamisch-theologische Studien (DEGITS), die sich hauptsächlich den Aufbau und die Pflege der Fachkultur islamisch-religiöser Studien zur Aufgabe gemacht hat – neben der Stärkung der Kooperation mit muslimischen Religionsgemeinschaften (vgl. DEGITS o. J.). Aber auch an die islamische Theologie richten sich unterschiedliche Erwartungen wie im Fall des Islamunterrichts, und es zeichnen sich parallele Problematiken ab, von denen in diesem Beitrag nur eine aufgegriffen und diskutiert wird. Obwohl der Wissenschaftsrat zu Beginn der Gespräche im Jahr 2010 neben der Ausbildung der Religionslehrer*innen für den Islamunterricht in öffentlichen Schulen auch die Ausbildung von Theolog*innen und Religionsbediensteten, die ihre Tätigkeit nach dem christlichen Vorbild als Imame bzw. Prediger in Gemeinden aufnehmen sollten, sowie die Ausbildung von Geistlichen an den theologischen Zentren mit anschließender praktischer Ausbildung in den Dachverbänden empfahl, konzentrierten sich die Zentren primär auf die Ausbildung der Lehrkräfte für die Schule und distanzierten sich vom Vorschlag, Imame auszubilden, da es zum einen keinen zusätzlichen Bedarf an an den Zentren für islamische Theologie in Deutschland ausgebildeten Imamen gab und zum anderen die Zentren nicht in der Lage sind, Imame ohne zu4 Für eine nähere Auseinandersetzung, siehe Engelhardt 2017a, b; Bundesministerium für Bildung und Forschung o. J.; Wissenschaftliche Dienste 2016, S. 6; Ceylan & Jacobs 2018, S. 4.

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sätzliche praktische Qualifikation auszubilden, wie die laufende Studie Islamische Theologie an Universitäten. Eine Studie zum islamisch-religiösen Expertentum in Deutschland unter der Leitung von Professor Levent Tezcan zeigt. Außerdem beanspruchen die islamischen Verbände die ausschließliche Ausbildung der Imame und lehnen es ab, diese Aufgabe den Zentren für islamische Theologie zu überlassen. Um den ausländischen Einfluss zu unterbinden – eine Maßnahme, die insbesondere nach dem Putschversuch in der Türkei in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 an Dringlichkeit gewann – , wurde ein eigenständiger Trägerverein für die bundesweite Imamausbildung, das Islamkolleg, gegründet, der seine Arbeit in Kooperation mit dem Institut für Islamische Theologie in Osnabrück aufnahm. Absolvent*innen des Zentrums für Islamische Theologie sollen darin eine zweijährige, praktische Ausbildung in Predigtlehre und Gemeindearbeit erhalten. Ceylan (2019) gab im Auftrag der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) eine Expertise heraus, in der Rahmenbedingungen für die Ausbildung akademisch qualifizierter Imame genannt und Handlungsempfehlungen für die Errichtung eines Modellversuchs zur Imamausbildung auf Landesebene ausgesprochen werden. Auch diese Entwicklung blieb nicht ohne Lob und Kritik. Während die Grünen, FDP und der Zentralrat der Muslime es begrüßen, dass islamische Geistliche finanziell und strukturell unabhängig werden und man um ihre Herkunft und Ausbildung wisse, so der religionspolitische Sprecher der FDP Stefan Ruppert (vgl. IslamiQ 2019b), äußerte der Islamrat Kritik. Dieser hielt es für sinnvoller, die Ausbildungsprojekte der islamischen Gemeinden zu fördern. Die Ausbildung von Geistlichen und Religionsbediensteten liege juristisch gesehen in der Verantwortung der jeweiligen Religionsgemeinschaften und nicht in jener der Bundesregierung. Auch die DITIB steht der neuen Initiative ablehnend gegenüber (vgl. Burchard 2019) und verwies darauf, dass ihre Imame in der Türkei eine fundierte Ausbildung erhielten. Die Organisation legte ein großes Ausbildungskonzept zu islamischen Religionsbediensteten 2019 im Workshop der Deutschen Islam Konferenz zum Thema »Ausbildung von religiösem Personal islamischer Gemeinden« in Hannover vor (Funke & Halle 2020) und startete im Januar 2020 ihre Ausbildung von islamischen Religionsbeauftragten (DITIB Presse 2020).5 Milli Görüs¸ hingegen sieht in der Unterstützung der Bundesregierung eine politisch motivierte Intervention und versteht diese als erklärungsbedürftig. Ferner weist sie darauf hin, dass in Moscheegemeinden der Milli Görüs¸ ohnehin in Deutschland ausgebildete Imame, darunter Absolvent*innen deutscher Hochschulen, tätig sind (vgl. IslamiQ 2019b). Der Vorstandsvorsit5 Ein Folgetreffen im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz fand am 15. Januar 2020 in Berlin statt; vgl. Deutsche Islam Konferenz (2020).

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zende der Schura Niedersachsen, Recep Bilgen, kritisiert den »Eingriff« der Regierung, der in nahezu allen religiöse Angelegenheiten betreffenden Handlungsfeldern stattfinde: »Von den problematischen Zusammensetzungen der Beiräte in den Fakultäten und den zahllosen Modellversuchen für den islamischen Religionsunterricht bis hin zu staatlich angeordneten Gründungen von Stiftungen und Trägervereinen, mischen sich staatliche Stellen immer mehr in die direkten Belange von Muslimen ein und führen das verfassungsmäßig verankerte Prinzip staatlicher Neutralität ad absurdum« (IslamiQ 2019b). Während die islamischen Vereine immer wieder auf ein politisches Eingreifen in ihr Selbstbestimmungsrecht aufmerksam machen, betrachtet die Bundesregierung die Imamausbildung nicht als Gegenstand staatlicher Regelung, sondern »als ein bedeutendes integrationspolitisches Thema […], Alternativen zum ausländischen Einfluss auf die Ausbildung und das Wirken des religiösen Personals in den muslimischen Gemeinden in Deutschland zu entwickeln. Außerdem gehe es bei dem neuen Projekt um ›die Klärung und die Erprobung von Wegen, auf denen Staat und religiöse Gemeinschaften im Hinblick auf eine verstärkte Ausbildung in Deutschland kooperieren und vorankommen können‹« (IslamiQ 2019b). Tatsächlich stellt sich hier die Frage, ob unter einer Integrationspolitik ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht stattfindet und wenn ja, wie dieser zu rechtfertigen ist. Diese Frage müsste vielmehr auf einer juristischen Ebene ausgetragen und diskutiert werden. Erwähnt sei auch Folgendes: Ein grober Blick in die Lehrpläne und Ziele der Zentren für islamische Theologie zeigt u. a., dass diese zunehmend den Bereich der praktischen Theologie aufbauen, um neben dem Lehrberuf und der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses konkrete Berufsprofile wie das von muslimischen Sozialarbeiter*innen zu entwickeln (Wissenschaftsrat 2010, S. 40, 82; Aslan 2013, S. 95). Aber selbst neue Berufsfelder wie die islamische Seelsorge ohne Zusammenarbeit mit den islamischen Verbänden zu festigen, ist höchst schwierig (vgl. die Studie Islamische Theologie an deutschen Universitäten). So werden Studierende u. a. motiviert, entweder in bestehenden Verbänden der freien Wohlfahrtspflege tätig zu werden oder einen Verband für muslimische Wohlfahrtspflege in Eigenregie zu gründen (vgl. Schwager 2020), dessen Ziele und Vorstellungen sich mit denen der jeweiligen Bundesländer decken.

4.

Fazit

Die islamische Religion galt lange Zeit als »Ausländerreligion«. Mit der späten Einführung des Islamunterrichts an staatlichen Schulen wurde dem Islam die politische Anerkennung zuteil. Wie Kiefer (2011) zurecht feststellt, sind Versäumnisse nicht nur der zweigleisigen Integrationspolitik, sondern auch den

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islamischen Dachverbänden anzulasten, sowohl aufgrund ihrer Organisationsstruktur als auch ihrer nicht wohlgesonnenen Haltung gegenüber einem Islamunterricht an öffentlichen Schulen und der Kritik, die sie mehrfach in die Schlagzeilen brachten. Selbst wenn mittlerweile der Islamunterricht in einigen Bundesländern positiv evaluiert worden und der Wunsch nach einem Islamunterricht gewachsen ist, sind rechtliche und politische Hürden bisher nicht aus dem Weg geräumt worden. Die skizzierten Beispiele zeigen die schwierige politisch-juristische Lage des bekenntnisgebundenen Islamunterrichts. Ungeachtet dessen, dass das Fach in Nordrhein-Westfalen als Erstes eingeführt wurde, konnte es sich nicht von einem verfassungsrechtlichen Provisorium loslösen. Auch in Baden-Württemberg bleibt der islamische Religionsunterricht ein Provisorium. Zu konstatieren ist, dass Konstruktionen wie die Kommission oder Stiftung an die Stelle eines Beirats für den islamischen Religionsunterricht treten, das Problem des Übergangsmodells aber nicht gelöst wird. Was politisch makellos scheint, ist juristisch nicht vertretbar. Auch die Anerkennung der muslimischen Verbände als Religionsgemeinschaften ist keine dauerhafte Lösung, selbst wenn dies ein richtiger Schritt im Rahmen einer Integrationspolitik ist. Dies zeigt sich insbesondere am Beispiel von Hessen – dem ersten Bundesland, das mit der Anerkennung von zwei islamischen Religionsgemeinschaften als Vorreiter gilt. DITIB Hessen hat zwar keinen Einfluss auf den Unterricht, wie die Studie Akzeptanz, Formation und Transformation zeigt; die Zusammenarbeit mit ihr scheitert jedoch an der grundsätzlichen Frage der Beeinflussung der DITIB durch Dritte. Hessen, das den islamischen Religionsunterricht als erstes Bundesland verfassungsgemäß verankert hatte, fällt damit in ein Provisorium zurück. Das Problem, über das seit Jahren gestritten wird, ist das Fehlen eines Konstrukts, welches die islamischen Bildungsangebote in öffentlichen Einrichtungen koordiniert und begleitet und das sowohl juristisch als auch (integrations-)politisch akzeptabel ist. Was hervorsticht, ist der unterschiedliche Umgang mit Beiratskonstruktionen. Obwohl in NRW anstelle des Beirats eine Kommission für den islamischen Religionsunterricht in Kraft trat, bleibt der Beirat für die islamische Theologie weiterhin bestehen. Dabei handelt es sich um dieselben Akteure. Sowohl im Beirat für den islamischen Religionsunterricht als auch im Beirat für die islamische Theologie saßen/sitzen Vertreter*innen der vier großen islamischen Organisationen – DITIB, VIKZ, Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V. Wenn mit der Kommission die Stimmrechte anders verteilt und die Kräfteverhältnisse erneut bestimmt werden, stellen sich die Fragen, warum der Beirat für den islamischen Religionsunterricht, nicht aber der Beirat für die islamische Theologie davon betroffen ist und

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warum der Beirat für die islamische Theologie nicht durch eine Kommission ersetzt wird. Es ist davon auszugehen, dass in naher Zukunft auch der Beirat für islamische Theologie durch eine Kommission abgelöst wird, die sich nach langem Ringen in NRW gebildet hat. In Baden-Württemberg hingegen wird die Ablösung des Beirats für die islamische Theologie konkret geplant (vgl. BadenWürttemberg 2019). Darüber hinaus sorgen die unterschiedlichen Unterrichtsmodelle, deren unsichere Zukunft sowie die nach außen getragenen unterschiedlichen Botschaften für Verwirrung unter Muslim*innen (vgl. Petermann 2018). Infolgedessen kann das Gefühl des Auseinanderdriftens innerhalb der muslimischen Community in Deutschland zunehmen. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich in der Haltung der muslimischen Verbände in Bezug auf die staatliche Imamausbildung. Integrationspolitische Maßnahmen werden als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht verstanden und die staatliche Unterstützung seitens der islamischen Community abgelehnt. Die Inhalte, über die schon seit mehreren Jahren hitzig diskutiert wird, sind dieselben, die ihren Ausdruck in gängigen Sätzen finden, wie »Wenn der Staat einen ausländischen Einfluss unterbinden möchte, dann müssen Imame in Deutschland ausgebildet und finanziert werden« (vgl. Morgenpost 2017) oder »Wenn Muslime religiöse Dienstleistungen haben möchten und der Staat den ausländischen Einfluss kappen möchte, dann braucht es eine Moscheesteuer« (vgl. Naber 2019). Die fehlende staatliche Unterstützung wird kritisiert, viel Kritik erntet aber auch die vorhandene staatliche Unterstützung. Anstelle eines unabhängigen Vereins, der bundesweit allen Absolvent*innen offensteht, fordern islamische Verbände, dass sie in ihren Bemühungen unterstützt werden. Doch an ihrer Offenheit wird gezweifelt. Wenn jedoch über die islamischen Verbände integrationshindernder ausländischer Einfluss nach Deutschland gelangt, ist es nicht besonders überraschend, dass versucht wird, den Einfluss zu minimieren, und dass pragmatische Lösungen gesucht werden, wobei unabhängige Organisationen geschaffen und mit staatlichen Mitteln unterstützt werden, beispielsweise das Islamkolleg. Zu fragen ist auch, inwiefern islamische Verbände die integrationspolitischen Bemühungen des Staates für ihre eigene Zwecke nutzen.6 Dass unter dem Titel der Integrationspolitik in die Selbstbestimmungsrechte der Verbände eingegriffen wird, lässt bei den islamischen Verbänden den Eindruck entstehen, dass der Islam an bestimmte, politisch gewollte Formen angepasst und ein deutscher »gemäßigter« Islam, der sich fügt, etabliert werden soll. Es ergibt sich die Vor6 Dazu ist anzumerken, dass es sich bei den islamischen Verbänden bis auf die Ahmadiyya Muslim Jamaat nicht um Religionsgemeinschaften handelt.

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stellung von einem kontrollierten und geformten Islam, die großen Teilen der islamischen Community nicht geheuer ist. Im Rahmen einer Integrationspolitik, in der Vernetzung, Kooperation und Offenheit gefragt sind, kann aber nicht eine Form des Islams gefordert werden, bei der die Machtverhältnisse unter den islamischen Verbänden verteilt werden, die ihre Wurzeln – bedingt durch die Migrationsgeschichte – im Auswanderungsland haben, deren Politik sich nicht mit der aktuellen Integrationspolitik Deutschlands deckt und sogar eher hinderliche Auswirkungen haben kann.7 Das zeigt sich sehr deutlich am Beispiel der Beiräte. Schmischke (2018) bringt es wie folgt auf den Punkt: »Es sind damit letztlich die Beiräte selbst, die die Grenzen der Strapazierfähigkeit des überverbandlichen Konsenses ausloten und damit erst Aufschluss über die tatsächliche Perspektive eines Islam deutscher Prägung geben werden« (Schmischke 2018, S. 334). Es bedarf also eines Modells eines überverbandlichen, gesamtislamischen Konsenses, zumindest in Fragen der Bildungsangebote in öffentlichen Einrichtungen. Eine weitere Kritik der islamischen Verbände ist, dass Forderungen an sie gestellt werden, um als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden oder den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen. Dies ist nach islamischen Verbänden aufgrund einer fehlenden zentralen Institution im Islam höchst schwierig und nicht gerechtfertigt. Aber auch einen Partner auf der islamischen Seite haben zu wollen, der allen Erwartungen ohne Widerspruch nachkommt, ist ein unrealistischer Wunsch (vgl. Hollenbach 2018). Der Politikwissenschaftler Ulrich Willems schlägt einen pragmatischen Umgang mit der Situation vor. Dieser Pragmatismus wurde bereits mit der Einrichtung von Beiräten an den Tag gelegt, was zwar juristisch keine allzu gute Möglichkeit darstellte, aber dennoch begrüßt wurde. Und es kann auch nicht sein, dass sich die islamischen Verbände von ihren ethnischen Ursprüngen lösen und sich nach einer Idealvorstellung von einem deutschen Islam »eher nach religiösen Strömungen hin« (Hollenbach 2018) orientieren, wie der Rechtswissenschaftler Hans Michael Heinig dies formulierte, auch wenn dieser Wunsch seitens einiger Muslim*innen geäußert wird (vgl. Sarıkaya & Aysel 2020).

7 An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Bund zur Öffnung der Moscheen für Integration, Vernetzung und Kooperation aus dem Bundeshaushalt 2019 Finanzmittel zur Verfügung gestellt hat; vgl. Bundesregierung (2018).

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Der islamische Religionsunterricht im europäischen Kontext: Themen – Theorien – Problemfelder

Abdel-Hakim Ourghi

Die islamische Theologie und Religionspädagogik im westlichen Kontext

Zusammenfassung In der Absicht, die islamische Religionspädagogik – als eine eigenständige Wissenschaft, die sich mit religiösen Themen unter einem normativen, einem empirischen und einem handlungsorientierten Aspekt auseinandersetzt – aus dem Schatten der islamischen Theologie herauszuführen, versucht der vorliegende Beitrag, sowohl die islamische Theologie und die islamische Religionspädagogik als auch deren Handlungsbereiche im westlichen Kontext zu definieren und darzustellen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der spannungsvollen Beziehung zwischen den beiden wissenschaftlichen Bereichen.

1.

Einführung

Mit der Einführung des Fachs »Islamische Studien« an zahlreichen deutschen Hochschulen wurde in den letzten Jahren ein wichtiger Schritt in Richtung Akademisierung der islamischen Theologie und Religionspädagogik im westlichen Kontext gesetzt. Denn obwohl der Islam mit seinen beiden kanonischen Quellen (Koran und Tradition des Propheten) und deren vielfältiger Rezeption im Laufe seiner Ideengeschichte eine essenzielle inhaltliche Grundlage für die wissenschaftliche Ausbildung von angehenden Lehrkräften bietet, fehlt es nach wie vor an methodischen Ansätzen aus der islamischen Innenperspektive, welche die differenzierte und sachliche Vermittlung der islamischen Lehre an Schulen und Hochschulen gewährleisten. Noch sind die Vertreter des Fachs um ein wissenschaftliches Selbstverständnis und die methodische und inhaltliche Selbstverortung der islamischen Theologie und Religionspädagogik im westlichen Kontext bemüht. Allgemeiner Konsens besteht inzwischen darüber, dass der Import von fertigen Inhalten und Methoden aus den islamischen Ländern für die Etablierung der islamischen Theologie und Religionspädagogik im westlichen Kontext

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durchaus verhängnisvoll sein und sie sogar zum Scheitern bringen könnte – von außen kommende Lerninhalte und Lernkompetenzen werden im Westen sozialisierten Lernenden und Lehrenden definitiv fremd bleiben. Eine unentbehrliche Basis für die Entwicklung der islamischen Theologie und Religionspädagogik stellen dagegen die methodischen Ansätze der katholischen und evangelischen Religionspädagogik dar. Diese können muslimischen Kindern, deren erzieherische Bildung außerhalb ihrer Familien, also in Kindertagesstätten und Grundschulen, erfolgt, insofern zugutekommen, als die wissenschaftliche Strukturierung der religiösen islamischen Bildung in den Schulen durch sie neue Impulse gewinnen kann. So betrachtet stellt sich die islamische Religionspädagogik als die »Schwesterdisziplin« der katholischen und der evangelischen Religionspädagogik dar, denn auch wenn die vermittelten Inhalte unterschiedlich sind, hat sie es mit Kindern zu tun, die vorwiegend im westlichen Kontext sozialisiert werden. Was die drei Fachbereiche zudem verbindet, ist der Glaube an den einen Gott, dem sich ihre Adressat*innen als Angehörige monotheistischer Religionen verpflichtet sehen. Die Überzeugung, dass die im westlichen Kontext sozialisierten Schüler*innen von solch einer Fusion nur profitieren können, bildet eine solide Grundlage für den interreligiösen Dialog. Im vorliegenden Aufsatz werden sowohl die islamische Theologie und die islamische Religionspädagogik als auch ihre Handlungsbereiche definiert und beschrieben – und zwar im Versuch, die islamische Religionspädagogik – eine normative, eine empirische und eine handlungsorientierte Wissenschaft – als eigenständige Wissenschaft aus dem Schatten der islamischen Theologie herauszuführen und zur Klärung ihrer Grundfragen beizutragen. Darüber hinaus soll es auch um das spannungsvolle inhaltliche Verhältnis und die Korrelation zwischen den beiden Disziplinen gehen – hierbei wird der wissenschaftliche und konstruktive Dialog erstens zwischen der islamischen Religionspädagogik und der islamischen Theologie und zweitens zwischen der islamischen Religionspädagogik und der außertheologischen Erziehungswissenschaft behandelt. Schließlich wird auch argumentiert, dass es sich bei der islamischen Religionspädagogik nicht um eine Teildisziplin der islamischen Theologie handelt. Ihre Funktion besteht nicht darin, die jungen Adressat*innen in den diversen Schultypen zum Glauben zu zwingen, sondern eine dialogische Lern- und Lehratmosphäre zu schaffen, die sie dazu ermutigt, Fragen gemeinsam mit den Lehrenden zu reflektieren. Diese beiden Themen und ihre kommunikative Korrelation dienen als Grundlage für die Skizzierung einer modernen, humanistischen islamischen Theologie und Religionspädagogik im westlichen Kontext, deren Aufgabe die Etablierung einer zeitgemäßen und humanistischen religiösen Identität im Rahmen des europäischen Islams ist.

Die islamische Theologie und Religionspädagogik im westlichen Kontext

2.

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Die islamische Theologie

Muslimischen Studierenden der islamischen Theologie und Religionspädagogik mangelt es zu Beginn ihres Studiums oftmals an einer differenzierten Reflexion hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Glauben als Überzeugung und Glauben als Wissenschaft. Dies ist allerdings wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass ihre religiöse Sozialisation innerhalb der Familie und der Gemeinde ausschließlich auf die unkritische Wahrung ihrer religiösen Identität abzielt – oft liegt dem die Angst der Eltern vor der Verwestlichung ihrer Kinder und dem Verlust der eigenen kulturellen Identität in der Fremde zugrunde. Dementsprechend stößt man als Dozent im Bemühen um eine historisch-kritische Vermittlung religiöser Inhalte immer wieder auf Widerspruch, der damit begründet wird, dass Kritik am Islam, ganz zu schweigen von einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Koran und der Vita des Propheten, unzulässig sei. Es wird schlechterdings nicht zwischen Kritik und Beleidigung differenziert. Dabei ist die islamische Theologie wie alle anderen Theologien eine Wissenschaft, deren essenzielle Aufgabe die reflektierende Betrachtung des eigenen Glaubens durch ein hermeneutisch-textorientiertes Herangehen und den Gebrauch der kritischen Vernunft ist. Innerhalb der islamischen Theologie bedeutet die Reflexion keineswegs den Bruch mit der Tradition und dem in der Ideengeschichte des Islams akkumulierten Wissen, sondern stellt vielmehr das Bemühen dar, die kanonischen Quellen und deren historische Rezeption zeitgemäß zu interpretieren und ihren eigentlichen Sinn freizulegen. Wie für die kanonischen Schriften der anderen Religionen gilt auch für die kanonischen Schriften des Islams, dass der Prozess ihrer Deutung aus ihrem jeweiligen Entstehungskontext heraus noch nicht abgeschlossen ist, sodass sie sich je nach historischer Rahmenbedingung immer wieder neu verstehen und auslegen lassen. In der Tat verlangen die Mehrdeutigkeit der koranischen Inhalte und deren Tragweite danach, sie immer wieder von Neuem zu interpretieren. Es ist dies ein Ruf, der vom Koran selbst ausgeht, denn als religiöser Text fordert und provoziert er die Interpretation durch den Menschen. Kurzum: Korantext und Interpretation sind korrelierende Begriffe, die sich nicht voneinander trennen lassen und somit eine spannungsvolle Einheit bilden. Selbstverständlich ist die Basis der islamischen Theologie der Glaube. Ihre Aufgabe liegt jedoch nicht darin, Glauben zu erzeugen, sondern zu vermitteln und auf dem Wege der Reflexion, nicht der blinden Nachahmung (taqlı¯d), zu festigen. Die zentrale Aufgabe der islamischen Theologie besteht also darin, den Glaubensgehalt der Religion und ihre Botschaften trotz der historischen Distanz von ihren Ursprüngen immer wieder aufs Neue zu identifizieren und gemäß den Lebensrealitäten der Menschen zu formulieren. Dies bedeutet aber auch, den

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islamischen Glauben durch vielfältige Interpretationen jenseits politischer Interessen, welche die kanonischen Schriften ideologisch zu vereinnahmen suchen, reflektierend zu rekonstruieren. Die islamische Theologie setzt sich nicht nur mit den kanonischen Quellen des Islams und deren historischer Rezeption auseinander, sondern auch mit allen Formen muslimischer Lebenspraxis in Geschichte und Gegenwart. Dazu gehört die Beschäftigung mit den religiösen Grundsätzen des glaubenden und handelnden Individuums. Muslimische Theolog*innen befassen sich in ihrer beruflichen Praxis mit religiösen Texten und mit Menschen im Rahmen einer »wechselseitigen Verweisung und Angewiesenheit« (Josuttis 1987, S. 22). Demnach ist die islamische Theologie eine »Lebensweltreflexion« (Dalferth 2004, S. 33) im Rahmen der Gottesrelation des Menschen in seiner Wirklichkeit auf der wissenschaftlichen Ebene. Dies macht die islamische Theologie zu einer praktischen Theologie. Sie untersucht die soziokulturellen Verhältnisse, in denen der Islam im siebenten Jahrhundert entstanden ist, seine historische Rezeption im Lauf seiner Entwicklung sowie seine aktuelle Situation und Verfasstheit. Die konkrete Form seiner Vermittlung in der heutigen Situation ist es auch, die dabei im Vordergrund steht. Die islamische Theologie ist die Sprache des Glaubens und als solche schließt sie die historische Rezeption der islamischen Hauptquellen – Koran und die Tradition des Propheten – ein, denn ihr theologischer Diskurs ist der im Laufe der Jahrhunderte entstandene Kommunikationsmodus des Menschen mit den beiden Schriften und seine Bemühungen, sie zu verstehen. So betrachtet ist die islamische Religionspädagogik eine weitere Sprache der Religion im Zusammenhang mit ihrer diskursiven und reflektierenden Vermittlung; sie ist das kommunizierende Sprachdenken der durch die islamische Theologie rezipierten kanonischen Quellen im Rahmen der Bildungsprozesse. Hinsichtlich der Erschließung der verschiedenen Sinnschichten des Islamdiskurses innerhalb der Ideengeschichte des Islams lässt sich eine Typologie ausmachen. Erstens interpretiert sich der Koran wie jede kanonische Schrift selbst, und zwar auf dem Wege eines innertextuellen Zugangs, der auf dem hermeneutischen Grundsatz der Selbstauslegung beruht. Genauer gesagt: »Im Koran erläutert ein Teil den anderen« (al-qurʾa¯n yufassiru baʿduhu baʿdan), insofern ist er ein selbstreferenzieller Text. Es ist dies die Sichtweise, die sich in Jahrhunderten der muslimischen Exegese in der islamischen Theologie durchgesetzt hat. Zweitens handelt es sich dabei um die inhaltliche und methodologische Interpretation der islamischen Theologie qua hermeneutisches Verstehen der kanonischen Quellen des Islams. Drittens geht die islamische Religionspädagogik als eine eigenständige Wissenschaft mit religiösen Themen ihrer Aufgabe – der religionspädagogischen und didaktischen Vermittlung theologischer Inhalte mit Blick auf die Lebenswelt und den kulturellen Horizont der Lernenden – als eine normative, empirische und handlungsorientierte Wissenschaft nach.

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Die drei typologischen Ebenen bilden die sogenannten »Islamischen Studien« in einem westlichen Kontext, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen. Der muslimische Theologe ist nicht bloß neutraler Betrachter der kanonischen Quellen des Islams und ihrer historischen Rezeption. Seine primäre Aufgabe liegt darin, den muslimischen Glauben mit dem Wissen bzw. die koranische Offenbarung und die Tradition des Propheten (naql) mit der Vernunft (‘aql) zu versöhnen. Beide stehen zueinander nicht im Gegensatz und bilden auch keine Alternative, sondern ergänzen sich auf spannungsvolle Weise. Dabei ist zu betonen, dass der Koran und die Tradition des Propheten als Primärquellen des Islams den Interpreten nicht nur zur Textauslegung, sondern auch zur Selbstauslegung anhalten. Demnach erfordert ihr Verstehen einen hermeneutischen Zugang, durch den der Mensch sich ihnen nicht nur als Subjekt in seinem jeweiligen Kulturhorizont, sondern auch als Objekt seiner Selbstbetrachtung nähert (Bultmann 1984, S. 130ff.). In der islamischen Theologie spricht man von Gott als kommunikativem Akt in einem doppelten Sinn: Erstens ist Gott durch den historischen Propheten Muhammad (570–632) als Verkünder der koranischen Offenbarung ein Spre˙ chender. Zweitens ist Gott durch die menschliche Interpretation von Gottes Wort, wie etwa im Umgang des Menschen mit Gott im Rahmen gottesdienstlicher Handlungen (‘iba¯da¯t) in der islamischen Rechtslehre, zusätzlich ein Angesprochener. Hierbei tritt die islamische Theologie als Vermittlerin der in den kanonischen Quellen festgeschriebenen Gebote und Verbote Gottes auf. Allerdings müssen die islamischen Grundlehren in ihrem historischen Entstehungskontext verstanden werden. Den Koran kann man in der islamischen Theologie als Mitteilung in dreifacher Relation verstehen: in der Relation Sprechender – Angesprochener – Mitgeteiltes oder, technisch gesagt, Sender – Empfänger – Information (Koran 42:7; 53:10). Allerdings ist Muhammad nicht nur als Gesandter Gottes zu betrachten, ˙ sondern auch als Prophet, dessen Mission es war, die Botschaft Gottes zu verkünden (Koran 13:30) (Zirker 2012, S. 69ff.; Izutsu 1964, S. 133ff.). Die Rolle des Propheten ist ganz klar definiert. In der letzten in Medina offenbarten Sure beispielsweise ist zweimal zu lesen, dass Muhammad nur die Botschaft Gottes ˙ auszurichten habe (5:92 und 99). Dies ist auch in den frühen, zwischen 610 und 622 in Mekka entstandenen Suren festgehalten, wo es etwa heißt: »Du bist ja nur ein Warner und hast keine Gewalt über sie« (88:22). Insgesamt 13-mal wird im Koran die Aufgabe des Propheten solcherart unmissverständlich definiert. Dieses Mitteilungsmuster von Gott auf die Hörer durch den Propheten bildet die Grundstruktur des Islams, bei der die islamische Theologie seit Jahrhunderten die Rolle einer Vermittlungsinstanz der Glaubensinhalte innehat, da die kanonischen Quellen im Akt der Rezeption gemäß der jeweiligen Situation eben

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immer wieder neu gedeutet werden. Letztendlich sind im Sinne des Islams die Menschen die Empfänger der göttlichen Botschaft. Zwischen dem von der Familie und der Gemeinde durch unüberlegte Nachahmung übernommenen Glauben und dem durch Reflexion erlangten Glaubenswissen in der islamischen Theologie gilt es, wie eingangs festgehalten, zu differenzieren. Wie die christliche Theologie muss sich auch die islamische Theologie ein reflektierendes Verstehen zu eigen machen, und zwar vor allem aus zwei Gründen: zum einen zur Wahrung und Weitergabe der eigenen Lehrtradition an die nächste Generation, zum anderen zur Neubestimmung dieser Wissenstradition in einem nichtislamischen Milieu angesichts veränderter historischer Rahmenbedingungen. Nur so kann der islamischen Theologie die Reflexion des islamischen Glaubens bzw. die an religiöse Inhalte gebundene Selbstauslegung gemäß der Weltwirklichkeit des Menschen gelingen. Ihr Anliegen muss es deshalb sein, den Islam als Glauben in einer dialogischen Lehr- und Lernsituation zu kommunizieren. Dies allein ermöglicht die durchdachte Entfaltung des islamischen Glaubens, der die Lebenswelt der Menschen einbindet und eine nicht durchdachte Reproduktion der veralteten Denkmuster der klassischen Wissenstradition verhindert. Bis heute arbeiten die islamisch-theologischen Disziplinen – die Koranwissenschaft, die Wissenschaft von der Tradition des Propheten, die Glaubenslehre und die spekulative Theologie – historisch und zielen dabei auf das Verstehen des Islams anhand einer deskriptiven Rezeption. Dies gilt auch für die Wahrnehmung des historischen Entwicklungsprozesses der islamischen Theologie. Man weiß, dass religiöse Diskurse in verschiedenen Zeitepochen in bestimmten geschichtlichen Situationen entstanden sind. Dennoch ist die islamische Theologie bis heute von geschichtlichem Denken als Form der Selbstreproduktion geprägt, da muslimische Gelehrte im Laufe der Jahrhunderte allein auf die Zementierung der islamischen Tradition bedacht waren und die heutige islamische Theologie auf verschiedene Diskursfelder aus vergangenen Zeitepochen zurückgreift. Dabei kommen die gegenwärtigen Formen islamischer religiöser Praxis und das reale gesellschaftliche Handeln von Menschen muslimischen Glaubens zu kurz. Besonders die Lernenden werden nicht als Subjekte, sondern, wie etwa in der islamischen Katechese, als »Gefäße« wahrgenommen. Es ist daher durchaus legitim, den Koranunterricht in den muslimischen Gemeinden mit dem von Paulo Freire geprägten Terminus »Stopf-Pädagogik« (Stauffer 2007, S. 34ff.; Funke 2010, S. 134ff.) zu charakterisieren (Freire 1998, S. 57ff.), die mit der realen Welt der Kinder nichts zu tun hat, aber von Zeit zu Zeit überprüft, ob ihre Kenntnisse sich durch Auswendiglernen vermehrt haben.

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Diese Sachlage sei an einem Beispiel verdeutlicht: Der ig˘tiha¯d1 (Macdonald & Schacht o. J., S. 1052f.) als eine Form des freien individuellen Räsonierens bezieht sich auf all das, was nicht klar und eindeutig durch einen gesicherten Text (nass ˙˙ qat‘ı¯) erfasst ist. Es ist bekannt, dass die ig˘tiha¯d-Kompetenz bei den Sunniten im ˙ Laufe der islamischen Geschichte stetig abnahm, bis es am Anfang des vierten Jahrhunderts der islamischen Zeitrechnung zur Schließung des Tores des ig˘tiha¯d kam. Die Gelehrten aller sunnitischen Rechtsschulen waren zur Auffassung gelangt, dass alle wichtigen Rechtsfragen, die mit dem alltäglichen Leben und Handeln der Gläubigen zu tun haben, bereits gründlich behandelt und definitiven Lösungen zugeführt worden seien. Schrittweise kam man dann überein, dass keinem Gelehrten die geistigen Kapazitäten und die argumentative Freiheit zur Erlangung eines Rechtsurteils mehr zugestanden werden könnten. Damit hatte die Nachahmung sich gegenüber dem individuellen Räsonieren durchgesetzt, fortan sollte der Grundsatz der Nachahmung bei den Sunniten für alle Menschen gelten, einschließlich der Gelehrten. Deren geistiger Beitrag beschränkte sich von da an auf die Auslegung und Anwendung bereits vorliegender religiöser Antworten, auch mit Blick auf die Prinzipien der Rechtsschulen, die für alle Menschen und für alle Zeiten gedacht waren. Dabei besteht bis heute die Gefahr der Verfestigung eines historisierenden Verständnisses, das den Gegenstand der Theologie kategorisch der Vergangenheit zuordnet und dadurch eine neue Auslegung des Korans und der Tradition des Propheten unter veränderten Bedingungen verhindert. Der Beitrag, den die islamische Theologie in einem europäischen Kulturhorizont leisten kann, ist die reflexive Selbstauslegung der islamischen Tradition bzw. des Islams in seiner pluralistischen Gestalt. Darin nimmt der Theologe als Interpret eine zentrale Rolle ein: Erst durch die Befreiung der islamischen Religion von der historischen Verfremdung und die dadurch erreichte Offenlegung der existenz- und welterschließenden Kraft des religiösen Textes selbst (Fuchs 1984, S. 31) wird die Differenz zwischen der Zeitlosigkeit der universalen sinnstiftenden Ethiklehre und den situationsgebundenen Koranstellen in ihrem historischen Wirkungskontext sichtbar. Denn die Wahrheit der kanonischen Quellen des Islams kristallisiert sich erst im Zusammenspiel des Textes mit dem alltäglichen Leben der Muslim*innen heraus. Dann, also erst, wenn sie auf der Grundlage der Erfahrung des Menschen gemäß seiner Gegenwart interpretiert werden, können der Koran und die Tradition des Propheten in der islamischen Theologie in einem neuen Licht erscheinen. Und so ist es an der Zeit, das Wort einer islamischen Theologie im pluralistischen Sinn, samt ihren innerislamischen Differenzen, zu überlassen. Schließlich ist der Islam in den westlichen Ländern nicht nur in Gestalt des sunnitischen 1 Zu diesem Thema bei den Sunniten siehe Krawietz (2002).

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Islams – bzw. in Deutschland/Österreich nicht nur durch die hanafitisch-sunnitische Rechtsschule – vertreten, sondern in höchst buntem Gewand, in der ganzen Vielfalt der verschiedenen Glaubensgemeinschaften. Selbstverständlich bilden auch andere muslimische Konfessionen, etwa die Schiiten, einen Bestandteil der kulturellen Identität des europäischen Islams. Daher gilt es, sich allmählich von der Vorstellung zu verabschieden, den Islam gebe es nur als Singularität (dass vom Islam in der Pluralform zu sprechen ist, legt freilich schon die Existenz der vier sunnitischen Rechtsschulen und unterschiedlicher muslimischer Glaubensgemeinschaften nahe), wobei die religiöse Pluralität des Islams nicht nur als eine historische, äußere, Erscheinung, sondern als ein Wesensmerkmal bekräftigt werden muss. So kann die islamische Vielfalt im Westen zum Katalysator eines theologisch konzentrierten, aufgeschlossenen Denkprozesses werden, der einen bedeutenden Beitrag zur Etablierung einer modern-aufklärerischen Theologie im westlichen Kontext leisten kann. Die islamische Theologie hat die hermeneutische Funktion, die kanonischen Quellen des Islams und die Ideengeschichte der klassischen Wissenstradition diskursiv darzustellen und reflexiv auszulegen. Eine moderne Theologie muss auf der Annahme gründen, dass der Mensch mündig und in der Lage ist, selbst die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Sie gibt keine Dogmen und Regeln vor, sondern ermutigt den Menschen, die Wahrheit in sich selbst zu finden, neugierig und experimentierfreudig zu sein, Tabus und vorgefertigte Denkmuster zu überwinden und selbst herauszufinden, wo die Grenze zwischen richtig und falsch liegt.

3.

Die islamische Religionspädagogik

Das Verhältnis zwischen Glauben und Bildung in religiösem Denken ist auch Gegenstand der schulischen Unterweisung, in deren Rahmen der Religionsunterricht auch in einer postmodern-säkularen Welt einen geschützten Raum bietet. Dabei geht es nicht nur darum, theologisch begründete religiöse Glaubensinhalte zu vermitteln, sondern auch um die Frage der Einbettung des theologischen Diskurses in die vom Bildungsrahmen vorgegebenen religionspädagogisch-didaktischen Vermittlungsmethoden. Und dazu benötigt die islamische Theologie die islamische Religionspädagogik, ist das Verhältnis zwischen den beiden doch das zwischen Theorie und Praxis (Englert 2007, S. 20ff.) und der islamische Religionsunterricht demnach die verbindende Brücke zwischen den beiden Ebenen. Was aber hat es mit der Natur der beiden Fachbereiche auf sich? Ist die islamische Religionspädagogik eine Fachdisziplin, die sich mit religiösen Sachverhalten beschäftigt? Ist sie überhaupt eine unabhängige Wissenschaft in dem

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Sinn, dass sie sich von der Macht der theologischen Inhalte emanzipieren kann? Immer wieder »wird der Religionspädagogik das ›Dienstbotenzimmer‹ im Haus der Theologie zugewiesen« (Rothgangel & Thaidigsmann 2005, S. 7f.) – so ein Diktum, das selbstverständlich auch für die islamische Religionspädagogik gilt. Ist diese also eine praktische Theologie? Oder ist sie nur Anwendungswissenschaft der Theologie, von der sie zu einer Handlungswissenschaft werden kann? Die Religionspädagogik ist eine handlungs- und praxisorientierte Wissenschaft, die sich dem religiösen und sozialen Bildungskontext der Schüler*innen widmet. »Ihr Gegenstandsbereich sind alle religiösen Lern- und Bildungsprozesse im Kontext der Zeitsituation. […] Nebenbei betreibt die Religionspädagogik die Analyse und Reflexion religiöser Vorstellungen und Vollzüge« (Kunstmann 2014, S. 13f.). Und da sie die Lernenden und die Lehrenden bei der religiösen Bildung begleiten und unterstützen will, verfügt sie über ein hohes Maß an Selbstreflexion. Als eine selbständige Wissenschaft möchte sie theologische Inhalte reflektiert vermitteln, um Religionspädagog*innen in die Lage zu versetzten, die kanonischen Schriften und ihre historische Rezeption vermittelnd zu klären und aufzuklären. Darüber hinaus ist die Religionspädagogik eine ontologische Wissenschaft, die nicht nur auf den Menschen in seiner religiösen Konzeption fokussiert, sondern auch seine Existenz in einem bestimmten Kulturhorizont in den Blick nimmt. Anhand verschiedener religionspädagogischer und -didaktischer Lern- und Lehrmethoden will sie religiöse Texte verständlich machen und durch einen schöpferischen, hermeneutischen Zugang die jeweilige Situation und die Lebenswelt der Lernenden mit den religiösen Inhalten in Verbindung bringen. Genauer gesagt: Ihr Ziel ist die Erschließung der islamischen Tradition anhand der kanonischen Quellen, und dabei berücksichtigt sie auch die Gegenwart der jeweiligen islamischen kulturellen Situation im westlichen Kontext. Der bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht ist in einigen westlichen Ländern so jung (Mohr 2006, S. 15), dass seine Sachwalter*innen nach wie vor um sein inhaltliches und methodisches Selbstverständnis und seine Selbstverortung in der akademischen Landschaft ringen. Entsprechend intensiv ist daher auch das Bemühen um die rechtliche Definition. Kann man von einer »islamischen Religionspädagogik« sprechen? Was ist überhaupt eine »islamische Religionspädagogik« als eine der jüngsten Wissenschaftsdisziplinen? Hat der Fachbereich Platz in islamischen Studien im europäischen Kontext? Wenn ja, ist er eine Teildisziplin der Praktischen Theologie? Anders gefragt: Ist die islamische Religionspädagogik nur im Kontext der islamischen Theologie zu verstehen (Schmidt 1987, S. 23f.)? Wiewohl auch die islamische Theologie um die hermeneutische Reflexion religiöser Themen bemüht ist, weist sie gegenüber der von der Didaktik und der Religionspädagogik empfohlenen Lern- und Lehrmethoden deutliche Defizite

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auf. Was die in den Gemeinden gelehrte islamische Theologie angeht, scheinen die Entwicklungsprozesse des islamischen Glaubens für Kinder und Jugendliche keine zentrale Rolle zu spielen. In diesem Kontext gelten die Lehrenden als wortgetreue Verkünder der absoluten Wahrheit und die Lernenden als diejenigen, die auf dem Weg zu diesen Wahrheiten der Begleitung bedürfen. Doch betrachtet man die Kluft zwischen den vermittelten Glaubensinhalten in den zum größten Teil konservativen muslimischen Gemeinden, muss die Kommunikation als wirkungslos beurteilt werden. Die Lernmethoden bzw. die Didaktik der islamischen Religionspädagogik sind im Bildungsplan festgelegt. Besonders vom islamischen Religionsunterricht wird erwartet, dass er den islamischen Glauben im schulischen Alltag lebendig macht, dass er die Lernenden in die verschiedenen Themen der Religion einführt und sie dabei begleitend und unterstützend zu deren Reflexion, frei von Angst und Zwang, ermutigt. Dies soll dazu führen, dass die eigene Religion nicht durch Nachahmung ausgeübt, sondern durch vernunftgeleitete Reflexion neu entdeckt wird. So will die islamische Religionspädagogik ihrer zentralen Aufgabe, der religiösen und erzieherischen Bildung, nachkommen. Genauer gesagt, möchte sie die Lernenden in allen religiösen Themenfeldern, in denen ihre kulturelle Identität im Vergleich zu den anderen festgelegt wird, gezielt zur islamischen Religion hinführen. Damit will der islamische Religionsunterricht einen Betrag zur Identitätsfindung muslimischer Lernender in Deutschland leisten. Die islamische Religionspädagogik reflektiert Prozesse religiösen Lehrens und Lernens. Sie will die in der Ideengeschichte des Islams enthaltene klassische Wissenstradition bewusst und kritisch behandeln und im Kontext ihres kulturellen Erbes beleuchten. Sie versucht, den Menschen in ihren vielfältigen Lebensbedingungen und auf der Suche nach Orientierung das »Heutige« der Primärquellen nahezubringen. Dabei ist die hermeneutische und kritische Auseinandersetzung mit den kanonischen Quellen des Islams und ihrer historischen Rezeption in der islamischen Theologie für die Gestaltung des eigenen religiösen Lebens der Lernenden in der jeweiligen Gegenwartssituation keineswegs ein Hindernis. Vielmehr verdeutlicht sie die »Konstitutionsbedingungen eigener Existenz« (Anselm 2005, S. 87). In diesem Zusammenhang seien kurz einige Themenbereiche des islamischen Religionsunterrichts erwähnt. Grundbestandteil jeder islamischen Religionspädagogik ist der Koran mit seinen Geboten, Verboten und Prophetengeschichten (qisas al-anbiya¯’). Besonders wichtig ist hierbei die Chronologie des Korantextes ˙ ˙ im Zuge seiner Offenbarung im siebenten Jahrhundert, welche mit Blick auf die Wirkungsstätten des Propheten, Mekka und Medina, die traditionelle muslimische Zeiteinteilung in mekkanische (610–622) und medinensische (622–632) Suren akzeptiert und berücksichtigt (Nöldeke & Schwally 1961, S. 58ff.). Seine Grundform ist seine mündliche Verkündigung durch den Propheten an die

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Adresse seiner damaligen Gemeinde; zur schriftlichen Niederlegung sollte es erst später, während der Herrschaft des dritten Kalifen ‘Utma¯n b. ‘Affan (reg. 644– ¯ 656), kommen. Auch die Vita des Propheten, die zum Teil im Koran dokumentiert ist, kann Thema des islamischen Religionsunterrichts sein. Muhammad (570–632) gilt als ˙ Verkünder einer neuen Schriftreligion (Koran 2:119, 11:12 und 34:28) und Bestätiger früherer Offenbarungen (Koran 2:41, 3:3, 4:47 und 4:48). Er war nicht nur Überbringer der göttlichen Botschaft (Koran 5:67, 6:19, 24:54 und 42:48), sondern auch Lehrmeister der Korandeutung (Koran 3:187, 5:15, 16:44 und 4:4) und Vermittlungsinstanz der religiösen und rechtlichen Anfragen seiner Mitmenschen (Koran 4:127 und 37:11). Und er war ein Mensch (Koran 18:110) – zwar mit einem Verkündigungsauftrag, jedoch nicht frei von Makel –, dessen Fehltritte als Lehrer scharf kritisiert werden (Koran 80:1–10, 88:21–22). Das Handeln des Propheten beruht auf der Eingebung des Korans und dessen Verkündung als kontinuierliche Interaktion zwischen dem Verkünder und den Rezipienten, die im siebenten Jahrhundert eine neue Gemeinde in einer dialogischen Landschaft bildeten (Neuwirth 2010, S. 20f.). Besonders der in Mekka zwischen 610 und 622 offenbarte Koran, der ethisch universale, sinnstiftende Botschaften beinhaltet, sowie die diesem Teil des Korans zuzuordnenden Aussagen des Propheten prägen die Vorstellungen, Visionen und Perspektiven der Lernenden und können einer reflektierten religiösen Identität zur Wirklichkeit verhelfen. Dies macht die beiden kanonischen Quellen für deren Lebenswelt unentbehrlich und weist ihnen eine für die religiöse Bildung essenzielle Rolle zu. Mittels eines solchen Verstehensgrundsatzes kann die Religionspädagogik dazu beitragen, dass die Lernenden reflektierend, gestützt auf die Perspektive der beiden Glaubensquellen als sinnstiftende Erfahrungen mit Gott, durch die Welt gehen. So lässt sich auch der Sinngehalt der koranischen Prophetenerzählungen aus heutiger Sicht als Wirklichkeit wahrnehmen und erfahren. Als Fremderfahrung anderer Völker können die Prophetengeschichten zum Gesprächsthema werden, um die Lebenswelt der Lernenden zu verstehen (Berger 1988, S. 130ff.). Durch die »Kraft der Fremderfahrung« (Ritter 1998, S. 159) anderer, früherer Generationen können die Lernenden die »eigene Erfahrung« bereichern und erweitern. Denn gerade in einem kommunikativen und diskursiven islamischen Religionsunterricht geht es um die reflektierende Reinterpretation des eigenen Lebens und der realen Wirklichkeit der Lernenden. So lassen sich aus den in ganz anderen geschichtlichen Kontexten entstandenen kanonischen Quellen des Islams und deren historischer Rezeption Erfahrungsimpulse auch für die Gegenwart gewinnen. Und dabei kann die islamische Religionspädagogik ihre Wirkung in unserer Zeit zeigen. Durch die reflektierte Behandlung historischer Erfahrungen kann die islamische Religionspädagogik erschließen, dass die Koransuren aus der medinensischen Zeit

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(622–632) nur in ihrem historischen Kontext zu verstehen sind. Konkret gesprochen war Muhammad nicht nur Verkünder einer Religion, sondern auch ˙ Staatsmann einer irdischen Gemeinde in Medina und als solcher Verkünder von Botschaften, die nur in ihrem historischen Wirkungskontext zu begreifen sind. Als historisch-politisches Modell kommt den koranischen Verordnungen der zweiten Epoche eben nur eine temporäre, auf das siebente Jahrhundert begrenzte Gültigkeit zu. Bei der Vermittlung der historischen und religiösen Inhalte kann die islamische Religionspädagogik als eine erfahrungsorientierte Wissenschaft Möglichkeiten aufzeigen, den Islam in der Wirklichkeit der Lernenden anders und neu zu sehen. Im Kontext religionspädagogischer Lern- und Bildungsprozesse vermitteln die in den Islamquellen niedergelegten religiösen Erfahrungen nicht nur Informationen, sondern bewegen die Lernenden zur Reflexion über ihre eigene Religion und ihre Wirklichkeit. Dies erlaubt es ihnen, von der imitatorischen religiösen Sozialisation innerhalb der Familie und der Gemeinde Abstand zu nehmen und zum aktiven Gestalter ihrer eigenen religiösen Identität zu werden. In Wahrnehmung ihrer erzieherischen und bildenden Aufgabe ist die islamische Religionspädagogik darum bemüht, sich im Zuge der religiösen Vorerziehung durch die Familie oder die Gemeinde angeeigneter Vorstellungen differenzierter und intensiver anzunehmen. Daher ist sie darauf bedacht, Lernenden und Lehrenden qua Interdisziplinarität kognitive Zugänge zur eigenen Religion zu eröffnen. Als eine Theorie des praxisorientierten Lernens und Lehrens darf sie jedoch nicht in die Interesselosigkeit bloßer Deskription verfallen, sondern muss sich auch handlungsorientierten Aufgaben im schulischen Leben zuwenden, muss praktisch relevantes Wissen konzipieren und Lern- und Lehrperspektiven mit Gegenwartbezug entwickeln. Für die Religionspädagog*innen bedeutet dies auch, sich eine zeitdiagnostische Kompetenz anzueignen und diese ständig zu erneuern, ist doch der Zeitgeist unter anderem in hohem Maß von interreligiösem Lernen in einer multikulturellen Gesellschaft bestimmt. Das interreligiöse Lernen hat inzwischen einen festen Platz im öffentlichen Bildungssystem, einschließlich der Hochschulen. In diesem Zusammenhang spreche ich von der »entdeckten religiösen Identität« – entdeckt durch vernunftgeleitete Reflexion über sich selbst und die anderen. Diese erlaubt es, den Einfluss der »vererbten religiösen Identität«, die die Lernenden im Zuge ihrer religiösen Sozialisation nachahmend und unreflektiert angenommen haben, einzudämmen. Als wissenschaftliche Fachrichtung legt die Religionspädagogik großen Wert auf interdisziplinäre Kooperation mit anderen Wissenschaften, ohne sich zwischen die Stühle der islamischen Theologie und anderer Wissenschaften zu platzieren. Die Sichtweise, wonach sie eine Teildisziplin der Theologie sei, scheint ohnehin nicht länger haltbar, andernfalls wäre die islamische Theologie bei der

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Vermittlung des Glaubens keine praktische Theologie. Obwohl das Thema der islamischen Religionspädagogik die Glaubensinhalte sind, ist sie auch eine eigenständige Wissenschaft, die sich in der schulischen Bildung eben auf religionspädagogische und didaktische Aspekte konzentriert. Tatsächlich sind es nicht nur die religiösen Themen, die den Inhalt ihres Interesses ausmachen, sondern auch die Situation der Lernenden, ihre Sozialisation und ihre im Werden begriffenen Persönlichkeiten. Genauer gesagt: Neben dem Ort als solchem ist die soziale Situation die fundierte Basis der Kommunikation des islamischen Glaubens in der Schule (Schwillus 2005, S. 7). Den Willen zur konstruktiven Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften hat die islamische Religionspädagogik als eine akademische Wissenschaft im Übrigen mit allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen gemein, und er hat nichts mit einer Verfremdung der Inhalte zu tun. Im Gegenteil ist Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Wissenschaften oder anderen Zugangsweisen eine inhaltliche und methodische Bereicherung, die zum besseren und sachlicheren Verständnis der Themen führt. Daher kann sich die islamische Religionspädagogik ohne Scheu auf einen breiten wissenschaftlichen Dialog mit anderen Fächern einlassen, wie etwa der Psychologie, der Soziologie, der Erziehungswissenschaft, und – mit Erkenntnistheorien der Moderne und der Postmoderne – der Philosophie. Auf der Grundlage der methodischen Pluralität kann sie sich konstitutiv im westlichen Kontext begründen. So betrachtet stellt dieses religionspädagogische Fach ein Inklusionsmodell dar, das die methodischen Ansätze anderer wissenschaftlicher Disziplinen bewusst einschließt und dadurch die Flexibilität und Objektivität von wissenschaftlicher Offenheit unter Beweis stellt. Selbstverständlich orientiert sich die islamische Religionspädagogik inhaltlich am Text des Korans und an der Tradition des Propheten sowie den dazugehörigen islamischen Wissenschaften. Somit bleibt ihre primäre Bezugswissenschaft, ihre wichtigste Quelle die islamische Theologie. Daneben darf die islamische Religionspädagogik, obwohl bekenntnisorientiert, verschiedene Methoden der Humanwissenschaften konsultieren, doch um sich zu entfalten, benötigt sie religionswissenschaftliche Kenntnisse. Sie muss keine Furcht um den Verlust ihrer Identität als Wissenschaft haben, denn ihr Verlass auf andere Wissenschaften bedeutet keineswegs den Verlust ihrer Unabhängigkeit. Diese reflektierende methodische Vorgehensweise, mit der sie sich in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess durch ihre Handlungsfelder bewegt, dient auch dazu, edukative und bildende Lern- und Lehrprozesse objektiv zu analysieren und zu entwickeln. Deshalb darf sich die islamische Religionspädagogik nicht als eine deskriptive Wissenschaft betrachten. Sie ist eine praxisorientierte Wissenschaft, die einen konstruktiven Beitrag zur Reflexion des religiösen Lernens und der religiösen Erziehung leisten will.

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Im Mittelpunkt der islamischen Religionspädagogik stehen insbesondere die Lebenserfahrung der jungen Menschen als Adressat*innen des islamischen Religionsunterrichts und der daraus resultierende Sinn für die Wirklichkeit und die Zukunft. Dabei gibt es unter den Lernenden durchaus unterschiedliche Auffassungen vom islamischen Religionsunterricht, die es im Rahmen der Vermittlung religiöser Informationen reflektierend zu thematisieren gilt. Genauer gesagt geht es um die Deskription und Reflexion der islamisch-religiösen Sozialisation der Lernenden in den verschiedenen religionspädagogisch-didaktischen Lernprozessen. Die enge Verknüpfung von islamischen Lehren und Lebenswelt bleibt zentrales Anliegen der islamischen Religionspädagogik, schließlich will sie existenzielle, der Lebensrealität der Lernenden entspringende Fragen beantworten. Es ist dies die vom katholischen Religionspädagogen Bruno Schmid vertretene Sichtweise, die sich auch auf die vorliegende Thematik übertragen lässt. Schmids Meinung nach macht sich zuerst der/die Lehrende mit der im Lehrplan vorgegebenen Thematik vertraut. Als Vertreter*in der Lerninteressen der Lernenden, so Schmid, beleuchtet er/sie ihre Fragen aus ihrer Weltperspektive (Schmid 2005, S. 57) und bringt so die Religion und die Lebenswelt der Lernenden in einer interaktiven Begegnung zusammen. Die Lebenswelt der Kinder gewinnt so an Relevanz, weil religiöse Sachverhalte in ihrer Sprache formuliert und erklärt werden. Da ihre Themen religiös begründet sind, stellt sich die islamische Religionspädagogik auf den ersten Blick als ein Fachbereich der Theologie dar. Weil sie aber gleichzeitig religionspädagogisch und didaktisch konzipiert ist, kann sie sich von dieser emanzipieren. Ihre Konzentration auf die schulischen Bildungsprozesse und die Selbstwerdung der Lernenden erlaubt es ihr, sich von der islamischen Theologie abzugrenzen. Es ist also falsch, zu meinen, dass sich die islamische Religionspädagogik auf die kanonischen Quellen als unreflektiert zu vermittelnder Überlieferungsbestand reduziert oder diese Funktion gar als zweckbedingten Wunsch der Gesellschaft erfüllt (Wegenast 1998, S. 72). Sie ist ein »Sprachereignis« des Glaubens, das religiöse Inhalte religionspädagogisch- und didaktisch vermittelt. Eine solche Sichtweise würde die These stützen, dass die Religionspädagogik, sei sie jüdisch, christlich oder islamisch, die Mitte der Theologie bildet (Biehl 2005, S. 13f.). Die intensive Aufmerksamkeit der Lehrenden gilt auch der Persönlichkeit der Lernenden als unterschiedlichen Individuen in ihrem in ihrer Lebenswelt stattfindenden persönlichen Entwicklungsprozess. Darin gleicht die islamische Religionspädagogik der christlichen Religionspädagogik. Auch sie betont »ein Wirklichkeitsverständnis, das kreativ und schöpferisch erweitert und vertieft« wird (ebd., S. 14). Die islamische Religionspädagogik ist eine aktive Begegnung mit dem, was als religiöse Information geteilt wird, und eine interaktive Begegnung von Lehrenden und Lernenden, besonders jenen Lernenden, die die ver-

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mittelten Inhalte im Lichte ihrer Sozialisation reflektieren. Hierbei können sich die Innenperspektive der Lernenden und die Außenperspektive der Lehrenden als aktive Begleiter und Beobachter des islamischen Religionsunterrichts spannungsvoll ergänzen. Schließlich gehören Letztere derselben Religion an wie ihre Adressat*innen, können sich also, obwohl sie die Außenperspektive einnehmen, in deren Lebenswelt hineinversetzen. Die islamische Religionspädagogik erforscht Erziehungswirklichkeiten und entwickelt, was die didaktische Vermittlung von theologischen Inhalten betrifft, auch eigene Theorien, die alle Bereiche der religiösen Erziehung und Bildung einschließen. Dabei legt sie großen Wert auf hermeneutisches Verstehen als die Kunst der Rezeption von verschiedenen Diskursfeldern. Als Beobachterin des schulischen Alltags ist sie zudem empirisch orientiert und als Anwältin der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen kann sie kraft ihrer Normativität einen erheblichen Beitrag zur Wahrung deren Interessen leisten. In ihre alltagsorientierte Praxis fließt auch die in ihren Forschungsfeldern untersuchte Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit muslimischer Kinder ein. Deshalb kann islamischer Religionsunterricht erfolgreich sein, wenn Bildung mit den Lernenden stattfindet und nicht für sie. Die islamische Religionspädagogik in einem westlichen Kontext will junge Menschen bei der Erlangung ihrer mündigen religiösen Identität religionspädagogisch, didaktisch und methodisch sachgerecht unterstützen. Im Unterschied zur Theologie schenkt sie auch der Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis Aufmerksamkeit. Wiewohl durch die Pluralität der Methoden anderer Wissenschaften inspiriert, lässt sich die islamische Religionspädagogik nicht auf eine Anwendungswissenschaft reduzieren. Ihr Thema ist eben nicht nur die Religion an sich, sondern auch die Begleitung der Lernenden auf dem Weg zur reflektierten Entdeckung ihrer religiösen Identität. Daher ist die islamische Religionspädagogik angehalten, ihren Ansatz der praxisorientiert-religiösen Bildung diskursiv zu analysieren und konstruktiv zu entwickeln. Wenn die islamische Religionspädagogik es sich zur Aufgabe macht, ausgehend von Beobachtungen des islamischen Religionsunterrichts die religiöse Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu begleiten und ihre Erfahrung mit religiösen Themen und den Lernenden wissenschaftlich zu erörtern, bedeutet dies, dass die Lehre sich an Kompetenzbereichen orientiert und von den in einem bestimmten Kulturhorizont eingebetteten Bedürfnissen der Schüler*innen her gedacht wird. In der interaktiven Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden findet die islamische Religionspädagogik Anhaltspunkte dafür, was wie zu lehren und zu lernen ist. So erweist sich der islamische Religionsunterricht als die Basis für die reflektierte Vermittlung religiöser Inhalte gemäß der Erfahrung der Wirklichkeit und deren Deutung durch die Lernenden.

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Schließlich gehört zu den Aufgaben der islamischen Religionspädagogik die Auseinandersetzung mit und die Förderung einer religionspädagogischen Didaktik (Biehl & Nipkow 2003, S. 75ff.). Die Religionsdidaktik gilt als ein begleitendes und komplementäres Vermittlungselement religionspädagogischer Arbeit und damit als integraler Bestandteil der islamischen Religionspädagogik. In der Tat lässt sich die Religionsdidaktik als Prüfinstanz der vermittelten Lerninhalte und der Lehrmethoden erachten. Unter Rückgriff auf die Fach- bzw. Religionsdidaktik der christlichen Religionspädagogik kann die islamische Religionspädagogik eine kompetente und tragfähige Didaktik konzipieren, die zwischen islamischer Tradition und Gegenwart eine Brückenfunktion erfüllt – immerhin hat sie es mit muslimischen Schüler*innen zu tun, die im westlichen Kontext sozialisiert wurden. Im Rahmen der Reflexion des islamischen Religionsunterrichts durch die islamische Religionspädagogik ist die Fachdidaktik »die Reflexion des Was, Wie, Warum und Wozu religionsunterrichtlicher Vermittlung theologischer und religiöser Erkenntnisse im übergreifenden Erschließungshorizont religionspädagogischer Konzeptionen« (Lachmann 2003, S. 18ff.). Auf diese Weise können die überlieferten Erfahrungen der muslimischen Wissenstradition aus dem heutigen Islam- und Selbstverständnis der im Westen lebenden Menschen muslimischen Glaubens heraus durchdacht werden. Zusammenfassend lässt sich die islamische Religionspädagogik als eine praxisorientierte Wissenschaft mit theoretischem Ansatz charakterisieren, in deren Fokus die gegenwärtige Situation und die Lebenspraxis der Lernenden und Lehrenden stehen. Bei der Reflexion religiöser Themen und der Strukturierung der Lernprozesse bedient sie sich eines hermeneutischen und empirischen Ansatzes, und sie bemüht sich um die Herstellung eines Bezugs zur gegenwärtigen Kultur des westlichen Kontexts. Es wäre falsch und ginge an der Sache vorbei, die Aufgabe der islamischen Religionspädagogik auf die unreflektierte Weitergabe der religiösen Tradition zu reduzieren. Selbstverständlich ist das Thema des islamischen Religionsunterrichts die islamische Religion, die es auf dem Weg der kommunikativen Vermittlung zu reflektieren und religionspädagogisch und didaktisch begleitet und unterstützt zu vertiefen gilt. Dabei liegt das Hauptaugenmerk des islamischen Religionsunterrichts im westlichen Kontext auf den unterschiedlichen Biografien, Bedürfnissen und Lebenseinstellungen der Lernenden. Die Rede von einer islamischen Religionspädagogik im westlichen Kontext rekurriert in erster Linie auf einen Paradigmenwechsel, den die islamische Religionspädagogik durch die hermeneutische Distanzierung von der klassischen islamischen Katechese vollzogen hat und der sie davor bewahrt hat, in Anwendung der Methoden des Koranunterrichts oder des klassischen Islamunterrichts sich selbst infrage stellen zu müssen. Um ein zeitgemäßes Islamverständnis zu

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gewinnen, setzt sie nunmehr nicht nur auf die kontextgebundene religionspädagogische Funktionalisierung theologischer Inhalte, sondern berücksichtigt auch die Lebenswelt der Lernenden – eben im Rahmen eines kommunikativen Handelns (Pannenberg 1977, S. 434ff.) bei der Begleitung der Lernenden auf dem Weg zum mündigen Menschen mit eigener religiöser Identität. Die islamische Religionspädagogik sucht bewusst zu vermeiden, die islamische Theologie um der Sicherung ihrer fachlichen Existenz und ihres Überlebens willen zu instrumentalisieren. Während die Funktion der Theologie darin liegt, den Glauben zu reproduzieren und wiederzubeleben, will die Religionspädagogik ihre Aufgabe erfüllen, indem sie die Lernenden dabei unterstützt, ihre eigene Religion auf der Basis der Reflexion und mit Blick auf religiöse Mündigkeit neu zu entdecken und besser zu verstehen. Daher ist sie bemüht, über den schulischen Religionsunterricht hinaus die Trias Lernende, Lehrende und Eltern in einer aufgeklärten Lernatmosphäre zusammenzubringen, wobei sie bewusst auf die Interaktion zwischen Schule, Familie und Gesellschaft in einer vertrauensvollen Situation setzt – daher auch ihr Interesse an der Institutionalisierung der Schule als pädagogischer und didaktischer Lernort. Die Familie bleibt neben der islamischen Gemeinde der Lernort der Katechese. So möchte der islamische Religionsunterricht über die Schule hinaus einen Beitrag zur Integration der Lernenden in die Gesellschaft leisten und damit das Fundament eines europäischen Islams im Rahmen des Reflexionshorizonts der Bildung legen.

4.

Das korrelative Verhältnis

Die islamische Religionspädagogik kommt nicht ohne die islamische Theologie aus, weil religiöse Bildung und Erziehung die Inhalte der theologischen Themenfelder nicht ignorieren kann; ebenso wenig kann sich die islamische Theologie mit der eigenen Selbsterklärung bzw. Selbstauslegung begnügen. Die erste These scheint die Sichtweise zu bekräftigen, wonach es sich bei der islamischen Religionspädagogik um eine »fremddefinierte Anwendungswissenschaft« handelt, deren Aufgabe »der effektive Transport« von letztlich von der islamischen Theologie von vorneherein festgelegten religiösen Themen sei. Ein solches Verständnis »beruht auf einem gravierenden Fehler« (Porzelt 2009, S. 135f.), beraubt es doch die islamische Religionspädagogik ihres wissenschaftlichen und pädagogischen Gehalts und erklärt sie damit zu einem Werkzeug zweiter Klasse, zu einer »Magd der islamischen Theologie«, zu einem »Transportmittel«. Die zweite These bestärkt wiederum die Meinung, dass die islamische Theologie von der islamischen Religionspädagogik abhängig sei, da Letztere theologischen Inhalten religiöser Lernprozesse größere Wucht verleihe. Beide Thesen gründen auf der

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Sichtweise, dass die beiden Fachbereiche im Rahmen der schulischen Bildung alternativ, also offenkundig nicht in produktiver Relation zueinanderstehen. Tatsächlich aber befinden sich die islamische Theologie und die islamische Religionspädagogik in ständiger Wechselbeziehung in Form einer intensiven Korrelation – demnach steht es keiner der beiden Disziplinen zu, die andere zu »bevormunden«. Was die beiden Wissenschaften verbindet, ist das ständige Ineinandergreifen theoretischer und praxisorientierter Denkperspektiven. In der menschlichen Existenz treffen die durch die islamische Theologie und die islamische Religionspädagogik vermittelten islamischen Botschaften zusammen und treten, sich wechselseitig thematisch und methodisch befruchtend, in eine dialogische Kommunikation ein, in der sie sich gegenseitig ergänzen. Dabei spielt die Frage nach dem Primat eines Fachbereichs über den anderen eine denkbar unbedeutende Rolle. Dieser Gedanke kann auch anders formuliert werden. Die islamische Religionspädagogik bewegt sich innerhalb der verschiedenen Themen der islamischen Theologie als eine wissenschaftliche Reflexion über den Islam und den Glauben, mit Bezug auf die Rezipient*innen als unterschiedliche Subjekte in ihren religiösen Lern-, Bildungs- und interaktiven Kommunikationsprozessen. Vermittels ihres hermeneutischen und handlungsorientierten Ansatzes befreit die islamische Religionspädagogik die islamische Theologie von ihrer spekulativen Konzeption, indem sie ihr Verstehenszugänge zum religiösen Glauben und Möglichkeiten seiner Erschließung anbietet. Durch die Vermittlung religiöser Inhalte auf zeitgemäße Weise verleiht die islamische Religionspädagogik der islamischen Theologie eine existenzielle Konzeption, weil sie mit ihren pädagogischen und didaktischen Kompetenzen die Interessen der Lernenden und das Anliegen des islamischen Glaubens vertritt. Auf Grundlage einer kommunikativ-handelnden Korrelation beweisen beide Wissenschaften ihre Wirkung und Wirksamkeit im Rahmen eines Reflexionsansatzes, der in einen konstruktiven Dialog mündet. Dabei handelt es sich erstens um ein konstruktives Gespräch zwischen der islamischen Religionspädagogik mit den kanonischen Quellen des Islams und deren historischer Rezeption durch die islamische Theologie. Zweitens ist es ein Dialog zwischen den Lernenden und Lehrenden – die religiöse Neugier –, der dazu angetan ist, interaktive Antworten zu geben. Auch die islamische Theologie kann von den theoretischen und praxisorientierten Vermittlungsansätzen der islamischen Religionspädagogik profitieren – insofern, als diese es ihr erlauben, ihre religiösen Inhalte aus dem Blickwinkel einer anderen wissenschaftlichen Disziplin zu entwickeln. Einer verbreiteten Sichtweise zufolge ist die islamische Religiosität ein integraler Bestandteil des persönlichen Selbstverständnisses von Kindern und Jugendlichen. Diese Annahme beruft sich möglicherweise auf den Umstand, dass die Kinder in der Familie und in den Gemeinden in ihrer Religion sozialisiert

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werden und dass sie auch gute Kenntnisse über die eigene Religion besitzen. Wie jedoch die Beobachtung zeigt, verfügt ein Großteil der muslimischen Lernenden – ob in der Schule oder an der Hochschule – höchstens über Grundkenntnisse, sodass man in diesem Zusammenhang eher von einer religiösen Sprachlosigkeit im Sinne eines »religiösen Analphabetismus« sprechen muss. Auch der evangelische Religionspädagoge Johannes Lähnemann stellt in seiner empirischen Untersuchung einer Klasse im vierten Schuljahr fest, dass die Religion sowohl für muslimische als auch für evangelische Kinder im alltäglichen Familienleben eine »nebengeordnete Rolle« spielt (Lähnemann 1998, S. 50f.). Dass der Großteil der Eltern im Monat Ramadan fastet oder die islamischen Festtage feiert, sei kein Beweis dafür, dass sie ihr Leben nach religiösen Vorschriften ausrichten. Unter der Korrelation zwischen islamischer Religionspädagogik und islamischer Theologie verstehe ich vor allem die reflektierte und sachliche Verbundenheit der beiden wissenschaftlichen Disziplinen zu einer Ganzheit, die den islamischen Religionsunterricht von »sterilen« Bestimmungen, etwa der eines Boten theologischer Inhalte, nachhaltig befreit, da bei der Vermittlung der Glaubensinhalte der religionspädagogische und didaktische Aspekt eine zentrale Rolle spielt. Damit dient der islamische Religionsunterricht nicht der bloßen Information über Glaubensinhalte, sondern bezieht auch die vielfältigen Persönlichkeiten der Lernenden in ihren jeweiligen Verhältnissen ein. Dabei vernachlässigt er die religiöse Sozialisation der Kinder ebenso wenig wie deren Individuation. Auf diese Weise hält in den islamischen Religionsunterricht ein breites Spektrum psychologischer und soziologischer Elemente Einzug. Auch wenn ihre Themen natürlich theologisch konzipiert sind, ist die islamische Religionspädagogik weder Lieferantin religiöser Fertigprodukte noch »heimatlose Vagabundin«, die zwischen der Welt der Theologie und der der Pädagogik bummelt (Lämmermann 1998, S. 81). Ihr Gegenstand ist die komplexe Vermittlungssituation zwischen Lernenden und Lehrenden in ihren unterschiedlichen Lebenskontexten. Sie holt religiöse Inhalte von der theoretischen Ebene, indem sie diese religionspädagogisch und didaktisch in der Praxis umsetzt. Mit anderen Worten: Genau wie die Religionspädagogik anderer monotheistischer Religionen versteht sich die islamische Religionspädagogik nicht als eine einfache Anwendungswissenschaft für theologische oder andere Wissenschaften, denn sie ist selbst eine Wissenschaft mit eigenen theoretischen und praxisorientierten Erkenntnissen. Mittels ihrer genuin religionspädagogischdidaktischen Methode macht sie sich Erkenntnisse anderer Wissenschaften zu eigen, die ihrer inhaltlichen und methodischen Bereicherung dienen. Und dies bedeutet nicht, dass die islamische Religionspädagogik ein wissenschaftliches Identitätsdefizit hat, schließlich sind die von ihr vermittelten Erkenntnisse wichtig für die schulische Bildung, wovon andere Wissenschaften ebenfalls profitieren können.

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Wofür ich daher plädiere, ist eine islamische Religionspädagogik, die dem gegenwärtigen westlichen Kontext Rechnung trägt; die antritt, die existenziale Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes zu fördern und seine durch Schwarze Pädagogik und eine Pädagogik der Unterwerfung unterdrückte schöpferische Kraft zu wecken und zu beleben. Dazu muss sie den historischen Kontext der Glaubensinhalte und den gesellschaftlichen Kontext, in dem die Kinder sozialisiert werden, akzentuieren, denn die beiden Bereiche verhalten sich komplementär zueinander. Und beide Wissenschaften – die erfahrungsorientierte islamische Theologie und die islamische Religionspädagogik – müssen sich aufeinander beziehen und miteinander kritisch und diskursiv umgehen. Theologische Inhalte, die selbstredend in einem anderen historischen Kontext entstanden sind, und ihr historischer Entwicklungsprozess können trotz der zentralen Bedeutung des Hier und Jetzt für die Lernenden durchaus bei der Erläuterung ihres Selbst- und Weltverständnisses helfen. Schließlich besteht das Ziel der religiösen Bildung darin, den Lernenden durch differenzierte diskursive Reflexion zu Selbstbestimmung und Mündigkeit zu verhelfen, auch wenn der islamische Religionsunterricht in erster Linie der religiösen und kulturellen Sozialisation dient. Die islamische Religionspädagogik ist primär auf die Theologie als eine selbständige Fachwissenschaft verwiesen, genauso wie sie in Bezug auf ihre pädagogisch-didaktischen Anteile die Erkenntnisse der Erziehungswissenschaft braucht. Dies könnte nahelegen, dass der Blick auf die Theologie als Bezugswissenschaft die islamische Religionspädagogik zu einer einseitigen Stofforientierung verleitet. Freilich ist die islamische Theologie als wissenschaftliche Verantwortung des Glaubens nicht die einzige Form der Glaubensreflexion. Im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht werden die Glaubensinhalte auch von den Lehrenden vor dem und im Unterricht selbst reflektiert – im Bemühen, unter Bezugnahme auf die Biografien der Lernenden Zugänge zur Frage nach Gott, nach dem Propheten Muhammad sowie dem Inhalt des Korans und der ˙ Sunna zu eröffnen. Ein solches Herangehen könnte bei einem Vertreter der islamischen Theologie, der sich vielleicht zum ersten Mal dieser Praxis befleißigt und ihre Forschungs- und Lehrinhalte mit den Augen des Religionsdidaktikers betrachtet, durchaus einen »Aha-Effekt« auslösen. Die Korrelation zwischen islamischer Theologie und Religionspädagogik bedeutet, Deutungskontexte zu kommunizieren, um sie gegebenenfalls kritisieren und sich in einem weiteren Schritt neu aneignen zu können, mit anderen Worten, eine Hermeneutik der Quellentraditionen in eine Hermeneutik der historischen Situation (im Sinne lebensweltlicher Bedingtheit) einzubinden. Dabei darf sich die islamische Religionspädagogik nicht mit der Rolle einer didaktischen oder methodischen Anwendungsdisziplin zufrieden geben, sondern muss stets die Situation des sich lebenslang verändernden Glaubenden im Blick behalten.

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Zur Korrelation gehört die Vermittlung theologischer sowie religionspädagogischer und didaktischer Inhalte gemäß der jeweiligen Situation im westlichen Kontext. Daher ist die Schule anders als die muslimischen Familien und Gemeinden ein elementarer, zentraler Ort, an dem die islamische Theologie mit der islamischen Religionspädagogik bestens korreliert. Denn der islamische Religionsunterricht ermöglicht allen muslimischen Lernenden, ungeachtet ihrer religiösen Verwurzelung, die fundierte Auseinandersetzung mit theologischen Fragen anhand didaktischer Lern- und Lehrmethoden. Indem in der Schule die islamische Theologie in einen Dialog mit der islamischen Religionspädagogik auf Basis des praxisorientierten Lernens und Lehrens tritt, eröffnet sie den Lernenden die Möglichkeit, sich mit der eigenen Religion und mit der theologischen Tradition reflektierend auseinanderzusetzen. So aktiviert die Korrelation zwischen den beiden Fachbereichen das interaktive, wirkmächtige Verhältnis zwischen der islamischen Tradition und der situativen und gegenwärtigen Lebenswirklichkeit der Lernenden. Und da sowohl die Lehrenden als auch die Lernenden im schulischen Alltag mit Nichtmuslim*innen konfrontiert sind, kann der korrelative Religionsunterricht darüber hinaus einen erheblichen Beitrag zur reflektierenden Beschäftigung mit der eigenen Religion und mit der Religion der anderen leisten. In diesem Spannungsfeld sollte sich der islamische Religionsunterricht davor hüten, überwiegend als Handlungsanweisung für die Lernenden auf Grundlage der islamischen Theologie zu fungieren. Dadurch verlöre er den Blick auf die Verfasstheit der gegenwärtigen Gesellschaft und würde so der Realität der Lernenden im Westen nicht gerecht. Dabei ist das korrelative Denken der islamischen Religionspädagogik ja durchaus imstande, die islamische Tradition von der Last des Historischen zu befreien und ihr den Weg zur zeitgemäßen Interpretation der islamischen Quellen und der theologischen Tradition zu ebnen, die nicht nur die korrelative Interpretation, sondern auch ihre religionspädagogischdidaktische Vermittlung verlangen und provozieren. Kurzum: Islamische Theologie und islamische Religionspädagogik sind korrelierende Fachbereiche, die sich nicht voneinander trennen lassen. Beide Bereiche erkennen die Lernenden als autonome Subjekte an, die es bei der reflektierenden Entdeckung ihrer religiösen Identität in einem westlichen Kontext zu unterstützen gilt. Die Korrelation zwischen religionspädagogischer Reflexion und Vermittlung theologischer Inhalte erlaubt es also, die Realität der Lernenden und Lehrenden im westlichen schulischen Kontext fundiert zu analysieren und die bis heute durch Interpretation gewonnenen Glaubensinhalte der islamischen Lehre anhand der Erschließung der Wirklichkeit der Gegenwart hermeneutisch zu vermitteln. So ermöglicht es die Korrelation zwischen der islamischen Theologie und Religionspädagogik, den faktisch gelebten Glauben von Kindern und Jugendlichen zu verstehen und sie vor unreflektierter Nachahmung zu bewahren.

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Ranja Ebrahim

Der Koran im islamischen Religionsunterricht

Zusammenfassung Der Koran ist die Primärquelle des Islams und stellt damit den unverzichtbaren Kompass für die inhaltliche Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts in Österreich dar. Der Bildungsauftrag einer öffentlichen Schule in Österreich zielt darauf ab, junge Erwachsene bei ihrer Heranbildung zu kritischen und kritikfähigen Bürger*innen zu begleiten. Diese Wertehaltung stellt damit die entscheidenden Weichen für Methoden und Ziele religiöser Bildung, die im Rahmen öffentlicher Schulen stattfinden soll. Dadurch ist die islamische Religionspädagogik gefordert, ein für Schüler*innen attraktives Bildungskonzept zu entwerfen, in welchem sie sich sowohl als Österreicher*innen als auch als Muslim*innen verstanden, gefördert und gefordert fühlen. Eine zentrale Baustelle des islamischen Religionsunterrichts ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit dem Koran, der vor allem sprachlich, historisch und kulturell eine beachtliche Hürde für eine sinnstiftende Anknüpfung zwischen den aus dem Text zu vermittelnden Werten und der eigenen Erfahrungswelt darstellt, weshalb es kontextorientierter Entwürfe bedarf, um den gestellten Ansprüchen gerecht zu werden. Der Beitrag bietet daher einen Einblick in die Ergebnisse der Schulbuchanalyse aus meiner Dissertationsschrift, in welcher die Positionierung des Korans gegenüber den Rezipient*innen (also den Schüler*innen) unter dem Aspekt der von den Herausgeber*innen proklamierten Kompetenzorientierung untersucht und die korrelierenden Herausforderungen und Besonderheiten des Korans im Konnex der islamischen Religionspädagogik zentralisiert werden.

1.

Einleitung

Der Koran nimmt im islamischen Religionsunterricht eine zentrale Position ein. Diese Positionierung der Primärquelle des Islams schlägt sich einerseits in den allgemeinen Bildungszielen (Bundeskanzleramt 2019b) und andererseits in den

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Lehrbüchern (Ausweger et al. 2016)1 des islamischen Religionsunterrichts in Österreichs nieder. Diese Positionierung verdankt sich zum einen der Botschaft der selbstreflexiven Passagen des koranischen Textes, auf die alle »Gottesbewussten«, die den Koran als das rechtleitende Wort Gottes (kala¯m Alla¯h) auffassen, verpflichtet werden: »Diese göttliche Schrift – keinen Zweifel soll es darüber geben – ist (dazu bestimmt), eine Rechtleitung für alle Gottesbewussten (zu sein), die an (die Existenz dessen) glauben, was jenseits der Reichweite der menschlichen Wahrnehmung ist […]« (Asad 2011, S. 28).2 Diese Anrede verweist auf ein »Abkommen« zwischen den Adressat*innen und den Rezipient*innen der Offenbarung, dem die Initiative »Gott sprach« und, als Reaktion darauf, deren Annahme – tasdı¯q – vorangehen (vgl. Izutsu 1962). Kraft dieser auf Kommunikation ba˙ sierenden, interdependenten Beziehung zwischen Gott und Gläubigen gelangt der Offenbarungsbegriff im Kontext des Islams zu einer spezifischen Form der Realisierung, die sich im textus receptus vielschichtig und auf komplexe Art und Weise abbildet und die textuelle Charakteristik des Korans konstituiert (vgl. Ebrahim 2018, S. 78–90). Zum anderen schöpft die prominente Positionierung des Korans im islamischen Religionsunterricht ihre Rechtfertigung aus der »koranischen Doktrin des Wissens« (Daud 1989, S. 63). Dieser Doktrin liegt die Prämisse zugrunde, dass in der Verbindung zwischen Spiritualität und Wissen die Gewähr für ein glückseliges und konstruktives Leben sowohl im Diesseits als auch, in weiterer Folge, im Jenseits liegt. Diese Auffassung findet ihre Bekräftigung beispielsweise in der semantischen Vernetzung der miteinander in Beziehung stehenden koranischen Termini »Glaube« (ı¯ma¯n), »Licht« (nu¯r) und »Rechtleitung« (huda¯) unter dem verbindenden Begriff »Wissen« im Koran. Dabei tritt »Licht« häufig als Metapher für Wissen und »Dunkelheit« (zuluma¯t) als Antonym von Wissen auf (vgl. ebd., ˙ S. 68). Darüber hinaus lassen sich anhand der semantischen Analysen nach Izutsu (1962) semantische Verbindungen zwischen dem koranischen Neologismus »Zeichen« (a¯ya, Pl. a¯ya¯t) und Begriffen, die einen Bezug zu Prozessen der Wissensgenerierung aufweisen, wie etwa ʿaqala (erfassen), fahima (verstehen) oder tafakkara (kontemplieren), ausmachen. Diese Verbindungen vermitteln die koranische Weltanschauung einer in und durchʿaql (Vernunft) generierten und 1 Das o¨ sterreichische Lehrwerk fu¨ r den islamischen Religionsunterricht Islamstunde (Ausweger et al. 2016) ist eine siebenba¨ndige Lehrbuchreihe fu¨ r die Primarstufe und die Sekundarstufe I. Die Bu¨ cher wurden nach dem Lehrplan der IRPA (Lehramt fu¨ r Islamische Religion an Pflichtschulen in Wien) erstellt und vom Obersten Rat der Islamischen Glaubensgemeinschaft in O¨ sterreich genehmigt. Fu¨ r die Sekundarstufe II sowie fu¨ r die 4. Klasse Sekundarstufe I liegen zurzeit keine gesonderten Bände vor. 2 Alle im Text zitierten koranischen Passagen stammen aus der Übersetzung Muhammad Asads (Asad 2011).

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in dieser Form auch aufrecht zu erhaltenden Gott-Mensch-Beziehung. Damit wird die Kompetenz der im islamischen Religionsunterricht zu fördernden theologischen Reflexions- und Deutungsfähigkeit im Sinne eines selbstbewussten und mündigen Glaubens zur gottesdienstlichen Handlung erhoben. Dergestalt bildet der Koran im islamischen Religionsunterricht nicht nur die Grundlage der rituellen Dimension religiöser Bildung, sondern auch den Dreh- und Angelpunkt theologischer Sprach- und Argumentationsfähigkeit.

2.

Die Verortung des Korans im islamischen Religionsunterricht

Die erwähnte zentrale Positionierung des Korans in der religiösen Lehre ist in den »Allgemeinen didaktischen Grundsätzen des islamischen Religionsunterrichtes« (Bundeskanzleramt 2019b) verankert, die auch die Haltung und die Ausrichtung des islamischen Religionsunterrichts unter Anwendung der islamischen Quellen festlegen: »Der Unterricht ist ein konfessioneller Unterricht, dessen Inhalte authentisch aus den islamischen Quellen heraus begründet und auf Österreich und die österreichische Gesellschaft als Ort und das 21. Jahrhundert als Zeit bezogen werden« (ebd.). Der konfessionelle Unterricht an öffentlichen Schuleinrichtungen hat überdies dem Bildungsauftrag gemäß § 2 (1) des Schulorganisationsgesetzes i. V. m. Art. 14 (2) 5 B-VG Bundeskanzleramt 2019a) nachzukommen. Dementsprechend ist zu gewährleisten, dass »die jungen Menschen […] zu gesunden, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet« werden, indem sie »zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sowie [dahingehend] befähigt werden« (Bundeskanzleramt o. J.; vgl. Ebrahim 2018, S. 1). Vor diesem Hintergrund tut sich jener Spagat auf, welcher sowohl von der islamischen Theologie als auch von der islamischen Religionspädagogik zu leisten ist und der die beiden relativ jungen Wissenschaftsdisziplinen in der europäischen Hochschullandschaft vor neuartige Herausforderungen stellt: Um ihr Potenzial in Sachen Anknüpfungs- und Zukunftsfähigkeit entfalten zu können, kommt die Religionspädagogik nicht um die Erarbeitung einer integrierten Position, die sowohl die Quellen des Islams als auch die Ausrichtung einer öffentlichen säkularen Bildungseinrichtung konstruktiv vereint, umhin – denn »ohne pädagogische Reflexionen über die Schaffung kompetenzorientierter Grundlagen könnten rasch gegenteilige Ziele angesteuert werden, die ›nicht nur eine theologische Verengung‹ hervorbringen, sondern auch ›zu Indoktrination und folglich zu Unmündigkeit‹ führen« (vgl. Ebrahim 2018, S. 2; Sejdini 2016,

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S. 29). Diese Voraussetzungen redefinieren die Priorisierung und Zentralisierung von Schüler*innen als Ausgangspunkte von Lehre und damit maßgeblich die bildungstheoretischen Fragestellungen und Ansätze. Die Redefinition religiöser Bildung im islamischen Kontext kann in der Tat als Paradigmenwechsel erachtet werden, da dadurch ein neuartiges Feld zwischen der noch »klerikal belasteten islamischen Theologie und einem an den Lernenden ausgerichteten Bildungsangebot im säkularen Schulsystem« (Ebrahim 2018, S. 3) eröffnet und betreten wird. Die auseinanderklaffenden Sichtweisen auf die Verortung der Schüler*innen im Lernprozess und den zu berücksichtigenden Bildungsauftrag der öffentlichen Schule in Österreich forcieren die Entwicklung entsprechend ausgerichteter Unterrichtsmodelle und Ansätze als eine unumgängliche Aufgabe der islamischen Religionspädagogik und Theologie, die diese zu bewältigen haben, um in »qualitativer Hinsicht die gleichen didaktischen und methodischen Standards vorzuweisen […] wie die bereits etablierten Fächer der Stundentafel« (Kiefer 2009, S. 19). Die Diskrepanz zwischen klassischem Zugang und modernen pädagogischen Ansätzen kann aber nur dann konstruktiv bewältigt und fruchtbar gemacht werden, wenn der islamischen Theologie und Religionspädagogik »die Vergegenwärtigung und Aktualisierung des klassischen Wissens und geistigen Erbes des Islams« (Takim 2017, S. 116) gelingt. Das bedeutet also, dass Quellen und Traditionen, ehe sie Eingang in die Lebenswelten finden, einer um Anachronismen bereinigten Reinterpretation zu unterziehen sind. Dies ist unabdingbar, um islamisch-theologische sowie islamisch-religionspädagogische Diskurse mit den Herausforderungen, Fragestellungen und Sorgen von Muslim*innen im Kontext »Österreich« und damit mit existenziellen Belangen in Beziehung zu bringen. Diese Querverbindungen wirken dem Parallellaufen von islamisch-theologischen Debatten entgegen, in denen Theologie als eine Wissenschaft der elitären Gelehrsamkeit ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit ihrer Glaubenscommunity auftritt. Die Gefahr eines zu weiten Auseinanderklaffens zwischen Muslim*innen und dem verwissenschaftlichten Zugang zum Koran zulasten der individuellen Ich-Koran-Beziehung wird bereits von klassischen Korangelehrten wie etwa al-Wa¯hidı¯ (gest. 1076) in der Einleitung seines Werks ˙ Kita¯b asba¯b an-nuzu¯l erkannt und angesprochen. In seiner Sammlung von Offenbarungsanlässen plädierte der Gelehrte dafür, »Anfängern« (al-Wa¯hidı¯ 2008, ˙ S. 10) einen simplifizierten Zugang zum Koran zu ermöglichen – mit dem Ziel, über den Kontext und historischen Zusammenhang des Korans Verständnis für dessen Inhalte zu wecken. Al-Wa¯hidı¯ vermittelt also ein Bewusstsein für die ˙ Notwendigkeit einer »Öffnung« der koranischen Wissenschaften zwecks Bildung der interessierten Allgemeinheit (der »Anfänger«). An dieser Stelle ist festzuhalten, dass der Anspruch des Korans, »eine Rechtleitung fu¨ r alle Gottesbewussten« (Koran 2:2) zu sein, durch die künstlich etablierte Barriere der koranischen Wissenschaften in eine scheinbar unüberwindbare »Hemmschwelle für

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alle Gottesbewussten« umformuliert wurde – ein Umstand, der bis in die Gegenwart im toten Winkel der islamischen Religionspädagogik und Theologie für Konflikte und Spannungen sorgt. Obwohl der koranische Text – sowohl theoretisch in den Lehrplänen des islamischen Religionsunterrichts in Österreich als auch praktisch in den Lehrbüchern – eine zentrale Rolle einnimmt, bleibt die Ausarbeitung von konkret anwendungsfähigen Modellen und Ansätzen für eine kompetenzorientierte Koranlehre im deutschsprachigen Raum ein genuines Desiderat (vgl. Ebrahim 2018). Dabei hat die Konkretisierung pädagogischer und fachdidaktischer Ansätze unter Berücksichtigung der islamischen Traditionen und der zugrunde liegenden Quellen in fruchtbarer Wechselwirkung mit dem Kontext und den darin agierenden Akteur*innen Innovationspotenzial auf zwei miteinander einhergehenden Ebenen. Einerseits erlaubt die Schließung dieser Forschungslücke die Etablierung eines eigenständigen Profils der islamischen Religionspädagogik und in weiterer Folge des islamischen Religionsunterrichts. Gleichzeitig eröffnet das neu zu erforschende Spannungsfeld zwischen islamischer Tradition und modernen schulpädagogischen Ansprüchen und Kontexten neue Denk- und Entfaltungshorizonte sowohl für Lernende als auch für Lehrende (vgl. ebd., S. 207). Darüber hinaus gilt die kritische Reflexion und Operationalisierung theologischer Termini mit Blick sowohl auf den zu rezipierenden Kontext als auch die prägenden ideengeschichtlichen Faktoren als eine weitere unumgängliche Aufgabe für die Erarbeitung eines »authentischen« Profils, welches sich auf »Österreich […] als Ort und das 21. Jahrhundert als Zeit« (Bundeskanzleramt 2019b) beziehen will. Begriffe wie beispielsweise »Offenbarung« haben in vielen religiösen Traditionen ihre Verwurzelungen, werden aber auf jeweils eigene Art gedeutet und verstanden. Daher ist es bei der Erarbeitung kontextsensibler Unterrichtsmaterialien, die den genannten Lern- und Bildungszielen zuarbeiten sollen, unabdingbar, die Komplexität der im Koran aufeinandertreffenden Dimensionen von Offenbarung zu berücksichtigen, um der Ansteuerung von einer zeitgemäßen religiösen Bildung zuwiderlaufenden Zielen vorzubeugen. Da dieser Beitrag nun den Koran im Religionsunterricht zum Gegenstand hat, gilt es, sich der Frage nach dem Offenbarungsverständnis aus islamischer Perspektive anzunähern. Bereits in der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass der Umgang mit dem Koran im Sinne eines klassischen Texts, ohne Berücksichtigung seiner textuellen Spezifika, die wiederum von seinem Selbstverständnis als »Offenbarung« herrühren, als contradictio in terminis zu erachten ist, da die essenziellen Grundzüge eines Texts, wie etwa Kohärenz und Kohäsion, aufgrund des Entstehungsprozesses des Korans nicht gegeben sein können. Der folgende Abschnitt befasst sich daher mit dem Offenbarungsbegriff und den Spezifika aus islamischer Perspektive. Im Anschluss wird ein Einblick in die Ergebnisse der textpragmatischen Analyse (Ebrahim 2018) und die damit ein-

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Ranja Ebrahim

hergehenden Herausforderungen für die religiöse Lehre und die Lehrbücher gegeben.

3.

Reflexionen zum Offenbarungsbegriff aus islamischer Perspektive

Die Offenbarung konstituiert das Epizentrum der Theologie aller Buchreligionen, wobei den gemeinsamen Nenner die »initiale Tatsache, dass Gott sich den Menschen gegenüber offenbart« (Izutsu 1962, S. 122) bildet. Dass sich diese Initiation aber unterscheidet, mag unter anderem in der Realisierung der revelatio begründet sein, also darin, wie Gott den Menschen von sich selbst in Kenntnis setzt. Die unterschiedlichen Wege der Selbstoffenbarung Gottes den Menschen gegenüber spiegeln sich damit zeitgleich in den divergierenden Auffassungen und Konzepten von »Offenbarung«. Seyyed Hossein Nasr (2007) spricht in diesem Zusammenhang von der »scientia sacra« als dem verbindenden Herzstück aller göttlichen Offenbarungen, abseits ihrer diversen Realisierungen auf der Ebene der Immanenz. Nasr Hamed Abu Zayed (2014) unterscheidet dahingehend einerseits den göttlichen, unzugänglichen Text (nass ila¯hı¯) auf der ˙˙ Ebene der Transzendenz von dessen Umwandlung zum menschlichen Text (nass ˙˙ insa¯nı¯) auf immanenter Ebene. Offenbarung kann also als die kommunikative Hinwendung Gottes zur Menschheit definiert werden, deren Übertragung auf unterschiedliche Art und Weise erfolgt und dadurch ein je eigenes Verständnis von Offenbarung prägt. Im Kontext des Islams gilt Gott aber als rational nicht erfassbar, als »das schlechthin Verborgene« (Karimi 2015, S. 173). Vor diesem Hintergrund muss der Begriff »Offenbarung« im Sinne von revelatio als irreführend erachtet werden, da die Selbstoffenbarung im Kontext des Islams ein sprachliches Phänomen ist, begründet in der Initiative »Gott sprach« – und das auf Arabisch (vgl. Izutsu 1962). Die mediale »Realisierung« der Rede Gottes ist den Menschen heute durch den Koran in ihrem schriftlichen Modus (mushaf) erhalten geblieben. Dabei ˙˙ rekurriert der Modusbegriff auf die duale Charakteristik der koranischen Offenbarung, welche sich aus islamischer Perspektive von den Schriften der Juden und Christen grundlegend dahingehend unterscheidet, dass diese im Ganzen (g˘umlatan) offenbart wurden. Demgegenüber ereignete sich die Offenbarung des Korans in sukzessiver Form über einen Zeitraum von etwa 23 Jahren. Dieser duale Charakter der koranischen Offenbarung schlägt sich einerseits in ihrer mündlich-diskursiven und andererseits in ihrer geschlossenen, kompilatorischen Modalität nieder.

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Der mündlich-diskursive Aspekt der Offenbarung geht mit der Modalität der Sukzessivität einher. Dieser Aspekt des Korans gilt als lebendiger und integraler Teil der Lebenswelten des Offenbarungsempfängers Muhammad und all jener ˙ Personen, die mit diesem in direktem Kontakt standen. Jene Anteile der koranischen Offenbarung, die einen direkten Bezug zu gesellschaftspolitisch relevanten Geschehnissen rund um Muhammad aufweisen, gelten als »koranischer ˙ Diskurs« (Arkoun 1999). Dieser umfasst jenen Zeitraum, in dem sich der Koran durch lebensweltliche Anstöße und Anregungen in Form von Fragestellungen, Konflikten, (Er-)Klärungen sowohl auf der sozialen als auch auf der spirituellen Beziehungsebene diskursiv, das heißt in reziproker Form zwischen dem Offenbarungsempfänger Muhammad und den mit ihm in Beziehung tretenden Per˙ sonen, entwickelt hat. Dazu ist anzumerken, dass das In-Beziehung-Treten nicht nur im gemeinschaftlichen Sinn gemeint ist, sondern ebenso für all jene Situationen und Akteur*innen gilt, die »von außen« auf die Gemeinde der Muslim*innen einwirkten. Überlieferungen, die Einblicke in diese Diskurse geben, werden unter dem Genre der Offenbarungsanlässe (asba¯b an-nuzu¯l) subsumiert. Der schriftliche Modus der koranischen Offenbarung bezieht sich hingegen auf die Kompilation des diskursiven Korans zu einem geschlossenen Text. Der Diskurs, der sich in erster Linie durch die integrale Beziehung zwischen Offenbarung und Lebenswelten auszeichnet, wird zu einer »exklusiv linguistischen Natur« (Izutsu 1962, S. 123) und damit zu einem interpretierbaren Sprachwerk.

3.1

Der duale Charakter des koranischen textus receptus: Besonderheit und Herausforderungen

Beide Modi, sowohl die mündlich-diskursive als auch die schriftliche Dimension von Offenbarung, verbindet die gemeinsame Schnittmenge der Sprachlichkeit, welche Sprache zum »Hauptproblem des islamischen Denkens« (Izutsu 1962, S. 124) erhebt. Dies bedeutet, dass hier zwei Ebenen, die im funktionalpragmatischen Sinn zwei differente Formen darstellen, gemeinsam mit den jeweiligen Merkmalen zu einem geschlossenen Medium zusammengeführt werden. Der Diskurs beschreibt eine Sprechsituation des hic et nunc, das heißt eine, in der die Akteur*innen zur gleichen Zeit anwesend sind. Diese Situation erlaubt, im Gegensatz zum textus receptus, die Verwendung »expeditiver Prozeduren« (Risse et al. 2013, S. 398) wie etwa »Interjektion, Vokativ und Imperativ« (ebd.) sowie auch weiterer Bedeutung transportierender Aspekte wie der nonverbalen Kommunikation sowie Expression und Vermittlung von Emotionen. Der Text wiederum beschreibt eine Situation, in der Verfasser*in und Adressat*in »nicht in derselben Situation sprachlich handeln« (ebd.), weshalb die

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Selektion der sprachlichen Mittel mit Blick auf eine möglichst intentionsgetreue Vermittlung des Inhalts erfolgen sollte. Im Fall des koranischen Texts kam es zur Vermengung dieser beiden Formen – der Hic-et-nunc-Situation und des geschlossenen unveränderbaren Texts –, aufgrund derer die genannten expeditiven Prozeduren aus der Diskurssituation, die als entscheidender Verständnisträger fungiert, nicht abgebildet oder zumindest nicht auf diese Weise transportiert und vermittelt werden können, um eine vollständige Rekonstruktion der Diskurssituation zu gewährleisten. Folglich realisiert sich die Fusion von Diskurs und Text im Koran durch die Einflechtung der entsprechenden Sprechakte innerhalb des koranischen Texts. Charakteristisch für diese hybride Form sind die textinhärenten polyphonen Ebenen, die auf die diskursive Offenbarungsphase verweisen (vgl. Ebrahim 2018, S. 105ff.). Stefan Wild (2006) spricht daher vom Koran als »Dokument der indirekten Rede […], von der ersten bis zu letzten sura« (ebd., S. 6). Diese Verschränkung von Diskurs und Text aber erschwert die Kontextualisierung von Passagen im Hinblick auf die Frage »Wer spricht und wer hört zu?« (Abu Zaid 2008, S. 173). In der Tat gäbe die spezielle Textualität des Korans ohne Kontextualisierung durch Hilfsliteratur, wie etwa die Offenbarungsanlässe, die Kommentarliteratur oder die Hadithe, im Prozess der Erschließung von oftmals sehr stark abstrahierten Ge- und Verboten im Koran (vgl. al-Wa¯hidı¯ 2008; as-Suyu¯ t¯ı 2002; Ebrahim 2018) so manches Rätsel ˙ ˙ auf. Daher können die diskursiven Teile des Korans, das heißt die Hic-et-nuncSituation zwischen Offenbarungsempfänger und den Menschen, als »Hypotext« zum koranischen »Hypertext, der die Funktion einer Hintergrundfolie zwecks Sinnstiftung einnimmt« bezeichnet werden (Ebrahim 2018, S. 123). Dies trifft zumindest auf jene Passagen zu, die als Reaktion auf Fragestellungen oder Probleme aus der Community und damit durch die Initiative des Menschen offenbart wurden, wodurch Letzterer konstruktiv am Wachsen der koranischen Offenbarung beteiligt war. Izutsu (1962) löst diese scheinbare Spannung zwischen dem Koran als physischem Buch und dem nicht analysierbaren Aspekt der koranischen Offenbarung unter Anwendung der Terminologie Ferdinand de Saussures. Er betrachtet dieses »Problem« als ein rein linguistisches und unterscheidet dabei zwei miteinander einhergehende Aspekte von Offenbarung. Der eine Aspekt betrifft die Rede Gottes (»speech«/kala¯m), der andere betrifft den kulturabhängigen Aspekt der Sprache (»language«/lisa¯n). In Anlehnung an die Saussure’sche Terminologie kann kala¯m mit »parole« und lisa¯n mit »langue« gleichgesetzt werden: »Parole« bezeichnet jene sprachliche Ebene, auf der die individuelle Performanz stattfindet. Dieser Ebene weist Izutsu die individuelle Rede Gottes zu, die er mit Offenbarung im Sinne des inspirativen Offenbarungsmodus (wahy) gleichsetzt. ˙ »Langue« hingegen soll sich auf jenen Aspekt von Offenbarung beziehen, der in ein System von verbalen Zeichen eingeordnet werden kann. Entscheidend dabei

Der Koran im islamischen Religionsunterricht

511

ist die Ausgangslage, dass »langue« – im Kontrast zu »parole« – von Individuen einer Community verstanden und anerkannt wird. Im konkreten Sinn bezieht sich diese Ebene auf den »Transfer« der göttlichen Rede (wahy) in ein System, das ˙ für die Adressat*innen »in der klaren (arabischen) Sprache« (Koran 26:195) verständlich ist. Izutsus Betrachtungsweise wird im Koran durch folgende Aussage untermauert: »Wir haben es als einen arabischen Koran hinabgesandt, auf daß ihr begreifen möget« (12:2). Für »Klarheit« sorgen sollte einerseits der gewählte, von der zu adressierenden Community geteilte Code und andererseits Muhammad als der Offenbarungsempfänger und die Verkörperung der kora˙ nischen Lehren. Wie aber die initiierenden Schritte in Richtung einer ersten Methodologie zur Auslegung des Korans durch die saha¯ba sowie die auf diese ˙ ˙ rekurrierenden ersten vier prägenden Exegese-Schulen zeigen, ist Klarheit relativ und mit dem Wirken und Erläutern des Offenbarungsempfängers verknüpft. Die Schwierigkeiten mit dem Koran als einer geschlossenen Form sind also keine Problematik der Moderne, vielmehr leitete das grundsätzliche Bewusstsein davon den Diskurs der Koranwissenschaften an. Weitere Herausforderungen, die mit den Auswirkungen dieser speziellen Form der Intertextualität verknüpft sind, betreffen die Kohärenz, die Kohäsion und die Chronologie des Korans – dies infolge der Einflechtung von »spontanen« Diskursen in größere zusammenhängende Textteile im Koran. Die spezielle Form des Korans lässt die herkömmliche Lektüre eines Texts, die auf inhaltlicher und struktureller Ebene eine sinnstiftende Einheit bildet, nicht zu. Das heißt, dass der Koran nicht als »monologischer textueller Korpus« (Sinai 2010, S. 417) »gelesen« werden kann, da »die Reihenfolge der Suren und Verse im mushaf ˙˙ (Koran als »gebundenes« Buch) weder einem chronologischen noch einem rationalen oder formalen Kriterium« (Arkoun 1999, S. 80) folgen. Der Umgang mit dieser »Unordnung« hat zu einer Vielzahl an Versuchen geführt, chronologische Anordnungen der koranischen Kapitel zu erarbeiten, wobei muslimische Wissenschaftler mehrheitlich von einer historischen Lesart des Korans abgesehen haben. Einige der bekanntesten Versuche einer chronologischen Einordnung aus dem Bereich der Orientalistik stammen von Nöldeke und Schwally (1860) und deren Schüler Gustav Weil (1878), aber auch von Hartwig Hirschfeld (1886), Richard Bell (1937–39) und Régis Blachère (1949–77), die sich, vor dem Hintergrund des Werdegangs des Propheten, an Sprache und Stil der einzuordnenden Passagen orientierten. Nöldeke beispielsweise übernahm die traditionelle Unterscheidung zwischen mekkanischen und medinensischen Suren, wobei er davon ausging, dass Erstere samt den darin enthaltenen Versen kürzer sind als die medinensischen Passagen. Das entscheidende Merkmal seiner Datierung liegt in der Perspektive eines sich graduell entwickelnden Stils, der sich etwa nicht abrupt mit der hig˘ra verändert. Ausgehend von dieser Prämisse führt

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Ranja Ebrahim

Nöldeke in die traditionelle Unterteilung zusätzlich jeweils drei nach Sprachstil geordnete Subkategorien ein. Gabriel Said Reynolds stellt in seinem Artikel Le problème de la chronologie du Coran folgendes Problem bei dieser Vorgehensweise fest: »Die Idee einer solchen Chronologie ist alles andere als eine feststehende Tatsache. Die Versuche von Weil, Nöldeke, Hirschfeld, Bell und Blanchère haben ohne Zweifel gezeigt, dass das Lesen des Korans in chronologischer Ordnung eine Lesung des Korans nach der sı¯ra [Prophetenbiografie; Anm. d. Verf.] ist. Da nun aber die sı¯ra in ihrer Grundlegung von exegetischer Natur ist, führt uns die Idee einer Chronologie in einen Teufelskreis«3 (Reynolds 2011, S. 501). Interessant an dieser Herangehensweise ist jedoch, dass sie, ähnlich wie der Ansatz von al-Wa¯hidı¯, auf der Erkenntnis beruht, dass es sich beim Koran um ˙ eine Komposition handelt, die sich vor dem Hintergrund konkreter Geschehnisse und Sachverhalte aufbaut und für deren Erschließung Hinweise aus dem Kontext zur Decodierung notwendig sind. In der islamischen Wissenschaftstradition wurde dagegen auf bestimmte Textquellen zurückgegriffen, die die Datierung von koranischen Passagen ermöglichen oder zumindest entsprechende Anhaltspunkte liefern. Von der Explizierung einer möglichen Historizität des Korans wurde mehrheitlich abgesehen (vgl. as-Suyu¯ t¯ı 2002). Die für die Datierung notwendige Grundlage bieten ˙ muslimischen Gelehrten »antike Listen« (Robinson 1996, S. 69) wie die des Historikers ʿAbd al-Ka¯fı¯ oder al-Yaʾqu¯bı¯ (neuntes Jahrhundert n. Chr.), die sich auf bekannte Gefährten Muhammads wie etwa Ibn ʿAbba¯s oder dessen Schüler ˙ ʿAta¯ zurückführen lassen. Als Wegweiser bei der zeitlichen Einordnung der ˙ Passagen dient dabei die Unterscheidung zwischen mekkanischen und medinensischen Suren. Über die zeitliche und örtliche Zuordnung der Suren herrscht breiter Konsens, obwohl die Datierungen bestimmter Kapitel in den unterschiedlichen Listen oft sehr weit auseinanderklaffen (Robinson 1996). Eine weitere Quelle für die Datierung der koranischen Passagen wurde, wenn auch von genannter Kritik begleitet, aus den ahba¯r (Offenbarungsanlässen) ˘ abgeleitet. Die Kritik gilt in erster Linie der fehlenden Glaubwürdigkeit, die der oft unvollständigen Überlieferungskette (isna¯d) – dem Maß der Validität einer Aussage – geschuldet ist. Zudem werden das asymmetrische Verhältnis zwischen der Summe der Überlieferungen und jener der koranischen Passagen sowie die multiple Zuordnung von Überlieferungen zu mehreren Passagen bemängelt (vgl. al-Qa¯d¯ı 2012, S. 3ff; Robinson 1996, S. 61). ˙ Darüber hinaus wird für die Datierung der Kapitel des Korans auf die Kairiner Koranausgabe aus dem Jahr 1925 zurückgegriffen, die als die erste gedruckte Ausgabe des Korans gilt. Sie enthielt den Namen der Sure, den Ort der Offenbarung sowie den Namen der vorangegangenen Sure. So wird Sure 19 wie folgt 3 Übersetzung aus dem Französischen durch d. Verf.

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eingeleitet: »›Sure Maria‹ (mekkanisch, mit Ausnahme der a¯ya¯t 58 und 71, die medinensisch sind), offenbart nach ›Der Schöpfer‹ [entspricht Sure 35; Anm. d. Verf.]« (Robinson 1996, S. 72–73). Dabei beruht die Datierung offenkundig auf einer eklektischen Vorgehensweise in der Quellenauswahl, da diese Anordnung mit keiner der genannten antiken Listen übereinstimmt, auch wenn vereinzelt Überschneidungen zu erkennen sind (ebd.). Die Analyse der textuellen Spezifika des Korans lässt den Primärtext, der im islamischen Religionsunterricht von der ersten Schulstufe an als Grundlage für religiöses Lernen und Lehren herangezogen wird, aufgrund seiner speziellen Hybridität, bestehend aus Diskurs und geschlossenem Text, sowie der daran geknüpften Eigenheiten, die sich vom klassischen Textverständnis unterscheiden, als immerwährende Herausforderung erscheinen. Auch Izutsu (1962) macht die Sprache als das herausfordernde Element im Umgang mit dem Koran als Sprachwerk aus, was sich beispielsweise durch Vers 12:2 untermauern ließe. Gerade vor dem Hintergrund der Geistesgeschichte des Korans – und insbesondere mit Blick auf die Etablierung seiner Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit der Erschließung des Sinngehalts des Korans beschäftigen – tritt die Notwendigkeit nach einer Weiterführung dieser Tradition der Wissensgenerierung sowie darüber hinaus der Spezifizierung der Konzipierung von Modellen und Methoden, die von einer holistischen Zielsetzung absehen, umso mehr zutage. Dies stellt freilich keinen Aufruf zu einem Paradigmenwechsel dar. Vielmehr soll hier an die Arbeitstraditionen klassischer Disziplinen angeknüpft werden, die, orientiert an den Zwecken der zu entfaltenden Bereiche wie etwa Jurisprudenz, Exegese, Ethik und Recht, Philologie, aber auch bildungstheoretischer Werke wie etwa A¯da¯b al-ʿa¯lim wa-l-mutaʿallim, spezifische Methoden und Terminologien hervorbrachte.

4.

Der Koran in den aktuellen Lehrbüchern des islamischen Religionsunterrichts in Österreich

Noch in der Etablierungsphase begriffen, ist bzw. war insbesondere die islamische Religionspädagogik stark von den benachbarten Disziplinen und traditionsträchtigeren Religionspädagogiken abhängig (vgl. Kiefer 2009, S. 19). Von daher ist es gerade in der Phase der Formierung eines eigenständigen Profils von fundamentaler Bedeutung, die Lehrmaterialien stets kritisch zu reflektieren und den Prozess zu überwachen, um sukzessiv in »qualitativer Hinsicht die gleichen didaktischen und methodischen Standards vorzuweisen […] wie die der bereits etablierten Fächer der Stundentafel« (ebd.).

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Der folgende Abschnitt bietet daher einen Einblick in die Ergebnisse der Schulbuchanalyse (2018),4 welche die Positionierung des Korans gegenüber den Rezipient*innen (also den Schüler*innen) unter dem Aspekt der von den Herausgeber*innen proklamierten Kompetenzorientierung untersuchte. Der Abschnitt beginnt mit einem abstrahierten Auszug der textpragmatischen Analyse und zieht im Anschluss die religionspädagogischen Konsequenzen der gegenwärtigen unterrichtlichen Aufbereitung der koranischen Passagen in der Schulbuchreihe.5 In der folgenden Abbildung 1 wird der didaktische Zugang der Lehrbücher des islamischen Religionsunterrichts zur Initiierung einer Schüler*innen-KoranBeziehung auf abstrakter Ebene dargestellt und kurz diskutiert.

Abbildung 1: Schüler*innen-Koran-Beziehung in den Lehrbüchern (Grafik aus Ebrahim 2018, S. 8)

In Abbildung 1 wird die Schüler*innen-Koran-Beziehung über die Koppelung der auslegenden Literatur »interpretierender Korpus/Texte« visualisiert. Aus der Analyse ging hervor, dass die Schüler*innen-Koran-Beziehung in den Lehrbüchern (1–7) mehrheitlich über das Verbindungselement der Exegese-Literatur hergestellt werden soll. In der Grafik wird die Terminologie nach Arkoun (1999, S. 80) benutzt. Demnach bezieht sich »interpretierender Korpus« auf jede Form von Text, die aus dem Korpus der Exegese-Literatur stammt. Aus der unterrichtlichen Aufbereitung können zwei in direkter Wechselwirkung zueinander stehende Ebenen abgeleitet werden, über die Verstehensprozesse generiert werden sollen. Ebene 1 verläuft zwischen den Lebenswelten der 4 Die mit der unterrichtlichen Aufbereitung der koranischen Passagen in den Lehrbüchern des islamischen Religionsunterrichts verbundenen Problematiken und Herausforderungen sind hier in Form einer Kurzfassung der erarbeiteten Ergebnisse der textpragmatischen Schulbuchanalyse in meiner Dissertation (Ebrahim 2018, S. 176–184) dargelegt. Aus diesem Grund wird auf eine genaue Erläuterung der Methodik verzichtet. 5 Zum Zeitpunkt der Abfassung der Arbeit lagen fu¨ r die Sekundarstufe II sowie fu¨ r die 4. Klasse Sekundarstufe I noch keine eigenen Lehrbu¨ cher vor. Soweit sich der Forschungsstand dazu überblicken lässt, befinden sich die ausstehenden Bände auch heute noch in Approbation.

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Schüler*innen und den klassischen Auslegungstraditionen. Die Erkenntnisse und Zugänge der Klassik treffen so direkt auf die Erfahrungswelten der Lernenden. Ebene 2 versetzt die Koppelung aus Ebene 1 mit dem zu erreichenden Primärtext des Korans in Spannung. Nunmehr fungiert der interpretierende Korpus als Verbindungselement zwischen Rezipient*innen und Koran. Die sich daraus ergebende Problematik bei diesen Kommunikationssträngen liegt im asymmetrischen Beziehungsgefüge: Schüler*innen stehen in einer anachronistischen Beziehung zum Text insofern, als die Anknüpfungspunkte aus dem Verbindungselement sich in Interdependenz zu Ort, Zeit, Sprache, Biografie und wissenschaftlichem Schwerpunkt und Schule der auslegenden Person befinden. Die genannten Filter ergeben in Summe ein komplexes Paradigma, das es zu erfassen gilt, um den Zugang zum Primärtext nachvollziehbar zu gestalten, womit ein Diskurs zwischen Rezipient*innen und Text auf Augenhöhe ausgeschlossen ist. Dies lässt von einer umfassenden Aufgabe absehen, da eine solche weder im Rahmen des islamischen Religionsunterrichts unterzubringen wäre noch in den vorgegebenen Lernzielen (IGGiÖ o. J.) vorgesehen ist. Werden diese Filter jedoch ignoriert, kann die unreflektierte Konfrontation mit »heiligen« Texten zu Entfremdung und/oder infolgedessen zu dichotomem Denken führen, anstatt zu Beheimatung und damit zur »Förderung der eigenen Identität […] und dem Umgang mit Vielfalt« (ebd.) beizutragen. Die Analyse (Ebrahim 2018) der im islamischen Religionsunterricht in Österreich verwendeten Lehrbücher hinsichtlich der unterrichtlichen Aufbereitung der koranischen Passagen und unter besonderer Berücksichtigung der Dimension »Verstehen« hat folgende kritische Momente zutage gefördert: Zugang zum Koran über Dritte: Lernprozesse verlaufen indirekt. Damit ist gemeint, dass die Ausführung der in den Lehrbüchern enthaltenen Übungen mit Bezug »über Dritte« (z. B. Ausweger et al. 2016, S. 23) die Berücksichtigung des jeweiligen Verständnisses und Zugangs Dritter voraussetzt. Damit wird die Verknüpfung von zu erschließendem Inhalt der koranischen Passage mit der eigenen Erfahrungswelt durch äußerliche Interventionen verhindert bzw. synthetisiert. Replikation anstelle von lebendigen Reflexionsprozessen: Übungen, deren Lernziel es ist, koranische Passagen »mit eigenen Worten [zu] erklären« (z. B. ebd.) oder deren »Bedeutung [zu] erlernen« (z. B. ebd., S. 27), werden durch die Vorgaben und bereitgestellten Interpretationen in den Lehrbüchern beeinflusst sowie vom Zugang zu und vom Verständnis von externen Filtern abhängig gemacht. Einen besonders fragwürdigen Filter stellen die in die Lehrbuchreihe aufgenommenen freien Übersetzungen durch die Autor*innen und die damit einhergehende Übertragung diverser sozialisatorischer Erfahrungen und Einflüsse dar. Die angestrebte kritische und vor allem individuelle Auseinandersetzung mit dem Koran kann so durch die »Abflachung ambivalenter und viel-

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schichtiger Termini und Konzepte [verhindert werden], weil es zu gekoppelten Interpretationen im Sinne präskriptiver Meinungen und Haltungen kommen kann« (Ebrahim 2018, S. 184). Replikation tritt an die Stelle von aktiven und lebendigen Lernprozessen, die, einmal durchlaufen, in der eigenen Lebenswelt an Bedeutung gewinnen hätten können. Scheinbare Kompetenzorientierung: Es herrscht eine eindeutige Diskrepanz zwischen dem auf den Buchdeckeln der Lehrbücher proklamierten Anspruch »kompetenzorientiert« und den enthaltenen Aufgaben und Lernzielen. Die Ausrichtung der Aufgaben bietet keine förderliche Grundlage im Sinne eines kompetenzorientierten Unterrichts. Vielmehr führt die unterrichtliche Aufbereitung zu passiv-rezipierenden sowie zu reproduzierenden Ergebnissen. Problematik(en) der freien Übersetzungen: Die Annäherung an den koranischen Text über eine weitere textuelle Hürde, namentlich eine Übersetzung oder eine beigefügte Auslegungshilfe, lenkt vom eigentlichen Ziel, der Koppelung von »Wissen und Können« (Beer et al. 2011, S. 9), ab und steht damit der Befähigung zur eigenständigen Problemlösung nach Maßgabe individueller – kognitiver – Fähigkeiten und Fertigkeiten (vgl. ebd.; Ebrahim 2018, S. 184) im Wege, weil der Umgang mit Auslegungshilfen, die der eigenen Erfahrungswelt sowohl auf sprachlicher als auch auf historischer und kultureller Ebene fremd sind, einen eigenen aufwendigen Lernprozess erfordert; diese können im Rahmen der »Islamstunde« nicht in dem Ausmaß erschlossen werden, das notwendig wäre, um eine produktive Diskursivität zwischen Lernenden und Texten in Gang zu setzen. Damit werden Lernende genötigt, um den zu erfassenden Text herumzukreisen, ohne auf direktem Wege mit dessen Gehalt in Beziehung treten zu können. Die Hemmschwelle zwischen Koran und Lernenden bleibt damit aufrecht.

4.1

Über Kompetenzen zu eigenständigen Positionierungen

Der letzte Abschnitt macht deutlich, dass der didaktische Ansatz, mit dem aktuell in den Lehrbüchern des islamischen Religionsunterrichts in Österreich die Beziehung zwischen Schüler*innen und Koran hergestellt werden soll, der Erarbeitung grundlegender Zugänge bedarf, die den Austausch zwischen Rezipient*innen und Text auf Augenhöhe zwecks Förderung einer »verantwortlichen Glaubensentscheidung« (Hemel, zit. nach Lindner 2014, S. 169–170) unterstützen. Dabei gilt es, einerseits das theologische Reflexions- und Urteilsvermögen und andererseits das theologische Sachwissen zu forcieren und konstruktiv miteinander zu verbinden, mit dem Ziel, die persönliche und selbstbewusste theologische Positionierung zu fördern. Hierbei ist zu betonen, dass die Dimension des theologischen Reflexions- und Urteilsvermögens im Aneignen von theologischem Sachwissen eine führende Rolle einnehmen sollte. Theologisches

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Sachwissen – etwa über religionsgeschichtliche Inhalte – kann sich, wie der jüngeren Geschichte zu entnehmen, ohne die Kompetenzen der kritischen Reflexion und Einordnung als besonders fruchtbarer Nährboden für destruktive Theologien erweisen (Ebrahim 2018, S. 74). Das kritische Hinterfragen wie auch der graduelle Erwerb von Sprache zum Ausdruck individueller Perspektiven, insbesondere mit Blick auf traditionell gewachsene Positionierungen zu religionsgeschichtlichen Schlüsselmomenten und Persönlichkeiten, gelten als eine wesentliche »Dimension« (Schweitzer 2014) des islamischen Religionsunterrichts, um diesem Anschluss und »Bedeutung« (ebd.) in den Lebenswelten der Schüler*innen einzuräumen.

5.

Schlusswort

Als verhältnismäßig junge Wissenschaftsdisziplinen an den europäischen Universitäten sind die islamische Religionspädagogik und Theologie mitunter mit vielen Baustellen, insbesondere mit der Erarbeitung religionspädagogischer und didaktischer Modelle, betraut, an deren Ende ein fruchtbares diskursives Verhältnis zwischen den konzeptionellen Divergenzen zwischen der Konfessionalität des Religionsunterrichts und der Säkularität des schulischen Rahmens stehen soll. Diese zweifellos herausfordernde und vielschichte Aufgabe und Erwartungshaltung an die beiden Wissenschaftendisziplinen werden vom islamischen Theologen Abdullah Takim (2016) sehr treffend wie folgt beschrieben: »Die islamische Theologie und Religionspädagogik sieht sich in diesem Zusammenhang mit einer zweifachen Erwartungshaltung konfrontiert, denn theologische und religionspädagogische Fragen werden nicht nur von Muslimen gestellt, sondern auch verstärkt von der Mehrheitsgesellschaft und Öffentlichkeit an sie herangetragen« (Takim 2016, S. 29–30). Diese zweifache Aufgabe bildet gleichzeitig auch die spezielle Situation und Einbettung der Muslim*innen in Österreich ab, die die Erarbeitung eines eigenständigen Profils religiöser Lehre und Forschung erfordert. Die Verortung der Schüler*innen im Lernprozess sowie das diesem angemessene zu entwickelnde Lehrmaterial leisten einen entscheidenden Beitrag zur Prägung dieses Profils. Besondere Berücksichtigung muss hierbei der primären Quelle des Islams zuteilwerden, deren Zentralität in den Bestimmungen und den Bildungszielen des islamischen Religionsunterrichts in Österreich verankert und hervorgehoben ist. Aus der didaktischen Einbettung des Korans in den aktuellen Lehrbüchern wird aber ersichtlich, dass die methodischen Ansätze für einen kompetenzorientierten Unterricht noch sehr unausgereift sind und weiterführender und konkretisierter Forschung bedürfen. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Auseinandersetzung mit einem kontextsensiblen und möglichst diskursiven Ver-

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bindungselement zwischen Text und Schüler*innen, das einen Lernprozess auf Augenhöhe ermöglicht, der durch die Hürden der herausfordernden und komplexen textuellen Dispositionen des koranischen Texts, die im zeitlich restriktiven Rahmen des islamischen Religionsunterrichts nicht zu überwinden sind, nicht infrage gestellt wird. Die Erarbeitung etwaiger Konzeptionen für den Religionsunterricht mag inhaltlich in den klassischen Disziplinen keine konkreten Anhaltpunkte finden, sehr wohl aber kann an die Tradition der Erarbeitung von Methoden und Ansätzen zur Erschließung und zur Reflexion über den Koran angeknüpft werden. Die Erarbeitung neuer Wege zum Koran kann somit als eine Wiederbelebung der Wissenschaftstradition im Islam bezeichnet werden. Was aber als eine Art Paradigmenwechsel erachtet werden könnte, ist die herzustellende Relation der Rezipient*innen zum Text, wo das Individuum im Vordergrund steht und das zu erreichende Gegenüber darstellt. Diese Perspektive zielt somit auf die Abkehr von der traditionell gewachsenen Top-down-Offenbarung hin zu einer – ihrer selbstreferenziellen Beschreibung gerecht werdenden – Bottom-up-Offenbarung, das heißt zu einer »Rechtleitung für alle Gottesbewussten« (Koran 2:2) ab. Anstelle von Replikation soll durch die Verbindung von Wissen und Können individuell Bedeutung und folglich Substanz generiert werden können – »die Entfaltung religiöser Kompetenz soll na¨mlich eine verantwortliche Glaubensentscheidung ermo¨ glichen, ohne dass der Glaube aufgedra¨ngt oder einfach als Folge von Erziehung dargestellt« (Hemel, zit. nach Lindner 2014, S. 169–170) wird.

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Ulvi Karagedik

Leitfaden zur Verwendung der Sunna im islamischen Religionsunterricht

Zusammenfassung Die Hadith-Literatur zählt zu den wichtigsten Sekundärquellen des sunnitischen Islams und dient in der Theologie vor allem dem genaueren Verständnis sowie der Auslegung des Korans. Dementsprechend ist diese Quelle auch in den Bildungsplänen und Curricula des islamischen Religionsunterrichts im deutschsprachigen Raum verankert. Doch das umfangreiche Textkorpus des HadithMaterials sowie dessen bisher unzureichende didaktische Aufbereitung gestalten den Umgang mit ihm sehr komplex. Lehrer*innen sind oftmals sich selbst überlassen, wenn es um die Auswahlkriterien, die Übersetzung, die Elementarisierung sowie den kompetenzorientierten Umgang mit den Hadith-Überlieferungen geht. Auch die vorhandenen Schulbücher weisen diesbezüglich Unzulänglichkeiten auf. Der ausgearbeitete »Leitfaden zur Verwendung der Sunna im islamischen Religionsunterricht« untersucht zunächst die thematische und konzeptionelle Einbindung der Quellen Sunna und Hadith in einschlägigen deutschsprachigen Lehrplänen und stellt davon ausgehend die Erwartungen, Herausforderungen und Ziele im didaktischen Umgang mit den Überlieferungen heraus. Er artikuliert damit einhergehende zentrale Problematiken und zeigt Lösungsansätze zur Unterrichtspraxis auf. Ferner umfasst der Leitfaden Vorschläge zum systematischen Einsatz sowie zur didaktischen Ausdifferenzierung des Hadiths im islamischen Religionsunterricht.

1.

Einleitung

Die Rolle der Sunna im islamischen Religionsunterricht (IRU) hängt zunächst von der Bedeutung der Sunna im Selbstverständnis der Menschen muslimischen Glaubens ab. Dazu ist festzuhalten, dass die Wahrnehmung des Propheten von einer deutlichen Mehrdimensionalität – von absoluter Normativität bis hin zu relativer Neutralität – gekennzeichnet ist, welche nicht auf einfache oder pau-

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schale Dogmen und eine unreflektierte Imitationsfrömmigkeit reduziert werden kann (Sanseverino 2015, S. 57). Gleichwohl sind es das Wirken und die Person des Propheten, über die die Religion verkündet und in der Praxis erfahrbar gemacht wurde und weiterhin über die Sunna erfahrbar gemacht wird (Aslan 2017, S. 379). Auf der anderen Seite definiert sich die Rolle der Sunna auch im Religionsunterricht aus dem Stellenwert der jeweiligen Sunna-Quellen und -Fragmente. Hier gibt es einen Unterschied zwischen den Termini »Hadith« und »Sunna«: Während ein Hadith einen einzelnen Bericht über den Propheten oder seine Gefährten darstellt, spiegelt die Sunna die Gesamtheit des prophetischen Wirkens wider.1 Trotz dieser Differenzen werden diese beiden Begriffe im praktischen Gebrauch oft synonym verwendet (Musa 2015, S. 75), so auch in diversen Lehrplänen für den islamischen Religionsunterricht.2 Im Bewusstsein der funktionalen Differenz beider Termini (und insbesondere der Tatsache, dass Hadithe nur fragmentarische Bestandteile der Sunna-Quellen sind) wird in diesem Beitrag der Einfachheit halber und unter Berücksichtigung praktischer und lehrplantechnischer Gebräuche auf weitere Ausdifferenzierungen verzichtet und auf die gängige Verwendung der Begriffe Hadith und Sunna rekurriert. Freilich kommt dabei bekannten, häufig rezipierten oder durch den Propheten besonders betonten Überlieferungen ein anderer Platz zu als »exotischen« Berichten. Letztendlich zeigt die Mehrdimensionalität des Wirkens der Sunna in der Praxis auch, dass jene Praxis selbst von der jeweiligen Erwartungshaltung gegenüber der Sunna sowie ihrer jeweiligen Definition abhängt. In Bezug auf den islamischen Religionsunterricht entspricht die Rolle der Sunna und der Hadithe daher ihrer Definition und Funktion in den entsprechenden Lehrplänen sowie den Lehrbüchern des islamischen Religionsunterrichts.

1 So mögen manche Hadithe nicht der Sunna entsprechen, da davon auszugehen ist, dass erstens nicht alle Hadithe die Nachwelt erreicht haben und nicht jeder Moment des prophetischen Lebens schriftlich festgehalten wurde, zweitens nicht alle im Laufe der Historie aufgekommenen Hadithe authentisch waren, und drittens neben den Hadithen weitere Sunna-Quellen existieren – wie etwa der Koran selbst, die sı¯ra, weitere historische Quellen der Geschichts- und Biografieschreibung (tabaqa¯t- und ta¯rı¯h-Werke) und Gedichte sowie Werke zur Physiognomie ˘ des Propheten (sˇama¯ʾil). 2 Vgl. beispielsweise Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) 2011, S. 22.

Leitfaden zur Verwendung der Sunna im islamischen Religionsunterricht

2.

523

Stellenwert der Sunna im IRU per definitionem der Lehrpläne

Islamischer Religionsunterricht wird gegenwärtig in Österreich sowie in sieben Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland erteilt.3 In Bayern und Schleswig-Holstein gibt es die sogenannte »Islamkunde« unter staatlicher Verantwortung und in Bremen und Hamburg einen konfessionsübergreifenden Religionsunterricht (Integration Mediendienst 2018). Abgesehen von den konfessionsübergreifenden Modellen kommt der Sunna in den entsprechenden Lehrplänen ein hoher Stellenwert zu; dennoch weisen die Curricula Unterschiede in Bezug auf die Verwendung auf. Da der begrenzte Rahmen eines Artikels es nicht zulässt, sämtliche entsprechende Stellen und Facetten der curricularen Sunna-Dimensionen eingehend zu analysieren, sei hier auf einige relevante und exemplarische Aspekte hingewiesen:

2.1

Relevanz des Hadiths und der Sunna im islamischen Religionsunterricht

In den österreichischen Lehrplänen wird der Hadith als »zweite Quelle« des Islams definiert. Mit Blick auf die Schüler*innen heißt es: »Sie sollen somit die zweite Quelle des Islam, den Hadith, kennen und schätzen lernen« (IGGÖ 2011, S. 10). Damit wird der Hadith als Quelle der Sunna ins Zentrum des geistigen Erbes der islamischen Religion gerückt und als sekundärer Bestandteil des islamischen Religionsunterrichts betrachtet. In deutschen Lehrplänen finden sich ähnliche Definitionen, wie etwa in der Formulierung: »Der Kern der islamischen Gelehrsamkeit und des islamischen Glaubens wird durch den Koran sowie die Sunna gebildet« (Ministerium für Bildung und Kultur Saarland 2015, S. 5). Der niedersächsische Lehrplan verweist auf die »beiden islamischen Hauptquellen Koran und Sunna« (Niedersächsisches Kultusministerium 2010, S. 8), und im saarländischen Lehrplan für den IRU heißt es: »Der Begriff Sunna bezeichnet die Lebensweise des Propheten, die sich in der Gesamtheit der überlieferten Hadithe widerspiegelt« (Ministerium für Bildung und Kultur Saarland 2015, S. 5). Die Sunna gilt nach dem Koran als die zweite Quelle der islamischen Religion und als höchste persönliche Instanz in der Gemeinschaft der Muslim*innen (umma) (ebd., S. 5). Im nordrhein-westfälischen Lehrplan für Islamkunde wird die Sunna ebenfalls als »die zweite Hauptquelle der Islamkunde« bezeichnet (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014, S. 15).

3 Während es in Hessen, Niedersachsen und Berlin einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht gibt, laufen in NRW, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und im Saarland diesbezügliche Modellversuche (vgl. Integration Mediendienst 2018).

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Ein Vergleich der Lehrpläne zeigt, wie sehr die Tradition des Propheten (Sunna) im islamischen Religionsunterricht hervorgehoben und als sekundäre Quelle einbezogen wird, denn »die Schülerinnen und Schüler wissen, dass im Koran und in den Hadithen Hinweise zur persönlichen Lebensgestaltung des Menschen zu finden sind« (Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein 2007, S. 12). Die daraus resultierende große Frage, wie man sich dieser Quelle zu widmen hat, was aus der Sunna resultiert und wozu diese im islamischen Religionsunterricht dienen soll, wird damit beantwortet, dass zum einen Beispiele aus der Sunna für thematische Inhalte des IRU herangezogen und zum anderen bestimmte Hadithe gelernt werden sollen.

2.2

Einschränkungen bezüglich der im Unterricht zu verwendenden Hadithe

In Niedersachsen werden die Sunna-Quellen im Kerncurriculum (unverbindlich) auf die Vierzig-Hadith-Sammlung von Yahya¯ Ibn Sˇaraf an-Nawawı¯ eingegrenzt ˙ (Niedersächsisches Kultusministerium 2010, S. 34). Dabei wird auf die Übersetzung von Marco Schöller (2007) zurückgegriffen und argumentiert, dass diese ausreichend kommentierte deutsche Hadith-Sammlung dem Lehrpersonal eine vertiefte Übersetzungsmöglichkeit liefere. Auch wenn diese Eingrenzung nicht verbindlich ist, ist es gleichwohl hilfreich, dass das Curriculum konkrete Angaben zu Hadith-Quellen macht, die für die Behandlung diverser Themen genutzt werden sollen. Dies gewährleistet nicht nur den Einsatz jener Sunna-Quellen, welche sich auf curricular überprüfte Überlieferungen beschränken, sondern auch die Stimmigkeit zwischen dem Unterrichtsgegenstand und den heranzuziehenden Primärquellen. Ferner werden die Lehrer*innen bei der Auswahl und Interpretation derselben nicht völlig alleingelassen. In anderen Lehrplänen, in denen ein Verweis auf zu verwendende Quellentexte fehlt, gilt es, aus einer schier unüberschaubaren Vielfalt vorhandener Übersetzungen auszuwählen (Khoury 2008; an-Nawawı¯ 2007; Ferchl 1991; Rassoul 1994; 2007; 2012), von denen bis auf eine Ausnahme (Sarıkaya 2012) keine Ausgabe für den Religionsunterricht konzipiert wurde. Eine weitere Problematik ergibt sich in Bezug auf unzureichende Quellenverweise in den Lehrplänen und Lehrbüchern: Hadithe werden übersetzt und teilweise nur mit vagen Quellenangaben versehen, z. B. »Buchari, Muslim, Tirmidhi, Nasa’i« (Shakir 2016, S. 7; IGGÖ 2011, S. 136–142; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2010). Der allein in Übersetzung angeführte Titel und der unzureichende Quellenverweis, welcher weder auf das Haupt- noch auf das Unterkapitel oder die Nummer einer Überlieferung schließen lässt, machen es jedoch nahezu unmöglich, die Texte innerhalb der mehreren Tausend Überlieferungen zu finden und zu erforschen. Somit bleibt sowohl für die Lehrkräfte als auch für die Lernenden unüberprüfbar und un-

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hinterfragbar, in welchem Kontext die Texte vorkommen, wie sie eingebettet sind und zu welcher Legitimation sie vorgebracht wurden. Anstrengungen zur Klärung des methodischen Umgangs mit dem Hadith sowie die klare und differenzierte Auseinandersetzung mit den Quellen sind daher ausbaubar und dringend vonnöten, andernfalls sind die Lehrer*innen für den IRU in Bezug auf die Auswahlkriterien oder Analysesysteme von Hadith-Überlieferungen weitestgehend sich selbst überlassen. Die Forderung muss daher einer adäquaten Quellenrezeption in den Lehrbüchern und Curricula sowie weiteren HadithKompendien für den IRU gelten.

2.3

Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen den Quellen Koran und Sunna

Der niedersächsische Lehrplan sieht vor, dass Schüler*innen den »Unterschied von Koran und den Überlieferungen (Hadithen)« anhand von »Textstellen vergleichen« (Niedersächsisches Kultusministerium 2010, S. 21). Sie sollen dadurch »den Aufbau des Korans sowie die Bestandteile von den Überlieferungen (Hadithen)« kennenlernen und »wissen, dass die Sunna dem Koran ergänzend und erklärend zur Seite steht« (ebd., S. 19; IGGÖ 2011, S. 26). Aus einer derartigen curricularen Definition ergibt sich eine klare Differenz in der Funktion und im Aufbau der Grundlagenquellen. Die Sunna hat hier eine »erklärende Funktion«. Eine derartige funktionale Differenzierung findet sich nicht in allen Lehrplänen. Im österreichischen Lehrplan wird neben der gemeinsamen Quelle die Kontinuität in der Vermittlung der Sunna-Quellen angesprochen, wenn es heißt: »Die Schülerinnen und Schüler sollen erfahren, dass die Aussagen, Handlungen und Billigungen des Propheten Muhammad (a. s.) von seinen Freunden und Gefährten schon zu seinen Lebzeiten festgehalten wurden und gemeinsam mit dem Qur’an die grundlegende Quelle des Islam darstellen. Sie sollen in diesem Zusammenhang einige Ahadith und ihre Inhalte erlernen.« (IGGÖ 2011, S. 11)

Dieses Zitat aus dem Lehrplan vermittelt die Vorstellung, die Sunna-Quellen seien schon zu prophetischen Zeiten aufgeschrieben worden. Dies stimmt zwar in Bezug auf einige Überlieferungen (Sezgin 1967, Bd. 1, S. 99, 290f.), trifft aber keinesfalls auf alle gängigen Tradierungen zu. Darüber hinaus gilt es zu klären, ob im Religionsunterricht alle Berichte über die prophetische Handlungsweise als grundlegende Quelle herangezogen werden sollten und auch, welche Überlieferungen sich für die Grundlagenvermittlung im Religionsunterricht eignen. Die Relevanz, welche dem Hadith und der Sunna in Bezug auf das Koranverständnis zukommt, wird dagegen standortübergreifend anerkannt. So sollen

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auch die Schüler*innen in NRW »die Relevanz der Hadithe im Bezug zum Koran« darstellen (Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 2014, S. 31).

2.4

Beispiele aus Hadithen/Lernen von Hadithen im islamischen Religionsunterricht, interpretatorische Auseinandersetzung mit Hadithen und der Bezug zu eigenen Lebenswelten

Der bayerische Lehrplan zum Modellversuch »Islamischer Unterricht« sieht vor, »Beispiele aus der Sunna« (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2010, S. 13, 19) heranzuziehen, während der saarländische Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht hervorhebt: »[I]mmer wieder sollten Koranverse, Hadithe und die Vorbilder aus der islamischen Geschichte in den Unterricht einfließen und thematisiert werden« (Ministerium für Bildung und Kultur Saarland 2015, S. 6). Der österreichische Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht setzt auf eine interpretatorische Auseinandersetzung mit Hadithen: »Beispiel eines Hadith zur Analyse und Interpretation: In dem o. g. Kontext sollen sich die Schülerinnen und Schüler auch selber mit den Originalquellen auseinandersetzen und einen oder mehrere Prophetenaussprüche, welche zu den Themen passen, erlernen und analysieren.« (IGGÖ 2011, S. 20)

Auch im Bildungsplan für »Islamische Religionslehre sunnitischer Prägung« des Landes Baden-Württemberg wird verlangt, dass die Schüler*innen »ausgewählte zentrale Hadith-Werke und Hadith-Gelehrte nennen, den Koran als Überlieferung Gottes und die Sunna als Praxis des Propheten deuten, die Wichtigkeit und die religiöse Relevanz der prophetischen Tradition für den eigenen Glauben beschreiben« (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 22). Im Kernlehrplan von Nordrhein-Westfalen heißt es, »die Schülerinnen und Schüler […] analysieren ausgewählte Hadithe im Hinblick auf deren Aufbau (Überlieferungskette/Sanad und Text/Matn) und Kategorisierung (authentisch/sahih, schwach/daif, erfunden/mawdu), […] benennen bekannte Hadithsammlungen« (Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 2014, S. 30). In Anbetracht des Zieles eines möglichst kompetenzorientierten Religionsunterrichts wäre hinsichtlich der jeweiligen Passagen der Lehrpläne danach zu fragen, inwieweit das bloße Erlernen von Sammlungen, Überlieferernamen (IGGÖ 2011, S. 29) oder Gelehrtennamen im Religionsunterricht diesem tatsächlich dienlich ist. Ein solches Wissen kann nur dann eine förderliche Funktion haben, wenn daraus sinnbringende Schlüsse gezogen werden können (etwa in Bezug auf Leistungen, Kontexte, Entwicklungen, Besonderheiten etc.). Ansonsten würden lediglich »abstrakte« oder gar »nicht zuordenbare« Kenntnisse ver-

Leitfaden zur Verwendung der Sunna im islamischen Religionsunterricht

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mittelt. Darüber hinaus stellen die Kategorien von Überlieferungen und Überlieferungssammlungen mit all den dahinterstehenden technischen Details sowie die Entstehungsgeschichte der Hadith-Wissenschaft mit ihren Differenzierungen sehr komplexe Sachverhalte dar (ebd., S. 37, 73, 101), weswegen die Analyse von Hadith-Kategorien im Religionsunterricht schnell zur Überforderung werden könnte. Diese Aufgabe käme eher Studierenden der Theologie im Rahmen des universitären Studiums zu. Im Unterricht ließe sich dagegen erfragen, warum Überlieferungen schwach, authentisch oder erfunden sein können. Eine ähnliche sinnspezifische sowie kompetenzorientierte Frage stellt sich zur folgenden Passage des österreichischen Lehrplans: »Die Schülerinnen und Schüler sollen den Qur’an auf Arabisch im Original lesen und rezitieren können – wenn möglich in der kunstvollen Vortragsweise des Tadschwid« (ebd., S. 4). Dass die Schüler*innen in der Lage sind, arabische Hadith-Texte zu rezitieren, scheint gerade in Anbetracht der unterschiedlichen Kenntnisstände und Schulklassen zweifelhaft. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach den Unterschieden zwischen dem Lernort »Schule« und dem Ort »Moschee« sowie der Sinnhaftigkeit der Hadith-Rezitation in arabischer Sprache im islamischen Religionsunterricht. Die Inhalte der Lehrpläne machen deutlich, wie sehr theologische Grundprämissen mit den Hadithen und der Sunna verbunden werden. In BadenWürttemberg sollen die Schüler*innen »exemplarisch aus der Sunna des Propheten Impulse für das eigene Handeln ableiten« oder »konkrete islamische Tugenden anhand von Koran und Sunna belegen« (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 29, 68). Hier wird ersichtlich, dass die Sunna im Unterricht eine »belegende« Funktion erfüllen soll und als Quelle für Tugenden dient. Ebenso wird im bayerischen »Lehrplan zum Islamischen Unterricht« eine »Begründung aus Koran und Sunna« gefordert (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2010, S. 23). Das niedersächsische Kerncurriculum hebt den Bezug zur eigenen alltäglichen Glaubenspraxis hervor, denn die Schüler*innen sollen »einige Suren des Korans sowie Prophetenworte erläutern und ihre Bedeutung für die alltägliche Glaubenspraxis ausdrücken« (Niedersächsisches Kultusministerium 2010, S. 31). Demnach lautet die zusammenfassende Antwort auf die Frage, was mit einer interpretatorischen Auseinandersetzung mit Hadithen beabsichtigt wird: die Setzung von Impulsen zum eigenen Handeln sowie die Erschließung von Tugenden und Bedeutungen für die alltägliche Lebenspraxis. So heißt es auch im Saarland: Die Schüler*innen »stellen Bezüge her zwischen ihrem Alltag und den in ausgewählten Koranversen und Hadithen beschriebenen beispielhaften Haltungen und Handlungen von Propheten« beziehungsweise »leiten aus entsprechenden Koranversen und Hadithen Weisungen für das alltägliche Handeln und das friedliche Zusammenleben ab« (Ministerium für Bildung und Kultur Saarland 2015, S. 15, 17) oder

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– diesfalls in NRW – »bewerten Umsetzungsmöglichkeiten von Hadithen in der heutigen Zeit« (Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 2014, S. 31). Die Frage, wie oder nach welchen methodischen Schritten eine Interpretation von Hadithen erfolgen kann, wird nicht gestellt. Das letzte Zitat lässt zudem eine reproduktive Haltung erkennen, wobei offen bleibt, ob die Umsetzung von Hadithen für die Schüler*innen in der Gegenwart grundsätzlich relevant ist oder eher danach gefragt werden sollte, von welchen Hadithen die Umsetzung (wie) Sinn macht. Was aus den Lehrplänen jedoch in jedem Fall resultiert, ist die Beschäftigung mit der ethischen sowie gegenwartsrelevanten Dimension der Sunna, wobei viele Fragen aufgeworfen werden, darunter vor allem: – Wie intensiv soll und kann die Sunna im islamischen Religionsunterricht thematisiert werden? Wie viel Sunna braucht der islamische Religionsunterricht? Wo sind hier die Grenzen? – Welche Hadith-Inhalte sollen als Sunna-Quellen gelernt werden? Was bringen die jeweiligen Hadithe den Schüler*innen? – Welche Kriterien und thematischen Felder sind beim Einsatz der SunnaQuellen im islamischen Religionsunterricht zu beachten?

3.

Erfordernisse und Rahmenbedingungen für die Sunna im IRU

Allein die quantitativen Dimensionen einschlägiger Sunna-Quellen stellen den islamischen Religionsunterricht vor enorme Herausforderungen und gebieten es, in Bezug auf die Verwendung der Sunna-Quellen Prioritäten zu setzen. Schon die eingehende Auseinandersetzung mit dem gesamten Koran würde den Rahmen des islamischen Religionsunterrichts sprengen – schließlich umfasst der Koran 6.236 Verse. Und die bekannten Hadith-Sammlungen (al-Kutub as-Sitta) beinhalten unter Einschluss redundanter Überlieferungen insgesamt über 30.000 Hadithe (Paksoy 1993, S. 237f.), wobei die einzelnen Überlieferungen in der Regel länger sind als einzelne Koranverse. Aus diesem Grund erstrecken sich selbst jene Ausgaben der al-Kutub as-Sitta, die redundante Tradierungen ausklammern und sich auf knapp 8.000 Einzelüberlieferungen beschränken, unter Berücksichtigung von Erläuterungen auf fast 20 Bände (Canan 2016). Es ist also unmöglich, diese »zweite Quelle« im islamischen Religionsunterricht, für den in der Regel eine Schulstunde pro Woche vorgesehen ist, abzuhandeln oder eingehend abzuarbeiten. Zudem lassen sich nicht jede Woche im Religionsunterricht immer nur Hadithe behandeln.

Leitfaden zur Verwendung der Sunna im islamischen Religionsunterricht

3.1

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Die Behandlung quantitativ herausfordernder Sunna-Quellen im IRU unter Wahrung curricularer Ziele

Die im Rahmen des islamischen Religionsunterrichts verfügbare Zeit muss für eine Vielzahl von Themen und Zielen ausreichen. Zu den Zielen dieses Unterrichts zählen: – die Förderung von bewusstem Denken und verantwortlichem Handeln als religiöses Individuum sowie als Mitglied der Gesellschaft; – die kritisch-reflexive Bildung der eigenen religiösen Identität; – die Entwicklung eigener Standpunkte und eine an der eigenen Lebenswirklichkeit orientierte Identitätsbildung; – die Entwicklung der eigenen religiösen Mündigkeit sowie der Fähigkeit, Religion zu befragen und zu erkunden; – das Generieren der Dialogfähigkeit der Schüler*innen in ihrer eigenen Sprache; – der Aufbau einer offenen Haltung gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen; – die Gegenwartsbezogenheit; – die Förderung des Zusammenlebens zwischen Muslim*innen und Nichtmuslim*innen im Kontext einer freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung; – das Wissen um Unterschiede und das Erlernen der Fähigkeit, diese auszuhalten; – die Entwicklung eines Wertebewusstseins für die innerislamische Pluralität; – die Entwicklung von Offenheit, Toleranz und Respekt; – die Stärkung von Hoffnungsbewusstsein und Zukunftsperspektiven sowie die Förderung eines solidarischen und ökologischen Verhaltens; – die Erweckung von Liebe und Respekt für Schöpfung und Menschen; – die geschlechtergerechte Aufarbeitung religiöser Quelleninhalte und der Beitrag zu Kooperation und Teamfähigkeit; – die Unterstützung einer maßvollen Medienreflexion; – die Klärung von Konflikten zwischen Glaube und Gesellschaft, aber natürlich auch die Fähigkeit, aus den Quellen abgeleitete Standpunkte und Inhalte zu begründen und die Grundbotschaften derselben zu ermitteln (Niedersächsisches Kultusministerium 2010, S. 7–9; Ministerium für Bildung und Kultur Saarland 2015, S. 3f.; Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 2014, S. 9; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2010, S. 1f.; Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 3–10; Hessisches Kultusministerium 2011, S. 8–14; IGGÖ 2011, S. 2–4; Aslan 2009, S. 344; Uslucan 2011, S. 149).

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All diese Ziele gilt es bei der Behandlung und dem Einsatz des Hadiths im islamischen Religionsunterricht zu beachten und anzustreben. Letztendlich dient dies dem Gesamtziel der Entwicklung der »kognitiv und habituell erlernund erfahrbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten […], die die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, sich in Fragen der religiösen Wissensaneignung sowie des Glaubens und der persönlichen religiösen und spirituellen Lebensgestaltung selbst zu führen« (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 7). Freilich lassen die aus der Formulierung der Ziele resultierenden Aufgaben für eingehende Hadith-Studien nur wenig Raum. Dies führt zu einem Dilemma zwischen der zentralen Stellung des Hadiths im IRU, den knappen zeitlichen Ressourcen sowie den enormen Anforderungen, denen der IRU ohnehin schon genügen soll. Wie kann dieses Dilemma nun gelöst werden? Wie lassen sich die an den Hadith im IRU herangetragenen Rahmenbedingungen und Erfordernisse in Einklang bringen? Es liegt auf der Hand, dass eine Einschränkung der im IRU zu verwendenden Überlieferungen nicht nur der schieren Quantität der Hadithe geschuldet ist, sondern dass viele Hadithe von vornherein nicht für den »Ort Schule« vorgesehen sind, so etwa Überlieferungen zu gesellschaftlichen Regelungen im Medina des siebenten Jahrhunderts, wie zum Beispiel zum Handel oder zu strafrechtlichen Aspekten (Sarıkaya 2017, S. 102). Dennoch sollten in den dafür infrage kommenden Schulstufen die Unterschiede zwischen zeitgenössischen Vorstellungen von Gleichbehandlung, Diskriminierung oder strafrechtlichen Dimensionen und Hadith-Inhalten besonders behandelt werden, um simplifizierenden oder literalistischen Quellenverständnissen und gleichzeitig Radikalisierungsrisiken entgegenzuwirken. Folglich erwiese sich die ausnahmslose Ausklammerung dieser Inhalte (ebd.) als kontraproduktiv, da gerade aus Hadith- und SunnaQuellen konkrete Handlungskonzepte abgeleitet werden (asˇ-Sˇ a¯ tibı¯ 1990, Bd. 4, ˙ S. 19). Daher ist der themenzentrierte Einbezug des Hadiths in den IRU nicht nur in Anbetracht der Ziele notwendig. Dies kann jedoch nur so weit geschehen, wie die zeitlichen Kapazitäten, die Ziele des Religionsunterrichts und die real anfallenden Themen es zulassen. So sehr es außer Frage steht, dass eine derart zentrale Quelle der islamischen Theologie und Religionspädagogik wie der Hadith im IRU zu behandeln ist – und das geht ja auch aus den Vorgaben der Lehrpläne zwingend hervor –, so wird doch der Rahmen letztendlich von eben diesen Vorgaben bestimmt. Daraus ergibt sich als logische Konsequenz das Heranziehen von Hadithen, welche die Lehrinhalte des Religionsunterrichts klarer machen und diese bekräftigen oder untermauern, die aber durchaus im Diskurs gegen konträre Quelleninhalte abgewogen werden können und sollen. Die thematische und technische Eingrenzung für den Hadith folgt, wie dargestellt, aus dem Rahmen der jeweiligen Unterrichtsgegenstände sowie aus den Vorgaben der Lehrpläne und Lehrbücher. Es können nicht jede Stunde mehrere

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Dutzend Hadithe behandelt werden. Der Einbezug eines oder mehrerer Hadithe, welche inhaltlich zu den jeweiligen Themen passen, scheint nicht nur ausreichend zu sein, sondern ist empfehlenswert. Natürlich könnte eine solche Verwendung des Hadiths den Vorwurf der anachronistischen Zweckentfremdung der Überlieferungen nach sich ziehen, doch zielt diese Forderung keinesfalls auf eine rein positivistische oder einseitige Verwendung ab. Ganz im Gegenteil – in diesem Rahmen könnten im Unterricht auch widersprüchliche Überlieferungen4 behandelt und nach dem Grund der Unterschiede gefragt werden.5

3.2

Kriterien und Kompetenzen für die Sunna-Verwendung im IRU

Der in Gießen tätige Theologe Yasar Sarıkaya formulierte in einem Artikel eine Reihe von Kriterien, welche ein Hadith für den Einsatz im islamischen Religionsunterricht erfüllen sollte, darunter die Konvergenz mit dem Koran, die Vereinbarkeit mit der Vernunft und mit Werten wie Diversität, Pluralität oder Gendergerechtigkeit (Sarıkaya 2017). Dies mag zwar als generelles Auswahlprinzip geeignet sein und ist besonders für Überlieferungsinhalte angebracht, die in den primären Schulstufen zu behandeln sind; eine undifferenzierte Übernahme derartiger Forderungen dürfte dennoch nicht immer zielführend sein. Denn in den höheren Schulstufen müsste es wohl darum gehen, wie Überlieferungen, die eben nicht den Werten des heutigen Lebenskontexts entsprechen, verstanden werden können, und warum es Widersprüche zwischen Überlieferungen und koranischen Inhalten geben kann oder wie mit Überlieferungen umzugehen ist, deren Inhalte augenscheinlich nicht vernünftig sind (alle Szenarien entsprechen den Realitäten von Hadith-Inhalten). Dieser Umstand erfordert die Entwicklung einer Reihe von Deutungskompetenzen, die nur unter Einbezug gewisser Kriterien möglich ist. Dabei stellen sich vor allem die Fragen, welche Hadith-Inhalte einen eher generellen Charakter (ʿa¯mm) und welche einen spezifischen (ha¯ss) Charakter haben und wie die Hadithe daher verstanden ˘ ˙˙ werden sollten. Für die Beantwortung dieser Fragen ist vor allem die Sichtung möglichst allgemeiner prophetischer Handlungsschemata (Sunna) relevant. Der Prophet war der Erstadressat der koranischen Botschaft; er vermittelte diese in seinem 4 Wie etwa Erlaubnisse und Verbote für Grabbesuche in Hadithen (at-Tirmid¯ı 2007, Hadith ¯ Nr. 1054; Muslim 2007, Hadith Nr. 976) oder Verbote und Gebote für die Verschriftlichung von Hadithen (Dere 1997, S. 423–441; Abu¯ Da¯wu¯d 2008, Hadith Nr. 3646, 6, 3639; Muslim 1992, Hadith Nr. 3004, 92, 7147). 5 Dies dürfte besonders für die höheren Schulstufen förderlich sein, um eine kritische Auseinandersetzung mit den Quellen sowie ein »Überdenken« oder »Nachdenken« anzustoßen und in einen lebendigen Diskurs mit den Schüler*innen zu treten.

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Kontext, woraus die Hadithe resultierten. Kontextuelle Änderungen und zeitlichen, örtlichen oder personenspezifischen Gegebenheiten entspringende Bedürfnisse konnten jedoch zu Unterschieden im prophetischen Handeln führen. Darüber hinaus traten scheinbar beständige und regelmäßige Handlungsmuster hervor; Inhalte anderer (oraler) Überlieferungen wurden gar nicht erst durch den Propheten umgesetzt. Aus diesem Grund ist die Kontextualisierung der Überlieferungen mit Blick auf die ihnen zugrunde liegende Aussprache oder Begebenheit (sabab al-wuru¯d) wichtig, doch weitaus essenzieller als eine bloße Kontextualisierung ist die damit einhergehende Trennung zwischen Allgemeinem und Spezifischem. Dafür ist es sinnvoll, die Sunna vor allem in Bezug zur sı¯ra zu setzen – dies würde es erlauben, die Bedeutungsmuster der Überlieferungen nicht nur in Anbetracht ihrer Kontexte, sondern auch unter Berücksichtigung der praktischen Umsetzung besser zu erschließen und die Grundlagen für die erforderliche Deutungskompetenz zu schaffen.6 Aufgrund der kognitiven Herausforderungen, die eine solche Auseinandersetzung mit sich bringt, scheint eine wirklich tief gehende Kontextualisierung jedoch erst in den höheren Schulstufen realisierbar. Besonders dort sollte der Sinnzusammenhang zwischen sı¯ra, Koran und Hadith als Maßstab der für die Sunna-Aufarbeitung erforderlichen Deutungskompetenzen gelten. Die Vermittlung der Bezüge ist notwendig, bevor die Lebenswelten der Schüler*innen mit den Hadithen konfrontiert und ethische Dimensionen erfragt oder auf thematische Inhalte des Religionsunterrichts abgestimmt werden. Erst unter Wahrung dieses Maßstabs können die Quellen gedeutet und die Fragen danach beantwortet werden, welchen Sunna-Quellen es sich zu widmen gilt, was diese im Religionsunterricht bringen oder wie sie eingesetzt werden. Nur auf Grundlage der Reflexion historiografischer sowie quellengestützter Rezeptionen können die Schüler*innen »aktuelle Fragestellungen und Herausforderungen erfassen und auf die Lehren des Korans und der Sunna beziehen« (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 12). Ohne einen solchen, den Gesamtkontext einbeziehenden Zugang würde die Verbindung mit aktuellen Fragestellungen zu anachronistischen, aus dem Zusammenhang gerissenen Quellenverständnissen führen und die Schüler*innen irritieren. Sofern also keine Diskussion über konträre HadithInhalte angestrebt wird, ist darauf zu achten, dass die heranzuziehenden SunnaQuellen generellen Handlungsmustern (ʿa¯mm) des Propheten entsprechen und nicht Überlieferungen zu »Sonderhandlungen« sind. Dies setzt bereits in der Unterrichtsvorbereitung entweder eine eingehende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Hadithen zu ein und demselben Thema, den Einbezug der

6 So auch vorgesehen im Lehrplan Baden-Württembergs (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 68).

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533

Sı¯ra-Literatur oder den Rückgriff auf bereits vorliegende themenzentrierte Hadith-Untersuchungen voraus.

3.3

Die Wahrung der thematischen Ganzheitlichkeit und die Frage nach dem Sinn hermeneutischer Methodenkompetenzen

Um die Unterschiede zwischen scheinbar spezifischen und allgemeinen SunnaInhalten bewerten zu können, bedarf es in jedem Fall einer ganzheitlichen Aufarbeitung der Quelleninhalte. Während die kurz zuvor thematisierte Frage der Umsetzung von Inhalten unter Einbezug der Sı¯ra-Literatur eine wichtige Prämisse in dieser Thematik darstellt, kann auch die quantitative Gewichtung hilfreich sein. Dabei ist vor allem darauf zu achten, ob inhaltliche Überschneidungen in einer Vielzahl oder in der Mehrheit von Hadithen zu ein und derselben Thematik vorliegen. Dies setzt entweder eine vorhergehende, stichwortgestützte Analyse der Quellen durch die Lehrkraft voraus oder erfordert die Untersuchung bestimmter, in Hadith-Sammlungen bereits vorgegebener Thematiken. In jedem Fall zeigt die Prämisse der Wahrung der thematischen Gesamtheit von Quellen, dass für den IRU der dringende Bedarf an einer adäquaten Aufarbeitung von Hadith- und Sunna-Quellen besteht, damit die Lehrkräfte auf entsprechende Materialien zurückgreifen können und in der Unterrichtsvorbereitung nicht überfordert werden. Nur unter Einbezug des jeweiligen Kontexts und dessen Veränderung, der Frage nach der Umsetzung sowie nach thematisch ganzheitlichen Betrachtungen und auch Korrelationen zwischen Koran und Sunna kann der Frage nach einem (tieferen) Sinn und der Sinnhaftigkeit und somit einer Quelleninterpretation nachgegangen werden. Dies setzt eine gewisse »Diskursivität« und »Offenheit« in der Auseinandersetzung mit primären Wortlauten voraus und bringt eine Reihe von Herausforderungen sowie eine Sensibilität für hermeneutische Prozesse mit sich. Jene hermeneutischen Methodenkompetenzen können durch den Einbezug folgender Schritte forciert werden: 1. das kritische Hinterfragen des primären Wortlauts einer Überlieferung und des individuellen Vorurteils in der Wertung desselben; 2. das In-Beziehung-Setzen zu thematischen Gesamtheiten (insbesondere Hadith-, Sı¯ra- und Koranbezügen); 3. die Frage nach Kontexten und kontextuellen Veränderungen; 4. das Bemühen, die Punkte 1–4 miteinander in Verbindung zu bringen und selbst nach einem Sinn zu fragen und zu einem Schluss zu kommen.

534 3.4

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Urteilskompetenz und Sozialkompetenz: Bezug auf die Bedeutung der Quellen für die eigene Lebensorientierung

In Bezug auf den urteilsrelevanten Einsatz von Hadithen im Religionsunterricht liegen bereits Äußerungen zu einigen Kriterien vor. Definiert wurden: – die Elementarisierung von Hadith-Inhalten (von Metaphern oder schwer verständlichen Termini); – die Diskursivität (das eigene Interpretieren von Inhalten und die Wiedergabe des Inhaltsverständnisses durch die Schüler*innen); – die Sinnsuche und die Suche nach der Intention des Inhalts; – das In-Beziehung-Setzen zu Kontexten (sabab al-wuru¯d) zur Spezifizierung von Hadith-Inhalten; – der Bezug zu den Lebenswelten der Schüler*innen (hier wird das Beispiel genannt, was es bedeutet, den Nachbarn freundlich zu behandeln) oder die nichtnormative Betrachtung von Hadithen7 oder deren Funktionalität als Orientierungshilfe (Sarıkaya 2017, S. 110–115; Niedersächsisches Kultusministerium 2010, S. 9). Was all diese Kriterien miteinander verbindet, ist die Intention, die Quellen schülerzentriert aufzuarbeiten, damit neben der Deutungskompetenz auch eine Urteilskompetenz aufgebaut werden kann, um die eigene Position mit dem Glauben in Verbindung zu bringen und zu erörtern. Diese Kriterien sind hilfreich, jedoch noch nicht genügend tief erschlossen und befüllt, um die Erstellung eines konkreten Leitfadens für den Einsatz des Hadiths im IRU oder die eingehende Beantwortung der Frage nach der Art und Weise der interpretatorischen Auseinandersetzung mit Hadithen zu erlauben. Derartigen Vorhaben kann im ohnehin begrenzten Rahmen eines Buchbeitrags oder eines Artikels nicht ausreichend nachgekommen werden; dennoch stellt der vorliegende Text den Versuch dar, neue Ideen und Perspektiven hinsichtlich des Einsatzes der Sunna im islamischen Religionsunterricht einzubringen. So lässt sich ein Leitfaden für die Kriterien und Themen des Hadith-Einsatzes und der Funktionalität der Sunna im IRU gemäß den Zielen der Curricula selbst ausarbeiten und unter Einbezug der bisherigen Erkenntnisse dieses Beitrags in den folgenden Punkten weiter ausdifferenzieren.8 7 An dieser Stelle sei angemerkt, dass auch in der Theologie einzelne Hadithe nicht als normativ erachtet werden, was der Ankaraner Hadith-Wissenschaftler Ali Dere wie folgt beschreibt: »Normativ ist dann auch nicht die Überlieferung selbst, sondern vielmehr die Sunna, die in den Hadithen jeweils stets partikulär widergespiegelt ist« (Dere 2010, S. 114). 8 Dabei sind alle hier angeführten unterrichtsfunktionellen Definitionen der Sunna von Relevanz für die eigene Lebenswelt der Schüler*innen, für ihren Alltag und die eigene interpretatorische Auseinandersetzung mit den Quellen.

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3.4.1 Berücksichtigung der Heterogenität Da die Schüler*innen aus ganz unterschiedlich religiösen Elternhäusern stammen und sich unterschiedlichen Rechtsschulen und Weltbildern zugehörig fühlen (Tuna 2016, S. 172), sollten Hadithe in jedem Fall so aufgearbeitet werden, dass terminologische und fachwissenschaftliche Grundlagen unabhängig vom jeweiligen Wissensstand nachvollziehbar sind. Es wäre ein schwieriges, wenn nicht sogar idealistisches Unterfangen, jegliche im Unterricht aufgearbeiteten Inhalte und Quellen mit den Weltbildern und Religionsauffassungen aller Schüler*innen in Einklang bringen zu wollen, doch sollten die jeweiligen Hadith-Inhalte in jedem Fall möglichst wertneutral vermittelt und reflektiert werden. So lässt sich vermeiden, dass die Lehrkraft bestimmte Inhalte ideologisch, diskriminierend oder wertend aufbereitet. Ganz in diesem Sinne heißt es im bayerischen Fachlehrplan: »Der Rolle bestimmter Prophetenworte wird in verschiedenen kulturhistorischen Ausprägungen des Islam eine unterschiedliche Rolle zugewiesen. Dies kann je nach Zusammensetzung der Lerngruppe entsprechend berücksichtigt werden« (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2010, S. 2). 3.4.2 Die Erschließung ethischer und gesellschaftlich relevanter Dimensionen Die Schüler*innen sollten im Religionsunterricht befähigt werden, sowohl ethisch wie gesellschaftlich kontraproduktive als auch förderliche Formen von Denk- und Handlungsmustern zu beurteilen (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 13). Der Hadith stellt für den Unterricht dabei eine besonders geeignete Quelle dar, um ethische und gesellschaftlich relevante Dimensionen der eigenen Religion zu erschließen. Dies liegt daran, dass die überwiegende Mehrheit der im Umlauf befindlichen Überlieferungen als unproblematisch gewertet wird und positive ethische Verhaltensanregungen vermittelt (Dere 2010, S. 114), welche in jedem Fall im Unterricht aufgearbeitet werden sollten, da die Lehrpläne die Bearbeitung ethischer Thematiken vorsehen. Dazu gehören umfangreiche Themen, die in den diversen Lehrplänen der einzelnen Ministerien und Institutionen (IGGO 2011, S. 6, 7, 10, 12, 14, 23, 26, 35, 49f., 54, 55, 63, 64; Ministerium für Bildung und Frauen des Landes SchleswigHolstein 2007, S. 13, 29; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014, S. 24; Hessisches Kultusministerium 2011, S. 29, 35; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014, S. 24; Ministerium für Bildung und Kultur Saarland 2015, S. 4, 15; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2010, S. 4, 12, 25) genannt werden. Dies betrifft Gnade und Großzügigkeit, Bescheidenheit, Enthaltsamkeit, Dankbarkeit und Empathie sowie Verantwortung und eigenverantwortliches

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Handeln (auch Umweltbewusstsein und Tierschutz, Gerechtigkeit im Bewusstsein der Unterschiedlichkeit und Gleichwertigkeit der Menschen sowie Zivilcourage gehören dazu) ebenso wie das »Prinzip des Miteinanders als Wegweiser für ein friedliches Leben, das auch andere Religionen prägt«, das »Schöpfungsmuster und [die] Schöpfungsharmonie«, die Achtung gesellschaftlich bedeutender Strukturen und Institutionen (Familie, Nachbarschaft, religiöse Gemeinden, Eheleben und Sexualität), das Prinzip der Friedfertigkeit und der Gastfreundschaft, der Vergebung und Nachsicht, Werte wie Ehrlichkeit, Achtung, Respekt, Gehorsam sowie Einsicht, Streit und Versöhnung und dazu Liebe und Barmherzigkeit. 3.4.3 Glaubens- und Handlungskompetenzen Die Sunna ist eine essenzielle Quelle zum Nachvollzug der gelebten Religion, der Glaubenspraxis und des Glaubens.9 Durch die Aufarbeitung spezifischer Hadithe können religiöse Praktiken, spirituelle Aspekte und religiöse Verortungen argumentiert und Antworten auf religionsspezifische Fragen gefunden werden. Auch stiftet die Beschäftigung mit den spezifischen Quelleninhalten Klarheit darüber, wo die Religion und wie und wieso sich bestimmte religiöse Phänomene im Alltag und der Glaubenspraxis zeigen (Hessisches Kultusministerium 2011, S. 25). Daher empfehlen die Lehrpläne der jeweiligen Ministerien und Institutionen (IGGÖ 2011, S. 16, 19, 22, 25, 32, 48; Niedersächsisches Kultusministerium 2010, S. 17; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2010, S. 5, 14, 16, 22, 33; Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016, S. 12; Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein 2007, S. 23, 25; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NordrheinWestfalen 2014, S. 26) auch die Auseinandersetzung mit sunnaspezifischen Angaben zum Verhalten in der Moschee oder zum Umgang mit der rituellen Sauberkeit und Waschung, dem Gebet und Bittgebet sowie dem Prophetenglauben und Prophetengruß, dem Lesen des Korans oder dem Gebetsruf, dem Spenden, der Pilgerfahrt, den »Grundlagen islamischen Verhaltens im Kontext von Koran und Sunna« (wie etwa dem Fasten im Ramadan) oder mit der Analyse praktischer Bedeutungen von Termini wie »Islam« und »Muslim«. Die Behandlung dieser Themenbereiche sollte vor allem unter der Prämisse erfolgen, dass die Schüler*innen mit ihren Fragen zu Wort kommen und die jeweiligen Inhalte eigenständig reflektieren können. Damit würden für den Religionsunterricht auch mögliche Unterschiede zwischen den Selbstverständnissen und Lebenswelten der Schüler*innen sowie den Inhalten religiöser Quel9 Im hessischen Curriculum sogar als »Richtschnur« bezeichnet (Hessisches Kultusministerium 2011, S. 19).

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lentexte ersichtlich. Die Schüler*innen sollten entdecken, betrachten und selbst bewerten können, was sie denken und empfinden. Darüber hinaus machen sich vor allem Kinder Gedanken zu existenziellen Fragen der Welt, wie es auch die diversen Institutionen und Ministerien ansprechen (IGGÖ 2011, S. 9, 10; Hessisches Kultusministerium 2011, S. 13, 23; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2010, S. 13; Niedersächsisches Kultusministerium 2010, S. 17, 18; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NordrheinWestfalen 2014, S. 28, 16). Hier können Sunna-Bezüge helfen, Fragen zu beantworten, welche für die eigene religiöse Verortung und Spiritualität ausschlaggebend sind. Somit kann die Sunna es den Schüler*innen ermöglichen, Herangehensweisen an Fragen zum Sinn des Lebens, zum Tod oder zu metaphysischen Existenzen (wie etwa Engeln) zu finden. Demgemäß heißt es in den Lehrplänen, die »Schülerinnen und Schüler setzen sich mit Vorstellungen von Koran und Sunna auseinander, nach denen der Mensch von Gott geschaffen wurde, zu dem er nach seinem Tod wieder zurückgeführt wird« (Ministerium für Bildung und Kultur Saarland 2015, S. 9), ebenso wie mit Hadithen zu Gottesattributen und dem Denken über Gott oder das Menschenbild. Die religiöse Verortung ergibt sich zudem aus Glaubensgrundsätzen, deren Behandlung anhand von Beispielen aus dem Koran und der Sunna vorgesehen ist. Aufgrund der unterschiedlichen Prägung der Schüler*innen (durch voneinander abweichende Kenntnisstände, Kulturen, Ideologien, Gemeindezugehörigkeiten, Einstellungen des Elternhauses etc.) können hier Differenzen zwischen dem eigenen Verständnis sowie den Quelleninhalten auftreten. Die diesbezügliche Auseinandersetzung ist daher immer auch ein Dialog zwischen dem Bekannten und dem Fremden, in dem sich die Schüler*innen selbst positionieren können. Die Beschäftigung mit den Quellen der Religion und dem Glauben ist daher ein wesentlicher Prozess in der Entwicklung der eigenen religiösen Mündigkeit. 3.4.3.1 Schülerzentrierte Kompetenzorientierung; Praktizierbarkeit und Umsetzung unter Wahrung einer positiven Wirkungsdimension Die Vielzahl von Themenfeldern, die sich anhand von Hadithen bearbeiten lassen, bietet den Lehrkräften zwar eine Richtschnur in Bezug auf die Einsatzbereiche der Sunna, lässt aber offen, welche Quellen auf welche Weise herangezogen werden können. In jedem Fall sollten die Lehrer*innen darauf achten, eine offene, schülerzentrierte Reflexion der Quellen zu fördern und eine wertende Behandlung von Inhalten vermeiden. Eigene Erfahrungen bei der Beobachtung der Lehrpraxis haben dem Autor dieses Beitrags gezeigt, dass Lehrer*innen beispielsweise fragen: »Was findet ihr in der Moschee schön?« Eine solche Fragestellung gibt den Schüler*innen jedoch keine Möglichkeit, authentisch zu antworten. Sie werden unbewusst bereits beeinflusst. Als viel besser erwiesen sich dagegen wertneutrale Reflexionsfragen, wie »Was denkt ihr von …«, »Wie

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empfindet ihr …« usw. Daher mutet in Bezug auf die Sunna-Quellen beispielsweise folgende Formulierung aus einem der Lehrpläne fragwürdig an: »Die Schülerinnen und Schüler sollen sich mit unterschiedlichen Ahadith und Qur’anversen damit auseinandersetzen, warum es im Islam einen Fastenmonat – d. h. eine zeitlich begrenzte Fastenzeit – gibt und welche Vorzüge es hat« (IGGÖ 2011, S. 19). Hier stehen die »Vorzüge« des Fastenmonats im Vordergrund, weswegen eine derartige Aufarbeitung die thematische Wahrnehmung der Schüler*innen bereits wertend beeinflusst. Damit besteht jedoch das Risiko, dass eine (an der eigenen Lebenswirklichkeit und den eigenen Bedürfnissen orientierte) adäquate Behandlung der Lehrinhalte verhindert wird. So etwa ist der Fastenmonat für Schüler*innen bisweilen mit negativen Erfahrungen (wie etwa Müdigkeit in der Schule, verminderte Leistungsfähigkeit, Schwierigkeiten mit dem Fasten in den Sommermonaten, Doppelbelastung in der Prüfungszeit etc.) verbunden, daher muss es ihnen ermöglicht werden, ihre Probleme und Bedürfnisse im Religionsunterricht zu thematisieren und auch Hadith-Inhalte diesbezüglich zu deuten sowie sich zu diesen zu positionieren. Dabei sind die religiösen Bedürfnisse der Jugendlichen zu berücksichtigen. Neben der Elementarisierung und der Möglichkeit der kognitiven Erschließung von Sunna-Quellen sollte unbedingt auf die Praktikabilität und Umsetzbarkeit der Quellen geachtet werden. Gerade in den elementaren Schulstufen sollten die Schüler*innen nicht mit Sunna-Quellen (oder mit daraus resultierenden Forderungen) konfrontiert werden, die für sie nicht praktizierbar sind. Dazu folgendes Beispiel aus der eigenen Unterrichtsbeobachtung: In der Absicht, in einer Schulstunde die Relevanz des muslimischen Freitagsgebets hervorzuheben, thematisierte ein Religionslehrer einen Hadith des Inhalts, dass das Herz eines Muslims, der dreimal das Freitagsgebet nicht verrichtet, versiegelt werde (Abu¯ Da¯wu¯d 2008, Hadith Nr. 1052, 1047, 663; at-Tirmid¯ı 2007, Hadith Nr. 13, ¯ 500). Abgesehen davon, dass dieser Hadith zu den sogenannten »Hadithen über Tugenden und Nutzen« (fada¯ʾil) oder »Hadithen zur Einschüchterung und Er˙ mutigung« (targ˙¯ıb wa-tarhı¯b) gehört, zu deren stilistischer sowie inhaltlicher Natur grobe Einschüchterungen, aber ebenso überaus ermutigende Heilsversprechungen zählen, wurde die Überlieferung derartiger Sunna-Inhalte nicht nach denselben strikten Kriterien überprüft wie urteilsrelevante Tradierungen (al-Muha¯ sibı¯ 1964, S. 25f.; al-Qa¯ simı¯ 1961, S. 113; al-Laknawı¯ 1968, S. 46f.). ˙ Darüber hinaus ist es Schüler*innen aufgrund der Schulzeit gar nicht möglich, zum Freitagsgebet zu gehen, weswegen dieser Hadith für die Zielgruppe im IRU nicht nur unpraktikabel ist, sondern auch psychotraumatisch wirken kann. Es werden negative psychologische Effekte ausgelöst, die einem positiven Bezug der Schüler*innen zu ihrer Religion abträglich sein können. Der Unterricht sollte jedoch motivierend sein und nicht einschüchternd, er sollte Hoffnung bringen und nicht etwa Verzweiflung. Wenn aber die Wahrung der Hoffnung zu den

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Prämissen des Religionsunterrichts gehört, sollten derartige Hadith-Inhalte (wenn überhaupt) nur unter Bezugnahme auf kompensierende Quelleninhalte behandelt und auch hinterfragt werden. Nach einem entsprechenden Hinweis gestaltete der Lehrer die Thematisierung des Freitagsgebets gemäß den HadithQuellen um und behandelte Überlieferungen, die den Segen des Freitags und die Vorzüge der kollektiven, gemeinsamen Spiritualität behandelten. Die Wahrung des Gleichgewichts zwischen kognitiver Begreifbarkeit, Aufnahmefähigkeit, Umsetzbarkeit/Praktikabilität, der Stiftung von Hoffnung und dem Risiko der Erzeugung von Hoffnungslosigkeit gehört folglich zweifelsohne zu den Prämissen der Aufarbeitung von Sunna-Quellen im IRU. Sie erfordert die altersgerechte Unterrichtsvorbereitung unter Berücksichtigung von Denkkapazitäten. Sollten sich gewisse Überlieferungen als unpassend darstellen, wäre zu erwägen, nicht immer den gesamten Inhalt/Text im Unterricht zu behandeln. Die Lehrkraft kann auch einen Ausschnitt verwenden, wenn sie diesen für förderlich hält.

4.

Resümee

Um die Frage, welche Hadith-Inhalte als Sunna-Quellen gelernt werden sollen, resümierend zu beantworten, seien die bisherigen Ausführungen im folgenden grafischen Auswahlkonzept zusammenfassend dargestellt:

Kompetenzorientierung: Kogni#ve Grei"arkeit

Psychologische Faktoren

Curriculare Zielorien#ertheit

Inhalt eher allgemein ( ) oder eher spezifisch ( )?

Gesellscha!licher Beitrag (Pluralität/ Diversität) Grafik 1: Auswahlkonzept für Hadithe im IRU

Erläuterung der Grafik: Die Grafik visualisiert die Empfehlung, die curriculare Zielorientiertheit ins Zentrum jeder Hadith-Auswahl zu rücken. Wenn dieses Kriterium für die Beschäftigung mit bestimmten Hadithen zutrifft, können diese

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für den Unterricht ausgewählt werden (dies gilt ebenso für die Gegenüberstellung von Überlieferungen oder die kritische Beschäftigung mit konträren Inhalten). Da am Ende jeder Beschäftigung mit Hadithen also in jedem Fall ein curricular zielorientiertes Ergebnis stehen soll, kann dies als wichtigstes Kriterium für die Hadith-Auswahl im IRU gelten. Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass die Inhalte kompetenzorientiert und für die Schüler*innen kognitiv greifbar sind. Im Allgemeinen lassen sich zudem die Kriterien aufstellen, dass für den jeweiligen Unterrichtsgegenstand als »zentral« ausgewählte Sunna-Quellen von einer eher allgemeinen (ʿa¯mm) und nicht von einer spezifischen (ha¯ss) Repräsentati˘ ˙˙ vität sein sollten. Letztendlich sollten die Hadith-Auswahl und das aus der Beschäftigung damit zu erwartende Unterrichtsergebnis unter Abwägung psychologischer Faktoren sowie im Hinblick auf einen positiven gesellschaftlichen Beitrag geplant werden. In Anbetracht der Ergebnisse dieses Beitrags empfiehlt es sich, die Vermittlung von Sunna-Quellen unter Einbezug der ausgemachten Kriterien und Schlüsselkompetenzen durchzuführen. Die folgende Grafik beantwortet zusammenfassend die Frage, welche Kriterien/Kompetenzen beim Einsatz der Sunna-Quellen im IRU relevant sind. Die Darstellung verdeutlicht zudem, dass alle angeführten Belange letztendlich miteinander zu verknüpfen sind: Forcierung der Deutungskompetenz Wahrung der thema#schen Ganzheitlichkeit Einbezug von hermeneu#schen Methoden und Methoden einer modernen Sinnsuche Hadith-Aufarbeitung unter Wahrung von Sozialkompetenzen Berücksich#gung von Glaubens- und Handlungskompetenzen Schülerzentrierter Einsatz: Wahrung posi#ver Wirkungsdimensionen und der Praxistauglichkeit

Grafik 2: Vermittlungskonzept für Hadithe im IRU

5.

Schlusswort

Die in diesem Beitrag dargestellten Themenfelder und Kriterien zur Verwendung von Hadith und Sunna im islamischen Religionsunterricht erheben natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Kriterien und Themen können beliebig ausgeweitet werden, sofern sie den Zielen des Religionsunterrichts und den Lehrplänen entsprechen. Die hier erfolgte Beschäftigung mit der Thematik des Hadiths im IRU ergab jedoch auch, dass der Verwendung der Sunna im islamischen Religionsunterricht Grenzen gesetzt sind und beantwortet somit die Frage,

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in welchem Ausmaß Hadithe im IRU herangezogen werden können. Es zeigte sich, dass die Grenzen von der Quantität der Quellen, der zur Verfügung stehenden, limitierten, Unterrichtszeit sowie den curricularen Zielen und Themenfeldern bestimmt werden. Deutlich wird jedoch auch, dass in den Curricula (welche als Grundgesetze des Religionsunterrichts fungieren) sowohl der Sunna als auch den Hadithen ein zentraler Stellenwert zukommt, wiewohl diese Funktion der Sunna je nach Curriculum unterschiedlich sein kann, was wiederum eine Reihe von Fragen aufwirft. Es wurde ersichtlich, dass es für den Einsatz des Hadiths im Religionsunterricht der Formulierung klarer Kriterien bedarf, da andernfalls nicht nur die Lehrer*innen mit der Quantität der Quellen überfordert werden, sondern auch der Überblick über die jeweilige thematische Abhandlung verloren gehen kann. Die angeführten kompetenztechnischen Kriterien legen nahe, dass die thematische Abhandlung eine ganze Reihe von zu berücksichtigenden Sensibilitäten erfordert. In Anbetracht der aufgezählten Kriterien und Einsatzfelder können die Schüler*innen »exemplarisch aus der Sunna des Propheten Impulse für das eigene Handeln ableiten, die Grenzen der detailgetreuen Übertragbarkeit reflektieren und Handlungsperspektiven für ihr eigenes Leben in einer modernen Gesellschaft entfalten« (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport BadenWürttemberg 2016, S. 27). Somit fungiert der Hadith im Religionsunterricht als Orientierungshilfe (Sarıkaya 2017, S. 114), die jenen Zielen dienen sollte, denen sich der IRU vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Herausforderungen zu stellen hat. In Bezug auf die Kompetenzorientierung sind gerade die Rückmeldungen und Reflexionen der Schüler*innen wichtig, um diese Herausforderungen zu erkennen und zu bedenken. Aus dem Einsatz des Hadiths im IRU ergibt sich somit auch ein wichtiger Ertrag für die islamische Theologie, wenn es darum geht, eine praxisbezogene, zeitgenössische und zielgruppenorientierte Theologie zu betreiben.

Literaturverzeichnis Abu¯ Da¯wu¯d, S. b.-A. (2008). Sunan. Riadh: Darussalam. Aslan, E. (2009). Muslime in Österreich und das Modell Österreich. In E. Aslan (Hrsg.), Islamische Erziehung in Europa (S. 325–351). Wien: Böhlau. Aslan, E. (2014). Hadith-Didaktik. Eine lebendige Beziehung zur Sunna des Propheten Muhammad. In Ö. Özsoy & A. Bas¸ol (Hrsg.), Geschichtsschreibung zum Frühislam. ˙ Quellenkritik und Rekonstruktion der Anfänge (S. 379–388). Frankfurt a. M.: EB Verlag.

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Naime Çakir-Mattner

Genderkompetenz in der islamischen Theologie und Religionspädagogik

Zusammenfassung Der vorliegende Artikel stellt grundlegende Überlegungen zur Diversitätssensibilität und Genderkompetenz in der (islamischen) Religionspädagogik an. Er gibt zunächst einen kurzen Einblick in die Sex-Gender-Debatte und stellt einige zentrale Begriffe der Genderforschung vor, um im Anschluss daran näher auf die besondere Relevanz der Intersektionalitätstheorie und des Gender Mainstreamings für die islamische Theologie und Religionspädagogik einzugehen. Schließlich wird aufgezeigt, wie Genderkompetenz erreicht werden kann – dies anhand einer exemplarischen Seminarplanung, die neben der Wissensvermittlung die Haltungs- und Handlungsebene in der Lehre in den Blick nimmt.

1.

Vorüberlegungen

Im Jahr 2006 forderte der Deutsche Akkreditierungsrat in einer Erklärung alle Institutionen des deutschen Akkreditierungssystems auf, Geschlechtergerechtigkeit im Sinne des Gender Mainstreamings als Prüfkriterium in Studienprogrammen und Qualitätssicherungssystemen zu verankern (Hilgemann, Kortendiek & Knauf 2012, S. 41). Somit gehört die Vermittlung von Genderkompetenz1 an deutschen Hochschulen zum selbstverständlichen Bildungsauftrag, ist dabei aber keineswegs auf 1 Zur vertiefenden Lektüre seien an dieser Stelle zwei Publikationen zum Thema empfohlen: Liebig, B., Rosenkranz-Fallegger, E., & Meyerhofer, U. (Hrsg.). (2009). Gelebte GenderKompetenz. Checklisten für Hochschulen und Dozierende. Zürich. http://www.uni-frankfur t.de/47000719/Gelebte_Gender_Kompetenz.pdf. Zugegriffen: 30. Juni 2019. Landeskonferenz der Frauenbeauftragten und der Landesrektor_innenkonferenz im Land Bremen (Hrsg.). (2014). Orientierungshilfe für eine gendergerechte Sprache an den Hochschulen im Land Bremen. https://www.uni-bremen.de/fileadmin/user_upload/sites/zentrale-frauenbeauftragt e/UfHuql-OrientierungshilfeFuerGendergerechteSprache.pdf. Zugegriffen: 30. Juni 2019.

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Lehrveranstaltungen zum Thema »Gender« beschränkt. Ebenso geht es darum, dass die gesamte Lehre unabhängig von ihrer thematischen Schwerpunktsetzung gender- und diversitätssensibel gestaltet werden soll. Als junge Disziplin steht hier die islamische Religionspädagogik noch am Anfang, da – trotz der seit den 1960er-Jahren geführten »Sex-Gender-Debatte« – in der konventionellen islamischen Auffassung immer noch vielfach ein Verständnis im Sinne des klassischen Geschlechterdifferenzmodells vorherrscht. Gegenüber diesen antagonistischen Vorstellungen haben »Islamische Studien« bzw. die »Islamische Religionspädagogik« als moderne Wissenschaftsdisziplinen in der deutschen Wissenschaftslandschaft Diversitätssensibilität und Genderkompetenz jenseits kulturalistischer Zuschreibungen und Essenzialisierungen als nicht verhandelbare Querschnittsziele in Lehre und Forschung zu implementieren. Zukünftig sind hierzu theologisch fundierte Impulse von den neu entstandenen Zentren für Islamische Theologie bzw. Studien an deutschen Hochschulen zu erwarten. Hierbei sind die islamische Theologie sowie die islamische Religionspädagogik zunächst vor die Aufgabe gestellt, die durch die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse ausgelösten möglichen Irritationen und Abwehrhaltungen sensibel zu bearbeiten. Dies gilt nicht nur in Bezug auf das theoretische Wissen über Geschlechterrollen und Identitäten, sondern erstreckt sich über das gesamte religiöse Wissen, das sich Studierende im Zuge »alltagstheoretischen Wissens« habituell angeeignet haben. Die Lehre ist gefordert, Lehrinhalte methodisch und didaktisch so aufzubereiten, dass Lehrer*innen über den Erwerb von rein abstraktem Wissen hinaus dazu befähigt werden, eine »aufmerksame, einfühlsame und verstehende Hinwendung zu den Lebenswelten und religiösen Ausdrucksformen von Schülern und Schülerinnen« zu lernen (Knauth 2015, S. 72). Es gilt hierbei, »im Sinne problemorientierter Ansätze religiöse Themen auf der Schnittfläche traditionsbezogener, individueller und gesellschaftsbezogener Aspekte mehrperspektivisch zu entfalten« (ebd.). Erst dann können Studierende ein pluralitätsbejahendes und gendergerechtes Verständnis der islamischen Religion entwickeln und den Blick für die Mehrdimensionalität der geschlechtlichen Identität schärfen. Aus diesen Gründen wird der Fokus dieses Beitrags auf die Genderkompetenz in der Lehre gelegt. So soll zunächst ein Einblick in die Sex-Gender Debatte gegeben, kurz in einige zentrale Begriffe der Genderforschung eingeführt und der besondere Stellenwert des Gender Mainstreamings und der Intersektionalitätstheorie für die islamische Theologie und Religionspädagogik hervorgehoben werden. Schließlich wird aufgezeigt, wie Genderkompetenz erreicht werden kann – dies anhand einer konkreten Seminarplanung, die neben der Wissensvermittlung im Wesentlichen die Haltungs- und Handlungsebene in der Lehre in den Blick nimmt.

Genderkompetenz in der islamischen Theologie und Religionspädagogik

2.

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Die Sex-Gender-Differenz

In der Frauenbewegung der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre gerieten neben gesellschaftskritischen Analysen bestehender Geschlechterhierarchien auch Fragen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation in den Fokus des Interesses. In diesem Zusammenhang wurde Geschlecht zunehmend als gesellschaftliche Strukturkategorie bzw. als soziokulturelle Konstruktion diskutiert. Unterschieden wurde nun zwischen biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender), das Prägungen bezüglich Rolle, Verhalten etc. aufgreift und die Basis für soziokulturelle und religiös-ethnisch geprägte Rollenmodelle bildet. Diese Trennung richtete sich gegen die alltagstheoretische Vorstellung, dass die Geschlechtszugehörigkeit aufgrund feststellbarer Merkmale von Geburt an lebenslange Gültigkeit habe, und nahm die bisher vernachlässigten sozialen Konstituierungsmerkmale einer geschlechtlichen Identität näher in den Blick. Vor dem Hintergrund der postulierten Sex-Gender-Differenz konnten traditionelle geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen in ihrer Verschränkung mit patriarchalen Machtinteressen näher analysiert und dekonstruiert werden (Wieser 2016, S. 3; Bendl et al. 2007, S. 36ff.). Nach Kaupp ist der Gender-Begriff »in der Lage, den herrschenden Dualismus von Mann/Frau, Kultur/Natur, Vernunft/Gefühl aufzubrechen und auch diejenigen Positionen zu kritisieren, die den Dualismus in einer einfachen Umkehrung zugunsten der Frau benutzen« (Kaupp 2003, S. 216f.). Eine Erweiterung erfuhr die Sex-Gender-Debatte durch den »Doing-Gender«Ansatz,2 der den Fokus auf die Bedeutung von Interaktionsprozessen für die Konstituierung der Geschlechtsidentität richtete. Das Konzept des »Doing Gender« – ein Zentralbegriff der interaktionistischen Geschlechterforschung – hebt die aktive Beteiligung des Individuums an der (Re-)Produktion der Geschlechterverhältnisse hervor. Von Interesse ist hier das habituelle Verhalten, mit dem Menschen sich in spezifischer Weise (Körperhaltung, Sprachduktus, Blicke etc.) inszenieren, um ihre adäquate Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht kenntlich zu machen. Dies erfordert umgekehrt die entsprechende Kenntnis der Signale des Gegenübers, um dessen Handeln aus der gesellschaftlich vorgegebenen Bewertungsperspektive im Zuge einer »vor-urteilenden Blickperspektive« beurteilen zu können. Das »Doing-Gender«-Konzept wendet sich somit gegen einen impliziten »heimlichen Biologismus« der Sex-Gender-Differenz und formuliert demgegenüber eine dreigliedrige Neufassung der Geschlechtsidentität, in der auch die biologische Zuordnung (sex) interaktionell-sozial gedeutet wird. 2 Bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde in der Soziologie in den Arbeiten von Erving Goffman und Harold Garfinkel die Zweigeschlechtlichkeit als Personenmerkmal infrage gestellt (Faulstich-Wieland 2004, S. 176).

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Diese drei Bereiche der Geschlechtsidentität wurden von Candace West und Don H. Zimmermann wie folgt systematisiert: – »sex«: die Geburtsklassifikation des körperlichen Geschlechts aufgrund sozial vereinbarter biologischer Kriterien; – »sex-category«: die soziale Zuordnung zu einem Geschlecht im Alltag aufgrund der sozial geforderten Darstellung einer erkennbaren Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie (diese muss nicht der Geburtskategorie entsprechen); – »gender«: die intersubjektive Validierung in Interaktionsprozessen durch ein situationsadäquates Verhalten und Handeln im Lichte normativer Vorgaben und unter Berücksichtigung der Tätigkeiten, welche der in Anspruch genommenen Geschlechterkategorie angemessen sind (Gildemeister 2004, S. 133; Faulstich-Wieland 2004, S. 177). Eine weitere Ausdifferenzierung erfuhr die Geschlechterforschung neben dem »Doing-Gender«-Ansatz mit der Intersektionalitätstheorie, die sich in den 1990er-Jahren in der Geschlechterforschung zunehmend etablierte (BednarzBraun & Heß-Meining 2004, S. 21).

2.1

Der intersektionale Ansatz

Die Intersektionsanalyse zeigt nicht nur Schnittmengen von Diskriminierungen und die Prozesshaftigkeit binärer Differenzlinien auf, sondern verdeutlicht zudem die jeweiligen Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse, in die kategoriale Zuschreibungen eingebettet sind (Küppers 2014). Sie macht deutlich, dass Menschen immer am Schnittpunkt (intersection) verschiedener Differenzlinien hinsichtlich sozialer und ethnischer Herkunft, religiöser Zugehörigkeit, Hautfarbe, sexueller Orientierung etc. positioniert sind, wodurch nicht alle Menschen im gleichen Maße von Diskriminierung betroffen sind (ebd.). Somit gewährleisten intersektionale Ansätze, dass neben der Kategorie Geschlecht und Herrschaftsverhältnissen – insbesondere in Bezug auf diejenigen Frauen und Männer, die sich z. B. als der islamischen Religion zugehörig beschreiben – immer auch die Kategorien Ethnizität, Migration, Nationalität und Religion mitberücksichtigt werden. Auf diese Weise lassen sich mögliche Verstrickungen und Funktionen der Ethnisierung und Vergeschlechtlichung herausarbeiten. Die Intersektionsanalyse dekonstruiert demzufolge unterschiedliche Differenzlinien und ihre Verschränkungen, deren strukturelle Interdependenzen und die daraus resultierende ausgrenzende und diskriminierende Wirkung, mit der Ungleichheit strukturell etabliert und legitimiert wird.

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Auf diese strukturellen Ungleichheiten wiesen schwarze Wissenschaftlerinnen in den USA und in Großbritannien bereits in den 1980er-Jahren kritisch hin. Zudem konnten sie aufzeigen, dass die spezifischen Lebensbedingungen von schwarzen bzw. migrantischen Frauen in der bis dato bestehenden feministischen Forschung kaum Berücksichtigung fanden. Den Grund hierfür sahen sie im impliziten Rassismus weißer Frauen- und Geschlechterforscherinnen, die ihr wissenschaftliches Interesse allein auf die eigene Statusgruppe richteten. Diskriminierung, Benachteiligung und die Etablierung hierarchischer Verhältnisse fand demnach nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch innerhalb ein und derselben Geschlechtergruppe statt. Dies gab Anlass dazu, den bisherigen eingeengten Fokus, der im Rahmen der Geschlechterforschung primär auf das Geschlecht, in der Migrationsforschung auf die Ethnizität oder in den QueerStudies auf die Sexualität gerichtet war, weiter zu fassen. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass die jeweiligen Ergebnisse der Geschlechterforschung nicht nur in der Wissenschaft zum Erkenntnisgewinn und zu Diskussionen führten, sondern auch in politische Entscheidungsprozesse einflossen.

2.2

Der Gender-Mainstreaming-Ansatz

Als ein wesentliches Element eines Leitbildes für Geschlechtergerechtigkeit hat sich in diesem Zusammenhang der international gebräuchliche Begriff »Gender Mainstreaming« etabliert, der mit dem Anspruch verbunden ist, »bei allen gesellschaftlichen und politischen Vorhaben die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern grundsätzlich und systematisch zu berücksichtigen« (BMFSFJ 2016). Mit dem Mainstreaming-Ansatz werden in politischen Entscheidungsprozessen die Erkenntnisse der Geschlechterforschung nicht allein auf frauenspezifische Problembereiche, sondern auf die Kategorie Geschlecht insgesamt bezogen. Das Ziel dabei ist, geschlechtersensible Entscheidungen in allen gesellschaftspolitischen, wirtschafts- und berufsspezifischen Lebensbereichen begründet treffen zu können (Neusüß & Chojecka 2009). Dabei sollen u. a. männerzentriert-patriarchale Dominanzansprüche im Bereich gesellschaftlich-politischer und unternehmerischer Organisationsstrukturen sichtbar gemacht und die Gleichstellung von Mann und Frau angestrebt werden.3 3 Der Mainstreaming-Ansatz wurde allerdings aufgrund des dort verankerten Gleichheitsdiskurses und der Erweiterung auf den männlichen Bereich schon sehr früh vonseiten emanzipatorischer Frauengruppen einer grundsätzlichen Kritik unterzogen, da man hier eine latente Anpassungsstrategie an die dominierende männliche Norm vermutete, die die patriarchalen

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Die Doppelstrategie des Gender-Mainstreaming-Ansatzes besteht darin, dass im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit nicht nur ein Abbau von Diskriminierungen, sondern auch die Förderung der Diskriminierten angestrebt wird. Methodisch wird dabei der Schwerpunkt auf drei Prinzipien gelegt: (1) auf die deskriptive Methode zur Überprüfung von politischen Aktivitäten und Entscheidungsprozessen auf ihre Geschlechterrelevanz, (2) auf eine normative politische Strategie, mit der Entscheidungen unter der Maßgabe der Chancengleichheit geprüft werden, und (3) auf einen umfassenden radikalen Reorganisationsansatz, mit dem langfristig die geschlechtergerechte Umgestaltung der Gesellschaft erreicht werden soll (Schaufler 2004, S. 576). Den rechtlichen Rahmen zur Durchsetzung des Gender Mainstreamings bildet die europäische Gleichstellungspolitik, die erstmals im Vertrag von Amsterdam 1997 festgelegt wurde und dort die »uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern am öffentlichen Leben – insbesondere am Erwerbsleben – als ein wesentliches Ziel europäischer Politik« proklamierte (Bundeszentrale für politische Bildung o. J.). Die Bundesrepublik Deutschland folgte dem Amsterdamer Vertrag mit einem Kabinettsbeschluss vom 23. Juni 1999, mit dem »das Leitprinzip der Geschlechtergerechtigkeit als durchgängiges Leitprinzip von Regierungshandeln anerkannt wurde, das mit einer Einführungsstrategie zu fördern sei« (BMFSFJ 2016). Von diesem Leitprinzip blieben die Schulen nicht unberührt. Demnach haben sie im Zuge ihrer zu vermittelnden Lehrinhalte »Mädchen und Jungen zu einer selbstbestimmten und sozial verantwortungsbewussten Lebensgestaltung zu befähigen – unabhängig von tradierten Geschlechterrollen« (MSB NRW 2015, S. 3). Auch die Hochschulen sind in der Pflicht, eine wirkungsvolle Gleichstellungspolitik im Sinne des Mainstreamings sowohl in den universitären Strukturen als auch in Forschung und Lehre durchzusetzen. Die Landeskonferenz der hessischen Hochschulfrauenbeauftragten formuliert beispielsweise die notwendige Vermittlung von Genderkompetenz in der Hochschuldidaktik wie folgt: »Die Hochschuldidaktik steht bei der Vermittlung von Gender-Kompetenz vor einer mehrdimensionalen Aufgabe: Fachwissen aus der Frauen- und Geschlechterforschung muss genauso vermittelt werden wie didaktisch-methodische Kompetenzen für die gendersensible Unterrichtsgestaltung sowie interaktionale Kompetenzen in Hinblick auf eine gendersensible Gestaltung von Interaktionsprozessen im Lehrgeschehen. Darüber hinaus müssen Hochschullehrende auch über geschlechterbezogene SelbstHerrschaftsverhältnisse gegenüber Frauen unberücksichtigt lasse. Trotz aller Kritik bleibt der Gender-Mainstreaming-Ansatz für die Pädagogik bedeutend, weil er in pädagogischen Prozessen auch auf die Handlungsebene abzielt und damit Individuen und Organisationen dazu veranlasst, »Geschlechtergerechtigkeit als Leitprinzip« zu etablieren, sodass in der universitären wie schulischen Ausbildung kein Weg daran vorbeigeht, Gendersensibilität in der Lehre zu verankern (vgl. Kahlert 2004, S. 94).

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reflexivität verfügen, um sich und die ablaufenden Unterrichtsprozesse immer wieder neu hinterfragen und ihre Lehre daraufhin verbessern zu können.« (Landeskonferenz der hessischen Hochschulfrauenbeauftragten 2014, S. 11)

Demnach ist in Hinblick auf das Gender-Mainstreaming die Vermittlung fundierter Gendertheorien und von Genderkompetenz im Rahmen der islamischen Religionspädagogik nicht der persönlichen Präferenz der einzelnen Lehrenden überlassen, sondern verbindlicher Inhalt der universitären Lehre.

3.

Genderkompetenz in der Lehre

All dies ruft im Rahmen der Religionspädagogik – im Zuge des Erwerbs einer Genderkompetenz – nach der Vermittlung fundierter Gendertheorien, wobei Studierenden Kenntnisse über die verschiedenen Facetten von Gender-Aspekten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Lebensvollzügen zu vermitteln sind, um diese insbesondere in den pädagogischen Bezugsfeldern identifizieren und ihnen begegnen zu können. Die darauf abzielende Genderkompetenz impliziert hier neben der Bewusstmachung der sozialen Konstruktion von Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnissen auch die selbstreflexiv gewonnene Fähigkeit zur Thematisierung eigener Geschlechterrollenbilder und die Anwendung von Gender als Analysekategorie im privaten wie beruflichen Kontext (Böllert & Karsunky 2008, S. 7). Grundvoraussetzung hierzu ist die Sensibilität für geschlechtsbezogene Aspekte des eigenen Handlungsfeldes, die die Fähigkeit zur Selbstreflexion bezüglich der eigenen Geschlechterrolle erforderlich macht. Dies erfordert ein spezifisches »Gender-Wissen«, das ein detailliertes Wissen über Geschlechterdifferenzen und -hierarchien umfasst, das mit dem persönlichen bereichsspezifischen Fachwissen verknüpft und in die eigenen Tätigkeitsbereiche transferiert werden soll. Eine auf diesem Wege zu erlangende Genderkompetenz zur Herstellung und Sicherung von Geschlechtergerechtigkeit wird somit zur fachund sachbezogenen Handlungskompetenz, wenn sie (1) Wissen über die normativen, kulturellen und politischen Dimensionen von Geschlecht bereitstellt, (2) Kenntnisse über zentrale Forschungsergebnisse der Frauen-, Männer- und Geschlechterforschung erlangt, (3) Einblicke in gleichstellungspolitische Konzepte gibt, (4) Sensibilisierung für die Bedeutung und Folgen herrschender Geschlechterunterschiede verdeutlicht, (5) Strategien sowie fachspezifisches Gender-Wissen in den jeweiligen Arbeitsfeldern (z. B. bezogen auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Bildungswesen) verlangt und (6) geschlechtsbezogene Stereotypisierungen, die sich als Diskriminierungen auswirken, und Wege einer De-Stereotypisierung sowohl in den Familien- und den Berufsrollen

552

Naime Çakir-Mattner

als auch in der pädagogischen Auffassung geschlechtsbezogener Rollenfixierungen aufzeigen kann. Hieraus resultiert eine spezifische genderbezogene Handlungsebene, die sich auf die Fähigkeit bezieht, Gender-Aspekte in den jeweiligen Handlungsfeldern und Tätigkeitsbereichen zu identifizieren und Methoden und Instrumente anzuwenden, die der geschlechtergerechten Gestaltung der pädagogischen Praxis dienlich sind (Böllert & Karsunky 2008, S. 8). Besonders geeignet scheint hier die »biografische Methode«, die die Haltungsund Handlungsebene in der Lehre im Blick hat.4 Die primäre Zielsetzung einer Biografiearbeit im Sinne einer biografischen Selbstreflexion besteht in einer durch strukturierte Übungen methodisch geleiteten Rückbesinnung auf die eigene Lebensgeschichte. Anhand bestimmter Themenbereiche (soziale, familiäre, historische, kulturelle etc.) rufen sich Studierende ihre identitätsprägenden Lebensereignisse gewissermaßen reinszenierend in Erinnerung (Winheller 2015, S. 471f.). »Erinnern« meint im Zusammenhang mit einer solchen biografischen Selbstreflexion nicht die bloße Aneinanderreihung von äußeren, datenbezogenen Lebensgegebenheiten, sondern die dem eigenen Leben zugeschriebenen impliziten Sinndeutungen, die in selbstreflexiver Distanz unter dem prägenden Einfluss gesellschaftlich-soziokultureller Entstehungsbedingungen in ihren subjektiven Deutungsprägungen dekonstruiert und nach Möglichkeit in einen neuen Bedeutungszusammenhang gestellt werden können (Gudjons et al. 2008, S. 22). Die biografische Selbstreflexion ist demnach eine bedeutsame Methode zur Vermittlung von Genderkompetenz, indem die eigene Biografie unter einem geschlechterrelevanten Blickwinkel reflektiert und die geschlechtsbezogene Identifikation samt der daraus resultierenden Verinnerlichung der Rollenmodelle, Erwartungshaltungen und Interaktionen des »Doing Gender« in der eigenen Biografie aufgespürt und dekonstruiert werden können.

4 Die Darstellung der Biografiearbeit bezieht sich auf die Publikation von Gudjons, WagnerGudjons & Pieper (2008). Dort finden sich neben der Erklärung der Biografiearbeit als Methode auch Übungsanleitungen. Empfehlenswert sind auch die folgenden Beiträge: Winheller, S. (2016). Biographische Selbstreflexion. In J. Wedl & A. Bartsch (Hrsg.), Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung (S. 461–487). Bielefeld: transcript. Justen, N. (2006). Biographiearbeit mit Studierenden der Diplom-Pädagogik. Zwischen wissenschaftlicher Theorie und biographischen Lernerfahrungen. Der pädagogische Blick, 14/2, (S. 94–106). https://www.pedocs.de/volltexte/2012/5837/pdf /PaedBlick_2006_2_Justen_Biographiearbeit_D_A.pdf. Zugegriffen: 30. Juni 2019.

Genderkompetenz in der islamischen Theologie und Religionspädagogik

3.1

553

Genderkompetenz in der islamischen Religionspädagogik

In der muslimisch-theologischen Literatur ist vielfach noch ein Geschlechterdifferenzmodell vertreten, das an der Vorstellung einer »natürlich-biologisch« vorgegebenen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit festhält. Diese gibt durch eine klar nach Wesensmerkmalen getrennte Geschlechtshierarchie gewissermaßen die jeweils darauf bezogenen Aufgabenverteilungen und Verhaltensmerkmale von Frauen unter dem Primat des Männlichen vor (vgl. hierzu exemplarisch Dawoud 2010). Ein wie auch immer geartetes Zuwiderhandeln gegen diese Geschlechterhierarchie kommt gemäß diesem Verständnis einem Verstoß gegen die »natürliche Ordnung« gleich, welcher im Sinne einer naturgegebenen »Erwartungsnormalität« zu unterbinden und zu korrigieren ist. Genderkompetenz in der islamischen Religionspädagogik erfordert deshalb den historischen, kritischen und hermeneutischen Zugang zu den islamisch-theologischen Quellen und die Anknüpfung an die aktuellen Theoriedebatten innerhalb der »Gender Studies«. Als theoretischer Bezugsrahmen sind hier »Doing Gender« und der intersektionale Ansatz vorgestellt worden. Der intersektionale Ansatz impliziert einen über die Dekonstruktion von zugeschriebenen Geschlechteridentitäten und Rollenmustern hinausreichenden ethischen Anspruch, der sich – analog zum rassismuskritischen Denken und Handeln – gegen jegliche Art von ideologisch (national, ethnisch, religiös und geschlechtlich) fixierten Ausgrenzungen und Diskriminierungen richtet, weshalb er für die Genderforschung innerhalb der islamischen Theologie im europäischen Kontext seine besondere Bedeutung gewinnt, da hier mehrere Problembereiche zu bearbeiten und zu untersuchen sind: Zum einen sollen die islamischen Quellen im Hinblick auf patriarchale Deutungsmuster untersucht werden, aus denen die Benachteiligung der Frauen begründet wird. Zum anderen sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die muslimischen Männer tendenziell als Aggressoren identifizieren (Ethnisierung von Gewalt und Sexismus) und muslimische Frauen auf einen Opferstatus reduzieren, herausgearbeitet werden, wodurch deutlich wird, dass nicht nur die Frage der Geschlechtergerechtigkeit, sondern auch die strukturelle Diskriminierung muslimischer Minderheiten insgesamt in den Blick genommen werden muss. Wichtig ist diese Doppeltperspektive innerhalb der islamischen Religionspädagogik auch deshalb, weil m. E. den Studierenden ihre eigene Diskriminierungserfahrung im europäischen Kontext als muslimische Minderheit im Wege steht, die eigenen religiösen Quellen sowie ihre eigenen Rollen- und Geschlechtermodelle einer kritischen Analyse bzw. Reflexion zu unterziehen, die zu den Grundvoraussetzungen gehören, um Genderkompetenz zu erlangen.5 5 Die nachfolgenden Ausführungen hierzu sind im Zuge persönlicher praktischer Erfahrungen

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So äußerte ein*e Student*in6 im Rahmen eines Seminars zur Gendersensibilität, das die Autorin leitete, dass sie/ihn diese Theorien überhaupt nicht überzeugten. Sie/er greife sich aus den angebotenen Theorien im Grunde lediglich diejenigen Aspekte heraus, die mit ihrem/seinem islamischen Weltbild und ihrer/seiner Rollenvorstellung übereinstimmen. Damit wurde deutlich, dass aus dieser eingenommenen »Wahrheitsposition« nur »passgenaue« Wissenselemente herausgefiltert werden können bzw. dürfen, also solche, die mit den eigenen unerschütterlichen Grundüberzeugungen kompatibel sind. Demgegenüber müssen andere, als irritierend empfundene, Positionen als »unislamisch« zurückgewiesen und verworfen werden. Es zeigte sich folglich, dass solche potenziell selbstbezüglichen Themenbereiche auf rein theoretisch-kognitiver Ebene lediglich abstrakt bearbeitet werden konnten, solange diese in reflexiver Distanzierung zum eigenen Ich auf Abstand gehalten werden konnten. Der notwendige verstehende Zugang – der im dialogischen Sinne ein Offen-Sein gegenüber dem Unbekannten bzw. dem Anderen-des-Eigenen erfordert – bleibt auf diesem Wege tendenziell verschlossen. Dies erforderte es, das Material so aufzuarbeiten, dass Studierende auf emotionalem Weg angesprochen und somit der lebensweltliche Bezug und die Relevanz der Thematik durch Einsatz verschiedener Methoden hergestellt werden konnten, was im Folgenden exemplarisch auszugsweise erläutert und dargestellt wird.

4.

Planung eines Seminars zum Thema »Ethnisierung von Sexismus«

Das Seminar ist Teil eines Moduls zum Thema »Gender«, das eine Vorlesung7 beinhaltet und mit einer Übung (Blockveranstaltung)8 abschließt. Im Seminar soll eine mögliche Verbindung der vermittelten Theoriebezüge mit der eigenen

mit Lehrinhalten der islamischen Theologie entstanden und erheben daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 6 Hier wird diese Schreibweise zur Anonymisierung gewählt. 7 Als Teilnahmevoraussetzung zum Seminar wird eine Vorlesung als theoretische Einführung zum Thema »Gendertheorien und Genderkompetenz« vorausgesetzt. Gemäß der Empfehlung der Landeskonferenz der hessischen Hochschulfrauenbeauftragten (LaKoF 2014, S. 11) sollte die Vorlesung einen Überblick über die unterschiedlichen Theorien der Frauen- und Geschlechterforschung in Geschichte und Gegenwart vermitteln und insbesondere verdeutlichen, dass das Geschlecht immer soziale, kulturelle, politische und biologische Komponenten beinhaltet, die dem historischen Wandel unterliegen. 8 Im Zuge eines dritten Bausteins (Übung) sollen im Rahmen einer Blockveranstaltung die »didaktisch-methodischen Kompetenzen sowie interaktionalen Kompetenzen in Hinblick auf

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Lebenswelt der Studierenden hergestellt und im Zuge dessen die performative Hervorbringung von (Zwei-)Geschlechtlichkeit sowie die sozialstrukturelle Verankerung geschlechtlicher Ungleichheit verdeutlicht werden.

4.1

Methodisch-didaktische Überlegungen

Das Seminar wurde zunächst in tabellarischer Form geplant und mit den Studierenden in der ersten Seminarsitzung besprochen. Die Tabelle enthält die Gliederung des Themas, Literaturangaben und Übungsvorschläge, die hier lediglich auszugsweise dargestellt werden können. Die Übungen, die für das Seminar ausgewählt wurden, haben teilweise auch einen biografischen Bezug, der mit der biografischen Methode nicht gleichzusetzen ist. Vor Seminarbeginn werden die angegebenen Texte mit konkreten Fragestellungen bearbeitet, die die Dozentin den Studierenden mindestens eine Woche vorher zuschickt. Die Beantwortung der Fragen soll sicherstellen, dass die Texte von allen Teilnehmer*innen gelesen werden. Dies dient auch dazu, den Studierenden eine Rückmeldung darüber zu geben, ob der Text verstanden und die wesentlichen Punkte im Text erfasst wurden. Erfahrungsgemäß steigt die Motivation zur aktiven Teilnahme, wenn die Texte gelesen, problematisiert und verstanden wurden und Bezüge zur eigenen Lebenswelt hergestellt werden können. Zwei Studierende stellen zu Beginn des Seminars im Zeitraum von ca. zehn Minuten den von allen bearbeiteten Text nochmals vor. Danach folgt ein 20minütiger Input seitens der Dozentin zum Thema. Mittels unterschiedlicher Medien und Methoden und den angegebenen Übungen werden die Studierenden in eine selbstständige Arbeitsphase begleitet, in der die vorgebrachten Argumente nochmals in Kleingruppen diskutiert und anschließend im Plenum unter Einbindung eigener Erfahrungen zur Thematik vorgestellt und diskutiert werden.

eine gendersensible Gestaltung von Interaktionsprozessen im Lehrgeschehen«, die bereits im Seminar kennengelernt wurden, vertieft und ergänzt werden.

556 Thematische Blöcke Einführung in das Thema Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung, »Doing Gender«.

Naime Çakir-Mattner

Durchführung Methode / Lernziele Übung

Übung: Input Phantasiereise: »… als ich … Jahre alt war …«. OnZiele: line: https://www.gwiSensibilisierung bezüglich der boell.de/sites/default/f eigenen Geschlechterrollen- iles/assets/gwi-boell.d prägung in der eigenen Bio- e/images/downloads/ grafie. Gender_Sensibilisieru ng_Phantasiereise.pdf. Übung: »Doing Gender« im Web 2.0. Mediale (Re-)Konstruktion von Geschlecht analysieren. Online: ht tps://www.academia.e du/34220293/%C3%9 Cbung_Doing_Gender _im_Web_2.0._Medial e_Re-_Konstruktion_ von_Geschlecht_analy sieren. Übung: Wie »sitzen« Frauen? Wie »sitzen« Männer?«, S. 97. »Die Geräusche und Bewegungen der Geschlechter«, S. 101. Quelle: EP KLARA! (Hrsg.). (2007). Grundkurs Gendermaterialien und Methoden zur Sensibilisierung für Gleichstellungsfragen. http://www.forschung snetzwerk.at/downloa dpub/equal_klara_gru ndkurs_gender.pdf.9 Zugegriffen: 19. Juli 2019.

9 Weitere Übungen sind ebenfalls hier zu finden.

Literatur Gildemeister, R. (2004). Doing Gender. Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung. In R. Becker, B. Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung (S. 137–145). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Maihofer, A. (2004). Geschlecht als soziale Konstruktion – eine Zwischenbetrachtung. In U. Heldhuser, D. Marx, T. Paulitz & K. Pühl (Hrsg.), under construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis (S. 33–43). Frankfurt a. M./New York: Campus. Ertl, B., & Helling, K. (2015). Gender-Re-Skripting. Eine Methode zur Reduktion stereotyper Verhaltensweisen im Unterricht. In J. Wedl & A. Bartsch (Hrsg.), Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung (S. 461– 487). Bielefeld: transcript. Rommelspacher, B. (2013). Zur Emanzipation »der« muslimischen Frau. Kontroversen im Kontext kultureller und patriarchaler Dominanz. In K. Spenlen (Hrsg.), Gehört der Islam zu Deutschland? Fakten und Analysen zu einem Meinungsstreit (S. 419–434). Düsseldorf: Düsseldorf University Press.

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4.2

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Inhaltliche Überlegungen

Im Zuge des Seminars sollte es gelingen, dass sich die Studierenden ihrer eventuellen Blockaden gegenüber neuen, unvertrauten Inhalten bewusst werden, um sich mit offener Neugier dem Wagnis scheinbar bedrohlicher Erkenntnisse öffnen zu können. Zu diesem Zwecke wurden in der genannten Tabelle Übungen angeführt, die mit den Studierenden im Seminar eingeübt und durchgeführt wurden. Auf diese Weise würde die Tür für ganzheitliches Lernen und ein damit verbundenes ganzheitlich-einfühlbares Verstehen für die neue Erfahrung offengehalten. Ziel ist es hierbei, die eigenen Geschlechterbilder sowie deren Fremd- und Selbstwahrnehmung einer kritischen Analyse zu unterziehen und die einzelnen Funktionssysteme der Gesellschaft in den Blick zu nehmen, die soziale und strukturelle Ungleichheit hervorbringen. Insofern sind im Seminar neben Fragestellungen der »Geschlechterdifferenz« und der »soziokulturellen Differenziertheit« auch die komplexen Zusammenhänge und Wechselwirkungen diverser Differenzlinien, wie die Folgen der ethnischen und religiösen Zuschreibung, in den Blick zu nehmen. Hierbei sollen zunächst die aktuellen Debatten hinsichtlich einer »Ethnisierung von Sexismus«, die alltagstheoretischen Vorstellungen über muslimische Mädchen und Frauen und das Bild vom muslimischen Mann analysiert werden. Daran anschließend sollen am Beispiel des populären Konfliktstoffs »Kopftuch« mögliche Hintergründe eines konkreten ethnisch aufgeladenen und mit Vorurteilen behafteten Differenzierungssymbols herausgearbeitet und einer kritischen Analyse unterzogen werden. Anhand von ausgewählten Texten zum Thema sind in diesem Zusammenhang die verschiedenen Positionen der Kopftuchbefürworter und -gegner in ihren jeweiligen Argumentationen und wesentlichen Kernpunkten inhaltlich herauszuarbeiten und kritisch gegeneinander abzuwägen.10 Hierzu soll exemplarisch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2017 in Luxemburg (Rechtssachen C-157/15 und C188/15) zum Thema »Kopftuch am Arbeitsplatz« herangezogen, analysiert und diskutiert werden. Der Fokus wäre hierbei auf diejenigen Argumentationen zu richten, die sich auf die positive wie negative Religionsfreiheit beziehen. Ein anderer Themenschwerpunkt wäre das im Koran zitierte Gebot der Bedeckung von muslimischen Frauen (Bedeckungs- bzw. Bekleidungsgebot), das bezüglich entsprechender Verse im Koran (24:31, 33:59 und 33:53) unter Berücksichtigung des historischen Kontextes der genannten Verse und unter Berücksichtigung von Hadith- und Exegese-Literatur aus heutiger Sicht zu analysieren und zu diskutieren ist. In diesem Zusammenhang sei insbesondere darauf hingewiesen, dass im letztgenannten Vers die Frauen und Töchter des Propheten 10 Immer noch aktuell und empfehlenswert ist dazu der Beitrag von Bielefeld (2004).

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Naime Çakir-Mattner

Muhammad und die damaligen Musliminnen aufgefordert werden, ihr Gewand ˙ (gˇilba¯b) überzuziehen, damit sie als muslimische Frauen erkannt und nicht belästigt werden. Hierbei wäre einerseits zu klären, um welche Form von Gewand es sich beim gˇilba¯b handelte, und andererseits wäre zu bedenken, inwieweit es legitim ist, einen Bezug dieser Versstelle zur Gegenwart mit den heutigen Lebensumständen herzustellen. Denn die damals praktizierte Sklaverei in dieser Form existiert heute nicht mehr und insofern ist die Notwendigkeit, sich von Sklavinnen unterscheiden zu müssen, nicht mehr gegeben. In einem weiteren Schritt wird zum näheren Verständnis islamischer Orientierung unter Heranziehung originaler Textstellen des Korans und der Hadithe die Rolle der Frau aus islamisch-historischer Perspektive und die daraus ableitbare rechtlich-soziale Stellung innerhalb einer islamisch-orientierten sozialen Gruppe einer differenzierten Analyse unterzogen.

5.

Schlussbetrachtung

Anhand von ausgewählten zentralen Konzepten der Genderforschung wurde in diesem Beitrag aufgezeigt, dass die Geschlechterbinarität politisch relevant ist. Es sind damit Wertungen verbunden, die den Geschlechtern unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und Machtoptionen zuweisen und daran orientierte Hierarchien etablieren. Es wurde deutlich gemacht, dass die Kategorie »Geschlecht« und insbesondere die ihr alltagstheoretisch zugeordneten Charaktereigenschaften eben keine biologisch vorbestimmten, statisch-unveränderlichen Wesensmerkmale sind, sondern im Wesentlichen Konstituierungsmerkmale gesellschaftlicher Verhältnisse, die in alltäglichen sozialen Interaktionen in unterschiedlichen Lebensbereichen hergestellt und verfestigt werden. Die Infragestellung rigider sozialkonformer Rollenzuschreibungen sollte im eigenen Interesse der islamischen Theologie liegen, die in ihren Quellen und ihrer Glaubenslehre der Moral einen hohen Stellenwert einräumt. Dieses übergeordnete Ziel hat die islamische Religionspädagogik an den Universitäten nicht zuletzt deshalb zu verfolgen, da von den Lehrkräften in der späteren Berufspraxis erwartet wird, dass sie Kinder und Jugendliche gemäß deren Begabungen und Fähigkeiten unabhängig von tradierten Rollenmodellen und Geschlechterstereotypien fördern und jeglicher Form der geschlechterbezogenen Benachteiligung innerhalb der Schule sowohl auf der strukturellen als auch auf der individuellen Ebene entgegenwirken. Dies erfordert es, die zukünftigen Lehrer*innen für den islamischen Religionsunterricht bereits im Laufe ihres Studiums für Genderthemen zu sensibilisieren und von der Umsetzung des Gender Mainstreamings in der Schule als wesentlichem Auftrag zu überzeugen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das zentrale Regelungswerk zur Umsetzung

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der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien in Deutschland, zielt darauf ab, die »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen« (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2006). Damit setzt der Gesetzgeber hinsichtlich der Verhinderung von Benachteiligungen in den Bereichen Religion, Weltanschauung und Geschlecht die gleiche Priorität.

Literaturverzeichnis Antidiskriminierungsstelle des Bundes. (Hrsg.) (2006). Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006, Abschnitt 1 Allgemeiner Teil §1. https://www.antidis kriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/AGG/agg_gleichbe handlungsgesetz.pdf;jsessionid=12D8E6FB9B9F7A7CF1D41D66217FD6BA.2_cid322?_ _blob=publicationFile&v=17. Zugegriffen: 14. März 2019. Bednarz-Braun, I., & Heß-Meining, U. (2004). Migration, Ethnie und Geschlecht. Theorieansätze – Forschungsstand – Forschungsperspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bendl, R., Leitner, A., Rosenbichler, U., & Walenta, C. (2007). Geschlechtertheoretische Perspektiven und Gender Mainstreaming. In EQUAL-Entwicklungspartnerschaft Qualitätsentwicklung Gender Mainstreaming (Hrsg.), Qualitätsentwicklung Gender Mainstreaming. Bd. 2: Grundlagen (S. 33–65). Wien: EQUAL. Benhabib, S., Butler, J., Cornell, D., & Fraser, N. (Hrsg.). (1993). Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Bielefeldt, H. (2004). Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland. Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte. Deutsches Institut für Menschenrechte. Policy Paper, 3. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/policy_ paper_3_zur_aktuellen_kopftuchdebatte_in_deutschland.pdf. Zugegriffen: 11. Mai. 2019. Böllert, K., & Karsunky, S. (2008). Genderkompetenz. In K. Böllert & S. Karsunky (Hrsg.), Genderkompetenz in der Sozialen Arbeit (S. 7–15). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (2016). Gleichstellung und Teilhabe. Strategie »Gender Mainstreaming«. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gl eichstellung/gleichstellung-und-teilhabe/strategie-gender-mainstreaming/strategie-ge nder-mainstreaming-/80436?view=DEFAULT. Zugegriffen: 24. Juni 2019. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (2018). Internationale Gleichstellungspolitik. Gleichstellungspolitik in Europa https://www.bmfsfj.de/bmfsfj /themen/gleichstellung/internationale-gleichstellungspolitk/gleichstellungspolitik-ineuropa/gleichstellungspolitik-in-europa/80802. Zugegriffen: 22. Juni 2019. Bundeszentrale für politische Bildung. (o. J.): Gender Mainstreaming. https://www.bpb.de /gesellschaft/gender/gender-mainstreaming/. Zugegriffen: 11. Mai 2020. Butler, J. (2014). Das Unbehagen der Geschlechter (17. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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buch Gender und Erziehungswissenschaft (S. 574–586). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (Schulgesetz NRW – SchulG) vom 15. Februar 2005 (GV. NRW. S. 102) zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Juli 2018 (SGV. NRW. 223). https://bass.schul-welt.de/pdf/6043.pdf ?20190802130341. Zugegriffen: 13. Juli 2019. Tuider, E. (2014). Ansätze der Geschlechterforschung in Beratung und Coaching. In H. Möller & R. Müller-Kalkstein (Hrsg.), Gender und Beratung. Auf dem Weg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit in Organisationen (S. 137–154). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wieser, R. (2015). Gender. Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex), Jahrgang 2016. https://www.bibelwissenschaft.de/fileadmin/buh_bibelmo dul/media/wirelex/pdf/Gender__2018-09-20_06_20.pdf. Zugegriffen: 15. Mai 2019. Winheller, S. (2016). Biographische Selbstreflexion. In J. Wedl & A. Bartsch (Hrsg.), Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung (S. 461–487). Bielefeld: transcript.

Sara Kuehn

Ästhetik im Islam1

Zusammenfassung Der Beitrag gewährt einen Einblick in die Ästhetik im Islam in Vergangenheit und Gegenwart und bietet Ansätze, wie diese den Studierenden vermittelt werden kann. Er beginnt mit einem Lehrstück, einer allegorischen Erzählung über eine visionäre Erfahrung des iranischen Philosophen und Mystikers Sˇiha¯b ad-Dı¯n Suhravardı¯ (gest. 1191), die ein Gefühl für die Rolle der Ästhetik in der mittelalterlichen islamischen Philosophie und Mystik vermitteln soll. Es folgen die Besprechung von Aspekten des ästhetischen Erlebens des Korans sowie die Veranschaulichung verschiedener islamischer ästhetischer Theorien und Traditionen der islamischen Kunst samt Kostproben – unterteilt in Musik, bildende Kunst und Architektur. Die Beispiele sollen persönliche Anteilnahme, Mitwirkung und die subjektive Auseinandersetzung mit ästhetischen Prozessen im Islam initiieren, die zu einem Er-Fühlen, Er-Riechen, Er-Schmecken und ErLeben führen und körperlich-sinnlich und möglicherweise sogar emotional wahrgenommen werden. Die solcherart belegte Koexistenz verschiedener Sinneserfahrungen und -modalitäten, zu denen auch die wissenschaftliche Schulung gehört, spricht gegen eine monolithische Wahrnehmung der Genese der Ästhetik im Islam – und so gilt es, der Vielfalt und Multidimensionalität ästhetischer Kommunikationsformen im Islam aus einer pluralistisch-offenen, intersensorischen, synästhetischen Perspektive Rechnung zu tragen.

1 Danksagung: Die Erarbeitung dieses Beitrags wurde im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms »Horizon 2020« der Europäischen Union unter der Marie-SkłodowskaCurie-Finanzhilfevereinbarung Nr. 794958 ermöglicht.

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Sara Kuehn

Prolog: Die Philosophie der Liebe und der Schönheit »Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers. Wir erzählen dir die schönste der Erzählungen, indem Wir dir offenbaren diesen Koran. Du warst zuvor von den Achtlosen.« (Koran 12:3)2 … »Wisse, das Erste, was Gott erschaffen hat, war eine schimmernde Perle, die er ›Intellekt‹ [ʿaql; auch ›Verstand‹] genannt hat. Denn (nach einer Überlieferung des Propheten), ›das Erste, was Gott geschaffen hat, war der Intellekt‹. Er verlieh dieser Perle drei Eigenschaften: die Fähigkeit, Gott zu erkennen, die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen, und die Fähigkeit, das zu erkennen, was nicht existiert hat und dann in die Existenz trat. Denn aus der Fähigkeit, Gott zu erkennen, entsprang die Schönheit [husn]. Aus der ˙ Fähigkeit, sich selbst zu erkennen, entsprang die Liebe [ʿishq]. Aus der Fähigkeit, zu erkennen, was nicht existierte und dann in die Existenz trat, entsprang die Trauer [huzn]. Von diesen dreien, die derselben Quelle entsprangen und einander Geschwister ˙ waren, war die Schönheit die Älteste. Sie betrachtete sich und sah, dass sie durch und durch gut war. In ihr erschien ein Leuchten und sie lächelte. Auf dieses Lächeln hin kamen tausend Cherubim herein. Beim Erscheinen dieses Lächelns strebte die Liebe, die zweite Schwester, nach der Schönheit und wünschte nichts anderes, als sich an ihr festzuhalten. Trauer [huzn], die jüngste der drei Qualitäten, reagierte dagegen auf diese ˙ Kraft mit einer gegenläufigen Tendenz. Die Liebe, die Mittlere der Geschwister, war der Schönheit eine so vertraute Gefährtin, dass sie ihre Augen nicht von ihr lassen konnte und nie von ihrer Seite wich. Als das Lächeln der Schönheit erschien, überkam die Liebe eine große Bestürzung. Sie war so aufgewühlt, dass sie in Aufruhr geriet. Trauer, die Jüngste, hingegen hing fest an der Liebe und aus dieser Anhänglichkeit entstanden Himmel und Erde.« (Sˇiha¯b ad-Dı¯n Suhravardı¯, Risa¯la fı¯ haqı¯qat al-ʿisˇq [»Über die ˙ Realität der Liebe«])

Dies ist der Beginn einer allegorischen Erzählung über eine visionäre Erfahrung des iranischen Philosophen und Mystikers Sˇiha¯b ad-Dı¯n Suhravardı¯ (gest. 1191). Die metaphysische Bedeutung der Schönheit (husn) nimmt darin einen zentralen ˙ Platz ein und kann als Beitrag zum Verständnis der Schönheit in der mittelalterlichen mystischen Weltanschauung gesehen werden. Ihre experimentelle »Ästhetik« reflektiert einen sinnlichen Wahrnehmungsmodus, der zu einer Bewertung der Schönheit sowohl in Bezug auf ihre Manifestation im Kosmos als auch in der menschlichen Erfahrung führte. Der muslimische intellektuelle Diskurs über die religiöse Erfahrung der »Schönheit« wurde durch Suhravardı¯, den Begründer der »Philosophie der Erleuchtung« (Hikmat al-isˇra¯q), wesentlich ˙ bereichert. Seine Lehre vom Licht ist eng verbunden mit einer mystischen Auffassung von Schönheit, die sich durch die Erschaffung des Universums und des Menschen entfaltet. 2 Die angeführten Koranverse sind der Koranübersetzung von Karimi (2009) entnommen.

Ästhetik im Islam

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Im Laufe der Erzählung werden grundlegende Begriffe und ethische Regeln rekapituliert, die in diesem Kontext der Liebe zur Schönheit auferlegt werden. Suhravardı¯ verbindet hier den Begriff husn (»erkennbare Schönheit«) mit g˘ama¯l ˙ (»Glanz«, »Schönheit«) und kama¯l (»Vollkommenheit«) und stützt sich dabei auf die göttlichen Namen und Eigenschaften – bekannt als die »schönsten Namen« (al-asma¯ʾ al-husna¯) –, die alle ontologische Artikulationen der absoluten Exis˙ tenz darstellen. Denn »Gottes sind die Namen, die schönsten (husna¯)« (Koran ˙ 7:180; vgl. 17:110, 20:8, 59:24), wie Suhravardı¯ in seiner Erzählung kommentiert: »Wisset, dass von allen Namen der Schönheit [husn] der eine g˘ama¯l [›Glanz‹, ›Schön˙ heit‹] und der andere kama¯l [›Vollkommenheit‹] ist.«

Dabei bezieht er sich auf die bekannte prophetische Tradition (Hadith), die besagt: »Wahrlich, Gott ist schön, und er liebt die Schönheit.« In seinem »Buch der Andeutungen« (Kita¯b at-talwı¯ha¯t) beschreibt Suhra˙ vardı¯, wie ihm eines Nachts Aristoteles (384–322 v. Chr.) in einer Traumvision erschien. Es begann ein Dialog, in dessen Verlauf Suhravardı¯ den griechischen Meister nach der »Erkenntnis« (masʾalat al-ʿilm) der Wahrheit fragt, worauf Aristoteles antwortet, dass sie sich letztlich in der Seele (oder im Selbst) des Menschen befinde. Er führt Suhravardı¯ in die Theorie der »Erkenntnis durch Gegenwärtigkeit« (al-ʿilm al-hudu¯rı¯) ein, die auch als »intuitive Philosophie« ˙ ˙ bekannt ist, und legt damit den Grundstein für eine erhellende Erkenntnistheorie. In der Terminologie der Philosophie der Erleuchtung bezieht sich die »intuitive Wertschätzung« (dauq, »geschmackliche Sinneswahrnehmung«) auf ¯ das Begreifen von direkter Erfahrung, die sich von diskursivem Wissen unterscheidet, eine »mystische Erfahrung«, die »das Herz bewegt«. Des Weiteren erzählt Aristoteles Suhravardı¯, dass muslimische Mystiker (Sufis) wie Abu¯ Yazı¯d (Ba¯yazı¯d) al-Bista¯mı¯ (gest. 874–5) und Sahl at-Tustarı¯ ˙ (gest. 896) die wahren Philosophen und Weisen seien, womit er die Integration der islamischen Mystik philosophisch begründet. Der berühmte Bericht unterstreicht die Interdependenz von philosophischer Spekulation und mystischer Erfahrung, die beide von Suhravardı¯ in seinem Werk aufgegriffen werden. Suhravardı¯ bezieht sich auch auf die dialektische Auseinandersetzung mit der Josefserzählung im Koran (Sure 12, Yu¯suf), die der Koran als »die schönste aller Geschichten« bezeichnet (Koran 12:3). Der zentrale Teil von Fı¯ haqı¯qat al-ʿisˇq ˙ verwendet Motive und Symbole aus der koranischen Geschichte von Joseph (Yu¯suf), dem schönen Propheten, und stellt den Protagonisten sowie Suleika (Zulayha¯) und Jakob (Yaʿqu¯b) vor, drei Homologen der früheren Triade ˘ Schönheit, Liebe und Trauer, die dieselbe Gestaltvision verkörpern. Sie werden von der aktiven Imagination (ʿa¯lam al-haya¯l), dem Organ der visionären Sin˘ neswahrnehmung, »visualisiert« oder phantasievoll begriffen. Der Weg des Suchenden wird also gerahmt von der großen mystischen Liebesgeschichte zwi-

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schen Yu¯suf und Zulayha¯ (Yu¯suf wa Zulayha¯), der biblischen Legende von Joseph ˘ ˘ und Potiphars Frau, deren Einbindung in die mystische Erzählung auch zu einem darauffolgenden Diskurs der Studierenden über »Die Heiligen Schriften des anderen« im Kontext einer multikulturellen Gesellschaft anregt (Behr, Haußmann & van der Velden 2011, S. 221–242). In Suhravardı¯s Lehrdialog werden Yu¯suf, Zulayha¯ und Yaʿqu¯b zu Symbolen verschiedener Manifestationen und ˘ Funktionen des Mikrokosmos (der menschlichen Schöpfung). Suhravardı¯ bietet damit einen esoterischen Kommentar zur koranischen Erzählung der Geschichte von Yu¯suf, die in der islamischen Literatur oft mit göttlicher Schönheit assoziiert wird. Wie die meisten vormodernen muslimischen Intellektuellen strebte Suhravardı¯ danach, die Schönheit zu verstehen, um Gott, der Quelle aller Schönheit, näherzukommen. Für ihn ist die Geschichte der Schönheit die Geschichte der Entfaltung der göttlichen Schönheit durch ihre beiden Spiegel, das Universum (den Makrokosmos) und den Menschen (den Mikrokosmos). Demnach kann die visuelle Schönheit in all jenen, die spirituell oder intellektuell veranlagt sind, eine Kontemplation der Wunder der semiotisch mit den Zeichen göttlicher Weisheit angefüllten Schöpfung hervorrufen. Der intuitive Übergang vom ästhetischen Staunen zur metaphysischen oder mystischen Verzückung könnte somit nahezu augenblicklich erfolgen. Diese Passage wurde durch eine anagogische Anschauungsweise (Aufstieg vom Sichtbaren zum Spirituellen/Himmlischen) und der Gewohnheit eines zusammenhängenden Denkens begünstigt, das bis weit in die Neuzeit hinein sowohl im christlichen als auch im muslimischen Kontext Mikrokosmos mit Makrokosmos gleichsetzte. Wie viele mittelalterliche Schriften ist auch dieses Lehrwerk ein Hörtext (Hughes 2004, S. 146–184), der sich dafür eignet, im Unterricht von den Studierenden rezitiert zu werden – zwecks Erlangung nicht nur eines besseren Inhaltsverständnisses, sondern auch eines kleinen Einblicks in die Idee der »spirituellen Reise« in mystischen Traktaten. Gleichzeitig ermöglicht dies die Sensibilisierung für den Text über den auditiven Sinneskanal, schult produktives Hören, die performativen Kompetenzen der ästhetischen Kommunikation und somit eine ästhetische Urteilsbildung. In den darauffolgenden Diskussionen werden die Studierenden zu ästhetisch-kritischen Beobachter*innen, die die allegorisch verschlüsselten Darlegungen gemeinsam diskutieren; zeitgenössische Bezüge, wie etwa das Verständnis der Gestaltpsychologie oder »psychologie de la forme« (Lassen 2009, S. 189–208), können hier miteinbezogen werden. Für die Lernenden spielt die ästhetische Bildung eine große Rolle, da ästhetische Erfahrung als Alteritätserfahrung nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern auch als Selbstwerterfahrung im Rahmen der Identitätsbildung eine wichtige Rolle spielt.

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Im Werk Suhravardı¯s begegnen wir auch schiitischen, insbesondere ismailitischen Begrifflichkeiten und transkulturellem Gedankengut, das den Studierenden nahegebracht wird. Viele dieser Konzepte kommen in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und Künste, der Rasa¯ʾil (Sendschreiben) der »Lauteren Brüder« (Ihwa¯n as-safa¯) aus dem zehnten Jahrhundert vor, die ˙˙ ˘ einer Gruppe von Gelehrten mit Sitz in Basra und einem zugehörigen Zweig in Bagdad zugeschrieben wird – ein auch in den darauffolgenden Jahrhunderten einflussreiches Werk, das die inneren Sinne in einem neuplatonischen und pythagoräischen kosmologischen Rahmen interpretiert. Zur gleichen Zeit nehmen wir altiranisch-zoroastrische und sufische Denktraditionen, deren facettenreiche Symbolbildung und symbolische Bedeutungszusammenhänge wahr, die Einblicke in diese Traditionen gewähren (Farridnejad 2018).

1.

Was ist Religionsästhetik?

Wie wir gesehen haben, wurde der Bereich der »Ästhetik« nicht nur von der Religion geprägt, sondern auch von einer eklektischen Mischung aus aristotelischen und neoplatonischen Konzepten, die die islamische Welt mit dem Christentum teilte. Die Verbreitung dieser philosophischen Konzepte wurde mit ihrer neuplatonischen emanationistischen Kosmologie, die die immaterielle Leuchtkraft geistiger Schönheit über die materielle Form erhebt, durch die Übersetzung von Abschnitten aus Plotinus’ Ennead ins Arabische als Theologie des Aristoteles eingeleitet. In der mittelalterlichen islamischen Zivilisation gab es, nicht anders als in der Antike und im christlichen Mittelalter, kein eigenständiges Fach namens »Ästhetik«. Ästhetische Fragen wurden, oft tangential, in philosophischen, kosmologischen und in einigen theologischen Werken diskutiert. Sie wurden ebenso in Abhandlungen über Musik und Poesie angesprochen. Was aber verstehen wir unter »Religionsästhetik«? Die Disziplin der »Ästhetik« als ein Zweig der Philosophie ist aus dem europäischen Klassizismus des 18. Jahrhunderts hervorgegangen. Der Begriff wurde von dem deutschen Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) geprägt, der ihn in einer Abhandlung in lateinischer Sprache mit dem Titel Aesthetica (1750/58) dargelegt hat und darin die Ästhetik als eine »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« (»scientia cognitionis sensitivae«, Absatz 1) definierte. Im Rückgriff auf die Antike verstand er die Ästhetik als eine Wissenschaft von den Sinneswahrnehmungen (»Aisthesis«) und als »Zeichenlehre« (»scientia signorum«). Er prägte damit einen aus dem Altgriechischen abgeleiteten Begriff, aisthe¯tika (»wahrnehmbare Dinge«), der über die auf Platon zurückgehende und bis ins 18. Jahrhundert vornehmlich im Kontext der Metaphysik behandelte Lehre des

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Schönen und der Erforschung der Kunst, die auf Aristoteles zurückgeht und insbesondere in der Poetik und Rhetorik entfaltet wurde, hinausging. Da diese Traditionen in den Begriff Ästhetik miteinbezogen werden, beginnt deren Geschichte nicht erst mit der Bildung des Terminus im 18. Jahrhundert, sondern mit der Idee des Schönen und dem Begriff der Kunst im Altertum. Aber erst mit dem französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty und seiner Arbeit über die Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) und der Synthese der Sinne durch den Körper tauchte im westlichen intellektuellen Diskurs das aristotelische Verständnis aisthetischer Erfahrungen und Wissensformen in kulturellen und philosophischen Interpretationen wieder auf. Ein wichtiger Impuls, sinnliche Wahrnehmung als ein aktives, organisierendes Prinzip zu verstehen, das nicht nur »Rohmaterial« für die intellektuellen Fähigkeiten liefert, kam aus der bereits kurz erwähnten Gestaltpsychologie. Diese lieferte eine Grundlage für die Erfassung der Wechselbeziehung zwischen visuellen und konzeptuellen »Figurationen« der Wirklichkeit (Arnheim 1969, S. v). Im Zuge des sogenannten »aesthetic turn« wurde eine Neuordnung der ästhetischen Dimensionen des Wissens von Religions- und Kulturwissenschaftlern aufgegriffen, die für ein stärker kontextualisiertes, verkörpertes Verständnis von Religionsästhetik plädieren (Cancik & Mohr 1988; Lanwerd 2002; Barth 2003, S. 235–262; Morgan 2006; Meyer 2009; Mohn 2012). Betont wird hierbei die Wichtigkeit, sensorisches Wissen als Element religiöser Praxis und Kommunikation zu betrachten, das den menschlichen Sinnesapparat in seiner Gesamtheit anspricht (Traut & Wilke 2015). Dies bezieht sich auch auf die Ausbildung der selbstreflexiven sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit – zum Beispiel bei der Untersuchung des religiösen Gebrauchs von Klang, Bewegung oder Geruch (Hirschkind 2006; Mohr 2006; Frembgen 2020) –, die den Studierenden Welten eröffnet, die über die reine Wissensaneignung hinausgehen. Für den Unterrichtenden gilt es daher, Lernstoff und Lernprozesse zu ästhetisieren. Im Folgenden versuche ich, anhand einer »Kostprobe« darzulegen, wie man sich Ästhetik im Islam – in Vergangenheit und Gegenwart – vorstellen kann, und ebenso Ansätze aufzuzeigen, wie diese den Studierenden vermittelt werden kann. Der Diskurs darüber ist, wie aus den in den nachfolgenden Abschnitten angeführten Literaturverweisen ersichtlich, noch im Aufbau begriffen. Ich verstehe Ästhetik im Islam daher als inter- und transdisziplinären Anknüpfungspunkt für alle Disziplinen, die eine Schnittstelle zwischen Islam und Ästhetik bilden. Wichtig ist zudem, den Studierenden eine postkoloniale Perspektive zu vermitteln, die eine kontinuierliche kritische Reflexion umfasst und frühere westliche Darstellungen der Ästhetik im Islam »gegen den Strich« liest (GoGwilt 2011, S. 4). Der erste Abschnitt gibt einen kurzen Einblick in Aspekte des ästhetischen Erlebens des Korans. Der darauffolgende Teil bietet eine Zusammenschau der verschiedenen islamischen ästhetischen Theorien und vielfältigen Traditionen

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der islamischen Kunst, unterteilt in Musik, bildende Kunst und Architektur. Ziel ist es, die Geschichte der islamischen Ästhetik in ihren Grundzügen von den Anfängen auf der Arabischen Halbinsel bis zur Gegenwart zu skizzieren, wobei die Pluralität innerhalb der islamischen Geistes-, Kultur- und Kunstgeschichte in den verschiedenen Lebenswelten von Muslim*innen gewürdigt wird. Alle drei Abschnitte betrachten sowohl mittelalterliche als auch moderne und zeitgenössische Beispiele der islamischen Ästhetik.

2.

Das ästhetische Erleben des Korans

Wie wir am Beispiel von Suhravardı¯s Fı¯ haqı¯qat al-ʿisˇq sahen, ist die Beziehung, ˙ die die ursprüngliche muslimische Offenbarung zwischen Gott auf der einen und der Schöpfung und den Menschen auf der anderen Seite herstellte, ein zentraler Gegenstand des muslimischen Denkens. Sie erlangte einen besonders starken Ausdruck im mystischen Denken und in der mystischen Bildsprache, wo formale Erwägungen, die so zentral für jede ästhetische Theorie oder Haltung waren, oft über den Inhalt triumphierten. In der gesamten islamischen Tradition ist daher die Wertschätzung der Gesangskunst ausgebildeter Rezitatoren Teil des religiösen und gesellschaftlichen Lebens gewesen. Theorie und Praxis der Ästhetik der Koranrezitation ist mit dem Gedanken des »spirituellen Vortrags« und der Dynamik der »Performance« verbunden. Milad Karimi erklärt dies mit den Worten: »Warum also Gott schön sei, fordert notwendig eine Offenbarung, die den Qurʾa¯n in seinem Wesen als ein ästhetisches und mithin als ein offenes Kunstwerk zu verstehen sucht« (Karimi 2012, S. 29). Und: »Bewegend ist der Koran als eine genuin ästhetische Erfahrung, begreift man ihn wesentlich im Sinne einer mündlichen Inszenierung. Der Sinn (der Mitteilung) zeigt sich in der Sinnlichkeit, ja die Sinnlichkeit generiert den Sinn; religiöse Rührung, getragen von der tiefen Einsicht in die Hingabe zu dem einen Gott, ergreift den gläubigen Muslim beim musikalischen Vortrag des Koran derart, dass er seine eigene Historizität, seine eigene Zeitlichkeit, seine Gegenwart vergisst, ja dass er sich selbst vergessen bleibt. Im Hören des Korans verliert sich der Mensch und findet sich zugleich in der Gegenwart Gottes. Der Begriff Ekstase (wag˘d), der nicht selten in Bezug auf den Koran und vor allem auf das Hören desselben Verwendung findet, handelt von diesem ›Entwerden‹, das zugleich ein Finden ist.« (Karimi 2013, S. 163)

Auch Navid Kermani spricht in seinem Werk Gott ist schön von der entscheidenden Bedeutung der »ästhetischen Dimension der Religion im muslimischen Selbstverständnis«, die den Anspruch des Islams auf Absolutheit mit der einzigartigen Schönheit des Korans begründet (Kermani 1999, S. 9). Kermani veranschaulicht diese Auffassung mithilfe von ästhetischen Bekehrungslegenden. In

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seiner Rezension von Kermanis Werk spricht Johann Hinrich Claussen von der dem Koran eigenen Poetizität, die »sich am besten mit dem aristotelischen Begriff der Wirkungsästhetik beschreiben [ließe]: Der Koran besitzt eine Schönheit, die einen kathartischen Prozess auslöst, sie erschreckt, rührt an, berauscht, führt den Rezipienten in die Krise und eröffnet ihm dadurch eine religiös-ethische Erkenntnis.« Solch tiefe ästhetische Erfahrungen werden meist über mehr als einen Sinneskanal erlebt, ästhetische Wahrnehmungsprozesse werden angeregt und wirken synästhetisch-integrativ. Zu erwähnen ist ebenfalls, dass das ästhetische Denken und die Darstellung von Kunst und Architektur im Koran substanziell sind, zum Beispiel in den Beschreibungen der sieben Himmel, des salomonischen Palastes und des Paradieses (Behrens-Abouseif 1998; Ghabin 1998; Gonzalez 2001; Elias 2012; Natif 2011). Des Weiteren sind Arbeiten über die Ästhetik der verschiedenen islamischen Kalligrafietypen anzuführen, wie in Esra Akın-Kıvanç’ kürzlich erschienenem Werk über die Ästhetik des Mutanna¯-Stils, einer Spiegelschrift, die, wie ¯ Akın-Kıvanç (2020) zeigt, in kulturübergreifenden künstlerischen und kulturellen Kontexten innerhalb und außerhalb islamischer Länder entwickelt wurde. Aber auch Studien über die Sinnlichkeit der muslimischen Jenseitswelt sind anzuschneiden (al-Azmeh 1995), die nahelegen, dass die islamische religiöse Vorstellungskraft eine ausgeprägte Haltung gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung im Islam hervorbringt. All dies sind Themen, die im Unterricht zu einer umfassenden Behandlung einladen.

3.

Ästhetische Dimensionen der islamischen Musik

Obschon die frühesten Musiktheoretiker viel aus griechischen Musikkonzepten entlehnten, unterlag die Anwendung wissenschaftlicher Musiktheorien den jeweiligen Traditionen, die die Vorstellung von Musik als einer Form religiöser oder philosophischer Ästhetik untermauerten (Shehadi 1995). Im Gegensatz dazu hing die Praxis in erster Linie von der mündlichen Überlieferung und den Kontexten des Musikmachens ab. Musikalisches Lernen (beispielsweise der Erwerb von Fertigkeiten als Rezitator des Korans oder das Erlernen eines Musikinstruments) fand weitgehend durch mündliche Überlieferung statt. Anders als in unserer heutigen Gesellschaft werden in diesen Wahrnehmungssystemen Bilder weniger gesehen als vielmehr »gehört«, und über ein vorwiegend auditorisches Bewusstsein ergeben sich andere Bild- und Raumwahrnehmungen (Howes 1990, S. 55–73). Der zentralasiatische aristotelische Philosoph Ibn Sı¯na¯ (Avicenna, gest. 1037) entwickelte die vielleicht erste explizite Ästhetik der Musik im islamischen Denken. Er geht über den funktionalen Kontext hinaus und wendet sich der

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ästhetischen Analyse der Musik zu, die in erster Linie um des Hörgenusses willen betrachtet wird (Ibn Sı¯na¯ 1936, Bd. 2; Shehadi 1995, S. 66–80). Demnach ist der Genuss das Telos der Musik. Des Weiteren fragt er, was es ist, das wir an Musik genießen, und nennt die Eigenschaften des musikalischen Klangs, Melodie und Rhythmus und Ähnlichkeiten zwischen dem Aufbau der Musik und menschlichen Emotionen wie Freude, Trauer, Aggression. Ibn Sı¯na¯s Ausführungen enthalten die Ansätze einer Theorie, die eine ästhetische Analyse mit einer psychobiologischen Darstellung unserer ästhetischen Wertschätzung verbindet. Zwei weitere Persönlichkeiten sind in dieser Diskussion von besonderem Interesse, al-Hasan al-Ka¯tib (gest. elftes Jahrhundert) (1972) und Muhammad Ibn ˙ ˙ Haldu¯n (gest. 1406) (1958, Bd. 2), die, obwohl sie nicht völlig außerhalb des ˘ griechischen Einflusses stehen, nicht einfach in die pythagoräisch-aristotelischen Paradigmen passen. Was bei diesem Ansatz, der das Vergnügen in den Mittelpunkt des Musikhörens rückt, von Bedeutung ist, ist der Kontrast, den er zu anderen vorherrschenden Ansichten der Zeit bildet. Im Unterricht werden daher die prohibitive Sichtweise, die dem Musikhören jeglichen positiven Zweck abspricht (bzw. in ihm eine Verlockung sieht, die den Menschen von Gott entfernen kann), als auch die aus der Antike übernommene Ansicht, dass Musik die Seele veredeln oder ihr helfen kann, erörtert. Erwähnenswert ist auch der Glaube an die therapeutische Wirkung von Musik und den Einfluss der musikalischen Modi auf den Geist, der ebenso von der griechischen Lehre gespeist wurde und nach dem die Elemente und Stimmungen bestimmten Noten und Rhythmen entsprechen und die kosmische Ordnung widerspiegeln. Ya‘qu¯b ibn ’Isha¯q al-Kindı¯ (gest. c. 873) war ˙ einer der großen Protagonisten dieser Doktrin und analysierte u. a. die beruhigende Kombination von Musik, Farben und Düften (Farmer 1956, S. 37; anzuführen wäre in diesem Kontext auch Ibn Sı¯na¯ 1936; zu einer zeitgenössischen Perspektive der Musiktherapie im Sufismus siehe Tucek 2013, S. 423–453). Hinzu kommt die Ansicht der Sufis, in deren Andacht die Musik oftmals eine große Rolle spielt. Viele orthodoxe religiöse Autoritäten lehnten die Sufis und ihre Musik ab, weil sie einen alternativen Weg zu Gott boten. Nach dem großen muslimischen Gelehrten des zwölften Jahrhunderts Abu¯ Ha¯mid al-G˙azza¯lı¯ (gest. ˙ 1111) wird das spirituelle Leben der Menschen muslimischen Glaubens nicht nur durch das Gebet, sondern auch durch ästhetische Praktiken geformt (1901–02; Ettinghausen 1976, S. 16–21). Dazu zählt er die Kunst des sama¯ʿ, also des Zuhörens und körperlicher Praktiken, die sich mit der Praxis des dikr (der Anru¯ fung Gottes durch Gebet, Gesang und Bewegung) überschneidet, die ebenso mit dem Erreichen ekstatischer Zustände verbunden ist. In Anlehnung an phänomenologische Studien über das Gedächtnis und den Körper kann dikr – der auch innerlich praktiziert wird – als eine ästhetische ¯ Praxis analysiert werden, die Praktizierenden das vermittelt, was Edward Casey

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(2000) bezugnehmend auf Merleau-Ponty (1945) als »habitual body memory« bezeichnete. Das Körpergedächtnis des dikr fungiert als Vehikel für die Ver¯ wirklichung spiritueller Zustände sowie für die Bildung eines moralischen Selbstseins innerhalb der dikr-Gemeinschaft und dient gleichzeitig der musi¯ kalischen Ausbildung (Abbildung 1). Vom ästhetischen Standpunkt aus können sama¯ʿ und dikr als Praktiken verstanden werden, die die moralische Disziplin der ¯ Teilnehmenden bedingen oder verändern und oft als eine Erfahrung des dauq, ¯ eines spirituellen Sinnes, gesehen werden, der den Sufi mit dem Göttlichen verbindet, aber auch an eine soziale Ästhetik gebunden ist, wie Nadia Serematakis (1994) angemerkt hat: Seine Bedeutungen sind nicht im Voraus festgelegt, sondern gekoppelt an ein historisch und kulturell variables Repertoire sozialer und materieller Formen und Erfahrungen. Die Durchführung des Rituals ist in dem Sinne poetisch, dass sie synästhetisch vergangene Erinnerungen in die Gegenwart bringt und ein neues spirituelles Bewusstsein schafft. Spezifische Repertoires vergleichbarer synästhetischer Praktiken in Vergangenheit (Böwering 1996, S. 205–221; Zargar 2011; Abuali 2019, S. 279–292) und Gegenwart (Shannon 2004, S. 381–391; Gill 2017; Frembgen 2020, S. 225–245) werden im Unterricht vorgestellt. Die Vorstellungskraft der Studierenden wird durch diese und andere Texte, Bilder, Musikstücke, Filme, die neue virtuelle und imaginäre Räume kreieren, zu einem lebendigen Austausch angeregt. Es sind hierbei auch zeitgenössische Beispiele aus dem »säkularen Kontext« zu erwähnen, wie zum Beispiel die Ästhetik der improvisierten Aufführung in klassischen arabischen Ensemble-Performances im Ägypten des 20. Jahrhunderts, die Ali Jihad Racy in seiner Studie über sinnliche Erfahrung und tarab ˙ (Ekstase) erforscht. Racy beschreibt, wie der durch den sogenannten tarab-Stil ˙ ausgelöste emotional-ästhetische Fluss zwischen Publikum und Ensemble die Zuhörer in einen »partizipatorischen Rausch« versetzt (Racy 2003, S. 54–104). Musik als Teil der Ästhetik – emotional geprägt, mit entspannender oder stimulierender Wirkung auf die Hörenden – dient mir oftmals als Einstieg in den Unterricht, stellt sie doch einen authentischen Kulturträger dar (Altenmüller 2016, S. 35–59). Dabei behandle ich verschiedene Genres, die die Studierenden besonders ansprechen – von Qawwali, eine in Indien und Pakistan verbreitete, dynamische musikalische Darbietung sufisch-muslimischer Poesie, die das Auditorium in einen Zustand religiöser Ekstase führen soll (Abbildung 2), bis RapMusik. Mitte der 1990er-Jahre in der arabischen Welt angekommen, etablierte sich Letztere schnell als eine wichtige Kraft für ästhetischen Ausdruck und Innovation unter der arabischen Jugend von Marokko bis zum Iran. Auch der »Arabische Frühling« inspirierte und generierte ein breites Spektrum kultureller Darbietungen und Produktionen, von denen viele ästhetisch geprägt waren oder sehr starke ästhetische Komponenten aufwiesen. Die Proteste auf dem TahrirPlatz von Tunis und an unzähligen anderen Orten sind Inbegriff dieses Phäno-

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mens. Künstler*innen spielten bei der Entwicklung der Aufstände eine zentrale Rolle. Die vielleicht bekanntesten künstlerischen Protagonisten dieser Aufstände sind zwei arabische Musikkünstler, der tunesische Rapper El Général und der ägyptische Sänger Ramy Essam, deren ästhetische Performance unterschiedliche Reaktionen evozieren, die zum Nachdenken anregen.

4.

Ästhetische Dimensionen der islamischen Kunst und Architektur

Es ist bekannt, dass der bereits erwähnte Ibn Sı¯na¯ und sein Vater die Sendschreiben der Ihwa¯n as-safa¯ studiert haben. Tatsächlich ist seine emanationis˙˙ ˘ tische Kosmologie von illuministischen und mystischen Tendenzen durchdrungen, die später von al-G˙azza¯lı¯ und Suhravardı¯, dessen Lehrstück wir eingangs ansprachen, ausgearbeitet wurden. In Anlehnung an Aristoteles’ Poetik verband Ibn Sı¯na¯ die »Mimesis« (al-muha¯qa¯) in den Künsten mit der »Imagi˙ nation« (al-tahyı¯l), die einen der fünf inneren Sinne oder Fähigkeiten darstellt: ˘ den gesunden Menschenverstand (der die inneren Sinne vom Gehirn aus zentral koordiniert), das Vorstellungsvermögen (die Fähigkeit, Materie zu abstrahieren), das Schätzungsvermögen (die Fähigkeit zu einer höheren Form der Abstraktion, die über materielle Zufälle hinausgeht), das Denkvermögen und das Erinnerungsvermögen. Ein weiterer Gelehrter des elften Jahrhunderts, der sich dem aristotelischen Modell der visuellen Wahrnehmung verschrieben hatte, war der große Physiker und Optiker Ibn al-Haitam (Alhazen, gest. 1040), dessen siebenbändige Ab¯ handlung über die Optik den inneren Sinnen eine zentrale Rolle zuwies (Omar 1977; Sabra 1989, Bd. 1, S. 200–206, Bd. 2, S. 97–102; Belting 2010, S. 43–52). Das Kita¯b al-Mana¯zir (»Buch der Optik«) hält fest, dass harmonische Proportionen ˙ und visuelle Ausgewogenheit von zentraler Bedeutung für die Beobachtung der Schönheit (al-husn) seien. Viele von Ibn al-Haitams Beispielen betreffen die ¯ ˙ Wirkung von Licht auf das Auge. Die Art und Weise, wie er seine Ansichten über Schönheit auf direkte Beobachtung stützt, veranlasste Valérie Gonzalez (2001) dazu, ihn als den »ersten modernen Ästhetiker« zu bezeichnen. Zu erwähnen ist auch al-G˙azza¯lı¯s Ansatz, der ihn zwei verschiedene Arten von Schönheit identifizieren lässt: eine, die durch sinnlich-ästhetische Wahrnehmungen und eine, die nur durch eine innere Vision, die er das »Auge des Herzens« nennt, erkannt wird. Der Begriff »islamische Kunst« bezieht sich nach allgemeiner Auffassung auf die Kunst, die von Künstlern oder Kunsthandwerkern geschaffen wurde, deren Religion der Islam war. Man kann sagen, dass islamische Kunst nach dem Tod des Propheten Muhammad im Jahre 632 beginnt, und – als Folge der Ausbreitung des ˙

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Islams in ganz Eurasien – schließlich auch Kunstwerke umfasste, die zu verschiedenen Zeiten bis in die Gegenwart in einer riesigen Region produziert wurden, die sich von den Atlantikküsten der Iberischen Halbinsel und Nordwestafrikas über das Mittelmeerbecken, Südosteuropa und Anatolien bis zum Iran, nach Zentralasien, Süd- und Ostasien und zu den Inseln Indonesiens erstreckte. Daher mag die Vorstellung von einer einzigen islamischen Kunst ebenso falsch sein wie der Vorschlag eines einzigen »islamischen« ästhetischen Ansatzes (Blair & Bloom 2003, S. 152–184). In seiner viel beachteten Monografie mit dem programmatischen Titel What is Islam? The Importance of Being Islamic begründet Shahab Ahmed dies folgendermaßen: »Art objects are Islamic ultimately in that – and in the particular ways that they are aesthetic artifacts of meaning. […] To seek to identify what is Islamic about an art object is necessarily, and in the first instance, to attempt to read for meaning – for which task, we must, first, duly equip and educate ourselves in the field of meaning from and to which the object speaks. Unless we are able to understand the range of modes and trajectories and vocabularies by means of which Muslims have made meaning from hermeneutical engagement with Pre-Text, Text, and Con-Text of Revelation, we will not be able to understand what is Islamic about Islamic art.« (Ahmed 2016, S. 416–417)

Die mittelalterliche islamische Welt machte keinen Unterschied zwischen bildender und angewandter Kunst. In den Sprachen der klassischen islamischen Länder gibt es zudem kein Wort, das dem Wort »Kunst« in den modernen europäischen Sprachen entspricht. Die arabischen Wörter, die heute am häufigsten zur Bezeichnung von Kunst verwendet werden, sinʿa¯ und fann, bedeuteten ˙ traditionell »Fertigkeit« oder »Handwerk« bzw. »Spezialität«, ebenso wie die entsprechenden persischen und türkischen Wörter honar und sanat. Ibn Hal˘ du¯n, der bereits erwähnte große Geschichtsphilosoph des 14. Jahrhunderts, schreibt über die »Handwerke« der Architektur, der Schreinerei, der Weberei und Schneiderei, der Hebammen, der Kalligrafie, der Buchherstellung sowie des Gesangs und der Musik (Ibn Khaldu¯n 1958, Bd. 2). Es ist bezeichnend, dass er viele der Medien, die heute am ehesten als islamische Kunst identifiziert werden, etwa Keramik und Metallwaren, kaum erwähnt. Darüber hinaus ist es zweifelhaft, dass irgendein Handwerker oder Künstler in den traditionellen islamischen Ländern, ob Muslim oder nicht, jemals gedacht hat, dass er oder sie »islamische Kunst« herstellt. Die Idee der »islamischen Kunst« ist daher weitgehend ein Produkt der westlichen Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Wenn es etwas gibt, was viele Menschen heute über die islamische Kunst zu wissen glauben, dann das, dass der Koran Bilder »verbietet«, eine Ansicht, die bereits durch einen flüchtigen Blick in irgendein Lehrbuch über die Künste der islamischen Länder widerlegt wird. Der Koran sagt nichts zu diesem Thema (Grabar 1977; van Reenen 1990; ʿIsa 1996; Ghabin 1998); die Darstellung von

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Lebewesen in religiösen Einrichtungen wie Moscheen und Gräbern ist jedoch generell verpönt. Mit einigen seltenen Ausnahmen beschränkt sich die figurale Bildsprache weitgehend auf den »säkularen« Bereich, in dem die Mitglieder islamischer Gesellschaften an vielen Orten und zu vielen Zeiten gern Darstellungen von Lebewesen, ob Mensch oder Tier, in der Architektur, in Handschriften, Textilien und auf Gegenständen des täglichen Lebens bewunderten (Leaman 2004, S. 17; Wasserstein 1992, S. 303; Elias 2012), was im Unterricht detailliert besprochen wird. Ferner ist zu erörtern, warum beispielsweise die Kunstgeschichte der Trennung von Sakralem und Profanem einen zentralen Platz einräumt, dabei die große Mehrheit der Objekte als profan einstuft, obwohl diese rituell kreiert werden und menschlichen Deutungsmustern und sozio-religiösen Organisationsformen unterliegen. Dies wird als Diskussionspunkt eingesetzt unter Bezugnahme auf Meinungen wie die des Kulturkritikers Hamid Dabashi, der die vermeintliche Dichotomie von Religiösem und Säkularem im Islam mit den Worten kommentiert: »›Islamic art‹ refers to an organicity of the sacred and the worldly that is unique unto itself and cannot be divided into the religious and the secular – and it is that organicity that I call ›worldly‹. […] By privileging the term ›Islamic culture‹ we have already decided on a notion of the Islamicity of that culture that categorically disfigures such non-scholastic (non-juridical, noncanonical) elements as those evident in the aesthetic imagination that, ipso facto, point to directions beyond, and indeed prohibited by, the letter of the law and the mandates of jurists« (Dabashi 2013, S. 59–60; siehe auch die Kritik in Ahmed 2016; Nasr 1987, S. 7–11). Die Popularität der figürlichen Wandmalerei und der Manuskriptillustration scheint im Laufe des neunten und zehnten Jahrhunderts zugenommen zu haben, insbesondere im Gebiet des ehemaligen Abbasidenreichs. Die Assimilation von Theorien der visuellen Wahrnehmung in literarischen Diskursen ist bereits in den Werken des persischen Dichters Niza¯mı¯ Gangˇawı¯ (gest. 1209) erkennbar, die ˙ sich auf den geistigen Ursprung von Bildern beziehen, die aus der Erinnerung und aus in der Vorstellung gespeicherten Formen gemalt wurden (Soucek 1972, S. 9–21). Niza¯mı¯s ausgeklügeltste Diskussion über Porträtmalerei entstammt ˙ seinem Gedicht Husrau o-Sˇ¯ırı¯n. Bei der Kontemplation eines Porträts des Prin˘ zen Husrau Parvı¯z, gemalt von seinem Freund Sˇa¯pu¯r, erwacht Sˇ¯ırı¯ns Liebe zu ˘ Husrau. Eine 1442 in Herat gemalte Darstellung zeigt Sˇa¯pu¯rs Kopf in der oberen ˘ linken Ecke, von wo er Sˇ¯ırı¯ns Reaktion auf seine naturgetreue Darstellung beobachtet (Abbildung 3). Die Terminologie des Neoplatonismus und der islamischen Mystik, die in der mittelalterlichen persischen Literaturtradition übernommen und in frühneuzeitlichen Texten über die bildenden Künste verewigt wurde, drehte sich um die Dichotomie von äußerer Erscheinung (su¯rat) und ˙ innerer Wirklichkeit (maʿnı¯), verbunden mit den Sufi-Konzepten des Äußeren (za¯hir) und des Inneren (ba¯tin) (Necipog˘lu 2015, S. 23–61). Diese Dichotomien ˙ ˙

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werden durch Sa¯diqı¯ Bek Afsˇa¯rs zwischen 1576 und 1602 verfassten Qa¯nu¯n as˙ ˙ suwar (»Der Kanon der Malerei«) veranschaulicht, das den angehenden Maler ˙ mit praktischen Ratschlägen zur Technik versorgt (1981, Bd. 1, S. 259–269). Er beginnt mit einer Apologie der Kunst, in der er anmerkt, dass das Werk des Malers grundlegende Eigenschaften von ihrer vergänglichen Merkmale beraubten Dingen offenbaren kann, weil seine Hervorbringungen seinem schöpferischen Vorstellungsvermögen (hiya¯l) entspringen. Diese Formulierungen ˘ schaffen implizite Vergleiche zwischen der schöpferischen Rolle des Malers und der Rolle Gottes, eine Ansicht, die der Mogul-Kaiser Akbar (reg. 1556–1605) noch direkter zum Ausdruck brachte. Sein Biograf, Abu-’l-Fadl ʿAlla¯mı¯, zitiert ihn mit ˙ den Worten, dass die Fähigkeit des Malers, Lebewesen darzustellen, religiösen Wert habe, weil sie an Gottes schöpferische Kraft erinnert (1873, Bd. 1, S. 107– 109). In Anlehnung an das Beispiel der westlichen Kunst, in der die Darstellung eine entscheidende Komponente bildet, begannen Wissenschaftler Themen wie den islamischen Ikonoklasmus, die Ikonografie der islamischen Kunst oder die Rolle der Narrative bei der Illustration von Handschriften zu untersuchen (Grabar 1977; Naef 2007). Um noch einmal auf das Beispiel des »Arabischen Frühlings« zurückzukommen: Nicht nur Musikschaffende, wie angeführt, sondern natürlich auch Dichter*innen und Fotograf*innen, Dramatiker*innen und Graffiti-Künstler*innen, in ihren Heimatländern und im Exil, sie alle trugen die Aufstände wesentlich mit. Künstlerische Produktion und das »Theater der Proteste« waren eng miteinander verbunden.3 Was Tahrir zu einem so mächtigen Raum machte, waren all die verschiedenen Kunstformen – Musik, Graffiti, Plakate, Humor, Gesang, Fotografie, Poesie –, die dort fast drei Jahre lang dargeboten wurden. In diesem Kontext aufgeführte Theaterstücke konnten ebenso wie Musik und Poesie zu tarab führen, jener intensiven ästhetischen Qualität, die der Gefühls˙ austausch und die Kommunikation zwischen Darsteller*innen und Publikum hervorrufen kann (LeVine 2015, S. 1277–1313). Die auffälligste Kunstform der arabischen Aufstände war jedoch eindeutig Graffiti (Abbildung 4), das eine zentrale affektiv, d. h. emotional wirksame ästhetische Rolle spielte (Zoghbi & Hawley 2011; Boraie 2012). Die einstmals klar scheinenden Grenzen zwischen künstlerischen und profanen Artefakten lassen sich heute nicht mehr aufrechterhalten (Morgan 2006). Ein genauer Blick vermag selbst gewöhnliche Alltagsobjekte zur Quelle des

3 Siehe Erika Fischer-Lichte 2004, deren konzeptuelles Grundgerüst einer Ästhetik des Performativen aus der Trias der Begriffe »Ereignis – Inszenierung – ästhetische Erfahrung« gebildet wird.

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Staunens und des ästhetischen Lernens zu machen. Somit erschließen sich in der Diskussion für die Studierenden weitere Betrachtungsebenen.4 Koranische Kalligrafie ist vielleicht der spezifischste Ausdruck islamischer Ästhetik. Um es mit den Worten von Seyyid Hossein Nasr auszudrücken: »The Pen of Qalam is the Active Pole of Divine Creation« (1987, S. 21). In einem anderen Kontext beschreibt Michael von Brück den emotionalen und zugleich kognitiven Prozess des Kalligrafen, der sich mit den Bewegungen des Griffels und den Strukturen der Linien identifiziert, geometrische Formen nachempfindet, Ordnungen wahrnimmt und mit diesen Bewegungsmustern mitschwingt: »Kalligraphie ist ein schöpferischer Vorgang, bei dem mehrere Resonanzräume wechselseitig in Schwingung geraten: zum einen der vom Atem bewegte Körper des Künstlers, der seine Bewegung in die dynamischen Formen der Kalligraphie überträgt, zum anderen die Resonanz in der aufmerksamen Haltung des Betrachters, indem er sich von den kalligraphischen Formen in eine Bewegung des Geistes versetzen läßt« (von Brück 2019, S. 15). Und der osmanische Gelehrte und Kalligraf des 19. Jahrhunderts, Mustafa Izzet Efendi, soll gesagt haben: »Schöne Kalligrafie zu lesen ist wie das Aroma einer schönen Tulpe einzuatmen.« In den Augen der Muslim*innen ist die koranische Kalligrafie die sichtbare Form des offenbarten Wortes, eine Leistung, in der Künstler*innen und Gläubige auf ihrer Suche nach dem Unaussprechlichen vereint sind. So etwa implizieren die poetischen arabischen Inschriften aus dem späten 14. Jahrhundert im Alhambra-Palast in Granada, dass das Sehen durch lustvolles Staunen zur Erkenntnis führen kann (Abbildung 5). Die Betrachtung einer solchen Inschrift regt dazu an, über die Schönheit ihrer architektonischen Konstruktion nachzudenken, deren sinnlich-ästhetische Wahrnehmung die extravagantesten Vorstellungen der Imaginationsfähigkeit übersteigt, eine Schönheit, in der kosmologische Metaphern mitschwingen (Fairchild Ruggles 1997, S. 180– 189). In seinem bahnbrechenden Werk über die Ästhetik im arabischen Denken erklärt José Miguel Puerta Vílchez (2017; 2013, S. 29–45) die Beziehung zwischen Poesie, Architektur und Ästhetik im Alhambra-Palast und zeigt, wie Text in die Ornamentik eingefügt wird, um die räumliche Infrastruktur des Bauwerks zu bilden. Anhand seiner Rekonstruktion des ästhetischen Diskurses, der in den Versen, die den Palast schmücken, zum Ausdruck kommt, lässt sich nachvollziehen, dass Schönheit am nasridischen Hof durch Poesie und Architektur so konzipiert wurde, dass das Bedeutungsprogramm der Alhambra ohne ihre Inschriften unvollständig wäre.

4 Über die Ästhetik der zeitgenössischen Produktwelt in der islamischen Welt, siehe das WebProjekt »Hawass« (http://hawass.org/about; #ContemporaryIslamicAesthetics); Kokoschka 2019.

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Wiewohl es in der islamischen Welt eine Vielzahl von Moscheen und Medresen gibt und ich im Unterricht versuche, der Pluralität in den verschiedenen Lebenswelten von Muslim*innen von Albanien bis China gerecht zu werden, indem ich deren Vielfalt betone und ihre Ästhetik der Vergangenheit (Necipoğ lu 2005; Alami 2011) und Gegenwart detailliert untersuche, möchte ich in diesem Kapitel das Augenmerk auf eine kleine, 2012 eröffnete Nachbarschaftsmoschee, die Baitur-Rouf-Moschee in Dhaka, Bangladesch, lenken (Abbildung 6), deren Architektin und Bauherrin Marina Tabassum für das Projekt 2016 mit dem Aga Khan Architecture Award und 2018 mit dem Jameel Prize ausgezeichnet wurde. Das am nordöstlichen Rand der Millionenstadt gelegene Land hatte ihre Großmutter, Sufia Khatun (gest. 2006), gestiftet; die Moschee selbst wurde mit einem bescheidenen Budget erbaut, das größtenteils von den Bewohner*innen des Viertels aufgebracht wurde. Im Unterricht benutze ich Ausschnitte von Tabassums öffentlichen Vorträgen,5 die ihren sensiblen Umgang mit den lokalen geografischen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten in diesem Gebäude verdeutlichen. Ein Anliegen Tabassums war, dass die Moschee außer als kontemplatives und spirituelles Zentrum für die Bewohner*innen des Viertels auch als Gemeinschaftszentrum diene. Laut eigener Aussage bezieht sich Tabassum auf das Vermächtnis spiritueller Gebäude wie der im achten Jahrhundert errichteten Großen Moschee von Córdoba in Spanien »mit ihrem unendlichen Raum und ihrem magischen Licht« oder der im sechsten Jahrhundert erbauten Hagia Sophia in Istanbul ( jener Basilika, die im Juli 2020 wieder in eine Moschee umgewandelt wurde) und besinnt sich auf die Hausformen der Moscheen zur Zeit des Propheten Muhammad; gleichzeitig versucht sie, eine Architektursprache zu ˙ schaffen, die die Essenz des ruhmreichen Erbes der Moscheebaukunst in Bengalen während der Zeit des Sultanats (14. bis 16. Jahrhundert) aufgreift und einen zeitgenössischen Ausdruck bewahrt. In ihrem Bauwerk konzentrierte sich die Architektin nicht auf symbolische Elemente (wie Kuppel und Minarett), sondern auf Spiritualität. Die nach traditionellen Methoden aus Ziegelstein erbaute Moschee mit ihrer außergewöhnlichen Backsteinfassade und ihrem wunderschön beleuchteten Inneren täuscht über die ungewöhnliche Tatsache hinweg, dass sie u. a. keine Kuppel besitzt. Das durch poröse Ziegelmauern atmende Bauwerk hält die Gebetshalle belüftet und kühl; entsprechende Öffnungen ermöglichen den ausreichenden Einfall von Tageslicht. Die daraus entstehenden Licht- und Dunkeleffekte, die zarte Farb- und Lichtgestaltung, die sich je nach Tageszeit verändert, unterstreichen Tabassums Wunsch, eine wahrnehmbare Atmosphäre der »Spiritualität durch Licht« zu kommunizieren und einen Ort zu schaffen, in dem körperlich-sinnliche Empfindungen, die möglicherweise »unter 5 Beispielsweise https://www.youtube.com/watch?v=OMqe05XXJRw; https://www.youtube.com/ watch?v=UkKKvodQ4kU. Zugegriffen: 14. August 2020.

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die Haut gehen«, evoziert werden und in dem man »den Blick nach innen richtet«. 2019 hatte ich die Möglichkeit, diesen »Ort des Staunens« mit einem bengalischen Kollegen zu besuchen, der diesen Teil Dhakas normalerweise nicht besucht und den die, wie er es ausdrückte, »Spiritualität atmende Moschee« tief beeindruckte. Zusammen mit den Studierenden »betreten« auch wir diesen lichtdurchfluteten Raum der Spiritualität in Dhaka virtuell via Fotos und im Video und halten inne, um uns zu besinnen und ihn ästhetisch wahrzunehmen und das Lichtspiel zu betrachten. Über die durch den Klang des Gebetsrufs (ada¯n) wirkungsvoll verstärkte sinnlich-emotionale Stimulierung tauchen wir ¯ gleichzeitig in einen zentralen Lebensraum der Bewohner*innen des Viertels in Dhaka ein. In der Folge tauschen wir die ästhetischen Erfahrungen und sinnlichen Wahrnehmungen aus. Die Initiierung von persönlicher Anteilnahme, Mitwirkung und subjektiver Auseinandersetzung mit ästhetischen Prozessen im Islam involvieren natürlich auch gemeinsame Aktivitäten wie Essen oder Museumsbesuche (Reeve 2017, S. 173–180), Aktivitäten, die zu einem Er-Fühlen, Er-Riechen, Er-Schmecken und Er-Leben in der Gemeinschaft führen und körperlich-sinnlich und möglicherweise sogar emotional affiziert werden können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Koexistenz verschiedener Sinneserfahrungen und -modalitäten, zu denen auch die wissenschaftliche Schulung gehört, gegen eine monolithische Wahrnehmung der Genese der Ästhetik im Islam spricht. Vielmehr gilt es, der Vielfalt und Multidimensionalität ästhetischer Kommunikationsformen im Islam, die eine pluralistisch-offene, intersensorische, synästhetische Perspektive zeitigt, Rechnung zu tragen. Das breite Spektrum der in diesem Beitrag kurz vorgestellten Konzepte und Debatten zeigt, dass Ästhetik in der islamischen Welt – als eigene intellektuelle Tradition – Licht auf die affektiven, somatischen und sensorischen Aspekte des Engagements des Einzelnen mit seiner oder ihrer Umwelt wirft. Die dadurch gewonnenen sinnlichästhetischen Eindrücke stellen einen Ausgleich zu unserer kognitiv geprägten Umwelt dar, unterstützen die Entwicklung von Vorstellungskraft, Phantasie und Kreativität, von Interpretations- und Deutungskompetenzen. Diese (syn-)ästhetischen Lernprozesse wirken sowohl nach innen (Selbsterkenntnis) als auch nach außen (Empathie). In Zeiten von Islam im Cyberspace, Globalisierung, Migration, multikulturellen Gesellschaften und transnationalen Identitäten ist es besonders wichtig, eine ganzheitliche Ästhetik des Islams und Sinnsuche über die Sinne hinaus zu fördern.

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Illustrationen

Abbildung 1: »Big Dhikr« mit Scheikh Hassan Dyck im Zentrum, Dezember 2019, Osmanische Herberge, Kall-Sötenich, Deutschland. Foto © Sara Kuehn.

Abbildung 2: Qawwali während des jährlich stattfindenden Urs-Festes am Jahrestag des Todes des Sufi-Heiligen Khwaja Muin-ud-din Chishti in Ajmer, Indien. Foto © Sara Kuehn.

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Abbildung 3: Sˇ¯ırı¯n betrachtet Husraus Porträt, beobachtet von Sˇa¯pu¯r. Detail einer Miniaturmalerei aus einem Manuskript˘ von Niza¯mı¯s Hamsa. Herat, 1442. London, British Library, ˙ ˘ Add. 25900, f. 41r.

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Abbildung 4: »Inspiration«, Hesti & El Seed, Montreal 2008.

Abbildung 5: Inschriften und Muqarnas-Gewölbe im Abencerrajes-Saal, Alhambra-Palast, Granada. Foto © Wikipedia. https://en.wikipedia.org/wiki/Alhambra#/media/File:Abencerrajes.jpg.

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Abbildung 6: Gebetshalle, Bait-ur-Rouf-Moschee in Dhaka, Bangladesch. Foto © Sara Kuehn.

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Dorothea Ermert

Ästhetisches Lernen im islamischen Religionsunterricht

Zusammenfassung Ästhetisches Lernen ist ein didaktischer Ansatz, der im Bereich der islamischen Religionspädagogik erst seit jüngster Zeit Beachtung findet und der weiteren Erschließung bedarf. Gerade für den Grundschulbereich stellt er aufgrund seiner wahrnehmungs- und gestaltungsbetonten Dimensionen eine Bereicherung dar. Darüber hinaus bietet er auch für den Einsatz in den Sekundarstufen vielfältige Möglichkeiten. Der Beitrag erläutert die theoretischen Hintergründe des Konzepts und die zentralen Dimensionen ästhetischen Lernens. Mit Blick auf die pädagogische Umsetzung in der Unterrichtspraxis wird die Relevanz künstlerischer, musikalischer und spielerischer Formen dargestellt.

1.

Einleitung

Als jüngste Disziplin im Kanon der konfessionellen Theologien im deutschsprachigen Raum steht die islamische Religionspädagogik vor der Aufgabe, einen Beitrag zu den Aufbau- und Etablierungsprozessen zu leisten, die mit der Einführung und dem Ausbau des islamischen Religionsunterrichts verbunden sind (vgl. Ermert 2019, S. 33). Dazu gehört auch die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung didaktischer Konzepte, die den Anforderungen nach einem zeit- und kindgemäßen Unterricht entsprechen. Ästhetisches Lernen ist ein Beispiel für einen didaktischen Ansatz, der im Kontext der islamischen Religionspädagogik nach wie vor Neuland darstellt (vgl. ebd., S. 34). Zum besseren Verständnis der Hintergründe dient vorab ein Blick in die Bereiche der Grundschulpädagogik und der christlichen Religionspädagogik, da sie aus der Erfahrung ihrer (Fach-) Traditionen starke Argumente für den Einsatz ästhetischen Lernens liefern, die auf die islamische Religionspädagogik transferierbar sind. Ästhetische Erziehung wird seit den 1980er-Jahren »als fächerübergreifendes und fächerverbindendes Prinzip des Lernens in der Grundschule« (Staudte 1993,

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S. 7) wieder verstärkt in den Blick genommen. Staudte betont »den Stellenwert der ästhetischen Zugangsweise in allen Lebensbereichen der Grundschule« (ebd.), dem es nicht nur um eine Art Kunsterziehung oder einen neuen musischästhetischen Lernbereich für die Fächer Kunst, Musik und Sport geht (vgl. ebd.). Stattdessen steht »die generelle Bedeutung der ästhetischen Erziehung für die allgemeine Bildung des Kindes in der Grundschule« (ebd.) im Vordergrund, wodurch »die Möglichkeiten von ästhetischem Lernen für alle Lernvorgänge« genutzt werden sollen (ebd.). Auch Kaiser und Pfeiffer gehen auf die Rolle der musisch-ästhetischen Bildung ein und stellen deren Vorzüge als »Ausgleich zur vordergründig kognitiven Auseinandersetzung mit der Welt« (Kaiser & Pfeiffer 2007, S. 72) dar. Tatsächlich verorten sie den Ausgangspunkt musisch-ästhetischer Bildung zunächst fachlich im Kunst- und Musikunterricht, postulieren selbige aber darüber hinaus ebenso wie Staudte als »durchgängiges Unterrichtsprinzip und Teil der Schulkultur« (ebd.). In diesen Äußerungen kommt eine Abwendung von der starken Favorisierung des rationalen Erkenntnisgewinns insbesondere der 1970er-Jahre zum Ausdruck. Mithin wird der Versuch formuliert, »die Notwendigkeiten planvoller Wissensvermittlung mit dem Rhythmus kindlichen Erlebens, Denkens und Handelns in Einklang zu bringen« (Staudte 1993, S. 8). Demzufolge sollten die Kinder mit ihren Anliegen und Interessen ernst genommen werden und »ihre subjektiv wichtigen Erfahrungen und sinnlich konkreten eigenen Lernwege wieder zur Grundlage der abstrahierenden Lernprozesse werden« (ebd.). In diesem – auf die Grundschulpädagogik bezogenen – »bildungspolitischen und pädagogischen Zusammenhang« (ebd.) verortet Staudte die Bedeutung der leiblich-sinnlichen Dimension von Erziehung und Lernvorgängen (vgl. ebd.). Der Einfluss dieser Entwicklungen der allgemeinen Grundschulpädagogik findet sich auch in der christlichen Religionspädagogik wieder. Altmeyer konstatiert, dass nach der »Omnipräsenz ästhetischer Fragestellungen und Ansätze« (Altmeyer 2009, S. 356) der von Timm als »ästhetisches Jahrzehnt« (vgl. ebd.) bezeichneten 1990er-Jahre die »Forderung einer ästhetischen Wende auch in der Praktischen Theologie und Religionspädagogik angekommen« sei (ebd.). So speist sich »die Forderung nach einem ästhetisch orientierten Religionsunterricht« (Mendl 2011, S. 160) einerseits aus »einem postmodernen Krisenbewusstsein« (vgl. ebd.), welches den »destruktiven Tendenzen der Moderne (Warenästhetik, Beschleunigung, Materialismus, Ausbeutung, Zerstörung der Natur …)« (ebd.) etwas entgegensetzen will. Andererseits kommt Schule selbst kritisch in den Blick, da Bildungsprozesse Entwicklungen wie kognitiver »Verengung, Veroberflächlichung und Beschleunigung« (ebd.) ausgesetzt sind. Hilger bemängelt, dass Religionsunterricht analog zu anderen Schulfächern zu der »Tendenz [neigt], ein entsinnlichtes Wissen in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen anzuhäufen, das letztlich wirkungslos bleibt und keine Relevanz für

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Lebensdeutung und Weltverstehen besitzt« (Hilger 2010, S. 334). Im ästhetischen Lernen sieht er eine Möglichkeit, »einer rationalistischen Engführung religiöser Bildung zu entgehen, [indem] Zugänge zu religiösen Sehweisen auch der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit« (ebd.) eröffnet werden. Über Hilger hinaus schlägt sich die zwischenzeitlich große Resonanz auf den didaktischen Ansatz des ästhetischen Lernens in diversen Publikationen sowohl protestantischer als auch katholischer Religionspädagog*innen nieder, sodass Porzelt feststellt: »Gerade vom ästhetischen Lernen ist derzeit in der Religionspädagogik sehr oft die Rede. Ästhetik steht religionspädagogisch hoch im Kurs« (Porzelt 2009, S. 39). Diese Einschätzung wird von Gärtner geteilt: »Nicht von ungefähr wird dem Ästhetischen derzeit in Theorie und Praxis der Religionspädagogik ein hoher Stellenwert beigemessen« (Gärtner 2013, S. 118). Wie zu Beginn erwähnt, hat die im europäischen und insbesondere deutschsprachigen Raum wesentlich jüngere Disziplin der islamischen Religionspädagogik diesbezüglich Nachholbedarf. Angesichts der Herausforderungen, die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Grundlagen eines zeitgemäßen islamischen Religionsunterrichts im hiesigen Kontext grundlegend zu erarbeiten, standen inhaltlich in der Vergangenheit vor allem zentrale Themen wie Koran, Prophetentradition, Prophetengeschichten, die Heranführung an die islamische Pflichten- und Morallehre etc. im Vordergrund. In religionspädagogischer und -didaktischer Hinsicht mussten und müssen jedoch weiterhin neue Wege gefunden bzw. ausgebaut werden, die eine Abkehr von z. T. überkommenen traditionellen, eher katechetisch ausgerichteten Unterrichts- und Erziehungsmethoden zur Folge haben (vgl. Ermert 2019, S. 33f.). »Religiöses Lernen, das sich bloß auf wiederzugebende religiöse Inhalte beschränkt, wird auch dem Sachanspruch nicht gerecht, sondern verführt dazu, diese Inhalte distanzierend zu verobjektivieren, zu neutralisieren und zu bloßem Wissensstoff zu degradieren« (Hilger 1996, S. 19). Aus der Erfahrung von mehr als 200 Jahren christlich-bekenntnisorientiertem Religionsunterricht geht deutlich hervor, »daß bloß angelerntes Wissen ebenso schnell, wie es angeeignet wurde, auch wieder verfällt« (ebd.). Eine solche, von Hilger für den christlich-konfessionellen Religionsunterricht beobachtete, Entwicklung, sollte im Kontext des schulischen islamischen Religionsunterrichts nicht über einen derart langen Zeitraum Fuß fassen. Stattdessen gälte es, schon in dieser frühen Phase des Fachs der von ihm beschriebenen »rationalen Engführung« des Unterrichts vorzubeugen. Mithin geht es darum, angesichts einer im Vergleich zu den meisten islamischen Herkunftsländern ethnisch und konfessionell wesentlich heterogener zusammengesetzten Schülerschaft die Didaktik und Methodik des islamischen Religionsunterrichts kindgerecht und motivierend (weiter)zuentwickeln. »Anleihen bei der christlichen Religionspädagogik« (Ermert 2019, S. 34) mit ihrem langjährigen Erfahrungsschatz werden seitens islamischer Religionspäda-

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gog*innen als hilfreich und zielführend betrachtet (vgl. ebd.). So äußert Ucar, dass man nicht umhinkomme, »sich auch auf die Erkenntnisse […] insbesondere der christlichen Fachdidaktiken« (Ucar 2011, S. 118) einzulassen. Auf diese Weise haben Konzepte wie Korrelationsdidaktik und Elementarisierung mittlerweile Eingang in die Lehrerausbildung für das junge Fach gefunden. Andere didaktische Ansätze, wie z. B. ästhetisches Lernen, sind noch nicht implementiert (vgl. Ermert 2019, S. 34), obwohl sie gerade im Hinblick auf die eingangs zitierten Feststellungen von Grundschulpädagog*innen und christlichen Religionspädagog*innen äußerst vielversprechend scheinen.1 Angesichts der einleitenden Vorüberlegungen stellt sich die Frage nach der theoretischen Fundierung ästhetischen Lernens und seiner Relevanz für den islamischen Religionsunterricht. Diesen Aspekten widmet sich der vorliegende Artikel, indem er zunächst eine multiperspektivische Annäherung an das Begriffsfeld unternimmt. Ausgehend von einem allgemeiner gehaltenen historischphilosophischen Abriss nimmt der Beitrag die pädagogische Bedeutung ästhetischen Lernens in den Blick, bevor eine Fokussierung auf die religionspädagogische Perspektive erfolgt. Die daran anschließende Darstellung des Konzepts Georg Hilgers bildet den Referenzrahmen für den nachfolgenden Abschnitt. Dieser konkretisiert anhand der Beispiele Kalligrafie, Musik, Spiel und Bewegung den didaktischen Ansatz mit Blick auf den islamischen Religionsunterricht, bevor in der Conclusio eine abschließende Reflexion vorgenommen wird.

2.

Ästhetisches Lernen

Ästhetisches Lernen ist ein komplexer Begriff, dessen Bestimmung je nach Fachtradition und zugrunde gelegtem Verständnis von Ästhetik, ästhetischer Bildung und ästhetischer Erziehung unterschiedlich ausfällt. Kleine Schlaglichter auf den Bereich der Ästhetik und auf historisch gewachsene Ästhetikauffassungen sollen zum Verständnis der Hintergründe der Begrifflichkeiten beitragen. Bereits der Beginn des Lexikoneintrags unter der Rubrik »Ästhetik/Ästhetisch« verweist auf den immensen Bedeutungsumfang des Terminus: »Ä. gilt im traditionellen Verständnis als Teil der Philosophie (des Schönen), aber auch als selbständige Wissenschaftsdisziplin – zwischen Philosophie und Kunstwissenschaften – oder auch als Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung. Ä. ist nicht durch einen abgrenzbaren Gegenstand – das Ästhetische – zu definieren. Grundsätzlich

1 Wohl findet sich hier und da in Fachartikeln islamischer Religionspädagog*innen zu anderen Themen eine kurze Erwähnung des ästhetischen Lernens – allerdings meistens nur im Umfang einer Randbemerkung. Der erste inhaltliche Beitrag in dieser Richtung behandelt ästhetisches Lernen mit dem Schwerpunkt Musik im islamischen Religionsunterricht (siehe Ermert 2017).

Ästhetisches Lernen im islamischen Religionsunterricht

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können alle Bereiche zum Gegenstand von Ä. werden von der Natur bis zur Politik, vom Design bis zur Weltkunst – wenn sie unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, d. h. nach dem Zusammenhang von Struktur, Funktion und Gestalt und deren subjektiver Wahrnehmung befragt werden. Das Ästhetische bezeichnet Relationen, nicht eindeutige Merkmale von etwas.« (Metzler Lexikon Ästhetik 2006, S. 29)

Historisch lassen sich die Anfänge der Ästhetik bereits in der griechischen und römischen Antike verorten (vgl. Klepacki & Zirfas 2012, S. 68f.; Metzler Lexikon Ästhetik 2006, S. 20ff.). Griechische Philosophen beschäftigten sich erstmals mit der Beziehung von Sinneswahrnehmung und Denken, wobei Aristoteles bereits »als Vertreter einer positiven Theorie der sinnlichen Erkenntnis« (Altmeyer 2009, S. 206) gelten kann, »denn in der sinnlichen Wahrnehmung beginnt für ihn alles Wissen, das nicht im Gegensatz zur rationalen Erkenntnis steht, sondern darin verallgemeinernd weitergeführt wird« (ebd.). Insgesamt steht in der Auseinandersetzung der Philosophen der Antike mit Ästhetik der Aspekt des objektiv Schönen im Vordergrund. Demnach ist Ästhetik »jene Disziplin, die sich mit der Wahrnehmung des Schönen in Natur, Architektur, in Kunst und Literatur befasst. Platon sah im ›Symposium‹ das Schöne als Ziel menschlichen Strebens. Das Schöne erinnert die Seele an die göttliche Späre [sic!] und bewirkt das Gute. Die Antike hat stets die Einheit des Schönen, Wahren und Guten betont« (Renz & Leimgruber 2005, S. 244). Diese Einheit drückt sich in dem Ideal der »kalokagathia als einer Verbindung von Schönheit und Tugend« (Klepacki & Zirfas 2012, S. 68), dem »Inbegriff bürgerlicher Vollkommenheit« (ebd., S. 69) aus und wird von den Römern mit der Vorstellung von der »vollkommenen Übereinstimmung von Schönheit und Güte (…) in der Gestalt des vir bonus, des guten tadellosen Mannes« (ebd.) weitergeführt. Parallelen im islamischen Kontext zu diesen Vorstellungen zeigt Kermani anhand der koranischen Josefsgeschichte auf. »Wir wollen dir erzählen / Die schönste der Geschichten (ahsana l-qasas)« (Kermani 2000, S. 26). Anhand der ˙˙ ˙ ˙ Beschreibung des Bedeutungsfeldes der arabischen Wurzel h-s-n im Sinne von ˙˙ »gut, vortrefflich, schön, hübsch« (ebd.) arbeitet er heraus, dass sie »also das Sittliche ebenso wie das Ästhetische« (ebd.) einschließt, »womit eine Weltanschauung zum Ausdruck kommt, die auch dem antiken Geist nicht fremd ist; Plotins Satz, daß ›Gutes und Schönes, Gutheit und Schönheit identisch‹ seien, gibt exakt die semantische Wirklichkeit des Koran wieder« (ebd.). Hajatpour weist darauf hin, dass die islamischen Philosophen im Wesentlichen mit der Betrachtungsweise der antiken Philosophie übereinstimmen, da doch die Vorstellung von einer »Welt als eine sinnvolle Ordnung« (Hajatpour 2015, S. 88), in der Zweckmäßigkeit und Harmonie als Zeichen der göttlichen Ordnung gelten, beide verbindet (vgl. ebd.). Bezogen auf den abendländischen Raum ist das Mittelalter beeinflusst »durch den Nachklang der Antike, den Einfluss germanischer Elemente sowie das Welt-

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und Menschenbild der christlichen Kirche. In diesem Kontext entwickelt das Schöne für den mittelalterlichen Menschen eine tiefe ontologische und spirituelle Bedeutung« (Klepacki & Zirfas 2012, S. 70). In der engen Verbindung von Ästhetik und christlicher Theologie wird über die Betrachtung irdischer Schönheit der Weg zur göttlichen Schönheit angebahnt (vgl. ebd.). In der »Frühen Neuzeit«, von Klepacki und Zirfas als Sammelbegriff für die Epochen der Renaissance, Reformation und Barock verwendet, »ergeben sich (…) allerdings Überschneidungen mit dem Spätmittelalter und damit auch Schnittstellen zu einer Koexistenz mittelalterlicher und neuerer ästhetischer Vorstellungen« (ebd., S. 71). Die Folge davon ist eine Erneuerung sowohl des antiken Gedankenguts als auch des Menschenbildes, welches sich jetzt stärker subjektbezogen darstellt (vgl. ebd.). Öffentliche, kulturell-ästhetische Bildung unter dem Primat der Kunstschönheit gewinnt gegenüber der bis dahin favorisierten Naturschönheit an Bedeutung und beeinflusst mit dem Ideal vom uomo universale bzw. gentil uomo, dem umfassend gebildeten Menschen/Mann, nachhaltig das europäische Bildungsdenken (vgl. ebd.). In der Phase der Reformation wiederum stellen Martin Luther und Philipp Melanchton theologische Überlegungen an, denen zufolge Tätigkeiten wie das Lesen und Singen sowie die eloquente Rede einen zentralen Beitrag zur Gotteserfahrung leisten können (vgl. ebd., S. 72). Eine entscheidende Wende hinsichtlich des Ästhetikverständnisses vollzieht sich in den Perioden von Aufklärung und Klassik. Alexander Gottlieb Baumgarten gilt mit seiner zweibändigen Schrift Aesthetica als Begründer der Ästhetik als Disziplin (vgl. Klepacki & Zirfas 2012, S. 68, 72), weil er »die Ästhetik als gesonderte Logik der nicht-rationalen, sinnlichen Erkenntnis entwirft, die der nur der Philosophie vorbehaltenen Wissenschaftlichkeit entgegentritt« (ebd., S. 72). Die ästhetische Geschmacksbildung mit dem »Subjekt als entscheidende Instanz in der Erfahrung von Kunst und Schönheit« (ebd.) wird von so unterschiedlichen Autoren wie z. B. John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Gotthold Ephraim Lessing und Immanuel Kant behandelt (vgl. ebd.). Dabei löst sich Kant bei der Bestimmung von ästhetischen Qualitäten und ästhetischer Bildung von den Eigenschaften von Objekten und der »Übereinstimmung von bestimmten, als objektiv oder natürlich geltenden Kunstregeln« (ebd., S. 73) und stellt die »Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand« (ebd.) in den Vordergrund. Friedrich Schiller wiederum verbindet »weitreichende soziale und politische Perspektiven mit anthropologischen Annahmen« (ebd.). Diese münden in ein Konzept von ästhetischer Bildung, die durch das ästhetische Spiel »die Sensibilisierung des Menschen und die Veredelung seines Charakters« (vgl. ebd., S. 74) bewirken soll und durch die Vereinigung rationaler und moralischer Fähigkeiten (vgl. Altmeyer 2009, S. 207) »im gesellschaftlichen Ganzen zur Entstehung einer vernünftigen und deshalb humanen Ordnung beitragen kann«

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(ebd.). Die Relevanz der »kritischen Pointe« (ebd.) dieses, von einigen Autor*innen (Klepacki & Zirfas 2012) als utopisch, von anderen (Altmeyer 2009) als emphatisch beschriebenen Bildungsbegriffs ist über seine Zeit hinaus gegeben und liegt in der »Vorstellung eines im Ästhetischen aufgehobenen Widerstands gegen alle Versuche, Bildung auf Zwecke und Funktionen zu reduzieren« (ebd., S. 207). Vor dem Hintergrund der skizzierten Ästhetikverständnisse eröffnet sich hinsichtlich der Definition von ästhetischer Bildung ein entsprechend breites Spektrum an Möglichkeiten. Porzelt zählt ästhetisches Lernen, ebenso wie ethisches und religiöses Lernen, zu den komplexeren Lerndimensionen (vgl. Porzelt 2009, S. 39).2 Klepacki und Zirfas weisen darauf hin, dass es »keine allgemeingültige Definition der ›Ästhetischen Bildung‹ gibt« (Klepacki & Zirfas 2012, S. 68), und auch Hilger betont, dass es hinsichtlich des Begriffs »ästhetische Bildung« keinen allgemeinen Konsens gebe (vgl. Hilger 2006, S. 43). Bitter wiederum stellt fest, dass es sich bei »ästhetischer Bildung« als einer Dimension religiösen Lernens um eine zerbrechliche Wortverbindung handele, da bereits die Teilbegriffe mit vielen Begriffsstreitigkeiten behaftet seien (vgl. Bitter 2002, S. 233). Dennoch scheint die terminologische Annäherung von Dietrich, Krinninger und Schubert im Hinblick auf allgemein pädagogische Überlegungen als Ausgangsbasis geeignet, da die Autor*innen etliche der zuvor genannten Aspekte umfassend integrieren. Demnach wird der Begriff einerseits »als Oberbegriff für alle pädagogischen Praxen genutzt, die einzelne ästhetische Felder (Kunst, Musik, Literatur, Theater etc.) zum Gegenstand haben, er wird zum anderen verwendet als Grundbegriff bildungstheoretischer Diskurse, in denen es um Fragen der Persönlichkeitsbildung in und durch ästhetische Erfahrungen geht. In diesem Verständnis bezieht sich ästhetische Bildung nicht nur auf Kunst und Kultur, sondern thematisiert auch allgemeinere Aspekte eines ästhetischen IchWeltverhältnisses, vor allem unter der Frage von Wahrnehmung und Sinnlichkeit« (Dietrich, Krinninger & Schubert 2013, S. 9). Im Bereich der Religionspädagogik finden sich sowohl die von Dietrich, Krinninger und Schubert genannten ästhetischen Felder als auch der Aspekt der sinnlichen Wahrnehmung und diese bestimmen die jeweiligen Konzepte von ästhetischer Bildung und ästhetischem Lernen. Insbesondere die Fokussierung auf die sinnliche Wahrnehmung und wahrnehmungsorientiertes Lernen in Anlehnung an die Wortbedeutung von aísthesis (gr. »sinnliche Wahrnehmung«, vgl. u. a. Porzelt 2009, S. 39; Bitter 2002, S. 233) kann als verbindendes Element der sich in anderen Aspekten unterscheidenden Ausführungen von z. B. Bitter (2002), Hilger (1996, 1998, 2006, 2010, 2014), Gärtner (2012, 2013) und anderen 2 Die sich teilweise mit ästhetischem Lernen überschneidenden Konzepte der Symboldidaktik und Mediendidaktik werden im Rahmen dieses Beitrags nicht näher behandelt.

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betrachtet werden. So rekurriert Hilger hinsichtlich der verschiedenen Arten von Erkenntnis auf Baumgarten: »Aus erkenntnistheoretischem Interesse rehabilitiert Baumgarten (1714–1765 [sic!]3) alle jene Sinneseindrücke, die nicht von mathematisch-logischen Wissenschaften erfasst werden, und weist ihnen unersetzliche Bedeutung zu« (Hilger 2006, S. 43). Auf diese Weise rückt die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung »als besondere Form der Erkenntnis« (Porzelt 2009, S. 39) in den Vordergrund. Auch Renz und Leimgruber sehen das Potenzial der sinnlich evozierten Erkenntnis und stellen ihre pädagogische Bedeutung, gerade auch für die aktuelle Situation im Schulalltag, heraus: »Die Aufklärung rückte in der Ästhetik die sinnenhafte Erkenntnis in den Vordergrund. Darunter verstand sie kein bloß vordergründiges schmetterlingshaftes Antippen von Gegenständen und Personen, sondern die Kunst des ursprünglichen, möglichst vorurteilsfreien, ganzheitlichen Wahrnehmens mit Kopf, Herz und Sinnen. Heute, angesichts einer wortreich gewordenen Kommunikation und einer medial vermittelten Bilderflut, die geradezu erschlagen und aufnahmeunfähig machen können, intendiert ›ästhetisches Lernen‹ ein langsames, entschleunigtes, leibhaftes Sehen mit den Augen, ein achtsames Hören, ein Tasten und Fühlen und nicht zuletzt ein Riechen und Schmecken.« (Renz & Leimgruber 2005, S. 244)

Bitter, der ästhetisches Lernen in drei voneinander getrennte, jedoch untereinander verbundene sogenannte »Parzellen« unterteilt, geht in der von ihm beschriebenen ersten »Parzelle« ebenfalls von Ästhetik auf der Basis von »Aisthesis« als »Lehre vom sinnlich Wahrnehmbaren« aus (vgl. Bitter 2002, S. 234). Daraus leitet er die Interpretation von ästhetischer Bildung als »das Erkennen-Lernen des sinnlich Wahrnehmbaren« (ebd.) ab und empfiehlt eine ausdrückliche »Sinnenbildung durch Sinnenschulung, die sich auf alle Bereiche des sinnlich Wahrnehmbaren bezieht« (ebd.). Nach dieser Auffassung ist ästhetische Bildung gleichbedeutend mit erkenntniskritischer Bildung (vgl. ebd.). In diese Kategorie fällt auch Gärtners erste von »drei Richtungen ästhetischen Lernens« (Gärtner 2012, S. 76), nämlich das wahrnehmungsorientierte (vgl. ebd.), dem es »um die Sensibilisierung der Sinnlichkeit, um die Infragestellung und Irritation von gewohnter Wahrnehmung, um neue Perspektiven auf Welt und auf sich selbst« (ebd., S. 77) geht. Die zweite »Parzelle« nach Bitter und die zweite Kategorie ästhetischen Lernens nach Gärtner, das kunstorientierte Lernen, betrachten ästhetische Bildung »im Sinne von Kunstbildung, in der Kunstobjekte als Unterrichtsgegenstand von der Lehrkraft gezielt eingesetzt werden« (Bitter 2002, S. 234). Hierbei geht es Bitter zufolge um Kunstbildung im Sinne einer »Bildung durch Kunst und für Kunst« (vgl. ebd.). Gärtner weist ebenso wie Bitter (vgl. ebd.) darauf hin, dass die kunstorientierte Richtung wesentlich enger gefasst ist als die wahrnehmungs3 Baumgarten starb 1762 (Anm. d. Verf.).

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orientierte (vgl. Gärtner 2012, S. 77), und dass der Kunst auf der Grundlage dieses religionspädagogischen Ansatzes »der Status eines locus theologicus« (ebd.) mit Erkenntnischarakter »für Glaube und Theologie« (ebd.) beigemessen wird. Renz und Leimgruber äußern sich in vergleichbarer Weise, indem sie am Beispiel sakraler Räume deren Wirkung auf den/die Betrachter*in beschreiben: »Wenn heute vom Trend einer ›Ästhetisierung des Religiösen‹ die Rede ist, wird darunter der Weg zur Religion über die Wahrnehmungen von kunstvollen Manifestationen des Glaubens und der Religionen verstanden. Ein Gang durch die Säulenmoschee in Cordoba kann beispielsweise ebenso eine religiöse Erfahrung evozieren wie die Betrachtung einer gotischen Glasmalerei in Chartres oder das stille Innehalten in der modernen Kirche von Ronchamps des Architekten Le Corbusier. Solche Räume bleiben nicht stumm, von ihnen gehen Kraftlinien und Botschaften aus: Der Raum wird zur Botschaft.« (Renz & Leimgruber 2005, S. 244–245)

Gärtner weist ihrer dritten Richtung ästhetischen Lernens das performativ-ästhetisch orientierte Lernen zu (vgl. Gärtner 2012, S. 76). Charakteristisch für diesen Ansatz ist, dass »Religion nicht rein rational zugänglich, sondern raumleiblich – und dabei auch ästhetisch – erfahrbar und begreifbar« ist (ebd.). Dieser Zugang äußert sich in einer »Erweiterung des methodischen Repertoires des Religionsunterrichts um Inszenierungen, die religiöse Ausdrucksformen bzw. Darstellungen im Unterricht präsentieren« (Grethlein 2012, S. 98). Grethlein bescheinigt dem performativen Ansatz, »durch seine Einbeziehung der affektiven und pragmatischen Dimension recht intensive Lernprozesse« zu inszenieren (ebd., S. 102). Mendl wiederum beschreibt die Notwendigkeit, »auch Elemente von Religion erlebbar zu machen« (Mendl 2011, S. 180), und formuliert das Ziel performativer Lernformen weniger in der unterweisenden »Einführung in den Glauben« (ebd., S. 184) als vielmehr im »Verstehen von Religion« (ebd.). Die angeführten Zugänge zu ästhetischem Lernen lassen sich, basierend auf einer weiten Auffassung von ästhetischer Bildung, nach Klepacki und Zirfas wie folgt zusammenfassen: »Ästhetische Bildung soll aus diesem Grund im Folgenden im Sinne einer sinnlichreflexiven und performativ-handlungsbezogenen Praxis verstanden werden ›als reflektierende und in Urteilen sich präsentierende Bildungsform, die in besonderer Weise die prozessualen Möglichkeiten für Übergänge, Verknüpfungen und das In-BeziehungSetzen von Wahrnehmungen, Erfahrung und Imaginationen auf der einen und Kunst, Schönheit und die mit ihr verbundenen Zeichen und Symbole auf der anderen Seite betrifft.‹« (Klepacki & Zirfas 2012, S. 68)

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Die Dimensionen ästhetischer Bildung nach Hilger

Am Beispiel des Ansatzes Georg Hilgers, der Religionsunterricht in wesentlichen Teilen als »Wahrnehmungsschule« (Hilger 1998, S. 139) versteht, »in der danach gesucht wird, wie und wo Religion und Glaube im eigenen und im Leben ringsum vorkommen und es prägen« (ebd.), werden im Folgenden die von ihm formulierten drei Dimensionen ästhetischer Bildung gesondert vorgestellt. Hilger unterscheidet dabei zwischen der wahrnehmend-rezeptiven (»Aisthesis«), der gestaltend-produktiven (»Poiesis«) und der urteilend-kommunikativen Dimension (»Katharsis«) (vgl. Hilger 2014, S. 70), die »zwar voneinander unterscheidbar« (ebd.) sind, jedoch »ineinander verwoben« (ebd.) bleiben. 2.1.1 Ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit (»Aisthesis«) Abgeleitet von der wörtlichen Bedeutung des Begriffs »Aisthesis« – »Wahrnehmung« (Hilger 1996, S. 20; 2010, S. 335; 2014, S. 68) –, »meint ästhetische Bildung soviel wie Bildung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit« (ebd.). Intendiert wird »die Erweiterung und Übung von Wahrnehmungsmöglichkeiten und die Fähigkeit zur Wahrnehmungskritik« (ebd.). In Anlehnung an das Ästhetikverständnis Alexander Gottlieb Baumgartens, der in erkenntnistheoretischer Hinsicht den Sinneseindrücken den gleichen Stellenwert wie der rationalen Erkenntnis einräumt (vgl. Hilger 1996, S. 21; 2006, S. 43; 2014, S. 68), arbeitet Hilger die Bedeutung von Religionsunterricht als Wahrnehmungsschule heraus, der es darum gehe, den Schüler*innen das Lernen mit möglichst allen Sinnen zu ermöglichen (vgl. Hilger 1998, S. 142). Dazu gehört die bewusste Pflege der sinnlichen Erkenntnis (vgl. Hilger 2010, S. 335), die darauf beruht, dass »die menschlichen Sinne in möglichst umfassender Weise angesprochen, aktiviert und kultiviert« (Hilger 1998, S. 142) werden. Auf diese Weise fungieren die Sinne als »Tore zur Welt« (ebd.) und bewirken eine besondere Beziehung zu selbiger und zum Leben (vgl. Hilger 1998, S. 142; 2010, S. 336). Mithin geht es um »ein konkretes Wahrnehmen, das sich einlässt und sich behutsam und aufmerksam an die Welt annähert, auch an ihre Widerstände, Widersprüche und Fremdheiten« (Hilger 2010, S. 336). Im Rückgriff auf Hintersberger betont Hilger, dass eine so verstandene Wahrnehmungsfähigkeit auch »für das religiöse Lernen grundlegend« (Hilger 1998, S. 142) sei und »zur Spiritualität eines gläubigen Menschen« (ebd.) gehöre.

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2.1.2 Ästhetische Gestaltungsfähigkeit (»Poiesis«) Ästhetische Bildung beschränkt sich nicht auf die wahrnehmend-rezeptive Dimension, sondern verlangt auch nach Ausdruck durch Gestalten und Handeln. »In der Dimension der Gestaltgebung ästhetischen Handelns sind Form und Methode untrennbar mit dem Inhalt verbunden« (ebd., S. 147). Hilger beschreibt ästhetisches Gestalten als »Ausdruck menschlicher Freiheit und Würde« (Hilger 1996, S. 21; 1998, S. 147; 2006, S. 44; 2010, S. 336; 2014, S. 69), wodurch sich der »Raum für das Mögliche und Erhoffte« (Hilger 2010, S. 336) eröffnet. Den Schüler*innen wird Gelegenheit gegeben, »innere Vorgänge, vertiefende Eindrücke, Wahrnehmungen, Lebensstile, Botschaften, Gemeinsamkeiten etc.« (Hilger 1998, S. 149–150) auf vielerlei Art auszudrücken. So bieten sich beispielsweise »Spielen, Musizieren, Malen, Plastizieren, Erzählen, Textgestalten und die rhythmische Bewegung« (ebd., S. 147) an. Doch auch das Alltagsleben wird in die ästhetische Gestaltung miteinbezogen. Darunter fallen, in Anlehnung an Klafki, z. B. die »Wahl der Frisur, der Kleidung, Wohnraumgestaltung, Gestalten eines Festes, eines Essens, von Beziehungen, von Zeit etc.« (ebd.). Darüber hinaus ist auch der öffentliche Bereich, wie z. B. »Religion, Politik, Ökonomie und Gesellschaft« (ebd.) mitinbegriffen, sodass letztendlich »kein Bereich von menschlicher Erfahrung« (ebd.) ausgenommen bleibt. Für Hilger sind weder die Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit noch das Produzieren von Objekten Selbstzweck. Die Bedeutung der beiden genannten Dimensionen ergibt sich aus ihrem Zusammenspiel im Sinne einer Förderung von kritischem Bewusstsein »für manipulative Verwendungsmöglichkeiten von Kunst im engeren Sinne und von anderen ästhetischen Mitteln, wie z. B. von Werbung und Propaganda« (Hilger 1996, S. 21–22; 2014, S. 69), wodurch sich der Bezug zur dritten Dimension ästhetischer Bildung, der Urteilsbildung, ergibt. 2.1.3 Ästhetische Urteilsbildung (»Katharsis«) Die Dimension der ästhetischen Urteilsbildung geht über die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit und Gestaltung hinaus, indem sie Rationalität und Aufklärung als konstitutive Elemente mit einschließt, »die den Prozess der ästhetischen Erfahrung mitbedingen, tragen und auch verändern« (Hilger 1996, S. 22; 2010, S. 336). Da menschliche Wahrnehmung »immer auch Momente des Erkennens, Denkens, Deutens und Fühlens« (Hilger 2010, S. 336) beinhaltet, führt sie als ästhetische Wahrnehmung auch zu ästhetischer Urteilsbildung (vgl. ebd.). In diesem Sinne fordert sie zur Stellungnahme und begründeten Positionierung auf (vgl. Hilger 1996, S. 22; 1998, S. 144; 2010, S. 336; 2014, S. 70), bis hin zur Parteinahme »für die Zukurzgekommenen, Verachteten und Unterdrückten« (Hilger 1998, S. 144). Hier zeigt sich, dass Ästhetik enge Bezüge zur Ethik aufweist und

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dieser in gewisser Weise den Weg bereitet (vgl. ebd., S. 145). Die Entwicklung der ästhetischen Urteilsbildung macht es notwendig, »ästhetische Urteilsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit anzubahnen« (ebd., S. 144), die »nach Wahrheit, nach der Qualität und der Ausrichtung auf gutes menschliches Leben« (ebd.) fragen. Im Unterricht sollten die Schüler*innen die Möglichkeit erhalten, ihre eigenen Erfahrungen »ohne Zwang und Bevormundung, auch im Interesse eines kommunikativen Suchens von Wahrheit« (Hilger 1996, S. 22; 1998, S. 144; 2014, S. 70) in den Austausch über ästhetische Erfahrung einzubringen (vgl. ebd.).

3.

Die Relevanz von Kalligrafie, Musik, Spiel und Bewegung im islamischen Religionsunterricht

Die Relevanz ästhetischen Lernens ist mittlerweile von islamischen Religionspädagog*innen erkannt worden und in unterschiedlichem Umfang in die Curricula eingeflossen. Ein Anwendungsfeld liegt in der Koranrezitation, die laut Sarıkaya hinsichtlich des Unterrichts in Koranschulen auf große Akzeptanz bei muslimischen Eltern stößt, im schulischen Kontext jedoch »lediglich im Zusammenhang mit ästhetischem Lernen und spiritueller Erfahrung akzeptiert« (Sarıkaya 2010, S. 194) wird, da die Bedeutung der koranischen Texte und ihre kindgerechte Vermittlung im Vordergrund stehen (vgl. ebd.).4 Am Beispiel des hessischen Kerncurriculums für den islamischen Religionsunterricht für die Primarstufe zeigt Ermert (2019) drei Kontexte auf, die dort explizit mit Bezug auf Ästhetik bzw. ästhetisches Lernen genannt werden (vgl. ebd., S. 44–45). So wird – analog zu Sarıkaya – im Inhaltsfeld »Koran und Sunna« betont, dass »die Rezitation des Korans ein spirituelles, ästhetisches Erlebnis« (Hessisches Kultusministerium o. J., S. 18) darstelle, deren große Wirkung auf die Gläubigen »durch das laute und künstlerisch-ästhetische Vortragen des Korans« (ebd.) hervorgerufen werde. Als Erwartung hinsichtlich des Kompetenzbereichs »Gestalten und handeln« (ebd., S. 45) wird für das Ende der Jahrgangsstufe vier formuliert, »dass die Lernenden in der Lage sein sollen, ›in [sic!] und außerhalb des Unterrichts ästhetisch-religiöse Ausdrucksformen anwenden und darüber mit anderen diskutieren‹ zu können« (ebd.). Am Ende der sechsten Jahrgangsstufe der Realschule sollten die Schüler*innen gemäß der Synopse »ästhetischreligiöse Ausdrucksformen differenzieren, bewerten und in der Gemeinschaft anwenden« (ebd.) können. 4 Es scheint sinnvoll, an dieser Schnittstelle eine vertiefte Betrachtung dieses Aspekts dem Gebiet der Korandidaktik zu überlassen, die die ästhetische Dimension als einen Bestandteil eines umfassenderen didaktisch-methodischen Konzepts mitberücksichtigen kann bzw. sollte; daher wird im Rahmen dieses Beitrags auf weitere diesbezügliche Ausführungen verzichtet.

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Nicht immer werden jedoch Ästhetik und ästhetisches Lernen explizit als solche benannt, sondern finden sich teilweise in den Kompetenzbereichen implizit verortet, welche »mit den zuvor beschriebenen Parzellen nach Bitter bzw. den Dimensionen nach Hilger korrespondieren« (Ermert 2019, S. 45). Harter stellt zum Kompetenzbereich »Wahrnehmen und Beschreiben« fest: »Der islamische Religionsunterricht bietet den Schülern ausreichend Gelegenheit, mit all ihren Sinnen zu lernen und zu entdecken. Durch Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen wie auch durch die Möglichkeit, zu staunen, sich zu wundern und sich Fragen zu stellen, können die Schüler die Inhalte konzentriert wahrnehmen, erleben und entdecken.« (Harter 2014, S. 192)

Das hessische Kerncurriculum formuliert für denselben Kompetenzbereich in ähnlicher Weise: »Die Lernenden nehmen in ihrem Alltag religiöse Phänomene wahr. Der Religionsunterricht gibt ihnen Raum zu konzentrierter, gesammelter Wahrnehmung, zum Erleben und Entdecken mit allen Sinnen: sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken.« (Hessisches Kultusministerium o. J., S. 15)

In Bezug auf die Gestaltungsebene werden die Vorstellungen allgemein gehalten und knapp formuliert, wodurch den Lehrkräften viel Spielraum für die praktische Umsetzung im Unterricht gelassen wird: »Im Religionsunterricht drücken die Lernenden ihren Glauben auf unterschiedliche Weise gestalterisch aus« (ebd., S. 16). Harter konstatiert hinsichtlich der Dimension des »Gestaltens und Handelns« (Harter 2014, S. 192), dass »ästhetische Formen der Glaubensäußerung« (ebd.) ebenso gefördert werden wie die Herausbildung der Urteilsfähigkeit, auf deren Grundlage die Schüler*innen zum Handeln aufgefordert werden (vgl. ebd., S. 193). Zur praktischen Umsetzung ästhetischen Lernens gemäß den Empfehlungen der Curricula bieten sich im islamischen Religionsunterricht vielfältige Möglichkeiten, welche die Wahrnehmungs-, die Gestaltungs- und die Urteilsdimension einschließen. Auch die Zielsetzung, dass »die Kinder die Tradition und Werte ihrer Religion kennenlernen« sollen (Hessisches Kultusministerium o. J., S. 4), eröffnet Lehrer*innen ein weites Feld zur Gestaltung des Unterrichts unter ästhetischen Vorzeichen. »Da gerade die Tradition bzw. Traditionen kulturell geformt sind und sich auf der ästhetisch-sinnlichen Ebene äußern, bietet sich an dieser Stelle an, die Schülerinnen und Schüler mit den künstlerischen Zeugnissen bekannt zu machen« (Ermert 2019, S. 47). Aufgrund des reichen kulturellen Erbes des islamischen Kulturraums steht den Lehrkräften ein immenser künstlerischer und musikalischer Fundus zur Verfügung. Nicht umsonst bezeichnet Marx den Islam als »Religion der Schönheit« (Marx 2011, S. 81). Die Ausdehnung künstlerischen Schaffens erstreckt sich »von Ostasien bis Spanien, von Europa bis Afrika« (Gosciniak 1991, S. 8), wobei sich von der Frühzeit des Islams über die

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jeweiligen Dynastien bis in die heutige Zeit vielfältige Stilrichtungen für jeden einzelnen Kunstzweig entwickelten, was religiöse wie auch Gebrauchskunst einschließt (vgl. ebd., S. 21). Korn hebt hervor, dass die »Werke der islamischen Kunst Qualitäten besitzen, die die Beschäftigung mit ihnen nicht nur intellektuell lohnend, sondern auch zu einem ästhetischen Genuss machen können« (Korn 2008, S. 7). Über die rezeptive Genussfunktion von Kunstwerken hinaus ist die Bedeutung des Schönen im Islam jedoch auch islamisch-theologisch fundiert, was Schimmel – im Rückgriff auf Nasr – am Beispiel eines bekannten Prophetenausspruchs illustriert: »›Wahrlich, Gott ist schön und liebt die Schönheit‹ – das ist ein hadı¯t, das von vielen ˙ ¯ Muslimen als bester Ausdruck der islamischen Kunst angesehen wird. Denn ›islamische Kunst ist die irdische Kristallisation des Geistes der islamischen Offenbarung, aber auch eine Spiegelung der himmlischen Wirklichkeiten auf Erden‹.« (Schimmel 1990, S. 267)

Hierin kommen spirituelle Aspekte zur Sprache, die religiöse Kunst von einem Kunstverständnis im Sinne von l’art pour l’art deutlich abheben. Ein prägnantes Beispiel für eine der hoch entwickelten Kunstformen, die sich seit der Frühzeit des Islams herausgebildet haben und im Laufe der Zeit immer stärker ausdifferenziert und verfeinert wurden, ist die Kalligrafie. Sie gewann im Islam eine dermaßen herausgehobene Bedeutung, dass Hofmann konstatiert: »Wer an islamische Kunst denkt, denkt an Kalligraphie« (Hofmann 2002, S. 97), und Frembgen, leicht variierend, formuliert: »Wo Muslime sind, findet man Kalligraphie« (Frembgen 2010, S. 11). Die in der westlichen ebenso wie in der islamischen Welt hoch angesehene Orientalistin Annemarie Schimmel beobachtet »eine verstärkte Zuwendung muslimischer Künstler zu der typischsten Kunst des Islams, der Kalligraphie« (Schimmel 1990, S. 287) und konstatiert eine verbindende Wirkung der arabischen Schrift für diejenigen islamisch geprägten Länder, die sie verwenden (ebd.). Der enge Zusammenhang von Spiritualität und Ästhetik der Kalligrafie ergibt sich demnach aus ihrem Verwendungszweck. »Die Kalligraphie wurde entwickelt, um das göttliche Wort, den Koran, in makelloser Schönheit zu schreiben« (ebd.). Ähnlich äußert sich Frembgen, wenn er feststellt, dass die Kalligrafie »Gott im schön geschriebenen Wort gegenwärtig werden« (Frembgen 2010, S. 13) lässt. In ihren Ausführungen zu Malerei und Kalligrafie stellt Schimmel explizit auch den in der islamischen Geschichte hohen Rang des Kalligrafen unter den Künstlern dar, der sich über lange Jahre hin einer äußerst anspruchsvollen und komplexen Ausbildung hingab (vgl. Schimmel 1990, S. 287). Seine wahre Bedeutung ergab sich jedoch aus der Tatsache, dass er »auch die mystische Bedeutung der Buchstaben, ihre Anwendung in der Bildersprache kennen sollte, damit er das Wort Gottes, Gottes höchste Offenbarung, mit rechter Andacht schrieb« (ebd.). Heine führt die dominante Stellung der Kalligrafie unter den islamischen Künsten darauf zurück, dass die »Darstellung lebendiger

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Wesen« (Heine 2009, S. 116) von den Gelehrten überwiegend abgelehnt wurde, wenn man auch nicht von einem expliziten koranischen Bilderverbot sprechen könne (vgl. ebd., S. 117).5 Die weite Verbreitung dieser Kunstform begründet er mit dem ästhetischen »Bedürfnis der Muslime« (ebd.), sodass »die verschiedenen Formen der arabischen Schrift« (ebd.) »als Schmuck von religiösen und profanen Bauten« (ebd.) ebenso Verwendung finden »wie zur Ausschmückung von privaten Räumen, zur Verzierung von Kleidungsstücken oder Schmuck und in der heutigen Zeit als Chiffre für eine bestimmte politische Haltung auf Autos, Taschen oder technischen Geräten« (ebd.). Aus religionspädagogischer Sicht lässt sich an diesen Ausführungen Heines direkt ansetzen, da sie der Lehrkraft die Möglichkeit bieten, den äußerst bedeutsamen Aspekt des Lebensweltbezugs bei den Schüler*innen aufzugreifen und für den Unterricht fruchtbar zu machen. Harter betont die Wichtigkeit, »dass die Kinder sich selbstständig mit eigenen Erfahrungen und Vorwissen einbringen können« (Harter 2014, S. 187) sowie die Rolle der Kalligrafie für die Bildung der ästhetischen Kompetenz (vgl. ebd., S. 194). So kann bereits ab den jüngeren Jahrgangsstufen auf der wahrnehmungsorientierten Ebene die Aufmerksamkeit der Schüler*innen auf kalligrafisch gestaltete Schriftzüge gelenkt werden, indem sie nach Beispielen in ihrem Umfeld suchen. Nicht selten stellt sich heraus, dass z. B. der Schriftzug für »Allah« bereits vielen Kindern bekannt ist, selbst wenn sie nicht Arabisch lesen können.6 Weitere dekorative Kalligrafien in Moscheen wie im häuslichen Bereich können in diesem Zusammenhang ebenso von den Kindern und Jugendlichen genannt werden wie der Koran im arabischen Original, religiöse Schriftzüge im Lehrwerk für den islamischen Religionsunterricht oder auch auf Autos z. B. in Gestalt der Schutzformel ma¯ ˇsa¯ʾalla¯h. Auf diese Weise kommt Hilgers Anspruch von Religionsunterricht als »Wahrnehmungsschule« (Hilger 1998, S. 139) zur Geltung, »in der danach gesucht wird, wie und wo Religion und Glaube im eigenen und im Leben ringsum vorkommen und es prägen« (ebd.). Der Austausch über die schön gestaltete Schrift kann zu einer Förderung verschiedener Kompetenzen der Schüler*innen beitragen, wenn im Unterrichtsgespräch von der Lehrkraft die Reflexion über die »Fundstücke« initiiert wird. Dazu gehört der fachliche Kompetenzbereich 5 Die Kontroversen zum sogenannten »Bilderverbot« im Islam sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. »Die Gelehrtenmeinungen bewegen sich diesbezüglich in einer Bandbreite zwischen freudiger, spirituell begründeter Bejahung und fast völliger Ablehnung von Kunst und Musik« (Ermert 2019, S. 41). Für eingehendere Informationen vgl. u. a. Gosciniak (1991, S. 25); Ibric´ (2006, S. 104–112); Naef (2007, S. 18ff.); Korn (2008, S. 99). 6 Diese Beobachtung ist auch ein Nebenbefund der empirischen Studie Akzeptanz, Formation und Transformation am Beispiel des Islamischen Religionsunterrichts, die an der Justus-LiebigUniversität Gießen durchgeführt wurde und zu der 2021 eine Publikation von Sarıkaya und Aysel erscheinen wird.

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»Wahrnehmen und Beschreiben« (Hessisches Kultusministerium o. J., S. 15), wenn es heißt: »Sie entwickeln Ausdrucksformen für ihr eigenes Wahrnehmen, Fühlen und Denken und üben Formen der Mitteilung ein« (ebd.). Ebenso kann die überfachliche Kommunikationskompetenz als Teilbereich der Sprachkompetenz gestärkt werden, indem die Schüler*innen zunehmend lernen, »sich verständlich, an der Standardsprache orientiert, auszudrücken und sich an Gesprächen konstruktiv zu beteiligen« (ebd., S. 9). Auf der Gestaltungsebene ergibt sich durch das Ausmalen von kalligrafisch gestalteten Schriftzügen oder das Nachziehen ihrer Konturen wiederum eine sowohl sinnliche als auch affektive Verankerung zentraler arabisch-islamischer Begriffe, wie im bereits erwähnten Beispiel für »Allah«. In höheren Klassen können sich die Schüler*innen anhand von kalligrafisch gestalteten Kunstwerken mit »Kulturleistungen von Menschen aus islamisch geprägten Regionen in Vergangenheit und Gegenwart« (Hessisches Kultusministerium 2019, S. 37) auseinandersetzen und dadurch die Kompetenz »Kommunizieren und dialogfähig sein« weiterentwickeln, indem sie »über religiöse und kulturelle Traditionen Auskunft geben« (ebd., S. 35). Analog zu Kunst und Kalligrafie eignet sich auch Musik für ästhetisches Lernen im Religionsunterricht. So steht die islamische Musik an Reichtum und Vielfalt den anderen künstlerischen Ausdrucksformen in nichts nach, was Schimmel wie folgt kommentiert: »In der Musik findet man viele der Qualitäten, die die bildende Kunst und die Dichtung auszeichnen« (Schimmel 1990, S. 297). So wurden überaus anspruchsvolle Themen der Musiktheorie und Aspekte der Instrumentenkunde bis hin zur Erfindung von Instrumenten bereits von frühen Philosophen wie al-Kindı¯ (gest. 873) und al-Fara¯bı¯ (gest. 950) ebenso wie von den späteren Ihwa¯n as-Safa¯ und Ibn Sı¯na¯ (gest. 1037) behandelt (vgl. ebd.).7 Ähnlich ˙ ˙ ˘ wie im Bereich der Kunst entwickelten sich auch hinsichtlich der Legitimität von Musik, ihren diversen Ausprägungen und erlaubten oder verbotenen Kontexten theologische Kontroversen, sodass Schimmel feststellt, dass dieser Streit »die islamischen Theologen jahrhundertelang beschäftigt« (ebd.) habe.8 Über die 7 Die angesprochenen Bereiche der Musikwissenschaft, die praktische Anwendung der Erkenntnisse in der Musiktherapie und in die Tiefe gehende Beschäftigung mit den Philosophen und Musiktheoretikern sind dermaßen umfangreich, dass sie den Rahmen dieses Beitrags bei Weitem übersteigen. Schimmel verweist in ihrem eigenen Artikel (1990, Fußnote 296–297) auf »zahlreiche Aufsätze zur islamischen Musikkultur« von Lois Ibsen al-Faruqi und ausdrücklich auf H. Farmer, den sie »als größte Autorität auf dem Gebiet der arabisch-islamischen Musik« bezeichnet. Ergänzend sei an dieser Stelle auch Süleyman Uludag˘ genannt, dessen Werk ˙Islam Açısından Müzik ve Semâ musikhistorische, theologische und weitere Bereiche differenziert und strukturiert präsentiert. 8 Die Auseinandersetzungen der Gelehrten betreffend das sogenannte »Musikverbot«, deren Spektrum von uneingeschränkter Akzeptanz bis zu fast völliger Ablehnung reicht (vgl. Ermert 2019, S. 41), können an dieser Stelle nicht en détail dargestellt werden. Für eingehendere Informationen siehe z. B. al-Faruqi (1985); al-Qaradawi (1994, S. 253–256); Uludag˘ (2004).

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traditionellen Musikformen und Lieder hinaus, die sich im Verlauf der islamischen Geschichte entsprechend der geografischen Verbreitung des Islams entwickelt haben und »zur lebendigen Musikkultur und Musikgeschichte der muslimischen Gesellschaften« (Romdhane 2014, S. 75) gehören, tragen zeitgenössische Musiker*innen in jüngster Zeit durch neue Kompositionen zu einer Erweiterung des Repertoires bei. Bezogen auf den Religionsunterricht begründen Bubmann und Landgraf die hohe Relevanz von Musik wie folgt: »In und durch Musik wird die ästhetische Vernunft aktiviert und geschieht ästhetische Bildung. Grundvollzüge der ästhetischen Vernunft sind dabei Wahrnehmung, fühlende Wertschätzung, kommunikativ-kognitive Beurteilung ästhetischer Prozesse und eigene kreative Gestaltung.« (Bubmann & Landgraf 2006, S. 27)

Mit dieser Aussage nehmen die Autoren sowohl die wahrnehmungsorientierte als auch die performativ-orientierte Richtung ästhetischen Lernens in den Blick. Auf den islamischen Religionsunterricht angewendet stellt sich die Frage nach den Vorerfahrungen der Schüler*innen mit Musik im Allgemeinen und religiöser Musik im Besonderen. Legt man mit Macht zumindest die passiv-rezeptive Wahrnehmung zugrunde und bezieht die vorgeburtliche Phase mit ein, so kann man davon ausgehen, dass so gut wie alle Menschen über Vorerfahrungen mit Musik verfügen (vgl. Macht 2007, S. 315), da das Singen der Mutter bereits einen prägenden Einfluss hat (vgl. ebd., S. 316). Hinsichtlich spezifischerer musikalischer Vorerfahrungen, die das eigene religiöse Leben betreffen, ist anzunehmen, dass bis in die heutige Zeit hinein »Musik für viele Menschen einen elementaren Bestandteil ihres religiösen Lebens« (Ermert 2017, S. 320) darstellt. So ist eine gewisse Vertrautheit mit diversen Formen von Musik der jeweils eigenen religiösen Tradition durchaus noch vorhanden (vgl. ebd.). Isik zufolge existieren z. B. in Deutschland türkische Chöre, die sich engagiert der Pflege ihrer reichen musikalischen Tradition widmen (vgl. Isik 2016, S. 191). Je nach dem Grad der religiösen Sozialisation kann man davon ausgehen, dass zumindest ein Teil der muslimischen Kinder und Jugendlichen bereits religiösen Liedern, sei es im häuslichen Umfeld, in den Gemeinden oder vielleicht auch in einem islamischen Kindergarten, begegnet sein dürfte (vgl. Ermert 2017, S. 324). So wird nach wie vor die tief empfundene Liebe zum Propheten Muhammad in Hymnen und ˙ Lobliedern besungen (vgl. Inam 2014, S. 261; Mohagheghi 2014, S. 119), die beispielsweise anlässlich seines Geburtstags dargeboten werden. Auch die Gesänge der Sufis (vgl. Ermert 2017, S. 320) können mindestens teilweise als bekannt vorausgesetzt werden. Gerade bei jüngeren Hörer*innen sind häufig »moderne« muslimische Sänger wie Sami Yusuf und Maher Zain populär, die »ihre kultureigene (weltliche) Musik in eine Synthese mit religiöser Musik« (Isik

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2016, S. 176) bringen und u. a. auch neue Loblieder auf den Propheten komponieren und singen. In der Unterrichtspraxis wirkt sich Musik auf die Entwicklung der Schüler*innen in vielfältiger Weise positiv aus. So trägt Musik durch die Steigerung von »Emotionalität und Empathie« (Ermert 2017, S. 325) zur Persönlichkeitsentwicklung bei und wirkt identitätsstiftend (vgl. ebd.). »Diverse Lernprozesse« (Isik 2016, S. 191) werden in Gang gesetzt und »das Gefühl der kulturellen und religiösen Beheimatung« (ebd.) gefördert. Darüber hinaus wird die Sozialkompetenz gesteigert, da beim gemeinsamen Singen das Gemeinschaftsgefühl in der Klasse wächst (vgl. Ermert 2017, S. 325), ein eventuell vorhandenes Aggressionspotenzial abgebaut und das Vertrauen der Kinder untereinander aufgebaut wird (vgl. Reinwand 2013, S. 580). »Auf anderen Gebieten schwächeren Schülerinnen und Schülern bietet sich die Möglichkeit, durch ihre in diesem Bereich vorhandenen Talente Anerkennung zu gewinnen« (Ermert 2017, S. 325). Spiel und Bewegung bzw. Formen bewegten Lernens fallen ebenso wie Kalligrafie und Musik in den Bereich ästhetischen Lernens. Pohl-Patalong sieht die Bedeutung des Spiels u. a. in der »Öffnung der Theologie zur Kultur« (PohlPatalong 2005, S. 300), »die die Erfahrung von Menschen ernst nimmt und ihr theologische Erkenntnisfähigkeit zutraut« (ebd.). Rothgangel arbeitet die enge Verbindung von Spiel und Religion heraus und benennt die »Unterbrechung des Alltags« (Rothgangel 2014, S. 257) und die Zweckfreiheit als zentrale Gemeinsamkeiten beider (vgl. ebd.). Die pädagogischen Vorzüge sieht er in der »Ausbildung sensomotorischer Grundfertigkeiten bis hin zur Körpersprache im darstellenden Spiel« (ebd., S. 259), der Förderung von Kreativität (vgl. ebd.) und sozialem Verhalten (vgl. ebd.), der »Ausbildung der Persönlichkeit, da durch das Spiel Gefühle ausgelebt und verarbeitet werden« (ebd.) und der Förderung der kognitiven Entwicklung (vgl. ebd.). Solgun-Kaps zufolge dient das Spiel im Religionsunterricht nicht nur den zuvor erwähnten Zielen, sondern darüber hinaus auch der Steigerung von Motivation und Konzentration bei der Vermittlung kognitiver Lerninhalte sowie der Vermeidung von Langeweile (vgl. Solgun-Kaps 2014, S. 157). Für die Umsetzung im Unterricht steht eine Fülle von Möglichkeiten zur Verfügung, wie z. B. Interaktionsspiele, Rollenspiele, darstellendes Spiel und auch das ernste Spiel (vgl. Pohl-Patalong 2005, S. 301–302), welches besonders der »Förderung sozialer Intelligenz und Gruppenbildung« (ebd., S. 302) dienen soll. Angesichts der Frage, welche Spiele sich für den Religionsunterricht eignen, können keine allgemeingültigen Aussagen getroffen werden (vgl. Solgun-Kaps 2014, S. 157). Die Lehrkraft muss auf der Basis ihrer pädagogischen Kompetenz gemäß den Voraussetzungen ihrer Klasse und entsprechend dem Thema eigenständig zu einer angemessenen Entscheidung gelangen (vgl. ebd.). Bezogen auf den islamischen Religionsunterricht führt Solgun-Kaps am Beispiel von

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Prophetengeschichten verschiedene Arten von Spielen an, wie z. B. Rollenspiel, Schattenspiel, Kreuzworträtsel, Aufschlagspiele, Würfelspiele (vgl. ebd.). Bezogen auf den christlichen Kontext ist für Naurath Bewegung ein selbstverständlicher und »zentraler Teil religionspädagogischer Praxis« (Naurath 2005, S. 298), der den Vorlieben der Kinder entgegenkommt (vgl. ebd., S. 299). Da »die religionsdidaktische Verknüpfung von religiösen Inhalten und sinnlich-motorischen Methoden attraktiv« (ebd.) ist, lohnt es sich, auch für entsprechende Inhalte des islamischen Religionsunterrichts Anwendungen zu finden bzw. zu entwickeln. So ist hinsichtlich eines zentralen Themas wie Schöpfung denkbar, mit den Kindern einen Unterrichtsgang in den Wald zu unternehmen, der ihnen Gelegenheit gibt, ihre Wahrnehmung gezielt auf die Zeichen Gottes in der Schöpfung, die sogenannten a¯ya¯t, zu richten. Weitere Möglichkeiten bieten sich in der Gestaltung von religiösen Feiern, passenden Bewegungen zu Liedern, Erzählungen oder auch der performativen Nachahmung von Ritualen.

4.

Conclusio

Ästhetisches Lernen erweist sich als ein didaktischer Ansatz mit vielfältigen Facetten, die aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Disziplinen erwachsen. Aus den Reflexionen der zuvor erwähnten Philosophen ergibt sich die überaus wichtige Einsicht, dass Erkenntnis nicht nur auf der kognitiven Ebene, sondern ebenso auf der sinnlich-wahrnehmungsorientierten Ebene erlangt werden kann. Dies eröffnet für die islamische Religionspädagogik neue Möglichkeiten, die dazu beitragen, überkommene und unzeitgemäße Formen einer überwiegend katechetischen Vermittlung von religiösen Lerninhalten zu überwinden. Aufgrund der Tatsache, dass es sich beim islamischen Religionsunterricht um ein junges, weiterhin im Aufbau befindliches Fach handelt, welches bis jetzt noch nicht flächendeckend im deutschsprachigen Raum eingeführt wurde, ist es notwendig – und darüber hinaus eine Chance –, auf die langjährigen Erfahrungen der allgemeinen Schulpädagogik und insbesondere der christlichen Religionspädagogik zurückzugreifen. Zu den Vorteilen ästhetischen Lernens zählt der ganzheitliche Ansatz, der durch die Verbindung von Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Urteilsdimension ganz im Pestalozzi’schen Sinne Kopf, Herz und Hand miteinbezieht. Auf diese Weise werden »kognitive, affektive, aktionale wie soziale Momente des Lernens« (Porzelt 2013, S. 40) gleichermaßen berücksichtigt. Des Weiteren leistet ästhetisches Lernen einen Beitrag zum Aufbau und zur Stärkung von fachlichen wie auch überfachlichen Kompetenzen. Der Einsatz von Kalligrafie und Musik im islamischen Religionsunterricht verhilft den Schüler*innen zur Begegnung mit dem reichhaltigen kulturellen Erbe des Islams und wirkt dadurch identitäts-

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stiftend bzw. -fördernd. Vor allem Musik ermöglicht »eine offene Begegnung mit Religion und religiöser Kultur im weitesten Sinne« (Lämmermann 2007, S. 176). Angesichts der zu erwartenden positiven Auswirkungen ästhetischen Lernens sollte das Konzept mit Blick auf die fachspezifischen Anforderungen weiterentwickelt und als integraler Teil in der Lehrkräfteausbildung implementiert werden (vgl. Ermert 2019, S. 48).

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Ednan Aslan

Frühkindliche Erziehung im Islam

Zusammenfassung Die frühe religiöse Erziehung spielt im Islam eine zentrale Rolle, wenngleich es im Koran keine genauen Anweisungen gibt, wie diese zu gestalten sei. Eltern sehen es als zentrale Aufgabe, ihre Kinder auf ein Leben nicht nur im Diesseits, sondern auch im Jenseits vorzubereiten – entsprechend wichtig ist es ihnen, sie möglichst früh mit der Religion vertraut zu machen. Die professionelle islamische Elementarpädagogik ist ein relativ neues Phänomen, das erst ab den 1990erJahren allmählich Gestalt annahm. Der vorliegende Beitrag bietet einen Einblick in die frühkindliche religiöse Erziehung sowohl in islamischen als auch in westlichen Ländern – und zwar am Beispiel der Türkei und von Ägypten einerseits und von Österreich andererseits –, wie sie in den elementarpädagogischen Einrichtungen angeboten wird. Eine vergleichende Gegenüberstellung der Konzepte für die frühkindliche Erziehung in diesen Ländern soll Aufschluss über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Konzepten geben und vor allem die Schwierigkeiten aufzeigen, die sich beim Versuch, westliche didaktische Konzepte mit dem eigenen Religionsverständnis zu vereinen, auftun.

1.

Einführung

Wie alle Religionen legt auch der Islam auf die religiöse Erziehung der Kinder besonderen Wert, rückt sie sogar ins Zentrum elterlicher Fürsorge, die das Ziel verfolgt, die Kinder im Diesseits und im Jenseits vor göttlichen Sanktionen zu bewahren. »O IHR, die ihr Glauben erlangt habt! Wehrt ab von euch und jenen, die euch nahe sind, jenes Feuer (des Jenseits), dessen Brennstoff Menschen und Steine sind.« (Koran 66:6)1

1 Alle im Beitrag zitierten Koranstellen sind der Übersetzung von Assad (2009) entnommen.

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Ednan Aslan

Während es im Koran an Empfehlungen für ein gerechtes und verantwortungsbewusstes Leben nicht mangelt, gibt es keine konkreten Hinweise darauf, wie eine erfolgreiche Erziehung, eine, die den Menschen vor diesseitigen und jenseitigen Strafen zu bewahren imstande ist, auszusehen habe. Darauf nimmt der Erziehungswissenschaftler Mursı¯ Munı¯r in seinem bekannten Werk AlTarbiya al-Isla¯miyya Bezug, in dem es heißt, dass der Begriff »islamische Erziehung« (tarbiya) in der islamischen Kultur relativ neu sei und weder im Koran noch in der Sunna des Propheten Erwähnung finde (Mursı¯ 1977, S. 48). Dem Wort tarbiya liegt die Wortwurzel rabb2 zugrunde, ein zentraler Begriff des Korans, der sich von der Wurzel rabba ableitet und so viel bedeutet wie »etwas zur Vervollkommnung führen«, »etwas pflegen«3, »etwas formen« oder »bilden« (Ibn Manzu¯r 1981). Im Koran finden sich weitere aus der Wortwurzel rabba gebildete Begriffe – so in Koran 69:10, 30:39 –, welche sich auf die Vermehrung der Ernte und das Wachstum der Pflanzen beziehen (Asad 2009). In vorislamischer Zeit wurde dieser Begriff auch für Könige und Herrscher verwendet – ein Umstand, den as-Suyu¯t¯ı weniger als ein sprachliches, sondern ˙ vielmehr als ein theologisches Problem erachtet (Temizer 2013, S. 51). Ein weiterer Begriff, der des Öfteren als Synonym für tarbiya verwendet wird, ist ta’dı¯b, obwohl ta’dı¯b umfassender und ein Ergebnis von tarbiya ist: Er besagt, dass der Mensch durch seine Handlungen zur Einheit bzw. zum Seelenfrieden findet, das heißt, durch die Übereinstimmung seiner Natur mit seinem Tun mit sich selbst ins Reine kommt (Çag˘rıcı 1994). In diesem Sinne ist Gott nicht nur Schöpfer, sondern auch derjenige, der den Menschen rechtleitet bzw. erzieht. Aus diesem Verständnis heraus haben muslimische Theolog*innen Gott als einen gnädigen »Erzieher« verstanden (el-Isfahani 2018; Ra¯ g˙ib al-Isfaha¯nı¯ 1962). ˙ Muhammad kommt als Prophet die Aufgabe zu, die Menschen vor unge˙ rechten Handlungen zu bewahren und sie zu lehren, was ihnen bis dahin verborgen war: »Ebenso wie Wir euch einen Gesandten von euch gesandt haben, euch Unsere Botschaften zu übermitteln und euch an Reinheit wachsen zu lassen und euch Offenbarung und Weisheit zu lehren und euch zu lehren, was ihr nicht wusstet.« (Koran 2:151)

Der Mensch bedarf der göttlichen Rechtleitung, um seine natürlichen Eigenschaften zu bewahren, seine Talente zu fördern und sich selbst zu reinigen. In seinem arabischen Wörterbuch definiert Ra¯ g˙ib al-Isfaha¯nı¯ tarbiya als eine Tä˙ tigkeit, welche den Menschen schrittweise zur Vervollkommnung führt (Ra¯ g˙ib alIsfaha¯ nı¯ 1962). Der Prophet Muhammad sieht sich selbst in der Funktion als ˙ ˙ 2 Der arabische Begriff raba¯ ( ‫ ) ﺭﺑﺎ‬bedeutet wörtlich »vermehren« (siehe Koran 2:276). ِ 3 »Er (Pharao) sagte: ›Haben wir dich nicht unter uns aufgezogen ‫ ُﻧ َﺮﺑّ َﻚ‬, als du ein Kind warst?‹« (Koran 26:18).

Frühkindliche Erziehung im Islam

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Lehrer der muslimischen Gemeinschaft, der von Gott erzogen wurde (Ibn Ma¯gˇa, Muqaddima 17). Damit gilt der Prophet einem Menschen muslimischen Glaubens als von Gott erzogenes Vorbild. »WAHRLICH, im Gesandten Gottes habt ihr ein gutes Beispiel für jeden, der (mit Hoffnung und Ehrfurcht) dem Letzten Tag entgegensieht und unaufhörlich Gottes gedenkt.« (Koran 33:21)

Die Verhaltensweise und die Aussagen des Propheten bilden die Grundlage der islamischen Erziehung und machen sie nach dem Koran zur wichtigsten Quelle der muslimischen Moralvorstellungen. Im Alltag der Muslim*innen spielen die Anweisungen und Empfehlungen des Propheten sogar eine wichtigere Rolle als der Koran selbst (Isik 2014).

2.

Institutionalisierung des Islams als Religion

Nach der Institutionalisierung des Islams als Religion standen seine Angehörigen vor der Aufgabe, neben religiösen Ritualen auch die Erziehung ihrer Kinder nach bestimmten Normen zu gestalten, um sie dazu zu befähigen, die sittlichen Normen des Islams zu achten und der religiösen Praxis in gebotener Weise nachzukommen. Das Wissen um Gott und ihr Glaube sollten die Kinder vor allem Schädlichen schützen. Wie eingangs erwähnt, ist die Erziehung Aufgabe der Eltern, die darauf abzielt, ihren Kindern eine islamische Lebensführung zu ermöglichen und sie auch auf das Jenseits vorzubereiten. Davon, dass die Eltern die Verantwortung für ihre Kinder tragen, spricht auch der Prophet: »Ihr seid Hirten. Ihr seid verantwortlich für das, was unter eurer Verantwortung steht. Der Herrscher ist ein Hirte. Der Mann ist Hirte seiner Familie. Die Frau ist die Hirtin ihres Mannes und ihrer Kinder.4 Ihr alle seid Hirten und tragt Verantwortung für eure Herden.« (Al-Buha¯rı¯, Nika¯h 91) ˙ ˘

4 Diese Aussage spiegelt die Verhältnisse, die im siebenten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel herrschten, prägt aber leider mancherorts bis heute die Vorstellung von der Rolle der Frau in der Familie. Diese Aussagen des Propheten werden von zahlreichen islamischen Theologinnen kritisch hinterfragt (vgl. Tuksal 2018).

614

3.

Ednan Aslan

Das Kind als ein den Eltern anvertrautes Gut und frühkindliche Erziehung

Im Koran wird auf ein Kind mit den arabischen Wörtern sabı¯ und tifl Bezug ˙ ˙ genommen, darüber hinaus gibt es Begriffe für die Bezeichnung eines Menschen vor der Pubertät (Hökelekli 1989). Kinder werden im Koran einerseits als etwas Erwünschtes, auf das man stolz sein sollte (Koran 3:14), andererseits aber als Verführung auf dem Weg Gottes5 (Koran 34:37, 8:27–28) vorgestellt. Die Vergrößerung der islamischen Gemeinde ist auch ein Wunsch des Propheten, weswegen empfohlen wird, die islamischen Familien zu fördern (Ibn Ma¯gˇa, Nika¯h 1). ˙ Einer Aussage des Propheten zufolge kommen alle Kinder als muslimische Kinder auf die Welt und verfügen über eine islamische Naturanlage: »Jedes Kind wird in der ursprünglichen Art geboren. Dann machen die Eltern aus ihm ˇ ana¯iz 79) einen Juden, Christen oder Zoroastrier.« (Al-Buha¯rı¯ 1992, G ˘

Eine muslimische Familie müsse auf einem islamischen Fundament aufgebaut werden. Deshalb wird den Männern empfohlen, religiöse Frauen zu heiraten, um die religiöse Erziehung in der Familie sicherzustellen (Ibn Ma¯gˇa, Nika¯h 6). ˙ Die Einführung in das islamische Leben beginnt damit, dass dem Kind gleich nach der Geburt der ada¯n (Gebetsruf) ins Ohr gesprochen, ein islamischer Name ¯ gegeben und ein Opfertier geschlachtet wird. In einem etwas höheren Alter lernt es dann, den Koran zu lesen (vgl. Canan 2000, S. 50ff.). Den eigentlichen Kern der islamischen Erziehung bildet neben diesen Ritualen das Wissen des Kindes über seine Religion. In diesem Prozess spielen die Eltern – als jene Instanz, der das Kind nacheifert –, wie erwähnt, eine zentrale Rolle. Auch wenn die Debatte über professionelle frühkindliche Erziehung in den islamischen Ländern nicht neu ist, wurde die Rolle, die die Familie dabei spielt, niemals infrage gestellt, weil die religiösen Quellen keinen Ersatz für die Familie nennen (Gül 2008). Dies ist auch der Grund, weshalb der ständige Zuwachs von Kindergärten in den islamischen Ländern von islamischen Geistlichen zunehmend kritisch hinterfragt wird. »Weil Mütter nicht mehr zu Hause bleiben, haben wir jetzt Kindergärten [türk. Anaokulları, eigentlich ›Mutterschulen‹; Anm. d. Verf.]. Und weil wir zu Hause keine Seelenruhe mehr haben, haben wir auch Altersheime [türk. Huzur evleri, eigentlich ›Häuser für die Seelenruhe‹; Anm. d. Verf.] eröffnet.« (Kiransal 2017)

Da in den islamischen Ländern die frühkindliche Erziehung erst zu Beginn der 1990er-Jahre zu einem eigenständigen Bildungsanliegen wurde, konnte sie sich

5 Im Offenbarungskontext des Korans war die Anzahl der Kinder ein Zeichen für die Macht und den Einfluss der Familien.

Frühkindliche Erziehung im Islam

615

noch nicht als Gegenstand von Forschung und Lehre an den staatlichen Universitäten etablieren. Daher stellen Bildungseinrichtungen für Vorschulkinder nach wie vor ein relativ wenig verbreitetes Phänomen dar (Gül 2008, S. 269). Hinsichtlich der frühkindlichen Betreuungseinrichtungen erweisen sich die islamischen Länder im Vergleich zu den europäischen Staaten stark unterentwickelt (World Bank 2020). Daher versucht die OECD mit verschiedenen Maßnahmen, sie dazu zu ermutigen, mehr in die frühkindliche Erziehung zu investieren (OECD 2019). Seit einigen Jahren scheint die frühkindliche Erziehung in den islamischen Ländern allerdings an Bedeutung zu gewinnen (vgl. Kaytaz & Öztürk 2020, S. 16). Bemerkenswert sind hier insbesondere die intensiven Bemühungen zahlreicher islamischer Organisationen – die den staatlichen Einrichtungen gemeinhin nur wenig vertrauen – um die Gründung von Einrichtungen für die frühkindliche religiöse Bildung. Um den Bedürfnissen der wachsenden Zahl derartiger Einrichtungen gerecht zu werden, möchte nun auch der Präsident des türkischen Amts für religiöse Angelegenheiten die religiöse Elementarpädagogik an den türkischen Universitäten etablieren (Erbas¸ 2018). Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in Europa beobachten, wo ebenfalls verschiedene islamische Organisationen Initiativen zur Errichtung von Kindergärten ergreifen. Da die Rechtslage betreffend die Gründung islamischer Kindergärten in den einzelnen europäischen Staaten sehr unterschiedlich ist, versuchen die Organisationen, Einrichtungen für die frühkindliche Erziehung innerhalb ihres Wirkungsbereichs zu erweitern. Schließlich legen viele Eltern großen Wert darauf, dass ihre Kinder so früh wie möglich mit religiösen Ritualen vertraut werden. Da die islamischen Kindergärten den Kindern Hala¯l˙ Essen anbieten können, sind diese Einrichtungen für sie entsprechend attraktiv (Ag˘irman 2020). Nach dieser kurzen Einführung in die islamische Erziehung wendet sich dieser Beitrag im Folgenden der Theorie und Praxis der frühkindlichen religiösen Erziehung in der Gegenwart am Beispiel zweier islamischer Länder – der Türkei und Ägypten – zu. Dabei ist auch von Interesse, wie die Kindergärten dieser Länder sich hinsichtlich der religiösen Erziehung von jenen in Europa unterscheiden und eventuell gegenseitig befruchten. Die Grundlage der Untersuchung bilden die Curricula für die frühkindliche Erziehung in der Türkei, in Ägypten und in Österreich.

3.1

Religiöse Erziehung in elementarpädagogischen Einrichtungen der Türkei

Bezüglich der frühkindlichen Erziehung ist dem OECD-Bericht Folgendes zu entnehmen:

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Ednan Aslan

»Enrolment rates in early childhood education and care for 0- to 2-year-olds differ enormously across the OECD (…). On average across OECD countries, 32 % of children aged 0–2 are enrolled in early childhood education and care, but this varies from lower than 1 % in Turkey to as high as roughly 60 % in Iceland, Luxembourg, and the Netherlands.« (OECD 2019)

In der Türkei erreicht die frühkindliche Erziehung (3–5-Jährige) lediglich 40 % der Zielgruppe (OECD-Durchschnitt 87 %), womit der von der Weltbank geforderte Anteil von 60 % deutlich verfehlt wird (World Bank 2020). Noch geringer fällt dieser Prozentsatz in den ländlichen Regionen aus, wo laut Weltbank nur 10 % der Kinder aus ärmeren Verhältnissen Zugang zu Bildungseinrichtungen haben (bei wohlhabenden Familien liegt der Anteil bei über 60 %) (Kaytaz & Öztürk 2020). Frühkindliche Erziehung ist in der Türkei unterschiedlich organisiert. Das Unterrichtsministerium ist für den Rahmenplan zuständig, und es gibt vier Typen von Kindergärten: a) unabhängige Kindergärten (privat), b) Praxisklassen (Uygulama Sınıfı = 3–5 Jahre), c) Kindergärten (Ana Sınıfı = 3–5 Jahre) und d) frühkindliche sonderpädagogische Klassen (Özel Eg˘itim Anaokulu). Sämtliche Typen der Kinderbetreuung können staatlich oder privat angeboten werden, wobei es allerdings von den regionalen Behörden festgelegte Mindeststandards einzuhalten gilt. Für islamische Organisationen, die in den letzten 20 Jahren großzügige Förderungen vom Staat erhalten haben, ist die frühkindliche Erziehung eine Möglichkeit, Kinder nach islamischen Idealen zu formen. Das Amt für religiöse Angelegenheit achtet darauf, dass die Kinder früh den Koran kennenlernen und die Bedeutung islamischer Wertvorstellungen begreifen: »The aim of the Qur’an courses which have been opened for 4–6 years old by Presidency of Religious Affairs is to ensure that children realize that the values of the Islamic religion are one of the facts that give meaning to human life, to recognize the Qur’an in terms of sound, book and a form, and to develop a healthy religion and morality.« (Yazibasi 2020, S. 97)

Ein vom türkischen Bildungsministerium in Zusammenarbeit mit dem Amt für religiöse Angelegenheiten im Zeitraum 2013–2014 durchgeführtes Projekt galt der Institutionalisierung und Umsetzung der religiösen Erziehung im Elementarbereich (Ilerihaber 2017). Innerhalb kurzer Zeit konnten Hunderttausende Familien erreicht werden, die ihre Kinder für das Programm anmeldeten. Die mit der religiösen Erziehung in den Kindergärten betrauten Lehrkräfte wurden aus den bestehenden Koranschulen, im Anschluss an ein Vorstellungsgespräch, rekrutiert (Öztürk 2018). Die türkische Religionsbehörde erachtet dies als einen wichtigen Schritt, weil die Kinder in dieser Altersgruppe professionelle Erziehung benötigen:

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»Die Auswirkung der religiösen und moralischen Erziehung auf die Persönlichkeitsbildung und die soziokulturelle Identität von Kindern in der Altersgruppe von 4 bis 6 Jahren erfordert eine Moral- und Glaubenserziehung. Wenn Interesse und Neugier der Kinder unqualifiziert beantwortet werden oder unbeantwortet bleiben, kann das in späteren Jahren bei den Kindern negative Verhaltensweisen und Gedanken verursachen.« (Bas¸kanlıg˘ı I˙¸sleri Diyanet 2019, S. 5)

Das von einer Kommission ausgearbeitete Curriculum umfasst die zentralen Themen der islamischen Religion, also Liebe und Gnade, Pflicht und Verantwortung, Gerechtigkeit, Geduld, Bittgebet, Dankbarkeit, Propheten, Koran, Heimatliebe, Achtung der Festtage und der Märtyrer des Islams. Anhand dieser Themen sollen Kinder im Vorschulalter Folgendes erlangen: – ein Bewusstsein von der sinnstiftenden Kraft der islamischen Werte, – den Willen zur Umsetzung dieser Werte in die Praxis, – die Fähigkeit, den Koran zu lesen und zu verstehen, – die Fähigkeit, Gott und den Propheten Muhammad zu erkennen, ˙ – eine solide religiöse und ethische Bildung (Öztürk 2018, S. 15). Den Kernpunkt des Curriculums bildet die Koranerziehung, eine von den Eltern hochgeschätzte und unbedingt erwartete Qualifikation, die folgende Einheiten umfasst: – Lektüre des Korans auf Arabisch, – Auswendiglernen des Korans (wenn möglich, in seiner Gesamtheit = hafızlık), – Beherrschung des Gebetsrufs, – Kenntnis der Grundlagen der islamischen Religion. Zur Evaluierung des Lernerfolgs, also zur Feststellung, ob der Inhalt der einzelnen Einheiten verstanden wurde, müssen die Kinder bestimmte Fragen beantworten. Nach der Einheit »Auswendiglernen von Bittgebet und Suren« etwa werden folgende Fragen gestellt: »Was ist ein Bittgebet, welche Bittgebete haben wir gelernt, wann sprechen wir die Bittgebete aus? Was bedeutet Sure? Welche Sure haben wir auswendig gelernt? Was bedeutet dies (auf Türkisch)?« (Bas¸kanlıg˘ı I˙¸sleri Diyanet 2019, S. 283)

Des Weiteren empfiehlt das Curriculum, den Kindern religiöse Lieder beizubringen und Angebote zur Freizeitgestaltung zu machen (Öztürk 2018, S. 19). Einige Religionspädagog*innen in der Türkei erachten die im Curriculum formulierten Anforderungen als nicht altersgerecht und monieren, dass sie die entwicklungspsychologischen Grundlagen der Kinder nicht berücksichtigen (Tosun & Çapcıog˘lu 2015). Tatsächlich lässt das Curriculum zwar die Bemühungen des Amts erkennen, auch neuere psychologische und pädagogische

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Erkenntnisse zur religiösen Bildung im Elementarbereich zu berücksichtigen. Dabei geht es jedoch lediglich darum, wie Erkenntnisse der pädagogischen Wissenschaften als Vehikel für eine noch intensivere und effektivere Vermittlung religiöser Inhalte eingesetzt werden können. Wenn also die Kinder nach jeder Einheit gefragt werden, was sie gelernt und verstanden haben, ist das Ziel kaum die Eruierung individueller Stärken, Interessen und Begabungen oder die Anregung von Denkprozessen. Vielmehr werden Kinder auf bestimmte religiöse Verhaltensformen getrimmt. Hierzu kann das zentrale Thema des Curriculums »Ich kenne den Koran« als Beispiel angeführt werden: »Aktivität: Die Erzieherin lässt einen Lernkreis bilden. Einzelne Kinder bekommen einen Koran. Die Erzieherin fordert die Kinder auf, den Koran anzuschauen und zu untersuchen. Dann lässt sie die Koranrezitation hören. Die Erzieherin erzählt, dass der Koran eine Offenbarung Gottes sei und die Kinder sollen der Rezitation mit Respekt zuhören. Anschließend stellt die Erzieherin zur Evaluierung der Stunde folgende Fragen: Bewertung der Aktivität Wie heißt dieses Buch? Habt ihr dieses Buch gesehen? Habt ihr dem Koran zugehört? Wer hat das Buch herabgesandt? Was beinhaltet dieses Buch?« (Bas¸kanlıg˘ı I˙¸sleri Diyanet 2019, S. 252)

Diese Art und Weise der Vermittlung zielt auf die Reproduktion von Faktenwissen ab. Ob dieses Wissen jedoch im Leben der Kinder eine Bedeutung hat oder angewendet werden kann, wird vom Curriculum nicht thematisiert. Das führt dazu, dass das religiöse Verständnis der Kinder von einer bestimmten Vorstellung von Religion geprägt und weitergegeben wird. Eltern, die sich gegen die obligatorische frühkindliche religiöse Erziehung wehren, werden in ein vom Amt für religiöse Angelegenheiten geführtes Sonderprotokoll (yalova.meb.gov.tr 2020) aufgenommen. Die Vertreterin der Gewerkschaft für Bildung wollte gegen diese Vorgehensweise klagen – mit dem Argument, dass das Bildungsministerium eigentlich für die Erziehung der Kinder zuständig sei. Dass das Amt für religiöse Angelegenheiten an den öffentlichen Schulen einen Bildungsauftrag bekommt, widerspreche dem Bildungsgrundsatz der türkischen Republik (Ög˘reten 2019).

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Aus dem gemeinsamen Programm »Vision 2023: Ich liebe meine Religion und lerne meine Religion« (http://yalova.meb.gov.tr/www/icerik_goruntule.php?KNO=3146).

3.2

Religiöse Bildung im Elementarbereich in Ägypten

Wie in anderen islamischen Ländern hat die frühkindliche Erziehung in Ägypten eine lange Tradition, gemäß welcher Kinder sehr früh damit beginnen, den Koran auswendig zu lernen. So kommt es vor, dass Sechsjährige den gesamten Koran frei aus dem Gedächtnis abrufen können (Savas¸ 2020). Früher befand sich die frühkindliche Erziehung in der Regel in den Händen von privaten Stiftungen oder von Personen, denen vor allem an der religiösen Erziehung der Kinder gelegen war (O’Gara & Lusk 2001). Solche Einrichtungen stützten sich auf traditionelle Methoden, nach denen die Kinder bestimmte Texte aus dem Koran, aber auch von berühmten Poeten und politischen Führungspersönlichkeiten auswendig lernten. Nach einigen bitteren Erfahrungen mit dem religiösen Fundamentalismus hat der ägyptische Staat – spät, aber doch – den Wert der frühkindlichen Erziehung erkannt, was auf einer Konferenz im April 1987 nochmals hervorgehoben wurde. Kindergärten sollten nicht länger Orte des Auswendiglernens von religiösen Texten sein, sondern vielmehr Räume, in denen die Kinder Gelegenheit haben, ihrer Natur entsprechend zu spielen und ihre Talente zu entwickeln. In den Folgejahren wurde der Zugang zu Stätten der frühkindlichen Erziehung zwar erhöht, liegt jedoch noch immer unter dem Durchschnitt, nicht zuletzt deswegen, weil Familien mit geringem Einkommen sich die Kindergärten nicht leisten können. »Kindergartens have primarily middle-class clientele because parents must pay. ›Private Least Profit‹ kindergartens are frequently affiliated with educational institutions, humanitarian service organizations, or social associations. ›Public Least Profit‹ kinder-

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gartens deliver services at very reduced costs to low-income families.« (education.stateuniversity 2020)

In den letzten Jahren wurden die Bemühungen zur Erleichterung des Zugangs zur frühkindlichen Erziehung intensiviert: »Currently some 30 % of the age cohort aged 4–5 years is participating in ECE in Egypt« (OECD 2015). 3.2.1 Religion in der frühkindlichen Erziehung in Ägypten6 Wie erwähnt blicken religiöse Organisationen und NGOs in Sachen frühkindliche Erziehung auf eine längere Tradition zurück als staatliche Einrichtungen. In den privat geführten Kindergärten nimmt die Religion – im Einklang mit den Wünschen der Eltern – eine besondere Stellung ein, ihr Fokus liegt zudem auf der Vorschulbildung und der Vorbereitung der Kinder auf den Schulbesuch. Vermittelt werden ethisch-moralische Werte, soziale Verpflichtungen und die kulturellen Werte der Nation wie Heimatliebe, Opferbereitschaft für das Vaterland usw. Die in der arabisch-islamischen Welt vorherrschenden Vorstellungen von Erziehung prägen auch die curricularen Grundlagen der frühkindlichen Erziehung. Gemäß diesen steht nicht das Kind im Zentrum der Bildung, sondern politisch-gesellschaftliche Interessen. »The lack of credible democratic citizenship education programmes in most if not all the countries in the Arab and Muslim world is confirmed by the fact that these countries hardly focus on the cultivation of democratic discourses. Instead, the concept of democratic citizenship education does not appear widely in Arabic educational literature and only the concepts of al-tarbiyyah al-wattaniyyah (national education) and altarbiyyah al-madaniyyah (civic education) are used. […] It seems as if political literacy and critical thinking (aspects of democratic engagement) are given less attention in Arab and Muslim contexts.« (Waghid & Smeyers 2014, S. 540)

Die in den islamischen Kindergärten vermittelte Bildung beginnt in der Regel mit den Eigenschaften Gottes, mit der Botschaft, dass Gott alles erschaffen hat und ihm allein Lob gebührt. Anschließend lernen die Kinder die Grundpfeiler des Islams, also die fünf Säulen und die Glaubensgrundsätze der Religion. Dies 6 Für den Religionsunterricht in ägyptischen Kindergärten gibt es kein einheitliches Curriculum. Jeder Kindergarten erstellt sein eigenes Curriculum und bemüht sich, dieses auch einzuhalten. Meine Untersuchung beruht auf den Unterlagen der Al-Farouk Islamic Language School in Kairo. Diese seit 1986 bestehende Schule definiert ihre Aufgaben folgendermaßen: »Since that time, thousands of kids have passed through the open doors of the schools to receive instructions in the rudiments of knowledge and the ideals of life and have gone to be ready for the service of Allah, country and society« (https://www.edarabia.com/el-farouk-isl amic-language-school-cairo-egypt/; zugegriffen: 11. August 2020). Das Curriculum der AlFarouk-Kindergärten besteht aus drei Themenbereichen: 1) muslimisches ethisches Verhalten (adab al-muslimı¯n), 2) kurze Suren aus dem Koran, 3) Propheten- und Korangeschichten.

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geschieht anhand von Geschichten aus dem Koran oder aus dem Leben des Propheten Muhammad (Curriculum Al-Farouk 2020). Die Art und Weise, in der ˙ die koranischen Geschichten – nicht nur in Ägypten, sondern in der gesamten islamischen Welt – vorgestellt werden, ist reichlich unreflektiert, die Geschichten drehen sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – stets um Gewalt und die Bestrafung von Ungehorsam durch Gott. Beispielhaft für derartige Geschichten ist die »Geschichte vom Elefantenheer«, in der Gott die Feinde des Islams, welche die Kaaba in Mekka angreifen wollen, vernichtet. Als Zeichen seiner unermesslichen und wundersamen Macht setzt er fliegende Wesen in Bewegung, die die Angreifer auf ihren Elefanten aus der Luft mit Steinen bombardieren. Dazu lernen die Kinder folgenden Vers aus dem Koran auswendig: »Bist du nicht gewahr, wie dein Erhalter mit dem Heer des Elefanten verfuhr? Machte Er nicht ihr listiges Planen völlig zunichte? Also ließ Er große Schwärme fliegender Geschöpfe auf sie los, die sie mit steinharten Schlägen vorherbestimmter Strafe schlugen, und ließ sie werden wie ein Kornfeld, das bis auf die Stoppeln abgefressen worden ist.« (Koran 105:1–5).

Zu den weiteren frühkindlichen Erfahrungen zählt die Wahrnehmung der eigenen Grenzen und des eigenen Geschlechts sowie die Definition des eigenen Platzes in der islamischen Gesellschaft. Ein interessantes Beispiel dafür ist die Sure Al-Ka¯firu¯n, die aufgrund ihrer Kürze von den Kindern früh auswendig gelernt werden kann. Diese schildert ebenfalls in aller Ausführlichkeit die bösen Taten der Gegner des Islams (Curriculum Al-Farouk 2020). »Sag: ›O ihr, die ihr die Wahrheit leugnet! Ich bete nicht das an, was ihr anbetet, und ihr betet auch nicht das an, was ich anbete. Und ich werde nicht das anbeten, was ihr ( jemals) anbetet, und ihr nicht was ich anbete. Für euch euer Moralgesetz und für mich meines!‹« (Koran 109:1–6)

Eine andere Sure, welche die Kinder auswendig lernen müssen, ist folgende: »Verdammt sind die Hände dessen mit dem glühenden Antlitz, … (Im kommenden Leben) wird er ein heftiges glühendes Feuer zu ertragen haben, zusammen mit seiner Frau, jener Trägerin übler Geschichten, (die) um ihren Hals ein Seil von gedrehten Strängen (trägt)!« (Koran 111:1–4)

Es ließen sich viele weitere Beispiele für derartige Inhalte – Geschichten über Dämonen und deren Wirkung auf die Menschen sowie Empfehlungen des Korans, wie man sich vor dem Einfluss der Dämonen schützen kann (Koran 113) –, welche die Kinder leider unreflektiert auswendig lernen müssen, anführen. Dies bleibt nicht ohne nachhaltige Folgen für die kindlichen Vorstellungen von Religion. Denn anders als Kinder in nicht arabischsprachigen Ländern, die diese Geschichten auf Arabisch auswendig lernen, ohne sie zu verstehen, lernen ihre

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ägyptischen bzw. arabischsprachigen Altersgenoss*innen auf diese Weise Gott von Anfang an als eine strafende Macht zu fürchten, abgesehen davon, dass Gewalt in der Mensch-Gott-Beziehung als eine Selbstverständlichkeit dargestellt wird. Mehmet Nas hat in seiner Studie Kinder unter anderem nach ihren Vorstellungen von Hölle und Paradies gefragt und festgestellt, dass diese von der Hölle und der Strafe Gottes geprägt sind. »Wenn wir Gott lieben, kommen wir ins Paradies, sonst kommen wir in die Hölle.« (Nas 2018, S. 83) »Einige Kinder … gaben Beispiele für gute und für schlechte Taten, als deren Ergebnis ein Mensch entweder ins Paradies oder in die Hölle kommt.« (Ebd., S. 93)

Insbesondere in den letzten zehn bis 15 Suren des Korans, die sich aufgrund ihrer Kürze gut zum Auswendiglernen eignen, ist viel von Gewalt und Drohungen Gottes die Rede – deren unreflektierte Weitergabe führt dazu, dass Kinder Gewalt als Mittel der Konfliktlösung und als Teil ihrer Religion verinnerlichen. Erzieher*innen sind in den seltensten Fällen in der Lage, die Kinder mit besonderen pädagogischen Maßnahmen auf die erste Begegnung mit dem Koran vorzubereiten. Andererseits stehen die Kindergärten unter einem hohen Erwartungsdruck seitens traditionell-konservativ gesinnter Eltern ohne jegliches pädagogisches Verständnis, da der Erfolg (auch der finanzielle) der islamischen Kindergärten überwiegend daran gemessen wird, wie viele Suren aus dem Koran die Kinder »eingetrichtert« bekommen. »Muslimische Eltern wünschen sich ein Programm zur religiösen Bildung/Erziehung und es ist ihnen wichtig, dass ihre Kinder den Koran lernen. Viele Eltern erwarten, dass ihr Kind kleine Suren auswendig lernt und messen den Erfolg des Kindergartens daran, wie viele Suren das Kind bereits kann. Dasselbe kann für das Lernen von arabischen Buchstaben festgehalten werden.« (Aslan 2017, S. 75)

Neben dem Koran sind die Lerninhalte der islamischen Kindergärten durch die Sunna (Lebensweise) des Propheten bestimmt, die die ethische Grundlage für die muslimische Lebensweise bildet. Im Einklang damit lernen Kinder muslimische Verhaltensregeln und somit die korrekte Einstellung gegenüber konkreten Aspekten des Lebens – angefangen von der Einstellung zu Gott und zum Propheten, über die zu Eltern und älteren Menschen bis hin zu jener zu Nationalhymne und Nationalflagge. Für Mädchen gilt es darüber hinaus, sich an den higˇa¯b (Schleier) ˙ zu gewöhnen (vgl. Ministry of Education and Technical Education o. J.). Bedauerlicherweise wird die Lebensweise des Propheten allein im Zusammenhang mit Spannungen und kriegerischen Aktionen vorstellig gemacht – üblicherweise

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nehmen die Kriege des Propheten während der Entstehung des Islams in seiner Biografie eine zentrale Rolle ein.7 Im Rahmen eines solchen Konzepts findet die Individualität des Kindes wenig Beachtung, was zählt, ist die Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen, das heißt, das Funktionieren des Kindes als Teil der Gesellschaft. Wie ein Vergleich zwischen der Türkei und Ägypten zeigt, legt die Türkei mehr Wert auf engere Beziehungen zu den Entwicklungen im Westen und versucht, diese zu integrieren. Auffallend ist jedoch, dass in den letzten Jahren die Stellung des Korans und der Lebensweise des Propheten Muhammad in der früh˙ kindlichen Erziehung an Gewicht gewonnen hat. Die Stärkung der Stellung des Korans im Bildungssystem wird als machtvolles Zeichen der Islamisierung der Gesellschaft wahrgenommen. In Ägypten hingegen bleibt das Auswendiglernen des Korans und koranischer Geschichten zentrales Anliegen der frühkindlichen Erziehung. In beiden Ländern fehlen jedoch Forschungen dazu, wie sich der Verzicht auf die pädagogische Aufbereitung der koranischen Geschichten oder Suren auf die religiöse Entwicklung des Kindes auswirkt.

3.3

Islamische Kindergärten in Europa am Beispiel von Österreich

Dass die Mutter zu Hause bleibt und die Erziehungsaufgaben übernimmt, entspricht längst nicht mehr der gesellschaftlichen Wirklichkeit muslimischer Familien in Europa. Immer mehr Muslim*innen wissen das Bildungsangebot der elementarpädagogischen Einrichtungen zu schätzen und sind bemüht, solche ins Leben zu rufen oder in den bestehenden Einrichtungen den kulturellen und religiösen Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu werden. Die Eröffnung islamischer Kindergärten in europäischen Ländern wirft immer wieder die Frage auf, ob diese auch tatsächlich dazu angetan sind, die sprachliche und soziale Integration muslimischer Kinder zu gewährleisten. Nicht selten müssen sich in diesem Zusammenhang muslimische Kindergärten neben politischen Debatten auch mit diversen europäischen Gerichten auseinandersetzen (Hudec 2016; welt.de 2019). Insgesamt wird es den Muslim*innen nicht einfach gemacht, einen islamischen Kindergarten zu gründen. In Österreich gestaltet sich die Situation der Muslim*innen bezüglich der Gründung von Bildungseinrichtungen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten günstiger, weil der Islam in Österreich eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist und somit über die gleichen Rechte und Pflichten wie Kirchen und

7 Auf YouTube findet sich eine Vielzahl an verfilmter Literatur zu den Schlachten des Propheten, so etwa unter https://www.youtube.com/watch?v=42-MuBR8n7Q (zugegriffen: 12. August 2020).

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andere Religionsgemeinschaften verfügt (Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten 2019). Bis zum Erscheinen der Studie von Aslan – Evaluierung ausgewählter islamischer Kindergärten und -gruppen in Wien – haben sich sowohl die politisch Verantwortlichen als auch die Öffentlichkeit in Österreich mit dem Thema islamische Kindergärten äußerst oberflächlich und unzureichend beschäftigt (Aslan 2017). Auch in der Forschung sind diese Kindergärten bislang kaum thematisiert worden, weswegen über die Erziehungsmethoden und die in den islamischen Kindergärten und -gruppen tradierten Werte wenig bekannt ist. Weil die Namen der Trägervereine oder die öffentlich einsehbaren Konzepte der Einrichtungen selten explizit darauf hinweisen, ist es nicht immer einfach, eine elementarpädagogische Einrichtung als islamische Einrichtung zu identifizieren (ebd.). In der Studie wurden elementarpädagogische Einrichtungen als »islamisch« klassifiziert, wenn sie großen Wert auf die Einhaltung der Hala¯l˙ Vorschriften legen, oder wenn sich Trägerorganisationen in ihren Statuten selbst als islamisch bezeichnen und einer islamischen Erziehung als Teil ihrer Aktivitäten besonderen Wert beimessen. Ein noch deutlicherer Hinweis auf eine dezidiert islamische Einrichtung ist das Angebot von Islam- und Koranunterricht (ebd., S. 11–16). Die überwiegende Anzahl der Betreiber*innen muslimischer Einrichtungen verfolgt mit der Gründung eines Kindergartens die Absicht, muslimischen Kindern eine geschützte Sphäre zu bieten: »Wir sind uns alle einig, dass unsere Kinder von klein auf in islamischer Umgebung und mit islamischer Erziehung aufwachsen sollen. Dafür hat das ›Integrative Bildungs- und Informationszentrum‹ mit einer Reihe von Kindergärten in Wien (iqra, Yasin, Furqan, Baraka) bereits eine gute Grundlage gelegt: Mehr als 1000 Kinder im Alter von 2–6 Jahren wurden in diesen Einrichtungen betreut, erzogen, auf die Schule vorbereitet, al hamdulillah. Leider besuchen viele Kinder anschließend aus Mangel an islamischen Alternativen öffentliche Schulen ohne islamische Umgebung und Erziehung. Besonders groß und gefährlich ist die Lücke für 10–15-jährige Kinder, da in Wien keine anspruchsvolle islamische Haupt- oder Mittelschule zur Verfügung steht. Unser Ziel ist es, die muslimischen Kinder auch nach dem Kindergarten und ganz speziell im pubertären Alter zu betreuen und sie mit Allahs Hilfe auf ihr weiteres Leben vorzubereiten.« (Aslan 2017, S. 145)

Ähnlich äußert sich ein anderer Betreiber eines Kindergartens zum Thema islamische Umgebung und Förderung islamischer Werte: »Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, Kindern in ihrer Entwicklung zu folgen, sie zu begleiten und bei der Entfaltung ihrer islamischen Persönlichkeit zu unterstützen und durch eine entsprechend gut vorbereitete Umgebung anzuregen. Werthaltungen, der Islam als Gesamtkonzept sind ein Teil unseres Lebens, der sich natürlich auch im Tagesablauf der Kindergruppe widerspiegelt. Der Schwerpunkt liegt auf der spiele-

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rischen Vermittlung der deutschen Sprache, der islamischen Umgangsformen (Adab) und der arabischen Schriftsprache.« (Aslan 2017, S. 146)

In diesem Sinne denken auch die Eltern, dass sie ihre Kinder vor den Gefahren der westlich orientierten Gesellschaft mit ihren dem Islam zuwiderlaufenden Werten schützen können. Muslimische Eltern entscheiden sich für eine islamische Bildungseinrichtung, weil sie ihre Kinder in diesen Einrichtungen besser aufgehoben sehen. Die religiöse Erziehung gilt als Gewährleistung der Wahrung der eigenen Tradition, den muslimischen Betreiber*innen wird aus sprachlichen und kulturellen Gründen mehr Vertrauen und Anerkennung entgegengebracht. Weiters trifft vor allem auf muslimische Mütter zu, dass sie Österreich allein aus ihren beschränkten Alltagserfahrungen kennen und dementsprechend beurteilen, was dann als Entscheidungsgrundlage herangezogen wird. In dieser Hinsicht werden die islamischen Kindergärten unter anderem auch zum Schutzund Anerkennungsraum für die Eltern (Aslan 2017, S. 64–65). 3.3.1 Inhalte der religiösen Erziehung Dem Jahresplan einer von einem europaweit organisierten Verband betriebenen islamischen Einrichtung sind Themeninhalte zu entnehmen, die jenen der türkischen und ägyptischen Curricula sehr nahekommen: – Koranisches Alphabet – auf das Gesamtjahr verteilt: Hälfte des arabischen Alphabets, ganzes Alphabet, arabisches Alphabet schreiben, arabische Zeichnungen, Wörter lesen; – Hifz (Auswendiglernen) ˙ ˙ – verschiedene arabische Bittgebete, Sure 1 aus dem Koran, Glaubensbekenntnis, Suren 105, 106, 107, 108, 109, 114, 113, 112, 103 aus dem Koran, Fastengebet, Bittgebete beim Betreten und Verlassen des Hauses; – Asma¯ʾ al-Husna¯ ˙ – Im Verlauf des Jahres werden die 99 Namen Gottes auswendig gelernt; Bedeutung von Pilgerfahrt, Opferfest, Almosensteuer; Bedeutung von Gebet, Koran und weiteren heiligen Büchern; Engel, Himmelfahrt des Propheten, Fasten im Ramadan; – Glaubensgrundlagen – Gott, gute und schlechte Taten, Geduld, Dankbarkeit, Paradies; – Propheten – Abraham, Nu¯h, Muhammad, Yu¯suf; ˙ ˙ – Festtage – Opferfest, islamisches Neujahr, Geburt des Propheten, heilige Nächte im Islam (vgl. Aslan 2017).

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Nach der Veröffentlichung der Studie zur Stellung der Religion in den elementarpädagogischen islamischen Einrichtungen änderten zahlreiche Kindergärten ihre Konzepte und reduzierten den Anteil an religiösen Inhalten. Der angeführte Jahresplan vermittelt jedoch eine gute Vorstellung davon, was diese Einrichtungen gerne machen würden, wenn sie die Freiheit und die entsprechende finanzielle Förderung hätten (derstandard.at 2017). Nachdem diese Einrichtungen ihre religiösen Angebote entweder reduziert oder ganz abgeschafft hatten, sahen viele Eltern davon ab, ihnen ihre Kinder weiterhin anzuvertrauen – mit teilweise gravierenden Folgen für die Betreiber*innen: »Diese Situation stellt die BetreiberInnen vor große Herausforderungen nicht nur hinsichtlich ihrer eigenen theologischen Vorstellungen, sondern auch, was die Erwartungen der Eltern angeht – um die Eltern, die ihnen ihre Existenz sichern, nicht zu verlieren, muss es ihnen gelingen, Alternativen zur religiösen Erziehung zu entwickeln.« (Aslan 2017, S. 50)

Die Tendenz zur Gründung muslimischer elementarpädagogischer Einrichtungen lässt sich außer in Österreich auch in anderen europäischen Staaten beobachten. Dabei sehen sich diese zunehmend vor der Schwierigkeit, den theologischen Erwartungen der Eltern auf der einen Seite und den pädagogischen Anforderungen einer pluralen Gesellschaft auf der anderen gerecht zu werden. Inwieweit die Verbände und Vereine sich von ihren theologisch-ideologischen Zwängen befreien und ihre Religion unter den Verhältnissen einer säkularpluralistischen Gesellschaft reflektieren können, werden die kommenden Jahre zeigen. Eines jedoch ist den Muslim*innen sehr klar geworden – dass die aus ihren Herkunftsländern mitgebrachten Konzepte doch einer gründlichen Revision bedürfen und eine neue, gegenwartszugewandte Orientierung in der Religiosität gesucht werden muss.

4.

Schlussbemerkungen

Das Aufkommen von professionellen konfessionellen elementarpädagogischen Einrichtungen in den islamischen Ländern ist ein relativ neues Phänomen, das seit etwa zwei Jahrzehnten auch in westlichen Staaten zu beobachten ist. Dass es in muslimischen Ländern seit jeher Koranlesekurse für Kinder im Vorschulalter gibt, ist eine bekannte Tatsache (Bas¸kanlıg˘ı I˙s¸leri Diyanet 2019, S. 16). Neu ist allerdings die Entstehung von Kindergärten, welche darum bemüht sind, die traditionelle religiöse Erziehung mit modernen pädagogisch-didaktischen Methoden zu verknüpfen. Dennoch ist mit Blick sowohl auf die islamischen Länder als auch auf die in Europa lebenden Muslim*innen festzustellen, dass es noch

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nicht gelungen ist, zwischen den Polen äußeres Erscheinungsbild und teilweise äußerst traditionsverhafteten Denk- und Verhaltensweisen wirksame Bildungskonzepte zu entwickeln. Ähnliche Tendenzen prägen auch die Konzepte und Curricula der elementarpädagogischen Einrichtungen, in denen versucht wird, didaktische Konzepte aus dem Westen zu adaptieren, die sich aber in ihrem Religionsverständnis den Grundprinzipien der Didaktik und Pädagogik widersetzen. Wie aber sollen Kinder eine gesunde Religiosität entwickeln, wenn sie nicht in der Lage sind, selbstständig zu denken und zu handeln bzw. die Religiosität ihrer Eltern zu hinterfragen? Zwar sind in den untersuchten elementarpädagogischen Einrichtungen und Curricula neuere Tendenzen zu beobachten, ein wirksames Umdenken in den Denk- und Handlungsweisen dieser Einrichtungen aber braucht anscheinend noch Zeit und Menschen, die bereit sind, sich dafür einzusetzen.

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Betül Karakoç

Moschee als pädagogischer Raum. Ein erweiterter Blick auf die religiöse Bildung und Erziehung in Moscheegemeinden

Zusammenfassung In diesem Beitrag werden die Konzepte und Formate der religiösen Bildung in den Moscheen – mit besonderem Augenmerk auf Deutschland – näher betrachtet. Dass Moscheen als Bildungs- und Erziehungsorte fungieren, ist keineswegs ein neues Phänomen – so galt bereits die Prophetenmoschee in Medina (alMasgˇid an-Nabawı¯) als erste Erziehungsstätte. Im Vergleich zu den Moscheen in mehrheitlich muslimischen Ländern findet jedoch in der Diaspora eine Verschiebung der Bedeutung und Funktion der Moscheen statt. Unter Berücksichtigung dessen beschäftigt sich dieser Beitrag mit der religiösen Bildung und Erziehung in Moscheegemeinden, insbesondere in Deutschland. Nach einem Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland und die Formate der religiösen Bildung und Erziehung in den Moscheen werden die diesbezüglich vorfindlichen Spannungsfelder thematisiert. Anschließend daran werden die Entwicklungen und neuen Formate für die religiöse Erziehung und Bildung in den Moscheegemeinden dargestellt.

1.

Einleitung »[…] denn die Moschee ist hier [in Deutschland; Anm. d. Verf.] nicht nur eine Moschee, sondern ein Kulturzentrum, zugleich ein Ort, an dem du deine Kultur lebendig und aufrecht hältst. Dein fröhlicher Tag ist hier, dein trauriger Tag ist hier, dein erfolgreicher Tag ist hier. Den Dienst in der Türkei kann ich auf keinen Fall mit meinem Dienst in Deutschland vergleichen.«1

1 Aus dem Interview mit einer religionsbeauftragten Frau in einer DITIB-Gemeinde in Hessen (Dezember 2017).

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Die Religionsbedienstete2 in einer Moscheegemeinde in Deutschland beschreibt die Multifunktionalität und die identitätsstiftende Wirkung der Moschee als sozialer, religiöser und kultureller Raum – vor allem »hier«, in Deutschland, wodurch implizit eine Differenzkategorie gebildet und eine Vergleichsebene zwischen der Moschee in der Diaspora und in Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung eröffnet wird. Sie versucht dabei zusammenfassend, über die »gewöhnliche« Bedeutung der Moschee hinaus, deren erweiterte Funktion im deutschen Kontext festzuhalten, »denn sie ist hier [anders als in anderen Kontexten; Anm. d. Verf.] nicht nur eine Moschee« (Karakoç 2020c). Unabhängig davon, welche »gewöhnlichen« Funktionen und Aufgaben einer Moschee zugeschrieben werden, was eine »typische« Moschee kennzeichnet und auf welcher Definitionsgrundlage Moschee verstanden und beschrieben wird3 – sie bietet ihren Besucher*innen Rahmen und Hilfestellung in ihrer emotionalen und religiösen Suche sowie (im übergeordneten Sinne) auf dem Weg ihrer Identitätssuche. Dies deutet auf die spirituell-emotionale Sphäre der Moschee hin, die in der Aussage der Religionsbediensteten ebenfalls angerissen wird, denn an diesem Ort halten die Gemeindebesucher*innen nicht nur ihre Kultur lebendig, sondern leben Emotionen wie Trauer und Freude aus. Vor diesem Hintergrund lassen sich Moscheen als pädagogische und (zumindest potenziell) spirituelle und authentische Räume beschreiben. Diese Ausgangsbeschreibung wird vor allem dann relevant, wenn der Versuch unternommen wird, religiöse Bildungs- und Erziehungsstrukturen in Moscheegemeinden unter pädagogischen Aspekten zu analysieren. Aus erziehungswissenschaftlich-pädagogischer Sicht können Moscheen und der Religionsunterricht in Moscheegemeinden (in der Folge RUM) als außerschulische und institutionelle Lernorte (neben Elternhaus, Medien, Peers und Freundschaften) beschrieben werden. Doch wie lassen sich diese Räume religiösen Lernens beschreiben? Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit den Konzepten und Formaten der religiösen Bildung. Nach einer kurzen deskriptiven Darstellung der rechtlichen Rahmenbedingungen (I.) und der Formate der religiösen Bildung und Erziehung in Moscheen (II.) werden im diskursiven Teil des Beitrags die Spannungsfelder in diesem Setting (III.) und anschließend Entwicklungen und neue Formate für die religiöse Erziehung und Bildung in Moscheegemeinden skizziert (IV.).

2 In der Gemeinde eingestellte Predigerin und Lehrerin. 3 Im weitesten Sinne kann die ganze Welt eine Moschee sein, denn Moschee leitet sich vom arabischen Wort masgˇid ab, was so viel bedeutet wie »Ort der Niederwerfung«. Der Begriff hat sich als Bezeichnung für das muslimische Gebetshaus etabliert.

Moschee als pädagogischer Raum

2.

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Rechtliche Rahmenbedingungen

Die Legitimation der Handlungsfelder der Moscheegemeinden – zu denen eben auch die religiöse Unterweisung und Erziehung in Moscheegemeinden zählen – fußt auf verschiedenen Rechtsgrundlagen. Moscheegemeinden in Deutschland sind als eingetragene Vereine organisiert, von denen etwa 70 Prozent einem bestimmten Dach- bzw. Spitzenverband4 angehören (Halm, Sauer, Schmidt & Stichs 2012, S. 62). Die restlichen Moscheegemeinden (etwa 30 Prozent) gehören keinem Verband an. Eine Ausnahme stellt die Ahmadiyya Muslim Jamaat dar, die als einzige Religionsgemeinschaft in Deutschland, konkret in Hessen, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (in Anlehnung an Art. 140 des Grundgesetzes und Art. 136–141 des Staatskirchenrechts der Weimarer Reichsverfassung [WRV]) genießt (Schmahl 2018, S. 832f.). Der Körperschaftsstatus bringt ihr organisatorische, rechtliche und finanzielle Sonderrechte, die sich auf ihre Tätigkeitsfelder in den Gemeinden auswirken (Kirste 2017, S. 626f.). Doch die strukturelle Organisation und der Zusammenschluss von Muslim*innen tangieren primär Rechtsgrundlagen, welche die Glaubens- und Vereinigungsfreiheit der Menschen betreffen. Art. 4 GG »(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. […]«

Art. 4 GG garantiert die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die ungestörte Religionsausübung und ist für die Freiheit religiöser Praxis und religiöser Handlungsfreiheit fundamental (Sodan 2018, S. 75). Mit Blick auf Moscheegemeinden kann dieser Grundsatz als elementarer Baustein für ihre Existenz herangezogen werden. Die Organisation in Form von Vereinen geht insbesondere auf das Vereinsrecht der Bundesrepublik Deutschland zurück, welches in Art. 9 GG verankert ist (ebd., S. 133ff.). Erst dadurch wird ihnen der Zusammenschluss in einem formellen Rahmen möglich. Art. 9 GG »(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. […]« 4 Ein Dachverband ist der Zusammenschluss verschiedener Vereine, ein Spitzenverband wiederum der Zusammenschluss mehrerer Dachverbände.

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Grundrechtsberechtigt sind gemäß Art. 9 Abs. I GG nur Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. I GG (Schmahl 2018, S. 793ff.). Für Ausländer5 greift lediglich der subsidiäre Grundrechtsschutz des Art. 2 Abs. I GG (Sodan 2018, S. 41ff.). In diesem Fall wird § 14 Abs. 1 VereinsG für Ausländervereine herangezogen (hier wird nur geregelt, unter welchen Voraussetzungen Ausländervereine verboten werden können) (Albrecht & Roggenkamp 2014, S. 180ff.). Das Vereinsverbot erstreckt sich gemäß Art. 9 Abs. II GG auf Vereinigungen, deren Zwecke und Tätigkeiten den allgemeinen Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten (Sodan 2018, S. 139f.). Darüber hinaus gewährt Art. 2 Abs. I GG die allgemeine Handlungsfreiheit und ermöglicht die Vereinigung von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft (ebd., S. 40ff.). Art. 2 GG »(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. […]«

Neben diesen rechtlichen Rahmenbedingungen – die zunächst den Zusammenschluss betreffen – kann mit Blick auf die Erziehung und die Teilnahme von Kindern an den Kursen und Angeboten der Moscheegemeinden Art. 6 Abs. II Satz 1 GG herangezogen werden, der das elterliche Erziehungsrecht garantiert (ebd., S. 108ff.). Art. 6 GG »[…] (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. […]«

Somit haben Eltern das Recht, über die Teilnahme ihrer Kinder an Angeboten und Kursen der Moscheegemeinden zu entscheiden, zu denen eben auch die religiöse Erziehung gehört. Aus dieser Kurzdarstellung der Rahmenbedingungen geht hervor, dass der Zusammenschluss und die Tätigkeitsfelder der Moscheegemeinden auf rechtlichen Grundlagen basieren. Solange die Tätigkeiten nicht den gesetzlichen Regelungen und der freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zuwiderlaufen, stützen sich die Existenz von Moscheegemeinden und die Durchführung des Unterrichts auf diese angeführten rechtlichen Grundlagen.

5 In der juristischen Sprache wird die Bezeichnung »Ausländer« für alle Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft verwendet.

Moschee als pädagogischer Raum

3.

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Formen der religiösen Bildung und Erziehung in Moscheegemeinden

Dass Moscheen als Bildungs- und Erziehungsorte fungieren, ist kein neues Phänomen: Bereits die Prophetenmoschee in Medina (al-Masgˇid an-Nabawı¯) galt als erste Erziehungsstätte (zur historischen Darstellung siehe Kurum 2016 und zum türkischsprachigen Raum siehe Is¸ıkdog˘an & Korukçu 2015). Dieses Selbstverständnis wird im hiesigen Kontext fortgeführt: Seit ihrer organisierten Etablierung nach der Gastarbeitermigration Ende der 1960er-Jahre machen sich die Moscheevereine (außer aus traditionell-religiösen Gründen auch aus gesellschaftspolitischen Motiven) unter anderem die religiöse Unterweisung und Erziehung der muslimischen Kinder und Jugendlichen sowie die Erwachsenenbildung zur Aufgabe. Die Suche nach den Strukturen und den Räumen der religiösen Bildung und Erziehung in Moscheegemeinden richtet den Blick auf den sogenannten »Koranunterricht«. In diesem Kontext werden Fragen zu den Inhalten des Koranunterrichts, zur Vermittlung der – an pädagogischen Standards gemessenen – notwendigen Kompetenzen und insbesondere zu den Lehrenden gestellt. Doch die alleinige Betrachtung des Koranunterrichts impliziert, dass religiöse Bildung und Erziehung primär und ausschließlich in diesem Rahmen stattfindet und blendet weitere pädagogisch relevante Handlungsfelder der Moscheen aus. Die islamische Religionspädagogik im türkischsprachigen Raum unterscheidet zwischen religiöser Erziehung in Korankursen (türk. Kur’an kurslarında din eg˘itimi) (Korkmaz 2016) und religiöser Erziehung in Moscheen (türk. cami eksenli din eg˘itimi) (Yılmaz 2016). Aufgrund der in Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung und in der Diaspora stattfindenden Verschiebung der Bedeutung und Funktion der Moscheen (worauf die eingangs zitierte Religionsbedienstete der Moscheegemeinde hindeutet) ist eine direkte Übertragung dieser Differenzkategorien auf den deutschen Kontext nicht möglich, zumal die religiöse Unterweisung in der Türkei nicht unbedingt direkt in den Moscheen, sondern ebenfalls in-von den Moscheegebäuden unabhängigen – KorankursEinrichtungen erteilt wird (Korkmaz 2016, S. 348). Es handelt sich also um zwei verschiedene Räume mit unterschiedlichen Ausstattungen und Rahmenbedingungen. In Deutschland (ebenso wie in Österreich) findet der Religionsunterricht in der Regel in Moscheen oder Gebäuden, die sich als solche Einrichtung verstehen – also in Moscheegebäuden oder im direkten Umfeld –, statt. Was die Übertragung und den Vergleich zusätzlich erschwert, sind soziokulturelle, ökonomische, strukturelle und personelle Unterschiede. Dies ist jedoch ohnehin nicht das Ziel dieses Beitrags. Vielmehr wird versucht, auf dem Weg einer tief greifenden und erweiterten Betrachtung der pädagogischen Räume eine Diffe-

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Betül Karakoç

renzierung zwischen der religiösen Bildung und Erziehung in unterschiedlichen Handlungsfeldern der Moschee und im organisierten Religionsunterricht in Moscheegemeinden (RUM) vorzunehmen.

3.1

Der Religionsunterricht in Moscheegemeinden (RUM)

Die religiöse Unterweisung in einer organisierten und ritualisierten Form – aus der Forschungsliteratur als Koranunterricht bekannt – umfasst über das Lehren und Lernen des Korans hinaus weitere religiöse (und mit Blick auf die religiöse Bildung relevante) Formen der Wissensvermittlung. Aus diesem Grund wird hier auf eine Einengung dieses ritualisierten und organisierten Unterrichtsformats auf den Begriff »Koranunterricht« verzichtet. Der RUM wird in vielen Moscheegemeinden für Kinder, Jugendliche und Erwachsene angeboten – laut der DIK-Studie bieten 96 Prozent der befragten Moscheegemeinden in Deutschland Religionsunterricht an (Halm et al. 2012, S. 74). 3.1.1 Mögliche Formate des organisierten RUM Der Unterricht findet in den von den Gemeinden zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten und üblicherweise an Wochenenden oder in den Schulferien statt (Ceylan 2014, S. 164). Einige Gemeinden, die über die räumliche Ausstattung – etwa in Gestalt von Internaten mit Übernachtungsmöglichkeiten oder von Schülerwohnheimen – verfügen, können Kindern und Jugendlichen intensiveren Religionsunterricht anbieten (Blätte 2014, S. 128). Bei Bedarf verlagern Lehrende den Unterricht in Wohnungen, wo die religiöse Unterweisung in Gesprächskreisen fortgesetzt wird. Der Unterricht ist freiwillig (Ceylan 2014) und wird von verhältnismäßig wenigen – die genaue Zahl ist nicht empirisch erfassbar – Schüler*innen in Anspruch genommen (Özdil 2011, S. 76). Abhängig von der Gemeindegröße, der Anzahl der Lehrenden und der teilnehmenden Schüler*innen werden Lerngruppen gebildet. Da nicht allen Gemeinden klassische Klassenräume mit Stühlen und Tischen zur Verfügung stehen, wird mitunter auch in Gebetsräumen unterrichtet (Ceylan 2008, S. 64). Dabei wird nicht an Tischen, sondern unter Zuhilfenahme kleiner Koranpulte (ein sogenanntes »Rahle«) und auf dem Boden sitzend aus dem Koran gelesen und gelernt (Kis¸i 2014, S. 124). (»Rahle« geht auf die Islamschulen [madrasa] des Osmanischen Reiches zurück, in denen die Schüler*innen beim Studium des Korans vor den Lehrer*innen knieten und den Koran studierten.) In der Regel findet der Unterricht nach Geschlechtern getrennt statt. Eine Altersbegrenzung für die Teilnahme an den Kursen gibt es nicht, einige Gemeinden bevorzugen es, Schüler*innen ab dem Grundschulalter und nicht früher zuzulassen (Beinhauer-

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Köhler & Leggewie 2009, S. 84). Die Gemeinden – insbesondere die Lehrenden – entscheiden individuell über die Struktur und den Aufbau des Unterrichts. 3.1.1.1 Die Lehrenden Der RUM steht unter der Leitung eines Lehrenden (türk. hoca) oder des Imams (arab. ima¯m: Vorbeter, Vorsteher, Vorbild, Leiter) der Gemeinde. Die Heterogenität der Lehrenden ist ein Abbild der diversen Ausrichtungen der Moscheegemeinden, ihrer strukturellen Gegebenheiten und finanziellen Ressourcen. In der Forschung wurde der Versuch unternommen, die Heterogenität unter männlichen Imamen in Deutschland in Form einer Typologisierung abzubilden (Ceylan 2010a). Doch nicht nur männliche und theologisch ausgebildete Imame sind als Lehrende in Moscheegemeinden tätig. Die Lehrenden sind entweder – theologisch ausgebildete und aus dem Ausland in die Gemeinden entsandte Religionsbedienstete (Frauen und Männer), – an den theologischen Fakultäten in Deutschland ausgebildete Theolog*innen, – von den Gemeinden in ihren Bildungseinrichtungen ausgebildete Theolog*innen oder – ehrenamtlich tätige Expert*innen (Karakoç 2020b). Je nach den verfügbaren Ressourcen der Gemeinden werden sie auf ehrenamtlicher Basis, auf Minijob-Basis oder auf Basis einer Teil- bzw. Vollzeitbeschäftigung eingestellt. Im Fall, dass Gemeinden mit Religionspräsidien aus dem Ausland kooperieren, wird die Tätigkeit der entsandten Imame und religionsbeauftragten Frauen finanziell unterstützt, wobei die Dauer der Entsendung auf wenige Monate, auf ein, zwei oder vier Jahre befristet ist. Dies gilt beispielsweise für DITIB-Gemeinden in Deutschland. Andere Gemeinden (wie etwa IGMG- und VIKZ-Gemeinden) wiederum bilden ihre eigenen Religionsbeauftragten in ihren Bildungseinrichtungen (im In- und Ausland) aus (zu den bestehenden Formaten siehe Ucar 2010), jedoch nicht in Form einer akademisch-theologischen Ausbildung, sondern vielmehr durch Einweisung in Rituale, Gebete und Gemeindeführung (Gräff 2018 und näher Pürlü 2010). 3.1.1.2 Inhalte Während sich diese Formate und Angebote nach räumlichen Gegebenheiten, finanziellen Mitteln und Verfügbarkeit qualifizierten Personals voneinander unterscheiden, haben alle Moscheegemeinden eines gemeinsam: Sie verfügen über keine verpflichtenden und gemeindeübergreifenden Lehrpläne. Es gibt lediglich Bemühungen seitens der Landes- bzw. Bundesverbände, bestimmte Materialien und Handreichungen zu erarbeiten und ihren jeweiligen Moscheegemeinden zur Verfügung zu stellen (wie beispielsweise die klassen- bzw. altersbezogenen Handreichungen der IGMG-Gemeinden) (IGMG 2017a, 2017b,

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2017c) oder die Arbeitshefte der DITIB (DITIB 2016). Aufgrund der fehlenden Strukturen stellen sich die Nachhaltigkeit und das Durchsetzungsvermögen dieser Handreichungen und Hefte allerdings als fraglich dar. Ungeachtet dessen wurden in den bislang vorliegenden empirischen Arbeiten hinsichtlich der inhaltlichen Vermittlung und Ausrichtung des Unterrichts folgende Ziele festgehalten (Alacacıog˘lu 1999, S. 248; Ceylan 2014): – Lesen und Rezitieren des Korans auf Arabisch, – Memorieren bestimmter Koranstellen, – Lernen von Glaubensinhalten des Islams, – Lernen islamischer Rituale und Pflichten (wie z. B. das Beten, Fasten oder die Gebetswaschung), – Erziehung zum Gebetsrufer (Muezzin).

3.1.1.3 Unterrichtsmethode Auch wenn bislang keine didaktischen und methodischen Evaluationen des RUM vorgenommen wurden, besteht innerhalb der Forschungsliteratur Konsens, dass Frontalunterricht als Unterrichtsform den RUM kennzeichnet (Ceylan 2014, S. 181). Das Memorieren (arab. dakara), die Rezitation (arab. tila¯wa) und ¯ das Lesen (arab. qira’a) stehen als Unterrichtsziele im Vordergrund (ebd., S. 166f.; Loimeier 2012, S. 135). Durch Wiederholungen (arab. takrı¯r) und FrageAntwort-Runden im Anschluss an eine Predigt oder einen Vortrag der Lehrenden sollen religiös relevante Glaubensinhalte und -grundsätze verstanden und verinnerlicht werden. Bei den Unterrichtsmethoden handelt es sich nicht um Nova, die erst mit der strukturellen Gründung der Moscheevereine entstanden wären. Sie gehen auf eine lange Tradition – auf die Lehre in der eingangs erwähnten Prophetenmoschee in Medina – zurück, deren Schüler*innen unter dem Namen »Leute der Suffa« (asha¯b as-suffa) bekannt sind. Der Prophet fungierte als Lehrer ˙˙ ˙˙ und unterrichtete zunächst Erwachsene, wobei die Unterweisung das Lesen und Schreiben des Korans, die Auslegung und die islamischen Bräuche umfasste (Kurum 2016, S. 55). Eine ebenfalls weit verbreitete Lernmethode im RUM ist das Lernen der Glaubensgrundsätze aus einem Lehrbuch (türk. ilmihal) (siehe S¸entürk & Yazıcı 2004). Daneben werden Alphabetisierungshefte als Grundlage und Vorstufe des Koranlesens herangezogen. Das Lernen einzelner Buchstaben, das Bilden von Silben und anschließend das Lesen von Sätzen bildet diesbezüglich die klassische Reihenfolge. Die Lesekompetenz soll durch das Lernen der Rezitationsregeln (arab. tag˘wı¯d) gefördert und erweitert werden (Ceylan 2014, S. 360). In bestimmten Gemeinden werden über die übliche Konstellation der Lerngruppen (mit einem Lehrenden und den Schüler*innen) hinaus kleinere Lerngruppen gebildet, deren Leitung fortgeschrittene Schüler*innen innehaben, die

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die jüngeren Schüler*innen unterweisen. Celik und Leidinger nennen diese Form des Lernens »Großer-Bruder-Methode« (Celik & Leidinger 2017, S. 171f.). 3.1.1.4 Unterrichtssprache Der Koran wird auf Arabisch gelesen. Darüber hinaus richtet sich die Unterrichtssprache des RUM – um es mit Ballnus auszudrücken – »nach der Herkunftssprache« (Ballnus 2011, S. 200) der Gemeindebesucher*innen. Dies ist einerseits den mangelnden Sprachkenntnissen der Lehrenden geschuldet, andererseits soll das Erlernen der »Muttersprache« gezielt gefördert werden. Dadurch erweist sich der muttersprachlich ausgerichtete RUM als zweigleisiger Lernprozess: Die Kinder lernen religiöse Inhalte und die »Muttersprache« in einem Unterricht (Hibaoui 2011, S. 52). Mit dem Bewusstsein von der Bedeutung eines deutschsprachigen Unterrichts wachsen allerdings auch die Bemühungen, den Unterricht zweisprachig oder auf Deutsch zu gestalten (Akca, Barwig & Schmid 2012). Während Wissenschaftler*innen in diesem Forschungskontext nach wie vor von scheinbar eindeutig definierbaren Kategorien (Herkunftssprache, Muttersprache, türkische oder deutsche Moscheegemeinde) ausgehen und diese Kategorisierungen in ihren Beschreibungen (re)produzieren, rufen Generationsverschiebungen und die damit verbundenen Wandlungsprozesse (auch im Hinblick auf hybride Identitätsverständnisse) (Karakoç 2020a) vermehrt nach einem Durchdenken dieser Zu- und Beschreibungen.

3.2

Religiöse Erziehung und Bildung in unterschiedlichen Handlungsfeldern der Moscheen

Über den RUM hinaus agieren Moscheegemeinden in unterschiedlichen Formaten und fügen ihrer Agenda verschiedene Tätigkeitsfelder hinzu. In der Studie Islamisches Gemeindeleben in Deutschland wurden die Angebote der befragten Moscheegemeinden folgendermaßen zusammengefasst (Halm et al. 2012, S. 74– 77):

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Betül Karakoç

Tabelle 1: Religiöse und nicht religiöse Angebote der Moscheegemeinden Religiöse Angebote – Korankurse/Islamunterricht für Kinder und Jugendliche – Iftar-Essen für die Gemeinde – Feier heiliger Nächte – Hadsch/Wallfahrt – Begräbnisse – Spendensammlung/zaka¯t – Beschneidungsfeier – Eheschließung – Vermittlung – Tieropfer/Opferfest – Geburtsfeier

Nicht religiöse Angebote – Sport/Bewegung – Gesellschaftskunde/Exkursionen – Interreligiöser Dialog – Hausaufgabenhilfe – Sprachkurse Deutsch – Musik, Kultur, Tanz, Folklore – Sprachkurse Herkunftssprache – Computer, EDV – Handarbeiten, Basteln, Kochen – Integrationskurse – Einzelhandel, Friseur etc. – Teestube – Gesundheitsberatung – Erziehungsberatung – Sozialberatung

Die zur Illustration herangezogene Tabelle verdeutlicht die Vielfalt der Angebote, die in unterschiedlichem Ausmaß und entsprechend den vorhandenen Ressourcen und Bedürfnissen zur Verfügung stehen. Die in der Studie vorgenommene Differenzierung der religiösen und nicht religiösen Angebote spiegelt den Versuch, Dimensionen der Lernorte voneinander getrennt zu betrachten, ohne ihre Interdependenzen zu berücksichtigen. Daher erscheint es nicht verwunderlich, dass über den RUM hinaus keine weiteren Handlungsfelder als religiöse Bildungs- und Erziehungsräume betrachtet werden. So wie einerseits die Unterrichtssprache des RUM diesen Raum als einen kulturellen und zugleich religiösen Lernort konstruiert, können auf den ersten Blick kulturelle oder als »nicht religiöse Angebote« bezeichnete Handlungsfelder in Moscheegemeinden Auswirkungen auf das religiöse Selbstverständnis haben. Es entsteht demnach eine Verflechtung unterschiedlicher Lernmodi und -räume – ein Ineinandergreifen religiöser, kultureller und sozialer Lernfelder. Diese Überlegung soll an konkreten Beispielen und unter Hinzunahme bestimmter Fragestellungen für die Angebote aus der Kategorie der nicht religiösen Angebote exemplifiziert werden: Exkursionen beinhalten eine auf die Gruppe und auf entdeckendes Lernen ausgerichtete Komponente. Die exkursionsdidaktische Forschung beschreibt Exkursionen als »Konfrontation mit Lerngegenständen in ihrer unmittelbaren Umgebung« (Stolz & Feiler 2018, S. 10). Dabei ermöglicht das »Lernen mit allen Sinnen« eine ästhetische Erfahrung (Hasse 2010). Welche spirituelle Erfahrung machen folglich muslimische Schüler*innen, die gemeinsam mit ihrer Moscheegruppe eine Kirche oder Synagoge in ihrer Nähe besuchen oder in weiter entfernte Orte reisen, die nicht zwangsläufig und primär einen religiösen (oder Religions-)Bezug aufweisen? Während Ersteres mit Blick auf interreligiöse Be-

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gegnungen, Erfahrungen und interreligiöse und -kulturelle Kompetenzförderung von Relevanz ist (Schneider-Stengel 2014), deutet Letzteres auf die Förderung verschiedener Sozialkompetenzen in Gruppensituationen und auf die soziale und religiöse Dimension des Gruppengefühls hin (Gudjons 2006, S. 161ff.). Was bedeutet es also für muslimische Schüler*innen, mit ihrer Moscheegruppe auf Bildungsreise zu sein – im Unterschied zu einer Reise mit ihrer Schulklasse oder ihrer Familie? Auf der Metaebene handelt es sich um unterschiedliche imaginäre Raumkonstruktionen: Die Bildungsreise mit der Moscheegruppe erweitert den Lernort über den realen Raum »Moschee« (im architektonischen Sinne) hinaus und inszeniert durch das Gruppenverständnis (»wir als Moscheegruppe«) einen identitätsstiftenden und religiösen Raum. So wird über das im RUM erworbene Wissen in diesem gemeinschaftlich inszenierten Raum auch die Anwendung bestimmter religiöser Praxen möglich (beispielsweise das Verrichten des rituellen Gebets nach den gesonderten Regelungen für Reisen im Sinne des sala¯t as-safar). ˙ Auch Fußballturniere können sich hinsichtlich der Schaffung religiöser Räume außerhalb der Moscheegemeinden als sinnstiftend erweisen. Turniere unter Beteiligung verschiedener Moscheegemeinden oder von Gemeinden anderer Konfessionen ermöglichen intra- bzw. interreligiöse Begegnungen. Als solche mögen sie – gemessen an den theoretischen Vorüberlegungen für den Kompetenzerwerb eines tiefergehenden interreligiösen Lernens – beschränkt bleiben (Lähnemann 2005), doch entscheidend ist in solchen Kontexten die spirituelle Erfahrung in der Begegnung selbst. Denn »vielfach wird in der Begegnung mit der fremden Spiritualität die eigene Spiritualität bewusster und zugleich bereichert« (Freudenreich & Mette 2005, S. 304). An den Beispielen der Fußballturniere »Imame gegen Pfarrer« mit jüdischen Schiedsrichtern (dieses Format wird seit über einer Dekade in unterschiedlichen Rahmungen angeboten) oder »christliche Gemeinde gegen muslimische Gemeinde« (Janocha 2014, S. 332) wird über deren Bedeutung hinaus die pädagogische Herausforderung für den interreligiösen Dialog deutlich – nämlich die Gefahr, solche Anlässe von einer Annäherung in eine Konkurrenzsituation zu führen. Daher sind vorangehende Vorbereitungen und Motivbeschreibungen von großer Bedeutung. Das bedeutet, dass sowohl in der Vorbereitung als auch in der Durchführung selbst (inter)religiöses Lernen stattfindet, das auf das Bewusstsein der eigenen religiösen Identität zielt und andere religiöse Subjekte und Praxen wahrnimmt. Nach diesem Exkurs in die Handlungsfelder der Moscheegemeinden außerhalb ihrer Räumlichkeiten wird der Blick noch einmal auf interne Veranstaltungen gerichtet: Das Imitieren religiöser Szenen in Form von Theateraufführungen oder das Interpretieren islamischer Musik (türk. ilahi) zu festlichen Anlässen gehört zu den religiösen Lernräumen, die eine aktive und erlebende Aneignung religiöser Inhalte und Kontexte ermöglichen. Neben der spirituellen

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Dimension sind mit Sinneswahrnehmungen ästhetische Erfahrungen verbunden, die als Merkmal von Kunst gelten (Schnütgen 2019, S. 41f.). Im Zusammenwirken von ästhetischer Darstellung (als »spielerische Identifikation mit Lebensentwürfen«) und ethischer Theologie (die auf ein »angemessenes Wahrnehmen der ethischen Situation« zielt) können die Inhalte der künstlerischen Darbietungen zur Wertebildung (arab. ta’dı¯b) und zur Verinnerlichung ethischer und religiöser Aspekte beitragen (Huizing 2015, S. 293). Gerade in den zuletzt genannten Tätigkeitsfeldern (Theater und Musik) ist aufgrund der religiösen Inhalte des Theater- bzw. Musikstücks die Transformation dieser Räume in religiöse Lernorte evident. Doch wie verhält es sich mit Handlungsfeldern (und vor der Abrundung dieses Themas sei ein weiterer Schritt gewagt), die weder bei entfernter Betrachtung noch bei näherem Blick eine direkte oder indirekte religiöse Erziehungs- und Bildungsintention erkennen lassen? In diesem Zusammenhang ließe sich beispielsweise an Erziehungs- und Eheberatungen in Moscheegemeinden denken – selbst solche Räume können zu religiösen Lernorten werden, da in den gegebenen Kontexten, also in der Beratung, Normenvorstellungen und religiöse Erklärungsmuster selbst herangezogen, neu durchdacht und verhandelt werden können. Gemeint sind Räume wie die in Moscheegemeinden angebotenen Deutsch- oder Integrationskurse oder Hausaufgabenhilfe, die zunächst keine Räume für religiöse Erziehung und Bildung zu sein scheinen. Was bedeutet es für Muslim*innen, den Sprachkurs in der Moschee zu besuchen und nicht in einer Einrichtung außerhalb der Moschee? Schließlich kommt es, wenn in einem religiös inszenierten Raum (= Moschee) »profane« Angelegenheiten (Integrationskurs bzw. Spracherwerb) behandelt werden, zu einer Durchkreuzung der Räume. Der Bedeutsamkeit und Wirkmächtigkeit dieser Durchkreuzungen der Räume für die eigene weltliche und religiöse Orientierung und Wahrnehmung gilt es gleichermaßen Aufmerksamkeit zu schenken. An dieser Stelle lässt sich das Beispiel kulturell-sozialer Räume wie Cafés oder Restaurants in Moscheebaukomplexen heranziehen, die ein Zusammenkommen der Gemeindebesucher*innen ermöglichen und eine Plattform für die Verhandlung und Diskussion religiöser Glaubensinhalte und Aspekte bieten. Im Rahmen dieses weiten Umrisses soll die Möglichkeit des haptischen und erlebenden Lernens im realen Raum nicht außer Acht gelassen werden. In pädagogischen Diskursen ist der Raum der »dritte Erzieher« – neben den anderen Schüler*innen als erstem und dem Lehrer als zweitem Erzieher (Nugel 2014, S. 137). Vor diesem Hintergrund seien die Ausstattung und die Architektur als Merkmale für Moscheen hervorgehoben: Die Gebetsnische (arab. mihra¯b), die ˙ Kanzel (arab. minbar) für die Freitagspredigt (arab. hutba), die Kanzel für ˘ ˙ sonstige Predigten (arab. kursı¯), der Platz des Gebetsrufers (arab. muʾaddin), ¯¯ Teppiche (Özdil 2002, S. 31), die Beleuchtung, Kalligrafie und kulturelle Ornamente laden zum entdeckenden und erlebenden Lernen ein. Dergestalt alle Sinne

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anregend, fördern diese Räume das visuelle, das haptische und das auditive Lernen. Die Atmosphäre – die aus pädagogischer Perspektive für das Lernen von eminenter Bedeutung ist – steht »für den erlebten Raum, der durch alle im Raum angebotenen, vorhandenen und wahrnehmbaren Gegenstände konstituiert wird« (Pfrang & Rauh 2017, S. 292). Denn »Menschen erleben Räume und Atmosphären unmittelbar, sie ›betreffen‹ diese, und damit haben Räume mit ihren Atmosphären einen entscheidenden Einfluss auf Lernen« (ebd., S. 291). Durch die Erweiterung der Betrachtung dieser pädagogischen Handlungsfelder (sowohl in der Moschee als auch außerhalb des architektonischen und realen Raums) wurde deutlich, dass religiöse Bildung und Erziehung über den RUM hinaus greifen kann und die eindeutige Kategorisierung von religiösen und nicht religiösen Angeboten nicht haltbar ist. Tätigkeitsfelder können bewusst oder unbewusst religiös erzieherisch oder bildend ausgerichtet sein und eine identitätsstiftende und auf die religiöse Selbstwahrnehmung einwirkende Dimension beinhalten. Zusammenfassend lässt sich formulieren: Die Moschee als religiöser Raum kann sowohl durch explizit bildungs- und erziehungsintendierte Rahmungen (RUM) als auch durch weitere pädagogische Handlungsfelder implizites religiöses Lernen ermöglichen und sich bewusst oder unbewusst auf die religiöse Wahrnehmung und das religiöse Selbstverständnis der Gemeindebesucher*innen auswirken.

3.3

Religiöses Lernen in authentischen Spannungsfeldern der Moschee

Anstatt diesen diskursiven Teil des Beitrags mit der klassischen Überschrift »Stärken und Schwächen der religiösen Erziehung und Bildung in Moscheegemeinden« zu versehen, werden die Herausforderungen und Chancen in diesem Setting beschrieben, dessen Trennung und Benennung nicht immer eindeutig und haltbar sind. Jede Stärke kann zugleich eine Schwäche sein – daher könnte die Überschrift des Unterkapitels zunächst irritieren und die Frage aufwerfen, inwiefern Spannungsfelder authentisch sein können. Erfolgt jedoch die Betrachtung der religiösen Bildung und Erziehung in den authentischen und spirituellen Moscheeräumen unter dem Aspekt der Kriterien der pädagogischen und kompetenzorientierten Bildungsstandards, der didaktischen Konzepte, erziehungswissenschaftlichen Leitideen und integrationspolitischen Anforderungen, werden diese Spannungsfelder schnell erkennbar.

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3.3.1 Kulturelles Lernen vs. religiöses Lernen vs. ethnisch orientiertes Lernen? Die Trennlinie zwischen kulturellem und religiösem Lernen mag nicht eindeutig zu ziehen sein, dennoch stellt sich die Frage nach der zwischen ihnen bestehenden Wechselwirkung bzw. ihren Schnittstellen. Denn: »So wie einerseits Religion einen wesentlichen Bestandteil der Kultur ausmacht, so wird aber auch andererseits die Religion von der Kultur, in deren Raum sie sich entfaltet und verwirklicht, geprägt« (Tautz 2007, S. 63). Aus kultur- und religionswissenschaftlicher Perspektive ist Kultur also ein Bestandteil der Religion und vice versa. Das eine kann ohne das andere nicht verstanden werden, weil beide in einer gegenseitigen Beeinflussung stehen (von Stosch 2016, S. 143). Vor diesem Hintergrund ist bereits mit der Gegenüberstellung in der Überschrift »kulturelles Lernen vs. religiöses Lernen« ein innerer Widerspruch benannt. Sobald jedoch religiöse Bildungskontexte in Moscheegemeinden in den Fokus der Untersuchung rücken, werden offensichtlich kulturelle Vermittlungen im Sinne einer national ausgerichteten Inhaltsvermittlung von den religiösen bzw. »religiöskulturellen« Vermittlungen zu unterscheiden sein. Für Letzteres können die »Kandil-Nächte« (türk. kandil geceleri) als Beispiel herangezogen werden, die ihre feierlich-ritualisierte Form und ihre Bezeichnung erst zur Zeit des Osmanischen Reiches unter der Herrschaft von Sultan Selim II. (1566–1574) erhielten. Der religiösen Tradition folgend, entzündete man an diesen religiösen Abenden Öllampen (türk. kandil), die dann an den Minaretten der Moscheen angebracht wurden und die Moscheebauten beleuchteten (Sancaklı 2017, S. 51). Diese ritualisierte Form des Gedenkens und der Feier findet bis heute – insbesondere in türkischen Moscheegemeinden – eben unter dem Namen kandil geceleri statt. Auch der Einsatz der bereits erwähnten Koranpulte (türk. rahle) verbindet die kulturelle (da er auf die Zeit des Osmanischen Reiches zurückgeht) mit der religiösen (an diesem Pult wird der Koran studiert) Dimension. Daneben wird in der Forschungsliteratur rekonstruiert, dass sich in bestimmten Moscheegemeinden Räume für ethnisch und national orientierte Lehr- und Lerninhalte herausbilden: Das Lernen von Nationalhymnen oder politisch konnotierten Gedichten würde den religiösen Lernrahmen in eine politische und national dominierte Lernumgebung lenken (Gorzewski 2015, S. 101–126). Vor dem Hintergrund der – seit der Gründung verankerten – ethnischen Ausrichtung vieler Moscheegemeinden und ihres erklärten Motivs der Kulturtransmission ist es einerseits nicht verwunderlich, dass solche Moscheegemeinden offensichtlich national ausgerichtete Lernkontexte heranziehen. Sie werden gleichzeitig zu sozialen und kulturellen Lernorten, die als Orte der Rückversicherung und des emotionalen Halts fungieren und auf die Bewahrung der »nationalen Identität« zielen (ebd., S. 111ff.). (An dieser Stelle sei jedoch erneut auf den Aspekt der Generationsverschiebung und die Dekonstruktionen traditioneller (und reli-

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giöser) Normen- und Wertevorstellungen durch junge Muslim*innen verwiesen [Karakoç 2020a].) Darüber hinaus kann die Dominanz ethnisch orientierten Lernens im religiösen Setting einerseits zu Kollisionen mit Blick auf die Lebenswelten der Schüler*innen führen, andererseits in der gedanklichen Äquivalenzbildung zwischen konstruierter »nationaler Zugehörigkeit« und religiöser Identität resultieren (Karakoç 2019). Solange andere islamische Glaubenspraxen fremd bleiben und eine starke nationale und ethnische Codierung religiöser Lernfelder gegeben ist, bleiben der Aspekt und die Möglichkeit einer Förderung von Ambiguitätstoleranz – sowohl innerislamisch als auch mit Blick auf andere Religionen – mit einem Fragezeichen versehen. Denn – und an dieser Stelle sei ein treffendes Zitat des islamischen Religionspädagogen Harry Harun Behr angeführt – »in der Islamischen Religionspädagogik geht es primär um den ganzen Menschen. Seine von partikularen Interessen gesteuerte Inanspruchnahme, zum Beispiel der Mensch in seiner staatsbürgerlichen Rollenfunktion, ist sekundär« (Behr 2008, S. 54). 3.3.2 Memorieren vs. Reflektieren Das Memorieren von Koransuren und Überlieferungen hat innerhalb der islamischen Tradition einen hohen Stellenwert. Zur Zeit des Propheten Muhammad ˙ herrschte eine mündliche Tradition vor, die auf die große Zahl an Analphabeten zurückgeführt wird. Um die Authentizität des Korans zu gewährleisten, lernten viele Zeitgenossen den Koran auswendig (Ceylan 2010b, S. 249f.). Bis heute nimmt das Memorieren in der religiösen Unterweisung in Moscheegemeinden eine zentrale Rolle ein. Was dabei vernachlässigt wird, ist der reflexiv-kritische Umgang mit religiösen Quellen. Der Unterricht räumt der Auseinandersetzung mit religiösen Quellen keinen Platz ein. Standardisierte Ansammlungen von Glaubensgrundsätzen (z. B. die ˙Ilmihal-Bücher) erschweren den reflexiven Diskurs um religiöse Glaubensinhalte und Deutungsmuster zusätzlich. Diese häufig angeführte Kritik mit Blick auf die Methodik des RUM stellt die Moschee vor unterschiedliche Herausforderungen: 1. Das Memorieren sollte nicht die bevorzugte Unterrichtsmethode sein; aufgrund gemeindeinterner und struktureller Vorgaben neigen Lehrende jedoch vermehrt dazu, das Memorieren in den Vordergrund des Unterrichts zu rücken. 2. Der Mangel an pädagogischer Expertise erschwert den Lehrenden das Entwickeln neuer didaktischer Konzepte. 3. Es fehlen ausreichende Materialien mit didaktisch-methodischen Vorüberlegungen für einen diskursiv angelegten Unterricht.

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4. Das Memorieren hat sich über den Unterricht hinaus auf andere traditionelle Formate (wie beispielsweise Wettbewerbe etc.) ausgebreitet, sodass von Grund auf neue Konzepte durchdacht werden müssen. So sehr das Memorieren als Hindernis für diskursives Denken gilt, ist aus pädagogisch-psychologischer Sicht das Imitieren bzw. die Nachahmung eine wichtige Stufe im Lernprozess. Der Psychologe Bandura beschreibt das Lernen am Modell »als ein sehr wirksames Mittel zur Schaffung abstrakten und regelgeleiteten Verhaltens […]. Auf der Grundlage von Regeln, die sie durch Beobachtungen gewonnen haben, lernen die Menschen unter anderem Urteilsfähigkeit, Sprachstile, Begriffssysteme, Strategien zur Informationsverarbeitung, kognitive Operationen und Verhaltensstandards« (Bandura 1979, S. 50). Das Anhören und Nachahmen des Rezitierten ermöglicht auditives Lernen, das sich vor allem für Lerntypen, die am besten durch Kommunikation und Hören lernen, als effektiv erweisen kann. Sobald aber dieses Lern- und Lehrverfahren in den Fokus der Betrachtung rückt, erhebt sich in politischen (und auch wissenschaftlichen) Auseinandersetzungen die Frage nach der potenziellen Indoktrination durch religiöse Inhalte in einem Unterricht, der keine individuellen Deutungsstrategien zulässt und kritischem Denken keinen Platz einräumt. Neben dem Streben nach einer diskursiven und reflexiven Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten geht es im Kern um die Befähigung der Gläubigen zu religiöser Mündigkeit, die in engem Zusammenhang mit der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Subjekte steht. Für die Erziehung zu religiöser Mündigkeit und kritischem Denken ist folglich die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit von großer Bedeutung (vgl. Sarıkaya 2017). Die Spannung zwischen religiöser Traditionsförderung und -bewahrung und der Erziehung zu Mündigkeit und zu reflexivdiskursivem Denken verweist auf die Notwendigkeit des Überdenkens und der Neuentwicklung einer Unterrichtsmethodik. 3.3.3 Methodik – Didaktik – Spiritualität? Für einen guten Unterricht sind methodische und didaktische Vorüberlegungen bezüglich des zu erreichenden Lernziels unumgänglich. Der Frontalunterricht, der auf der strikten Steuerung und Kontrolle der vorne stehenden Lehrkraft beruht (Gudjons 2006, S. 13), besteht aus drei unterschiedlichen Aktionsformen (Glöckel 2003, S. 60f.), die auch im Frontalunterricht des RUM wiederzufinden sind: – Der darbietende Frontalunterricht ist durch Vorträge und Erklärungen der Lehrkraft gekennzeichnet.

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– Die Frage-Antwort-Runde – in der die Schüler*innen Fragen stellen und die Lehrenden die Fragen beantworten – ist ein Merkmal des zusammenwirkenden Frontalunterrichts. – Lehrkräfte, die Schüler*innen zum Rezitieren und Wiederholen des Memorierten auffordern, machen den Unterricht zu einem auffordernden Frontalunterricht. Somit bedarf der RUM einer methodisch-didaktischen Neujustierung unter Berücksichtigung seiner Lernziele im Sinne einer fundierten und breitgefächerten Moscheepädagogik. Im deutschsprachigen Raum fand der Begriff »Moscheepädagogik« zum ersten Mal im Werk des Religionspädagogen Özdil Verwendung (Özdil 2002). Während diese Einblicke in die Moschee und ihre Räumlichkeiten – im Wesentlichen in Form eines Führungshefts für Moscheebesucher*innen – gibt, zogen darauffolgende Untersuchungen die Unterrichtsräume für eine überprüfende Betrachtung hinsichtlich ihrer Defizite heran – der erwähnte Frontalunterricht als Merkmal des RUM ist ein Beispiel hierfür. Ferner steht die Moscheepädagogik vor der Herausforderung, ihre traditionellen Lehrund Lernstrukturen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse ihrer Gemeindemitglieder neu zu durchdenken. Die Frage, welche Bedeutung dabei spirituellem Lernen beigemessen wird und in welcher Form spirituelles Lernen in den Konzepten berücksichtigt werden kann, wird auch aus religionspädagogischer Sicht zu beantworten sein. Die spirituelle Dimension und das spirituelle Lernen in den Handlungsfeldern wurden bereits zu Beginn des Beitrags als wichtige Bestandteile religiösen Lernens beschrieben. Im übergeordneten Sinne – philosophisch und psychologisch – wird Spiritualität als »ein Bestreben, sich mit den metaphysischen oder transzendenten Dingen des Lebens, mit einer höheren Kraft zu befassen« (Krause 2015, S. 4) verstanden. Diese Erfahrungen müssen nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit religiösen Erfahrungen stehen. Doch im religiösen Kontext – und in einem viel engeren Sinn – versteht der katholische Theologe Bitter unter christlicher Spiritualität eine »ausdrücklich gelebte […] christliche Identität« (Bitter 2004, S. 163). Lernende erhalten die Möglichkeit, sich in eine Beziehung zu sich selbst, zur eigenen Umwelt, zu anderen Menschen und zum Transzendenten zu setzen (Boschki & Woppowa 2006, S. 71). In Anlehnung an diese Beschreibung und vor dem Hintergrund der defizitären Didaktik und Methodik des RUM ist die Frage zu stellen, die einst Bitter bewegte: Ist eine Spiritualitätsdidaktik überhaupt möglich? Die Möglichkeit einer spirituellen Didaktik oder – genauer formuliert – einer didaktisierten Spiritualität im Kontext der religiösen Erziehung in Moscheegemeinden stößt aus der Sicht Bitters an Grenzen, denn didaktische Interventionen im Lernraum in Form von Beobachtungs- und Beratungszugriffen stören die private und intime Beziehung zu sich selbst, zum

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Umfeld oder zum Transzendenten (Bitter 2004, S. 165). Aus dieser Perspektive wird sich die Moscheepädagogik in einem Spannungsfeld bewegen – zwischen dem Wunsch, einer Didaktisierung und methodischen Justierungen nachzugehen einerseits und dem Bedürfnis, spirituelles Lernen und spirituelle Erfahrung in ihren Räumen zu ermöglichen andererseits. Dieses Spannungsfeld verweist auf die Notwendigkeit, den Blick auf die bildungstheoretische Rahmung zu weiten, der im Grunde vor didaktischen und methodischen Überlegungen eingenommen werden müsste. Denn vor der Frage nach dem Wie (Methodik) und dem Was (Didaktik) hinsichtlich der Inhaltsbestimmungen gilt es, das Wozu zu klären, was durch eine tiefer gehende bildungstheoretische Überlegung und Festlegung möglich wird (Behr 2008, S. 49). Behr stellt – als bildungstheoretische Grundlage für eine islamische Religionspädagogik – sieben Thesen auf, die er im Kontext des islamischen Religionsunterrichts formuliert (ebd.). Diese können aber auch vor dem Hintergrund des RUM und der religiösen Bildungsräume in Moscheegemeinden durchdacht werden: a) Therapeutik: Der religiösen Bildung in Moscheegemeinden kommt eine therapeutische und begleitende Funktion zu. Sie soll muslimischen Schüler*innen in schwierigen Situationen und angesichts persönlicher Herausforderungen motivierend und heilend zur Seite stehen. An dieser Stelle können therapeutisch angelegte Bildungsprozesse mit spirituellem Lernen und Erfahren zusammenwirken. b) Ganzheitlichkeit: Die religiöse Bildung in Moscheegemeinden versucht die Schaffung von national ausgerichteten und ethnisch dominierten Lernräumen, in denen die Ethnie im Vordergrund steht, zu vermeiden. Es geht hier im übergeordneten Sinne um den Menschen als Individuum. c) Pragmatik: Der Unterricht wird lösungsorientiert und an den realen Bedürfnissen der Schüler*innen ausgerichtet. Die Schüler*innen werden befähigt, sich religiöse Deutungsstrategien anzueignen, Deutungskompetenzen zu erwerben und über den Weg der Meinungsfindung Lösungen für ihre Alltagsprobleme zu erarbeiten. d) Menschlichkeit: Die Schüler*innen lernen, dass dem Islam eine Humanitätsidee zugrunde liegt. Sie lernen, sich als Menschen wahrzunehmen und sich von humanitätsverachtenden Ideen abzuwenden. e) Tugendbezug: Die Schüler*innen verinnerlichen universelle Werte und erkennen sie in ihrem eigenen Religionsverständnis. Behr trifft konkret folgende Untergliederung: »1. Die Erziehung zur Achtsamkeit (ihsa¯n) im Sinne der Wertschätzung des Eigenen wie des Anderen, des Großen wie des Kleinen, des Vertrauten wie des Fremden 2. Die Erziehung zur Nachsicht (luyu¯na) im Sinne des Vergebens und des Verzichts auf Vergeltung

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3. Die Erziehung zum Zutrauen (tawakkul) im Sinne des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten und im Sinne einer daraus resultierenden Gelassenheit.« (Behr 2008, S. 60)

f) Vernunftorientierung: Der Unterricht ist vernunftorientiert. Die Schüler*innen werden befähigt, Positionen, die ihrer Vernunft widersprechen, zu erkennen und zu beschreiben. g) Diskursivität: Die Moschee bildet ihre Schüler*innen zu diskursfähigen und mündigen religiösen Subjekten heran. Der diskursiv angelegte Unterricht zielt nicht allein auf die Verinnerlichung normativer Vorgaben, sondern auf die Erziehung der Schüler*innen zu reflektierenden und mündigen Individuen. Wird für die Entwicklung einer Moscheepädagogik nun ein solches bildungstheoretisches Konzept herangezogen, wird an bestimmten Thesen bereits deutlich, dass für die Verwirklichung der Bildungsziele über den Frontalunterricht hinaus weitere didaktische und methodische Überlegungen anzustellen sind. Über diese theoretischen Überlegungen hinaus sind die Kompetenzen der Lehrenden von Relevanz. 3.3.4 Lehrende Imame und religionsbeauftragte Frauen, die überwiegend aus dem Ausland entsandt werden, sehen sich der Kritik ausgesetzt, ihre Aufgabe nur begrenzt wahrnehmen zu können. Tatsächlich stehen ihre mangelnden Kenntnisse der örtlichen gesellschaftlichen Strukturen, ihre sprachlichen Defizite und (vor allem) ihre Realitätsferne, was die Lebenswelten der muslimischen Schüler*innen angeht, dem Ausschöpfen des maximalen Potenzials als Lehr- und Orientierungspersonen in den hiesigen Gemeinden im Wege. Neben der Tatsache, dass solche Religionsbedienstete nach einem Rotationsverfahren bestellt und nur für eine befristete Zeit (von einigen Monaten bis zu vier Jahren) in die Gemeinden entsandt werden, wird die Behebung von Wissensmängeln zusätzlich durch externe Faktoren und gemeindeinterne Angelegenheiten erschwert (Beilschmidt 2015, S. 155). Das Fehlen von einheitlichen Strukturen und allgemeingültigen Lehrplänen für eine Orientierung der Lehrenden verhindert einen systematischen Wissenszuwachs ebenso wie aufeinander aufbauende Unterrichtsinhalte. Die Festlegung der Reihenfolge der Inhalte obliegt der Eigenverantwortung der Lehrenden; daher stehen sie bei Dienstantritt zunächst vor der Herausforderung, erst einmal den Wissensstand der Kinder zu überprüfen (Karakoç 2019, S. 118).

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4.

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Konzepte, Formate und Entwicklungen zur Unterstützung der religiösen Erziehung und Bildung in Moscheegemeinden

Von Debatten über mögliche Normen- und Wertekollisionen in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft ausgelöste Auseinandersetzungen zwischen Vertreter*innen unterschiedlicher Disziplinen drehten sich bislang im übergeordneten Sinne um die Frage nach der Eignung von Moscheegemeinden als Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, gemessen an gesellschaftspolitischen Kriterien und pädagogisch beschreibbaren Prinzipien. Die Streitfragen sind von unterschiedlichen Wahrnehmungen des Ist-Zustands und diversen Definitionen des Soll-Zustands – einem Spannungsfeld zwischen Selbstbeschreibung/-wahrnehmung und Fremdbeschreibung/-wahrnehmung – geprägt. Aus diesen Dynamiken und Diskursen entstehen (auch weiterhin) Konzepte und Formate zur Unterstützung der religiösen Bildung und Erziehung.

4.1

Lehrende

Lehrenden aus dem Ausland wurden zwecks Schließung ihrer Wissenslücken hinsichtlich gesellschaftlicher, sprachlicher und politischer Gegebenheiten Aufbereitungskurse in verschiedenen Rahmungen angeboten, darunter die Weiterbildungskurse des Instituts für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück (2008–2018) und die Landeskundeseminare der Konrad-Adenauer-Stiftung (seit 2006) (Ceylan 2011, S. 33). Um die Lücken von Grund auf zu füllen, wird seit über einer Dekade über die Ausbildung von Imamen und religionsbeauftragten Frauen in Deutschland diskutiert und über mögliche Konzepte beraten (beispielsweise in Foren wie der Deutschen Islam Konferenz). Deren Umsetzung wird nach wie vor durch Probleme organisatorischer, struktureller und finanzieller Natur erschwert. Um der an ihn gerichteten Kritik entgegenzuwirken, hat der Verband DITIB in Kooperation mit dem Religionspräsidium der Türkei (Diyanet) im Jahre 2006 das »Internationale Theologiestudium« (türk. Uluslararası ˙Ilahiyat Programı, kurz UI˙P) ins Leben gerufen (eine nähere Beschreibung und Forschungseinblicke siehe in Karakoç 2020b). Die in Deutschland oder anderen Ländern sozialisierten jungen Muslim*innen erhalten damit die Möglichkeit, nach dem Abitur in die Türkei zu reisen, um ihr Theologiestudium an den theologischen Fakultäten der Universitäten Ankara, Bursa, Konya oder Istanbul zu absolvieren. Das Studium in der Türkei befähigt sie theoretisch, in den Ländern ihrer Sozialisierung in DITIB-Gemeinden als Imame oder religionsbeauftragte Frauen tätig zu

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werden. Inwiefern sich die Grundidee des »Internationalen Theologiestudiums« in der praktischen Umsetzung widerspiegelt, bedarf noch der Evaluierung.

4.2

Handreichungen und Arbeitsmaterialien

Der Mangel an Lehrplänen und zielgerichteten Inhaltsbestimmungen führte zur Erarbeitung von Leitideen und Rahmensetzungen, die von den Verbänden auf Bundes- oder Landesebene ihren jeweiligen Ortsgemeinden in Form von Handreichungen zur Verfügung gestellt werden. Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüs¸ (IGMG) konzipierte für ihre Moscheegemeinden Lehrpläne für deren sogenannte Vorbereitungs- und Einsteigerkurse (türk. Ana Sınıfı Hazırlık Sınıfları Mu¨fredatı) (IGMG 2017a), für die Mittelstufe (türk. Orta Ög˘retim Mu¨fredatı) (IGMG 2017b), Ferienkurse (türk. Tatil Kursları Mu¨fredatı) (IGMG 2017c), eine Handreichung für Methoden- und Kompetenzbeschreibungen (türk. Temel Eg˘itim Mu¨fredatı) (IGMG 2017d) und zuletzt eine Handreichung für die Erwachsenenbildung (türk. Yetis¸kinler Eg˘itim Kursu Mu¨fredatı) (IGMG 2017e). Außer auf die Formulierung konkreter Unterrichtsziele und Kompetenzbeschreibungen zielen die Handreichungen auf die Aufteilung der Lerngruppen gemäß ihrem Lernstand und dem Alter der Beteiligten. Die Handreichungen zeigen eine deutliche Orientierung an einem schulisch strukturierten Ordnungsrahmen. Nun bedarf es Forschungen, die sie unter religionspädagogischen Gesichtspunkten analysieren. Neben Heften und Handreichungen, die von den Gemeinden selbst erarbeitet werden, kommt auch den Universitäten eine unterstützende Funktion zu. Das Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück erarbeitete in Zusammenarbeit mit dem Museum für Islamische Kunst in Berlin die Handreichung »Kulturelle Bildung in Moscheegemeinden« (IIT 2018), die speziell Multiplikator*innen in Moscheegemeinden anspricht. Mithilfe visueller Abbildungen, kompetenzorientierter Lernziele und entsprechender didaktischer Vorüberlegungen in den Aufgabenstellungen selbst soll insbesondere die Vermittlung religiöser Pluralität unterstützt werden. Aus einem externen Betrachtungswinkel stellt sich dieses Konzept als eines dar, das im Gegensatz zu der vorwiegend ethnisch ausgerichteten religiösen Erziehung in den Gemeinden die Möglichkeit für pluralistisches Lernen eröffnet.

652 4.3

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»Islamischer Religionsunterricht« – »Islamkunde« – »Islamische Religion«

Als Instrument zur Förderung religiöser Bildung außerhalb des Elternhauses und der Gemeinden sei zuletzt der islamische Religionsunterricht (IRU) an Schulen erwähnt. Dieser konstituiert einen weiteren Lernort, der dank staatlich geschaffener Rahmenbedingungen gegenüber anderen Lernorten islamischer Bildung besondere Vorzüge aufweist (wie beispielsweise pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte, kompetenzorientierte Materialien, didaktische Vorüberlegungen und Praktiken sowie inhaltliche Strukturiertheit). Er wird in unterschiedlichen Formaten (»Islamkunde«, »Islamischer Religionsunterricht« oder »Islamische Religion«) – abhängig davon, ob der Unterricht bekenntnisorientiert angelegt ist – in mehreren Bundesländern angeboten. Der Unterricht zielt neben der Vermittlung religiöser Inhalte auf die Herausbildung religiöser Mündigkeit und auf die Befähigung zum konstruktiven, kritischen, diskursiven und dialogischen Denken. Was die Bestimmung der Inhalte des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts angeht, ist der Staat jedoch auf die Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften angewiesen, um nicht dem Gebot seiner Neutralität zu widersprechen. Dafür bedarf es geeigneter Kooperationspartner auf muslimischer Seite, stellt eine solche Zusammenarbeit doch sowohl die staatliche Seite als auch die möglichen Religionsgemeinschaften vor große Herausforderungen – nicht zuletzt deswegen, weil sie aus politischen Gründen nicht unumstritten ist.

5.

Fazit

Die religiöse Bildungsarbeit bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Fremderwartung und Selbstwahrnehmung. Die Neujustierung der Strukturen und der Unterrichtsmethoden bedarf eines umfassenden Verständnisses der religiösen Lernräume in Moscheegemeinden und deren Strukturen – und damit eines erweiterten Blicks. Ohne die bewusste Wahrnehmung der in diesen Räumen herrschenden Spannungsverhältnisse würden die Entwicklungen von einseitigen Erwartungen überfrachtet werden, die dem Ausschöpfen des maximalen Potenzials dieser spirituell-authentischen Lernorte im Wege stünden. Die strikte methodische und didaktische Durchstrukturierung des RUM im schulischen Sinne – ohne dabei die Lernenden ihrer Möglichkeit und ihrer Freiheit zu spiritueller und ästhetischer Erfahrung zu berauben – wird zur Annäherung der religiösen Bildung und Erziehung in Moscheeräumen an das Konzept eines Religionsunterrichts in Schulen führen. Doch im Grunde geht es nicht um die Verschulung des RUM, sondern um die Anhebung und Ausschöpfung seines vorhandenen Potenzials: Moscheeräume ermöglichen Lern-

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prozesse, die im schulischen Religionsunterricht so nicht stattfinden können. So betrachtet stellen der RUM und der IRU einander ergänzende religiöse Bildungsorte dar (Karakoç 2019). Aber auch das Festhalten an den gewohnten Strukturen und Lehrtraditionen wird einem identitätssuchenden und auf eine religiöse Sprache angewiesenen jungen Menschen nicht mehr gerecht (Karakoç 2019, 2020a und 2020b). Umso wichtiger wird die Neuverhandlung der eigenen Lernziele (»Was möchten wir?«) unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Gemeindemitglieder (»Was brauchen sie?«). Die entsprechenden Schritte müssen nicht zwangsläufig aufeinanderfolgen, sie können – in der Art des Reißverschlussprinzips – auch ineinandergreifen. Doch sie sollten in einem sinnvollen Zusammenhang stehen und nach vorne gerichtet sein – nur so werden sich nachhaltige und effektive Lernziele formulieren und entwickeln lassen. Diese neuen Denkprozesse erfordern die Formulierung des eigenen Verständnisses, das sich aus den hiesigen Strukturen und Bedürfnissen herausbilden muss. Die Übernahme fremder Modelle – ob für die praktische Umsetzung oder als Vergleichsbasis für die wissenschaftliche Betrachtung – wird den hiesigen Bedürfnissen nicht gerecht. Die neu zu entwickelnde Moscheepädagogik muss situationsbezogen und unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Entwicklung und Sozialisation muslimischer Kinder erarbeitet werden.

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Fahimah Ulfat

Der Beruf der muslimischen Religionslehrkraft als Gegenstand islamisch-religionspädagogischer Theoriebildung und Forschung

Zusammenfassung Für die systematische Auseinandersetzung mit dem Lehrberuf bieten sich verschiedene theoretisch-konzeptionelle und empirische Ansätze an. Der folgende Beitrag, dessen Inhalt die Bestimmung des Berufs der muslimischen Religionslehrkraft ist, skizziert zunächst theoretische Ansätze, deren Wurzeln in der klassischen Zeit des Islams liegen (1.). Anschließend wird der empirische Zugang zur Bestimmung des Berufs der Lehrkraft thematisiert, der seinen Ursprung in der erziehungswissenschaftlichen Forschung hat und im islamisch-religionspädagogischen Bereich noch weitgehend unerforscht ist. Der Tatsache, dass die erziehungswissenschaftliche Forschung selbstverständlich auch für Forschungen im religionspädagogischen Bereich eine entscheidende Orientierungsgröße darstellt, soll mit der Ausleuchtung des weiten Felds der Lehrkräfteprofessionsforschung Rechnung getragen werden (2.). Den Abschluss des Beitrags bildet die Benennung von Desideraten und Anregungen, was die weitere Forschung betrifft (3.).

1.

Theoretische Ansätze zur Bestimmung des Berufs der muslimischen Religionslehrkraft aus islamisch-theologischer Perspektive

Bildung gilt aus muslimischer Perspektive als integraler Bestandteil des Glaubens. Sie soll dazu dienen, im Diesseits und Jenseits Glück zu erlangen, indem sie den Menschen Gott nahe bringt. Das lebenslange Streben nach Wissen ist ein maßgebliches Prinzip des Korans und der prophetischen Tradition, das auch einem muslimischen Bildungsideal zugrunde liegt (vgl. Günther 2006, S. 368). Dabei umfasst Bildung nicht nur die kognitive, mentale und emotionale Entwicklung des Menschen, sondern auch seine spirituelle Entfaltung. Diese spiri-

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Fahimah Ulfat

tuelle Ebene soll nach der Überzeugung der meisten muslimischen Theolog*innen ihren Ausdruck in einer guten und moralischen Lebensführung finden (vgl. Mohamed 2015, S. 189). Daher wird auch der moralischen Bildung und der Charakterbildung ein hoher Stellenwert zugeschrieben (Ulfat 2019a). Lehrer*innen spielen demnach eine Schlüsselrolle, nicht nur in der Schulung des Intellekts der Schüler*innen, sondern auch in der Begleitung ihrer spirituellen und moralischen Entwicklung. In der formativen Phase des Islams, die in die Zeit zwischen dem frühen siebenten und dem frühen zehnten Jahrhundert datiert wird, war Lehren keine Profession im heutigen Sinne, sondern eine Art »verbal transmission«, die als religiöse Verpflichtung angesehen wurde (Tibawi 1957, S. 82). Ab der Mitte des zehnten Jahrhunderts belegen Bücher über das moralische Verhalten von Lehrkraft und Lernenden, über die Vergütung, die Disziplin, über Bestrafung und Belohnung etc. eine beginnende Professionalisierung des Lehrberufs. Besonderer Wert wurde auf die »Meister-Schüler-Beziehung« gelegt. Die Person der Lehrkraft und der Ruf, den sie genoss, verliehen den Lehrinstitutionen ihre Reputation, wobei es zur etablierten Tradition wurde, dass Studierende von Land zu Land reisten, um ihr Wissen bei bestimmten Lehrkräften bzw. Gelehrten zu erweitern (vgl. Tibawi 1957, S. 85). Sebastian Günther zeigt, dass muslimische Gelehrte bereits in der formativen und dann auch in der klassischen Zeit des Islams (7.–15. Jahrhundert) bedeutende Ideen zur Lehrerrolle entwickelten, auch wenn sie formal nicht als Bildungswissenschaftler im modernen Sinne bezeichnet werden können: »Based on directions provided in the Qur’an and the literature of the prophetic tradition, these works explain and analyze teaching methods, the ways in which learning does or should take place, the aims of education, and how educational goals are to be achieved. These include the actions and behavior of both students and teachers, their (moral) qualities, their relationship with one another in the process of education, didactics (including the organization and contents of learning as well as the curriculum), and the means and methods of imparting and acquiring knowledge« (Günther 2006, S. 368–369). Günther führt beispielsweise Ibn Sahnu¯n (Muhammad ibn Sahnu¯n) (gest. 870) ˙ ˙ ˙ an, der Anweisungen und Ratschläge für Grundschullehrkräfte sowohl in Bezug auf die institutionellen Rahmenbedingungen des Lehrberufs als auch in Bezug auf die Rolle der Lehrkraft formuliert hat. Was etwa das Lehren und Lernen betrifft, so rät Ibn Sahnu¯n den Lehrkräften, die Schüler*innen zu ermutigen, ˙ sowohl individuell als auch im Kollektiv zu lernen, aber auch Situationen zu schaffen, die ihren Intellekt herausfordern (ebd., S. 371). ˇ a¯hiz (ʿAmr ibn Bahr al-G ˇ a¯hiz) (gest. 868) empfiehlt den Lehrkräften, die Al-G ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ rationale Reflexion bei Schüler*innen zu fördern: »The nature of memorization is other than that of deductive reasoning. [However,] what both [memorization

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and deductive reasoning] are concerned with and support is something agreed upon: it is to free the mind and to [make the student] desire only one thing [that is, learning]. By means of these two (i. e., freeing the mind and desiring only to learn), perfection comes to be and virtue appears« (Günther 2006, S. 372; zit. nach ˇ a¯hiz rät den Lehrkräften, die individuelle geistige Geries 1980, S. 62–63). Al-G ˙ ˙ Leistungsfähigkeit der Schüler*innen zu berücksichtigen, eine für Schüler*innen verständliche Sprache zu verwenden, sie sanft und liebevoll zu behandeln und zu versuchen, ihre Herzen zu erreichen (vgl. ebd., S. 373). Sehr umfangreich sind die bildungsphilosophischen Gedanken und Ausführungen von al-G˙azza¯lı¯ (Abu¯ Ha¯mid Muhammad bin Muhammad al-G˙azza¯lı¯) ˙ ˙ ˙ (gest. 1111).1 Obwohl für ihn Lernen eine Tugend um ihrer selbst willen ist, sei der Zweck allen Lernens die Eröffnung eines Weges zur Erkenntnis und Liebe Gottes. Dieses Wissen ist nach al-G˙azza¯lı¯ das edelste und höchste aller anzustrebenden Lernziele, was aber nicht bedeute, dass andere profane Wissenszweige, sofern sie helfen, dieses Ziel zu erreichen, vernachlässigt werden sollten. Und auch wenn er die Lehrkraft im Lernprozess für unentbehrlich hält, legt er dennoch großen Wert auf die persönliche Anstrengung und Bemühung der Schüler*innen. Daher arbeitete er Verhaltenskodizes sowohl für Schüler*innen als auch für Lehrkräfte aus (vgl. Tibawi 1957, S. 87–88). Für seine Erkenntnistheorie und Bildungstheorie greift al-G˙azza¯lı¯ auf die aristotelische Trennung zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften zurück. Die Aufgaben der Lehrkraft fallen unter die praktischen Wissenschaften, da sie die religiöse und moralische Praxis betreffen. Al-G˙azza¯lı¯ kombiniert die platonische mit einer religiösen und mystischen Tugendethik, in der Annahme, dass diese beiden Tugenden zur Kultivierung bzw. Reinigung des Selbst führen, was er als einen Schlüssel zur intuitiven Gotteserkenntnis ansieht (vgl. Mohamed 2015, S. 190). Was die Verhaltenskodizes für Lehrkräfte angeht, ist ihm wichtig, dass die Lehrkraft die Schüler*innen wie ihre eigenen Kinder behandelt, ihnen mit Empathie begegnet, sie sanft ermahnt und nicht rügt und sie ihren Fähigkeiten entsprechend fördert (vgl. Tibawi 1957, S. 87–88). Die Lehrkraft soll für ihre Lehre keine Entlohnung verlangen und kein Lob, sondern sie allein Gott zuliebe ausüben. Sie soll dem Beispiel des Propheten folgen und gegenüber dem Weltlichen eine Haltung der Distanziertheit wahren. Die Lehrkraft soll nicht abwertend über andere Fächer sprechen, um ihre Schülerschaft darauf vorzubereiten, auch andere Wissensgebiete zu erschließen. Sie soll bemüht sein, den Schüler*innen Erfolgserlebnisse zu ermöglichen, um Freude am Lernen sicherzustellen, und deshalb Materialien wählen und Prüfungen entwerfen, die die 1 Yasien Mohamed legt ausführlich dar, dass die Ausführungen von al-G˙azza¯lı¯ auf denen von arRa¯g˙ib al-Isfaha¯nı¯ (gest. 1060) basieren und von ihnen inspiriert wurden (vgl. Mohamed 2015). ˙

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Schüler*innen nicht überfordern. Schließlich soll die Lehrkraft Vorbild sein, indem sie ihre eigenen Lehren praktiziert und vorlebt und ihren eigenen Worten nicht mit ihrem Verhalten widerspricht (vgl. Günther 2006, S. 384–385). Für al-G˙azza¯lı¯ ist der Beruf der Lehrkraft nicht Selbstzweck, sondern Dienst am Wohlergehen und Nutzen der Gesellschaft, weil die Arbeit der Lehrkraft zur Reinigung bzw. Kultivierung des Selbst (tazkı¯ya)2 führt – und diese ist für ihn die Bedingung für das jenseitige Glück (vgl. Mohamed 2015, S. 200). Ein weiterer origineller Denker ist Ibn Haldu¯n (Walı¯ ad-Dı¯n ʿAbd ar-Rahma¯n ˙ ˘ ibn Muhammad Ibn Haldu¯n al-Hadramı¯) (gest. 1406), der in seiner Philosophie ˙ ˙ ˙ ˘ der Bildung den Menschen als »soziales Tier« ansieht, das mit der Fähigkeit zu denken ausgestattet ist (Tibawi 1957, S. 89–90). Lernen und Bildung sind nach Ibn Haldu¯n für das zivilisierte Leben unabdingbar: »[E]ducation is a social ˘ phenomenon and teaching is one of the social crafts; man is a social animal and his prosecution of learning is conditioned by the nature of the material, intellectual and spiritual forces of the civilization in which he lives« (Tibawi 1972, S. 42). Grundlage des Lernens ist Ibn Haldu¯n zufolge die Vernunft. Sie ermögliche es ˘ dem Lernenden, die Bedeutung des Gesprochenen und Geschriebenen zu erfassen und daraus neue Gedanken abzuleiten. Sie erlaube ihm auch, Beziehungen zwischen verschiedenen Sachverhalten herzustellen. Ibn Haldu¯n betont also ˘ ebenfalls die Fähigkeit des Menschen, eigenständig zu lernen, indem er seine Vernunft gebraucht. Aber wie für al-G˙azza¯lı¯ ist auch für ihn die Führung Gottes unabdingbar, der den Weg der Lernenden »erleuchtet« (Tibawi 1972, S. 42–43). In Bezug auf das moralische Verhalten der Lehrkräfte und ihre methodische Vorgehensweise ist er wie al-G˙azza¯lı¯ der Meinung, dass Schüler*innen von ihren Lehrkräften mit Mitgefühl und Respekt behandelt und ermutigt werden sollen, auf der Suche nach Wissen zu reisen, um ihren intellektuellen Horizont zu erweitern. Die Lehre soll der Leistungsfähigkeit der Schülerschaft angepasst und Wissen schrittweise vermittelt werden (vgl. Tibawi 1957, S. 90). Sowohl bei al-G˙azza¯lı¯ als auch bei Ibn Haldu¯n liegt der Fokus auf dem mo˘ ralischen Aspekt der Bildung und auf dem moralischen Verhalten der Lehrkräfte. Ethik im Sinne al-G˙azza¯lı¯s ist eine zu erlernende praktische Wissenschaft und ein Schlüssel zu wahrer Bildung, die zu einer intuitiven Erkenntnis Gottes führen kann. Diese Erkenntnis wird erreicht, wenn die Seele von Lastern gereinigt und mit Tugenden kultiviert und so für die Gotteserkenntnis empfänglich wird. Die Lehrkräfte sollten daher nicht nur lehren, sondern auch die moralischen Tugenden verkörpern und sie an ihre Schüler*innen weitergeben, bis sie deren Handeln implizit leiten. Diese Bildungsgedanken basieren auf dem aristoteli-

2 Zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Thema der tazkı¯ya vgl. Ulfat (2019b).

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schen Erbe, das al-G˙azza¯lı¯ religiös wendet, indem er das Ziel der Kultivierung des Selbst auf die Gotteserkenntnis ausrichtet (vgl. Mohamed 2015, S. 205). Klassische muslimische Denker wie al-G˙azza¯lı¯ und Ibn Haldu¯n haben eine ˘ bestimmte Vorstellung vom Prozess der religiösen Entwicklung des Menschen, die sie aus dem Koran und der prophetischen Tradition ableiten und die auch für den heutigen Kontext fruchtbar gemacht werden kann. »They agree that man […] is an imperfect being, but that he holds within himself the potential for union with God and for the realization of his highest nature« (Lapidus 1984, S. 56). Es geht um das Erreichen einer ethischen und tugendhaften Haltung, die im Prozess einer »Vervollkommnung« erlangt werden soll, die sowohl für das diesseitige als auch für das jenseitige Glück unabdingbar ist. Nach Ibn ʿArabı¯ (Muhyı¯ d-Dı¯n Abu¯ ʿAbd Alla¯h Muhammad ibn ʿAlı¯ Ibn ˙ ˙ ʿArabı¯ al-Ha¯timı¯ at-Ta¯ʾı¯) (gest. 1240) wird der Mensch aufgrund seiner Wesen˙ ˙ ˙ heit bzw. seiner menschlichen Natur als vollkommen angesehen, da sich in ihm die Namen bzw. Eigenschaften Gottes manifestieren. Wahre »Vollkommenheit« erlange er jedoch erst, wenn er sich aus seiner Freiheit heraus Gott zuwendet, um mit ihm eins zu werden (vgl. Rahmati 2007, S. 83–84). Um diese Vollkommenheit zu erreichen, bedarf es der Kultivierung des Selbst (tazkı¯ya). Eine erste Ebene der Persönlichkeit, die einer Kultivierung bedarf, bezieht sich auf »äußere Qualitäten« wie »gute Taten«, die als grundlegende Mittel zur Vervollkommnung des Selbst angenommen werden. Eine zweite Ebene markiert die »inneren Qualitäten«, wie die wahren Absichten und die Güte des Herzens (Lapidus 1984, S. 58). Die dritte Ebene, die einer Kultivierung bedarf, ist der Erwerb von Wissen über die Lehren des Korans und des Propheten, die die Grundlage für die Entwicklung eines guten Charakters und für moralisches Handeln bilden. Die spirituelle Kultivierung des Selbst (tazkı¯ya) ist ein immerwährender Prozess, der individuell verläuft (vgl. ebd., S. 59). So beschreibt Ira Lapidus das Konzept von adab, in dessen Prozess die Kultivierung und Bildung des Selbst stattfindet, um es in die Lage zu versetzen, das Wissen um die Einheit Gottes und das ewige Glück zu erlangen: »The ideal is rather adab – a cultivated way of living in the world, without being absorbed by the world or fleeing from it. It is a life journey toward self-realization and religious salvation that can only be achieved by cultivating clear vision, ethical responsibility, honorable relations with one’s fellow man, and sincere worship« (ebd., S. 60–61). Aus islamisch-religionspädagogischer Perspektive stellt gerade für den »cultivated way of living« die Person des Propheten Muhammad eine zentrale Ori˙ entierung dar. Er gilt als derjenige, der zu Lebzeiten absolut vertrauenswürdig in Fragen des Wissens um die menschliche Existenz in ihrer Beziehung zum Göttlichen war. Seine Nähe zur Quelle des göttlichen Wissens gilt als unvergleichlich (vgl. Stelzer 2008, S. 162). Um die im Koran beschriebenen Werte, die

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gleichzeitig Eigenschaften Gottes sind, realisieren zu können, ist daher die Person des Propheten Muhammad zentral. Die Aufgabe der Propheten – und damit ˙ der Lehrkräfte – besteht darin, den Menschen zu lehren und zu läutern, indem sie ihm zeigen, wie er sein Selbst kultiviert. Daher sind die Lehrerpersönlichkeit und die moralische und spirituelle Haltung der Lehrperson ein entscheidender Aspekt für das Bild der Lehrer*innen in bildungstheoretischen Überlegungen. Die Ideen dieser Denker dominierten und inspirierten das muslimische Bildungsdenken bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Abdul Latif Tibawi zufolge wurden der Bildungsphilosophie durch spätere Autor*innen keine grundlegend neuen Ideen hinzugefügt (vgl. Tibawi 1972, S. 41). Harry Behr ist einer jener muslimischen Religionspädagog*innen, die dieses Ideal des prophetischen Lehrers neu aufgreifen. Auch ihm dient der Koran als Basis, aus der er Lehren und Lernen als »prophetische Berufung« ableitet (Behr 2009, S. 164). Gerade was die Kultivierung des Selbst betrifft, stehe, so Behr, die intrinsische Motivation des Menschen im Vordergrund, »also die Frage nach der Selbstregulierung des Verhaltens auf der Grundlage subjektiver religiöser Motive« (ebd., S. 168). Behr nimmt eine Reformulierung des Ideals eines prophetischen Lehrers für den zeitgenössischen Kontext vor: Der Lehrende »lebt die Religion vor, indem er durch sein Handeln ihren ethischen und spirituellen Gehalt erkennbar werden lässt. Er lehrt die Religion und deutet die Welt in ihrem Licht. Er leitet seinen Schüler zur Gestaltung der religiösen Lebensweise an. Dabei hat er den Schüler als ganzen Menschen, sein Anrecht auf ein glückliches Leben sowie sein individuelles religiöses Potenzial im Blick. Er verhilft ihm dazu, dieses Potenzial bestmöglich zu nutzen. Er vermittelt Kenntnisse, übt Fertigkeiten ein und bahnt Fähigkeiten an, die den Schüler in den Stand setzen, sein Verhältnis zur Botschaft von Gott selbstverantwortet und frei zu bestimmen« (ebd., S. 171). Die skizzierten Positionen sind freilich nicht als Beschreibung realen Lehrerhandelns und realer Lehrerpersönlichkeiten zu betrachten. Sie sind theoretische Formulierungen von Merkmalen einer guten bzw. erfolgreichen Lehrkraft aus islamisch-theologischer Perspektive. Sie stellen religiöse Leitvorstellungen dar, in denen die spirituelle Dimension im Vordergrund steht. Diese Beschreibungen bedürfen weiterer Konkretisierung, empirischer Validierung und der Einbindung in aktuelle Debatten der Lehrerprofessionsforschung.

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2.

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Empirische Forschungsansätze zur Bestimmung des Berufs der Religionslehrkraft

Bildungstheoretische Arbeiten wie die bereits skizzierten versuchen die Anforderungen an die Rolle, die Aufgabe, aber auch die Persönlichkeit der Lehrkraft theoretisch zu bestimmen. Sie sind also normativ orientiert. Sie »zeichnen den Lehrer allesamt als eine einheitliche, ideale Größe, dem hohe Erwartungen gegenübergebracht werden« (Cramer 2016, S. 51). Im Gegensatz dazu werden in empirischen Forschungsansätzen zur Bestimmung des Lehrberufs Lehrkräfte nicht als einheitliche Gruppe gesehen. Die Fragen danach, welche professionellen Kompetenzen muslimische Religionslehrkräfte erwerben sollen, wie ihre Rolle definiert wird, welche Persönlichkeitsmerkmale für das Lehrerhandeln leitend sind und welche Einstellungen und Haltungen sie zum Religionsunterricht, zu den Schüler*innen und zu bildungspolitischen Fragen haben, können über solche Forschungen rekonstruiert werden. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen wären von grundlegender Bedeutung für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von muslimischen Religionslehrkräften und für die empirische Fundierung religionspädagogischer Theoriebildung. Sowohl für die christliche als auch für die muslimische religionspädagogische Professionsforschung stellt die erziehungswissenschaftliche Forschung eine entscheidende Orientierungsgröße dar. Colin Cramer stellt deren Ansätze, wie beispielsweise den Lehrerpersönlichkeitsansatz und den Ansatz der Professionalität, in seiner Arbeit zur Systematisierung der Forschung zum Lehrerinnenund Lehrerberuf vor (vgl. Cramer 2016). Allerdings lassen sich die Konzepte und Ansätze nicht eins zu eins auf den Beruf der Religionslehrkraft übertragen. Sowohl bildungstheoretisch als auch bildungsgeschichtlich muss die Eigenlogik dieser Profession durchleuchtet werden (vgl. Simojoki, Schweitzer, Parker & Freathy 2016, S. 140–141). Der islamischen Religionspädagogik kann die Forschung in der christlichen Religionspädagogik eine Orientierung bieten. Seit den 1970er-Jahren gibt es zahlreiche empirische Untersuchungen zu christlichen Religionslehrkräften und auch zur christlichen Religionslehrerbildung. Zu nennen sind beispielsweise berufsbiografische Forschungen wie die von Andreas Feige et al. (vgl. Feige, Dressler, Lukatis & Schöll 2001). Eine Vielzahl von Studien wurde in den letzten Jahren zu Erwartungen an den Unterricht, zu Zielsetzungen sowie Erfahrungen mit dem Unterricht, aber auch zu Einstellungen zum Religionsunterricht und zu (bildungs-)politischen Fragen und Orientierungen durchgeführt (vgl. z. B. Bakker & Heimbrock 2007; Everington 2016;

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Pohl-Patalong, Woyke, Boll, Dittrich & Lüdtke 2016; Rothgangel, Lück & Klutz 2017; van der Want, Bakker, ter Avest & Everington 2009; Ziebertz & Riegel 2009). Untersuchungen zur Religionslehrerbildung wie das fächerübergreifende Regensburger Projekt »FALKO« liefern aufschlussreiche Erkenntnisse, was die Modifikation und Optimierung der Ausbildung betrifft (vgl. Krauss et al. 2017). Des Weiteren ist jene Forschung zu nennen, die sich an der Habitus-Konzeption von Bourdieu orientiert und darauf aufbauend die professionelle Haltung von Religionslehrkräften untersucht (vgl. Heil & Riegger 2017). Die Professionalisierung von Religionslehrkräften und des Religionslehrerberufes wird in jüngster Zeit ebenfalls diskutiert und erforscht (vgl. Burrichter et al. 2012; Simojoki et al. 2016). Auch religiöse Selbst-Positionierungen von Religionslehrkräften werden aus empirischer Perspektive untersucht (vgl. Heimbrock 2017). Einen guten Überblick über die Religionslehrkräftebildung bieten Schweitzer, Boschki & Ulfat (2020). Zur Veranschaulichung des Potenzials empirischer Forschungen zur Bestimmung des Berufs der Religionslehrkraft soll im Folgenden zunächst ein Forschungsprojekt skizziert werden, das sich mit der religiösen Selbst-Positionierung von evangelischen Religionslehrkräften befasst, und anschließend ein erstes Forschungsprojekt, das die religiösen Überzeugungen und Selbstverortungen muslimischer Religionslehrkräfte rekonstruiert. In einem Projekt zur religionspädagogischen Professionsforschung sind Hans-Günter Heimbrock und Felix Kerntke der Frage nachgegangen, »wie Religionslehrkräfte mit Positionsbildung zu letzt-verbindlichen Fragen für sich persönlich umgehen, wie sie dies als eine Position im Unterricht verstehen und wo sie sie in der Praxis umsetzen« (Heimbrock & Kerntke 2017, S. 31–32). Ihr zentrales Konstrukt ist die »gelebte Konfessionalität«, die quantitativ (OnlineFragebogen mit 107 Items) und qualitativ (Leitfadeninterviews) erforscht wurde. Ausgewertet wurden die qualitativen Interviews mithilfe der »Critical Incident Analysis«, die angepasst wurde, um einen Zugang zum Profil der gelebten Konfessionalität der Lehrpersonen zu gewährleisten (ebd., S. 35). Im Kern kommt die Studie zu folgendem Ergebnis: »Die beforschten RULehrkräfte können die Konfessionalität ihres Unterrichts leben bzw. praktizieren, aber (zunehmend) weniger darüber sagen. Das heißt: Professionelles Handeln und dessen theologische Begründung fallen tendenziell auseinander. Das bedeutet eine Schwächung im evangelischen Profil einer für die Weitergabe eines evangelischen Profils zentralen Berufsgruppe der Kirche« (ebd., S. 36). Für die Lehrer*innenbildung haben die Ergebnisse der Studie grundlegenden Wert. Heimbrock und Kerntke plädieren für eine Änderung der Religionslehrer*innenausbildung: Angehende Lehrkräfte sollen während des Studiums »Gelegenheiten zu einer sekundären religiösen Sozialisation« erhalten, um Kompetenzen im Umgang mit »Position und Differenz« zu erwerben. Des Wei-

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teren sollen ihnen »Möglichkeiten des Erwerbs einer elementartheologischen Sprachfähigkeit« geboten werden. Diese und weitere Anregungen sollen ihnen helfen, »überzeugend Position beziehen zu können« (ebd., S. 71). Eine erste Untersuchung zu muslimischen Religionslehrkräften in Deutschland geht in eine ähnliche Richtung wie die von Heimbrock und Kerntke. Die Studie von Margit Stein, Rauf Ceylan und Veronika Zimmer – Einstellungen, Wertorientierungen und Erziehungserfahrungen (angehender) muslimischer Religionslehrkräfte – erfasst mittels einer qualitativen Erhebung die wertebezogenen, religiösen, politischen und genderbezogenen Überzeugungen von muslimischen Religionslehrkräften und Studierenden mit dem Berufsziel der islamischen Religionslehrkraft. Dabei spielen auch die religiösen Selbstverortungen eine entscheidende Rolle. Die Studie wurde in den Jahren 2015–16 mit 34 muslimischen Religionslehrer*innen und Lehramtsanwärter*innen am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück durchgeführt. Als Erhebungsmethode wurde ein leitfadengestützter, semi-strukturierter Fragebogen eingesetzt, als Auswertungsmethode die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring. Es konnten drei Typen religiöser Orientierungen herausgearbeitet werden: – der Typ der »Religion-Neuentdecker*innen bzw. unreflektierten Wissensvermittler*innen«, der seine Religiosität eher durch Übernahme der tradierten Religiosität der Eltern begründet; – der Typ der »Religion-Verteidiger*innen bzw. Vermittler*innen zwischen dem Islam und der Gesellschaft«, der sich bereits in der Jugend eigenständig vertieft mit der Religion auseinandergesetzt hat und den Kontakt zur Gesellschaft sucht, um über den Islam aufzuklären und sich auch von extremistischen Sichtweisen zu distanzieren; – der Typ der »Religion-Reflektierer*innen bzw. Kritiker*innen«, der sich ebenfalls bereits im Jugendalter mit der Religion auseinandergesetzt hat und deutlich zwischen Religion und Tradition unterscheidet. Dieser Typ hinterfragt seine eigenen Einstellungen und befindet sich in einem kontinuierlichen Prozess der Reflexion (Zimmer, Ceylan & Stein 2017, S. 359–361). Was die religiösen Überzeugungen der (angehenden) Lehrkräfte betrifft, so konstatieren die Autor*innen eine »mittlere bis stark ausgeprägte Religiosität bei allen Typen«. Es konnte zudem bei einem Teil der Interviewten »eine nur gering ausgeprägte Reflexion eigener religiöser Überzeugungen« festgestellt werden (ebd., S. 361). Die Autor*innen empfehlen, in der Lehrer*innenausbildung über die Wissensvermittlung hinaus die Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung mit der Religion vorzusehen (vgl. ebd., S. 362). Auch was die genderbezogenen Überzeugungen betrifft, zeigen die verschiedenen Typen Unterschiede (vgl. Ceylan, Stein & Zimmer 2019): Die »Religion-

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Neuentdecker*innen« beharren darauf, dass Männer und Frauen unterschiedlich sind, und weisen dementsprechend den Geschlechtern traditionelle Rollen zu, fordern dabei aber die gerechte Behandlung beider Geschlechter. Bei der Wahl der Partnerin/des Partners spielen sowohl die Religion als auch der kulturelle Hintergrund eine wesentliche Rolle (vgl. ebd., S. 17–18). Die »ReligionVerteidiger*innen« hingegen plädieren dafür, die traditionelle Rollenverteilung in der Familie an die aktuelle und erlebte Gegenwart und die Bedürfnisse der Familienmitglieder anzupassen. Bei der Wahl der Partnerin/des Partners spielt die Religion eine wichtige Rolle, jedoch nicht der kulturelle Hintergrund (vgl. ebd., S. 19–20). Die »Religion-Reflektierer*innen« versuchen, die traditionellen Rollenverteilungen, die ihrer Meinung nach anerzogen sind, aufzubrechen. Bei der Wahl der Partnerin/des Partners spielen aber weniger Glaube oder Kultur als vielmehr Wertevorstellungen eine Rolle (vgl. ebd., S. 21–22). Alle Typen betonen die Pflicht des Mannes, finanziell für die Familie zu sorgen. Besonders wichtig sind allen Typen das Ehrenamt und die Rolle der Frau im Ehrenamt für die Gesellschaft. Auffällig ist, dass Frauen eine konservativere Haltung einnehmen. Der Frage nach der Ursache dafür wollen die Forscher*innen noch nachgehen (vgl. ebd., S. 23). Für das Studium folgt aus diesen Ergebnissen die Forderung nach einem stärkeren Einbezug genderbezogener Problemstellungen, um traditionelle Rollenvorstellungen kritisch hinterfragen zu können, wobei der kritischen Selbstreflexion der angehenden Lehrkräfte generell deutlich mehr Raum gegeben werden muss (vgl. ebd., S. 25).

3.

Ausblick

Wie gezeigt, liegt das Potenzial der empirischen Forschungen darin, handlungsleitende Orientierungen und subjektive Einstellungen und Haltungen der (angehenden) Lehrkräfte zu rekonstruieren und aus den Ergebnissen konkrete Anregungen für die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften abzuleiten. Weiterhin sind empirische Forschungen notwendig, die das Fachwissen und fachdidaktische Wissen der Lehrkräfte in den Blick nehmen, sowie auch weitere Dimensionen professioneller Handlungskompetenzen von Lehrkräften, wie sie beispielsweise von Jürgen Baumert und Mareike Kunter formuliert wurden (vgl. Baumert & Kunter 2006). Zwei Arbeiten zur Professionalität von Lehrkräften des islamischen Religionsunterrichts sind vor kurzem erschienen (vgl. Tuna 2019; Kamcili-Yildiz 2021). Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass es gerade für die Lehrer*innenausbildung Standards geben muss, die beschreiben, welche Kompetenzen es in diesem Bereich zu erwerben gilt. Im Gegensatz zu den Standards für die

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Lehrer*innenbildung, die die beiden großen Kirchen verfasst haben (vgl. Die Deutschen Bischöfe 2011; Evangelische Kirche in Deutschland 2008) und die in die Vorgaben der Kultusministerkonferenz (vgl. Kultusministerkonferenz 2018) eingegangen sind, gibt es von muslimischer Seite dazu noch keine analogen Vorgaben (vgl. Schweitzer et al. 2020). Die Ausbildung muslimischer Religionslehrkräfte muss eine Qualität erreichen, die jener aller anderen Fächer entspricht. Für die Erreichung dieses Ziels sind daher insbesondere Standards für die Ausbildung und Forschungen zur Professionalität von muslimischen Religionslehrkräften notwendig. Dazu bedarf es einerseits empirischer Forschungen und andererseits bildungstheoretischer Überlegungen, die die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen einer stark pluralisierten Gesellschaft, die Migrationssituation, die Genderfrage und moderne Erkenntnisse der islamischen Theologie in gleichem Maße in den Blick nehmen. Die empirische Forschung zum Beruf der muslimischen Religionslehrkraft steckt noch in den Kinderschuhen. Sie ist jedoch unerlässlich für die Professionalität der muslimischen Religionslehrkräfte und stellt für die Ausbildung von Lehrkräften für den islamischen Religionsunterricht eine unverzichtbare Basis dar. Eine an der Erziehungswissenschaft orientierte Lehrerprofessionsforschung in der islamischen Religionspädagogik darf sich nicht darauf beschränken, deduktive klassische bildungstheoretische Gedanken wie die von al-G˙azza¯lı¯ oder Ibn Haldu¯n oder moderne wie jene von Harry Behr über die Empirie zu reflek˘ tieren, zu validieren und zu ergänzen, sondern muss auch empiriebasierte Theorien über das Lehrerhandeln generieren. Eine empirische Durchdringung des Berufs der muslimischen Religionslehrkraft ist unverzichtbar für eine islamische Religionspädagogik, die sich als wissenschaftliche Disziplin in der deutschen Hochschullandschaft etablieren und konsolidieren will.

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Islam und Citizenship

Zusammenfassung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Citizenship und ihrer Relevanz für pluralistische Gesellschaften mit besonderem Augenmerk auf die Vereinbarkeit von Citizenship und Islam. Zu Beginn wird der Frage nachgegangen, was unter Citizenship zu verstehen ist, woraus sich diese zusammensetzt und wie sie sich als Unterrichtsfach gestaltet. Auf einen Überblick über die Art und Weise ihrer Vermittlung in unterschiedlichen Ländern folgen Überlegungen dazu, wie Citizenship die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Glaubensbekenntnisse bilden kann. Anschließend werden die öffentlichen und islamischen Schulen in mehrheitlich muslimischen Ländern hinsichtlich des Unterrichtens von Citizenship betrachtet. Danach widmet sich der Beitrag der Lage muslimischer Schüler*innen in westlichen Ländern, insbesondere in Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden. Im Anschluss daran wird der Frage nachgegangen, wie sich die Citizenship mit islamischen Prinzipien vereinbaren lässt. Der Beitrag schließt mit Schlussfolgerung und einem Ausblick.

1.

Was ist Citizenship?

Die Citizenship hat im 21. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen, da die Globalisierung, einschließlich der zunehmenden Migration, die Spannungen zwischen liberaler Demokratie und ethnischem Nationalismus verstärkt hat. Weil ein Hauptziel der Citizenship darin besteht, ethnische oder religiöse Gewalt zu verhindern, haben einige Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und der Vereinten Nationen das Konzept der Citizenship auf die Menschenrechte ausgeweitet. Die Citizenship als verpflichtendes Schulfach geht auf einen Vorschlag der britischen Labour Party aus dem Jahr 2002 zurück. Damit sollte auf Ereignisse wie die »Rushdie-Affäre«, den Fall der Berliner Mauer und den deutlichen An-

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stieg der muslimischen Bevölkerung in Großbritannien reagiert werden. Während das zuvor präferierte Konzept einer multikulturellen Bildung ganz allgemein darauf abzielte, persönliche Autonomie und Bürger*innenrechte zu fördern, antwortete die Umsetzung der Citizenship auf den konkreten Rückgang der demokratischen Beteiligung und zunehmende soziale Unruhen. Jüngere Nationen, aber auch andere Länder mit neuen Einwander*innengruppen erkannten gleichermaßen die Notwendigkeit, ihre Bevölkerung in Bezug auf gemeinsame Werte wie bürgerschaftliches Engagement zu vereinen. Der technologische Fortschritt in Kommunikation und Personenverkehr hat dazu geführt, dass Individuen immer weniger an einen einzigen Lebensmittelpunkt oder eine abgrenzbare Identität gebunden sind. Die Einführung der Citizenship korrespondierte demnach mit einer allgemeinen Neuverhandlung des Konzepts der Citizenship. »Bürger*in zu sein« verweist heute sowohl auf einen Rechtsstatus, mit dem Rechte und Pflichten verbunden sind, als auch eine imaginäre Vorstellung von Identität oder Zugehörigkeit. Der überwiegende Teil der Literatur zum Thema »Islam und Bildung« macht deutlich, dass die Loyalität gegenüber einem Staat nicht in Widerspruch zu den islamischen Glaubenslehren stehen muss, da sich die meisten Menschen sowohl ihrer Religionsgemeinschaft als auch ihrer jeweiligen Zivilgesellschaft zugehörig fühlen. Hinsichtlich dessen, was unter »Citizenship« verstanden wird, lassen sich in den verschiedenen Konzepten nur wenige Unterschiede ausmachen, ganz gleich, ob diese staatlich oder privat, religiös oder nichtreligiös begründet sind. Professionell ausgebildete Lehrer*innen sowie Lehrpläne, auf die sowohl die Religionsgemeinschaft als auch der Staat Einfluss haben, sind unabhängig vom Kontext erstrebenswert. Lehrer*innen für »Politische Bildung« – egal ob in säkularen, religiösen oder spezifisch islamischen Schulen – teilen die Herausforderung und Verantwortung, der Religionszugehörigkeit Rechnung zu tragen und gleichzeitig eine positive Bürger*innenbeteiligung zu fördern. Das Konzept, die eigene Bevölkerung zu guten Bürger*innen zu erziehen, geht auf die aristotelische Vorstellung einer optimalen politischen Ordnung zurück. Daran anschließend argumentierte John Dewey hinsichtlich moderner Demokratien, dass gebildete Bürger*innen besser informierte Wähler*innen seien. Während in Antike und Mittelalter vor allem die religiösen Institutionen für die Bildung zuständig waren, sind es in der Moderne die Nationalstaaten, welche die bildungspolitischen Rahmenbedingungen schaffen. Heute besteht große Einigkeit über die Bedeutung, die der Vermittlung von Werten wie Patriotismus, Loyalität und Zusammenarbeit durch einen gemeinsamen Lehrplan zukommt. Die Rolle, die den Religionen und speziell dem Islam in der Konzeption von Citizenship zukommt, ist vielfältig und wirft zahlreiche Fragen auf, da die Citizenship selbst an Komplexität gewonnen hat. Grenzüberschreitende Bevölkerungsströme und Kategorien wie race, class und gender führen zur Marginali-

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sierung großer Bevölkerungsschichten. Dies resultierte darin, dass unterkomplexe Vorstellungen des Citizenship-Begriffs immer stärker in die Kritik gerieten (Bridges 1994). Staatenverbunde wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen fördern einen postwestfälischen Begriff der Weltbürgerschaft, der moderne Vorstellungen von politischer Souveränität überwindet (Sassen 2002). Wie aus den Werken von Politikwissenschaftlern wie Ernst Gellner und Benedict Anderson hervorgeht, sind Nationalstaaten, die innerhalb ihrer Grenzen mehrere Sprachen, Ethnien und Religionen vereinen, dazu angehalten, in ihren Bildungseinrichtungen gemeinsame Werte hervorzuheben, um einen sozialen Zusammenhalt zu schaffen und die staatliche Souveränität zu rechtfertigen. Die islamische Religion und die gesellschaftliche Position der Muslim*innen sind sowohl in der muslimischen Welt als auch in pluralistischen westlichen Nationen von eminenter Bedeutung für eine zeitgemäße Deutung der Citizenship. Hier ließe sich einwenden, dass die Lehre eines gesellschaftlichen und politischen Pluralismus umso härter auf die Probe gestellt wird, je mehr Bedeutung der Islam für die Identität eines Nationalstaats hat. Lehrbücher und Lehrpläne islamischer Staaten wie Saudi-Arabien und Pakistan wurden wiederholt dafür kritisiert, negative bis feindliche Ansichten über andere Glaubensrichtungen zu verbreiten bzw. fortzuschreiben (Human Rights Watch 2017; Hoodbhoy 2016). Aus Sorge um die Integration muslimischer Bevölkerungsgruppen in Europa und Nordamerika wurde die Rolle der Citizenship sowohl in öffentlichen als auch in islamischen Privatschulen einer genaueren Prüfung unterzogen. Citizenship ist kein statisches Phänomen, sondern wird im öffentlichen Raum immer wieder neu verhandelt. Im Jahr 2002 wurde »Citizenship Education« (CE) in Großbritannien zu einem gesetzlich vorgeschriebenen Schulfach. Behandelt werden darin gesellschaftliche und politische Probleme wie die Einbeziehung von Diversität und die Schaffung eines nationalen Konsenses. In jüngerer Vergangenheit haben sich die Mitgliedsstaaten der EU dazu verpflichtet, »Citizenship« in irgendeiner Form in die Lehrpläne aufzunehmen. Das gesteigerte Interesse an den Rechten und Pflichten von Bürger*innen wurde auch dadurch evident, dass das Jahr 2013 zum »Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger« erklärt wurde. Andere Länder des Commonwealth wie Kanada und Australien legen ebenfalls verstärkt Wert auf dieses Thema (Ajani 2015, S. xiv). Auch in mehrheitlich muslimischen Ländern wurde in den letzten zehn Jahren eine Form der Citizenship-Bildung eingeführt. Auf diese Weise hat ein Konzept der Citizenship, das Gefühle der Loyalität und Verantwortung gegenüber dem Heimatland miteinschließt, erheblich mehr Aufmerksamkeit erhalten, und dies in verschiedenen Kontexten, von Ländern des Nahen Ostens bis zu öffentlichen Schulen und privaten islamischen Schulen in den westlichen Gesellschaften.

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Die Bedeutung der Citizenship ist von Land zu Land unterschiedlich. Malik Ajani unterscheidet drei Formen der Citizenship: 1) bürgerlich-republikanische Citizenship, bei der die aktive Teilhabe der Bürger*innen im Vordergrund steht, 2) liberale Citizenship im Sinne John Rawls’, bei der soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten (a) zum größten Nutzen der am wenigsten Begünstigten abgefedert und (b) von Ämtern und Stellen bearbeitet werden, die allen Beteiligten unter Bedingungen der Chancengleichheit offen stehen, und 3) neoliberale Citizenship, nach der Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitswesen sowie Recht und Ordnung dem privaten Sektor übertragen und den Gesetzen des Marktes überlassen werden. In jüngerer Zeit verfolgen die Vertreter*innen einer multikulturellen, globalen oder kosmopolitischen Citizenship eine Vielzahl von Zielen, Praktiken und Richtlinien, die die gesellschaftliche Anerkennung mehrerer Identitäten, Gruppen und Kulturen unterstützen (Ajani 2015, S. 3f.). Hinsichtlich der Citizenship befürworten die meisten westlichen Länder Lehrpläne, in denen die bürgerlichen Pflichten hervorgehoben werden. Diese schließen ein Bewusstsein für die Eigenverantwortung gegenüber anderen Menschen sowie ein Engagement für die Aufrechterhaltung demokratischer Institutionen und die Freiheiten offener Gesellschaften mit ein. Die UNESCO griff einige dieser Werte bereits in einer Erklärung auf: »Citizenship education can be defined as educating children, from early childhood, to become clear-thinking and enlightened citizens who participate in decisions concerning society. ›Society‹ is here understood in the special sense of a nation with a circumscribed territory which is recognized as a state. A knowledge of the nation’s institutions, and also an awareness that the rule of law applies to social and human relationships, obviously form part of any citizenship education course. Taken in this sense, citizenship education is based on the distinction between: – the individual as a subject of ethics and law, entitled to all the rights inherent in the human condition (human rights); and – the citizen – entitled to the civil and political rights recognized by the national constitution of the country concerned. All human beings are both individuals and citizens of the society to which they belong. Therefore, human rights and citizen rights are interdependent.« (UNESCO 1998)

Eine zentrale Herausforderung der Citizenship besteht gegenwärtig darin, Menschen mit unterschiedlichem ethnischem und religiösem Hintergrund effektiv darauf vorzubereiten, respektvoll zusammenzuleben. Zu den weiteren Aufgaben der Citizenship gehört es, ein angemessenes Verständnis für die Geschichte und die Werte zu vermitteln, die von einer Nation geteilt werden. Die

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Diskussion darüber, welche Narrative und Werte dies im Konkreten sind, kann natürlich zu Kontroversen und Unstimmigkeiten führen. Jørgen S. Nielsen, der über Citizenship in multikulturellen Gesellschaften forscht, beschreibt in seiner Arbeit eine weltweite Verschiebung weg von der Ära des Nationenaufbaus und der Nationenbildung, in der geteilte Narrative eine gemeinsame Identität vermittelten, hin zu neuen und umstrittenen Formen kollektiver Teilhabe, die sich hauptsächlich mit der Beziehung der Bürger*innen zu ihrem Staat befassen. Exemplarisch für solche Transformationen seien beispielsweise der »Arabische Frühling« oder aber der Aufstieg des Rechtspopulismus und -nationalismus in Ost- und Westeuropa. Wie Nielsen feststellt, habe sich die einstige »Politische Bildung« hin zur »Citizenship« entwickelt, deren Parameter derzeit neu definiert werden. Gerade in Deutschland wird die wissenschaftliche Debatte über die geeignete Form der Citizenship noch immer vom Gespenst des Nationalsozialismus bestimmt. Hier hofft man darauf, dass eine gemeinsame europäische Identität dazu beitragen kann, gewalttätige ethnische Konflikte zukünftig zu vermeiden. Vor allem in westlichen Ländern finden derzeit bildungspolitische Debatten darüber statt, ob man an starren Geschichtsnarrativen im Sinne eines nation building festhalten möchte, oder ob Citizenship als ein flexibler und stetig zu erneuernder Gesellschaftsvertrag betrachtet werden soll (Nielsen 2015). Eine Studie zur Citizenship in Bulgarien räumte diesbezüglich ein, dass die Abkehr von einem traditionellen Verständnis der Nationalidentität hin zu einem integrativen Modell dafür gesorgt hat, dass es Minderheiten, einschließlich Muslim*innen, deutlich besser gelingt, sich ihrem Staat zugehörig zu fühlen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (Atanasova 2015). In Westeuropa sind die meisten Muslim*innen relativ junge Migrant*innen. Aus diesem Grund richtet sich die Citizenship an staatlichen Schulen an muslimische Jugendliche, die in europäischen Gesellschaften sozialisiert werden. Darüber hinaus ist sie Teil der Erwachsenenbildung für Einwander*innen, die eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen hoffen. In beiden Fällen kann es zu Spannungen zwischen multikultureller Staatspolitik und einem gemeinsamen Gefühl nationaler Identität kommen. In den USA und Kanada wird Religion nicht als Fach an öffentlichen Schulen unterrichtet. Auch die Citizenship ist an den öffentlichen Schulen der Vereinigten Staaten nicht zentral vorgeschrieben und wird dementsprechend auch nicht von zentraler Stelle aus kontrolliert (Daily 2015). Stattdessen legt jeder USStaat seine eigenen Prioritäten und Lernziele hinsichtlich einer staatsbürgerlichen Bildung selbst fest. Während die Gründerväter der Vereinigten Staaten das Ziel einer solchen Bildung als »kohärente Weltanschauung für ein gemeinsames Verständnis des Gemeinwohls und der für die Demokratie notwendigen Werte« definierten, vertreten Farkas und Duffett in ihrem Buch High Schools, Civics and

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Citizenship (2010) die Meinung, dass sich das Hauptziel dieser Bildung angesichts der Verlagerung des Schwerpunkts in der öffentlichen Bildung in den letzten Jahrzehnten hin zum »persönlichen und beruflichen Fortschritt« verschoben habe. Ein möglicher Grund dafür, dass die Citizenship in den USA als ineffektiv angesehen wird, besteht darin, dass die Ausbildung einer gemeinsamen Weltanschauung schon seit den frühen 1960er-Jahren keine Rolle mehr an den amerikanischen Schulen spielt. Einerseits ist es als positiv zu betrachten, dass ehemals marginalisierte Gruppen nicht gezwungen sind, das Weltbild der Mehrheit zu übernehmen, andererseits ist ein solcher Pluralismus mit einem hohen Preis verbunden. Denn ohne eine gemeinsame Weltanschauung fällt es schwerer, einen gemeinsamen Begriff von Konzepten wie Gerechtigkeit oder Gemeinwohl zu finden (Daily 2015). An den privaten islamischen Schulen in den Vereinigten Staaten, die von etwa drei Prozent der muslimischen Kinder in den USA besucht werden, fand eine Diskussion darüber statt, wie man islamische Werte mit Repräsentationen guter Bürger*innen in Einklang bringen könnte. Obwohl in den Vereinigten Staaten und Westeuropa nur eine Minderheit der muslimischen Bevölkerung eine private islamische Ganztagsschule besucht bzw. besuchen kann (Musharraf 2015a, 2015b), wurden große Anstrengungen unternommen, um positive Aspekte demokratischer Citizenship mit islamischen Prinzipien zu verbinden. Insbesondere nach 9/11 kritisierten zahlreiche Muslim*innen in den USA frühere isolationistische Bestrebungen und die Herabwürdigung der Mehrheitskultur, die gelegentlich in Moscheepredigten und im Umfeld privater islamischer Schulen zu beobachten war. Um dem entgegenzuwirken, lenkten sie den Fokus auf islamische Quellen, die den Patriotismus sowie die Loyalität und Einhaltung der Gesetze des Ortes, an dem man lebt, fördern. Darüber hinaus wurde empfohlen, gesellschaftliches Engagement von nun an als islamische Pflicht zu betrachten. Ähnliche Initiativen, diesmal mit staatlicher Unterstützung, wurden in Großbritannien im Rahmen der »Islam and Citizenship Education« (ICE) durchgeführt. Wenn Ängste bestehen, dass nicht regulierte, private religiöse Schulen oder Heimunterricht einer regierungsfeindlichen Radikalisierung Vorschub leisten, oder dass im Unterricht säkularer Staaten repressive Vorstellungen nationaler Identität vertreten werden, die alternative religiöse Ausdrucksformen ausschließen, dann scheint die Beteiligung der Regierung an der Lehrerausbildung, den Lehrplänen und der Erteilung der Lehrbefugnis an religiösen Schulen ein vielversprechender Mittelweg zu sein, um den sozialen Zusammenhalt und das gesellschaftliche Engagement zu fördern.

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2.

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Öffentliche und islamische Schulen in mehrheitlich muslimischen Ländern

Der Schwerpunkt dessen, was man als »Citizenship« bezeichnen könnte, liegt in den meisten Ländern mit muslimischer Mehrheit auf der Vermittlung von nationaler Identität und Zugehörigkeitsgefühl. Religion spielt hierbei eine zentrale Rolle. Dies kann eine Herausforderung sein, wenn die Grenzen einer ethnischen oder sprachlichen Gemeinschaft nicht mit jenen des Staates in eins fallen. Auch Regimewechsel führen oftmals zu weitreichenden Veränderungen in der Bildungspolitik und in der Definition von Lernzielen. Beispielhaft hierfür steht die erzwungene Säkularisierung der Türkei in den 1920er-Jahren unter Kemal Atatürk, die mit einer landesweiten Umerziehungskampagne einherging. Islamische Bildungseinrichtungen wie Medresen wurden geschlossen und Religion so weit wie möglich aus dem öffentlichen Bereich verbannt. Durch die Betonung der gemeinsamen Sprache sollten Unterschiede in der ethnischen Zugehörigkeit und der religiösen Auslegung überwunden werden. Erst in den letzten Jahrzehnten ist der Islam in die Lehrpläne zurückgekehrt, zum Beispiel durch die erneute Zulassung religiöser Schulen (Imam-Hatip-Schulen) und die Einrichtung von Universitätsinstituten für islamische Theologie. Schon seit Gründung der Republik Türkei wurde Citizenship in der Schule unterrichtet. Doch das Konzept der türkischen Nation und die im Lehrplan verankerte Gleichberechtigung von Frauen sowie von ethnischen und religiösen Minderheiten haben sich im Laufe der Zeit stark gewandelt, wie I˙nce kritisch anmerkt (2012). Pakistan – obwohl gegründet als Heimat für die Muslim*innen Südasiens – hat sich lange damit schwergetan, auf welche Weise es den Islam in die nationale Identität des Landes überführen und diese in den Schulen vermitteln sollte (Hoodbhoy 2016, S. 19f.). Unter Berücksichtigung von Materialien zur pakistanischen Bildungspolitik nach der Jahrtausendwende kommt Naseer zu dem Schluss, dass der Schulunterricht in erster Linie darauf abzielte, »moralisch gesetzestreue« und »wirtschaftlich handelnde« islamische Bürger*innen« hervorzubringen, d. h. Bürger*innen, die »in der Lage sind, effektiv an der wettbewerbsorientierten, globalen und wissensbasierten Wirtschaft im Informationszeitalter teilzunehmen« (Naseer 2012, S. 6ff.). Was im Lehrplan fehle, sei eine kritische Perspektive auf Citizenship und nationale Identität, die eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Status quo erlaubt, statt lediglich Informationen zu vermitteln, die als »endgültige Wahrheiten« präsentiert werden (ebd., S. 10). Obwohl der Islam den wichtigsten Aspekt der nationalen Identität Pakistans darstellt, gelte es, sowohl die innermuslimische Vielfalt als auch die Rechte nichtmuslimischer Minderheiten anzuerkennen und zu berücksichtigen.

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Daraus resultierende Spannungen müssten in der pakistanischen Citizenship zukünftig noch gelöst werden. Indonesien ist das Land mit der weltweit größten Anzahl von Muslim*innen. Unter Suharto (1967–1998) wurden Schüler*innen von der Grundschule bis hin zur Universität verpflichtend in der staatlichen Ideologie Pancasila unterrichtet: »Das Konzept wurde im Jahr 1945 von Indonesiens erstem Präsidenten Sukarno ausgearbeitet, um die Einheit der ethnisch und religiös vielfältigen Nation zu befördern. Pancasila wurde später von Suhartos Regierung vereinnahmt, um die Grenzen eines akzeptablen sozialen, kulturellen und politischen Verhaltens abzustecken. Es besteht aus fünf Schlüsselprinzipien, die unter dem Suharto-Regime standardisiert wurden: der Glaube an den einen wahren Gott, eine gerechte und zivilisierte Menschheit, die Einheit Indonesiens, von der Weisheit repräsentativer Überlegungen geleitete Demokratie und soziale Gerechtigkeit für alle Indonesier*innen.« (Jackson & Bahrissalim 2007)

Mitte des Jahres 2000 startete das Forschungszentrum des State Institute for Islamic Studies von Jakarta – später umbenannt in Indonesian Center for Civic Education (ICCE) – mit Mitteln der Asia Foundation ein Pilotprogramm mit dem Ziel, einen neuen Lehrplan für politische Bildung zu entwickeln. Dadurch sollte das Verständnis der Schüler*innen für politische Themen geschärft und ihre Partizipation an der indonesischen Demokratie gefördert werden. Um dies zu gewährleisten, sprach der Lehrplan die kognitiven, affektiven und psychomotorischen Aspekte des Lernens an und verbesserte gleichzeitig die staatsbürgerlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Schüler*innen (Rozak, Sayuti & Syafrani 2003, S. 9f.). In den gemäßigt islamischen Muhammadiyya-Bildungseinrichtungen wurde der Versuch unternommen, sämtliche in Indonesien gebräuchlichen Konzepte der Zivilgesellschaft zu islamisieren, darunter Masyarakat Madani, Masyarakat Sipil, Masyarakat Kewargaan sowie der englische Terminus civil society. Ein Beispiel: Der malaiisch-indonesische Begriff Masyarakat Madani wurde im Jahr 1995 vom damaligen malaysischen Vize-Premierminister Anwar Ibrahim eingeführt. Er bezeichnet ein soziales System, das auf moralischen Prinzipien beruht und ein Gleichgewicht zwischen individuellen Freiheiten und sozialer Stabilität garantiert. Der Begriff orientiert sich am Konzept al-Mujtama al-Madani (»bürgerlicher Stadtstaat«), das vom malaysischen muslimischen Philosophen Naquib al-Attas entwickelt wurde. Indonesische Wissenschaftler*innen haben Masyarakat Madani verwendet, um eine Gesellschaft zu bezeichnen, die Toleranz, Demokratie, Zivilcourage sowie den Respekt vor dem Pluralismus akzentuiert (Jackson & Bahrissalim 2007). Viele indonesische Bildungseinrichtung bevorzugen indes säkulare sozialwissenschaftliche Termini, um die Prinzipien der Citizenship zu vermitteln.

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In einigen arabischen Ländern wurde die Citizenship bereits Anfang des neuen Jahrtausends im Bildungsbereich eingeführt (Almaamari 2011). Eine Umfrage von Faour aus dem Jahr 2011 ergab, dass arabische Nationen ihre Prioritäten in diesem Punkt sehr unterschiedlich setzen. Steht für die einen die Erziehung ihrer Bevölkerung zu religiösen Bürger*innen im Vordergrund, ist es für andere die Förderung der patriotischen Gesinnung (Fouar 2011). Während die Citizenship in Jordanien, Ägypten und den palästinensischen Autonomiegebieten eng mit den »islamischen und arabischen Werten« verbunden ist, liegt ihr Fokus in den Vereinigten Arabischen Emiraten und im Libanon auf der Ausbildung eines Nationalbewusstseins (Abdul-Jabbar 2016). Diese pädagogischen Rahmenbedingungen »ignorieren Fragen der Identität und Zugehörigkeit und berücksichtigen weder, auf welche Art und Weise gesellschaftliche Integration gelingen kann, noch geben sie eine Antwort darauf, wie sich das Interesse an einer aktiven demokratischen Partizipation generieren lässt« (Abu El-Haj 2009, S. 276). Zu den Zielen der Citizenship, die im Jahr 1997 in Saudi-Arabien als Pflichtfach in allen Jahrgangsstufen eingeführt wurde, zählt die »Verankerung des islamischen Glaubens in den Herzen der Schüler*innen, auf dass er ihr Verhalten lenke« und »die Entwicklung von Stolz, zur islamischen Nation zu gehören«. Eine wichtige Funktion der Citizenship in Saudi-Arabien besteht in der Wahrung der nationalen Identität, d. h. der islamischen Identität (Alharbi 2017, S. 80f.). Der von Kronprinz Muhammad bin Salma¯n im Jahr 2016 angekündigte Plan für die ˙ »Saudische Vision 2030« berief sich auf die Rubrik »Mäßigung« als islamischen Wert, der die künftige nationale Identität und Politik beeinflussen solle (Kingdom of Saudi Arabia 2016, S. 7, 13, 16). Wie genau sich dies auf die Staatsbürgerkunde auswirken würde, muss noch evaluiert werden.

2.1

Muslim*innen in öffentlichen und privaten Schulen in westlichen Ländern

Vorläufige Studienergebnisse für Europa und Amerika haben gezeigt, dass die Citizenship die Achtung der demokratischen Teilhabe, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte wirksam verstärken kann. Diese Werte werden von Migrant*innen sowohl der ersten als auch der dritten Generation geteilt. Leichter zu fördern sind sie jedoch in den Schulen des urbanen Raums. Denn Kinder, die zu Hause unterrichtet werden oder ethnisch oder sprachlich homogene Schulen im ländlichen Raum besuchen, haben oftmals größere Schwierigkeiten, konfessionelle oder politische Meinungsverschiedenheiten zu akzeptieren. Die staatliche Unterstützung islamischer Schulen scheint die Bürger*innenbeteiligung und den sozialen Zusammenhalt zu fördern. Gerade in europäischen Ländern mit einer

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großen städtischen muslimischen Bevölkerung lässt sich beobachten, dass sich eine Professionalisierung der Lehrer*innenausbildung und Lehre positiv auf das soziale Gefüge auswirkt (Berglund 2015). Darüber hinaus hat die universitäre Ausbildung von islamischen Religionslehrer*innen für Schulen und Hochschulen auch für das Fach »Citizenship« zahlreiche positive Effekte. Untermauert wird diese These u. a. durch die Arbeit von Zekirija Sejdini, der für den Unterricht an islamischen Schulen in Österreich zuständig ist, einem Land, in dem etwa eine halbe Million Muslim*innen leben. Seine Evaluation der Art und Weise, wie Werte der Citizenship in den Lehrplan der österreichischen islamischen Schulen eingebettet sind, hat gezeigt, dass diese im Einklang mit den islamischen Religionslehren stehen. Der Schwerpunkt des Lehrplans liegt auf gemeinsamen Werten wie Menschenrechte, Pluralismus, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, interreligiöser Dialog, Demokratie und Integration. Sejdini hält jedoch fest, dass die Lehrmaterialien allein diese Werte nicht vermitteln können. Die zuständigen Lehrer*innen müssten diese auch vorbildhaft vertreten (Sejdini 2015). Weitere westeuropäische Studien haben gezeigt, wie wichtig ein Lehrplan für die Citizenship ist, der die unterschiedlichen Dimensionen der Zugehörigkeit in den Erfahrungen und Weltanschauungen muslimischer Kinder und Jugendlicher berücksichtigt (Allenbach 2015). Religiöse Auslegung und pädagogische Praxis werden maßgeblich von lokalen Faktoren beeinflusst. Aus diesem Grund variiert die Umsetzung eines Lehrplans für die Citizenship je nach Staat, Bundesland und Stadt. Um dies zu verdeutlichen, folgt nun eine kurze Übersicht über drei europäische Länder mit besonders großer muslimischer Bevölkerung: Großbritannien, Deutschland und die Niederlande. Ein gesamtgesellschaftliches Interesse an der Einführung der »Citizenship« (Citizenship Education) entwickelte sich in Großbritannien in den späten 1990erJahren, unmittelbar nach dem sogenannten »Crick-Report« des Jahres 1998 (Teachingcitizenship 1998). Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA, die Bombenanschläge von Madrid 2004 und vom 7. Juli 2005 in London unterstrichen die Dringlichkeit, die drei Millionen, vorwiegend aus Südasien stammenden Muslim*innen des Landes besser in die britische Gesellschaft zu integrieren. Großbritannien verfügt über etwa 20.000 staatliche und religiöse Schulen, an denen »Citizenship Education« (CE) als Pflichtfach unterrichtet wird. Ungefähr 200 dieser Einrichtungen sind islamische Schulen, 27 davon erhalten staatliche Mittel. Die erste und bekannteste Einrichtung dieser Art sind die Islamia Schools in London, die von Yusuf Islam unterstützt werden. Die dortige CE wurde positiv evaluiert (Mandaville 2007). Ähnliche Ergebnisse erzielte eine Auswahl von zehn Schulen in Nordengland, an denen CE und RE (»Religious Education«) miteinander verglichen wurden (al-Refai & Bagley 2008). In Großbritannien ist es vor

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allem die Association of Muslim Schools in Birmingham, die eine Führungsrolle in der Professionalisierung des islamischen Religionsunterrichts hinsichtlich einer effektiven CE eingenommen hat. In Deutschland leben drei bis vier Millionen Muslim*innen, hauptsächlich mit türkischem Migrationshintergrund. Integration mittels Citizenship ist hier seit vielen Jahren ein Thema. Doch die Einbürgerung von Migrant*innen und die Aufnahme meist muslimischer Geflüchteter haben in jüngerer Vergangenheit die grundlegende Überarbeitung der Inhalte und der Vermittlung der Citizenship erforderlich gemacht. Diese wird noch immer mit einem interkulturellen statt einem multikulturellen Ansatz verfolgt. Doch in Deutschland ist Bildungspolitik Ländersache. Somit entscheiden die 16 Bundesländer unabhängig voneinander, in welcher Form Citizenship unterrichtet wird. Zudem sind nur zwei Stunden pro Woche dafür vorgesehen. Andere Fächer wie »Politische Bildung« und »Sozialkunde« decken jedoch einen Teil des entsprechenden Stoffs ab (Faas 2010). Nach dem Zweiten Weltkrieg haben deutsche Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen eine »europäisierte deutsche Identität« kreiert, es aber verpasst, ein Konzept von Nation zu entwickeln, das ethnische Minderheiten wie die türkischen Muslim*innen miteinbezieht. So wie auch in Griechenland gilt hier noch immer das Prinzip des ius sanguinis, also das Abstammungsprinzip (Faas 2010). Erst im Jahr 2000 wurde das Citizenship-Gesetz reformiert, um den Zugang für nichtautochthone Deutsche zu ermöglichen (Eksner & Cheema 2017, S. 162). Bereits die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 erforderte einen neuen Lehrplan, der einem demokratischen Konzept der nun vereinten Nation Rechnung trug, was durch das Erstarken der EU und einer gesamteuropäischen Identität jedoch verkompliziert wurde. Diesen Lehrplan bewertete der Pädagoge Daniel Faas wie folgt: »Trotz der Betonung des Europäischen finden sich darin auch multikulturelle Ansätze. Zum Beispiel gibt es einen Themenbereich über vergangene und gegenwärtige Migrationsbewegungen. Diese umfassen die Völkerwanderung des dritten bis sechsten Jahrhunderts, die Abwanderung aus Mitteleuropa, Vertreibung während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie heutige Integrationsprobleme und Flüchtlingsbewegungen« (Faas 2010, S. 484). Nach Angaben des Forschungsnetzwerks Mediendienst Integration wird heute in mehr als 800 öffentlichen Grund- und weiterführenden Schulen in neun deutschen Bundesländern »Islamischer Religionsunterricht« als Wahlfach angeboten (Beck 2018). Allein den Umstand, dass ein solcher Unterricht in einem akademischen Umfeld angeboten wird – zudem auf Deutsch und von ausgebildeten muslimischen Lehrer*innen –, bewerten viele als ein positives Signal. Integration und Zugehörigkeitsgefühl der Schüler*innen würden dadurch maßgeblich gefördert. Zwei Drittel aller Schulen in den Niederlanden sind formal betrachtet christlich. Und dies, obwohl die Lehrer*innen vom Staat ausgebildet werden und

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dieser eine Strategie der Integration durch Anpassung verfolgt. Laut einer Studie von Dronkers wurden im Jahr 2014 allein an 43 islamischen Schulen Testergebnisse in der Citizenship erreicht, die über dem nationalen Durchschnitt lagen (Dronkers 2016). Als besonders effektiv erwies sich ein Netzwerk von zehn SIMON-Schulen (Stiftung für islamische Bildung in den mittleren und östlichen Niederlanden). An diesen Schultypen sind mindestens die Hälfte aller Lehrer*innen nicht muslimisch. In ähnlicher Weise erfolgreich bei der Implementierung der Citizenship waren drei auf Diversität fokussierte Schulen in Amsterdam. Sie orientieren sich an den sogenannten »Bijlmer-Gesprächen«, die als ein besonders erfolgversprechendes Modell bewertet werden (Miedema 2015). Zusätzlich zu den genannten Programmen auf nationaler Ebene engagieren sich die Europäische Union und die Vereinten Nationen auch jeweils selbst im Bereich der Citizenship. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde im Vertrag von Maastricht von 1993 festgehalten, dass Bildungsprogramme zu einem Gefühl europäischer Einheit und Identität beitragen können – gerade wenn sich die entsprechenden Angebote gegen einen ethno-linguistischen Nationalismus wenden, der zu zwei Weltkriegen beigetragen hat. Bereits die UNMenschenrechtserklärung von 1948 zog weltweit Forderungen von Pädagog*innen nach sich, das Konzept der »Weltbürgerschaft« (global citizenship) an den Schulen zu unterrichten. Dieser Ansatz wird mitunter dafür kritisiert, nationale Loyalitäten zu unterlaufen. Sowohl die EU als auch die UN unterstützen demokratische Partizipation. Es muss jedoch noch erforscht werden, ob eine abstrakte Unterstützung der Menschenrechte lokale Kämpfe für mehr Bürgerrechte in jedem Fall befördert. Was die genannten westeuropäischen Länder eint, ist die Überzeugung, dass multikulturelle Bildung und Religionsunterricht, wie sie nach den 1960er-Jahren praktiziert wurden, nicht so erfolgreich waren wie erhofft, und dass neuere Formen der Citizenship nationales Selbstbewusstsein mit guter Nachbarschaft, politischem Engagement und demokratischer Teilhabe verbinden sollten. Staaten, die sich wie die USA oder Frankreich dem Säkularismus verschrieben haben, sehen im Allgemeinen keinen Religionsunterricht an öffentliche Schulen vor. In vielen Fällen wird bereits das Lehren »über« Religion als kulturelles oder historisches Phänomen vermieden, aus Sorge, die Grenze zwischen Kirche und Staat zu verwischen. Stattdessen wird sich einer Art »Zivilreligion« bedient, um nationale Werte zu vermitteln, die Unterschiede in Geburt, Glaube oder Klasse aufheben sollen. Dieses Religionsverständnis umfasst nationale Ursprungsmythen wie Jeanne d’Arc oder George Washington, Nationalsymbole wie die Freiheitsstatue oder den Arc de Triomphe, rituelle Pilgerfahrten zum Grab von Napoleon oder zum Lincoln Memorial sowie das Singen der Nationalhymne. Die Forschung zur Citizenship hat in den letzten Jahren enorm zugenommen und umfasst eine Vielzahl von Ansätzen. Einige Expert*innen auf diesem Gebiet

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beschäftigen sich vor allem mit Lehrplänen und fassen die Hauptthemen und Lernziele zusammen, die die staatlich vorgeschriebenen Lehrpläne und die von muslimischen Religionsgemeinschaften selbst entworfenen Unterrichtsmaterialien auszeichnen. Auf diese Weise soll eruiert werden, inwiefern diese Curricula mit den grundlegenden Werten der Citizenship übereinstimmen. Andere Forscher*innen konzentrieren sich auf eher theoretische Aspekte des Managements der Citizenship und religiöser Identität. Wieder andere drängen darauf, Kategorien wie »Zugehörigkeit« auf der Erfahrungsgrundlage von Minderheiten und Migrant*innen zu betrachten (Hermansen 2015, S. 14f.). Gleichzeitig besteht die Sorge, dass ein übermäßiger Pluralismus in der Citizenship letztlich die Vermittlung einer gemeinsamen nationalen Identität und gemeinsamer Werte untergraben könnte. Beispielsweise kann das jeweils vorherrschende Verständnis von sozialem Zusammenhalt darüber bestimmen, ob ein staatlich vorgeschriebener Lehrplan für den Religionsunterricht sämtliche Religionen umfasst – unter der Annahme, dass so gegenseitiges Verständnis und Toleranz gefördert würden, wie in Schweden der Fall –, oder ob Schüler*innen wie in Finnland ihren eigenen konfessionellen Religionsunterricht erhalten sollen, um ein starkes Identitätsgefühl aufzubauen (Berglund 2015, S. 9). In einigen Fällen verweisen Materialien zu Citizenship, die sich an ein muslimisches Publikum wie Schüler*innen an privaten islamischen Schulen oder Medresen richten, auf Parallelen klassischer islamischer Lehren zur derzeitigen Situation und Lebensweise in den USA oder Europa. Möglicherweise werden diese Vergleiche angestellt, um der Vorstellung entgegenzuwirken, dass Demokratie unislamisch ist, weswegen Muslim*innen nicht wählen oder sich ausschließlich in muslimischen Staaten engagieren sollten (Coles 2010). Obwohl der Religionsunterricht fachlich gesehen außerhalb des Bereichs der Citizenship liegt, kann er eine wichtige Rolle für die Integration von Schüler*innen religiöser Minderheiten spielen und ihnen zeigen, dass Pluralismus zum gesellschaftlichen Konsens gehört. In zahlreichen europäischen Ländern ist der Religionsunterricht Teil des regulären Lehrplans an öffentlichen Schulen. Die Art und Weise, wie das Fach gelehrt wird, variiert: In einigen Ländern ist der Religionsunterricht ein neutrales Schulfach, das ausschließlich über Traditionen verschiedener Glaubensrichtungen informiert (z. B. in Großbritannien). In anderen Ländern wird konfessioneller Unterricht traditionell als Wahlfach angeboten. So erhalten Kinder die Möglichkeit, den Religionsunterricht ihrer Wahl zu besuchen. Muslimische Schüler*innen entscheiden sich zumeist für den islamischen Religionsunterricht. Dies wiederum hat die Einrichtung von Studiengängen an den Universitäten erforderlich gemacht, um zukünftige Lehrer*innen in Islamwissenschaft oder islamischer Theologie auszubilden – so wie dies auch für christliche Religionslehrer*innen der Fall ist (z. B. in Deutschland und Österreich). Aus staatlicher Sicht trägt dies zur Herausbildung lokal ausgebil-

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deter Lehrer*innen bei und führt mutmaßlich zu einer gemäßigteren und auf Integration bedachten Auslegung des Islams, die als mit der westlichen Moderne vereinbar angesehen wird (Berglund 2015, S. 12).

3.

Citizenship im Lichte islamischer Prinzipien

In westlichen Ländern wächst die Anzahl an Forschungsliteratur zum Verhältnis der Citizenship zu den Prinzipien des Islams, die sowohl konstruktiv theologische (an-Naim 2014) als auch pädagogische Ansätze (Coles 2010) umfasst. Muslimische Religionswissenschaftler*innen und nichtmuslimische Islamwissenschaftler*innen haben sich gegen einige der negativen Auslegungen gewehrt, die von einer Reihe islamistischer oder sogar islamisch-extremistischer Gruppen verbreitet wurden (March 2009). Dies betrifft beispielsweise die Auffassung, dass im Westen lebende Muslim*innen weder sozial noch politisch am Gesellschaftsleben teilnehmen sollten. Konflikte dieser Art existieren sogar in Ländern mit muslimischer Mehrheit, in denen Regime oder Machthaber, die das islamische Recht nicht konsequent umsetzen, der Loyalität oder des Gehorsams als unwürdig angesehen werden. In einigen Fällen, zum Beispiel in Großbritannien, wo ab 2007 private islamische Schulen dazu angehalten wurden, Kurse in Citizenship anzubieten, wurden die Unterrichtsmaterialien zum Thema »Islam und Citizenship« von muslimischen Pädagog*innen erstellt, die für ihre Arbeit staatliche Förderungen erhielten. Muslimische Autor*innen tragen demnach zur wachsenden Anzahl einer Literatur bei, in der die Vereinbarkeit moderner Citizenship mit den Prinzipien des Islams verhandelt wird und die sich wiederum für den Schulunterricht eignet. In der arabischen Welt hat sich der Begriff muwa¯tana etabliert, um moderne ˙ Vorstellungen von Citizenship zu beschreiben. Sowohl staatliche Bildungsministerien als auch Bildungswissenschaftler*innen setzen sich auf Arabisch mit diesem Thema auseinander. Dabei werden in einem ersten Schritt zumeist die islamischen Quellen der Citizenship aufgezeigt. Einige Autor*innen gehen so weit, zu behaupten, dass der Islam der Ursprung von Konzepten wie der individuellen Freiheit oder der Einführung gleicher Rechte und Pflichten für die gesamte Bevölkerung sei (al-Kandarı¯ 2014). Die »Verfassung von Medina« – ein Vertrag, den Muhammad kurz nach seiner higˇra im Jahr 622 n. Chr. mit ver˙ schiedenen muslimischen und nichtmuslimischen Gruppierungen geschlossen hat – wird häufig als Modell für ein harmonisches multiethnisches und multireligiöses Zusammenleben innerhalb eines Gemeinwesens angeführt. Zu den Vorstellungen des Korans, die als vereinbar mit den Idealen der Citizenship erachtet wurden, zählt beispielsweise die Idee der hila¯fa, nach der Menschen zu ˘ Vertreter*innen des Göttlichen ernannt werden, um Verantwortung für Natur

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und menschliches Zusammenleben zu übernehmen (Koran 36:7). Darüber hinaus können islamische Tugenden in vielfacher Weise mit den Idealen guter Citizenship korrespondieren: auf persönlicher Ebene (Ehrlichkeit, Sauberkeit usw.), auf sozialer Ebene (Zusammenarbeit mit anderen, Wahrung von Frieden und Sicherheit, Gerechtigkeit und Fairness; Koran 37:57) und auf politischer Ebene (Vermeidung von Tyrannei, Zusammenarbeit, Einhalten von Verträgen und Vereinbarungen; Koran 59:62) sowie hinsichtlich der Bereitschaft, das Heimatland zu verteidigen (Koran 74:5). Das grundlegende islamische Prinzip »vorschreiben, was richtig ist (al-maʿru¯f) und verbieten oder ablehnen, was falsch ist (al-munkar)« (Koran 9:71) lässt sich auf eine Reihe sozialer und politischer bürgerlicher Rechte und Pflichten ausdehnen, sei es untereinander, gegenüber den Machthaber*innen oder letztlich gegenüber dem Göttlichen (al-ʿAqı¯l 2014). Eine Reihe von Fragen tritt auf, wenn es um vormoderne islamische Rechtspositionen zu Themen wie Frauen- oder Minderheitenrechten geht, die nicht mit den heutigen Normen der universellen Menschenrechte vereinbar sind. Heftig kritisiert wurden in diesem Zusammenhang die Lehrplanstandards bestimmter muslimischer Nationen, die andere Religionen als fehlerhaft darstellen. Aufgrund dessen werden die Anhänger*innen dieser Religionen von den Schüler*innen nicht nur als minderwertig betrachtet, man begegnet ihnen sogar mit Feindschaft (Human Rights Watch 2017; Ahmad 2008). Das problematische Verhalten ausländischer islamischer Religionslehrkräfte oder Imame, weiterhin intolerante, undemokratische oder feindselige Einstellungen innerhalb muslimischer Gemeinschaften im Westen zu fördern, hat große Aufmerksamkeit erhalten. Die für westliche muslimische Zielgruppen entwickelten Materialien zur Citizenship zielen speziell auf solche Haltungen ab und versuchen, diese durch die Präsentation pluralistischer islamischer Lehren und Prinzipien zu verdrängen (Coles 2010). Tatsächlich erweisen sich bestimmte klassische islamische rechtliche, politische und ethische Lehren als problematisch für das Verhältnis von Muslim*innen zu den Vorstellungen von Citizenship in nichtmuslimischen Staaten. Dazu gehören Positionen, nach denen Muslim*innen immer danach streben sollten, in Gebieten zu leben, die der Herrschaft des islamischen Rechts unterliegen, sich nicht der Herrschaft von Nichtmuslim*innen zu unterwerfen und Allianzen mit Nichtmuslim*innen zu vermeiden (March 2009, S. 103–133). Anordnungen dieser Art muss man möglicherweise mit alternativen Quellen und Ansichten aus der islamischen Tradition heraus begegnen. Gleichzeitig werden nationalistisch oder rassistisch eingestellte Islamkritiker*innen jeden Beleg einer traditionalistischen Einstellung als Beweis dafür anführen, dass Muslim*innen nicht integriert werden können und weder Vertrauen noch volle Citizenship verdienen, da ihre Loyalität »doppelt« oder widersprüchlich verteilt sei (Gallup 2011).

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4.

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Schlussfolgerungen und Ausblick

Citizenship ist ein relativ neues Bildungsangebot, das den sozialen Zusammenhalt hinsichtlich der gemeinsamen Unterstützung von demokratischer Staatsführung, Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verbessern soll. Im Gegensatz dazu, was noch vor etwa einer Generation als »Politische Bildung« bezeichnet wurde, entstand die Citizenship des 21. Jahrhunderts im Kontext der Globalisierung, welche zunehmende Migrationsbewegungen und eine permanente mediale Vernetzung nach sich zog. Infolgedessen treffen Menschen mit unterschiedlichen religiösen Ansichten deutlich häufiger aufeinander, ob nun am Arbeitsplatz, im Klassenzimmer, auf Spielplätzen, in der Kommunalverwaltung oder im Internet. Das Thema »Islam und Citizenship« ermöglicht es, zahlreiche Fragen zum gegenwärtigen Verständnis von Citizenship sowie zur Rolle von Muslim*innen als potenzielle Gestalter*innen und Empfänger*innen von Citizenship zu erörtern, die aufgrund ihrer Diversität nationalistische Metaerzählungen oder Homogenisierungstendenzen infrage stellen können. Aus der Perspektive des zeitgenössischen islamischen Denkens hat das Thema »Islam und Citizenship« eine konstruktive Debatte über die Bedeutung von Engagement und Zugehörigkeit in neuen politischen und sozialen Verhältnissen ausgelöst. Wie andere Länder auch befinden sich Staaten mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung in einem ständigen Prozess der Aushandlung von nationalen mit globalen Vorstellungen von Citizenship. In einigen Fällen können sich Unterrichtsmaterialien und pädagogische Ansätze, die in westlichen Gesellschaften entwickelt wurden, auch in mehrheitlich muslimischen Kontexten als nützlich erweisen, unabhängig davon, ob sie die Reflexion und das Engagement für eine aktive und/oder globale Citizenship fördern oder sich konstruktiv mit antidemokratischen, sexistischen oder intoleranten Auslegungen des Islams auseinandersetzen, indem sie intellektuelle, historische und theologische Ressourcen aus der Tradition selbst verwenden.

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Ayman K. Agbaria

Islamische Erziehung zum religiösen Pluralismus

Zusammenfassung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Theologie des religiösen Pluralismus im Islam gegenüber anderen Religionen und widmet sich folgenden Fragen: Welche religiösen Konzepte werden im Gewirr der verschiedenen Ansätze innerhalb der islamischen Erziehung benötigt, um einen religiösen Pluralismus auszubilden? Inwieweit können ferner muslimische Pädagog*innen die Anschauung vertreten, dass »die Wahrheit zwar absolut und unwiderlegbar ist, die Formen und Sprachen, in denen sie offenbart wird, jedoch unterschiedlich sein und sogar Widersprüche aufweisen können« (Aslan 2016, S. 32)? Um diese Fragen zu beantworten, widmet sich der Beitrag der Komplexität des religiösen Pluralismus im koranischen Diskurs und untersucht die Spannung zwischen inklusiven und exklusiven Interpretationen. Darüber hinaus wird der Begriff des religiösen Pluralismus eingeführt und argumentiert, dass diesem nicht als zu überprüfende Wahrheit, sondern vielmehr als zu prüfende Hypothese begegnet werden sollte. Der Beitrag reflektiert außerdem – da die Literatur zu den philosophischen und theologischen Aspekten des religiösen Pluralismus in Bezug auf die islamische Erziehung in der Tat spärlich und sporadisch ist – die pädagogischen Implikationen der Förderung des religiösen Pluralismus.

1.

Einführung

Die muslimische Geschichte ist reich an Beispielen für religiöse Toleranz (Carney 2008; Esack 1997; Sachedina 2001). So bemerkt Kamali (2018), dass die vom Propheten Muhammad nach seiner Migration nach Medina im Jahr 622 einge˙ führte »Verfassung von Medina« (arab. Sah¯ıfat al-Madı¯na) eine neue Gemein˙ ˙ schaft von Gläubigen auf der Grundlage religiöser Toleranz begründete. Zu den Hauptanliegen dieses Dokuments gehörten »Fragen der Führung bzw. Unterwerfung mächtiger Stämme unter die Autorität der im Entstehen begriffenen

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Regierung, Prinzipien der Gleichheit und Gerechtigkeit, Religionsfreiheit, Eigentumsrecht, Freizügigkeit und Verbrechensbekämpfung« (Kamali 2018, S. 20). Der vom Propheten Muhammad und den Christen von Nagˇra¯n unterzeichnete ˙ Vertrag ist eines von vielen Beispielen für die Toleranz und die Nichteinmischung in die religiösen Angelegenheiten nicht-muslimischer Gruppen. Der Vertrag legt fest, »dass den Christen von Nagˇra¯n und den angrenzenden Gebieten, den anwesenden, den abwesenden und auch noch anderen, die Sicherheit Gottes und das Versprechen seines Propheten für ihr Leben, ihre Religion und ihr Eigentum gewährt wird. Keiner von ihnen darf bei der Ausübung seines Glaubens und in seinen gottesdienstlichen Handlungen beeinträchtigt werden. Rechte und Privilegien werden nicht angegriffen. Weder darf ein Bischof aus seinem Amt noch ein Mönch aus seinem Kloster noch ein Priester aus seinem Priestertum entfernt werden – sie werden weiterhin alles im Großen wie im Kleinen genießen, wie sie es bis zur Unterzeichnung des Vertrages auch getan haben. Kein Bild oder Kreuz darf zerstört werden. Die Christen sollen weder unterdrücken noch unterdrückt werden. Von ihnen wird weder der Zehnte erhoben, noch sollen sie zur Versorgung der Truppen verpflichtet werden.« (Ali 1946, S. 273, zit. nach Asani 2003, S. 45)

Dieser Beitrag beschränkt sich auf die Lehre vom religionstheologischen Pluralismus im Islam im Verhältnis zu anderen Religionen (vgl. Dag 2017; Legenhausen 1999; Salroo 2006). Es soll weniger um die Soziologie oder die Geschichte des religiösen Pluralismus im islamischen Kontext gehen. Der Gefahr einer zu starken Verallgemeinerung eingedenk, stellt der Beitrag stattdessen folgende Fragen: Welche religiösen Konzepte werden im Gewirr der verschiedenen Ansätze innerhalb der islamischen Erziehung benötigt, um einen religiösen Pluralismus zu begründen? Inwieweit können ferner muslimische Pädagog*innen die Anschauung vertreten, dass »die Wahrheit zwar absolut und unwiderlegbar ist, die Formen und Sprachen, in denen sie offenbart wird, jedoch unterschiedlich sein und sogar Widersprüche aufweisen können« (Aslan 2016, S. 32)? Um diese Fragen zu beantworten, beschränkt sich dieser Text des Weiteren auf eine Erörterung des interreligiösen Pluralismus im Islam in Bezug auf andere Religionen. Obwohl sich die Typen überschneiden, befasst sich der Beitrag weniger mit dem intrareligiösen Pluralismus (interner Pluralismus), da einerseits die Literatur zu diesem Thema sehr umfangreich ist und andererseits die übereinstimmende Auffassung herrscht, dass die Vielfalt innerhalb des Islams Zeugnis von dessen pluralistischer Natur ablegt (Alalwani 1996). Konzentriert man sich auf den interreligiösen Pluralismus, lässt sich der »religiöse Pluralismus« nach Eck (2001) als eine dialogische Auseinandersetzung mit religiöser Vielfalt verstehen. Eine solche Perspektive schließt die kritische Auseinandersetzung mit soziokulturellen und theologischen Unterschieden ein und gelangt so zu einer aufgeklärten Sicht auf die religiösen Überzeugungen anderer, ohne

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jedoch dabei die eigenen religiösen Konventionen und Verpflichtungen aufzugeben. Religiöser Pluralismus erfordert eine aktive Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Formen der Religiosität, die über eine passive Toleranz hinausgeht. Religiöse Unterschiede wurden wiederholt falsch dargestellt, mit dem Ziel, Brücken zwischen Gemeinschaften einzureißen (Sachedina 2001, S. 35). Geschichte, Soziologie und Theologie des religiösen Pluralismus können Anreize, Rechtfertigungen und Ressourcen für eine Erziehung zu Dialog, Versöhnung, Gerechtigkeit und zu einem friedlichen Zusammenleben bieten (Hussain 2003). Im Folgenden werde ich zunächst die Komplexität des religiösen Pluralismus im koranischen Diskurs erörtern und dabei die Spannungen zwischen inklusiven und exklusiven Interpretationen hervorheben. Da dies den Rahmen übersteigen würde, kann der religiöse Pluralismus in der Tradition des Propheten Muhammad (hadı¯t) nicht berücksichtigt werden. In einem zweiten Schritt führe ich ˙ ˙ ¯ den Begriff des religiösen Pluralismus ein und argumentiere, dass dieses Konzept nicht als zu verifizierende Wahrheit, sondern als zu prüfende Hypothese betrachtet werden sollte. Aufgrund des Forschungsdefizits, was die philosophischen und theologischen Aspekte des religiösen Pluralismus in Bezug auf die islamische Erziehung angeht (vgl. Adam 2017; Kadiwal 2014; Niyozov 2016), werde ich mich in einem dritten Schritt den pädagogischen Auswirkungen der Förderung des religiösen Pluralismus widmen. In diesem Zusammenhang plädiere ich für eine neue Art der Erziehung: eine Erziehung zur Religion.

2.

Der Pluralismus-Diskurs im Koran

An den Anfang stelle ich zwei Koranverse aus den Suren 2 und 5, also aus der Sure »Die Kuh« (Al-Baqara) und der Sure »Der Tisch« (Al-Ma¯ʾida): »Der Gesandte (Allahs) glaubt an das, was zu ihm von seinem Herrn (als Offenbarung) herabgesandt worden ist, und ebenso die Gläubigen; alle glauben an Allah, Seine Engel, Seine Bücher und Seine Gesandten – ›Wir machen keinen Unterschied bei jemandem von Seinen Gesandten‹. Und sie sagen: ›Wir hören und gehorchen. (Gewähre uns) Deine Vergebung, unser Herr! Und zu Dir ist der Ausgang.‹« (Koran 2:285) »O du Gesandter, übermittele, was zu dir (als Offenbarung) von deinem Herrn herabgesandt worden ist! Wenn du es nicht tust, so hast du Seine Botschaft nicht übermittelt. Allah wird dich vor den Menschen schützen. Gewiss, Allah leitet das ungläubige Volk nicht recht.« (Koran 5:67)

Den zuerst zitierten Vers kommentierte at-Tabarı¯ (gest. 923) in seiner Exegese ˙ ˙ (tafsı¯r) und stellte dabei fest, dass das Wort »Bücher« in seiner Singularform, also als »Buch«, gelesen werden kann, so wie man es auch in Medina verstanden hatte.

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Ayman K. Agbaria

Die Lesart »Bücher« bezieht sich auf die Schriften aller Propheten, während das »Buch« ausschließlich auf den Koran verweist. Was den zweiten zitierten Vers betrifft, so erinnerte al-Qurtubı¯ (gest. 1273) in seiner Exegese daran, dass das ˙ Volk von Medina die darin erwähnte »Botschaft« im Plural las, nicht im Singular. Er versichert ferner, dass beide Lesarten korrekt seien, und rät, sie beim Rezitieren des Verses zu kombinieren. Die Vorstellung, dass der Prophet Muhammad mehrere Bücher und Bot˙ schaften hat, die er verkünden muss, und dass Gläubige »keinen Unterschied zwischen den Gesandten Allahs machen sollten«, öffnet einen hermeneutischen Raum für die Akzeptanz des religiösen Pluralismus. Nichtsdestoweniger verweisen diese unterschiedlichen Lesarten auf die Spannung zwischen zwei konkurrierenden normativen Positionen hinsichtlich der Beurteilung der Wahrheit anderer Religionen und ihres Potenzials, ihren Gläubigen Erlösung zu bringen. Miteinander in Konkurrenz stehen hier die exklusive und die inklusive Position. Während muslimischer Exklusivismus glaubt, dass die Wahrheit ausschließlich in der eigenen religiösen Tradition liegt, geht muslimischer Inklusivismus davon aus, dass die volle Wahrheit in der eigenen Religion liegt, andere Religionen diese Wahrheit aber auch teilweise oder sogar vollständig ausdrücken. Inklusivistisch Gesinnte können weiter in zwei Untergruppen eingeteilt werden: diejenigen, die überzeugt sind, dass die Wahrheit vollständig in anderen Religionen und Schriften zum Ausdruck kommt, und diejenigen, für die die Wahrheit teilweise in anderen Religionen wiedergegeben und durch das Festhalten an den Prinzipien des Islams in die richtige Form gebracht wird. Dementsprechend ist für den Exklusivismus ausschließlich das Bekenntnis zur eigenen Version des Islams der wahre Weg zur Erlösung, während dem Inklusivismus zufolge die eigene Religionsauffassung für die Erlösung grundlegend und sogar vorzuziehen ist, aber auch andere Religionen den Weg zur Erlösung erleichtern können und bis zu einem gewissen Grad auch werden (zur Typologie Inklusivismus – Exklusivismus – Pluralismus vgl. Race 1983; McKim 2012). Es ist auffällig, dass beide Gruppen die Diversität (ihtila¯f) schätzen und sie als ˘ Ausdruck von Gottes Willen wahrnehmen. Die Wertschätzung von ihtila¯f stützt ˘ sich beispielsweise auf den Vers »Und wenn dein Herr wollte, hätte Er die Menschen wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber sie bleiben doch uneinig« (Koran 11:118). Obwohl sich beide Gruppen auf dieselben religiösen Texte berufen, unterscheiden sie sich in ihrer Herangehensweise an den religiösen Pluralismus. Für jene, die dem Exklusivismus anhängen, gibt es nur eine einzige und absolute Wahrheit, die in die wörtliche Bedeutung des Korans eingebettet ist. Sie neigen dazu, die Möglichkeit mehrerer, gleichermaßen gültiger Wahrheiten abzulehnen. Dem muslimischen Exklusivismus zufolge ist die richtige, von Gott verordnete Religion diejenige, die dem Propheten Muhammad offenbart wurde. ˙

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695

Demnach sollte für alle Muslim*innen gelten: »Sag: Wir glauben an Allah und (an das,) was auf uns und was auf Ibra¯hı¯m, Isma¯ʿı¯l, Isha¯q, Yaʿqu¯b und die Stämme ˙ (als Offenbarung) herabgesandt wurde und was Mu¯sa¯, ʿI¯sa¯ und den Propheten von ihrem Herrn gegeben wurde. Wir machen keinen Unterschied bei jemandem von Ihnen, und wir sind Ihm ergeben« (Koran 3:84). Menschen dieser Denkungsart verantworten sich vor der höheren Autorität des Islams, da im Koran geschrieben steht: »Wer aber als Religion etwas anderes als den Isla¯m begehrt, so wird es von ihm nicht angenommen werden, und im Jenseits wird er zu den Verlierern gehören« (Koran 3:85). Für den Exklusivismus befasst sich der Islam direkt mit der Frage der religiösen Vielfalt und fordert die Herrschaft des Islams über alle anderen Religionen. Diese Annahme stützt sich auf Verse wie diesen: »Er ist es, Der Seinen Gesandten mit der Rechtleitung und der Religion der Wahrheit gesandt hat, um ihr die Oberhand über alle Religion zu geben, auch wenn es den Götzendienern zuwider ist« (Koran 9:33). Im Gegensatz dazu befürwortet der Inklusivismus folgende Position: »Es gibt keinen Zwang im Glauben. (Der Weg der) Besonnenheit ist nunmehr klar unterschieden von (dem der) Verirrung« (Koran 2:256) sowie: »Und sag: (Es ist) die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, der soll glauben, und wer will, der soll ungläubig sein« (Koran 18:29). Für ihn ist der Einsatz für Vielfalt ein universeller islamischer Wert, da Gott verkündet: »O ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiss, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von euch. Gewiss, Allah ist Allwissend und Allkundig« (Koran 49:13). Der Inklusivismus argumentiert, dass die Vielfalt einen konkreten Zweck hat, der darin besteht, einander kennenzulernen. Wie rechtschaffen jemand ist, erweist sich darin, wie genau das erreicht wird. Bezüglich der möglichen Erlösung gilt: »Es geht weder nach euren Wünschen noch nach den Wünschen der Leute der Schrift. Wer Böses tut, dem wird es vergolten, und der findet für sich außer Allah weder Schutzherrn noch Helfer« (Koran 4:123). Und der universelle Heilswille Allahs gehe aus Versen wie diesem hervor: »Gewiss, diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Sa¯bier – wer immer an Allah und den ˙ Jüngsten Tag glaubt und rechtschaffen handelt, – die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und keine Furcht soll sie überkommen, noch werden sie traurig sein« (Koran 2:62). In diesem Vers wird sogar den Sabäern, die vielen Kommentaren zufolge Sternenanbeter waren, Belohnung versprochen, sofern sie an Allah und den Jüngsten Tag glauben und Gutes tun. Es versteht sich von selbst, dass es sich bei den beiden »nicht unbedingt um völlig unterschiedliche Gruppen von Menschen handelt, sondern um Denkweisen über Vielfalt, die durchaus Teil eines laufenden Dialogs in uns selbst sein können« (Eck 2005, S. 41). Darüber hinaus wird über die Interpretationen der

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zitierten Verse mitunter heftig debattiert. Viele von ihnen könnten entsprechend den Überzeugungen und Einstellungen der Lesenden neu oder anders interpretiert werden. Im folgenden Vers zum Beispiel ist nicht klar, wofür »Islam« genau steht: »Wer aber als Religion etwas anderes als den Isla¯m begehrt, so wird es von ihm nicht angenommen werden« (Koran 3:85). Einerseits werden alle von Gott offenbarten Religionen im allgemeinen Sinne der vollständigen Unterwerfung unter Gott als »Islam« bezeichnet. Andererseits wird unter »Islam« auch in einem bestimmten Sinne die endgültige Version des Islams verstanden, die der Prophet Muhammad gebracht hat (Aslan 2016). Ein weiteres Beispiel für ˙ Mehrdeutigkeit ist der Vers »Es gibt keinen Zwang im Glauben« (Koran 2:256). So wie die meisten muslimischen Exeget*innen befand auch at-Tabarı¯, dass es keine ˙ ˙ Übereinstimmung über die Bedeutung dieses Verses oder seinen möglichen Bezugsgegenstand gibt. At-Tabarı¯ vereinfachte vielleicht zu stark, als er in Bezug ˙ ˙ auf diesen Vers zwei theologische Lager vorstellte, wovon eines glaube, dass dieser Vers ein universelles Prinzip für alle Menschen darstelle, und das andere davon ausgehe, dass sich der Vers lediglich auf bestimmte Gruppen in einem bestimmten historischen Kontext beziehe. Vor allem aber verweist at-Tabarı¯ auf ˙ ˙ eine Debatte, die danach fragt, ob dieser Vers durch andere Verse aufgehoben wird, die an späterer Stelle im Koran offenbart werden, beispielsweise: »Wenn nun die Schutzmonate abgelaufen sind, dann tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf« (Koran 9:5). Der Versuch, den Vers 2:256 mit seinem universellen Prinzip »kein Zwang im Glauben« als aufgehoben (nash) zu betrachten, ist ein typisches Beispiel dafür, ˘ wie der muslimische Exklusivismus terminologische und methodologische Strategien entwickelt, um die Exegese des Korans so zu gestalten, dass exklusivistische Bedeutungen erzwungen werden (Asani 2003; Duderija 2017; Sachedina 2001, 2010). Asani stellt fest: »Nur durch die Dekontextualisierung der Exegese solcher Verse, durch die Missachtung ihres ursprünglichen historischen Offenbarungskontextes und durch die Verwendung dieser Verse für eine groß angelegte Abschaffung widersprüchlicher Verse konnten die exklusivistischen muslimischen Exegeten dem pluralistischen Ethos entgegenwirken, das den Koran so umfassend durchdringt.« (Asani 2003, S. 46f.)

Sachedina kommentierte die Anwendung dieser Strategien im Zusammenhang mit religiösem Pluralismus wie folgt: »Einige klassische muslimische Korangelehrte versuchten, die Heilsgeschichte der muslimischen Gemeinschaft von anderen abrahamitischen Glaubensrichtungen zu trennen, indem sie die überlagernde Gültigkeit der islamischen Offenbarung über das Christentum und Judentum betonten. Bei dem Versuch, eine bedingungslose Akzeptanz des neuen Glaubens zu fordern, mussten muslimische Theologen sowohl termi-

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nologische als auch methodische Strategien entwickeln, um diejenigen Verse des Koran zu umschreiben, die dazu neigen, seine ökumenische Ausrichtung zu unterstreichen, indem sie die heilsgeschichtliche Authentizität und Angemessenheit auf andere monotheistische Traditionen ausdehnen.« (Sachedina 2010, S. 229)

Genauer gesagt bestand eine der Strategien, Verse mit eindeutigen Aussagen über Toleranz und Inklusivität mit Botschaften der Exklusivität und des Absolutismus auszustatten, darin, zu behaupten, diese Verse würden durch andere Verse aufgehoben. Sachedina (2001) legte dar, dass der Exklusivismus seine absolutistischen Positionen auf die Behauptung stützte, dass die vielen Verse, die Pluralismus einforderten und den Muslim*innen befahlen, Verständnis für Nichtmuslim*innen aufzubringen, durch andere Verse aufgehoben würden, die zum Kampf gegen die Ungläubigen aufrufen. Zusammenfassend lässt sich mit der inklusivistischen Position argumentieren, dass sich die direkte universelle Forderung, »einander kennenzulernen« (Koran 49:13), an alle Menschen wendet und dazu dient, sie an Gott zu erinnern, der sie trotz all ihrer Unterschiede vereint. Damit soll auch daran erinnert werden, dass diese Unterschiede eine notwendige Voraussetzung für die Verbreitung und Fortsetzung des Lebens sind. Daher sollten sich Muslim*innen zur Vielfalt nicht neutral verhalten, sondern aktiv damit beschäftigen. In dieser Hinsicht sollte die Aufforderung, »einander kennenzulernen«, nicht so verstanden werden, dass man sich nur als Einzelpersonen kennenlernen soll, sondern auch die Kulturen, Religionen und Theologien der und des jeweils anderen. Dies ist in der Tat ein Aufruf zur »erfahrungsmäßigen Religiosität« im Sinne von Soroush (2009, S. 190), und diese ist »leidenschaftlich, offenbarend« sowie »individualistisch, deterministisch, essenziell, versöhnlich, ekstatisch, intim, visuell und heilig«. Diese Art von Religiosität erwartet hinsichtlich der Vielfalt von den Gläubigen nicht nur, dass sie einander kennenlernen, sondern auch, dass sie Gott durch die Vielfalt seiner Schöpfungen und Offenbarungen erkennen. Diese doppelte Kenntnis von Menschen und Gott kann nur durch pädagogische Erfahrungen des Dialogs, der Anerkennung und der Reflexion erlangt werden.

3.

Religiöser Pluralismus: Wahrheit oder Hypothese?

Skeie (2009, S. 308) sah einen Unterschied zwischen Pluralität und Pluralismus. Er schlug vor, »das Wort ›Pluralität‹ in solchen Fällen zu verwenden, in denen eine Beschreibung der Vielfalt beabsichtigt ist, das Wort ›Pluralismus‹ dagegen dann, wenn die Absicht besteht, die Pluralität normativ zu bewerten«. Dieser Differenzierung folgend, soll in diesem Beitrag religiöser Pluralismus im normativen Sinn die Bedeutung haben, dass keine einzelne Religion ein Monopol auf

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die Wahrheit beanspruchen kann, dass es also viele religiöse Weltanschauungen gibt, die in Harmonie nebeneinander bestehen können. John Hick (z. B. 1985, 1989, 2006) gilt weithin als einer der Begründer der modernen philosophischen und theologischen Auffassung vom religiösen Pluralismus (Aslan 2013). Ausgehend von seiner Analyse einer Vielzahl religiöser Erfahrungen und Formen der Religiosität schloss Hick, dass die Traditionen der großen Religionen allgemein eine grenzenlose größere und höhere, transzendente und ultimative Realität jenseits unserer gewöhnlichen Erfahrung bestätigen. Ihm zufolge präsentieren die Weltreligionen jeweils unterschiedliche Vorstellungen von dieser Realität und geben ihren Gläubigen unterschiedliche legitime Antworten, die allesamt historisch und kulturell bedingte Interpretationen derselben endgültigen Realität sind. Daher, und da diese Religionen gleiche Heilsalternativen verkörpern, sollte es keinen Unterschied geben, wie Gläubige die Anhänger*innen anderer Religionen behandeln sollen. Hicks Vorstellung von religiösem Pluralismus hat eine Vielzahl kritischer Reaktionen hervorgerufen (Saad 2011). Hick wurde unter anderem vorgeworfen, andere religiöse Traditionen neu zu übernehmen, um signifikante Unterschiede zwischen ihnen zu untergraben, die Bedeutung juristischer Traditionen und gesellschaftlicher Gebräuche im religiösen Leben zu übersehen, das rationale Element religiöser Erfahrungen zu marginalisieren und den Mystizismus zu idealisieren. So kritisierte etwa Legenhausen Hicks Versuch, unvereinbare religiöse Erfahrungen in Einklang zu bringen. Wenn die spirituelle Erfahrung eines Individuums, in Hicks Worten »conveys him the information that God is the Greatest, while another person claims that he spiritually perceives that Brahman is the greatest, one might attempt reconciliation by showing that Brahman is the name Hindu use for God« (Legenhausen 1999, S. 9). In diesem Zusammenhang betonte Legenhausen, dass Gott und Brahman unterschiedliche theologische Konzepte sind. Er steht daher der Möglichkeit einer vollständigen Umsetzung des religiösen Pluralismus skeptisch gegenüber. Um Hick, der wirklich daran interessiert war, die Möglichkeiten des religiösen Pluralismus im Islam zu untersuchen (z. B. 1985, 2006), gerecht zu werden, muss freilich betont werden, dass er sich darüber im Klaren war, dass der Islam »natürlich keine vollständige und uneingeschränkte Akzeptanz des religiösen Pluralismus fördert« (Hick 1985, S. 49). Hier ist es wichtig, den Beitrag von Abdolkarim Soroush (z. B. 1995, 1998, 2000, 2009) zu erwähnen, der sich innerhalb der islamischen Tradition kritisch mit dem Begriff des Religionspluralismus auseinandergesetzt hat. Wie Hick glaubte Soroush, dass »die epistemische Gültigkeit einer religiösen Tradition nur eine Frage hermeneutischer Anstrengungen sein kann, die letztendlich mit individuellen Erfahrungen von Gläubigen zusammenhängen« (Akbar 2017, S. 322). Für ihn hängen Natur und Ausdauer der Religiosität von der religiösen Erfahrung ab.

Islamische Erziehung zum religiösen Pluralismus

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Daher gibt er einer »Erfahrungsreligiosität« den Vorzug gegenüber anderen Formen der Religiosität, nämlich der »instrumentellen Religiosität«, die auf Nachahmung und Gehorsam beruht, und der »reflektierenden Religiosität«, die rationaler und diskursiver ist. Mit »Erfahrungsreligiosität« wird »religiöse Wahrheit« mehr als eine Ressource, eine Referenz oder eine Verlässlichkeit angesehen, weniger als eine absolute Gewissheit oder objektive Wahrheit. Als solche ist die »religiöse Wahrheit« immer direkt durch die Erfahrung eines gläubigen Menschen mit dem Göttlichen bedingt und wird immer in einem bestimmten soziokulturellen Kontext geformt. In Bezug auf seine Haltung zum religiösen Pluralismus unterscheidet Soroush zwischen »der Bandbreite möglicher Verständnisse religiöser Texte« und »der Bandbreite möglicher Interpretation religiöser Erfahrungen« (Hashas 2014). Diese erzeugen jeweils zwei miteinander verflochtene Arten von Pluralismus, nämlich intrareligiösen und extrareligiösen Pluralismus. Hinsichtlich der unterschiedlichen Möglichkeiten, religiöse Texte zu verstehen, räumt Soroush ein, dass in der Geschichte kein heiliger Text je ohne Anfechtung interpretiert wurde. Diese Art der Vielfalt erzeuge eine Vielzahl religiöser Erfahrungen, weil sich die Menschen in der Art und Weise unterscheiden, wie sie Bedeutungen interpretieren und sich damit beschäftigen. Insbesondere behauptet er, dass die Interpretation religiöser Texte »eine Erweiterung oder Verengung erfährt, je nachdem, welche Annahmen vorangegangen und/oder welche Fragen an sie gestellt wurden« (Soroush 1998, S. 245). Dementsprechend sind die Religionen für Soroush in ihren wesentlichen Prinzipien ähnlich, unterscheiden sich jedoch in ihren gestaltgebenden Aspekten (mehr dazu siehe in Akbar 2007; Fletcher 2005; Hashas 2014). Auf seiner Suche nach einer islamischen Theologie des religiösen Pluralismus stellt Aslan die exklusivistischen Interpretationen vieler Verse im Koran infrage und plädiert stattdessen für den Übergang von der dominanten, »dünnen« Version der Toleranz zu einer »dickeren« Konzeption des Pluralismus im Islam. Insbesondere erweitert er die Definition sowohl der Religion (dı¯n) als auch des Islams und argumentiert, dass dı¯n sich nicht nur auf den Islam beziehe, sondern auf den wesentlichen Kern aller Religionen. Für ihn sollten Islam und Muslim »nicht nur in Bezug auf eine bestimmte institutionalisierte Religion (SchariaIslam) und ihre Anhänger verstanden werden, sondern auch in Bezug auf die Grundlage des Glaubens für alle Menschen, die an Gott glauben« (Aslan 2016, S. 26). Es scheint jedoch, dass die Idee des religiösen Pluralismus den Wert der Gleichheit in den Mittelpunkt stellt. Der religiöse Pluralismus setzt verschiedene Arten der Gleichheit in der Theologie und Praxis der Religion voraus. Insbesondere erfordert er soteriologische Gleichheit der Erlösung, normative Gleichheit bei der Behandlung aller Anhänger*innen anderer Religionen, epis-

700

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temologische Gleichheit bei der Betrachtung von Religionen als gleichermaßen berechtigt, alethische Gleichheit der Wahrheit verschiedener Glaubensrichtungen sowie ethische Gleichheit der Moralvorstellungen und Verpflichtungen zwischen Religionen und ihren Anhänger*innen. Kurz gesagt bedeutet ein vollständiger und kompletter religiöser Pluralismus, den gleichen Wert aller Religionen und ihrer Gläubigen anzuerkennen. Diese universelle und umfassende Anerkennung des gleichen Werts könnte jedoch in Konflikt mit der Besonderheit einzelner Religionen geraten, da sie unterschiedliche religiöse Identitäten aufhebt und destabilisiert, »indem Menschen in eine homogene Form gezwungen werden, die für sie nicht angemessen ist« (Taylor 1992, S. 43). Anders ausgedrückt: Die Vorstellung, dass es einen universellen Standard für den gleichen Wert aller Religionen gibt, ist eine voreingenommene Zumutung gegenüber Religionen, die andere Standards von Gleichheit und Wert verkünden. Daher sollte die Forderung nach einer Gleichwertigkeit der Religionen nur ein Ausgangspunkt sein, der durch die Art und das Ausmaß eines real umgesetzten religiösen Pluralismus auf die Probe gestellt wird. Obwohl die Lehre vom religiösen Pluralismus durchaus Motive für die Annahme liefert, bestimmte Religionen würden den gleichen Wert aller Religionen bestätigen – was zumindest für diejenigen gilt, die an einen göttlichen, letztlich einen Gott glauben –, so stellt sie für diese Sichtweise doch kein abschließendes Argument zur Verfügung. Stattdessen verteidigt sie eine möglicherweise vorhandene Gleichwertigkeit damit, dass sie zugibt, ihre Annahme setze sehr wohl einen Vertrauensvorschuss voraus. Ausgehend von Taylors (1992) intellektueller Behandlung der Idee der »Gleichwertigkeit« (»equal worth«) ist für die Pflege des religiösen Pluralismus eine »Horizontverschmelzung« (»fusion of horizons«) erforderlich (Gadamer 1975). Gebraucht wird »ein Eingeständnis, dass wir von diesem endgültigen Horizont, von dem aus der relative Wert verschiedener Kulturen sichtbar werden könnte, sehr weit entfernt sind« (ebd., S. 73). Nach Taylors Ansicht ist eine Gleichwertigkeitsprämisse a priori keine Wahrheit, sondern eine Ausgangshypothese, ein Glaubensartikel, der sich in einigen Fällen als falsch herausstellen und in anderen bestätigt werden kann. Um diese Hypothese zu testen, muss man die betreffende andere Kultur konkret untersuchen. Dies geschieht durch »Horizontverschmelzung« (Gadamer 1975), die es uns ermöglichen würde, andere Religionen aus ihrer Geschichte und ihren Werten heraus zu verstehen, und gleichzeitig neue Vokabulare zu entwickeln, um die Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Kulturen und Religionen zu untersuchen. Taylors Erklärung dieser Strategie ist es wert, ausführlich zitiert zu werden: »What has to happen is what Gadamer has called a ›fusion of horizons.‹ We learn to move in a broader horizon, within which what we have formerly taken for granted as the

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background to valuation can be situated as one possibility alongside the different background of the formerly unfamiliar culture. The ›fusion of horizons‹ operates through our developing new vocabularies of comparison, by means of which we can articulate these contrasts. So that if and when we ultimately find substantive support for our initial presumption, it is on the basis of an understanding of what constitutes worth that we couldn’t possibly have had at the beginning. We have reached the judgment partly through transforming our standards.« (Taylor 1992, S. 67)

Dementsprechend könnte man argumentieren, dass wir nicht nur allen Kulturen, sondern auch allen Religionen eine Vorannahme schulden, wie sie in Taylors Zitat dargestellt wird. In einer »Horizontverschmelzung« wird der religiöse Pluralismus auf der Suche nach einem »überlappenden Konsens« untersucht (Rawls 1993). In dieser Hinsicht scheint es nicht weniger wichtig zu sein, unter Gläubigen eine Haltung des religiösen Pluralismus zu entwickeln, als die Fähigkeit zu besitzen, im öffentlichen Raum über eine gerechte demokratische Regierung zu diskutieren. Mit Macedo (1995) kann man argumentieren, dass für »Menschen, die sich über die höchsten Ideale und ihre Vorstellung von der ganzen Wahrheit nicht einig sind«, die Erleichterung einer Haltung des religiösen Pluralismus entscheidend sein kann, um der Bedeutung von »öffentlichen Zielen wie Frieden, Wohlstand und gleiches Maß an Freiheit« (Macedo 1995, S. 474) zuzustimmen, da diese Ziele oft in religiöser Sprache formuliert und wiedergegeben werden. Dennoch ist der »überlappende Konsens« in religiösen Überzeugungen immer eine Frage nach dem Ausmaß und der Art. Es ist ein »religiöser Pluralismus der Zukunft« (»religious pluralism to come«). In Auseinandersetzung mit der von Derrida (2005, S. 87) geprägten Vorstellung von »Demokratie der Zukunft« (»democracy to come«) definiert Arfi (2015) den »Pluralismus der Zukunft« wie folgt: »Er ruft beständig nach Wandel und Selbstkritik und berücksichtigt somit auch das Recht auf Selbstkritik und die Fähigkeit, sich zu vervollkommnen, ohne das Ziel eines perfekten Pluralismus auf sich zu nehmen. Der Pluralismus der Zukunft hat somit die Gestalt eines Versprechens, das unablässig zu nicht erfolgsorientierter Selbstkritik aufruft, zu Wandel, und zu der Fähigkeit jedes ›Pluralismus im Hier und Jetzt‹, sich zu vervollkommnen.« (Arfi 2015, S. 670)

Religiöser Pluralismus als Hypothese bedeutet also nicht, dass die theologischen Lehren und moralischen Blaupausen aller Religionen gleichermaßen gültig sind. Er bedeutet vielmehr, dass die Theologie und die Moralvorstellungen jeder Religion auf ihre eigene Weise richtig sind und dass es nicht die eine Position gibt, von der man sagen könnte, dass man mit ihr Gott näher ist als jeder andere. Mit der Idee des religiösen Pluralismus als Hypothese besteht keine Notwendigkeit, einen »universellen« religiösen Pluralismus durchzusetzen. Um dies weiter zu

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betonen: Der Eckpfeiler der Idee des religiösen Pluralismus als Hypothese besteht gerade darin, dass er nicht als absolute Wahrheit oder als Satz transzendentaler Prinzipien auferlegt werden kann. Vielmehr kann jede Tradition ihre eigene Art oder ihren eigenen Grad an religiösem Pluralismus aus ihrer eigenen historischen Erfahrung, ihren kulturellen Wurzeln und ihren theologischen Prinzipien hervorbringen. Von den Religionen wird erwartet, dass sie den religiösen Pluralismus nicht wegen der Zwänge kosmopolitischer Befindlichkeiten in zunehmend multireligiösen Gesellschaften einhalten, sondern weil ihre eigene Tradition sie dazu geführt hat. Panjwani hat diesen Punkt treffend wie folgt zusammengefasst: »Wichtig ist dabei nicht nur die ethische wie praktische Fragwürdigkeit, Wertvorstellungen einfach aufzuerlegen, sondern auch die Tatsache, dass alle große Religionen und Kulturtraditionen pluralistisch ausgerichtet sind und Ressourcen mitbringen, die sie zur Wertschätzung von Frieden, Wohlstand und gleichberechtigter Freiheit als Grundlage für das Zusammenleben bringen.« (Panjwani 2016, S. 334)

Soroush zufolge sollte man mit religiösem Pluralismus als Hypothese nicht nur einen A-priori-Ansatz für die Betrachtung von Religionen wählen, sondern sich auch für eine A-posteriori-Methode entscheiden, bei der die jeweilige Geschichte und ihr breiterer Kontext berücksichtigt werden (Soroush 2009, S. 132). Akbar erklärte Soroushs Ansatz so: »Die Pluralität religiöser Traditionen bedeutet nicht nur, dass es verschiedene Wege zu Gott gibt, wie die klassischen Sufi betonten, sondern dass diese Pluralität auch als Ausdruck unterschiedlicher geschichtlicher und kultureller Voraussetzungen gewertet wird, in denen die verschiedenen Religionen entstanden sind und sich entwickelt haben. […] Entsprechend ist es nicht Soroushs Absicht, den Wahrheitsanspruch einer Religion und die Irrigkeit anderer festzuhalten. Seine Herangehensweise dient letztlich dazu, einen religiösen Pluralismus zu etablieren, der […] Gläubige zu gegenseitigem Verständnis führen soll und nicht dazu, dass man sich lediglich toleriert […] Soroush betont, dass diese Vorstellung keineswegs dazu aufruft, Rituale und Glaubensinhalte einzelner Religionen zugunsten des Pluralismus zu vernachlässigen.« (Akbar 2017, S. 325)

Um die Relevanz und den Umfang des religiösen Pluralismus in einer bestimmten Religion zu untersuchen, kann man sich einem Vergleich religiöser Überzeugungen nicht entziehen. Dennoch sollten diese nicht als »Typen«, sondern nach ihrer Deutung verglichen werden, denn nicht nur vermitteln sie alle eine Version der Wahrheit von demselben Gott, wie ein pluralistischer Theologe argumentieren würde, sondern Pluralismus ist immer auch eine Frage des Umsetzungsgrades. McKim (2012) kommentierte die Typologie von Race (1983), die zwischen »Inklusivismus«, »Exklusivismus« und Pluralismus unterscheidet, dahingehend, dass sie aus flexiblen und überlappenden Kategorien besteht, die

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sich über zusammenhängende Räume erstrecken. Man könnte abweichende Positionen zu unterschiedlichen religiösen Themen in anderen Traditionen einnehmen und etwa gegenüber einigen exklusiv und gegenüber anderen inklusiv eingestellt sein. Beim Pluralismus geht es also nicht mehr darum, zu fragen, ob eine Religion oder eine Interpretation wahr oder falsch ist, sondern darum, die Bedeutung darin zu verstehen.

4.

Pädagogische Zusammenhänge

Lassen Sie mich zunächst die Lesenden mit dem zuvor erwähnten Vers aus der zweiten Sure (Al-Baqara) daran erinnern: »[…] Alle glauben an Allah, Seine Engel, Seine Bücher und Seine Gesandten – Wir machen keinen Unterschied bei jemandem von Seinen Gesandten« (Koran 2:285). Obwohl in diesem Vers »Buch« im Singular wie im Plural gelesen werden kann (in der englischen Übersetzung steht »das Buch« im Singular; Anm. d. Übers.), werden die Gläubigen gebeten, nicht zwischen den »Gesandten Gottes« und zwischen »Seinen Büchern« zu unterscheiden. Daher kann man argumentieren, dass Muslim*innen an alle Bücher glauben sollten, weil sie aus derselben göttlichen Quelle stammen, sie jedoch unterschiedlich, oder jeweils für sich, behandeln sollten, weil sie unterschiedliche Zwecke haben, in unterschiedlichen Kontexten offenbart wurden und unterschiedlich interpretiert werden. Die Propheten dagegen sind es, die ohne Differenzierung in Bezug auf die Gültigkeit, Authentizität und Wahrhaftigkeit ihrer Prophezeiung behandelt werden sollten. In dieser Hinsicht ist es nicht falsch, »selektiven Pluralismus« zu vertreten (Kadiwal 2014, S. 189). Man kann eine Religion als einen Akt der Grenzziehung der jeweils eigenen religiösen Identität wählen und trotzdem die Sensibilität des religiösen Pluralismus kultivieren. Wer einen »selektiven Pluralismus« vertritt, zeichnet sich durch die Bereitschaft aus, sich zu einem »integrativen Exklusivismus« zu bekennen, die Wahrheiten anderer Religionen zu schätzen und von ihnen mehr über die eigene Religion zu lernen, ohne dabei die eigenen religiösen Verpflichtungen und Überzeugungen aufzugeben. In diesem Zusammenhang hat Eck zu Recht bemerkt: »Exklusivisten, Inklusivisten und Pluralisten sind nicht zwangsläufig jeweils andere Personengruppen. Sie vertreten jedoch Denkweisen über Diversität und können Anteil an einem andauernden Dialog in uns selbst haben« (Eck 2005, S. 41). In der konfessionellen islamischen Erziehung wird dann nach einem Begriff des religiösen Pluralismus gesucht, der in der Theologie und Geschichte bestimmter muslimischer Religionsgemeinschaften »verwurzelt« ist (Kadiwal 2014) und sich weder auf den Islam beschränkt noch für andere Religionen relativistisch ist (Legenhausen 1999). Trotzdem bleibt die Frage, wie wir uns

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Koranversen nähern wie »Gewiss, Wir haben die Thora hinabgesandt, in der Rechtleitung und Licht sind […]« (Koran 5:44) und »Und Wir ließen auf ihren Spuren ʿI¯sa¯, den Sohn Maryams, folgen, das zu bestätigen, was von der Thora vor ihm [offenbart] war; und Wir gaben ihm das Evangelium, in dem Rechtleitung und Licht sind […]« (Koran 5:46). Da diese Verse bestätigen, dass Gottes »Licht« auch in den anderen Schriften existiert, könnte man sich fragen, wie man Muslim*innen im Lichte anderer Religionen erziehen soll. Was ist nötig, um ˇ ala¯l ad-Dı¯n Ru¯mı¯ (gest. 1273) zu Recht argumendavon zu überzeugen, dass G tierte: »Die Lampen sind unterschiedlich, aber das Licht ist dasselbe« (zit. in Legenhausen 1999, S. 21). Wie kann ferner ein Herz erzogen werden, so dass es potenziell, mit den Worten Ibn ʿArabı¯s (gest. 1240), »jede Form annehmen« kann: »Mein Herz kann jede Form annehmen: Für Gazellen eine Wiese, Ein Kreuzgang für Mönche, Für die Götzen ein heiliger Boden, Die Kaaba für den Pilger, Die Tafeln der Tora, Die Schriftrollen des Korans.« (Ibn ʿArabı¯, deutsche Übersetzung nach dem Englischen bei Sells 2000, S. 75)

Die Literatur zu pluralistischen Ansätzen des Religionsunterrichts ist freilich extensiv (eine aktuelle Übersicht über die verschiedenen pädagogischen Ansätze zum religiösen Pluralismus siehe in Kadiwal 2014). Alles in allem wenden diese Ansätze phänomenologische, erfahrungsbezogene, dialogische, existenzialistische, dialogische und interpretative Methoden an, um Akzeptanz, Versöhnung und friedliches Zusammenleben zu fördern (Aslan 2016; Niyozov 2016). In dieser Hinsicht ist die Förderung von Reflexivität und Hermeneutik und die Wertschätzung von Ambivalenz und Zweifel in der konfessionellen islamischen Erziehung am dringendsten erforderlich, vor allem bei Pädagog*innen für religiösen Pluralismus. Dennoch denke ich, dass die pädagogische Antwort auf die aufgeworfenen Fragen woanders beginnen sollte. Insbesondere schlage ich vor, eine Theorie über eine neue Art des Religionsunterrichts zu erarbeiten, die sich auf die Idee konzentriert, dass die Ontologie des oder der Gläubigen die Epistemologie seiner oder ihrer religiösen Überzeugungen ersetzt. An vielen Stellen im Koran wird der oder die Gläubige als handelnde Person und als ontologische Einheit konstituiert, bevor seine oder ihre Überzeugungen detailliert beschrieben werden. Der Status des oder der Gläubigen wird nicht durch die Art oder Qualität seines oder ihres Glaubens festgelegt, die später in die Szene gelangen, sondern durch Erfahrung. Zum Beispiel wird der Koran als ein Buch offenbart, an dem es keinen Zweifel gibt und der als »Rechtleitung für die

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Gottesfürchtigen« (Koran 2:1) dient. An anderer Stelle wird der Koran »als Rechtleitung und frohe Botschaft für die Gläubigen« (Koran 2:97) beschrieben. In beiden Versen sind »die Gottesfürchtigen« und die »Gläubigen« diejenigen, die diese Wahrheit des Korans sehen konnten und als Anleitung verwenden können. Die Gläubigen (muʾmin) sind diejenigen, die die an sie gerichtete Botschaft (logisch) begreifen und wertschätzen können: »[…] Wir hören und gehorchen. (Gewähre uns) Deine Vergebung, unser Herr! Und zu Dir ist der Ausgang.« (Koran 2:285) »[…] Darin ist wahrlich ein Zeichen für euch, wenn ihr gläubig seid.« (Koran 3:49) »Und Wir haben auf dich das Buch nur hinabgesandt, damit du ihnen das klar machst, worüber sie uneinig gewesen sind, und als Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben.« (Koran 16:64)

Hier möchte ich zwischen dem oder der Gläubigen im generellen und im besonderen Sinn unterscheiden. Ich schlage die Vorstellung vor, dass das Konzept des oder der »Gläubigen im generellen Sinn« dasjenige des oder der »Gläubigen einer bestimmten Religion« überlagert. Universal gläubig zu sein bedeutet, sich in einem Geisteszustand zu befinden, der es generell erlaubt, eine Religion oder einen Glauben anzunehmen. Es ist dieses voraussetzende Bewusstsein, das dem Anhängen einer Religion noch übergeordnet ist. Um diese vorsprachliche, vorreligiöse Erfahrung zu verstehen, stellen Sie sich Momente vor, in denen Sie vor einer herrlichen Aussicht auf einen Ozean, einen Berg, einen Wald oder sogar einen Wolkenkratzer stehen. Sie sind zuerst erstaunt und sprachlos, und erst dann denken Sie über Ihr Erstaunen nach, und darüber, wie breit der Ozean ist oder wie hoch der Berg in Metern oder Zoll ist. Mit anderen Worten, eine universal gläubige Person zu sein äußert sich darin, dass man im Angesicht dessen weiß, was als allmächtig und überragend wahrgenommen wird, was auch immer das sein mag. Dementsprechend bedeutet es, Muslim*a im allgemeinen Sinne zu sein, wenn wir uns in einer unterwürfigen Position vor dem wissen, was wir als »jenseits« unserer Existenz und Erfahrung wahrnehmen. In dieser unterwürfigen Position sind wir dem ausgesetzt, was wir als feierlich, großartig und erhaben empfinden, bevor wir bestimmte Überzeugungen und Praktiken übernehmen, um diese unreife und »reine« Erfahrung mit Worten und Ritualen zu verarbeiten und zu sakralisieren, die uns wiederum in Anhänger*innen spezifischer Religionen verwandeln. Grimmit (2000) schlug drei Modelle des Religionsunterrichts vor, wobei er zwischen Erziehung zur, über und von Religion unterschied. Die Erziehung zur Religion schließt einen konfessionellen Ansatz ein, bei dem von Mitgliedern des Glaubens eine einzige Tradition gelehrt wird, um die Lernenden mit den Überzeugungen und Praktiken einer bestimmten Religion vertraut zu machen. Die

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Aufklärung über Religion wird nichtkonfessionell und von einem neutralen Standpunkt aus unterrichtet, wobei beschreibende und historische Methoden verwendet werden, um über die Überzeugungen, Werte, Praktiken und Einflüsse der Religion auf Einzelpersonen und Gemeinschaften aufzuklären. Schließlich bietet die Erziehung aus der Religion den Lernenden die Möglichkeit, verschiedene moralische Dilemmata zu berücksichtigen, und ermöglicht ihnen, ihre eigenen Ideen und Ansichten zu entwickeln. Die Umsetzung dieser Ansätze könnte sich jedoch ohne geeignete Vorbereitung, wie man die Belange des religiösen Pluralismus am besten fördert, als kontraproduktiv erweisen. Daher schlage ich vor, Grimmits Typologie der religiösen Bildung um einen weiteren Aspekt zu erweitern: die religiöse Bildung. Diese Art der Bildung konzentriert sich auf die Begegnung mit der Gegenwart des Transzendenten. Sie soll den Lernenden helfen, über ihr Engagement mit den Gewissheiten und Unsicherheiten über das als jenseits der menschlichen Vernunft und Erfahrung Empfundene nachzudenken. In Anlehnung an Hick, der im Akt der menschlichen Wahrnehmung zwischen dem »Realen als solchem« (»Real-as-it-is-in-itself«, »noumenal Real«) und dem Realen, wie es in der menschlichen Wahrnehmung erscheint (»Real-as-it-appears«, »phenomenal Real«), unterscheidet, zielt diese Art der Bildung darauf ab, die Lernenden zu ermutigen, sich mit ihrem eigenen Wortschatz mit dem unendlichen »noumenal Real« auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken. Für Hick ist das »ultimate Real«, das Göttliche, unbegrenzt und übertrifft das menschliche Denken und die menschliche Sprache. Daher »kann nicht gesagt werden, dass es sich um eine oder mehrere Personen oder Dinge, Substanzen oder Prozesse handelt, die gut oder böse, zweckmäßig oder nicht zweckmäßig sind. […] Wir können davon nicht einmal wie von einer Sache oder einer Einheit sprechen« (Hick 1989, S. 246). Daher versucht diese Art der Erziehung, den Blick auf besonders ausgezeichnete Momente zu lenken, in denen die Lernenden über das Reale nachdenken, wie es in ihren eigenen persönlichen Erfahrungen erscheint. In diesem Sinne zielt diese Art der Bildung auf das »noumenal« Gedachte ab, das undenkbar ist, um über seine Präsenz im Leben der Lernenden nachzudenken, ohne dabei auf die geheiligte Sprache bestimmter Religionen oder Schriften zurückzugreifen. Es ist in der Tat eine Erziehung, mittels derer interessierte Lernende für die Sensibilität kultiviert werden, die erforderlich ist, um das »noumenal Real« mit dem Wortschatz und den Ausdrücken der Lernenden zuzulassen, in dem Moment, bevor es sich in das »phenomenal Real« verwandelt, wie es in der religiösen Sprache der unterschiedlichen Traditionen erscheint. Daher beharrt diese Art der Erziehung auf einer Vermeidung der Indoktrination durch das, was die verschiedenen religiösen Traditionen als ihr Reales bezeichnen, um den Lernenden das Erlebnis des Unerfahrbaren direkt und ohne Vermittlung zu erlauben. Nur dann können sie lernen und darüber nachdenken, wie

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dieses Reale in der Tat historisch von der Sprache, der Kultur und den gesellschaftspolitischen Bedingungen der Kontexte abhängt, in denen Religionen entstanden sind und sich entwickelt haben. In dieser Phase ist in Soroushs Terminologie (2009) der Grad der Religiosität minimal, die zu Erziehenden sind den »Grundlagen« der Religion dagegen in maximaler Weise ausgesetzt. Anders ausgedrückt: In dieser Phase der Religionserziehung ist für das Erleben des Endgültigen kein religiöses Vorwissen erforderlich, und eine Auseinandersetzung mit den »Zusätzen« bestimmter Religionen sollte, wenn überhaupt, gezielt ausgeblendet werden.

5.

Anstelle einer Schlussfolgerung

Was auch immer wir sagen oder tun, um unser Verständnis oder unsere Erfahrung mit dem Endgültigen, an sich Unveränderlichen, Wesentlichen und Heiligen auszudrücken, bleibt menschliches Wissen. Als solches ist es immer veränderlich, eingeschränkt, kontextabhängig und eine Frage der Deutung. Wir schlagen jedoch vor, die Vielzahl der Religionen als Teil der Offenbarung des Ultimativen zu betrachten. Wie wenn wir am Rand einer atemberaubenden Klippe stehen oder in farbenfrohe Riffe tauchen, werden wir ebenso gebeten, die Vielfalt der Welt, einschließlich der Vielzahl der Religionen, mit gesunder Ehrfurcht, mit Staunen und Lobpreis zu betrachten. In diesem Sinne ist die Erziehung zu religiösem Pluralismus ein menschliches Bestreben, eine Welt zu verstehen, die a priori pluralistisch und vielfältig ist. Der Koran sagt: »Und zu Seinen Zeichen gehört die Erschaffung der Himmel und der Erde und (auch) die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Darin sind wahrlich Zeichen für die Wissenden« (30:22). Hier hebt Gott den Grad der Unterschiedlichkeit von Sprachen und Farben zu einem Wunderwerk hervor, das mit einem ähnlichen verbunden ist – der »Erschaffung der Himmel und der Erde«. Der Koran lehrt, dass Gott absichtlich eine Welt der Vielfalt geschaffen hat. Die Vielzahl von Farben, Ethnien, Gemeinschaften und Religionen ist Zeichen der Barmherzigkeit und Herrlichkeit Gottes. Vielfalt ist göttlich beabsichtigt. Deshalb können Muslim*innen sie nicht vermeiden oder ihr gegenüber neutral sein. Sie müssen sich vielmehr als »selektive Pluralist*innen« damit auseinandersetzen. Im Koran steht: »Und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, das zu bestätigen, was von dem Buch vor ihm (offenbart) war, und als Wächter darüber. So richte zwischen ihnen nach dem, was Allah (als Offenbarung) herabgesandt hat, und folge nicht ihren Neigungen entgegen dem, was dir von der Wahrheit zugekommen ist. Für jeden von euch haben Wir ein Gesetz und einen deutlichen Weg festgelegt. Und wenn Allah wollte, hätte Er euch wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber (es ist so,) damit

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Er euch in dem, was Er euch gegeben hat, prüfe. So wetteifert nach den guten Dingen! Zu Allah wird euer aller Rückkehr sein, und dann wird Er euch kundtun, worüber ihr uneinig zu sein pflegtet.« (Koran 5:48)

Es ist somit nicht die Aufgabe von Muslim*innen, die Wahrheit und Methode anderer Religionen zu beurteilen. Umgekehrt besteht ihre Aufgabe als Muslim*innen darin, sich für eine Wahrheit zu entscheiden. Um die Wahl zu treffen und den freien Willen des Menschen zu testen, stellte Gott der Menschheit eine Welt zur Verfügung, die in allen Aspekten a priori pluralistisch ist. Daher ist Pluralität ein Tätigkeitsfeld, das es zu erforschen gilt, und Pluralismus ist eine Hypothese, die auf der Suche nach der Einheit Gottes geprüft werden muss, einer Einheit, die nicht die Vereinigung der Religionen bedeutet, sondern ihre Existenz in Harmonie.

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Reza Hajatpour

Theologische, philosophische und mystische Zugänge zur islamischen Ethik

Zusammenfassung Was ist das Ziel der Ethik im Islam? Ist der Mensch im Islam ein ethisches Wesen? Gibt es im Islam nur eine ethische Vorstellung oder verschiedene Ethiken? Welche Rolle spielt die Vernunft bzw. die Religion für das ethische Denken? Ist die Vernunft in der Frage der moralischen Urteile souverän oder braucht sie die Offenbarung? Und welche Funktion kommt der Moralphilosophie insgesamt im Islam zu? Dies sind nur einige der Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Rolle der Ethik im Islam ergeben und mit denen der vorliegende Beitrag sich näher auseinandersetzt.

1.

Einleitung

Der Ethik im Islam geht es um den »Zustand der Seele«. Hierbei handelt es sich um einen Zustand der Lauterkeit und Tugendhaftigkeit, durch den der Mensch die religiösen Botschaften, die nur über den Glauben an ein transzendentales Wesen erfahrbar sind, mit der Erfüllung des Guten und dem Vermeiden des Verwerflichen verinnerlichen muss. Im Unterschied zur Ethik im Allgemeinen ist die religiöse Ethik auf eine metaphysisch-eschatologische Zielsetzung begrenzt. Religiöse Erscheinungen sind eine Bestätigung der ethischen Sphären der Handlungsweisen und tragen in sich ethische Missionen. Ethik, also moralische Normen, dienen der Religion als Prinzipien und als eine religiöse Lebensform in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie als spirituelle und geistige Haltung im Angesicht Gottes. Einer religiösen Ethik liegt in erster Linie die Beziehung zwischen Mensch und Gott zugrunde. Man erfüllt somit nicht nur eine selbst gestellte Aufgabe, sondern leistet Gehorsam, beispielsweise bezüglich der Nächstenliebe als wichtiger religiöser Grundsatz: Die Menschen lieben ihre Mitmenschen in erster Linie nicht, weil sie sie an sich für liebenswürdig halten oder weil dies dem sozialen Zu-

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sammenleben oder der Lebenserhaltung dienen würde, sondern weil sie sich dadurch das Wohlwollen Gottes sichern und ihr Verhalten in Übereinstimmung mit der göttlichen Offenbarung sehen. Der Islam kennt neben einer religiös-normativ bedingten Moralvorstellung auch mystische und philosophische Ideen zu ethischer Gesinnung und zwischenmenschlichen Haltungen. Obwohl im Dienst des Glaubens stehend, dient die islamische Philosophie vornehmlich der rationalen Erklärung des Lebens. So beginnt diese Philosophie mit Selbsterkenntnis sowie der Erkenntnis der Bedingungen unseres Daseins, Denkens und Handelns. Daher gelten Ontologie, Anthropologie und Psychologie als untrennbare Aspekte der Philosophie im Islam. Die Ethik ist demzufolge ein fester Bestandteil des Lebens. Demgegenüber handelt es sich bei der mystischen Ethik um eine spirituelle Reflexion und Verinnerlichung der göttlichen Botschaften, die den Mystiker oder die Mystikerin zur Vereinigung mit Gott führen. Im Allgemeinen misst man der Ethik einen Wert bei, der dem Leben allgemein dient und nicht durch die Offenbarung oder durch Gesetze entsteht, sondern sich aus der Lebenserfahrung heraus entwickelt. In diesem Sinne herrscht ein wesentlicher Unterschied zwischen ethischen Vorstellungen und moralisierenden Aspekten, die durch religiöse oder andere ideologische Weltanschauungen die Lebensführung des Menschen prägen. Der Religion geht es jedoch um ein Leben jenseits des Vergänglichen, das den Sinn des Daseins deutet und das ihm eine unbegrenzte existenzielle Selbsterfüllung durch eine höhere Macht verleiht. Die Frage stellt sich nun unweigerlich, in welcher Form Religiosität und Ethik im Islam übereinstimmen und inwiefern sich im Islam ein »System der Ethik« (Immanuel Kant) zu erkennen gibt, sodass von »metaphysischer« und »diesseitiger Bestimmung« gesprochen werden kann. Wenn ein solches System existiert, fragt man konsequent nach dem Ziel der Ethik im Islam. Ist die Ethik identisch mit dem Glauben? Welche Bedeutung wird den religiösen Idealen für die Ethik und die Selbstgestaltung des Menschen zugesprochen? Um diese Fragen beantworten zu können, ist es auch unerlässlich, auf das Menschbild im Islam einzugehen, mit dem die ethischen Fragen und damit einhergehende Erziehungsvorstellungen zusammenhängen. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Erziehung, die ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt. Die Erziehung gilt in islamischen Ethiktraktaten als ein Teilaspekt der Ethik. Sie wird oft in Form sittlicher Anstandsregeln bzw. praktischer Anweisungen vorgeführt, in denen entweder die Eigenschaften eines Mustermenschen im Alltag und / oder in einem übersinnlichen Veredelungszustand dargestellt werden. Ein weiterer Aspekt ist die Vernunft. Im islamischen Ethik- und Moraldiskurs handelt es sich bei der Vernunft um das Vermögen, richtig und gut zu handeln und das Richtige und Gute vom Falschen und Bösen zu unterscheiden. Diesbezüglich stellt sich die Frage, welche Funktion hier die Moralphilosophie im Islam

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einnimmt. Worauf bezieht sie sich und wie begründet sie das Denken und das Handeln des Menschen? Moralische Inhalte sind an bestimmte Spielregeln gebunden. Es handelt sich hierbei um die sozialen Regeln und kulturellen Wertvorstellungen im jeweiligen Kontext, durch die der Mensch über Erziehung, Bildung und gesellschaftliche Vermittlung geprägt wird. Beim moralischen Denken handelt es sich ferner um Prinzipien, die im aristotelischen Sinne Tugenden zugrunde liegen und sich unabhängig von gesellschaftlichen Spielregeln begründen lassen. Nach welchen Kriterien werden die Urteile gefällt? Sind solche Urteile universell oder bedürfen sie einer zusätzlichen Begründung? Woher rührt also ihre Legitimität? In diesem Sinne wird folgenden Fragen nachgegangen: Wer ist der Träger moralischer Vorstellungen? Welche Beziehung haben moralische Ansichten zum Glauben und welche Stellung nimmt dabei die Philosophie ein? Um einen Einblick in die islamische Ethik zu erlangen, ist es ferner notwendig, die Grundzüge des menschlichen Wesens in Bezug auf sein ethisches Wesen zu erläutern. Hierbei geht es vor allem um den Menschen als Freiheitswesen und seine diesseitsbezogenen essenziellen Rechte und Pflichten einerseits und seine jenseitsbezogene spirituelle Selbstgestaltung und seine Existenzideale andererseits.

2.

Begriffserklärungen

Ethik, Moral und Sitte sind die beständigsten Begriffe, die im deutschen Sprachgebrauch für das Verhalten und Handeln des Menschen gegenüber sich selbst, der Natur und vor allem den Mitmenschen Verwendung finden. Moral ist eine Ableitung vom lateinischen Wort mores und bedeutet übersetzt »Sitte, Brauch oder Charakter« (Höffe & Forschner 1977, S. 161f.). Moral gilt vor allem in öffentlichen Institutionen, innerhalb der gesellschaftlichen, politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Ordnung und letztlich im täglichen Leben. Insgesamt umfasst Moral sämtliche Verhaltensregeln, die in einer sozialen Gemeinschaft dazu dienen, herauszufiltern, welche Handlungen anerkannt oder missbilligt werden sollen. Der Begriff »Sitte« wiederum leitet sich von dem indogermanischen Wort sueth ab. Ähnlich wie Moral verdeutlicht er den Zusammenhang zwischen Wohnort und den dort vorherrschenden Lebensweisen sowie vorgeformten Handlungs- und Beurteilungsgewohnheiten. Im Deutschen spricht man von »Anstand und Sitte« bzw. dem »Bruch der Sitte«. Somit handelt es sich kulturell bzw. soziologisch gesehen um soziale Normen als überlieferte Ordnung: In diesem Sinne geht Sitte sehr eng mit der Moral einher (Krings 1988, S. 397f.; Lesch 1992, S. 64).

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Der Begriff »Ethik« stammt vom griechischen Wort ethos (Stamm oder Sippe) ab, womit man ursprünglich Wohnsitz, Heimat, gewohnten Aufenthaltsort und Lebensgewohnheiten definierte. Allgemein versteht man darunter einen gemeinsamen Raum bzw. eine gemeinsame Sitte, im spezifischen Sinne sittliches Bewusstsein bzw. Charakter. Ethik dient als Prinzip für eine Lebensart nach moralischem Kodex. In der Philosophie gilt sie als die Lehre von den moralischen Grundnormen des menschlichen Denkens und Handelns. Sie ist die Methode der theoretischen Begründung der Moral und Teil der praktischen Philosophie. Die Ethik beschäftigt sich einerseits mit dem Erkennen und den Prinzipien des Charakters und des sittlichen Denkens, andererseits mit dem Handeln des Menschen. Pragmatisch betrachtet wird sie als Theoriesystem von der Sittlichkeit und den Prinzipien (zwischen)menschlicher Verpflichtungen genutzt.

2.1

Der islamische Ethikbegriff ahla¯q ˘

Der übliche Sammelbegriff für Ethik im Islam ist ahla¯q, der zwar nicht im Koran, ˘ jedoch in einigen Überlieferungen vorkommt. Laut einer der berühmtesten Überlieferungen soll der Prophet Folgendes gesagt haben: »Ich wurde nur geschickt, um die Charaktereigenschaften zu veredeln« (vgl. Gril 2006, S. 80). Ahla¯q ist die Pluralform des Begriffs halq bzw. hulq: Halq stellt die Form der ˘ ˘ ˘ ˘ Dinge und des Erschaffenen dar, hulq dagegen die Natur der Dinge, deren Ei˘ genschaften, innere Befindlichkeiten und Dispositionen. Den Begriff halq finden ˘ wir häufig im Koran. Er wird ausschließlich im Zusammenhang mit der göttlichen Schöpfung sowie der Entstehung der Welt und des Menschen verwendet. Hulq hingegen kommt nur zweimal vor und wird im Zusammenhang mit Sitte ˘ und Charaktereigenschaften verwendet, wie beispielsweise »Dies ist nichts als eine Sitte der Altvorderen« (Koran 26:137), und einmal im Zusammenhang mit dem Verhalten und den Eigenschaften bzw. der Wesensart des Propheten Muhammad: »Und du besitzest ganz sicherlich hohe moralische Eigenschaften« ˙ (Koran 68:4) oder »Und du bist wahrlich von großartiger Wesensart« (siehe arRa¯g˙ib al-Isfaha¯nı¯ 1972, S. 158f.). ˙ Allgemein formuliert bedeuten der Begriff ahla¯q und das davon abgeleitete ˘ Nomen hulq so viel wie »angeborene Eigenart«, »Charakter«, »Sitte«, »Ge˘ wohnheit«, »Wesen«, »Neigung«, »Veranlagung«, »Gemütsart«, »Gabe«, »geistige Fähigkeit«, »Talent«, »Begabung«, »Naturanlage«, »Vermögen« und »Habitus«. In diesem Sinne spricht man im Arabischen von al-huluq hiya sagˇiyya: Hulq ˘ ˘ bedeutet also Natur, Wesen, Veranlagung und Eigenschaft (ar-Ra¯g˙ib al-Isfaha¯ni ˙ 1972, S. 159). Der islamische Ethikphilosoph Ibn Miskawaih (gest. 1030), ein Zeitgenosse Avicennas, erläutert den Begriff al-hulq als einen Zustand der Seele (ha¯lun li˙ ˘

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nafs), der die Seele zu Handlungen ohne vorherige Überlegung veranlasst (Ibn Miskawaih 1924, S. 41). Dieser Zustand ist jedoch entweder natürlich, wie die Wut, oder erworben durch Übung und Gewohnheit, wie der Mut. ˇ aʿfar as-Sadiq, auf den die Gründung der Von dem schiitischen Imam G ˙ ˙ gˇaʿfaritischen Rechtsschule zurückgeht, wird überliefert, dass er hulq unter zwei ˘ Aspekten definiert: Hulq ist zum einen eine Veranlagung (sagˇiyya), zum anderen ˘ ein Gesinnungsvorhaben (niyya) im Menschen (Gulpa¯yiga¯nı¯ 1998, S. 2f.). Allgemein betrachtet as-Sa¯diq hulq als Charaktereigenschaft des Menschen und ˙ ˙ ˘ erklärt dazu, dass die essenziellen Charaktereigenschaften zwangsläufig, ohne Mühe und eigenes Zutun, aus dem Menschen entspringen. Die zweite Art beschreibt Eigenschaften, die erst durch Geduld, Beharrlichkeit und Befolgung möglich werden. Daneben existieren zahlreiche weitere Begriffe, die im islamischen Kulturkreis für ethische Charaktereigenschaften, moralisches und sittliches Verhalten verwendet werden. Die am häufigsten verwendeten Begriffe aus dem arabischen und persischen Raum sind folgende: adab (Anstand), huy (gut gelaunt), bad (schlecht), hub ˘ ˘ (gut), zisˇt (hässlich), ziba¯ (schön), gˇamı¯l (schöne Tat), mahmu¯d (gelobte Tat), ˙ husn (erwünschte Tat), qubh (unerwünschte Tat), hayr (Gut), ˇsarr (Böse), ˙ ˙ ˘ mahbu¯b (gemochte Tat), mazmu¯m (verabscheute Tat), arzisˇ (Wert), fadila (Tu˙ ˙ gend), razila (Frevel), kama¯l (Integrität, Rechtschaffenheit), naqs (mangelhaft), saʿa¯da (Glückseligkeit), ˇsaqa¯wa (Elend).

2.2

Philosophische Ethik

Wie bereits erwähnt, ist die Ethik eine Teildisziplin der islamischen Philosophie und Gegenstand der praktischen Philosophie. Die praktische Philosophie baut ihre Ideen und Vorstellungen zu ethischen Maximen und Prinzipien auf der theoretischen Philosophie auf. »Praktisch« wird sie deshalb genannt, weil sie sich mit dem Menschen als freiem Wesen und seinen Handlungen sowie gesellschaftlichen und ethischen Normen beschäftigt. Während sich die theoretische Philosophie im Islam um die Erkenntnis der Dinge, deren Wesen und Zustände, aber vor allem um die Erkenntnis Gottes, seiner Eigenschaften und die Erkenntnis der Schöpfung bzw. dessen Sinn für die Geschöpfe bemüht, behandelt die praktische Philosophie auf Grundlage der bereits erworbenen Erkenntnisse die Episteme der Prinzipien des Handelns des freien Menschen und das Ziel bzw. die Konsequenz seines Handelns für sich, für die Gesellschaft und bezüglich seiner Verantwortung gegenüber Gott. Die philosophische Ethik ist vor allem von den Ideen und Werken der griechischen Antike beeinflusst.

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Insgesamt leitet die praktische Philosophie ihre Vorstellungen aus den Überlegungen über die Handlungen des Menschen hinsichtlich ihrer Beurteilung als gut oder schlecht ab und fragt nach dem höchsten Gut. Der islamische Philosoph Ibn Sı¯na¯ (gest. 1037) bekräftigt in seinem Werk AnNagˇat, dass moralische Taten lobenswerte Taten seien, und die Zustimmung zu diesen Taten seien die lobenswerten Meinungen, die an drei Aspekten erkennbar sind: 1) Handlungen, die zum Gemeinwohl führen (taʾdı¯b sala¯hiyya); 2) Taten, ˙ ˙ die der Natur des Menschen entsprechen (fitra); 3) Handlungen, die den guten ˙ Traditionen und dem Brauchtum entsprechen (Mudarrisı¯ 1397, S. 79f.). Jeder dieser drei Aspekte kann auch religiös legitimiert werden: So wird Gerechtigkeit im Islam immer gelobt und Unterdrückung immer getadelt. Dieses ethische Urteil wird sowohl aus gesellschaftlicher Sicht als auch aus religiöser Sicht und aus Vernunftgründen gefällt. Dennoch stellt sich die Frage, ob ethische Urteile im Islam eine religiöse Legitimierung benötigen bzw. abhängig sind von der muslimischen Gemeinschaft oder unabhängig davon und allein aus dem gesunden Menschenverstand ableitbar sind. Ethik im philosophischen Sinne ist jedoch eine deskriptive Darstellung und Erläuterung der Grundkategorien oder Tatsachen. Demzufolge sind die den Menschen zugrunde liegenden Prinzipien und Kategorien der Gegenstand der Ethik, nach denen der Mensch seine Handlungen als gut oder schlecht definiert. De facto widmet sich die wahre Aufgabe der Ethik der Seele des Menschen, denn das Ziel der islamischen Ethik sind ja vor allem die Glückseligkeit und die Vollkommenheit der Seele. Folglich geht es um einen pädagogischen Seelenentwurf nach den Maßstäben der Weisheit und dementsprechend um die Verwandlung der Seele in einer transzendentalen Welt. Der persische Dichterphilosoph und Satiriker ʿUbayd Za¯ka¯nı¯ (gest. 1371) definiert in seinem Ethiktraktat »Die Fürstenethik« (Ahla¯q al-asˇra¯f) im An˘ schluss an Ibn Miskawaih die dualen Aspekte der Philosophie: »Die Philosophen haben zur Definition der Philosophie gesagt: Die Weisheit [al-hikma] ˙ zielt auf Vollendung der menschlichen Seele in ihrem theoretischen und praktischen Vermögen. […] D. h. in der Vernunftseele sind zwei Vermögen verankert. Ihre [der Seele] Vervollkommnung hängt von der Vervollkommnung dieser beiden ab: des theoretischen und praktischen Vermögens. Das theoretische Vermögen ist dasjenige, welches sein Verlangen auf die Perzeption der Kenntnisse und der Wissenschaften richtet, damit kraft jenes Verlangens [ jener Leidenschaft] sich [die Seele] die Erkenntnis der Dinge aneignet, wie sie ihnen wirklich eigen ist. Danach erreicht [der Mensch] die Erkenntnis um das wahre Ziel und den [letzten] Grund des Ganzen, die das Endziel aller Existierenden ist – erhaben und geheiligt sei er. Und geleitet von jener Erkenntnis mag er die Welt der Einheit und sogar die Stufe der Vereinigung erlangen, und sein Herz die Ruhe finden […]. Das praktische Vermögen ist dasjenige, wodurch [der Mensch] seine Kräfte und seine Handlungen klar ordnet und transparent macht, so dass sie miteinander übereinstimmen und harmonisch werden, damit auf der Grund-

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lage jenes Gleichgewichtes sein sittlicher Charakter lobenswert wird. Wenn dieses Wissen und die Praxis in diesem Grad in einer Person zusammenkommen, kann man sie den vollkommenen Menschen und Stellvertreter Gottes nennen. Sein Rang ist die höchste Stufe der Menschengattung, wie Gott, erhaben sei er, sagte: Er gibt die Weisheit, wem er will. Und wem die Weisheit geschenkt wird, dem wird viel Gutes geschenkt (Koran 2:269). So wird seine Seele nach dem Verlassen des Leibes für die beständige Wonne, für die ewige Glückseligkeit und für die Aufnahme in die Erleuchtung [faid, ˙ Gnade] Gottes gereift sein.« (Za¯ka¯nı¯ 1995, S. 62ff.)

Zu dieser Philosophie bzw. zur Weisheit (hikma), wie sie in der traditionellen ˙ platonischen Ethik dargestellt wird, gehören die vier Kardinaltugenden: Weisheit (hikma), Enthaltsamkeit (ʿiffat), Mut (sˇagˇa¯ʿa), Gerechtigkeit (ʿadl). Diese sind ˙ ˇ aʿfarı¯ (gest. 1998) eine innere und seelische Reflexion: für Muhammad Taqı¯ G Wenn sich die Seele diese Tugenden aneigne, werde sie die Erkenntnis über die ˇ aʿfarı¯ o. J., S. 26f.). D. h., man gewinnt mit Seienden erlangen, so wie sie sind (G hikma, wie Ibn Miskawaih meint, die Erkenntnis über die göttlichen und ˙ menschlichen Angelegenheiten (al-umu¯r al-ila¯hiyya wa al-insa¯niyya) (Ibn Miskawaih 1924, S. 26). Diese Selbst- und Gotteserkenntnis ist damit eine Aufgabe der Philosophie, die sich dem ganzen Menschen widmet. Menschsein ist de facto eine Aufgabe, eine intellektuelle und sittliche Angelegenheit, die der Philosophie eine praktische Bestimmung verleiht. Zum menschlichen Dasein gehört eine spezifische Art der Handlungen, Kräfte und Vermögen, wodurch sich der Mensch als Mensch bewähren kann. Unter seinem geistigen Vermögen und der Verfügbarkeit seines Willens lässt der Mensch die praktische Anlage seines Seelenvermögens zu einer pädagogischen Größe werden. Sie sind die Grundlage der »Vollendung seines Menschseins und seiner Tugenden« (wa biha¯ tatimmu insa¯niyatahu wa fada¯ʾilahu), welche Ibn ˙ Miskawaih der praktischen Philosophie zuordnet. Daher werden das Gute und das Böse als menschliche Willenstätigkeit zur spezifischen Aufgabe der praktischen Philosophie ernannt (Ibn Miskawaih 1924, S. 19). Genau diese spezifische praktische Anlage des Menschen macht ihn unter den Lebewesen zu etwas Einzigartigem. Je vollkommener sein Seelenvermögen ist, desto vollkommener ist der Mensch in seinem Menschsein (Ibn Miskawaih 1924, S. 20). Die Vervollkommnung des Menschen obliegt daher der Philosophie, wie auch ein späterer Anhänger von Ibn Miskawaihs philosophischer Ethik bestätigt. Nach Sadr ad-Dı¯n asˇ-Sˇira¯zı¯, bekannt als Mulla¯ Sadra¯ (gest. 1640), ist die ˙ ˙ praktische Philosophie generell die Erkenntnis, der Habitus, die Eigenschaften und all das, was aus diesem Habitus und diesen Eigenschaften resultiert. Hulq ˘ kann in diesem Sinne eine beständige Eigenschaft der Seele sein, z. B., wenn ein Mensch ein gerechter Mensch ist und immer gerecht bleibt. Jedoch kann ein Mensch ebenso ethisch sein, wenn er gelegentlich ethisch handelt; demnach ist hier nicht die Eigenschaft gemeint, sondern die Tat selbst. Ethik befasst sich

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somit theoretisch mit der Erkenntnis (ahla¯q-i nazarı¯), welche Taten gut sind und ˙ ˘ nach welchen man handeln soll (ahla¯q-i ʿamalı¯). ˘ Das Ziel der philosophischen Ethik ist es, die menschliche Seele durch geistige Askese bzw. Übung und Weisheit mit guten Eigenschaften auszustatten und ihr die Einsicht und die Fähigkeit zu gewähren, etwas ohne Überlegung und Anstrengungen zu vollbringen, um die ethischen Eigenschaften zu einem Dauerzustand der Natur der Seele werden zu lassen. Nicht alle islamischen Philosophen orientieren sich an dieser platonischaristotelischen Tugendlehre. Muhammad Zakariya¯ ar-Ra¯zı¯ (gest. 925) nimmt ˙ diesbezüglich eine »sensualistische« Position ein, die sich aus seinem Verständnis des Menschen aus dem naturwissenschaftlichen Empirismus herauskristallisiert. Empfindungen wie Lust, Genuss, Schmerz und Glück sowie ethische Maximen resultieren nach ihm aus den natürlichen Reflexionen, die erst dann erkennbar werden, wenn man zum natürlichen Zustand zurückgeführt wird. Aus diesem Prinzip geht sowohl das ästhetische als auch das ethische Empfinden hervor. Man reflektiert das Schöne und Gute erst dann, wenn bereits zuvor das Hässliche und das Übel in den Vordergrund getreten sind. Während al-Fa¯ra¯bı¯ (gest. 950) Platon und Aristoteles miteinander zu vereinbaren versucht, um am Ende die intelligible Welt als wahre Ordnung zu vereinen, ist ar-Ra¯zı¯ bemüht, das Ganze in einer epikureischen Weltsicht zu sehen und die platonische Ethik aus der Perspektive der sokratischen Erkenntnisästhetik zu erblicken. Seine ethischen Ansätze kann man besonders in den Werken At-tibb ˙˙ ar-rauha¯nı¯ und As-sı¯ra al-falsafiya beobachten. Ethik ist eine Empfindung der ˙ Seele wie eine »seelische Lustempfindung«. Für ar-Ra¯zı¯ sind Sinne und Vernunft die Gesamtwirklichkeit des menschlichen Selbst und seiner Weltwahrnehmung. Er sucht nach einer Harmonie zwischen den natürlichen und geistigen Bedürfnissen. In seinem Werk »Die spirituelle Medizin« steht das Entzücken, das sich durch die seelische Überwindung der »Begierde« (al-hawa¯) und der »naturhaften Gewohnheiten« (at-tibb, wörtlich auch »natürliche Anlage«) ergibt, im Mittel˙˙ punkt. Seine ethische Maxime zielt auf, wie es ar-Ra¯zı¯ selbst nennt, »die Beseitigung der Begierde und den Widerstand gegenüber dem, wonach die Naturanlage in den meisten Situationen verlangt« (Hajatpour 2015, S. 82–88). Das ist ein spiritueller Akt, den man als »geistige Innenwendung« bezeichnen kann und der von einem permanenten Kampf geprägt ist. Dafür sind »das Training der Seele« und »der allmähliche Fortschritt der Seele« erforderlich. ArRa¯zı¯ verspricht sich durch diesen spirituellen Kampf einen höheren Genuss, was einer Seelenpädagogik gleichkommt und für ihn einen seelischen Genuss von geistiger Art bedeutet, den die Weisen und diejenigen, die der Erziehung der Weisen folgen, erlangen. Dadurch kann »ein Mann seine Fehler erkennen«. ArRa¯zı¯ gibt demzufolge die nötigen Anweisungen und rät zur Befolgung der Ratschläge eines Weisen (Hajatpour 2015, S. 84).

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Ar-Ra¯zı¯ geht es dabei nicht um religiöse Erlösung, sondern um eine »geistige Innenwendung«, denn die weltlichen Genüsse sind nach seinem Verständnis vorübergehend. »Die Begierde und die naturhaften Gewohnheiten rufen uns immer dazu auf, die gegenwärtigen Genüsse zu suchen und sie zu bevorzugen, ohne an die Konsequenzen zu denken oder über diese zu reflektieren. Sie drängen und treiben uns dazu an, auch wenn diese [Begierden und naturhaften Gewohnheiten] als Folge Schmerz herbeiführen und einen viel größeren Genuss als das, was diesem voranging, verhindern. Denn sie sehen nichts als den momentanen Zustand, in denen sie sich befinden. Sie tun nichts außer den Schmerz, der sie in diesem Moment plagt, abzuwälzen, so wie ein Kind, das unter einer Augenentzündung leidet, aber lieber sein Auge reibt, Datteln isst und in der Sonne spielt.« (Hajatpour 2015, S. 84)

Was auch immer man unter einer ethischen Reflexion versteht, sie muss statt durch Nachahmung durch rationale Anstrengungen geschehen. Dem iranischen Gelehrten Murtada¯ Mutahharı¯ (gest. 1979) zufolge geht die praktische Philoso˙ ˙ phie (hikmat-i ʿamalı¯) über die menschlichen Pflichten ausschließlich aus der ˙ menschlichen Vernunft hervor (Mutahharı¯ 1989, S. 178f.). Daher sind die ethi˙ schen Taten selbstgewählt, wie der Ethikforscher Muhammad Rez˙a¯ Mudarrisı¯ ˙ feststellt: »Es geht um die selbstgewählten Taten, worüber der Mensch Macht hat und was er aus eigenem Willen hervorbringt (afʿa¯l maqdu¯r) und über den Wert und Würdigkeit dieser Taten.« In diesem Sinne ist Ethik eine Reflektion des Menschen als Freiheitswesen, das sich anders als das Tier den Idealen der Vernunft verpflichten kann. Ibn Miskawaih unterscheidet den Menschen vom Tier durch die Vernunft als das Prinzip des Handelns, welches auf das Gute gerichtet ist. Daher geht die islamische Ethik von dem ethischen Prinzip aus, dass das menschliche Handeln seinem Willen entsprungen ist und somit sind alle Fragestellungen über die Verantwortung, willentlichen Handlungen und Absichten des menschlichen Handelns und des Denkens Gegenstand der Ethik. Neben der Ethik (ahla¯q) behandelt die praktische Philosophie im Islam zwei ˘ weitere Aspekte des menschlichen Wirkens: die Führung des Haushalts (tadbı¯r al-manzil, dazu gehören auch die Bildung und Pädagogik, tadbı¯r und manzil) sowie die öffentliche Politik (siya¯sa). Alle diese drei Aspekte gelten für das Wirken des Menschen als Freiheitswesen im öffentlichen Raum, sei es innerhalb der Familie oder Politik oder der individuellen seelischen Veredelung. Zusammengefasst reflektiert die theoretische Philosophie über die Dinge, wie sie sind (Ist-Zustand oder Seins-Zustand) und die praktische Philosophie über die Handlungen, wie sie sein sollten (Soll-Zustand), de facto über Pflichten, Absichten und Prinzipien.

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Mystische Ethik

Ebenso wie die Philosophie strebt die Mystik danach, die Seele in einen Zustand der Vollkommenheit zu verwandeln, allerdings nicht durch Vernunft, sondern durch seelische Askese und praktische Übungen. Man kann auch von einer »Pädagogik des Seelenentwurfs« sprechen, die das Ziel hat, die Seele von weltlichen Begierden und materieller Abhängigkeit zu befreien. Die Mystik ist die Philosophie einer praktischen Lebensform und die ethische Erkenntnis eine Stufe des Bewusstseins, die sich auch rituell symbolisieren lässt. Die Quelle dieser Erkenntnis ist das göttliche Wissen. Mystische Ethik ist neben den Lehren der Offenbarung vor allem von der persischen, indischen, christlich-gnostischen und neuplatonischen Tradition geprägt. Der islamische Mystiker ʿIzz ad-Din Ka¯sˇa¯nı¯ (gest. ca. 1336) hebt die Besonderheiten des mystischen Wissens hervor. Diejenigen, die dieses Wissen besitzen, sind seiner Ansicht nach die göttlichen Gelehrten. Dass Gott der Ursprung und die Quelle aller Arten des Wissens ist, ändert nichts daran, dass das Wissen vielfältig in Erscheinung tritt. Er nennt eine Reihe von Wissensarten, die einander hierarchisch folgen: die Wissenschaft der Pflichten (farı¯dat), der Tugenden (fa˙ d¯ılat), des Studiums (dira¯sat), des Erbes (wira¯tat), des (göttlichen) im Begriff ¯ ˙ Stehens (qiya¯m, im Sinne des Korans, dass Gott über jedem Menschen steht), des Zustands (ha¯l), der Notwendigkeit (daru¯rat), der göttlichen Größe (siʿat, Weite), ˙ ˙ der Gewissheit (yaqı¯n) und der göttlichen Unmittelbarkeit (ladunnı¯) (Ka¯sˇa¯nı¯ 1956, S. 60–79). Gemeint ist mit diesen Wissensarten jedoch eine praktische und mentale Lebensweisheit, eine Art geistiger Bewusstseinszustand. Mit den genannten Begriffen möchte Ka¯sˇa¯nı¯ einen Entwicklungszustand kennzeichnen, in dem sowohl die pädagogische Phase als auch der Zustand des vollkommenen Wissens zum Ausdruck kommt. Ka¯sˇa¯nı¯ weist ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Erziehung und des Erziehers hin, wobei auch Gott beteiligt sei. Dies entnimmt er einer Überlieferung, gemäß derer der islamische Prophet sagte: »Gott erzog mich und so war es die Erziehung in bester Form« (addabanı¯ rabbı¯ faahsana taʾdı¯bı¯) ˙ (Ka¯sˇa¯nı¯ 1956, S. 60–79). Die mystische Ethik im Islam basiert auf drei Eckpfeilern: Religionsgesetz ˇ (sarı¯ʿat), mystischer Weg (tarı¯qat) und Wahrheit (haqı¯ʿqat). Sˇariʿa und tarı¯qa ˙ ˙ führen zur haqı¯qa und in diesem letzten Zustand geht es um die Vollkommenheit des menschlichen Geistes. Diese erreicht man durch die Inkarnation der göttlichen Attribute. Die Wahrheit ist das Ende des mystischen Weges, die wiederum den Kern bzw. den Weg (tarı¯qa) des Religionsgesetzes bildet. Die mystische ˙ Vorstellung verbindet den Weg zur Vollkommenheit mit der Praxis und der Weisheit, was letztlich die Manifestation der göttlichen Attribute bedeutet. Im Sinne der Überlieferung tahallaqu bi ahla¯q alla¯h, wie sie von Mulla¯ Sadra¯ in˙ ˘ ˘

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terpretiert wird, wird der Mensch zur Aneignung der Eigenschaften bzw. des »sittlichen Charakters« Gottes aufgefordert (Hajatpour 2013, S. 306). Auch wenn Gläubige Gott als frei von Moralität betrachten, so ist damit gemeint, dass der Mensch sich die positiven Attribute Gottes aneignen soll. Denn Gott und seine Attribute seien das höchste Gut, und das Ziel der sittlichen Handlungen sei es vor allem, dem höchsten Gut näher zu kommen und Gott ähnlicher zu werden (Amulı¯ 1998, S. 363). Diese beiden Erkenntnisbereiche verbindet Mulla¯ Sadra¯ mit dem Koranvers, indem er die Schöpfung des Men˙ schen als zwei Zustandsbereiche, nämlich den himmlischen und den weltlichen, auslegt: Zunächst hat Gott den Menschen in bester Form geschaffen, dann ließ er ihn jedoch ganz tief fallen. Form und Materie spiegeln nach Mulla¯ Sadra¯ zwei ˙ Realitäten des Menschen wider. Dementsprechend weist der Koran darauf hin, dass diejenigen, die glauben und tun, was recht ist, von diesem tiefen Fall ausgenommen sind. Für Mulla¯ Sadra¯ entspricht dies den zwei Bereichen der theoretischen und ˙ praktischen Weisheiten (asˇ-Sˇira¯zı¯ 1967, S. 21). Über den ersten Bereich erlangt der Mensch Erkenntnis vom Anfang und Ende (al-mabdaʾ wa al-maʿa¯d) und über den zweiten Erkenntnisbereich von der Ordnung der Welt, vom Lebensunterhalt und vom Heil im Jenseits. In diese beiden Erkenntnissphären werden die Vernunft und die Autonomie miteinbezogen. Der Mensch soll sich mit seinen theoretischen und praktischen geistigen Fähigkeiten den beiden Welten widmen. Als Ziel schwebt ihm wie vielen anderen islamischen Gelehrten die Erkenntnis von Anfang und Ende vor. Die Erkenntnis des Guten führt die Menschen zu der ˇ ala¯l ad-Dı¯n Einsicht, dass der Mensch nach der Ähnlichkeit mit Gott strebt. G Dawa¯nı¯, der vor allem zu Themen der islamischen Ethik publizierte, meint, dass die Weisheit die Praxis bereits innehabe (Dawa¯nı¯ 1810, S. 16). In der islamischen Mystik ist die Ethik nicht das Ziel. Vielmehr ist die Erlangung der Einheit mit Gott wegweisend, die durch die Tür des Religionsgesetzes und des mystischen Pfads erlangt wird. Das Religionsgesetz stellt sozusagen die Schale dar, der mystische Weg die Frucht und die Wahrheit den Kern. In der mystischen Pädagogik geht es nicht darum, dem Menschen Gesetze und praktische Disziplinen aufzuerlegen. Sie verkörpern nur eine Chiffre für den Anfang. Man geht zunächst durch die Tür. Man darf aber nicht an der Tür stehen bleiben und sich aufhalten lassen. Man soll in das Innere eindringen und sich auf den mystischen Weg begeben. Dieser Weg soll dann zur Wahrheit führen. Die mystische Askese wird im Islam durch maqama¯t erreicht. Es handelt sich hierbei um Stationen der Übungen und Handlungen, die erst selbstständig angeeignet werden müssen, damit der Asket dann die Zustände (ahwa¯l) über Gott ˙ erreichen kann. Maqama¯t und ahwa¯l stellen also die beiden zentralen Säulen der ˙ mystischen Seelenpädagogik dar. Die einzelnen Stationen sind Reue (tauba),

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Enthaltsamkeit (waraʿ), Askese (zuhd), Armut (faqr), Geduld (sabr), Gottver˙ trauen (tawakkul) und Zufriedenheit (rida¯). ˙ Ziya¯ ad-Dı¯n Abu Nagˇ¯ıb as-Suhrawardı¯ (gest. 1234), der Lehrer Sˇiha¯b ad-Dı¯n Abu¯ Hafs ʿUmar as-Suhrawardı¯s, zeigt uns in seinem Werk Ada¯b al-murı¯dı¯n ˙ ˙ (»Die Sitten der Novizen«) sehr deutlich (as-Suhrawardı¯ 1984, S. 74f.), welche Bedeutung diesen Stationen zugeschrieben wird: Mit der Reue beseitigt man Unachtsamkeit bzw. Ignoranz, mit der Enthaltsamkeit leistet man Widerstand gegenüber Dingen, die einem nicht zustehen. Mit der Askese zeigt der Mensch wiederum seine Verzichtskraft gegenüber der Materialität, mit der Armut befreit er sich vom Besitz – und dies auch im Herzen. Ferner zeigt er mit der Geduld seine Standhaftigkeit gegenüber den Schwierigkeiten, mit der Zufriedenheit den Genuss seiner Standhaftigkeit und mit seinem Gottvertrauen das Sich-Lösen aus der Abhängigkeit allem anderen gegenüber. In diesen Zustandsphasen durchläuft der Schüler eine »Seelenanalyse« (muhasaba) (Schimmel 19921). ˙ Mit den genannten Zuständen (ahwa¯l) kennzeichnet man eine Art innere ˙ seelische Befindlichkeit. Da sie von Gott verliehen werden, unterliegen sie nicht einem Lernprozess (mawa¯hib, wörtl. »Gnade«). Die Stationen (maqama¯t) hingegen werden von den Mystikern und Mystikerinnen definiert (Ka¯sˇa¯nı¯ 1956, S. 404). Diese »Seelenzustände« können, wie die meisten von ihnen glauben, erst dann zu festen Eigenschaften der Seele werden, wenn die Seele sich von allen zufälligen und animalischen Einflüssen gereinigt hat und in ihr eine standhafte Selbstkontrolle herrscht. Diese »Zustände« sind folgende: ständige Anwesenheit vor Gott (mura¯qiba) (Schimmel 19922), Nähe (qurb), Liebe (muhabbat), Hoff˙ nung (rigˇa¯), Furcht (hauf), Scheu (haya¯), starkes Verlangen (sˇauq), Vertrautheit ˙ ˘ (uns), Sicherheit (itmʾina¯n), Gewissheit (yaqı¯n) und Schau (musˇahada) (as˙ Suhrawardı¯ 1984, S. 76f.). Der Mensch steht also nach der pädagogischen Vorstellung der Mystik unter einem asketischen Leistungsdrang. Ohne sittliche, geistige und spirituelle Erwerbungen und Leistungen gäbe es keinen Entschleierungsprozess. Die Seele muss verschiedene Stadien durchlaufen, um ihr wahres Selbst wieder zurückzuerobern. Dieses Selbst ist aber nicht bereits vorhanden. Es richtet sich nach dem Gottesbild, nach der Vorstellung von der Vollkommenheit, der Einheit und der Beständigkeit. Dieses Selbst ist am Ende sein eigenes Werk. Jeder Mensch muss sich selbst wieder erschaffen, jedoch nicht aus dem Nichts, was nach religiöser Vorstellung nur Gott möglich ist. Seine »Selbsterschaffung« beruht auf Vermögen, Können und Veranlagungen, die ihm durch seinen Körper, durch seine Seele und durch die Welt gegeben wurden.

1 Ich übernehme hier die Übersetzung von Annemarie Schimmel. 2 Annemarie Schimmel übersetzt sie als »Kontemplation«.

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Die Seelenpädagogik der Mystik bezieht sich auf die Tatsache, dass der Mensch über Handlungen gewisse Einsichten und Zustände erreichen kann. Handlungen sind sowohl äußerer wie auch innerer Natur. Wenn in den unteren Stufen Körper und Glieder tätig sind, so sind das Herz oder das innere Auge oder die Seele für die höchsten Stufen tätig. Auch wenn sämtliche weltliche Fertigkeiten und Erwerbungen – und dazu gehört, wie auch aus der Darstellung des gemäßigten Mystikers und Theologen Abu¯ Ha¯mid Muhammad al-G˙azza¯lı¯ her˙ ˙ vorgeht, sogar das Wissen (ʿilm) – zu den Schleiern gerechnet werden (al-G˙azza¯lı¯ 1999, S. 36ff.), darf nicht außer Acht gelassen werden, dass zu den primären Prinzipien der Mystik die Praxis und die Anstandsregeln (adab) gehören (Nagˇm ad-Dı¯n Kubra¯ 1984; as-Suhrawardı¯ 1984). Bevor man den Zustand des Aufgehens in Gott (fana¯) erreicht, muss man sich als Mystiker oder Mystikerin einer Reihe pädagogischer Verhaltens- und Anstandsregeln unterwerfen. Das Erreichen des Zustandes des Aufgehens in Gott geht mit der Vorstellung eines ewigen Bleibens (baqa¯) in Gott einher. Damit erreicht der Mystiker die Vollkommenheit. ʿAzı¯z-ad-Dı¯n Nasafı¯ legt dar, wie der Mensch dieses Ziel erreichen kann. Das Vollkommene ist im Samenkorn aller Entwicklungspotenziale vorhanden: »Oh, Derwisch! Der Mensch hat Entwicklungsstufen, so wie ein Baum Entwicklungsstufen hat. Es ist klar, was in jeder Stufe eines Baumes offensichtlich wird. Also die Aufgabe des Gärtners ist es, die Erde weich und passend zu machen. […]. Die Aufgaben der Mystiker [sa¯lik, wörtl. »der Reisende«, »Schüler«, »derjenige, der den spirituellen Weg einschlägt«] sind auch dergleichen. Es soll das Anliegen [die Absicht] des Mystikers in der Askese sein, ein Mensch zu werden. […]. Die gesamten Entwicklungsstadien sind im Samenkorn des Baumes vorhanden. Es sind erfahrene Gärtner, Erziehung und Kultivierung notwendig, damit das Vollkommene [tamam, bedeutet auch ›das Ganze‹] sichtbar wird. So sind auch Reinheit, guter Charakter, Wissen, Erkenntnis, die Enthüllung der Geheimnisse und die Erscheinung der Lichter, allesamt im Wesen des Menschen vorhanden. Es ist die Begleitung (Gefährtenschaft) des Weisen, die Erziehung, die Ausbildung [parwaris, auch ›Kultivierung‹] nötig, damit das Vollkommene offensichtlich wird.« (Nasafı¯ 2000, S. 139)

Die Aussagen Nasafı¯s lassen keinen Zweifel daran, dass der Mensch sein eigener Gärtner ist: »Der Mystiker soll großmütig sein und er soll aktiv tätig sein, solange er lebt und sich dem Eifer und der Mühe hingeben, da Wissen und Weisheit Gottes kein Ende haben« (Nasafı¯ 2000, S. 139).

2.4

Theologische Ethik

Anders als die philosophische und mystische Ethik beschäftigt sich eine theologische Ethik mit den Glaubensdogmen und religiösen Schulmeinungen des Islams. Hierfür sind neben rational-dialektischen Einflüssen vor allem theolo-

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gische Schulmeinungen, aber auch die juristischen-normativen Lehrmeinungen von Belang. Im Islam gibt es neben zahlreichen religiösen Ausrichtungen zwei theologische Hauptschulen: die mutazilitische und die ascharitische Schule. Darüber hinaus existieren fünf juristisch-normative Schulmeinungen: Malikiten, Hanafiten, Schafiiten (Anhänger der Hadithe), Hanbaliten und die Schiiten, die sich von den anderen vier dadurch unterscheiden, dass Vernunft eine zusätzlich etablierte Quelle der Normenableitung ist. Die Grundprinzipien der theologischen Ethik im Islam können also je nach Betrachtung in zwei Bereiche unterteilt werden: Die Glaubensprinzipien und die humanen Existenzprinzipien. Die religiösen Grundprinzipien der islamischen Ethik sind auf folgenden vier Säulen aufgebaut: Monotheismus, Prophetentum, Jenseitsglaube und Gerechtigkeit. Die zentrale Orientierung der ethischen Theologie beinhaltet den Glauben an einen einzigen Gott, seine Offenbarungsschrift und seine prophetische Gesandtschaft. Der gläubige Mensch soll Gottes Zufriedenheit und Wohlgefallen erreichen und daran denken, dass Gott der einzige Richter im Jenseits ist und über Belohnung und Strafe alleine bestimmt. Somit ist die Begegnung mit ihm das Ziel des Menschen. Die Gesandtschaft des Propheten dient neben der Verkündung des göttlichen Willens auch als Beispiel für die Gläubigen. Gerechtigkeit bedingt die Ausgewogenheit und Harmonie der Existenz, demnach soll der Mensch pflichtbewusst Verantwortung übernehmen für seine Taten und seine Freiheit nach den Prinzipien der göttlichen Offenbarung richten. Die Existenzprinzipien basieren auf der allgemeinen rationalen Vorstellung vom Gemeinwohl im Islam und können unter drei Aspekten zusammengefasst werden: 1) Die Glückseligkeit der Seele: Sie ist erreichbar durch den tugendhaften Vollzug der Vernunftseele. Sie kann als diesseitige bzw. jenseitige Glückseligkeit betrachtet werden. Im Sinne des Korans erlangt die Seele den Zustand der Seelenruhe. 2) Die Vervollkommnung der Seele: Sie ist erreichbar durch die Vereinigung der Seele mit dem aktiven Intellekt bzw. durch das asketische Aufgehen in Gott. 3) Die Selbstveredelung der Seele: Sie ist erreichbar durch die Charakterbildung und Erziehung. All diese drei Aspekte können miteinander verknüpft werden. Die islamische theologische Ethik beschäftigt sich also mit den Grundfragen, welche die Schöpfung oder Handlungen bzw. auch den Glauben betreffen. Was ist das Gute und das Böse? Ist die Schöpfung gut oder böse? Was sind Gerechtigkeit, Solidarität, Verantwortung, Glaube, Gehorsam, Schicksal oder Sünde? Im Großen und Ganzen geht es also um den Zustand der Seele, die vor Verführung nicht gefeit ist. Die Seele soll einen Zustand der moralischen Kompetenz erreichen. Im Koran spiegelt sich dies in folgenden Versen wider:

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»Manche Gesichter werden an jenem Tage leuchtend sein und zu ihrem Herrn schauen.« (Koran 75:22f.) »O du Seele, die du Ruhe gefunden hast, kehre zu deinem Herrn zufrieden und mit Wohlgefallen zurück. Tritt ein unter Meine Diener, und tritt ein in Meinen (Paradies)garten.« (Koran 89:27–30) »In einer ehrenvollen Versammlung, die aus den Getreuen, Wahrhaften besteht, in der Gegenwart des Einen Allmächtigen Herrschers.« (Koran 54:55) »Diejenigen nun, die nicht die Begegnung mit Uns erwarten und mit dem diesseitigen Leben zufrieden sind und darin Ruhe finden, und die gegenüber Unseren Zeichen unachtsam sind, deren Zufluchtsort wird das (Höllen)feuer sein für das, was sie erworben haben.« (Koran 10:7f.)

Die moralischen Urteile können je nach normativen Prinzipien der Rechtsschulen unterschiedlich ausfallen. Malikiten und Hanafiten zählen neben der Offenbarung, Sunna und igˇma¯ʿ (Konsens der Gemeinschaft bzw. Konsens der Gelehrten) das Konzept raʾy, die eigene Ansicht, und qiya¯s, den Analogieschluss, zu den Prinzipen der ethischen und normativen Urteile, während die Schafiiten mehr Gewicht auf die Offenbarung und die Überlieferung legen. Hanbaliten sehen fast ausschließlich die Offenbarung als Quelle der ethischen und normativen Urteile. Die Schiiten sind eine Mischung aus allen Schulen, die sowohl Koran, Sunna und igˇma¯ʿ als auch die Vernunft als Quelle der Urteile heranziehen. Die ethische Lehre der juristischen Schulen können wir als Pflichtenlehre verstehen, während die Ansichten der theologischen Schulen auf ihre dogmatische Glaubenslehre zurückzuführen sind. Gegenstand der Pflichtenlehre sind die folgenden fünf Handlungen: 1. Handlungen, die unbedingt und pflichtgemäß ausgeführt werden, 2. Handlungen, die verboten und strafbar sind, 3. Handlungen, deren Ausführung empfohlen und belohnt wird, 4. Handlungen, deren Unterlassung empfohlen wird, 5. Handlungen, deren Ausführung bzw. Unterlassung gleichgültig ist. Die Bestimmung der moralischen Urteile wird von den islamischen Theologien unterschiedlich ausgelegt. Nach den Aschariten sind moralische Urteile im Sinne eines kategorischen Imperativs Urteile, die nur von Gott und seiner Offenbarung zum moralisch Guten oder Schlechten erklärt werden. Es sind die fünf Arten der Handlungen, die zum moralisch Erwünschten oder Unerwünschten führen und als moralisch geboten oder verboten gelten. Gebote und Verbote dürfen nicht beliebig erlassen werden, sondern nur von einer Instanz, die höher steht als die menschliche Vernunft. Der Grund dafür liegt nach Ansicht der Aschariten darin, dass die den Menschen von sich selbst auferlegten Gebote und Verbote jederzeit wieder aufgehoben werden können. Auch die Erkenntnis des Guten und des

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Bösen bzw. Verwerflichen hängt von Gott ab, denn nur Gott kann entscheiden, ob etwas gut oder schlecht ist. Nach dieser Ansicht gibt es kein essenziell Gutes und Böses, das ohne göttliche Gesetzgebung erkannt werden kann. Man erklärt dies damit, dass die menschliche Vernunft ohne göttliche Anleitung beispielsweise das Gutsein der Gerechtigkeit und das Schlechtsein des Lügens nicht zu erkennen vermag, und wenn es keinen Gott gäbe, würde die Menschheit zwischen Aufrichtigkeit und Lüge nicht unterscheiden können. Die Mutaziliten vertreten im Gegensatz zu den Aschariten die Autonomie der Vernunft. Demnach ist die Vernunft durchaus in der Lage, moralische Urteile zu treffen und Gerechtigkeit als gut, die Lüge als schlecht zu erkennen. Sie sind der Ansicht, dass Gott selbst die menschliche Vernunft dazu befähigt habe, die Tugenden zu erkennen, bevor den Menschen die Gebote und Verbote Gottes offenbart wurden. Den Mutaziliten zufolge sind moralische Urteile abhängig von den Prinzipien, die durch Vernunft begründet werden, die jedoch von Gott gewollt sind. Insgesamt können diese Prinzipien in folgende Kategorien eingeteilt werden: Vernunft, Gerechtigkeit (ʿadl), Gnade (lutf), Verantwortungspflicht (masʾuliya) und ˙ Gemeinwohl der Gemeinschaft (maslaha / masalih). ˙ ˙ ˙ ˙ Die Vernunft ist die einzige Instanz, die die durch die Offenbarung auferlegten moralischen Gebote und Verbote legitimiert. Wenn jedoch zwischen Überlieferung und Vernunft keine Übereinstimmung herrscht, so wird das Urteil der Vernunft der Überlieferung vorgezogen. Der Grund dafür ist, dass die Vernunft in ihrem Erkennen der moralischen Urteile, seien diese gut oder schlecht, unabhängig von den religiösen Geboten und Verboten fungiert. Gerechtigkeit ist ebenso eine Grundlage der ethischen Urteile. Gott würde niemandem Unrecht tun, denn Gott ist gerecht, strebt das Gute, das gerecht ist, an. Daher ist es ebenfalls gerecht, dass Gott niemanden bestraft oder belohnt, ohne dass jeder auf eigene Verantwortung, nach eigenem Wissen und eigener Vernunft das Gute und das Schlechte begeht. Das Gleiche gilt auch für Gott, da seine Handlungen auf der Weisheit beruhen und die Angelegenheiten des Menschen auf das Gute gerichtet sind. Daher glauben die Mutaziliten, dass nichts Böses existiert, außer das moralisch Verwerfliche, das jedoch aus den Taten der Menschen hervorgeht. In diesem Sinne gewährt Gott nach dem Prinzip der Gnade den Menschen die Willensfreiheit und die Fähigkeit der Vernunfterkenntnis. Ein Aspekt der Gnade Gottes besteht in der Vervollkommnung der Vernunft (ikma¯l-i ʿaql). In diesem Sinne muss der Mensch souverän das Gute und Verwerfliche erkennen und es ist die Pflicht der Gläubigen, die Unwissenheit zu beseitigen. Nur Geisteskranke und Kinder sind davon ausgenommen, da ihre Vernunft (noch) nicht ausgereift bzw. in der Lage ist, das Gute vom Verwerflichen zu unterscheiden (Aʿwa¯nı¯ 2000, S. 204–207; Misba¯h 2001, S. 49–54). ˙ ˙

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Das Problem der mutazilitischen Position, auch wenn sie für manche nach rationalistischen Kriterien logisch bzw. sympathisch klingt, ist jedoch, dass die Vernunft eine gottbezogene Entität darstellt, die nur durch den göttlichen Willen die Fähigkeit besitzt, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Zwar steht die ascharitische Position dem religiösen Glaubensverständnis näher, sie ist jedoch weder logisch noch theologisch haltbar. Wenn der Mensch das Gute nicht erkennen kann, kann er auch Gott nicht erkennen: Er kann weder sich selbst noch die Gebote und Verbote Gottes erkennen. Somit ist und bleibt er immer angewiesen auf göttliche Anleitung sowie eine Daueroffenbarung. Zudem kann er niemals ein guter Mensch sein, sondern nur gottgefällig und dies nur durch den absoluten Gehorsam. Theologisch gesehen ist diese Position problematisch, denn sie widerspricht zunächst einigen Koranversen: »Und wenn sie eine Abscheulichkeit begehen, sagen sie: ›Wir haben unsere Väter darin (vor)gefunden, und Allah hat es uns geboten.‹ Sag: Allah gebietet nicht Schändliches. Wollt ihr (denn) über Allah sagen, was ihr nicht wisst?« (Koran 7:28)

Darüber hinaus betrachten sie den Glauben als einen Akt der Gehorsamkeit, denn die ascharitische Position widerspricht der Eigenverantwortung des Menschen in Sachen des Bekenntnisses und der Belohnung und Bestrafung für die eigenen Handlungen. Ebenso gehen sie davon aus, dass der Mensch die Botschaft Gottes nie befolgen kann, weil er sie nicht wirklich versteht. Jedoch kann man an dieser Stelle den Aschariten ein wenig recht geben, da es gewiss ist, dass die Vernunft nicht alle Dinge per se erkennen kann. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Vernunft ebenso den Gottesweg und seine Befehle nicht erkennen und so der Glaube nicht in vollkommener Form erreicht werden kann. Der erwähnte Sachverhalt widerspricht dem Vers, welcher besagt: »So verkünde frohe Botschaft Meinen Dienern, die auf das Wort hören und dann dem Besten davon folgen. Das sind diejenigen, die Allah rechtleitet, und das sind diejenigen, die Verstand besitzen.« (Koran 39:18)

Man könnte außerdem ihr eigenes Argument gegen die Aschariten selbst wenden, indem man sagt, dass die Gebote und Verbote niemals allein und ohne göttliche Offenbarung als Gebot und Verbot gelten können. Dies würde bedeuten, dass man, wenn man nicht an Gott glaubt und ihn nicht erkennt, sogar töten dürfte. Allgemein ausgedrückt: Beide theologischen Schulen sehen in Gott die Ursache des Erkennens moralischer Urteile. Nach Abu¯ Ha¯mid al-G˙azza¯lı¯ ist das Ziel ˙ der Ethik die Glückseligkeit im Jenseits und dies setzt das Wohlgefallen Gottes voraus: Wenn man also etwas Gutes tut, dann deshalb, weil man das Wohlgefallen Gottes im Jenseits erwartet.

728

3.

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Schlussbemerkungen

Der Islam verfügt über keine systematische Darstellung der moralischen Prinzipien, enthält aber unzählige Anweisungen für korrektes Verhalten und zwischenmenschliche Beziehungen. Auch wenn die Lehre des Korans und das Verhalten des Propheten und seiner Gefährten als Grundlage für die islamische Ethik gelten, fließen eine Menge fremder Einflüsse in die islamische Moralvorstellung ein, wie beispielsweise der antike indische und persische Fürstenspiegel, die Adab-Literatur sowie die syrische und ägyptische Sittenlehre. Die späteren Systematisierungen der islamischen Ethik sind jedoch vor allem der griechischen antiken Philosophie, dem persischen Fürstenspiegel und der Normenlehre der islamischen Theologie zu verdanken. Die Ziele der Ethik im Islam können als Gottesnähe, Vollendung des Intellekts oder Vollendung der Seele in ihrer höchsten Stufe bzw., wie die Buddhisten sagen, als Akt des Erwachens (bodhi) zur Weisheit, Barmherzigkeit und Seelenruhe zusammengefasst werden. Gebote und Verbote gelten als religiöse Gesetze für die Gestaltung der Beziehung der Gläubigen zueinander und zu Gott. Diesbezüglich kann man von einer Pflichtenlehre sprechen, die sehr stark von der islamischen Normenlehre und der Prinzipienlehre des islamischen Rechts bestimmt ist. Dazu kommen auch die mystischen Verhaltensregeln der Novizen und die asketische Selbstreinigungslehre (tazkiya). Mit tazkiya ist im koranischen Verständnis die Reinigung bzw. die Läuterung der Triebseele (tazkiyat annafs) durch die Befreiung von den üblen Eigenschaften wie Zorn, Neid und anderen seelischen Krankheiten gemeint (Horsch 2014, S. 23f.). Die Grundlage der islamischen Ethik bilden die Schöpfungsprinzipien. Alle menschlichen Handlungsmöglichkeiten werden in eine Skala zwischen Pflicht und Verbot eingeordnet (zwischen erlaubt, empfohlen und nicht erwünscht). Neben der religiösen Pflichtmoral existiert im Islam des Weiteren eine Lebensmoral. Alles soll dazu dienen, dass der Mensch Verantwortung gegenüber der Schöpfung übernimmt und sein Verhalten vor Gott verantwortet. Der Mensch muss daher sich selbst überwinden und in seinem irdischen Dasein das höchste Gut erreichen, sei es die Nähe zu Gott oder die Vervollkommnung der Seele. Der Mensch gilt in seinem ursprünglichen Zustand als nicht gut genug, besitzt jedoch das Potenzial zur existenziellen und ethischen Perfektion und zur Selbstverbesserung, denn er trägt eine ursprüngliche Würde in sich, zugleich ist sein Wesen unbestimmt und daher offen für Selbstverwirklichung und Weiterentwicklung. »Der Mensch stellt die Grenzlinie zwischen göttlicher und geschöpflicher Stufe dar« und ist unterdessen dazu aufgefordert, sich religiös und sittlich für einen Entwurf der »Neuwerdung« als ethisches Wesen zu betätigen (Schimmel 1955, S. 150).

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Die islamische Ethik umfasst sowohl die Erkenntnis als auch die Handlungen, mit denen wir uns definieren und uns von anderen Wesen abheben. Altruismus z. B., sei er auch eine Folge der pragmatischen Selbstliebe oder ein der menschlichen Natur anvertrautes Gut, das auch ohne direkten persönlichen Nutzen das Selbstbild des Menschen bestimmt, lässt sich vom Menschen nicht trennen. De facto beschäftigt sich die philosophische Ethik mit den ethischen Werten der Handlungen, die als Grundlage dienen, ethische Sätze und Urteile als wahr oder falsch zu bewerten. In der philosophischen Ethik geht es also um die Grundfragen der Ethik, wie z. B., ob ethische Werte universell sind oder relativ, was das höchste Gut und das Böse und Verwerfliche im Menschen ist und ähnliche Fragen. Wir können folglich von einer Ethiklehre sprechen, die auf Prinzipien, Grundlagen und Kategorien aufbaut und allgemein als Ethikprinzipien verstanden werden kann.

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Mizrap Polat

Spiritualität als die Kompetenz der Verinnerlichung des Religiösen und Moralischen

Zusammenfassung Mit seinem weiten gedanklichen Horizont, mit der ihm eigenen Art und Weise der symbolischen, sprachlichen und praktischen Artikulation der Spiritualität in systematischer Form bietet sich das Sufitum, das auch unter dem Namen tasawwuf geläufig ist, auch als ein religionspädagogisches Konzept an, und zwar ˙ sowohl in inhaltlicher und methodischer Hinsicht als auch mit Blick auf das Ziel religiösen Lernens im Sinne der persönlichen Erfahrung, einer besonders effizienten und intensiven Form des Lernens. Diesbezüglich kann das Sufitum als Ort der Herausbildung von religiöser Sensibilität und Achtsamkeit (taqwa¯), einer den Sinn und Zweck des Glaubens erfassenden Intellektualität (hikma und ˙ maʿrı¯fa) sowie eines Schöpfer und Schöpfung achtenden Handelns (ihsa¯n) gel˙ ten. Eine islamisch geprägte spirituelle Bildung, also die sufistische Bildung, die auf das Begreifen des sinnlich Wahrnehmbaren und die geistige und intellektuelle Verarbeitung dessen, was als Wahrheit und Wirklichkeit gilt, abzielt, die im Zeichen der Achtung, des Respekts, der Liebe, der Wertschätzung und der Anerkennung des Gegenübers steht, ist imstande, Schüler*innen ein Wertebewusstsein zu vermitteln, das über die Schätzung von materiellen Werten hinausgeht, wodurch sie sich auch als Quelle der Wertebildung und als affektive Sozialisation verdient macht.

1.

Einführung

Im islamischen Geistesleben gibt es keinen Begriff, der »Spiritualität« im Sinne der christlich-westlichen Wissenstradition vollständig wiedergeben würde. Die undifferenzierte Übertragung westlich-kulturell geprägter Begriffe auf den Bereich des islamischen Wissens und der islamischen Kultur aber erweist sich nicht selten als problematisch (Schöller 2001). Daher will ich in diesem Text für die

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islamisch geprägte Spiritualität und Frömmigkeit die weitgehend als Synonyme gebrauchten Begriffe »Sufitum« und tasawwuf (Günes 2012, S. 2–5) verwenden. ˙ Der tasawwuf stellt eher deren theoretisch-philosophische Seite in den Vorder˙ grund, wohingegen der Terminus Sufitum die Betonung auf deren praktische Seite legt. Allerdings sind diese beiden Seiten so stark ineinander verwoben, dass eine begriffliche Trennung keinen Sinn macht. Das Sufitum ist anders als die Vorstellung »Geistigkeit versus Materialität und Weltlichkeit«. Es kennt auch keine scharfe Trennung zwischen den physikalischen und religiösen Wahrheiten und Wirklichkeiten. Das Sufitum setzt sich mit der Bedeutung (maʿna¯), die dem Physikalischen als Zeichen (a¯ya) Gottes innewohnt, auseinander, nähert sich also dem Physikalischen unter dem Aspekt seines Sinns und Zwecks an. Sich auf eine ganzheitliche Sichtweise, auf intellektuelle Verarbeitung (tafakkur) und geistige Erfahrbarkeit gründend, ist das Sufitum bestrebt, das sinnlich Erfahrbare auch mental und intellektuell zu verinnerlichen und es in Haltungen und Handlungen sichtbar zu machen. Seine Art, sich Wissen zu erschließen und anzueignen beruht auf Weisheit, Erkenntnis und Frömmigkeit, wobei diese Frömmigkeit vor den Grenzen einer bestimmten konfessionellen Theologie nicht Halt macht, also eine Art Universalität und eine inklusivistische Haltung in sich trägt. Das Sufitum zielt auf die innere/mentale Deutung des physikalisch (sinnlich) und intellektuell Wahrnehmbaren und bemüht sich darum, Sinnliches und Übersinnliches zu verknüpfen und miteinander in Beziehung zu setzen. Die Deutung, die das Sufitum, das wesentlich mehr ist als die heutige spätmoderne Spiritualität, anstrebt, betrifft nicht nur die Transzendenz, sondern gleichermaßen das Leben und die Welt. Sie richtet sich auf die geistige Verortung des Selbst im Universum, auf die Beziehung des Eigenen – mit Blick sowohl auf die mentale als auch die handelnde Komponente – zu Gott, Mitmenschen und Natur und ist damit eine ontologische und funktionale Identitätssuche und letztendlich ein Identitätsfindungsprozess im Angesicht und Dialog alles Seienden. Nach dieser kurzen begrifflichen Standortbestimmung seien nun einige Worte über Methodik und Inhalt dieses Aufsatzes hinzugefügt. Bei diesem handelt es sich zunächst um den Versuch, die theoretischen Grundlagen der Spiritualität als intellektuelle und die Seele betreffende (innere) Deutung der Religion anhand der philosophischen, theologischen und sufistischen Quellen zu beleuchten. Dazu werden neben quellen- und forschungsliteraturbasierten Analysen gelegentlich auch Ergebnisse der empirischen Forschung zu Spiritualität und Religiosität im Westen herangezogen. Im Anschluss wird die Frage diskutiert, ob und wie die islamisch verstandene Spiritualität als Ansatz bei der Bestimmung und Beschreibung der Ziele des islamischen Religionsunterrichts direkt oder indirekt eine Rolle spielen kann.

Spiritualität als die Kompetenz der Verinnerlichung des Religiösen und Moralischen

2.

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Das Sufitum als islamisch geprägte Spiritualität und kompetenzorientierte islamisch-religiöse Bildung

Spiritualität bedeutet, Erfahrungen und Wahrnehmungen sinngebend und sinnsuchend zu deuten und aus dieser Deutung heraus eine Lebenshaltung zu entwickeln – so auch im Sufismus, der davon ausgeht, dass infolge der Verknüpfung von durch die Sinnesorgane vermittelten und intellektuell verarbeiteten Eindrücken mit übersinnlichen Wahrnehmungen die Grenze zwischen Informationen (maʿlu¯ma¯t), Wissen (ʿilm), Erkenntnissen (ʿirfa¯n) und tiefgründigem Begreifen (hikma) aufgehoben wird. Die Durchlässigkeit der Grenze er˙ möglicht das Ineinanderfließen und den Dialog zwischen der sinnlichen (empirischen/kognitiven) und übersinnlichen (ilha¯m/kasˇf) Erkenntnis einerseits und dem Artikulierbaren und dem Nichtartikulierbaren andererseits. Für die Sufis ist die Seele zugleich die Quelle und ein zu entdeckender Gegenstand von Wissen und Weisheit. Um sich im Universum ontologisch, intellektuell und moralisch zu verorten oder seinen Zustand (ha¯l) zu korrigieren, ˙ muss sich das Individuum sowohl sich selbst als auch allem, was existiert (Gott/ einer höheren Macht, Menschen, der belebten und unbelebten Natur) bewusst und eingehend zuwenden. Somit erweist sich Spiritualität als ontologische, epistemologische, moralische und funktionelle Positionierung, was wiederum pädagogische Konsequenzen nach sich zieht. Eine dieser Konsequenzen besteht darin, Lernen nicht nur als die Aneignung von Kenntnissen, sondern auch als die Sensibilisierung und Ethisierung der Vernunft, von Wissen und Können zu verstehen, manifestiert sich diese Ethisierung doch als angewandte Ethik oder Berufsethik, die die Frage berührt, »Was darf ich als achtsamer, verantwortungsbewusster und gerechter Mensch mit meinem Wissen, meinen Fähigkeiten und Fertigkeiten gegenüber der belebten und unbelebten Natur tun?« Diese Frage ist eine der Werteorientierung, womit auch die Werteerziehung zur pädagogischen Aufgabe wird. Worum es dabei in erster Linie geht, ist nicht, Gott zu beweisen und ihn als Gegenstand des Wissens zu behandeln, sondern an ihn zu glauben als die Wahrheit und die Wirklichkeit, ihm zu vertrauen sowie die eigenen Handlungen als Mensch im Angesicht Gottes, das heißt in unbedingter Achtsamkeit gegenüber der gesamten Schöpfung, zu vollziehen. Demnach bedeutet Spiritualität die ständige Begleitung des Menschen durch Gott. In diesem Sinne qualifiziert sie sich als fester Bestandteil, ja sogar als Bildner der menschlichen Biografie. Der muslimische Sufi Ibn-ʿArabı¯ oder al-Balya¯nı¯ (2014) meint (wobei umstritten ist, wem das hier zitierte Buch tatsächlich zuzuordnen ist), dass Gottes Einzigkeit und Einheit gleichsam seine Schleier seien, durch die er sich der Erfassung und dem Begreifen durch den menschlichen Verstand entzieht. Daher

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stellt der tasawwuf statt der von der konventionellen Theologie gepflogenen ˙ numinosen und analytischen Beschreibung Gottes die Empfindung und Erfahrung Gottes im Denken, Fühlen und Handeln des Menschen in den Mittelpunkt. Gott ist der Wahre/der Wahrheitsstiftende (al-Haqq), der Gerechte (al-ʿAdl) ˙ sowie der Eine (al-Wa¯hid) – und er hat noch weitere Namen und Attribute ˙ (Molla-Djafari 2001). Die Inhalte dieser Attribute, nämlich »Wahrheit«, »Einheit«, »Gerechtigkeit« usw., sind nicht nur die Selbstvorstellung Gottes, sie beschreiben ebenso die fordernde und fördernde Erwartung Gottes an die Menschen in ihrem Streben nach Wahrheit(en), der Wahrnehmung der Einheit der Schöpfung und der Verwirklichung der Gerechtigkeit. All dies bringt uns zur pädagogischen Überzeugung, dass die religiöse Bildung mehr ist als Aneignung von Wissen und dass folglich der Religionsunterricht nicht nur als Ort der Elementarisierung der akademischen Kenntnisse der Lehrenden verstanden werden darf. Spiritualität bedeutet, nicht nur die Nächsten und Anderen, sondern auch sich selbst kennen und schätzen zu lernen. Selbsterkenntnis kann dabei helfen, über sich selbst Herr zu werden, ein Bewusstsein über den eigenen defizitären Zustand zu erlangen und sich für eigene Probleme zu sensibilisieren. In diesem Sinne wurde die individuelle und kollektive Spiritualität auch als Weg zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit verstanden. Im Zuge der spirituellen Selbsterfahrung, die auch die Mitwelt berücksichtigt, wandelt sich die von einer egozentrischen, konsumorientierten und von Konkurrenzdenken geprägten Sicht des Menschen zu einer solidarischen, empathischen und universalen Einstellung. Das heißt, eine Sicht wird zur Einsicht, die sowohl das Selbstwertgefühl als auch das Selbstvertrauen stärkt. Dies wiederum ist Kontingenzbewältigung im Sinne des religiösen Copings und der Resilienz. Die heilsame Wirkung der Spiritualität, eine Art seelische Umerziehung, wurde zum Beispiel bei alkoholkranken Menschen festgestellt, die mithilfe der Religiosität und Spiritualität ihre Sucht zu bewältigen suchten (Murken 1994, S. 147). Was aber tun, wenn ein Seelenzustand nicht als krankhaft gilt, weil der Träger dieser Seele sich selbst und den anderen keinen Schaden zufügt, sondern sich »nur« als sozial und ethisch, kurz gesagt menschlich, problematisch erweist, indem er sich zum Beispiel gleichgültig zeigt gegenüber Notleidenden und Unterdrückten oder achtlos gegenüber der belebten und der unbelebten Natur? Sehr oft ist ein Individuum mit dieser Situation alleingelassen bzw. auf sich selbst gestellt. In einem solchen Fall kann spirituelle Bildung eine wertvolle Hilfe sein. Diese Hilfe wird zur Selbsthilfe, wenn sie von wohlwollender Selbstkritik begleitet ist, die sich zur Einsicht durchringt: »Ich muss bei mir etwas ändern. Ich bin mit meiner Konsumorientiertheit, Selbstbezogenheit und Gleichgültigkeit nicht glücklich.« Hier kommen insbesondere folgende Fähigkeiten (Kompetenzen) zum Tragen: Bewusstwerdung seiner selbst, Aufmerksamkeit gegenüber sich

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selbst, ohne egoistisch, narzisstisch und pessimistisch zu sein, sowie der Wille zur Selbstveränderung als Selbstwertschätzung. Insofern – nämlich als Befähigung zur Selbstentdeckung und Selbstentwicklung – ist Spiritualität als eine durch religiöse und ethische Bildung vermittelte Kompetenz zu definieren, die auch als Sozialisation gelten kann, weil sie soziale Verantwortung und Mitgefühl (als soziale Kompetenzen) hervorbringt. Hierbei aber ist die kulturelle Prägung der Spiritualität und ihre Beziehung zur glaubensorientierten Mystik entscheidend bzw. ob man Mystik als institutionalisierte, systematisierte und stark von der Religion geprägte Spiritualität auffasst. So etwa unterscheiden sich die islamisch und die christlich geprägte Spiritualität von der indisch geprägten durch ein höheres Maß an sozialer Ambition und Handlungsorientiertheit, dadurch, dass sie statt Isolation soziale Verantwortung und Nächstenliebe verlangen. Diese Form der Spiritualität äußert sich nicht als Flucht aus der Realität in eine geistige oder utopisch-ideale Welt. Vielmehr wird erwartet, dass der Erwerb von materiellen Gütern nicht mit einer Schädigung seiner selbst oder anderer einhergeht, dass die Rechte anderer respektiert werden und ihnen Solidarität entgegengebracht wird. Viele Sufis und christliche Mystiker waren zugleich Gelehrte, Bauern und Handwerker, die gegenüber Unterdrückung und Unwahrheit ihre Stimme erhoben, wenngleich dies sehr selten geschah. Den Kern der Spiritualität bildet die Gewissheit der Verbundenheit mit Mitgeschöpfen und Schöpfer, die mit dem Willen einhergeht, sich nach außen zu öffnen und den Dialog mit anderen zu suchen. Indem sie mit den Erfahrungen und Handlungen der anderen in Berührung kommen, erfahren die auf Spiritualität gründenden Erfahrungen und Handlungen eine Erweiterung und gewinnen so das Potenzial, eine kollektive Kraft zu werden. Dieser Erfahrungsdialog fördert den Prozess der Entwicklung der Eigenidentität (Buber 1984) als Teil des Ganzen im Sinne der Verortung des Eigenen im Universum, der vorbehaltslosen Anerkennung der Daseinsberechtigung alles Existierenden und der Einsicht in dessen Notwendigkeit. Spiritualität bedeutet die Gestaltung der Begegnung und Beziehung mit der Um- und Mitwelt auf eine Weise, die die Natur nicht nur als Objekt oder Gebrauchsgegenstand, sondern zugleich als Subjekt und Ansprechpartner auf Augenhöhe, der zu respektieren und von dem zu lernen ist, betrachtet. Eine solche Begegnung mit der Natur ist ebenso ein Dialog. In der pädagogischwissenschaftlichen Literatur ist Dialogfähigkeit längst als Kompetenz anerkannt (Rothgangel 2009, S. 4; Husmann 2009, S. 111). Leider gilt dies eher für den zwischenmenschlichen Dialog, insbesondere den zwischen unterschiedlichen Menschengruppen. Dabei hätte der vernachlässigte Dialog zwischen Mensch und Natur gerade im Sinne der Fachdidaktik der religiösen und/oder ethischen Bildung großen Wert, wie sich an einem einfachen Beispiel zeigen lässt: Eine Lehrkraft unternimmt mit den Schüler*innen der vierten Klasse einer Grund-

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schule eine Exkursion aufs Land. Unterwegs beobachten sie gemeinsam einen Ameisenhaufen und entdecken dabei, wie emsig, ordentlich und solidarisch sich die Arbeit und das kollektive Leben der Ameisen gestalten. Diese Beobachtung mag vor Ort oder in der Klasse eine Diskussion zwischen Lehrkraft und Schüler*innen über die Arbeits- und Lebensweise der Ameisen auslösen, aus der sich Schlüsse über Fleiß, Ausdauer, Solidarität und Teamarbeit ziehen ließen. Ebenso lehrreich könnte ein Ausflug in den Wald verlaufen, bei dem die Schüler*innen Blätter verschiedener Bäume sammeln und in Anbetracht dieser Vielfalt dazu angeregt werden, über die gottgewollte Mannigfaltigkeit und Schönheit der belebten und der unbelebten Natur nachzudenken und sich darüber auszutauschen. Der Inhalt dieser unterrichtlichen Aktion wäre demnach die Vermittlung von Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer und von Respekt und Aufmerksamkeit gegenüber der Schöpfung. Die Unterschiede wahrzunehmen, über sie zu staunen und aus ihnen zu lernen, ist wichtig. Diese Art von Lernen und Denken kann ein Überdenken im Sinne der Überwindung von exklusivistischen, rassistischen und intoleranten Gedanken und Einstellungen bewirken. Und indem die erwähnten Naturbeobachtungen den (Lern-)Dialog zwischen Naturwissenschaft und Spiritualität ermöglichen, begünstigen sie auch das fächerübergreifende Lernen zwischen Sach- und Religionsunterricht. Ob die eine oder andere Schülerin oder der eine oder andere Schüler das Beobachtete auf Gott oder auf Mutter Natur zurückführt, sei dahingestellt – wesentlich ist, dass der Religionsunterricht die Gelegenheit bietet, zu beobachten, nachzudenken, zu schlussfolgern und über alles zu diskutieren. Schließlich bezieht sich der koranische Befehl »lies« (Koran 96:1–5) nicht nur auf die Lektüre des Korans, sondern auch auf den Versuch, alles zu begreifen, was zu beobachten, zu erfahren, zu spüren, zu fühlen und zu lesen ist. So verstanden bedeutet Lesen die intellektuelle Aneignung des Geschriebenen und des Geschaffenen. In der islamisch geprägten Frömmigkeit und Spiritualität gibt es zwei Termini, die hinsichtlich des spirituellen Ansatzes in der religiösen Bildung, insbesondere für die Kompetenzbestimmung im Religionsunterricht, eine zentrale Rolle spielen: Taqwa¯: Im engeren Sinne bezeichnet taqwa¯ die Achtsamkeit und Ehrfurcht gegenüber Gott; in einem erweiterten Verständnis umfasst der Begriff das Erkennen der eigenen Rechte und der eigenen Verantwortung sowie die Respektierung der Rechte anderer und die Anerkennung und Erfüllung der Pflichten gegenüber Gott, sich selbst und der Mitwelt. Als Verantwortungsbewusstsein bezieht sich der Begriff taqwa¯ auf eine hohe Stufe des Muslimseins, die die Vorstufe zum ihsa¯n, einer bestimmten Ausprägung der Glaubensreife bildet, die ˙ im Folgenden erläutert wird (Koran 2:1–5, 42–46, 224, 3:51). Ihsa¯n: Dieser Begriff bezeichnet jenen Zustand, der es einem Individuums ˙ erlaubt, seine Handlungen im Angesicht des Schöpfers mit Achtsamkeit gegen-

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über seinen Mitgeschöpfen zu gestalten. Das Individuum, das sich im Zustand des ihsa¯n befindet, wird muhsin genannt (Koran 2:58, 195, 4:125, 5:93, 17:23). ˙ ˙ Dieses wird stets bemüht sein, seine Intentionen, Gefühle und Handlungen auf beste und angemessenste Art und Weise zu realisieren und zu modifizieren. Diese Qualifizierung zum Guten gestaltet sich als Selbstverwirklichung und Selbstreflexion ohne Zwang und Kontrolle von außen. Der Zustand des ihsa¯n ist gekennzeichnet durch die Verinnerlichung von ˙ Werten, durch (Mit-)Gefühlsempfinden und die Ethisierung des Glaubens. In ihm nähren sich Glaube und ethische Handlung voneinander. Religion kann auf die Moralität nicht verzichten (Koch 2014, S. 107–113), weil Moralität Sinn und Zweck der Religiosität ist und die Menschen hinsichtlich der Gestaltung der gesellschaftlichen und individuellen Beziehungen als gut und konstruktiv qualifiziert. Als Stufe der spirituellen Reife umfasst ihsa¯n auch das Gefühl, dem ˙ Schöpfer nahe und mit der Schöpfung eins zu sein. Gott ist von menschlichen Handlungen im selben Maße betroffen wie die Schöpfung. Für die fromme Spiritualität sind Schöpfer und Schöpfung auf das Engste verbunden – die Schöpfung gilt als Spiegel der Schöpfungskraft und Schönheit Gottes. Bei taqwa¯ stehen die Befolgung der Gebote und Verbote Gottes und die damit erhoffte Belohnung bzw. Vermeidung von Strafe im Vordergrund, wobei die Einhaltung von Verboten und Pflichten natürlich die Kenntnis der entsprechenden Bestimmungen und Normen voraussetzt. Ihsa¯n beinhaltet eine weitere ˙ Etappe, nämlich Achtsamkeit aus Liebe zu Gott und Schöpfung, unabhängig von der Erwartung von Lohn und Strafe. Ein muhsin fühlt sich mit Gott seelisch ˙ verbunden, ohne sich als existenziellen bzw. ontologischen Teil Gottes zu verstehen. Er ist nur ein Mensch, der sich Gott und der Schöpfung in tiefer Liebe, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Hingabe zugetan fühlt und daher seine Intentionen, Haltungen und Handlungen ständig reflektiert und zu verbessern sucht. Ihsa¯n als angewandte Spiritualität setzt eine religiöse Bildung voraus, die ˙ über die Kenntnis von Bestimmungen und Normen hinaus die Entwicklung des Bewusstseins hin zu Achtung, intellektueller und moralischer Reife und affektiver Reinheit einschließt. All dies soll im Endeffekt dazu führen, dass der Mensch sein Handeln so gestaltet, als ob ihn Gott höchstpersönlich begleiten würde. Der Glaube daran, dass Gott als »dem Allseher« (al-Bas¯ır) nichts verborgen bleibt ˙ und alle menschlichen Handlungen Konsequenzen im Jenseits haben, ist insbesondere in den abrahamitischen Religionen bereits vorhanden. Aber der Zustand des ihsa¯n will diesen Glaubensinhalt als Überzeugung wachhalten und ˙ daraus einen konstanten Bewusstseinsinhalt entwickeln. Dieses Bewusstsein beinhaltet ebenso, dass der Mensch im Streben nach der Liebe und dem Wohlwollen Gottes sich vom Bedarf an einer Zwischeninstanz befreit und sein durch Reziprozität bestimmtes Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen zugunsten der liebevollen und freien Bindung zu ihnen ändert. Diese Bindung impliziert

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unentwegte Achtsamkeit und die Gewissheit, dass mit der Religion niemals Gewaltanwendung und Unrecht, sondern nur das Gute und Menschenwürdige zu legitimieren sind. Dieses Bewusstsein ist in dem koranischen Konzept des Menschen als »Kalif Gottes auf Erden« (Koran 2:30, 6:165, 27:62, 35:39, 38:26; Polat 2010a, S. 77–83) inbegriffen. Die Ehrung des Menschen als Kalif Gottes auf Erden und die ihm damit auferlegte Verantwortung führen zu einer moralischen und intellektuellen Schlussfolgerung: Was nicht menschenwürdig ist, kann nicht gottgewollt und gotteswürdig sein. Diese Schlussfolgerung ist auch die theologisch-anthropologische Legitimationsgrundlage für die Erziehung zu Friedfertigkeit, Mitverantwortung, Mündigkeit und Achtung der Menschenrechte als Kompetenzen, deren Vermittlung Aufgabe des Religionsunterrichts ist. Darüber hinaus gelten diese Wertehaltung und die moralische Handlungsfähigkeit als allgemeine Bildungsziele der Schule. Die Achtung der Menschenwürde sowie die Förderung der natürlichen Veranlagung (fitra) und die Bewahrung der Natur ˙ sind als Unterkompetenzen der als Metakompetenz geltenden Funktion eines »Kalifen Gottes auf Erden« zu betrachten. Spiritualität kann sowohl als verinnerlichte Moralität als auch als reiner Urzustand des noch nicht von der Theologie systematisierten Glaubens verstanden werden. Der Koran definiert den Islam als die Religion, die der menschlichen Natur entspricht: »So richte dein ganzes Wesen aufrichtig auf den wahren Glauben, gemäß der natürlichen Veranlagung [fitra], mit der Allah die Menschen erschaffen hat. Es gibt keine ˙ Veränderung in der Schöpfung Allahs. Dies ist die richtige Religion. Jedoch, die meisten Menschen wissen es nicht.« (Koran 30:30)

Auch in der Sunna, der Sammlung von Aussprüchen, Handlungen und stillschweigenden Billigungen des Propheten Muhammad, begegnet man dem Be˙ griff fitra im Sinne des reinen, dem Wesen des Menschen entsprechenden und ˙ ihm eingehauchten Glaubens (Glaubensfähigkeit). So heißt es in einem Hadith: »Jedes Kind wird entsprechend der fitra geboren. Erst später wird es von seinen Eltern ˙ ˘ ana¯iz, 79–80, 92; Muslim, als Jude, Christ oder Feueranbeter erzogen.« (Al-Buha¯rı¯, G ˘ Qadar, 22–25; Abu¯ Da¯wu¯d, Sunna, 17)

Der Begriff fitra drückt unter anderem das allen Menschen Gemeinsame, das ˙ Ursprüngliche aus – auch im Sinne des Glaubens und der Glaubensfähigkeit (Braun 2008, S. 121ff.) – und steht somit dem Begriff Spiritualität sehr nahe. Als Wegbegleiter und Wegweiser fungieren neben der Religion selbst auch die Ethik und die Vernunft, zwischen denen eine natürliche Korrelation auch im Sinne der Korrelationsdidaktik besteht. Der berühmte Gelehrte und Urenkel des ˘ aʿfar soll gesagt haben: »Wegweiser [hug˘g˘a] zwischen Gott Propheten Imam G und Menschen sind die Propheten, zwischen Menschen und Gott ist die Verˇ ahl, Hadith-Nr. 22]). Die nunft« (al-Kulainı¯ 2007, S. 13 [Kapitel Al-ʿIlm wa-gˇ-G

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hier vollzogene Gleichsetzung von Prophetentum und Vernunft in ihrer Funktion der Rechtleitung und Wissensquelle kann so gedeutet werden, dass die durch religiöse Bildung zu vermittelnden Kompetenzen auch die intellektuelle Erschließung des Glaubens und des ihm entspringenden Handelns umfassen. Das Begreifen der sich aus Wissen und Erfahrung speisenden menschlichen Vernunft als Instanz für das Verstehen des Göttlichen kann als Aufwertung des Menschlichen aufgefasst werden. Das Bemühen des Menschen, Gott zu verstehen, bedeutet zugleich sein Bemühen, sich Gott zu nähern. Die von glaubensorientierter Spiritualität begleitete, dem Menschen innewohnende Vernunft kann als affektive Rechtleitung der Selbstorientierung, der Selbstverpflichtung und Selbstkontrolle dienen. Der pädagogische Wert dieser Art innerer Führung liegt darin, dass sie vom Subjekt eben nicht als von außen kommend verstanden wird. Gründet diese innere Führung auf Gottvertrauen, Aufmerksamkeit gegenüber Menschen und Wachsamkeit (Sensibilität) gegenüber Unrecht, wird sie eine von hohen moralischen Ansprüchen begleitete Religiosität zur Folge haben, die nicht nur das Göttliche, sondern auch das Menschliche ernst nimmt, indem sie die Menschen sowohl als ontologische Größe als auch hinsichtlich ihrer im Lauf der Zivilisationsgeschichte erreichten Errungenschaften ernst nimmt. Glaube ist nicht bloß der Glaube an das, was als Wahrheit gilt, sondern auch seine Entäußerung im Denken, Fühlen, Meinen und Beabsichtigen, die im Idealfall zu durch Wahrhaftigkeit, Liebe, Verantwortung, Gerechtigkeit und Mitgefühl modifizierten Handlungen führt – und damit zur Korrelation und Konvergenz zwischen Glaubensinhalten, Werten und Handlungen. Korrelation meint dabei die Inbeziehungsetzung der religiösen Wahrheiten mit den Lebensrealitäten. Die Lebensrealitäten eines Menschen umfassen nicht nur seine materiellen und sozialen Verhältnisse, sondern auch seine innere Gefühls- und Erfahrungswelt, die von der Korrelationsdidaktik ebenfalls ernst zu nehmen ist. Wenn die Schule bekenntnisorientierten Religionsunterricht anbietet, muss sie sich auch der spirituellen Seite der religiösen Bildung annehmen, statt sie zur Aufgabe der Familie und Gemeinde zu erklären. Eine ganzheitliche und lebenslängliche Bildungsförderung, die diesen Namen verdient, muss gleichzeitig das geistige und intellektuelle Lernen fördern. Spiritualität erlaubt es dem Menschen, seinen Glauben als Erfahrung und Vertrauen zu erleben und ihm einen Platz in seinem Inneren einzuräumen. Diese Verinnerlichung ermöglicht eine tiefere Identifizierung mit dem Sinn und Zweck des Glaubens und schlägt sich in der achtsamen und verantwortungsbewussten Gestaltung des Handelns nieder, was auch die Bereitschaft einschließt, sich den Konsequenzen des eigenen Handelns zu stellen, Selbstkritik zu üben und letztendlich ein besserer Mensch zu werden. In dieser Form beschränkt sich Religiosität nicht auf die formale Pflichterfüllung, sondern ist Ausweis einer inneren

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moralischen Reife, die zu einer gelassenen, erfüllenden Zufriedenheit führt (annafs al-mutmaʾinna / an-nafs ar-ra¯dı¯ya / an-nafs al-mardı¯ya; Koran, 89:27–30). ˙ Diese Zufriedenheit fördert ihrerseits die Orientierung an dem, der sie stiftet. Ulrich Hemel (2009, S. 2ff.) beschreibt Orientierung allgemein als menschliches Bedürfnis und folgerichtig religiöse Orientierung als eine wichtige Kompetenz, die im Religionsunterricht erworben werden kann. Spiritualität ist in erster Linie als geistige Sehnsucht nach der ewigen Wahrheit (al- haqq) und als die Erfahrung dieser Wahrheit zu verstehen. In der islamisch ˙ geprägten Spiritualität, dem Sufitum bzw. tasawwuf, wird diese geistige und ˙ intellektuelle Anstrengung systematisch intensiviert, um als innere Überzeugung (ı¯ma¯n) und Handlung (ʿamal) nach außen zu treten. Insofern kann das Sufitum als Quelle der Spiritualität und die Spiritualität ihrerseits als Urzustand des Sufitums verstanden werden. Der tasawwuf verleiht der einem jeden Menschen ˙ innewohnenden Spiritualität Artikulationsfähigkeit und – in den Tekken (Ordensstätten) – die Gelegenheit, sich durch die gemeinschaftliche Praktizierung mit Gesinnungsgenossen zur kollektiven Erfahrung zu entwickeln, die auch den persönlichen Lebensstil mitformt. Indem Spiritualität die eigenen Ängste, Erwartungen und Bedürfnisse bewusst macht, weckt sie Empathie und Mitgefühl gegenüber den Mitmenschen, was den Umgang sowohl mit sich selbst als auch mit der Mitwelt achtsam, liebevoll und verständnisvoll werden lässt. Mit Gott in Beziehung gesetzt, verleiht der solcherart geprägte Umgang der Spiritualität eine religiöse Dimension. Einer der Gründe, warum das Sufitum sich bis heute behaupten kann, liegt in seiner universal orientierten Moralität, seiner intellektuellen Offenheit und seiner sozialen Bindekraft. In ihm summieren und vereinen sich auch die spirituellen und religiösen Kompetenzen. Daher ist ein Ziel des religionspädagogischen Handelns zweifellos die Herstellung dieses Kompetenzbündnisses durch den schulstufen- und altersgerechten Einsatz sufistisch-pädagogischer Ansätze im Religionsunterricht. Das Sufitum als islamisch orientierte Spiritualität will den Glauben um Liebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl bereichern und dazu beitragen, dass der Mensch sein Handeln sowohl als gotteswürdige als auch als menschenwürdige Akte gestaltet. So betrachtet wäre Spiritualität dann nicht ein Zustand areligiöser oder agnostischer Geistigkeit, sondern eine religiöse Fähigkeit, die die Konvergenz und Korrelation zwischen religiösen Erwartungen und profanen Lebenswirklichkeiten ermöglicht. Spiritualität hilft, die eigenen (geistigen) Stärken (Potenziale) und Schwächen zu erkennen. Demnach wäre das Sufitum das Bemühen, Stärken zu fördern und Schwächen zu beheben (tazkı¯ya) und somit eine Kompetenz für sich, die, wie ausgeführt, die werteorientierte Wahrnehmung und Beurteilung von Existenzen, Erscheinungen und Handlungen schärfen kann. Daher ist die Frage, ob Spiritualität als Bindemittel zwischen Religiosität und Moralität verstanden werden

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kann, mit ja zu beantworten, wobei Moralität und Sittlichkeit sich als Liebe, Nachsicht, Bescheidenheit und Achtsamkeit ausdrücken. Auf sehr bildhafte Weise formuliert dies Khalil Gibran (2015, S. 81): »Wer seine Sittlichkeit bloß als sein bestes Gewand trägt, wäre besser nackt.« Die Ziele von Spiritualität, Mystik und Religion ähneln sich in vielerlei Hinsicht. Daher ist Spiritualität nicht als Alternative zur Religion oder gar als eigenständiges Phänomen, sondern eher als geistiges Fundament oder Urzustand der Religion sowie ihre innere (geistige) und moralische Dimension zu verstehen. Eine nicht glaubensorientierte Spiritualität wäre eher Philosophie als Spiritualität. Das Sufitum begreift sich als Weg (tarı¯qa) des Menschen zu sich selbst und zur ewigen Wahrheit. Für einen Sufi ist jeder Mensch ein Spiegel dieser Wahrheit, ein Mikrokosmos. Jeder Mensch, der diesen Weg beschreitet, soll dieser Wahrheit teilhaftig werden. Als gelebte und intellektuell erschlossene Spiritualität will das Sufitum, der tasawwuf, dem Menschen dazu verhelfen, seine innerlichen Er˙ fahrungen bewusst wahrzunehmen und als Teil seiner Religiosität zu entdecken. In ihrer spirituellen Ausprägung will Religiosität einerseits dem Glauben treu sein, andererseits über die Grenzen der konventionellen Gelehrtenmeinungen hinaus denken und handeln. Sie ist in gewissem Sinne als freiheitsliebende Dimension der Religiosität aufzufassen. Diese Dimension eröffnet der Religiosität eine theologie- und konfessionsübergreifende Perspektive, die auch im Religionsunterricht die dialogische Kompetenz fördern und erweitern kann. Dem Sufitum wohnt gleichsam eine Strategie der vielfältigen Überschreitung inne. So geht es ihm auf der hermeneutischen Ebene darum, Koran und Sunna jenseits der Deutung durch die Mainstream-Theologie zu interpretieren und mitunter Antworten zu liefern, die von der orthodoxen Theologie in der Form kaum zu erwarten sind. Auf diese Weise kann es die hermeneutische Kompetenz im Religionsunterricht erweitern. Von der Mainstream-Theologie werden die hermeneutische Interpretation des Sufitums und seine religiöse Performanz bisweilen des Synkretismus bezichtigt, was zu Spannungen führt, die unter bestimmten Umständen durch politische Interessen verschärft und instrumentalisiert werden. Dabei ist der Interpretationsdissens gelegentlich nur Ausdruck der Konkurrenz um die Deutungshoheit zwischen ʿulama¯ʾ (Religionsgelehrten) und Sufis. Die ʿulama¯ʾ heben die normative Seite, die Sufis eher die spirituelle Seite der Religion hervor. Dabei muss eine Seite die andere keineswegs völlig ausschließen, ist die Deutungsdifferenz doch manchmal einfach der Anwendung unterschiedlicher koran- und sunnahermeneutischer Methoden geschuldet. Die Sufis führen ihre Interpretation auf göttliche Eingebung (ilha¯m/isˇa¯ra) zurück und bedienen sich dafür einer symbolischen Sprache (Çınar 2009, S. 1–18), die den tieferen und verschlüsselten Sinn (ba¯tin) der Aussagen von Koran und Sunna ˙ zum Vorschein bringen soll. Als prägnantestes Beispiel für eine solche interpretative Herangehensweise kann der berühmte Sufi Ibn ʿArabı¯ (o. J.) genannt

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werden. Hingegen neigt die ʿulama¯ʾ eher zur philologischen Interpretation der genannten Quellen nach dem sichtbaren/äußeren (za¯hir) Sinn und der Bedeu˙ tung eines Wortes. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen brachten verschiedene Gattungen des tafsı¯r (Korankommentar) hervor, etwa den philologischen (lug˙awı¯), den überlieferungsorientierten (riwa¯ya), den vernunftorientierten (dira¯ya) oder den spirituellen (isˇa¯ra) tafsı¯r. Spiritualität wird auch als eine innere Befindlichkeit und Einstellung ohne theologisch definierten, verbindlichen Glaubensinhalt verstanden und unter Umständen als Alternative zur Religion betrachtet. Nach Streib und Hood trägt die Unzufriedenheit mit der Kirche und die daraus resultierende Distanzierung dazu bei, dass sich die Teilnehmer an einschlägigen empirischen Studien als »mehr spirituell als religiös« bezeichneten (Streib 2008b, S. 53ff.; 2015, S. 29f.). Diese sich selbst attestierte Spiritualität, die regelmäßig auf eine unkonventionelle und entkirchlichte, persönlich definierte Religion bzw. Religiosität hindeutet, ist überdurchschnittlich häufig bei Personen zu beobachten, die der Kirche den Rücken gekehrt haben (Streib & Keller 2015). Dies kann als Indiz der Distanzierung von Religion und der Wahrnehmung der Spiritualität als dogmenfreie Religion bzw. ungezwungene Religiosität gelten, da diese sich »mehr spirituell als religiös« bezeichnenden Dekonvertit*innen ihre Suche nach der ewigen Wahrheit offenbar – noch – nicht aufgegeben haben. Sie sind nur nicht einverstanden oder zumindest nicht ganz zufrieden mit der Art und Weise, wie die Erfassbarkeit, Erlebbarkeit und Durchlebbarkeit dieser Wahrheit durch die institutionellen und personellen Vertreter der Religion präsentiert werden. Sie suchen einen Freiraum für ihre eigene Wahrnehmung und Erfahrung jenseits der Religion oder besser gesagt der Theologie. Dieses »Jenseits« bzw. der »Freiraum« ist ihre Spiritualität. Im Islam wurde das Bedürfnis nach Spiritualität im Regelfall durch den tasawwuf und seine Orden (Tekken) befriedigt. Die Orden fingen jene ˙ Menschen auf, die sich an der Schwelle zwischen Religiosität und Areligiosität befanden, weil sie etwa mit der Reduzierung des Glaubens auf die Befolgung von Ge- und Verboten oder der herrschaftskonformen Interpretation der religiösen Quellen nicht einverstanden waren. Einige beschritten den Weg des Sufismus und blieben auf der Glaubens- undʿIba¯dat-Ebene, der gottesdienstlichen Ebene, orthodox. Andere näherten sich der Religion auf unorthodoxe bzw. heterodoxe Weise, sowohl auf der intellektuell-interpretativen als auch auf der praktischinterpretativen Ebene, ohne dass sie deshalb weniger gläubig und religiös gewesen wären. In der islamisch-spirituellen Form der Religionsausübung ging es nicht allein darum, Gottesdienste zu verrichten, sondern auch um seelische und intellektuelle Labung an und durch Religion sowie um die Entfaltung einer ungezwungenen, befreienden und individuell gestalteten Glaubenspraxis. Jene, die diesen Weg gewählt hatten, konzentrierten sich mehr auf Gott und seine

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Schöpfung, die sie für das Wesentliche hielten, weniger auf die Summe der Meinungen der Religionsgelehrten, die sich Theologie nennt. In der Zeit der Spätmoderne nimmt die Spiritualität die Stelle der heterodoxen Religiosität ein, vermutlich aufgrund weitgehend fehlender orthodoxer und unorthodoxer Orden. Vor allem im Westen entwickelt sich Spiritualität allmählich zu einer Religiosität, die ihre Wahrheit aus der Lebenserfahrung/weisheit/-philosophie schöpfen will und sich weniger auf konventionelle Interpretationen der religiösen Quellen bezieht, zu einer »Philosophie« des Inneren, des Gewissens, einer Religiosität – fast – ohne Religion. Ob sie eine gelebte individuelle Religion/Religiosität ist, die die Religionen selbst als obsolet erscheinen lässt, kann kontrovers diskutiert werden. Ebenso ist fragwürdig, ob eine so verstandene Spiritualität im Religionsunterricht verortet werden kann und soll. Wenngleich Grundanliegen und Gestaltung der Mystik in den abrahamitischen Religionen signifikante Gemeinsamkeiten aufweisen, war das muslimische Sufitum im Gegensatz zur christlichen Mystik kein Sonderweg einer kleinen in sich geschlossenen Minderheit, sondern eine Massenbewegung. Ohne Sufitum kann die Volksreligiosität und zum Teil die geografische Ausdehnung des Islams nicht richtig verstanden werden. Bei der Ausweitung des Islams auf den Balkan, den Fernen Osten und Afrika (ausgenommen Nordafrika) spielte das islamische Sufitum eine wichtige Rolle. In der islamischen Welt war und ist das Sufitum der wichtigste Träger und Gestalter der Spiritualität und zugleich die verinnerlichte Version der islamischen Religiosität insgesamt. Demnach wäre in der islamischen Kulturgeografie der Anteil jener, die sich als »mehr spirituell als religiös« bezeichnen, wohl um einiges niedriger als im Westen. Um diese Vermutung zu verifizieren, bedürfte es freilich empirischer Untersuchungen. Die institutionalisierten Lebens-, Erfahrungs- und Lernorte wie Tekke und za¯wiya des Sufitums waren dazu gedacht, eine spirituelle Atmosphäre zu schaffen, die eine innige Bindung des Menschen an seinen Glauben und an seine Mitgeschöpfe zulässt. Die Bildungsprämissen bzw. -kompetenzen des Sufitums lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erkenntnis des Selbst (maʿrı¯fa an-nafs), die Erlangung der Gotteserkenntnis (maʿrı¯fa-t-ulla¯h), die Liebe zu Gott (hubb-u˙ lla¯h) und zur Schöpfung (den Wegen Gottes), das Ergriffensein von der Liebe Gottes sowie gott- und schöpfungsgefälliges Handeln. Diesen Prämissen wohnen epistemologische, affektive und moralische Momente inne, in denen sich zugleich die Spiritualität verwirklicht. Der Weg zur Selbstverortung des Menschen im Universum führt über Selbsterkenntnis, Selbstwertschätzung (als »Gottes Kalifen auf Erden«) und die Bewusstwerdung seiner Beziehung zu Gott und der Schöpfung. Ein sich zum Sufitum bekennender Mensch sieht sich nicht nur mit den Muslim*innen, sondern mit allen Menschen – als von dem einen gemeinsamen Schöpfer geschaffen – verbunden. Tatsächlich wurde der Islam von den

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Sufis als »Hingabe an Gott« im weitesten Sinne verstanden. Als Ort des Lernens, der Spiritualität, Religiosität und Moralität zugleich zeigte sich das Sufitum gegenüber der Medrese (theologische Schule und Hochschule) mehr anthropologisch (schülerorientiert) ausgerichtet. Tekke und za¯wiya, die Lebens- und Lernstätten des Sufitums, gewährleisteten die fromme, spirituelle Atmosphäre, in der der Mensch – in ontologischer, intellektueller und ethischer Hinsicht – im Mittelpunkt pädagogischer Anstrengungen stand, während in den Medresen der Schwerpunkt auf Wissen, auf der epistemologischen Orientierung lag. Mit dieser menschenzentrierten pädagogischen Einstellung gelang es dem Sufitum weitgehend, den Weg zum Dialog zwischen Religion, Spiritualität, Ethik und Philosophie zu ebnen. Bei näherer Betrachtung des sufistischen oder – allgemein – mystischen Wegs als Weg der intellektuellen (sinndeutenden), inneren (affektiven) und handlungsorientierten (moralischen) Erfahrung zeigt sich, dass dieser Weg höchst vielseitige interreligiöse und interkonfessionelle pädagogische Möglichkeiten und Ebenen beinhaltet. Die Einbringung mystischer Ansätze in die Religionspädagogik könnte also durchaus eine erweiterte (horizontale) und vertiefte (vertikale) Betrachtung der Themen im Religionsunterricht ermöglichen. Das Sufitum betrachtet Lernen mehr als eine epistemologisch-didaktische Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden und legt großen Wert auf die affektive Bindung zwischen Lehrern/Meistern und Schülern. Diese Bindung führt gelegentlich zur Entmündigung des Lernenden, wobei allerdings anzumerken ist, dass Mündigkeit in diesem Lern- und Erziehungskonzept anders wahrgenommen wird als in der heutigen Schulpädagogik (Polat 2010b, S. 189). In der islamischen Erziehungs- und Bildungslandschaft nimmt das Sufitum mit seinen Institutionen und seiner werteorientierten und sozial motivierten erzieherischen Herangehensweise, die darauf abzielt, ein Individuum geistig und moralisch in die Lage zu versetzen, als »Kalif Gottes auf Erden« handlungsfähig zu sein und zu bleiben, die gesamte Schöpfung im Angesicht und im Spiegel der Barmherzigkeit und Liebe Gottes zu betrachten, eine bedeutende Stelle ein. Nach der sufistischen Bildungslehre kann der Mensch als das fähigste Geschöpf (Koran 95:4), in das Gott seine Seele einhauchte (Koran 15:29), durch religiöse Erziehung dazu angeleitet werden, Gottesattribute wie »der Liebende« (al-Wadu¯d), »der Allbarmherzige« (ar-Rahma¯n), »der Erzieher« (ar-Rabb), der Wissende (al˙ ʿAlı¯m) etc. zu verinnerlichen und sie in seinen Haltungen und Handlungen zum Vorschein zu bringen. Der tasawwuf speist sich nicht nur aus der islamischen Theologie, sondern ˙ auch aus der islamischen Philosophie. In den tasawwuf flossen auch die Er˙ kenntnisse islamischer Philosophen in den Bereichen der Ethik, Anthropologie und Epistemologie ein, die von diesen intensiv bearbeitet worden sind, und auch die Sufis selbst schenkten der Philosophie große Aufmerksamkeit. Sie definier-

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ten das Nachdenken (tafakkur) über die Existenz als Gottesdienst, formulierten eigene philosophische Fragestellungen und entwickelten ihrer Gesinnung entsprechende Herangehensweisen (Schimmel 2014, S. 35ff.). Als Resultat dieser spezifischen Beziehung zwischen Philosophie und tasawwuf findet sich im suf˙ istischen Gedankengut und Handeln eine Fülle pädagogisch relevanter Ansätze. Zudem schuf die islamische Philosophie dank ihrer Beziehungen zu antiken griechischen, indischen, mesopotamischen und fernöstlichen Philosophien sowie dank ihres anfänglichen Einflusses auf die Entwicklung der europäischen Philosophie (z. B. über Averroes [Ibn Rusˇd] und Avicenna [Ibn Sı¯na¯]) die Voraussetzungen dafür, dass die islamische Bildungsphilosophie auf intellektueller Ebene mit der europäischen Gedankenwelt auf gleicher Augenhöhe kommunizieren kann. Die Behandlung der wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen der islamischen und der westlichen Zivilisation als Gegenstand verschiedener Unterrichtsfächer kann sich in vielerlei Hinsicht als nützlich erweisen – so etwa ließe sich auf Grundlage dieser interkulturellen wissenschaftlichen Kommunikation durchaus ein kulturdialogisches und friedenspädagogisches Lernkonzept realisieren. In diesem Sinne können auch verschiedene mystische Traditionen im Unterricht ohne Vereinnahmung und ohne Verschweigen der Unterschiede vergleichend behandelt werden. In der islamischen Bildungstradition ist die Philosophie von zentraler Bedeutung. Immerhin gehört die rationale Betrachtung der Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung sowie die Sinngebung und Deutung der alle Menschen angehenden Erfahrungen wie Geburt, Krankheit, Tod, Gutes und Böses etc. aus philosophischem (vernunftorientiertem) Blickwinkel und die daraus resultierende Orientierung im Einklang mit dem Glauben zu den Forderungen des Islams an die Menschen (Koran 16:10–17). Dieser Forderung versuchte auch der tasawwuf gerecht zu werden: Er vermied es, in eine irrationale weltfremde Magie ˙ und Esoterik zu verfallen, vielmehr war er stets darauf bedacht, dass sich seine Spiritualität auf Vernunft gründet. Wird sich ein Individuum dessen gewahr, dass seine Religiosität vom herrschenden Mainstream abweicht oder seine aus seinen inneren Überzeugungen genährten Moralvorstellungen nicht mit jenen der Gesellschaft konform gehen, schafft dies einen enormen Leidensdruck. Mit anderen Worten leidet die Wahrheit des Einzelnen unter der Wahrheit der Mehrheit. Menschen, die sich in einer solchen Konfliktsituation befinden, wird von Psychologen gelegentlich eine religionsbedingte psychische Störung attestiert. Dazu seien folgende Fragen gestattet: Ist eine Lebensweise oder eine Gesellschaft gesund, nur weil sie von der Mehrheit getragen wird? Kann etwas allein deshalb als normal gelten, weil ihm in der Gesellschaft mehrheitlich nachgegangen wird? Ist jede Abweichung von der »Normalität« der Mehrheit krankhaft? Die Definition der psychischen Abnormalität kann kulturbedingt sein (Murken 1997, S. 159ff.). So fanden als »ab-

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norm« betrachtete Individuen in der spirituellen Atmosphäre mystischer Gruppen Schutz und Heimat und erwies sich das gemeinsame Leben in den spirituellen Ordensstätten des Sufitums oft als entstigmatisierend und normalisierend. Die Spiritualität hielt den Gedanken wach, dass der Glaube eigentlich ein innerer Werdegang ist und Religiosität seine Entäußerung sein soll, sonst wäre sie ja Zwang.

3.

Schlussfolgerungen für den islamischen Religionsunterricht

Eine am tasawwuf orientierte Herangehensweise versteht sich nicht als alleinige ˙ pädagogische und didaktische Methode im Unterricht. Die Inanspruchnahme der Spiritualität als religionspädagogischer Ansatz bietet die Möglichkeit, erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten mit Sinn zu füllen, im Gewissen zu reflektieren und affektiv fühlbar und moralisch vertretbar zu machen (Methodenkompetenz). Durch die Herausarbeitung und Offenlegung der spirituellen Seite der Religion kann der Religionsunterricht seine Aufgabe – die Vermittlung von Werten wie Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Nachsicht, Solidarität, Bindung und die Entfaltung der emotionalen Intelligenz – effizient erfüllen (Wertekompetenz und emotionale Kompetenz). Das Einbringen spiritueller Inhalte, Elemente und Symbole in den Religionsunterricht kann sowohl der psychologischen Sensibilisierung der Lernbereitschaft als auch der didaktisch-methodischen Vielfalt dienen. Neben ihrer bereits erwähnten didaktisch-instrumentativen Seite ist die Spiritualität auch als Methode der Inhalts- und Kompetenzvermittlung für den Religionsunterricht unverzichtbar. Der tasawwuf als islamisch geprägte Spiri˙ tualität gilt im weitesten Sinne als Ort der Herausbildung religiöser und ethischer Sensibilität (taqwa¯), als Ort, aus dem die den Glauben begreifende Intellektualität Inhalt, Sinn und Zweck (maʿrı¯fa und hikma) bezieht, sowie als Ort der ˙ Entfaltung eines Schöpfer und Schöpfung achtenden, mündigen Glaubens- und Handlungsbewusstseins (ihsa¯n). ˙ Vor lauter Informationsvermittlung wird oft zu wenig Nachdruck auf das Verstehen und Nachvollziehen (tafakkur) der Ziele und Zwecke der Religion gelegt. Dieser vernachlässigte Aspekt könnte durch das Spirituelle kompensiert werden. Darüber hinaus könnte sich eine solche Ergänzung als präventive und heilsame Maßnahme erweisen, die durch Füllung einer inneren Leere Schutz vor Affinität zu Gewalt und Sucht bietet (spirituelle Kompetenz, Resilienzkompetenz/Copingkompetenz). Die Miteinbeziehung der Spiritualität als Thema und Methode in den Religionsunterricht kann den Schüler*innen eine Tür zu ihrer spirituellen Seite öffnen und sie dazu befähigen, ihre Gefühle religiös zu for-

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mulieren und zu artikulieren. Dabei geht es natürlich nicht darum, aus Schüler*innen Ordensleute zu machen (spirituelle Kompetenz). Die koran- und sunnahermeneutische Herangehensweise des Sufitums bzw. tasawwuf, die eine spirituelle und philosophische Verständnisebene eröffnet und ˙ sich der symbolischen Sprache bedient, kann der vielseitigen und vielschichtigen Realisierung der hermeneutischen und symboldidaktischen Methode im Unterricht dienen (Methodenkompetenz, hermeneutische Kompetenz, intellektuelle Kompetenz). Eine solide Kenntnis von tasawwuf-bezogenen religiösen Traditionen kann ˙ helfen, den Islam vielseitig zu entdecken und über das katechetische Wissen hinaus vertieft zu verstehen (hermeneutische Kompetenz). Ausgewählte Erzählungen aus Koran und Sunna bilden eine solide Grundlage für spirituell/sufistisch angelegte Diskussionen (theologische und intellektuelle Kompetenz). Der tasawwuf hat eine sehr starke philosophische Seite, die im Terminus ˙ tafakkur, was so viel bedeutet wie »Kontemplation«, »Reflexion«, »Nachsinnen« und »Intellektualisieren«, zum Ausdruck kommt. Diese Seite fördert die Selbstreflexion im Sinne des an-nafs al-lawwa¯ma, des reflektierenden Ichs (Reflexionskompetenz). Das Interesse des Religionsunterrichts gilt den Bedürfnissen des Kopfs (rational), der Seele (spirituell) und des Herzens (affektiv) sowie den Mitteln und Wegen, wie diese Triade beim Lernen effektiv zum Einsatz gebracht werden kann. Dafür sollte er auf individuelle Unterschiede eingehen und die religiöse Bildung mit Blick auf eine ganzheitliche, aufmerksame Lehrer*innen-Schüler*innenbeziehung realisieren. Dieses Herangehen war als die Methode der sufistisch-spirituellen Bildung relativ erfolgreich. Freilich ist diese intensive Einzelbildung in der heutigen Schule sehr schwer zu verwirklichen. Die Tekken waren nicht nur die Orte des persönlichen Rückzugs und der Selbstbesinnung, sondern auch die Stätten der kollektiven Produktion, des kommunalen Teilens sowie die Institutionen der gelebten religiösen und moralischen Bildung und Erziehung (Moralkompetenz/Handlungskompetenz). In der religiösen Bildung sollte auch ein Stück weit dafür gesorgt werden, dass die Seele im Spannungsfeld zwischen der Befolgung der religiösen Wahrheit und den Erfordernissen der materiellen und sozialen Wirklichkeit nicht leiden muss. Die spirituelle Dimension der religiösen Bildung kann dazu beitragen, die gott- und menschengefällige Beziehungen und Bindungen auf affektiver und praktischer Ebene zu stärken – dies wäre eine weitere Kompetenz im Religionsunterricht. Der sufistische Bildungsbeitrag kann die Konformität zwischen der Religiosität, Moralität, Intellektualität und Humanität, die gleichermaßen als Kompetenzen gelten, verstärken. Somit lässt sich Spiritualität als eine Metakompetenz im Religionsunterricht definieren.

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Islamische Friedenspädagogik1

Zusammenfassung Jedes Unterrichtsfach hat die Möglichkeit – und sollte es als seine Pflicht erachten –, aus seiner Perspektive heraus einen Beitrag zur Friedensbildung und -erziehung zu leisten – sowohl allein als auch in Kooperation mit anderen Fächern. Für Letzteres böte sich der Religionsunterricht an: als Plattform für die Korrelation verschiedener Betrachtungsweisen einerseits und als Ort des Theologisierens, der Ethisierung und Spiritualisierung des Friedensgedankens und des aus ihm resultierenden Handelns anderseits. Als eine bedeutende gewissensund ethikbildende Quelle ist Religion geradezu dazu prädestiniert, durch eindeutige Aussagen Einfluss auf die Friedenserziehung zu nehmen. In diesem Sinne stellte der Religionsunterricht eine wesentliche Ergänzung zu den Leistungen anderer Fächer – etwa Sozial-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft – dar, in deren Aufgabenbereich die Beschreibung des Nutzens des Friedenszustandes, die Erklärung der Ursachen und der verheerenden Folgen von Krieg fallen.

1.

Wahrnehmung des Friedens in Koran und Sunna

Im Koran wird grundsätzlich auf die Leserschaft, auf ihre Bedeutung, ihre Eigenschaften und ihre Motivation Bezug genommen. Der Koran bezeichnet sich als »Leiter zum rechten Weg« – insbesondere für die Muttaqı¯-Leute, die er ausdrücklich erwähnt (Koran 2:2–5). Dies ist offenbar so zu verstehen, dass der Koran sich die Funktion der Rechtleitung erst beimisst, wenn er von den Muttaqı¯-Leuten gelesen wird, die gegenüber dem Schöpfer und der gesamten Schöpfung verantwortungsbewusst, wahrhaft gläubig und aufrichtig zu denken und zu handeln bereit sind. Im Koran heißt es wie folgt: 1 Grundlage dieses Beitrags ist mein thematisch einschlägiges Buch (Polat 2010).

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»Das ist wahrlich ein ehrwürdiger Koran in einem wohlverwahrten Buch, das nur diejenigen berühren (dürfen), die vollkommen gereinigt sind; (er ist) eine Offenbarung vom Herrn der Weltenbewohner.« (Koran 56:77–80)

Dieser a¯ya2 ist zunächst zu entnehmen, dass die Berührung des Korans erst nach Durchführung des wudu¯, der rituellen Waschung, erlaubt ist. Aber im weiteren ˙ Sinne enthält diese Aussage auch das Gebot, den Koran erst zu rezitieren und zu deuten, wenn man sich von unguten und ungerechten Haltungen, negativen Beweggründen und niederen Gefühlen wie Hass, Neid, Feindschaft, Habgier usw. gereinigt und sich somit geläutert hat. Es ist enorm wichtig, beim Lesen des Korans in einen Dialog mit ihm zu treten. Kommunikative dialogische Lesung meint, den Offenbarungstext nicht etwa als tote Materie zu betrachten, sondern ihm zuzuhören und mit ihm in Interaktion zu treten, ihm weitere Fragen zu stellen. Vrijdags fordert von den Leser*innen der Bibel, sich von ihr befragen und sogar infrage stellen zu lassen (vgl. Vrijdaghs 1984, S. 322). Dies sollte erst recht gelten, wenn man den religiösen Quellen die Legitimität für seine Handlungen entnehmen will. Zum richtigen Verständnis der Offenbarungsaussagen gehört die Befassung mit ihren Hintergründen, textimmanenten Alternativen, Gültigkeits- und Verbindlichkeitsmodalitäten. Zudem gilt es bei der kommunikativen und interaktiven Lektüre der Offenbarungsquellen – bevor man mit der Offenbarung ins Gespräch tritt –, die kulturellen und geschichtlichen (Alt-)Lasten der Gesellschaft sowie eigene persönliche Motivationen und biografische Erfahrungen hinter sich zu lassen. Diese innere Reinheit bzw. Reinigung ist Voraussetzung für die Empfangsbereitschaft der beabsichtigten wahren Botschaft. Erst wenn man mit dem Offenbarungstext in dem solcherart erreichten neutralen Zustand spricht, erhält man von ihm eine neutrale Antwort, andernfalls nimmt man das Geoffenbarte, bewusst oder unbewusst, selektiv wahr und versteht davon nur das, was man geneigt ist, zu verstehen. Man wird Opfer seiner eigenen List und führt sich selbst in die Irre, wenn man durch das Lesen oder Zitieren der Offenbarung Gottes seine eigene Sache zur Sache Gottes zu erheben wagt und seinen eigenen Krieg als »Gotteskrieg« oder »Heiligen Krieg« propagiert. Diese Übertretungsgefahr gebietet es, nur das zu akzeptieren, was – als Ergebnis wahrhaftigen und ernsthaften Lesens – ethisch vertretbar ist und sachlich verstanden werden kann. Daher kommt es bei der Lektüre der Offenbarung besonders auf die dabei eingenommene Haltung und die ihr zugrunde liegende Motivation an. Im Gegensatz zur Gewalt lässt sich der Frieden direkt aus den schriftlichen religiösen Urquellen als gottgewollte und menschenwürdige Haltung und Handlung begründen. Wohl werden in diesen Quellen auch wenige Ausnahme2 Die tiefgründige Bedeutung von a¯ya (Pl. a¯ya¯t) kann nicht mit »Vers« wiedergegeben werden, daher ziehe ich es vor, den arabischen Begriff zu verwenden.

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situationen erwähnt, in denen das Friedensgebot zum Zwecke der Erhaltung des Friedens – und daher widerwillig – relativiert oder ausgesetzt werden müsse. Diese Ausnahme bedeutet jedoch auf keinen Fall, dass Frieden als ewiges Gebot Gottes und der Friedenszustand als alleinige menschenwürdige Situation infrage gestellt werden dürfen. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass aus Sicht der Religionen der Frieden als religiös unverzichtbares, unverhandelbares Gebot, die Gewalt hingegen als unerwünschte, aber in bestimmten Situationen nicht völlig vermeidbare Realität gilt. Im Lichte dieser Überlegungen halte ich ein tiefgründiges Verstehen von Frieden und Gewalt entlang der religiösen Erstquellen für ein unhintergehbares Ziel jeglicher Erziehung. Wie die Aussagen über Krieg und Gewaltanwendung in den religiösen Quellen zu verstehen sind und warum es in der Geschichte der Religionen überhaupt zu Kriegen kommt, bedarf einer sachlichen und umfassenden Klärung. Wohlgemerkt wurde die Geschichte der Religionen nicht nur von den Anhängern der jeweiligen Religion, sondern auch von deren Feinden und Gegnern bestimmt. Die Geschichte beschreibt ja die Beziehungen zwischen Gruppen, Völkern usw., die nicht nur friedlich miteinander umgegangen sind. Die Religionen waren in ihrer Anfangsphase fast ausnahmslos mit dem Vernichtungswillen ihrer Gegner konfrontiert – ein Faktum, das in den Offenbarungen der monotheistischen Religionen, die auf die Lebensrealitäten der Menschen reagierten, seinen Niederschlag fand. Der Mensch ist nicht nur Adressat der Offenbarung Gottes, sondern gleichzeitig ihr Objekt. In der Offenbarung wird der Mensch als Ganzes, mit seinem Handeln und Denken, Fühlen und Glauben und auch mit seiner Lebenserfahrung, wahrgenommen und zum Glauben und gläubigen Handeln bewegt. Die Offenbarung präsentiert sich dem Menschen als frohe Botschaft, als Rechtleitung zum Guten und als Barmherzigkeit. Im Koran heißt es: »Und wir haben dir das Buch geoffenbart als klare Darlegung von allem und als Rechtleitung, Barmherzigkeit und frohe Botschaft für die (Gott) Ergebenen.« (Koran 16:89)

Auf dieser Grundlage ist nun die Frage zu beantworten, warum Frieden und Gewaltverzicht gottgewollte und menschenwürdige, grundsätzliche Haltungen und Handlungen sind, die alle Menschen aus welchen Überlegungen auch immer – seien es religiöse, humanistische oder ethische – aktiv bejahen müssen. Egon Spiegel betont, dass Krieg nicht von den Phänomenen des Krieges und seiner Hintergründe her, sondern von denen des Friedens und seiner Hintergründe her zu überwinden sei (Spiegel 2005, S. 51). Tatsächlich ist es für die Entwicklung des Friedensbewusstseins wichtiger, zu begreifen, warum Gewaltverzicht so bedeutsam ist, als zu wissen, warum Krieg notwendig sein könnte. Hier ist die Pädagogik gefordert, Schüler*innen entlang der religiösen Quellen den Weg zu den Grundpositionen der Religionen in wichtigen Denk- und

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Handlungsfeldern wie Frieden und Gewalt zu weisen. Ein früher und direkter Umgang mit diesen Quellen fördert bei Schüler*innen religiöse Mündigkeit und macht sie wachsam gegenüber Gewaltpropaganda im Namen der Religion. Dabei sollten sie von den Lehrkräften begleitet werden – etwa in der Form, dass sie den Schüler*innen sowohl die direkten als auch die dem Sinn nach friedensstiftenden Aussagen im Koran vor Augen führen und sie mit ihnen gemeinsam interpretieren. Daneben sollten aber auch jene koranischen a¯ya¯t und Überlieferungen aus den Hadithwerken3 näher betrachtet werden, in denen der Krieg nicht kategorisch abgelehnt wird. Solche Stellen sind nicht als voraussetzungslose, allgemeingültige Aussagen zur Kriegslegitimation, sondern als situationsbedingte Überlegungen zu begreifen. Im Unterricht gälte es daher, die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der a¯ya¯t oder der Hadithe über Frieden und Krieg mit den Schüler*innen ihrem Alter entsprechend zu diskutieren und ihnen die vielfältigen Weisen, den Koran zu verstehen, aufzuzeigen. Als Beispiel dafür sei folgende viel zitierte, aber bewusst oder unbewusst wenig verstandene a¯ya angeführt: »Sind die geschützten Monate verflossen, dann tötet die Polytheisten, wo immer ihr sie findet; ergreift sie und belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf! Bereuen sie aber und verrichten das Salah und entrichten die Zakat, dann lasst sie ihres Weges ziehen! Wahrlich, Gott ist allverzeihend und barmherzig.« (Koran 9:5)

Diese a¯ya wird gerne aus ihrem Kontext gerissen und ohne Berücksichtigung der darauf folgenden a¯ya¯t fälschlicherweise als totale Kriegserklärung an Andersgläubige interpretiert. Dabei wird freilich darüber hinweggesehen, dass die wörtliche Bedeutung (maʿna¯), der Sinn (mafhu¯m), Zweck (maqsad) und Hin˙ tergrund (asba¯b) einer koranischen a¯ya sehr oft durch eine andere erklärt und ergänzt wird und es daher zum richtigen Verständnis unerlässlich wäre, die in der Koranexegese (tafsı¯r) – neben anderen Methoden – höchst anerkannte und häufig angewendete koranimmanente Interpretationsmethode, also die Interpretation einer Koranstelle mithilfe anderer Stellen, heranzuziehen. Auch die Sunna (Prophetentradition) wird für die Koranexegese zu Hilfe genommen, um zu eruieren, ob es eine Handlung bzw. eine Aussage des Propheten gibt, die die jeweilige Stelle im Koran näher erklärt oder sie in die Praxis einbringt. Darüber hinaus kommen die speziellen Ereignisse bzw. Situationen, die der Herabsendung (asba¯b an-nuzu¯l) der entsprechenden a¯ya zugrunde liegen, in Betracht. Unter Berücksichtigung all dieser und weiterer wissenschaftlicher Kriterien der Methodologie der Koranexegese (usu¯l at-tafsı¯r), lässt sich zu ˙ der zitierten a¯ya Folgendes festhalten: 3 Hadith (hadı¯t), der; Pl. Hadithe (aha¯dı¯t): die wörtliche Überlieferung der Sunna, also die Taten, ˙ ¯und Haltungen (stillschweigenden ˙ ¯ Handlungen Billigungen) des Propheten Muhammad. Die Hadithe wurden in den einschlägigen klassischen Hadithwerken niedergelegt. ˙

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Die Herabsendung (tanzı¯l) dieser a¯ya fällt in jene Zeit (631 n. Chr.), in der sich die Muslime in einem existenziell bedrohlichem Kriegszustand mit den Polytheisten und mit Byzanz befanden. Zwar konnten sie durch die Eroberung der Stadt Mekka über die mekkanischen Polytheisten einen entscheidenden Sieg davontragen, aufgrund des dadurch ausgelösten ständigen Zustroms der Muslime fühlten sich die anderen heidnischen Stämme auf der Arabischen Halbinsel jedoch zunehmend unsicher, weswegen sie sich veranlasst sahen, Militärbündnisse gegen sie zu schmieden. Auch die Byzantiner, die kurz darauf die Sassaniden besiegten, planten einen Feldzug in Richtung Medina. Um den von Byzanz ausgehenden Angriffsvorbereitungen entgegenzuwirken, organisierte der Prophet sogar einen Zug nach Tabuk in Richtung Syrien (Ibn Kathı¯r 2000, S. 370; at˙ Tabarı¯ 2003, S. 473). In den anschließenden a¯ya¯t derselben Su¯ra wird die zu ˙ diesem Zeitpunkt bedrohliche Situation der Muslime wie folgt erklärt: »Sie [die Polytheisten] beachten gegenüber einem Gläubigen weder Verwandtschaftsbande noch Schutzvertrag. Das sind die Übertreter.« (Koran 9:10) »Wollt ihr nicht kämpfen gegen ein Volk, das seinen Eid brach und das den Gesandten zu vertreiben plante? Sie waren es, die euch zuerst angriffen. Fürchtet ihr sie etwa? Gott ist würdiger, dass ihr Ihn fürchtet, wenn ihr Gläubige seid.« (Koran 9:13)

Es waren also diese existenziell bedrohlichen Bedingungen, unter denen die zitierte a¯ya es den Muslimen erlaubte, sich gegen die Polytheisten zu wehren. Demnach war die Erlaubnis zur Verteidigung an bestimmte Bedingungen geknüpft (al-muqayyad) und beinhaltete keine totale, immerwährende und allgemeine (al-ʿa¯mm) Kriegserklärung an die Polytheisten oder Atheisten. Sie war für eine bestimmte Zeit vorgesehen und speziell (al-ha¯ss) gegen die damaligen ˘ ˙˙ Polytheisten ausgesprochen worden. Hier ging es um eine konkrete extreme Situation zur Zeit des Propheten. Die wichtigsten Gründe für die Erlaubnis zum Kampf gegen die Polytheisten lagen laut dem Koran in der von diesen beabsichtigten Bekämpfung und Vertreibung der Muslime: »Gott verbietet euch nicht, denjenigen, die euch nicht wegen eurer religiösen Überzeugung [ad-dı¯n] bekämpfen und euch nicht aus euren Wohnstätten vertrieben haben, mit Güte zu begegnen und sie gerecht zu behandeln. Gewiss, Gott liebt die Gerechten.« (Koran 60:8)

Die begrenzte und an bestimmte Bedingungen geknüpfte Erlaubnis zum Kampf (qita¯l) ist also als Not- bzw. Ausnahmezustand zu verstehen. Qita¯l ist eine nur widerwillig erlaubte Handlung (makru¯h), die allein dann zulässig ist, wenn sie der Gewährleistung von Frieden und Sicherheit oder der Beendigung von Gewalt dient. Hingegen ist der Dschihad als umfassendes Bestreben zur Bewahrung der Sicherheit, des Friedens, der individuellen und gesellschaftlichen Fortentwick-

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lung und des Wohlstands zu verstehen. Er darf nicht auf den Kampf, also auf qita¯l, reduziert und mit ihm gleichgesetzt werden. Der Dschihad umfasst sämtliche Bestrebungen der Menschen, das Gute, das Gerechte und Wahre zu erlangen und zu schützen. In polarisierenden, populistischen und propagandistischen Verlautbarungen wird er gemeinhin einzig als militärische Handlung gefasst, womit suggeriert wird, dass Gewalt einen Wesenszug des Islams darstelle, Islam und Gewalt also untrennbar miteinander verbunden seien. Die kriegerischen Invasionen und Interventionen im Verbreitungsgebiet des Islams mögen den Dschihad vordergründig als militärischen Kampf erscheinen lassen, und auch in der Atmosphäre von massiver Gewalt und Gegengewalt in der Gegenwart gerät die Bedeutung des Dschihad in den Hintergrund: Diese liegt im unaufhörlichen Bemühen, Unzufriedenheit, Unruhe und Gewalt letztlich überflüssig zu machen und bis zum Äußersten zu gehen, um gewaltlose Alternativen zur Lösung von Konflikten zu finden. In diesem Sinne ist der Dschihad eine Anstrengung im Namen von Frieden und Wohlstand in allen Lebensbereichen, ob auf individueller Ebene – mit Blick auf die Bestreitung des Unterhalts – oder in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht, also mit Blick auf den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt. In den allgemeingültigen (al-mutlaq) koranischen Aussagen wird der Frieden ˙ als das anzustrebende Ziel deklariert und eingefordert.4 Hierzu einige Beispiele: »Helfet einander zur Rechtschaffenheit und Gottesachtsamkeit [at-taqwa¯] und helfet einander nicht zur Sünde und Feindschaft!« (Koran 5:2) »Die gute Tat und die schlechte Tat sind nicht gleich. Wehre (das Schlechte) mit einer Tat, die besser ist, ab, und dann wird derjenige, zwischen dem und dir Feindschaft besteht, so, als wäre er ein warmherziger Freund.« (Koran 41:34) »Aus diesem Grund haben wir den Kindern Isra¯ʾı¯ls vorgeschrieben: Wer einem Menschen das Leben nimmt, ohne Strafe wegen Mordes oder Unheilstiftung auf Erden, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer einen Menschen am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält. Unsere Gesandten sind bereits mit klaren Beweisen zu ihnen gekommen. Danach sind aber wahrlich viele von ihnen auf der Erde maßlos geblieben.« (Koran 5:32) »Oh, die ihr glaubt, tretet allesamt in den Frieden ein!« (Koran 2:208) »Und die Diener des Allerbarmers sind diejenigen, die maßvoll auf der Erde umhergehen und die, wenn die Toren sie (beleidigend) ansprechen, sagen: ›Frieden!‹« (Koran 25:63)

4 Zu einer detaillierten Beschreibung der Termini al-ʿa¯mm, al-ha¯ss, al-mutlaq und al-muqayyad ˙ ˘ ˙˙ siehe Sˇaʿban (1990, S. 265ff.).

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»Und wenn ihnen gesagt wird: ›Stiftet nicht Unfrieden auf der Erde!‹, sagen sie: ›Wir sind ja nur Friedenstifter.‹ Aber sicher sie, gerade sie, sind die Unfriedenstifter, doch sie merken es nicht [sie wollen es nicht begreifen].« (Koran 2:11–12)

Nicht nur der Koran, auch der Prophet Muhammad fordert den Frieden, was in ˙ den folgenden Hadithen (Prophetenaussprüchen) deutlich wird: »Muslim ist der, vor dessen Zunge und Hand die anderen Muslime sicher sind.« (AlBuha¯rı¯, ¯Ima¯n, ba¯b 4) ˘ »Gläubig ist der, vor dem die Menschen sich hinsichtlich ihres Lebens und ihres Eigentums sicher fühlen.« (Nasa¯ʾı¯, ¯Ima¯n 8; at-Tirmid¯ı, ¯Ima¯n 12) ¯

Der Islam will Frieden und räumt der Vergebung der Vergeltung gegenüber den Vorrang ein. Gleichwohl sieht er eine totale Absage an die Selbstverteidigung als unrealistisch, ungerecht und sogar als Ermutigung zur Gewaltanwendung an. Im Koran heißt es: »Und diejenigen, denen Gewalt angetan wird, haben das Recht, sich zur Wehr zu setzen. Die Vergeltung für eine böse Tat ist etwas gleich Böses. Wer etwas verzeiht und Frieden schafft, dessen Lohn obliegt Gott. Sicherlich liebt er nicht die Ungerechten. Und wer immer sich zur Wehr setzt, nachdem ihm Unrecht getan wurde, den trifft kein Vorwurf. Vorwurf trifft nur diejenigen, die den Menschen Unrecht zufügen und auf der Erde ohne Recht Gewalttätigkeiten begehen. Für sie wird es eine schmerzhafte Strafe geben.« (Koran 42:39–43; siehe ferner 16:126).

Auch in der Sunna hat die Vergebung der Vergeltung gegenüber Vorrang. Bezüglich alter Feindschaften aus Kriegszeiten entschloss sich der Prophet statt zu Racheakten zur Vergebung. Als Mekka von den Muslimen erobert wurde (630 n. Chr.), verzieh der Prophet den Polytheisten aus Mekka, die die Folterung, Vertreibung und Ermordung von Hunderten von Muslimen zu verantworten hatten (ʿIbn Kat¯ır 2006, S. 482ff.). Daher könnte die Behandlung des religiösen ¯ Aspekts von Vergebung und Versöhnung im Unterricht anhand von Aussagen des Korans und der Sunna sowie durch Verweis auf islamisch-historische Erfahrungen und die Diskussion darüber auf Grundlage eigener Lebenserfahrungen dazu führen, dass die Schüler*innen aus dem Glauben und dem Leben heraus Vergebung und Versöhnung als Gefühl und Tugend schätzen lernen. Dem Koran zufolge ist Kampf nur so lange und nur in dem Maße gestattet, wie dies zur Schaffung von Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit nötig ist. Das Hinauszögern der Wiederherstellung einer echten Friedenssituation oder die Friedensverweigerung ist nicht erlaubt. Nach der Wiederherstellung einer sicheren und menschenwürdigen Situation erlischt die widerwillige (karhan) Duldung der militärischen Gewaltanwendung (qita¯l) unverzüglich. Dazu heißt es im Koran:

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»Wenn sie [eure Gegner] sich jedoch von euch fernhalten und dann nicht gegen euch kämpfen, sondern Frieden anbieten, so erteilt Gott euch keineswegs Erlaubnis [wörtlich ›Gott gibt euch keinen Weg frei‹] gegen sie vorzugehen.« (Koran 4:90)

Ein unvoreingenommener Blick auf die a¯ya¯t und Hadithe, in denen die Verteidigung nicht kategorisch abgelehnt wird, in ihrem Gesamtzusammenhang lässt keinen Zweifel daran, dass darin von einem Freibrief für Gewaltanwendung nicht die Rede sein kann. Vielmehr legen sie Grenzen und Ausmaß der Gegenwehr fest und verbieten im Fall von Selbstverteidigung, Prävention und Beendigung einer Extremsituation die Willkür, Unzweckmäßigkeit und Unangemessenheit der militärischen Gewalt. Diese Tatsache wird in der folgenden a¯ya noch einmal betont: »Und der Hass, den ihr gegen (bestimmte) Leute hegt, weil sie euch von der geschützten Gebetsstätte [Kaaba] abgehalten haben, soll euch ja nicht dazu bringen, zu übertreten. Helft einander zur Güte [al-birr] und zur verantwortungsbewussten Frömmigkeit [attaqwa¯], aber helfet einander nicht zur Sünde und feindseligem Vorgehen und fürchtet Gott! Gott ist streng im Bestrafen.« (Koran 5:2)

Des Weiteren heißt es im Koran: »Und kämpft auf Gottes Weg gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht! Gott liebt nicht die Übertreter.« (Koran 2:190)

Schließlich sind all diese koranischen a¯ya¯t, die die Selbstverteidigung und die Gewährleistung der Sicherheit sowie des Wohlergehens der Menschen in unvermeidbaren Fällen auch mit militärischen Mitteln erwägen, vor dem Hintergrund der friedlichen Gesamtperspektive des Islams zu interpretieren. In diesem Zusammenhang muss man sich den Sinn der Schöpfung, die Verantwortung der gläubigen Menschen für sich selbst und für alle Kreaturen Gottes sowie die universellen ethischen Ziele der Religion permanent vor Augen halten. Wie der Koran sieht auch die Sunna eine positive Korrelation zwischen dem Glauben und einer friedlichen Haltung und Handlungsweise. Von Abu¯ Huraira ˘ wird überliefert, dass der Prophet sagte: »›Bei Allah, er glaubt nicht! Bei Allah, er glaubt nicht! Bei Allah, er glaubt nicht!‹ Er wurde gefragt: ›Wer, oh Gesandter Allahs?‹ Er sagte: ›Derjenige, dessen Nachbar vor seiner Bosheit nicht sicher ist.‹« (An-Nawawi, Maʾmu¯ra¯t, 1, 3059)

Der Koran versteht sich als Ermahnung (mawʿiza) (10:57), als Anleitung zum ˙ rechten Handeln für das irdische und jenseitige Wohlergehen der Menschen (huda¯) (2:2, 27:77), als Heilung der Krankheiten der Seele und des Gedankens (sˇifa¯ʾ) (10:57) sowie als Barmherzigkeit (rahma) (27:77). All diese Zuschrei˙ bungen bezeichnen Momente, die dem Frieden förderlich sind. Die Entsendung des Propheten Muhammad, des Verkünders der Offenba˙ rung, wird von Gott als »Barmherzigkeit« für die Erdenbewohner bezeichnet

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(Koran 21:107). Gott selbst figuriert im Koran unter anderem als »der Barmherzige« (ar-Rah¯ım), »der Allerbarmer« (ar-Rahma¯n), »der Frieden Schaffende« ˙ ˙ (as-Sala¯m), »der Stützende« (al-Hafı¯z), »der stets die Reue Annehmende« (at˙ ˙ Tawwa¯b), »der Ordnung Schaffende« (ar-Rabb). All diese – im Koran wiederholt erwähnten – Namen bzw. Attribute, die in der islamischen Gelehrsamkeit als die »schönen Namen Gottes« (al-asma¯ʾ al-husna¯) geläufig sind,5 beinhalten den ˙ Frieden oder deuten zumindest auf Frieden hin. Als »Kalif Gottes« (Koran 2:30ff.) ist der Mensch verpflichtet, die Bedeutungen dieser die wichtigsten Attribute Gottes beschreibenden Namen im Laufe seines Lebens, das als die Zeit seines Kalifats gilt, nach Maßgabe seiner menschlichen Kräfte mit Leben zu erfüllen. Im Sinne der Friedenserziehung wäre zu überlegen, diese Namen, deren Inhalte den Gläubigen als Orientierungs- und Handlungsmaßstab gelten, im Religionsunterricht zu besprechen und daraus Anweisungen für friedfertiges Handeln abzuleiten. Als didaktisch verwertbare Materie, insbesondere an Grundschulen, eignen sich auch kalligrafische Darstellungen der Namen Gottes. Lehrende könnten solche Darstellungen als Mal- oder Bastelvorlagen in der ersten Klasse der Grundschule benutzen und dabei ihre Inhalte erklären. Derart eingesetzt könnte die Kalligrafie abstrakten Inhalten Plastizität verleihen und damit die Lerneffizienz steigern (Polat 2008, S. 96). Dem Frieden durch die islamische Schriftkunst (hat) eine künstlerische Gestalt, durch die Dichtung ein Gefühl und durch die ˘ ˙ religiöse Musik eine Stimme zu verleihen – all dies kann von hohem didaktischen ˇ ala¯l ad-Dı¯n Wert sein. Die großen islamischen Friedensdenker wie Mawlana G und Yunus Emre, die beide im 13. Jahrhundert in Anatolien lebten, bedienten sich zum Beispiel der Dichtung als Medium zur Vermittlung einer den Menschen achtenden Denkweise und eines friedfertigen Lebenswandels. Zudem bietet sich die Möglichkeit, die koranischen Stellen, in denen die »schönen Namen Gottes« vorkommen,6 mit den Schüler*innen auf altersgerechte Weise zu deuten und zu analysieren. Eine weitere Empfehlung in Sachen Unterrichtsgestaltung wäre schließlich die Diskussion jener Hadithe, welche die erwähnten Namen Gottes beschreiben und ihre Widerspiegelungen in der Schöpfung erklären.

5 Zu den bekanntesten »schönen Namen Gottes« (al-asma¯ʿ al-husna¯) und ihrer Bedeutung im ˙ Deutschen siehe Molla-Djafari 2001. 6 Zum Beispiel: »Er ist Gott, außer dem es keinen Gott gibt, der Kenner des Verbogenen und des Offenbaren. Er ist der Allerbarmer und Barmherzige. Er ist Gott, außer dem es keinen Gott gibt, der Herrscher, der Heilige, der Friede, der Gewährer der Sicherheit, der Wächter, der Allmächtige, der Gewalthaber, der Stolze. Preis sei Gott! (Und Erhaben ist Er) über das, was sie (Ihm) beigesellen. Er ist Gott, der Schöpfer, der Erschaffer, der Gestalter. Seine sind die schönsten Namen. Ihn preist (alles), was in dem Himmel und auf der Erde ist. Und Er ist der Allmächtige und der Allweise.« (Koran 59:22–24)

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Insbesondere aus der Perspektive der korrelativen Didaktik spricht vieles dafür, die Inhalte der »schönen Namen Gottes« – »der Allvergebende« (atTawwa¯b), »der Schützende« (al-Hafı¯z), »der Gewährer der Sicherheit« (al˙ ˙ Muʾmin), »der Ordnung Bewahrende« (ar-Rabb), »der Frieden Schaffende« (asSala¯m), »der Liebende« (al-Wadu¯d) usw. – in Beziehung zu den Alltagserfahrungen der Schüler*innen zu setzen und zu besprechen, sie zum Ausgangspunkt zu machen, um eigene Erfahrungen mit den Themen Schutz, Versöhnung oder friedlicher Umgang im Alltag zu reflektieren. So würden diese Namen Gottes einerseits lebensnah verständlich gemacht und kompetenzorientiert erläutert und anderseits dafür herangezogen, um ihren Bedeutungen entsprechend Werte zu vermitteln.

1.1

Die Iba¯da¯t-Ebene (islamisch-gottesdienstliche Ebene)

Die gottesdienstlichen Handlungen als bewusste religiöse Geschehnisse und Akte religiöser Sozialisation haben auch eine bildende, erzieherische und integrative Funktion, obwohl ihr Zweck nicht primär durch diese definiert ist (Kranemann 2008, S. 127–130), sondern sie in erster Linie auf die Erlangung des Wohlwollens Gottes abzielen. Als Gottesdienst gelten im Islam nicht nur rituelle Handlungen, sondern auch profane gute Handlungen gegenüber Mitgeschöpfen. Im Gottesdienst ist der Frieden als Sinn und Zweck mit enthalten. So dienen zum Beispiel das Erlernen und Erfahren von Solidarität mit Schwachen, die Entwicklung von Empathie gegenüber Bedürftigen sowie die Einübung von Genügsamkeit (kanaʿa), Geduld und Selbstbeherrschung (sabr), die sich durch die Erfüllung von ˙ Pflichten wie zaka¯t (soziale Abgabe) und saum (Fasten) realisieren lassen, als ˙ geistige Grundlagen des sozialen Friedens. So üben sie zusätzlich eine friedenserzieherische Funktion aus. Einerseits bewegen sie die Menschen sowohl geistig als auch praktisch zu guten Handlungen, andererseits verhindern sie die Entstehung von sozialer Kälte und individuellem inneren Unfrieden. Im Islam bedeuten die gottesdienstlichen Handlungen einerseits die Artikulation der Verehrung Gottes und die Äußerung des Gehorsams ihm gegenüber, anderseits sollen sie den Menschen zu friedvollen Einstellungen und Absichten sowie zu gutem Handeln gegenüber den Mitmenschen und der Umwelt befähigen. Die Qualität und Akzeptanz der religiösen Handlung im Jenseits werden an ihrer positiven Wirkung im irdischen Leben gemessen. Es lässt sich also sagen, dass ein guter Mensch und ein guter Gottesdiener zu sein einander ergänzende Fähigkeiten darstellen. Das Ziel der religiösen Erziehung besteht darin, die Schüler*innen bei der Aneignung und Verinnerlichung dieser beiden Fähigkeiten Hilfe zu leisten. Diese Grundeinstellung des Islams möchte ich mit der folgenden koranischen a¯ya, die die Korrelation zwischen der wichtigsten gottes-

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dienstlichen Handlung (ʿiba¯da), nämlich dem sala¯h, dem rituellen Gebet, und ˙ der Vermeidung des Schädlichen bzw. des Schändlichen beschreibt, verdeutlichen: »Verlies, was dir vom Buch [vom Koran] offenbart wird, und verrichte das Salah [das rituelle Gebet], gewiss das Salah hält davon ab, das Schändliche, das Verwerfliche zu tun.« (Koran 29:45)

Eine gottesdienstliche Handlung zieht das Wohlwollen Gottes nach sich, wenn sie bezüglich der zwischenmenschlichen Beziehungen ihres Vollbringers eine positive Wirkung entfaltet und nicht auf Scheinheiligkeit beruht. Im Koran wird dazu Folgendes mitgeteilt: »Siehst du denjenigen, der die Religion [das Gericht nach der Auferstehung] für Lüge erklärt? Das ist derjenige, der den Waisen zurückstößt und nicht zur Speisung des Armen anhält. Wehe nun denjenigen Betenden, die mit ihren Gebeten unbewusst sind, (nur) dabei gesehen werden wollen; und die Hilfestellungen verweigern!« (Koran 107: 1–7)

Es versteht sich von selbst, dass es im Unterricht vor allem darum gehen muss, die essenzielle Verbindung zwischen gläubigem und ethischem Handeln aufzuzeigen und damit die Untrennbarkeit der Gottesdienerschaft von der innerlichen und praktischen Liebe zu Mitmenschen und Mitgeschöpfen zu verdeutlichen. In diesem Zusammenhang ist es genauso wichtig, bei der Erklärung von praxisorientierten Geboten und Verboten nicht nur die dahinterstehende gottesdienstliche Absicht, sondern auch deren sozialen und humanen Sinn und Zweck zu diskutieren. So stellt sich heraus, dass der persönliche und innermenschliche Friede die Grundvoraussetzung dafür bildet, den Glauben überhaupt ernsthaft zu verstehen und zu verwirklichen.

2.

Islamisch-ethische und sufistische Ebene der Friedenserziehung

Das islamische Sufitum, der tasawwuf, ist definiert als das Bemühen um innere ˙ Reinigung bzw. Erziehung (tazkiyya) und stellt einen intensiven begleitenden Erziehungs- und Bildungsweg dar. Diesem Prozess der Selbstreinigung von allen unethischen Neigungen, die das Individuum zu unangemessenen und unwürdigen Handlungen gegenüber Mitmenschen und seinem Schöpfer veranlassen, wird höchstes Lob zuteil. Im Koran heißt es: »Wohl ergehen wird es ja jemandem, der sich läutert.« (Koran 88:14)

In Massenbildungsstätten, in denen ein differenziertes Eingehen auf die jungen Menschen mit ihren vielfältigen Problemen gemeinhin kaum möglich ist, kann

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die Friedenserziehung sich zumindest als allgemein aufmerksame, würdigende, einfühlsame und liebevolle Begegnung zwischen Lehrenden und Schüler*innen gestalten. Somit gewinnt diese Erziehung eine weitere Dimension, indem sie eine innige Verbundenheit, ein über Pflichterfüllung hinausgehendes Miteinander und eine respektvolle Kommunikation zwischen Lernenden und Lehrenden stiftet. Darüber hinaus vermag der islamische tasawwuf als achtsamer Umgang ˙ mit Mensch und Natur sowie mit seiner vermittelnden Herangehensweise an die Religionen und Kulturen einen konstruktiven Beitrag zur spirituellen und ethischen Erziehung und Bildung in einer heterogenen Gesellschaft leisten. Die Friedenserziehung/-bildung kann im weiteren Sinne als aufmerksame spirituelle Begleitung, aufbauende moralische Unterstützung und seelische Stabilisierung fungieren. In Zeiten, da die religiöse Praxis sich auf bloße Pflichterfüllung zu reduzieren droht und der dahinterliegende spirituelle und ethische Sinn und Zweck im Begriff ist, sich zu verlieren, ist es wichtiger denn je, Schüler*innen einen Ort der spirituellen Zuflucht und Rückbesinnung zur Erlangung von innerem Frieden zu zeigen. Darüber hinaus beschränkt sich die Friedenserziehung nicht nur auf das Handeln und seine Konsequenzen, sondern auch auf die Gefühle und das Denkvermögen, weil es zwischen Fühlen (Neigung), Denken (Absicht, Entscheidung) und Handeln eine wechselseitige Beziehung gibt. Schließlich ist es religionspädagogisch sehr effizient, den Menschen von seinem Inneren her zu erfassen. Neben der Verantwortung gegenüber dem engeren Umfeld, deren Wahrnehmung, wie erwähnt, eine gewisse Reife voraussetzt, besteht auch eine kollektive religiöse Verantwortung gegenüber den Mitgeschöpfen auf universaler Ebene. In der heutigen Zeit, in der man geneigt ist, Konflikte und regionale Herrschaftsansprüche aus der Religion abzuleiten, stehen die Religionen stärker denn je in der Pflicht, ihre aus dem Glauben stammende Verantwortung gegenüber allen Wesen ohne Ausnahme neu zu definieren und sie ernsthaft wahrzunehmen. In der Vergangenheit kamen die Religionen ihrer humanitären Verantwortung insbesondere in Institutionen wie Sufi-Orden, Klöstern usw. nach. In der heutigen Welt mit ihren globalen Problemen und Konflikten muss diese Verantwortung überkonfessionell definiert werden und die Grenzen der eigenen religiösen Gemeinde überspringen, ohne die Notlage der anderen zum Anlass für Missionierung zu nehmen. Die Handlungsfähigkeit, die aus dem eigenen Glauben entspringt, die sich aber nicht von den missionarischen Interessen der eigenen Religion in Beschlag nehmen lassen darf, kann die Religionen einander näherbringen und eine Brücke der Achtsamkeit und des Friedens zwischen ihnen bauen. So stellte sich jede Katastrophe in der Welt als neuer Anlass zur Schaffung von Vertrauen und Solidarität zwischen den Religionen

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dar. Es ist also zu hoffen, dass die Unterbindung der »Gewaltreziprozität« durch »Gabenreziprozität«, wofür Hans-Martin Gutmann plädiert (Gutmann 2009, S. 174), universal stattfindet. Ein Mensch, der das Dasein der anderen als Berechtigung seines eigenen Daseins versteht und in seinen Mitmenschen nicht nur politische und wirtschaftliche Konkurrenten sieht, hat eine positive innere Einstellung zum friedlichen Zusammenleben. Die ethische Fähigkeit, mit den Menschen gut und gerecht umzugehen, ist ebenso eine religiös ausgerichtete Kompetenz. In diesem Sinne sagt der Prophet Muhammad: ˙ »Sicherlich wurde ich zur Vervollständigung der guten Moral entsandt.« (Ibn Anas, alMuwatta, 8) ˙˙

Ein anderer Hadith besagt:

»Der Islam ist gute Moral [Eigenschaften].« (Al-Hindı¯, 3/17, 5225)

Übersetzt man das Wort »Islam« allgemein als »vertrauensvolle Hingabe an Gott«, lässt sich die Aussage des Propheten wie folgt verstehen: Die Hingabe an Gott heißt gute Moral. Der Zustand des Unfriedens hat komplexe Gründe. Um ihn zu vermeiden bzw. zu beheben, muss er frühzeitig bemerkt, definiert und erklärt werden. Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zusammenhänge des Unfriedens auch auf globaler Ebene zu begreifen und ihnen mit entsprechenden Maßnahmen zu begegnen, setzt gründliches »deklaratives« und »prozedurales« Wissen über den Unfrieden voraus. Dann folgt der Erwerb der entsprechenden Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die der Aggressionsbewältigung einerseits und der Herstellung des Friedens andererseits dienen. Auch wenn all dieser Wissens- und Kompetenzerwerb nicht nur von religiöser Seite her angegangen werden kann, so ist die Religion doch in der Lage, die Menschen zum Guten zu motivieren und ihre Aufmerksamkeit über die eigenen Interessen hinaus auf das Universale und das Mitmenschliche zu lenken. Die mental aufbauende Funktion des Glaubens liegt hierbei darin, dass sich der Mensch gegenüber dem Schöpfer und dessen Geschöpfen verantwortlich sieht und zum Bewusstsein gelangt, dass es ohne die Zufriedenheit der Geschöpfe auch keine Zufriedenheit aufseiten Gottes gibt. Fast alle Religionen vermitteln die Lehre, dass Gewalt im Diesseits und Jenseits unausweichliche Folgen hat und dass Gewalttäter zum Opfer ihrer eigenen Tat werden.7

7 Im Koran (99:7–8) heißt es: »Wer nun im Gewicht eines Stäubchens Gutes tut, wird es sehen. Und wer im Gewicht eines Stäubchens Böses tut, wird es sehen.« Die buddhistische Karmalehre besagt, dass die im Laufe des jetzigen Lebens verübten unguten Handlungen die Modalität des zukünftigen Lebens nach der Wiederkehr bestimmen (vgl. Weil 2006, S. 91ff.).

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Als die Quelle eines friedliebenden und friedfertigen Verhaltens gilt der Zustand der inneren Zufriedenheit, der Befriedigung und der Befreiung. Im Koran wird dieser löbliche Zustand mit dem Terminus an-nafs al-mutmaʾinna bzw. an˙ nafs ra¯diya (wörtlich »die zufriedene Seele«) bezeichnet. Dazu heißt es wie folgt: ˙ »O du Seele, die du Ruhe gefunden hast, kehre zu deinem Herrn zufrieden und mit Wohlgefallen zurück.« (Koran 89:27–28)

Frieden beginnt im Inneren, in der Seele, dem nafs (im Sinne der Individualität und der Persönlichkeit). Mit ihr sind Gott und die Geschöpfe zufrieden, denn ihr kommt die Fähigkeit zu, negative Gefühle wie Hab- und Machtgier, Hass, Neid und Rachsucht, die die affektiven Grundlagen der Gewalt bzw. Gegengewalt bilden, durch Mitgefühl, Vergebung, Barmherzigkeit, Achtsamkeit, Gerechtigkeitsliebe und letztlich durch die Liebe zum Schöpfer und seiner Schöpfung zu überwinden. Die Befreiung von destruktiven Gefühlen, die Unfrieden fördern, und die Sensibilisierung der konstruktiven Gefühle, die den Frieden begünstigen, sind als Friedenserziehung zu begreifen. Die Welt ist nicht nur eine Übergangsphase ins Jenseits, ins Ewige, sie ist ebenso der Ort zur Verwirklichung des Guten. In diesem Sinne ist Friede nicht nur nach dem Tode, sondern auch im Leben zu finden. Nach islamischem Glauben haben Haltungen und Handlungen Auswirkungen auf das Jenseits, insofern ist die zwingende Schlussfolgerung die, dass die guten Handlungen und Haltungen, zu denen auch die Friedfertigkeit gehört, hier und heute gelernt, verinnerlicht und umgesetzt werden müssen. Der Prophet sieht zwischen Gläubigkeit und Friedfertigkeit eine unmittelbare Korrelation, wenn er sagt: »Und gläubig ist der, vor dem die Menschen sich hinsichtlich ihres Lebens und ihres Eigentums sicher fühlen.« (Nasa¯ʾı¯, ¯Ima¯n, 8; Tirmid¯ı, ¯Ima¯n, 12) ¯

Frieden bietet den Boden für die Entfaltung der zivilisationsfördernden Kraft der Religion. Unter nicht friedlichen Bedingungen kann auch die Religion Opfer der Gewalt werden. Ein extremes Beispiel dafür ist die Vernichtung der islamischen Zivilisation und der Muslime in Spanien nach der Rückeroberung Andalusiens (1442 n. Chr.). Dennoch wäre es verfehlt, Frieden als den Urzustand anzusehen und Unfrieden als unnatürliche und gewaltbedingte Aufhebung dieses Urzustandes wahrzunehmen. Um seine Interessen durchzusetzen, zeigt der Mensch auch die Fähigkeit und die Neigung zur Gewalt. Darüber hinaus ist Aggression nicht selten ein Hilferuf aufgrund von Gewalterfahrung, ein Ausdruck der Ohnmacht oder, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, ein Ersatzinstrument zur Erlangung von Aufmerksamkeit oder Bewunderung (vgl. Petermann & Petermann 2005, S. 3). Für die Langlebigkeit und Stabilität des Friedens scheint es wichtig zu sein, einerseits die Menschen vom Frieden und dem gewaltfreien Weg zu über-

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zeugen, anderseits die Bedingungen für den Erhalt des Friedens zu schaffen. Genauso bedeutend ist es, sich auch in Situationen, in denen Gewalt als »legitim«, »effizient« und »günstig« erscheint, für den Frieden zu entscheiden. Dies macht den Frieden zu einer Kultur, zu einer gesellschaftlichen Leistung. Der Islam sieht eine Kohärenz zwischen Handeln, Wissen, Glauben, Absicht und innerer Überzeugung8 und will all diese Bereiche in ethischer, spiritueller und religiöser Hinsicht ausgestalten. Das heißt, die gute Performanz eines gläubigen Menschen hängt von der friedensbejahenden und -fördernden Gestaltung (Formierung) seines Wissens, seines Glaubens, seiner Absicht, seines Geisteszustandes und schließlich seines Handelns ab. Im Folgenden möchte ich die Modalitätsstufen der Erkenntnis, des Glaubens und des Handelns der Gläubigen anhand der islamischen Quellen beschreiben und dabei die ihnen immanente Friedensrelevanz aufzeigen. Die dabei vorgenommenen Einstufungen sind nicht als Beurteilung der individuellen Religiosität als gut oder weniger gut oder als Bewertung der Menschen nach ihrem religiösen Status zu verstehen. Sie dienen allein der systematischen Beschreibung der Zustände und der Entwicklungsprozesse der religiösen Erziehung und Bildung der Individuen, die sich der Religion des Islams zugehörig fühlen. Diese kategoriale Erklärung beschreibt kein »Kastensystem« im Glauben, das es im Islam ohnehin nicht gibt, oder die Einteilung der Muslime in bestimmte Schichten. Sie will nur die Stufen des religiösen Bewusstwerdens und die handlungsorientierte Befähigung im Glauben aufzeigen. Ihre Grundlage bildet die folgende a¯ya des Korans: »Die (Wüsten-)Araber sagen: ›Wir glauben!‹ Sag: ›Ihr glaubt nicht (wirklich)‹. Sagt aber: ›Wir sind Muslime geworden‹, denn der Glaube [ı¯ma¯n] ist noch nicht in eure Herzen eingezogen (…).« (Koran 49:14)

Was in dieser a¯ya angesprochen wird, ist der qualitative Unterschied zwischen der Stufe des Muslims und jener des muʾmin. Erstere umfasst das Bekenntnis zum Islam, letztere hingegen ist die Weiterentwicklung der bewussten, begründeten und innerlich überzeugten Gläubigkeit im Islam. Eine weitere Stufe im Reifungsprozess im Glauben, die zwar in dieser a¯ya nicht vorkommt, aber in vielen Stellen des Koran lobend erwähnt wird, ist die Stufe der taqwa¯, des verantwortungsbewussten und mündigen Gläubigseins.9 Zu dieser Stufe gehört auch

8 Gute Absichten und die innere religiöse Überzeugung, die die guten Taten hervorbringen, werden im Islam als al-ihla¯s bezeichnet und auf das Höchste geschätzt. Al-ihla¯s gilt sicherlich ˘ ˙ ˘ ˙ Aspekt (vgl. als Ziel der religiösen Erziehung und beinhaltet auch einen friedenserzieherischen an-Nawawi, Maʿmu¯ra¯t, 8). 9 Zu einigen Beschreibungen der muttaqı¯ im Koran siehe 2:1–5, 42–46, 224, 3:51, 102, 113–115, 133–135, 4:1, 131, 5:7–9, 7:156–157, 201, 19:58, 24:36–37, 38:28, 92, 18–20.

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die Reifung zum bzw. die Erlangung des Zustands des ihsa¯n. Al-ihsa¯n bedeutet, ˙ ˙ sich ständig vor Gottes Angesicht zu wähnen. Auch im Neuen Testament, im Hebräerbrief, wird das Gläubigsein als Werdungsprozess begriffen, an dessen Ende die ethisch und religiös handelnde Durchdringung des Glaubens, seine Persönlichkeit entfaltende Wirkung und seine intellektuelle Erschließung bei den Menschen, die ein religiöses Bekenntnis abgeben, stehen (März 2008, S. 122–224). Nach diesen kurzen Vorbemerkungen möchte ich die Modalitätsstufen der religiösen Erkenntnis, der religiösen Überzeugung sowie des religiös motivierten Handelns der Gläubigen im Islam wie folgt beschreiben:

2.1

Muslim: Stufe des sich für gläubig Erklärens

Als Identifikationsbegriff bezeichnet der Terminus »Muslim« (derjenige, der sich dem Willen Gottes hingegeben hat) einerseits jeden Menschen, der sich zur Religion des Islams bekennt, zugleich benennt er das erste Stadium auf dem Weg zum Glauben im Islam, nämlich das des muʾmin. Von jemandem, der sich bewusst und mit freiem Willen zum Angehörigen der Religion des Islams bekennt, sich also zum Muslim erklärt, wird erwartet, dass er weitere Schritte zur Reifwerdung im Glauben (ı¯ma¯n), das heißt hin zum muʾmin tut. Tut er dies nicht, gilt er zwar als Muslim, allerdings als einer, in dessen Herzen der Glaube noch nicht im ersehnten Maße eingedrungen ist, wie es in der zitierten a¯ya wörtlich heißt. Die Teilaussage dieser a¯ya – »Sagt: ›Wir sind Muslime geworden‹« – drückt die »Selbsterklärung zum Muslim« aus – und damit den Willen zur Reifung im Glauben und Handeln als der ersten Station auf dem Weg zum Glauben. Die vorangehende Teilaussage – »Ihr glaubt nicht wirklich« – deutet an, dass eine weitere Etappe auf dem Wege zu bewusster Gläubigkeit zu bewältigen ist. Diese resultiert aus den Defiziten der ersten Etappe – »Denn der Glaube (ı¯ma¯n) ist noch nicht in eure Herzen eingezogen« – und zielt somit darauf ab, dass der Glaube sich als Bestandteil der gefestigten Persönlichkeit etabliert und sich in ihren Handlungen niederschlägt. Solange sich ein Mensch im Anfangsstadium des Prozesses des Gläubigwerdens – das je nach persönlichen Umständen rasch überwunden werden oder aber lebenslänglich bestehen kann – befindet, hat seine Religiosität einen eher oberflächlichen oder formalen Charakter. Auf dieser Stufe ist die innere religiöse Überzeugung und die Ebene des religiös motivierten ethischen Handelns trotz eventuell reichlich vorhandener Kenntnisse (ʿilm al yaqı¯n)10 über die Religion nur 10 Ismail Hakki I˙zmirli unterteilt das Wissen in folgende drei Modalitäten: a)ʿilm al-yaqı¯n: das theoretische Wissen,

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elementar bzw. rudimentär ausgeprägt. Es fehlt an der Fähigkeit, die vorhandenen Kenntnisse im Sinne einer religiösen Überzeugung zu verarbeiten, mögliche Konflikte zwischen religiösen und nicht religiösen Erklärungsmustern zu bewältigen sowie sich ein bewusstes und von Dritten unabhängiges Verständnis anzueignen. In diesem Sinne handelt es sich bei diesem Glauben um einen nachgeahmten Glauben (al-ı¯ma¯n at-taqlı¯dı¯). Seine undifferenzierten, unreflektierten, parolenhaften Kenntnisse und symbolisch-imitativen Verhaltensweisen sind auch der Grund dafür, dass es jemandem, der auf dieser Stufe verharrt, nicht immer gelingt, die mögliche Spaltung der innerlichen und praktischen Dimension seines Glaubens zu verarbeiten und Spannungen in seiner Lebenswelt auch durch innere religiöse Überzeugung zu überwinden. Auf dieser Stufe ähneln die bereits erwähnten Kenntnismodalitäten den von James W. Fowler beschriebenen hermeneutischen Fähigkeiten der Menschen auf der zweiten Glaubensstufe, also in »mystisch-wörtlichem Glauben«. Fowler schreibt: »Glaubensinhalte werden ebenso wie moralische Regeln und Verhaltensweisen mit wörtlicher Interpretation übernommen. Symbole werden in ihrer Bedeutung eindimensional und wörtlich verstanden.« (Fowler 1991, S. 166)

Wer sich also in der erwähnten Anfangsstufe des Gläubigwerdens – jener des Muslims –befindet, ist jemand, der zwar glaubt, aber den religiösen und ethischen Anforderungen nicht genügt. Dessen Glaube findet nicht immer Ausdruck in seinen Taten und es besteht selten Übereinstimmung zwischen den Äußerungen und Handlungen, die er freiwillig tätigt. Dieser Zustand wird in der folgenden koranischen a¯ya kritisch hinterfragt: »Oh, die ihr glaubt, warum sagt ihr, was ihr nicht tut?« (Koran 61:2)

Ein gläubiger Mensch, der noch nicht einen bestimmten Reifezustand erlangt hat, der sich im Zustand des an-nafs al-amma¯ra (»Triebseelenzustand«)11 befindet, ist sowohl für schlechte als auch für gute Taten offen, da er weder stabile Abwehrmechanismen gegen das Schlechte noch innere Triebkräfte für das Gute entwickeln konnte. Sein Glaube ist oberflächlich und seine gottesdienstlichen Handlungen, so er sie überhaupt vollzieht, haben eher den Charakter der Pflichterfüllung. Er stellt seine Interessen und Erwartungen in den Mittelpunkt b)ʿayn al-yaqı¯n: das empirische, durch Beobachtung erlangte Wissen, c) haqq al-yaqı¯n: das dem unmittelbaren und persönlichen Erlebnis entstammende Wissen. ˙ I˙zmirli (1331) (ru¯mı¯/gregorianischer Kalender), ʿIlm el-Yaqı¯n, ʿAyn al-Yaqin, Haqq elVgl. ˙ auch Yaqı¯n, in: Sebı¯l ar-Resˇa¯d, Nr. 337, S. 200f.; zu dieser epistemologischen Konzeption vgl. Spiewok (2010, S. 6–21). 11 »Und ich spreche mich nicht selbst (von Verfehlungen/Unzulänglichkeiten) frei. Die Seele gebietet fürwahr mit Nachdruck das Böse, außer dass mein Herr Sich erbarmt. Mein Herr ist allvergebend und barmherzig.« (Koran 12:53).

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seiner sozialen Handlungen und ist kaum in der Lage, seine Unzulänglichkeiten zu erkennen und zuzugeben. Und so läuft ein religiös und ethisch unreifer Mensch Gefahr, entweder in blinden religiösen Eifer (ifra¯t) oder in ethische und ˙ religiöse Beliebigkeit, Nachlässigkeit (fisq), Wertevergessenheit und in tafrı¯t (in ˙ den defizitären Zustand Erfüllung religiöser Pflichten) zu verfallen. Diese Gefahr kann von ihm selbst ausgehen oder von außen kommen und ihn zum Unruhestifter (mufsid) oder Verbrecher (fa¯gˇir) werden lassen.

2.2

Muʾmin: Stufe des Gläubigwerdens

Nach Überzeugung der meisten islamischen Theologen bzw. Kala¯m-Wissenschaftler ist der Glaube hinsichtlich seiner Qualität bzw. Reife einer ständigen Veränderung unterworfen. Demnach ist Gläubigkeit nicht als ein statischer Zustand, sondern als eine dynamische Entwicklung zu begreifen, eine Entwicklung, die in beide Richtungen offen ist. Der Glaube kann sich intensivieren, inhaltlich ändern oder gar verloren gehen.12 Diesbezüglich sind folgende Aufforderungen in der koranischen Offenbarung bemerkenswert: »Oh ihr, die ihr glaubt, glaubt an Gott und seinen Gesandten und das Buch, das er seinem Gesandten offenbart und die Schrift, die er zuvor herabgesandt hat. Wer Gott, seine Engel, seine Schriften, seine Gesandten und den Jüngsten Tag verleugnet, der ist fürwahr weit abgeirrt.« (Koran 2:136)

In dieser a¯ya werden diejenigen, die bereits glauben, an die wichtigsten Säulen des Glaubens erinnert und sinngemäß zu Aufrichtigkeit und konsequenter Gläubigkeit gemahnt – was wiederum voraussetzt, dass der Mensch klar und eindeutig wissen und verstehen muss, woran er glaubt. Des Weiteren wird von ihm erwartet, gottgefällige und dem Menschen dienliche Haltungen und Handlungen in seinem Leben sichtbar zu machen, da gerade dadurch sein Glaube sich als Quelle des guten Handelns qualifiziert. Auf dieser hohen Glaubens- und Handlungsstufe gestalten sich die Beziehungen des gläubigen Menschen zum Schöpfer und zur Schöpfung vertrauensvoll, achtsam und friedlich. Ein muʾmin verfügt neben seiner verinnerlichten religiösen und ethischen Überzeugung (ı¯ma¯n), die er auch nach außen zu vermitteln imstande ist, auch über wissenschaftlich begründbares und ein rational erworbenes Wissen (hikma13). Er ist bestrebt, im Rahmen seines Glaubens und der Ethik zu handeln14 ˙ 12 Aber es gibt sunnitische Gelehrte, wie as-Samarqandı¯, die die Gläubigkeit (ı¯ma¯n) aller Glaubenden, unabhängig davon, ob sie eine schwere Sünde begehen oder nicht, als gleichrangig auffassen. Vgl. es-Semerkandî 1980, S. 154ff. (49. Mesele). 13 Zur Verwendung des Terminus hikma im Koran siehe z. B. 28:14, 33:34. ˙

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und ist ständig dabei, sich selbstkritisch zur Verantwortung zu ziehen und zu verbessern (an-nafs al-lawwa¯ma15), besteht seine Handlungsmaxime doch in der Erlangung des Wohlwollens Gottes. Von ihm muss niemand Übles befürchten16 und er gönnt anderen, was er sich selbst gönnt (al-Buha¯rı¯, ¯Ima¯n, 13). ˘ 2.3

Muttaqı¯: Stufe des Gläubigseins

Ein muttaqı¯ ist jemand, der sowohl im Glauben als auch im Handeln die höchste Stufe erreicht hat und damit über taqwa¯ verfügt, sich also durch unbedingte Achtsamkeit gegenüber dem Schöpfer und seiner Schöpfung, durch höchstes Verantwortungsbewusstsein als Mensch und als Gläubiger sowie durch Konsequenz hinsichtlich einer religiösen und ethischen Lebensweise auszeichnet. Den Kern der taqwa¯ bildet die innere religiöse Überzeugung (ı¯ma¯n), die ihre Träger zu guten Absichten17, Haltungen und Handlungen bewegt. Demnach wohnt der taqwa¯ die Friedfertigkeit in ihrer natürlichsten und höchsten Form inne. Das der Erlangung der taqwa¯ entsprechende religiöse Wissen hat die Modalität des erlebten und sich seiner selbst gewiss seienden Wissens (haq al-yaqı¯n) (Koran ˙ 56:95, 59:61) sowie die Reife der tiefen inneren Erkenntnis (maʿrifa) angenommen. Die Handlungen eines muttaqı¯ stehen in völligem Einklang mit seiner religiösen und ethischen Überzeugung, welche von universalem und den Menschen würdigendem Charakter ist.

14 Zu einer ausführlichen Beschreibung der Eigenschaften einer muʾmina (weiblichen Gläubigen) oder eines muʾmin (männlichen Gläubigen) siehe Sure 23 des Korans. 15 »Und nein! Ich schwöre bei der sich selbst kritisierenden (anklagenden) Seele.« (Koran 75:2) 16 Die entsprechenden Aussagen des Propheten Muhammad lauten: »Muslim ist der, vor dessen ˙ (al-Buha¯rı¯, ¯Ima¯n, 11) und »Gläubig ist Zunge und Hand die anderen Muslime sicher sind« ˘ ihres Eigentums sicher fühlen« der, vor dem die Menschen sich hinsichtlich ihres Lebens und ¯ ¯ (an-Nasa¯ʾı¯, Ima¯n, 8; at-Tirmid¯ı, Ima¯n, 12). ¯ 17 Die Absichten sind für die religiöse und rechtliche Qualifikation der daraus folgenden Taten entscheidend. In diesem Sinne heißt es im folgenden bekannten Hadith: »Gewiss, die Taten sind entsprechend den Absichten (zu beurteilen)« (an-Nawawi, Maʾmu¯ra¯t,1, S. 8). In der berühmten osmanischen Rechtskodex-Sammlung Al-Magˇalla (§ 2) findet dieser Hadith als Rechtprinzip seinen Widerhall, und zwar im Satz: »Die Beurteilung einer Handlung erfolgt nach Absicht, die hinter dieser Handlung steht« (Ilhan 2003, S. 5). Zur religiösen Bedeutung der guten Absichten im Islam siehe al-G˙azza¯lı¯ (1916).

770 2.4

Mizrap Polat

Muhsin: Stufe des rechtschaffenen Gläubigseins ˙˙

Muhsin ist die glaubende Person, die den Ihsa¯n-Zustand innehat. Dieser Rei˙˙ ˙ fungszustand wird in dem als »Gabriel-Hadith« berühmt gewordenen Hadith wie folgt definiert (dieser wurde von mir auf die darin enthaltenen relevanten Aussagen gekürzt): »Gabriel [Dschibril] sagte: ›O Muhammad, unterrichte mich über den Islam!‹ Daraufhin sagte Gottesgesandter (Segen und Friede seien auf ihm): ›Der Islam besteht darin, zu bezeugen, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass Muhammad Allahs Gesandter ist, das Gebet zu verrichten, die Zakat [soziale Abgabe] zu entrichten, im Monat Ramadan zu fasten und zum Hause (Allahs) zu pilgern, wenn Du dazu in der Lage bist.‹ Er [Gabriel] sagte: ›Unterrichte mich über den Glauben [ı¯ma¯n]!‹ Er sagte (Allahs Segen und Friede seien auf ihm): ›An Allah zu glauben und an Seine Engel und an Seine Bücher und an Seine Gesandten und an den Jüngsten Tag, und an die Bestimmung zu glauben, im Guten wie im Schlechten.‹ Er sagte: ›Unterrichte mich über Ihsân!‹ Er sagte (Allahs Segen und Friede seien auf ihm): ›Allah so zu dienen, als ob du Ihn sähest und ˇ a¯miʿ aswenn du ihn auch nicht siehst, zu wissen, dass Er dich sieht.‹« (Al-Buha¯rı¯: Agˇ-G ˙ ˘ ¯ ¯ Sa¯h¯ıh, kitab: Ima¯n, ba¯b 36, Hadith-Nummer 50; Muslim, Sunan, Ima¯n, 1) ˙ ˙ ˙

Diese Stufe beschreibt die ständige Bestrebung, die inneren Einstellungen (Absicht/Intention) und Handlungen in bester Art und Weise zu gestalten, sodass den Intentionen und Handlungen Gottes Zufriedenheit gebühre und sie dem Willen Gottes entsprechen mögen. Die Gegenwart Gottes füllt alle Räume und Zeiten des Subjekts dieser Bestrebung und modifiziert seine Handlungen ohne Zwang und Erwartung von Lohn. Ein muhsin handelt im Zustand des ihsa¯n18, das heißt, er stellt sich vor, dass er ˙˙ ˙ im Angesicht Gottes agiert. Er ist überzeugt, dass Gott bei seinen Taten höchstpersönlich als Zeuge anwesend ist. Er verfügt über taqwa¯ in Form des höchsten Verantwortungsbewusstseins hinsichtlich seiner Pflichten gegenüber Gott und seinen Mitgeschöpfen.19 Infolge dieser Einstellung nimmt seine Überzeugung den Charakter der universal gültigen Ethik an, wie sie in der sechsten Stufe der moralischen Entwicklungstheorie bei Lawrence Kohlberg zum Ausdruck kommt (Kohlberg 1995, S. 132). Aber im Gegensatz zur Kohlberg’schen Theorie wandelt sich die zu dieser universalistischen Entwicklung führende religiöse Motivation nicht in eine rein humanistische um.

18 Der folgende Hadith wird überliefert: »An einem Tag war der Prophet (Segen und Frieden ˇ ibrı¯l] zu ihm und Gottes sei auf ihm) unter den Menschen, da kam – der Erzengel – Gabriel [G fragte: ›Was ist al-ihsa¯n?‹ Er [der Prophet] erwiderte: ›Du verrichtest Gottesdienste so, als ob ˙ du Gott sehen würdest. Wahrlich du siehst Ihn nicht, aber Er sieht dich sicherlich.‹« (Bucha¯rı¯, ˘ ¯Ima¯n, 50).

19 Zu den Eigenschaften des muttaqı¯ siehe Koran 2:2–5.

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Der gläubige Mensch, der die Ihsa¯n-Reife erlangt hat, ist der würdigste Kalif ˙ Gottes auf Erden und gleichzeitig vertrauenswürdigster Träger der ihm von Gott auferlegten Verantwortung (ama¯na) (Koran 33:72). Doch bei all den damit verbundenen Bürden und Pflichten befindet er sich im Zustand des völligen Vertrauens gegenüber seinem Herrn und der vollkommenen Zufriedenheit (an-nafs al-mutmainna).20 Er hat die Grenze des »Ich«, der ana¯nı¯ya, überschritten und ˙ betrachtet die ganze Schöpfung im Lichte Gottes (nu¯r Alla¯h).21 Die Handlungen eines solchen Menschen sind durch Gerechtigkeit und soziale Verantwortung geprägt. Für ein gerechtes und menschenwürdiges Leben seiner Mitmenschen ist er bereit, größere Lasten auf sich zu nehmen als jeder andere. Eine muhsina bzw. ˙˙ ein muhsin schließt einen unaufhebbaren Frieden mit sich, mit Gott und mit ˙˙ ihren bzw. seinen Mitgeschöpfen.

3.

Schlussüberlegungen

Frieden in der Schule erlernbar, erlebbar und fühlbar zu machen, erfordert das intensive Bemühen der Lehrenden, bei den Schüler*innen eine Sensibilität für Menschenrechte und Gerechtigkeit zu entwickeln sowie Barmherzigkeit, Liebe und Mitgefühl für Mitmenschen und Natur zu erwecken. Nun wird eine Institution allein, sei es im Bildungs-, Sicherheits- oder Sozialbereich, niemals in der Lage sein, einen Zustand des vollkommenen Friedens herbeizuführen und auf Dauer zu sichern. Dazu bedarf es der Schaffung der entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen – und dies auf globaler Ebene, insbesondere mit Blick auf die friedliche Wahrnehmung und Interpretation der Religion: Ein unter Kriegsbedingungen lebender Mensch versteht den Dschihad anders als einer, der in Sicherheit lebt und zuversichtlich in die Zukunft blicken kann. In dem Sinne kann man sagen, dass der Frieden am besten in einer von Frieden geprägten Umwelt gedeiht. Das Kennen- und Schätzenlernen der »Anderen«, das Bemühen um die gewaltfreie Lösung von Konfliktsituationen, Wachsamkeit gegenüber Hasspropaganda und dem Missbrauch des kulturellen und religiösen Zugehörigkeitsgefühls sowie die Entwicklung einer verantwortungsvollen Haltung gegenüber der Schöpfung in ihrer Gesamtheit im Angesicht des gemeinsamen Schöpfers bilden die Säulen der Friedenserziehung im religionspädagogischen Sinne.

20 »Du, die bereits Ruhe findende Seele! Kehre zu deinem Herrn zufrieden und befriedigt zurück, so tritt unter meinen Dienern ein, und tritt in mein Paradies [Dschanna] ein!« (Koran 89:27–30). 21 Der Prophet sagt: »Nehmet Acht vor dem tiefen Blick des Gläubigen, wahrlich, er betrachtet mit dem Licht Gottes« (at-Tirmid¯ı, 3332). ¯

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Mizrap Polat

Die wichtige religionspädagogische Konsequenz der islamischen anthropologischen, ethischen und spirituellen Betrachtung ist die Würdigung der Menschen, die Ansprech- und Vertragspartner Gottes sind.22 Zu weiteren Kongruenzen gehört die Respektierung der Mündigkeit und Freiheit der Menschen in der religiösen Bildung (Polat 2010b, S. 185–201). Die religiöse Bildung ist eine sanfte Begleitung, welche die Begleiteten befähigt, ihren Weg zu finden und zu gehen. Der Mensch hat Verantwortung und ist in der Lage, die höchste Stufe der ethischen und religiösen Reife zu erreichen. Die religiöse Bildung zielt darauf ab, neben der Würde des Menschen die Bewahrung von Natur und Umwelt in den Mittelpunkt des Bewusstseins zu rücken und den Menschen zu befähigen, seiner sozialen Verantwortung nachzukommen. Der Glaube verlangt, Gerechtigkeit allen Menschen gegenüber als Garant des Friedens zur Triebfeder des Handelns zu machen und die Freiheit und Gleichheit aller Menschen als unantastbare Grundvoraussetzungen dieser Gerechtigkeit zu betrachten. Dementsprechend muss das Bemühen der islamischen ethischen Erziehung darauf gerichtet sein, den erwähnten Werten Geltung zu verschaffen, um so einen Beitrag zum friedlichen Miteinander der Menschen zu leisten. Ohne Frieden mit den Mitmenschen und Mitgeschöpfen (mit der belebten und unbelebten Umwelt) gibt es keine Gotteszufriedenheit.

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22 »Bin Ich nicht euer Herr? Sie sagten: ›Doch, wir bezeugen (es)!‹ Dies, damit ihr nicht am Tag der Auferstehung sagt: ›Wir waren dessen unachtsam.‹« (Koran 7:172).

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Evrim Ers¸an Akkılıç

Islamische Erziehung und Radikalisierung

Zusammenfassung Der nachfolgende Artikel behandelt das gesellschaftlich vielschichtige Phänomen der Radikalisierung unter dem Aspekt der islamischen Erziehung, wie sie sich während des Radikalisierungsprozesses in unterschiedlichen Formen manifestiert. Dazu werden die Ausprägungen der islamischen Erziehung im Verlauf des Radikalisierungsprozesses anhand von drei biografischen Fallrekonstruktionen1 nach ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten erfasst. In diesem Artikel wird der Standpunkt vertreten, dass – wird die Radikalisierung zugleich als kognitiver Transformationsprozess gesehen – eine mit ideologischen Komponenten ausgestattete islamische Erziehung beim Radikalisierungsprozess sowohl des Individuums als auch der betroffenen gesellschaftlichen Gruppierungen eine zentrale Rolle spielt.

1.

Radikalisierung – ein umstrittener Begriff

Wie für jedes soziale Phänomen gilt auch für die Radikalisierung, dass in der öffentlichen Diskussion nicht nur eine Bandbreite an unterschiedlichen Vorschlägen zur Definition, sondern auch extreme Positionen bezüglich der Verwendung dieses Begriffs existieren. Während die einen den Begriff für ungültig erklären (Hoskinks & O′Laughlin 2009), halten andere das Konzept der Radikalisierung für ein Instrument, das konstruiert wurde, um die muslimische Gemeinschaft in der Diaspora zu kontrollieren (Kudnani 2012). Die Dissonanz 1 Die biografischen Fallrekonstruktionen stammen aus der Studie Islamistische Radikalisierung. Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu (Aslan, Akkilic & Hämmerle 2018). Im Rahmen der empirischen Studie wurden 26 narrativbiografische Interviews in mehreren Gefängnissen in Österreich durchgeführt, 15 davon mit Männern, die aufgrund terroristischer Straftaten im Zusammenhang mit Dschihadismus verurteilt worden waren.

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und Uneinigkeit resultiert aus der Verwendung des Begriffs in unterschiedlichsten Zusammenhängen, worauf Sedgwick in seiner Abhandlung The Concept of Radicalization as a Source of Confusion (2010) hinweist. Sedgwick zufolge liegt dies vordergründig daran, dass der Begriff »Radikalisierung« in verschiedenen gesellschaftspolitischen Kontexten unterschiedlich angewandt wird. So wird im Sicherheits-, Integrations- oder im außenpolitischen Kontext der Begriff jeweils anders behandelt (Sedgwick 2010). Nicht zu bestreiten ist jedoch, dass sich Radikalisierung als ein »Post-9/11-Begriff« zunehmend etabliert und verstärkt Eingang nicht nur in gesellschaftspolitische Kontexte, sondern auch in akademische Diskurse gefunden hat. Neumann (2008) erklärt diesen Wendepunkt in der Karriere des Begriffs wie folgt: »There is a long and well-established discourse about the ›root causes‹ of terrorism and political violence that can be traced back to the early 1970s. Following the attacks on the United States on 11. September 2001, however, it suddenly became very difficult to talk about ›the roots of terrorism‹, which some commentators claimed was an effort to excuse and justify the killing of innocent civilians. It was through the notion of radicalization that a discussion became possible again.« (Neumann 2008, S. 4)

Neumann zufolge wird mit »Radikalisierung« der Prozess, der zu »Terrorismus« führt oder führen könnte, beschrieben. In dieser Hinsicht stellt sich Radikalisierung als Vorstufe und Vorbereitungsphase dar, die ein Individuum durchläuft, welche bis zum Terrorismus führen kann. Diese Lesart zeigt sich noch deutlicher, wenn Neumann schreibt: »Radicalization is at present the standard term used to describe what goes on before the bomb goes off ’« (Neumann 2008, S. 4). Genau dieser Ansatz macht die Grenzen zwischen den Begriffen Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus fließend. Obwohl Radikalisierung kein Prozess ist, an dessen Ende unbedingt die Anwendung von politischer Gewalt steht, wird der Begriff beinahe ausschließlich in Bezug auf Gewaltanwendung reduziert diskutiert. Nicht nur die gesellschaftspolitischen Kontexte rufen Verwirrungen hervor, auch in der Wissenschaft herrscht weder über die Definition noch über die Ursachen Einigkeit. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass das Phänomen Radikalisierung Thema unterschiedlicher Disziplinen ist und dementsprechend die Definitionen und auch die Erklärungsansätze je nach Fokus der jeweiligen Disziplin variieren. Dalgaard-Nielsen unterscheidet drei Hauptwege in den akademischen Definitionsversuchen bezüglich der Radikalisierung (Dalgaard-Nielsen 2010). Der erste Ansatz stammt von den französischen Soziologen Kepler, Roy und Khroskovar, die das Phänomen theoretisch auf der Metaebene in Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Prozessen wie der Globalisierung und der Auflösung der Identitäten erklären. Der zweite Ansatz geht auf die Sozialwis-

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senschaftler*innen Wiktorowicz und Sageman zurück, welche die Definition in die Konzepte des social movement und der Netzwerkanalyse einbetten. In dieser Annäherung wird Radikalisierung auf der Meso-Ebene behandelt und der Fokus liegt auf sozialen Interaktionen und Gruppendynamiken innerhalb einer Bewegung bzw. Organisation. Den dritten Weg bezeichnet Dalgaard-Nielsen als empirischen Ansatz. Bei diesem wird die Mikro-Ebene – also die individuelle Ebene – in einer detaillierten Weise analysiert (Dalgaard-Nielsen 2010). Wie DalgaardNielsen unterstreicht, sollten diese Ansätze nicht als konkurrierende, sondern als einander komplementierende Definitionszugänge betrachtet werden. Obwohl die Studie, die dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegt, dem empirischen Ansatz zugeordnet werden kann, wurde eine Methodik bevorzugt, die alle drei Ebenen berücksichtigt. Folglich wurde in der Studie Islamistische Radikalisierung. Religiöse Sozialisation in biografischen Verläufen (Aslan et al. 2018) die Radikalisierung spezifisch definiert und die unterschiedlichen Ebenen entsprechend mitberücksichtigt. Radikalisierung ist demnach nicht als eine individuelle Problematik zu verstehen und nicht »auf eine Art Mechanismus zur Krisenbewältigung von marginalisierten und diskriminierten Jugendlichen reduziert« (Aslan et al. 2018). Vielmehr haben wir in der Studie die Wirkung des Milieus, also die Interaktionen, in den Blick genommen und folgende Definition vorgeschlagen: »Vor diesem Hintergrund wird in dieser Studie Radikalisierung anhand handlungsorientierter Theorien als ein Prozess beschrieben, den das Individuum nicht nur auf kognitiver Ebene durchlebt, sondern der sich auf der Handlungsebene direkt in der Lebensgestaltung niederschlägt. Der Begriff Gewalt wird im Zusammenhang mit Radikalisierung nicht auf physische Gewalt reduziert, sondern beinhaltet auch symbolische und psychische Gewalt, sowohl gegen die eigene Person als auch gegen das soziale Umfeld.« (Aslan et al. 2018, S. 23)

Der Begriff »Radikalisierung« ist mit der Abweichung von der Norm und dem Willen, diese durch ein anderes System zu ersetzen, verbunden. Wenn wir diesen Aspekt im Auge behalten, wird auch offensichtlich, dass es sich hier nicht nur um individuelle Schicksale handelt, sondern dass Radikalisierung stets einen gesellschaftspolitischen Aspekt in sich birgt. In diesem Sinne bietet die Definition von Dalgaard-Nielsen auch einen guten Ausgangspunkt, indem sie die radikalisierte Person in ihrer gesellschaftspolitischen Änderungsdimension berücksichtigt. »Here, a radical is understood as a person harboring a deep-felt desire for fundamental sociopolitical changes and radicalization is understood as a growing readiness to pursue and support far reaching changes in society that conflict with, or pose a direct threat to, the existing order.« (Dalgaard-Nielsen 2010, S. 798)2 2 Zu einer detaillierten Diskussion über Definition und Erklärungsansätze vgl. Dalgaard-Nielsen 2010.

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Zudem muss der Aspekt berücksichtigt werden, dass nicht alle radikalen Gruppen oder Individuen, die Veränderungen im System bewirken wollen, politische Gewalt anwenden. Auch unter radikal-islamistischen Gruppierungen, die beispielsweise die Scharia als eine angemessene politische Ordnung erachten, wird nicht zwangsläufig Gewalt befürwortet, um das vorherrschende politische System zu ändern und die Scharia zu etablieren. Stattdessen distanzieren sich Anhänger*innen dieser Gruppierungen von staatsbürgerlicher Verantwortung, indem sie beispielsweise nicht an Wahlen teilnehmen. Dieser Artikel befasst sich mit einer speziellen Art der Radikalisierung, nämlich der islamistischen Radikalisierung3 im österreichischen Kontext. Hierbei wird nicht nur die »gewalttätige Radikalisierung« (violent radicalization), sondern auch die gewaltfreie Radikalisierung thematisiert. Eine Reduzierung der Radikalisierung auf die Anwendung politischer Gewalt hätte für die Analyse zur Folge, dass andere Arten der Gewalt, die in diesem Prozess stattfinden, unberücksichtigt bleiben.

1.1

Die Rolle der Religion in Radikalisierungsprozessen

Die islamistische Radikalisierung wird in der Literatur als mehrdimensionales Phänomen angesehen (siehe dazu Brettfeld & Wetzels 2007; Sirseouldi 2010; Wentker 2008). Wie bei der Definition von Radikalisierung herrscht auch bei der Frage nach der Rolle der Religion in Radikalisierungsprozessen Uneinigkeit. Während beispielsweise Sageman (2008) die Bedeutung der Religion in Radikalisierungsprozessen als nebensächlich erachtet, sieht Wiktorowicz (2005) die Rolle der Religion als ausschlaggebend für Radikalisierungsprozesse.4 Die 2009 von Daveed Gartenstein-Ross und Laura Grossman (2009) publizierte Arbeit Homegrown Terrorists in the U.S. and U.K.: An Empirical Examination of the Radicalization Process betrachtet die Religion als ausschlaggebend bei der Radikalisierung. Die empirischen Daten der Studie basieren auf den Biografien von 117 home-grown Dschihadisten. Die Studie weist auf die Rolle des jeweiligen persönlichen theologischen Verständnisses der radikalisierten Men3 Bei der Benennung dieser Art der Radikalisierung gibt es Diskussionen in akademischen und politischen Kontexten. In vielen Studien wird sogar nur von Radikalisierung gesprochen (Pisiou 2014). Einer der Einwände gegen die Rede von »islamistisch« wird damit begründet, dass dadurch die Religion des Islams als eine radikale Religion verstanden wird, was wiederum islamfeindliche Diskurse bekräftigen würde. In dieser Abhandlung wird dennoch der Begriff »islamistische Radikalisierung« verwendet, erstens, weil die Analyse des Phänomens Radikalisierung einen differenzierten Blick erfordert, und zweitens, weil um die unterschiedlichen Erscheinungen der Radikalisierung in ihren Gemeinsamkeiten und ihren Unterschieden vergleichen zu können, eine spezielle Benennung vonnöten ist. 4 Zu einem detaillierten Vergleich beider Ansätze vgl. Palm 2017.

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schen hin, das bei deren Radikalisierungsprozessen eine Rolle spielte. Die Autor*innen stellen dabei sechs Stufen fest, die sie als »manifestation of radicalization« bezeichnen: »The adoption of legalistic Islam. Coming to trust only a select and ideologically rigid group of religious authorities. Viewing the West and Islam as irreconcilably opposed. Manifesting a low tolerance for perceived religious deviance, attempting to impose religious beliefs and the expression of radical political views.« (Ross & Grossman 2009, S. 11)

Laut den Autor*innen nehmen in diesem Prozess neben politischen auch theologische Überzeugungen der Personen eine wesentliche Rolle ein. Andere Annäherungen in der Literatur sehen hingegen nicht die Religion, sondern die sozialen und ökonomischen Verhältnisse als ausschlaggebend für Radikalisierungsprozesse an. Wiktorowicz (2005) kritisiert diese Ansätze, indem er darauf hinweist, dass nicht alle Individuen mit demselben sozialen Hintergrund radikalisiert werden. Laut Wiktorowicz gibt die Negation religiöser Überzeugungen in der Radikalisierung keine Antwort auf die Frage, weshalb sich beispielsweise ein Individuum mit Diskriminierungserfahrungen radikalisiere, während ein anderes mit denselben Erfahrungen dies nicht tue. In seiner Studie Radical Islam Rising. Muslim Extremism in the West, die auf Interviews mit Mitgliedern der radikalen Gruppe Al-Muha¯gˇiru¯n5 basiert, führt er das Konzept des »cognitive opening« ein. Diese sogenannte kognitive Öffnung bezieht sich auf eine psychologische Krise, in der zuvor akzeptierte Überzeugungen erschüttert werden. Das Individuum wird empfänglich für andere Perspektiven und Weltanschauungen. Dies könnte durch emotionalen Stress, Erfahrungen mit Diskriminierung, politischer Repression oder Verwirrungen um die Identität verursacht werden, d. h. als Ergebnis einer »Bewusstseinsbildung«. Ein anderer Faktor sind die Überzeugungspraktiken, die in diesen Gruppen geleistet werden. Jemand, der besagte kognitive Öffnung erlebt, versucht dann beispielsweise, religiöse Antworten auf seine Unzufriedenheit zu finden. Wiktorowicz nennt diesen Prozess »religious seeking«. Wiktorowicz’ Darlegung kann folglich als theologisch-psychologischer Ansatz bezeichnet werden. In der Auseinandersetzung über die Rolle der Religion in Radikalisierungsprozessen ist es unabdingbar, die Überzeugungspraktiken der radikalen Gruppen näher zu betrachten. Wiktorowicz bringt dies wie folgt auf den Punkt: »At the heart of decisions about joining is the process of persuasion« (Wiktorowicz 2005, S. 85). Diese Praktiken beruhen hauptsächlich auf Argumentationslinien, die aus einer bestimmten Lesart des Islams stammen, die die jeweilige Gruppe vertritt. 5 Al-Muha¯gˇiru¯n ist eine radikal extremistische Gruppe, welche die Errichtung eines islamischen Staates im Vereinigten Königreich (UK) befürwortet, und unterstützt Dschihad-Kämpfer in fremden Konflikten, darunter zuletzt in Syrien und im Irak (siehe dazu Stuart 2014).

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Mit »bestimmter Lesart des Islams« ist hier nicht nur eine besondere Form der Theologie gemeint, sondern eine Theologie, die jenen Gruppierungen als Hintergrundfolie auf kognitiver Ebene und insbesondere als Handlungsskript und Selbstregulation dient. Da das Ziel meistens die Disziplinierung der Gruppenmitglieder ist, wird diese Theologie, ausgehend von den jeweiligen Gruppenbedürfnissen, selektiv eingesetzt.6 Die vorliegende Abhandlung konzentriert sich vor allem auf die in dieser Gruppe beobachtbare Wissenstransformation und -vermittlung. In diesem Zusammenhang sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die Religion, diesfalls der Islam, nicht essenzialistisch als eine zur Gewalt aufrufende oder zum Frieden führende Religion definiert wird. Religion im Allgemeinen und der Islam im Speziellen werden hier vielmehr als gesellschaftliche Konstrukte verstanden, die in vielfältigen historischen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen unterschiedliche, zum Teil mit Machtverhältnissen verwobene Funktionen haben. In der von uns durchgeführten Studie über islamistische Radikalisierung zeigte sich, dass eine bestimmte theologische Doktrin beim Radikalisierungsprozess in diesem Milieu diverse Funktionen erfüllte (Aslan et al. 2018). In dieser Hinsicht tragen alle Religionen das Potenzial für Gewalt oder auch für Frieden in sich, da sie nicht unabhängig von ihren Anhänger*innen existieren und erst durch die verschiedenen Interpretationen und die jeweils daraus abgeleitete Praxis ihre gesellschaftliche Rolle einnehmen.

1.2

Was ist mit »islamischer Erziehung« gemeint?

Unter »islamischer Erziehung« wird im Allgemeinen das Bemühen verstanden, einen »guten Muslim« heranzubilden. Halstead definiert dies folgendermaßen: »[A]t the heart of the Muslim concept of education is the aim of producing good Muslims with an understanding of Islamic rules of behaviour and a strong knowledge of and commitment to the faith« (Halstead 2004, S. 519). Der Religionspädagoge Ednan Aslan beschreibt in ähnlicher Weise, dass es das Ziel der islamischen Erziehung sei, »den Menschen zur Gehorsamkeit gegenüber Gott zu erziehen – ein Konzept, das die Eigenschaften eines guten Menschen beschreibt und diesen dementsprechend formen möchte« (Aslan 2009, S. 326). Hier liegt das

6 Die Autoren Dziri und Kiefer bezeichnen in ihrer Analyse der WhatsApp-Protokolle einer radikal-islamistischen Gruppe diese Art theologischen Wissens und selektiven Zurückgreifens auf bestimmte Inhalte als »Lego-Islam« (Dziri & Kiefer 2018). Wenn durch die Bezeichnung »Lego-Islam« die Qualität der jeweiligen Theologie infrage gestellt wird, sollte einerseits der Umfang des Pools, auf den zurückgegriffen werden kann, nicht vernachlässigt werden, andererseits sollte die Wirkung auf der Handlungsebene genau analysiert werden.

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Ziel nicht allein darin, jemanden zu einem guten Muslim, sondern zugleich zu einem guten Menschen zu erziehen. Dieses allgemeine Ziel – die Erziehung zu einem guten Muslim – wird bei Halstead (2004) in Anlehnung an al-Attas (1979) mit den drei Begriffen tarbiya, taʾdı¯b und taʿlı¯m aufgefächert, die ebenso als Methoden zur Erreichung des Ziels, »gute Muslim*innen« zu erziehen, bezeichnet werden können. Tarbiya bedeutet, die geistige, körperliche und moralische Entwicklung muslimischer Kinder in Übereinstimmung mit den islamischen Regeln zu unterstützen. Taʾdı¯b heißt hingegen das gute und ethische Verhalten, das die Sitten und Traditionen der Gesellschaft berücksichtigt. Diese beiden Ziele sollen durch den Zugang des taʿlı¯m erreicht werden (Halstead 2004; Saad 2018), welcher jedoch je nach Islamverständnis unterschiedlich angesetzt wird. G˙azza¯lı¯ erwähnt eine andere Säule, die bei der Erziehung der Kinder eine wichtige Rolle spielt, nämlich die Eltern. Kinder sieht er als unschuldige Wesen, die er mit einem Spiegel vergleicht: Sie seien bereit, alles zu reflektieren. Eine gute Erziehung könne aus einem Kind einen guten Bürger und Menschen machen, und dabei spielten auch die Eltern eine entscheidende Rolle (Shalaby 1954, S. 164). Die Kinder sollten dann einem Lehrer übergeben werden. Die Aufgaben dieser Erziehung werden von ihm wie folgt beschrieben: »When he is grown up he is due to be handed over to an excellent and good instructor to teach him useful and necessary learning, and to lead him by the right way to the right end. He must teach him the Qur’an, Traditions, improving anecdotes and such poetry as is not erotic.« (Shalaby 1954, S. 164)

All diesen Definitionen und Konzepten liegt die Annahme zugrunde, dass das Kind als Empfänger durch die vermittelten Inhalte geformt werden sollte. Diese Annahme, die bei G˙azza¯lı¯ stark vertreten ist, ist auch bei den Traditionalisten weit verbreitet, die mit heutigen liberalen pädagogischen Konzepten nicht übereinstimmen und die Autonomie des Kindes nicht unterstützen.7 Eine allgemeinere und vor allem institutionsbezogene Definition stammt von Douglas und Scheick: »In its most literal sense, Islamic education can refer to efforts by the Muslim community to educate its own, to pass along the heritage of Islamic knowledge, first and foremost through its primary sources, the Qur’an and the Sunnah.8 This education of 7 Vgl. dazu Healstadt, der argumentiert, dass es in der islamischen Philosophie immer Gegenpositionen gegeben hat (Healstadt 2004, S. 518ff.). 8 »Sunna ist ein alter arabischer Begriff, der eine zunehmend wichtige Rolle während der ersten prägenden Jahrhunderte des Islams spielte. Der Begriff kann vor allem gebraucht werden für die allgemein anerkannten Normen oder die Praxis des Propheten sowie der frommen Muslim*innen aus der Frühzeit der islamischen Gemeinde. Der Sunna des Propheten wird die Position der zweiten Quelle (nach dem qurʾa¯n) im islamischen Recht, der sˇarı¯ʿa, zugesprochen« (Aslan et al. 2018, S. 297).

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Muslims might take place in mosques, schools or universities, and other organizations established by Muslims over the centuries.« (Douglas & Scheick 2004, S. 8)

Wie sich später zeigen wird, ist hier die Unterscheidung zwischen informeller und formeller Erziehung wichtig – bzw. die Tatsache, dass Radikale hier eine informelle Erziehung erhalten haben. Daher würde ich in der Definition den institutionellen Charakter der Erziehung stärker betonen und dem Aspekt der formellen Erziehung mehr Platz einräumen, damit der Unterschied zur informellen Erziehung deutlicher wird. Folglich werden unter islamischer Erziehung Bildungsangebote bzw. Bildungspraxen subsumiert, die Muslim*innen sowohl in formellen Bildungsinstitutionen als auch an non-formell organisierten Orten und in informell strukturierter gesellschaftlicher Praxis erhalten. Zudem reduziert sich die islamische Erziehung nicht auf das Kindesalter, sondern ist ein lebenslängliches Angebot der Community, politischer Gruppierungen, auch der staatlichen oder traditionellen Organisationen oder der familiären und sozialen Umgebungen. 1.2.1 Islamische Erziehung und fundamentale Gruppen Eine islamische Erziehung innerhalb fundamentaler Gruppen operiert auf der kognitiven und der Handlungsebene, welche die jeweiligen Anhänger*innen mit einer Mission ausstattet, die nicht nur auf individuelle, sondern auch auf gesellschaftliche Änderungen abzielt. Daher kommt in einer islamischen Erziehung, die zu Radikalisierung führt, diskursiven und performativen Praktiken eine zentrale Bedeutung zu – vor allem deshalb, weil die Mitglieder sich selbst durch ihre Taten zum Vorbild für andere Muslim*innen in der Gesellschaft und innerhalb der jeweiligen Gruppe stilisieren (Aslan et al. 2018). In radikalen Gruppen stellt die jeweilige Theologie das Herzstück des Indoktrinationsapparats dar. Deswegen ist die islamische Erziehung in diesem Zusammenhang das wichtigste Investitionsprojekt für die Mitglieder: einerseits als Antrieb oder Beweggrund, andererseits als kognitive und verhaltensbezogene Erziehung zwecks Transformation der Mitglieder zum gewünschten weltanschaulichen Profil. Dieses theologische Wissen wird mit ideologischen Bezügen ausgestattet, was gleichzeitig als politische Bildung fungiert. Dabei wird auf globale Konflikte und die Unterdrückung der Muslim*innen Bezug genommen und ein Weltbild von »uns und den anderen« mit theologischen Argumenten vermittelt. Eine derartige islamische Erziehung greift beispielsweise die Ungerechtigkeit in der globalen Weltordnung auf und erklärt sie mit der Feindseligkeit der Nichtmuslim*innen gegenüber den Muslim*innen. Während also in klassischen Zugängen islamische Erziehung auf das Heranbilden sozial kompetenter (muʿa¯mala¯t) und spirituell (iba¯da¯t) reifer Personen abzielt, steuert islamische

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Erziehung im radikalen Spektrum auf Dichotomisierung ab. All dies geschieht in einer islamischen Erziehung, die auch als Indoktrination bezeichnet werden kann (Tan 2011). 1.2.1.1 Die Rolle der islamischen Erziehung innerhalb radikaler Gruppen Saadallah unterscheidet zwischen vier ideologischen Richtungen im Islam in Bezug auf ihr jeweiliges Verhältnis zur Religion: »(i) the secularist; (ii) the traditionalist; (iii) the modernist/liberalist; and (iv) the fundamentalist« (Saadallah 2018, S. 189). Hinsichtlich ihres religiösen und ideologischen Verständnisses entwickeln alle vier Strömungen eigene religiöse Erziehungskonzepte, die sich voneinander unterscheiden und miteinander konkurrieren. Saadallah unterscheidet unter den Fundamentalisten wiederum zwischen »Mainstream-Fundamentalisten« und »radikalen Fundamentalisten«. Islamische Erziehung steht für beide fundamentalistische Strömungen im Fokus, weil sie als ein Rekrutierungsapparat funktioniert. Dieser Apparat wird nicht erst durch die Radikalisierungsprozesse entdeckt, sondern ist auch ein zentrales Instrument von Mainstream-Fundamentalisten. Saadallah beschreibt die Strukturierung der religiösen Erziehung wie folgt: »Religious education on the practical level serves as an instrument for indoctrination and recruitment into the Islamist movement. Religious study circles (halaqa¯t al-dars al˙ dı¯nı¯) conducted within mosques and in the privacy of the homes of movement members, over the past four decades for example, have been one of the major alternative forms of nonformal religious education taking precedence over curricular religious education. Such study circles figure as the site for expanding the movement and consolidating its recruited members. They serve also as a locus for the Islamization of society (independent from recruitment) to enhance its compatibility with the Islamist message and ›higher cause‹ espoused by this group.« (Saadallah 2018, S. 203)

Dabei unterscheiden sich die zwei fundamentalistischen Strömungen nicht sonderlich voneinander. Auf der praktischen Ebene konzentrieren sich die radikalen Fundamentalisten auch auf non-formale Bildungsformen wie religiöse Studienkreise. Solche Aktivitäten werden laut Saadallah in der Regel im Untergrund oder in bestimmten Moscheen durchgeführt, in denen radikal orientierte Gruppe das Sagen haben. Auf der anderen Seite weist Saadallah auf die Bemühung um kleine Kinder hin, die in solchen Institutionen eine islamische Erziehung entsprechend dem Islamverständnis der jeweiligen Gruppierungen erhalten. Diese Institutionalisierung findet sowohl in islamischen als auch in nicht islamischen Ländern statt (Saadallah 2018, S. 207). In unserer Studie wurden die Strukturen, in denen eine derartige Indoktrination geschieht, als »radikales Milieu« bezeichnet. Dessen Knotenpunkte sind bestimmte Moscheen, in denen die jeweiligen Ideen und Doktrinen zirkulieren und durch Bildungsarbeit vermittelt werden. Dabei spielen insbesondere be-

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stimmte charismatische religiöse Autoritäten eine zentrale Rolle, die für die Anhänger*innen dieser Moscheen nicht nur als Vermittler von Doktrinen, sondern auch als Vorbild in Sachen Handlungsorientierung fungieren.

2.

Radikalisierung und religiöser Zugang am Beispiel der Fallrekonstruktionen

In diesem Abschnitt wird anhand der bereits erwähnten empirischen Studie Islamistische Radikalisierung. Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu (Aslan et al. 2018) näher auf das Verhältnis von Religion und Radikalisierung eingegangen. In jener Studie wurde nicht nur festgestellt, dass die Radikalisierungsprozesse unterschiedliche Verläufe nehmen, sondern auch, dass die religiösen Zugänge, das religiöse Kapital und das religiöse Umfeld der Personen auseinanderklaffen. In weiterer Folge werden kurz die unterschiedlichen Zugangswege zur Religion basierend auf drei Fallrekonstruktionen dargestellt. Givi9, der mit 16 Jahren nach Österreich flüchtete, wuchs in einer muslimischen Familie auf, die den Islam praktizierte. Als Kind besuchte er auch Korankurse. Den Koranschulen in seinem Herkunftsland schreibt Givi keine große Bedeutung für seine Biografie zu. Einerseits gehörten diese Korankurse für ihn zum Alltag, da alle Freunde im Sommer daran teilnahmen, andererseits hatte die Religion für ihn als Kind keine identitätsstiftende Rolle. An Bedeutung gewann die Religion für Givi erst nach der Flucht nach Österreich, also in einem Land, in dem sie – anders als in seinem Herkunftsland – nicht mehr zur Normalität gehörte. In einem nichtmuslimischen Land entdeckte Givi die Religion – sowohl als einen identitätsstiftenden als auch als einen identitätsregulierenden Apparat. Er durchlief aber eine Suchphase entsprechend dem bereits genannten »religious seeking« (Wiktorowicz 2005), indem er sich von der Lehre wie auch von einer religiösen Gruppe überzeugen ließ. Die Phase begann mit Wissensdurst. Givi besuchte gleichzeitig zwei Korankurse, einen für Kinder und einen für Erwachsene, damit er möglichst schnell die seiner Meinung nach vorhandene Wissenslücke schließen und sein Wissen über seine Religion stärken konnte. Eine Diskussion, die er in dieser Moschee mit dem Imam hatte, stellte einen Wendepunkt in seiner religiösen Sozialisation dar. Nach der Diskussion verließ Givi die Moschee, weil ihn der Imam mit seinen Argumenten nicht überzeugen konnte, und suchte sich eine andere Moschee. Die neue Moschee10 wurde dann zu 9 Sämtliche in der Studie verwendeten Namen wurden anonymisiert. 10 Es handelte sich hierbei um eine bekannte salafistische Moschee in Österreich, die geschlossen wurde. Einige ihrer Mitglieder waren in Syrien, und der Prediger, ein wichtiger

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dem Ort, an dem er seine islamische Erziehung durchlief. Die Vorträge, die Diskussionen und Bücher, zu welchen er dort Zugang bekam, prägten sein theologisches Wissen. Die Teilnahme an dieser Gruppe und die Taten, die er – seiner Überzeugung folgend – beging, brachten ihn schließlich ins Gefängnis. Givi empfand seinen Gefängnisaufenthalt als eine Möglichkeit, den Islam weiter zu studieren, da er im Gefängnis nicht abgelenkt wurde. Folglich erhielt er seine islamische Erziehung hauptsächlich in informellen Bildungsräumen. Einen anderen Zugang hatte Ismail, der im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie nach Österreich floh. Ismail bewegte sich im kriminellen Milieu und wurde als Teenager wegen Raubes verhaftet, worauf ein Gefängnisaufenthalt folgte. Die Religion fungierte bei Ismail als neuer Anfang und Kompensierungsapparat für den gescheiterten Lebensentwurf. Zudem diente sie als Selbstnormierung durch Änderung des äußeren Erscheinungsbildes, das sich im Kleidungsstil an den »altvorderen« Muslimen orientierte. Die Religion gab ihm einen Verhaltenskodex, der seinen Alltag regulierte. Sein Interesse an der Religion erwachte in einem ganz anderen Setting, nämlich im Gefängnis. Obwohl er aus einer muslimischen Familie stammte, hatte er keine systematische islamische Erziehung erhalten. Als er zum ersten Mal ins Gefängnis musste, kam er durch einen Mithäftling, der ihn über den Islam aufklärte, mit der Religion in Berührung. Das Interesse an Religion und sein Wunsch, seinem Leben einen Sinn zu verleihen, hatten sich gekreuzt. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, stellte er fest, dass auch sein Freundeskreis den Islam für sich entdeckt hatte. Er begann, in verschiedene salafistische Moscheen zu gehen und deren Vorträge zu besuchen. Als er erneut verhaftet wurde – dieses Mal gemäß Paragraf § 278b-f StGB11 –, hatte er noch immer kein fundiertes Wissen über den Islam, versuchte jedoch, sich auch im Gefängnis weiterzubilden. Obwohl er von seinen damaligen Ansichten nicht mehr so überzeugt war und manche Strukturen in dieser Bewegung infrage gestellt hatte, empfand er die Religion noch immer als Wegweiser für sein neues Leben. Er praktiziert weiter den Islam, betet regelmäßig, fastet, versucht mehr über die Religion zu lernen und seine Handlungen islamkonform zu gestalten. Seyidhan, der im Alter von über 20 Jahren durch Heirat nach Österreich kam, hatte wiederum einen ganz anderen Weg zur Religion. Er hatte seine religiöse Sozialisation in der Türkei erlebt, und im Gegensatz zu Givi und Ismail bestimmte die Familie seine religiöse Sozialisationslaufbahn, indem sie ihn in eine Akteur der radikalen salafistischen Szene in Österreich, ist Mirsad Omerovic alias Ebu Tejma. Dieser wurde im Juli 2016 am Landesgericht für Strafsachen in Graz u. a. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt (APA 2016). 11 Die Paragrafen § 278b-f StGB umfassen die Verbrechen der terroristischen Vereinigung, terroristischer Straftaten, Terrorismusfinanzierung, Ausbildung für terroristische Zwecke sowie der Anleitung zur Begehung einer terroristischen Straftat (ris.bka.gv.at).

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madrasa12 schickten. Da er die Entscheidung nicht selbst getroffen und die islamische Erziehung in dieser madrasa nicht infrage gestellt hatte, ist es nicht möglich, in seiner Biografie eine religiöse Suche zu konstatieren, die von ihm selbst gesteuert wurde. Seine Erziehung in dieser madrasa bestimmt seine religiösen Überzeugungen bis zum heutigen Tag. Er begann diese bereits im Alter von zwölf Jahren mit seinem Eintritt in die besagte madrasa zu verinnerlichen. Es gibt keinen bestimmten Wendepunkt in seiner Biografie, der ihn radikalisierte, wie bei den anderen beiden Fällen. Es handelt sich um ein Kontinuum, das mit seinem Eintritt in die madrasa beginnt, und sein Religionsverständnis prägt in seinem Fall den Radikalisierungsverlauf. Als er nach Wien migrierte, suchte er daher – mit seinen Worten – Leute, die Daʿwa-Arbeit13 betrieben. Sein Eintritt in das radikale Milieu von Wien geschah durch seine eigene Entscheidung. In allen drei Fällen erfolgte die islamische Erziehung in informellen und nonformellen Bildungsräumen,14 welche die drei in unterschiedlichen Settings und in unterschiedlichen Lebensphasen genossen haben.

2.1

Charakteristiken der islamischen Erziehung innerhalb der radikalen Gruppen: Islamische Erziehung als Erinnerungsarbeit

In diesem Abschnitt werden, basierend auf den dargestellten drei Fällen, die Charakteristiken der islamischen Erziehung innerhalb der radikalen Gruppen dargestellt. »Die sind traditionell, also sozusagen nicht religiös, also traditionell. Das ist der Unterschied zwischen uns, leider. Egal um was es geht, die schauen, was haben die Vorväter gemacht, also nur Tschetschenen. Und bei uns ist das anders. […] Wir schauen, was hat unser Prophet, salla¯ ʾlla¯hu ʿalayhi wa-sallam, gemacht? Also wir schauen 1500 Jahre ˙ zurück und die schauen dreihundert Jahre zurück. Also das ist der Unterschied zwischen uns.« (Givi, Wien 2018)

Diese Aussage unseres Interviewpartners veranschaulicht auf sehr plausible Weise, in welcher Beziehung die jeweiligen Mitglieder zur Vergangenheit stehen. Das Verhältnis zur Tradition und zu einer bestimmten Zeit prägt die islamische Erziehung in diesen Gruppen immens. Mit »1500 Jahre zurückschauen« meint 12 Madrasa ist eine traditionell-religiöse Schule mit Koran- und Hadith-Ausbildung. Sie wird als non-formelle Institution eingestuft, da sie in der Türkei (Herkunftsland von Seyidhan) nicht in das öffentliche Schulsystem integriert ist. 13 Unter daʿwa (wörtl. »Aufruf« oder »Einladung«) wird in einem spezifischen Sinn der Aufruf zum Islam, im Sinne von Missionierungsarbeit verstanden (Aslan et al. 2018, S. 292). 14 Mit non-formeller Bildung sind hier alle außerschulischen Bildungsorganisationen gemeint, informelle Bildung ist dagegen die Bildung, welche im Alltag in unterschiedlichen Settings genossen wird (Tan 2011, S. 44).

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der Interviewpartner, sich die Ausübung des Islams in einem bestimmten Zeitalter der islamischen Geschichte, nämlich im Zeitalter des as-Salaf as-Sa¯lih15 ˙ ˙ ˙ (d. h. der ersten drei Generationen der islamischen Gemeinschaft), als Vorbild zu nehmen. Diese Phase ist aber nicht nur für die fundamentalistischen Strömungen wichtig, sondern hat auch für andere Muslim*innen große Bedeutung. Sie stellt in der Praxis eine Art kanonisierten Apparat dar, auf den sie zurückgreifen können. Afsaruddin (2008) setzt sich mit diesem Thema in ihrem Buch First Muslims auseinander; auch sie bezeichnet die Handlungsweise der as-Salaf as˙ Sa¯lih als ausschlaggebend für die Konstruktion muslimischer Identität. Sie weist ˙ ˙ darauf hin, dass der anhaltende Einfluss dieser ersten Muslime als moralische Vorbilder für die nachfolgenden Generationen für eine Vielzahl von Strömungen, vom liberalen Islam bis hin zum Fundamentalismus, von Bedeutung ist. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Strömungen liegt in ihrem jeweiligen Verhältnis zu der nach dieser Zeit entwickelten intellektuellen islamischen Tradition. Während radikale Gruppen die nach dieser Zeit entwickelte Tradition ablehnen, haben liberale einen ganz anderen Zugang zur islamischen Tradition. Bei den fundamentalistischen Strömungen wird eine utopische Vergangenheit konstruiert und die anderen Muslim*innen werden dazu eingeladen, wieder zu diesen Wurzeln zurückzukehren. Dieses back to the roots zusammen mit einer Art purer und authentischer Geschichte ist für jede fundamentalistische Bewegung prägend, die sich auf den »Anfang« bezieht (Riesebrodt 1990). In Anbetracht dessen wird hier die islamische Erziehung in fundamentalistischen Gruppen als Erinnerungsarbeit bezeichnet, denn dadurch wird das kulturelle Gedächtnis (Assmann 1992) von den Anhänger*innen neu konstruiert. Die Mitglieder dieser Bewegungen müssen – falls sie nicht als Kind eine solche Erziehung erfahren haben – zuerst ihre falschen Auffassungen über den Islam korrigieren. Innerhalb dieser Erziehung wird eine religiöse Resozialisation forciert, die durch eine neue Lehre ersetzt wird. Ein anderes Merkmal dieser islamischen Erziehung ist ihr Verhältnis zum Textverständnis, das auf einer buchstäblichen Interpretation von Koran und Sunna basiert. Duderija schildert die Herangehensweise der radikalen Gruppen zum Text folgendermaßen: »[T]extual sources precede and should not be understood through reality; rather reality should be understood through the text, thereby ignoring whatever reality shaped the process of text formation.« (Duderija 2007, S. 349)

15 Die drei Generationen sind saha¯ba (Gefährten), ta¯biʿu¯n (Nachfolger) und ta¯biʿu¯ al-ta¯biʿı¯n ˙ Zeitalter der Gefährten ging mit dem Tod von Anas ibn (Nachfolger der Nachfolger).˙ Das Ma¯lik (gest. 710 oder 713) zu Ende. Diejenigen, die zu den folgenden Generationen gehören, werden »Nachfolger« genannt. Die Zeit der Nachfolger begann im Jahr 713 und endete etwa 796. Darauf folgte die nächste Generation, bekannt als »die Nachfolger der Nachfolger«.

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Die Texte werden nicht in Bezug auf die Gegenwart oder aktuelle gesellschaftliche Ereignisse interpretiert, sondern die Gegenwart muss sich dem Text anpassen. Deswegen wird Religion als ein statisches Phänomen gesehen. Die Religion kann sich nicht anpassen, vielmehr müssen die Gläubigen sich stets an diese unveränderliche unantastbare »Wahrheit« anpassen. Nicht nur die Texte, sondern auch die Vergangenheit dient dazu, die Gegenwart zu verstehen und nicht umgekehrt. Muslim*innen müssen »interpret modernity, with all its problems, questions, and demands, in the name of the past« (Saada 2018, S. 407). »Egal, wie viel Zeit vergeht, Religion verändert sich nicht. Religion bleibt, wie sie ist. Also, da kann man einfach nichts ändern. Wie es schon vorgeschrieben ist, so bleibt es auch. Wer folgt, der folgt. Wer nicht, ist irregeleitet sozusagen. […] Über Erneuerung gibt es auch eine Aussage von unserem Propheten. Er sagt, jede Erneuerung ist der irregeleitete Weg. Und jeder irregeleitete Weg führt in die Hölle. Nur das kann ich denen sagen. Wenn du sagst: ›Das ist erlaubt!‹, kannst du machen, was du willst, aber die Endstation wird schlimm sein« [lacht]. (Givi, Wien 2018)

Die angeführte Passage veranschaulicht, wie Religion auf einen Text reduziert wird, der unantastbar und unveränderbar ist. Hier kommt eine der wichtigsten Säulen dieser islamischen Erziehung vor, nämlich die unerlaubten Erneuerungen (bidʿa16) als schädlich für die Religion zu verwerfen. Durch die Ablehnung der Erneuerungen soll die Unveränderlichkeit der Religion gewährleistet werden. Laut dem Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker ist dieser Mechanismus, alle Arten von Neuerungen in der Religion als gefährlich einzustufen, eine Art Schwarze Pädagogik, derer sich auch der sogenannte »Islamische Staat« (addaulala al-isla¯mı¯ya) bediene. Er führt folgendes Beispiel aus einer IS-Broschüre an: »Die schlimmsten der Dinge sind die neu eingeführten (muhdatha¯t). Alles, was neu eingeführt wird, ist eine unstatthafte Neuerung, […] führt in die Irre und jede Irreleitung führt in das Höllenfeuer« (Lohlker 2016, S. 119). Außerdem dient bei der Interpretation der Religion nicht die Vernunft als Leitfaden: »Würden wir ihn zur Vernunftreligion erklären, würden wir die Vernunft in den Vordergrund rücken und würden muʿtazila, das heißt, wir würden unsere Vernunft vor die Religion stellen. Ja, die Vernunft ist dem Menschen eigen, klar, aber es ist nicht alles Vernunft. Das wird hier viel betrieben, vor allem von Leuten, die kala¯m treiben. Im Islam ist kala¯m auch wichtig, Menschen, die sich mit der Philosophie beschäftigen, in Wien habe ich viele gesehen. Diese arbeiten permanent mit Vernunft. Islam ist aber keine Religion der Vernunft, sondern eine gesandte Religion.« (Seyidhan, Wien 2018)

16 Wörtl. »Neuerungen« im Islam, die nicht im Einklang mit Koran und Sunna stehen. »Gute Neuerungen«, die mit dem Koran und der Sunna übereinstimmen, werden bidʿa hasana ˙ genannt (Aslan et al. 2018, S. 293).

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Die Definition der Religion als Bereich, der der Vernunft unzugänglich ist, verhindert, dass die Religion durch menschliche Interventionen geändert wird. Die Ausschaltung der Vernunft dient der Verhinderung potenzieller Kritik oder der Infragestellung des Textes. Nur die Inhalte, die von diesen Gruppen als authentisch bezeichnet werden, sollen von den Gruppenmitgliedern als wahre und authentische Religion wahrgenommen werden. Damit wird die systematische Theologie, die mit Vernunft operiert, als Philosophie akzeptiert, aber als Quelle für die Interpretation der Religion abgelehnt. Ferner ist die islamische Erziehung dieser Gruppen stets in eine Gesellschaftskritik eingebettet und impliziert darüber hinaus einen politischen Überzeugungsaspekt. Hierzu operieren diese Bewegungen innerhalb von Bezugssystemen, die von Snow und Byrd (2007) sowie Snow und Benford (1988) als »diagnostic«, »prognostic« und »motivational framing« bezeichnet werden. Mit »diagnostic framing« ist die Feststellung des Problems und des Verursachers dieses Problems gemeint, ein »prognostic framing« liefert die Antwort auf die Frage »What shall be done?« und das »motivational framing« ist der Rahmen, in dem sich die Mitglieder einer Bewegung mobilisieren (Snow & Benford 1988, S. 200–202). Jedes Framing wird im Einklang mit der theologischen Doktrin der jeweiligen Gruppen gestaltet. Deswegen kann behauptet werden, dass die Inhalte der islamischen Erziehung in Bezug auf dieses geformt werden. Dazu ist anzumerken, dass sich die Anhänger*innen dieser Gruppen nicht in der gleichen Weise und mit dem gleichen ideologischen bzw. theologischen Wissen innerhalb dieser Bezugssysteme bewegen. Als ein wichtiger Aspekt dieser Art islamischer Erziehung hat sich in unserer Studie die Daʿwa-Arbeit herausgestellt, die auf der Handlungsebene – also auf praktischer Ebene – angesiedelt werden kann. Auf dieser Ebene werden die verinnerlichten Inhalte, die durch die islamische Erziehung vermittelt werden, in der Praxis angewendet. »In Ägypten sagt al-Banna¯, dass ein Mensch, der daʿwa betreibt, drei Eigenschaften besitzen muss. Er muss erstens die Menschen seiner Region sehr gut kennen, zweitens muss er ein Gerechter sein und drittens darf er, wenn er spricht, sich nicht in Widersprüche verwickeln, das ist sehr wichtig. Zum Beispiel, wenn ich gefragt werde, ob Bart sunna ist oder nicht, oder warum hast du keinen Bart? Du sprichst über den Propheten und sagst, dass es sunna ist, wenn du aber selbst keinen Bart hast, wird derjenige dir sagen, es fehlt dir was. Wir müssen mit unseren Taten Vorbilder sein. Nämlich er macht, was ich mache. Als Lehrender, ich meine, ich sehe mich nicht als Lehrenden, eigentlich bin ich nur jemand aus dem Volk, ich bin nur ein armer Knecht Gottes, ich versuche nur, mit meinem Wissen den Menschen dienlich zu sein. Ich will nur mein Wissen anderen vermitteln.« (Seyidhan, Wien 2018)

Diese Position zeichnet eine große gesellschaftliche Aufgabe aus, weil gerade Menschen, die Daʿwa-Arbeit betreiben, immer wieder ihre eigenen Handlungen prüfen und feststellen müssen, ob sie zu ihrer Lehre passen. Das zeigt wiederum,

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wie zentral die performative Ebene ist. Dies verwandelt die Biografien von Anhänger*innen, insbesondere von jenen, die eine höhere Position innehaben, zu einem Schauplatz, an dem sich alle Elemente des jeweiligen Gedankenguts kreuzen, und erfordert eine intensive Auseinandersetzung auf der textuellen Ebene mit der Theologie. Ein anderer Aspekt ist die Disziplinierung des Körpers. Körperliche Bestrafung hat in der islamischen Erziehungstradition einen Platz, obwohl es immer Gegenmeinungen gab, wie beispielsweise den berühmten muslimischen Denker Ibn Haldu¯n, der in seinem Hauptwerk Muqaddima von einer repressiven und ˘ autoritären Erziehung abrät und Gewaltanwendung nur sehr begrenzt und nach der Ausschöpfung aller anderen Methoden duldete. Seiner Meinung nach war autoritäre und repressive Erziehung schädlich, sowohl für die Individuen als auch für die Gesellschaft, weil dadurch die Menschen ihre intellektuellen, aber auch moralischen Fähigkeiten verlören (Ibn Haldun 2017, S. 986–989). Körperliche Züchtigung erfolgt nicht nur mittels physischer Gewalt, auch die symbolische bzw. theologische Gewalt spielt dabei eine Rolle. Das wird in diesen Gruppen durch eine sehr lebendige Vorstellung von Hölle und Sünde sowie die Deklarierung von Dingen als hara¯m, also im islamischen Sinn unerlaubt, erreicht. ˙

»Es gibt auch eine Aussage von unserem Propheten. Also, es wurde von der Hölle natürlich sehr viel berichtet. Und wo er mit seinen Gefährten, wo er Vorträge gehalten hat, gab es so ein sehr lautes Geräusch. So ein Erdbeben oder so etwas. Er hat gefragt: ›Wisst ihr, was das ist?‹ Die haben gesagt: ›Allah und sein Gesandter wissen das am besten. Also wir wissen das nicht. Ja, erzähl uns! Was war das?‹ Er hat gesagt: ›Das war dieser Stein, der vor siebzig Jahren geworfen wurde, und erst jetzt ist er in der Hölle angekommen‹. Also, siebzig Jahre war der nur unterwegs. Das ist schon etwas! Und obwohl ich nicht rauche, ich habe immer ein Feuerzeug dabei. Und wenn ich an irgendwelche Sünden oder an so etwas denke, dann halte ich mal das Feuer [zeigt auf seine Handfläche; Anm. d. Verf.], ich probiere nur, ob ich das aushalten kann. Wenn ich das aushalten kann, dann kann ich das machen. Aber wenn ich nur dieses kleine Feuer, also das Feuerzeug ist nichts, wenn ich das nicht aushalten kann, dann denke ich gleich an die Hölle. Darüber brauche ich dann gar nicht reden. Und das hilft mir« [lacht]. (Givi, Wien 2018)

Autorität und körperliche Disziplinierung manifestieren sich in diesem Fall in der innerlichen Überzeugung des Individuums und der Verinnerlichung dieser Bilder. In diesem Fall braucht das Individuum keinen äußerlichen Eingriff. Diese Passage zeigt auch die Verwirrung. Die islamische Erziehung in einer nichtmuslimischen Gesellschaft fordert die Anhänger*innen dieser Bewegungen heraus, insbesondere, wenn sie eigene Kinder haben. »Ich will das nicht, dass meine Kinder – also bis dahin, glaube ich, dürfen die Kinder [lacht] zu Hause bleiben. Und bis dahin werden die auch zu Hause bleiben. Und wenn

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das nicht geht, dann müssen die abgegeben werden, leider Gottes! [Lacht] Und auch wenn ich arbeite, also ich will, dass meine Kinder immer nur zu meiner Mutter, zu ihrer Mutter, also zu meiner Frau, Kontakt haben.« (Givi, Wien 2018)

Dies vor allem, weil die staatlich angebotene allgemeine religiöse Bildung als eine Abweichung von den eigenen Konzepten gesehen wird. Deswegen findet der Wissenstransfer entweder in der familiären Umgebung statt oder die Kinder werden an Institutionen geschickt, die dieses Islamverständnis vermitteln können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass diese islamische Erziehung – auf eine bestimmte Vergangenheit der islamischen Geschichte als starre, unveränderbare fixiert ist; – außer Koran, Sunna und Hadith keine Quellen akzeptiert und danach entwickelte unterschiedliche Lesarten, die in der islamischen Tradition eine Bedeutung haben, ablehnt; – die Gegenwart nur durch dieses Zeitalter verstehen darf; – auf buchstäblicher Interpretation von Koran und Sunna basiert; – alle Arten von Erneuerung ablehnt; – Gesellschaftskritik übt, die mit religiösen Argumentationen ausgestattet ist, – auf eine Performativität abzielt, die alle Bereiche des Alltags umfasst und stark jenseitsorientiert ist; – ein Verständnis von Daʿwa-Arbeit vermittelt; – philosophisch-theologische Ansätze, die mit Vernunft operieren, wie kala¯m17, ablehnt.

3.

Bildung als Prävention: Inwieweit kann eine alternative islamische Erziehung Präventionsarbeit leisten?

Ein unmittelbares Verhältnis zwischen Bildung und Extremismus oder Radikalisierung lässt sich nicht unbedingt empirisch bestätigen (Rust & Allaf 2018). Auch kann nicht behauptet werden, dass eine bestimmte islamische Erziehung zu politischer Gewalt führt. Auch wenn diese Art von islamischer Erziehung als Indoktrination bezeichnet wird, kann dennoch nicht gesagt werden, dass sie unabdingbar zu Extremismus führt (Tan 2011, S. 10). Trotz des Mangels an empirischen Studien über die Relation zwischen Bildung bzw. islamischer Erziehung und Radikalisierung ist es eine Tatsache, dass viele extremistische Gruppen die Zentralität der Bildung erfasst und dafür investiert haben (Gosh, Chain, Manuel & Dilimulati 2017, S. 120). Ein aktuelles Beispiel ist 17 Wörtl. »Rede«, »Diskurs« oder »Gespräch«; hier in der Bedeutung von rational-diskursiver oder scholastischer Theologie (Aslan et al. 2018, S. 295).

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die vom IS organisierte religiöse Ausbildung für Imame, Prediger und Muezzins, die aus Lehrmaterialien aus der »wahabistischen, dschadistischen und selektierter älterer islamischer Literatur« (Lohlker 2016, S. 18) besteht. Der Lehrplan der Ausbildung umfasst Gegenstände wie »der Quran und seine Auslegung (tafsı¯r), Terminologie der Hadithkunde, Glaubenslehre (ʿaqı¯da), Rechtsmethodik (usu¯l al-fiqh), schariatisch legitimierte Herrschaft (al-siyasa al-sharʿiyya), ˙ Geschichte, arabische Literatur, die Bedeutungslehre in grammatischer Hinsicht (maʿanı¯ al-nahw), Geografie und nicht zuletzt körperliches Training« (ebd., S. 18ff.). Es gibt aber auch Ansätze, die Bildung allgemein als die wirksamste Präventionsarbeit gegen Radikalisierung erfassen. Beispielsweise formulieren Gosh et al. in ihrem Artikel Can education counter violent religious extremism? Handlungsempfehlungen an die kanadische Regierung bezüglich Bildungsmaßnahmen, die als Prävention gegen Radikalisierung wirken können. Die Autor*innen betonen insbesondere die Relevanz der Vermittlung einer kritischen Denkweise: »This long-term approach would be shaped by both curriculum content and teaching methodology that fosters critical thinking and ethical behavior, which also imply changes in teacher education programs. Most importantly, students must see the relevance of what they learn, and be able to develop a critical understanding of the world. To a great extent, this will pre-empt some of the triggers that push and pull them on to the dangerous path toward radicalization, as described below.« (Gosh et al. 2017, S. 120)

Diese Form der Bildung soll ein kritisches Verständnis der Welt fördern und die Werte und Fähigkeiten einer kritischen und widerstandsfähigen Bürgerschaft entwickeln. Besonders in einer pluralen Gesellschaft, in welcher unterschiedliche religiöse und ethnische Identitäten koexistieren, sollte gemäß den Autor*innen in formellen Bildungsinstitutionen ein Gefühl der Differenz vermittelt werden, das unterschiedliche Lebensweisen wertzuschätzen und auch ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln ermöglicht (ebd., S. 126). Bei der religiösen Bildung legen die Autor*innen den Fokus auf eine religiöse Bildung, die Pluralität und Diversität vermitteln kann. Eine religiöse Bildung, die sie als »religious literacy to promote knowledge of the other« bezeichnen, soll folgende Aufgabe erfüllen: »[R]eligious literacy respects diversity but can recognize that certain cultural beliefs are dehumanizing. This ability to discern the interplay of religious, social, political and cultural factors is essential in avoiding confrontation about religious ideology (as opposed to spirituality). Religious literacy can foster the spaces to develop the moral stance necessary to recognize the other.« (Ebd., S. 126).

Der lange Zeit vernachlässigte religiöse theologische Aspekt wurde in einer anderen Studie mit dem Titel Preventing support for violent extremism through

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community interventions: a review of the evidence als eine der wirksamsten Interventionen identifiziert. Die vom United Kingdom Department for Communities and Local Government durchgeführte Studie bewertete die Programme zur Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus. Es wurde beobachtet, dass bei der Bekämpfung der Radikalisierung insbesondere die Bildungsangebote durch mobile Öffentlichkeitsarbeit, die sich auf die Theologie und auf die Ideologie konzentrieren, wirksam waren (Pratchett, Thorp, Wingfield, Lowndes & Jabbar 2010, S. 8). Die Forscher*innen stellten zudem fest, dass diese Angebote erfolgreich waren, »when it was non-prescriptive, but instead focused on allowing individuals to develop independent thinking or research and leadership skills in order to question and challenge themselves and others about knowledge they received from sources such as the internet and radical groups« (ebd., S. 27). Der Wirkung der Bildung wird weiterhin weder auf akademischer noch auf staatlicher Ebene große Aufmerksamkeit geschenkt. Obwohl die Nationalstaaten für Sicherheitsmaßnahmen große Geldsummen bereitstellen, wird die Bekämpfung der Ideologie insbesondere auf theologischer und Bildungsebene vernachlässigt (Aslan et al. 2018).

4.

Schlussbemerkungen

Die in vier europäischen Ländern durchgeführte Studie des Change Institute liefert eine wichtige Perspektive, die meines Erachtens in der Strategieentwicklung insbesondere bei Bildungsangeboten gegen religiöse Radikalisierung unbedingt berücksichtigt werden sollte. Die Studie fokussiert auf die Narrationen und Ideologien der gewalttätigen Radikalisierung unter Muslim*innen in Europa und stellt unterschiedliche Faktoren – von Diskriminierung bis hin zur Identitätssuche –, die zur Radikalisierung führen, fest. Die Interviews wurden mit Interviewpartner*innen geführt, die unterschiedliche Beziehungen zu gewalttätigen radikalen Narrationen hatten, und um Vergleiche zu ermöglichen, wurde eine Kontrollgruppe gebildet, die kein Verhältnis zu radikalen Narrationen hatte (Change Institute 2008, S. 9). Insgesamt gibt es laut dem Change Institute innerhalb der muslimischen Communitys der vier Länder eine starke Ablehnung der gewalttätigen Methoden des militanten Islamismus. Nichtsdestotrotz sind die in den militanten Narrationen hervorgehobenen Beschwerden und Probleme weit verbreitet – auch innerhalb der Kontrollgruppe – und könnten möglicherweise von militanten Gruppen angezapft werden. Wie angeführt sind diese Narrationen in den islamischen Erziehungsangeboten der radikalen Gruppen stets inkludiert. Folglich ist die Berücksichtigung dieser Narrationen wesentlich in der Konzeption der Bildungsangebote gegen Radikalisierung.

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Die Forscher*innen haben darüber hinaus festgestellt, dass die Interviewpartner*innen ein politisches Bewusstsein hatten, da sie sich mit globalen Ereignissen befassten. Besonders die muslimischen Konfliktzonen beschäftigten die Gruppe (ebd., S. 120). Allgemein verspürten die Befragten stark das Gefühl, in einer feindlichen Gesellschaft zu leben, in der die Muslim*innen mit Argwohn betrachtet werden (ebd., S. 4). Dieser Aspekt ist deswegen so wichtig, weil bei Radikalisierungsprozessen nicht nur die erlebten Diskriminierungen, sondern auch perceived deprivation und perceived injustice, also die empfundene Benachteiligung und Ungerechtigkeit gegenüber einem Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe, diesfalls der muslimischen Community, die als kollektiv benachteiligt und unterdrückt betrachtet wird, eine bedeutende Rolle spielen. Wie bei der Definition von Radikalisierung diskutiert wurde, kann Radikalisierung nicht auf eine Dimension reduziert werden. Ebenso ist bei den Radikalisierungsprozessen in der jeweiligen gesellschaftlichen Konstellation der Aspekt der islamischen Erziehung zu betrachten und in Verbindung mit den gesamtgesellschaftlichen Diskursen zu behandeln. Wenn wir beispielsweise die Konstellation in Österreich berücksichtigen, müssen die populistische Politik und die stetig wachsende Feindseligkeit, die insbesondere Othering-Prozesse gegenüber Muslim*innen mobilisieren, in Betracht gezogen werden, sofern Bildung und islamische Erziehung auch als Prävention gegen Radikalisierung fungieren soll. Genau deswegen müssen bei der Präventionsarbeit diese globalen, transnationalen Verhältnisse stets mitberücksichtigt werden. Und dies kann nicht nur in formellen und institutionalisierten Bildungsräumen wie in Schulen, im Religionsunterricht und an theologischen Instituten geschehen, vielmehr müssen die informellen und non-formellen Bildungsräume aktiver in diesen Prozess eingebettet sein. Eine islamische Erziehung, die sich gegenüber den Primärquellen unkritisch verhält, ist ein Herangehen, das sich nicht nur in fundamentalistischen und radikalen Gruppierungen nachweisen lässt. Selbstverständlich existiert kein Wunderrezept gegen die islamistische Radikalisierung, allerdings kann die Entwicklung von pluralistischen und zu Kritik befähigenden Bildungsangeboten – sowohl religiöser als auch säkularer Natur – Gegenentwürfe präsentieren, Kritik- und Pluralitätsfähigkeit begünstigen. Saada vergleicht in seiner Abhandlung die islamischen Erziehungsmodelle von zwei miteinander konkurrierenden Traditionen, nämlich den »neo-traditional salafism« und den »liberal or progressive Islam« (Duderija 2007; Kurzman 1998; Saada & Gross 2017). Ein zentraler Unterschied liegt in der Kritikfähigkeit und darin, ob die Herangehensweise den kritischen Fragen von Individuen Raum gibt. In ihrer Fallstudie über islamische Erziehung in Indonesien arbeitet Tan die unterschiedlichen islamischen Erziehungstraditionen auf, unter anderem jene,

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die zu Indoktrination führen, und schlägt Wege vor, um der Indoktrination in der formalen, non-formalen und informellen Bildung entgegenzuwirken. Sie plädiert für die Entwicklung eines islamischen Erziehungsansatzes, der auf religiösem Pluralismus, Rationalität und Autonomie beruht – als Alternative zu Indoktrination. Eine auf Pluralität und Kritikfähigkeit basierende islamische Erziehung scheint eine der besten Strategien gegen Radikalisierung zu sein. Sowohl die religiöse Pluralität als auch die Pluralität in Bezug auf Lebensentwurfe sollte in einer islamischen Erziehung berücksichtigt werden. Nicht nur die religiöse Pluralität zwischen unterschiedlichen Religionen, sondern auch die innerislamische Pluralität, die nicht reibungslos funktioniert, sollte thematisiert und die Kritikfähigkeit gefördert werden.

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Der Islam im Dialog: Ein Streifzug durch die islamische Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Relevanz des Dialogs

Zusammenfassung In einer pluralistischen Gesellschaft ist der Dialog zwischen Religionen und Kulturen unabdingbar, insbesondere wenn – wie in unserer Zeit – Religion häufig für politische Machtinteressen instrumentalisiert wird. Ein friedliches Gespräch setzt freilich wechselseitige Akzeptanz oder zumindest Toleranz voraus. Seitens des Islams wurde ein solcher Dialog bereits in Mekka, der Geburtsstätte des Islams, initiiert. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Streifzug durch die islamische Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Relevanz des Dialogs – auch und gerade für die Gegenwart.

1.

Einleitung

Nach dem islamischen Selbstverständnis sind seit der Menschwerdung alle Menschen, die Gott ergeben sind, Muslim*innen. Gott ergeben sein heißt, die Offenbarung Gottes anzunehmen und zu befolgen. Die göttliche Offenbarung (wahy) ist das unvermittelte In-Erscheinung-Treten des Verborgenen. Durch die ˙ Offenbarung wird man sich dessen gewahr, wie und woher man Wissen erlangt hat. Dieses Wissen ergeht – vermittels des Offenbarungsengels – von Gott selbst an seine Propheten, die es den Menschen zu verkünden haben. Besonders für die bewussten Diener Gottes (die Gläubigen) stellt die Offenbarung eine absolute Wahrheit dar. Sie dient als Rechtleitung bzw. Erinnerung für alle Menschen, um sie vor Ungerechtigkeit zu schützen (Salı¯ba¯ 1973, S. 230ff.). ˙ Die Offenbarung begann mit Adam und wurde mit Muhammad abgeschlos˙ sen. Im Koran werden folgende Offenbarungen genannt: at-Taura¯t – die Thora ¯¯ (5:44) –, az-Za¯bu¯r – die Psalmen (17:55) –, al-Ing˘¯ıl – das Evangelium (5:46) – und al-Qurʾa¯n – der Koran (15:9). Diese Offenbarungen enthalten Geschichten, Erzählungen, Bittgebete, Gebote und Verbote, nach denen sich die Menschen richten sollen, denn darin liegen die Hoffnung und die Rettung aller Menschen

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vor allem Unrecht. Im Koran heißt es: »Dies sind die Zeichen des weisen Buches, eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Gutes Tuenden« (31:2–3). Das arabische Wort für Zeichen lautet a¯ya (Pl. a¯ya¯t), was auch »Wunder« oder »Vers« bedeutet. Muslimische Gelehrte haben die Zeichen Gottes im Koran (den schriftlichen Text) gemeinsam mit den Zeichen Gottes im Universum (der Schöpfung Gottes) betrachtet, als stammten sie von ein und demselben Autor. Demnach gibt es zwei Bücher bzw. zwei Formen von Offenbarung: das offenbarte Buch, das die Propheten bekommen und den Menschen weitergegeben haben, und das aufgeschlagene Buch, mit dem die Welt und all die Wunder im Menschen und die Naturphänomene gemeint sind. Die Verbindung zwischen den beiden Offenbarungen (Büchern) weist auf eine dauerhafte Kommunikation Gottes mit den Menschen hin (Le Gai Eaton 2000, S. 146f.; Neirynck & Ramadan 2009, S. 36f.). Mit Blick auf die monotheistischen Religionen ist der Islam der abschließende Höhepunkt und die Erfüllung derselben Grundwahrheit, die Gott durch alle seine Propheten allen Völkern offenbart hat. Man denke hier an die Zehn Gebote aus dem Alten Testament, deren Gültigkeit Jesus in der Bergpredigt bekräftigt und vertieft hat und die auch über den Koran verstreut zu finden sind. Der Islam anerkennt das Christentum und das Judentum als monotheistische Religionen. Damit schafft er den Rahmen bzw. eine ganz wichtige Säule des Dialogs, nämlich die Anerkennung und Akzeptanz des Anderen, mit Betonung der Unterschiede in der Glaubenspraxis: »Ich verehre nicht das, was ihr verehret. Noch verehrt ihr das, was ich verehre. Und ich will das nicht verehren, was ihr verehret. Noch wollt ihr das verehren, was ich verehre. Euch euer Glaube, und mir mein Glaube« (Koran 109:2–6). Diese Verse, die ganz am Anfang der Verkündung des Islams in Mekka offenbart wurden und sich allgemein an Nichtmuslim*innen richteten, sind ein eindeutiges Bekenntnis zur Akzeptanz der Vielfalt, was die religiöse Überzeugung angeht. Denn: »Und hätte dein Gott es gewollt, so hätte er die Menschen alle zu einer Gemeinde gemacht« (Koran 11:118). Gott will die Vielfalt und behält sich das Recht vor, über Richtigkeit oder Falschheit der (religiösen) Überzeugung der Menschen zu urteilen. Keiner darf über die Überzeugung des anderen urteilen. Der Satz »Ich glaube nicht an das, woran ihr glaubt« wird ob seiner Wichtigkeit in der Sure zweimal formuliert. Diese Aussage bezieht sich sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Zukunft. Damit unterstreicht Gott die Ewigkeit des islamischen Prinzips der Akzeptanz, welches impliziert, dass eine religiöse Haltung als Lebensweise zu akzeptieren ist (Dafir 2018). Der Glaube an alle Propheten von Adam bis Muhammad, ohne zwischen ˙ ihnen einen Unterschied zu machen, und an die offenbarten heiligen Schriften (Psalmen, Thora, Evangelium) gehört zu den Glaubensgrundsätzen des Islams. In einem Hadith sagte der Prophet: »Die Propheten sind Brüder auf Grund des

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(göttlichen) Auftrags. Ihre Mütter sind verschieden und ihr Glaube ist nur einer« (Buha¯rı¯, 3445). In einem anderen Hadith heißt es: »Alle Geschöpfe sind Gottes ¯ Familie« (zit. nach Schimmel 1994, S. 62). Das heißt, alle Propheten bekennen sich zum Monotheismus, sie unterscheiden sich nur hinsichtlich der Lebensweise, genauer gesagt im Hinblick auf einige Gebote und Verbote, welche sie jeweils zu ihrer Zeit verkündet haben. In der Sprache der (islamischen) Mystik heißt es, dass die Wege zu Gott so viele sind, wie es Menschen gibt (Falaturi 2002, S. 4). Damit diese unterschiedlichen Wege akzeptiert werden und nebeneinander existieren können, ist der Dialog, der als Schlüssel zur angesprochenen Pluralitätsfähigkeit betrachtet werden kann, notwendiger denn je.

2.

Was ist Dialog?

Der Begriff »Dialog« lässt sich auf das altgriechische Wort διάλογος (diálogos) zurückführen, was so viel bedeutet wie »Rede« oder »Gespräch« (vgl. Gemoll 1962). Der Duden definiert dieses Gespräch näher als eine – im weiteren Sinne auch schriftliche – Rede und Gegenrede zwischen zwei oder mehreren Personen (vgl. Duden 2019). Klammert man nun die – ursprünglich nicht spezifizierte – Zahl der Sprecher aus, handelt es sich hier um ein Synonym des Ausdrucks »Zwiegespräch«. Daraus wurden Begriffe wie Monolog, ein Gespräch mit sich selbst, oder Trialog, ein Gespräch zwischen drei oder mehreren Personen abgeleitet (Glück 2010). Der Dialog wurde zunächst in der griechischen Antike, ca. 450–380 v. Chr., von den Sophisten (»Weisheitsbesitzern«) bewusst als Gestaltungsmittel eingesetzt, mit dem sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten anderen zu vermitteln oder Probleme im dialektischen Sinne – in Form von Behauptung und Gegenbehauptung – zu erörtern suchten (Dreßler 2014, 15f.). Literarisch bekannt sind die platonischen Dialoge, die als Corpus Platonicum – die Gesamtheit der dem griechischen Philosophen Platon (427–347 v. Chr.) zugeschriebenen Werke – bezeichnet werden. Platon hat seine Philosophie in fast allen seinen Werken in Gestalt eines Dialogs zwischen zwei bis vier Diskutierenden (literarischen Figuren) als Vertreter unterschiedlicher Positionen dargelegt (Erler 2007, S. 27ff.). Es gibt verschiedene Arten des Dialogs; als von besonderer Bedeutung für das Thema dieses Beitrags sind drei zu erwähnen (vgl. Nourbakhsh 2002, S. 1f.): – Die erste Art: der Dialog zwischen Gott und Mensch, den wir durch die heiligen Schriften (Offenbarungen) kennen. Darin hat Gott – wie bereits ausgeführt – zu den Menschen gesprochen. Das Gebet wiederum ist ein direkter Weg, mit Gott zu kommunizieren, seine Hilfe zu erbitten, sich bei ihm zu beklagen etc. – Die zweite Art: der Dialog der Zivilisationen, dessen Unumgänglichkeit insbesondere die Ereignisse des 11. September 2001 gezeigt haben. Ungeachtet

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der verschiedenen Zivilisationsmodelle ist und bleibt die Zivilisation ein Produkt der einen Menschheitsfamilie. Die österreichische Ärztin und Widerstandskämpferin Ella Lingens (1908–2002) hat einmal gesagt: »Die Zivilisation ist nur eine ganz dünne Decke« (zit. nach Korotin 2010). Um sie nicht zu zerstören, bedarf es des interkulturellen Dialogs, sodass Zivilisation und Kulturen einander befruchten und so in einer übergreifenden Weltkultur aufgehen können (Nourbakhsh 2002, S. 1). – Die dritte Art: der Dialog der Religionen, ohne den es zwischen den Religionen keinen Frieden geben kann (Küng 1990). In der heutigen Zeit, die geprägt ist durch religiös bedingte Gewalt, kommt den (göttlichen) Religionen und deren Dialog untereinander mehr Bedeutung zu als je zuvor.

2.1

Stimmen für den Dialog

»Pioniere dieses Dialogs sind […] weniger Religions- und Kulturwissenschaftler oder Theologen als vielmehr Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die schon ›von Haus aus‹ Bewohner verschiedener Welten, Grenzgänger und Vermittler sind«, schrieb der Literaturwissenschaftler und Theologe Christoph Gellner in seiner Studie Weltreligionen im Spiegel zeitgenössischer Literatur (Gellner 2005, S. 21), in der er anhand der literarischen Arbeiten der österreichischen Schriftstellerin Barbara Frischmuth und des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg den Dialog der Zivilisationen, die »dritte Art des Dialogs«, dargestellt hat. Er fügt hinzu, was auch in dem erwähnten Beispiel von Platon angeklungen ist: »Literatur bildet daher schon immer ein herausragendes Forum der Auseinandersetzung zwischen Eigenem und Fremdem und Anderem« (ebd.). Younes Nourbakhsh schreibt im Vorwort zu Abdoljavad Falaturis Buch Dialog zwischen Christentum und Islam, dass das Wort »Dialog« eine der schönsten Vokabeln des menschlichen Sprachschatzes sei. Dialog impliziert die Anerkennung der Existenz und des Daseins von Menschen unterschiedlicher Ansichten und unterschiedlicher Religionen und Kulturen, so Nourbakhsh. Das heißt, ein Gespräch, das aus einer Position der Überlegenheit heraus geführt wird, ist für ihn kein Dialog. Ein Dialog sei nur möglich, wenn man zwecks besseren Verständnisses der Positionen einander auf Augenhöhe und bescheiden begegne. Toleranz und der gegenseitige Respekt seien Voraussetzung für den Dialog. Daraus folge, dass man neben der eigenen Auffassung von Wahrheit noch andere akzeptieren solle (Nourbakhsh 2002, S. 1). Damit verbunden sei »die Bereitschaft und sogar die Neugierde, von dem Gesprächspartner zu lernen, nicht nur die positiven Lebenswerte des anderen, sondern auch seinen Umgang mit den Alltagsproblemen und seine Lösungsversuche« (Falaturi 2002, S. 76).

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An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es nicht Religionen, Zivilisationen und Kulturen sind, die miteinander Gespräche führen, sondern Menschen. Dialog ist ein niemals abgeschlossener Prozess. Er fördert das Wissen, bewirkt nicht nur eine Erweiterung des geistigen Horizonts und der Denkweise der Beteiligten, sondern ist darüber hinaus Gewähr für ein gut funktionierendes gesellschaftliches Zusammenleben und somit ein wichtiger Beitrag zu einem erfüllten Leben in Sicherheit, Gerechtigkeit, Frieden und Freundschaft (Nourbakhsh 2002, S. 1).

2.2

Kritik des Dialogs

Laut einer Feststellung von Falaturi (1926–1996), der sich über 36 Jahre in Deutschland im Dialogbereich engagierte, endet der Dialog oft in einer unentschiedenen Dialektik. Dies liege darin begründet, dass es weder die abstrakte Logik noch die theoretischen Begriffe seien, auf denen das der Persönlichkeit jedes Menschen eigene Religiöse und Kulturelle beruht, sondern seine Gefühle, Empfindungen und alltäglichen Erfahrungen. Das aber seien Momente, die man in einem Gespräch dem Anderen am wenigsten präsentieren könne. Das Problem des interreligiösen bzw. interkulturellen Dialogs bestehe also darin, dass man anhand von Begriffen Fakten vermitteln möchte, die nicht in Begriffen fassbar seien. Mit anderen Worten: Man will emotional bedingte Momente auf andere übertragen, obwohl diese in Wirklichkeit nicht übertragbar seien. Hinzu kommt, dass beispielsweise Muslim*innen und europäische Christ*innen im Dialog zumeist aneinander vorbeigehen, da jeder den anderen durch das eigene religiöse Selbstverständnis zu begreifen sucht. Eine solche Haltung könne nur zu falschen Ergebnissen führen und würde die Fronten noch weiter verhärten (Falaturi 2002, S. 5, 74). Damit ist gesagt, dass nicht jedes Zwiegespräch verdient, Dialog genannt zu werden – etwa dann, wenn die Gesprächspartner*innen nach außen Bereitschaft zum Zuhören signalisieren, tatsächlich aber Missionierung im Sinn haben. Nicht immer liegt dem Dialog der Wille zum Frieden, das Gefühl der Verantwortung für alle Menschen zugrunde. Vielmehr handelt es sich um Scheindialoge, wenn zum Beispiel der Dialog als politisches Geschäft bzw. als eine theologische oder gar wissenschaftliche Beschäftigung zur eigenen Profilierung betrieben wird, wenn ein Gespräch lediglich der Bestätigung bereits bestehender Vorurteile dient, um sich also auf Kosten des Gegenübers zu profitieren, oder wenn die Gesprächspartner*innen nicht bereit sind, ihre eigene Religion und Religionsgemeinschaft kritisch zu betrachten und die Entwicklung der eigenen Geschichte zu reflektieren (vgl. ebd., S. 74ff.). Dann gibt es jene Fälle von versteckter Absicht, wenn der Dialog, als apologetisches Werkzeug, den Auftakt zur latenten Diffamierung der Religion der

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Gesprächspartner*innen und impliziten Hervorhebung der Vorzüge der eigenen Religion. Schließlich kann ein Dialog aus aktuellem politischem Anlass instrumentalisiert werden. Dies geschieht besonders zum Nachteil des Islams – so etwa in Dialogveranstaltungen, in denen bestimmte aktuelle Erscheinungen aus dem Kontext der islamischen Lehre und Geschichte sowie dem islamischen Überzeugungsfeld gerissen und ein verzerrtes und negatives Bild des Islams und dessen Kultur konstruiert wird. Der Dialog wird hier, bewusst oder unbewusst, als Mittel einer unberechenbaren Politik eingesetzt (ebd., S. 78). Als Beispiel sei auf das Phänomen der Gewalt in Verbindung mit dem Islam (siehe Abschnitt 3.3) hingewiesen, wobei hier die Religion ausschließlich als Teil des Problems dargestellt wird (siehe Abschnitt 4). Im Zuge dessen wurden in vielen europäischen Staaten neue Gesetze wie das Kopftuchverbot erlassen, unter dem Vorwand der präventiven Bekämpfung dieses Phänomens.

3.

Die erste Begegnung mit den Christen in Abessinien

Die ersten Kontakte zwischen Muslimen, Juden und Christen ergaben sich – vermittelt durch die Handelskarawanen – bereits zu Beginn der Entstehung des Islams, als die Juden bekanntlich in der Stadt Medina lebten. Die Christen waren damals auf drei große Reiche verteilt: Großsyrien im Norden, das Byzantinische Reich im Westen und Ägypten sowie Abessinien im Süden. Die Juden hingegen besaßen keinen Staat. Doch obwohl sie auf der Arabischen Halbinsel eine Minderheit waren, wurden sie von den Muslimen akzeptiert (Hama¯da 2005, S. 13). ˙ In der sogenannten Gemeindeordnung bzw. Verfassung von Medina (Sah¯ıfat ˙ ˙ al-Madı¯na oder Mı¯ta¯q al-Madı¯na) gibt es einen Bündnisvertrag, dessen zweiter ¯ Teil auch verschiedene jüdische Stämme einschließt. Im Vertrag werden die Rechte und Pflichten der Unterzeichner festgehalten (Wellhausen 1889, S. 65ff.; Lecker 2004, S. 153ff.). In Anbetracht der grausamen Unterdrückung der ersten Muslim*innen in Mekka durch die Quraisˇ empfahl ihnen der Prophet im Jahre 615, in Richtung Abessinien (das heutige Äthiopien) zu emigrieren. Unter den ersten muslimischen Emigrant*innen waren zwölf Männer und vier Frauen, gefolgt von einer 80-köpfigen zweiten Gruppe (Hama¯da 2005, S. 13, 62). In Abessinien regierte zu ˙ dieser Zeit ein christlicher Herrscher, der Negus, der von den Lehren des Islams tief beeindruckt war. Er war bekannt für seine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Muslim*innen konnten dort ungestört ihre Religion ausüben (Rassoul 1998, S. 7).

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3.1

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Der erste muslimisch-christliche Dialog in schriftlicher Form

Einige Jahre nach der ersten muslimischen Emigrationsbewegung folgte im Jahr 622 die Auswanderung nach Medina, diesmal angeführt vom Propheten selbst. Der offizielle muslimisch-christliche Dialog begann zuerst in schriftlicher Form Ende des sechsten Hig˘ra-Jahres (ca. 628). Mekka stand noch unter der Herrschaft der Quraisˇ, als der Prophet Muhammad eines Tages sechs Boten zu den christ˙ lichen Herrschern von Byzanz, Großsyrien, Abessinien und Ägypten entsandte. An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass die an die christlichen Herrscher gerichteten Briefe Muhammads in der jeweiligen Landessprache verfasst und ˙ Muhammads Boten dieser Sprachen mächtig waren (Hama¯da 2005, S. 13ff.). ˙ ˙ 3.1.1 Muhammads Brief an den König von Abessinien ˙ Der erste Brief Muhammads ging im Jahre 615, ca. sechs Jahre nach seiner ˙ Berufung zum Propheten, an den König des christlichen Abessinien. Es handelte sich um eine Einladung zum Islam, die Zitate aus dem ersten Teil der Sure 19 über Maria, die Mutter Jesu, beinhaltete. Der Überlieferung nach sagte der Negus, nachdem er diese Koranverse (19:16–34) zur Kenntnis genommen hatte, dass der Koran und das Evangelium Strahlen desselben Lichts seien (Rassoul 1998, S. 7). Als Dank für sein Schreiben habe der Negus dem Propheten ein Gewand, bestehend aus Hemd, Hose und Socken, sowie einen Ring geschenkt. Er selbst soll vom Propheten ebenfalls ein Gewand samt Gläsern und Moschus bekommen haben. Erwähnt sei auch, dass der Prophet ihm mehrmals geschrieben hat (Hama¯da 2005, S. 30, 67ff.). ˙ 3.1.2 Muhammads Brief an den byzantinischen Kaiser ˙ Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Arabien (die Arabische Halbinsel) jahrhundertelang eine Kolonie von Persien und Byzanz (dem Oströmischen Reich) war. Nach jedem Sieg der Perser über die Römer fiel Arabien unter deren Herrschaft und umgekehrt. Das heißt, Muhammad kam zu einer Zeit, in der die ˙ Perser und Byzantiner (Oströmer) miteinander Kriege führten (Falaturi 2002, S. 32). In den Jahren 613 und 614 wurden die Byzantiner von den Persern geschlagen, wobei sie Damaskus und später auch Jerusalem verloren. Nach dreizehn Jahren führte Herakleios einen Feldzug gegen die Perser, der mit seinem Sieg bei Ninive im Jahr 627 endete (Falaturi 2002, S. 404). Dazu findet sich in der Sure 30 des Korans (»Die Römer«) folgende Prophezeiung: »Die Römer sind besiegt worden, im nächstliegenden Land. Aber sie werden nach ihrer Niederlage (selbst) siegen, in einigen Jahren. Allah gehört der Befehl vorher und nachher. An jenem Tag werden die Gläubigen froh sein« (Koran 30:2–4).

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Des Weiteren ist anzumerken, dass laut Falaturi keiner – weder die Perser noch die Byzantiner – von der Entwicklung in Arabien überhaupt Notiz genommen hat. Aus diesem Grund gebe es über die damalige Entwicklung keine Belege bzw. Berichte in fremden Schriften, außer in arabischer Sprache, deren Richtigkeit freilich schwer zu garantieren sei. Tatsache ist, dass die Araber nach ca. 100 Jahren Kampf untereinander plötzlich, und zwar dank des Islams, eine Einheit bzw. eine Großmacht geworden sind. Die Kriege, die sie gegen die Perser und Byzantiner führten, können unterschiedlich gedeutet werden: sowohl als Revanche als auch als Prävention, um die Perser und Byzantiner, die die Araber jahrhundertelang kolonialisiert hatten, davon abzuhalten, wiederzukommen (Falaturi 2002, S. 32). Der zweite Briefdialog fand zwischen dem Propheten und dem byzantinischen Kaiser, Herakleios, statt. Im Wunsch, Näheres über den Propheten zu erfahren, wollte Herakleios im ersten Brief vom Boten Dihya al˙ Kalbı¯ Folgendes wissen: Welchem Stamm gehört der Prophet an? Antwort: dem großen Stamm der Quraisˇ. Auf die Frage, ob dort bereits vor ihm jemand das Prophetentum beansprucht habe, lautet die Antwort Nein. Stammt er aus einer politisch einflussreichen Familie? Nein, seine Familie verfügt über keine politische Macht. Und seine Anhänger*innen rekrutierten sich nicht aus den angesehensten Angehörigen seines Stammes, sondern aus der Unterschicht, und sie würden mit der Zeit mehr. Auch sei er, der Prophet, nie der Lüge oder des Betrugs bezichtigt worden. Der Kaiser wollte auch wissen, was er verkündete. Darauf wurde ihm erwidert, dass man einen einzigen Gott anbeten und ihm nichts beigesellen solle. Dass man beten, die Wahrheit sagen und die Nachbarschaftsund Verwandtschaftsverhältnisse pflegen und enthaltsam sein solle. Der Kaiser soll von den Antworten des Boten beeindruckt gewesen sein und hinzugefügt haben, dass diese Beschreibung den Eigenschaften der Propheten entspricht. Des Weiteren ging es um ein Gespräch über Jesus und dessen Geburt sowie die Frage, wen er angebetet habe. Die Antworten von Herakleios auf die Fragen des Boten ließen lange auf sich warten, vor allem jene auf die Frage betreffend die Beschreibung Jesu. Herakleios nahm sich Zeit. Er wollte sich zuerst bei seinen Bischöfen erkundigen, um keine falschen Antworten zu geben. Er entsandte seinerseits einen arabischsprachigen Boten zum Propheten, den er unter anderem damit beauftragte, herauszufinden, ob Muhammad sich noch an den Inhalt ˙ seines Briefes an ihn erinnern konnte und ob er ein Symbol – das Siegel der Propheten – auf seinem Rücken hatte. Als Herakleios’ Bote bei Muhammad war, bot ihm dieser an, den Islam an˙ zunehmen. Er soll gesagt haben, dass er gerne Christ bleiben möchte. Der Prophet lachte und zitierte den folgenden Koranvers: »Gewiss, du kannst nicht rechtleiten, wen du gern (rechtgeleitet sehen) möchtest. Allah aber leitet recht, wen Er will. Er kennt sehr wohl die Rechtgeleiteten« (Koran 28:56). Der Bote bestätigte Herakleios alles, was er über den Propheten fragte. Herakleios er-

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kannte ihn als Propheten an und erkannte die Werte bzw. Glaubensgrundsätze (Glaube an einen Gott und den Jüngsten Tag, das Gebet, das Spenden, das Sprechen der Wahrheit, Enthaltsamkeit, Treue, Nichtbetrügen etc.), die er predigte, als wichtig für das Zusammenleben der Menschen an. Den Islam anzunehmen lehnte er allerdings ab (Hama¯da 2005, S. 33ff.). Nach Muhammad Ha˙ midullah, dem Verfasser des Buchs Le Prophète de l’Islam: Sa vie, son œuvre, auf das sich zahlreiche Orientalist*innen beziehen, blieb ein Brief des Propheten an Herakleios erhalten, der heute im Britischen Museum in London zu besichtigen ist (Hamidullah 2010, S. 230ff.). Dieser Brief dürfte über das damalige Andalusien nach England gelangt sein (Leder 2001, S. 7). Im Folgenden der Brieftext des Propheten Muhammad an Herakleios (zit. ˙ nach Hama¯da 2005, S. 37; vgl. dazu Aldeeb 2018, S. 10): ˙ »Im Namen Allahs des Barmherzigen des Allerbarmers. Von Muhammad, dem Diener und Gesandten Allahs an Herakleios, Kaiser der Byzantiner. Friede sei mit dem, der auf dem rechten Weg ist. Ich lade dich zum Islam ein. Sei Allah ergeben, gibt dir Allah doppelten Lohn. Lehnst du den Islam ab, versündigst du dich. ›O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch: dass wir keinen anbeten außer Allah und dass wir Ihm keinen Nebenbuhler zur Seite stellen und dass nicht die einen unter uns die anderen zu Herren nehmen statt Allah.‹ Doch wenn sie sich abkehren, dann sprecht: ›Bezeugt, dass wir uns (Gott) ergeben haben‹ (3:64).«

Festzuhalten ist, dass die bisher erwähnten Informationen bezüglich Muhammads Schreiben an Herakleois – dies gilt auch für die übrigen – in mehreren ˙ islamischen Quellen zu finden sind. Fa¯ru¯q Hama¯da, Professor für Hadith- und ˙ Sunna-Wissenschaft an der Mohammed V.-Universität in Rabat, Marokko, auf dessen wissenschaftlich fundiertes Buch Al-ʾila¯qa¯tul-isla¯miyyatu an-nasra¯ni˙ yyatu fı¯ al-ʾahd an-nabawı¯ (»Die christlich-islamischen Beziehungen in der Zeit des Propheten«) sich meine Ausführungen gründen, bezieht sich wiederum auf das bereits erwähnte, über 800 Seiten starke Werk des indischen Theologen und Philosophen Muhammad Hamidullah (1908–2002), der seinerseits Bezug auf mehrere muslimische und nichtmuslimische Autoren nimmt. Einige Arabist*innen bzw. Islamwissenschaftler*innen verweisen bezüglich dieser Informationen jedoch auf die Überlieferungen des US-amerikanischen Islamwissenschaftlers und Historikers Fred Donner, so etwa Stefan Leder, der in seinem Beitrag Heraklios erkennt den Propheten die Authentizität von Muhammads ˙ Schreiben an Herakleios als schwer einschätzbar bezeichnet, da seines Wissens zeitgenössische christliche bzw. nichtarabische Quellen nichts darüber berichten (Leder 2001, S. 5ff.). Das soll aber kein Grund sein, bestimmte Überlieferungen zu verwerfen. Außerdem ist nach Leder selbst die Existenz von Briefen des Propheten an die Herrscher nicht gänzlich auszuschließen. Weiters konzediert er,

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dass die Entsendung eines Schreibens an Herakleios in mehrfachen Quellen belegt ist (ebd., S. 7). 3.1.3 Muhammads Brief an den Patriarchen von Ägypten ˙ Der dritte Brief war an den Patriarchen der Kopten in Ägypten und Nubien, Girgis ibn Mina, gerichtet. Dieser ließ dem Propheten ebenfalls Geschenke zukommen, darunter zwei Frauen: Ma¯riya, die Muhammad heiratete und die ihm ˙ den Sohn Ibrahim gebar, und ihre Schwester Sirı¯n bzw. Schirı¯n (Hamidullah 1987, S. 105ff.; Sezgin 1975, S. 289ff.). In einem Hadith sagte der Prophet: »Bald werdet ihr Ägypten erobern, und das ist ein Land, in dem man das Qı¯ra¯t [eine Währung] kennt. Behandelt seine Leute (die Kopten) freundlich, denn es gibt Verwandtschaftsbande und Verpflichtungen zu ihnen« (Riya¯du s-Sa¯lih¯ın, 328). ˙ ˙ ˙ ˙ An dieser Stelle ist anzumerken, dass Ägypten unter byzantinischer Herrschaft (395–642) Schauplatz massiver Christenverfolgungen war. Als der Islam, beginnend mit dem Jahr 642, nach Ägypten kam, waren es nicht zuletzt die Kopten, die den Muslimen den Weg ebneten, erhofften sie sich doch die Befreiung ihres Patriarchen, der in der Verbannung lebte. Diese Hoffnung sollte sich erfüllen (Fischer 1987, S. 33ff.).

3.2

Analyse der drei Briefe

In allen seinen Briefen an den Negus und an Herakleios fasst der Prophet das Wesen des Islams zusammen, indem er jene Koranstelle (3:64) zitiert, auf die auch die über 130 Islamgelehrten nach der Regensburger Papstrede im Jahr 2006 Bezug genommen haben.1 Bemerkenswert ist der respektvolle Stil, in dem die Briefe gehalten sind. So etwa spricht der Prophet die Herrscher mit ihrem Ehrentitel (z. B. »Kaiser«) an, 1 Als der damalige Papst Benedikt XVI. im September 2006 an der Universität Regensburg eine Ansprache mit dem Titel »Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen« hielt, zitierte er in Bezug auf das Verhältnis von Religion und Gewalt aus einem Religionsdialog zwischen dem byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaiologos (gest. 1425) und einem muslimischen Gesprächspartner Folgendes: »Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten« (Benedikt XVI. 2006). Dieses Zitat rief in der muslimischen Welt, wo es als Ausdruck der päpstlichen Position aufgefasst wurde, große Empörung hervor. Der Papst bedauerte, wie er später in einer diesbezüglichen Fußnote anmerkte, dass das Zitat – und somit seine gesamte Rede – missverstanden worden sei; er betonte, dass er damit keineswegs seine eigene Haltung dem Koran gegenüber, die von Ehrfurcht getragen sei, zum Ausdruck bringen wollte, sondern dass es ihm bei der Zitation dieses Ausspruchs von Kaiser Manuel II. einzig darum gegangen sei, auf den wesentlichen Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft hinzuweisen (Nourbakhsh 2002, S. 1).

Der Islam im Dialog

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um ihnen seine Anerkennung und seinen Respekt auszudrücken. Und er betont die Gemeinsamkeiten, nämlich den Glauben an einen Gott und das Jenseits, das Gebet, das Fasten, Pilgern und Spenden2 sowie die für ein funktionierendes Zusammenleben wichtigen ethisch-moralischen Werte wie Güte, Gerechtigkeit, Respekt, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Treue, das Einhalten von Versprechen, Nichtbetrügen, die Rückgabe von Anvertrautem, Pflege von Nachbarschafts- und Verwandtschaftsverhältnissen, das Unterlassen von Übeltaten (Hama¯da 2005, ˙ S. 45, 54, 72). Die Übermittlung der koranischen Botschaft (19:16–34) bezüglich der Mutter Jesu an den christlichen Kaiser von Abessinien war laut dem libanesisch-deutschen Religions- und Islamwissenschaftler Adel Theodor Khoury »wie eine Zugehörigkeits- bzw. eine Verwandtschaftserklärung« (Khoury 1988, S. 220). Was die Boten angeht, wählte der Prophet Personen, die über die folgenden Kompetenzen verfügten: Beherrschung der jeweiligen Sprache, Wissen, Weitblick, Argumentationsschärfe und die Fähigkeit zum konstruktiven Dialog. Weitere Anforderungen waren ein guter Charakter und insbesondere ein empathisches und sympathisches Wesen (Hama¯da 2005, S. 46, 66). ˙ Aus der Tatsache, dass der Prophet beschenkt wurde und die Geschenke auch annahm, lässt sich ableiten, dass der Dialog nicht nur im Sinne eines Austauschs von Argumenten zu verstehen ist bzw. sich auf die Diskussionsebene beschränkt, sondern auch andere Dimensionen, namentlich einen sozialen Charakter, hat. Einander zu beschenken ist Ausdruck von Wohlwollen, Demut, Empathie und Sympathie – alles Momente, die die zwischenmenschlichen Beziehungen kennzeichnen sollten. Sie stehen für Annäherung, Verständigung und Gutes tun sowie Zusammenarbeit, den gemeinsamen Nenner, trotz der Unterschiede in der Religion (ebd., S. 241). So heißt es im Koran: »Allah verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht bekämpft haben des Glaubens wegen und euch nicht aus euren Heimstätten vertrieben haben, gütig zu sein und billig mit ihnen zu verfahren; Allah liebt die Billigkeit Zeigenden« (60:8). Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Einladungen des Propheten an die Herrscher und religiösen Würdenträger zum Islam nicht mit Zwang verbunden waren. Es wird sogar berichtet, dass ein Priester aus der im südwestlichen SaudiArabien nahe der jemenitischen Grenze gelegenen Ortschaft Nag˘ra¯n, der zum Propheten kam, um die Offenbarung zu erleben, jahrelang bei den Muslimen blieb und erst nach dem Tod des Propheten in seine Heimat zurückkehrte (ebd., S. 112). Vor seinem Tod empfahl der Prophet seinen Gefährten, in der religiösen Auseinandersetzung mit Andersgläubigen diesen niemals Abneigung entgegenzubringen. Damit sind wir bei der bereits erwähnten, ganz wichtigen Grund2 Es sind dies jene Glaubensinhalte, welche die Erklärung der katholischen Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil betonte (vgl. Erklärung »Nostra aetate«).

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lage des Dialogs, nämlich Empathie. Auf diese weist auch der Koran hin: »Rufe auf zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und streite mit ihnen auf die beste Art« (16:125). Die Haltung des Propheten Muhammad gegenüber den Christen war jedoch ˙ nicht immer von Sympathie und Wohlwollen geprägt. Gegen Ende seines Lebens wurde seine Einstellung ihnen gegenüber aufgrund der Zwänge der damaligen Situation zunehmend strenger, um ihre etwaigen Wirkungsmöglichkeiten zu neutralisieren. Tatsächlich berichtet der Koran (9:29–31) von Angriffen gegen die Christen und manche ihrer Lehren. Diese waren aber nie so heftig, dass sie die friedlichen oder besser gesagt die freundschaftlichen Beziehungen tiefgreifend erschütterten. Als die Christen von Nag˘ra¯n angegriffen wurden, stellte sich der Koran auf ihre Seite und bezeichnet diejenigen, die an Gott glauben, als Märtyrer (85:7–8). Auch sympathisierten die Muslime mit den christlichen Byzantinern (Oströmern), als sie – wie bereits erwähnt – von den heidnischen Persern angegriffen wurden (Khoury 1988, S. 219ff.). Der Koran führte den Dialog mit den Christen (3:64, 16:125) und erkennt die Pluralität der Religionen als legitim an (2:148, 5:48). Überdies bezeichnet der Koran die Christen im Gegensatz zu den Polytheisten als Gläubige (22:17) und verheißt allen Christen, die an Gott und an den Jüngsten Tag glauben und Gutes tun, Heil (2:25, 20:75–76, 31:8–9). Khoury fasst die Haltung des Korans den Christen gegenüber wie folgt zusammen: »Für den Koran gibt es zwei Kategorien von Christen: die guten und die schlechten. Die guten Christen stehen dem Islam ziemlich nahe, die schlechten dagegen haben sich von der wahren Botschaft Christi entfernt, ja sie in grundlegenden Punkten verfälscht oder zumindest falsch interpretiert; sie verdienen daher Tadel und Verurteilung.« (Khoury 1988, S. 221)

Muhammad vertrat also den Christen gegenüber eine differenzierte Meinung. ˙ Die guten Christen (3:55, 61:14, 57:27, 24:36–38) werden in manchen Koranstellen als die Christen allgemein bezeichnet. Khoury verweist bezüglich der offenen Haltung manchen Christen gegenüber auf folgende Stelle, in der der Koran für sie bis zuletzt freundliche Worte fand (ebd., S. 220ff.): »Und du wirst sicher finden, dass […] diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, die sind, welche sagen: ›Wir sind Christen.‹ Dies deshalb, weil es unter ihnen Priester und Mönche gibt und weil sie nicht hochmütig sind« (5:82). Bezüglich der schlechten Christen (2:111, 2:135, 3:55–56, 61:14), die den Koran als göttliche Botschaft ablehnten, stellt der Koran fest: »Weder die Juden noch die Christen werden mit dir zufrieden sein, bis du ihrer Glaubensrichtung folgst. Sprich: Nur die Rechtleitung Gottes ist die (wahre) Rechtleitung.« (Koran 2:120)

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Bezeichnend auch folgende Stelle, in der die schlechten Christen Jesus für den Sohn Gottes und für Gott selbst halten: »O ihr Leute des Buches, übertreibt nicht in eurer Religion und sagt über Gott nur die Wahrheit. Christus Jesus, der Sohn Marias, ist doch nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das Er zu Maria hinüberbrachte, und ein Geist von Ihm. So glaubt an Gott und seine Gesandten. Und sagt nicht: Drei. Hört auf, das ist besser für euch. Gott ist doch ein einziger Gott. Gepriesen sei Er und erhaben darüber, dass Er ein Kind habe.« (Koran 4:171)

Zwar wurde das Verhältnis der Muslime zu den Christen und Juden durch den historischen Hintergrund der Machtkämpfe, die zunächst von den Polytheisten ausgingen, belastet. Trotzdem und trotz der Tatsache, dass Muhammad es ganz ˙ gewiss gerne gesehen hätte, dass die zeitgenössischen Christen und Juden seine Lehre annehmen, betont der Koran in seinem ganz am Schluss verkündeten Vers, der nur einige Monate vor Muhammads Tod offenbart wurde, eine Tisch- und ˙ Ehegemeinschaft mit Christen und Juden: »Heute sind euch die guten Dinge erlaubt. Und die Speise derjenigen, denen die Schrift gegeben wurde, ist euch erlaubt, und eure Speise ihnen erlaubt. Und die Ehrbaren von den gläubigen Frauen und die ehrbaren Frauen von denjenigen, denen vor euch die Schrift gegeben wurde, wenn ihr ihnen ihren Lohn gebt, als ehrbare Ehemänner, nicht als solche, die Hurerei treiben und sich Liebschaften halten. Wer den Glauben verleugnet, dessen Werk wird hinfällig, und im Jenseits gehört er zu den Verlierern.« (Koran 5:5)

Diese Falaturi zufolge einmalige, praktisch einseitige gesellschaftliche Anerkennung der Juden und Christen geschah in einer Zeit, in der die Muslime die absolute Herrschaft innehatten und keinerlei Abhängigkeit von Christen und Juden bestand. Gerade das bietet, so Falaturi, einen uneingeschränkten Ansatz zum einen für das Verstehen des Korans in seinem Selbstverständnis und zum anderen für den Dialog mit anderen Religionen (Falaturi 2002, S. 83f.)

3.3

Muhammads Begegnungen mit den Christen ˙

Neben dem schriftlichen Dialog gab es die Besuche christlicher Delegationen, an denen der Prophet großes Interesse zeigte. Der Überlieferung nach empfing er persönlich seine Gäste und sorgte dafür, dass deren Aufenthalt sich auf das Angenehmste gestaltete. Er nahm sich für sie Zeit und zog seine besten Gewänder an als Zeichen dafür, dass sie herzlich willkommen waren. Er ließ speziell für seine Gäste ein Haus der Gastfreundschaft einrichten und pflegte, ihnen Reiseproviant sowie Geschenke zu überreichen (Hama¯da 2005, S. 95ff.). So sagte er in ˙ einem Hadith: »Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, soll seinen Gast ehren,

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wie es ihm zusteht.« Er wurde gefragt: »Oh Gesandter Allahs, was steht ihm zu?« Er sagte: »Sein Tag und seine Nacht (an denen er angekommen ist), und die Gastfreundschaft dauert drei Tage. Danach ist es Sadaqa« (Riya¯du s-Sa¯lih¯ın, ˙ ˙ ˙ ˙ Hadith-Nr. 602). Das Motiv der Gastfreundschaft ist auf den Propheten Abraham, den Stammvater der monotheistischen Religionen, zurückzuführen. Schon Abraham bietet den Menschen seine Gastfreundschaft an. Sie gilt als gemeinsames Element im Judentum, Christentum und Islam und stellt somit ein hohes Gut für den interreligiösen Dialog dar. Durch sie können, bei allen religiösen Differenzen, spirituelle bzw. positive Energien für ein besseres wechselseitiges Verstehen entstehen (Daou & Tabbara 2017, S. 50ff.). Gastfreundschaft bedeutet dabei nicht nur, dem Andersgläubigen Entgegenkommen – insbesondere in Form der freundlichen Aufnahme als Gast und der Beherbergung – zu zeigen, sondern auch, ihn in seinem Glauben ernst zu nehmen und ihn darin anzuerkennen. Es gilt also, die Verschiedenheit nicht als Defizit, sondern als ein von Gott gewolltes Phänomen anzusehen. Das ist »göttliche Freundschaft« bzw. »spirituelle Solidarität« (ebd., S. 163ff.). Eine über 20-köpfige christliche Gelehrten- und Würdenträgerdelegation aus Nag˘ra¯n, die den Propheten sowohl in Mekka als auch in Medina besuchte, traf ihn eines Tages am späten Nachmittag in der Moschee an und wurde dort von ihm empfangen (Hama¯da 2005, S. 104f.). Dazu sagt der Koran (5:82): »Und du ˙ wirst zweifellos finden, dass die, welche sagen: ›Wir sind Christen‹, den Gläubigen am freundlichsten gegenüberstehen. Dies, weil unter ihnen Gottesgelehrte und Mönche sind und weil sie nicht hoffärtig sind.« Als es Zeit zum Gebet war, gedachten sie dieses in der Moschee zu verrichten, vor der aber einige Muslime standen, die ihnen das verbieten wollten. Da soll der Prophet gesagt haben: »›Lasst sie!‹ Sie wendeten sich Richtung Osten und beteten« (zit. nach ebd., S. 117). Hier sind zwei Aspekte zu betonen: Toleranz und Akzeptanz des Propheten in seiner höheren weltlichen und religiösen Funktion als Führer der Gemeinschaft den Christen gegenüber, die einerseits als Gäste und andererseits als Minderheit (auf der Arabischen Halbinsel) ihre Gebete in der Prophetenmoschee verrichteten. Diese Haltung des Propheten ist insbesondere mit Blick auf die Gegenwart hervorzuheben, da Christen und Andersgläubige in islamischen Ländern im Namen des Islams vertrieben oder sogar getötet werden. In diesem Zusammenhang kommt mir eine Begebenheit aus meiner Studienzeit in Graz in den Sinn: Nach dem Anschlag radikalislamischer Terroristen auf die AlQiddissı¯n-Kirche im ägyptischen Alexandria am 1. Jänner 2011, bei dem mindestens 20 Personen starben und weitere 97 Personen verletzt wurden, darunter auch Muslim*innen (Staude 2011), hielten mir aufgebrachte koptische Freunde in einer Diskussion entgegen, dass doch der Prophet Muhammad uns Muslime in ˙ einem Hadith aufgefordert hätte, die Kopten gut zu behandeln. Diesen Hadith,

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813

von dem ich damals zum ersten Mal hörte, kannten sie auswendig. Mit der Erwähnung dieser Episode möchte ich auf das Problem der mangelnden Kenntnis der eigenen Religion und Geschichte hinweisen, was den Dialog schwer macht. Darauf komme ich in weiterer Folge zu sprechen.

3.4

Dialog im Kontext der g˘izya und des Gewaltphänomens

˘ izya (Tribut) bezeichnet eine Steuer, die nichtmuslimischen Schutzbefohlenen G (dimmı¯, ahl al-kita¯b, laut dem Koran »Leute des Buches«) unter islamischer ¯ Herrschaft auferlegt wurde. Die Grundlage dafür bildet die Sure 9, Vers 29: »Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Allah und nicht an den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Allah und Sein Gesandter verboten haben, und nicht die Religion der Wahrheit befolgen – von denjenigen, denen die Schrift gegeben wurde –, bis sie den Tribut aus der Hand entrichten und gefügig sind!« ˘ izya ist ein umstrittener Begriff, da deren Zahlung mit der Bekehrung zum G Islam und der Enteignung des Besitzes der Besiegten in Verbindung gebracht wird. Sie gilt als Kennzeichen des Primats, der Vorherrschaft des Islams gegenüber Nichtmuslim*innen (Aldeeb 2018, S. 5f.). Der erwähnte Koranvers, auf den sich die g˘izya gründet, aus der Sure At-Tauba (»Die Reue«), »das gewaltträchtigste Kapitel des Korans«, entstand laut einigen Exegeten (at-Taba¯rı¯, Ibn Kat¯ır) ¯ ˙ ˙ vor dem historischen Hintergrund der Feldzüge Muhammads gegen die By˙ zantiner und deren arabischstämmige Verbündete in Nordarabien im Jahre 629. Andere Exegeten meinen, dieser Vers sei wegen der jüdischen Stämme Banu alNad¯ır und Banu Quraydah offenbart worden, mit denen Muhammad einen ¯ ˙ ˙ Waffenstillstand gegen Zahlung der g˘izya abgeschlossen hatte. Somit handle es sich um die erste von den Muslimen den Leuten des Buches auferlegte g˘izya (ebd., S. 8ff.). Betrachtet man nun genau den historischen Hintergrund der Entstehung der g˘izya – etwa den Umstand, dass unterdrückte religiöse Minderheiten den Muslimen zum Sieg gegen Byzanz und Persien verholfen haben (Falaturi 2002, S. 33) –, kann man mit dem christlich-palästinensischen Experten für arabisches und islamisches Recht Aldeeb Abu-Sahlieh festhalten, dass die g˘izya eine historische Institution ist, die die Rechte und Pflichten der Nichtmuslime in ihrer Beziehung zu den Muslimen regelt. Sie wurde im Osmanischen Reich Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft (Aldeeb 2018, S. 5f.). Die Juden und Christen bzw. auch die Andersgläubigen galten als Schutzbefohlene, die, um auf islamischem Territorium leben und arbeiten zu können, eine regelmäßige Steuer (eben die g˘izya) bezahlen mussten, allerdings unter Berücksichtigung ihrer Lebenssituation. Demnach ließe sie sich mit der in unserer modernen Welt bestehenden Lohnsteuer vergleichen. Diese Steuer garantierte

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Nichtmuslimen, welche als Bürger des betroffenen islamischen Landes betrachtet wurden, die gleichen Rechte, die Muslime genossen – darunter Schutz, Eigentumsrecht, Familienrecht, Recht auf Ausübung der Religion und juristische Behandlung nach dem eigenen religiösen Recht (Dafir 2018). Dieser g˘izya, bei der es sich nicht um eine Gemeinschafts-, sondern um eine Kopfsteuer handelte, welche fähige Nichtmuslim*innen bezahlen mussten, steht die zaka¯h, eine Steuer für fähige Muslim*innen, gegenüber. Auch die zaka¯h, die 2,5 Prozent von den Ersparnissen bzw. vom Kapital plus erzieltem Gewinn eines ganzen Jahres beträgt, kann man mit der uns bekannten Lohnsteuer vergleichen. Da die Nichtmuslim*innen keine zaka¯h bezahlten, weil diese eine islamische gottesdienstliche Handlung darstellt, mussten sie dieses Defizit durch die g˘izya ausgleichen. Die Höhe der g˘izya betrug ca. ein bis zwei Dinar pro Jahr und hing vom Einkommen ab; arme Nichtmuslim*innen waren davon befreit, genossen aber dennoch alle sozialen Rechte und waren sogar empfangsberechtigt für die zaka¯h der Muslim*innen und die g˘izya der Nichtmuslim*innen. Somit stellt die g˘izya als Prinzip der islamischen Akzeptanz das gemeinschaftliche Leben aller Menschen in den Vordergrund. Sie spielte eine bedeutende soziale Rolle und ist keineswegs als ein Instrument der Ausbeutung von Nichtmuslim*innen zu sehen (vgl. ebd.).

4.

Relevanz des Dialogs

Der christlich-muslimische Dialog in der Epoche des Propheten kann selbstverständlich nicht mit jenem verglichen werden, der nach der Zeit des Propheten einsetzte und bis zur Gegenwart andauert – die Zeiten ändern sich schließlich. Das ist auch nicht die Absicht dieses Beitrags. Es geht lediglich darum, darzulegen, wie dieser Dialog angefangen und funktioniert hat und wie christliche und jüdische Gläubige – als Angehörige der monotheistischen Religionen – seinerzeit mit Angehörigen des muslimischen Glaubens zusammenlebten. Auf die Zeit des Propheten und seiner Nachfolger folgte eine nunmehr 14 Jahrhunderte währende Geschichte, geprägt durch Koexistenz, gute Beziehungen und Zusammenarbeit, aber auch Kriege und Animositäten. Im Jahr 638 eroberten die Muslime unter der Führerschaft von ʿUmar, der von 634 bis 644 regierte, christliche Gebiete, die unter byzantinischer Herrschaft standen, darunter auch Ägypten. Die Byzantiner unterdrückten – wie bereits erwähnt – die Kopten, deren Kirche unter muslimischen Herrschern große Freiheiten genoss. Der Zugang zu höheren Staatsämtern bzw. Steuer- und Verwaltungsämtern war den Kopten anfangs freilich verwehrt. Erst Ende 642 wurden sie aufgrund eines eklatanten Beamtenmangels zu diesen Positionen zugelassen. Unter der Herrscherdynastie der Umayyaden (661–749) sowie deren Nachfolger, der Abbasiden

Der Islam im Dialog

815

(750–1258), nahm der Druck auf die Christen zu, da sie gemäß der Schutzvereinbarung (g˘izya) bestimmten Regeln zu folgen hatten. Immer mehr Angehörige des Christentums traten zum Islam über. Hier ist anzumerken, dass die Abbasiden mit dem Ziel der Verwirklichung ihrer weltlichen Machtinteressen und Konsolidierung der eigenen Dynastie die muslimischen Umayyaden bekämpften (Fischer 1987, S. 46ff.). Weitere Beispiele sind die Eroberung Europas durch die Muslime im Mittelalter (711–1492) oder die Türkenbelagerungen (1529, 1683). Auf der anderen Seite gibt es die Kreuzzüge im elften und zwölften Jahrhundert und den Kolonialismus und Imperialismus der europäischen Mächte im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegen die islamische Welt. Alle diese Ereignisse brachten auf beiden Seiten viele Vorurteile hervor, die zum Teil auf Unwissenheit bezüglich dieser historischen Reibungen bzw. Konfrontationen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen beruhten. Das Phänomen der Vorurteile wird noch komplexer, wenn sich Gegenwartsurteile aus der Geschichte speisen, vor allem, wenn man den/die/das Andere*n als Bedrohung für das Eigene darstellt. Auf der anderen Seite ist auch auf die Gewalttätigkeit radikal-islamischer Organisationen wie der Terrornetzwerke al-Qaida und »Islamischer Staat« hinzuweisen, die im 21. Jahrhundert weltweit, insbesondere in den westlichen Ländern, eine Vielzahl schwerer Anschläge verübt haben (Tursheim 2007). Das 21. Jahrhundert ist in gewisser Weise eine Zeit der Wiederbelebung der Religionen – einerseits durch die Instrumentalisierung der Religion für politische und wirtschaftliche Zwecke und andererseits durch den Dialog der Religionen. Die politisch Verantwortlichen, die Meinungsmacher*innen und wir alle sind aufgefordert, sich für den Weg des konstruktiven Dialogs und des gegenseitigen Respekts, der allein den sozialen Frieden und eine freie und offene Gesellschaft auf Dauer sichern kann, einzusetzen.

4.1

Organisationen im Dienste des interreligiösen Dialogs

Es gibt in Europa zahlreiche Organisationen, die sich dem interreligiösen Dialog – sei es auf wissenschaftlicher, politischer oder gesellschaftlicher Ebene – verschrieben haben. Ihr Anliegen besteht laut Eigendarstellung auf den jeweiligen Internetseiten darin, Begegnungen von Angehörigen verschiedener Religionen zu ermöglichen und aktiv zur Förderung einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit beizutragen. Doch viele Organisationen sind, wie in weiterer Folge anhand eines Beispiels gezeigt wird, höchst umstritten und sehen sich heftiger Kritik ausgesetzt (Weissensteiner 2015). Im Folgenden einige Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum:

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4.1.1 Plattform für interreligiöse Begegnung (PFIRB) Die Plattform für interreligiöse Begegnung (PFIRB), die 2002 gegründet wurde, versteht sich als interreligiöses Friedensprojekt. »Ergreifen wir die Chance und beginnen den Dialog hier und jetzt in Frieden und in gegenseitigem Respekt«, rufen die Mitglieder der Plattform auf ihrer eigenen Internetseite auf. 4.1.2 König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog (KAICIID) König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog (KAICIID) ist eine staatenübergreifende Organisation, die 2011 auf Initiative von Saudi-Arabien, Österreich und Spanien sowie dem Vatikan als beobachtendem Gründungsmitglied ins Leben gerufen wurde. Das KAICIID versteht sich als Forum für den interreligiösen und interkulturellen Dialog, mit dem Ziel, Kooperation, Kommunikation, Partnerschaft und Informationsaustausch zur Bewusstseinsbildung und zu gegenseitigem Verständnis von Menschen weltweit zu fördern. Seine Themenschwerpunkte sind Menschenrechte, Gerechtigkeit, Frieden (vgl. KAICIID). Doch die Organisation wird aufgrund der mangelhaften Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien stark kritisiert; darüber hinaus muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, den radikalen Islam in Europa verbreiten zu wollen (Die Presse 2012; vgl. dazu ILMÖ). 4.1.3 Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID), vormals »Das Zürcher Lehrhaus«, ist eine Stiftung, die sich seit 2015 mit dem interreligiösen Dialog zwischen Judentum, Christentum und Islam beschäftigt (vgl. ZIID). So heißt es in Paragraf 3 der Statuten: »Zweck der Stiftung ist es, der Begegnung von Angehörigen jüdischer, christlicher und islamischer Religion und weiteren an der Thematik Interessierter zu dienen und das Gespräch und die Vernetzung zwischen ihnen zu fördern. Mittels pädagogischer, kultureller und publizistischer Angebote trägt sie dazu bei, die gegenseitigen Traditionen kennen zu lernen, um dadurch sich selbst und die anderen besser zu verstehen und zu achten« (Das Zürcher Lehrhaus, S. 3). 4.1.4 Schweizerischer Rat der Religionen (SCR) Schweizerischer Rat der Religionen (SCR), der 2006 als Beitrag zur Förderung des interreligiösen Dialogs und somit zum Erhalt des religiösen Friedens in der Schweiz initiiert wurde (vgl. SCR).

Der Islam im Dialog

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4.1.5 Theologisches Forum Christentum – Islam (TFCI) Theologisches Forum Christentum – Islam (TFCI) ist ein wissenschaftliches Diskussionsforum, das seit 2003 im Bereich christlich-islamischer Studien tätig ist. Das Forum, das an der Katholischen Akademie der Diözese RottenburgStuttgart beheimatet ist, befasst sich mit dem Verhältnis von Islam und Christentum sowohl in der Forschung als auch in praktischen Arbeitsfeldern. Es organisiert Fachtagungen und gibt Publikationen von christlichen und muslimischen Wissenschaftler*innen heraus, mit dem Ziel, einen sachlichen Dialog zwischen christlicher und islamischer Theologie im gesamteuropäischen Kontext zu fördern (vgl. TFCI). Es ist wichtig, dass es Organisationen gibt, die sich für Dialog einsetzen, um Begegnungen mit Religionen und Weltvorstellungen zu ermöglichen. Deren Anstrengungen, die Grenzen des Eigenen zu sprengen und Horizonte zu erweitern, stellt zweifellos eine nicht zu unterschätzende Bereicherung dar. Allerdings muss leider festgestellt werden, dass der Dialog stark auf die intellektuelle Ebene beschränkt bleibt. Doch Dialog ist ein niemals abgeschlossener Prozess. Für ein nachhaltiges verständnisvolles und friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen bedarf es daher eines verstärkten Bemühens, um interreligiöse projektorientierte Aktivitäten fest und dauerhaft zu verankern.

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Interreligiöses und interkulturelles Lernen im islamischen Religionsunterricht

Zusammenfassung Seit der Etablierung des islamischen Religionsunterrichts (IRU) im öffentlichen Bildungssystem im deutschsprachigen Raum gehört interreligiöses und interkulturelles Lernen zum festen Bestandteil des Lehrprogramms. Allerdings zeigt ein Blick in die einschlägige Literatur, dass dieser hochaktuellen und relevanten Thematik aus islamisch-religionspädagogischer Perspektive bisher nur geringe wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteilwurde. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die islamische Theologie und die islamische Religionspädagogik als Wissenschaftsdisziplinen erst vor wenigen Jahren Einzug in die akademische Forschungslandschaft gehalten haben. Dieser Beitrag nimmt den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht in den Fokus und versucht, einen aktuellen Einblick in die Bedeutung, die Ziele, die Möglichkeiten und Grenzen sowie die theologischen Voraussetzungen des interreligiösen und interkulturellen Lernens aus islamisch-religionspädagogischer Perspektive zu geben.

1.

Einleitung

Durch die Globalisierung und die zunehmenden Migrationsbewegungen, sei es durch Arbeitsmobilität, Flucht und Vertreibung infolge von Krieg oder auch aktuell durch die Klimakrise, sind die gesellschaftlichen Strukturen gegenwärtig weltweit einem tief greifenden Wandel unterworfen. Kulturelle, religiöse und weltanschauliche Vielfalt ist an vielen Orten, insbesondere in Mitteleuropa, zur alltäglichen Realität geworden (vgl. Ceylan 2011, S. 113). Dieser Umbruch, mit dem ein Säkularisierungsprozess einhergeht, birgt gewisse Herausforderungen – sowohl für die jeweilige Mehrheitskultur als auch für Minderheitskulturen. Im Bewusstsein dessen, dass gegenseitiges Verständnis, Respekt und ein friedliches Mit- und Füreinander wesentlich auf dem interkul-

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turellen und interreligiösen Dialog beruhen, bemühen sich Vertreter*innen unter anderem von christlichen, jüdischen und muslimischen Gemeinden, Kirchen, Vereinen sowie religiösen und sozialen Einrichtungen vermehrt um Kooperationsmöglichkeiten auf dialogischer Basis. Auch die (Religions-)Pädagogik macht sich den konstruktiven Umgang mit der religiösen und kulturellen Pluralität in verschiedenen (religiösen) Bildungsfeldern zum Anliegen. Eine bedeutende Rolle kommt dabei dem Lernort Schule als einer Mikrogesellschaft und somit einem Abbild der Makrogesellschaft zu. So bildet das interreligiöse und interkulturelle Lernen einen wichtigen Themenbereich im christlichen Religionsunterricht. Durch die Etablierung des islamischen Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen in Mitteleuropa wurde es auch ein zentraler Bestandteil der islamischen religiösen Bildung und Erziehung. Allerdings zeigt ein Blick in die einschlägige Literatur, dass das Themengebiet ein Forschungsdesiderat der islamischen Religionspädagogik und -didaktik darstellt. Es finden sich wenige Ansätze, die sich mit dem interreligiösen und interkulturellen Lernen aus islamisch-religionspädagogisch-didaktischer Perspektive systematisch auseinandersetzen. Der bescheidene aktuelle Stand der Forschung ist auch der Grund, dass in diesem Beitrag lediglich ein Abriss der islamisch-religionspädagogischen Perspektive auf das interreligiöse sowie interkulturelle Lernen im Bildungsfeld Schule gegeben werden kann. Im Folgenden werden als Erstes die Schlüsselbegriffe – unter anderem das interreligiöse und das interkulturelle Lernen – unter Berücksichtigung ihrer Verwendung im allgemeinen religionspädagogischen Diskurs im deutschsprachigen Kontext konkretisiert. Danach wird in einem zweiten Schritt ein genereller Einblick in die Ziele dieser Bildungsvorgänge im schulischen Bildungsfeld im islamischen Religionsunterricht vermittelt, gefolgt von einer kurzen Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der schulischen Umsetzung dieser Bildungsvorgänge. Anschließend folgt eine Darstellung der wesentlichen theologischen Grundlagen des interreligiösen sowie interkulturellen Lernens aus islamisch-religionspädagogischer Perspektive. Der Beitrag wird von einem Fazit abgerundet.

Interreligiöses und interkulturelles Lernen im islamischen Religionsunterricht

2.

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Interreligiöse(s)/interkulturelle(s) Lernen/Bildung und die Zielsetzungen

Die Aufnahme der Begriffe »interreligiöses« und »interkulturelles Lernen« in die religionspädagogisch-didaktische Fachterminologie im deutschsprachigen Raum liegt noch nicht weit zurück und ist Folge der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, die sich in der Pluralität der Kulturen und Religionen sowie ihrer Koexistenz in einem gemeinsamen Kontext ausdrücken (vgl. Leimgruber 2007, S. 17). Während der Ausdruck »interkulturelles Lernen« der allgemeinen Pädagogik entstammt, handelt es sich beim »interreligiösen Lernen« um ein relativ neues religionspädagogisches Paradigma, das seit etwa 30 Jahren den Diskurs mitprägt (vgl. ebd.). Das interreligiöse Lernen wird mitunter auch als Teilbereich der interkulturellen Religionspädagogik betrachtet (vgl. ebd., S. 19), wenn die Begriffe nicht gar als Synonyme behandelt werden (vgl. Graf 2011, S. 70). Monika Tautz sieht bei der Einbettung des interreligiösen Lernens in das interkulturelle Lernen allerdings unter anderem die Gefahr, dass dadurch »das Proprium der jeweiligen Religionen unbeachtet« (Tautz 2007, S. 68) bleibt oder das interreligiöse Lernen zugunsten des interkulturellen Lernens funktionalisiert wird. Dennoch sei eine scharfe Trennung zwischen beiden Zugängen in der (religions-) pädagogischen Praxis nicht wirklich möglich (vgl. ebd.). Bezüglich der Definition des Begriffs des interreligiösen und interkulturellen Lernens herrscht im allgemeinen religionspädagogischen Diskurs, der gegenwärtig im Wesentlichen von der christlichen (katholischen und evangelischen) Religionspädagogik getragen wird, nach wie vor Uneinigkeit. Daher kann Friedrich Schweitzer zufolge eine solche allgemeingültige Begriffsbestimmung auch nicht vorausgesetzt werden (vgl. Schweitzer 2014, S. 31). Im aktuellen Diskurs wird hauptsächlich zwischen den Begriffen »interreligiöses und interkulturelles Lernen« sowie »interreligiöse Bildung« unterschieden. Im Folgenden werden exemplarisch verschiedene Definitionsversuche von christlichen Religionspädagog*innen im deutschsprachigen Raum und daran anknüpfend einige der wenigen existierenden muslimischen Perspektiven vorgestellt. Nach der Definition von Stephan Leimgruber handelt es sich beim interkulturellen Lernen um »Lernvorgänge, die zwischen Angehörigen zweier oder mehrerer Kulturen stattfinden« (Leimgruber 2007, S. 19). Demnach sind es kulturell bedingte Phänomene, die der Lernprozess als Gegenstand des Lernens in den Fokus nimmt (vgl. ebd., S. 20). Dabei geht es um die Wahrnehmung von und die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen durch die bzw. in der Begegnung (vgl. Leimgruber 2002, S. 9). Ziel ist es, die Mobilität der Jugendlichen

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»als ›Grenzgänger‹ zwischen den kulturellen Systemen« (Behr 2017, S. 81) zu fördern. Für Leimgruber liegt die Intention des interkulturellen Lernens in der »persönliche[n] Selbstwerdung angesichts der eigenen Herkunftskultur und ein Sich-Zurechtfinden in einer fremden Kultur« (Leimgruber 2007, S. 19–20). »Kultur« meint Leimgruber zufolge die Gesamtheit der von Menschen initiierten Bereiche, die historisch gewachsen und variabel sind. Dazu zählen neben »Regeln und Normen des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens«, literarischen sowie künstlerischen Werken, verschiedenen Lebensformen sowie Erziehungsidealen auch Religionen mitsamt ihren »heiligen Schriften, sakralen Räumen und religiösen Praxen« (alle Zitate aus Leimgruber 2007, S. 19). Dieser Kulturbegriff steht in enger Verflechtung mit der Religion, wobei nach Leimgruber »Kultur eine religiöse Dimension auf[weist]« (ebd.). Tautz verweist zudem auf das Moment der Wechselseitigkeit, das dieser Beziehung dadurch, dass Religion und Kultur sich gegenseitig prägen, innewohne (vgl. Tautz 2007, S. 63) und das sich auch in den interkulturellen bzw. (inter)religiösen Lernprozessen widerspiegle: »Können interkulturelle Zusammenhänge nur mit einem Blick auf (inter)religiöse sinnvoll erkannt und ausgewertet werden, so legen andererseits auch innerreligiöse Gründe ein Konzept interkulturellen Lernens nahe.« (Tautz 2007, S. 63)

Für Leimgruber bildet das interkulturelle Lernen gar eine Voraussetzung für das interreligiöse Lernen (vgl. Leimgruber 2002, S. 9). Das interreligiöse Lernen an sich beschreibt Lernvorgänge, an denen Angehörige verschiedener Religionen beteiligt sind. Diese Form des Lernens kann durch direkte, persönliche sowie intersubjektive Begegnungen, aber auch indirekt, z. B. durch ein Medium (Zeitschrift, Buch, Online-Medien etc.) realisiert werden (vgl. Leimgruber 2007, S. 20). Beim interreligiösen Lernen handelt es sich um einen Prozess, der sich – in der Beschreibung von Leimgruber – in der Anfangsphase unter anderem durch die achtsame Wahrnehmung von Angehörigen verschiedener Religionen, ihrer religiösen Schriften und sakralen Räume auszeichnet und später zu »Begegnungen, Gesprächen und Auseinandersetzungen« (ebd.) zwischen den Dialogpartnern führt. Infolge dieser unmittelbaren Begegnung und dem Austausch können gegenseitige Vorurteile abgebaut, religiöse Sicht- und Verhaltensweisen korrigiert werden (ebd.). Schweitzer verwendet für die Beschreibung der interreligiösen Lernvorgänge bewusst den Begriff »interreligiöse Bildung«, um zum einen die Bedeutung der interreligiösen Aufgaben und Themenfelder im schulischen Kontext sowie ihre Gleichstellung mit anderen schulischen Unterrichtsfächern zu betonen (vgl. Schweitzer 2014, S. 33). Zum anderen möchte er damit hervorheben, dass es sich beim interreligiösen Lernen stets um einen Bildungsprozess des Selbst und die Entwicklung der Identität handelt. Schließlich sei die interreligiöse Bildung im

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Lichte der Tatsache, dass die religiöse Vielfalt eine Alltagsrealität bilde, eine allgemeine bzw. sowohl eine individuelle als auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe bzw. zähle zur Allgemeinbildung (vgl. ebd., S. 34). In der Literatur wird zwischen interreligiösem Lernen in einem engeren und in einem weiteren Sinn differenziert. So kennzeichnet Schweitzer das interreligiöse Lernen im engeren Sinne als eine situationsbedingte persönliche Begegnung von Menschen unterschiedlicher Religionen, während das interreligiöse Lernen in einem erweiterten Verständnis sich in der »allgemeine[n] Bildungsaufgabe für alle Kinder und Jugendlichen« ausdrückt, der die Bildungsangebote der christlichen Religionspädagogik in verschiedenen Bildungsfeldern nachkommen (ebd.). Stefan Leimgruber kategorisiert konkret »alle (direkten und indirekten) Wahrnehmungen, die eine Religion und deren Angehörige betreffen, die verarbeitet und in das eigene Bewusstsein aufgenommen werden« (Leimgruber 2007, S. 20), z. B. durch Informationsvermittlung über die Medien, unter dem erweiterten Begriff des interreligiösen Lernens. Im engeren Sinn umfasse das interreligiöse Lernen hingegen die unmittelbare Begegnung der Anhänger verschiedener Religionen durch »Gespräch und Konvivenz« (ebd., S. 21). Diese Form der Begegnung ist hauptsächlich geprägt durch den Dialog der Gesprächspartner*innen, durch den Ausdruck des gegenseitigen Respekts und durch tieferes Verstehen. Die face-to-face-Begegnung beschreibt Leimgruber als den »Königsweg des interreligiösen Lernens« (ebd.). Für Schweitzer impliziert diese Form des interreligiösen Lernens stets eine »dialogische Intention«, die nicht die Demonstration der eigenen Überlegenheit gegenüber dem Anderen beabsichtigt, sondern für eine Begegnung und einen Austausch auf Augenhöhe steht, die von Toleranz, Respekt und Anerkennung zeugen (vgl. Schweitzer 2014, S. 35). Interreligiöses und interkulturelles Lernen erfordert von den Dialogpartner*innen den Willen, die religiösen Systeme, aber auch die Menschen, die in die jeweiligen Systeme und Traditionen eingebunden sind, zu verstehen (vgl. Tautz 2007, S. 66). Dieser hermeneutische Prozess setzt »die Bereitschaft und die Fähigkeit voraus, sich demjenigen gegenüber, der (Person) oder das (Sache) verstanden sein will, zu öffnen und mit ihm in einen Dialog zu treten« (ebd.). Nach Monika Tautz ist hier nicht nur »die Anerkennung des Anderen«, sondern auch die Anerkennung der »Wahrhaftigkeit der individuellen religiösen Überzeugungen als auch [der] Wahrheit der jeweiligen Religion als Glaubenssystem« (ebd., S. 67) gemeint. Mit anderen Worten handelt es sich hierbei nicht nur um die Würdigung des Menschen in seinem religiösen und kulturellen Anderssein, sondern auch um die Würdigung seines Glaubens. Dieser Zugang verlangt von dem/der um Verstehen Bemühten, dass er/sie über seine/ihre subjektiven Vorvorstellungen und Vorentscheidungen kritisch reflektiert, damit, wie es das interreligiöse Lernen intendiert, ein Perspektivenwechsel erzeugt werden kann. Dieser komplexe Anspruch des interreligiösen Lernens setzt eine bestimmte

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(altersgemäße) geistige Entwicklungsstufe bzw. persönliche Reife voraus (vgl. ebd.). Das interreligiöse Lernen sollte sich allerdings nicht ausschließlich auf die Würdigung von Menschen anderer Religionszugehörigkeiten und auf kritische Selbstreflexion beschränken, sondern umgekehrt die Subjekte ebenso dahingehend bestärken, Fragen zu äußern und diese ernst zu nehmen (vgl. Cavis & Neulinger 2017). Denn interreligiöses Lernen bedeutet auch, sich dem »religiös Anderen« auf einer Vertrauensebene zu öffnen. Das Sich-Öffnen impliziert wiederum, sich auf die Begegnung einzulassen sowie sich auch kritischen Fragen der Menschen anderer Religionszugehörigkeiten auszusetzen bzw. diese anzunehmen und gar daran zu wachsen, statt sie sofort kategorisch zurückzuweisen (vgl. ebd.). Diese Annäherung erfordert eine gewisse Reife und die Anerkennung der Verwundbarkeit des Menschen, die sich vor allem im jeweiligen persönlichen Glauben manifestiert, als Teil der conditio humana (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund sollte das interreligiöse und interkulturelle Lernen ebenso darauf abzielen, einen konstruktiven Umgang mit Differenzen zu fördern, einen, der es Dialogpartner*innen erlaubt, diese in einer angemessenen Art und Weise unter Berücksichtigung der Vulnerabilitätsdimension der menschlichen Existenz anzusprechen (vgl. ebd.). Sowohl für die christliche als auch für die gegenwärtige islamische Religionspädagogik steht fest, dass dem interreligiösen (und auch dem interkulturellen Lernen) ein offener und prozessorientierter Lernbegriff zugrunde liegen sollte, der das Subjekt ernst nimmt (vgl. Leimgruber 2007, S. 18; vgl. auch Kraml & Sejdini 2018a, S. 203). Das interreligiöse Lernen sei »ein ganzheitliches Tun, das im Kopf einsetzt, das Beobachtungen und Impulse reflektiert und sich schließlich in korrigierten Handlungsmustern auswirkt« (Leimgruber 2007, S. 18). Ein auf der »Vermittlung« und Rezeption von bloßen Inhalten basierender Lernbegriff wird hingegen als nicht zielführend bzw. oberflächlich abgelehnt. Entscheidend, so Rabeya Müller, sei »ein innerer Entwicklungsprozess aus religiösem Empfinden und dessen Erarbeitung, auch um letztendlich andere Ideologien verstehen und bestimmte Denk- und Handlungsweisen nachempfinden zu können« (Müller 2005, S. 145–146). Martina Kraml und Zekirija Sejdini verstehen das interreligiöse Lernen zum einen als ein religionssensibles Lernen, das sich dem religiös Anderen aus seinem Selbstverständnis heraus respektvoll nähert. Zum anderen sei das interreligiöse Lernen als ein kontingenzsensibles Lernen zu begreifen, das vom Bewusstsein der Kontingenz der eigenen Positionierung geprägt ist. Ferner stelle das interreligiöse Lernen ein multiperspektivisches Lernen dar, das »ein kritisch-kreatives Wechselspiel zwischen inter- und intrareligiösen Perspektiven ermöglicht« (Danzl 2018, S. 46–47).

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2.1

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Ziele des interkulturellen und interreligiösen Lernens im islamischen Religionsunterricht

Die Ziele des interreligiösen und des interkulturellen Lernens im schulischen Kontext sind am konkretesten in den Bildungszielen und im Themenspektrum der aktuellen Lehrpläne des islamischen Religionsunterrichts niedergelegt, die im Folgenden näher dargestellt werden. Als junges Fach – zumindest im deutschen Kontext –, das in den Diskurs um das interreligiöse und interkulturelle Lernen »hineingeboren« wurde, hat der bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht den Vorteil, dass er an den diesbezüglich aktuellsten Zugängen bzw. Perspektiven andocken kann. Diese Tatsache spiegelt sich in den meisten gegenwärtigen Bildungszielen und Lehrplänen für den islamischen Religionsunterricht wider. So bildet das interreligiöse und interkulturelle Lernen eine wichtige Komponente der schulischen religiösen Bildung. Betrachtet man exemplarisch die allgemeinen Bildungsziele des islamischen Religionsunterrichts in Österreich, so zeigt sich, dass neben der Befähigung zur Selbstpositionierung zum eigenen Glauben auch jene zur Anerkennung der und respektvollen Begegnung mit den Positionen von Mitschüler*innen, denen andere religiöse sowie weltanschauliche Überzeugungen zugrunde liegen, zu den wesentlichen Zielen des islamischen Religionsunterrichts zählt. So heißt es konkret: »Die konfessionelle Prägung des Religionsunterrichtes führt zu einer klaren Orientierung der Schülerinnen und Schüler und befähigt sie dazu, einen eigenen Standpunkt einzunehmen und gleichzeitig den Standpunkt von Mitschülerinnen und Mitschülern anderer Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung zu respektieren und zu akzeptieren.« (StF: BGBl. II Nr. 234/2011, S. 2)

Betont wird in den Bildungszielen ebenso, dass die herkunftsbedingten Unterschiede der Schüler*innen als solche akzeptiert und als Bereicherung anerkannt werden. In diesem Sinne soll der islamische Religionsunterricht die Schüler*innen unter anderem auch darin fördern, eine Identität zu entwickeln, die ihnen einerseits »eine verantwortungsbewusste, unvoreingenommene, von Toleranz geprägte und selbstbestimmte Lebensführung in einer pluralistischen Gesellschaft ermöglicht« und andererseits – in bildungspolitischer Hinsicht – »Österreich als Heimat und den Islam als persönliches Glaubensbekenntnis anerkennt« (StF: BGBl. II Nr. 234/2011, S. 2). Erst eine solche vielseitige Identitätsstiftung, die sich vor allem in der »Hinwendung zu Österreich« ausdrückt, ermögliche ein »verantwortungsvolles, konstruktives und sinnvolles Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse und Identitäten« (alle Zitate aus StF:

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BGBl. II Nr. 234/2011, S. 2) in der gelebten Praxis. Dieses Anliegen des islamischen Religionsunterrichts steht im Einklang mit der allgemeinen Zielsetzung des interreligiösen und interkulturellen Lernens, wonach dieses unter anderem zur Selbsterkenntnis im Glauben und zur Entfaltung der eigenen religiösen Identität in der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem religiös und kulturell Anderen beitragen soll (vgl. Graf 2011, S. 68, 70; vgl. auch Schröter 2015, S. 255). Dabei sollen die Gemeinsamkeiten sichtbar gemacht und die Unterschiede zwar angesprochen, jedoch nicht überbetont werden (vgl. Kraml & Sejdini 2018a, S. 204). Rabeya Müller konkretisiert diese Zielsetzung des dialogischen Lernens folgenderweise: »Wesentlich ist, die eigene Identität zu erkennen, eine gemeinsame Grundlage aller Identitäten zu identifizieren und bestehende Differenz zu anderen als gleichberechtigt zu akzeptieren. So kann sich eine weltanschaulich-religiöse Pluralität ohne Dominanzanspruch entwickeln.« (Müller 2005, S. 148)

Die beschriebenen Zielsetzungen und Anforderungen des islamischen Religionsunterrichts lassen sich vor allem in der interdisziplinären Konzeption des Religionsunterrichts realisieren. In diesem Zusammenhang wird in den Allgemeinen Bildungs- und Lehraufgaben des islamischen Religionsunterrichts hervorgehoben, dass bei der Gestaltung und Umsetzung von fächerübergreifenden Unterrichtseinheiten die Religionslehrer*innen jährlich an einem interdisziplinären oder interkonfessionellen bzw. interreligiösen Projekt partizipieren oder ein solches Projekt mit Kolleg*innen anderer Religionen und Konfessionen gemeinsam planen und durchführen. Dabei wird die Zusammenarbeit auf der Grundlage eines interreligiösen Projekts explizit betont (StF: BGBl. II Nr. 234/ 2011, S. 3). Somit bietet der islamische Religionsunterricht über die Realisierung des erweiterten Verständnisses von interreligiösem Lernen auch eine mögliche Grundlage für die Umsetzung des engeren Begriffs des interreligiösen sowie interkulturellen Lernens – die persönliche Begegnung und den Austausch von Schüler*innen unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten in gemeinsamen Projekten. Betrachtet man die Lehrpläne des islamischen Religionsunterrichts in Österreich, so zeigt sich, dass das interreligiöse und interkulturelle Lernen in erster Linie die muslimisch-christlichen Beziehungen in den Blick nimmt und auf den gelassenen Umgang mit Differenzen abzielt bzw. auf Konfliktprävention ausgerichtet ist. In diesem Sinne soll interreligiöse Bildung die Schüler*innen befähigen, bestehende Differenzen nicht nur als Konfliktpotenzial wahrzunehmen, das nur zu gegenseitiger Ablehnung führen kann, und sie – z. B. laut dem Lehrplan für den IRU an Volksschulen – im Hinblick auf Entdeckung, Artikulation und Präsentation von Gemeinsamkeiten fördern (ebd., S. 20–21).

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Anhand der Thematisierung von für Muslim*innen und Christ*innen gleichermaßen spannungsgeladenen Ereignissen aus Geschichte und Gegenwart – z. B. die Kreuzzüge, das Osmanische Reich, Kolonialismus oder die Rede von Papst Benedikt XVI. und die Replik darauf von muslimischen Gelehrten – sollen Schüler*innen unter anderem an berufsbildenden Pflichtschulen einen differenzierten Blick sowie die bessere Einordnung von aktuellen Diskursen erlernen (ebd., S. 59). Eine differenzierte Herangehensweise an und ein historischer Blick auf Themen mit hohem Konfliktpotenzial könnte auch dabei helfen, die bis heute prägenden Nachwirkungen dieser historischen Schlüsselereignisse, die sich in gegenseitigen Vorurteilen, Ängsten und Missverständnissen zeigen, zu überwinden und ein Klima des Vertrauens, ein friedliches Zusammenleben oder gar freundschaftliche Beziehung zu fördern. Im Lehrplan für den IRU an allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) ist zudem vorgesehen, dass die Schüler*innen anhand geeigneter Themen oder Inhalte wie etwa der »Menschenwürde« im interreligiösen Vergleich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede jeweils in Bezug auf die eigene Religion bearbeiten (ebd., S. 92). Bei Durchsicht der aktuellen Lehrpläne in Österreich fällt allerdings auch auf, dass Themen wie die Relevanz des Dialogs mit Angehörigen anderer Religionen und Weltanschauungen im Islam und die theologischen Grundlagen des interreligiösen sowie interkulturellen Dialogs darin nicht ausreichend Raum finden. Die Behandlung dieser Themen wäre aber insofern wichtig, als erreicht werden müsste, dass die muslimischen Kinder und Jugendlichen mit Offenheit und ohne Hemmungen und Angst vor Identitätsverlust etc. in einen lebendigen Dialog mit dem »Anderen« treten und lernen, ihn aus seiner persönlichen Glaubens- und kulturellen Lebenserfahrung heraus zu verstehen, zu respektieren und anzuerkennen. Solche allgemeinen Zielsetzungen, die auf das gegenseitige Verstehen, Respektieren sowie die vertiefte Reflexion über den eigenen Glauben und den Glauben des religiös, weltanschaulich sowie kulturell Anderen abzielen, sollten in den Lehrplänen mehr betont werden. Schließlich sollte das interreligiöse und interkulturelle Lernen im islamischen Religionsunterricht auch vermehrt Räume schaffen, in denen die Schüler*innen verschiedener Glaubensrichtungen und Weltanschauungen zur gemeinsamen Reflexion über existenzielle religiöse bzw. theologische Fragen zusammenkommen und die religionsübergreifende spirituelle Dimension des Glaubens gemeinsam erleben können (vgl. Cavis & Neulinger 2017).

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2.1.1 Möglichkeiten und Grenzen der schulischen Praxis – offene Fragen und Aufgaben für die Zukunft Wie dieser grobe Überblick über Ziele, Aufgaben und Lehrpläne des islamischen Religionsunterrichts in Österreich erkennen lässt, bringt der bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht Offenheit und Bereitschaft für die interreligiöse und interkulturelle Religionsdidaktik mit. Dies bildet eine erste wesentliche Voraussetzung für den Vollzug des interreligiösen und interkulturellen Lernens. Die Partizipation an interreligiösen und interkulturellen Projekten sowie deren gemeinsame Gestaltung im Rahmen des Religionsunterrichts in der Schule – sei es durch religionsübergreifende Veranstaltungen, den Besuch von sakralen Räumen anderer Religionen oder auch die Einladung von Vertreter*innen anderer Religionen in den Unterricht (StF: BGBl. II Nr. 234/2011, S. 13, 92) – eröffnen muslimischen Schüler*innen die Möglichkeit, über den bloßen Bezug von Informationen über die Religion des Anderen hinaus ihren Mitschüler*innen anderer Glaubensrichtungen und Weltanschauungen in lernender Absicht persönlich zu begegnen. Aufgrund des Umstands, dass in Österreich zahlreiche Religionsgemeinschaften gesetzlich anerkannt und damit prinzipiell zur Erteilung eines eigenen bekenntnisorientierten Religionsunterrichts in der Schule berechtigt sind, bietet vor allem der österreichische Kontext ein großes Potenzial für die interreligiöse und interkulturelle Bildung, die sich nicht nur auf das Christentum und den Islam beschränkt. Durch die Involvierung von jüdischen, buddhistischen, hinduistischen und anderen Glaubensrichtungen und christlichen Konfessionen – zumindest in Großstädten – kann die interreligiöse/interkulturelle Bildung in einem größeren Rahmen in lebendiger Beziehung und Erfahrung der Vielfalt in organisierten religiösen Lehr- und Lernprozessen stattfinden. So können Schüler*innen verschiedener Religionszugehörigkeiten auf den konstruktiven Umgang mit der religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Pluralität, die sie über die Schule hinaus in ihrem alltäglichen Leben begleitet, besser vorbereitet werden. Allerdings sollten für eine ganzheitliche Entfaltung und Erfahrung des dialogischen Lernens die Angebote der Schule oder die Einzelinitiativen von Religionslehrer*innen zur Kooperation und Gestaltung von gemeinsamen interreligiösen und interkulturellen Projekten ernst genommen und konsequent umgesetzt werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das dialogische Lernen sich auf die einseitige Informationsvermittlung beschränkt, was dem Anliegen des interreligiösen/interkulturellen Lernens nicht gerecht würde. Es sei hier parenthetisch angemerkt, dass die gemeinsam initiierten Projekte, die gegenwärtig vermehrt durchgeführt werden, nicht auf das gemeinsame Feiern von religiösen

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Festen beschränkt werden sollten, vielmehr sollten die Lehrkräfte auch wagen, existenzielle religiöse Fragen zum Thema des interreligiösen Lernens zu stellen. In diesem Zusammenhang ist mitzubedenken, dass die gelungene Planung und Durchführung von solchen Lernprozessen nicht nur eine gewisse Bereitschaft und Offenheit seitens der Schülerschaft erfordert, sich in den Dialog mit ihren Mitschüler*innen anderer Religionszugehörigkeiten einzulassen; auch Religionslehrer*innen als Leiter*innen und Begleiter*innen von interreligiösen Lehr- und Lernprozessen müssen gewisse interreligiöse Kompetenzen und Haltungen mitbringen, hängt eine gelungene Prozessbegleitung doch wesentlich von ihrem Beitrag ab. Dieser sollte keinesfalls unterschätzt werden. Wie wichtig es für den Erfolg des interreligiösen Lernens ist, dass die Lehrer*innen hinter ihrer (interreligiösen) Arbeit stehen, diese unterstützen und vor jeglicher Anfeindung von außen – etwa seitens rechtpopulistischer oder fundamentalistischer Kreise, welche die interreligiöse Arbeit als Bedrohung für ihre eigene religiöse Identität und die ihrer Kinder sehen – schützen (vgl. Cavis & Juen 2018, S. 101–103; vgl. auch Kraml & Sejdini 2018b, S. 127–128), zeigen auch aktuelle empirische Studien. Dabei belegt eine andere aktuelle empirische Studie über die interreligiöse Zusammenarbeit von angehenden muslimischen und christlichen Religionslehrer*innen im Hochschulkontext, dass die Sorge um Identitätsverlust beim interreligiösen Lernen nicht gerechtfertigt ist. Im Gegenteil löst sich die anfängliche Angst vor Identitätsverlust im Zuge des interreligiösen Arbeits- bzw. Interaktionsprozesses auf und die eigene religiöse Identität wird dadurch sogar bestärkt (vgl. Gilgenreiner 2018, S. 69–71). Entscheidend sind ferner die Motivation der Religionslehrer*innen und ihr persönlicher Wahrheits- bzw. Religionsbegriff; wer behauptet, einen exklusiven Zugang zur Wahrheit zu besitzen und auf der alleinigen Wahrhaftigkeit der eigenen Religion besteht, ist außerstande, das wesentliche Prinzip des interreligiösen Lernens, nämlich »die Anerkennung des religiös Anderen«, entsprechend zu erfüllen. Deshalb kommt der Frage nach dem Wahrheitsbegriff beim interreligiösen Lernen eine vorrangige Stellung zu. Für Martina Kraml und Zekirija Sejdini sind für interreligiöse Bildungsprozesse Haltungen wie die Anerkennung der »eigenen Begrenztheit und auch des eigenen Wahrheitsanspruchs« (Kraml & Sejdini 2015, S. 35) bzw. ein kontingenzsensibler Wahrheitsanspruch (vgl. Sejdini, Kraml & Scharer 2017, S. 118–119) entscheidend. Als unverzichtbar erweisen sich interreligiöse/interkulturelle Kompetenz und Sensibilität ebenso für das Gelingen der Kommunikation und Interaktion zwischen den Religionslehrer*innen unterschiedlicher Religions- und Konfessionszugehörigkeiten. In der schulischen Praxis kommt es mitunter vor, dass eine interreligiöse Feier gänzlich von der christlichen Lehrerschaft organisiert wird und die Religionslehrer*innen anderer Glaubensrichtungen lediglich eingeladen sind, einen Part im Programm zu übernehmen. Ein Dialog auf Augenhöhe aber

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setzt die interreligiöse Zusammenarbeit unter den Religionslehrer*innen unterschiedlicher Religionen auf allen Ebenen – von der Planung bis hin zu Durchführung und Evaluierung – voraus (vgl. dazu auch Tautz 2007, S. 78). Folglich hinterlässt ein einseitiges bzw. überwiegendes Engagement von Religionslehrer*innen einer bestimmten Glaubensrichtung bei den Religionslehrer*innen anderer Glaubensgemeinschaften das Gefühl, von ihren Kolleg*innen bevormundet zu werden. Um solche Missverständnisse zu vermeiden, bedarf es einer bestimmten Haltung. Martina Kraml und Zekirija Sejdini heben unter anderem drei wesentliche Haltungen hervor, die in der interreligiösen Lehre und Bildung für die gemeinsame Verständigung notwendig wären, diese sind: Vernetzung von religiöser Innen- und Außenperspektive, Mehrperspektivität, Einbeziehung von Perspektiven aller am Prozess Beteiligten, »Offenheit und Groundedness« (vgl. Kraml & Sejdini 2015, S. 34–35). Eine aktuelle Aufgabe der islamischen Religionspädagogik besteht somit darin – und das gilt auch für die Nachbardisziplinen –, dafür zu sorgen, dass die (Religions-)Lehrer*innen bereits im Zuge der Ausbildung interreligiöse Kompetenzen im Umgang mit religiöser und kultureller Pluralität erwerben (vgl. Cavis & Juen 2018, S. 112). Für bereits im Beruf stehende Lehrer*innen könnten Fort- und Weiterbildungsprogramme angeboten werden. Nimmt man nun die Praxis der interreligiösen und interkulturellen Religionsdidaktik in den Fokus, so werden weitere Problemfelder sichtbar. Wie Harry Harun Behr bereits mit Blick auf den deutschen Kontext anmerkt, harren die theoretischen Grundlagen, auf denen eine interreligiöse sowie interkulturelle Religionsdidaktik betrieben werden kann, noch immer der Bearbeitung (vgl. Behr 2017, S. 78). Zudem fehlen nach wie vor gemeinsam entwickelte didaktische Unterrichtskonzepte, welche regeln, wie ein optimales interreligiöses und interkulturelles Lernen im engeren Sinne im Rahmen des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts konzipiert, veranstaltet und evaluiert werden kann. Für die Gestaltung und Durchführung von gelungenen interreligiösen Lehr- und Lernprozessen ist es ebenso von Bedeutung, dass die Religionslehrer*innen über konkrete methodische Instrumente sowie subjektorientierte didaktische Konzepte, aber auch theologisch fundierte Arbeitsmaterialien verfügen, die altersbzw. schulstufengerecht und idealerweise von Religionspädagog*innen verschiedener Glaubensrichtungen gemeinsam entwickelt wurden (vgl. Tautz 2007, S. 79). Auch hier zeigt sich eine weitere künftige Aufgabe der (islamischen) Religionspädagogik. Ein großes Forschungsdesiderat bilden solche umfassenden systematischen und empirischen Untersuchungen über die Voraussetzungen, Gelingensbedingungen, Möglichkeiten sowie Grenzen des interreligiösen und interkulturellen Lehrens und Lernens im konkreten islamischen Religionsunterricht. Überhaupt liegen uns über den aktuellen Ist-Zustand der interreligiösen und interkultu-

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rellen Religionsdidaktik im Kontext des islamischen Religionsunterrichts kaum empirische Studien vor. Die Klärung dieser und weiterer Fragen ist eine unabdingbare Voraussetzung für die (Weiter-)Etablierung sowie die Optimierung einer zukunftsfähigen interreligiösen und interkulturellen Religionsdidaktik.

3.

Islamisch-theologische Grundlagen

Die islamisch-theologische Reflexion des interreligiösen und interkulturellen Lernens in der religionspädagogischen Auseinandersetzung basiert im Wesentlichen auf Aspekten, die auch in Bezug auf die Legitimierung des interreligiösen Dialogs als Argumente hervortreten. Dabei stellt der Koran – als die zentrale Schrift des Islams – eine wesentliche Referenzquelle dar. Ein Kernargument bildet darin die islamische Perspektive auf den Menschen in der Gegenwart Gottes. Als ein Wesen, dem von Gott, seinem Schöpfer, Würde verliehen wurde (vgl. Müller 2005, S. 147; vgl. auch Khorchide 2014, S. 2173; Koran 17:70) und dem Gott im Schöpfungsprozess seinen Geist eingehaucht hat (Koran 15:28–29), trägt der Mensch »etwas Heiliges in sich« (Khorchide 2014, S. 2173). Er ist seiner Natur nach ein von Gott mit Vernunft und freiem Willen ausgestattetes Wesen, das Erkenntnisfähigkeit sowie die Freiheit, selbstverantwortlich zu denken, zu entscheiden und zu handeln, besitzt (vgl. Müller 2005, S. 147). All diese Eigenschaften verpflichten ihn unter anderem dazu, »seinen Mitmenschen mit Güte und Gerechtigkeit [zu] begegnen« (Khorchide 2014, S. 2176; Koran 60:8). Sowohl die beschriebenen Merkmale als auch Würde kommen allen Menschen zu – unabhängig von ihrer jeweiligen persönlichen Überzeugung und Weltanschauung. Nach diesem Menschenbild werden die Dialogpartner*innen ontologisch als würdevolle und gleichberechtigte Subjekte ernst genommen, wie es auch dem Grundanliegen des interreligiösen Lernens entspricht (vgl. Tautz 2007, S. 61). Eine wichtige Grundlage für die respektvolle Begegnung und Anerkennung anderer Glaubensrichtungen sowie Weltanschauungen bildet ferner die genuine – religiöse wie kulturelle – Pluralitätsfähigkeit des Islams und somit die Kennzeichnung der Pluralität als Wille Gottes (vgl. Aslan 2016, S. 44–45). In diesem Zusammenhang wird oft auf die Sure 5, Vers 48 im Koran verwiesen (vgl. Müller 2005, S. 142; vgl. auch Schröter 2015, S. 252–253): »Und wir haben (schließlich) die Schrift [d. h. den Koran] mit der Wahrheit zu dir herabgesandt, damit sie bestätige, was von der Schrift vor ihr da war, und darüber Gewissheit gebe. Entscheide nun zwischen ihnen [d. h. den Juden und Christen?] nach dem, was Gott (dir) herabgesandt hat, und folge nicht (in Abwechslung) von dem, was von der Wahrheit zu dir gekommen ist, ihren (persönlichen) Neigungen! – Für jeden von euch (die ihr verschiedenen Bekenntnissen angehört) haben wir ein (eigenes)

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Brauchtum (?) und einen (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er (teilte euch in verschiedenen Gemeinschaften auf und) wollte euch (so) in dem, was er euch [d. h. jeder Gruppe von euch] (von der Offenbarung) gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten Dingen! Zu Gott werdet ihr (dereinst) allesamt zurückkehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, worüber ihr (im Diesseits) uneins wart.« (Koran 5:48)

Insofern, als sich der Koran – wie diesem Vers zu entnehmen – als Bestätigung der vorausgehenden Offenbarungsschriften versteht, impliziert er bzw. die Schöpferkraft hinter der Schrift eine – in den Worten von Rabeya Müller »prinzipiell interreligiöse Einstellung« (Müller 2005, S. 142), die eine exklusivistische Haltung gegenüber den anderen Religionen ausschließt (vgl. ebd.). Auch Mouhanad Khorchide betont, dass der Koran – trotz der ambivalenten Darstellung der »religiös Anderen« im Offenbarungsmilieu auf der Arabischen Halbinsel des siebenten Jahrhunderts, die sich in der Nähe und Distanz ihnen gegenüber ausdrückt (vgl. dazu z. B. Koran 3:113–115, 3:70–71) – von einer exklusivistischen Haltung absieht (vgl. Khorchide 2014, S. 2161, 2167). Die Diversität der koranischen Aussagen insbesondere zu den Angehörigen von Judentum und Christentum (ahl al-kita¯b) begründe sich durch die zur Offenbarungszeit in Mekka und Medina stattfindenden unterschiedlichen sozio-politischen Entwicklungsprozesse, die eng mit den Erfahrungen der ersten muslimischen Gemeinde verwoben gewesen seien (vgl. ebd., S. 2165). Bezüglich der einschlägigen Kategorisierung des Verhältnisses der Religionen zueinander als pluralistisch, inklusivistisch sowie exklusivistisch, wie sie die Religionstheologie vornimmt, hält Khorchide fest, dass die koranische Perspektive auf den religiös Anderen sich dezidiert auf der Ebene des Pluralismus (vgl. z. B. Koran 109, 5:48), des Inklusivismus (5:69), aber auch einer dialogischen Annäherung bewege (vgl. Khorchide 2014, S. 2166); definitive Beweise für eine exklusivistische Haltung im Koran gebe es hingegen nicht (vgl. ebd., S. 2167). Diese von vielen zeitgenössischen Denker*innen, z. B. von Fazlur Rahman und Mahmoud Ayoub, vertretene Ansicht stellt eine Revision der klassisch-theologischen Positionierungen in der islamischen Tradition, welche die anderen Religionen ausklammern, dar (vgl. ebd., S. 2175; zu den restriktiven Entstellungsvorwürfen vgl. auch Aslan 2016, S. 50 und Takim 2007, S. 238). Tatsächlich gestattet der Koran bzw. der Prophet den paganen arabischen Stämmen in Mekka, ihre Gottheiten weiterhin zu verehren, während er sich seinem eigenen Glauben zuwendet; das Angebot der mekkanischen Gemeinde, abwechselnd ein Jahr den Gott Muhammads und ein Jahr ihre eigenen Gottheiten anzubeten, lehnt er ab: ˙ »Und ich verehre nicht, was ihr (bisher immer) verehrt habt, und ihr verehrt nicht, was ich verehre. Ihr habt eure Religion, und ich die meine« (Koran 109:4– 6).

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So, wie diese Darstellung in Sure 109 von einer pluralistischen Haltung zeugt, kann Vers 69 der Sure 5 als Exempel für die inklusivistische Ausrichtung des Korans gelten (vgl. Khorchide 2014, S. 2167). Dieser verspricht Heil allen im historischen Offenbarungsmilieu bekannten Religionen und Weltanschauungen, die auf dem Glauben an Gott und den Jüngsten Tag beruhen (vgl. ebd.). Die dialogische Positionierung des Korans drückt sich Khorchide zufolge in der Anerkennung des religiös Anderen sowie der Zuwendung zu diesem aus, um ihn aus seinem Selbstverständnis heraus zu verstehen und zu würdigen. Sie impliziere auch das Angebot, voneinander zu lernen (vgl. ebd., S. 2169, 2167). Diese Annäherung wird vor allem in Sure 3, Vers 64 sichtbar: »Sag: Ihr Leute der Schrift! Kommt her zu einem Wort des Ausgleichs (?) zwischen uns und euch! (Einigen wir uns darauf) daß wir Gott allein dienen und ihm nichts (als Teilhaber an seiner Göttlichkeit) beigesellen[…].« Die bereits zitierte Sure 5, Vers 48 liefert nach Jörg Imran Schröter einen eindeutigen Hinweis darauf, dass die (religiöse sowie kulturelle) Pluralität dem Willen Gottes entspricht und dem Islam somit eine genuine Pluralismusfähigkeit innewohnt (vgl. Schröter 2015, S. 253). Der Vers wirft auch ein Licht auf die Wahrheitsfrage. So kommentiert Schröter den koranischen Vers dahingehend, dass sich »die Wahrheitsfrage für die Muslime auf Gott und die Zeit seines Gerichts verschieben« lässt. Demnach gilt der Islam als einer von vielen Wegen, die zu Gott führen (vgl. z. B. auch Koran 16:120–121, 5:69), was eben von Pluralismustoleranz zeuge (vgl. Schröter 2015, S. 253; vgl. auch Müller 2005, S. 142). Die Anerkennung der unterschiedlichen Wege zu Gott stellt für Mouhanad Khorchide keine Relativierung des islamischen Wahrheitsanspruchs dar, da die Anerkennung der (religiösen und kulturellen) Pluralität einen »Teil des islamischen Wahrheitsanspruchs selbst« (Khorchide S. 2169, 2182) bilde. Diese Ausführungen zeigen insgesamt, dass interreligiöses sowie interkulturelles Lernen in der islamischen Tradition nicht nur theologisch begründet ist, sondern sogar als Pflicht bzw. Forderung formuliert wird, was besonders klar in folgender Stelle zum Ausdruck kommt: »Ihr Menschen! Wir haben euch geschaffen (indem wir euch) von einem männlichen und einem weiblichen Wesen (abstammen ließen), und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr euch (auf Grund der genealogischen Verhältnisse) untereinander kennt. (Bildet euch aber auf eure vornehme Abstammung nicht zu viel ein!) Als der Vornehmste gilt bei Gott derjenige von euch, der am frömmsten ist. Gott weiß Bescheid und ist (über alles) wohl unterrichtet.« (Koran 49:13)

Daher gilt es, das interreligiöse sowie interkulturelle Lernen in sämtlichen religionspädagogisch-didaktischen Bildungsfeldern, vor allem aber im bekenntnisorientierten Religionsunterricht, zu fördern (vgl. Schröter 2015, S. 253).

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4.

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Fazit

Interreligiöse und interkulturelle Sensibilität bzw. Kompetenz ist in einer Welt, die immer mehr zusammenwächst, eine wesentliche Voraussetzung für eine gelungene Interaktion von Menschen unterschiedlicher religiöser, kultureller und weltanschaulicher Prägung sowie für eine friedliche Koexistenz. Dabei verfügt das interreligiöse und interkulturelle Lernen im schulischen Religionsunterricht über großes Potenzial, wenn es darum geht, Kinder und Heranwachsende mit dem Umgang mit Vielfalt – sowohl hinsichtlich der Möglichkeiten als auch der Herausforderungen, die diese birgt – vertraut zu machen. Durch die Heranführung an die wesentlichen Ziele – wie zum Beispiel die Selbstpositionierung zum eigenen Glauben und zu den Überzeugungen des religiös und weltanschaulich Anderen, die Selbstfindung und -entfaltung in der Pluralität sowie die respektvolle Begegnung und die Dialogfähigkeit auf Augenhöhe –, aber auch durch das Erlernen eines angemessenen Umgangs mit den Differenzen sollen die Schüler*innen in interreligiösen und interkulturellen Lehr- und Lernprozessen im schulischen (christlichen sowie islamischen) Religionsunterricht auf das gesellschaftliche Leben vorbereitet werden. Allerdings bedarf es für eine ganzheitliche Umsetzung dieser und anderer wesentlicher Ziele religionsübergreifend bzw. gemeinsam entwickelter, pädagogisch sowie jeweils religionspädagogisch-didaktisch fundierter und theologisch tragbarer interreligiöser Lehr- und Lernkonzepte sowie Lernmaterialien, die sich in der Praxis bewähren. Dies zu bewerkstelligen, ist die künftige Aufgabe der Religionspädagogiken – die angesichts des dringenden gemeinsamen Handlungsbedarfs zugleich eine gewaltige Herausforderung darstellt.

Literaturverzeichnis Aslan, E. (2016). Pluralität als Wille Gottes. In Z. Sejdini (Hrsg.), Islamische Theologie und Religionspädagogik in Bewegung. Neue Ansätze in Europa (S. 33–50). Bielefeld: transcript. Behr, H. H. (2017). Interreligiosität als Kompetenzbereich des Islamischen Religionsunterrichts. HIKMA, 8 (1), (S. 64–82). Bekanntmachung der Bundesministerin für Unterricht, Kunst und Kultur betreffend die Lehrpläne für den islamischen Religionsunterricht an Pflichtschulen, mittleren und höheren Schulen. StF: BGBl. II Nr. 234/2011. Cavis, F., & Juen, M. (2018). »Zum Glück hatten wir ein säkulares Thema«. Einblicke in die Erfahrungen von muslimischen und katholischen Studierenden im schulischen Teil des Basispraktikums. In M. Kraml & Z. Sejdini (Hrsg.), Interreligiöse Bildungsprozesse.

Interreligiöses und interkulturelles Lernen im islamischen Religionsunterricht

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Jörg Imran Schröter

Überlegungen zu einer islamischen Religionstheologie als Grundlage für das interreligiöse Lernen

Zusammenfassung Dieser Beitrag möchte Grundlagen zu einer islamischen »Theologie der Religionen« schaffen, um davon ausgehend im dezidiert pädagogischen Kontext des vorliegenden Handbuchs die Möglichkeiten für interreligiöses Lernen aus islamischer Perspektive zu bestimmen. Dazu wird – anhand des Gabriel-Hadiths – ein möglichst breites Verständnis der Religion des Islams entworfen und auf dieser Grundlage das Verhältnis zu anderen Religionen, insbesondere den monotheistischen Religionen abrahamischer Tradition, bestimmt. Konkret ergibt sich die Frage nach dem exklusivistischen oder inklusivistischen Charakter koranischer Aussagen, wobei auch der Möglichkeit eines pluralistischen Islamverständnisses nachgegangen werden soll. Alternativ zu einer pluralen Islamtheologie wird eine »religiöse Weltbürgerlichkeit« vorgeschlagen, die im pädagogisch-didaktischen Modell des »interreligiösen Begegnungslernens« eingeübt werden kann. Das Ziel ist dabei, sich unter vollständiger Beibehaltung eines eigenen Standpunkts und einer jeweiligen Hermeneutik, aber dennoch frei von Chauvinismus sowie Berührungs- und Verlustängsten auf Glaubensvorstellungen Anderer einzulassen, um angesichts gemeinsamer globaler Herausforderungen voneinander lernen zu können.

1.

Einleitung

In unserer Zeit gewinnt die Religion des Islams besonders in Deutschland und Österreich zunehmend institutionellen Charakter und ist dabei, ihren Platz unter anderen Religionsgemeinschaften in diesen offenen, pluralen Gesellschaften einzunehmen. Beinahe durchgängig im Fokus der Öffentlichkeit stehend, sehen sich die neuen Institutionen und deren Akteure der Anforderung von außen gegenüber, sich interreligiösen Projekten und Kooperationen anzuschließen sowie sich mit Forschung und Lehre offen in die gesellschaftspolitischen und

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religiösen Debatten einzubringen. Dabei sind die Lehrstuhlinhaber*innen, Dozent*innen, Lehrer*innen und Akteur*innen in ihren Tätigkeitsbereichen auch von innen durchwegs offen und plural eingestellt und engagieren sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch in interreligiösen Zusammenhängen. Vielerorts entstehen sogar institutionelle Zusammenschlüsse insbesondere jüdischer, christlicher und islamischer Theologie. Im Gegenzug darf auch von der Gesamtgesellschaft die Bereitschaft erwartet werden, in eine plurale interreligiöse Auseinandersetzung einzutreten und einen offenen Dialog der Religionen in positiver Weise zu entwickeln und zu fördern. Tatsächlich hat beides bereits Gestalt angenommen – mit dem Angebot islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen und islamisch-theologischer Studien an staatlichen Hochschulen, wobei sowohl die für diese Hochschulen konzipierten Fachpapiere für islamische Theologie als auch die Bildungspläne und Curricula für islamischen Religionsunterricht eine tolerante Haltung nicht nur in der Unterweisung in der eigenen Religion, sondern auch in der Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Weltanschauungen vorsehen.1 Allerdings sollte im Unterricht in der eigenen Religion die Beschäftigung mit anderen Religionen und Weltanschauungen nicht allein der hier und heute vorfindlichen Pluralität der Glaubensvorstellungen geschuldet sein und daher – gleichsam als Zugeständnis an eine nun einmal vorfindliche, vielleicht sogar als misslich empfundene Lage – bloß »ertragen« (toleriert) werden, weil man in dieser selbst Toleranz erfahren möchte. Vielmehr bedarf es einer innerislamischen Begründung, die über die reine Zweckmäßigkeit eines Arrangements mit den gegebenen Umständen hinausgeht, also einer theologischen Positionierung im Geiste der eigenen Religion und im Blick auf andere, sowie einer religionspädagogischen Argumentation für die lernende Auseinandersetzung mit anderen Religionen. Daher stellt sich die Frage, auf welcher islamisch-theologischen Grundlage aufseiten der beteiligten Muslim*innen interreligiöse Kollaborationen, interreligiöser Dialog und interreligiöses Lernen stattfinden können. Wie verhält sich denn die Religion des Islams zu anderen Religionen? Was sagt der Koran als die primäre Quelle der islamischen Theologie zu Wahrheitsanspruch und Heil in der 1 Exemplarisch in den Bildungsplänen für islamischen Religionsunterricht sunnitischer Prägung in Baden-Württemberg ist »Religionen und Weltanschauungen« in allen Klassenstufen jeweils einer von sechs Standards für die inhaltsbezogenen Kompetenzen (http://www.bil dungsplaene-bw.de/,Lde/LS/BP2016BW/ALLG/SEK1/RISL) oder als Beispiel in der Hochschullehre das Modul »Islam and Religious Pluralism – Muslim Perceptions of the Religious Other« im Modulhandbuch für den Master of Education im Hauptfach »Islamische Religionslehre« (https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/zentrum-fuer-islamische-theologie/studiu m/studienangelegenheiten/pruefungsverwaltung-pruefungsfachberatung/uebersicht-der-er forderlichen-pruefungen/pruefung-ma-itek-alt/).

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eigenen Religion und mit Blick auf andere? Kann der viel bemühte Bezug von Judentum, Christentum und Islam auf eine gemeinsame abrahamische Tradition Wirkmacht entfalten? Es bedarf also einer islamischen Religionstheologie als tragfähige Grundlage, auf der interreligiöses Lernen stattfinden und weiterentwickelt werden kann.

2.

Mögliche Positionierungen von Religionen zueinander

Zuerst einmal ist festzuhalten, dass die Religion des Islams einen absoluten Anspruch auf Wahrheit und Heil erhebt. Das eint sie mit anderen Religionen – keine Religion wird von sich behaupten, dass sie eigentlich nicht wahr oder nur bedingt wahr sei und nicht oder nur bedingt zum Heil führe. In der religionswissenschaftlichen Diskussion um das Verhältnis der Religionen zueinander und mit Blick auf die miteinander konkurrierenden Wahrheitsansprüche und jeweiligen Heilsaussichten wurden Ende des 20. Jahrhunderts drei zentrale Begriffe geprägt (Schmidt-Leukel 1997, S. 65–97): 1. Exklusivismus, 2. Inklusivismus, 3. Pluralismus. Vereinfacht gesagt stehen diese Begriffe für drei logisch mögliche Positionen, die eine Religion, die für sich die Wahrheit und damit auch das Heil beansprucht, zu anderen Religionen mit demselben Anspruch einnehmen kann: 1. Wahrheit und Heil gibt es (exklusiv) nur in der eigenen Religion. 2. Wahrheit und Heil gibt es zumindest partiell (inklusiv) auch in anderen Religionen, allerdings nicht in der Vollkommenheit und Gänze wie in der eigenen Religion. 3. Wahrheit und Heil gibt es gleichermaßen vollkommen (plural) in allen Religionen. Zumindest in spezifischen Hinsichten können auch mehrere Positionen gleichzeitig vertreten werden (Wrogemann 2015, S. 29), was aber meines Erachtens die genannte Einteilung nur ergänzt, keinesfalls hinfällig macht. Eine logisch mögliche vierte Position wäre, dass Wahrheit und Heil prinzipiell unzugänglich und daher weder von einer bestimmten Religion noch von den Religionen insgesamt zu erwarten sind. Doch diese Position zur Religion kann wohl nur aus der Außenperspektive vertreten werden. Gleichwohl dürfte neben der Frage, wie sich Religionen zueinander positionieren, auch interessant sein, wie sie zu einer agnostischen bzw. atheistischen Haltung stehen.

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Hinsichtlich der Religion des Islams wäre hierzu insbesondere das Spannungsverhältnis von Glaube (ı¯ma¯n) und Unglaube (kufr) zu untersuchen, in Abgrenzung zum Spannungsverhältnis von »wahrem« Glauben (haqq, wörtl. ˙ »Wahrheit«) und »falschem« Glauben (ba¯til, wörtl. »Nichtiges«). ˙ Nun sind diese Begriffe und die eigentlich dahinterliegenden Konzeptionen sehr vielschichtig und gehen weit über die genannten Dichotomien hinaus, auch wenn sich im Koran immer wieder Begriffe finden, die als Gegensatzpaare unterscheidend gegenübergestellt werden – wie überhaupt die Unterscheidung (alfurqa¯n) das Selbstverständnis dieser Offenbarungsschrift ausmacht und auch – neben al-Qur’a¯n, der Lesung, und al-huda¯, der Rechtleitung – als Synonym für sie verwendet wird. Dabei unterscheidet der Koran zwischen Gott als dem Schöpfer (al-ha¯liq) und dem Menschen als Geschöpf (al-halq) und lässt keine ˘ ˘ Vermischungen oder andere Sichtweisen zu. Gott bleibt Gott, Mensch bleibt Mensch (Schuon 1988, S. 5). Ebenso unterscheidet der Koran Wahrheit von Nichtigem (Uhde 2011, S. 5), und er gibt diesen Dichotomien in Sprachbildern – nicht als Kategorien, sondern als Zeichen in dieser Welt – Anschauung und Ausdruck: Sonne und Mond, Tag und Nacht, Himmel und Erde (Koran 91:1–10) und unzählige mehr. Es ist dies eine Sicht, die durchaus Parallelen zum chinesischen Verständnis von Ying und Yang aufweist, wie von Murata in The Tao of Islam (1992) eindrucksvoll dargelegt. Dem widerspricht nicht, dass sich bei eingehender Untersuchung der gegenständlichen Thematik von Glaube und Unglaube bzw. »wahrem« und »falschem« Glauben auch manche Zwischentöne ausmachen lassen. In der Tat wird im Koran gerade nicht etwa zwischen »Muslim*innen« als »wahren Gläubigen« und »Nichtmuslim*innen« als »Ungläubigen« unterschieden, auch wenn dies bedauerlicherweise zuweilen aus der sogenannten »islamischen Welt« so tönt. Bevor aber vertiefend auf diesen Punkt zurückgekommen und dabei gleichzeitig die Frage beantwortet wird, ob bzw. inwiefern für den Islam eine exklusivistische, inklusivistische oder pluralistische Religionstheologie entworfen werden kann, soll vorweg in kurzen Zügen der Islam in seinem Selbstverständnis dargestellt und dabei erläutert werden, wie »der Islam« hier definiert wird, um überhaupt verallgemeinernd von ihm sprechen zu können.

2.1

Dı¯n al-isla¯m

Wann immer allgemein von »dem Islam« gesprochen wird, ist zu fragen, von welchem Islam überhaupt die Rede ist, da es einen monolithischen Islam bekanntlich nicht gibt. Trotzdem wird man – gerade im interreligiösen Dialog – nicht umhinkönnen, von »dem Islam« zu sprechen, wenn nicht alles ins Spezielle oder gar Individuelle abgleiten soll.

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Als Grundlage für ein breites und dennoch präzise gefasstes Verständnis ˇ ibrı¯l) dienen (Sah¯ıh Mussoll hier der sogenannte »Gabriel-Hadith« (hadı¯t G ˙ ¯ ˙ ˙ ˙ ¯ lim, Kita¯b al-Ima¯n Nr. 1; dt. u. a. in Schöllers Übersetzung von al-Nawawı¯ 2007, S. 31f.). Diesem lassen sich drei Ebenen der Religion des Islams (dı¯n al-isla¯m) entnehmen: 1. isla¯m: die bekannten »fünf Säulen des Islams« (arka¯n al-isla¯m): Bezeugung, dass es keine Gottheit außer dem einen Gott gibt und dass Muhammad dessen Gesandter ist (sˇaha¯da), Pflichtgebet (sala¯t), Armensteuer ˙ ˙ (zaka¯t), Fasten im Ramadan (saum) und Wallfahrt (hagˇgˇ, der Hadsch); ˙ ˙ 2. ¯ıma¯n: die »sechs Glaubensartikel« (arka¯n al-ı¯ma¯n), die das eigentliche Glaubensbekenntnis im Sinne eines »Credo« ausmachen: der Glaube an Gott, seine Engel, seine Offenbarungsschriften, seine Propheten, die Auferstehung nach dem Tode und Gottes Vorhersehung im Guten wie im Schlechten; 3. ihsa¯n: die eine Maxime des islamischen Glaubens, die als »vollkommene ˙ Güte« (al-ihsa¯n; auch übersetzt als »Wohltun«, »Verrichtung guter Werke« ˙ [Wehr 1985, S. 161b]) bezeichnet wird: »Gott so zu dienen, als ob man ihn sähe, da selbst, wenn wir ihn nicht sehen, er doch uns sieht«.

Im genannten Hadith folgt noch die Frage nach der »Stunde«, also dem Ende der Welt, die allerdings nicht eindeutig beantwortet wird; es werden – recht orakelhaft – lediglich die Anzeichen genannt, die ihr Nahen verkünden, was in der islamischen Eschatologie bis heute andauernde Spekulationen ausgelöst hat. Zu den drei Ebenen, also isla¯m – ¯ıma¯n – ihsa¯n, wurden in der islamischen ˙ Geistesgeschichte jeweils eigene theologische Wissenschaften entwickelt: Die Wissenschaft der Glaubenspraxis (hinsichtlich der arka¯n al-isla¯m) ist fiqh, also die Normenlehre, die in verschiedenen Rechtsschulen (mada¯hib, Sg. mad¯ ¯ hab) abgehandelt wird. Die Wissenschaft der Glaubenslehre (hinsichtlich der arka¯n al-ı¯ma¯n) ist ʿaqı¯da, entsprechend einer Dogmatik, die in verschiedenen Denkschulen auch spekulativ als systematische Theologie (ʿilm al-kala¯m) entworfen wird. Die Wissenschaft der Glaubenshaltung (al-ihsa¯n) ist tasawwuf, die lebendige ˙ Schulung hinsichtlich des religiösen Wegs, seiner Zustände und Stationen, wie sie in spirituellen Bünden (turuq, Sg. tarı¯qa) organisiert ist. ˙ ˙ In jeder dieser Wissenschaften gibt es Schulrichtungen, die innerhalb der islamischen Konfessionen als kanonisch gelten – und so etwa den Konsens der ahl as-sunna wa l-gˇama¯ʿa (Sunniten) ausmachen –, aber auch außerhalb eines anerkannten Kanons liegen können.

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Sieht man nun für unseren Zweck von innerislamischen Schulrichtungen einmal ab, lässt sich auf Grundlage des »Gabriel-Hadiths« gut darlegen, was im Folgenden als »der Islam« verstanden werden soll. Daran lässt sich dann auch festmachen und kontrastieren, wie sich die so gefasste Religion des Islams zu anderen Religionen verhält und verortet. 2.1.1 Interreligiöse Verhältnisbestimmungen hinsichtlich der arka¯n al-isla¯m In der Religionssoziologie gelten die »fünf Dimensionen von Religiosität« oder besser »religiöser Bindung« (religious commitment) von Glock (1962) bis heute als Standard für die Auseinandersetzung mit Religion. Auf diese Dimensionen lassen sich für einen interreligiösen Vergleich auch die »fünf Säulen des Islams« beziehen: Das Bezeugnis (sˇaha¯da) gehört als zentrales Dogma der ideologischen Dimension an, das Gebet (sala¯t) als rituelles Pflichtgebet der ritualistischen ˙ Dimension des Glaubensvollzugs, während die Armensteuer (zaka¯t) als ethische Konsequenz aus dem Glauben der ethischen Dimension zuzuordnen ist. Die beiden übrigen Glock’schen Dimensionen – die erlebnismäßige bzw. sinnästhetische sowie die intellektuelle Dimension – sind im Grunde Querschnittsdimensionen, da das sinnliche Erleben einer religiösen Erfahrung und die geistige Reflexion (und damit auch die Theologie) sowohl die ideologische also auch die ritualistische oder auch die ethische Dimension betreffen kann. Dennoch könnte in der Zuordnung der »fünf Säulen« zu den Glock’schen Dimensionen das Fasten im Monat Ramadan (saum) seinen Platz vorrangig in der ˙ erlebnismäßigen Dimension finden, da schließlich durch den Verzicht auf Nahrungsaufnahme eine handfeste Erfahrung als eine religiöse gemacht wird, wie das auch in vielen anderen Religionen auf die eine oder andere Art praktiziert und entsprechend erlebt wird. Die Wallfahrt (der Hadsch) ist in erster Linie eine Reise, was wiederum Vergleiche mit der auch in anderen Religionen durchgängig vorfindlichen Thematik des Weges und der Reise ermöglicht (Schimmel 1994), doch gehört insbesondere der Hadsch der intellektuellen Dimension an, da der/ die Gläubige sich hier implizit nicht nur mit den Glaubensgrundsätzen, sondern auch mit den Hintergründen der Entstehungsgeschichte und der Frühzeit des Islams geistig auseinanderzusetzen hat. Hadsch ist im Islam so gesehen nicht nur Wallfahrt, sondern auch Bildungsreise. Durch die Zuordnung zu allgemeinen Dimensionen von Religiosität lassen sich also Vergleiche mit anderen Religionen ziehen und Ähnlichkeiten feststellen. Damit erweist sich der Islam nicht als etwas ganz anderes, sondern als etwas, dem viele analoge Phänomene des Religiösen innewohnen, die in der interreligiösen Auseinandersetzung auch als Einigendes angeführt werden und auf deren Grundlage dann ein Dialog und gemeinsames Lernen stattfinden können – nicht zuletzt auch deshalb, weil sich hier ebenso gemeinsame Herausforderungen der

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verschiedenen Dimensionen religiöser Bindung in der heutigen Zeit auftun. So lassen sich beispielsweise Fragen religiösen Wissens und seiner Tradierung, damit Fragen religiöser Bildung, interreligiös stellen und vielleicht auch gemeinsam beantworten. 2.1.2 Interreligiöse Verhältnisbestimmungen hinsichtlich der arka¯n al-ı¯ma¯n Bei der Betrachtung der »sechs Glaubensartikel« zeigt sich eine starke Nähe, wenn nicht gar eine Verwandtschaft zu den sogenannten »monotheistischen Religionen abrahamischer Prägung«, dem Judentum und dem Christentum. Als ganz anders erscheint demgegenüber die Glaubenswelt asiatischer Religionen, die denn auch gesondert betrachtet werden muss. Für den Vergleich mit dem Judentum und dem Christentum darf aber Folgendes festgehalten werden: Was die drei Religionen eint, ist der Glaube an einen Gott – überhaupt an einen Gott und im engeren Sinne an den »einen Gott«; der Glaube an Engel als himmlische Dienerwesen Gottes und an Offenbarungen dieses einen Gottes, die er durch seine Propheten den Menschen zukommen lässt. Es eint die drei Religionen prinzipiell auch der Glaube an ein Jenseits und die Auferstehung der Toten und das damit verbundene Gericht als jenseitigen Gerechtigkeitsausgleich mit Lohn oder Strafe – bei allen jeweils spezifischen und auch binnenreligiös differierenden Auffassungen davon. Allein am sechsten islamischen Glaubensartikel scheiden sich die Geister – das allerdings auch innerhalb des Islams, weil nicht ganz klar ist, worauf die Aussage, dass die Bestimmung (qadr) des Guten wie auch des Übels von Gott allein komme, sich bezieht; schließlich würde demnach Gott wohl auch Übles bestimmen. Dies führte in der islamischen Theologie zu weitreichenden Diskussionen über die Herkunft des Übels in der Welt und damit über die Theodizeefrage ebenso wie über die Frage der Vorherbestimmung und der Willensfreiheit des Menschen. Gerade hierzu lassen sich aber wiederum vielfältige Verbindungslinien und Anknüpfungspunkte zur jüdischen und christlichen Theologie und auch zu nicht religiösen philosophischen Überlegungen (Görgün 2010) und damit Grundlagen für ein gemeinsames Lernen finden. Darüber hinaus zeigt gerade im Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen dieses Glaubensbekenntnis (das Credo der arka¯n al-ı¯ma¯n) viel mehr als die Bezeugungsformel (sˇaha¯da) die inhaltlichen Ähnlichkeiten des Islams mit den anderen beiden abrahamischen Offenbarungsreligionen. Dabei ist auch nachdrücklich hervorzuheben, dass im islamischen Glaubensbekenntnis weder Muhammad als einziger Prophet noch der Koran als einzige Offenbarung Gottes ˙ genannt werden. Der Glaube an mehrere Propheten, zu denen im Islam neben Abraham, Mose und vielen anderen nicht zuletzt auch Jesus Christus gezählt wird, sowie der Glaube an Offenbarungen, die bereits vor der Offenbarung des

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Korans von dem einen Gott zu den Menschen gekommen sind, sind elementare Bestandteile der islamischen Glaubenslehre (Koran 2:4 u. a.).

2.2

Interreligiöse Verhältnisbestimmungen hinsichtlich ihsa¯n ˙

Die Maxime »Gott so zu dienen, als ob man ihn sähe, da selbst, wenn wir ihn nicht sehen, er doch uns sieht», nimmt in dem genannten Hadith eine prominente Stellung ein. Bei der Textanalyse ist eindeutig erkennbar, dass dabei nicht von irgendeinem Aspekt der islamischen Religion unter anderen die Rede ist, sondern es sich um die höchste, ja vollkommene Stufe des Glaubens handelt. Die zuvor genannten fünf Pflichten der Glaubenspraxis zusammen mit den sechs Glaubensinhalten werden gleichsam auf eine einzige Formel zugespitzt, worum es mit Blick auf die innere und äußere Glaubenshaltung geht. Das arabische Verb ʿabada, das hier als »dienen« übersetzt ist, darf dabei umfassend verstanden werden, nicht nur als ein Dienen im Gottesdienst, da islamisch betrachtet jede Handlung zum Gottesdienst werden kann. Auch meint es nicht ein sklavisches Dienen an einem unnahbaren »Herrn«, wie es aus der Außenperspektive auf den Islam seitens der Orientalistik oder christlichen Missionswissenschaft zuweilen unterstellt wurde; vielmehr ist es als Erkenntnisprozess in der Gottesverehrung zu verstehen (Falaturi 1996, S. 41, 150). So lässt sich die Maxime auch freier fassen als »so zu leben (zu denken und zu handeln), als ob man Gott sähe, da er ja uns sieht, auch wenn wir ihn nicht sehen«. Gesehenwerden hat in diesem Kontext die beiden Aspekte, einerseits nichts verheimlichen zu können und ständig vor Gott als dem wissenden Richter (alhakam) zu stehen und andererseits gesehen zu werden in dem Sinn, dass der ˙ barmherzige (ar-rahma¯n) und liebende Gott (al-wadu¯d) uns immer nahe ist, um ˙ uns und unsere Nöte weiß und uns beisteht. Wer dessen eingedenk ist, hält sich von Sünden fern und findet in jeder Lage Trost und auch den Mut, Gott ergeben zu sein. Gerade unter Berufung auf das »Prinzip ihsa¯n«, verstanden als ein Gottes˙ bewusstsein, das zu hoher Moralität und tiefer Demut zu führen vermag, lassen sich nun auch interreligiöse Zugänge eröffnen, die es erlauben, einen jeden gläubigen Menschen, der danach strebt, recht zu handeln und um des Göttlichen willen Schönes zu bewirken, unabhängig von seiner Glaubensrichtung als muhsin ˙ ( jemand der ihsa¯n verinnerlicht hat) anzuerkennen und bereit zu sein, von ihr/ ˙ ihm zu lernen. Der wichtige Aspekt einer gemeinsamen ethischen Dimension von Religionen, vielleicht sogar eines »Weltethos« (Küng 2016), ließe sich hieran im interreligiösen Lernen erarbeiten.

Islamische Religionstheologie als Grundlage für das interreligiöse Lernen

2.3

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Interreligiöse Verhältnisbestimmungen hinsichtlich der Erwartung der »Stunde«

Nach dieser Dreistufung der islamischen Religion in besagtem Hadith wird die Frage nach der »Stunde«, also dem Ende der Welt, gestellt. Die Gewissheit, dass diese Stunde kommen wird, gehört zu den zentralen Glaubensüberzeugungen, auch wenn die Informationen zum Wann des Ereignisses sehr sibyllinisch ausfallen. Und gerade mit dem Glauben an ein nahendes Weltenende teilt der Islam fundamentale Glaubensvorstellungen mit anderen Religionen, insbesondere wieder mit dem Judentum und dem Christentum, die beide ohne die messianische Idee – wenngleich unterschiedlich aufgefasst – so nicht denkbar wären. Demnach bietet auch das jeweilige Verständnis von Endzeit und Naherwartung und der je eigene Umgang damit angesichts der »Parusieverzögerung« einen Anknüpfungspunkt für das Voneinanderlernen.

3.

Brisanz der Nähe der abrahamischen Religionen zueinander

Eine interreligiöse Auseinandersetzung mit dem Islam kann sich also auf viele Gemeinsamkeiten mit anderen Religionen im Allgemeinen und mit den monotheistischen Religionen abrahamischer Prägung im Besonderen stützen. Doch gerade die Nähe des Islams zum Judentum und Christentum schafft nicht nur eine Grundlage für wohlwollende Begegnungen und lernenden Austausch, sondern birgt auch eine besondere Brisanz in der Auseinandersetzung miteinander. Denn diese Nähe erlaubt die Gegenüberstellung und damit den kritischen Vergleich bestimmter Glaubensinhalte, wobei sich bei Abweichungen und Widersprüchen dann auch die Frage stellen mag, wer denn nun recht habe. So umgeht man Differenzen gerne und besinnt sich im Dialog lieber auf die vermeintlich verbindende gemeinsame abrahamische Tradition. Dabei besteht allerdings die Gefahr der Irreführung durch Homonyme beziehungsweise Äquivokationen, bedingt durch die Tatsache, dass mit ein und demselben Wort oder auch Namen ganz unterschiedliche Vorstellungen und Begriffsinhalte verbunden sind. Beispiel Abraham: Ibra¯hı¯m, so der arabische Name Abrahams, ist im Islam die eigentliche zentrale Prophetengestalt. Die Tradition des islamischen Heiligtums, der Kaaba, geht auf ihn und nicht auf den Propheten Muhammad zurück. Abraham gilt als Erbauer ˙ dieses ersten »Hauses Gottes« auf Erden und deswegen bezieht sich auch der gesamte Ritus des Hadsch in Mekka auf Abraham, nicht etwa auf Stationen im Leben Muhammads. Muhammad gilt im Islam (nur) als Siegel der Propheten im ˙ ˙

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Plural der Abfolge vieler Propheten seit Adam, der die durch diese ergangene Botschaft bestätigt, so wie sie gleichermaßen seine Botschaft bestätigen. Demnach ist Muhammad nicht der Verkünder einer völlig neuen Botschaft, sondern ˙ vielmehr ein Reformator im wörtlichen Sinn, der abschließend die millatu Ibra¯hı¯m (Koran 2:130 u. a.), die Glaubensrichtung Abrahams, wiederherstellt. Folglich heißt es im Koran: »Siehe, die Menschen, die Abraham am nächsten stehen, das sind diejenigen, die ihm nachfolgten, und dieser Prophet hier [d. h. Muhammad; Anm. d. Verf.] und diejenigen, ˙ die gläubig sind. Gott ist der Vertraute der Gläubigen.« (Koran 3:68)

Dieses »reformatorische« Verständnis setzt allerdings voraus, dass es vorher eine Abkehr von der wahren Botschaft und Gefolgschaft gegeben hat, die es wiederherzustellen gilt. Diese – von außen betrachtete – »Vereinnahmung« Abrahams wollen Juden und Christen nicht einfach hinnehmen, sieht man darin doch eine »Islamisierung« Abrahams. Dabei wird Abraham sowohl vom Judentum (»Halachisierung Abrahams«) als auch vom Christentum (»Verkirchlichung Abrahams«) und eben auch vom Islam (»Muslimisierung Abrahams« [Kuschel 1997, S. 210f.]) vereinnahmt. Jede der drei Religionen bezieht sich damit zwar auf Abraham, betrachtet ihn aber und spricht von ihm im Lichte des jeweils für sich beanspruchten Verständnisses (siehe dazu auch Tautz 2017). Beispiel Jesus: ʿI¯sa¯, so die arabische Bezeichnung von Jesus Christus, wird im Koran – anders als in allen anderen Schriften nichtchristlicher Weltreligionen – namentlich genannt und hoch geehrt, ebenso wie seine Mutter Maria, Maryam, der sogar eine ganze Sure gewidmet ist (Koran 19). Auch die Geburt Jesu Christi wird im Koran eindrücklich geschildert (19:22ff.). Allerdings gilt diese den Muslimen zwar als die Geburt eines hoch geehrten Propheten, keineswegs jedoch als der Wendepunkt der gesamten Menschheitsgeschichte seit dem Sündenfall, wie die Menschwerdung Gottes für Christen die Erlösung, die dann im Sühnetod am Kreuz und der Auferstehung ihre Vollendung findet, bedeutet. Dass von muslimischer Seite im Dialog mit Christen immer wieder gerne die hohe Anerkennung des Propheten Jesus betont wird, wird auf der anderen Seite meistens eher belächelt, wenn nicht gar mit Unverständnis oder Ärger quittiert. Dem Christentum erscheint es geradezu widersinnig, dass einerseits Jesus als Christus (Koran 3:45) anerkannt, aber gleichzeitig »das Wort vom Kreuz« (1 Kor 1,17f.) geleugnet wird (Koran 4:157). Für die islamische Theologie wiederum sind eine Christologie und Trinitätslehre nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern streng genommen ein Frevel an Gott, der doch ewig erhaben ist (as-samad), und ˙˙ auch an seinem Propheten, dessen Würde Gott selbst schützt (Koran 4:158). Das

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Heil der einen – die Einheit Gottes (tauh¯ıd) – droht dabei durch das Heil der ˙ anderen –das Kreuz – verletzt zu werden und umgekehrt. An diesem neuralgischen Punkt läuft ein Dialog zwischen Christen und Muslimen Gefahr, im Dissens zu enden.

3.1

Die »Leute der Offenbarung« (ahl al-kita¯b)

Bei der Darstellung des Islams in interreligiösen Kontexten wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Juden und Christen im Koran zu den »Leuten des Buches« (ahl al-kita¯b) gezählt werden. Diese allzu wörtliche Übersetzung von kita¯b als »Buch« wurde bereits von Muhammad Asad, dem 1926 zum Islam konvertierten Juden Leopold Weiß, kritisiert, der in einem Kommentar zu seiner Koranübersetzung anmerkt: »[…] angesichts der Ableitung des Nomens kitab von dem Verb kataba (›er schrieb‹ oder bildlich ›er verordnete‹) als ›göttliche Schrift‹ oder ›Offenbarung‹. […] Folglich ist die Übersetzung von ahl al-kitab mit ›Leute des Buches‹ nicht besonders sinnvoll; meiner Meinung nach sollte der Begriff mit ›Anhänger früherer Offenbarung‹ übertragen werden.« (Asad 2009, S. 16)

Mit dieser Präzisierung wird deutlich, dass das vermeintlich Verbindende, »Schriftbesitzer« zu sein, zugleich das Trennende impliziert. Juden, Christen und Sabäer gehören dem Koran nach zwar zu den »Leuten der Offenbarung« (ahl alkita¯b) und genießen damit den besonderen Status, Träger einst wahrer Offenbarungen des einen Gottes zu sein, der sich bereits vor der Offenbarung des Korans offenbart hat. Doch sind sie mit der anschließenden und abschließenden Offenbarung des Korans aufgerufen, diese unverfälschte und unverfälschbare Offenbarung als endgültige Botschaft anzunehmen. Tatsächlich betont der Koran die Wahrheit von Thora (taura¯t) und Evangelium (ingˇ¯ıl), allerdings wurde nach gängiger islamischer Glaubenslehre diese einstige Wahrheit im Zuge der Überlieferung mit der Zeit verfälscht, was letztlich die abschließende Offenbarung des Korans überhaupt als notwendig begründet (Hava Lazarus-Yafeh 2000, S. 111f.). Das wiederum bedeutet im Umkehrschluss, dass, wenn dieser Vorwurf von Veränderungen der ursprünglichen Offenbarung Gottes (arab. tahrı¯f) um des Dialogs willen abgelehnt wird, eine Begründung für ˙ die Notwendigkeit der Offenbarung des Korans verloren geht. Bei allen großen inhaltlichen Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Traditionslinien bleibt daher die Tatsache zu beachten, dass der Islam gerade mit Blick auf diese gemeinsame Basis und unter Berufung auf sie als Korrektiv auftritt. Hinsichtlich des Judentums kritisiert und korrigiert er den Erwählungsgedanken (dieser widerspricht der universalen Heilszuwendung Gottes) und hinsichtlich

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des Christentums kritisiert und korrigiert er die Behauptung der Gottessohnschaft (diese widerspricht der Absolutheit Gottes). Er tut dies nicht etwa aus Neid oder Hass, sondern jeweils unter Berufung auf eine rationale Begründung, mit der er beide Ansprüche des Selbstwiderspruchs überführt (Uhde 2013, S. 132f.). So ist gerade, was die Rede von den »Leuten der Offenbarung« anbelangt, deutlich zu sehen und folglich für alle damit umfassten Glaubensangehörigen einzusehen, dass der Islam für die ihm vorangegangenen Offenbarungsreligionen gar nichts anderes sein kann als eine Provokation, indem er sich nämlich auf diese zwar in weiten Teilen bestätigend, aber gerade in den neuralgischen Punkten zentraler Glaubensinhalte der Juden und Christen korrigierend bezieht. 3.1.1 Bezeugt der Koran eine exklusivistische Haltung? Am Anfang der zentralen Glaubensbezeugung (sˇaha¯da) steht im arabischen Wortlaut ein »Nein« (la¯). Demnach beginnt diese mit einer Absage, einer Negation, die erst dann mit der Partikel »außer« (illa) in eine absolute Position geführt wird. Negiert wird ila¯ha, jede Gottheit, ja sogar Gott selbst (vgl. Karimi 2015, S. 83f.), der erst dann als der eine Gott absolut bestätigt wird (illa Lla¯h). Von Anfang an ist damit der Islam eine Absage nicht nur an falsche, sondern im Prinzip an jegliche Vorstellungen von Gottheiten, Göttern, Abgöttern und von Gott selbst, der im Koran zumindest nach gängigem Verständnis keineswegs sein Wesen (da¯tu Lla¯h) offenbart, sondern lediglich seinen Willen kundtut. ¯ Das deutsche Kompositum »Gottesvorstellung« muss daher im Kontext islamischer Theologie als genitivus subjectivus und nicht als genitivus objectivus verstanden werden: Nicht jemand stellt sich Gott (als Objekt) in irgendeiner Weise vor, sondern Gott (als Subjekt) stellt sich uns vor (»quoad nos«). Er tut dies nach islamischem Verständnis abschließend und allgemein gültig im Koran als der Selbstprädikation Gottes in klarer arabischer Sprache (Koran 42:7) und nach Maßgabe natürlicher Logik (Koran 59:2). Gott selbst bleibt in seinem Wesen verborgen, auch die »himmlische Urschrift«, die »Mutter des Buches« bleibt in ihrer göttlichen Sprache auf der »wohlverwahrten Tafel« bewahrt (Özsoy 2020, S. 124f.). Abgesehen von der Gottesvorstellung (im genitivus subjectivus) als Gottes Willensbekundung, der zu folgen zum Heil führt (Koran als Rechtleitung alhuda¯) und die als Gotteswort im Ritus wiederholt wird (Koran als Rezitativ alQur’a¯n), sind im Islam für eine Redeweise über Gott drei Wege, wie sie auch die christliche Theologie als Wege kennt und in ihrer lateinischen Begrifflichkeit geprägt hat, gangbar: via causalitatis, via negationis und via eminentiae (Schimmel 2002, S. 273f.). Im Sinne der via causalitatis wird der erste Teil der Bezeugungsformel »kein Gott außer Gott« so verstanden, dass es überhaupt keine wirkende Macht außer

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Gott gibt. Gott ist Urgrund alles Seienden. Alles existiert so gesehen durch das illa Llla¯h im zweiten Halbsatz dieses ersten Teils der Bezeugungsformel. In der Absage an jegliche Gottesvorstellung (im genitivus objectivus), wie sie im ersten Halbsatz des ersten Teils der Bezeugungsformel ausgesprochen wird, ist dagegen bereits die via negationis angelegt, die im Koran, im Hadith und dann in der nachfolgenden Gelehrsamkeit entwickelt wird. Selbst die göttlichen Eigenschaften, die als »schöne Namen Gottes« (al-asma¯’ al-husna¯) genannt werden ˙ und streng genommen nicht als Attribute verstanden werden dürfen (von lat. attribuere, dt. »beifügen« und damit verdächtig nahe an »Beigesellung«, arab. ˇsirk), sind dabei stets im Sinne einer via negationis zu sehen: der Schöne (algˇamı¯l), aber nicht nach Maßgabe menschlicher Vorstellung von Schönheit als ein subjektives Geschmacksurteil; der Große (al-kabı¯r), aber gerade nicht im Maße irgend menschlicher Größenmessung. Auch im Sinne der via eminentiae ist Gott stets größer als alles Vorstellbare. Gerade für den Islam gilt nach seinem ganzen Selbstverständnis: Alla¯hu akbar!, zu Deutsch: »Gott ist unfassbar groß!« Gläubige Muslim*innen wiederholen diese zentrale Glaubensaussage mehrmals in jedem Ritualgebet und mit ihr wird auch zum Gebet gerufen. Akbar ist die arabische Elativform von »groß«, also »über alle Maßen groß« oder »unfassbar groß« und keineswegs (nur) im Komparativ oder auch Superlativ, da es bei Gott eben keinen Vergleich gibt (Koran 42:11). Der Ausruf, der leider eher als Schlachtruf traurige Berühmtheit erlangt hat, entspricht der Rede in der christlichen Theologie von »Deus semper major« und ist damit eine Grundlage für die mögliche Überzeugung auch in der interreligiösen Auseinandersetzung, dass angesichts der Unverfügbarkeit Gottes es nicht einen Besitz der Wahrheit geben kann, sondern diese immer größer ist, was wiederum einen exklusivistischen Absolutheitsanspruch für die eigene Religion versperrt (EKIBA 2018, S. 26). So liegen im ersten Satz der Glaubensbezeugung la¯ ila¯ha illa Lla¯h, um mit Goethe zu sprechen »zweierlei Gnaden« (1819, I, 6, S. 128) gleich dem Ein- und Ausatmen, das auch in der meditativen Wiederholung dieser Formel im mystischen Ritual der »Anrufung Gottes« oder des »Gottgedenkens« (dikr) erfahren ¯ wird: das sich Freimachen von jeglichen Konzeptionen, die Loslösung von letztlich aller erscheinenden Vielheit, um dann Einheit im unfassbaren Einen zu finden (vgl. Isler 2012, S. 9). Für die interreligiöse Auseinandersetzung bedeutet dieses Zusammenspiel von Kontraktion und Ausdehnung, dass der radikalen Absage von Gotteskonzeptionen (la¯ ila¯ha) keine Religion (außer vielleicht ein strenger TheravadaBuddhismus) standhalten kann, auf alle Fälle aber nicht ein Judentum, das Gott vor allem als Subjekt der Geschichte seines Volkes versteht, und auch kein Christentum, das Gott eine Selbstoffenbarung in Jesus Christus zuspricht, und nota bene auch kein falsch verstandener Islam, der Gott als »Allah« (im Sinne

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eines exklusiven Gottes für Muslime) für sich vereinnahmen möchte. Das Einatmen des la¯ ila¯ha kann hier, um im Bilde zu bleiben, nur zur Beklemmung führen. Auch der Dialog erstickt. Das befreiende Ausatmen im illa Lla¯h aber gibt nun Raum ( jetzt im Unterschied zur buddhistischen Lehre) zur vollkommenen Hingabe an den einen Gott, der einzig überhaupt ist. Die Überfülle dieses Ausatmens weht gleichsam alle Unterschiede hinweg, indem alles in Einheit »versinkt«, wobei aber auch jede Sprache versagt, das Unsagbare hier noch sagen zu können. Stille. Auch der Dialog verstummt. Für ein solches Verständnis der islamischen Bezeugungsformel ist es unbedingt notwendig, die doppelte Bedeutung des Ausdrucks »Alla¯h« zu beachten, als der Name Gottes, mit dem Gott sich im Koran selbst nennt (20:14) und als der arabische Begriff für Gott, den auch arabischsprachige Christen für Gott verwenden. Der erste Teil der ˇsaha¯da ist daher im Deutschen unbedingt als »kein Gott, außer Gott!« oder »keine Gottheit, außer Gott!« zu übersetzen und darf keinesfalls missverstanden werden als »Es gibt keinen Gott, außer Allah!« Nur in einem einseitigen, ausschließlichen, also enggeführten und damit falschen, Verständnis als Eigenname und damit Konzept (»Allah« als »der islamische Gott«) wird der Islam zu einer ausschließenden, also exklusivistischen, Religion. Die von Vertretern eines exklusivistischen Islamverständnisses immer wieder als Beleg angeführte Koranstelle – »Die Religion bei Allah ist der Islam« (3:19) – beruht meines Erachtens auf diesem gravierenden Übersetzungs- bzw. Verständnisfehler. Wird der arabische Begriff für Gott, Alla¯h, ausschließlich als Gottesname verstanden und so auch in der Rede über Gott in einer anderen Sprache beibehalten – etwas anderes ist dagegen die Anrede Gottes im Gebet – und das Wort Isla¯m ebenfalls nur als Eigenname verstanden und nicht übersetzt, so erhält die Textstelle (und andere) deutlich exklusivistischen Sinn als: Der wahre Gott ist Allah, die wahre Religion der Islam. Übersetzt man hingegen beide arabischen Ausdrücke konsequent ins Deutsche, legt man damit gleichzeitig eine offenere Lesart dieser Verse vor. Dieselben Verse sagen dann aus, dass als Verhältnisbestimmung (arab. dı¯n als umfassendes Verständnis von »Religion») des Menschen zu dem einen Gott (arab. Alla¯h) einzig die »Hingabe« bzw. »Ergebenheit« (arab. isla¯m) angemessen und heilsnotwendig ist, also die »Gottergebenheit«, in der wir mit Goethe bekanntlich alle »leben und sterben« (Goethe 1819, I, 6, S. 128). So übersetzt Bobzin richtig: »Siehe, die Religion bei Gott ist die Ergebenheit.« (Koran 3:19)

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Auch Khorchide macht darauf aufmerksam, dass »Islam« im Koran keine Identität und keine bestimmte Religion bezeichnet, sondern vielmehr eine Haltung sei (Khorchide 2020, S. 34). Genauso argumentiert auch Özsoy und macht seinerseits an Sure 2:111–112 deutlich, dass der Koran selbst jeden Monopolanspruch am Beispiel von Juden und Christen vehement ablehnt (Özsoy 2015). Aus dieser Absage, Heil exklusiv beanspruchen zu wollen, und der folgerichtigen inklusivistischen Perspektive wird es erklärlich und logisch konsistent, warum nach mehreren Koranstellen (z. B. 3:113–115, 3:64, 4:123–125) auch gläubige Juden, Christen und Sabäer (eventuell sind damit Anhänger keiner bestimmten Religion gemeint) ihren Lohn bei Gott erhalten werden (Rahman 2019, S. 32f.). Dem ist zu entgegnen, dass im Koran aber doch »Islam« auch als ein bestimmtes Bekenntnis und nicht nur als Haltung genannt ist, und dass entsprechend »Muslime« auch im Sinne dieses Bekenntnisses und nicht nur allgemein als »Gottergebene« erscheinen. Eine relevante Textstelle dazu ist allerdings frappierend, weil hier eine Abgrenzung von »Muslim sein« zu »gläubig sein« formuliert wird: »Die Beduinen sagen: ›Wir glauben!‹ Sprich: ›Ihr glaubt noch nicht!‹ Sagt vielmehr: ›Wir nahmen den Islam an!‹ Denn noch drang der Glaube nicht in eure Herzen ein. […]« (Koran 49:14)

Dem entsprechend ist festzuhalten, dass das koranische Verständnis von »Gläubigen« und »Ungläubigen« keineswegs mit einer pauschalen Zuordnung im Sinne von jenen, die formal den Islam angenommen haben, und allen anderen verbunden ist. Keineswegs sind daher sprachlich im Arabischen und begrifflich im Koran die »Ungläubigen« (ka¯firu¯n) bzw. der »Unglaube« (kufr) einfach nur das Gegenteil der Muslime bzw. des Islams oder der »Gläubigen« (mu’minu¯n) bzw. des »Glaubens« (ı¯ma¯n). Schon gar nicht wird hier Glaube und Unglaube differenziert im Sinne der deutschen Semantik, die »ungläubig sein« eher als »zweifeln« als ein »nicht glauben können« versteht, wie beispielsweise in der Rede vom »ungläubigen Thomas« (mit Bezug auf Joh 20,19–29) oder dem »SichWinden« eines Faust auf die »Gretchenfrage« (Goethe 1808, V. 3433–V3437) und damit auch übertragbar auf Skeptizismus oder Agnostizismus. Im Gegensatz dazu wird »Unglaube« – um überhaupt diese irreführende Übersetzung von kufr zu verwenden – als ein schlechtes Verhalten Gott gegenüber, als Undankbarkeit, Hochmut und als Extremismus verstanden. So heißt es etwa: »Die Erkenner haben ja gesagt: ›Das Geheimnis der Gottesherrlichkeit kundzutun ist Unglaube‹« (Gramlich/Ghazali [1984], Lehre, Ei.1, S. 2). Schwerlich kann hier der »Unglaube« in einem Zweifel bestehen, wenn doch von einem »theopathischen« Gottesfreund (walı¯ u-Lla¯h) die Rede ist. Ebenso kann die Koranstelle, die Christen »Unglauben« unterstellt, wenn sie sagen, »Siehe, Gott

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ist Christus, Marias Sohn« (Koran 5:17) als Mahnung vor einer Übertreibung in der Gottesbeziehung gedeutet werden (Rahman 2019, S. 35). Als prominenteste Figur, die im Koran des kufr bezichtigt wird, ist Iblı¯s anzusehen (2:34). Auch er, der sich weigerte, sich mit den Engeln vor Adam niederzuwerfen, war keineswegs »ungläubig« im landläufigen Wortsinn, auf alle Fälle kein Zweifler an der Existenz Gottes und dabei ein strenger Bekenner der göttlichen Einheit (Ben Abdeljelil 2020, S. 17ff.). Kufr ist damit etwas, was nicht grundsätzlich Glauben als Negation gegenübersteht, sondern diesem als schädlich zukommen kann. Selbst als ein negatives Akzidenz zum Glauben gibt diese Differenzierung aber Raum für einen substanziellen Glauben und damit für ein inklusivistisches Verständnis, das auch partiell Wahrheit und Heil erkennen und anerkennen kann. Mit solchen Überlegungen zu einem differenziertem Verständnis des Korans hinsichtlich Glauben und Unglauben beweist sich der Islam als inklusivistisch, zumindest bezüglich der ihm vorangegangenen Offenbarungsreligionen und unter der Prämisse des Glaubens an den einen Gott, vor dem am Jüngsten Tag Rechenschaft abgelegt werden soll. Gleichzeitig kann nicht übersehen werden, dass eine solche Position, wie jeder inklusivistische Zugang zu einer anderen Religion, auch deren Vereinnahmung bedeutet und letztlich dem Selbstverständnis der »inkludierten« Religion widerspricht. Das gilt auch für das großartige Zeugnis einer inklusivistischen Öffnung der katholischen Kirche, »Nostra aetate« (1965), das an prominenter Stelle »cum aestimatione« (»mit Hochachtung«) von Muslimen spricht, aber die neuralgischen Punkte in der Beziehung zum Islam ausspart: Der Prophet Muhammad und der Koran werden nicht er˙ wähnt (Middelbeck-Varwick 2017). So wenig gläubige Muslim*innen sich darin authentisch wiederfinden können, so wenig trägt auch insgesamt eine interreligiöse Begegnungsebene, auf der wechselseitig jeweils beim Dialogpartner das Gemeinsame für sich vereinnahmt und das Spezifikum des anderen unter den Tisch fallen gelassen wird: Judentum ohne Erwählungsgedanken, Christentum ohne Trinitätslehre/Christologie, Islam ohne koranische Offenbarung an Muhammad. ˙ Gesucht wird deshalb nach einer solideren und auch aufrichtigeren Begegnungsebene tatsächlich auf Augenhöhe mit dem jeweils anderen. Dazu wurden und werden aktuell auch Wege zu einer pluralistischen Theologie der Religionen gegangen oder zumindest angebahnt. 3.1.2 Zur Möglichkeit eines pluralistischen Islamverständnisses Bei den Bemühungen, den Islam nicht nur als inklusivistisch zu sehen, sondern ihn darüber hinaus auch pluralistisch zu verstehen, wird von einer ganzen Reihe moderner islamischer Denker (Fürlinger & Kusur 2019) und beispielsweise auch

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im Rahmen des aktuellen Projekts »Dialog und Transformation – auf dem Weg zu einer pluralistischen Religionspädagogik« (2020) zumeist auf die im Koran genannte gottgewollte Vielfalt der Gemeinschaften verwiesen (exemplarisch Grabus 2019, S. 307), die dabei aber doch auf einer Einheit aller Menschen vor Gott fußt (exemplarisch Khorchide 2020, S. 34) und es findet sich dort der Ansporn dazu, dass in dieser von Gott gewollten Konkurrenzsituation ein jeder schlicht sein Bestes gebe: »Für einen jeden von euch haben wir Bahn und Weg gemacht. Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht – doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch gab. Wetteifert darum um das Gute! Euer aller Rückkehr ist zu Gott, er wird euch dann kundtun, worin ihr immer wieder uneins wart.« (Koran 5:48)

Auf der Grundlage dieses Koranverses lässt sich die Wahrheitsfrage auf Gott und die Zeit seines Gerichts verschieben. Denn nicht die Durchsetzung einer einzigen Gemeinschaft ist damit den Muslim*innen vorgeschrieben, sondern die Differenz der verschiedenen Gemeinschaften bis zum Jüngsten Tag auszuhalten und sich bis dahin im Diesseits zu bewähren. Die Pluralität der Religionen und Weltanschauungen gilt es also gerade auch aus islamischer Sicht um Gottes Willen anzuerkennen. Dennoch bleibt das bereits genannte Dilemma, dass wie beim Inklusivismus die jeweiligen Superioritätselemente im Selbstverständnis der Religionen verloren gehen und so nicht der Kern der jeweiligen religiösen Identität getroffen werden kann: Judentum lebt davon, dass Gott das Volk Israel vor allen Völkern auserwählt und ihm die Bürde des Gesetzes (Thora) auferlegt hat, Christentum lebt davon, dass sich Gott in unüberbietbarer Weise in Jesus Christus als Mensch den Menschen zugewendet hat, und Islam lebt davon, dass Gottes Wort unverfälscht und unverfälschbar im Koran vernehmbar ist. Auch im Bereich der beiden großen asiatischen Weltreligionen ist der Superiorismus nicht einfach wegzudenken, wenn die »Erleuchtung« des Hindu Siddhartha Gautama im Grunde darin besteht, einen grundlegenden »Fehler« im hinduistischen Denken erkannt zu haben, was ihn zum »Buddha« (»dem Erwachten«) macht. Solange man aber glaubt, dass die eigene »Superioritätslogik« rational und damit intersubjektiv nicht nur eine logische Möglichkeit des Glaubens unter anderen Denkmöglichkeiten ist (Uhde 2009), sondern darüber hinaus logisch zwingend als notwendig wahr einzusehen sei und somit die einzige religiöse Denkmöglichkeit darstelle, bescheinigt man anderen Glaubensangehörigen implizit, entweder zu dumm oder zu verbohrt zu sein, diese alleinige Wahrheit anzuerkennen. Das mag dabei in besonderem Maße für das Verhältnis von Christentum und Islam signifikant sein, weil hier die jeweiligen »Superioritätslogiken« vielleicht

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am stärksten gegeneinander stehen. Im Grunde denken beide Seiten, dass die andere nur leichtfertig und naiv glaube, während man selbst gute rationale Gründe für seinen Glauben habe (für das Christentum siehe Flasch 2013, S. 20f.). Für einen Dialog der Anerkennung auf Augenhöhe kann das nun keine Grundlage sein, auch dann nicht, wenn man nur aus einer gewissen Vorsicht heraus der anderen Seite seine eigene Überlegenheit nicht explizit demonstrieren will, es aber gleichwohl zu können meint (für das Christentum siehe Stosch 2007, S. 1). Dagegen scheint mir eine gemeinsame Basis letztlich aller Religionen und Weltanschauungen die grundsätzliche Einsicht in eine »Unverfügbarkeit« (Rosa 2020) nicht nur hinsichtlich der Welt zu sein, sondern gerade mit Blick auf Überweltliches, also für die theistischen Religionen auch mit Blick auf Gott. Denn in Anlehnung an Rosas Überlegungen kann auch die Lebendigkeit einer Gottesbeziehung, hier universell verstanden als »Resonanz« (Rosa 2016), nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren erfolgen. Für die dennoch immer notwendige Entwicklung und dabei doch stets gefährliche Behauptung einer Identität stellt sich die Frage, ob heute und gerade auch für Muslim*innen, die vielerorts mit »hybriden Identitäten« (Foroutan 2013) leben müssen und damit zu leben auch gelernt haben (Schmitz & Is¸ik 2015, S. 49f.), nicht Knitters Ideal eines »religiösen Weltbürgertums« (1988) für das neue Jahrtausend wiederentdeckt und fruchtbar gemacht werden kann. Knitter fordert: »Die Anhänger der einen Religion müssen in einem gewissen Ausmaß auch Anhänger anderer Religionen sein. So wie sich die Menschen heute bewußt werden, daß sie eine authentische persönliche Identität nicht erlangen können, ohne sich dem freien Austausch und Dialog mit anderen Menschen zu öffnen, spüren auch religiöse Menschen, daß sie ihre eigene religiöse Identität und ihre eigene Religion nicht wirklich verstehen können, wenn sie nicht mit anderen Religionen in Kontakt treten.« (Knitter 1988, S. 35)

Für die Hüter einer einzig wahren Glaubenslehre mag allein die Vorstellung eines »hybriden Bekenntnisses« irritierend bis erschütternd sein, aber wie bei hybriden nationalen oder kulturellen Identitäten kann die Lösung gerade nicht darin bestehen, sich als »Mischling« zu verstehen und so gleichsam zwischen allen Stühlen zu sitzen; vielmehr muss es darum gehen, recht galant, ohne Chauvinismus oder Verlustängste, verschiedene »Stühle«, also Positionen, einnehmen zu können und dabei zu emphatischen und authentischen Perspektivenwechseln (Tautz 2015) fähig zu sein. So ist der/die religiöse Weltbürger*in nicht synkretistisch, sondern orthodox in mehreren Religionen, indem die Fähigkeit entwickelt wurde, vorurteilsfrei die jeweilige »Denkmöglichkeit« (Uhde 2009) nach dem Selbstverständnis einer jeden Religion nachzuvollziehen, ohne dabei die

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eigene Verwurzelung in einer Religion oder auch nur die eigene Façon selig werden zu mögen, aufgeben zu müssen.

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Transfer auf eine Religionspädagogik des interreligiösen Lernens

In einer Zeit, da es darum geht, die Pluralität der Religionen und Weltanschauungen anzuerkennen und dabei auch Widersprüche, sowohl in sich selbst als auch in den sozialen Beziehungen mit anderen, auszuhalten, womit aber eben ein ständiges Ringen um Identität verbunden ist, muss eine solche »weltbürgerliche« Haltung erst gelernt werden. Demnach kann religiöse Bildung sich längst nicht mehr ausschließlich auf die eigene Tradition beziehen – darüber hinaus gilt es, eine Ambiguitätstoleranz und eine kontingenzbewusste religiöse Gewissheit in der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen zu lernen und diese dann weiterzuentwickeln und kontinuierlich zu pflegen (Strohschneider 2012). Wie wir gesehen haben, lässt sich dieser Ansatz durchaus als eine Bildungskompetenz fassen, die auch von islamischer Seite befürwortet werden kann – wird doch im Koran der Plural der Gemeinschaften und Bekenntnisse als gottgewollt vorgestellt und jeder dazu aufgefordert, in dieser Konkurrenzsituation sein Bestes zu geben (Koran 5:48). Dazu bedarf es aber der Wiederbelebung einer »Kultur der Ambiguität« (Bauer 2011), wie sie dem Islam schon einmal zu eigen war, und eines tieferen Islamverständnisses, das die eigene Glaubensüberzeugung nicht im Sinne einer »Clubzugehörigkeit« versteht, sondern als das stete Bekenntnis, in Demut vor Gott zu handeln. Da das Bildungsziel des islamischen Religionsunterrichts aus pädagogischer Sicht vorrangig darin besteht, mündig eine eigene religiöse Identität zu entwickeln, ist es besonders wichtig, dass dies nicht durch Abschottung und Segregation, sondern in der Begegnung und der Auseinandersetzung mit dem Fremden geschieht (Schieder 2000, S. 210), sodass damit auch ein Beitrag zu einer globalen Friedensbildung geleistet werden kann (Schröter 2020, S. 75ff.). Das Konzept eines »interreligiösen Begegnungslernens« (Boehme 2019) darf in dieser Hinsicht immer noch als der »Königsweg« des interreligiösen Lernens betrachtet werden. Dabei sollen die in den Schulklassen nebeneinander vertretenen verschiedenen Konfessionen und Weltanschauungen zwar separat unterrichtet werden, aber auch Ausgangspunkt der Begegnung und des Austauschs zwischen den Schüler*innen sein. Somit ist das Ziel des Unterrichts nicht allein die Vermittlung einer religiösen Kompetenz innerhalb der je eigenen Weltsicht, sondern genauso auch die einer »interreligiösen und interkulturellen Kompe-

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tenz« in der Verständigung über die je eigenen religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Grenzen hinweg (Boehme 2018). Nach diesem Konzept stehen die Fächer verschiedener konfessioneller, religiöser und auch philosophisch-ethischer Ausrichtung gleichberechtigt nebeneinander. Der Inhalt des Unterrichts wird dabei im Falle der konfessionell-religiösen Fächer von der jeweiligen Gemeinschaft verantwortet, wodurch gewährleistet ist, dass die jeweils eigenen Grundsätze im Unterricht voll zur Geltung kommen. Gleichzeitig müssen diese aber auch vor den anderen Fächern deutlich gemacht und in die Diskussion gebracht werden. Eigenständigkeit und Kooperation sind somit verknüpft, indem die Fragestellungen, Themen und Stoffe in spezifischem Bezug auf eine religiöse oder weltanschauliche Position und mit fachspezifischen Zugängen und Methoden bearbeitet und anschließend wechselseitig diskutiert werden. Damit wird eine dialogische Zusammenarbeit angestrebt, die den Schüler*innen eine möglichst umfassende Orientierung und dazu ein eigenes Urteil in der Auseinandersetzung ermöglichen soll. Diese bewusste Verpflichtung, Stellung zu beziehen und sich in der Frage nach Glauben und Konfession zu entscheiden, wird als zentraler Bildungsgehalt dieses Religionsunterrichts angesehen. Gleichzeitig aber soll die religiöse Identität sich nicht der realen Pluralität entziehen, sondern sich dieser in Kooperation stellen, in dem Bemühen, verschiedene Grundüberzeugungen und Weltsichten, Religionen und Bekenntnisse, Glaube und Atheismus reflektiert und systematisch miteinander ins Gespräch zu bringen. Das insgesamt vierphasige Konzept des »Interreligiösen Begegnungslernens« sieht als letzte Phase nach Erarbeitung, Präsentation und Austausch auch die auf die Kooperation rückblickende Reflexion vor und damit eine Meta-Reflexionskompetenz (Boehme 2019). Das vorgegebene Ziel der Begegnung und Kooperation ist somit dann erreicht, wenn auf Schulebene die Schüler*innen und Lehrkräfte der verschiedenen Unterrichtsfächer und auf Hochschulebene die Studierenden und Dozierenden sich über das Gelernte untereinander austauschen und ihre verschiedenen Wahrnehmungen und Einstellungen wechselseitig kennenlernen und jeweils zugestehen können.

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Ednan Aslan

Das Judentum im islamischen Religionsunterricht

Zusammenfassung Dieser Beitrag behandelt die Haltung des Islams gegenüber den Angehörigen des jüdischen Glaubens, wie sie vor allem im Koran zum Ausdruck kommt, und deren Thematisierung im islamischen Religionsunterricht an österreichischen Schulen – immerhin bilden die jüdische Lebensweise und damit verbundene Narrative den Gegenstand einer Vielzahl von koranischen Versen. Dies gilt insbesondere für jene, die in Medina offenbart wurden, wo die muslimische Gemeinschaft auf eine hochentwickelte jüdische Gemeinde traf, die der Prophet Muhammad für den Islam zu gewinnen suchte. ˙ Vor dem Hintergrund, dass diese Bemühungen – bis auf wenige Ausnahmen – weitgehend erfolglos blieben, geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, wie sich diese ablehnende Haltung im Koran niederschlug. Er untersucht, in welchem Kontext die einschlägigen Verse entstanden sind und beleuchtet die Beziehungen zwischen Angehörigen von Judentum und Islam – dies auch im Hinblick darauf, dass eine der wichtigsten Aufgaben des islamischen Religionsunterrichts darin besteht, den Schüler*innen ein Verständnis dieser Beziehungen zu vermitteln. Daran anschließend problematisiert der Beitrag die unzureichende Thematisierung von Judenfeindlichkeit in den Lehrplänen und Schulbüchern für den islamischen Religionsunterricht an österreichischen Schulen und versucht, diesbezügliche Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, um die Schüler*innen zu befähigen, judenfeindlichen Positionen mit theologisch fundierten Argumentationen entgegenzutreten.

1.

Einleitung

Der Koran verwendet den Begriff »Religion« (dῑn) nie in der Pluralform (adya¯n), sondern geht vielmehr davon aus, dass sämtlichen Religionen ein unveränderlicher Kern (tauh¯ıd) innewohnt, der in verschiedenen Kulturen und Regionen ˙

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Ednan Aslan

lediglich unterschiedlich ausgeprägt ist und praktiziert wird (el-Maturidi 2002, S. 172). Gegenstand des Korans sind demnach nicht religiöse Institutionen, sondern die Handlungen und Aussagen der Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften, namentlich jener, die im siebenten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel verbreitet waren – also des Judentums (al-yahu¯d), des Christentums (al-nasa¯ra¯), des Sabismus (al-sa¯bi’u¯n), des Zoroastrismus (al˙ ˙ magˇu¯s) und des Polytheismus (al-musˇriku¯n) etc. (vgl. Gürkan 2016, S. 163). Von diesen religiösen Gruppen wiederum gilt das größte Augenmerk der jüdischen Glaubensgemeinschaft – bei genauer Lektüre der über 6.000 a¯ya¯t des Korans fällt auf, dass sich an die 700, also mehr als zehn Prozent, auf Fragen betreffend die jüdische Lebensweise sowie damit verbundene Narrative beziehen. Doch geht es dabei nicht um die Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft an sich, sondern konkret um jene, die zu jener Zeit im Higˇa¯z lebten, und um deren ˙ aus ihren Lebensverhältnissen geborenen Handlungsstrategien gegenüber bestimmten Stämmen und Clans auf der Arabischen Halbinsel, die offenbar als besondere Herausforderung für die neu entstehende Religion des Islams erachtet wurden. Die Tatsache, dass dem Judentum im Koran – wie ja auch in der Bibel – derart große Bedeutung beigemessen wird, lässt eine nähere, über die oberflächliche und verallgemeinernde Darstellung hinausgehende Betrachtung des Themas geboten erscheinen.

2.

Das Judentum im Higˇa¯z ˙

Das Judentum war in den verschiedenen Gebieten des Higˇa¯z – etwa in Yatrib ¯ ˙ (Medina), Haibar, Tayma¯ʾ, Wa¯dı¯ al-Qura¯, Maqna¯, Fadak, Ta¯ʾif und Himyar (Je˙ ˙ ˘ men) – bereits lange vor dem Aufkommen des Islams präsent (Dana 2014, S. 8; Bas 2012, S. 219), seit wann genau, geht aus den historischen Quellen jedoch nicht eindeutig hervor (Gil 2004, S. 3; Bas 2012). Einige Historiker*innen vertreten die Ansicht, dass die jüdische Migration nach Yatrib auf Moses zurückgeht: Dem¯ nach seien nach dessen Ableben einige Priesterfamilien (Kohanim, Sg. Kohen) aus Damaskus nach Yatrib (Medina) ausgewandert (Wensinck 1975, S. 29), und ¯ bei den jüdischen Stämmen der Banu¯ al-Nad¯ır und Banu¯ Quraiza handle es sich ˙ um zwei Priesterfamilien aus der Familie des Propheten Ha¯ru¯n (Aaron) (Newby 2014, S. 39). Safiyya, eine Frau des Propheten Muhammad, sei Abkömmling einer ˙ ˙ solchen Familie gewesen (Arslantas 2008). Andere Historiker*innen, darunter at-Tabarı¯, führen die jüdische Einwan˙ ˙ derung in den Higˇa¯z auf die Zerstörung des ersten Tempels in Jerusalem zurück: ˙

Das Judentum im islamischen Religionsunterricht

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»Muhammad al-Tabari (d. 923) and, like him, many Arab historians support the opinion that the Jews of the Higˇa¯z were the offspring of refugees from the days of the ˙ destruction of the First Temple, the First Commonwealth; other historians are of the opinion that these refugees were joined by those of other wars who fled here in consequence of the destruction of the Second Temple (and Commonwealth). Whether one accepts this or that supposition, it can be stated with certainty that at the time of the appearance of Islam in the seventh century, there were already veteran, established Jewish communities present in Arabia.« (Dana 2014, S. 13)

Wie immer es sich historisch verhalten haben mag, ist es doch unumstritten, dass die jüdische Gemeinde mit ihren Institutionen lange vor der Verkündung des Islams im Higˇa¯z über feste soziale, religiöse und wirtschaftliche Strukturen ˙ verfügte und den arabischen Beduinenstämmen in vielerlei Hinsicht überlegen war: »We learn from the Arab sources about the religious life of Arabian Jews. They maintained religious institutions, such as synagogues (kana’is al-Yahud), study halls (buyut al-midras), etc., for prayer and Torah study. Religious texts were read in Hebrew, while any treatment of them was conducted in Arabic, the general spoken language of Higˇa¯z. ˙ It is possible that Hebrew words passed this way into the Qur’an and the Arabic language, such as tawrah (Torah), mathani (Mishna), hibr ([haver] friend, in the sense of a religious wise man), sakinah (Shechinah, a term of reference to the divine presence), Jannat ʿAdin ([ganeden] Garden of Eden), Sabt ([Shabbat] Sabbath), Jahannam ([gehinnom] Gehinnom or Hell), and sadaqah ([tseddaka] charity), among many others. Jews even taught Torah to Muslims.« (Dana 2014, S. 13)

Der Koran spricht voll Hochachtung von den jüdischen Gelehrten als rabba¯niyyu¯n1 oder ahbar2 und deren Aktivitäten in den verschiedenen sozialen und ˙ religiösen Einrichtungen von Medina. Nach islamischen Quellen waren die Synagogen und jüdischen Gemeindehäuser (Bat Dı¯n) in Medina auch ein Treffpunkt für nichtjüdische arabische Dichter und Intellektuelle (Arslantas 2008, S. 15). Eine wichtige Rolle im Gemeindeleben von Medina spielten darüber hinaus die jüdischen Bildungsstätten, die auch von arabischen Familien, welche die Bekehrung ihrer Kinder zur jüdischen Religion billigten, in Anspruch genommen wurden.3 Der Prophet Muhammad selbst stattete einer solchen Schule ˙ 1 Ehrwürdige Personen vom Stamm des Propheten Ha¯ru¯n (Aaron). 2 Jüdische Schriftgelehrte. 3 Grundlage bzw. Rechtfertigung dieser Praxis ist das Verbot des Glaubenszwangs: »Es gibt keinen Zwang im Glauben. (Der Weg der) Besonnenheit ist nunmehr klar unterschieden von (dem der) Verirrung. Wer also falsche Götter verleugnet, jedoch an Allah glaubt, der hält sich an der festesten Handhabe, bei der es kein Zerreißen gibt. Und Allah ist Allhörend und Allwissend« (Koran 2:256). Zum Herabsendungsgrund dieser a¯ya sagt at-Tabarı¯: »Ibn ’Abbas ˙ ˙ who said regarding the saying of Allah, exalted is He, (There is no compulsion in religion…): »The woman of the Helpers whose boys never survived used to vow that if a boy of hers survived, she would raise him as a Jew. When the Banu’l-Nadir were driven out of Medina they

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Ednan Aslan

einen Besuch ab und lud die jüdischen Glaubensangehörigen zum Islam ein (Arslantas 2008, S. 19). Zusammenfassend lässt sich in Übereinstimmung mit der islamischen und der jüdischen Geschichtsschreibung also festhalten, dass die muslimische Gemeinschaft nach ihrer Auswanderung nach Medina auf eine hochentwickelte Kultur stieß, die mit den vergleichsweise primitiven religiösen und kulturellen Verhältnissen in Mekka wenig gemein hatte.

2.1

Muhammad in Medina ˙

Als der Prophet Muhammad nach Medina kam, bildeten weder die arabischen ˙ Stämme, wie die Banu¯ Hazragˇ und die Banu¯ Quraiza, noch die jüdischen Stämme ˙ ˘ eine Einheit, vielmehr standen sie einander rivalisierend gegenüber (Bouman 1990, S. 57). Während aber die arabische Einwohnerschaft, die den Propheten, dem in seiner Heimatstadt Mekka die Anerkennung versagt blieb, nach Medina eingeladen hatte, sich ihm gegenüber offen und interessiert zeigte, wollte bei der örtlichen jüdischen Bevölkerung, deren Anzahl schätzungsweise etwas über 10.000 betrug,4 angesichts des durch die Lehre des Islams drohenden Verlusts ihrer kulturellen und religiösen Autorität keine rechte Freude aufkommen. Muhammad erkannte schnell, dass die jüdische Bevölkerung mit ihren Fä˙ higkeiten für die junge Religion, welche auf jegliche Unterstützung von gebildeten Menschen angewiesen war, ein großer Gewinn wäre. Deshalb versuchte er, sie mit verschiedenen Anerkennungsmaßnahmen in die Gemeinde zu integrieren und für den Islam zu gewinnen. Einen wesentlichen Teil dieser Anstrengungen bildete eine Verfassung – eine in ihrer Art einmalige Erscheinung jener Zeit –, in der die jüdischen Gemeinden einen bedeutenden Platz einnahmen: »Pact with the Jews of Medina, aims to include a whole set of new Jewish groups into the community constitution under the protection of God, and it coheres around the constitutional regulation of religion. Its institution of religious pluralism and sanctuary can explain why ›faithful covenanters‹ (mu’ minı¯n) is inconspicuous and occurs incidentally and only at the very beginning (lines 27–28), mainly to link the two constitutional acts by affirming Jews as members of the unified umma (whose confederate structure had already been constituted by the first act).« (Arjomand 2009, S. 561)

had among them children of the Helpers. The Helpers said: ›O Messenger of Allah! Our Children!‹ Allah, exalted is He, therefore revealed (There is no compulsion in religion…)«. Sa’id ibn Jubayr said: »Those who wished to leave with the Jews did leave, and those who wished to embrace Islam embraced Islam« (Cetiner 2013, S. 111–112; al-Wa¯hidı¯ 2008, S. 25). 4 P. L. Rose schätzt die Zahl der in Medina lebenden jüdischen Bevölkerung – ohne eine Quelle zu nennen – auf zwischen 36.000 und 42.000 (siehe Rose 2011, S. 10).

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Neben der konstitutionellen Anerkennung stieß die jüdische Bevölkerung auch in religiöser Hinsicht auf Entgegenkommen – in der Form nämlich, dass jüdische Traditionen in die muslimische Lebensweise integriert wurden (Bouman 1990, S. 60–63). »Many scholars consider some of the special rituals practiced early on by the Muslims as attempts to attract the Medinan Jews to Islam or at least make them more comfortable with it. At first, Islamic prayer seems to have faced the direction of Jerusalem, and before the enactment of the Ramadan fast, the early Muslims engaged in a 24-hour fast on the 10th day of the 7th month called ʿAshu¯ra, which corresponds to the full-day fast on the 10th day of the Jewish month of Tishre, Yom Kippur.« (Firestone 2008, S. 35)

Auch bestimmte jüdische Reinigungsvorschriften wurden vom Propheten persönlich gutgeheißen und den muslimischen Gläubigen zur Nachahmung empfohlen (Arslantas 2008, S. 67).5 Trotz dieser Maßnahmen blieb die erwünschte Konversion von Menschen jüdischen Glaubens zum Islam – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – aus. Die Gründe dafür mögen vielfältig gewesen sein, für den vorliegenden Beitrag ist von Relevanz, wie der Koran auf diese Haltung reagiert.

2.2

Die Antwort des Korans auf die jüdische Haltung

Die Offenbarung6 (wahy) des Korans wurde vom Propheten Muhammad im ˙ ˙ Verlauf von 22 Jahren, also in relativ kurzer Zeit, empfangen – und sie fand in Etappen statt: Ein Teil der koranischen a¯ya¯t wurde in Mekka, ein anderer in Medina offenbart, daher ihre Bezeichnung durch die islamische Theologie als Makkı¯ a¯ya¯t bzw. Madanı¯ a¯ya¯t. Die gesamte Offenbarung kann nur im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse verstanden werden, ein Umstand, den eine Exegese, die aus dem Koran fundierte Erkenntnisse ableiten will, zu berücksichtigen hat. Was nun die jüdischen Glaubensangehörigen betrifft, so werden diese überwiegend in den Madanı¯ a¯ya¯t thematisiert. Über jene, 5 »Der Prophet sah, dass die Juden am Tag vonʿa¯ˇsu¯ra¯’ fasteten. Er fragte sie: ›Warum fastet ihr?‹ ›Das ist ein segensreicher Tag, an dem Gott die Juden von ihren Feinden befreite. Moses hat auch an diesem Tag gefastet‹, soll er zur Antwort bekommen haben. Der Prophet soll daraufhin erwidert haben: ›Ich bin Mose näher als ihr‹ und hat angefangen, an diesem Tag zu fasten und den Muslimen befohlen, an diesem Tag zu fasten« (al-Buha¯rı¯, Saum 69, Muslim, Siya¯m 127). ˙ ˘ 6 Im Koran hat jede Offenbarung in der Regel einen Offenbarungsgrund. Die im˙ Koran erwähnten ethischen Prinzipien werden auf partikuläre Situationen – asba¯b an-nuzu¯l, d. h. Offenbarungsanlässe – angewandt, geben mithin Antwort auf die Fragen der Menschen jener Zeit. Hier treffen die Fragen der Menschen mit den Antworten Gottes zusammen. Damit sind die Fragen der Menschen genauso wichtig wie die Antworten Gottes. Die Offenbarung hat somit einen menschlichen Hintergrund.

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die während der Offenbarungszeit in Mekka lebten, gibt es hingegen kaum historische Erkenntnisse. Wir wissen nur, dass einige jüdische Landarbeiter, Gelehrte und Künstler ein unauffälliges Leben führten, aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten jedoch von der mekkanischen Bevölkerung hoch geschätzt wurden.7 Dies lässt sich den Makki A¯ya¯t entnehmen, welche diese besondere Anerkennung der jüdischen Gelehrten zum Ausdruck bringen. »Sprich: ›Denkt darüber nach! Wenn der Koran von Gott kommt und ihr ihn verleugnet, und wenn einer von den Kindern Israels bezeugt, daß ähnliches von Gott gekommen ist, so glaubt er daran, während ihr ihn überheblich leugnet; seid ihr dann nicht äußerst ungerecht? Gott leitet die Ungerechten nicht den rechten Weg.‹« (Koran 46:10) »Die Ungläubigen sagen: ›Du bist kein Gesandter Gottes!‹ Sage: ›Es genügt mir, daß Gott mein Zeuge ist und daß Er zwischen euch und mir urteilt, ebenso wie diejenigen, die Wissen vom Buch besitzen.‹« (Koran 13:43)

Laut mehreren bekannten muslimischen Exegeten ist in diesen beiden a¯ya¯t von ʿAbdulla¯h ibn Sala¯m die Rede, einem jüdischen Bewohner, der die Ähnlichkeiten zwischen dem Koran und den anderen heiligen Schriften erkannte und auch nach dem Ableben des Propheten von muslimischer Seite besonders geschätzt wurde (Cetiner 2013, S. 796). Negative Merkmale der jüdischen Bevölkerung von Mekka werden auch in den übrigen Makkı¯ a¯ya¯t nicht erwähnt. Allerdings finden sich darin ebenso wenig Bezeichnungen wie al-yahu¯d oder hu¯d, vielmehr werden die jüdischen Gläubigen entweder gemeinsam mit den christlichen als ahl alkita¯b (Koran 6:119), ahl al-dikr (Koran 16:43), u¯tu¯’-l-ʿilm (Koran 17:107), ala¯ d¯ına u¯tu¯-l-kita¯b oder als banu¯ Isra¯’ı¯l (»Söhne Israels«, wird im Koran 41-mal ¯ erwähnt) in biblischen Geschichten vorgestellt, damit sie daraus Lehren ziehen. In den zahlreichen biblischen Geschichten wird – ohne dass auf die jüdische Bevölkerung von Mekka Bezug genommen würde – ein bestimmtes Verhalten der banu¯ Isra¯’ı¯l lediglich als Warnung – oder auch als Verheißung – vorgestellt (Kilincli 2012, S. 256). Halefullah zufolge verfolgt jede biblische Erzählung den Zweck der moralischen oder religiösen Belehrung oder aber der Prävention. Die historische Wahrheit sei dabei unerheblich, im Zentrum einer solchen Erzählung stünden nicht historische Persönlichkeiten, Religionen oder Ereignisse, sondern zu veranschaulichende didaktische Themen, aus denen insbesondere die muslimischen Gläubigen Lehren ziehen sollten (Halefullah 2012, S. 55). So richten sich die mekkanischen Verse nicht an bzw. gegen Angehörige des Judentums im Allgemeinen, nicht auf Menschen jüdischen Glaubens als Gemeinschaft/Ethnie als solche. Ihr Fokus liegt auf den konkreten Handlungen und Positionen bestimmter Akteure und Gruppen in der jüdischen Geschichte. 7 Vor der Offenbarung berichtet der Prophet selbst, dass er für die Juden gearbeitet und den dafür erhaltenen Lohn verwendet habe, um seinen Hunger zu stillen (Abu¯ Da¯wu¯d, Qiya¯ma 35).

Das Judentum im islamischen Religionsunterricht

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2.2.1 Die medinensischen Suren und die jüdische Herausforderung Angesichts der bei der Ankunft des Propheten in Medina herrschenden Verhältnisse – eine jüdische Bevölkerung, die die muslimische um das Zehnfache überstieg und ihr in sozialer, wirtschaftlicher und intellektueller Hinsicht weit überlegen war – sollte sich die Etablierung des Islams als ein überaus mühsamer Prozess erweisen. Zwar wusste die jüdische Einwohnerschaft von Medina von Muhammad, eine intensive Befassung mit dem Koran konnte jedoch nicht ˙ stattgefunden haben, lag dieser doch noch lange nicht in Buchform, als vollständige Textsammlung wie heute, vor. Die theologischen Debatten wurden vielmehr um die Prophetie von Muhammad geführt, darüber, ob er tatsächlich ˙ der war, den das jüdische Volk als Messias erwartet hatte (Firestone 2008, S. 35; Abd al-Malik b. Hisˇa¯m b. Ayyu¯b al-Himyarı¯ 1858, S. 492). ˙ Die a¯ya¯t von Medina vermitteln eine deutliche Vorstellung vom Bemühen des Korans, die jüdische Bevölkerung durch Appelle an das intellektuelle und religiöse Bewusstsein dazu zu bewegen, den Islam als Religion anzunehmen und sich der Prophetie Muhammads zu unterwerfen. ˙ 2.2.1.1 Die jüdische Glaubensgemeinschaft soll aus der eigenen Geschichte lernen In den medinensischen a¯ya¯t wird die jüdische Gemeinschaft zunächst an ihre Geschichte erinnert und unter Verweis darauf auf ihre Verantwortung hingewiesen: »Ihr Kinder Israels! Gedenket meiner Gnade, die ich euch erwiesen habe! Und erfüllt eure Verpflichtung gegen mich! Dann werde (auch) ich meine Verpflichtung gegen euch erfüllen. Und vor mir (allein) sollt ihr Angst haben. Und glaubt an das, was ich (nunmehr) zur Bestätigung dessen, was euch (an frühen Offenbarungen bereits) vorliegt, (als neue Offenbarung) hinabgesandt habe! Und seid nicht (ausgerechnet ihr) die ersten, die nicht daran glauben! Und verschachert meine Zeichen nicht! Und mich (allein) sollt ihr fürchten. Und mischt nicht Wahrheit mit Lug und Trug durcheinander, und verheimlicht sie nicht, während ihr (doch um sie) wißt! Und verrichtet das Gebet (salaat), gebt die Almosensteuer (zakaat) und nehmt (beim Gottesdienst) an der Verneigung teil! (43) (Oder) wollt ihr den (anderen) Leuten gebieten, fromm zu sein, und (dabei) euch selber vergessen, wo ihr doch die Schrift leset? Habt ihr denn keinen Verstand? Und suchet Hilfe in der Geduld und im Gebet (salaat)! Es ist zwar schwer (was man von euch verlangt), aber nicht für die Demütigen, die damit rechnen, daß sie (am jüngsten Tag) ihrem Herrn begegnen und zu ihm zurückkehren werden. Ihr Kinder lsrael! Gedenkt meiner Gnade, die ich euch erwiesen habe und denket daran, daß ich euch vor den Menschen in aller Welt (al-ʿaalamuun) ausgezeichnet habe! Und macht euch darauf gefaßt, (dereinst) einen Tag zu erleben, an dem niemand etwas anstelle eines andern übernehmen kann, und (an dem) von niemand Fürbitte (die er für sich vorzuweisen hätte) oder Lösegeld (für seine Person) angenommen wird, (– einen Tag) an dem sie keine Hilfe finden werden!« (Koran 2:40–48)

872

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Auf ähnliche Weise wird die jüdische Gemeinde auch in anderen a¯ya¯t aufgefordert, ihre eigene Religion ernst zu nehmen und vor allem danach zu leben (vgl. Koran 2:65, 75–80). Derartige Ermahnungen sind mit der Hoffnung verbunden, dass die Praktizierung der wahren jüdischen Lehre letztlich zur Anerkennung der Prophetie Muhammads führen würde. ˙ 2.2.1.2 Muhammad ist der in den Schriften verheißene Prophet ˙ In seinem Versuch, die Prophetie Muhammads zu begründen und die jüdische ˙ Gemeinde Medinas von ihr zu überzeugen, bekundet der Koran großen Respekt vor der jüdischen Schrift (Thora). »Ihr, die ihr die Schrift erhalten habt! Glaubt an das, was wir (nunmehr) zur Bestätigung dessen, was euch (an früheren Offenbarungen bereits) vorliegt, (als neue Offenbarung) hinabgesandt haben! (Beeilt euch, diese Mahnung zu befolgen) […].« (Koran 4:47)

Ungeachtet dessen verdeutlicht diese a¯ya einmal mehr die Überzeugung, dass die Rettung der Menschen jüdischen Glaubens einzig in der Anerkennung der Prophetie Muhammads liegt. Die Ablehnung seiner Botschaft käme der Ableh˙ nung der eigenen Schrift gleich. 2.2.1.3 Keine pauschale Beschreibung jüdischer Glaubensangehöriger in Medina Trotz der bis auf wenige Ausnahmen durchgehenden Ablehnung seitens der jüdischen Glaubensgemeinschaft ist der Koran um eine differenzierte Betrachtung derselben bemüht. Es gibt zahlreiche a¯ya¯t, welche der muslimischen Gemeinde im Namen eines gedeihlichen Zusammenlebens in Medina eben solch eine Sichtweise nahelegen: »Wahrlich, die Gläubigen und die Juden und die Christen und die Sabäer – wer immer (unter diesen) wahrhaft an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag und gute Werke tut –, sie sollen ihren Lohn empfangen von ihrem Herrn, und keine Furcht soll über sie kommen, noch sollen sie trauern.« (Koran 2:63)8

8 In Lata¯ʾif al-Isˇa¯ra¯t, seinem Kommentar zu diesen a¯ya¯t, betont der bekannte Koranexeget Abu¯ ˙ ʿAbd al-Karı¯m al-Qusˇairı¯ die gottgewollte Diversität der Religionen als wichtige l-Qa¯sim Grundlage des islamischen Glaubens: »The diversity of [religious] paths in spite of the unity of the source does not prevent a goodly acceptance [for all]. For anyone who affirms the Real in His signs and believes in what He has said concerning His truth and attributes, the dissimilarity of [religious] laws and diversity that occurs in [the] name[s] [of religion] is not a problem in terms of who merits [God’s] good pleasure. Because of that He said, ›Surely those who believe and those of the Jews.‹ Then He said, ›whoever believes,‹ meaning if they fear [God] in [their] different ways of knowing [Him], all of them will have a beautiful place of return and an ample reward. The believer (muʾmin) is anyone in the protection (ama¯n) of the Real. For anyone who is in His protection, it is fitting that no fear shall befall them, neither shall they grieve« (vgl. alQusˇairı¯ 2019).

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873

»Aber doch! Wer (auch immer) sich Allah ergibt (aslama) und dabei rechtschaffen ist, dem steht bei seinem Herrn sein Lohn zu. Und sie brauchen (wegen des Gerichts) keine Angst zu haben, und sie werden (nach der Abrechnung am jüngsten Tag) nicht traurig sein.« (Koran 2:112) »Unter den Leuten der Schrift gibt es welche, die an Allah glauben und an das, was zu euch, und was (früher) zu ihnen (als Offenbarung) herabgesandt worden ist. Dabei sind sie demütig gegen Allah und verschachern die Zeichen Allahs nicht. Denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu. Allah ist schnell im Abrechnen.« (Koran 3:199) »Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Saabier und die Christen, – (alle) die, die an Allah und den jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, brauchen (wegen des Gerichts) keine Angst zu haben, und sie werden (nach der Abrechnung am jüngsten Tag) nicht traurig sein.« (Koran 5:69)

2.2.1.4 Die g˘izya-a¯ya¯t: Konsolidierung der gesellschaftlichen Stellung der jüdischen Gläubigen »Kämpft gegen jene unter den Schriftbesitzern, die nicht an Gott und den Jüngsten Tag glauben und die nicht verbieten, was Gott und Sein Gesandter verbieten und die sich nicht zum wahren Glauben bekennen, bis sie die Dschizya-Steuer freiwillig und folgsam entrichten.« (Koran 9:29)

Die Tatsache, dass die gˇizya-a¯ya¯t (von gˇizya, der Steuer für die nichtmuslimischen Schutzbefohlenen) kurz vor dem Feldzug nach Tabu¯k im Jahre 630 gegen das Byzantinische Reich offenbart wurden, lässt Tabarı¯ vermuten, dass der Koran ˙ zunächst nicht die jüdische Bevölkerung von Medina, sondern das Byzantinische Reich als mögliche Steuerquelle ins Auge fasste (Cetiner 2013, S. 446; Watt 1956, S. 105). Reuven Firestone, Wissenschaftler am Hebrew Union College, sieht in diesen a¯ya¯t keinen religiösen Angriff auf Judentum oder Christentum, sondern eine politisch-militärische Regelung zur Stellung der nichtmuslimischen Bevölkerung von Medina. »Islam found itself in military and political control of vast populations of non-believers within only a generation after its emergence. It was therefore necessary to develop policy regarding them. The details vary, and the process of creating any kind of official policy was a long one. Moreover, the laws or policies that were developed were often ignored by rulers or were enacted only when it suited them. Once established, however, they were ›on the books‹, meaning that they represented an authoritative articulation of expected relations with religious minorities, including the Jews. It should be stated clearly that the Qur’an nowhere calls for the destruction of the Jews. The policies of relationship between Muslims and Jews are based upon and authorized by Qur’an 9:29.« (Firestone 2005, S. 440)

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Letztlich sprechen auch andere Stellen des Korans – etwa jene, die den Zwang zur Religion verbietet (Koran 2:256), oder jene, die den Schutz der Gotteshäuser zur Pflicht eines jeden Menschen muslimischen Glaubens erklärt (Koran 22:40) – dafür, dass diese a¯ya¯t nicht als Aufruf zur Vernichtung Andersgläubiger zu deuten sind.

3.

¯ t für das Die Bedeutung der koranischen ¯aya muslimisch-jüdische Verhältnis in der Gegenwart

Dass sich der Islam in seiner Entstehungsphase von anderen Religionen dadurch abzugrenzen versucht, dass er sie in negativem Licht darstellt, liegt in der Natur monotheistischer Religionen – in den heiligen Schriften sämtlicher monotheistischer Religionen dient die polemische Abwertung anderer Religionen und ethnischer Gruppen eigentlich der Definition der eigenen Identität (siehe Deuteronomium 7:1–2; Matthäus 23) (Firestone 2005). Derartige Darstellungen des Judentums im Koran haben bis in die Gegenwart gültige Ideologien und theologische Positionen hervorgebracht, welche die Abwertung von dessen Angehörigen als religiöse Aufgabe verstehen und gewollt oder ungewollt muslimischen Antisemitismus fördern. Tatsächlich lässt sich eine ganze Reihe von Bewegungen in den islamischen Ländern und in Europa nennen, die ihren Judenhass mit diesen a¯ya¯t begründen (Lev & Laskier 2011, S. 10). Nicht viel anders gestaltet sich die Lage freilich in orthodoxen Kreisen der jüdischen Community. »[…] it is not only among the Islamists who, after all, represent a small minority among Muslims, that such ideas have currency, but alas, among many members of the broader Muslim population as well. […]. This lamentable hostility has, regrettably, been reciprocated within certain quarters of Jewry as well. Visceral anti-Islamic sentiments can be found among extreme religious-nationalist quarters both in Israel and the Diaspora.« (Lev & Laskier 2011, S. 11)

Wenn es nun darum geht, dieses in Medina verbreitete Judenbild, das ja als Reaktion auf das Verhalten bestimmter Personen entstanden ist, also nicht als theologisch begründete, universale Sichtweise auf das Judentum gelten kann, zu entkräften, könnte es sich als hilfreich erweisen, die einschlägigen a¯ya¯t mit einem Anhang zu versehen, in dem dieser Kontext thematisiert wird. »O ihr Gläubigen! Diejenigen unter den Schriftbesitzern und den Ungläubigen, die sich über eure Religion lustig machen und abfällig darüber reden, dürft ihr nicht zu Vertrauten nehmen. Fürchtet Gott und haltet seine Vorschriften ein, wenn ihr wirklich glaubt!«

Das Judentum im islamischen Religionsunterricht

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Wenn ihr zum Gebet aufruft, machen sie sich darüber lustig, weil sie Menschen sind, die sich des Verstandes nicht bedienen können. Sprich: ›Ihr Schriftbesitzer! Grollt ihr uns etwa, weil wir an Gott, die uns herabgesandte Offenbarung und die zuvor herabgesandten Offenbarungen glauben und weil die meisten von euch Frevler sind?‹« (Koran 5:57–59)

Einer der bekanntesten muslimischen Koranforscher, al-Wa¯hidı¯, schreibt über ˙ die Herabsendungsgründe dieser a¯ya¯t Folgendes: »Said al-Kalbi: »When the caller to prayer, appointed by the Messenger of Allah, Allah bless him and give him peace, called to prayer, the Muslims stood up to perform it. Seeing this, the Jews used to comment: ’they stood up, may they never stand up! They prayed, may they never pray! They bowed down, may they never bow down!’ They used to say this to mock the Muslims and make fun of them. And so Allah, exalted is He, revealed this verse«. Said al-Suddi: »This was revealed about a man from the helpers of Medina. Whenever he heard the caller to prayer say, ’I bear witness that Muhammad is the Messenger of Allah’, he would say: ’May the liar be burnt!’« (Al-Wa¯hidı¯ 2008, S. 69) ˙

Im Koran finden sich weitere a¯ya¯t, die davon zeugen, dass die Beziehungen zwischen der jüdischen und der muslimischen Bevölkerung Medinas aufgrund der in der Stadt herrschenden Verhältnisse sehr polemisch geprägt waren (Koran 5:59, 68, 71, 82). Jeweils aus einem konkreten Kontext heraus kam es nicht nur zu persönlichen Konfrontationen, sondern auch zu theologischen Auseinandersetzungen mit den jüdischen Stämmen von Medina. Im Koran wird erwähnt, dass diese ʿUzair (Ezra ha-Sofer) als Sohn Gottes verehrten (Koran 9:30), detaillierte Hintergrundinformationen finden sich dazu allerdings nicht. Auch ist nicht bekannt, ob diese Theologie von allen jüdischen Stämmen oder nur von den zwei KohenFamilien Banu¯ al-Nad¯ır und Banu¯ Quraiza vertreten wurde. Mit Sicherheit lässt ˙ sich jedoch sagen, dass das monotheistische Denken des Judentums eine solche Abweichung von seinen Grundsätzen nicht zulässt. »It is possible that Jews who held such views had to settle far away from mainstream Jewish communities that would have found such thinking unacceptable. Their very special regard for Ezra could easily have been misconstrued by early Muslims (as it apparently was by the established Jewish communities in the Land of Israel and Babylonia) as compromising true monotheism.« (Firestone 2008, S. 11)

Ähnliche Fragen tun sich auch hinsichtlich der der jüdischen Seite unterstellten Verfälschung der Schrift oder der Stellung der jüdischen Gelehrten, welche im Koran kritisch hinterfragt werden, auf. »Sie nahmen ihre Schriftgelehrten und ihre Mönche zu Göttern anstelle von Gott.« (Koran 9:31)

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Oder: »Wehe denen, die mit eigener Hand Bücher schreiben und sagen: ›Diese sind von Gott‹, damit sie einen geringen Gewinn erzielen. Wehe ihnen wegen ihrer mit eigener Hand geschriebener Bücher! Und wehe ihnen wegen des Gewinns, den sie dadurch erzielen!« (Koran 2:79)

Islamische Theolog*innen führten heftige wissenschaftliche Debatten darüber, was der Koran mit der Thora, die im Koran an 18 Stellen erwähnt wird, meint, diesbezüglich bestehen einige Unklarheiten (Adam 2019, S. 363). Die jüdische Lehre besagt, dass Moses die Thora von Gott erhalten hat und die Angehörigen des jüdischen Glaubens mit der Thora, also mit Gott, einen Bund geschlossen haben. Die hebräische Bibel – Thora (die fünf Bücher Mose), Ketuvim (Schriften) und Neviʿim (Prophetenbücher) – war schon vor der Zeitenwende abgeschlossen (vgl. Güzelmansur 2014, S. 102). Ob der Koran von der Thora oder von den Talmudsammlungen spricht, konnte im Rahmen der islamischen Exegese nicht eindeutig geklärt werden. Aus der Biografie des Propheten Muhammad geht ˙ jedenfalls hervor, dass er mit der Thora äußerst respektvoll umging und sich über den Inhalt bestimmter darin enthaltener Gesetze erkundigte (Abu¯ Da¯wu¯d, Hudu¯d 27; Köksal 1981, S. 215). Auch bestand er darauf, dass die Thora nach ihrer Entwendung im Zuge der Eroberung der jüdischen Festung Haybar unversehrt zurückgegeben werde (al-Buha¯rı¯, Mana¯qib 27). ˘ Im Lichte dessen – der Biografie des Propheten Muhammad und der nicht ˙ eindeutigen Hinweise im Koran betreffend die Schriftverfälschung – kann angenommen werden, dass der Koran nicht die Thora, sondern den Talmud meint. »Aus dieser Grundsituation heraus wird verständlich, wenn der Koran die Juden und ihren Talmud meinen sollte und darüber sagt: ›Sie schreiben es mit der Hand.‹ – Das stimmt und ist den jüdischen Gelehrten durchaus bewusst. Die Namen der Rabbinen, die diese oder jene Position vertreten und bestimmte Geschichten erzählen, werden ja sogar genannt. Und dennoch sagen sie: ›Das ist von Gott.‹ Dies trifft ebenso auf die mündliche Thora und den Talmud zu und die Autorität, die im rabbinischen Judentum durch ihn beansprucht wird. Wenn nun, vom Koran ausgehend, alle Aussagen, die über diese Mosebücher hinausgehen bzw. sie modifizieren und mit göttlichem Anspruch vorgetragen werden und als Schriftverfälschung angesehen werden, so wäre damit die Anklage nachvollziehbar.« (Güzelmansur 2014, S. 103)

Eine nähere Befassung mit weiteren theologischen Debatten über jene a¯ya¯t im Koran, welche das Judentum betreffen, ginge über den Rahmen dieses Beitrags hinaus. Festzuhalten ist jedoch einmal mehr, dass die einschlägigen Verse zunächst in ihrem Kontext zu verstehen sind. Sich dieser Einsicht durch parteiliche

Das Judentum im islamischen Religionsunterricht

877

oder ideologiegeprägte Deutung – wie es Qutb9 und ähnliche Autor*innen getan haben – zu verweigern, heißt die Feindschaft unter den religiösen Gruppen zu fördern und jegliche sachliche Auseinandersetzung mit der Thematik zu verunmöglichen.

4.

Das Judentum im Koran und die Verantwortung der Religionspädagogik

Von muslimischer Seite wird der Antisemitismusvorwurf vehement zurückgewiesen und beteuert, dass ihre Kritik allein der jüdischen Haltung im Konflikt um Palästina gelte. Dabei zeugen nicht nur die politischen Debatten, sondern auch wissenschaftliche Abhandlungen – so etwa eine ganze Reihe von aktuellen Aufsätzen – davon, dass Antijudaismus, Judendiskriminierung und Judenhass in den islamischen Ländern sehr wohl auch theologisch begründet werden (Agirakca 2018). Diese Denkart prägt auch die Haltung muslimischer Schüler*innen in Europa, die nicht nur in Sachen Medienkonsum unter dem Einfluss islamischer Länder stehen, sondern vor allem von in Europa tätigen muslimischen Organisationen vereinnahmt werden (Jikeli 2013, S. 185–227). Eine der wichtigsten didaktischen Aufgaben des islamischen Religionsunterrichts besteht daher darin, dem theologisch begründeten Judenhass entgegenzutreten – zu deren Bewältigung er freilich seinerseits einer klaren theologischen Grundlage bedarf. In den Schulbüchern der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) wird zwar das Judentum als anerkannte Religion erwähnt, wird auf die Feste und Traditionen dieser Religion eingegangen, von der Herausforderung, die Antisemitismus und Judenhass darstellen, ist jedoch nicht die Rede (Shakir 2016). Zwar kommt in den Lehrplänen der Begriff Antisemitismus dreimal vor,10 eine Auseinandersetzung mit dem theo9 Sayyid Qutb, der nach wie vor als geistige Führungskraft der Muslimbruderschaft in der Welt gilt, macht sich in seinem Buch Unser Kampf mit Juden bei der Begründung des muslimischen Zorns auf das Judentum Hitlers Sicht zu eigen und sieht in dessen Vorgehen gegen das Judentum die Strafe Gottes (vgl. Pfahl-Traughber 2019; Firestone 2005, S. 444). 10 »Ablehnung von jeglichem Rassismus und jeglicher Diskriminierung: Der Islam verbietet Rassismus. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit werden theologisch begründet abgelehnt. Ausgehend davon, auch ein religiöses Unrechtsbewusstsein zu wecken, wenn es um Fälle von Diskriminierung geht, soll die Situation in Österreich besprochen werden. Dabei soll ein besonderer Schwerpunkt darauf gelegt werden, welchen Schutz Religionsfreiheit genießt« (5. Schulstufe); »[e]in Nein zur Gewalt, ein Nein zu Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus etwa. Die Schülerinnen und Schüler sollen weiterhin zwischen positiver und negativer körperlicher Stärke differenzieren und lernen, dass Energie, welche in diesem Alter oftmals in großem Ausmaß vorhanden ist, gebündelt und in sinnvolle Handlungen eingebracht werden sollte« (7. Schulstufe).

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logisch begründeten Antisemitismus aber ist weder in den Lehrplänen noch in den Schulbüchern vorgesehen. Die Verfasstheit der Lehrpläne und Schulbücher des islamischen Religionsunterrichts in Österreich gäbe tatsächlich Anlass zu einem ernsthaften Umdenken in der Gestaltung dieses Themas im Religionsunterricht. Als erster Schritt wäre zunächst eine religionspädagogische Debatte darüber zu führen, welche theologischen Lehrsätze die Haltung der muslimischen Religionslehrer*innen dem Judentum gegenüber prägen. Selbst wenn eine öffentliche Debatte darüber für die IGGÖ unter den aktuellen politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen nicht infrage kommt, sollte sie zumindest Forschungen in Zusammenarbeit mit bestimmten wissenschaftlichen Einrichtungen in diese Richtung zulassen. Dies würde die Auseinandersetzung mit den theologischen Begründungen der Stellung des Judentums im Denken der Schüler*innen und Religionslehrer*innen nicht unwesentlich erleichtern. Eine weitere Aufgabe für den Religionsunterricht ist die, das negative, antijüdische Vorurteile begünstigende Judenbild in Koran und Sunna, also Stellen, die öfters unreflektiert zur Förderung von Judenhass missbraucht werden, auf Grundlage neuer theologischer Erkenntnisse zu revidieren – und zwar dahingehend, dass die Angehörigen des jüdischen Glaubens in den islamischen Schulbüchern nicht länger als »Mörder des Propheten«11 oder als »verfluchtes Volk«12 dargestellt werden. Es verdient Anerkennung, dass die Lehrpläne der IGGÖ sichtlich um eine sachliche Darstellung des Judentums bemüht sind – tatsächlich ist es mit der bloßen Vermeidung oder Verdrängung von kritischen Auseinandersetzungen mit den islamischen Quellen nicht getan. Durch solche Anstrengungen können die Schüler*innen befähigt werden, die Genese antijüdischer Vorurteile zu begreifen, um so die Hintergründe der aktuellen politischen Debatten besser zu verstehen und judenfeindlichen theologischen Argumenten entgegenzutreten.

5.

Fazit

Um politische, wirtschaftliche und theologische Interessen durchzusetzen, wird in der muslimischen Welt oftmals ein Judenbild vermittelt, das vor langer Zeit in einem ganz bestimmten Kontext geprägt wurde. Wie aber eine sachliche Aus11 Vgl. Koran 2:87, 5:70. 12 Vgl. Koran 4:47, 5:13, 64, 78. Zu weiteren negativen Merkmalen der Angehörigen der jüdischen Glaubenslehre, die im Koran vorkommen, siehe Koran 106:2, 107:3, 108:4, 109:5, 110:6, 111:7, 113:9, 114:10, 115:11, 119:15, 2:88–91, 3:98, 112:4, 2:51, 7:138–9, 9:30–31, 2:87, 3:24, 4:48, 5:70, 62:5, 2:87–89, 3:181, 5:18, 40:56, 2:61, 3:21, 4:155. Die Liste der die theologische Grundlage für judenfeindliche Aussagen bildenden Koranstellen ließe sich erweitern.

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879

einandersetzung mit der Geschichte der jüdisch-islamischen Beziehungen, wie sie vor allem in Medina herrschten, zeigt, haben die Angehörigen beider Glaubensrichtungen – anders als andere Völker und Gruppen – durchaus friedlich zusammengelebt, sich immer wieder gegenseitig gefördert und bereichert und dabei viel voneinander gelernt. Eine Beurteilung der jüdisch-islamischen Beziehungen allein auf der Grundlage aktueller politischer Debatten würde dem wechselvollen Verlauf der islamischen Geschichte nicht gerecht. Diese Tatsache birgt für die islamische Religionspädagogik die Chance, die etablierte Theologie mit Blick auf kindliche Lebenswelten einer Revision zu unterziehen und Aussagen des Korans und des Propheten, die dazu angetan sind, Judenfeindschaft auf muslimischer Seite zu fördern, zu überarbeiten, um so dafür zu sorgen, dass die Hauptquellen des Islams einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben von muslimischen und jüdischen Gläubigen leisten. Damit wäre eine solide Grundlage geschaffen, um die jüdisch-islamischen Beziehungen jenseits des Palästinakonflikts zu diskutieren und das Augenmerk auf diverse Friedenskonzepte zu richten.

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Das Judentum im islamischen Religionsunterricht

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Ednan Aslan (Hg.)

Handbuch Islamische Religionspädagogik Teil 2

Mit 4 Abbildungen

V&R unipress

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Inhalt

Islamische Erziehung im internationalen Vergleich: Modelle und Debatten Soumaya Louhichi-Güzel Politisierung von Religion in der Lehre: Die tunesische Erfahrung . . . .

891

Mohamed Dawoud Religiöse Bildungsreform am Beispiel Ägypten . . . . . . . . . . . . . . .

911

Samim Akgönül Bildungseinrichtungen religiöser Minderheiten in mehrheitlich muslimischen Ländern: Der »Fall Türkei« . . . . . . . . . . . . . . . . .

937

Ibrahim Koçyig˘it Universitäre Implementierung der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

955

Durdane Kılıçdag˘ı Islamische Erziehung in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

981

Anne-Laure Zwilling Französischer Säkularismus und islamische Religionspädagogik . . . . .

999

Margaret J. Rausch Islamische Bildung in Großbritannien und Irland . . . . . . . . . . . . . 1023 Ina ter Avest / Cok Bakker Islamische Bildung in den Niederlanden und Belgien . . . . . . . . . . . 1049 Jørgen S. Nielsen Islamische Erziehung in Nordeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1069

888

Inhalt

Rositsa Atanasova Nach dem Atheismus: Islamische Erziehung in Bulgarien in der postkommunistischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083 Mykhaylo Yakubovych Islamische Erziehung in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und Rumänien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107 Muhamed Ali Islamische Bildung am Balkan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1121 Yahia Baiza Islamische Erziehung in Afghanistan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1143 Włodzimierz Cieciura Islamische Erziehung in China

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1169

Jamal Malik Muslim*innen und religiöse Bildung in Südasien mit Schwerpunkt Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1191 Azmil Tayeb Islamische Bildung in Malaysia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1215 Nurullah Altas¸ Islamische Erziehung in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239 Ghazaleh Faridzadeh Islamische Erziehung im Iran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1269 Haimaa El Wardy Islamische Erziehung in Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1297 Margaret J. Rausch Islamische Bildung in den USA und Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 Verzeichnis der Autor*innen Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1339

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1359

Islamische Erziehung im internationalen Vergleich: Modelle und Debatten

Soumaya Louhichi-Güzel

Politisierung von Religion in der Lehre: Die tunesische Erfahrung

Zusammenfassung In Tunesien stehen sich, mehr als in anderen islamischen Ländern, die arabischislamische Identität und das frankophone, laizistische Denken gegenüber. Beides ist als historisch gewachsenes Erbe wesentlich für die tunesische Bewusstseinsbildung und wirkungsmächtig bei der Ausbildung einer tunesischen Nationalidentität. Die sich aus der zeitweiligen Frontstellung ergebenden Spannungen wirken sich wiederum unmittelbar auf die Bildungspolitik des Landes aus. Daher wäre eine Untersuchung der Bildungsreformen in Tunesien unter Ausschluss der politischen Parameter und gesellschaftlichen Umstände nicht möglich, weshalb deren Analyse und Kontextualisierung eine notwendige methodische Voraussetzung dieses Aufsatzes darstellen. Unter den zahlreichen Bildungsreformen Tunesiens liegt das Hauptaugenmerk in diesem Aufsatz auf der Bildungsreform Charfis (1936–2008) – und dabei besonders auf dem Fach »Islamische Erziehung« (at-tarbiya al-isla¯mῑya) –, deren Wirkungszeitraum die Jahre 1989 bis 1994 umfasst. Zunächst werden Auswirkungen der innen- und außenpolitischen Parameter auf die tunesische Bildungspolitik, speziell auf die Religionslehre, herausgearbeitet. Darauf aufbauend sollen Kontinuitäten und Brüche in der Politik der Religionslehre sowie die sich hieraus ergebenden Folgen für die fachliche Ausrichtung in Methodik und Inhalt aufgezeigt werden.

1.

Religion und Politik: Einflüsse und Wechselwirkungen

Die Besonderheiten der tunesischen Bildungspolitik sind ein direktes Resultat und ein deutlicher Ausdruck spezifischer sozialer, historischer, kultureller und nicht zuletzt politischer Auseinandersetzungen. Dies in einem Land, in dem sich mehr als in anderen islamischen Ländern arabisch-islamische Identität und frankophones, laizistisches Denken gegenüberstehen. Beide Faktoren sind rele-

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Soumaya Louhichi-Güzel

vant für die Ausbildung der tunesischen Nationalidentität. Denn der erste Präsident des Landes nach der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba1, setzte sich nach seiner Amtsübernahme im Jahr 1957 für ein Modernisierungsprojekt ein, das neben dem kemalistischen Modell aus der Türkei zu den laizistischsten Modellen in der islamischen Welt zählt. Hinsichtlich religiöser Fragen entschied sich Bourguiba für eine »Revolution von oben«, was unweigerlich einen Konfrontationskurs bedeutete. Dabei konnte er auch auf den Bemühungen von Taher Haddad und dessen Buch Imra’atuna¯ fı¯ ˇs-sˇarı¯’a wa-l–mug˘tama’ (»Unsere Frau in Scharia und Gesellschaft«, 1930) aufbauen. Darin diskutiert Haddad islamische Rechtsgrundlagen in Bezug auf die Frau und die Familie. Er plädiert für eine Rückkehr zum Kern des Islams und geht über die gesellschaftlichen Praktiken hinaus, die diese Vorschriften prägen. Er fordert, dass man die Erbschaftsregelungen von Neuem prüfe, denn im Allgemeinen erbte eine Frau als Einzelkind bei den Sunniten nicht alles, was der verstorbene Vater besaß. Bezüglich der Polygamie und Ehe betonte Haddad die Notwendigkeit der Zustimmung beider Seiten. Zu Lebzeiten Haddads war es üblich, dass ein Vater seine volljährige, jungfräuliche Tochter ohne ihre Zustimmung verheiratete, was in der malikitischen Rechtsschule begründet ist, zu der sich Tunesien bekennt. Ebenso plädierte er dafür, das Thema Scheidung von Neuem zu prüfen. Über eine Scheidung entschied der malikitischen Rechtsschule zufolge der Mann, der das Band der Ehe mit der Scheidung löste. Deshalb forderte Haddad die Schaffung von Gerichten, die über Scheidungsfälle urteilen, damit die Scheidung nicht allein im Ermessen des Mannes liege. Am 13. August 1953 führte Bourguiba ein neues Personenstandsrecht (mag˘allat al-ahwa¯l asˇ-sˇahs¯ıya) ein, für das er auf die ˙ ˘˙ Vorarbeiten des genannten Gelehrten und dessen Buch zurückgreifen konnte. Damit wurden den Religionsgelehrten zahlreiche richterliche Befugnisse aus der Hand genommen und den staatlichen Gerichten übertragen, darunter die Durchführung von Scheidungsverfahren. Bourguiba hatte zudem bereits kurz nach der Unabhängigkeit des Landes die Stellen für Lehrer an der Zaitu¯naMoschee gestrichen. Der bis in die späten 1950er-Jahre zurückgehende Kurs der bildungsreformerischen Versuche in der unabhängigen Ära Tunesiens hält bis heute an. Laut der US-amerikanischen Forscherin Sarah Feuer, die jüngst eine Studie zum Verhältnis von Religion und Staat in Tunesien und Marokko herausbrachte, beruhten diese Bemühungen auf dem Wunsch, einen »Ausgleich zwischen Mohammed und Montesquieu« zu schaffen (Feuer 2018, 128ff.). Dieser These mag man mit Zustimmung oder Zweifel begegnen, indes spiegelt sie die Spannung der

1 Arabische Termini werden nach den DMG-Transkriptionsrichtlinien wiedergegeben, bei Eigennamen wird jedoch aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit darauf verzichtet.

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sozialen und politischen Debatten in Tunesien wider, die sich wiederum unmittelbar auf die Bildungspolitik des Landes auswirken. Diese grundlegenden Beobachtungen verdeutlichen, dass eine Untersuchung der Bildungsreformen in Tunesien unter Ausschluss der politischen Parameter und gesellschaftlichen Umstände nicht möglich ist und deren jeweilige Analyse und Kontextualisierung eine notwendige methodische Voraussetzung dieses Aufsatzes darstellen. Daher sollen hier zunächst die Auswirkungen der innenund außenpolitischen Parameter auf die Bildungspolitik, speziell auf die Religionslehre herausgearbeitet und im Anschluss daran Kontinuitäten und Brüche in der Politik der Religionslehre sowie die sich daraus ableitenden Problematiken in Methode und Inhalt aufgezeigt werden. Tunesien erlebte zahlreiche Bildungsreformen. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit aber liegt auf der Bildungsreform Mohamed Charfis (1936–2008), die dieser in seiner Funktion als Minister für Erziehung und Hochschulbildung in den Jahren 1989 bis 1994 initiierte und leitete, und insbesondere auf dem Fach »Islamische Erziehung« – so die wörtliche Übersetzung der Bezeichnung des Faches im Arabischen (at-tarbiya al-isla¯mῑya). Die Debatte über ihren Erfolg und ihre Auswirkungen hält bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt an. Ihre Untersuchung dient ebenso der Einordnung der Reformen, die später den »Arabischen Frühling« begleiteten bzw. diesem folgten und die nur im Kontext ihrer Vorgeschichte betrachtet werden können. Den Reformen Charfis unter Präsident Ben Ali waren zwei wichtige Reformprozesse unter Präsident Bourguiba vorausgegangen. Der erste fand unter der Aufsicht des Ministers für nationale Erziehung, Mahmoud Messadi, im Jahr 1958 statt, also kurz nach der Unabhängigkeit. Daran schlossen sich die Reformen seines Amtsnachfolgers Mohamed Mzali ab 1970 an. Messadis erste Reformbemühungen im unabhängigen Tunesien sahen sich mit einer großen Herausforderung im Umgang mit dem Erbe des Bildungssystems konfrontiert, welches Frankreich seit der Errichtung des Protektorats im Jahr 1881 bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1956 aufrecht hielt. Frankreich hatte ein duales Bildungssystem geschaffen, das sowohl von staatlichen als auch von religiösen Institutionen getragen wurde. Diese Aufteilung entsprach der auch in Frankreich verfolgten Bildungspolitik. Denn das laizistische, auf dem Prinzip der absoluten Trennung zwischen Staat und Religion basierende französische System schuf zwei verschiedene Räume: Zum einen den der staatlichen Schule, der die Religionslehre ausschloss, und zum anderen den der Kirche, in dem Angelegenheiten der Religion ihren Platz hatten. Hierfür wurde in Frankreich am 28. März 1882 ein bis heute gültiges Gesetz erlassen, welches den bis dahin in den staatlichen Schulen obligatorischen Religionsunterricht abschaffte und ihn durch das Fach »Ethik und Bürgerkunde« ersetzte. Die praktische Umsetzung des Gesetzes verlief nicht ohne heftige Konflikte mit der Kirche. Zugleich aber wurde

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eine weitere Klausel festgelegt, die alle Grundschulen dazu verpflichtete, zusätzlich zum Sonntag einen weiteren Tag freizuhalten, der den Schüler*innen den Besuch des Religionsunterrichts außerhalb der staatlichen Lehreinrichtungen ermöglichte (Estivalezes 2004, S. 9–18). Dieselbe Bildungspolitik übertrug Frankreich auf sein Protektorat Tunesien. Die Wahrung alter Lehrtraditionen wurde als Folge auf den Raum der vielerorts durch Medresen vertretenen, religiösen Bildungseinrichtung der alten Zaitu¯na-Universität beschränkt. Reformen innerhalb dieser Einrichtungen blieben aus. Zudem waren sie abhängig von religiösen Stiftungen und Spenden, da ihnen Gelder aus dem staatlichen Bildungsetat versagt blieben. Des Weiteren schuf das Protektorat staatliche französisch-arabische Grund- und Sekundarschulen, die tunesischen und französischen Schüler*innen gleichermaßen offenstanden. Freilich galt in diesen Bildungseinrichtungen Französisch als die Unterrichtssprache. Sarah Feuer zeigt, dass diese Schulen im Allgemeinen die Lehrpläne und Konzepte der staatlichen Schulen in Frankreich verwendeten und speziell dem Einfluss der in Frankreich besonders zu Amtszeiten von Premierminister Jules Ferry (1880–1881 und 1883–1885) durchgeführten Bildungsreformen unterlagen. Ferry hatte sich dem Wahlspruch »Schule ohne Gott« (école sans Dieu) verschrieben. Feuers Studie weist ferner darauf hin, dass bis 1953 in den Lehrplänen staatlicher Schulen in Tunesien ein Religionslehrbuch für muslimische Schüler*innen keine Erwähnung fand (Feuer 2018, S. 131–133). Das duale Bildungssystem blieb nach der Staatsgründung Tunesiens im Jahr 1956 nur für kurze Zeit unangetastet. Bereits 1958 richtete der erste Reformplan unter der Führung von Bourguiba sein Augenmerk auf die Vereinheitlichung des Bildungssystems. Obwohl er stark vom französisch-laizistischen System beeinflusst war, kam für Bourguiba eine Trennung zwischen der Domäne der Zaitu¯na und der staatlichen Schule nicht infrage. Im Gegenteil, er war mit Nachdruck bestrebt, die Religionslehre den Kompetenzen der religiösen Einrichtung zu entziehen und in die Lehrpläne der staatlichen Schulen zu implementieren. Dies hatte zum Ziel, eine Vision von Religion zu verwirklichen, die im Einklang mit dem »modernen Leben« stand. So schränkte er die Befugnisse der Zaitu¯na in der Religionslehre auf die Hochschulbildung innerhalb der Zaitu¯na-Universität ein. In Einklang mit der von Bourguiba initiierten Bildungspolitik führte Messadi eine Reform des Fachs »Religionslehre« durch, die eine weitere Priorität des Reformplans von 1958 darstellte. Der Reformprozess ging mit Maßnahmen einher, die viel Kritik auf sich zogen. Dies betraf vornehmlich die Abschaffung der Religionslehre in der Mittelstufe der Zaitu¯na und deren Integration in den Lehrplan der staatlichen Schulen. Auf diese Weise entstand das zusammengeführte Schulfach »Religionslehre und Bürgerkunde« (at-tarbiya al-watanῑya wa˙ d-dı¯nı¯ya). Mit Ausnahme der letzten Klassenstufe wurde das Fach in der Grundund Sekundarschule unterrichtet. In der letzten Klassenstufe wurde es dann vom

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Fach »Philosophie und Islamisches Denken« (al-falsafa wa-t-tafkῑr al-isla¯mῑ) abgelöst. Sarah Feuer hebt diesbezüglich in ihrer Studie hervor, dass der Religionslehre nach der Unabhängigkeit Tunesiens nur wenig Raum zugestanden wurde und der Staat in erster Linie bestrebt war, die Religionslehre und die laizistische Auffassung in Einklang zu bringen (Feuer 2018, S. 133f.). Für gewöhnlich führen Historiker*innen die konfrontative Politik Bourguibas gegen die Zaitu¯na auf unterschiedliche ideologische Auffassungen beider Seiten zurück. Dabei spielten politische Interessenskonflikte in diesem Punkt eine weitaus größere Rolle. Denn Bourguiba war den Gelehrten der Zaitu¯na gegenüber skeptisch, weil sie seinem politischen Widersacher Salah Ben Youssef Rückhalt gaben. Dieser hielt am 7. Oktober 1955 an der Zaitu¯na-Universität eine Rede, in der er seine Ablehnung des Autonomieabkommens kundtat, das Bourguiba am 3. Juni 1955 mit einem Vertreter der französischen Regierung unterzeichnet hatte. Ben Youssef beschuldigte Bourguiba der Kollaboration mit dem Westen und des Verrats der nationalen Sache. Dies mündete in einem brisanten politischen Konflikt zwischen den Anhänger*innen der beiden Widersacher, der das gesamte Modernisierungsprojekt Bourguibas infrage stellte. Die Zaitu¯na war »der Raum, in dem sich die erste und stärkste politische Opposition bildete, die sich gegen Bourguiba aufstellte«, so der ehemalige Minister für nationale Erziehung, Chedly Ayari, rückblickend in einem Interview aus dem Jahr 2003 (zitiert nach Moussa 2011, S. 181). Darüber hinaus verfolgte sie ein oppositionelles politisches Projekt, das sich Arabertum und Islam als Wahlsprüche auf die Fahnen schrieb. Diese auf unterschiedlichen ideologischen Auffassungen aufbauende Marginalisierung der Zaitu¯na sollte bis Ende der 1960er-Jahre andauern, bevor eine erhebliche Änderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sich auf die politischen auswirken sollte. So kam es infolge der gescheiterten Wirtschaftspolitik im Jahr 1969 zu einer kurzzeitigen Annäherungspolitik. Der damalige Minister für Entwicklung und Planung, Ahmed Ben Salah, hatte eine Wirtschaftsreform nach sozialistischen Grundsätzen lanciert, die auf genossenschaftlichen Prinzipien in den Sektoren Landwirtschaft und Handel beruhte (Tamimi 2002). Das Scheitern dieses Versuchs führte zu einer allgemeinen Preiserhöhung, die wiederum Demonstrationen und Unruhen im Land nach sich zog, welche die politische Stellung Bourguibas ins Wanken brachten. So sah Bourguiba sich durch die wirtschaftlichen Rückschläge dazu gezwungen, am 22. September 1969 das Scheitern des genossenschaftlichen Wirtschaftsprojekts zu verkünden und sich beim Volk zu entschuldigen. Eine von der Autorin Amal Moussa durchgeführte Textanalyse der Reden Bourguibas (Moussa 2011, S. 188ff.) zeigt, dass die Religionspolitik des Präsidenten davon nicht unberührt blieb. Nachdem er hatte einsehen müssen, dass unter den gegebenen Umständen eine Fortsetzung seiner bisherigen Konfrontations- und Marginalisierungspoli-

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tik nicht unproblematisch wäre, entschied sich Bourguiba für einen Kurswechsel und entwickelte eine neue religionspolitische Strategie, durch die er die Gunst des Volkes zu gewinnen hoffte. Die Annäherung von Politik und Religion erreichte ihren Höhepunkt, als Bourguiba im Jahr 1970 in vordergründig zu religiösen Feierlichkeiten gehaltenen Reden erklärte, dass er »der Präsident eines islamischen Staates« sei, die Stellung des »Imams« innehabe, »sein Leben und seine Anstrengungen im Dienste des Arabertums und des Islams« stünden und er »für immer an der Religion festhalten« werde (zitiert nach Moussa 2011, S. 206). Dieser radikale Wandel im politischen Umgang mit der Religion hatte auch Auswirkungen auf die Bildungspolitik im Allgemeinen und die inhaltliche Gestaltung der Religionslehre im Speziellen, für die ab 1969 Mohamed Mzali als Minister für nationale Bildung verantwortlich zeichnete. Dessen Bildungsreformen sind nicht nur vor dem ausgeführten innenpolitischen Hintergrund zu verstehen, sondern auch in Zusammenhang mit dem sogenannten »Islamischen Erwachen« (as-sahwa al-isla¯mῑya) – ein Begriff, der vor allem in den ˙˙ ˙ 1970er-Jahren Verwendung fand, eine Rückbesinnung auf die Religion beschreibt und auf die bereits im Jahr 1928 von al-Banna in Ägypten gegründete islamistische Strömung der Muslimbrüder zurückgeht. Die Positionierung der Muslimbruderschaft in der Palästinafrage und ihre aktive Beteiligung am Oktoberkrieg 1973 (»Jom-Kippur-Krieg«) an der Seite der ägyptischen Armee verschafften der Strömung ein signifikantes gesellschaftliches Gewicht und Popularität auch außerhalb Ägyptens. Ableger der Strömung entstanden in Syrien, Palästina, Jordanien, im Irak und im Libanon und eben auch in Tunesien. Der tunesische Ableger der Muslimbruderschaft nannte sich »Islamische Gruppe« (al-g˘ama¯ʿa al-isla¯mῑya). Sie wurde im Jahr 1972 von Rached alGhannouchi, Abdelfattah Mourou und Hmida Ennaifer gegründet. Letztgenannter trennte sich wenige Jahre später von der Gruppe und gründete die »Islamische Linke« (al-isla¯m al-yasa¯rῑ) bzw. die »Fortschrittlichen Islamisten« (al-isla¯miyyu¯n at-taqaddumiyu¯n). Die »Islamische Gruppe« stellte die Keimzelle dessen dar, was heute als die »Ennahda-Bewegung« (an-nahda) bekannt ˙ ist. Dass die Bemühungen dieser islamistischen Strömungen Früchte trugen, kam Bourguiba, der sich gerade auf dem Kurs einer Annäherungspolitik befand, sehr gelegen. Denn er betrachtete sie als einen Rückhalt gegen die linke Opposition. So gewährte der Staat jenen Strömungen auf unterschiedlichen Ebenen öffentliche Partizipation. Dazu gehörte nicht nur die Missionierungstätigkeit der »Islamischen Gruppe«, die z. B. eigene Seminare in Moscheen abhielt, sondern auch eigene, öffentliche Kommunikationsmedien, wie die Zeitschrift Al-Maʿrifa, die der Gelehrte Abd al-Qadir Salama 1972 gründete und die später zum Sprachrohr der Bewegung werden sollte.

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Auch der Kurswechsel in der Bildungspolitik, speziell in der Religionslehre, wird von einigen Historiker*innen, darunter Abdelmajid Charfi2, auf ein politisches Kalkül Bourguibas zurückgeführt, der neben dem Erstarken der linken Partei nun auch in den islamistischen Strömungen einen politischen Rivalen sah. Es muss betont werden, dass die Bildungsreform ebenso Teil einer bewussten Eindämmungspolitik und Instrumentalisierung der Religion war, mithilfe derer politischen Gegnern der Nährboden entzogen werden sollte. Denn nur unter diesem Gesichtspunkt lassen sich Zugeständnisse und scheinbare Kurswechsel verstehen. Zu diesen Zugeständnissen gehörte, dass die von Mzali geleitete Bildungsreform der Religionslehre einen größeren Spielraum gewährte. Die reformistischen Bemühungen gipfelten 1976 in der Entscheidung des Ministeriums, die Anzahl der Unterrichtsstunden für die Religionslehre zu erhöhen und den Philosophieunterricht in der Sekundarstufe in arabischer Sprache abzuhalten, was einen grundlegenden Wandel bedeutete. Denn bis zu diesem Zeitpunkt wurde der Philosophieunterricht ausschließlich auf Französisch abgehalten und konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Schriften der abendländischen Philosophie, besonders Rousseau, Hegel und Marx. Die Beschäftigung mit dem muslimischen philosophischen Denken beschränkte sich hingegen auf einige wenige Exkurse. Infolge des neuen Kurses wurden die bis dahin verwendeten Schulbücher durch neue ausgetauscht, in denen die Anzahl der Kapitel über muslimische Philosophen erhöht und die Kapitel über westliche Philosophen verringert wurden. Darüber hinaus ging der Staat auf die Forderungen der Öffentlichkeit ein und ermöglichte es den Schüler*innen von nun an, das Gebet während der Schulzeit zu verrichten, wofür ihnen Gebetsräume zur Verfügung gestellt wurden (Feuer 2018, S. 136ff.). Freilich sollte dieser Annährungskurs nicht lange dauern. Durch den zunehmenden politischen Aktionismus der islamistischen Bewegung in den 1980erJahren veränderte sich das Verhältnis der Strömung zum tunesischen Staat in drastischer Weise. Weltweit stellte die Islamische Revolution im Iran 1979 einen entscheidenden Wendepunkt dar. In der gesamten sunnitisch-arabischen Welt fand die Revolution begeisterten Anklang. Bereits zuvor hatte der Camp-DavidVertrag mit Israel 1977 die Muslimbruderschaft in Ägypten erstarken lassen. Es kam zu jahrelangen blutigen Auseinandersetzungen, die in der Ermordung Anwar Sadats durch Islamisten am 6. Oktober 1981 gipfelten. In Tunesien wurde am 6. Juni 1981 während einer Pressekonferenz die Gründung der später als 2 Abdelmajid Charfi – nicht zu verwechseln mit Mohamed Charfi (persönliches Interview, 11. Oktober 2017); az-Zagal 1990, S. 349. Mohamed Mzali stimmt dieser Sichtweise nicht zu und streitet die Existenz einer gesteuerten Politik in diesem Zusammenhang ab. Siehe dazu sein Interview in Moussa (2011, S. 210).

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»Ennahda« bekannten Bewegung öffentlich verkündet. Noch am selben Tag reichte diese Bewegung einen Antrag auf offizielle Akkreditierung ein, den die Behörden unbeantwortet ließen. Daraufhin ging die Gruppe auf Konfrontationskurs mit der Staatsmacht. Es folgte eine Welle der Gewalt, begleitet von Festnahmen und Verhaftungen. Der Führer der »Ennahda-Bewegung«, Rached al-Ghannouchi, wurde inhaftiert, prominente Mitglieder, wie Abdelfattah Mourou, flohen ins Exil. Vermittlungsversuche von Mzali, der im April 1980 zum Premierminister befördert worden war, blieben erfolglos. Am 8. Juni 1986 wurde er seines Amts enthoben und begab sich daraufhin ins französische Exil (alMadini 2001, S. 70ff.). Ein Staatsstreich am 7. November 1987 setzte den jahrelangen Unruhen im Land ein Ende. Ben Ali übernahm in der Folge die Präsidentschaft in Tunesien und bekannte sich ausdrücklich zu den Grundsätzen einer pluralistischen Gesellschaft und zur Achtung der Menschenrechte gemäß der internationalen Menschenrechtsdeklaration von 1948. Dementsprechend entließ er alle Häftlinge der islamistischen Bewegung aus den Gefängnissen und begnadigte sie, so auch al-Ghannouchi im Mai 1988. Indes tat Ben Ali dies nicht frei von jeglichem politischen Kalkül, denn er war auf die Stimmen der islamistischen Opposition ˘ azῑra 2015). angewiesen, um seine Macht zu konsolidieren (al-G Die islamistische Bewegung wiederum hoffte infolge der Verkündung des politischen Pluralismus darauf, zukünftig politisch mitwirken zu können. Im Februar 1989 änderte sie ihren Namen in »Ennahda-Bewegung«, um dem Parteiengesetz zu entsprechen, welches die Gründung von Parteien auf religiöser Grundlage verbietet. Aber eine Akkreditierung blieb weiterhin aus. Am 28. Mai 1989 verließ al-Ghannouchi das Land und ging, wie andere Mitglieder zuvor, ins Exil.

1.1

Charfis Reform der Religionslehre

Nach Ausschaltung der islamistischen Opposition lancierte Mohamed Charfi, Minister für Erziehung und Hochschulbildung von 1989 bis 1994, eine neue Bildungsreform, die von seinem Nachfolger Dali Jazi in den Jahren 1994 bis 1999 fortgesetzt wurde. Charfis Reformprojekt umfasste sämtliche Schulfächer. Kontrovers diskutiert wurde aber vor allem die Reform des Fachs Religionslehre. Mohamed Charfi engagierte sich bereits nach Absolvierung seines Studiums der Rechtswissenschaften in Paris aktiv in der tunesischen kulturpolitischen Szene. In diesem Zusammenhang entstanden auch zahlreiche Schriften. Fragen zu den Reformwegen des islamischen Rechtssystems und Bildungswesens sowie zur Neuerforschung der eigenen Geschichte bildeten dabei den Schwerpunkt seiner Publikationen. Im Jahr 1999 erschien sein Hauptwerk Islam et liberté: le

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malentendu historique, in dem er zur Revision des Gedankenguts der Mutaziliten sowie Averroës aufruft, um Islam und Moderne in Einklang zu bringen. Gemäß seiner Überzeugung, dass Veränderungen im Bildungsbereich Modifikationen in anderen Bereichen – einschließlich des islamischen Rechts – nach sich ziehen, machte Charfi die Schule zu seinem zentralen Wirkungsfeld. Ein im Hinblick auf Lernziele und Lerninhalte neukonzipiertes Curriculum etablierte die Sozialkunde als dasjenige Fach, durch das die Schüler*innen mit dem kritischen Geist und dem Gedankengut der Moderne vertraut gemacht werden sollten. Die Aufgabe der Religionslehre wurde darin gesehen, einen Islam zu lehren, der mit dem Prinzip des zivilisatorischen Fortschritts und demjenigen der Staatsbürgerschaft vereinbar ist. Charfis Reformversuch ist in einem spezifischen intellektuellen Diskurs zu verorten, der in Tunesien von Personen wie Mohamed Talbi, Abdelmajid Charfi, Moncef ben Abdeljelil und Hichem Djaït bestimmt wurde. Sie gehörten einer Gruppe von Wissenschaftlern an, die bestrebt waren, die modernen Sozialwissenschaften im Studium des Islams zu verankern. Darüber hinaus waren sie bemüht, den traditionellen religiösen Hauptkorpus mit den Instrumenten der Linguistik und Semiotik, also einer hermeneutischen Herangehensweise, zu ergründen. Entsprechend prüften Charfi und seine Arbeitsgruppe die alten Curricula und Lehrbücher für das Fach Religionslehre und konzipierten sie neu. Die Arbeitsgruppe wurde von April 1989 bis Ende Juni 1991 von Hmida Ennaifer geleitet.3 Ihm folgte Moncef ben Abdeljelil, der die Reformen mit dem späteren Bildungsminister Dali Jazi fortsetzte und sie auf die Zaitu¯na-Universität ausweitete (Abdeljelil 2004, S. 9–28). Die Journalist*innen Sarra Abd al-Maqsoud und Ali Télili resümieren in einem Zeitungsinterview, das am 15. September 1989 in der Zeitung as-Saba¯h erschien, einen Konflikt zwischen nationaler Realität und als ˙ ˙ ˙ islamisch empfundenem Ideal, der sich auf die Unterrichtung der Schüler*innen auswirke. Ausgetragen würde er sowohl mittels Themenfeldern der öffentlichen und privaten Domäne als auch auf juristischer Ebene, wo etwa das islamische Recht dem staatlichen vorgezogen würde. Als Beispiel für den privaten Bereich nennen die beiden Journalist*innen die Ehe. So bekämen die Schüler*innen Texte zu lesen, denen zufolge der Mann das Recht besitzt, seine Frau zu schlagen, während anstelle der geltenden Gesetze und der Inhalte des Personenstandsrechts (mag˘allat al-ahwa¯l asˇ-sˇahs¯ıya) das islamische Scheidungsrecht als Be˙ ˘˙ zugssystem gelte. Dies sei nicht nur problematisch, weil damit ein falsches Islamverständnis vermittelt oder jenes Personenstandsrecht nicht als nationale Errungenschaft gewürdigt werde, sondern weil das Faktum, dass es in der Praxis »seit 30 Jahren angewandt« wird, in der Theorie schlicht unbeachtet bliebe. 3 Hmida Ennaifer (persönliches Interview, 12. Oktober 2017).

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Daraus ergäbe sich eine Diskrepanz zwischen Schullektüre und den geltenden Gesetzen, die wiederum eine Schizophrenie bei heranwachsenden Generationen zur Folge habe. Aus diesem Grund, so die Journalist*innen, schuf man die bis 1988 zugelassenen Bücher für die Religionslehre für die fünfte und sechste Sekundarstufe ab. Das Problem in nationalstaatlicher Hinsicht wäre, dass manche Texte z. B. das Kalifat glorifizierten oder zur Gewalt aufriefen, was ein Angriff auf die »Grundvoraussetzungen der Freiheit und Demokratie« sei. Höhepunkt der Bemühungen Charfis war ein am 29. Juli 1991 erlassenes Gesetz zur Bildungsreform, das eine paradigmatische Wende in der Religionslehre einleitete. Das neue Konzept verpflichtete sich dem Prinzip des religiösen Pluralismus und den Menschenrechten sowie dem Staatsbürgertum und der Demokratie. Der Fokus lag nun auf den ethischen Aspekten des Islams, während sich frühere Konzepte auf theologische Aspekte der Religion konzentrierten. Hierzu sagt Moncef ben Abdeljelil, dass mittels der Bildung das gesamte vorherrschende Denksystem angreifbar werden solle, auf dass der Einzelne eine eigene Geisteshaltung entwickeln könne. Damit »Islamic Education« nämlich in einer anderen Weise aus einer anderen Perspektive erteilt werden könne, bedürfe es eines grundlegenden Neudenkens des Phänomens Religion im Allgemeinen und des muslimischen Erbes im Besonderen. Auf diese Weise würde es erleichtert, eine sogenannte Zivilgesellschaft zu schaffen, also eine Gesellschaft, in der Religion anstelle einer theologischen nun eine ethische Rolle spielen würde (Abdeljelil zitiert nach Feuer 2018, S. 147). Der vom Ministerium für Erziehung und Wissenschaft bereits im Jahr 1989 erarbeitete und publizierte Gesetzentwurf verfolgte drei zentrale Ziele: Erstens ging es dabei um die Verwirklichung des kognitiven Erziehungsprinzips und darum, »eine für viele heranwachsende Muslime schwierige oder verloren gegangene Balance zwischen dem Glauben und dem Leben in der Moderne herzustellen« (Ministerium für Erziehung und Wissenschaft 1989a, S. 4). Ben Abdeljelil sieht daher »die eigentliche Krise« der Muslim*innen in einer tiefen Kluft zwischen der Moderne und der religiösen Orthodoxie. Letztere würde darin verharren, zeitgenössischen Fragen »den Islam« als die Lösung vorzuhalten. Dies sei jedoch ahistorisch und entziehe der Religionslehre die Möglichkeit, den ihr im heutigen Leben möglichen Beitrag zu leisten. Was sie leisten könne, sei ein grundsätzlicher Wandel des religiösen Denkens. Denn ihre Funktion verortet Moncef ben Abdeljelil darin, sich um »eine verbindende Brücke zwischen dem Islamischen und dem Modernen« zu bemühen (Abdeljelil 2004, S. 9). Ennaifer führte weiter aus: »[D]ie Schüler sollen einen Glauben präsentiert bekommen, der zeitgenössisch ist und der mit dem gelebten Alltag in Einklang steht« (Ennaifer 2004, S. 47). Dies könne jedoch nur von einer Religionslehre gewährleistet werden, die sich von bloßer Indoktrinierung und missionarischer Rhetorik absetzt und einer dualistischen Vorstellung entflieht, welche die Welt in den Ge-

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gensatz zwischen Gut (dem Ich) und Böse (dem Anderen) teilt. Im Sinne dieser Dichotomie wurde die islamisch-arabische Welt als spirituell und prinzipientreu, der Westen hingegen als materialistisch und entartet verstanden. Zweitens verschrieb sich das neue Curriculum dem kritischen Denken, das anhand der Auseinandersetzung mit Texten muslimischer Reformer erlernt werden sollte, z. B. aus den Schriften des pakistanischen Philosophen Muhammad Iqbal (1873–1938) oder des indischen Reformdenkers Syed Ameer Ali (1849–1928) (Ennaifer 2004, S. 47–48). Das letzte der drei zentralen Ziele lautete, den »historischen Islam« im Sinne des pakistanischen Denkers und Philosophen Fazlur Rahman zu einem Schwerpunkt zu machen. Das Konzept sollte ahistorischen und absolutistischen Vorstellungen des Islams entgegenwirken, welche die Geschichte des Islams auf ein »Goldenes Zeitalter« reduzierten und darin vermeintliche Lösungen für die Gegenwart fanden (Ennaifer 2004, S. 50–51). Unterkomplexe Vorstellungen dieser Art bezeichnete der libanesische Literat Samir Kassir als das »arabische Unglück« (Kassir 2006). Die Religionslehre sollte es sich stattdessen zur Aufgabe machen, den Islam von nun an als historisch gewachsen zu vermitteln, als ein Produkt von Wechselwirkungen mit anderen Zivilisationen, Kulturen und Religionen. Allerdings wurde diese Grundidee nicht auf allen Bildungsstufen gleich umgesetzt. Während die neuen Lehrpläne des Fachs »Religionslehre« in der Grundschule eine Ausbildung vorschrieben, bei der die religiösen Pflichten (ʿiba¯da¯t) sowie ein wichtiger Teil des Korans und der Hadithe auswendig zu lernen sind, wurde für die erste Stufe der Sekundarschule festgehalten, dass das Fach »Religionslehre« in dieser Klassenstufe keine religiöse Unterweisung (duru¯san fı¯ l-ʿaqı¯da) und keine Unterweisung in der Verrichtung der religiösen Pflichten (ʿiba¯da¯t) sei. Vielmehr sei sie ein Fach, in dem die Glaubensgrundsätze Instrumente sind, durch die kognitive Erziehung bei den Schüler*innen erzielt und eine ausgewogene Verhaltenserziehung verwirklicht werden soll (Ministerium für Erziehung und Wissenschaft 1989a, S. 8). In den Grundschulstufen und in den Sekundarstufen lag der Fokus auf der Ethik. Diesbezüglich wurde betont, dass Ethik eine universale und keine islamische Errungenschaft sei – wie dies die sogenannte »Isla¯mı¯ya¯t-Literatur« behauptet – und die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung der ganzen Menschheit. Der neue Lehrplan legte besonderen Wert auf die Gleichheit der Religionen und sah vor, den Islam in Beziehung zu den anderen Religionen zu setzen. Charfis Reformprogramm zielte auf die Erziehung von Bürger*innen, die im Sinne einer pluralistischen Gesellschaft friedlich und respektvoll mit anderen Menschen zusammenleben. Religion wurde als eine rein private Angelegenheit verstanden (Abdeljelil 2018b). Auf die Frage, ob die ethnisch und religiös relativ homogene tunesische Gesellschaft solcher Reformen bedürfe, antwortet Abdeljelil: »Die Globalisierungsordnung, das Internet und die sozialen Medien

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haben eine neue Welt geschaffen, in der die herkömmlichen geografischen Grenzen aufgeweicht sind.«4 Dass dem Reformprogramm an einem bewusstseinsmäßigen Wandel gelegen war, erkennt man bereits an der Veränderung der Fachbezeichnung. So hieß ab der vierten und bis zur siebten Klasse der Sekundarschule das Fach nicht mehr »Islamische Erziehung«, sondern »Islamisches Denken«, womit der Übergang von religiöser Unterweisung zum eigenständigen und kritischen Denken ausgedrückt werden sollte. Die Schüler*innen sollten dabei unterstützt werden, »zwischen dem Islam als Offenbarung (wahy) Gottes, dem Allmächtigen, und ˙ dem islamischen Denken als Produkt menschlicher Bestrebungen (ig˘tiha¯d) zu unterscheiden« (Ministerium für Erziehung und Wissenschaft 1989a, S. 6). Abdeljelil schreibt in diesem Zusammenhang, dass dieser neue methodische Umgang mit zentralen islamischen Zeugnissen, von der muslimischen Geschichte und den hergeleiteten rechtlichen Regelungen (ahka¯m fiqhı¯ya) bis hin zur ˙ prophetischen Tradition, folgerichtig dazu führe, dass eben diese auch als »rein kulturelles Konstrukt« betrachtet würden (Abdeljelil 2004, S. 13). Im Rahmen des Fachs »Islamisches Denken« wurde das kritische Denken anhand von verschiedenen methodischen Zugängen geübt. An erster Stelle stand die Textanalyse und -kritik. Erprobt wurde jene anhand der Schriften von Reformdenkern des 19. Jahrhunderts und mithilfe von Werken zeitgenössischer Denker*innen, wie z. B. Husain Ahmad Amins »Das Handbuch des traurigen Muslims« (Dalı¯l al-muslim al-hazı¯n). Darauf aufbauend sollten mithilfe der ˙ vergleichenden Methodik klassischen Texten, welche die »Autorität des Geschriebenen« in der sunnitischen Denktradition ausmachten, marginalisierte Texte, darunter solche von schiitischen, ibaditischen, ismailitischen oder sufistischen Gelehrten, gegenübergestellt werden. Diese vergleichende Methode kam bereits in vereinfachter Form in der Grundschule zum Einsatz. Hier sei ein Beispiel aus dem Lehrbuch für »Islamische Erziehung« für Schüler*innen der fünften Klasse der Grundschule genannt. Darin ging es um den Propheten Abraham, dem Gott befahl, seinen Sohn Ismael zu opfern. Im Lehrbuch für die sechste Jahrgangsstufe der Grundschule kam die gleiche Geschichte vor, diesmal jedoch nach der Überlieferung des Historikers an-Nuwairı¯ (1279–1333). Hier lautet der Name des Sohnes Isaak. Im Koran selbst wird der Sohn nicht namentlich erwähnt und at-Tabarı¯ (838–923) hält den Namen Isaak für eher ˙ wahrscheinlich. Der tunesische Gelehrte Mohamed Tahar Ben Achour ist der Meinung, dass Gott den Namen des zu opfernden Sohnes nicht genannt habe, um die Juden und Muslime zu versöhnen.5 Laut Abdeljelil entsprachen die Ergebnisse der Zielsetzung. Diese vergleichende Methode zwischen Texten holte 4 Moncef ben Abdeljelil (persönliches Interview, 9. und 13. Oktober 2017). 5 Moncef ben Abdeljelil (persönliches Interview, 9. und 13. Oktober 2017).

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marginalisierte Überlieferungen aus der Vergessenheit bzw. Verschwiegenheit und eröffnete neue Möglichkeiten für das Studium der konstitutiven Texte anderer Religionen. Die Methode brachte die Schüler*innen auch dazu, die Texte zu hinterfragen und vergleichend kritisch mit ihnen umzugehen. All das ermöglichte ein Verständnis davon, wie sehr die Religionen dahingehend miteinander verbunden sind, als dass sie »sich in manchen Aspekten gleichen, ohne dass die eigenen Besonderheiten jeder einzelnen Religion geleugnet werden« (Abdeljelil 2004, S. 15). Als Themenfeld zur Praxisübung der vergleichenden Methodik in der Sekundarstufe wurde »Die Frage des Regierens im Islam« ausgesucht. Hierbei wurde ein traditioneller Text zum Thema Kalifat einem Auszug aus dem Buch »Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft« (al-Isla¯m wa usu¯l al-hukm) von ˙ ˙ Ali Abd ar-Raziq gegenübergestellt. Ali Abd ar-Raziq sprach sich in seiner bereits 1925 erschienenen Arbeit dafür aus, dass die Institution des Kalifats nicht auf einem religiösen Text basiere, sondern lediglich ein historisches Produkt sei. Die Publikation war lange Zeit die einzige Arbeit, welche die neuen politischen Realitäten nach der endgültigen Abschaffung des osmanischen Kalifats im Jahr 1924 als Gegebenheit nahm und einen zivilen Staat als Alternative in Betracht zog. Kaum erschienen, stieß sie auf Ablehnung und sollte für die nächsten Jahre Grund für heftige Debatten unter muslimischen Gelehrten und Politikern sein. Gerade in Ägypten fühlte sich König Fuad dadurch in seinen Ambitionen bedroht, selbst zum Kalifen ernannt zu werden. Daraufhin wurde Abd ar-Raziq die Lehrbefugnis an der Azhar-Universität entzogen. In Anbetracht der allgemeinen Entwicklungen in der islamischen Welt war das Thema eine bewusste Entscheidung, hervorgerufen durch Ereignisse mit erheblicher Wirkungskraft, wie die Islamische Revolution im Iran, den Überfall Guhaiman al-Utaibis auf die Große Moschee in Mekka im November 1979, die Infragestellung der Legitimität der Al-Saud-Dynastie in Saudi-Arabien und die weitreichenden Konflikte, die sich durch das Erstarken der islamistischen Bewegungen, vor allem der Muslimbruderschaft, ergaben. Auch die Verbreitung der sogenannten »islamistischen Literatur« und das steigende Interesse der Jugend daran war für diesen Punkt relevant. Denn Fachlehrer*innen und Schulrektor*innen meldeten dem Erziehungsministerium, dass »die meisten der Schüler nicht für den Lehrinhalt des Fachs sensibilisiert werden können, aber ein Teil der Schüler großes Interesse an all dem zeigt, was in der islamistischen Literatur geschrieben wird« (Ennaifer 2004, S. 46).

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1.1.1 Methodische und inhaltliche Problematiken Charfis Reform der Religionslehre wirft zahlreiche begriffliche, logistische und methodische Problematiken sowie inhaltliche Unklarheiten auf. Die erste Problematik ist begrifflicher Natur. Denn obwohl in diesem Artikel bisher der relativ neutrale Begriff »Religionslehre« verwendet wurde, heißt das Fach korrekt übersetzt »Islamische Erziehung« (at-tarbiya al-isla¯mı¯ya). Hier liegt eine Ambiguität vor. Aus rein pädagogischer Sicht besteht die Aufgabe eines jeden Unterrichtsfachs darin, Informationen zu vermitteln und diese auf einer wissenschaftlichen Grundlage zu diskutieren. Die Zusatzbezeichnung »islamisch« verleiht dem Fach jedoch eine weitere, eine moralisch-spirituelle Dimension. Dadurch erhält das Fach zusätzlich zum pädagogischen auch einen spirituellen Auftrag, der in diesem Fall islamisch geprägt ist. Der Auftrag steht somit im Lichte von Kategorien, wie hala¯l (erlaubt) und hara¯m (verboten) sowie mu˙ ˙ stahabb (wünschenswert) und makru¯h (verhasst) und ist an den koranischen ˙ Text und an die Gesetze der islamischen Jurisprudenz gebunden. Zugleich muss es die pädagogischen Voraussetzungen eines Schulfachs erfüllen und einen wissenschaftlichen Zugang zum Thema Religion ermöglichen, der sich jedoch auf gänzlich unterschiedliche Arbeitsgrundlagen, wie Relativismus und kritische Analyse, stützt (Mohsen 2004, S. 93ff.). Daraus resultiert eine Dichotomie und Fluktuation der Arbeitsmethoden, nämlich zwischen der fideistischen, bekenntnisorientierten Methode (die Religion in ihrer Eigenschaft als Bekenntnis und Überzeugung) und der wissenschaftlichen Methode (die Religion in ihrer Eigenschaft als soziales Phänomen) (Mohsen 2004, S. 97). Im Folgenden werden die inhaltlichen Probleme angeführt: Die vor allem nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 weltweit verstärkten Appelle zum interkulturellen und interreligiösen Dialog stellen Reformprojekte im Bildungswesen im Allgemeinen und im Fach »Islamische Erziehung« im Besonderen vor große Herausforderungen (Diwan & Mouhoud 2016). Das Fach muss eine Balance herstellen zwischen den internationalen Verpflichtungen, die zur Annäherung und Schaffung gemeinsamer menschlicher Werte aufrufen, und den kulturellen Eigenheiten der eigenen Gesellschaft. Diese Überlegungen flossen bereits in Charfis Reformpläne ein. Indes gab es konzeptionelle Festlegungen, die eine folgerichtige Diskrepanz zwischen Bemühung und Ergebnis hervorriefen. So bemühte sich das Projektteam zwar um eine egalitäre Vision zwischen den Religionen und Minderheitsrechten, hier besonders religiöser Minderheiten, ohne jedoch den potenziellen Religionsanspruch unterschiedlicher Bekenntnisse egalitär zu behandeln. Wie Mohamed-Chérif Ferjani in einer Studie zeigt, wurden nämlich unter »anderen Religionen« außer dem Islam nur die beiden »Offenbarungsreligionen«, d. h. das Judentum und das Christentum verstanden. Folgerichtig finden u. a. der Bud-

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dhismus und der Manichäismus in den Lehrbüchern keine Erwähnung. Die Darstellung anderer islamischer Richtungen – Ferjani entscheidet sich bewusst für die Bezeichnung »Richtungen«, um den negativ beladenen Begriff »Sekten« zu vermeiden – bliebe weit davon entfernt, das Gleichheitsprinzip zwischen den religiösen Gruppen zu verwirklichen, so werde z. B. in den Lehrbüchern der Begriff »Charidschiten« (Hawa¯rig˘) verwendet, der zwar in der sunnitischen Li˘ teratur gängig ist, den jedoch die Ibaditen (ʿIba¯dı¯ya), wie sie sich selbst nennen und zu welchen sich eine Minderheit der Einwohner*innen Tunesiens bekennt, ablehnen (Ferjani 2004, S. 70, 71). Charfis Bildungsreform führte zu einem paradigmatischen Wandel in der Methodik des Fachs »Islamische Erziehung«. Dieser zeigte sich vor allem in den Lehrinhalten des Fachs in der Sekundarstufe, wo der Übergang zur wissenschaftlich-philosophischen Betrachtung der Religion als soziales Phänomen sehr deutlich wird. Das Programm des letzten Jahres der Sekundarschule (Baccalauréat) zieht beispielsweise Texte aus dem Werk Risa¯lat al-g˙ufra¯n (»Sendschreiben über die Vergebung«) des arabischen Philosophen und Dichters Abu¯ lʿAla¯ʾ al-Maʿarrı¯ (973–1057) heran. Diese Vorgehensweise wurde vom nachfolgenden Bildungsminister Dali Jazi und seinem Berater Moncef ben Abdeljelil fortgesetzt und auf das Theologiestudium der Zaitu¯na-Universität ausgeweitet.6 Diese reformistischen Überlegungen Charfis lassen sich nur im Zusammenhang mit den seit vielen Jahrzehnten anhaltenden Debatten um das Thema »Religionslehre« in Frankreich nachvollziehen. Die sind geprägt von der Spannung zwischen der Forderung nach Religion als Gesichtspunkt und Religion als Untersuchungsgegenstand. So wurden einerseits in den 1980er-Jahren Stimmen laut, die es für problematisch hielten, Geschichtsunterricht ohne Religionsgeschichte und Unterricht in metaphysischer Philosophie ohne ein grundlegendes Verständnis von Konzepten wie Glaube, Seele oder Heiligkeit zu erteilen. Auch in kunstgeschichtlichen Belangen sei eine Kenntnis der religiösen Kultur unabdingbar. Andererseits wurde mit Bezug auf die Arbeiten Émile Durkheims die Religion als ein soziales Phänomen bzw. Produkt spezifischer geschichtlicher und sozialer Zusammenhänge verstanden. Die Religion wird somit selbst zum Forschungsgegenstand. Der französische Philosoph Régis Debray hielt den Begriff »religiöses Phänomen« für geeignet (emploi commode), um sowohl die laizistischen Stimmen und Gegner*innen der Religionslehre in staatlichen Einrichtungen als auch kirchliche Stimmen, die eine Religionslehre befürworteten, zufriedenzustellen (Debray 2002, S. 172; Estivalezes 2004, S. 13). Nach jahrelangen wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten wurde Anfang der 1990er-Jahre das Unterrichten des »religiösen Phänomens« in die französischen Lehrpläne integriert. Darüber hinaus wurde im Jahr 2002 in Paris 6 Moncef ben Abdeljelil (persönliches Interview, 9. und 13. Oktober 2017).

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das Europäische Institut für Religionswissenschaften (Institut européen en sciences des religions) gegründet. Charfis Reformprojekt orientierte sich zwar deutlich an den französischen Lehrplänen, ihm fehlte jedoch die in Frankreich schon lange verankerte Gesetzesgrundlage, auf die ein laizistisches Schulsystem hätte bauen können. Denn in Tunesien schöpfte das Prinzip des Laizismus seine Legitimation nicht aus einem Gesetz, sondern in erster Linie aus der Person Bourguibas als politischem Führer. Obwohl die Verfassung vorschreibt, dass der Islam Staatsreligion ist und der Präsident Muslim zu sein hat, übernahm Bourguiba den Laizismus terminologisch in seine politische Rhetorik und verankerte ihn im kulturellen und gesellschaftlichen Leben des Landes. Aus diesem Grund etablierten sich in Tunesien andere schulische Strukturen und methodische Zugänge zum Thema Religion. Zwar wurden bereits am 29. März 1956 und am 1. Oktober 1958 Gesetze erlassen, die sukzessive die Grund-, danach die Mittelschullehre in der Zaitu¯na abschafften und ferner »Religionslehre« als Fach in den Lehrplan der staatlichen Schulen integrierten, doch wurde die Schule damit bei Weitem noch nicht laizistisch. Die Ambiguitäten in der Politik wirkten sich auch auf die Religionslehre aus. De facto wurde in den staatlichen Schulen sowohl eine bekenntnisorientierte Religionslehre angeboten als auch ein wissenschaftlicher Zugang zum »religiösen Phänomen« angestrebt. Mohamed-Chérif Ferjani sprach in diesem Zusammenhang von »conceptions antinomiques«, also einer Vermischung von widersprüchlichen Konzepten (Ferjani 2004, S. 70). Dieser Ansatz entsprach keineswegs dem laizistischen Verständnis von Régis Debray, obwohl vieles dafür spricht, dass sich Charfis Reformen auf dessen Thesen bezogen. Die von Debray vertretene Lehre des »religiösen Phänomens« entstand aus der Überzeugung heraus, dass die spirituelle und glaubensbezogene Dimension in der religiösen Erfahrung nicht Thema eines objektiven und wissenschaftlichen Unterrichts sein sollte, sondern in den Bereich der Kirche gehört, und dass sich die wissenschaftliche Lehre im Gegenzug niemals zum Ziel setzen sollte, in die spirituellen Dimensionen der Religion einzutauchen. Folglich dürfte es kaum verwundern, dass Charfi sich mit dem Vorwurf der Öffentlichkeit konfrontiert sah, sein Zugang zur Religionslehre verwirre die Schüler*innen bereits in den ersten Schuljahren in ihrem Glauben und ihrer weltanschaulichen Zugehörigkeit. Besonders betroffen von zentralen, logistischen Problemen des Projekts blieb das Lehrpersonal und dessen Verhältnis zur eigenen Vermittlerrolle. Obgleich das Reformprojekt bedarfsgerechte Fortbildungen und Qualifikationskurse vorsah, konnte der Besuch dieser Veranstaltungen laut Abdeljelil nicht garantieren, dass sich die Lehrer*innen auch wirklich mit ihrer neuen Aufgabe identifizierten. Denn die reformistischen Ideen standen oftmals in Widerspruch zu den Grundlagen des traditionellen gesellschaftlichen und religiösen Denkens

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(Abdeljelil 2018a). Erneut traten demnach Komplikationen auf, die mit der bloßen Übernahme französischer Konzepte einhergingen. Ein weiteres logistisches Problem betraf die mediale Verbreitung und Vermittlung der Reformvorstellungen. Denn die modernen Schulbücher konnten gegen die »Flut« und Popularität islamistischer Schriften kaum bestehen. Hinzu kam die Verbreitung des traditionalistischen Gedankenguts durch die Massenmedien, vor allem durch Fernsehanstalten und später durch das Internet. Dem Reformprojekt Charfis fehlte es jedoch an den logistischen und finanziellen Mitteln, die Medienöffentlichkeit im eigenen Interesse zu lenken. Zudem vollzog sich die Bildungsreform ohne vorausgehende Debatten, welche die öffentliche Meinung hätten sensibilisieren können.

2.

Ausblick auf die Gegenwartslage

Der Übergang vom Einparteien-System zum Mehrparteien-System im postrevolutionären Tunesien markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Die Auswirkungen des Wandels der innenpolitischen Parameter auf die Bildungspolitik und damit auf die Religionslehre lassen sich weder ohne grundlegende Untersuchungen nachvollziehen noch kann angesichts der anhaltenden soziopolitischen Veränderungen von einer Nachvollziehung im abschließenden Sinne gesprochen werden. Vielmehr muss es, jedenfalls nach derzeitigem Stand, ein vergegenwärtigendes Nachvollziehen bleiben. Denn das System befindet sich noch im Wandel. Freilich lassen sich anhand vergangener Schlüsselereignisse und des gegenwärtigen Umgangs mit Veränderungen grundlegende Konturen zeichnen. Jede Überlegung zur tunesischen Bildungspolitik muss als Ausgangspunkt nehmen, dass knapp ein halbes Jahrhundert hinweg bis zur Revolution im Land ein Einparteiensystem herrschte. Erst nach der Revolution und mit dem Übergang zum Mehrheitssystem partizipierten andere politische Akteure auf dem Boden der Verfassung, allen voran die islamistische »Ennahda-Partei«. Diese Zeit der veränderten politischen Strukturen und neuen Akteure wird auch geprägt durch steigenden politischen Aktivismus vonseiten religiöser Gruppierungen, die der Hizb at-Tahrı¯r, an-Nusra oder Wahha¯bı¯ya nahestehen. ˙ ˙ ˙ Auch der Bildungsbereich spiegelt diese Entwicklungen wider. So sehen wir einen Übergang von einer »verstaatlichten« Einparteien-Bildungspolitik hin zu verschiedenen »parteigebundenen« Bildungsstrategien, die einen zu den staatlichen Schulen parallelen privaten Bildungssektor schufen. Auch die Interessen der neuen politischen Akteure bilden sich in diesem Bereich ab, dies reicht von der Gründung privater Schulen, die sich als »islamisch« ausgeben bis hin zu solchen, die sich als »original zaitu¯nı¯« (taʿlı¯m zaitu¯nı¯ as¯ıl) ausgeben. Abdeljelil ˙

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bezeichnet diese Schulen als ein »Zwischending«, denn diese Form der Bildung folgt weder der staatlichen Bildung noch gehört sie offiziell zur Zaitu¯na-Institution, wie es an den Institutionen der Azhar in Ägypten und der al-Qarawı¯yu¯n in Marokko der Fall ist (Abdeljelil 2018b). Nichtsdestotrotz – so zeigen vorläufige Ergebnisse seiner Feldforschung, welche die Rolle des privaten Bildungssektors und das Verhältnis der Zaitu¯na zur »Ennahda-Bewegung« und ähnlichen politischen Gebilden untersucht – geben sie sich als Zweigstellen der Zaitu¯na aus. Ganz unerheblich ist dies nicht, immerhin soll es bis 2016 schon 19 solche Zweigstellen gegeben haben (Abdeljelil 2016, S. 28ff.). Zuletzt seien grundsätzliche Schwierigkeiten angesprochen. Da ist zunächst, dass ein ein halbes Jahrhundert währendes System sich nicht spurenlos aufheben lässt. Zudem konnten fraglos positive Wendungen, etwa die Einführung des Mehrparteiensystems, noch keine Wurzeln schlagen und weil überhaupt die politische – wenn nicht gar die gesamtgesellschaftliche – Sphäre sich weiterhin im Wandlungsprozess befindet, hat es noch nicht einen solchen Bewusstseinswandel gegeben, wie ihn ein Mehrparteiensystem zum Überleben bräuchte. Stattdessen sehen wir uns entweder mit dem Versuch konfrontiert, das Neue nach alter Manier anzugehen oder mit einem Denken entlang verhärteter Fronten zwischen alten Fraktionen. So wird die Überschneidung des Politischen und des Religiösen nicht etwa sukzessive aufgelöst, sondern immer komplexer. Erschwerend kommt hinzu, dass das System seit der Unabhängigkeit immerzu von Unbeständigkeit begleitet wird. Weil dies sich auch auf die Religionslehre auswirkt, werden potenziell positive Entwicklungen gehemmt, obgleich die Konzeption nun nicht mehr einzig dem Staat überlassen bleibt. Dies äußert sich z. B. darin, dass neue politische Parteien und religiöse Gruppierungen ihre gewonnene Freiheit nicht im Sinne der Gestaltungsteilhabe in einem von Pluralismus geprägten System beanspruchen, sondern in erster Linie ihrerseits die Religionslehre zu eigenen Zwecken zu instrumentalisieren versuchen.

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Soumaya Louhichi-Güzel

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Mohamed Dawoud

Religiöse Bildungsreform am Beispiel Ägypten

Zusammenfassung Die Hoffnung einer Gesellschaft auf eine gute Zukunft ist immer eng mit der Erziehung und Bildung der Heranwachsenden verknüpft. Vom islamischen Religionsunterricht – in den islamisch geprägten Ländern ein fester Bestandteil der kindlichen Erziehung – wird erwartet, dass er Kinder in erster Linie einen wertorientierten Umgang mit den Mitmenschen lehrt und sie bei der Entwicklung einer muslimischen Identität unterstützt. Dabei sollten seine Inhalte und Ziele den Herausforderungen der Moderne entsprechen. Wiewohl die Gestaltung bzw. Ausarbeitung des islamischen Religionsunterrichts eigentlich zum Aufgabenbereich der Religionspädagogik gehört, wird dieser – ebenso wie die Bildungspolitik – in Wirklichkeit oftmals von den herrschenden Mächten im Sinne ihrer Interessen beeinflusst. In Ägypten ist für die religiöse Bildung die Azhar-Universität, eine der ältesten und angesehensten Institutionen in der islamischen Welt, zuständig. Der folgende Artikel bietet einen knappen Überblick über die Geschichte der allgemeinen und religiösen Bildung in Ägypten vom siebenten Jahrhundert bis zur Gegenwart. Wie die aktuellen Entwicklungen im Bereich der religiösen Bildung zeigen, hat sich das Verhältnis zwischen dem Staat und den Bildungsinstitutionen bis heute nicht geändert. Auch heute haben die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen, vor denen Ägypten steht, auf die Gestaltung der Bildung im Allgemeinen und der islamischen Bildung im Besonderen einen enormen Einfluss.

1.

Einführung

Der vorliegende Beitrag beschränkt sich im Wesentlichen auf eine überblicksmäßige Darstellung von Reformversuchen im Bereich des Islamunterrichts am Beispiel Ägyptens – ein Land, das sich gegenwärtig enormen Herausforderungen,

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sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf politischer und sozialer Ebene, gegenübersieht. Im Bewusstsein, dass für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft eine solide Bildung unabdingbar ist, unternahm der ägyptische Staat ab dem Jahr 2019 einige Versuche zur Reformierung des bestehenden Bildungssystems. Wie Präsident ʿAbd al-Fatta¯h as-Sı¯sı¯ erklärte, sei dem Wohl des ägyp˙ tischen Volkes seitens des Staates oberste Priorität einzuräumen und dafür bedürfe es eines umfassenden und integrierten Programms, das dies sowohl in körperlicher als auch in intellektueller und kultureller Hinsicht gewährleiste. Diese Philosophie basiert auf der Wahrnehmung des Bildungsprozesses als umfassendes und integriertes System, das – vom Stadium des Verstehens bis zur Entwicklung von kreativen Fähigkeiten – wissenschaftlichen, pädagogischen, kulturellen und sportlichen Anforderungen Rechnung zu tragen habe. Dementsprechend gliedert sich die Strategie der Bildungsentwicklung im modernen Ägypten in folgende essenzielle Hauptaspekte: methodologische Entwicklung des Bildungssystems, Änderung des Systems der Sekundarschulbildung, Eröffnung »Japanischer«1 und technischer Schulen (Abdelmenem 2019). Selbstverständlich bleibt von dem aktuellen Reformversuch auch der islamische Religionsunterricht (IRU) als ein bedeutender Teil der modernen Schulbildung nicht unberührt. In Ägypten besteht seit ca. dem 19. Jahrhundert das sogenannte »duale Bildungssystem«, welches bis heute in das azharitische und das öffentliche Bildungssystem aufgeteilt ist. Trotz der eigentlichen Zuständigkeit der AzharUniversität sowohl für die Erstellung des IRU-Curriculums als auch für die Ausbildung der Religionslehrkräfte greift der Staat bzw. das Bildungsministerium beständig in diese Prozesse ein. Die folgende Übersicht über die Entwicklung der Bildungsgeschichte soll als Informationsbasis dienen und am Ende des Beitrags einen Ausblick ermöglichen, inwiefern die Reformationsversuche des IRU in Ägypten Erfolg haben könnten. Bis ins 19. Jahrhundert war die Bildung in islamisch geprägten Ländern, wie auch in Mitteleuropa, eng mit der Religion verknüpft (Nohl 2016, S. 18). Der Stillstand im Bildungswesen der Osmanen, die weite Teile der islamischen Welt beherrschten, hielt bis etwa zum 18. Jahrhundert an. In Ägypten beschränkte sich die Bildung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, wie in den anderen Regionen des islamischen Reiches, auf die freiwillige religiöse Bildung in den Moscheen und kutta¯b (pl. Kata¯tı¯b, Koranschulen) (Qism al-ida¯ra o. J.).

1 Unter »Japanischen Schulen« versteht man in Ägypten Schulen, die nach dem Vorbild des japanischen Schulmodells gegründet wurden. In diesen Schulen werden parallel zum ägyptischen Lehrplan in Japan übliche Schulaktivitäten umgesetzt. Die Ausbildung in Japanischen Schulen dauert zwei Monate länger als in regulären Schulen. Mehr dazu siehe: https://www.ma spero.eg/wps/portal/home/egynews/investigations-and-interviews/details/fc5e4ef5-beb3-438 0-849c-82ed7c25da95/. Zugegriffen: 19. September 2020.

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Die nach dem Tod des Propheten eingetretene politische Spaltung der muslimischen Gemeinde brachte unterschiedliche Glaubensvorstellungen hervor und bildete auch den Ausgangspunkt für die Entstehung unterschiedlicher Bildungsideologien. Über diese Bildungsideologien wurde meistens »im Schatten der herrschenden Macht« entschieden. »Die ersten Meinungsverschiedenheiten, die innerhalb der muslimischen Gemeinde auftraten (und schließlich zur Spaltung in Sunniten, Ha¯rigˇ¯ıten, Schiiten und andere Sekten führten), bezogen sich ˘ im Grunde auf politische Angelegenheiten« (Ayubi 2002, S. 13). Trotz des gesellschaftlichen Wandels, der sich im Laufe der Geschichte in den islamischen Ländern vollzog, ist die Frage einer Bildungsreform bis zum heutigen Tage ungeklärt. Es ist weiterhin umstritten, ob das Bildungssystem in den islamischen Ländern religiös geprägt sein oder sich an den Anforderungen der Moderne bzw. den nichtreligiösen Wissenschaften orientieren sollte. Der Hauptgrund dieses Streits liegt darin, dass die herrschenden Mächte im Laufe der Geschichte einen erheblichen Einfluss auf die Verschriftlichung der ursprünglichen islamischen Quellen – ummaha¯t al-kutub – hatten. Die Erfassung dieser Quellen wurde aus dem historischen sowie politisch fundierten Kontext abstrahiert und ohne Überarbeitung an die nachkommenden Generationen überliefert. »Der Staat sanktionierte eine bestimmte, auf linguistischer Erklärung (baya¯n) und Analogieschlüssen (qiya¯s) beruhende ›Methodologie‹ des Verfassens von Schriften und finanzierte auch die Rechtsgelehrten-Elite, die über politische Themen schrieb. Das Ergebnis war ein hervorragendes, sorgfältig entwickeltes Rechtssystem und eine offizielle Theorie des Kalifats, die sich durch Monopolisierung und ständige Wiederholung ganz und gar in die ›arabische Denkweise‹ eingegraben hat. Im Laufe der Zeit wurde es für nachfolgende Generationen äußerst schwierig, in diesen Schriften zwischen Beschriebenem und Vorgeschriebenem zu unterscheiden.« (Ayubi 2002, S. 13)

Während also das Bildungssystem in den islamischen Ländern am Anfang zum großen Teil religiös geprägt war, erwachte nach der islamischen Expansion nach Nordafrika, Europa und Nordasien insbesondere ab dem zweiten bis zum vierten Jahrhundert n. H. das Interesse an weiteren Lernfächern (al-ʿAlya¯n 1980, S. 33). »Die Muslime machten die Expansion bzw. die Verbreitung des Islams im ersten Jahrhundert n. H. zu einem ihrer Hauptanliegen. Die Bildung entwickelte sich damals im Großen und Ganzen nur in kleineren Schritten. Nachdem der Islam sich etabliert und ausgebreitet hatte, wurde der Bildung großes Interesse zuteil, insbesondere in den darauffolgenden drei Jahrhunderten.« (al-ʿAlya¯n 1980, S. 33)

Die spezifischen Herrschaftsmerkmale und die damit verbundene Einstellung zur Bildung der verschiedenen Dynastien, die auf die Gestaltung der sozialen und kulturellen Bereiche islamischer Gesellschaften wesentlichen Einfluss nahmen, waren für die Entwicklung des Bildungssystems im islamischen Raum sowie für

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die Entstehung eines vielseitigen Bildungsprozesses in den ersten zehn Jahrhunderten nach der Offenbarung entscheidend.

2.

Die Entstehung der madrasa

Schon in der Frühzeit des Islams – etwa ab dem zweiten Jahrhundert n. H. – wurde der religiösen Bildung große Aufmerksamkeit gewidmet: Die vier rechtgeleiteten Kalifen (al-hulafa¯ʾ ar-ra¯ˇsidu¯n) begannen mit der Errichtung von Bil˘ dungsstätten (mara¯kiz taʿlı¯miya) an den wichtigsten Orten des islamischen Reiches, so im Higˇa¯z, im Irak, in Damaskus und in Ägypten. Im Vordergrund ˙ stand dabei die Etablierung der islamischen Lehre. Diese Dynamik brachte viele bekannte Gelehrte hervor, die dem islamischen fiqh eine strukturierte Form verliehen. Imam Ahmad Ibn Hanbal, Imam Abu¯ Hanı¯fa, Imam asˇ-Sˇa¯fiʿı¯ und ˙ ˙ ˙ Imam Ma¯lik gehörten mit Sicherheit zu deren hervorragendsten Repräsentanten (al-ʿAlya¯n 1980, S. 26). »Die herausragende Bedeutung von Bildung und Wissenschaft leiteten die Muslime seit der Frühzeit des Islams aus dem Kern ihrer Religion und deren dogmatischen Grundsätzen ab. In den ersten drei Jahrhunderten wurde diesem Bereich deshalb großes Interesse entgegengebracht, was dazu führte, dass diese Epoche durch eine außerordentliche Wissenschaftsentwicklung geprägt war.« (Al-ʿAlya¯n 1980, S. 26)

Die traditionellen Bildungsstätten waren seit der Errichtung der Moschee von Medina durch den Propheten Muhammad die Moscheen. In ihnen wurden re˙ gelmäßig Lesekreise (halaqa¯t) für islamwissenschaftliche Zweige (ʿulu¯m islami˙ ya) wie fiqh, hadı¯t, qurʾa¯n etc. abgehalten, was der islamischen Theologie eine ˙ ¯ Zeit der Blüte bescherte. Die Moscheen galten neben den kata¯tı¯b als Lernorte sowohl für Kinder als auch für Erwachsene (al-ʿAlya¯n 1980, S. 27ff.; Yu¯nis, Faragˇ & Ibra¯hı¯m 1999, S. 72–79; Qism al-ida¯ra o. J., S. 93f.). Im Mittelpunkt der Unterweisung standen das Auswendiglernen von Koranpassagen und ihre vorgegebene, unhinterfragte Interpretation, bei der es sich zumeist um die Nachahmung anerkannter Gelehrsamkeit (taqlı¯d)2 handelte3 (Eccel 1984, S. 19f.). Die 2 Der Begriff taqlı¯d wird von dem Verb qallada abgeleitet und bedeutet »nachahmen«, »folgen«, »sich der Autorität einer Person unterwerfen«. Er wurde zumeist in der islamischen Rechtswissenschaft gebraucht und hat überwiegend negative Bedeutung, d. h. unvernünftige, irrationale und gedankenlose Befolgung früherer Gelehrsamkeit. Vgl. Bosworth (1960, S. 137f.). 3 Ein Schulabschlusszeugnis sowie Bildungsstrukturen in der heutigen Form gab es damals nicht. Die Qualifikation der Lernenden konnte nur durch ihre regelmäßige Teilnahme an der Unterrichtsrunde (halaqa) sowie ihre aktive Beteiligung an Diskussionen im Unterricht ge˙ prüft werden. Abschließend wurde den Lernenden eine Lizenz (igˇa¯za) verliehen, die sie zur Ausübung des Lehrberufs berechtigte. Vgl. al-ʿAlya¯n (1980, S. 31f.). Das arabische Wort halaqa ˙ bedeutet »Ring«, »Kreis« oder »Zirkel«. In diesem Zusammenhang wird es mit dem arabischen

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Kutta¯b-Schulen sowie der Moscheeunterricht wurden allerdings mit der Zeit abgeschafft und ab dem 19. Jahrhundert in weiten Teilen des islamischen Raums durch ein modernes Schulwesen ersetzt (al-ʿAlya¯n 1980, S. 34). Da sich der vorliegende Beitrag wesentlich den Reformen der religiösen Bildung in Ägypten widmet, seien nun die im Lauf der Geschichte unternommenen Reformbemühungen im Bildungswesen anhand eines historischen Überblicks kurz dargestellt.

2.1

Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ (reg. 1805–1848) – Begründer des modernen ˙ ägyptischen Bildungssystems

Bis zu Beginn der französischen Kolonialisierung (1798–1801)4 war das Bildungssystem Ägyptens nicht verstaatlicht und auf private religiöse Koranschulen (kata¯tı¯b) und Moscheen, die vor allem durch Privatspenden und über religiöse Stiftungen finanziert wurden,5 beschränkt (Qism al-ida¯ra o. J., S. 157). Später oblag die Verwaltung der religiösen Bildung im Wesentlichen der im Jahr 972 gegründeten Azhar-Moschee (Qism al-ida¯ra o. J., S. 154; Eccel 1984, S. 116–121; Sulaima¯n 1972, S. 50–54). Seinen religiösen Charakter erwarb das ägyptische Bildungssystem bereits nach der von der Arabischen Halbinsel ausgehenden islamischen Expansion im Jahr 640 (Qism al-ida¯ra o. J., S. 157). Im Folgenden wird kurz auf jene Zeitepochen der letzten zwei Jahrhunderte eingegangen, welche für die Herausbildung des heutigen ägyptischen Schulwesens eine zentrale Rolle spielten. Eine neue Blütezeit im Bereich der Bildung begann im 19. Jahrhundert, nachdem Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ (1769–1849)6 sich gegen die Osmanen durch˙ gesetzt hatte und im Jahr 1805 die Macht übernahm. Er gilt als Begründer des modernen ägyptischen Bildungssystems (Qism al-ida¯ra o. J., S. 154), zugleich bemühte er sich um die Stärkung des Militärs sowie des Verwaltungsapparats (gˇiha¯z ida¯rı¯), um die Unabhängigkeit von den Großmächten, insbesondere den Adjektiv dira¯sı¯, »zum Studium gehörig«, verbunden, d. h. halaqa dira¯siyya, was als »Seminar« ˙ S. 289, 386. Das arabische Wort oder »Lehrveranstaltung« zu übersetzen ist. Vgl. Wehr 1985, igˇa¯za bedeutet »Lizenz« oder »Genehmigung«. Meistens wurde sie für die Ausübung des Lehrerberufs erteilt. Die Verleihung dieser Lizenz erfolgt durch eine staatliche Behörde und zeigt, dass die Person in der Lage ist, ein bestimmtes (meistens islamisches) Fachgebiet zu lehren. Vgl. EI (1960, Bd. 3, S. 1020ff.). 4 Zur französischen Kolonialisierung Ägyptens vgl. Sulaima¯n (1972, S. 67–71). 5 Zu früheren Bildungseinrichtungen in den islamischen Ländern vgl. auch Sulaima¯n (1972, S. 39–44). 6 Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ war 1805 bis 1848 der Vizekönig von Ägypten. Er begründete die bis 1953 ˙ regierende ägyptische Herrscherdynastie und erreichte eine relative Unabhängigkeit Ägyptens vom Osmanischen Reich. Für eine detaillierte Darstellung vgl. EI. (1960, Bd. 7, S. 423–433).

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Engländern, zu erlangen (Sulaima¯n 1972, S. 72f.). Mangels qualifizierter, zur Etablierung eines modernen und einheitlichen Bildungssystems nach europäischem bzw. französischem Muster fähiger Fachkräfte war ʿAlı¯ am Anfang auf die Unterstützung von ausländischen Spezialisten angewiesen. Außer der von ihm errichteten Infrastruktur verdankt Ägypten ʿAlı¯ auch den Aufschwung des Bildungssystems. Er versuchte nicht, das alte Konzept weiterzuentwickeln, sondern schuf ein völlig neues System, das vermutlich seiner in militärischer und politischer Hinsicht expansionistischen Vision eines modernen Staates entsprach. Zur Umsetzung seines Vorhabens benötigte er als Erstes eine Generation von Beamten, Lehrern, Medizinern, Ingenieuren, Ökonomen, Übersetzern etc. – und dazu setzte er zum ersten Mal mit Erfolg auf das bis heute offiziell systematisierte Schulsystem, das von der Bevölkerung am Anfang zum Teil nur widerwillig angenommen wurde und zu dessen Finanzierung nicht nur die Stiftungen und der Staat in die Pflicht genommen wurden (Qism al-ida¯ra o. J., S. 160f.). ʿAlı¯ ließ also neben dem Kutta¯b-Bildungssystem Fachhochschulen errichten, und ab 1809 wurden zwecks Umsetzung des angestrebten Bildungssystems Stipendiaten nach Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich und England entsandt. Ab diesem Zeitpunkt wurde in Ägypten erstmals von zwei Bildungsstrukturen bzw. einem »dualen Bildungssystem« (niza¯m taʿlı¯mı¯ muzdawagˇ) gesprochen. Zum einen gab ˙ es das von ʿAlı¯ neu geschaffene, moderne Bildungssystem (an-niza¯m at-taʿlı¯mı¯ ˙ al-hadı¯t), das auf die Bedürfnisse des Staates ausgerichtet war. Zum anderen ˙ ¯ blieb das religiöse Bildungssystem (at-taʿlı¯m ad-dı¯nı¯) unberührt und wurde weiterhin von der Azhar verwaltet (Qism al-ida¯ra o. J., S. 160f.; Sulaima¯n 1972, S. 78f., 87f.). Bis zum Jahr 1840 galt ʿAlı¯s Hauptaugenmerk der Errichtung von Fachhochschulen, die den Personalbedarf des Militärs und des Verwaltungsapparats decken sollten. Die anfangs aus dem Ausland rekrutierten Lehrkräfte wurden später durch die aus Europa zurückgekehrten Stipendiaten ersetzt7 (Sulaima¯n 1972, S. 83–87). 1825 wurde unter ʿAlı¯ in Kairo die erste Sekundarschule gegründet (Sulaima¯n 1972, S. 79); die Schaffung des Grundschulsystems (niza¯m at-taʿlı¯m al-ibtida¯ʾı¯) ˙ sollte allerdings erst später, mit der Eröffnung der staatlichen Grundschule (maka¯tib al-mubtadaya¯n) im Jahr 1833, erfolgen. 1836 ließ ʿAlı¯ das sogenannte »Statut der Grundschulen« (la¯ʾihat al-mada¯ris al-ibtida¯ʾiyya) herausgeben, ˙ dessen erster Artikel von den Bildungszielen der Grundschulen handelte:

7 Die wichtigsten von ʿAlı¯ errichteten Schulen waren die Militärschulen (1816–1822), Ingenieurschulen (1816, 1834), die militärische Musikschule (1824), Marineschulen (1824), Schule für Chemie (1831), Artillerieschule (1831), Medizinschule (1831), Kunstschule (1831), Infanterieschule (1831), Hebammenschule (1832), Buchhaltungsschule (1837), Offiziersschule (1837), Sprachschule (1837), Polytechnikum (1839) und Verwaltungsschule (1840). Vgl. Sulaima¯n (1972, S. 83–87).

Religiöse Bildungsreform am Beispiel Ägypten

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»Das Ziel der Grundschulen ist es, die Schüler auf die nächste Schulphase, nämlich die Vorbereitungsschulphase [marhalat al-mada¯ris al-iʿda¯diyya] vorzubereiten. Des Wei˙ teren hat sie das Ziel, den Bürgern die Grundzüge der Wissenschaften nahezubringen.« (Qism al-ida¯ra o. J., S. 161)

Später ließ ʿAlı¯ in mehreren Regionen Ägyptens Primarschulen (mada¯ris ibtida¯ʾiyya) sowie Vorbereitungsschulen (mada¯ris iʿda¯diyya) errichten (Qism alida¯ra o. J., S. 161). Damit wurden in Ägypten drei Bildungsphasen eingeführt, nämlich Primar-, Vorbereitungs- und Hochschulphase (marhalat at-taʿlı¯m al˙ ˇ aiyya¯r 1972, S. 58; Sulaima¯n 1972, asa¯sı¯ wa-l-iʿda¯dı¯ wa-l-ʿa¯lı¯) (al-G S. 79f.). Dies geschah hauptsächlich mit dem Ziel, die Lernenden auf die zuvor eröffneten Hochschulen vorzubereiten, um zukünftig auf ausländische Fachkräfte verzichten zu können. Infolge des Machtwechsels nach der Herrschaft ʿAlis sowie der 1882 beginnenden englischen Kolonialherrschaft wurden viele dieser Schulen geschlossen, was für das Bildungssystem im Allgemeinen einen herben Rückschlag bedeutete; zwischen 1868 und 1879 wurde auch ein Teil der Koranschulen unter staatliche Verwaltung gestellt. So versuchte der Staat immer wieder, in die religiöse Bildungspolitik der Azhar-Universität einzugreifen (Qism alida¯ra o. J., S. 165–168; Eccel 1984, S. 198f.). In der Ära Muhammad ʿAlı¯ wurde also die Basis für ein modernes, institu˙ tionalisiertes Bildungssystem geschaffen, das dann aber unter seinen Nachfolgern einen Niedergang erlebte und schließlich durch das westliche Bildungssystem ersetzt wurde (Eccel 1984, S. 159ff.; Qism al-ida¯ra o. J., S. 154).

2.2

Das ägyptische Bildungssystem in der Ära ʿAbba¯s (reg. 1848–1854) und Saʿı¯d (reg. 1854–1863)

ʿAbba¯s8 zeigte aufgrund seiner konservativen Einstellung kaum Interesse an der Fortsetzung der begonnenen Bildungsreform. Die Folge war nicht nur die Vernachlässigung des Bildungssystems, sondern auch die Schließung vieler Schulen und die Reduzierung von Auslandsstipendien (Steppat 1968, S. 39–41; Sulaima¯n 1972, S. 96, 101). Ungeachtet dieser Rückschläge für das Bildungssystem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeitigte die Rückkehr der Auslandsstipendiaten nachhaltige und tiefgreifende Auswirkungen auf die ägyptische Gesellschaft. Manche hatte die Begeisterung für Europa beinahe ihrer eigenen Identität beraubt. Zu jenen Personen, die maßgeblichen Anteil an der Gründung des modernen ägyptischen

8 ʿAbba¯s Hilmı¯ I (1813–1854), der Nachfolger Muhammad ʿAlı¯s, war von 1848 bis 1854 der ˙ Vizekönig von Ägypten. Vgl. EI (1960,˙ Bd. 1, S. 13). osmanische

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Bildungssystems hatten, gehörten Rifa¯ʿa at-Tahta¯wı¯9 und ʿAlı¯ Muba¯rak10. West˙ ˙ ˙ liche Vorbilder vor Augen und gleichzeitig um eine religiöse Prägung bemüht, traten sie für die landesweite Durchsetzung der Volksbildung sowie für die Abschaffung der Schulgebühren ein. Ihre Aufgabe sahen sie nicht nur darin, die ausländischen Fachkräfte zu ersetzen, sondern auch darin, fremdsprachige Werke und Lehrmaterialien ins Arabische zu übersetzen. Des Weiteren fassten sie ihre Überlegungen zur Bildungsreform in einem sogenannten masˇru¯ʿ la¯ʾihat ˙ al-maka¯tib al-ahliyya (»Projekt des Statuts der Bürgerschulen«) zusammen und erstellten das erste Konzept einer modernen, am europäischen Muster orientierten Bildungspolitik. Die wichtigsten Zielsetzungen des Entwurfs lauteten wie folgt: 1. Die Volksbildung ist in erster Linie Aufgabe des Staates. 2. Das bestehende Schulsystem soll nach westlichem Vorbild reformiert werden; das Schulprogramm soll um zusätzliche wissenschaftliche Fachgebiete erweitert werden. 3. Der Bildungsprozess in Kutta¯b-Schulen, die nicht unter staatlicher Aufsicht stehen, soll qualitativ ausgewertet und ordnungsgemäß abgewickelt werden. 4. Die Errichtung und Finanzierung sämtlicher Kutta¯b-Schulen des Landes soll unter staatliche Aufsicht gebracht werden (Qism al-ida¯ra o. J., S. 166–169). Allerdings konnte der Entwurf aufgrund der reformfeindlichen Politik von Saʿı¯d Pa¯sˇa¯11 (reg. 1854–1863), der bereits am Anfang seiner Herrschaft im Jahr 1854 viele Schulen sowie das Schulministerium schließen ließ, nicht in die Praxis umgesetzt werden (Qism al-ida¯ra o. J., S. 166; al-Fiqqı¯ 1971, S. 62ff.; Sulaima¯n 1972, S. 96, 102).12 Daher wurden unter Saʿı¯ds Herrschaft kaum Änderungen am Bildungssystem Ägyptens vorgenommen und die Bildung blieb bis zur Regierungszeit seines Nachfolgers Isma¯ʿı¯l ein vernachlässigter Bereich (Qism al-ida¯ra o. J., S. 166). 9 At-Tahta¯wı¯, Abu al-ʿAzm Rifa¯ʿa Ra¯fiʿ Ibn Badawı¯ (1801–1873) war ein ägyptischer Autor, ˙ ˙ ˙ Übersetzer und Ägyptologe. Er war einer der ersten Stipendiaten, die zur Zeit ʿAlı¯s Pädagoge, in Europa studierten. 1833 übersetzte er die französische Verfassung und legte den Grundstein einer Verfassungsreform in Ägypten nach modernem europäischen Muster. Vgl. EI (1960, Bd. 8, S. 523f.). 10 ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ Muba¯rak (1801–1873), geboren in der Provinz ad-Daqahliyya, war ein ägyptischer Autor, Pädagoge, Historiker und Ägyptologe. Er studierte in Kairo und danach in Frankreich und war ebenfalls einer der Stipendiaten in der Ära Muhammad ʿAlı¯. Später wurde er in Ägypten »abu at-taʿlı¯m« (Vater der Bildung) genannt. Vgl.˙ EI (1960, Bd. 1, S. 396). 11 Muhammad Saʿı¯d Pa¯sˇa¯ (1822–1863) war der jüngste Sohn Muhammad ʿAlı¯s und von 1854 bis ˙ 8, S. 859f.). 1863˙ der osmanische Vizekönig von Ägypten. Vgl. EI (1960, Bd. 12 Die staatlichen Bildungsausgaben zur Regierungszeit Saʿı¯ds wurden deutlich reduziert. 1857 beliefen sich die Ausgaben für das Schulwesen auf 26.528 LE, 1858 auf 33.468 LE, 1859 auf 20.262 LE, 1860 auf 19.972 LE, 1861 auf 27.434 LE, 1862 auf 28.300 LE und schließlich 1863 auf 12.756 LE.

Religiöse Bildungsreform am Beispiel Ägypten

2.3

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Das ägyptische Bildungssystem in der Ära Isma¯ʿı¯l (reg. 1863–1879)

Unter der Herrschaft Isma¯ʿı¯ls13 erlebte das ägyptische Bildungssystem im Allgemeinen einen bescheidenen Fortschritt. Isma¯ʿı¯l versuchte, den Reformweg seines Großvaters Muhammad ʿAlı¯ fortzusetzen und ließ als Erstes das Schul˙ ministerium sowie die von seinem Vorgänger geschlossenen Schulen wiedereröffnen. Sein Augenmerk war allerdings darauf gerichtet, seine Herrschaft zu festigen und sich vom türkischen Sultan unabhängig zu machen. Er führte einige Reformen im Bauwesen durch, die Ägypten jedoch tief in die Schuld der europäischen Großmächte geraten ließen (Qism al-ida¯ra o. J., S. 166f.). Ein von der Abgeordnetenkammer des 1866 neu gegründeten ägyptischen Parlaments, die sich für eine Bildungsreform einsetzte, am 12. Oktober 1866 erlassenes Statut forderte (gemäß Artikel 61) die Beseitigung des Analphabetentums: »Es ist unverzichtbar, dass die Mitglieder der Abgeordnetenkammer sowie die Bürger (die diese Mitglieder wählen sollen) das Lesen und Schreiben beherrschen …« (Qism al-ida¯ra o. J., S. 167). Mit diesem Schritt zielte die Abgeordnetenkammer darauf, Bildung als Bedingung für die Entwicklung bzw. Reform der Gesellschaft anzuerkennen. Zudem wurden u. a. folgende Bestimmungen erlassen: »Der Staat soll in allen Regionen des Landes Grundschulen errichten. Davon ausgenommen sind die Regionen an der Küste, weil als Erstes die staatlichen und die Kutta¯bSchulen in Kairo und Alexandria etabliert und verbreitet werden sollen. Die Schulbehörden sollen so nah wie möglich an den Zugbahnhöfen liegen, um einfach erreichbar zu sein. Der Staat ist für die Errichtung der Gebäude der Schulbehörde zuständig.« (Qism al-ida¯ra o. J., S. 167)

Im Vordergrund der unter Isma¯ʿı¯l getroffenen Maßnahmen stand die Einbeziehung sämtlicher Kinder im Schulalter in das Bildungssystem, ungeachtet ihres sozialen und religiösen Hintergrunds. Bildung sollte den breiten Massen ermöglichen, sich an den Parlamentswahlen zu beteiligen und ihr Wahlrecht auszuüben (Qism al-ida¯ra o. J., S. 167). Diesen Grundsatz ließ ʿAlı¯ Muba¯rak 1867 im sogenannten »Ragˇab14-Statut 1867« (la¯ʾihat ragˇab li-sanat 1867) festhalten: ˙

»Die Volksbildung in den Bürgerschulen [al-maka¯tib al-ahliyya] sowie in den Kutta¯bSchulen gilt als die Basis für die Entwicklung eines modernen Bildungssystems. Dem Staat obliegt die Aufsicht über diese Bürger- und Kutta¯b-Schulen sowie über deren Reformierung. Die Primarbildung darf sich nicht auf das Memorieren des Korans beschränken, ihr Ziel muss vielmehr der Erwerb der für die Bildung der Persönlichkeit wesentlichen Kompetenzen sein. Finanziert werden soll dieses Vorhaben teilweise durch den Staat, durch Mittel der Provinzräte und durch religiöse Stiftungen und

13 Isma¯ʿı¯l Pa¯sˇa¯ (1830–1895) war ein osmanischer Vizekönig von Ägypten. Zu einer detaillierten Darstellung siehe EI (1960, Bd. 4, S. 192f.). 14 Ragˇab ist der siebte Monat des islamischen Kalenders.

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Spenden. Der Staat übernimmt die volle Verantwortung für die Verwaltung und fachliche Entwicklung dieser Einrichtungen sowie für die Bereitstellung von Fachkräften, um das Bildungsniveau und die Lehrinhalte zu verbessern und zu entwickeln.« (Qism al-ida¯ra o. J., S. 167f.)

Die angestrebten Ziele konnten aufgrund von zwei Faktoren nur teilweise realisiert werden. Einerseits war die Finanzierung aus den genannten Quellen beschränkt, andererseits erwies sich das Fehlen von kompetenten Fachkräften und Kontrolleuren an Kutta¯b-Schulen als wesentliches Hindernis (Qism al-ida¯ra o. J., S. 166ff.; Steppat 1968, S. 51–57; Sulaima¯n 1972, S. 102f.).

2.4

Das ägyptische Bildungssystem von der Zeit Tawfı¯qs (reg. 1879–1892) bis zur Revolution von 1919

Auch Tawfı¯q15 machte sich die Verbesserung des Bildungssystems Ägyptens zum Anliegen, doch sollte das vom Kultusministerium im Jahr 1880 angedachte Reformprojekt aufgrund des Beginns der englischen Kolonialherrschaft 1882 unverwirklicht bleiben. »Es wurde eine Kommission mit dem Namen ›Kommission für die Bildungskoordination (1880)‹ [qummissiyu¯n tanz¯ım al-maʿa¯rif 1880] ˙ gegründet, die für die Eröffnung von Volksschulen in allen Regionen des Landes 16 plädierte« (Qism al-ida¯ra o. J., S. 168). Unter der englischen Kolonialherrschaft (1882–1923) verschärfte sich die politische und wirtschaftliche Krise im Land, gleichzeitig kamen Bildungsbestrebungen nahezu zum Stillstand. Im Grunde ging es den Engländern darum, Ägypten als eine Agrareinheit in das arbeitsteilige Weltwirtschaftssystem zu integrieren. Dementsprechend fokussierten sich ihre wirtschaftlichen Aktivitäten auf die Erzeugung verschiedener Agrarprodukte, insbesondere von Baumwolle, was die ägyptische Wirtschaft stark vom Export dieses Produkts abhängig machte (Qism al-ida¯ra o. J., S. 170–171; Sulaima¯n 1972, S. 98f.). Der Bereich der Bildung erfuhr 1892 eine strukturelle Veränderung, indem ein Grundschulabschluss eingeführt wurde. Die Kolonialpolitik war darauf bedacht, die Volksbildung ein geringfügiges Niveau nicht überschreiten zu lassen, um so den Einheimischen die Bekleidung höherer Positionen im gesellschaftlichen, politischen sowie wirtschaftlichen Bereich zu verwehren. Für landwirtschaftliche Tätigkeiten bedurfte es keiner besonderen Qualifikationen, und die benötigten Fachkräfte mit speziellen Kenntnissen kamen aus den Reihen der europäischen Einwanderer. Solange also genügend Arbeitskräfte im landwirtschaft15 Muhammad Tawfı¯q Ibn Isma¯ʿı¯l Ibn Ibra¯hı¯m Ibn Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ (1852–1892) war der ˙ osmanische Vizekönig von Ägypten von 1879˙ bis 1892. Vgl. EI. 1960, Bd. X, S. 388f. sechste 16 Mehr zum Reformprojekt von 1880 siehe bei Steppat 1968. Vgl. Sulaima¯n 1972, S. 106.

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lichen Sektor zur Verfügung standen, bestand kein Grund, das Bildungsniveau der Bevölkerung, insbesondere der gesellschaftlichen Unterschicht, zu heben und das Schulsystem, vor allem die an die Grundschule anschließenden Bildungsphasen, weiterzuentwickeln (Qism al-ida¯ra o. J., S. 170–174). Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es im Wesentlichen die ägyptischen Intellektuellen, die im Prozess der Reformierung des Bildungssystems eine zentrale Rolle spielten. Das zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkeimende moderne ägyptische Bildungssystem galt als Kernstück vieler Reformprojekte ägyptischer Intellektueller. Hier sind Persönlichkeiten wie Ta¯ha Hus˙ ˙ sain, Ahmad Nagˇ¯ıb al-Hila¯lı¯, ʿAlı¯ Muba¯rak, Rifa¯ʿa at-Tahta¯wı¯ etc. hervorzuheben, ˙ ˙ ˙ ˙ die für die Bildungsreform und Volksbildung plädierten und sich vehement für die Realisierung dieser Vorhaben einsetzten. Im Mittelpunkt ihrer Bestrebungen standen die Errichtung staatlicher Grundschulen im ganzen Land sowie eine allgemeine und allumfassende Umgestaltung des Schulwesens. Zu beachten ist allerdings, dass sich Bildungsreformen in dieser Epoche zumeist nach den Bedürfnissen des Herrschers bzw. seinen politischen Interessen richteten (Ayubi 2002, S. 13; Pawaleka 1985, S. 412). So lässt sich aus den Ausführungen schlussfolgern, dass die Bildung während der kolonialen Epoche weniger den sozialen Aufstieg bezweckte als vielmehr die Absicherung des Besitzes und der Macht der feudalen Aristokratie. »Den Engländern war es wichtig, sich für ihre Industrie in England genügend Materialien und Rohstoffe aus Ägypten verschaffen zu können, insbesondere die ägyptische Baumwolle. Aus diesem Grund beschäftigten sie sich eher mit der Entwicklung des landwirtschaftlichen Bereichs.« (Qism al-ida¯ra o. J., S. 170) »Aus der Sicht der Engländer war die Volksbildung eine Art Entertainment bzw. sekundäres Recht, welches sich lediglich auf die Oberschicht begrenzte. Aus den Unterschichten sollten nur genügend Arbeitskräfte im landwirtschaftlichen Bereich bereitgestellt werden.« (ebd., S. 172)

2.5

Das ägyptische Bildungssystem nach der Revolution von 1919 bis 1952

Nach der Revolution von 1919 unter Führung des damaligen Kultusministers Saʿd Zag˙lu¯l17 erlangte Ägypten im Jahr 1922 die Unabhängigkeit. Am 19. April 1923 wurde die Verfassung, in der der Bildung erstmals eine bedeutende Stellung eingeräumt wurde, verkündet (Sulaima¯n 1972, S. 135). Gemäß Artikel 18 wurde 17 Saʿd Ibn Ibra¯hı¯m Zag˙lu¯l Pa¯sˇa¯ (1858–1927) war ein ägyptischer Politiker, der sich als Führer der nationalistischen Wafd-Partei für die Unabhängigkeit Ägyptens gegen die englische Kolonialherrschaft einsetzte und im Jahr 1924 Premierminister war. Unter seiner Führung kam es im Jahr 1919 zur Revolution. Vgl. EI (1960, Bd. 8, S. 698–701).

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die Organisation der Grundschulbildung im Grundgesetz verankert. Des Weiteren bestimmte Artikel 19, dass die Grundschulbildung an den öffentlichen Schulen für beide Geschlechter verpflichtend und kostenfrei zu sein habe (Qism al-ida¯ra o. J., S. 176f.; Steppat 1968, S. 136). »(17) Die Bildung genießt Freiheit, solange sie nicht die öffentliche Ordnung sowie die Moralität verletzt. (18) Die Koordination der öffentlichen Bildung unterliegt dem Grundgesetz. (19) Die Grundschulbildung ist für alle Ägypter beider Geschlechter in den öffentlichen Schulen obligatorisch und kostenlos.« (§§ 17–19 Ägyptische Verfassung idF vom 19. 04. 1923)18

Anstatt neue Schulen zu gründen, zog es die Regierung zunächst vor, die bereits bestehenden Schulen zu erweitern. Später, im Jahr 1924, wurden in mehreren Provinzen 127 Grundschulen errichtet, die als »Projektschulen« (mada¯ris almasˇru¯ʿ) bezeichnet wurden (Qism al-ida¯ra o. J., S. 177f.; Steppat 1968, S. 166f.). Ein Jahr später lancierte das Kultusministerium das sogenannte »Projekt der Bildungspflicht« (masˇru¯ʿ at-taʿlı¯m al-ilza¯mı¯), welches sich grundlegend mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht befasste (Sulaima¯n 1972, S. 146f.; Qism al-ida¯ra o. J., S. 178). Dieses Vorhaben hatte zum Ziel, innerhalb von 20 Jahren alle Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren einzuschulen und das Analphabetentum zu beseitigen. 1925/26 errichtete das Kultusministerium weitere 763 Pflichtschulen in verschiedenen Regionen des Landes. Ein wesentlicher Grund für den Misserfolg dieser Aktion war, dass es dem Staat hauptsächlich um die Quantität der Lernenden ging und er darüber die Qualität der Bildung und die Bereitstellung der erforderlichen Lehrkräfte vernachlässigte (Qism al-ida¯ra o. J., S. 178–182; Steppat 1968, S. 166–174; Sulaima¯n 1972, S. 160–163). Die Krise der Bildung im Allgemeinen und des Grundschulwesens im Besonderen veranlasste Denker wie Ta¯ha Hussain und Ahmad Nagˇ¯ıb al-Hila¯lı¯,19 sich ˙ ˙ ˙ eingehender mit dem Thema auseinanderzusetzen. Davon überzeugt, dass die Volksbildung ein Grundrecht eines jeden Bürgers sei, wirkten sie darauf hin, sie allen zugänglich zu machen. Eine diesbezügliche Aussage des Schriftstellers Ta¯ha¯ ˙ Hussain wird bis heute immer wieder zitiert: »at-taʿlı¯m ka-l-ma¯ʾ wa-l-hawa¯ʾ ˙ haqqun li-kulli muwa¯tin« – die Bildung sei eine Notwendigkeit für das Leben ˙ ˙ eines Menschen genauso wie das Wasser und die Luft und müsse jedem Bürger als Grundrecht gewährt werden (Qism al-ida¯ra o. J., S. 182).

18 Verfassung von 1923. Artikel 17, 18 und 19. Vgl. https://www.faroukmisr.net/report86.htm. Zugegriffen: 5. September 2020. 19 Ahmad Nagˇ¯ıb al-Hila¯lı¯ (1891–1958) war der letzte Ministerpräsident in der ägyptischen ˙ Monarchie. Er wurde im Jahr 1935 zum Kultusminister und im Jahr 1936 zum Finanzminister ernannt. Er spielte eine zentrale Rolle bei der Bildungsreform des 20. Jahrhunderts. Vgl. azZiriklı¯ (1986, Bd. 1, S. 263).

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Das Kultusministerium setzte eine Kommission ein, deren Hauptaufgabe die fundamentale Verbesserung des Grundschulwesens war. Bis zur Abschaffung der Monarchie durch die Revolution von 1952 konnten alle festgelegten Ziele erreicht werden (Qism al-ida¯ra o. J., S. 180ff.). Der Entwurf aus dem Jahr 1941 umfasste folgende Zielsetzungen: »Die Aufgabe der Grundschulen soll sich nicht auf die Alphabetisierung beschränken, sondern vielmehr die nationale Erziehung im Sinne der Lebensertüchtigung erweitern. Die Vereinheitlichung der Lehrinhalte in Grundschulen. Die Schulpflicht wird auf 6 Jahre festgelegt, das heißt auf das Alter zwischen 6 und 12 Jahre. Die Einführung des ganztägigen Unterrichts. Die Beaufsichtigung aller Schulen durch den Staat.« (Qism alida¯ra o. J., S. 180f.)

2.6

Das ägyptische Bildungssystem in der Ära Na¯sir20 (1956–1970) ˙

Durch die Revolution von 1952 wurde Ägypten von der englischen Kolonialherrschaft unabhängig, der letzte König Ägyptens wurde des Landes verwiesen. Daraufhin wurde die Verfassung von 1923 außer Kraft gesetzt und Ägypten zur Republik ausgerufen. Gemäß dem neuen Bildungsgesetz bestand für alle Kinder beider Geschlechter im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren Schulpflicht. Damit schuf die neue Verfassung aus dem Jahr 1956 einen Rechtsrahmen für das neue Bildungssystem (Qism al-ida¯ra o. J., S. 183ff.; Sulaima¯n 1972, S. 200f., 205). Die Grundlinien des ägyptischen Bildungssystems sind in den Artikeln 48 bis 51 festgelegt: »(48) Die Bildung genießt die Freiheit im Rahmen des Grundgesetzes, der gesellschaftlichen Normen und moralischen Werte. (49) Die Bildung ist ein Grundrecht aller ägyptischen Bürger. Der Staat übernimmt sämtliche Kosten für die Errichtung aller Schultypen, kultureller und pädagogischer Einrichtungen sowie für alle Maßnahmen, die dem Zweck ihrer allmählichen Ausbereitung dienen. Der Staat ist u. a. mit der intellektuellen, körperlichen und moralischen Entwicklung der Heranwachsenden beauftragt. (50) Der Staat ist für die Beaufsichtigung des öffentlichen Bildungssystems im Rahmen des Grundgesetzes zuständig. Bildung wird allen Kindern in allen Bildungsphasen im Rahmen des Gesetzes gebührenfrei gewährt. (51) Die Bildung an den staatlichen Schulen während der Grundschulphase ist obligatorisch und kostenlos.« (§§ 48–51 Ägyptische Verfassung idF vom 16. 01. 1965)

ˇ ama¯l ʿAbd an-Na¯sir wurde 1918 in Alexandria geboren und starb 1970. Er war zwischen 20 G 1956 und 1970 der ˙zweite Präsident Ägyptens sowie Präsident der Vereinigten Arabischen Republik (Ägypten und Syrien). Im Jahr 1949 gründete er das »Komitee der Freien Offiziere« (ad-dubba¯t al-ahra¯r), das 1952 die Revolution gegen Fa¯ru¯q I., den letzten König Ägyptens ˙ ˙ 1936–1952), ˙ ˙ anführte. Vgl. http://nasser.bibalex.org/common/pictures01-%20sira.htm. (reg. Zugegriffen: 11. September 2020.

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Das damit geschaffene Grundschulsystem umfasste drei Schulphasen: Primarstufe bzw. Grundschule (ibtida¯ʾı¯) (für die 6- bis 12-Jährigen), Vorbereitungsstufe/Sekundarstufe I bzw. allgemeine Vorbereitungsstufe (iʿda¯dı¯) (für die 12- bis 15-Jährigen) sowie Oberstufe/Sekundarstufe II (ta¯nawiyya) (für die 15- bis 18¯ Jährigen). Die dritte Stufe wurde ihrerseits in zwei Schulzweige aufgeteilt. Der erste führte zur allgemeinen Hochschulreife mit Abschluss (sˇaha¯dat at-ta¯na¯¯ wiyya al-ʿa¯mma) und zum unmittelbaren Zugang zum Hochschulstudium (dira¯sa gˇa¯miʿiyya). Der zweite Zweig, die technische Sekundarschule (mada¯ris si˙ na¯ʿiyya), ermöglichte das Erlernen eines Handwerks bzw. den unmittelbaren Zugang zu einem fachspezifischen Hochschulstudium (Pawelka 1985, S. 192; Harbı¯ & Mihriz 1961, S. 8–27). ˙ ˙ Nach der offiziellen Unabhängigkeit Ägyptens 1922 bestanden zunächst zwei Schulsysteme – von der Grundschule bis zum Hochschulabschluss – nebeneinander. Einerseits gab es ein modernes Schulsystem, welches sich am europäischen Muster orientierte. Andererseits existierten die Kutta¯b- sowie die Koranschulen, die sich allmählich im ganzen Land ausbreiteten und später als »azharitische Institute« (al-maʿa¯hid al-azhariyya) bezeichnet wurden. Erst nach der Revolution von 1952 wurde das Bildungssystem in der noch heute bestehenden Form eingeführt und komplett staatlich verwaltet. Im Jahr 1961 wurde das azharitische Schulwesen ebenso wie die Azhar-Universität in das staatliche Bildungssystem integriert (Qism al-ida¯ra o. J., S. 154f.; Hyde 1978). Somit wurde die Azhar zum ersten Mal in ihrer Geschichte verstaatlicht und in eine reguläre Universität umgewandelt. Dies führte zum Zusammenbruch des alten Finanzierungssystems für die Azhar-Einrichtungen (sowohl der Hochschulen als auch der azharitischen Schulen) durch Privatspender und Stiftungen (Pink 2014, S. 213) und endete damit, dass die Azhar nun nicht mehr eine Lehranstalt mit ausschließlich religiösen Bildungszielen war, sondern vielmehr ein mit der Staatspolitik verbundenes politisches Instrument in der Hand des Regimes. »Die Entwicklung zu einer regierungsnahen Institution, die Gefälligkeitsgutachten zur Legitimierung staatlicher Politik im Gegenzug für finanzielle Absicherung erließ, hatte sich schon unter der Monarchie abgezeichnet und fand nun ihre Vollendung.« (Pink 2014, S. 213)

In den 1960er-Jahren diente das Bildungssystem in Ägypten in erster Linie jenen sozialen Schichten, die das Militärregime trugen. Außerdem stand die Vermittlung der Na¯sir-Ideologie zur Legitimierung der Militärherrschaft durch die In˙ strumentalisierung des Bildungssystems im Vordergrund. »Die Bildungspolitik diente diesen Zielen sehr viel effektiver als den entwicklungspolitischen Aufgaben, der Herstellung entwicklungsrelevanter Einstellungen, Qualifikationen und Kenntnisse. Diesen sozialökonomischen Funktionen stand noch eine weitere gegenüber, die Vermittlung der nasseritischen Ideologie zur Legitimierung des

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Regimes. Hier lag der zweite Schwerpunkt der Bildungspolitik in den 50er und 60er Jahren, auch wenn seine Resultate widersprüchlich waren.« (Pawelka 1985, S. 412)

Damit waren die Grundlagen eines Feudalsystems gelegt, das maßgeblichen Einfluss auf die Gesellschaft ausübte und zu einem allmählichen Niedergang des Bildungssystems führte (Qism al-ida¯ra o. J., S. 183ff.).

2.7

Das ägyptische Bildungssystem unter Sa¯da¯t (1970–1981)

In der Ära Sa¯da¯t21 – und dies gilt auch für die Zeit Muba¯raks (reg. 1981–2011)22 – wurden zwar bestimmte Änderungen am Bildungssystem vorgenommen, wie z. B. der Abbau der staatlichen Kontrollmechanismen und die Eröffnung neuer Schulen, dennoch ging die Qualität der Bildung deutlich zurück. Das in der Ära Na¯sir angelegte Bildungssystem blieb unter seinen Nachfolgern weitgehend er˙ halten. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde die staatliche Unterstützung des Bildungssystems aufgrund des wirtschaftlichen Rückgangs drastisch reduziert. Die Bildungseinrichtungen litten unter einem großen Mangel an Lehrkräften, Ausstattung etc. Ein ausschlaggebender Grund dafür war, dass es nicht möglich war, die dafür bestimmten Bildungsausgaben an die Bildungserfordernisse anzupassen. Der Anteil der staatlichen Ausgaben für den Bildungsbereich wurde im Lauf der 1970er-Jahre um ca. sechs Prozent gekürzt, sodass der budgetäre Durchschnitt in Höhe von 14 Prozent bis zu Beginn der 1980er-Jahren auf acht Prozent sank (Wippel 1997, S. 82f.). Die neue Verfassung von 1971 widmete dem Bildungssektor einen zusätzlichen Artikel betreffend den Religionsunterricht in der Grundschule. Unter anderem wurden die Curricula des staatlichen Bildungssystems um den islamischen und den christlichen Religionsunterricht als reguläre Fächer erweitert. Das Recht auf Bildung für alle Kinder unabhängig von Geschlecht, sozialem und religiösem Hintergrund wurde in den Artikeln 18 bis 21 verankert: »(18) Die Bildung ist ein staatlich garantiertes Recht. Sie ist in der Grundschulbildung obligatorisch und wird in den weiteren Schulphasen durch den Staat festgelegt. Die Bildung unterliegt in allen Phasen der staatlichen Aufsicht und der Staat garantiert die Unabhängigkeit der Hochschulen und wissenschaftlichen Forschungszentren, sodass die Bildung mit den Bedürfnissen der Gesellschaft und der Produktion verknüpft bleibt. 21 Muhammad Anwar as-Sa¯da¯t (1918–1981) war ägyptischer Präsident von 1970 bis 1981. 1973 ˙ er Ägypten in den Krieg gegen Israel, mit dem er im Jahr 1979 ein Friedensabkommen führte schloss. Im Jahr 1981 fiel er schließlich einem Attentat zum Opfer. Vgl. http://sadat.bibalex.o rg/. Zugegriffen: 1. Oktober 2020. 22 Muhammad Husnı¯ as-Saiyyid Muba¯rak (1928–2020) war von 1981 bis 2011 ägyptischer ˙ ˙ dazu vgl. https://www.britannica.com/biography/Hosni-Mubarak. ZugePräsident. Mehr griffen: 5. Oktober 2020.

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(19) Die religiöse Erziehung (Islamunterricht) ist ein reguläres Lehrfach in der öffentlichen Schulbildung. (20) Die Bildung in den staatlichen Bildungseinrichtungen in ihren verschiedenen Phasen ist kostenfrei. (21) Die Beseitigung des Analphabetentums ist eine nationale Aufgabe, der sich das Volk mit aller Kraft zu widmen hat.« (§§ 18–21 Ägyptische Verfassung idF vom 11. 09. 1971)

Trotz der Schaffung eines modernen Bildungssystems nach westlichem Muster war die Masse der Bevölkerung weiterhin auf die religiösen Bildungseinrichtungen verwiesen. Die Bildungsquote an den religiösen Schulen der Azhar sowie den Azhar-Hochschulen blieb bis zum Ende des 20. Jahrhunderts schwankend.23 Gemäß dem Gesetz Nr. 139 von 1981 wurde die Schulpflicht von sechs auf neun Jahre ausgedehnt, was mit der Vereinigung von Grund- und weiterführender Schulphase (al-marhala al-ibtida¯ʾiyya wa-l-iʿda¯diyya) einherging. 1988 wurde ˙ die Schulpflicht im Zuge wirtschaftlicher Anpassungsmaßnahmen zunächst auf acht Jahre, dann nochmals auf sechs Jahre (Qism al-ida¯ra o. J., S. 188f.) und schließlich 1991 aufgrund der schlechten Wirtschaftslage auf fünf Jahre verkürzt. Später wurde der Pflichtbesuch dann wieder auf sechs Jahre erweitert (Wippel 1997, S. 83). Heftige Proteste veranlassten Sa¯da¯t im Jahr 1981 – seinem letzten Regierungsjahr –, brutal gegen die Opposition vorzugehen und eine beträchtliche Anzahl an Protestierenden verhaften zu lassen, darunter auch viele Vertreter von islamischen Gruppierungen, die sich im Schatten seiner Politik gebildet hatten und das Regime noch im selben Jahr durch die Ermordung Sa¯da¯ts stürzten. Die Azhar stellte sich weiterhin in den Dienst der staatlichen Politik und erließ Rechtsgutachten, die in erster Linie zur Konsolidierung dieser Politik beitrugen. Damit stand die Mission dieser neu entstandenen islamischen Strömungen, nämlich der Kampf gegen jeden Herrscher, der nicht die Scharia anwendete, in Widerspruch zur Ideologie der Azhar (Pink 2014, S. 230), was den Stellenwert der azharitischen Bildungspolitik deutlich minderte. »An dieser Schrift wurde sehr deutlich, dass die Islamisten kaum Schnittmengen mit der traditionellen Gelehrsamkeit der Azhar hatten. Deren Islam war ihnen zu staatsnah, zu unpolitisch, zu sehr auf die Schriften früherer Gelehrter und zu wenig auf das kämpferische Vorbild des Propheten bezogen, auf das sie selbst sich beriefen.« (Pink 2014, S. 230)

23 Zur Bildungsquote an den religiösen Schulen bzw. Hochschulen im 20. Jahrhundert vgl. Eccel (1984, S. 232ff.).

Religiöse Bildungsreform am Beispiel Ägypten

2.8

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Das ägyptische Bildungssystem von der Zeit Muba¯raks (1981–2011) bis heute

Nach dem Tod Sa¯da¯ts übernahm Muba¯rak die Macht, der seit 1975 Vizepräsident war und gleichzeitig dem Militär angehörte. Muba¯raks Politik war ganz vom Militär abhängig, mit dessen Hilfe er sich 30 Jahre an der Macht halten konnte. Um den Fehler Sa¯da¯ts im Umgang mit islamistischen Gruppierungen zu vermeiden, erlaubte Muba¯rak auf der einen Seite die Verbreitung islamischer Moralvorstellungen bzw. Symbole wie z. B. das Tragen des Kopftuchs, auf der anderen Seite ließ er Islamkritiker verhaften und bekämpfte die unislamischen Bräuche im ganzen Land (Pink 2014, S. 232). Über das Bildungsministerium übte Muba¯rak großen Einfluss auf die religiöse Bildung aus, was diese auf schulischer Ebene stark beeinträchtigte. »Auf der anderen Seite betrieb das Bildungsministerium eine eher gegenläufige Politik. Es versuchte, das Tragen von Kopftüchern in Mädchenschulen zu unterbinden, ließ islamische Lehrkräfte zwangsversetzen und hielt den Umfang des schulischen Religionsunterrichts sehr niedrig.« (Pink 2014, S. 232)

Die Azhar blieb unter Muba¯rak wie unter Na¯sir und Sa¯da¯t weiterhin der ˙ Staatspolitik unterworfen. 1961 hatte Na¯sir das Gesetz Nr. 103 erlassen, das sich ˙ grundsätzlich mit der Leitung, Bildungspolitik und allen anderen Angelegenheiten der Azhar befasst.24 Dieses Gesetz gesteht dem Staatspräsidenten einige Vorrechte in Bezug auf die Leitung der Azhar zu, die z. B. in den Artikeln 3, 5, 7, 12, 18, 23, 41, 44 etc. verankert sind: »(3) Der Staatspräsident ernennt den Minister für die Azhar-Angelegenheiten. (5) Der Scheich al-Azhar wird vom Gremium der Akademie für islamische Untersuchungen [hayʾat mugˇammaʿ al-buhu¯t al-isla¯miyya] […] nach der Zustimmung des Staatsprä˙ ¯ sidenten gewählt […]. (7) Der Scheich al-Azhar hat einen Vertreter […]. Dieser wird durch das Gremium der Akademie für islamische Untersuchungen […] nach der Zustimmung des Staatspräsidenten gewählt […]. (12) Al-Azhar hat einen Generalsekretär, der vom Staatspräsidenten ernannt wird. (18) Das Gremium der Akademie für islamische Untersuchungen wird vom Staatspräsidenten ernannt […]. (23) Das Gremium der Akademie für islamische Untersuchungen hat einen Generalsekretär, der vom Staatspräsidenten ernannt wird […]. (41) Der Rektor der Azhar-Universität wird vom Staatspräsidenten ernannt […]. (44) […] Der Stellvertreter des Universitätsrektors wird vom Staatspräsidenten ernannt […].« (Gesetz Nr. 103 des Jahres 1961 zur Reorganisation der Azhar sowie der ihr untergeordneten Einrichtungen)25

Auf dieses Gesetz wird seit seinem Erlass bis heute zurückgegriffen, um die Azhar für die eigene Politik zu benützen. Dies zeigt einerseits, wie die Religion für 24 Als PDF zu finden unter https://archive.org/details/130-1961. Zugegriffen: 7. September 2020. 25 Ebd.

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politische Ziele eingesetzt wird, indem z. B. Rechtsgutachten in erster Linie dem Herrscher dienen. Auf der anderen Seite wird auch die religiöse Bildung, die eigentlich von der Azhar unabhängig von der Politik gestaltet werden und die islamischen Werte schützen sollte, den Interessen der Herrschenden unterworfen. Ein Beispiel dafür ist das Verhalten des von Muba¯rak im Jahr 1996 ernannten Scheichs der Azhar Muhammad Sayyid Tanta¯wı¯ (1917–2010), der als moderat ˙ ˙ ˙ und regimetreu galt (Pink 2014, S. 233). »Seine Abhängigkeit von der Regierung war allzu durchschaubar und brachte ihm den Spitznamen as-Sayyid bi-l-Okays (Der Herr der Okays) ein« (Pink 2014, S. 233). Die andauernde Instabilität bzw. die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts führte zu einem deutlichen Verfall des ägyptischen Bildungssystems, zumal auch der Lehrberuf trotz ständiger Proteste sehr schlecht bezahlt war. Die Regierung ignorierte diese Sachlage und zog es vor, sich allein mit politischen Fragen zu befassen. Dies führte dazu, dass Lehrkräfte existenziell vom Nachhilfeunterricht abhängig wurden: »Der Beruf der Lehrerin oder des Lehrers an einer öffentlichen Einrichtung ist gemessen an der Ausbildung einer der am schlechtesten bezahlten Berufe in Ägypten. Die Durchschnittseinkünfte für Junglehrerinnen und -lehrer liegen teilweise bei nur 360 ägyptischen Pfund (ca. 45 EUR) pro Monat. […] Um die Familie zu versorgen, muss eine Lehrerin oder ein Lehrer daher Nebeneinkünfte erzielen. Alle Lehrkräfte – ob in Grund-, Mittel- oder Oberstufe, ob in den TSS oder in der Thanawiyya ʿamma – bieten ihren Schülerinnen und Schülern daher Nachhilfe gegen Bezahlung.« (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2012, S. 24)

Infolgedessen brach etwa ein Drittel der Lernenden die Schulbildung in den ersten Schuljahren aus wirtschaftlichen Gründen ab. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zog sich der Staat von der Fürsorge für das Bildungssystem allmählich zurück, sodass ein großer Teil der Bevölkerung von Bildung ausgeschlossen und damit weiterhin diskriminiert blieb. Nur dank des wesentlich teureren privaten Förderwesens (Nachhilfeunterricht) konnte die Bildung eines Bevölkerungsanteils in einem minimalen qualitativen Umfang aufrechterhalten werden. 1980 galt etwa die Hälfte der Schulgebäude als ungeeignet für den Schulunterricht (Pink 2014, S. 250). »Der Rückgang staatlicher Unterstützung äußerte sich in den letzten Jahren bspw. in der Einführung von Einschreibegebühren von jährlich 20–30 EGP an den prinzipiell kostenfreien öffentlichen Schulen und Universitäten und in der offiziellen Einrichtung von Nachhilfekursen für drei bis fünf EGP pro Monat und Fach.« (Wippel 1997, S. 83)

Was die religiöse Bildung durch die Azhar angeht, so bestand bis zu den 1970erJahren ein religiöses Bildungssystem. Erst zu Beginn der Ära Sa¯da¯t erhielt die

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Azhar staatliche Unterstützung und damit die Möglichkeit, ihre Aktivitäten zu erweitern. »Es verfügt über ein eigenes staatlich finanziertes Budget. Der Anteil der al-AzharSchulen an den Grundschulen stieg allein in den 80er Jahren von 3 % auf 8 %, an den Vorbereitungs- und Sekundarschulen von 11 % auf 15 %. In den religiösen Primarschulen lernten 1971 etwa 1 %, 1981 über 2 % aller Schüler, bis 1990 war der Anteil auf 6 % angestiegen.« (ebd., S. 83f.)

Trotz der eigentlichen Zuständigkeit der Azhar für die religiöse Bildung hat sie bis heute keinen eigenen Entwurf für den IRU in den Azhar-Grundschulen vorgelegt, stattdessen bediente man sich des vom Bildungsministerium erstellten Lehrplans. Darüber hinaus wurde der wöchentliche Unterricht des Fachs »Religion« an den Azhar-Schulen deutlich eingeschränkt. Folgende Statistik belegt, dass die Anzahl der für das Fach vorgesehenen Unterrichtsstunden im Schuljahr 1996/1997 an den Azhar-Grundschulen und an den modernen öffentlichen Schulen unterschiedlich ausfiel. An den öffentlichen Grundschulen wurden dem Religionsunterricht 15 Stunden pro Woche (8,33 %) eingeräumt, die äquivalente Anzahl der Stunden in den Azhar-Schulen beläuft sich auf neun (4,29 %). Gleichzeitig wurde das Memorieren des Korans deutlich aufgewertet, indem die Anzahl der dafür aufgewendeten wöchentlichen Unterrichtsstunden mit 72 (34,29 %) festgelegt wurde (Dawoud 2018, Anhang S. 3f.). Demnach wurde das starre Festhalten an der traditionellen Methodik, wie z. B. dem Auswendiglernen des Korans, auf Kosten anderer Lernfächer in den Vordergrund gestellt. Das belegt auch das Beispiel der Kutta¯b-Schulen, wo die weitverbreitete mnemotechnische Methode die Entwicklung der Fähigkeit zum selbstständigen kritischen Denken stark einschränkt. Dies hatte zur Folge, dass die Lernenden in den Azhar-Schulen nicht genügend auf die Inhalte des IRU in den nächsten Phasen der Grundschulbildung (ibtida¯ʾı¯) (weiterführende und Sekundarstufe [iʿda¯dı¯ wata¯nawı¯]) vorbereitet waren. ¯ Ab dem Jahr 2000 erfuhr die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation Ägyptens abermals eine deutliche Verschlechterung. Nicht zuletzt aufgrund wirtschaftlicher Probleme kam es im ganzen Land zu Dauerprotesten (Pink 2014, S. 234f.). Die Bevölkerung, insbesondere die Mittel- und Unterschicht, litt unter miserablen Lebensbedingungen, eine Bildungschance hatten die Wenigsten. Die Regierung war in erster Linie um die Niederschlagung der Proteste bemüht, das Bildungswesen wurde auf allen Ebenen vernachlässigt. »Trotz Schulpflicht gehen amtliche Quellen von einer Analphabetenrate in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen zwischen 12 % und 18 % aus. Nach inoffiziellen Schätzungen soll die tatsächliche Analphabetenrate bei 30 % bis 40 % der Gesamtbevölkerung liegen« (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2012, S. 12).

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Der Sturz Muba¯raks im Jahre 2011 konnte der Stabilität seines innerhalb von 30 Jahren etablierten Regimes wenig anhaben, sodass die vorherige Bildungspolitik fortgesetzt wurde. Die Macht lag faktisch nach wie vor beim Militär, auch wenn es sich eher im Hintergrund hielt. Das Azhar-Schul- und Hochschulsystem bzw. die religiöse Bildung blieb weiterhin unter der Aufsicht des vom Großscheich geleiteten obersten »Azhar-Rats« (masˇyahat al-Azhar), der direkt mit ˘ dem Premierminister zusammenarbeitete und damit unter dem politischen Einfluss der Regierung stand (Nathanson 2016, S. 37). Der nach der Revolution vom 25. Januar 2011 erste demokratisch gewählte Staatspräsident Ägyptens Muhammed Mursı¯,26 der im Jahr 2012 sein Amt antrat ˙ und zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Ägyptens ein Präsident aus der gesellschaftlichen Mittelschicht war, brachte viele Artikel in die neue Verfassung ein, die islamische Vorstellungen von Erziehung widerspiegelten. Artikel 10 betrachtet die Familie als Grundstein der Gesellschaft und weist ihr Aufgaben bei der religiösen bzw. ethischen Erziehung zu. Artikel 60 definiert die religiöse Erziehung und Vermittlung der nationalen Geschichte in der voruniversitären Bildung im Allgemeinen als eine der Hauptaufgaben des Staates. Auch die Azhar bekam zum ersten Mal seit ihrer Gründung die Gelegenheit, sich unabhängig vom Staat mit religiösen Fragen bzw. mit der religiösen Bildung auseinanderzusetzen. Gemäß Artikel 4 galt die Azhar-Universität als eine religiöse Institution, die als Berufungsinstanz der Scharia gesehen wird (Dhouib 2014, S. 138). Der neue Präsident setzte viel daran, das Bildungssystem Ägyptens, nicht nur die religiöse, sondern auch die naturwissenschaftliche und technische Ausbildung binnen kürzester Zeit gänzlich zu reformieren. Am 17. und 18. Oktober 2012 äußerte sich der Bildungsminister im Namen der Regierung in seiner Rede in der »Nationalen Konferenz für technische Ausbildung in Ägypten« wie folgt: »Die neue Regierung ist bestrebt, Schwächen und Stärken der technischen Ausbildung zu identifizieren und einen Weg zu finden, die Qualität des vorhandenen Systems zu verbessern. Ziel ist es, gut qualifizierte Technikerinnen und Techniker auszubilden, die dazu beitragen, Ägyptens Wirtschaft auf regionaler, aber auch auf internationaler Ebene konkurrenzfähiger zu machen. Die Regierung plant daher die Gründung einer nationalen Behörde für berufliche Bildung, die als einzige staatliche Behörde für die Entwicklung und Überwachung von Reformen in der beruflichen Bildung in Ägypten zuständig sein soll. Sie soll vor allem für die Verbesserung der Ausbildung verant-

26 Muhammad Muhammad Mursı¯ ʿI¯sa al-ʿAiyya¯t (1951–2019) war der fünfte Staatspräsident ˙ ˙ Sturz seines Vorgängers Muba ˙ Ägyptens nach dem ¯ rak. Er war ein führendes Mitglied der Muslimbrüder und später Vorsitzender der im Jahr 2011 neu gegründeten »Freiheits- und Gerechtigkeitspartei« (hizb al-hurriyya wa-l-ʿada¯la). Mehr dazu siehe https://www.britannica. ˙ ˙ com/biography/Mohamed-Morsi. Zugegriffen: 14. September 2020.

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wortlich sein und die Bedürfnisse der Privatwirtschaft besser in das Ausbildungssystem integrieren.« (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2012, S. 34f.)

Wegen der nicht enden wollenden Proteste und der weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen und politischen Lage Ägyptens konnte sich Mursı¯ nicht länger als ein Jahr an der Macht halten. Im Juli 2013 putschte der Militärrat unter der Führung des von Mursı¯ eingesetzten Verteidigungsministers und heutigen Präsidenten Ägyptens ʿAbd al-Fatta¯h as-Sı¯sı¯ gegen den gewählten Präsidenten. ˙ Mursı¯ und alle führenden Mitglieder seiner Partei wurden in Haft genommen und vor Gericht gestellt. Die Muslimbrüder wurden zu einer terroristischen Organisation erklärt. Menschenrechte, Demonstrations- und Pressefreiheit sind seitdem deutlich eingeschränkt. Das Militär sicherte sich alle möglichen Privilegien und mischte sich unverhohlen in jeden Bereich ein (Pink 2014, S. 257f.). Es suspendierte die Verfassung von 2012 und setzte eine Übergangsregierung ein (Hulsman & Serôdio 2016, S. 7). Das Regime Muba¯rak und der Polizeistaat kehrten wieder auf die politische Bühne zurück. Das Militär ging mit massiver Gewalt gegen Proteste der Anhänger Mursı¯s sowie gegen alle Oppositionellen jeglicher Strömung vor und töte Hunderte von ihnen. »Im März 2014 verurteilte ein ägyptisches Gericht in einem Massenprozess in einer einzigen Sitzung 529 Angeklagte aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft wegen der Tötung eines Polizeibeamten im oberägyptischen Minya¯ zum Tode« (Pink 2014, S. 258). Im Juni 2014 kam General as-Sı¯sı¯ erwartungsgemäß an die Macht, worauf sich Militär, Polizei, Justiz, Medien, bedeutende Gelehrte der Azhar (unter ihnen der Großscheich der Azhar Ahmad at-Taiyyib), viele Kopten sowie mächtige Ge˙ ˙ ˙ schäftsleute zusammenschlossen, mit der Forderung, massiv gegen die landesweiten Proteste vorzugehen und die Militärherrschaft zu etablieren. »Die jüngsten Entwicklungen in dem nordafrikanischen Land zeigen, dass Präsident as-Sisi seine Macht dauerhaft festigen möchte und rigoros gegen jede freiheitliche wie demokratische Bestrebung vorgeht« (Pink 2014, S. 258). Mittlerweile ˇ ama¯l Fahmı¯ dafür, das plädiert etwa der Leiter des Medien- und Kultusrats G duale Bildungssystem (al-ʿa¯m wa-d-dı¯nı¯) abzuschaffen. Er ist der Meinung, dass die religiöse Bildung Extremismus und Terrorismus den Boden bereite (BBC News 2016). Das Bildungsministerium wiederum plant, den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen durch einen Ethikunterricht zu ersetzen bzw. gänzlich abzuschaffen. Diese Absicht wird mit dem Kampf gegen den Terrorismus und der Überarbeitung der derzeit bestehenden religiösen Bildung begründet (Muhammad 2017). Ein besseres Bildungskapital fördert in erster Linie politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität, von der gerade in Ägypten wenig zu sehen ist. Vom Bildungsniveau hängt die gesamte Entwicklung einer Gesellschaft ab.

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»Bessere Bildung und ein besseres Gesundheitswesen steigern Produktivität und Einkommen der Arbeitnehmer, was zu einem stärkeren Wirtschaftswachstum führt. Zudem kann Bildung zur Armutslinderung und zum Abbau von Ungleichheiten beitragen. Die Steigerung des Bildungsniveaus erhöht das Lebenseinkommen einer Person. Aktuelle Daten bestätigen diesen äußerst signifikanten Effekt des Bildungskapitals: Je höher die durchschnittliche Bildungs- und Ausbildungsdauer, desto geringer die Einkommensungleichheit.« (Nathanson 2016, S. 34)

Infolge der Unruhen während des Machtwechsels verschlechterte sich nicht nur die wirtschaftliche und die politische Lage, auch das Bildungssystem geriet wieder in eine tiefe Krise. Zweifelsohne spielte diese politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik ab dem 19. bzw. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle bei der Formierung des heutigen Bildungssystems. Trotz dieser Dynamik ist das Bildungssystem Ägyptens, insbesondere das religiöse Bildungssystem, bis heute stark von der Staatspolitik abhängig geblieben. Das wird unter anderem deutlich an der Frage der Besetzung der Azhar-Leitung sowie an deren finanzieller Abhängigkeit von der Regierung.

3.

Ausblick

Die Gestaltung der religiösen Bildung verläuft heute nicht anders als früher. Sie ist in vielem von der herrschenden Macht bzw. von politischen Erwägungen abhängig. Die Konfrontation zwischen der Azhar als einer religiös-traditionellen Bildungsinstitution und dem Regime, das bei der Gestaltung der religiösen Bildung ein Mitspracherecht fordert, geht weiter. Diese Auseinandersetzung lässt sich am Beispiel einer Konferenz verdeutlichen. In direkter Hinwendung an den Obersten Scheich erklärte Machthaber as-Sı¯sı¯ die von der Azhar ausgehende religiöse Bildung zum Hauptgrund für die Ausbreitung extremistischen Denkens, weswegen die Institution dringend reformiert werden müsse. Der Staat sehe sich dazu verpflichtet, sich in die Angelegenheiten der religiösen Bildung einzumischen (Sara Elkaray 2017).27 Kurz darauf versprach Bildungsminister Ta¯riq ˙ Sˇauqı¯, die Möglichkeit einer Verschmelzung des Bildungssystems der Azhar mit dem öffentlichen Bildungssystem zu prüfen. Bis dahin war die religiös-traditionelle Bildung in Azhar-Schulen obligatorisch. Als im Zuge der öffentlichen Debatte schnell klar wurde, dass kaum jemand ernsthaft an den Erfolg des Vorhabens glaubte, bestritt der Bildungsminister die Existenz eines solchen

27 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=oEWNq5OVxnU (Videobeitrag vom 20. September 2020).

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Vorhabens, obwohl ein entsprechender Entwurf dem parlamentarischen Bildungsausschuss bereits vorlag.28 Was den Religionsunterricht angeht, so wurde in den letzten Jahren in Ägypten die Möglichkeit diskutiert, diesen durch einen Ethikunterricht zu ersetzen. Wie Bildungsminister Ta¯riq Sˇauqı¯ enthüllte, sollte an den ägyptischen ˙ Schulen im Rahmen der Entwicklung des Bildungsprozesses ein gemeinsames Fach namens »Werte und Ethik« eingeführt werden. Er fügte hinzu, dass dieses Vorhaben nicht auf die Abschaffung des islamischen bzw. christlichen Religionsunterrichts ziele, sondern vielmehr darauf, ein gemeinsames Fach im Namen des islamischen und christlichen Religionsunterrichts zu etablieren, um Aspekte der Ethik und der zwischenmenschlichen Beziehungen – zusätzlich zu den IRU-Themen der Glaubenslehre und gottesdienstlichen Handlungen in Bezug auf beide Religionen – zu vermitteln. Weiters meinte er, dass die Note des gemeinsamen Fachs zur Endnote hinzugefügt werden solle, nicht aber die Note des bestehenden Religionsunterrichts (al-Azazi 2020). Auf meine persönliche Anfrage im Zentrum für die Entwicklung der Curricula, das dem Bildungsministerium untergeordnet ist, bekam ich die Information, dass die zuständigen Islampädagogen der Azhar-Universität gerade mit pädagogischen Fachleuten aus dem Bildungsministerium zusammenarbeiteten, um ein Curriculum für das neue Fach zu erstellen. In diesem Zusammenhang betonte der Azhar-Abgeordnete, ˇsaih Sa¯lih ʿAbba¯s, ˘ ˙ ˙ dass die Reform der Azhar-Bildung eine fortlaufende Angelegenheit sei. Er hielt fest, dass Ahmad at-Taiyib seit mehreren Jahren daran interessiert sei, spezielle ˙ ˙ ˙ Komitees zur Entwicklung der Azhar-Bildung in allen Bildungsphasen einzurichten. Während eines Dialogs im Rahmen des Programms »Al-Azhar als Botschafter« am 28. Juli 2020 (auf den Social-Media-Plattformen der Weltorganisation für Al-Azhar-Absolventen) bestätigte ʿAbba¯s, dass das Fach »Islamische Kultur« in die Lehrpläne für Vorbereitungs- und Sekundarschulen aufgenommen wurde. Das Fach befasst sich mit verschiedenen Themen, insbesondere mit den Voraussetzungen des friedlichen Zusammenlebens und der Einübung von Toleranz gegenüber Mitmenschen und Angehörigen anderer Glaubensrichtungen. Des Weiteren soll die Unterrichtung dieses Fachs laut ʿAbba¯s Abweichungen vom Kern des Islams, nämlich dem Koran und der Tradition des Propheten, hintanhalten. Er betonte, dass al-Azhar in diesem Entwicklungsprozess die Qualifikation der azharitischen Lehrkraft im Verhältnis zu seiner pädagogischen, bewertenden und intellektuellen Rolle nicht vernachlässige, schließlich sei diese das Hauptglied im Bildungsprozess. Der Lehrkraft komme darin die Aufgabe zu, das Bewusstsein der Jugendlichen zu stärken und 28 Vgl. www.youm7.com/story/2018/4/16/3747219/‫ﻭﺍﻷﺯﻫﺮﻯ‬-‫ﺍﻟﻌﺎﻡ‬-‫ﺍﻟﺘﻌﻠﻴﻢ‬-‫ﺩﻣﺞ‬-‫ﺇﻣﻜﺎﻧﻴﺔ‬-‫ﻧﺒﺤﺚ‬-‫ﺷﻮﻗﻰ‬-‫ﻃﺎﺭﻕ‬. Zugegriffen: 10. September 2020.

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sie zu sachlichem, gemäßigtem Denken anzuleiten. Daher plane die Institution die Abhaltung umfassender Schulungen für Lehrende, um sie gemäß diesem Auftrag zu qualifizieren bzw. sie zu befähigen, den Unterricht zukünftig mithilfe moderner Technologien und Plattformen für den Fernunterricht abzuhalten. ʿAbba¯s kam auch auf die Rolle und die Position der Azhar hinsichtlich der Terrorismus- und Extremismusproblematik zu sprechen; ihm zufolge kommt der Azhar als einer wegweisenden religiösen und historischen Institution in Verbindung mit diesen heiklen Themen große Verantwortung zu. Diesbezüglich gebe die Azhar nicht nur Verurteilungserklärungen heraus, sondern arbeite vielmehr daran, Gedanken mit Gedanken zu bekämpfen und Andersdenkende vor Ort mit gemäßigter religiöser Bildung zu konfrontieren (»Wakı¯l al-Azhar: Tatwı¯r at-taʿlı¯m al-Azharı¯ yasˇmal ka¯fat ʿana¯sri al-ʿamaliya at-taʿlı¯miya« 2020). ˙ ˙ Demnach hängt die Zukunft des IRU bzw. der religiösen Bildung in Ägypten vor allem von zwei Momenten ab. Auf der einen Seite sollte al-Azhar als eine der größten religiösen Bildungsinstitutionen in der islamischen Welt ihrer Rolle gerecht werden und in der Lage sein, ihrer Aufgabe unabhängig von der herrschenden Macht nachzukommen. Auf der anderen Seite sollte sie sich stets der Moderne verpflichtet fühlen. Die Ersetzung des IRU durch ein allgemeines Fach »Ethik« erscheint im Sinne der religiösen Bildung – ungeachtet aller Bemühungen seitens der Azhar-Religionspädagog*innen – als nicht fruchtbringend. Stattdessen sollten vielmehr die bestehenden Curricula des IRU weiterentwickelt und modernisiert werden, denn im Grunde macht Ethik einen umfangreichen Teil der religiösen Bildung bzw. des IRU-Curriculums aus. Des Weiteren ist zu befürchten, dass die oben beschriebene Umgestaltung des IRU zu einem allgemeinen Ethikunterricht allmählich zu seiner Bedeutungslosigkeit oder Abschaffung führt. Im Kontext einer islamischen Gesellschaft würde dies die Abschottung der Religion vom öffentlichen Leben begünstigen, was nicht im Sinne der islamischen Bildung bzw. Kindererziehung sein kann.

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Samim Akgönül

Bildungseinrichtungen religiöser Minderheiten in mehrheitlich muslimischen Ländern: Der »Fall Türkei«

Zusammenfassung Dieser Artikel widmet sich der Situation hinsichtlich Bildung und Bildungseinrichtungen der religiösen Minderheiten in der Türkei. Er beginnt mit einem Überblick über die Gestaltung des Bildungssystems im Osmanischen Reich und wendet sich anschließend dem Status der Nichtmuslim*innen im Osmanischen Reich zu – wobei besonderes Augenmerk dem Millet-System gilt – sowie der unerfüllt gebliebenen Änderung dieses Status im Vertrag von Lausanne. Den Abschuss machen eine Betrachtung der heutigen Bildungseinrichtungen von Nichtmuslim*innen und eine Analyse der aktuellen Situation der nichtmuslimischen Schüler*innen im öffentlichen Schulwesen.

1.

Einführung

Der Titel dieses Kapitels enthält zwei Postulate, die aufgrund des historischen Nationsbildungsprozesses der Türkei als real angesehen werden: Die Türkei ist ein mehrheitlich muslimisches Land, was bedeutet, dass es dort religiöse Minderheiten gibt. Tatsache ist, dass dieses »Muslimischsein« der türkischen Gesellschaft infrage gestellt werden muss. Der Nationsbildungsprozess dieses Landes ist paradox. Tatsächlich ist die Republik Türkei auf der Asche des Osmanischen Reiches aufgebaut worden, mit dem Willen zum Bruch auf institutioneller Ebene, aber auch mit einer unbestreitbaren Kontinuität in ihrer gesellschaftlichen Organisation. Während das Osmanische Reich über eine technische Organisation verfügte, die auf der religiösen Zugehörigkeit seiner Subjekte durch das dynamische und pragmatische Millet-System beruhte, ging die Republik Türkei den umgekehrten Weg, der bereits 1839 während der Tanzimat-Periode begann – jenen der Gleichstellung von Individuen, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit. Auf der anderen Seite – und das ist das Paradoxon – wurde bei der Identifizierung als »Nation« eben diese religiöse Zugehörigkeit als Hauptkriteri-

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um für die Zugehörigkeit zur Nation angesehen, da diese Gesellschaft vier bis fünf Jahrhunderte lang unter der Kategorisierung der Individuen nach ihrer religiösen Zugehörigkeit lebte. Mit anderen Worten: Seit 1924 ist die Türkei eine Republik mit individuellen Beziehungen zwischen Bürger*innen und Staat; wer aber nicht muslimisch ist, wurde nicht (und wird immer noch nicht) von der Mehrheit und vom Staat als vollwertig angesehen. Das Millet-System ist keine Erfindung der osmanischen Administration. Im klassischen islamischen Recht hatten die »Leute des Buches« das Recht zu leben, aber in einem sekundären Status als dimmı¯ (Emon 2012). Der osmanische ¯ Rechtsrahmen besteht darin, dieses Prinzip pragmatisch und dynamisch an die Gegebenheiten des Landes anzupassen. Das Millet-System ist eine begrenzte nichtterritoriale Autonomie, in der nicht nur die religiöse Praxis, sondern auch andere Alltagsangelegenheiten, einschließlich der Bildung, das Vorrecht der Verwaltung jeder Millet waren, zumindest bis zur Gründung der Rüs¸diye, der »säkularen« Mittelschulen im Jahr 1839, die mit der Maa¯rif-i Umu¯miye Nizamna¯mesi (Verordnung über die allgemeine Anweisung) von 1869 offiziell anerkannt und während der Herrschaft von Abdülhamid (1876–1909) (Somel 2001, S. 160–162) generalisiert wurden. So kann man sagen, dass es im 19. Jahrhundert und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in der osmanischen Gesellschaft ein dreifaches Bildungssystem gab, bestehend aus: – säkularen Schulen, an denen sowohl muslimische als auch nichtmuslimische Schüler*innen lernten; – Schulen, die von Stiftungen nichtmuslimischer Gemeinschaften und deren religiösen Autoritäten verwaltet wurden, an denen nur Schüler*innen einer bestimmten Gemeinschaft lernten, sowie – muslimischen Religionsschulen (Medresen), an denen nur muslimische Schüler*innen unterrichtet wurden. Ein Jahrhundert später können wir in der Türkei überraschenderweise eine sehr ähnliche Situation beobachten. So wird sich dieses Kapitel zunächst auf den Status der Nichtmuslim*innen im Osmanischen Reich und die unerfüllte Änderung dieses Status im Vertrag von Lausanne konzentrieren und dann auf die heutigen Bildungseinrichtungen der Nichtmuslim*innen eingehen, bevor die aktuelle Situation im öffentlichen Schulwesen und der Platz der nichtmuslimischen Schüler*innen in diesem analysiert werden.

Bildungseinrichtungen religiöser Minderheiten

2.

Das Millet-System und der Vertrag von Lausanne (1923)

2.1

Das Millet-System und die Schaffung von Minderheiten

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Der Bestand des Osmanischen Reichs wird in der Regel zwischen 1299 und 1923 datiert. Eigentlich ist es lediglich eine »Vorstellung«, die auf den Beginn des Reiches im Jahr 1299 zurückgeht, als neben vielen anderen Fürstentümern in Kleinasien aus der Asche des Seldschuken-Reiches ein bescheidenes Fürstentum in sehr engem Kontakt mit der byzantinischen Kultur und dem dortigen Staatssystem entstand (Finkel 2008). Der osmanische Staat nahm im 15. Jahrhundert die Form eines Imperiums an, nicht nur wegen der territorialen Erweiterung, sondern auch aufgrund der Etablierung eines bestimmten politischen Systems, einer Mischung aus islamischem Staat, persischen Titeln und dem byzantinischen System. In diesem Sinne kann das Jahr 1453 als Fixpunkt gelten. Der Fall von Konstantinopel1 ist der Gründungsmoment einer bestimmten Art von Imperium mit »territorialer Kontinuität«, wie es bei Rom und seiner Schwester, dem Byzantinischen Reich, der Fall war. Seit 1454, dem Jahr nach der Eroberung und der Verlegung der Hauptstadt nach Konstantinopel, wurde nach und nach eine originelle und pragmatische Interpretation des islamischen Verständnisses von religiöser Verwaltung etabliert. Dieses System wird als »Millet-System« bezeichnet. Einige einleitende Daten könnten nützlich sein, da die heutigen Bildungseinrichtungen von Nichtmuslim*innen direkte Erben dieses »Systems« sind.2 In dem System ist Millet der Name einer religiösen Zugehörigkeitskategorie. Der Begriff veränderte seine Bedeutung im 19. Jahrhundert und nahm den Sinn von »Nation« an, aber ab dem 15. Jahrhundert bis zur Geburt des Begriffs »Nation« bezeichnete er ausschließlich eine religiöse Zugehörigkeitskategorie. Von 1454 bis 1876 war das System dynamisch und pragmatisch. Es bestand eine nichtterritoriale Autonomie in religiösen Bildungs-, Straf-, Zivil- und Finanzfragen. Jede Millet wurde von einem Milletbas¸ı (Führung der Millet) regiert, der das religiöse Oberhaupt der Gemeinschaft war. Der Milletbas¸ı war zugleich eine religiöse und politische Figur, die für die gesamte Gemeinschaft verantwortlich war und daher auch bestraft wurde, wenn seine Millet dem Zentrum gegenüber nicht loyal genug war. In jeder Millet gab es eine Hierarchie des Prestiges, an deren Spitze sich Klerus sowie Intellektuelle und Geschäftsleute mit ihrer Nähe zum Palast befanden. Zusammen bildeten sie die herrschende Klasse 1 Oder die Eroberung Istanbuls gemäß türkischer Geschichtsschreibung. Dieselbe »präsentische« Geschichtsschreibung verwendet den anachronistischen Namen »Istanbul« für das 15. Jahrhundert. 2 Zu detaillierten Analysen des Millet-Systems siehe Braude & Lewis (1982); De Planhol (1997).

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des Imperiums. Darüber hinaus waren Millets religiöse Klassifizierungen; sie umfassten verschiedene ethnische und sprachliche Gruppen, die in einer dynamischen Hierarchie angeordnet waren. Und schließlich wurden auch in diesem nichtterritorialen Autonomiesystem im Zuge neuer Eroberungen einige territoriale Unterschiede (und spezifische Autonomien) für mehrere ethnische Gruppen (Kurd*innen zum Beispiel, obwohl sie Muslim*innen waren) oder ganze Regionen (Ägypten zum Beispiel, wenngleich verschiedene religiöse Gruppen zu verschiedenen Millets gehörten (Winter 2006, S. 22–42)) hinzugefügt. Das Millet-System war vor allem pragmatisch. Die drei hauptsächlichen nichtmuslimischen Millets waren: Rum Milleti: Ein Jahr nach der Eroberung Konstantinopels 1454 gegründet, vereinte Rum Milleti alle orthodoxen Untertanen der osmanischen Gesellschaft, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft oder Sprache. Der Begriff Rum, der von Romios stammt, bedeutet »römisch«. Die orthodoxen griechischsprachigen Untertanen des Byzantinischen Reiches nannten sich Romioi (Pl. von Romios), und die Türken des Seldschukenreiches (11.–13. Jahrhundert) sowie die Osmanen verwendeten den gleichen Begriff, um gleichzeitig die orthodoxe Gruppe und die ehemaligen byzantinischen Gebiete (d. h. Gebiete des Römischen Reiches) zu qualifizieren. Mit anderen Worten waren für die Osmanen und später für die Türken die orthodoxen Griechen Römer. Die Unterscheidung verschärfte sich im 19. Jahrhundert zwischen der griechisch-orthodoxen Bevölkerungsgruppe im Osmanischen Reich, die immer noch Rum genannt wurden, und den Griechen, die dem hellenischen Königreich angehörten und den Namen Yunan tragen, was im Persischen paradoxerweise »ionisch« bedeutet. Im 19. Jahrhundert verstärkten nationalistische Bewegungen (im modernen Sinne des Begriffs) die Unterscheidung insbesondere zwischen griechischer (Rudometof 1998, S. 12) und bulgarischer Orthodoxie, die am Anfang des 19. Jahrhunderts begann, gegen die Herrschaft des griechischen Patriarchats zu kämpfen und 1870 durch die Anerkennung des bulgarischen Exarchats, der serbischen und der arabischen Orthodoxie eine Trennung erreichte. Da der arabische Nationalismus teilweise auf dem Islam beruht, forderte die arabisch-orthodoxe Kirche von Antiochia keine Trennung vom ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel. Infolgedessen werden auch heute noch arabische Orthodoxe in der Türkei als »griechischorthodox« betrachtet, und Kinder Arabisch sprechender Orthodoxer, die in Istanbul leben, können griechische Schulen namens Rum Okulu besuchen (Rigas 2018). Ermeni Milleti: Die armenische »Nation« unterscheidet sich etwas von den anderen Nationen. Während die anderen Gruppen verschiedene ethnische und sprachliche Gruppen unter einer Konfession zusammenfassen, enthält die Ermeni Milleti hauptsächlich Armenier als ethnische und sprachliche Gruppe; jedoch sind ausschließlich gregorianische Armenier Mitglied dieser Millet. Andere

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Armenier, wie Katholiken und später Protestanten, gehören ihren jeweiligen religiösen Millets an. Nach der Eroberung Konstantinopels wurde die armenische Kirche von Bursa 1461 in die neue Hauptstadt verlegt (De Planhol 1997, S. 239), aber die Ermeni Milleti entstand im 16. Jahrhundert nach der Eroberung Kilikiens durch Selim II. Im 19. Jahrhundert wurde die armenische Millet nach den griechischen Revolten und der Unabhängigkeit zum millet-i sadıka (»loyale Millet«) (Lewis 1988, S. 311). Bemerkenswerterweise erhielten die Armenier nach den Reformen von 1862 und 1865 mit einer Säkularisierung der Millet-Verwaltung einen neuen, viel besseren Status als die Orthodoxen. Mit der neuen Organisation wurden 80 von 140 Mitgliedern der armenischen Gemeindeversammlung Laien und diese brachen die Macht der Kirche (De Planhol 1997, S. 241). Heute heißen armenische Schulen, neben anderen Institutionen (wie Krankenhäusern), nach wie vor armenische Schüler*innen willkommen, sowohl von der Minderheit als auch Kinder von Migrant*innen (die meisten von ihnen illegal) aus Armenien seit den 1990er-Jahren. Yahudi Milleti: Die jüdische Bevölkerung des Osmanischen Reiches war das Ergebnis christlicher Verfolgungen in Europa. Die Hauptgruppe war die jüdische Gemeinde aus Spanien, die 1492 vertrieben wurde und sich zuerst in Thessaloniki und dann vor allem in Konstantinopel und Smyrna niederließ. Es ist wichtig, zu beachten, dass die jüdische Bevölkerung des Osmanischen Reiches nicht wie andere Millets am Prozess der Staatenbildung teilhatte. Im 19. Jahrhundert und sogar zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten viele jüdische Intellektuelle, sich am türkischen Nationsbildungsprozess zu beteiligen, scheiterten jedoch am Kriterium der religiösen Zugehörigkeit, das in der türkischen Wahrnehmung als das wichtigste gilt. Jüdische Schulen existieren noch immer. Müslüman Milleti: Handelte es sich bei den ersten drei Millets sowie den späteren katholischen (Frazee 1983, S. 20f.) und protestantischen (Davison 1963, S. 120–123) Millets um millet-i mahkume (dominierte »Nationen«) oder dimmı¯, ¯ ist die muslimische Millet, die millet-i ha¯kime, die dominante »Nation«. In dieser Millet lebten bis ins 19. Jahrhundert verschiedene Gruppen mit einer internen Hierarchie zusammen. Es ist zwar wahr, dass im Palast der heroische und legendäre Ursprung der türkischen Stämme positiv bewertet wurde, aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Türkentum im Allgemeinen doch mit der Bauernschaft und mit Unwissenheit gleichgesetzt. Teile der Sultan-Dynastie waren Konvertierte vom Balkan und aus Anatolien, die an der Spitze der Prestigehierarchie standen. Nach der Eroberung der islamischen heiligen Länder durch Selim I. übernahmen die Sultane den Titel eines Kalifen, aber in der Praxis waren sie viel mehr säkulare Kaiser als religiöse Führer. Natürlich war der Sultan der Leiter der muslimischen Millet, aber die administrative Leitung wurde an den ˇsaih al-isla¯m delegiert. In der muslimischen umma sind die Sunniten seit der ˘ Zentralisierung der Religion im 16. Jahrhundert dominant, und andere hetero-

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doxe Wege des Islams, wie die Aleviten und auch die Schiiten, wurden immer unterdrückt. Andererseits ist eines der Hauptmerkmale des osmanischen Islams das Vorherrschen von Bruderschaften, insbesondere von Sufi-Orden (Zarcone 2009). Während der Nationenwerdung des türkischen Staates unterstützten die Aleviten die staatliche Kontrolle über den sunnitischen Islam und die erzwungene Säkularisierung. Die Sufi-Orden wurden von der Zentralmacht als potenzielle Rivalen betrachtet und 1925 verboten.

2.2

Lausanne und Bildungsrechte

Der am 24. Juli 1923 unterzeichnete Vertrag von Lausanne ist Teil eines vom Völkerbund geschaffenen Systems zum Schutz von Minderheiten. Wie viele andere Abkommen, Verträge und Konventionen des Völkerbundsystems (Akgönül 2015, S. 210–229) enthält dieser Vertrag auch einen spezifischen Abschnitt zu Minderheiten in der Türkei (der Vertrag wurde vor der Erklärung zur Republik unterzeichnet). Nach dem osmanischen Verständnis und den auf der Zugehörigkeit zum Islam beruhenden Kriterien des Türkentums werden die »Minderheiten« als »Nichtmuslim*innen« verstanden, obwohl der Abschnitt »Schutz von Minderheiten« auch Rechte anderer Gruppen umfasst (nämlich »alle Einwohner der Türkei«: »alle türkischen Staatsbürger«, »Nicht-Türkisch-Sprechende« und natürlich »Nichtmuslim*innen«). Artikel 40 und Artikel 41 des Vertrags lauten wie folgt: »ARTIKEL 40 Türkische Staatsangehörige, die den nichtmuslimischen Minderheiten angehören, sollen die gleiche rechtliche und tatsächliche Behandlung und Sicherheit wie andere türkische Staatsangehörige genießen. Insbesondere haben sie das gleiche Recht, auf eigene Kosten wohltätige, religiöse und soziale Einrichtungen, Schulen und andere Einrichtungen für Unterricht und Bildung zu errichten, zu verwalten und zu kontrollieren, mit dem Recht, ihre eigene Sprache zu verwenden und ihre eigene Religion darin frei auszuüben. ARTIKEL 41 Was den öffentlichen Unterricht anbelangt, so wird die türkische Regierung in den Städten und Bezirken, in denen ein beträchtlicher Teil der nichtmuslimischen Staatsangehörigen ansässig ist, angemessene Einrichtungen zulassen, um sicherzustellen, dass in den Grundschulen der Unterricht den Kindern dieser türkischen Staatsangehörigen durch das Medium ihrer eigenen Sprache erteilt wird. Diese Bestimmung wird die türkische Regierung nicht daran hindern, den Unterricht der türkischen Sprache in den genannten Schulen obligatorisch vorzuschreiben. In Städten und Bezirken, in denen ein beträchtlicher Teil der türkischen Staatsangehörigen nichtmuslimischen Minderheiten angehört, soll diesen Minderheiten ein angemessener Anteil an der Inanspruchnahme und Nutzung der Beträge zugesichert werden,

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die aus öffentlichen Mitteln des Staates, der kommunalen oder sonstigen Budgets für pädagogische, religiöse oder wohltätige Zwecke bereitgestellt werden können. Die betreffenden Beträge werden an die qualifizierten Vertreter der betreffenden Einrichtungen und Träger ausgezahlt.«

Erstens sieht dieser Abschnitt III des Vertrags – von Artikel 37 bis Artikel 44 – nichtterritoriale Rechte vor. Mit anderen Worten sind die Rechte nichtmuslimischer Minderheiten, insbesondere im Bildungsbereich, nicht auf ein geografisches Gebiet beschränkt. In der Umsetzung fanden diese Rechte dennoch nur auf Istanbul und teilweise auf zwei kleine Inseln des Ägäischen Meeres, nämlich Imvros und Tenedos (Gökçeada und Bozcaada), Anwendung. Anders ausgedrückt: Nichtmuslim*innen, die in anderen Teilen der Türkei lebten, Armenier*innen in Diyarbakir, Assyro-Chaldäer*innen in der Region Mardin oder arabischsprachige Orthodoxe in Antiochia nach 1938 konnten in ihrem Wohngebiet nicht von Bildungsrechten profitieren. Zweitens sind fast alle Rechte dieses Abschnitts »negative« Rechte, das heißt solche, welche die Gleichheit aller Bürger*innen gewährleisten und Diskriminierungen verhindern, mit Ausnahme von möglichen Bildungsrechten, die als »positive Rechte« gelten können, weil sie die Besonderheit nichtmuslimischer Minderheiten hervorheben; sie sind nur »möglich«, weil der Staat gemäß der Rechtslehre Minderheitenschulen gleichermaßen finanzieren sollte, auch wenn dies in der Türkei, entgegen den Bestimmungen des Vertrags von Lausanne, nicht geschah. Azınlık okulları oder Cemaat okulları (Minderheiten- oder Gemeindeschulen) wurden von Minderheitenstiftungen gegründet und als »Privatschulen« ohne öffentliche Gründung angesehen, waren jedoch verpflichtet, den nationalen Lehrplänen zu folgen, mit Ausnahme einiger Klassen in der Minderheitensprache. Und schließlich haben ehemalige katholische und protestantische Schulen, die im 19. Jahrhundert im Osmanischen Reich gegründet wurden und früher mit den katholischen Gemeinden oder protestantischen Stiftungen verbunden waren, ihre Existenz auf säkulare Weise fortgeführt. Ihr Status wurde auch in »Privatschulen« umgewandelt, mit Ausnahme der technischen Klassen in westlichen Sprachen (Französisch, Italienisch, Deutsch, Englisch). Alles in allem ist der Vertrag von Lausanne als Gründungsdokument der Republik Türkei ein wichtiger Text zum Thema »Bildung«. Einerseits wird die Existenz der Republik Türkei konkretisiert und legitimiert, während gleichzeitig das Ende des Millet-Systems bestätigt und die individuellen Bindungen zwischen Bürger*innen und Staat bekräftigt werden. Andererseits verewigte sich der Schatten des Millet-Systems mit rechtlichen und pädagogischen Enklaven sowie mit Rechten in Bezug auf religiöse Praktiken. Diese Hybridität existiert auch

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heute noch. Kinder von in der Türkei verbliebenen Nichtmuslim*innen können Minderheitenschulen besuchen (oder auch nicht).

3.

Minderheitenschulen in der heutigen Türkei

Während des Osmanischen Reiches setzte sich das Bildungssystem aus islamischen Schulen, Schulen nichtmuslimischer Gemeinden und, im 19. Jahrhundert, säkularen Schulen zusammen. Eine der ersten Reformen der Türkischen Republik war die Vereinheitlichung und Homogenisierung der verschiedenen Systeme unter der Aufsicht des Staates. Wenige Monate nach der Gründung der Republik, im März 1924, wurde daher die »Bill of Unification of Instruction« eingeführt, die einen der wichtigsten ideologischen Apparate des neu errichteten Staates bildete. Durch dieses Gesetz wurden ehemalige islamische Schulen – die Medresen – geschlossen und alle Schulen dem Bildungsministerium (Maarif Vekaleti) angeschlossen. Das Bestehen von mit den Gemeinden verbundenen Minderheitenschulen und Schulen wurde erlaubt, aber sie wurden unter die Kontrolle dieses Ministeriums gestellt, und Kurse über Geschichte, Geografie, Staatsbürgerschaft und Türkisch wurden obligatorisch, während religiöse und politische Aktivitäten verboten wurden. Um also weiterhin eine Ausbildung in Minderheitssprachen oder westlichen Sprachen anbieten zu können, wurden diese Schulen säkularisiert. Diese Situation hält bis heute an. In Minderheitenschulen ist ein Religionsunterricht gemäß den Lehrplänen nicht erlaubt. Im Jahr 2019 waren folgende »Minderheiten«-Schulen in Betrieb (neben diesen gibt es einige Schulen, die »auf dem Papier« geöffnet sind, aber keine Schüler*innen haben; diese werden von der türkischen Verwaltung und den Minderheitenstiftungen aus symbolischen Gründen nicht geschlossen):

3.1

Gregorianische armenische Schulen3

Sahakyan-Nunyan-Grundschule und -Gymnasium (1831) Getronagan-Gymnasium (1886) Surp-Haç-Gymnasium (1892 (1706)) Esayan-Grundschule und -Gymnasium (1913) Tarkmançats-Grundschule (1785) Bezciyan-Grundschule (1790) Dadyan-Grundschule (1844) 3 Zu einer ausführlicheren Darstellung siehe http://www.turkiyeermenileripatrikligi.org/site/. Zugegriffen: 21. August 2020.

Bildungseinrichtungen religiöser Minderheiten

945

Kalfayan-Grundschule (1866) Aramyan-Uncuyan-Grundschule (1873) Levon-Vartuhyan-Grundschule (1894) Karagözyan-Grundschule (1912) Merametciyan-Grundschule (1912) Yesilköy-Grundschule (1954)

3.2

Katholische armenische Schulen

Anarat-Hıg˘utyun-Grundschule (1868) Pangalti-Grundschule und -Gymnasium (1825) Bomonti-Grundschule (1808) Kocamustafapas¸a-Pangaltı-Anarat-Hıg˘utyun-Grundschule (1868)

3.3

Griechische orthodoxe Schulen4

Fener-Gymnasium (1861 (1454)) Zografyon-Gymnasium (1846 (1808)) Zapyon-Grundschule und -Gymnasium (1875) Langa-Grundschule (1850) Büyükada-Grundschule (1875) Gökçeada(Imvros)-Grundschule (1951) Gökçeada(Imvros)-Gymnasium (1951) Insbesondere im Fall der griechischen Schulen gibt es aufgrund des starken Bevölkerungsrückgangs, vor allem unter den jüngeren Generationen, Schulen (mehr als zehn, die meisten davon Grundschulen), die rechtlich offen, jedoch ohne Schüler*innen sind (Zografyon 2012). Nach Angaben von Oran sind von 63 historischen griechischen Schulen in der Stadt nur noch sechs geöffnet (Oran 2017, S. 185). In der Türkei gibt es nur eine spezifisch jüdische Schule: die Ulus Jewish Primary und High School in Istanbul. Diese Minderheitenschulen sind »private« Schulen. Minderheitenstiftungen, sogenannte Cemaat Vakıfları, werden im allgemeinen Stiftungssystem als spezifische Stiftungen behandelt und von diesen verwaltet. Nach Angaben der Generaldirektion für Stiftungen gibt es in Istanbul 128 Minderheitenstiftungen, die

4 Zu einer ausführlicheren Darstellung siehe Oran (2017, S. 185–186).

946

Samim Akgönül

überwiegend kirchlich sind und Schulen verwalten. Einige von ihnen sind nur Schulstiftungen oder kümmern sich um Krankenhäuser oder Friedhöfe. bulgarisch-orthodox; 1 armenischprotestantisch; 2

assyro-chaldäisch; 2

gregorianischkatholisch; 1

türkisch-orthodox; 1

armenischkatholisch; 9

jüdisch; 14 griechisch-orthodox; 64 armenischgregorianisch; 36

Abbildung 1: Nichtmuslimische Stiftungen in Istanbul

Rechtlich betrachtet stehen diese Schulen unter der doppelten Autorität der Minderheitenstiftung und der türkischen Nationalausbildung. Da sie als potenzielle Gefahren betrachtet werden, wird für sie ein »türkischer« stellvertretender Direktor ernannt, der ihre Aktivitäten seit 1964, dem Jahr der Zypernkrise, kontrolliert (Akgönül 2004, S. 199–171). Gemäß dem Dekret von 1975 über Minderheitenschulen sind »türkische« stellvertretende Direktoren fast mächtiger als das eigentliche Direktorium selbst, weil sie entscheiden, welche Lehrkräfte und Schüler*innen aufgrund ihres Verhaltens oder ihrer Äußerungen gewarnt werden sollen (Akgönül 2004, S. 199–171). Darüber hinaus müssen diese Minderheitenschulen ihre Loyalität zum türkischen Staat und zum »Türkentum« ständig unter Beweis stellen. Das ist möglicherweise der Grund, weshalb all diese Schulen dezidiert Loyalitätsbekundungen kommunizieren. So erklärt beispielsweise die armenische Sahakyan-Nunyan-Schule (Sahakyan-Nunyan-Schule o. J.) auf ihrer Webseite, dass eines ihrer Prinzipien das »Bekenntnis zu den Prinzipien und Revolutionen von Atatürk« sei. Das katholisch-armenische Pangalti-Gymnasium bekräftigt, dass es gemäß den »türkischen nationalen Bildungszielen« ausbildet (Pangalti-Gymnasium 2018). Die gleiche Einstellung gilt für griechische Schulen. Das griechische Zografyon-Gymnasium zum Beispiel schmückt seine Webseite mit Aphorismen von Platon, Aristoteles und Atatürk und bekräftigt, dass es Schüler*innen erzieht, »Heimatland und Nation« zu lieben (ZografyonGymnasium o. J.). In gleicher Weise bekundet die jüdische Ulus-Schule, dass ihr

947

Bildungseinrichtungen religiöser Minderheiten

Ziel darin bestehe, Schüler*innen mit »türkischer Identität« zu erziehen, die den »Prinzipien und Reformen von Atatürk« verbunden sind (Ulus-Schule o. J.). Des Weiteren folgen die Lehrpläne dieser Schulen – obwohl es sich um Minderheitenschulen handelt – fast zu 100 Prozent dem regulären türkischen nationalen Bildungsprogramm mit einem türkisch-nationalistischen Ansatz. Diese Situation hat sich während der AKP-Regierungszeit verstärkt. Eine neue Gesetzgebung (Law on Foundations 2008), einschließlich des Stiftungsgesetzes von 2008 und dessen Novelle im Jahr 2011, das den Religionsgemeinschaften den Weg zur Restitution und Neuregistrierung ihrer Besitztümer ebnete, wurde positiv etabliert. Es wurden jedoch neue Regelungen erlassen, um die Probleme im Zusammenhang mit den Privatschulen zu lösen, die religiösen Minderheiten angehören (Özel Okul Yasasi-Law on Private Schools 2007). Zum Beispiel sah im Schuljahr 2018/2019 am Getronagan-Gymnasium der Stundenplan für die 14jährigen Schüler*innen (also am Ende der Mittelschule) wie folgt aus (Getronagan-Gymnasium o. J.): Unterrichtsprogramm 2018/2019 am Getronagan-Gymnasium Montag Mathematik

Dienstag Geografie

Geografie

Französisch / Spanisch

9:35– 10:15

Demokratie und Menschenrechte

Armenische Sprache

10:15– 11:05 11:05– 11:45

Armenische Sprache Türkische Geschichte

Physik

8:00– 8:40 8:40– 9:20

Geometrie

12:25– Sportunterricht 13:05 13:10– Sportunterricht 13:50

Armenische Literatur Biologie

13:55– Türkische Spra14:35 che 14:40– Englisch 15:20

Englisch

Mittwoch Gesundheitswissen Bildende Kunst / Musik Mathematik

Donnerstag Freitag Mathematik Türkische Literatur Mathematik Französisch / Spanisch Chemie

Biologie

Türkische Literatur Englisch

Türkische Geschichte Türkische Sprache

Chemie

Englisch

Armenische Sprache Physik

Türkische Literatur

Orientierung Geometrie

Religiöse Kul- Soziale Akti- Armenische tur und Moral vität Literatur

Englisch Biologie Englisch

948

Samim Akgönül

3.1.2 Probleme Das Hauptproblem der Minderheitenschulen in der Türkei ist natürlich die Demografie. Tatsächlich wurden diese Schulen, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts bedeutenden Bevölkerungsgruppen dienten, zu groß und zu zahlreich, nachdem viele Nichtmuslim*innen in der Türkei, einschließlich in Istanbul, beseitigt worden waren. Die erste Volkszählung der Republik Türkei im Jahr 1927 zeigt, dass trotz des Genozids an der armenischen Bevölkerung im Jahr 1915 und des obligatorischen Bevölkerungstauschs zwischen Griechenland und der Türkei im Jahr 1923 in der Türkei bei einer Gesamtbevölkerung von 13 Millionen immer noch 120.000 griechischsprachige Personen lebten (hauptsächlich in Istanbul, Imvros und Tenedos, da die in diesen Gebieten lebenden Griech*innen vom Tausch ausgenommen waren) sowie 77.000 Armenier*innen und 81.000 Jüd*innen (Akgönül 2015, S. 35). Religionen in der Türkei im Jahr 1927 Religion muslimisch5 katholisch

Anzahl 13.269.606 39.511

% 97,36 0,28

6.658 109.905

0,04 0,80

armenisch6 christlich7

77.433 24.307

0,56 0,17

jüdisch andere Religionen

81.672 17.494

0,60 0,12

13.626.586

99,93

protestantisch orthodox

Insgesamt

Seit der Volkszählung von 1965 wird nicht mehr nach der Religion und Sprache gefragt, insbesondere, um keine Zahlen über kurdische und nichtmuslimische Bevölkerungsteile bekannt geben zu müssen. Aktuelle Zahlen zur nichtmuslimischen Bevölkerung im Land sind Schätzungen, die auf unterschiedlichen Erkenntnissen beruhen. Die Zahl der Griechisch-Orthodoxen wird normalerweise auf zwischen 3.000 und 5.000 geschätzt, kann jedoch auf bis zu 10.000 ansteigen, je nachdem, ob arabischsprachige orthodoxe griechische Bürger*innen, die sich in der Türkei niedergelassen haben, berücksichtigt werden oder nicht. In ähnlicher Weise 5 Keine Unterscheidung zwischen Sunniten, Schiiten und Aleviten. 6 Dies sollte nur gregorianisch-armenisch sein. 7 Diese Kategorie ist schwer zu verstehen und sollte noch weiter unterteilt werden, insbesondere hinsichtlich Assyrer*innen und Chaldäer*innen.

949

Bildungseinrichtungen religiöser Minderheiten

schätzt man die armenische Bevölkerung auf 40.000 Personen, ohne die etwa 10.000 bis 20.000 Menschen aus Armenien, die sich nach 1990 niedergelassen haben und oft illegal in der Türkei leben. Die Größe der jüdischen Bevölkerung hingegen wird auf 25.000 Personen geschätzt (Yılmaz 2018, S. 137–160). Darüber hinaus bestehen diese drei Gruppen mehrheitlich aus alten Menschen und nur wenigen Kindern, was das Überleben von Minderheitenschulen noch komplizierter macht. Zudem – und das ist ein Teufelskreis – gilt die Qualität der in den Minderheitenschulen vermittelten Bildung als bescheiden; daher ziehen es viele nichtmuslimische Familien vor, ihre Kinder in Privatschulen zu schicken, insbesondere jene, an denen der Unterricht in westlichen Sprachen erfolgt. Diese Schulen, die ehemals religiöse Kongregationseinrichtungen im Osmanischen Reich waren, bestehen als prestigeträchtige säkulare Schulen in der Republik fort, sind sehr teuer und elitär. Sie sind seit den 2010er-Jahren nicht nur bei Nichtmuslim*innen, sondern aufgrund der Islamisierung der öffentlichen Schulcurricula seit dem Militärputsch 1980 und insbesondere seit der Dominanz des politischen Islams in den 2000er-Jahren auch in den säkularisierten verwestlichten Randbereichen der türkischen urbanen Gesellschaft sehr gefragt (Boone et al. 2018, S. 1593–1624). »Ausländische« Privatschulen in der Türkei Schule In Istanbul

Sprache

Gründung

Deutsche Schule Istanbul Österreichisches St. Georgs-Kolleg

Deutsch Deutsch

1868 1882

Robert College Üsküdar American Academy

Englisch Englisch

1863 1876

Liceo Italiano Galileo Galilei Liceo Italiano

Italienisch Italienisch

1861 1870

Notre Dame de Sion Saint Benoit

Französisch Französisch

1856 1783

Saint Joseph Saint Michel

Französisch Französisch

1841 1886

Sainte Pulcherie Weitere Izmir American College Tarsus American College

Französisch

1871

Englisch Englisch

1878 1888

Izmir Saint Joseph

Französisch

1841

Das Ergebnis dieser kombinierten Faktoren ist folgendes: Minderheitenschulen leiden unter einem Mangel an Schüler*innen und sind mittelfristig zum Ver-

950

Samim Akgönül

schwinden verurteilt. Interessant ist die Feststellung, dass einige dieser Schulen, insbesondere die griechischen, nur aus symbolischen und politischen Gründen auf dem Papier weiterhin offen sind, jedoch keinen Unterricht erteilen. Und es ist zu befürchten, dass in naher Zukunft alle Minderheitenschulen zwar offen, aber ohne Kinder sein werden. Im Jahr 2019 stellt sich die Schülerschaft (aus allen Klassen) der griechischen Schulen wie folgt dar: Schüler*innen an griechischen Schulen im Jahr 20198 Schule

Schüler*innen

Fener-Gymnasium

43

Zografyon-Gymnasium Zapyon-Grundschule und -Gymnasium

53 115

Davon Grundschulkinder

31

Langa-Grundschule Büyükada-Grundschule Gökçeada(Imvros)-Grundschule Gökçeada(Imvros)-Grundschule und -Gymnasium

5 4 10 7

30

Insgesamt

298

Es zeigt sich also, dass von der griechischen Minderheit – bei einer Gesamtbevölkerung von 80 Millionen – weniger als 300 Schulkinder Minderheitenschulen besuchen. Natürlich sind Minderheitenschulen mit vielen anderen Schwierigkeiten konfrontiert: So werden sie ständig als potenzielle Bedrohungen angesehen, behandelt und entsprechend aufmerksam beobachtet, insbesondere von »türkischen« stellvertretenden Direktor*innen. Jede Krise im Zusammenhang mit der Identität einer Minderheit hat direkte Auswirkungen auf diese Schulen. Ob vor dem Hintergrund der schwierigen Beziehungen zwischen der Türkei und Israel, der in Westeuropa geführten Debatten über den Völkermord an der armenischen Bevölkerung, über Armenien oder einer griechisch-türkischen Krise im Zusammenhang mit dem Ägäischen Meer oder Zypern – Schulkinder und Lehrkräfte dieser Schulen fühlen sich dabei jedes Mal zutiefst verunsichert, weil sie sofort mit dem »Feind« identifiziert werden. Darüber hinaus ist es schwierig, neueres pädagogisches Material von hoher Qualität zu finden, zu importieren oder zu erstellen, da genau diese Materialien, hauptsächlich in Schrift und Audio, als Feindpropaganda angesehen werden. Schließlich gibt es insbesondere für die Griech*innen einen spezifischen Kontext. Ab den 1990er-Jahren begann die arabischsprechende Orthodoxie, aus Antiochia nach Istanbul auszuwandern. Da der Identitätsbegriff der Türkischen 8 Für diese Informationen danke ich Laki Vingas und Rita Ender.

Bildungseinrichtungen religiöser Minderheiten

951

Republik hauptsächlich auf religiöser Zugehörigkeit beruht, hat ihre Zugehörigkeit zur Orthodoxie dazu geführt, dass sie als Rum9 (Akgönül 2016, S. 21–38) betrachtet wurden, was es ihnen erlaubte, Minderheiteninstitutionen wie religiöse Stiftungen und Schulen zu nutzen. Die Griech*innen aus Istanbul standen den arabischsprachigen Kindern in griechischen Schulen zunächst skeptisch gegenüber, weil sie eine Verminderung der Qualität des griechischen Sprachunterrichts befürchteten. Mittlerweile aber gelten sie dank der nunmehr erhöhten Anzahl an Kindern als Garantie für offene Klassen und offene Schulen und werden akzeptiert (Kaymak & Beyluniog˘lu 2017, S. 65–86). Die zweite Besonderheit der Griech*innen in der Türkei ist die Situation der Theologischen Schule von Halki. Halki (oder Chalki, türk. Heybeliada) ist eine Insel im Marmarameer in der Nähe des asiatischen Teils von Istanbul. In der osmanischen Zeit und auch zu Beginn der türkischen Republik kam es auf der Insel zu einer Konzentration von Nichtmuslim*innen. 1844 wurde vom ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel auf der Insel die Schule für orthodoxe Kleriker eröffnet, um die orthodoxen theologischen und praktischen Fragen zu homogenisieren. Zwischen 1844 und 1919 bot die Schule zwei Abschlüsse an, einen in der Sekundarstufe (zwei Jahre) und einen in der höheren Theologie (vier Jahre). Nach dem Krieg zwischen 1919 und 1923 wurde das Gymnasium geschlossen und die Ausbildung auf fünf Jahre Theologie konzentriert. Nach der Gründung der Republik, zwischen 1923 und 1951, bot die Schule wieder einen Sekundarabschluss (drei Jahre) und einen höheren Abschluss im Theologiestudium (drei Jahre) an. Zwischen 1951 und 1971 blieben die beiden Abschlüsse erhalten, jedoch wurde der Sekundarabschluss auf vier Jahre verlängert (Macar 2004, S. 292). Nach der türkisch-griechischen Krise um Zypern im Jahr 1964 und der Schließung vieler Schulen auf den Inseln Imvros und Tenedos wurde die Theologische Schule von Halki 1971 von den türkischen Behörden geschlossen (Macar 2005, S. 5–6). Seit der Krise in den türkisch-griechischen Beziehungen, die mit dem Ägäischen Meer, Zypern oder der Europäischen Union zu tun hatte, weigerten sich verschiedene türkische Regierungen aus unterschiedlichen und gegensätzlichen politischen Beweggründen und trotz ständiger Forderungen des Patriarchen Bartholomäus, die Wiedereröffnung dieser Schule zuzulassen. Zwar schreiben die türkischen Gesetze vor, dass der Patriarch türkischer Staatsbürger sein muss, jedoch gibt es in der Türkei keine Schule für die Ausbildung von Geistlichen. Mit anderen Worten wird es sehr schwierig sein, nach dem mittlerweile über 80 Jahre alten Bartholomäus einen neuen Patriarchen zu finden. Während des »Goldenen Zeitalters« der türkisch-europäischen Beziehungen – insbesondere zwischen 2002 und 2011 – gab es viele positive Erklärungen von 9 Der Name der Türken, Araber und Perser für die orientalischen Griech*innen.

952

Samim Akgönül

AKP-Führern und -Ministern, seit 2011 hat sich jedoch die politische Ausrichtung der AKP dahingehend geändert, dass sie zunehmend ultranationalistisch und islamistisch wurde, sodass über zehn Jahre später die Wiedereröffnung immer noch nicht realisiert werden konnte.

4.

Fazit

Religiöse Minderheiten in der Türkei befinden sich in einer unklaren Position zwischen Rechten und Einschränkungen. Diese Rechte sind de facto beschränkt auf drei historische und in Istanbul konzentrierte Minderheiten, diese sind orthodox, armenisch (hauptsächlich gregorianisch) und jüdisch (hauptsächlich sephardisch). Andere nichtmuslimische Gruppen, wie die Assyro-Chaldäer*innen aus Mardin, sind nicht in das Minderheitenrechtssystem einbezogen und verfügen daher über keine Bildungseinrichtungen. Darüber hinaus können die genannten de facto anerkannten Minderheiten ihre Bildungsrechte nur in Istanbul10 nutzen, obwohl der Vertrag von Lausanne hinsichtlich des Minderheitenschutzes keine geografische Einschränkung vorsieht. So können nichtmuslimische Bürger*innen, die sich – wie es alle anderen Bürger*innen auch können – entscheiden, irgendwo außerhalb von Istanbul in der Türkei zu leben, ihre Kinder nicht in Minderheitenschulen schicken, an denen die Minderheitensprache (Griechisch, Armenisch oder Ladino) unterrichtet wird oder die religiöse Erziehung durch außerschulische Aktivitäten erfolgt. Es gibt daher drei Tatsachen und Prozesse in Bezug auf die Bildung von Minderheiten in der Türkei: – Ultra-Konzentration (in einigen Stadtteilen von Istanbul); – Säkularisierung (die einzige Besonderheit dieser Schulen ist heute der Unterricht in der Minderheitensprache); – Marginalisierung (die geringe Anzahl der Studierenden und die Wahrnehmung, qualitativ schlechter zu sein). Der erste Punkt ist jetzt als gegeben zu betrachten. Minderheitenschulen sind und werden sich in Istanbul konzentrieren, nicht nur, weil die politische Macht dies will, um sie besser kontrollieren zu können, sondern auch, weil in anderen Teilen des Landes die Angehörigen von Minderheiten (wie die Armenier*innen von Diyarbakır, die Orthodoxen von Antiochia oder die Assyro-Chaldäer von Mardin) fast verschwunden sind.

10 Seit Kurzem gibt es für Griech*innen zwei kleine Schulen auf der Insel Gökçeada.

Bildungseinrichtungen religiöser Minderheiten

953

Hinsichtlich des zweiten Punkts lässt sich ein paradoxer Prozess beobachten. Das gesamte türkische Bildungssystem wurde zwischen den 1930er- und 1980erJahren zwangsläufig säkularisiert. In einer solchen Atmosphäre waren Minderheitenschulen »normal«, die keinen orthodoxen, gregorianischen oder jüdischen Religionsunterricht hatten. Trotzdem wird das allgemeine türkische Bildungssystem seit den 1980er-Jahren schrittweise entsäkularisiert, durch den obligatorischen Religionsunterricht seit 1983, den exponentiellen Anstieg der ImamHatip-Schulen seit den 1990er-Jahren und den zusätzlichen sunnitisch-islamischen »Wahlfächern« seit den 2010er-Jahren. Während die türkische öffentliche Bildung zunehmend islamisiert wird, bleibt die gleiche Möglichkeit den »privaten« nichtmuslimischen Schulen verwehrt. Beim dritten Punkt stehen die Minderheiten vor einem Dilemma. Einerseits wollen Eltern Bildungseinrichtungen der Minderheiten aus Identitätsgründen schützen, andererseits wird die Entsendung ihrer Kinder in diese Schulen als Gefahr für deren Zukunft angesehen. So werden die Kinder nach Möglichkeit regelmäßig in die Minderheiten-Grundschule geschickt, dann aber weiter in säkulare Privatschulen, die überall in der Türkei entstanden sind, oder, wenn die Kinder die Aufnahmeprüfung bestehen, in renommierte deutsche, amerikanische, italienische oder französische Schulen. Alles in allem ist die Ausbildung der Säulen der Minderheitenidentität – Sprache und Religion – mit ernsthaften bürokratischen und rechtlichen, aber auch soziologischen und demografischen Schwierigkeiten konfrontiert.

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Ibrahim Koçyig˘it

Universitäre Implementierung der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum

Zusammenfassung Im deutschsprachigen Raum gilt der Islam als eine der größten Konfessionen. Die Mehrheit der Muslim*innen fühlt sich Europa zugehörig, gleichzeitig spielt die Religion für sie eine zentrale Rolle. Die islamisch-religiöse Bildung an öffentlichen Schulen des deutschsprachigen Raums verläuft jedoch sehr unterschiedlich. In Österreich fiel die Entscheidung für einen islamischen Religionsunterricht im Schuljahr 1982/83, über die Ausbildung von Religionslehrkräften begann man sich allerdings erst Jahrzehnte später (1998) Gedanken zu machen. Mit der Einführung des Islamunterrichts ging eine Überforderung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich einher, da sie für diese Mammutaufgabe nicht vorbereitet war. In Deutschland verläuft dieser Prozess anders als in Österreich – insofern, als dort eine Grundvoraussetzung für die Erteilung von islamischem Religionsunterricht die entsprechende Ausbildung an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten ist. In der Schweiz gestaltet sich die Etablierung der islamischen Religionspädagogik als äußerst komplex, da der Religionsunterricht eine Kantonsangelegenheit ist. Im vorliegenden Artikel wird die universitäre Implementierung der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum in Bezug auf den Religionsunterricht nachgezeichnet. Dabei wird auch der Einfluss der Politik und der islamischen Verbände berücksichtigt.

1.

Einführung

Der prozentuale Anteil von Menschen muslimischen Glaubens im deutschsprachigen Raum liegt zwischen fünf und acht Prozent (Bundesamt für Statistik 2019). Diese Gemeinschaft bildet die zweitgrößte Konfession in Österreich (ORF 2019; Statista 2019) sowie die drittgrößte in Deutschland (Statista 2019) und der Schweiz (BFS 2019). Viele Muslim*innen fühlen sich Europa zugehörig (Neugebauer 2016, S. 19). Um professionellen islamischen Religionsunterricht (IRU),

956

Ibrahim Koçyig˘it

als einen wichtigen Aspekt der Religionsausübung, zu gewährleisten, ist eine islamische Theologie und islamische Religionspädagogik (IRP) zu etablieren, die islamische Religionslehrer*innen und allgemein Theolog*innen ausbildet, um sich u. a. den gesellschaftlichen Problemen des Islams unter säkularen Bedingungen zu widmen. Zur Beheimatung des Islams in Europa ist es zwingend notwendig, den Studiengang für IRP an den Universitäten weiter auszubauen. Seit den Empfehlungen des Wissenschaftsrates im Jahr 2010 kommt es in Deutschland zu einem zahlenmäßigen Anstieg der islamischen Institute an den deutschen Hochschulen. In Österreich hat der Islam als anerkannte Religion den Status einer »Körperschaft öffentlichen Rechts«; seit 1998 werden mit der Gründung des privaten Studiengangs für das »Lehramt für Islamische Religion an Pflichtschulen« (IRPA) islamische Religionslehrkräfte ausgebildet. Islamischer Religionsunterricht wird seit dem Schuljahr 1982/83 angeboten (Das Schulamt 2020). In der Schweiz hingegen gibt es hinsichtlich einer Institutionalisierung von IRP und IRU kaum eine Entwicklung. Die Schwierigkeit liegt darin, dass jeder der 26 Kantone ein eigenes Landesgesetz hat und Religionsangelegenheiten für sich bestimmt. Im vorliegenden Artikel werden die universitäre Implementierung der IRP im deutschsprachigen Raum und der IRU in seiner Wechselbeziehung zu den Verbänden nachgezeichnet, da beides den Studiengang und die Nachfrage danach beeinflusst, weil Verbände in Beiräten der Universitäten vertreten sind oder ein Recht auf »Fühlungnahme« haben und dabei die Professor*innenwahl beeinflussen können. Genauso sind Verbände potenzielle Arbeitgeber der Theolog*innen oder sind zum Großteil befugt, islamischen Religionslehrkräften die Lehrerlaubnis zu erteilen. Nicht eingegangen wird auf spezifische curriculare Entscheidungen und den Bereich der Islamischen Theologie (IT).1

2.

Deutschland

In Deutschland gibt es mehrere Standorte, an denen der Studiengang »Islamische Religionspädagogik« angeboten wird. Den Hintergrund für die Ausweitung der IRP in Deutschland bildeten lediglich die Entscheidungen des Wissenschaftsrats im Jahr 2010, die vor allem zum Aufbau von Instituten für »islamische Studien«2 und somit auch für IRP geführt haben (Wissenschaftsrat 2010). Ihren Anfang nahm die islamische Religionspädagogik jedoch schon viel früher, und zwar an 1 Weiterführende Sammelbände und Monografien dazu: Aslan (2009); Aslan (2013); Engelhardt (2017); Lange (2014); Özdil (2011); Weiße (2009). 2 Dieser Ausdruck wird gegenüber dem Begriff »islamische Theologie« dann bevorzugt, wenn auf die Differenz zwischen unterschiedlichen religiösen Traditionen (vor allem in Bezug auf das Christentum) hingewiesen werden soll.

Universitäre Implementierung der islamischen Religionspädagogik

957

der Friedrich-Alexander Universität in Nürnberg Erlangen, an der Universität Münster oder an der Goethe-Universität in Frankfurt.3 Diese Zentren sollten eine wichtige Rolle bei der Förderung islamisch-theologischer Nachwuchsforscher*innen spielen und, einhergehend mit diesem Prozess, auch islamische Religionslehrer*innen ausbilden, die über wissenschaftlich fundiertes Wissen verfügen. Da der deutsche Staat gemäß der Verfassung in Religionsfragen Neutralität wahren muss, empfahl der Wissenschaftsrat die Einrichtung eines theologisch kompetenten Beirats an den jeweiligen Universitäten, der sowohl bei inhaltlichen Fragen als auch bei der Wahl der Professor*innen mitwirken soll. Diese neu zu etablierenden islamisch-theologischen Lehrstühle sollten in Deutschland an zwei bis drei Zentren eingerichtet werden (ebd., S. 8). In Reaktion auf die Vorschläge des Wissenschaftsrats wurden im Jahr 2010 an den Universitäten von Tübingen und Münster/Osnabrück durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung jeweils Zentren für islamische Studien installiert. Nach einer zweiten Auswahlrunde wurden nach dem Februar 2011 an den Universitäten Frankfurt am Main/Gießen und Erlangen-Nürnberg derartige Zentren gegründet. Die Finanzierung wurde zunächst auf fünf Jahre begrenzt, danach um weitere fünf Jahre verlängert (Lange 2014, S. 19). Im weiteren Verlauf wurden in Paderborn, Berlin und an den Pädagogischen Hochschulen in Ludwigsburg, Karlsruhe und Weingarten Möglichkeiten für ein Studium der islamischen Religionspädagogik gegeben. Das Bildungssystem in Deutschland wird landesweit geregelt. Deshalb kommt es sowohl in den Beiratskonstellationen als auch bei der Erteilung der Lehrerlaubnis zu Unterschieden (Kocyigit 2019). Im Folgenden wird – aufgrund ihrer besonderen Stellung – auf die Bundesländer Hessen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Hamburg, Niedersachsen und Berlin näher eingegangen.

2.1

Hessen

In Hessen wird »Islamische Religionspädagogik« an zwei Standorten gelehrt: an der Justus-Liebig-Universität Gießen und an der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Frankfurt am Main. Im WS 2011/12 wurde das Lehramtsstudium in Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität Gießen vereinbart. Hier werden Lehrer*innen für die Primarstufe (L1) ausgebildet. Im WS 2014/15 wurde an der Goethe-Universität in der Abteilung für Erziehungswissenschaften ein Schwerpunkt für islamische Religionspädagogik und Didaktik des islamischen Religionsunterrichts eingerichtet und mit einer Professur besetzt. Seit dem WS 2016/17 3 Detaillierte Informationen dazu folgen in den nachstehenden Abschnitten.

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wird an diesem Standort für die Sekundarstufe ein Lehramtsstudiengang angeboten. Als Professor wurde Harry Harun Behr berufen, Mitbegründer des Departments Islamisch-Religiöse Studien (DIRS) und des Interdisziplinären Zentrums für Islamische Religionslehre (IZIR) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen (Universität Frankfurt 2004–2019). Die Implementierung der islamischen Religionspädagogik begann auf Initiative des türkischen »Präsidiums für Religionsangelegenheiten« (türk. Diyanet ˙I¸sleri Bas¸kanlıg˘ı). Die GoetheUniversität entschied sich gemeinsam mit der Diyanet am 1. November 2002 für die Einrichtung einer Stiftungsgastprofessur für islamische Religion (Özsoy, Takim & Sahin 2009, S. 95). Das in Deutschland als Novum geltende Fach etablierte sich, und so wurde Frankfurt mit Gießen vom Wissenschaftsrat (2010) zu einem der vier Standorte für islamische Theologie gewählt (Universität Frankfurt 2004–2019). Auf Empfehlungen des WR (2010) ergänzte man an der GoetheUniversität die IRP in der Abteilung für Erziehungswissenschaften und in Gießen um den Lehramtsstudiengang »Islamische Religion« (Universität Gießen 2019). Gemäß dem Hessischen Kultusministerium (2019) ist dies das Fundament für einen bekenntnisorientierten Unterricht. Ein Beirat des Zentrums für Islamische Studien Frankfurt/Gießen (ZEFIS) der Goethe-Universität Frankfurt am Main existiert bisher am Standort Frankfurt nicht (Lange 2014). Es gibt einen Stiftungsrat, der unter der Bezeichnung »Der Stiftungsrat und die Besetzung der Professoren« aufgeführt ist. Für die Lehrerlaubnis wurden zwei Religionsgemeinschaften als Träger ausgewählt: die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.4 (DITIB) und die Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland. Der damalige Integrationsminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) sprach im Jahr 2013 bei der Einführung der DITIB-Hessen von einem »verlässlichen Partner« (FAZ 07. 02. 2019). Die DITIB geriet jedoch, vor allem nach den Spionageaffären5 und den anschließenden Ermittlungen, die mittlerweile eingestellt sind (Die Zeit 06. 12. 2017) unter Beschuss. Ende 2017 musste sie ihre Eignung als Kooperationspartner unter Beweis stellen. Als Gutachter wurden Josef Isensee, Mathias Rohe und Günter Seufert beauftragt. Deren Fazit zufolge gab es keinen nachweisbaren Einfluss aus Ankara/der Türkei auf den islamischen Religionsunterricht oder die Lehrkräfte. Deshalb gab es bestimmte Vorgaben, wie die Professionalität der Verwaltungsstrukturen oder die Einrichtung eines Mitgliedregisters gewährleistet werden sollte. Vor allem erwartete 4 Türk. Diyanet ˙I¸sleri Türk ˙Islam Birlig˘i. 5 Die DITIB stand nach dem Putschversuch 2016 in der Türkei unter Verdacht, mögliche Anhänger der Gülen-Bewegung, die für den Putsch verantwortlich gemacht wird, bespitzelt zu haben. Dabei stellte sich vor allem die Frage nach der Abhängigkeit und der Einflussnahme von Ankara. Für weitere Informationen siehe Sehl. (2017). https://www.zeit.de/politik/deutsch land/2017-03/ditib-spionage-tuerkei-beamter-halife-keskin-sicherheitsbehoerden-deutschl and. Zugegriffen: 19. Mai 2020.

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das hessische Kultusministerium eine größere Unabhängigkeit des Landesverbands DITIB-Hessen von der DITIB-Zentrale in Köln und der Diyanet in der Türkei. Es wurde eine Frist von einem Jahr gesetzt (Die Zeit 06. 12. 2017), die um ein weiteres Jahr bis Ende 2019 verlängert wurde, da man weiterhin an der Eignung der DITIB-Hessen als Kooperationspartner zweifelte. Der islamische Religionsunterricht wird zwar bis dato an den Standorten der DITIB-Hessen fortgeführt, ab der siebenten Schulstufe plant das Land Hessen jedoch, einen neuen islamischen Religionsunterricht in staatlicher Verantwortung einführen. Ausschließlich Lehrkräfte, die über eine Lehrbefähigung verfügen, können hier eingesetzt werden (Hessisches Kultusministerium 2019). Den bekenntnisorientierten IRU besuchten im Schuljahr 2017/18 insgesamt 3.349 Schüler*innen, davon 3.200 im Rahmen des Religionsverbands DITIB-Hessen und 150 unter Leitung der Ahmadiyya Muslim Jamaat (Mediendienst Integration 2018).6

2.2

Nordrhein-Westfalen

Die Implementierung eines islamischen Religionsunterrichts in NordrheinWestfalen wurde schon im Jahr 1999 in Bonn angeregt. Es wurden Pläne für die Sekundarstufe I+II entworfen. An dem Plan haben Erziehungswissenschaftler*innen sowie evangelische und katholische Theolog*innen mitgearbeitet. Eine Akkreditierung durch die Azhar-Universität7 sollte dem Projekt Autorität verleihen. Ein namentlich nicht genannter Investor war bereit, mehrere Millionen in das Projekt zu investieren. Das Projekt wurde von der damaligen Bildungsministerin, Gabriele Behler, abgelehnt, mit der Begründung, die islamischen Verbände seien nicht einig und somit kein Äquivalent zur Kirche. Man könne jedoch eine Stiftungsprofessur für islamische Religionswissenschaften einrichten. Die Universität und der Investor hatten an solch einem Projekt kein Interesse, da es bereits genügend islamwissenschaftliche Studien gab und es vielmehr an ausgebildeten Religionslehrer*innen mangelte.

6 Günter Seufert und Josef Isensee gaben bekannt, dass die Vollziehung des Bescheids von 2012 zur Einrichtung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts in Kooperation mit DITIB Hessen zum Ende des laufenden Schuljahres ausgesetzt wird. Dies bedeutet, dass ab dem Schuljahr 2020/2021 der fragliche Religionsunterricht bis auf Weiteres nicht mehr erteilt wird; eine diesbezügliche Kooperation mit DITIB Hessen findet nicht mehr statt. Davon sind alle bisherigen 56 Standorte in der Grundschule sowie zwölf weiterführende Schulen (5. und 6. Jahrgangsstufe) betroffen. Der in Kooperation mit Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland K. d. ö. R. eingerichtete weitere bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht bleibt davon unberührt (Hessisches Kultusministerium 2020). 7 Die Azhar-Universität in Kairo ist eine der ältesten und renommiertesten Universitäten in der islamischen Welt.

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In Nordrhein-Westfalen entwickelte sich der nächste Schritt an der Universität Münster. Zusätzlich zu den bereits bestehenden katholischen und evangelischen Studiengängen erfolgte nun die Ausbildung der islamischen Religionslehrer*innen (Özdil 2011, S. 196). Am dortigen Centrum für religionsbezogene Studien (CRS) wurde im Jahr 2005 ein sechssemestriger Erweiterungsstudiengang für islamische Religionspädagogik errichtet. Das CRS wurde vom Land mit insgesamt 7,3 Millionen Euro finanziert. Gefördert wurde nicht nur ein Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik, sondern auch Lehrstühle für Orthodoxe Theologie, Judaistik und Allgemeine Religionswissenschaft. Das Ziel des CRS ist neben der Förderung des interreligiösen Austauschs vor allem die Ausbildung von Religionslehrkräften, für die im Jahr 2004 Sven Kalisch berufen wurde. Der Fall Kalisch sorgte in den muslimischen Verbänden für große Empörung. Der Islam- und Rechtswissenschaftler stellte eine umstrittene These über die Existenz des Propheten Muhammad auf und plädierte für eine historisch-kritische ˙ Auslegung des Korans, da es sich bei diesem nicht um das direkte Wort Gottes handle (Schenk & Spiewak 2008). Da es zwischen den islamischen Grundsätzen und den von Kalisch veröffentlichten Positionen erhebliche Diskrepanzen gab, wollte der Koordinationsrat der Muslime (KRM) die Zusammenarbeit mit dem CRS einstellen (Daknili 2009, S. 108). Kalisch wurde 2008 vom nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerium aufgrund dieser Thesen von der Lehrerausbildung entbunden. Seit dem 24. Juni 2010 gehört er nicht mehr dem CRS an, da er dem Rektorat mitgeteilt hatte, dass er sich vom islamischen Glauben abgewandt habe. Nunmehr hat er einen Lehrstuhl für »Geistesgeschichte im Vorderen Orient in nachantiker Zeit« inne (Universität Münster 2017; Schenk & Spiewak 2008). Im Jahr 2010 wurde der Lehrstuhl mit dem Religionspädagogen und Soziologen Mouhanad Khorchide besetzt (Lange 2014, S. 25). Die Universität Münster wurde mit der Universität Osnabrück aufgrund ihrer Vorreiterrolle in der IRP vom Wissenschaftsrat für die Förderung als Standort für islamische Theologie ausgesucht. Im Jahr 2012 wurde anschließend das Zentrum für Islamische Theologie Münster/Osnabrück gegründet, um der Nachfrage nach der Ausbildung islamischer Religionslehrer*innen gerecht zu werden (Universität Münster 2012). Als zweiter Standort im Bundesland NRW wurde die Universität Paderborn vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgewählt. Seit 2015 existiert an der Fakultät für Kulturwissenschaften ein Seminar für islamische Theologie. Mittlerweile kann es als Anteilsfach »Komparative Theologie der Religionen« im Rahmen des Zwei-Fach-Bachelors mit islamischem Schwerpunkt gesehen werden (Universität Paderborn 2015). Der Beirat in NRW ist so konstituiert, dass eine Hälfte der Vertreter*innen vom Koordinationsrat der Muslime und die andere Hälfte vom Schulministerium ernannt wird. Dieses Modellprojekt läuft im Jahr 2019 aus.

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Das Gesetz zur Beiratslösung, das Übergangscharakter haben sollte, lief Ende Juli 2019 aus. Bis Anfang August 2019 sollte eine Lösung gefunden werden, die das Beiratsmodell ablöst (ebd.). Dem Gremium des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster (ZIT) gehören vier Verbände8 an, die jeweils zwei Vertreter stellen. Das erste konstituierende Treffen fand am 6. Mai 2016 statt. Der Beirat soll die muslimische Bekenntnistreue sicherstellen und dient hier, wie an allen anderen Standorten, als kirchlicher Ersatz. Die Zusammenarbeit mit dem Koordinationsrat der Muslime wurde fortgeführt, obwohl die Verfassungstreue einiger Mitglieder angezweifelt wurde. Auf der einen Seite gibt es die Verfassung, die den neutralen Staat daran hindert, den Prozess zu beeinflussen, auf der anderen Seite bestehen Bedenken gegenüber den Religionsgemeinschaften. Wie eine solche Lösung aussehen wird, ob man die Zusammenarbeit wie in Hessen infrage stellen wird oder eine Stiftung bildet, in der die Mehrheit beim Träger liegt, ist eine heikle Frage. Die Beteiligung der nichtorganisierten Muslim*innen ist ein weiteres verfassungsrechtliches Problem, weshalb diese Beiratslösung eine »temporäre Brückenlösung« sein kann, um überhaupt an Universitäten »Islamische Theologie« einrichten zu können (Lange 2014, S. 295f.; Kocyigit 2018, S. 15). Zurzeit wird der IRU an 234 Schulen für über 19.400 Schüler*innen angeboten (Mediendienst Integration 2018). Da in NRW etwa 1,5 Millionen Muslim*innen leben, kann man von über 342.000 Schüler*innen ausgehen, die den islamischen Religionsunterricht als ordentliches Fach wahrnehmen könnten. Etwa 83 Prozent der Muslim*innen würden dies laut einer Umfrage begrüßen (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen o. J.).

2.3

Niedersachsen

Im Bundesland Niedersachsen wird islamische Religionspädagogik ausschließlich am Institut für Islamische Theologie (IIT) der Universität Osnabrück unterrichtet. Die Anfänge des Instituts gehen auf das Modellprojekt »Islamischer Religionsunterricht in deutscher Sprache« zurück, das zwischen 2004 und 2006 (Klie et al. 2013, S. 8) von der Bund-Länder-Kommission und dem Land Niedersachsen finanziert wurde (Bodenstein 2009, S. 125). Im Wintersemester 2007/ 08 kam das Erweiterungsfach »Islamische Religionspädagogik« hinzu. Im gleichen Jahr wurde das Zentrum für Interkulturelle Islamstudien (ZIIS) gegründet. 8 Koordinationsrat der Muslime: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DI˙TI˙B), Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, Verband der Islamischen Kulturzentren, Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V.

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Bülent Ucar wurde 2007 auf den Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik berufen und übernahm 2008 die Leitung des ZIIS (Klie et al. 2013, S. 9), einer Einrichtung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften (Lange 2014, S. 21). Auf die Empfehlung des Wissenschaftsrats hin bewarb sich das ZIIS um eine Förderung durch Bundesmittel zur Gründung eines Instituts für Islamische Theologie. Im Oktober 2010 erhielt das ZIIS in Osnabrück gemeinsam mit dem ZIT der Universität Münster den Zuschlag. Infolgedessen entstand das Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück und der Universität Münster als gemeinsamer Standort. Nach der Entscheidung des WR nahm das ZIIS den Namen »Institut für Islamische Theologie« (IIT) an. Im WS 2012/13 begann der erste Bachelorstudiengang für IT am IIT, dessen Eröffnung am 30. Oktober 2012 stattfand (Universität Osnabrück o. J.). Die Beiratskonstellation am IIT der Universität Osnabrück besteht durch eine Kooperationsvereinbarung zwischen der DITIB, der Schura Niedersachsen und der Universität Osnabrück. Die Unterzeichnung fiel unter die Moderation des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur. Im Beirat sitzen drei Vertreter der DITIB, drei Vertreter der Schura Niedersachsen sowie drei unabhängige Theolog*innen, die gemeinsam von den erwähnten islamischen Verbänden und der Universität Osnabrück benannt werden. Die erste Sitzung fand am 15. Mai 2012 statt (Universität Osnabrück o. J.). Anders als in Münster schickt die Universität selbst niemanden in den Beiratskreis. »Wir kennen [aber] unsere Partner schon seit Jahren persönlich«, betont Rauf Ceylan, Religionswissenschaftler am IIT. »In dieser Zeit hat sich ein vertrauensvolles Verhältnis in der Zusammenarbeit mit der religiösen Basis entwickelt« (islamiq 2014).

2.4

Baden-Württemberg

Im Bundesland Baden-Württemberg wurde »Islamische Religionspädagogik« im Jahr 2007 mit einem Modellversuch als Erweiterungsfach für Grund- und Hauptschulen eingeführt (PH-Ludwigsburg o. J.; Özdil 2011, S. 225). Der IRU wurde an zwölf ausgewählten Grundschulen erteilt. Als reguläres Fach wird IRP seit 2015 an den Pädagogischen Hochschulen Karlsruhe, Freiburg, Weingarten und Ludwigsburg angeboten (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg 2015). Nach den Empfehlungen des Wissenschaftsrats konnte sich die Universität Tübingen im Jahr 2010 im baden-württembergischen Landeswettbewerb um ein Zentrum für islamische Studien erfolgreich behaupten. Im Gegensatz zu den konkurrierenden Hochschulen hatte sie jedoch keine Vorarbeiten für islamische Studien geleistet, sei es auch nur in Form von islamischer Religionspädagogik oder islamischen Religionswissenschaften (Sahin 2011). Im März 2011 wurden

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sechs Professor*innenstellen ausgeschrieben, was Sahin kritisierte: »Kein guter erster Eindruck für eine Universität, die so anspruchsvoll in den Wettbewerb um die neue akademische Disziplin ging und sich leidenschaftlich interessiert zeigte« (Sahin 2011, S. 15). Der ausgelaufene Teilstudiengang »Islamische Religionslehre« wurde von einem Bachelor- und Masterstudiengang »Islamische Religionspädagogik« abgelöst (Universität Tübingen 2017). Am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen (ZITh) zeigt sich eine vergleichbare Beiratskonstruktion wie in Münster, jedoch darf dabei der Koordinationsrat der Muslime nicht mitwirken. Stattdessen gibt es eine Kooperation mit islamischen Verbänden, die fünf von sieben Beiratsmitgliedern stellen. Teil des konfessionsgebundenen Beirats sind Vertreter*innen der DITIB, des Verbandes der Islamischen Kulturzentren e.V. Köln (VIKZ) und der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD) (Universität Tübingen 2017). Die DITIB darf gleich drei Beiratsmitglieder bestimmen, wohingegen der VIKZ und die IGBD jeweils nur ein Mitglied stellen. Zudem sind im Beirat zwei unabhängige und nichtorganisierte muslimische Expert*innen vertreten, die vom Rektor der Universität Tübingen vorgeschlagen werden. Die Islamische Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg (IGWB), die etwa ein Drittel der Moscheegemeinden in Baden-Württemberg vertritt, wurde aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken von den Vorbereitungsgesprächen ausgeschlossen. Angaben des Rektors Bernd Engler zufolge ist das Hauptproblem hier die Islamische Gemeinschaft Millî Görüs¸ (IGMG), die seit mehreren Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Dieses Einwirken der Politik auf innertheologische Angelegenheiten zeigt die instabile Rechtsstellung der Beiratskonstruktion (Lange 2014, S. 174f.). Auf der anderen Seite aber darf die IGMG, die ein Teil des Koordinationsrats der Muslime oder der Schura Niedersachsen ist, am Beirat in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen teilnehmen (Kiefer 2013, S. 220). Bei einer Sonderstellung oder zu starken Vertretung eines Verbandes im Beirat wird nur ein Teil der Muslim*innen im Beirat vertreten, und bei Bedenken, wie in Hessen, kann es zu noch größeren Problemen kommen. Das österreichische Modell könnte eine bundesweite Lösung werden, indem alle Verbände sich zu einer Dachorganisation einigen und als Kirche fungieren. Darin wären jedoch die nichtorganisierten Muslim*innen wieder nicht enthalten. Genauso könnte eine solche Dachorganisation zum Spielball der Verbände – wie in Österreich – werden (Kocina 2018), wobei allein die Interessen der einzelnen Verbände und nicht jene der deutschen Muslim*innen in den Vordergrund rücken könnten. An den baden-württembergischen Schulen wird der islamische Religionsunterricht seit 2005 als Modellprojekt angeboten. Da dieses im Schuljahr 2019/20 auslaufen sollte, hat das Bundesland ein Stiftungsmodell angeboten, in dem drei Vertreter*innen des Landes und zwei der Verbände tätig sind (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2018). Die beiden größten islamischen Verbände – die

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Islamische Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg und die DITIB – lehnen dieses Stiftungsmodell jedoch ab, betrachten es als verfassungswidrig und wollen eine Expert*innenkommission einberufen. Diese soll zum einen das Modell auf Verfassungswidrigkeit prüfen und zum anderen verfassungskonformere Modelle vorschlagen (Bingener 2019). Brigitte Lösch, Vorsitzende des Ausschusses für Kultus, Jugend und Sport, stellte die Richtung der Regierung klar: »Das Ziel muss sein, den Unterricht aus den Moscheen an die Schulen zu holen, deshalb ist aus Sicht des Ausschusses eine Lösung mit nur zwei Verbänden besser, als keinen islamischen Religionsunterricht anzubieten« (Ausschuss für Kultus, Jugend und Sport 2019).

2.5

Bayern

In Bayern entwickelt sich die IRP und der IRU vergleichbar wie in den anderen Bundesländern nach dem Bedürfnis, professionelle islamische Religionslehrer*innen für den IRU auszubilden. Im Jahr 2000 beschloss der Bayerische Landtag die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts als Plattform für die Ausbildung der islamischen Religionslehrer*innen in Bayern. Daraufhin wurde das Interdisziplinäre Zentrum für Islamische Religionslehre (IZIR) gegründet und im März 2006 ein Erweiterungsstudiengang eingerichtet, auf den Harry Harun Behr als Professor berufen wurde (Behr et al. 2009, S. 215). Nach den Empfehlungen des Wissenschaftsrats wurde 2011 der Standort Nürnberg-Erlangen als jüngster Standort für islamische Studien auserwählt (Wissenschaftsrat 2010). Anschließend wurde am 27. September 2012 das Department Islamisch-Religiöse Studien (DIRS) als das jüngste Departement der Philosophischen Fakultät und des Fachbereichs Theologie an der Universität Nürnberg-Erlangen eröffnet (Universität Erlangen 2019). Der Zertifikatsstudiengang »Islamische Religionslehre« an genannter Universität bereitet Lehrkräfte, die sich zum islamischen Glauben bekennen, darauf vor, den Islam an öffentlichen Schulen zu unterrichten (Universität Erlangen 2016). Der Ergänzungsstudiengang wird jedoch von einem sehr vielfältigen Kreis von Studierenden wahrgenommen. Darunter gibt es neben den Student*innen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen (FAU) auch solche von anderen Universitäten. Ein Drittel der im Jahr 2006 inskribierten Studierenden waren Nichtmuslim*innen (Behr et al. 2009, S. 138). Das jeweilige Zertifikatsprogramm für Grund-, Haupt- und Realschulen wurde aufgrund der curricularen Umstellung im Wintersemester 2014/15 eingestellt. Man kann es seitdem als Ergänzungsfach (Zweit-/Drittfach) für diese Schulstufen studieren. Das Zertifikatsstudium »Islamischer Unterricht« wird

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weiterhin als Erweiterungsfach ausschließlich Kandidat*innen aus dem gymnasialen Lehramt (auch berufsbegleitend) angeboten (Universität Erlangen 2015). Das Department Islamisch-Religiöse Studien (DIRS) in Erlangen schlägt als Institut einen eigenen Weg bei der Besetzung der Beiratsmitglieder ein. Der Beirat setzt sich hier aus Einzelpersonen zusammen, deren Konfession nicht weiter berücksichtigt wird. Nur zwei der Beiratsmitglieder gehören der DITIB an. Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erklärt dies damit, dass sie den Beirat mit Muslim*innen internationaler Herkunft und verschiedener Richtungszugehörigkeit besetzen wolle. Das Erlanger Modell wird sowohl von den muslimischen Religionsgemeinschaften als auch von Janbernd Oebbecke, der das Münsteraner Beiratsmodell ins Leben gerufen hat, wegen des fehlenden Mitbestimmungsrechts der Verbände als verfassungswidrig angesehen (islamiq 2014). Der Modellversuch »Islamischer Unterricht«, der seit dem Schuljahr 2009/10 an bayerischen Schulen angeboten wird, läuft im Jahr 2019 aus. Es gibt noch keine Lösung, wie die Zukunft des neuen Fachs aussehen wird. Schon Anfang 2018 sprach sich der Ex-Schulminister Spaenle für eine flächendeckende Erweiterung des islamischen Unterrichts aus (Günther 2018; Holzberger 2014). Dazu kam es jedoch nicht, da Spaenle vom amtierenden Ministerpräsidenten Söder aus unerklärlichen Gründen nicht mehr in sein Kabinett aufgenommen und durch Staatsekretär Bernd Silber ersetzt wurde (Mediendienst Integration 2018, S. 11). Dieser erklärte, dass das bestehende Modell Ende des Schuljahres 2019 auslaufen werde (Günther 2018). Die Grünen sprachen sich für eine Fortführung des islamischen Unterrichts aus und reichten am 2. Februar 2019 einen Dringlichkeitsantrag ein. Nach den bayrischen Landtagswahlen im Oktober 2018 sprach sich der neue Schulminister, Michael Piazolo, für einen flächendeckenden Islamunterricht aus (Günther 2019). Die Zusammenarbeit mit den Verbänden ist jedoch unklar. Zurzeit besuchen über 14.000 muslimische Schüler*innen in ca. 350 Schulen den IRU in Bayern (Mediendienst Integration 2018, S. 11).

2.6

Hamburg

Im Bundesland Hamburg wird ein in der Bundesrepublik einzigartiger »Religionsunterricht für alle« angeboten, der in der Verantwortung der evangelischen Kirche steht, aber von Lehrkräften unterschiedlicher Konfession abgehalten wird. Im »Hamburger Modell« wird ein Religionsunterricht für alle Institutionen in evangelischer Verantwortung angeboten. Der Studiengang ist so aufgebaut, dass im Religionsunterricht auf Integration, Dialog und auf ein liberales Integrationsverständnis großer Wert gelegt wird (Scheliha 2004, S. 156). Die Aus-

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bildung von Religionslehrer*innen, die den Religionsgruppen der evangelischen Nordkirche, den muslimischen Verbänden (DITIB-Nord, Schura Hamburg und VIKZ), den Aleviten, Buddhisten und Hinduisten angehören und an Hamburger Schulen unterrichten, werden an der Akademie der Weltreligionen ausgebildet (Akademie der Weltreligionen 2020, S. 7). Eine einzigartige Stellung in Deutschland hat das Fach »Alevitentum«, das auch im Lehramtsstudium »Islamische Religion« in drei Seminaren angeboten wird. Die Anfänge dieser Akademie, die im Jahre 2010 gegründet wurde, liegen im Interdisziplinären Zentrum Weltreligionen im Dialog, welches seit 2005 als Forum für Forschung und Information zu interreligiösen Themen fungiert. Das Ziel des Zentrums bestand von vornherein in der Gründung einer Institution, an der in Zukunft der Buddhismus sowie die jüdische und islamische Religion gelehrt werden sollten (Universität Hamburg 2018). Begonnen wurde mit einer Ringvorlesung im WS 2006/07 mit dem Titel »Religiöse Differenz als Chance« (ebd.). Die Akademie der Weltreligionen unterscheidet sich in einigen Punkten sehr stark von den bereits genannten Instituten für Islamische Theologie und der Gestaltung des IRU, die einer der Gründungsgründe war. Auch heute liegt der Schwerpunkt der Akademie auf der religiösen Pluralität (Universität Hamburg 2019). Neben der islamischen Theologie werden dort das Judentum, der Buddhismus und der Hinduismus sowie das Alevitentum gelehrt. Im Wissenschaftsrat ist man der Ansicht, dass sich die Akademie nicht auf ein Nebeneinander, sondern auf eine Wechselbeziehung konzentriere und somit auch seine Empfehlungen (Wissenschaftsrat 2010) hinsichtlich der religiösen Pluralisierung beachte (Weiße & Enns 2017, S. 9).

2.7

Berlin

In der Bundeshauptstadt wird der IRU gemäß der Bremer Klausel des Grundgesetzes nach Artikel 141 und Artikel 7 Abs. 3 Satz 1 durch eine Ausnahmeregelung geregelt, nach der »Religion« kein ordentliches Schulfach ist, das man bis zur siebenten Schulstufe besuchen kann. Danach gibt es einen verpflichtenden Ethikunterricht für alle. Die Trägerschaft des bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts ist seit 2001 der Islamischen Föderation, einem verbundenen Mitglied der IGMG, als Religionsgesellschaft vorbehalten (Mediendienst Integration 2018). Es ist sicherlich fragwürdig, dass auf der einen Seite die IGMG in Baden-Württemberg als zweifelhafter Partner vom Beirat ausgeschlossen wird und auf der anderen Seite sie als alleiniger Träger für den IRU verantwortlich ist. Eine einheitliche bundesweite Lösung könnte auch bei der Etablierung des IRU und der IRP weiterhelfen.

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Das neu gegründete Berliner Institut für Islamische Theologie wird mit sechs Professuren ausgestattet, darunter auch eine für »Islamische Religionspädagogik«. Es ist noch offen, wie sich die Beziehung zum islamischen Religionsunterricht entwickeln wird. Welche Ausbildung die islamischen Religionslehrer*innen in Berlin haben und nach welchem Kriterium sie eingestellt werden, ist unbekannt, vor allem, da es das Studium seit 2019 gibt. Im Oktober 2018 bewilligte das BMBF eine Förderung für den Zeitraum von 2019 bis 2023 mit 5,5 Mio. Euro (Humboldt-Universität o. J.). In dem neuen Institut sollen neben islamisch-theologischen Studiengängen auch ein lehramtsbezogener Masterstudiengang und ein Kombinations-Bachelorstudiengang »Islamische Theologie« mit Lehramtsoption (Kern- und Zweitfach) angeboten werden (ebd.). Im Schuljahr 2017/18 haben in 33 Grundschulen ca. 5.400 Schüler*innen den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht besucht (Mediendienst Integration 2018).

3.

Österreich

Anders als in Deutschland oder in der Schweiz gibt es in Österreich schon seit dem Jahr 1912 ein Islamgesetz. Dies ist auf die Expansionspolitik der Habsburgermonarchie zurückzuführen. Denn durch die Annexion von Bosnien und Herzegowina gehörte ab dem Jahr 1908 auch eine größere Gruppe von Muslim*innen zu Österreich-Ungarn. Das 1912 verabschiedete Islamgesetz bezog sich ausschließlich auf sunnitische Muslim*innen der hanafı¯tischen Rechts˙ schule, da diese in Bosnien und Herzegowina vorherrschte (Aslan 2009a, S. 105ff.). Das Islamgesetz wurde im Jahr 2015 novelliert (Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich 2014). 1979 kam es zur Gründung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ, heute IGGÖ) (Aslan 2009a, S. 109). Auf dieser Basis bot Österreich seit dem Schuljahr 1982/83 als erstes europäisches Land »Islamischen Religionsunterricht« offiziell als ordentliches Schulfach an (Khorchide 2009, S. 3). Heute sind ungefähr 600 islamische Religionslehrer*innen in Österreich tätig (KPH Wien/Krems 2018). Die Lehrer*innenausbildung hingegen wurde erst viel später mit der Gründung der Islamischen Religionspädagogischen Akademie (IRPA) im Jahr 1998 gewährleistet (Aslan 2009, S. 108). Zu Beginn erfolgte die theologische Ausbildung nur in arabischer Sprache mit Azhar-Dozent*innen nach dem Azhar-Modell. Man war der Ansicht, der pädagogische Teil des Studiums sei an einer staatlichen Hochschule zu absolvieren, unabhängig vom theologischen Teil. Gemäß Aslan (2009, S. 346) orientierte sich die Theologie nicht an der Schulwirklichkeit in Österreich. 2008 wandelte man den Studiengang gemäß den Bologna-Kriterien um. Die Ausbildung der islamischen Religionslehrer*innen für die Grund- und Mittelschulen erfolgte bis

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2016 an der IRPA, in der man es als eigenständiges Fach studieren konnte. Seitdem ist die IRPA in die Kirchlich Pädagogische Hochschule Wien/Krems (KPH) als Institut eingegliedert. Dort werden nun nicht nur katholische, sondern auch islamische, jüdische, alevitische, evangelische, orthodoxe, orientalisch-orthodoxe und altkatholische Lehrkräfte ausgebildet (Martschinn 2016). Das eigenständige Studium der islamischen Religionspädagogik mit einem Bachelor of Education ist somit erloschen (Vienna online 2015). Die KPH Wien/Krems bietet sowohl Ausbildung als auch Fortbildungsseminare für die islamische Religionspädagogik für Grund- und Mittelschule an (KPH Wien/Krems 2018). Man kann das Fach »Islamische Religion« als Zweit- oder Drittfach studieren. Religionslehrer*innen für höhere Schulen werden seit 2008 an der Universität Wien ausgebildet. Der entsprechende Studiengang wird vor allem als ein Aufbaustudiengang für das Lehramt an Pflichtschulen wahrgenommen (Universität Wien 2012, S. 1). Neben der Universität Wien und der KPH Wien/Krems bietet die Universität Innsbruck seit 2013 einen eigenständigen BA-Studiengang im Bereich islamische Theologie an. Als einzige Universität in Österreich kann man hier »Islamische Religionspädagogik« als eigenständiges Fach oder – wie an der KPH Wien/ Krems – als Unterrichtsfach »Islamische Religion« studieren (Sejdini 2016, 2017; Universität Innsbruck o. J.). Genauso kann dazu ein Masterstudiengang für islamische Religionspädagogik und ein PhD-Studium, wie in Wien, angeschlossen werden (ebd.). Nach der Novellierung des Islamgesetzes im Jahr 2015 sind am Standort Wien insgesamt sechs Professuren geplant. Darunter wurde die Professur für Islamische Religionspädagogik gesichert. Neben dem eigenständigen Masterstudiengang für IRP kann man im Bachelorstudiengang »Islamisch-Theologische Studien« neben den Vertiefungsfächern »Islamische Seelsorge in Europa«, »Muslimische Gemeindearbeit«, »Islamische Theologie« und »Alevitische Theologie« auch »Islamische Religionspädagogik« als Schwerpunkt setzen und eine Bachelorarbeit verfassen (Universität Wien 2017, S. 12–15). Die Universität Graz, die keinen eigenen Studiengang im Bereich der islamischen Religionspädagogik anbietet, hat im Jahr 2015 das Projekt »Integration durch interreligiöse Bildung« ins Leben gerufen. Um mögliche Ausbildungswege für islamische Religionslehrer*innen in der Steiermark und in Kärnten zu entwickeln, wird einerseits der Ist-Zustand des islamischen Religionsunterrichts erforscht. Anderseits wird in Zusammenarbeit mit der Kirchlich Pädagogischen Hochschule Graz für bereits im Dienst stehende Islamlehrer*innen ein Hochschullehrgang konzipiert (Universität Graz 2019b). Die Referent*innen sollen sowohl aus dem islamischen Bereich als auch aus der christlichen Religionspädagogik kommen (Universität Graz 2019c).

Universitäre Implementierung der islamischen Religionspädagogik

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In Österreich wird die Schulausbildung im Vergleich zur Schweiz und zu Deutschland bundesweit geregelt. Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich ist Ansprechpartner für die islamische Religion und gilt als anerkannte Religionsgesellschaft mit einer durch das Islamgesetz gesicherten Monopolstellung. Sie hat bei der Berufung neuer Professor*innen für Islamische Theologie oder Religionspädagogik an der Universität Wien jedoch kein Mitspracherecht, sondern nur eine »Fühlungnahme«9 (Rechtsinformationssystem des Bundes 2015). Am Institut für Islamische Religion an der KPH Wien/Krems hingegen spielt die IGGÖ eine wesentliche Rolle. Sie ist bei Personalentscheidungen oder der Lehrplanerstellung allein verantwortlich, der Staat stellt lediglich die Rahmenbedingungen zur Verfügung (Khorchide 2009).

4.

Schweiz

In der Schweiz gibt es keinen eigenständigen islamischen Studiengang oder Lehramtsschwerpunkt. Dies ist vor allem darauf zurückführen, dass hier generell kein einheitlicher Religionsunterricht angeboten wird, da die 26 Kantone ihre Religionsangelegenheiten eigenständig und damit unterschiedlich regeln. Im Kanton Basel-Landschaft sind die Kirchen Landeskirchen und dem Kanton untergeordnet. Im Kanton Basel-Stadt hingegen sind sie als Körperschaft öffentlichen Rechts organisiert (Baumann 2009, S. 427). Ähnlich verhält es sich mit dem Religionsunterricht. In St. Gallen gibt es seit Oktober 2000 islamischen Religionsunterricht in einer Oberstufe und seit 2001 an einer Realschule. Der Unterricht wird von zwei Imamen geleitet (Alimi & Zuzo 2011). Die Bezahlung erfolgt durch Mitgliedsbeiträge der Moscheen und fällt relativ gering aus. Auf der anderen Seite wird der von Moscheen organisierte Wochenendunterricht eingeführt (Voser & Karatekin 2015, S. 7f.). Auch gibt es seit dem Schuljahr 2011/12 im Kanton Zürich den überkonfessionellen Religionsunterricht, der in allen Schulgemeinden eingeführt wurde. Dieser löste das Fach »Biblische Geschichte« in den Volksschulen und den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht in den Sekundarstufen ab (Schlag 2013, S. 35). Weiterbildungsmöglichkeiten im Bereich der islamischen Religionspädagogik werden vornehmlich von der Hochschule Zürich für angewandte Linguistik angeboten (Hochschule Zürich 2018). Die Erlangung des Zertifikats ist mit 18 Präsenzstunden und insgesamt 54 Stunden inklusive Eigenstudium zu planen (ebd.). Auch das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) bietet

9 Damit ist die Kontaktaufnahme mit der islamischen Religionsgemeinschaft vor der Berufung einer Professur gemeint. Ein Vetorecht ist es aber nicht.

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eine Fachpersonenausbildung und Weiterbildungsangebote im Bereich Schule an (Schmid 2016, S. 98). Die gegenwärtigen Masterstudienmöglichkeiten in der Schweiz sind auf das Hauptfach »Islam und Gesellschaft« und das Nebenfach »Islam und Gesellschaft« an der Universität Freiburg (Universität Freiburg 2017) begrenzt. In keinem der beiden Studiengänge ist eine religionspädagogische Ausbildung möglich (Universität Freiburg 2018). Im Masternebenprogramm können auch Lehrkräfte diesen Studiengang mitbesuchen (Universität Freiburg 2017). In der Schweiz wird schon seit Jahren über die Ausbildung von islamischen Religionslehrkräften diskutiert. Im Jahr 2007 wurde dies mit einem Projekt aufgegriffen (Rudolph 2007). Mittels 117 Leitfadeninterviews wurden Muslim*innen befragt, wie sie zur Ausbildung islamischer Religionslehrer*innen in der Schweiz stünden. Kurzfristig wünschen sich viele der Befragten Zusatzkurse für bereits tätige Imame, längerfristig wird eine Ausbildung in der Schweiz gewünscht (Rudolph, Lüddeckens & Uehlinger 2009, S. 4). Eine Lösung für einen IRU wurde bis dato nicht gefunden. Das größte Problem stellt zum einen die Diversität in den 26 Kantonen und zum anderen die Diversität bei den Muslim*innen dar (Hehli 2018; Rüttimann 2018).

5.

Fazit

In den letzten 20 Jahren zeigte sich eine starke universitäre Implementierung des Fachs IRP im deutschsprachigen Raum. Sowohl in Deutschland und der Schweiz, wo der Islam keine anerkannte Religion ist, als auch in Österreich, wo die islamische Religion seit 1912 ihren Platz in der Verfassung hat, gibt es unterschiedliche Entwicklungen. In Deutschland finden sich die Anfänge der islamischen Religionspädagogik gegen Ende der 1990er-Jahre in Nordrhein-Westfalen, als die ersten Gespräche über den islamischen Religionsunterricht geführt wurden. Eine bundesweite Etablierung der IRP ist jedoch seit den Empfehlungen des Wissenschaftsrats im Jahr 2010 zu beobachten. Davor gab es landesweite Pionierarbeiten in Frankfurt, Münster, Nürnberg-Erlangen oder an der pädagogischen Hochschule Ludwigsburg in Baden-Württemberg, an der erste Modellversuche zur Ausbildung von islamischen Religionslehrer*innen stattfanden. In Deutschland und Österreich hat sich die IRP aus einer Notwendigkeit an den Universitäten etabliert. Die religiöse Erziehung muslimischer Schüler*innen sollte durch den IRU gesichert werden. Der größte Unterschied liegt darin, dass in Deutschland zuerst über die Ausbildung dieser Religionslehrer*innen diskutiert und sukzessiv erst in vielen kleinen, langsamen Schritten spärlich der IRU eingeführt wurde. In Österreich hingegen war der Religionsunterricht schon seit

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dem Schuljahr 1982/83 gesichert, da der Islam seit 1912 eine anerkannte Religion ist. Da in Deutschland oder in der Schweiz der Islam keine Körperschaft öffentlichen Rechts ist, hat er keinen vergleichbaren Status. In der Schweiz ist es noch komplexer, da der Religionsunterricht kantonal geregelt wird und in manchen Kantonen wie Basel-Stadt Religionsunterricht – auch für alle anerkannten Religionsgesellschaften – überhaupt nicht vorgesehen ist. In Österreich war das Problem, dass es lange Zeit keine Ausbildung für diese Religionslehrer*innen gab. Die Anfänge begannen mit den Überlegungen zur IRP in Deutschland zeitgleich, obwohl IRU schon seit über 17 Jahre an den Schulen unterrichtet wurde. Die Folgen der Einstellung der Religionslehrer*innen wurde vor allem durch die 2009 abgeschlossene Dissertation von Khorchide ersichtlich, aus der hervorging, dass 21 Prozent der angehenden Religionslehrer*innen Demokratie und Islam als nicht vereinbar erachten (Khorchide 2009). Die Einstellung dieser Lehrer*innen in Österreich erfolgt ausschließlich durch die IGGÖ. In Deutschland hingegen gibt es das vom Wissenschaftsrat vorgeschlagene und viel kritisierte Beiratsmodell, welches sehr viele Kontroversen mit sich bringt. Nichtorganisierte Muslim*innen sind in den Beiräten nicht vertreten. Da die Schulbildung in Deutschland von Bundesland zu Bundesland variiert, fällt die Umsetzung dieser Empfehlung unterschiedlich aus. In NordrheinWestfalen ist im Beirat der KRM vertreten, welcher aus Mitgliedern von DITIB, VIKZ, Islamrat (IGMG) und Zentralrat der Muslime bestehen. In Baden-Württemberg hingegen bleibt die IGMG ausgeschlossen, da sie unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht. In Bayern werden sämtliche Verbände außer Acht gelassen. Nur zwei Mitglieder der Kommission sind Verbandsangehörige und diese gehören der DITIB an. Als Begründung wird angegeben, dass man die internationale Herkunft und die Pluralität der Muslim*innen achten wolle. In Hessen wird der Landesverband DITIB-Hessen als alleiniger Partner betrachtet. In Berlin ist die Islamische Föderation Berlin (IGMG) seit 2001 alleiniger Träger des IRU. Die Mitbestimmung der Verbände rückt durch die kontroversen Diskussionen über die Hintermänner der Verbände mehr und mehr in den Hintergrund. In Baden-Württemberg dürfen im dortigen Beirat nur zwei von fünf der Vertreter*innen mitstimmen. Die DITIB und die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken (IGBD) haben diese Konstellation mittlerweile schon abgelehnt. Die IGMG wurde nicht eingeladen. In Hessen und Hamburg sprechen politische Parteien ihre Bedenken gegenüber der DITIB aus – in Hessen darf die DITIB, die alleiniger Träger ist, nur mehr bis zur sechsten Schulstufe die Lehrbefugnis erteilen. Die Einmischung des neutralen Staates in innere Angelegenheiten, durch das Ein- und Ausladen bestimmter Verbände in Beiräte, ist verfassungsrechtlich genauso bedenklich wie die Teilnahme verfassungsfeindlicher Verbände. Auf der

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anderen Seite stellt sich die verfassungsrechtliche Frage, wie nichtorganisierte Muslim*innen vertreten werden sollen. Deshalb kann nur von einer temporären Lösung die Rede sein, wobei seit den Empfehlungen des Wissenschaftsrats im Jahr 2010 nicht wirklich eine Lösung in Sicht ist. Das österreichische Modell, den Verbänden die alleinige Befugnis zu erteilen, oder das bayerische Modell, sie ganz von den Entscheidungsfindungsgremien fernzuhalten, scheint auch keine Lösung zu sein. Wünschenswert wäre eine dialogische Lösung, gemäß der sich Verbände und nichtorganisierte Muslim*innen mit Vertreter*innen von Ländern oder Bund zusammensetzen und eine solide Basis für IRP, IT und IRU schaffen. Wenn die Politik – wie in Baden-Württemberg – die Stellung des Beirats bewusst schwächt, indem sie zum einen bestimmte Gruppen nicht einlädt und zum anderen ein Gremium aufstellt, in dem die absolute Mehrheit von der Landesregierung bestimmt wird, handelt sie nicht nur verfassungswidrig, sondern setzt auch die langjährige Arbeit und das Vertrauen der Muslim*innen aufs Spiel. In Österreich ist eine Etablierung der IT und IRP vor allem nach der Novellierung des Islamgesetzes im Jahr 2015 zu erkennen. Mit dem neuen Gesetz ist nicht nur das Recht auf Hala¯l-Speisen in Krankenhäusern und Justizanstalten ˙ sowie beim Militär gesichert, sondern auch ein islamisch-theologischer Studiengang an der Universität Wien. Obligatorisch wurden damit sechs Professuren, wovon eine Professur für Islamische Religionspädagogik gesichert ist. Neben Wien hat sich auch Innsbruck als universitärer Standort im Bereich der islamischen Theologie und Religionspädagogik etabliert. Vergleichbare Beirats-Diskussionen wie in Deutschland gibt es in Österreich nicht, da Religionsangelegenheiten hier bundesweit geregelt werden und somit die IGGÖ als eine Körperschaft öffentlichen Rechts für ganz Österreich gilt. Mit der Novellierung hat sie jedoch nur mehr das Recht auf »Fühlungnahme« und darf nicht, wie an der IRPA, selbst die Personalentscheidungen treffen. In der Schweiz ist das Fach IRP ein sehr junges Phänomen. Da Religionsangelegenheiten auf kantonaler Ebene geregelt werden, ist eine landesweite Lösung nicht in Sicht. Im Vergleich zu seinen deutschsprachigen Nachbarn steckt die Schweiz bei der Entwicklung des IRU und der IRP noch in den Kinderschuhen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die IRP in Deutschland und Österreich weiterhin an den Universitäten etabliert. In der Schweiz hingegen gibt es zwar ebenfalls Bestrebungen für eine IRP, jedoch erwartet sie – im Vergleich zu ihren Nachbarn – ein mühsamerer Prozess. Die Rolle der islamischen Verbände in Deutschland wird immer mehr infrage gestellt. In den neuen Beiratskonstellationen sind die Verbände nicht mehr so stark vertreten wie vor fünf Jahren oder bei der Gründung. Welchen Verlauf dieser dynamische Prozess nehmen wird, wird sich in den kommenden Jahren und nach einigen Evaluationsrunden zeigen.

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Universitäre Implementierung der islamischen Religionspädagogik

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Durdane Kılıçdag˘ı

Islamische Erziehung in Österreich

Zusammenfassung Spätestens infolge der systematischen Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften in den 1960er-Jahren hat sich das österreichische Gesellschaftsbild sehr stark verändert. Im Zuge der sogenannten »Arbeitsmigration« wurden unter anderem aus Jugoslawien und der Türkei Gastarbeiter*innen in das Land geholt, die nicht nur eine andere Kultur, sondern auch eine andere religiöse Überzeugung hatten. Obwohl der Arbeitsmigration neben der Globalisierung die wichtigste Rolle für den gesellschaftlichen Wandel zukommt, tragen seit einigen Jahrzehnten auch die Flüchtlinge in bedeutendem Maß zur kulturellen und religiösen Vielfalt in diesem Land bei. Viele dieser Flüchtlinge stammen aus Tschetschenien, Afghanistan und Syrien und gehören somit zum Großteil dem islamischen Glauben an. All diese Tatsachen haben bewirkt, dass der Islam und die Muslim*innen in der österreichischen Gesellschaft stark präsent wurden. Jedoch entstand der erste intensive Kontakt mit dem Islam bereits im 19. Jahrhundert, als die Österreichisch-Ungarische Monarchie nach dem Berliner Kongress 1878 Bosnien und Herzegowina okkupierte. 30 Jahre später, also 1908, wurden Bosnien und Herzegowina schließlich von der k. u. k. Doppelmonarchie annektiert und somit sehr viele Muslim*innen zu Bürger*innen des Reiches. Diesem historischen Ereignis ist es zu verdanken, dass Österreich der erste europäische Staat war, der den Islam offiziell anerkannt hat, um die Rechte seiner muslimischen Bürger*innen gesetzlich regeln zu können. In diesem Artikel wird, ausgehend von diesen historischen Ereignissen, die Situation der Muslim*innen in Österreich dargestellt, wobei der Fokus auf die islamische Erziehung gelegt wird. Zu Beginn wird ein historischer Überblick über die jüngste Geschichte des Landes gegeben. Anschließend werden Zahlen und Fakten bezüglich der Muslim*innen und des Islams in Österreich dargelegt. Dann erfolgt die Schilderung der Geschichte der islamischen Erziehung in Österreich und abschließend werden Informationen über die islamische Erziehung in der Schule und auf universitärem Bereich gegeben.

982

1.

Durdane Kılıçdag˘ı

Historischer Überblick

Die für diesen Artikel relevanten historischen Ereignisse geschahen nach der Gründung der kaiserlichen und königlichen Doppelmonarchie. Aus diesem Grund wird nun die Geschichte Österreichs ab dieser Phase kurz geschildert, damit danach auf den Berliner Kongress 1878 und die Arbeitsmigration ab den 1960ern näher eingegangen werden kann, die dazu beigetragen haben, dass der Islam und die Muslim*innen zu einem Teil von Österreich wurden. Im Jahre 1867 kam es im Habsburgerreich zum Ausgleich mit Ungarn und somit entstand aus dem Kaisertum Österreich die k. u. k. Doppelmonarchie, auch »Donaumonarchie«, »Österreich-Ungarn« oder »Österreichisch-Ungarische Monarchie« genannt. Diese Monarchie setzte sich aus zwei Staaten, nämlich Österreich und Ungarn, zusammen und bestand bis zur Ausrufung der Republik »Deutsch-Österreich« am 12. November 1918. Die Doppelmonarchie war am Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 beteiligt und gehörte zur Verliererseite. Aus diesem Grund wurden nach dem Ende des Krieges auf dem Gebiet des ehemaligen Habsburgerreichs Nationalstaaten gegründet, unter anderem auch Deutsch-Österreich für die deutschsprachigen Bürger*innen. Ursprünglich wurde der Anschluss der jungen Republik Deutsch-Österreich an Deutschland angestrebt, jedoch verbot der Friedensvertrag von Saint Germain, der im Jahr 1919 unterzeichnet wurde, Österreich den Anschluss, und der Staat wurde in »Republik Österreich« umbenannt. Sie wird auch als die »Erste Republik« bezeichnet. Nach Hitlers Machtergreifung kam es dann am 12. März 1938 tatsächlich zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wurde die Republik Österreich erneut ausgerufen. Diese wird als die »Zweite Republik« bezeichnet. Für die nächsten zehn Jahre war Österreich jedoch in vier Zonen eingeteilt und von den Siegermächten, nämlich USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion, besetzt. Erst mit dem Staatsvertrag, der nach zehnjährigen Verhandlungen zwischen den Siegermächten und Österreich im Jahr 1955 unterzeichnet wurde, erlangte Österreich die volle Unabhängigkeit (Vocelka 2011, S. 209–325). In der k. u. k. Doppelmonarchie lebte unter anderem auch eine große muslimische Minderheit. Dazu kam es nach dem Berliner Kongress von 1878. Diesem Kongress ging der Russisch-Osmanische Krieg 1877/1878 voraus, der auch »93 Harbi« genannt wird, weil er laut der islamischen Zeitrechnung im Jahr 1293 stattfand, also zur Regierungszeit von Sultan Abdülhamid II. (Fortna 2008, S. 44). In diesem Krieg waren die Russen siegreich und standen vor den Toren Istanbuls, als nach Wunsch des Osmanischen Reiches und auf Druck der Großmacht England, die den Machtzuwachs Russlands unterbinden wollte, es zunächst zum Waffenstillstand kam und schließlich am 3. März 1878 der Präliminarfrieden von San Stefano besiegelt wurde. Auch Österreich-Ungarn bemühte sich intensiv um

Islamische Erziehung in Österreich

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das Zustandekommen des Friedens (Novotny 1957, S. 32–33). Die einzelnen Artikel des Präliminarfriedens wurden von der russischen Seite diktiert, und dadurch erlangten die Russen vor allem auf dem Balkan eine Vormachtstellung. Weder die europäischen Großmächte noch die Bevölkerung am Balkan, wo neue Grenzen gezogen wurden, waren mit den Bestimmungen des Präliminarfriedens von San Stefano zufrieden (Novotny 1957, S. 35). Aus diesem Grund übten die europäischen Großmächte Druck aus, um die Artikel des Präliminarfriedens zu revidieren. Vor allem die Österreichisch-Ungarische Monarchie setzte sich sehr stark dafür ein. Denn aufgrund der willkürlichen Grenzziehung der Russen auf dem Balkan schnitt das gebietsmäßig erweiterte Fürstentum Montenegro Österreich-Ungarn den Weg zum Adriatischen Meer ab. Auch das neu entstandene Großreich Bulgarien widersprach den Interessen der Donaumonarchie (Karal 2007, S. 68). Schließlich wurde zwischen dem 13. Juni und dem 13. Juli 1878 der Berliner Kongress abgehalten (Nuhanovic´ 2009, S. 26). Die auf dem Kongress vertretenen Großmächte waren Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich-Ungarn, Russland und das Osmanische Reich. Außerdem wurden, wenn es um Angelegenheiten ging, die diese betrafen, auch Delegierte Griechenlands, Rumäniens und Persiens zum Kongress zugelassen. Die Letztgenannten hatten jedoch kein Stimmrecht. Die Interessen der Doppelmonarchie wurden von Außenminister Gyula Graf von Andrássy und dem österreichischungarischen Botschafter in Rom Heinrich Baron von Haymerle vertreten (Geiss 1978, S. XVII–XVIII). Am Ende des Berliner Kongresses wurde von allen teilnehmenden Hauptdelegierten der europäischen Großmächte der Berliner Vertrag unterzeichnet, welcher aus 64 Artikeln bestand (Gencer 1992, S. 517). Österreich-Ungarn erhielt durch den Berliner Vertrag das Recht, Bosnien und Herzegowina zu besetzten und zu verwalten. 30 Jahre später wurden Bosnien und Herzegowina schließlich von der Doppelmonarchie annektiert (Karal 2007, S. 77). Österreich-Ungarn zählte mit diesem klugen Schachzug zu den eindeutigen Gewinnern des Berliner Kongresses, denn durch die Okkupation von Bosnien und Herzegowina wurde die Monarchie um 57 000 km2 vergrößert (Ströher 1949, S. 59). Die Österreichisch-Ungarische Monarchie zählte nun circa 600.000 Bürger*innen islamischen Glaubens. Bereits ab 1888 dienten die ersten bosnischmuslimischen Soldaten in der Armee der Donaumonarchie. Es gab ab 1891 sogar einen eigenen Imam und einen Militärmufti für die in Wien stationierten bosnischen Muslime (Schakfeh & Khorchide 2006, S. 284–285). Obwohl es seit 1874 ein Gesetz zur Anerkennung von Religionsgemeinschaften gab (Rechtsinformationssystem des Bundes. Gesetz vom 20. Mai 1874), stellten die rechtlichen Angelegenheiten der muslimischen Bürger*innen eine Herausforderung für die Monarchie dar, weil das Gesetz für die Organisation einer kirchlichen Struktur konzipiert war und sich deshalb nicht auf den Islam übertragen ließ. Aus diesem

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Grund wurde am 15. Juli 1912 das Islamgesetz verabschiedet (Schakfeh & Khorchide 2006, S. 285). Somit wurden die Muslim*innen, die der hanafitischen Rechtsschule angehörten, als Religionsgemeinschaft anerkannt und bekamen folgende Rechte: – »das Recht auf gemeinsame öffentliche Religionsausübung, – das Recht, die inneren Angelegenheiten selbstständig zu ordnen und zu verwalten, – das Recht auf Besitz und Nutzung der für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Fonds und Stiftungen, – die rechtliche Gleichstellung mit den anderen anerkannten Religionsgesellschaften und somit die Anwendbarkeit des Gesetzes über die interkonfessionellen Verhältnisse.« (Khorchide 2009, S. 27) Mit dem Islamgesetz wurde unter anderem die Institutionalisierung des Islams beabsichtigt, dann jedoch brach der Erste Weltkrieg aus, und 1918 bildeten Bosnien und Herzegowina gemeinsam mit Kroatien, Serbien, Slowenien und Montenegro den neuen Staat Jugoslawien. Dadurch verlor die (Erste) Republik Österreich die Gebiete, in denen fast die gesamte muslimische Bevölkerung lebte. Nun lebten nur noch sehr wenige Muslim*innen in Österreich. Bis 1939 gab es den »Islamischen Kulturbund«, während des Zweiten Weltkriegs wurde dann der Verein »Islamische Gemeinschaft zu Wien« gegründet. Dieser existierte bis 1948. Im Jahr 1951 wurde der »Verein der Muslime Österreichs« gegründet. Von 1948 bis 1968 gab es außerdem noch die »Camiat ul Islam«, die sich unter anderem um die Betreuung von muslimischen Flüchtlingen kümmerte. In den 1960er-Jahren lebten circa 8.000 Muslim*innen in Österreich, wobei 20 davon Konvertit*innen waren, die die »Islamische Arbeitsgemeinschaft« gründeten (Aslan 2013, S. 58– 59). Das Islamgesetz von 1912 wurde vor einigen Jahren durch ein neues Islamgesetz ersetzt (Rechtsinformationssystem des Bundes 2015a). Ab den 1960er-Jahren wollte der Verein »Moslemischer Sozialdienst« die Aktualisierung des Islamgesetzes von 1912 bewirken und stellte am 26. Januar 1971 einen Antrag dafür. Erst nach einigen Umformulierungen des Antrags wurde 1979 die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich als »Körperschaft öffentlichen Rechts konstituiert, der alle Anhänger des Islams angehören, welche in der Republik Österreich ihren Aufenthalt haben« (Schakfeh & Khorchide 2006, S. 286–287). Ab 1987 wurde dann die Beschränkung auf die Repräsentation der hanafitischen Muslim*innen durch den Verfassungsgerichtshof aufgehoben und von nun an war die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) die offizielle Repräsentantin der Anhänger*innen aller vier sunnitischen Rechtsschulen (hanafitisch, malikitisch, schafiitisch und hanbalitisch) sowie der schiitischen Glaubenslehre (Kreisky 2010, S. 53).

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Die Anzahl der Muslim*innen in Österreich stieg erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an. Im Jahr 1961 wurde aufgrund des Wirtschaftsbooms eine Vollbeschäftigung im Land erreicht. Daher wollte der Staat, dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland folgend, ausländische Arbeitskräfte anwerben, die für eine gewisse Zeit nach Österreich geholt werden sollten. Zu einer Vollbeschäftigung kam es unter anderem auch deshalb, weil viele Österreicher*innen nach Deutschland und in die Schweiz ausgewandert waren, um dort zu arbeiten. So wurden 1962 zunächst spanische Gastarbeiter*innen ins Land geholt. 1964 wurde ein Anwerbeabkommen zwischen Österreich und der Türkei unterzeichnet. Zwei Jahre später folgte ein Abkommen zwischen Österreich und Jugoslawien (Mayer 2009, S. 93–97). Viele der türkischen und ein Teil der jugoslawischen Arbeitskräfte, die nach Österreich kamen, waren Anhänger*innen des Islams. Erst als 1973 die Ölpreiskrise einsetzte, entschieden sich die Bundesrepublik Deutschland und Österreich für einen Anwerbestopp. Von nun an durften keine neuen Gastarbeiter*innen mehr rekrutiert werden, lediglich die bereits im Land beschäftigten ausländischen Arbeitskräfte durften bleiben (Abadan-Unat 2005, S. 73). Der Anwerbestopp verhinderte zwar, dass noch mehr Gastarbeiter*innen nach Österreich kamen, doch die Anzahl der ausländischen Bevölkerung stieg weiterhin an. Denn dank der Familienzusammenführung durften auch die Ehepartner*innen und die Kinder der ausländischen Arbeitskräfte nach Österreich kommen (Abadan-Unat 2005, S. 75–77). Wenngleich in der Literatur als Hauptgründe für den gesellschaftlichen Wandel in Österreich die Globalisierung und die Arbeitsmigration angeführt werden, tragen seit einigen Jahrzehnten auch die Flüchtlinge, die in Österreich Zuflucht suchen, einen bedeutenden Teil zur kulturellen und religiösen Vielfalt bei. Bereits die Flüchtlinge aus Bosnien, die während des Krieges Anfang der 1990er-Jahre nach Österreich auswanderten, stärkten die Präsenz der Muslim*innen in Österreich, denn von 70.000 geflüchteten Bosnier*innen waren 60.000 Muslim*innen (Aslan 2013, S. 59). Auch seit den 2000er-Jahren gibt es immer wieder Flüchtlingswellen aus mehrheitlich muslimischen Ländern. Zwischen Januar 2019 und Dezember 2019 wurden zum Beispiel insgesamt 12.886 Asylanträge in Österreich gestellt. Unter den zehn antragsstärksten Nationen waren mit insgesamt 9.983 Anträgen Afghanistan, Syrien, Somalia, Irak, Iran, Russische Föderation, Indien, Georgien, Nigeria und Pakistan (siehe Tabelle I) (BMI Asylstatistik 2019, S. 8–10). Somit stammten die meisten Flüchtlinge, die 2019 in Österreich einen Asylantrag stellten, aus Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung.

986

Durdane Kılıçdag˘ı

Tabelle I: Asylanträge von Januar bis Dezember 2019 Staatsangehörigkeit Afghanistan

Anträge 2.979

Syrien Somalia

2.708 740

Irak Iran

729 727

Russische Föderation Indien

723 371

Georgien Nigeria

339 336

Pakistan Quelle: BMI Asylstatistik 2019, S. 10.

2.

331

Die Situation der Muslim*innen in Österreich

Heutzutage bilden die Muslim*innen in Österreich eine bedeutende religiöse Minderheit in der Gesellschaft. Die Volkszählung, die 2001 durchgeführt wurde, ergab, dass damals insgesamt 338.988 Menschen islamischen Glaubens im Land lebten. Das entsprach 4,2 Prozent der Gesamtbevölkerung (Khorchide 2009, S. 28). Die größte Gruppe unter den Muslim*innen bildeten die türkischen Staatsbürger*innen mit 123.000 Personen. Den Rest bildeten mit 64.628 Personen die bosnischen Muslim*innen, 21.694 Personen aus Ex-Jugoslawien, 10.969 Personen aus Mazedonien und 3.774 Personen aus dem Iran, gefolgt von 3.541 Personen aus Ägypten und 1.065 Personen aus Tunesien. Circa 95.000 dieser Muslim*innen waren in Österreich geboren. Die meisten von ihnen, nämlich ca. ein Drittel, lebten in Wien (Aslan 2009, S. 335). Im Vergleich zur Volkszählung von 1991, wonach sich 158.776 Menschen zum Islam bekannten, war die Zahl der Muslim*innen bereits in jenen Jahren enorm gestiegen (Schakfeh & Khorchide 2006, S. 287). Wie sich die Ergebnisse der Volkszählung von 2001 nach Bundesländern verteilt gestalteten, wird in Tabelle II abgebildet. Tabelle II: Verteilung der Muslim*innen auf die Bundesländer (Volkszählung 2001) Bundesland

Anzahl der Muslim*innen Burgenland 3.993 Kärnten 10.940 Niederösterreich 48.730

Prozentanteil an der muslimischen Bevölkerung Österreichs 1,2 3,2 14,4

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Islamische Erziehung in Österreich

(Fortsetzung) Bundesland Oberösterreich Salzburg Steiermark

Anzahl der Muslim*innen 55.581 23.137 19.007

Prozentanteil an der muslimischen Bevölkerung Österreichs 16,4 6,8 5,6

Tirol Vorarlberg

27.117 29.334

8.0 8,7

Wien 121.149 Quelle: Khorchide (2009, S. 30).

35,7

In Wien lebten 2001 die meisten Muslim*innen im 10. Gemeindebezirk. An zweiter Stelle befand sich der 16. Wiener Gemeindebezirk, gefolgt vom 20. Bezirk. In diesen drei Bezirken lebten insgesamt 38.512 von 121.149 Wiener Muslim*innen. Am schwächsten vertreten waren die Muslim*innen im ersten Bezirk und im 13. Bezirk mit insgesamt 1.186 Personen (Khorchide 2009, S. 31). Einige Jahre später, nämlich 2009, wurde eine Anzahl der Muslim*innen in Österreich von 515.914 bekanntgegeben. Das entsprach 6,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Somit war Österreich schon damals das europäische Land mit dem höchsten muslimischen Bevölkerungsanteil nach Frankreich (Aslan 2015, S. 166). Da die Volkszählung 2001 die letzte war, bei der noch die Daten zur Religionszugehörigkeit erhoben werden durften, kann an den Ergebnissen der letzten Registerzählung aus dem Jahr 2011 nicht abgelesen werden, wie hoch die Anzahl der Muslim*innen in diesem Jahr tatsächlich war. Jedoch hat der Österreichische Integrationsfonds 2017 die Anzahl der Muslim*innen auf 700.000 geschätzt. Das entspricht ca. acht Prozent der österreichischen Gesamtbevölkerung (Die Presse, 13. 04. 2017). Da die Religionszugehörigkeit seit 2001 bei den Volks- bzw. Registerzählungen nicht erfasst werden, gibt es für die Jahre danach keine so genauen Analysen der Zahlen und Daten wie für 2001.

2.1

Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ)

Wie bereits erwähnt, wurde 1979 die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich als Repräsentantin aller Anhänger*innen der hanafitischen Rechtsschule gegründet. Seit 1987 vertritt sie jedoch die Interessen aller sunnitischen und schiitischen Muslim*innen in Österreich. Ihre offizielle Bezeichnung hat die Islamische Glaubensgemeinschaft durch die im Jahr 1988 erlassene Islamverordnung erhalten. Die IGGÖ ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts (Kreisky 2010, S. 53).

988

Durdane Kılıçdag˘ı

Die Aufgaben der IGGÖ werden in Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (2015, S. 3) folgendermaßen definiert: »Aufgabe der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ist es für die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu sorgen und die für diesen Zweck notwendigen Einrichtungen zu errichten, zu erhalten und zu fördern. Sie vertritt sämtliche Interessen ihrer Organe und ihrer Mitglieder in allen religiösen Belangen. Für sämtliche diese Verfassung und die Lehre der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich betreffende Angelegenheiten steht ihr das ausschließliche Vertretungsrecht gegenüber staatlichen Stellen zu.«

Alle Muslim*innen, die im Melderegister als Religionsbekenntnis »Islam« angegeben haben und keiner anderen gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft oder Bekenntnisgemeinde angehören, sind Mitglieder der IGGÖ. Sie haben das Recht, die Verwaltung der Islamischen Glaubensgemeinschaft und die Organisation ihrer einzelnen Einrichtungen mitzugestalten und mitzubestimmen. Außerdem steht es ihnen zu, alle Einrichtungen der Islamischen Glaubensgemeinschaft zu nutzen und an allen öffentlichen Veranstaltungen der IGGÖ teilzunehmen (IGGÖ Verfassung 2015, S. 4–6). Die Organe der Islamischen Glaubensgemeinschaft sind der Schurarat, der Oberste Rat, der Präsident, der Mufti, der Beratungsrat, der Imame-Rat, das Schiedsgericht und die Rechnungsprüfer. Der Schurarat ist das Legislativorgan der IGGÖ und hat die Aufgabe, Entscheidungen über Organisation und Tätigkeiten der Islamischen Glaubensgemeinschaft zu fällen. Außerdem erlässt er Vorschriften über die Gründung von Moscheen und Gebetsräumen in den einzelnen Religionsgemeinden der Bundesländer (Kreisky 2010, S. 56). Der Oberste Rat ist das oberste Verwaltungsorgan der IGGÖ und besteht aus 15 Mitgliedern, die vom Schurarat gewählt werden. Diese Mitglieder haben die Aufgabe, alle Beschlüsse zu fassen, die ihre Umsetzung zu kontrollieren und die Verwaltung und Geschäftsführung in allen islamischen Einrichtungen der einzelnen Religionsgemeinden zu überwachen. Der Vorsitzende des Obersten Rates repräsentiert auch die Islamische Glaubensgemeinschaft nach außen und ist gleichzeitig der Präsident der IGGÖ (IGGÖ Verfassung 2015, S. 8–10). Der jetzige Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft, der für eine Periode von fünf Jahren gewählt wurde, ist Ümit Vural (IGGÖ o. J.). Zu den wichtigsten Aufgaben des Obersten Rates zählt auch die Erteilung des islamischen Religionsunterrichts. In der Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft (2015, S. 8–9) wird diesbezüglich Folgendes angemerkt: »Zum Wirkungskreis des Obersten Rates gehören […] die Erteilung von Anweisungen zur Gestaltung des Religionsunterrichts, die Erlassung von Lehrplänen sowie die Bestellung und Enthebung der Fachinspektoren und Fachinspektorinnen. Diese sind zur unmittelbaren Beaufsichtigung des Religionsunterrichts berufen; die Bestellung und

Islamische Erziehung in Österreich

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Enthebung der muslimischen Religionslehrer und Religionslehrerinnen und Aufsicht über deren Tätigkeit.«

Das Fachorgan für die Glaubenslehre der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ist der Beratungsrat. In diesem sind neben anderen Funktionären auch die einzelnen Kultusgemeinden durch Repräsentant*innen, die intern gewählt werden, vertreten. Daneben gibt es noch den Imame-Rat, der das Fachorgan für die Gottesdienstlehre und Morallehre ist. Der Mufti, der vom Schurarat auf Vorschlag des Obersten Rates gewählt wird, hat sowohl im Beratungsrat als auch im Imame-Rat eine Funktion. Die letzten zwei Organe der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, nämlich das Schiedsgericht und die Rechnungsprüfer, werden ebenfalls auf Vorschlag des Obersten Rates vom Schurarat gewählt. Ersteres hat die Aufgabe der Verfassungskontrolle und Letzteres kontrolliert die gesamten Finanzen der IGGÖ (IGGÖ Verfassung 2015, S. 11–13). Die Islamische Glaubensgemeinschaft ist in allen neun Bundesländern vertreten, und zwar durch die Islamische Religionsgemeinde (IRG) Burgenland, IRG Kärnten, IRG Niederösterreich, IRG Oberösterreich, IRG Salzburg, IRG Steiermark, IRG Tirol, IRG Vorarlberg und IRG Wien. Alle muslimischen Kultusgemeinden, Moscheegemeinden und Fachvereine in diesen Religionsgemeinden sind Teile der IGGÖ (IGGÖ Verfassung 2015, S. 15–16). Zurzeit sind 28 Kultusgemeinden und 20 Fachvereine auf der Homepage der Islamischen Glaubensgemeinschaft aufgelistet. Zu den Diensten, die die IGGÖ anbietet, gehören unter anderem Extremismusprävention, islamische Seelsorge, islamische Beratungsarbeit, Ausstellung der Mitgliedsbescheinigung und der Militärbescheinigung, Registrierung von Moscheen und Fachvereinen, islamische Eheschließung, Bestätigung der Konvertierung, Frauenförderung und Zuständigkeit für HalalZertifikate (IGGÖ o. J.). Doch die vielleicht wichtigste Aufgabe der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ist die Erteilung des islamischen Religionsunterrichts an Schulen und die Bestellung der Religionslehrer*innen.

2.2

Geschichte der islamischen Erziehung in Österreich

Bereits seit dem Schuljahr 1982/83 erteilt die Islamische Glaubensgemeinschaft den islamischen Religionsunterricht in österreichischen Schulen (Khorchide 2010, S. 60). Laut Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes (Rechtsinformationssystem des Bundes. StGG Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867) tragen die Kirchen bzw. Religionsgesellschaften Sorge für den konfessionellen Religionsunterricht in den Schulen. Aus diesem Grund ist die IGGÖ dafür zuständig, für alle Schüler*innen in öffentlichen und mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schulen

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den islamischen Religionsunterricht zu organisieren, weil er ein Pflichtfach für die muslimischen Schüler*innen darstellt. Jedoch haben diese die Möglichkeit, sich in den ersten fünf Kalendertagen des neuen Schuljahres schriftlich vom Religionsunterricht abzumelden. Weil in Österreich die Religionsmündigkeit mit 14 Jahren erreicht wird, dürfen die Schüler*innen sich danach sogar selbst abmelden und benötigen nicht die Unterschrift der Erziehungsberechtigten (Khorchide 2010, S. 62–67). Bis 2011 war für den islamischen Religionsunterricht der von der Glaubensgemeinschaft verfasste Lehrplan aus dem Jahr 1983 gültig (Khorchide 2010, S. 62– 63). Am 1. September 2011 hat die IGGÖ den bis heute gültigen Lehrplan erlassen. Er umfasst alle Schulstufen, angefangen von der Volksschule bis zu den allgemeinbildenden bzw. berufsbildenden höheren Schulen. Auch die Sonderschulen wurden hier berücksichtigt. Das allgemeine Bildungsziel des islamischen Religionsunterrichts wird hier mit folgenden Worten erklärt (Rechtsinformationssystem des Bundes 2015b): »Der Unterricht versteht sich als Dienst an den Schüler*innen und Schülern sowie an der Schule und hat die Erziehung zur muslimischen Österreicherin und zum muslimischen Österreicher bzw. zu Muslimen, die ihren Lebensmittelpunkt in Österreich haben, zum Ziel. Hierbei ergibt sich eine Verbindung zur Förderung der staatsbürgerlichen Erziehung […] Der islamische Religionsunterricht gewinnt seinen Standpunkt aus seiner Orientierung an den Quellen des Islam und geht gleichzeitig von der konkreten Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler aus […] [W]ichtigstes Ziel ist allerdings die Herausbildung einer Identität, die Österreich als Heimat und den Islam als persönliches Glaubensbekenntnis anerkennt. Erst in der Hinwendung zu Österreich kann ein verantwortungsvolles, konstruktives und sinnvolles Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse und Identitäten umgesetzt werden.«

Im Schuljahr 2003/04 besuchten circa 36.000 Schüler*innen den islamischen Religionsunterricht, 2009 waren es bereits circa 50.000 Schüler*innen (Khorchide 2010, S. 61). Die Islamische Glaubensgemeinschaft hat zuletzt für das Jahr 2017 bekanntgegeben, dass circa 73.000 muslimischen Schüler*innen Religionsunterricht erteilt wurde (IGGÖ o. J.). Während die Inspektion des Religionsunterrichts bis 2003 vom Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft allein durchgeführt wurde, sind seitdem mehrere Fachinspektor*innen für diese Aufgabe zuständig (Khorchide 2010, S. 64). 2.2.1 Islamische Erziehung in der Schule und im universitären Bereich Neben dem Lehrplan ist die Islamische Glaubensgemeinschaft auch für die Lehrbücher für den islamischen Religionsunterricht zuständig. Die Schulbücher, die früher eingesetzt wurden, waren jeweils für zwei Schulstufen konzipiert und

Islamische Erziehung in Österreich

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deckten von der ersten bis zur achten Schulstufe den Lehrstoff dem damaligen Lehrplan entsprechend ab. Die ersten zwei Bücher hießen Islam in meinem Leben und wurden von Nebi Uysal verfasst. Die anderen zwei trugen den Titel Mein Leben für den Islam, der Verfasser war Baki Bilgin (Uysal 1993a, 1993b; Bilgin 1995a, 1995b). Diese wurden schließlich ab 2014 zunächst von der Schulbuchreihe Islamstunde 1–5 abgelöst (»Islamunterricht: Neue Lehrbücher für ›Heimatgefühl‹« 2014). Danach sind 2015 Islamstunde 6 und Islamstunde 7 publiziert worden. Als letztes ist Islamstunde 8 im Jahr 2017 auf den Markt gekommen. Somit sind alle früheren Schulbücher von Uysal und Bilgin durch die neue, kompetenzorientiert konzipierte Schulbuchreihe Islamstunde 1–8 ersetzt worden. Diese neuen Schulbücher sind im Laufe eines Projektes unter der Leitung von Amena Shakir im Auftrag der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich entstanden. Alle diese Schulbücher wurden vom Obersten Rat der IGGÖ genehmigt und von der Schulbuchkommission der IGGÖ begutachtet. Im Gegensatz zu den alten Schulbüchern haben die neuen Schulbücher Lehrer*innenbegleithefte, CDs, E-Books und Online-Materialien zum Ausdrucken. Erschienen sind sie im Veritas-Verlag (Shakir 2014, 2015a, 2015b, 2017). Diese Schulbücher werden im islamischen Religionsunterricht sowohl in den öffentlichen Schulen als auch in den privaten islamischen Schulen eingesetzt. Zurzeit gibt es acht islamische Privatschulen. Diese sind: Private Islamische Volksschule Wien, Isma – Private Gesamtschule Muhammad Asad, Volksschule und Kooperative Mittelschule »Al-Andalus«, Österreichisch-Ägyptische Privatschule, Al-Azhar International Schools, IRGW – Islamisches Realgymnasium Wien (Aslan 2015, S. 168) und IFS – Islamische Fachschule für soziale Bildung (Aslan 2009, S. 346). Seit September 2018 gibt es außerdem noch die Private Islamische Volksschule und Neue Mittelschule – Verein Solmit (Mein Bezirk, 08. 09. 2018). Um die zukünftigen islamischen Religionslehrer*innen auszubilden, wurde bereits im September 1998 die Islamische Religionspädagogische Akademie (IRPA) gegründet. Fünf Jahre später kam dann das Islamische Religionspädagogische Institut in Wien (IRPI) hinzu, um die Fort- und Weiterbildung der islamischen Religionslehrer*innen zu gewährleisten. Beide Bildungsinstitutionen waren einzigartig in Europa (Özdil 2011, S. 124–125). Als 2007 das aus dem Jahr 1999 stammende Akademiestudiengesetz außer Kraft gesetzt wurde, wurde die Islamische Religionspädagogische Akademie aufgelöst und als privater Studiengang nach dem Hochschulgesetz neu gegründet. Von nun an hieß die Bildungsinstitution »Privater Studiengang für das Lehramt für islamische Religion an Pflichtschulen«. Obwohl zu Beginn nur theologische Fächer in arabischer Sprache unterrichtet wurden und die Student*innen die pädagogischen Fächer an einer pädagogischen Akademie belegen mussten, wurden ab 2003 auch Fächer auf Deutsch angeboten (Khorchide 2010, S. 66). Ab 2007 wurden also islamische

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Religionslehrer*innen an der IRPA ausgebildet, die den Titel »Bachelor of Education« erhielten (Özdil 2010, S. 128). Das änderte sich, als die neue Ausbildung von Pädagog*innen zunächst in der Primarstufe im Jahr 2015 und dann in der Sekundarstufe im Jahr 2016 flächendeckend umgesetzt wurde. Im Zuge dieser neuen Lehramtsausbildung mussten die pädagogischen Hochschulen und die Universitäten eng zusammenarbeiten, um eine gemeinsame Lehramtsausbildung anbieten zu können (BMBWF o. J.). So ging die IRPA mit der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule (KPH Wien / Krems) eine Kooperation ein und schließlich wurde aus der IRPA das Institut Islamische Religion, welches heute ein Teil der KPH ist. Die Student*innen der KPH Wien / Krems, die das Bachelorstudium »Lehramt Primarstufe« betreiben, haben die Möglichkeit, ab dem fünften Semester ihres vierjährigen Studium den Schwerpunkt »Islamische Religion« zu wählen (Kirchliche Pädagogische Hochschule, Bachelorstudium Lehramt Primarstufe o. J., S. 1). Die Student*innen dürfen nach Abschluss ihres Studiums als Volksschullehrer*innen arbeiten, wobei sie zusätzlich dazu auch islamischen Religionsunterricht erteilen dürfen, wenn sie danach ein Masterstudium an der KPH absolvieren (Kirchliche Pädagogische Hochschule, Journal. Fortbildung Religion Islamisch o. J., S. 50). Tabelle III: Curriculum »Schwerpunktsetzung Islamische Religion«: Titel der Lehrveranstaltung Sı¯ra (Prophetenbiografie) Sı¯ra-Didaktik (Didaktik der Prophetenbiografie)

Semester ECTS 5. 3,0 5. 2,0

Islamische Geschichte 5. Islamische Wissenschafts- und Kulturgeschichte mit besonderer Be- 5. rücksichtigung der Kunst und Ästhetik

2,0 2,0

Spirituelle Musik im Islam Glauben – Leben – Handeln: Erfülltes Leben in Religion

5. 5.

1,0 1,5

Als Muslim*in leben in Österreich / Europa 5. Geschichte des Islams und der Muslim*innen in Österreich / Europa 5.

2,5 1,0

Islamische Jurisprudenz und ihre Quellen- und Methodenlehre 1 (Fiqh und Usu¯l al-Fiqh) ˙ Koranwissenschaften (ʿUlu¯m al-Qurʾa¯n)

6.

2,0

6.

2,0

Hadithwissenschaften (ʿUlu¯m al-Hadı¯t) ¯ ˙ Glaubenspraxis im Alltag – Form, Innerlichkeit und intrareligiöse Pluralität

6. 6.

1,0 3,0

Schiitische Glaubenspraxis im Alltag Korandidaktik und kindgerechte Vermittlung des Korans in die deutsche Sprache

6. 7.

2,0 1,5

Koranexegese (Tafsı¯r) im islamischen Religionsunterricht 1

7.

1,5

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(Fortsetzung) Titel der Lehrveranstaltung Einführung in das Koranarabische und die Kunst der Koranrezitation (Tagˇwı¯d) Rationale und diskursive islamische Theologie (Kala¯m) Islamische Glaubens- und Rechtsschulen – klassische und moderne Ansätze

Semester ECTS 7. 2,0 7. 7.

3,0 2,0

Islamische Fachdidaktik Hadithdidaktik

8. 8.

2,0 2,0

Vertiefende Koranrezitation (Tagˇwı¯d) Islamische Jurisprudenz und ihre Quellen- und Methodenlehre (Fiqh und Usu¯l al-Fiqh) im islamischen Religionsunterricht ˙ Koranexegese (Tafsı¯r) im islamischen Religionsunterricht 2 Islamische Philosophie (Falsafa / Hikma) ˙ Islamische Mystik (Tasawwuf) und Ethik (Akhla¯q) ˙

8. 8.

1,0 2,5

8. 8.

2,5 2,5

8.

2,5 50

Quelle: Kirchliche Pädagogische Hochschule, Bachelorstudium Lehramt Primarstufe (o. J., S. 2–3).

Auch die Fort- und Weiterbildung der islamischen Religionslehrer*innen wird vom Institut für Islamische Religion an der KPH Wien / Krems organisiert (Kirchliche Pädagogische Hochschule, Journal. Fortbildung Religion Islamisch o. J., S. 10). Eine religiöse Ausbildung auf tertiärem Niveau wird außerdem auch seitens der Universität Wien und der Universität Innsbruck angeboten. Das Masterstudium »Islamische Religionspädagogik« an der Universität Wien dauert vier Semester und umfasst 120 ECTS-Punkte. Nach erfolgreicher Absolvierung dieses Studiengangs wird den Student*innen der Titel »Master of Arts« verliehen und sie können als islamische Religionslehrer*innen an höheren Schulen arbeiten. Folgende Module sind zu belegen: »Koran, Denk- und Handlungsweise des Propheten«, »Glaubenslehre und Alltag im Islam«, »Islamische Ethik, Anthropologie und muslimische Lebenswelt«, »Islamische Religionspädagogik (Vertiefung) und Schulentwicklung«, »Islamische Fachdidaktik an höheren Schulen und Fachbezogenes Praktikum«, »Interreligiöses und interkulturelles Lernen«, »Europäische Kulturgeschichte und Islamische Bildung im europäischen Kontext«, »Wissenschafts- und Erkenntnistheorie in der Religionspädagogik«, »Empirische Forschungsmethoden in der Religionspädagogik« und »Muslimische Gemeindearbeit«. Auch eine Masterarbeit muss eingereicht und erfolgreich verteidigt werden (Universität Wien 2017, S. 1–6). Das Bachelorstudium »Islamisch-Theologische Studien« an der Universität Wien dauert sechs Semester und umfasst 180 ECTS-Punkte. Die Absolvent*innen

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erhalten den Titel »Bachelor of Arts« und haben die Möglichkeit, in der Gemeinde-, der Seelsorge- und Sozialarbeit oder in verschiedenen Kultur- und Bildungseinrichtungen zu arbeiten. Anders als in der IRPA dürfen sich die Student*innen hier zwischen drei Schwerpunkten entscheiden, nämlich »Islamische Religionspädagogik«, »Islamische Theologie« und »Alevitisch-Theologische Studien«. Im Laufe des Studiums müssen folgende Pflichtmodule von allen Student*innen erfolgreich belegt werden: »Studieneingangs- & Orientierungsphase«, »Sprachkompetenz«, »Muslimische Lebenswelten in Europa – Gesellschaft, Politik, Geschichte und Gegenwart«, »Religiöses Lehren und Lernen«, »Religiöse Praxis und Ästhetik«, »Islamisches Denken in seiner Vielfalt« und »Religionen und Gesellschaften im Dialog«. Daneben müssen die Studierenden je nach Schwerpunktsetzung alternative Pflichtmodule absolvieren. Zusätzlich dazu muss auch eine Bachelorarbeit verfasst werden (Universität Wien 2019, S. 1–5). Neben dem Bachelor- und dem Masterstudium wird an der Universität Wien auch ein Doktoratsstudium »Islamische Religionspädagogik« angeboten (Institut für Islamisch-Theologische Studien o. J.). An der Universität Innsbruck gibt es ebenfalls die Möglichkeit, sich für das Bachelorstudium, das Masterstudium und das Doktoratsstudium »Islamische Religionspädagogik« zu inskribieren. Darüber hinaus haben die Student*innen auch die Möglichkeit, ein Bachelor- und ein Master-Lehramtsstudium im Unterrichtsfach »Islamische Religion« zu betreiben – hierbei handelt es sich um die Ausbildung von Lehrer*innen mit Fachspezialisierung. Das Bachelor- und Masterstudium »Islamische Religionspädagogik« wird mit dem akademischen Grad »Bachelor« bzw. »Master of Arts« abgeschlossen. Die Lehramtsausbildungen verleihen den Absolvent*innen den Titel »Bachelor« bzw. »Master of Education« (Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik o. J.).

3.

Conclusio

Sowohl der Islam als auch der islamische Religionsunterricht haben in Österreich eine lange Tradition. Der Islam ist eine anerkannte Religionsgemeinschaft in diesem Land, und die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ), die den konfessionellen Religionsunterricht organisiert, die Religionslehrer*innen bestellt und für die Lehrpläne und die Schulbücher zuständig ist, ist die offizielle Repräsentantin der Anhänger*innen aller vier sunnitischen Rechtsschulen und der schiitischen Glaubenslehre. Zurzeit leben schätzungsweise 700.000 Muslim*innen in Österreich. Im Jahr 2017 besuchten circa 73.000 Schüler*innen den islamischen Religionsunterricht, welcher von zum Großteil in Österreich ausgebildeten Religionslehrer*innen

Islamische Erziehung in Österreich

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erteilt wurde bzw. wird. Die islamischen Religionslehrer*innen für die Pflichtschulen werden am »Institut Islamische Religion« in Wien ausgebildet. Diejenigen, die in allgemeinbildenden und berufsbildenden höheren Schulen unterrichten möchten, absolvieren danach das Masterstudium »Islamische Religionspädagogik« am Institut für Islamisch-Theologische Studien der Universität Wien. Des Weiteren bietet auch die Universität Innsbruck ein Bachelor- und ein Master-Lehramtsstudium im Unterrichtsfach »Islamische Religion« an.

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Anne-Laure Zwilling

Französischer Säkularismus und islamische Religionspädagogik

Zusammenfassung Heutzutage begreifen sich viele Länder als säkular. In Frankreich ist der Säkularismus (laïcité) von besonderer Bedeutung, er steht in engem Zusammenhang mit der französischen Identität. Die Religionspädagogik ist deshalb ein sensibles Thema mit viel diskutierten Teilbereichen, etwa ihr Platz in den Lehrplänen öffentlicher Schulen, die Existenz konfessioneller Schulen der Grund- und Sekundarstufe, das Tragen religiöser Symbole in öffentlichen Bildungseinrichtungen, die Ausbildung islamischer Religionsführer, die Einrichtung konfessioneller Bildungszentren und der Status bzw. das Vorhandensein islamischer Theologie in der höheren Bildung. In all diesen Bereichen haben seit den 1980erJahren tief greifende Veränderungen stattgefunden, und sie alle waren oder sind Gegenstand teils hitziger öffentlicher Debatten, ein Spiegelbild des in Frankreich andauernden Spannungsfelds zwischen der Religionsfreiheit des Einzelnen und der klar säkularen Ausrichtung der Staatsführung.

1.

Einführung

Auch wenn der Islam bereits seit vielen Jahrzehnten in Frankreich präsent ist, so hat sich doch die allgemeine Wahrnehmung der Muslim*innen und die Art ihrer sozialen Präsenz in den letzten 30 Jahren grundlegend gewandelt. Dieser Wandel hat Auswirkungen auf den islamischen Religionsunterricht, ein hochkomplexes Thema an sich. Erziehung ist generell ein sensibler Bereich, da diese sich insbesondere auch den Werten und deren Vermittlung widmet. In Frankreich, einem Land mit einer konstitutionellen Trennung von Staat und Religion, ist der Platz der Religion in der öffentlichen Erziehung ein besonders heikles Thema, das schon seit langer Zeit Gegenstand lebhaft geführter Debatten ist.

1000

2.

Anne-Laure Zwilling

Die zögerliche Durchsetzung der Religionsvielfalt in Frankreich

Die Christianisierung Frankreichs begann schon in römischer Zeit. Allerdings hat weder die langjährige Anwesenheit des Judentums noch die Ankunft der protestantischen Reform in Frankreich zu einer rechtlichen Anerkennung des Religionspluralismus geführt, und erst während der Aufklärung geriet die Vorrangstellung des Katholizismus in Frankreich ins Wanken. In mehreren Stufen wurde die rechtliche Grundlage für die freie Religionsausübung geschaffen, die bis heute in Frankreich gilt: die Trennung von Kirche und Staat. Auf Basis des Separationsgesetzes vom Januar 1905, wiederholt in der Konstitution von 1958,1 spricht man von der »Vorrangstellung des säkularen Prinzips« (le régime de laïcité). Sie umfasst die Gewissensfreiheit (einschließlich der Glaubensfreiheit und der Freiheit, den eigenen Überzeugungen öffentlich Ausdruck zu verleihen) und die politische Neutralität, ein Mittel, das im Dienst der Gewissensfreiheit steht (Peña-Ruiz 1998; Bauberot 2000; Cabanel 2007). Wahrnehmbar wurden Muslim*innen in Frankreich erstmals gegen Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Eintreffen der Nordafrikaner, die in der französischen Armee gedient hatten. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts folgte dann vor allem die Einwanderung aus dem damaligen französischen Département Algerien und den ehemaligen Protektoraten Tunesien und Marokko (Godard & Taussig 2007). Die Einwanderung setzte sich stetig fort und stieg nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich an (Blanchard, Deroo, El Yazami, Fournié & Manceron 2004, S. 213– 222). Damals folgten die Menschen dem Ruf nach billigen Arbeitskräften in einem Land, das sich im Wiederaufbau befand und in dem die Männer fehlten. Das Ende des Unabhängigkeitskrieges in Algerien machte dann im Jahr 1962 die 160.000 Algerier, die auf französischer Seite gekämpft hatte, in ihrem Heimatland zu Unerwünschten, woraufhin sie in Frankreich Zuflucht suchten. Die Zahl dieser ehemaligen Soldaten oder Harkis und ihrer Familien, die zwischen 1962 und 1968 nach Frankreich kamen, wird auf etwa 91.000 geschätzt. Man nahm sie ungern auf und brachte sie in armseligen, schlecht ausgestatteten Baracken unter, die als Übergangslösungen gedacht waren, sich aber als langfristige Unterkünfte erweisen sollten. Im Jahr 1964 unterzeichnete Frankreich mit der türkischen Regierung ein Arbeitsabkommen, das eine starke Einwanderungswelle aus der Türkei zur Folge hatte (18.000 Einwander*innen im Jahr 1970, 200.000 zu Beginn der 1990er-Jahre und 450.000 im Jahr 2005). Aus den ehemaligen französischen Kolonien und anderen Ländern mit muslimischer Mehrheit, etwa dem Senegal und Indien, 1 Artikel 1: »La France est une république indivisible, laïque, démocratique et sociale« (»Frankreich ist eine unteilbare, weltliche, demokratische und soziale Republik«).

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1001

kamen weitere Einwander*innen. Schließlich gestattete das Familienzusammenführungsgesetz von 1974 den Einwander*innen, die sich in Frankreich aufhielten, ihre Familien nachzuholen, was viele Frauen und Kinder ins Land brachte. Somit setzt sich die muslimische Bevölkerung in Frankreich hauptsächlich aus Nordafrikaner*innen (Algerier*innen, Marokkaner*innen und Tunesier*innen), Türk*innen und Afrikaner*innen aus Subsaharastaaten sowie ihren in Frankreich geborenen Kindern und Enkeln zusammen. Einen geringeren Anteil haben Menschen aus dem südlichen Asien wie etwa Tamilen und Gujarati sowie dem Nahen Osten. In der Folge der Jugoslawienkriege in den Jahren 1991–2001 gelangten Bosnier*innen und Albaner*innen nach Frankreich; in den letzten Jahren hat dagegen der Anteil von Migrant*innen aus Afrika und dem Nahen Osten zugenommen. Die bedeutende Rolle der Einwanderung in der Geschichte der Muslim*innen in Frankreich erklärt auch, weshalb das Herkunftsland – vor allem Algerien, Marokko und die Türkei – in der Organisation des Kults in Frankreich eine so wichtige Rolle spielt. Heutzutage ist die Religionsvielfalt eine akzeptierte Tatsache in einem Land, dessen Recht »keinerlei Kult anerkennt, finanziert oder subventioniert« (Loi du 9 décembre 1905 / Gesetz vom 9. Dezember 1905). Davon abgesehen ist aber die Stellung der verschiedenen Religionsgruppen sehr unterschiedlich. Der katholischen Kirche gehören zwar bald weniger als die Hälfte aller Französ*innen an, sie begreift sich allerdings im Lichte der Vergangenheit keinesfalls als Minderheit. Hinzu kommen schon seit Jahrhunderten ansässige religiöse Minderheiten wie Jüd*innen und Protestant*innen sowie die etwas neueren asiatischen Religionsgemeinschaften von geringerer Präsenz und diskreterem Auftreten. Der Islam ist zwar eine wohlbekannte, jedoch sozial wenig akzeptierte Glaubensgemeinschaft, da man die Muslim*innen oft als »Vertreter einer demokratiefeindlichen Einstellung« ansieht (Belkaïd & Schmid 2015, S. 49–53).

3.

Der Islam in Frankreich

Seit 1872 ist es in Frankreich verboten, in Volkszählungen nach der Religionszugehörigkeit zu fragen. Nur über Umfragen und Meinungserhebungen lassen sich demografische Informationen und Statistiken über die Religionsgruppen erheben. Auf der Informationsseite Eurel zur Religion kann eine Liste mit Fakten zu Religionsfragen eingesehen werden (www.eurel.info). Somit basieren alle verfügbaren Zahlen über Muslim*innen in Frankreich auf Schätzungen und vermitteln nicht mehr als eine Idee von den großen Tendenzen (vgl. Godard 2015). Auf Grundlage der vollständigsten und neuesten Umfrage, Trajectoires et origines (»Wege und Ursprünge«), wird geschätzt, dass in Frankreich etwa

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2,4 Millionen Muslim*innen zwischen 18 und 60 Jahren leben (Simon & Tiberj 2013). Ausgehend von dieser Umfrage legt das nationale Institut für demografische Studien die hypothetische Zahl von 4,15 Millionen Muslim*innen vor, die sich aus einer Niedrigschätzung von 3,98 und einer Höchstschätzung von 4,27 Millionen errechnet. Die muslimische Gemeinschaft Frankreichs gilt als die wichtigste in Europa. Insgesamt ist innerhalb dieser Gemeinschaft der Altersdurchschnitt niedriger als der französische Mittelwert. Da die Einwanderung der Muslim*innen vor allem arbeitsorientiert war, konzentriert sich deren Anwesenheit auf die alten Bergbau- und Industriegebiete, etwa im Norden und im Oberelsass, sowie auf das Mittelmeergebiet mit seiner Nähe zu Nordafrika. Die ursprünglichen Einwander*innen aus der Türkei konzentrieren sich auf Paris und auf den Osten und Norden Frankreichs: Elsass-Lothringen (Akgönül, Maffessoli, Koc & De Tapia 2009) und Nord-Pas-de-Calais, vor allem die Städte Calais, Lille und Roubaix (IFOP 2011). Die muslimische Bevölkerung lebt hauptsächlich im städtischen Raum und dort vor allem in sozial benachteiligten Vierteln, in den großen Stadtzentren und den Vororten. In Paris sind sie stark vertreten, insbesondere in Seine-Saint-Denis und dem Val-de-Marne.

3.1

Der juristische Platz des Islams im französischen Bildungswesen

Im säkularen französischen Staatswesen wird die Schule als »kostenlos, weltlich (laïque) und verpflichtend« für die Altersstufen von sechs bis 16 Jahren definiert. Das Bildungssystem ist zentralisiert, die Einrichtungen unterstehen dem nationalen Bildungsministerium, das die Aufgabe hat, die Vorgaben der Regierung in den Unterrichtseinrichtungen durchzusetzen. Die Schulpflicht beginnt mit sechs Jahren, jedoch sieht ein Gesetzentwurf vor, sie auf drei Jahre abzusenken. Die école maternelle (entspricht etwa dem deutschen Kindergarten, sie betreut Kinder von drei bis sechs Jahren) und die Grundschule (école élémentaire, Alter von sechs bis zehn) bilden zusammen die Primarschule (école primaire). Die sogenannte »sekundäre Schule« zwischen der primären und der höheren (supérieure) besteht aus dem vierjährigen collègue und dem dreijährigen lycée (das etwa der Oberstufe des deutschen Gymnasiums entspricht). Am Ende steht der Schulabschluss der Sekundarstufe, der etwa dem deutschen Abitur entspricht: das baccalauréat. Religionsunterricht ist in Frankreich ein komplexes und befrachtetes Thema. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts leitete die Regierung der Republik im Staat einen Prozess fortschreitender Laisierung in der Bildung ein. Erst wurde dem Weltklerus, dann auch den monastischen Gemeinschaften das Recht entzogen, Unterricht zu erteilen oder Bildungseinrichtungen zu betreiben. Vertreter*innen

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der Religion wurden auch aus unterschiedlichen bildungsberatenden Funktionen ausgeschlossen, Kruzifixe von den Wänden der Schulen entfernt. Das Bildungswesen der Republik definierte sich demnach durch die Distanz zu und die Emanzipation von der bis dahin vorherrschenden religiösen Einrichtung: der katholischen Kirche. Die Konstitution von 1958 ratifizierte dieses Prinzip und präzisierte, dass »das konstitutionelle Prinzip der Säkularität (laïcité) den öffentlichen Kräften nicht verbietet, Religionsunterricht im Rahmen der öffentlichen Bildungseinrichtungen anzubieten« (le principe constitutionnel de laïcité n’interdit pas aux pouvoirs publics de faciliter l’éducation religieuse dans le cadre du service public de l’enseignement). Das Gesetz vom 31. Dezember hält fest, dass »der Staat alle Mittel ausschöpfe, um Schülern der öffentlichen Bildungseinrichtungen die freie Religionsausübung und religiöse Bildung zu ermöglichen« (l’État prend toutes dispositions utiles pour assurer aux élèves de l’enseignement public la liberté des cultes et de l’instruction religieuse) (vgl. Messner 2011). Die weltlichen Organisationsformen bilden sich heraus: Seit Beginn der 1960er-Jahre änderte sich der Rahmen der staatlichen laïcité, indem die öffentliche Hand wieder die Unterstützung von Religionsgruppen in indirekter Form zuließ, bereitwilliger auf einzelne Anerkennungsforderungen einging und zunehmend konfessionelle Einrichtungen in die öffentlichen Dienste einschloss, in beratender oder sogar in ausführender Funktion. Dieser Wandel im Verhältnis zwischen privater und öffentlicher Sphäre hat natürlich auch Einfluss auf den Bereich der Schulen innerhalb des Systems der laïcité. Neue Möglichkeiten tun sich auf, etwa die öffentliche Finanzierung von Privatschulen2 sowie ein gelockerter Zugang zum Lehrberuf bei Aufgabe der früheren extremen Reglementierungen.3 Mit Entschluss vom 23. November 1977 nennt das Verfassungsgericht die Unterrichtsfreiheit ein »von den Gesetzen der Republik anerkanntes Grundprinzip« (principe fondamental reconnu par les lois de la République). Seit den 1980er-Jahren wandelt sich die Einstellung zur Religion im allgemeinen Verständnis. Zugrunde liegt die Weiterentwicklung des kollektiven Verständnisses, das dem Prinzip der Privatisierung des Glaubens, bis dahin Fundament der grundlegenden säkularen Ausrichtung, weniger Bedeutung beimisst. Die Anwesenheit des Islams hat dazu beigetragen. In der französischen Gesellschaft spielt er eine wachsende Rolle, jedoch ist die Glaubensausübung fest an die einzelne Person gebunden und deshalb umso schwieriger in einer strikten Scheidung zwischen öffentlichem und Privatleben umsetzbar. In den letzten 2 Gesetz von Debré, 31. Dezember 1959, demzufolge auch geistliche Einrichtungen Unterricht der Grundstufe anbieten dürfen. 3 Der Staatsrat räumte Geistlichen die Möglichkeit ein, an lycées oder collèges zu lehren (Stellungnahme vom 21. September 1972). Dem war ein Urteil des Verwaltungsgerichts Paris vorangegangen (Spagnol 1971).

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Jahrzehnten hat sich die Stellung von Privatschulen stark verändert. Ebenfalls muss das Bild vom Islam in der allgemeinen Schulbildung, etwa in Schulbüchern, infrage gestellt werden, denn dieses ist noch stärker von Stereotypen bestimmt als das aller anderen Religionen (Avon, Saint-Martin & Tolan 2018; Nasr 2001).

4.

Die Religion in französischen Schulen

An den Schulen Frankreichs findet die Diskussion über Religion, einschließlich der des Islams (Berglund 2018), auf zwei Ebenen statt: einerseits in Bezug auf den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und andererseits hinsichtlich der Frage nach Existenz und Status konfessioneller Schulen im Bildungswesen. Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ist schnell erklärt: Es gibt ihn nicht. Proselytismus, also Bekehrung bzw. Missionierung, ist verboten. Seit 2013 muss in sämtlichen Schulen eine Laizitäts-Satzung »für alle sichtbar« angebracht werden. In dieser wird das Prinzip der Laizität in 15 Punkten aufgelistet (Circulaire 2013). Öffentliche Schulbildung muss »in gleicher Achtung aller Glaubensrichtungen« stattfinden (dans un égal respect de toutes les croyances) (Code de l’éducation). Ein Unterricht über religiöse Fakten wird erteilt, dessen Inhalt und Ausdrucksform regelmäßig zu Diskussionen führt (Zwilling 2016). Das laizistische Rechtssystem in Frankreich lässt die Existenz öffentlicher konfessioneller Schulen nicht zu. Die Mehrheit der Grundschulen in Frankreich ist öffentlich, demnach nicht konfessionell, ihre Finanzierung und Trägerschaft unterliegt dem Staat. Die Lehrer*innen werden von der Regierung ausgebildet und ausgewählt, und die Lehrpläne unterliegen der Bestimmung des nationalen Bildungsministeriums. Alle konfessionellen Schulen sind Privatschulen. Diese können zwei Typen angehören: Entweder können sie eine Vertragsbindung mit dem Staat eingehen, der ihnen Finanzhilfen zukommen lässt und als Gegenleistung die Einhaltung bestimmter Regeln einfordert, oder sie können ohne diesen Vertrag arbeiten. Schulen dieses letzteren Typs wiesen im Jahr 2017 lediglich 74.000 Lernende auf, was einen sehr geringen Anteil der insgesamt zwölf Millionen Lernenden in Frankreich darstellt. Die Anzahl dieser Schulen nimmt jedoch stetig zu: 150 wurden im Jahr 2017 neu eröffnet, im Jahr zuvor lediglich 30 (Philippe 2018). 300 der 1.300 Schulen ohne Vertrag mit dem Staat sind konfessionell: rund 160 katholisch, 50 jüdisch, 40 muslimisch und 30 protestantisch. Das Gesetz wurde im Jahr 2018 modifiziert und bietet seither einen einfacheren, aber strengeren Rahmen für die Einrichtung dieses Schultyps (Loi n° 2018–266).

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4.1

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Der Islam in der Grundschule

Es gibt rund 40 islamische Grundschulen in Frankreich, zudem befinden sich etwa 20 neue Grundschulen islamischer Konfessionalität in Planung. Die meisten von ihnen sind Privatschulen ohne Vertrag mit dem Staat (Al-Kanz 2014). In ihnen lernen etwa 2.000 Kinder. 80 Prozent der in islamischen Schulen lernenden Schüler*innen gehören vier Bezirken (secteurs académiques) an: Versailles (1.443 Lernende), Lyon (802), Lille (727) und Créteil (bei Paris, 611). Zwei Schulen stehen in der Trägerschaft der Bewegung von Fethullah Gülen (Villeneuve-Saint-Georges und Straßburg), sie haben etwa 300 Schüler*innen (Godard 2016, S. 309). Der Staat verzeichnet einen steigenden Anteil von Schüler*innen, die keine Schule besuchen. Das ist ein Hinweis auf die Existenz nichtoffizieller und nicht deklarierter Schulen, von denen in jüngster Zeit auch einige entdeckt wurden (Laurent 2019). Diesbezüglich muss hinzugefügt werden, dass es in Frankreich zwar eine Bildungsverpflichtung gibt, aber keine Pflicht, eine öffentliche Schule zu besuchen. Die Eltern haben nach wie vor das Recht, ihre Kinder entweder auf Privatschulen zu schicken oder auf andere Möglichkeiten, wie etwa Fern- oder Heimunterricht, zurückzugreifen. Dabei müssen aber einige Regeln eingehalten werden, etwa was den Lehrplan oder die Qualifikation der Lehrenden anbelangt. Ist von Kindern die Rede, die keine Schule besuchen (enfants non scolarisés), dann sind Kinder gemeint, bei denen diese Regeln nicht eingehalten werden. Nun plant die Regierung für die Zukunft eindeutig einen strengeren Kurs hinsichtlich privater Bildungseinrichtungen. Dies ist zum Beispiel an der jüngst erfolgten Schließung einer Schule ohne Vertrag mit dem Staat zu erkennen, die im Bezirk Grenoble (Isère) im Jahr 2016 gegründet worden war, und die vom staatlichen Bildungsminister Jean-Michel Blanquer als »salafistisch motiviert« beschrieben wurde. Im vergangenen Februar ordnete die Strafkammer von Grenoble die endgültige Schließung dieser Schule an, die »Unterrichtsinhalte verbreitete, die dem Recht des Kindes auf Bildung widersprachen«. Ihr wurde vorgeworfen, sich nicht an den Lehrplan des Ministeriums zu halten und eine Kontrolle durch eine Schulinspektion im Dezember 2017 abgelehnt zu haben (Dincher 2019).

4.2

Die sekundäre Bildungsstufe: collège und lycée

Eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung (Bertelsmann-Stiftung 2017) ergab, dass nur elf Prozent der in Frankreich geborenen Muslim*innen vor dem Alter von 17 Jahren die Schule verlassen. Das bedeutet, dass Muslim*innen in der schulischen Sekundarstufe keinesfalls unterrepräsentiert sind. Sie besuchen

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überwiegend öffentliche Schulen, aber es gibt auch fünf private Bildungseinrichtungen auf Sekundarstufenniveau, die einen Vertrag mit dem Staat unterzeichnet haben: das Collège Averroès in Lille, die Al-Kindi-Einrichtung im Vorortbereich von Lyon, das Collège Ibn Khaldun in Marseille und die Einrichtung Education et savoir in Vitry-sur-Seine in der Region um Paris (Graveleau 2015). Des Weiteren gibt es islamische Bildungseinrichtungen der Sekundarstufe, welche keinen Vertrag mit dem Staat haben: La réussite in Aubervilliers (2001 eröffnet) und Montigny-le-Bretonneux (seit 2009), die sich im Jahr 2014 erfolglos um einen Vertrag mit dem Staat bemüht hat (Le Bars 2014). Die Fethullah-GülenBewegung eröffnete 2010 in der Region um Paris das private Collège Educ’active (in Villeneuve-la-Garenne). In Toulouse wurde 2016 das Collège Alif eröffnet. Insgesamt besuchen ungefähr 4.000 bis 5.000 Kinder und Jugendliche islamische Schulen der Sekundarstufe. 4.2.1 Verschleierung in der Schule Von französischen Bildungseinrichtungen wird erwartet, dass sie die soziale Integration von Schüler*innen fördern sowie Vielfalt und Einheit zum Ausdruck bringen. Das Gesetz von Jospin (10. Juli 1989) fordert, dass »den Lernenden unter Respektierung von Pluralität und Neutralität freier Zugang zu Information und freien Ausdrucksmöglichkeiten« ermöglicht werden muss (les élèves disposent, dans le respect du pluralisme et du principe de neutralité, de la liberté d’information et de la liberté d’expression, Art. 10). Im gleichen Jahr gestand der Staatsrat den Lernenden zu, »Zeichen, mit denen sie ihre Zugehörigkeit zu einer Religion ausdrücken«, zu tragen (le port, par les élèves, de signes par lesquels ils entendent manifester leur appartenance à une religion), unter der Voraussetzung, dass dies nicht mit Bekehrungsversuchen einhergehe, den Unterricht behindere oder an sich mit den Prinzipien der Laizität unvereinbar sei (incompatible avec la laïcité).4 Ein Rundschreiben erinnert aber daran, dass die »Lehrenden durch ihr ausgesprochenes oder unausgesprochenes Vorbild unbedingt eine philosophisch, religiös oder politisch motivierte Einstellung vermeiden müssen, die die Gewissensfreiheit der Schüler beeinträchtigen könnte«5. Das Prinzip der Neutralität in den Lehrplänen müsse für alle Schüler*innen, unabhängig von ihrem Glauben, gelten, und die Freiheit von Ausdruck und Be-

4 Stellungnahme vom 27. November 1989. 5 »[…] les enseignants, du fait de l’exemple qu’ils donnent explicitement ou implicitement à leurs élèves, doivent impérativement éviter toute marque distinctive de nature philosophique, religieuse ou politique qui porte atteinte à la liberté de conscience des enfants […]« (Rundschreiben des Erziehungsministers vom 12. Dezember 1989, JO, 15. Dez. 1989).

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kenntnis des eigenen Glaubens dürfe nicht Vorrang vor der Anwesenheitspflicht haben.6 Zur selben Zeit machte sich in Frankreich in muslimischen Kreisen ein gewisser Diskurs bemerkbar, der sich um mehr öffentliche Wahrnehmung des Islams bemühte (Roy 2005). Er gelangte in Form der »Kopftuchaffäre« an die Schulen, wo junge Collège-Schülerinnen mit dem Tragen des higˇa¯b eine lan˙ desweite Polemik entfachten (vgl. Lorcerie 2005). Im Jahr 2004 legte das »Gesetz zum Tragen deutlich sichtbarer religiöser Zeichen in der Schule« (Loi n°2004228) den Streit bei, indem es das Tragen deutlich sichtbarer Zeichen in Schulen der Grund- und Sekundarstufe verbot. Dieses Verbot bezog sich auf Lernende und Lehrende, nicht aber auf Eltern, wenn sie etwa einen Schulausflug begleiteten. Es folgte im Februar 2018 ein Bericht des Präfekten (préfet) Gilles Clavreul (Clavreul 2018), des Mitbegründers der linksorientierten Bewegung Printemps républicain, in dem belegt wird, dass die Prinzipien der laïcité an vielen Stellen in Frankreich nicht eingehalten werden, vor allem im Umfeld von Schulen und kulturellen sowie Sportveranstaltungen. Das Bildungsministerium richtete im April 2018 eine Internetseite ein, auf der Beschwerden über Verstöße gegen das Gebot der laïcité eingereicht werden konnten. Hier gingen während des Schuljahrs 2018/2019 täglich zwischen 15 und 20 Meldungen ein. Darin ging es um Fragen der Bekleidung oder »unangemessene religiöse Bemerkungen« (Battaglia 2018). Das Ministerium legt Wert auf die Feststellung, dass mehrere Glaubensrichtungen betroffen waren, nicht nur der Islam. Die zuständige staatliche Einrichtung Comité national d’action laïque (CNAL) gab im Juli 2018 die Ergebnisse einer landesweiten Umfrage bekannt, der zufolge einer von sechs Lehrenden bestätigte, dass es regelmäßige oder gelegentliche Verstöße gegen das Gesetz von 2004 bezüglich der religiösen Symbole gebe, dass aber das Gespräch mit den betreffenden Schüler*innen in der Regel, nämlich in 97 Prozent der Fälle, ausreiche, um die Konflikte zu beheben (IFOP 2018). 4.2.2 Die höhere Bildungsstufe (enseignement supérieur) In Frankreich haben sich die öffentliche Wahrnehmung der Muslim*innen und der dem Islam zugestandene Status in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt (vgl. Boissière 2007). Die Fachleute sind sich einig, dass die verstärkte öffentliche Präsenz des Islams in den 1990er-Jahren ihren Anfang nahm, eine Präsenz, die einherging mit der Frage nach dessen Repräsentation in den in Frankreich gelehrten Unterrichtsinhalten, vor allem jenen der Oberstufe (Zwilling 2014). Diese Frage wurde unmittelbar zusammengebracht mit der nach der Ausbildung der 6 Staatsrat, Stellungnahme vom 27. November 1989.

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für die Religionsvermittlung Verantwortlichen, was eine Vielzahl politischer Herausforderungen und sozialer Spannungen mit sich brachte, die sowohl den aktuellen Stand als auch die Zukunft des Islams in der universitären Lehre belasten. Es ist in der Tat in einer säkularen Republik problematisch, wenn sich Vertreter*innen der Behörden mit der Organisation der Ausbildung von religiösem Führungspersonal beschäftigen. Diese Schwierigkeiten werden noch erhöht, wenn es um die Frage geht, wie, und ob überhaupt, diese Ausbildung mit öffentlichen Mitteln finanziert werden soll. Es kommt hinzu, dass es ja nicht nur darum geht, ob die öffentliche Hand die Fähigkeit und die Berechtigung hat, Art und Niveau der Ausbildung zu bestimmen, welche die Führungsgruppe einer Religionsgemeinschaft braucht, sondern in weitaus triftigerem Maße auch darum, wer die Inhalte und Ausrichtung – vor allem theologischer Art – dieser Ausbildungszweige festlegen soll, und nach welchen Kriterien dies zu geschehen hat. Schließlich stellt sich die Frage, wie in diesem Zusammenhang der Islam erfasst werden soll. Wenn man Imame in Frankreich ausbilden will, stülpt man dann nicht dem Islam eine Vorstellung von Religionsgemeinschaften und ihrer Leitung über, die – weil vom Katholizismus abgeleitet – für den Islam nicht unbedingt zweckmäßig ist? Diese Fragen bilden den Hintergrund, vor dem sich zwei Richtungen der höheren Ausbildung im Islam abspielen: die Ausbildung einer muslimischen Führungsgruppe und die Lehre vom Islam an den Universitäten. Diese beiden Aspekte müssen gut auseinandergehalten werden. Oft werden sie aus Nachlässigkeit oder auch mit gezielter Absicht miteinander vermischt.

4.3

Die Universität und die Ausbildung von Imamen

Auch wenn es manchen nicht angemessen erscheinen mag, beschäftigt sich der Staat schon seit einigen Jahren mit der Ausbildung muslimischer Religionsverantwortlicher. Das geschieht in gleichem Maße aus Sorge um die Kontrolle dieser Religion wie aus dem Wunsch, die Einflüsse fremder Staaten zu begrenzen (Jouanneau 2013). Im Jahr 2003 bekräftigte der Innenminister, dass »Imame in Frankreich ausgebildet sein und unser Land samt seinen Traditionen und Gesetzen kennen müssen«7. Ungeachtet dessen weist das Gesetz vom 9. Dezember 1905 die Ausbildung von Religionsführer*innen ausschließlich dem Zuständigkeitsbereich der Religionsgemeinschaften zu. Die öffentlichen Behörden haben aber 2003 nahegelegt, einen Universitätsstudiengang (DU: diplôme universitaire; entspricht dem deutschen Bachelor7 »Les imams doivent être formés en France, connaitre notre pays, ses traditions, ses lois« (Rede vor dem Conseil des imams, 29. 3. 2003).

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studiengang) einzurichten – eine zivile und staatsbürgerliche Ausbildung, die das Erlernen der französischen Sprache und die Kenntnis der staatlichen Gesetze in den Mittelpunkt stellt. Man stellte sich eine zweijährige Ausbildung vor, die an den üblichen Seminaren an Universitäten angeboten werden sollte, jedoch wurde das Projekt nach einer Weigerung der Universität Sorbonne-Paris 4 aufgegeben. Dieses katholische Institut in Paris war dann im Jahr 2005 das erste, das die Einrichtung eines Studiengangs »Interkulturalität, Laizismus, Religionen« (Interculturalité, laïcité, religions8) ankündigte, welcher 2008 begann. Die Große Moschee von Paris, die von Anbeginn in das Projekt eingebunden war, ist der wichtigste Gesprächspartner – der Großteil der Studierenden kommt von dort –, sie mahnte aber bereits 2007 an, dass die muslimische Theologie ihre alleinige Zuständigkeit bleibt.9 Zu Beginn des Studienjahrs 2009 schickte der Verband türkischer Muslime in Frankreich (Comité de coordination des musulmans turcs de France) ebenfalls Studierende in diesen Studiengang. Die Ausbildung mit 400 auf ein Jahr verteilten Unterrichtsstunden weist vier Schwerpunkte auf: allgemeine Kultur (Werte der Republik, Institutionen u. a.), Recht (französisches Recht, Menschenrechte, Rechte der Religionen u. a.), religiöse Kultur (Religionen, Laizität und Säkularisation, Religion und Philosophie u. a.) sowie interkulturelle Studien. Andere Kurse für die Ausbildung islamischer Religionsführer werden sukzessive eingerichtet, obwohl in Frankreich die Religionszugehörigkeit prinzipiell weder bei der Studienplatzbewerbung noch bei der Einschreibung eine Rolle spielen darf. Keine Ausbildung, gleich welcher Art, darf ausschließlich für Mitglieder oder Führungskräfte einer bestimmten Glaubensgemeinschaft zugänglich sein. Ein Studiengang »Recht, Gesellschaft, Religionspluralität« (Droit, société, et pluralité des religions) (Droit 2020) wurde im Dezember 2011 an der Juristischen Fakultät der Universität Straßburg eröffnet, ein Studiengang über islamisches Finanzwesen existierte zu der Zeit bereits an der Wirtschaftshochschule (Ecole de management). Der Staat unterstützt diese einjährigen, allgemein zugänglichen, aber überwiegend der Ausbildung von Imamen zugedachten Studiengänge mit Finanzmitteln. Im September 2012 wurde der Studiengang zu islamischem Finanzwesen an der Wirtschaftshochschule Straßburg durch einen allgemein zugänglichen Weiterbildungsstudiengang mit der Bezeichnung Executive MBA en Finance Islamique ersetzt. Im September 2012 8 Das Programm ist hier einsehbar: https://www.icp.fr/formations/diplomes/diplomes-universi taires/diplome-universitaire-interculturalite-laicite-religions-2226.kjsp?RH=11429522327430 -145. Zugegriffen: 21. Mai 2020. 9 Dalil Boubakeur bestätigt, dass Unterricht vornehmlich in einer Umgebung (der Moschee) organisiert werden solle, unter Bevorzugung »einer dauerhaften Versenkung im religiösen Milieu, die die persönliche Entwicklung des Lernenden bestimmt« (une permanente immersion dans le milieu religieux (qui) va déterminer l’évolution personnelle de l’étudiant) (vgl. IISMM & EHESS 2010).

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wurde auch ein neuer Studiengang in Lyon eingerichtet, den das Katholische Institut in Lyon, das Französische Institut für muslimische Zivilisation und die Universität von Lyon 3 zusammen anbieten (Trecourt 2012). Dieser Studiengang richtet sich an Imame und muslimische Amtsträger und orientiert sich an den Prinzipien des Laizismus und den Gesetzen der Französischen Republik. Er bietet die Schwerpunkte »Laizitätskunde« (Connaissance de la laïcité) und »Religion, Religionsfreiheit und Laizität« (Religion, liberté religieuse et laïcité). Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen, denn Universitätsstudiengänge dieser Art werden heute an vielen französischen Universitäten angeboten (Zwilling 2019): in Aix-en-Provence am Institut d’études politiques, in Bordeaux, Lille 2, Lyon (Lyon 3 sowie der Katholischen Universität), an der Université de Lorraine, der Universität von Nantes, in Montpellier an der Faculté de droit et de sciences politiques, am Katholischen Institut von Paris, an den Pariser Universitäten Paris 1 (Sorbonne) und Paris Sud, in Straßburg an der Juristischen und der Theologischen Fakultät sowie in Toulouse 1 Capitole. Seit 2017 sieht ein Erlass vor, dass religiöse Amtsträger*innen, die nach dem 1. Oktober 2017 bestellt wurden, einen dieser Universitätsabschlüsse entweder besitzen oder im Verlauf der auf ihre Berufung folgenden zwei Jahre erwerben müssen (Décret n° 2017-756). Somit scheint die Existenz dieser Ausbildungszweige auf Dauer festgeschrieben zu sein. Eine vollständige Liste der Universitätsdiplome, die zur Tätigkeit als Seelsorger*in befugen, ist im Internet verfügbar (Arrêté du 31 juillet 2017). Nichtsdestotrotz stellte im Jahr 2010 ein Bericht über die Lehre des Islams an Koranschulen sowie islamischen Bildungseinrichten und Privatschulen in der muslimischen Gesellschaft in Frankreich eine Diskrepanz der Bedürfnisse fest, aufgrund derer die privaten Bildungseinrichtungen zu einer Gratwanderung zwischen der Ausbildung von Imamen und der Lehre vom Islam für eine breite Öffentlichkeit ansetzten (IISMM & EHESS 2010). Diese Basisumfrage zeigte die Kluft zwischen der erklärten Absicht dieser Institutionen, Imame und religiöses Führungspersonal auszubilden, und den Erwartungen der Studierenden, die sich eher über den Islam informieren und ihr Wissen über ihre eigene Religion vertiefen wollten, ohne sich auf Dauer in die Leitung ihrer Gemeinschaften einzubringen. Gleichgültig, ob es sich um einen Master in Islamologie oder einen DUStudiengang handelt, das Resultat ist das gleiche: Diese Studiengänge werden nicht von Imamen belegt, denen die französische Sprache und die Grundlagen der französischen Verwaltungsinstrumente beigebracht werden müssen. Einerseits besteht heute in Frankreich die muslimische Führungsschicht im Allgemeinen nicht etwa aus Imamen, sondern aus den Verantwortlichen der Moscheen (Frégosi 2010). Es handelt sich dabei um Führungskräfte, bei welchen der Anteil der in Frankreich Geborenen oder Integrierten zunimmt (Tuot 2013) und die oft ein höheres Bildungsniveau aufweisen. Ein DU-Studiengang entspricht

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nicht ihren Ausbildungsanforderungen. Zudem tritt gerade eine jüngere, französischsprachige Generation von Imamen auf, die bereits einen wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Abschluss besitzen. Diese Imame, selten in Vollzeitanstellung bei den Moscheen, werden von ihrem Familien- und Berufsleben zu stark beansprucht, um die Zeit für ein Studium aufbringen zu können (Maillard 2011). Und schließlich findet die von den Universitäten angebotene Ausbildung nicht die volle Unterstützung der Religionsgruppen.10 Im Gegenteil wird vonseiten einiger Muslim*innen ein deutlicher Protest gegen die von staatlicher Seite vorgeschriebene Ausbildung der Imame laut, etwa von Ahmed Miktar, dem Präsidenten des Verbands der Imame in Frankreich, oder von Nabil Ennasri, dem Präsidenten des Verbands der Muslime in Frankreich, nach dessen Ansicht »es dem Staat nicht zusteht, sich in die Ausbildung der Kultträger einzumischen, da das dem Geist und dem Wortlaut des Laizismusgesetzes widerspricht« (Zwilling 2014). 4.3.1 Eine islamisch-theologische Fakultät an öffentlichen Universitäten? Die Ausbildung von Imamen ist freilich nicht das einzige Ziel islamischer Studiengänge an öffentlichen Universitäten in Frankreich (Zwilling 2014). Es stellt sich zugleich die Frage nach dem Unterrichten des Islams an den Hochschulen in einem Land, das auf dem Gebiet der Islamforschung eine lange Tradition vorweisen kann. Schon seit Langem bemühen sich Forscher*innen und Universitätsmitarbeiter*innen um die Einrichtung von Forschungsanstalten zu Islamfragen an französischen Universitäten. Ihnen zufolge verdienen die islamische Theologie im Allgemeinen und das Studium von Texten und der Geschichte des Islams, seiner Lehre, seiner Bandbreite und seiner Entwicklung ebenfalls einen Platz an der Universität. Das Gebot der Laizität führt dazu, dass in Frankreich prinzipiell keine Einrichtungen existieren, in denen Theologie auf höherem Bildungsniveau gelehrt wird. Infolge historischer Umstände gibt es allerdings in der Region AlsaceMoselle ein regionales Gesetz, das öffentlich finanzierte theologische Fakultäten an der Universität zulässt. Seit den 1970er-Jahren wurde folglich parallel zu den existierenden Fakultäten für katholische und protestantische Theologie in Straßburg von einer Fakultät für islamische Theologie gesprochen, allerdings zunächst ohne Ergebnis (Messner 2013). Gegen Ende der 1980er-Jahre suchten der Islamologe Mohamed 10 Diese Beobachtung wird von vielen Ländern in Europa geteilt, vgl. für Frankreich: Curtit & Zwilling (2009b); für Belgien: El Battui, Nahavandi & Kanmaz (2004); für die Niederlande: Imams in Nederland: wie leidt ze op? (2003); für die Schweiz: Bochinger (2009); für das französischsprachige Belgien: Brebant & Schreiber (2006).

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Arkoun und Etienne Trocmé, Professor für protestantische Theologie, das Gespräch mit dem Innenministerium, dem Bildungsministerium und dem Präsidenten, um einen Studiengang für islamische Theologie an französischen Universitäten einzurichten. Das Projekt wurde aber stark beeinträchtigt durch die zwischenzeitlich aufgekommene, heftig geführte öffentliche Debatte über die Verschleierung einiger Schülerinnen in Creil. Ebenso fiel ein Projekt des Instituts für Islamologie, das in den 1990er-Jahren an der Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris hätte eingerichtet werden sollen (Bauberot 2010), der allgemeinen Großwetterlage der Zeit zum Opfer. Der Emeritus der Protestantisch-Theologischen Fakultät in Straßburg, Étienne Trocmé, veröffentlichte 1996 auf Anfrage des Präsidiums der Straßburger Université des sciences humaines den »TrocméBericht«11 (Trocme 1996). Dort formuliert er präzise Empfehlungen für die Einrichtung eines islamisch-theologischen Zweigs an der Universität. Jedoch kam das Erziehungsministerium dem nicht nach, zweifelsohne aus Angst vor einer neuerlichen Laizismusdebatte im Zusammenhang mit den regionalen Gesetzen (Ferreiro 2011). 1997 verlief auch der Vorstoß des Innenministers Jean-Pierre Chevènement ergebnislos, am Institut National des Langues et Civilisations Orientales einen Zweig »zur Ausbildung zeitgemäßer muslimischer Führungskräfte« einzurichten. Die Universität von Straßburg bekundet weiterhin ihre Unterstützung eines solchen Projekts (Commission Scientifique 1997), das auch von muslimischen Gruppen in Straßburg, dem Regionalrat (Conseil régional d’Alsace) und dem Rektorat der Académie von Straßburg befürwortet wird (Commission scientifique 1997), jedoch ebenfalls ohne Erfolg. Im Jahr 2000 sprach sich ein Bericht des Hohen Integrationsrats für die Errichtung eines Zentrums für islamische Theologie aus (Haut Conseil à l’intégration 2000). Der Innenminister bekräftigte, dass 80 Prozent der 1.200 Imame in Frankreich eine andere Nationalität hätten und ein gutes Drittel von ihnen der französischen Sprache entweder nicht oder nur mangelhaft mächtig sei (Frégosi 2005). Die Notwendigkeit einer Ausbildung für Imame wird auch von der muslimischen Gemeinschaft ausgedrückt, die allgemein ein höheres Bildungs- und Ausbildungsniveau aufweist und das Gleiche von ihren Imamen erwartet. Dies wird auch von den Behörden unterstützt, die über die Kontrolle der islamischen Führungsschicht auch eine Kontrolle über den Islam selbst erreichen möchten (Frégosi 2010). Laut Frank Peter basiert diese Übereinkunft auf der Vorstellung, der Islam in Frankreich sei eine heterogene Erscheinung, was die grundlegende Absicht nach sich ziehe, einen »französischen Islam« zu konstruieren (Peter 2006). Demzufolge gelte es, Imame à la française auszubilden, von denen man 11 Dieser Bericht wurde im Courrier du GERI, 1–2, Winter 1998, (S. 107–115) veröffentlicht und ist online verfügbar unter http://stehly.chez-alice.fr/nouvelle19.htm (zugegriffen: 3. Februar 2013).

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dann positive Gegenleistungen erwarten könne, vor allem in der Erziehung der Jugend im Sinne von Sozialkompetenz und demokratischen Prinzipien. Im Juni 2003 wurde dem Bildungsminister Luc Ferry der »Rivet-Bericht« vorgelegt. Dieser postuliert für die Ausbildung religiöser Führungskräfte eine Unterscheidung zwischen den Belangen der Theologie im strengen Sinn, für welche die Religionsgemeinschaften selbst verantwortlich sein müssen, auf der einen Seite und einem nichtkonfessionellen Teil, der in die Zuständigkeit der Behörden fallen könne, auf der anderen. Im gleichen Jahr legte die Kommission über die Anwendung des Laizitätsprinzips unter Bernard Stasi, dem französischen Präsidenten, ihren Bericht vor (Stasi 2003). Einer der Vorschläge sah die Einrichtung einer nationalen Schule für Islamstudien vor, die sich vor allem der Ausbildung von Lehrpersonal für den Religionsunterricht an Schulen widmen, aber auch der Lehre des Islams an höheren Bildungseinrichtungen zuarbeiten sollte (Stasi 2003, S. 63). Der damalige Innenminister Dominique de Villepin rekurrierte im Jahr 2004 auf die Vorstellungen zur Ausbildung von Imamen. Im Jahr 2006 wurde der Bericht einer von Jean-Pierre Machelon geleiteten Kommission zu den Beziehungen unter Religionsgemeinschaften und Behörden in Frankreich veröffentlicht. Unter Rückgriff auf das »Trocmé-Projekt« über die Lehrerausbildung in der Region Alsace-Moselle plädierte die Kommission für die Einrichtung eines Studiengangs für islamische Theologie (Machelon 2006, S. 72). In der Folge eröffnete im September 2009 an der Juristischen Fakultät der Universität von Straßburg ein Masterstudiengang für Islamologie als wichtiger Bestandteil des Rechtssystems. Über die Hälfte der Unterrichtsinhalte bezieht sich auf europäisches und französisches Religionsrecht und auf den Vergleich von europäischem und islamischem Recht. Ein anderer Teilbereich ist der Geschichte des Islams, seinen verschiedenen Rechtsschulen, sozial- und politikwissenschaftlichen Studien zu den Religionen sowie Sprachen gewidmet. Bei der Einweihung der Moschee von Cergy im Jahr 2012 sprach der damalige Innenminister Manuel Valls im Rahmen einer engagierten Rede erneut die Ausbildung der Imame an (Hoffner 2012). Zu Schuljahresbeginn im September 2012 wurde die Eröffnung der Islamisch-Theologischen Fakultät (Faculté de théologie musulmane) in Straßburg angekündigt, die bald in »Freie« IslamischTheologische Fakultät (Faculté libre de théologie musulmane) umbenannt wurde.12 Es handelte sich in Wirklichkeit um ein Projekt der Diyanet13 mit dem Ziel, 12 »Les établissements ne peuvent d’ailleurs ›en aucun cas‹ prendre le titre d’›université‹ (Art. L731-14). Au plus, peuvent-elles prendre le nom de ›faculté libre‹, sous certaines conditions. Les établissements d’enseignement supérieur ouverts conformément à l’article L. 731-4, et comprenant au moins le même nombre de professeurs pourvus du grade de docteur que les établissements de l’Etat qui comptent le moins d’emplois de professeurs des universités, peuvent prendre le nom de faculté libre, suivi de l’indication de leur spécialité, s’ils appartiennent à des particuliers ou à des associations« (Code de l’Education, art. L731-5).

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im Osten Frankreichs ein Seminar zur Ausbildung eigener religiöser Führungskräfte einzurichten, die üblicherweise in der Türkei geschult wurden (Janva 2012). Diese Universität musste jedoch bereits 2013 schließen, da es juristische Schwierigkeiten, vor allem hinsichtlich der Gültigkeit bzw. Anerkennung der Studienabschlüsse, gab. Zwischen 2013 und 2018 gesellte sich zu dem Masterstudiengang »Islamologie« an der Universität in Straßburg noch ein zweiter über Studien zum islamischen Finanzwesen (Maillard 2011). Dieser Masterstudiengang wurde im Jahr 2018 an der Historischen Fakultät der Universität in Straßburg wieder aufgenommen. 4.3.1.1 Die privaten Bildungsinstitute – Ausbildung außerhalb der Universitäten Außer den beschriebenen Studiengängen (DU oder Master) spielt sich die höhere islamische Ausbildung ausschließlich in privaten Einrichtungen muslimischer Organisationen ab (Messner 2013). Diese etablierten sich in den 1990er-Jahren, als muslimische Gruppen dem Bedürfnis nach Religionsunterricht mit der Gründung von Koran- und Islamschulen nachkamen, von denen einige ausdrücklich der Ausbildung von Imamen gewidmet sind (Frègosi 1998, S. 101–139). Wie in anderen europäischen Ländern beobachtete man die Einrichtung privater Bildungsinstitutionen muslimischer Gemeinschaften (Curtit & Zwilling 2009a, S. 152). Dazu gehört das von der Union islamischer Organisationen in Frankreich (UOIF)14 gegründete Institut européen des sciences humaines (IESH, Europäisches Institut für Geisteswissenschaft).15 Dieses ursprünglich »Europäische Akademie für Islamstudien« genannte Institut ist in drei Disziplinen unterteilt: arabische Sprache, Theologie und Koranstudien. Es wurde 1990 als Verein gegründet und eröffnete den Lehrbetrieb im Jahr 1992. Es war zwar das erste seiner Art, aber dennoch ist das IESH nicht das älteste Projekt zur Ausbildung von Imamen in Frankreich, denn seit ihren Anfängen im Jahr 1926 betrieb die algerisch geprägte Große Moschee von Paris die Eröffnung eines zugehörigen muslimischen Instituts (Top Halal 2015), das allerdings erst 1994 als Institut Ghazali zur Ausbildung von Imamen seine Pforten öffnete.16 1999 gründete Dhaou Meskine, der ehemalige pädagogische Leiter des IESH und ehemalige Präsident des Rats der Imame in Frankreich, das Institut International des Sciences Islamiques (ISSI). Er trennte sich vom IESH wegen dessen zu großer 13 Diyanet ˙I¸sleri Bas¸kanlıg˘ı ist das Amt für religiöse Angelegenheiten in der Türkei. 14 Union des Organisations Islamiques de France, heute Musulmans de France, Nähe zu den Muslimbrüdern (Frères musulmans). 15 Institut européen des sciences humaines (IESH, urspr. Académie européenne des études islamiques), Château Chinon, 58120 Saint-Léger-en-Fougeret (www.iesh.org). 16 Grande mosquée de Paris, 5 Place du Puits de l’Ermite, 75005 Paris, Tel.: +33 145357460 (Institut al-Ghazâli 2020). Das Institut begann erst später mit der Ausbildung von Imamen.

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Nähe zur Muslimbruderschaft (Frères Musulmans), was es ihm erschwerte, eine eigene französische Islamtradition zu pflegen. Sein Institut bevorzugt eine Ausbildung mit ma¯likitischer Tendenz. Seit 2009 heißt das ISSI ISSIL (Institut International des Sciences Islamiques et des Langues), die neue Betonung der Sprachen erfolgte aufgrund der hohen Nachfrage nach Arabischkursen. 2001 wurden zwei neue private Islam-Institute gegründet. Das Institut Français d’Etudes et de Sciences Islamiques (IFESI) entstand in Boissy-Saint-Léger im Valde-Marne (94) (IFESI 2020) unter Einfluss von Ahmed Abidi, Professor der CERSI (Centre d’Etudes et de Recherches sur l’Islam) (Lesegretain 2012). Dieses Institut wurde im April 2012 vom Gericht von Créteil geschlossen. Vorangegangen waren eine Beschwerde des Rektorats und ein Untersuchungsausschuss gegen den Direktor wegen »Vertrauensbruchs, Schwarzarbeit und Gefährdung des Lebens anderer«. Im gleichen Jahr 2001 eröffnete das IESH eine Zweigstelle in Paris, die trotz der Verbindung zum IESH von diesem finanziell unabhängig ist (Lesegretain 2012). Die Große Moschee von Paris eröffnete im Oktober, nach einer zehnjährigen Schließung, den Ausbildungskurs für Imame (https://www. mosqueedeparis.net/linstitut-musulman/institut-de-theologie/) neu. Dessen Aufgabe ist die Ausbildung von Imamen und weiblichen Geistlichen in einem zweijährigen Kurs, der auf den Lehrinhalten und Lehrplänen von Islamwissenschaftsstudiengängen an Universitäten aufbaut.17 Die 2003 gegründete Fakultät für Islamwissenschaften in Paris (FSIP) (FSIP 2014) steht in Verbindung mit Algerien und verspricht den Unterricht eines »Islam des Mittelwegs«. 2006 gründete Mohamed Bechari, der ehemalige Präsident des Nationalverbands der Muslime in Frankreich (Fédération nationale des musulmans de France), in Lille das Institut Avicenne des Sciences Humaines (IASH) (Avicenne 2020), das sich ausdrücklich der Ausbildung von Imamen widmet. In Lyon gründeten militante Anhänger der dortigen Gruppierung Centre Tawhîd (nahe der Union des Organisations Islamiques de France UOIF) das Bildungszentrum Shâtibî, in Aix-enProvence öffnete das Institut Méditerranéen d’Etudes Musulmanes (IMEM) seine Pforten. Im Jahr 2009 gründete Mohamed Mestiri das Institut international de la pensée islamique in Saint Ouen (Seine-Saint-Denis) (IISMM & EHESS 2010), ein französischer Ableger des International Institute of Islamic Thought (IIIT) (IIIT 2020), das 1981 in den Vereinigten Staaten gegründet worden war (Frégosi 2005). 2012 öffnete in Vitry-sur-Seine die Académie française de culture et de langue, die sich selbst als Bildungs- und Forschungseinrichtung versteht. Sie bietet einen Kurs in Islamstudien und einen Koranstudiengang an. Nicht immer ist es möglich, herauszufinden, auf welchem Niveau diese Einrichtungen Studienanfänger*innen rekrutieren. Überwiegend erwarten sie von 17 Das Programm wird von der Moschee auf ihrer Website ausführlich beschrieben (Top Halal 2020).

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ihren Studierenden das baccalauréat (Curtit & Zwilling 2009b). Die Einrichtung eines Bildungsinstituts der höheren Ausbildungsstufe muss dem Artikel L 731 des Ausbildungsgesetzes (Code de l’Education) genügen, eine Meldung an das Rektorat ist erforderlich. Die freien theologischen Fakultäten in Frankreich fallen im Allgemeinen unter diesen Status. Sie können Abschlusszeugnisse vergeben, die jedoch vom Staat nicht anerkannt werden. Diese Institute zur Ausbildung von Imamen haben obendrein ein großes Problem: Sie scheitern an der Definition eines gemeinsamen Lehrplans, der die Qualität der Ausbildung an den verschiedenen Instituten für die Gesamtheit der Moscheen auf französischem Gebiet durchschaubar machen würde (Goulet & Reichardt 2016).

5.

Fazit

Seit mehreren Jahrzehnten lässt sich ein regelmäßiges Aufkommen neuer Initiativen beobachten, die höhere Bildung im Bereich des Islams anbieten. Diese gehen oft auch aus öffentlichen Einrichtungen hervor, was beweist, dass die Universität weder dem öffentlichen Interesse für Islamfragen noch dem Bedarf nach Ausbildung in diesem Bereich gegenüber gleichgültig bleibt. Dennoch bleiben die öffentlichen Bildungseinrichtungen immer noch symbolische Orte der Säkularität, wo religiöse Fragen stets für Spannungen sorgen. Ein Zeugnis davon legt die häufige Wiederkehr der »Kopftuchdebatte« im öffentlichen Diskurs ab. In öffentlichen Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe ist die Verschleierung verboten, an den Universitäten hingegen nicht, denn die Studierenden sind volljährig und unterliegen nicht mehr der Schulpflicht. Dennoch löste 2018 das Auftreten der Vorsitzenden einer linken Studierendenverbindung (UNEF) der Universität Paris IV (Sorbonne) mit higˇa¯b bei ˙ einer im Fernsehen übertragenen Kundgebung eine Welle negativer Reaktionen aus. In Frankreich ist die Überzeugung fest verwurzelt, dass die Ausübung der Religion eine Sache der Privatsphäre ist. Dies wirkt sich auch auf die Position der Religion im Unterricht aus.

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Margaret J. Rausch

Islamische Bildung in Großbritannien und Irland

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich – in einem jeweils eigenen Kapitel – mit den Ländern Großbritannien und Irland. Beide Teile beginnen mit einer kurzen Zusammenfassung der Geschichte des jeweiligen Landes. Anschließend wird der früheste Kontakt zwischen der britischen bzw. irischen Bevölkerung und Menschen muslimischen Glaubens, dem Islam und der islamischen Kultur beschrieben, zu dem es in Großbritannien angeblich schon im achten Jahrhundert, in Irland dagegen im Jahre 1631 kam. Danach wird die Geschichte der muslimischen Präsenz in den beiden Ländern von den Anfängen bis in die Gegenwart, einschließlich alltäglicher Interaktionen sowie der Entwicklung von Beziehungen und der Entstehung von Konflikten zwischen Muslim*innen und Nichtmuslim*innen in Großbritannien und Irland geschildert. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Gründung islamischer Gemeinden, Gemeinschaften, Organisationen, Moscheen, muslimischer Schulen und zusätzlicher bzw. ergänzender Bildungsinstitutionen und deren Funktionen bezüglich der islamischen Erziehung. Sie werden deshalb auch möglichst ausführlich behandelt. Den Abschluss bilden die Darstellung der verschiedenen im Unterricht verwendeten Inhalte und methodologischen Ansätze und eine Diskussion ihrer Vor- und Nachteile.

1.

Islamische Bildung in Großbritannien

1.1

Geschichte

Entgegen der verbreiteten Annahme, dass der Kontakt der englischen Bevölkerung mit Menschen muslimischen Glaubens vor nicht allzu langer Zeit einsetzte, lässt sich dieser Jahrhunderte zurückverfolgen. Als Beispiel ist der angelsächsische König von Mercia Offa im achten Jahrhundert zu nennen, der eine Münze mit islamischer Inschrift prägen ließ – eine Kopie der Münzen des zeitgenössi-

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schen muslimischen Kalifen al-Mansu¯r –, um den Handel mit dem wachsenden ˙ Kalifat von Córdoba zu erleichtern – schließlich waren muslimische Golddinare die Schlüssel des Münzwesens im Mittelmeerraum –, die dem Original ausreichend ähnelte, um in Südeuropa akzeptiert zu werden, obwohl der Name des Kalifen al-Mansu¯r darauf deutlich zu erkennen war (Gillat-Ray 2010). ˙ Hinweise auf Großbritannien finden sich in der frühen muslimisch-geografischen Literatur, darunter im Werk Ahmad ibn Roste Esfaha¯nı¯s aus dem ˙ ˙ neunten Jahrhundert, in dem von den »Inseln von Brita¯niya« die Rede ist. Darüber hinaus waren englische Gelehrte wie Geoffrey Chaucer bis 1386 durch lateinische Übersetzungen mit der frühen islamischen Philosophie und Wissenschaft vertraut. Im Vorwort zu The Canterbury Tales findet sich unter den nach Canterbury reisenden Pilgern ein Arzt, dessen Wissen auf den Lehren von Rhazes (ar-Ra¯zı¯), Avicenna (Ibn Sı¯na¯) und Averroes (Ibn Rusˇd) basiert. In The Pardoner’s Tale erwähnt Chaucer Avicennas Arbeit über Gifte. Eine lateinische Übersetzung seines Kanons der Medizin (1025) war bis ins 18. Jahrhundert ein Standardtext für Medizinstudenten. Roger Bacon, ein europäischer Verfechter der wissenschaftlichen Methode, welcher Werke früherer muslimischer Philosophen las, zitierte in seiner im 13. Jahrhundert verfassten Arbeit über die Optik aus Ibn al-Haitams (Alhazen) »Buch der Optik« (1021) (Glick, Livesey & Wallis ¯ 2005). Professor John Makdisi behauptet in seinem 1999 veröffentlichten North Carolina Law Review bezüglich eines Artikels über die islamischen Ursprünge des Gewohnheitsrechts, dass das englische Gewohnheitsrecht vom mittelalterlichen islamischen Recht inspiriert wurde. Er vergleicht königliche englische Verträge, welche durch Schuldhandlungen geschützt sind, mit dem islamischen ʿaqd, das englische assize of novel disseisin mit dem islamischen istihqa¯q und das englische ˙ jury mit dem islamischen lafı¯f in der klassischen malikitischen Schule der islamischen Rechtsprechung. Makdisi zufolge gelangten islamische Institutionen durch eine Verbindung zwischen dem auf Sizilien herrschenden normannischen König Roger II. mit seiner muslimischen Verwaltung und Henry II. nach England. Darüber hinaus seien die Rechtsanwaltskammern, die Inns of Court, mit der muslimischen madrasa vergleichbar, und englische juristische Präzedenzfälle und analoge Argumente ähnelten jenen in islamischen Gewohnheitsrecht-Systemen (Makdisi 1999). Andere Rechtsgelehrte argumentieren, dass die von den Kreuzrittern eingeführten englischen Treuhand- und Vertretungsinstitutionen von den islamischen waqf und hawa¯la, die ihnen im Nahen Osten begegnet waren, ange˙ nommen wurden. So stellt beispielsweise Paul Brand Parallelen zwischen dem waqf und dem Treuhandsystem fest, auf das Walter de Merton, der Verbindungen zu den Tempelrittern hatte, zurückgriff, um das Merton College der Universität Oxford zu gründen (ebd.).

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Im 16. Jahrhundert behauptete der Schriftsteller Richard Hakluyt, dass er gezwungen war, zum Islam zu konvertieren und erwähnte in diesem Zusammenhang auch Engländer, welche freiwillig konvertierten. Captain John Ward von Kent war einer von zahlreichen britischen Matrosen, die in Nordafrika zu Piraten wurden und zum Islam konvertierten. Zu den Unitariern, welche sich für den Islam interessierten, gehörte Henry Stubbes, der so wohlwollend über den Islam schrieb, dass viele glaubten, er wäre konvertiert. Bereits im 16. Jahrhundert lebten in London Muslim*innen aus Nordafrika, dem Nahen Osten und Zentralasien, die in verschiedenen Berufen tätig waren, etwa als Übersetzer, Diplomaten, Kaufleute und Musiker (Brotten 2016). Muslim*innen hatten einen bemerkenswerten Einfluss auf die Werke von George Peele und William Shakespeare, von welchen einige nordafrikanische Muslim*innen vorstellten, die von den marokkanischen Delegationen im elisabethanischen England im Jahr 1600 inspiriert wurden. Ebenso wurde ein Porträt des marokkanischen Botschafters Abd el-Ouahed Anoun, der zur Förderung einer anglo-marokkanischen Allianz nach England gekommen war, gemalt. Im 16. Jahrhundert gab es freundschaftliche Beziehungen zwischen England und den muslimischen Gesellschaften des Nahen Ostens. Zu besonderen Anlässen trug die Oberschicht persische und türkische Mode, wie die im England der Renaissance populären Turbane (Stearns 2001). Elisabeth I. von England war die erste britische Monarchin, die Allianzen und Handelsbeziehungen mit muslimischen Nationen einging, wie die diplomatischen Beziehungen mit dem Osmanischen Reich, nachdem die Levant Company gechartert worden war und der erste englische Botschafter, William Harborne, 1578 an die osmanische Hohe Pforte geschickt wurde. Der erste Handelsvertrag wurde im Jahr 1580 unterzeichnet. Elisabeth I. und Sultan Murad III. tauschten Gesandte und Korrespondenzen aus, darunter einen Brief, in dem er darauf hindeutete, dass der Islam und der Protestantismus »mehr gemeinsam hätten als beide mit dem römischen Katholizismus«, da beide die Anbetung »der Götzenbilder ablehnten«, und argumentierte für eine Allianz zwischen England und dem Osmanischen Reich. Elisabeth I. schickte ihm Zinn, Blei und Munition und verhandelte über gemeinsame militärische Operationen, als im Jahre 1585 der Krieg mit Spanien ausbrach. Sie hoffte auf militärische Unterstützung vonseiten des Osmanischen Reiches gegen ihren gemeinsamen Feind. Obwohl diese ausblieb, gerieten die Beziehungen nie ins Wanken (ebd.). Das England des 17. Jahrhunderts erlebte eine zweite Welle des Interesses an muslimischer Philosophie und Wissenschaft. Arabische Manuskripte wurden als Schlüssel zu einem »Schatzhaus« alten Wissens angesehen, was zur Gründung arabischer Lehrstühle an den Universitäten Oxford und Cambridge führte, wo ab diesem Zeitpunkt die arabische Sprache unterrichtet wurde. Große arabische Handschriftensammlungen wurden in der Bodleian Library von Oxford aufbe-

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wahrt. Die darin behandelten Themen reichten von Wissenschaft über Religion und Medizin bis hin zur Typografie und Pflanzenkunde (McGinnis & Reisman 2007). Im 17. und 18. Jahrhundert wurden arabische literarische Werke ins Lateinische und Englische übersetzt. Zu den berühmtesten zählt Tausendundeine Nacht (Arabian Nights), welches erstmalig 1706 übersetzt wurde und einen starken Einfluss auf die englische Literatur hatte. Ibn Tufaı¯ls philosophischer Roman ˙ Hayy ibn Yaqza¯n wurde 1671 von Edward Pococke dem Jüngeren ins Lateinische ˙ ˙ und 1708 von Siman Ockley ins Englische übersetzt (Attar 1989). Da sich das im Roman behandelte Geschehen auf einer einsamen Insel abspielt, inspirierte dies möglicherweise den ersten englischen Roman, Robinson Crusoe, von Daniel Defoe. Später wurden auch Layla wa-Magˇnu¯n und das Theologus Autodidactus von Ibn al-Nafı¯s übersetzt (Attar 1989). Lady Mary Wortley Montagu (1689–1762) ist für ihre Briefe aus der Türkei bekannt, die sie während ihres Aufenthalts im Osmanischen Reich als Ehefrau des englischen Botschafters schrieb. Darin schildert sie ihre Begegnungen in öffentlichen Bädern mit türkischen Frauen, welche – im Gegensatz zu englischen Frauen – persönliches Eigentum besaßen und verwalteten. Die Frauen äußerten ihr Entsetzen über ihr Korsett, das sie mit der Unterwerfung unter den Ehemann gleichsetzten. Laut Wortley sagten sie, dass »in England Ehemänner noch schlimmer sind als im Osten, denn sie binden ihre Frauen in kleine Kästen, die die Form ihrer Körper haben«. Wortleys Briefe diskreditierten männliche Orientalisten, die in ihren Werken muslimische Frauen als unterdrückt darstellten, ohne sie jemals kennengelernt zu haben. Darüber hinaus brachte Wortley einen von osmanischen Ärzten hergestellten Pockenimpfstoff nach England mit, der in weiterer Folge die Forschung inspirierte, die zur Entwicklung des Impfstoffs, der bis heute weltweit eingesetzt wird, geführt hat (Grundy 1997, S. 5). Im Jahr 1757 eroberte die British East India Company Bengalen, heute Bangladesch und Westbengalen, eine wohlhabende Provinz des muslimischen Mogulreichs, und plünderte sie aus. Die von den Engländern beschlagnahmten Techniken und Materialien ermöglichten die industrielle Revolution in England. Während der englische Wohlstand dadurch stark zunahm, verursachte dies in Bengalen eine totale Deindustrialisierung und Verarmung, was Hunger und Tod zur Folge hatte (Esposito 2004, S. 174).

1.2

Muslimische Präsenz

Als sich England im Jahr 1707 mit Schottland vereinigte, lebten in Großbritannien nur wenige Muslim*innen. Die ersten Muslime waren Laskaren, also Matrosen, die im 18. Jahrhundert vom indischen Subkontinent rekrutiert worden

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waren, um für die britische Ostindien-Kompanie zu arbeiten. Viele ließen sich nieder und heirateten einheimische Frauen. Anfang des 19. Jahrhunderts besuchten jährlich 1.000 Laskaren und bengalische Marineköche Großbritannien. Im späten 19. Jahrhundert waren es bereits 10.000 bis 12.000. Der berühmteste muslimische Einwanderer war Sake Dean Mahomet, Kapitän und Chirurg der britischen Ostindien-Kompanie. Er führte therapeutische Massagen und das Shampoo in Europa ein und eröffnete 1810 das erste indische Restaurant in London, das »Hindoostane Coffee House« (Fisher 2005, S. 154–168, 172). 1911 umfasste die Bevölkerung des Britischen Weltreichs 58 Millionen Christ*innen und 94 Millionen Muslim*innen, die Hälfte der muslimischen Weltbevölkerung. Mehr als 400.000 muslimische Soldaten kämpften im Ersten Weltkrieg für Großbritannien, von denen 62.060 im Kampf fielen. Im Zweiten Weltkrieg kämpften eine halbe Million Muslime für Großbritannien gegen die Nationalsozialisten. Der britische Premierminister David Lloyd George erklärte: »Wir sind die größte mohammedanische Macht der Welt und ein Viertel der Bevölkerung des britischen Imperiums ist mohammedanisch. Es gibt keine treueren Anhänger des Throns und keine effektiveren und loyaleren Unterstützer des Imperiums in seiner Stunde der Prüfung«, was Gandhi im Jahre 1920 wiederholte (Motadel 2015, S. 267). Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten viele Muslim*innen in das von Zerstörung und Arbeitskräftemangel gezeichnete Großbritannien aus. Muslim*innen aus ehemaligen britischen Kolonien, hauptsächlich aus Bangladesch, Pakistan und Indien, wurden in großer Zahl von der Regierung und den Unternehmen rekrutiert, um das Land wiederaufzubauen. In den frühen 1960erJahren ermutigte Enoch Powell, der Minister für Gesundheit, indische und pakistanische Ärzt*innen dazu, nach England zu kommen. Diese spielten bei der Einrichtung des National Health Service eine Schlüsselrolle (Butler 2008).

1.3

Aktuelle Lage

Der Islam ist heute die größte nichtchristliche Religionsgemeinschaft in England. Die meisten muslimischen Einwander*innen kommen aus Südasien, insbesondere aus Bangladesch, Pakistan und Nordindien, oder sind Nachkommen von Einwander*innen aus diesen Regionen. Andere stammen aus überwiegend muslimischen Gebieten, darunter Afghanistan, der Nahe Osten und Malaysia, aber auch Somalia, Sierra Leone, Uganda und Nigeria. Gemäß der Volkszählung lebten 2011 2,7 Millionen Muslim*innen in Wales und England, eine Million mehr als im Jahr 2006 (MCB 2015). Diese Zahl ist im Jahre 2020 auf 4,95 Millionen gewachsen (statista 2021).

1028 1.4

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Sozioökonomische Bedingungen

Laut einer Volkszählungsanalyse aus dem Jahr 2001 sind britische Muslim*innen mit einem schlechteren Gesundheits-, Wohn- und Lebensstandard sowie Bildungsniveau, den meisten Behinderungen, den höchsten Arbeitslosenquoten, der höchsten Anfälligkeit für Langzeiterkrankungen und den geringsten Bildungsabschlüssen konfrontiert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es sich dabei um die am wenigsten etablierte Gruppe mit dem jüngsten Profil handelt. Dem gegenüber stehen 10.000 muslimische Millionär*innen weltweit und eine steigende Anzahl von erfolgreichen Geschäftsleuten, angeführt von Multimillionären wie Sir Anwar Pervez (Carvel 2004).

1.5

Bildung

53 Prozent der britischen Muslim*innen entscheiden sich für eine Universitätsausbildung, bei Hindus liegt der Anteil bei 77 Prozent, bei den Sikhs bei 63 Prozent, bei den Christ*innen bei 45 Prozent und bei den Atheist*innen bei 32 Prozent. Muslimische Schulen übertreffen regelmäßig andere Glaubensschulen. Darüber hinaus erreichten im Jahre 2008 ca. 86 Prozent der muslimischen Schüler*innen fünf allgemeine Sekundarschulzertifikate im Vergleich zu 73 Prozent der katholischen und 64 Prozent der säkularen Schüler*innen (MCB 2015).

1.6

Mögliche Konfliktbereiche

Nach der »Ströme-von-Blut«-Rede des Parlamentsabgeordneten Enoch Powell im Jahr 1968, die als offen rassistisch gilt, und der Errichtung der National Front sahen sich britisch-asiatische Muslim*innen starken Diskriminierungen ausgesetzt, die hauptsächlich von Skinheads, der britischen National Party und der National Front in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgingen. Inspiriert von der indischen Unabhängigkeit, der »Black-Power«- und der Anti-Apartheid-Bewegung, gründeten junge britisch-pakistanische und britisch-bengalische Aktivist*innen mehrere asiatische antirassistische Jugendbewegungen, darunter Bradford Youth Movement im Jahr 1977, Bangladeshi Youth Movement nach dem im Jahre 1978 begangenen Mord an Altab Ali sowie Newham Youth Movement nach dem Mord an Akhtar Ali Baig im Jahre 1980 (Peace 2015, S. 55). Terroristische Vorfälle erhöhten das Misstrauen vieler nichtmuslimischer Bürger*innen gegenüber muslimischen Institutionen, vor allem Medresen und Moscheen, von denen sie annehmen, dass sie Ort der Radikalisierung sind. Eine

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britische Umfrage zu sozialen Einstellungen aus dem Jahr 2010 ergab, dass die breite Öffentlichkeit »mit größerer Wahrscheinlichkeit negative Ansichten gegenüber Muslimen vertritt als jeder anderen religiösen Gruppe«, wobei »nur jeder Vierte positiv gegenüber dem Islam empfindet« und eine »Mehrheit äußerte sich als besorgt, wenn in ihrem Gebiet eine Moschee errichtet werden sollte, und nur fünfzehn Prozent äußerten ähnliche Bedenken bei der Eröffnung einer Kirche«. Die Inkriminierung der Muslim*innen durch Medien und Politik im 21. Jahrhundert wurde mit dem Aufkommen des Antisemitismus im frühen 20. Jahrhundert verglichen. Bedrohungen sowie Angriffe gegenüber Muslim*innen oder muslimischen Zielen, wie Gräber und Moscheen, nehmen zu. In einem Bericht des European Muslim Research Center der Universität Exeter aus dem Jahr 2010 wurde festgestellt, dass die Zahl der antimuslimischen Hassverbrechen von »Todesdrohungen und Mord bis zu hartnäckigen Angriffen auf niedriger Ebene, wie Beschimpfungen und Spucken«, verursacht durch Politiker*innen und Medien, die antimuslimischen Hass schüren, gestiegen ist (Dood 2010).

1.7

Muslimische Organisationen

In England gibt es mehr als 60, hinsichtlich der Tätigkeiten und Größe stark unterschiedliche muslimische Organisationen, deren Großteil sich pädagogischen, spirituellen, karitativen, sozialen oder politischen Aktivitäten widmet. Als Beispiel ist die Muslim Association of Britain (MAB) zu nennen, eine 1997 gegründete Basisorganisation, die sich auf Armenspeisung, Blutspenden und die Suche nach kreativen Wegen, um anderen zu helfen, konzentriert. Neben den beiden großen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg in den Jahren 2002 und 2003 forderte sie die Befreiung Palästinas von der israelischen Besatzung. Eine weitere, 2006 gegründete Organisation ist der Sufi Muslim Council. Diese ist weniger politisch ausgerichtet, sondern setzt sich insbesondere gegen den radikalislamischen Extremismus einiger britisch-muslimischer Jugendlicher ein und betrachtet britische Muslim*innen als Teil der britischen Mainstream-Gesellschaft (MCB 2015). 1.7.1 Islamische Bildungseinrichtungen Vier Arten von Institutionen bieten islamische Bildungsprogramme an: islamische Zentren, Moscheen, Medresen, zusätzliche bzw. ergänzende Bildungsangebote sowie muslimische Schulen.

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1.7.1.1 Islamische Zentren Der Begriff »Islamisches Zentrum« bezieht sich auf Strukturen, welche von Gemeinden errichtet werden, um Raum für gemeinschaftliches Gebet, Bildung und Gemeinschaftsaktivitäten sowie Dienstleistungen im Zusammenhang mit Beerdigungen und Hochzeiten zu schaffen. 1.7.1.2 Moscheen Es gibt mehr als 1.500 sunnitische, schiitische und Ahmadi-Moscheen, von welchen einige über umfangreiche Einrichtungen für große Gemeinden verfügen. Zu diesen zählen 33 sunnitische Moscheen in England: 13 in London, vier im Nordwesten, drei im Südosten, drei im Südwesten, fünf in den West Midlands, fünf in Yorkshire und Humber sowie drei in Schottland und zwei in Wales. Es gibt insgesamt vier große Ahmadi-Moscheen in England, zwei davon befinden sich in London, eine in den West Midlands sowie eine weitere in Yorkshire und Humber. Nordirland hat drei große Moscheen: zwei in Belfast und eine in Londonderry (MCB 2015). 1.7.1.3 Medresen Medresen sind eine von verschiedenen Arten von zusätzlichen bzw. ergänzenden Bildungsangeboten, die in den letzten zehn bis 15 Jahren in Großbritannien entstanden sind, um die ansteigenden Schwierigkeiten zu bewältigen, welchen sich Minderheiten in der Schule gegenübersehen. Bei Medresen handelt es sich um zusätzliche Bildungsangebote für muslimische Kinder zwischen vier und 15 Jahren, wobei diejenigen, die Bildungsangebote auf Grundschulniveau anbieten, oftmals als maktab bezeichnet werden. Sie arbeiten außerhalb des regulären Bildungssystems und verfügen über keine Registrierungsmethode und keine Stelle, die ihre Aktivitäten reguliert. Circa 250.000 Kinder besuchen die rund 2.000 Medresen, die zu über 90 Prozent aus elterlichen Spenden und Schulgebühren finanziert werden und die die Kriterien für die Einstellung der Lehrer*innen nach persönlichen Vorlieben festlegen. Während sie die Identitätsentwicklung und den sozialen Zusammenhalt fördern, können sie auch – so wird von mancher Seite behauptet – die Kluft zwischen muslimischer und britischer Identität vergrößern und den Extremismus fördern (Cherti & Bradley 2011, S. 2–5). In den Medresen wird insbesondere Arabisch unterrichtet, ebenso wie das Auswendiglernen und Rezitieren des Korans, Gemeinschaftskultur und islamische Werte. Dennoch bieten einige davon zusätzlich nationale Lehrfächer an: 61 % unterrichten Mathematik, 25 % Englisch, 42 % Naturwissenschaft und 30 % Sprachen (Cherti & Bradley 2011, S. 24f.). Die rund acht Prozent der Medresen, die mit den regulären Schulen in Verbindung stehen, unterstützen das Vertrauen, die Entwicklung sozialer Fähigkeiten und den Bildungsfortschritt. 50 % haben eigene Räumlichkeiten oder sind mit Moscheen verbunden, 11 % befinden sich

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in Gemeindezentren und 3 % in Privathäusern. 81 % arbeiten an Wochentagen vor und nach der Schule, 55 % samstags und 39 % sonntags (Cherti & Bradley 2011, S. 16–21). Sie sind von unschätzbarem Wert, da muslimische Schulen nicht sehr zahlreich sind und im regulären Schulunterricht kein konfessioneller Religionsunterricht angeboten wird (Musharraf 2015, S. 68ff.). Während Medresen von manchen als potenzielle Orte der Radikalisierung betrachtet werden, zeichnet die jüngste Forschung ein anderes Bild (Gent 2011; Gent 2016; Berglund & Gent 2018; Berglund & Gent 2019). Studien über Medresen, welche die Rezitation und das Auswendiglernen des Korans für angehende Huffa¯z (»Hüter des Korans«), lehren, zeigen, dass dieses Ausbildungsprogramm ˙ ˙ die Entwicklung von Fähigkeiten unterstützt, die für den Erfolg in Regelschulen von Relevanz sind. In Interviews gaben die Teilnehmer*innen an, dass ihre Madrasa-Ausbildung ihre Fähigkeit zum Auswendiglernen verbessert hat, was auch für den regulären Schulunterricht wichtig ist. Sie erwähnten auch die Verbesserung ihrer Fähigkeit, sich auf bestimmte Aufgaben zu konzentrieren, selbstbewusst zu rezitieren, aufmerksam zuzuhören und sich respektvoll gegenüber Lehrer*innen zu verhalten. Andere behaupteten, dass es auch ihre Charakterentwicklung, vor allem im Hinblick auf die Tugend der Geduld, positiv beeinflusst hätte (Berglund & Gent 2019, S. 5). Auf die Frage nach den Auswirkungen der Schulbildung in regulären Schulen auf ihr Madrasa-Ausbildungsprogramm erklärten einige der Befragten, dass ihnen das Wissen über verschiedene Religionen und Versionen des Islams von Nutzen war. Laut den Aussagen erkannten die Teilnehmer*innen Bereiche der gegenseitigen Verbesserung zwischen den beiden Bildungssystemen (Berglund & Gent 2019, S. 6). 1.7.1.4 Zusätzliche bzw. ergänzende Bildungsangebote Zusätzliche bzw. ergänzende Bildungsangebote nehmen stetig zu – ebenso wie die ethnische Vielfalt und die wirtschaftliche Benachteiligung in der weißen Arbeiterklasse, die diese notwendig machen. Sie werden in Ergänzungsschulen angeboten. Ergänzungsschulen sind von der Gemeinde geführte außerschulische Bildungsprogramme, die eine Kombination aus Unterstützung des Kernlehrplans, Sprachunterricht sowie kulturellen Aktivitäten und Klassen bieten. 2015 nahmen zwischen 3.000 und 5.000 Schüler*innen die zusätzlichen Bildungsangebote in Anspruch. Dies geht aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht hervor, in dem eine stärkere Koordinierung zwischen regulären Schulen und Zusatzschulen gefordert wird, um beide zu verbessern. Während eine Bildungsreform im Gange ist, ist es für die meisten Schulen schwierig, nichtkognitive Fähigkeiten wie Ausdauer, Selbstkontrolle und Motivation, welche für die Bildung und den wirtschaftlichen Erfolg von entscheidender Bedeutung sind, bei Schüler*innen zu fördern. Einschränkungen bei der Entwicklung solcher Fähigkeiten sind bei allen Schüler*innen zu verzeichnen, jedoch insbesondere bei jenen, die sozio-

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ökonomisch benachteiligt sind. Rassismus und Diskriminierung in Schulbüchern und im Verhalten von Lehrer*innen, Mitarbeiter*innen und anderen Schüler*innen, die die Leistungen von Angehörigen von Minderheiten erheblich beeinflussen, bekommen erst seit Kurzem Aufmerksamkeit. Dass Rassismus und Diskriminierung eine Rolle spielen, ist daran festzustellen, dass die Leistungen von Schüler*innen, die von regulären an muslimische Schulen gewechselt haben, sich deutlich verbesserten (Ramalinga & Griffith 2015). 1.7.1.5 Muslimische Schulen Die Regierung finanziert verschiedene Arten von Schulen, die von Religionsgemeinschaften gegründet werden. Etwa ein Drittel der staatlich finanzierten Schulen wird von Religionsgemeinschaften gegründet. Sie werden entweder von örtlichen Behörden unterhalten oder stehen, im Fall von Akademien und freien Schulen, außerhalb der Kontrolle der örtlichen Behörden. Die meisten sind von Christ*innen sowie eine kleine Anzahl von Jüd*innen, Muslim*innen und Sikhs gegründet worden. Je nach Schultyp kann der jeweilige Glaube Einfluss auf die Lehrer*innen und Mitarbeiter*innen, den Schulaufbau und den Religionsunterricht haben. Alle Schulen müssen jedoch jedes Kind, unabhängig von seinem Glauben, anmelden, wenn Platz zur Verfügung steht (AMS o. J.). In England gibt es derzeit 187 muslimische Schulen. 158 sind unabhängig, das bedeutet, sie sind gebührenpflichtig und nicht staatlich finanziert und werden von unabhängig gewählten Räten verwaltet. 16 weitere sind freie Schulen, also staatliche Schulen, die nicht unter der Kontrolle von örtlichen Behörden stehen und von Gruppen gegründet werden, welche Firmen bilden. Zwölf der Schulen werden »freiwillig unterstützt«. Darunter ist zu verstehen, dass eine Stiftung oder Treuhand einen geringen Kostenanteil trägt und über eine Mehrheit in den Leitungsgremien, die das Personal einstellen und die Zulassungskriterien festlegen, verfügt. Eine der muslimischen Schulen ist eine Akademie. Das bedeutet, dass sie durch staatliche Finanzierungsvereinbarungen leistungsfähig, unabhängig von lokalen Behörden und ohne staatliche Kontrolle ist. Insgesamt existieren 174 Tagesschulen und 13 Internate. 59 der Schulen sind ausschließlich für Mädchen, 38 für Jungen und 90 gemischt. Im Vergleich zu den rund 2.000 Medresen sind ihre Auswirkungen jedoch gering (AMS o. J.; Olafsdottir 2015, S. 3f.). Einige der muslimischen Schulen liefern die besten Bildungsergebnisse Englands. Dazu zählt, neben anderen, die Tauheedul Islam Girls High School in Blackburn, Lancaster. 2013 wurde diese zu einem der leistungsfähigsten britischen Lerninstituten ernannt. Die Ergebnisse von 2013 zeigten, dass 95 Prozent der Schülerinnen die höchsten Ergebnisse in fünf der General-Certificate-Secondary-Education-Fächer, einschließlich Englisch und Mathematik, erreichten, während 76 Prozent der Schülerinnen das neu eingeführte englische Abitur er-

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langten. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde die Schule allen anderen Schulen übergeordnet. Die Statistiken des Bildungsministeriums ergaben darüber hinaus, dass es sich bei der Tauheedul Islam Girls High School in Blackburn um die beste Schule des Landes handelte, da auch Schülerinnen mit niedrigen Grundschulleistungen sehr hohe Ergebnisse erreichten. Sie wurde im September 1984 als unabhängige Schule mit sechs Lehrer*innen und 96 Schülerinnen eröffnet. Im Jahr 2005 wurde sie zur ersten muslimischen staatlichen Schule im Nordwesten. 82 Prozent der Schülerinnen erwarben 2007 mindestens fünf allgemeine Hochschulzertifikate (GCSE) mit besseren Ergebnissen im Vergleich zum landesweiten Durchschnitt von 47 Prozent. Darüber hinaus wurde die Schule im Januar 2014 für ihre Dienstleistungen für die Bildungsauszeichnung nominiert, und im Jahr 2018 wurde erneut die höchste Schülerleistung festgestellt (Musharraf 2015, S. 45; AMS o. J.). 1.7.1.5.1 Institutionelle, pädagogische und lehrplanmäßige Entwicklungen Zahlreiche Quellen über islamische Erziehung in nichtmuslimischen Ländern beschäftigen sich mit Rassismus und Islamophobie. Dabei steht die Frage im Raum, wie sich die Einstellung von Beurteilungsgremien, deren Berichte über muslimische Schulen oft voreingenommen und falsch sind, was letztendlich dazu führt, dass muslimische Gemeinschaften diese Art von erschwinglicheren Schulen nicht schaffen, positiv beeinflussen ließe. Darüber hinaus sind die schlechten Leistungen muslimischer Schüler*innen, welche in regulären Schulen eingeschrieben sind, im Vergleich zu denen, die muslimische Schulen besuchen – eine Diskrepanz, die mit dem Gefühl der Entfremdung und Einschüchterung in öffentlichen Schulen in Verbindung steht – zum Teil darauf zurückzuführen, dass der Religionsunterricht in England nicht konfessionell und multikulturell ist. Glaube ist dort eher pädagogisch als religiös. Während die persönliche, spirituelle und intellektuelle Entwicklung der Schüler*innen gefördert wird, wird es verabsäumt, das Interesse an einer bestimmten Religion oder Religionen im Allgemeinen zu fordern oder zu fördern. Darüber hinaus gibt es keine spezifische islamische Bildung in öffentlichen Schulen, jedoch können die lokalen Behörden ethnischen Minderheitengemeinschaften dabei helfen, zusätzliche Schulen zu gründen, welche Bildungsabende oder -samstage anbieten, um die sprachlichen und kulturellen Traditionen aufrechtzuerhalten. Es fehlt an Studien, die sich speziell auf die islamische Bildung konzentrieren, insbesondere auf die Ansätze, Methoden und die Pädagogik, die in muslimischen Schulen in England Anwendung finden. Es fehlen darüber hinaus auch Programme, welche die Lehrer*innen gezielt auf die verschiedenen Aufgaben vorbereiten, die in den drei islamischen Unterrichtsfächern der muslimischen Schulen (arabische Sprache, islamische Lehren und Praktiken sowie Koranrezitation) enthalten sind (Berglund 2015).

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Die Islamfeindlichkeit verschärft sich oftmals besonders dann, wenn der Bau neuer Moscheen, Medresen oder muslimischer Schulen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien auf sich zieht, da diese als Orte zur Förderung der Radikalisierung angesehen werden. Gleichzeitig versuchen viele Wissenschaftler*innen, die Ansichten über den Islam und die Muslim*innen zu verstehen und Wege zu finden, wie pädagogische Ansätze angepasst werden können, um dieses Problem zu lösen (Thobani 2010, S. 11). Ein unmittelbarer Ansatz war die Schaffung eines Lehrplans über »Islam, Citizenship and Education« (ICE), um Schüler*innen in muslimischen Bildungseinrichtungen, insbesondere Medresen, aber auch in muslimischen Schulen, Werte zu vermitteln, die sich auf praktische und direkte Weise mit dem Thema befassen (Coles 2010). ICE integriert islamische Leitlinien in das an englischen Schulen verwendete nationale Programm für Staatsbürgerschaftskunde. Ziel ist es, Lehrer*innen in muslimischen Bildungseinrichtungen die Möglichkeit zu geben, staatsbürgerliche Werte aus islamischer Perspektive zu präsentieren. Nachdem die Materialien im Klassenzimmer getestet worden waren, kam man zum Schluss, dass staatsbürgerliche und islamische Werte weitgehend miteinander vereinbar sind. Alle Teilnehmer*innen waren sich darüber einig, dass gute Muslim*innen gute Bürger*innen sein müssen. ICE wurde von einem Team aus Pädagog*innen gegründet, das von Maurice Irfan Coles, einem britischen Konvertiten zum Islam, geleitet wurde. Der baute auf drei bestehende Programme auf, darunter auf dem Nası¯ha-Projekt, mit Unterstützung bei der Entwicklung des Materials von verschiedenen Körperschaften, wie dem Muslim Council of Britain, und erzielte damit einen beachtenswerten Erfolg. In Verbindung mit Lehren aus dem Koran, den Hadithen und der islamischen Ethik, die Respekt und Toleranz fördern, sollen junge Muslim*innen dabei unterstützt werden, mehr über ihre gesellschaftliche Rollen und Verantwortung zu erfahren. Darüber hinaus stellt es eine Islamisierung des Wissens dar, die es muslimischen Jugendlichen ermöglicht, anders zu sehen und ein Gefühl des Stolzes hinsichtlich ihres Glaubens, ihres Erbes und ihrer Geschichte zu entwickeln. Es ist ein direktes Resultat der Bemühungen der Regierung, die Verbreitung von Extremismus in islamischen Bildungseinrichtungen zu unterbinden. ICE-Materialien und Anweisungen können unter http://www.theiceproject.com heruntergeladen werden. Eine Übersicht mit dem Titel »When Hope and History Rhyme« ist ebenfalls verfügbar (Coles 2010).

Islamische Bildung in Großbritannien und Irland

2.

Islamische Bildung in Irland

2.1

Geschichte

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Die Republik Irland umfasst 26 der 32 Grafschaften der Insel Irland. Sie wurde im englisch-irischen Vertrag von 1922 als irischer Freistaat gegründet, blieb jedoch bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahre 1937 ein Herrschaftsgebiet, das 1949, durch den Republic of Ireland Act, zur Republik wurde. Im Jahr 1955 erfolgte der Beitritt zu den Vereinten Nationen und 1973 zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorgängerin der Europäischen Union. Zwischen 1995 und 2007 erreichte die Republik beträchtlichen Wohlstand durch die Verabschiedung einer liberalen Wirtschaftspolitik, die 2008 mit der Finanzkrise endete. Im Jahr 2015 wies sie die am schnellsten wachsende EU-Wirtschaft auf und lag somit, gemeinsam mit Deutschland, an sechster Stelle, war auf dem UNIndex der menschlichen Entwicklung das am stärksten entwickelte Land und lag laut dem »Legatum-Prosperity-Index« weltweit an zehnter Stelle. Irland zeichnet sich durch Wirtschafts- und Pressefreiheit sowie bürgerliche Freiheiten aus und ist Gründungsmitglied des Europarats sowie Mitglied der OECD. Das Land pflegt seit dem Zweiten Weltkrieg eine Neutralitätspolitik und ist daher kein Mitglied der NATO, sondern der »Partnerschaft für den Frieden« (Ferriter 2005).

2.2

Muslimische Präsenz

Irland findet bereits Erwähnung im Buch des arabisch-muslimischen Geografen al-Idrı¯sı¯ aus dem Jahr 1154 mit dem Titel Tabula Rogeriana (»Die Karte von Roger«), auch bekannt unter seinem arabischen Titel Nuzha¯t al-musˇta¯q fı¯’ihtira¯q ˘ al-a¯fa¯q (»Die Reise von einem, der Horizonte durchqueren will«), mitsamt einer Beschreibung sowie einer Karte vom »Großen Irland« (irlanda al-kabı¯ra). Dabei handelte es sich um ein 15 Jahre andauerndes Unternehmen, welches der Normannenkönig Roger II. von Sizilien in Auftrag gab. Die eigentliche Präsenz der Muslim*innen begann jedoch erst mit der im Jahre 1631 stattgefundenen Razzia der nordafrikanischen Besatzung des Schiffs des zum Islam konvertierten Niederländers Murad Reiss (Jan Janszoon). Der osmanische Sultan Abdülmecid sandte 1845 Geschenke im Wert von 1.000 Pfund an das irische Volk und drei Schiffe voll Nahrungsmitteln, die trotz der Interventionsbemühungen der britischen Regierung im Hafen von Drogheda zurückgelassen wurden. Diese Informationen stammen aus einem von prominenten Iren verfassten Brief aus einem osmanischen Archiv in der Türkei, in welchem diese dem Sultan für seine Hilfe dankten (Scharbrodt, Sakaranaho, Khan, Shanneik & Ibrahim 2015, S. 28f.). Eine dauerhaftere Präsenz begann mit indisch-muslimischen Einwander*innen, dar-

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unter Mirza Abu Talib Khan (1752–1806), Sake Dean Mahomet (1759–1851) und Mir Aulad Ali (1832–98), die sich in Irland niederließen, nachdem sie in der Britischen Ost-Indien-Kompanie gearbeitet hatten. Das 1861 ernannte Fakultätsmitglied des Trinity College von Dublin, der prominente Intellektuelle Mir Aulad Ali, trug zur Verbesserung des sozialen und politischen Lebens in Irland bei. Seine Position, in welcher er Beamte für die britische Kolonialverwaltung in Indien ausbildete und ihnen Persisch, Hindi und Arabisch beibrachte, hatte er vier Jahr lang inne. Gleichzeitig förderte er die irische Sprache in einer Zeit, die von Irlands Verhältnis zum britischen Imperium und der Gründung des Irischen Freistaates im Jahr 1922 geprägt war. Während im 18. Jahrhundert der größte Teil der Bevölkerung Irisch sprach, waren es 1841 nur noch 23 Prozent. Er trat der »Gesellschaft für die Erhaltung der irischen Sprache« bei und setzte sich für ihre Mission in öffentlichen Foren ein, wie zum Beispiel in einer öffentlichen Versammlung im Jahr 1887 zur Erörterung des irischen Bildungswesens und der Rechte der Lehrer, in der er die Wiedereinführung der irischen Sprache als Schlüsselelement der öffentlichen Bildung forderte (Scharbrodt et al. 2015, S. 32– 38). Nach dem Urabi-Aufstand von 1882, der zur Besetzung Ägyptens durch die Briten führte, wurde eine Verbindung zwischen Irland und Ägypten hergestellt. Während zwischen Irland und anderen Ländern, die die Unabhängigkeit von Großbritannien anstrebten, Gemeinsamkeiten bestanden, profitierte Irland eindeutig von seinem einzigartigen Status. Mir Aulad Alis Stelle am Trinity College verkörperte diese Zusammenhänge. Indem er Beamte auf den Dienst in Indien vorbereitete, erleichterte er die Aufrechterhaltung der britischen Besatzung und kämpfte andererseits für die Rückeroberung des irischen Nationalismus gegen den Kolonialismus. Damit vertrat er eine Vielzahl von Identitäten und schuf eine Schnittstelle von Ideen und Überzeugungen (Scharbrodt et al. 2015, S. 36). Nach seinem Tod im Jahr 1898 war die irische Bevölkerung – vor allem die in Dublin lebende – bereits daran gewöhnt, mit Menschen muslimischen Glaubens in Kontakt zu treten, wobei eine kürzere Phase muslimischer Präsenz zwischen 1894 und 1915 in vollem Gange war. Es gab »orientalische« Wanderbasare mit Truppen von Akrobaten, Sängern, Musikern und Tänzern, die aus Mauren, Arabern, Ägyptern und Osmanen bestanden. Aufzeichnungen aus beiden Weltkriegen dokumentieren die Ankunft von kurzfristigen Arbeitern und langjährigen Einwandern, einschließlich Männern, die sich 1919 in Dublin niederließen, darunter drei jemenitische Feuerwehrleute und sechs ägyptische Ärzte, fünf Muslime und ein koptischer Christ, welche im Krankenhaus und in medizinischen Posten tätig waren, aber auch reisende muslimische und hinduistische Seidenhändler, die in den späten 1930er-Jahren ankamen. Folglich war die Einführung eines Gesetzes im Jahr 1935, welches sowohl Hala¯l- als auch koschere ˙

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Schlachtung erlaubte, nicht überraschend. Eine kommunale muslimische Präsenz entwickelte sich jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, sechs Jahrzehnte nach Mir Aulad Alis Tod (Scharbrodt et al. 2015, S. 38–42). Die neue Präsenz begann mit der Ankunft südafrikanischer Muslim*innen, einschließlich der Nachkommen indischer Einwander*innen, denen aufgrund von Beschränkungen des Zugangs zu Universitäten für Nichtweiße ein Medizinstudium verwehrt blieb. Im Jahr 1945 besuchte das geistige Oberhaupt der ismailischen Schiiten, Aga Khan III., Éamon de Valera, der ihm 1938 als Präsident der League-of-Nations-Generalversammlung nachgefolgt war. Zu dieser Zeit leitete de Valera die irische Regierung und diente als Kanzler der National University of Ireland, wodurch er sich jährlich sechs Plätze für das Medizinstudium am University College Dublin sicherte. Das Royal College of Surgeons willigte ein, ab 1940 jährlich eine Quote indischer Studenten zuzulassen. Ab 1952 gab es bereits eine beträchtliche Anzahl an südafrikanischen Muslimen, die in Irland blieben, um an einer medizinischen Karriere zu arbeiten. Viele davon heirateten irische Frauen. 200 der 280 Studenten, die an Aufnahmeprüfungen von 1963 teilgenommen hatten, waren Südafrikaner, jedoch reduzierten der Anstieg der Studiengebühren im Jahr 1968 und die Aufhebung der ApartheidBeschränkungen die Nachfrage (Scharbrodt et al. 2015, S. 51). 2.2.1 Muslimische Organisationen Südafrikanisch-muslimische Studenten, die in den 1950er- und 1960er-Jahren in Dublin eine bedeutende Anzahl wie auch Wirkung hatten, gründeten die erste irisch-muslimische Organisation, die Dublin Islamic Society, später die Islamic Foundation of Ireland (IFI), welche alle irischen Muslim*innen zu Ehrenmitgliedern ernannte. Ihre privilegierten Hintergründe machten sie mit den kulturellen Ressourcen und Gepflogenheiten vertraut, die in englischsprachigen Ländern mit muslimischen Minderheiten verwendet wurden, wo die Schaffung von auf deren Bedürfnisse zugeschnittenen Plattformen üblich war. Damit waren sie gut gerüstet, um die Gründung zu leiten und als Verwaltungsbeamte und Treuhänder zu fungieren. Viele von ihnen waren in den 1950er- und 1960erJahren im kommunalen Leben in Dublin aktiv – einige davon waren auch nichtpraktizierende Muslime mit linken Neigungen – und viele waren Mitglieder des African National Congress. Polizeiaufzeichnungen von öffentlichen Aktionen gegen die Apartheid-Politik Südafrikas aus dem Jahre 1960 führten einen Studenten des Royal College of Surgeons, Hoosen Coovadia, als einen der Hauptorganisatoren auf. Der Initiator des sogenannten »Boycott Movement«, Abdul Samad Minty, zog nach Dublin, um am Trinity College Jura zu lehren. Dennoch war auch er bis 1991 in der irischen Anti-Apartheid-Bewegung aktiv (Scharbrodt et al. 2015, S. 51f.).

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Inspiriert durch die IFI gründeten malaysische Studenten, die erst ab 1950 ankamen und 1968 bereits mehr als 400 zählten, 1957 das Dublin Malaysia House, das ihnen seither als Zentrum dient. In den 1950er-Jahren gab es nur wenige arabisch-muslimische Studenten, erst Mitte der 1960er-Jahre stieg ihre Anzahl aufgrund der Ankunft von Doktoranden aus dem Sudan, Libyen, Ägypten, dem Irak, Syrien und Jordanien. Im Jahr 1969 gründeten sie die Irish-Arab Society, um Kultur, Bildung, Wirtschaft und Politik zwischen Irland und der arabischen Welt, mit 150 arabischen Studenten und Ärzten als Gründungsmitgliedern, zu fördern. 2003 wurde die Federation of Student Islamic Societies (FOSIS) gegründet, um muslimische Studenten zu unterstützen, zu vereinigen und zu vertreten. Der Verband bietet Hilfe und ermöglicht es ihnen, einen Beitrag zur irischen Gesellschaft und Gemeinschaft zu leisten (Scharbrodt et al. 2015, S. 52). Aufgrund der zunehmenden Einwanderung wuchs die muslimische Bevölkerung ab 1990 erheblich. Gemäß den Volkszählungen stieg die Anzahl der Muslim*innen von 3.875 im Jahr 1991 auf 19.147 im Jahr 2001, auf 32.229 im Jahr 2006, auf 49.204 im Jahr 2011 und auf 63.443 im Jahr 2016. Der jährliche Anstieg um 29 Prozent nach 2011 resultierte aus einem stetigen Anstieg von Arbeitssuchenden sowie aus den hohen Geburtenraten. Der wirtschaftliche Aufschwung der 1990er-Jahre (»Celtic Tiger Years«) bewirkte zwischen 1991 und 2001 einen Anstieg um 1.000 Prozent, was die Schaffung von islamischen Zentren, Moscheen und muslimischen Schulen förderte (Scharbrodt et al. 2015, S. 56–63).

2.3

Islamische Zentren, Moscheen und Bildungsprogramme

1976 eröffnete die IFI die erste Moschee und das erste sunnitisch-islamische Zentrum in Dublin. Der saudi-arabische König Faisal gehörte zu den Förderern. Im Jahre 1981 begann der kuwaitische Minister für Stiftungen und islamische Angelegenheiten, einen Vollzeit-Imam zu finanzieren. Als das Gebäude 1992 zu klein wurde, erklärte sich Scheich Al Maktum, der stellvertretende Gouverneur von Dubai sowie Finanz- und Industrieminister der Vereinigten Arabischen Emirate, bereit, das Land und den Bau des »Islamischen Kulturzentrums von Irland« (ICCI) und der muslimischen Schule, welche im Jahr 1993 gegründet wurde, zu finanzieren. Heute befindet sich das »Islamische Kulturzentrum von Irland« neben dem University College Dublin. Es umfasst Verwaltungsbüros, Besprechungsräume und zehn Wohnungen sowie eine Wäscherei, eine Gebetshalle, eine Bibliothek mit 4.000 englischen und 10.000 arabischen Büchern sowie Büchern in anderen Sprachen, eine Mehrzweckhalle, einen Seminarraum, ein Selbstbedienungsrestaurant mit arabischen und pakistanischen Spezialitäten wie auch ein Geschäft, welches Hala¯l-Fleisch sowie Lebensmittel aus dem Nahen ˙ Osten und dem Balkan anbietet. Es bietet Hochzeits- und Bestattungsdienst-

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leistungen, Kinderbetreuung sowie die Übersetzung von Zertifikaten und akademischen Dokumenten. Darüber hinaus beherbergt es den Hauptsitz mehrerer Organisationen, darunter die »Föderation Islamischer Organisationen in Europa« und das Institut für Humanwissenschaften. Diese erste Phase des Institutionenaufbaus ebnete den Weg für viele weitere islamische Institutionen (ICCI o. J.).

2.4

Moscheen und islamische Zentren

Viele sunnitisch-islamische Zentren und Moscheen wurden Ende der 1970erJahre eröffnet. Die Muslim*innen in Galway gründeten die Galway Islamic Society (GIS), welche in einem 1978 angemieteten Haus und später in einem weiteren im Jahr 1981 erworbenen Haus untergebracht wurde, die als ihre Moscheen dienten. 1984 gründeten Muslim*innen in Cork die Cork Muslim Society (CMS) und kauften 1994 ein Haus, das sie als Moschee nutzten. Sie eröffneten im Jahr 2013 das »Islamische Kulturzentrum Cork«, das »Dawa-Zentrum« und eine Moschee. Die Regierung Katars finanzierte den Bau. Muslim*innen in Ballyhaunis errichteten 1986 die Ballyhaunis-Moschee, die erste eigens als Moschee gebaut wurde, außerhalb von Dublin, welche von Sher Rafique, dem Besitzer der örtlichen Hala¯l-Fleischfabrik, finanziert wurde. Diese bietet Platz für etwa ˙ 150 Betende. Die pakistanische Gemeinde Blackpitts kaufte 1992 ein Lagerhaus. Nach der Renovierung im Jahr 2011 beherbergt es heute die Dubliner BlackpittsMoschee. 1994 kauften die Muslim*innen von Limerick ein Haus, welches ihnen als Moschee dient. 1999 gründeten Muslime aus Waterford eine Zweigstelle der IFI. Sie mieteten für ihre Zwecke ein Haus, um es als Moschee zu nutzen. In Irland gibt es eine Ahmadi- und zwei schiitische Moscheen. Die Babul-Ilm-Gesellschaft wurde in Ballycoolin gegründet und 1980 das Ahlul Bayt Islamic Center. Dieses war in gemieteten Gebäuden untergebracht, bevor es in die heutige Einrichtung an der Milltown-Brücke zog, welche über eine Gebetshalle, eine Küche, Verwaltungsbüros und Waschräume verfügt. Ahmadi-Muslim*innen in Galway eröffneten 2014 die Maryam-Moschee. Die Anzahl der Gemeinden stieg im Laufe der Zeit an und führte zur Gründung des Irish Council of Imams (ICI) im Jahr 2006, in dem 14 sunnitische und schiitische Imame vertreten werden. Imam Hussein Halawa (ICCI) dient als Vorsitzender und Imam Yahya Al-Hussein (IFI) als stellvertretender Vorsitzender (IID o. J.).

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2.4.1 Islamische Bildungsprogramme Viele Gemeinden bieten islamische Bildungsprogramme für Erwachsene und Kinder, abends und am Wochenende, an. Dazu gehören die Al-Falah-Wochenendschule am Samstag (IFIa o. J.), die Sonntags-Madrasa in der Dubliner Moschee, die Nur-Al-Huda-Koranschule am Freitag, Samstag und Montag im Islamischen Kulturzentrum, die Kurse des islamischen Al-Mustafa-Bildungs- und Kulturzentrums (MIE&CCI o. J.) am Samstag und Sonntag und die libysche Schule für arabische Kinder, ebenfalls am Samstag und Sonntag. In Anbetracht des Mangels an muslimischen Schulen sind diese Angebote von zentraler Bedeutung (IID o. J.). 2.4.2 Muslimische Schulen 1988 begannen die irischen Muslim*innen über die Möglichkeit der Gründung einer muslimischen Schule zu diskutieren. Sie freuten sich festzustellen, dass die Verfassung ihre Absicht unterstützen könnte, da es im Text der Verfassung lautet: »Der Staat erkennt an, dass der erste und natürliche Lehrer des Kindes aus der Familie stammt, und garantiert das unveräußerliche Recht und die Pflicht der Eltern, nach ihren Möglichkeiten für die religiöse, sittliche, intellektuelle, körperliche und soziale Bildung ihrer Kinder zu sorgen; dies ist zu respektieren.« So trafen sie sich mit Vertreter*innen und Beamt*innen des Ministeriums für Bildung und berufliche Qualifizierung, um die Realisierbarkeit einer muslimischen Schule zu diskutieren. Das Ministerium stimmte zu, die Gründung einer muslimischen Schule zu unterstützen, insofern es sich bei den Schüler*innen um mindestens 40 Kinder über vier Jahre handle und die Gemeinde die Zahl im Laufe der Zeit aufrechterhalten oder erhöhen sowie ein Verwaltungsrat die Schule verwalten würde (INST o. J.). 1989 veranstaltete die IFI eine Konferenz über islamische Erziehung für Kinder, zu der sowohl irische als auch irisch-muslimische Vortragende geladen waren. Zum Ende der Konferenz hatten sich bereits viele der Teilnehmer*innen bereit erklärt, das Schulprojekt zu unterstützen. Im März 1990 wurde beim Ministerium ein Antrag auf Anerkennung der geplanten Schule gestellt und im Juli desselben Jahres eine vorläufige Anerkennung erteilt. Ein Schulleiter, ein religiöser Mitarbeiterstab und eine Aushilfslehrerin wurden ernannt und die IFIVerwaltungsräume den Anforderungen entsprechend renoviert. Sie bildeten ein Patronatsgremium für muslimische Schulen und gründeten die muslimische Grundschulbehörde, die als Aufsichtsbehörde unter dem Ministerium fungieren sollte. Ebenso sollte es einen Rat hinsichtlich der islamischen Perspektive in Bezug auf Bildungsfragen geben, welcher im Zusammenhang mit der islamischen Lehre und anderen Themen in muslimischen Schulen sowie von musli-

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mischen Kindern besuchten Schulen stehen sollte, um muslimische Bildung zu verwalten und zu entwickeln, während islamische Werte aufrechterhalten werden und Lehrer*innen und Eltern ermächtigt werden sollten, indem eine stimulierende Umgebung mit einem islamischen Ethos geschaffen und den Schüler*innen somit ermöglicht werde, ihr volles Potenzial auszuschöpfen, um zu Vorbildern zu werden und effektiv einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten und an ihr teilzuhaben (IFIb o. J.). Die Schule wurde im September 1990 mit 40 Schüler*innen eröffnet. Als ihre Anzahl stieg, wurden in den folgenden Jahren eine zweite und eine dritte Aushilfslehrerin angestellt, was verdeutlichte, dass die Gebäude in der Dubliner Moschee und im Islamischen Zentrum unzureichend waren und der Ort keine weiteren Klassenzimmer oder Spielplätze unterbringen konnte. 1992 erwarb die IFI einen neuen Standort, der zusammen mit der Renovierung der bestehenden Gebäude vom stellvertretenden Gouverneur von Dubai und dem Minister für Finanzen und Industrie der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Al Maktum, finanziert wurde. Die Schule zog im Januar 1993 mit ihren mittlerweile 117 Schüler*innen an den neuen Standort (ICCI o. J.). Im April 1993 wurde die neue Schule von Präsidentin Mary Robinson offiziell mit folgenden Worten eröffnet: »Angesichts des traditionellen muslimischen Dursts nach Wissen, Lernen und Kultur war es nur natürlich, dass Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft das Bedürfnis nach Bildung empfinden würden, die die Werte des islamischen Glaubens widerspiegelt […].« Weiter führte sie aus, dass die Kinder, die sie an diesem Tag willkommen geheißen hatte, »dazu beitragen würden, unser irisches Bewusstsein zu erweitern und uns mit ihrem starken und symbolischen Sinn für Kultur und Ideale zu bereichern«. Die Finanzierung vonseiten des Ministeriums deckt die Gehälter der Lehrer*innen, die Kosten für Sprachunterstützung und die Assistent*innen für besondere Bedürfnisse und gewährt Zuschüsse für das Sekretariat und den Hausmeister, eine Steuerbegünstigung, eine 90-Prozent-Finanzierung der Schulmöbel und die Bereitstellung eines kostenlosen Schülertransportes von der und zur Schule. Die muslimische Gemeinschaft übernimmt die restlichen Ausgaben (IFId o. J.). Im Jahr 1996 wurde deutlich, dass eine Erweiterung erforderlich war. Präsidentin Robinson eröffnete im November, mit der Erweiterung um fünf zusätzliche Klassenzimmer, das angrenzende Islamische Kulturzentrum offiziell. Derzeit gibt es 284 Schüler*innen, fünf muslimische Teilzeitlehrer*innen, die den Koran, Arabisch und Islam unterrichten, 17 Vollzeitlehrer*innen und zehn Assistent*innen für besondere Bedürfnisse (IFId o. J.). Die zweite irisch-muslimische, vom Staat finanzierte Grundschule, die multikonfessionelle North Dublin National School, wurde im Jahre 2001 eröffnet. Die dritte irisch-muslimische Schule und erste irisch-muslimische Privatschule, die Shaheeda Zainab Muslim Independent School, die von der Shuhada-Stiftung von

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Irland gegründet wurde, folgte 2014. Obwohl diese privat und unabhängig ist, dürfen muslimische Lehrer*innen lediglich islamische Fächer unterrichten. Laut der Webseite bietet sie qualitativen Privatunterricht, indem sie den staatlichen irischen Lehrplan durchführt, die Rezitation, das Auswendiglernen und Verständnis von Koran, Hadith, daʿwa und tawh¯ıd und islamische Überzeugungen ˙ unterrichtet sowie Sitten und Ethik, die arabische Sprache und tagˇwı¯d und ein islamisches Bildungsumfeld anbietet, um die Schüler*innen zu befähigen, erfolgreich und kreativ zu lernen und zukünftige Führungspersönlichkeiten, qualifizierte islamische Gelehrte (ʿulama¯’), wirksame Förder*innen des Islams (duʿa¯) und Hüter*innen des Korans (Huffa¯z) zu werden (SZIMS o. J.). ˙ ˙ Das deutlich islamische Ethos der Schulen spiegelt sich in der Einrichtung und den Praktiken wider. Islamische Bilder und Plakate schaffen eine islamische Atmosphäre. Die Klassenbibliotheken enthalten islamische Bücher. Die Schuluniformen entsprechen den islamischen Anforderungen. Ab der dritten Klasse verrichten die Kinder das Mittags- und das Freitagsgebet. Zudem schließen die Schulen für acht Tage zu ʿI¯d al-Fitr und für fünf Tage zu ʿI¯d al-Adha¯ sowie zu ˙ ˙˙ nationalen Feiertagen (Sai 2017b). 2.4.2.1 Institutionelle, pädagogische und lehrplanmäßige Entwicklungen Gemäß dem Ministerium werden die Aufgaben von Konfessionsschulen von einem Schirmherrn überwacht und festgelegt. Daher folgen die beiden muslimischen nationalen Schulen dem gleichen Koran-Lehrplan. Dies beginnt auf der Ebene von Kleinkindern (vier Jahre) mit Al-Qaidah al-Nura¯niyah (»Die leuchtende Regel«), einem Alphabetisierungsbuch, welches die Aussprache arabischer Buchstaben, Wörter und Sätze behandelt. Es wird verwendet, um den Kleinsten beizubringen, den Koran bis zum Ende der Klasse für ältere Kinder (im Alter von fünf bis sechs Jahren) auf Arabisch zu lesen, mit der Erwartung, dass sie danach Koranverse auf einem grundlegenden Niveau lesen können. Die Schüler*innen beginnen damit, sich die kurzen letzten Koransuren (82 bis 114) zu merken, zu welchen auch die Lehrer*innen einfache Erklärungen geben. Die Schüler*innen der vierten Klasse überarbeiten die Suren 82 bis 114 und merken sich die Suren 78 bis 81 sowie die Verse 13 bis 15 der Sure Luqma¯n, wobei der Schwerpunkt auf Luqma¯ns religiösem Rat an seinen Sohn liegt, welcher für Kinder von Relevanz ist. Die Schüler*innen der fünften Klasse überarbeiten die vorherigen Suren und merken sich die Suren 74 bis 77 sowie die letzten Verse der Sure »Die Kuh« (285– 286), das islamische Glaubensbekenntnis und die Sure »Die Biene« (125–128), in der die Tugenden von Geduld und Sprachetikette beschrieben werden. Obwohl Unterschiede im Unterrichtsstil zulässig sind, müssen alle im Lehrplan beschriebenen Fähigkeiten unterrichtet werden, damit der Fortschritt der Schüler*innen gewährleistet ist. Dass dies nicht immer der Fall ist, belegt eine Studie, der zufolge zwei der Lehrer*innen weder die Bedeutung der Verse erklärten noch

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Wiederholungen ansetzten; eine der Lehrpersonen habe den Schüler*innen nicht beigebracht, die Verse zu schreiben (Sai 2017c, S. 7). Im arabischen Sprachunterricht verwenden beide muslimischen Nationalschulen dieselbe Buchreihe mit dem Titel I Love Arabic and Learning It von AlHabeeb Al-Afas für nicht arabischsprachige Schüler*innen von drei bis 13 Jahren, die im Westen leben. Das Ziel ist es, Lesen, Zuhören, Sprechen und Schreiben zu lernen. Sie enthält Schulhefte und Audio-CDs, Letztere wurden jedoch aus Kostengründen nicht angeschafft. Koranverse und Hadithe auf Arabisch verzieren die Wände der Klassenzimmer, und arabische Grüße, die täglich ausgetauscht werden, fördern das Lernen. Hadithe auf Englisch und Arabisch in den Lehrbüchern machen die Schüler*innen mit arabischen Originalquellen vertraut, die im Islamunterricht zum Einsatz kommen (Sai 2017a, S. 445). Viele Eltern begrüßen den arabischen Sprachunterricht und erkennen seine Bedeutung an, während andere ihn für überflüssig und übertrieben halten, da ihre Kinder gleichzeitig auch noch Englisch, Irisch und ihre eigene Muttersprache lernen (Sai 2017a, S. 447–450). Die Kapazität der drei muslimischen Schulen reicht nicht aus, um die Anforderungen der Immatrikulation zu erfüllen, jedoch ist die Gründung einer weiteren Schule für die meisten Eltern unmöglich. So stehen viele vor der Wahl zwischen einer katholischen und einer Gesamtschule. Anfangs davon überzeugt, dass das katholische Ethos mit dem islamischen Ethos vergleichbar sei, entdeckten sie viele beunruhigende Aspekte, beispielsweise die Tatsache, dass ihre Kinder den katholischen Glauben kennenlernen und regelmäßig katholische Praktiken befolgen. Eine Alternative bilden Gesamtschulen, welche eine allgemeine Form des Religionsunterrichts anbieten und deren Schulbehörden muslimischen Eltern Unterstützung bei der Einrichtung von Islamunterricht außerhalb der Pflichtschulzeiten leisten können. Muslimische Eltern sehen Nachteile auf beiden Seiten (Sai 2018). Andere Anliegen der Eltern sind muslimische Schulbedingungen. Die Regierungsbestimmungen erlauben es muslimischen Lehrer*innen ausschließlich, die islamischen Fächer zu unterrichten, da ihnen weitere Qualifikationen fehlen. Daher unterrichten Nichtmuslim*innen, normalerweise Frauen, die verbleibenden Fächer. Obwohl erwartet wird, dass sich diese angemessen kleiden, müssen sie den Kopf nicht bedecken. Dies wird als nicht ideal angesehen, da es das islamische Ethos – ein entscheidender Vorteil muslimischer Schulen – ästhetisch, aber auch pädagogisch beeinflussen kann, weil dies die Islamisierung des Wissens im Unterricht nichtislamischer Fächer ausschließt. Diese äußerst wertvolle Methode, die in kanadischen und US-amerikanischen Schulen zum Einsatz kommt, beinhaltet die Integration von Koranversen, welche sich auf im Unterricht behandelte Themen beziehen. Dies fördert nicht nur das Verständnis der Schüler*innen hinsichtlich der Themen, sondern auch ihr Verständnis in Bezug auf

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die Koranverse. Darüber hinaus können wichtige historische Beiträge muslimischer Gelehrter erwähnt werden, zum Beispiel Algebra im Bereich der Mathematik, ein wichtiger mathematischer Ansatz, und der Algorithmus, ein komplizierter mathematischer Prozess, der von al-Hwa¯rizmı¯ erfunden wurde, sowie ˘ im Bereich der Medizin die Entdeckung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten, die auf dem Luftweg durch Partikel, später Keime genannt, übertragen werden, und anschließend die Erfindung des Krankenhauses, beide von Ibn Sı¯na¯ entdeckt bzw. entwickelt. Die Methode, diese und ähnliche historische Errungenschaften, aber auch Koranverse an die Schüler*innen weiterzugeben, fördert nicht nur das islamische Ethos von Schule und Unterricht, sondern verstärkt zusätzlich den Stolz und das Ehrgefühl der Schüler*innen hinsichtlich ihres Glaubens, ihres Erbes und ihrer Geschichte (Zine 2008, S. 18–22). Auf ähnliche Weise würde dies muslimischen Lehrer*innen ermöglichen, Interaktionsformen, welche der Prophet Muhammad nutzte, in den Unterricht zu integrieren. Diese ˙ Vorgehensweise würde nicht nur die Interaktion der Schüler*innen mit den Themen fördern und ihnen nützliche Interaktionsformen beibringen, sondern sie darüber hinaus auch mit dem Leben, dem Charakter und der Persönlichkeit des Propheten Muhammad vertraut machen (Alkouatli 2018). ˙ Nach jahrzehntelanger Besorgnis über den potenziellen Beitrag muslimischer Schulen und außerschulischer islamischer Bildungsprogramme zur Radikalisierung haben Forschung, Politik sowie politische Entscheidungsträger*innen damit begonnen, nach Wegen zu suchen, um stattdessen deren Potenzial zur Förderung intra- und interreligiösen und damit sozialen Zusammenhalts und gesellschaftlichen Engagements nutzbar zu machen. Das Erfolgspotenzial dessen wird derzeit überprüft. Es wurde jedoch bereits festgestellt, dass die Unterdrückung innerreligiöser Unterschiede, wie jener zwischen Sunniten und Schiiten, den Prozess negativ beeinflussen kann, wie dies bei einem Lehrer-SchülerAustausch im islamischen Religionsunterricht in einer muslimischen Schule in Irland deutlich wurde (Rissanen & Sai 2017, S. 5). Zudem schlug der National Council for Curriculum and Assessment kürzlich vor, dass das Ministerium einen Weltreligions- und Ethikkurs auf primärer Ebene, auch in den muslimischen Schulen, einführt. Die katholische Kirche lehnte die Idee jedoch ab, da dadurch das Recht der konfessionellen Schulen und ihrer Religionsgemeinschaft, ihr Ethos aufrechtzuerhalten, verletzt würde. Darüber hinaus spiegeln die – mitunter negativen – Reaktionen der muslimischen Eltern die Herausforderungen der religiösen Erziehung im westlichen Kontext wider, welche sich durch ihren Minderheitenstatus noch komplizierter gestaltet. Die Vorstellung, dass ein ausreichendes Verständnis der eigenen Tradition dazu beiträgt, Verständnis für andere, sozialen Zusammenhalt und Dialogfähigkeit entwickeln, was ja als Kennzeichen religiöser Erziehung gilt, ist ein Ideal, das in Debatten oft ausgeschlossen bleibt (Rissanen & Sai 2017, S. 7). Dem entgegen steht das Projekt

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»Islam, Citizenship and Education« (ICE), das für außerschulische, britischislamische Bildungsprogramme (Medresen) entwickelt wurde und dessen Material von der Webseite des Projekts (http://www.theiceproject.com) heruntergeladen werden kann. Dieses versucht, alle drei Aspekte zu fördern (Coles 2010). Einzelheiten zum ICE-Projekt finden sich im Abschnitt zur islamischen Bildung in England in diesem Kapitel.

2.5

Potenzielle Konfliktbereiche

Die katholische Kirche nimmt in der irischen Gesellschaft seit Langem eine wichtige Rolle ein. Trotz der jüngsten Veränderungen, die zur Verringerung ihres Einflusses führten, ist sie immer noch im öffentlichen Bereich, einschließlich des Bildungssystems, aktiv. Muslimische Eltern meldeten ihre Kinder an katholischen Schulen an, wenn sie keine muslimischen Schulen besuchen konnten, da sie den Eindruck hatten, dass das Ethos vergleichbar sei und ihre Kinder am katholischen Religionsunterricht nicht teilnehmen müssten. Oftmals sind muslimische Eltern jedoch im Nachhinein darüber besorgt, inwieweit katholische Praktiken und Glaubenssätze in den katholischen Schulen gefördert werden (Sai 2018). Darüber hinaus sind einige Muslim*innen aufgrund von Berichten verunsichert, in welchen behauptet wird, dass sie radikalisiert werden. Als Reaktion darauf organisieren einige Gemeinden Veranstaltungen und Aktivitäten, um Nichtmuslim*innen zu ermutigen, mit ihnen in Kontakt zu treten, ihre Einrichtungen zu besuchen und mehr über den Islam zu erfahren, um so Missverständnisse aufzuklären (IFIc o. J.).

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Ina ter Avest / Cok Bakker

Islamische Bildung in den Niederlanden und Belgien

Zusammenfassung In diesem Beitrag behandeln wir das Gebiet der religiösen Erziehung von muslimischen Jugendlichen zur Erlangung einer religiösen Identität im westlichen Kontext. Ebenso wird vom hochmodernen islamischen Religionsunterricht in Belgien und den Niederlanden, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor, berichtet und es werden auch kurze Einblicke in die Materialien für den islamischen Religionsunterricht im Grundschulbereich gegeben. Anhand von aktuellen Forschungsberichten wie auch von Recherchen von Journalisten soll dargelegt werden, wie der islamische Religionsunterricht in den Niederlanden und Belgien auf Vielfalt setzt, um die Schüler*innen als aufrechte muslimische Bürger*innen auf eine Gesellschaft vorzubereiten, die in Sachen Religiosität und säkularer Lebensorientierung sehr plural ausgerichtet ist. Es werden praktische Forschungsarbeiten empfohlen, die sich einerseits auf die Entwicklung religiöser Identität und die Pädagogik fokussieren und andererseits mit dem Fachpersonal für islamische religiöse Erziehung kooperieren, um die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen im Rahmen des Religionsunterrichts auszuloten. Dies soll es ermöglichen, die wertvollen Elemente der Vergangenheit zu erfassen und diese mit zahlreichen Fragen die Zukunft begegnen zu lassen.

1.

Einleitung

Die mediale Aufmerksamkeit muslimischen Jugendlichen gegenüber verändert sich derzeit von negativen Schlagzeilen (zum Beispiel die hohe Kriminalitätsrate von marokkanischen und türkischen Jugendlichen) aufgrund von Neugierde zu positiven. Ein Beispiel dafür ist die niederländische Serie »Moslims zoals wij« (»Muslime wie wir«), eine Adaption des australischen Pendants. In der Serie geht es um sechs junge Muslim*innen, alle mit einer eigenen Interpretation des ge-

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mäßigten Islams, die für eine Woche zusammen in einem Haus leben. Sie essen miteinander, kochen und putzen und führen gleichzeitig Diskussionen über den Islam als Glauben und als Lebensart. Die Serieninhalte werden auch in der niederländischen Zeitung Trouw illustriert. Hier werden Momentaufnahmen in der Kategorie »De appel en de boom« (»Der Apfel und der Baum«, zurückgehend auf die Redewendung »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«) dargestellt (Trouw 2020). In dieser Zeitung werden muslimische Heranwachsende in Form von Interviews, welche zwischen Vater/ Mutter und Sohn/Tochter stattfinden, vorgestellt. Sowohl die Zeitschrift als auch die Serie zielen darauf ab, die Vielfalt religiöser Positionierungen einer jungen Generation aufzuzeigen. Es handelt sich dabei um Kinder von ehemaligen Gastarbeiter*innen oder Flüchtlingen, die in einer säkularisierten westlichen Gesellschaft aufwachsen. Die Fernsehserie und die Zeitung geben Einblicke in die Religiosität von Jugendlichen. In diesem Beitrag werden wir uns zuerst auf den pädagogischen Kontext fokussieren – ein wichtiger Bestandteil, in welchem die religiöse Entwicklung von Jugendlichen stattfindet. Unseren Beitrag wollen wir mit einer Beschreibung des belgischen und des niederländischen religiösen Bildungssystems beginnen (Abschnitt »Bildung im belgischen und niederländischen Kontext«), mit besonderem Fokus auf dem formellen und informellen Religionsunterricht. Der Schwerpunkt liegt auf dem »Säulensystem« des islamischen Religionsunterrichts, der für beide Länder charakteristisch ist (Abschnitt »Geschichte der islamischen Bildung in Belgien und den Niederlanden«). Im dritten Abschnitt (»Beispiel guter Praxis«) werden wir in die für den islamischen Religionsunterricht in den Niederlanden entwickelten Unterrichtsmaterialien blicken. Im pädagogischen Kontext wird erwartet, dass Muslim*innen eine religiöse Identität und eine Position dem »Anderen« gegenüber entwickeln. Die aktuellen Forschungsergebnisse einer PhD-Arbeit (Abschnitt »Religiöse Entwicklung von Muslim*innen mit ›Bindestrich-Identität‹«) zusammen mit den Eindrücken medialer Meinungen (Zeitungen und Fernsehen) werden Aufschluss über die Charakteristiken muslimischer Religiosität in einem westlichen Kontext geben (Abschnitt »Der Apfel und der Baum«). Die Ergebnisse werfen eine brennende Frage auf, die wir im Abschluss dieses Berichts zu beantworten versuchen wollen (Abschnitt »Gelegenheiten und Herausforderungen«): In welcher Art und Weise sind muslimische Kinder und Jugendliche auf die niederländische plurale Gesellschaft vorbereitet? An dieser Stelle werden wir Empfehlungen für die Entwicklung des Religionsunterrichts und der daraus resultierten Staatsbürgerschaftskunde aussprechen.

Islamische Bildung in den Niederlanden und Belgien

2.

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Bildung im belgischen und im niederländischen Kontext

Leni Franken und Paul Vermeer beschreiben in ihrem Beitrag im British Journal of Religious Education die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des belgischen und niederländischen Bildungskontexts (Franken & Vermeer 2017). Sowohl in Belgien als auch in den Niederlanden gibt es neben öffentlichen Schulen auch konfessionelle Schulen. Beide werden von der jeweiligen Regierung finanziert und von der Bildungsbehörde kontrolliert. Die Säkularisierung hat in Belgien und den Niederlanden gleichermaßen die religiöse Landschaft (katholisch und evangelisch) verändert. Allein die Minarette, die neben den Kirchentürmen in die Höhe ragen, zeugen davon, wie die Einwanderung von Gastarbeiter*innen und Flüchtlingen den Kontext der Religionen geprägt hat. Zu guter Letzt kennzeichnet beide Bildungssysteme die sogenannte »Versäulung« innerhalb der Gesellschaft. »Das Konzept eines solchen Systems besteht darin, dass in einer religiös diversen Gesellschaft ethnisch homogene Gemeinschaften mit ihren jeweiligen sozialen Strukturen parallel nebeneinander her existieren« (ter Avest, Bertram-Troost & Miedema 2011; ter Avest, Bakker, Bertram-Troost & Miedema 2007, S. 204ff.). Diese Versäulung zieht sich in beiden Ländern von der Kirche aus durch verschiedene gesellschaftliche Bereiche wie Bildung, Politik, Handel, Krankenhäuser und auch Zeitungen. Im Folgenden widmen wir uns der Versäulung im Bildungssystem und ihren Herausforderungen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Einfluss der katholischen Kirche in Belgien auf das Schulwesen sehr groß, was nicht zum Vorteil aller Eltern war. Bis zum heutigen Zeitpunkt gab es in der belgischen Geschichte bereits zweimal (1878–1884 und 1950–1958) Schulauseinandersetzungen, die in einem »Schulbündnis« (1958) und einem Gesetz zum Schulbündnis (1959) endeten (Franken & Vermeer 2017). Aufgrund der institutionellen Reorganisation Belgiens 1988 sind die verschiedenen Sprachgemeinden (die französische, die deutsche und die flämische) für ihre Bildungsbelange zuständig. In der überarbeiteten Verfassung sind sowohl der erste als auch der dritte Paragraf von großer Bedeutung, da in ihnen die Religionsfreiheit verankert ist. Dies ist auch im Zusammenhang mit der sinkenden Anzahl von Schüler*innen (oder ihrer Eltern) christlichen Glaubens bei einem Anstieg von Schüler*innen (oder ihrer Eltern) anderer Glaubensrichtungen (z. B. des Islams) relevant. Die Finanzierung der konfessionellen Schulen ist zum größten Teil dieselbe wie bei öffentlichen Schulen, dies gilt ebenso für die Gehälter von Lehrer*innen sowie die Zuschüsse für Schüler*innen. Alle Schulen müssen gemäß Lehrplan einen Unterricht in den anerkannten Religionen1 sowie einen nichtkonfessionellen Ethikunterricht abhalten. Diese 1 Anerkannt sind römisch-katholisch, evangelisch, orthodox, anglikanisch, islamisch und jüdisch.

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Klassen werden von der jeweiligen Gemeinde organisiert und kontrolliert, die sowohl für die Anstellung von Lehrer*innen als auch für die Überprüfung der Lehrpläne und die Ausbildung verantwortlich ist. Sowohl in öffentlichen Schulen als auch in konfessionellen Privatschulen wird der Religionsunterricht gefördert. In der Regel findet dieser zweimal die Woche statt. Derzeit ist eine der größten Herausforderungen das der voranschreitenden Säkularisierung der Schüler*innen geschuldete Fehlen von religiöser Literatur. Eine weitere Frage besteht hinsichtlich der Form des Religionsunterrichts: Soll der Religionsunterricht weiterhin der Lehre des Katholizismus folgen oder Weltreligionen und Weltanschauungen lehren? Um diese Fragen zu beantworten, wurde das Fach »LEF« (Lebensorientierung, Ethik und Philosophie) eingeführt (ebd., S. 7–8). Im 19. Jahrhundert waren die Niederlande durch und durch evangelisch (ter Avest et al. 2007; 2011), der Ethikunterricht an öffentlichen Schulen war stark evangelisch geprägt. Um 1830 hatte sich unter den Eltern mehr und mehr Unzufriedenheit mit dem Unterricht breitgemacht, daraufhin eröffneten sie ihre eigenen evangelischen Privatschulen. Ebenso setzten sich katholische Eltern für die Gründung von katholischen Privatschulen ein und forderten zusammen mit den Protestanten die gleiche Förderung. Dies wurde fortan die »Schulkontroverse« genannt. Sie endete mit der Beschwichtigung von 1917 und einer Konstitutionalisierung des Artikels 23 zur »Freiheit der Finanzierung von konfessionellen Schulen«. Dieser Artikel legt fest, dass die Beaufsichtigung der Ausbildung stets ein Anliegen der Regierung sein soll und verordnet auch die Finanzierung von konfessionellen Privatschulen. Dies ist die Grundlage des dualen Systems von öffentlichen und konfessionellen (evangelischen und katholischen) Schulen in den Niederlanden, sodass beide gleichermaßen gefördert werden müssen. Auch wenn der Säkularismus infolge der rückläufigen Zahl der Anhänger*innen des Christentums zunimmt, besuchen noch immer zwei Drittel der niederländischen Schüler*innen christliche Privatschulen. Der Religionsunterricht in diesen Schulen unterscheidet sich hinsichtlich Ausmaß (mit einem Umfang von dreißig Minuten am Anfang des Unterrichtstages bis hin zu kurzen Gruppendiskussionen im »Morgenkreis«) und Inhalt (von Bibellesen, Auswendiglernen und dem Singen von religiösen Liedern bis hin zu Diskussionen über ethische Fragen im christlichen Kontext im Alltag von Kindern und Jugendlichen). In den Niederlanden gibt es keinen nationalen Lehrplan für den Religionsunterricht,2 auch wird der Religionsunterricht nicht von einer Behörde für 2 Erst neulich wurde in der Vereniging van Docenten Godsdienst/Levensbeschouwing (VDGL, Vereinigung der Religionslehrer und Weltanschauungen) eine Diskussion über die Implementierung des Religionsunterrichts in den Lehrplan der weiterführenden Schulen geführt (Visser 2017).

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Bildung kontrolliert. Dies birgt heute eine Herausforderung in Bezug auf die Stellung des Unterrichts für Religion und Weltanschauungen. Die Frage lautet: Soll der Religionsunterricht nur in den konfessionellen Schulen stattfinden oder ein Teil des Lehrplans der öffentlichen Schulen im Rahmen von »Staatsbürgerschaftskunde für alle« werden (Miedema & Bertram-Troost 2008; ter Avest 2017a)?

3.

Muslim*innen in Belgien und den Niederlanden

Die Anzahl der Muslim*innen in Belgien betrug im Jahr 2010 sechs Prozent – das sind etwa 638.000 Menschen, die sich zum Islam bekennen, bei einer Gesamtbevölkerungszahl von elf Millionen. Für die Niederlande liegt der Prozentsatz im Jahr 2010 bei 5,5 – das sind 914.000 Personen, die sich zum Islam bekennen, bei einer Gesamtzahl von über 16 Millionen Personen (Pew Research Centre o. J.). Der größte Teil der muslimischen Bevölkerung beider Länder stammt aus der Türkei oder Marokko. Die erste Generation bestand hauptsächlich aus Gastarbeiter*innen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Europa kamen. Ihre Nachkommen werden als »Nichteinheimische« der zweiten und dritten Generation bezeichnet. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nahm die Zahl der Flüchtlinge aus Krisengebieten in beiden Ländern zu. Es wird erwartet, dass 2030 10,2 Prozent (Belgien) und 7,8 Prozent (Niederlande) der Bevölkerung muslimisch sein werden. Verlässliche Zahlen hinsichtlich der Aufteilung in Sunnit*innen, Schiit*innen, Alevit*innen oder zu den Gülen-Anhänger*innen gibt es nicht.

3.1

Geschichte der islamischen Bildung in Belgien und den Niederlanden

In diesem Abschnitt geben wir einen kurzen Überblick über die historische Entwicklung der staatlichen Schulen und der religiösen Schulen in Belgien und den Niederlanden, die in beiden Ländern zu einem sogenannten »Säulenbildungssystem« führten. 3.1.1 Öffentlicher und konfessioneller islamischer Religionsunterricht in Belgien Seit der Anerkennung des Islams im Jahr 1974 haben Kinder in allen öffentlichen Schulen das Recht auf Religionsunterricht (Lafrarchi 2018, S. 34ff.), Lehrkräfte müssen ihre pädagogische Kompetenz nachweisen. 1993 wurde ein Inspektor für die Beaufsichtigung des Religionsunterrichts eingesetzt und staatliche Hilfe bei

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der Entwicklung der Lehrinhalte für den islamischen Religionsunterricht bereitgestellt. Die Regierung hat jedoch noch immer keine verbindlichen Standards für den Ethik- und Religionsunterricht festgelegt. Das bedeutet, dass in öffentlichen Schulen der Unterricht entwickelt wird und der Unterricht der Verantwortung religiöser Institutionen obliegt (Loobuyck 2018, S. 210). 1998 begann an der Erasmus-Fachhochschule in Brüssel (EhB) die Ausbildung von Lehrkräften für den islamischen Religionsunterricht. Im Jahr 2001 wurden den Schulen Lehrpläne für den islamischen Religionsunterricht vorgelegt. Heute gibt es vier Ausbildungsinstitute für den islamischen Religionsunterricht, die den Islam aus der Perspektive der Religionswissenschaften lehren. In einer pluralistischen Gesellschaft müssen Islamlehrer*innen jedoch auch im Dialog mit anderen Weltanschauungen und Lebensorientierungen kompetent sein. Für muslimische Islamlehrer*innen ist es eine Herausforderung, sich nicht nur der Vielfalt in einer pluralistischen Welt, sondern auch der Vielfalt innerhalb der islamischen Tradition zu stellen. Laut Loobuyck vernachlässigt die belgische Regierung ihre Pflicht, die Schüler*innen über ihre eigenen und über fremde Religionen zu informieren und diese Traditionen kritisch zu reflektieren (Loobuyck 2018, S. 209, 217). Loobuyck unterstützt die Einführung eines eigenständigen und verpflichtenden Faches für alle Schüler*innen mit dem Titel »Levensbeschouwing, Ethiek & Burgerschap en Filosofie« (LEF: Lebensorientierung, Ethik und Staatsbürgerschaft sowie Philosophie). LEF reagiert auf die fortschreitenden Säkularisierungsprozesse und zielt auf die Entwicklung der Bildung in den Bereichen Staatsbürgerschaftskunde, moralische Erziehung, Empathie sowie Philosophie und Philosophieren ab (ebd., S. 211). Bisher gibt es in Flandern keine islamisch geprägten Grund- oder weiterführenden Schulen (ebd., S. 37ff.). In Wallonien, in Brüssel, gibt es drei islamische Grundschulen und eine weiterführende Schule. Unterrichtssprache ist Französisch. Eine der ersten Schulen wurde bereits 1984 gegründet und 1989 von der Regierung anerkannt und finanziell unterstützt. Diese »Luzerner Schulen« heißen jedes Kind willkommen, unabhängig von seinem religiösen Hintergrund, und beschäftigen ein vielfältiges Team von Lehrkräften. Lange Zeit war das Schlagwort in staatlichen Schulen »Neutralität«, die konkret darin bestand, jedes Kind ungeachtet seiner religiösen oder weltanschaulichen Herkunft aufzunehmen. Im Bewusstsein, dass es keine reine Neutralität gibt, lautet der Slogan heutzutage »Actieve pluriformiteit« (»Aktive Pluralität«). »Aktiv« bezieht sich auf die Tatsache, dass staatliche Schulen es als Teil ihrer pädagogischen Aufgabe erachten, Schüler*innen über verschiedene religiöse und weltanschauliche Ansichten zu informieren, wie sie in den Niederlanden praktiziert werden. Wenn Eltern wünschen, dass ihr Kind in ihrer eigenen Tradition, z. B. im Islam oder im Christentum, unterwiesen wird, können sie die Schulleitung der

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Grundschule bitten, islamische oder christliche Klassen zu organisieren. Die Ausbildung und Qualifizierung von Lehrkräften des christlichen, humanistischen oder islamischen Religionsunterrichts wird vom Dienstencentrum Godsdienstig Vormingsonderwijs en Humanistisch Vormingsonderwijs (Servicezentrum für Religionsunterricht und humanistischen Unterricht) organisiert. Der islamische Religionsunterricht begann 1989 an einer christlichen Grundschule in einer kleinen Stadt im Zentrum des Landes. In dieser ersten (und bislang einzigen) interreligiösen Schule richtete sich der islamische Religionsunterricht an Kinder muslimischer Eltern mit türkischem oder marokkanischem Hintergrund (ter Avest 2003; 2009). Der islamische Religionsunterricht während der Schulzeit wurde von den Eltern gefordert, da es für christliche Kinder auch einen christlichen Religionsunterricht gab. Im selben Jahr wurde die erste der beiden islamischen Grundschulen gegründet (Budak 2018) – eine in Rotterdam von türkischen Eltern, die andere von marokkanischen Eltern in Eindhoven. Beide Elterngruppen fühlten sich unwohl dabei, ihre Kinder auf eine öffentliche oder christlich geprägte Schule zu schicken. Diese Eltern beriefen sich auf Artikel 23 der niederländischen Verfassung über die Bildungsfreiheit. Heutzutage gibt es fast 50 islamische Grundschulen und zwei islamische Schulen für den Sekundarbereich (in Rotterdam und Amsterdam). Gemäß Artikel 23 der Verfassung werden sie von der Regierung finanziert und es erfolgt regelmäßig eine Inspektion durch die Aufsichtsbehörde für Bildung. Gab es anfangs Unsicherheiten oder sogar Sorgen hinsichtlich der Qualität der Bildung und der Professionalität des Vorstands einiger Schulen, trug das Projekt »Kwaliteit Islamitisch Onderwijs« zur Verbesserung der Bildungsqualität in diesen Schulen bei: Von elf Grundschulen mit schlechten Leistungen und sechs Grundschulen mit sehr schlechten Leistungen zu Beginn des Projekts blieben am Ende des Projekts im Jahr 2010 nur noch zwei Schulen übrig, deren schulische Leistungen ebenso schlecht waren wie die Ergebnisse der Schüler*innen (van Velzen & de Vijlder 2010). In ihrer Doktorarbeit (2018) stellt Marieke Beemsterboer (Beemsterboer 2018) fest, dass die Integrationskraft islamischer Schulen nicht zu unterschätzen ist. Ihr Fokus auf die Sensibilisierung für die Wurzeln der Schüler*innen in der islamischen religiösen Tradition kann als Stärkung ihrer Identität als teilnehmende Bürger*innen in der niederländischen Gesellschaft gesehen werden. 3.1.2 Informelle religiöse Erziehung in Belgien Naima Lafrarchi (2017) gibt in ihrer Publikation mit dem Titel Maakt religie een verschil? (»Macht Religion einen Unterschied?«) einen kurzen Einblick in die Ausbildung in der Moschee. Wie wir in weiterer Folge sehen werden, sind die

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Gemeinsamkeiten mit der niederländischen Situation auffällig. Laut Lafrarchi liegt der Schwerpunkt der Ausbildung in der Moschee auf dem Koran und der arabischen Sprache (Lafrarchi 2017, S. 111–112). Darüber hinaus gibt es Kurse, die über das Leben des Propheten Muhammad informieren. Für muslimische ˙ Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder über Grundkenntnisse der arabischen Sprache verfügen, um die Suren des Korans zu verstehen. Darüber hinaus, so Lafrarchi, trägt der Unterricht in den Moscheen zur Geselligkeit zu Hause gemäß den islamischen formellen und informellen Gesetzen bei. Die pädagogischen Qualitäten und der Inhalt des Unterrichts unterscheiden sich von Moschee zu Moschee. Die meisten Lehrkräfte in Moscheen werden an Lehrerseminaren in ihrem Herkunftsland oder in Belgien ausgebildet. Heutzutage entwickeln sich Moscheen zu Orten der Begegnung und sozialer sowie kultureller Aktivitäten wie der Organisation von Museumsbesuchen oder von Hausaufgabenhilfe. Eine herausfordernde Frage betrifft die Radikalisierung: Welche Rolle können Moscheen bei der Verhinderung von Radikalisierung spielen? Formale und informelle Bildung könnten laut Lafrarchi in enger Zusammenarbeit bei Prozessen der Radikalisierung eine Rolle spielen bzw. diese verhindern (ebd., S. 116). Mit dieser Empfehlung verweist sie auf die niederländische Forschung von Sieckelinck (2019) sowie Pels, de Gruijter & Lahri (2008). 3.1.2.1 Informeller islamischer Religionsunterricht in den Niederlanden Der islamische Religionsunterricht in der Moschee, in den sogenannten »Koranschulen«, war bislang kaum Gegenstand von Untersuchungen, auch weil in den meisten dieser Koranschulen Niederländisch nicht Unterrichts- und Kommunikationssprache ist (El Bouyadi-van de Wetering & Miedema 2012, S. 75). Die Bedeutung des Religionsunterrichts wird in einem Spruch des Islamwissenschaftlers Ibn Haldu¯n aus dem 14. Jahrhundert zum Ausdruck gebracht. Der ˘ besagt, dass »der Koran die Grundlage für den Unterricht [ist], die Grundlage für alles Wissen, das später im Leben erlangt wird« (Meijer 2006, S. 73). In der Moschee beginnen Kinder mit dem Auswendiglernen des Korans, indem sie seine Suren in einem frühen Alter auf Arabisch auswendig rezitieren, auch wenn dies nicht ihre Muttersprache ist. Kleine Kinder beginnen in der Regel mit der ersten Sure, gefolgt von Sure 114 (El Bouyadi-van de Wetering & Miedema 2012, S. 81). Das Lehren und Lernen dieser Suren ist Voraussetzung für das Beten – eine der fünf Säulen des Islams und Teil des täglichen Lebens eines jeden Menschen muslimischen Glaubens (ebd., S. 76). Der pädagogische Ansatz in den Moscheen ist durch den sogenannten »Geschlossene-Faust«-Ansatz gekennzeichnet. Der Lehrer oder Imam überträgt den Text so, als ob er ihn buchstäblich übermitteln würde. Die Schüler*innen empfangen die Texte, lernen sie auswendig und rezitieren sie in der Art und Weise, wie sie übermittelt wurden (ebd., S. 133).

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Elemente der islamischen Traditionen und Bräuche, die Kinder durch die Teilnahme am Familienleben lernen, sind das Beten, Fasten und das Feiern des Endes des Ramadans. Familien schicken ihre Kinder in die Moschee, »weil es ihnen schwerfällt, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Der Imam oder der Lehrer in der Moschee kann am besten erklären und den Kindern zeigen, wie man die Koranverse auf Arabisch liest und rezitiert« (ebd., S. 78). Was in der Ausbildung in der Moschee angestrebt wird, ist laut El Bouyadi-van de Wetering und Miedema zunächst das Lesen und Rezitieren des Korans. Darüber hinaus erwähnen sie das Erlernen der arabischen Sprache, die Durchführung der wichtigsten religiösen Rituale der fünf Säulen, das Erlernen von Informationen über den Islam als eine Tatsache, die eine Lebensweise ausmacht, und das Erlernen der islamischen Art des respektvollen Verhaltens (Etikette und Ethik) (ebd., S. 82–83). Eine der seltenen Studien zum pädagogischen Ansatz einer Moschee in den Niederlanden führte zu der Empfehlung, die pädagogischen Aktivitäten auf den Unterricht von Kindern zu konzentrieren, »um Fragen zu Dschihad, Kopftuch, Homosexualität usw. zu beantworten« (Dogan, Pels & El Modkouri 2006). Es handelt sich dabei um eine Empfehlung, die in Moscheen von Amsterdam finalisiert wurde, nach Beobachtungsstudien und Interviews von Hamdi et al. (2017). In dieser Studie verwendeten die meisten Lehrkräfte das »Initiatief-Respons-Evaluatie«-Modell, nach dem die Lehrenden Fragen stellen, deren Antwort ihnen bekannt ist, die Schüler*innen Antworten geben und die Antworten von den Lehrpersonen als »richtig« oder »falsch« bewertet werden. Gleiches gilt für salafistische Moscheen, die sich auf Ethik und Moral konzentrieren (Dogan, Pels & El Modkouri 2006). Informelle Bildung findet auch in Nachhilfeinstituten statt (ter Avest 2017b; 2018). Bei dieser informellen Ausbildung werden die Schüler*innen vorrangig bei ihren Hausaufgaben unterstützt und sie erhalten Nachhilfe. Ein separater Aspekt dieser Maßnahmen ist die Weitergabe von Wissen über den Koran, die Hadithe und die islamische Lebensweise. 3.1.2.2 Beispiel guter Praxis: Lehrpläne und Lehrbücher für den islamischen Religionsunterricht In diesem Abschnitt wollen wir einen Einblick in die Lehrpläne und Lehrbücher für den Religionsunterricht an islamischen Schulen in Belgien und den Niederlanden geben. 3.1.2.2.1 Lehrplan und Schulbücher für den islamischen Religionsunterricht in Belgien Die ersten Lehrpläne für den islamischen Religionsunterricht wurden laut Leny Franken 2001 entwickelt (Franken 2017, S. 495). Zunächst eher traditionell ausgerichtet, wurden diese Lehrpläne im Schuljahr 2013/2014 jedoch an das

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vielfältige Lebensumfeld in Belgien angepasst. Diese Lehrpläne sind von der islamischen Gemeinschaft genehmigt. Darin sind nun zum Beispiel die Themen Status der Frauen im Islam, innere Vielfalt im Islam, Spannung zwischen Religion und Wissenschaft sowie Bedeutung der Textinterpretation enthalten. Eine Kontrolle oder Intervention durch den Staat ist aufgrund der Trennung von Kirche und Staat nicht möglich, auch gibt es keine einheitlichen Ziele in Bezug auf den islamischen Religionsunterricht. Laut Franken dominiert in den Lehrplänen für den islamischen Religionsunterricht der sunnitische Islam, andere islamische Strömungen finden kaum Beachtung. Die meiste Zeit wird traditionellen Themen wie der Weitergabe der islamischen Lehre, anständigem Verhalten und Gottesdienst, dem Leben des Propheten und dem Koran gewidmet. Im Fach »Religion und Kultur« liegt der Schwerpunkt auf der islamischen Kultur. Andere Religionen werden aus islamischer Sicht dargestellt, säkulare Weltbilder finden dabei jedoch kaum Beachtung. Die meisten Lehrbücher sind Übersetzungen türkischer Bücher, die von der Diyanet herausgegeben werden. Von belgischen Muslim*innen verfasste oder in Belgien bearbeitete Lehrbücher für den islamischen Religionsunterricht gibt es bislang nicht (ebd., S. 496). Informationen zum Islam finden die Schüler*innen auf der »Thomas«Webseite. Diese flämische Webseite zum Religionsunterricht im Primar- und Sekundarbereich wird von der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität von Louvain organisiert. Das Ziel von »Thomas« ist »eine aktive und interaktive Art der Zusammenarbeit von Lehrern des katholischen Religionsunterrichts in allen Bildungsnetzwerken in Flandern und mit allen Personen, die sich für den Religionsunterricht von Jugendlichen einsetzen«. »Thomas« nähert sich der islamischen Erziehung auf informative Weise: Erziehung zum Islam aus katholischer Sicht. 3.1.2.2.2 Lehrplan und Schulbücher in den Niederlanden Bachelorabsolvent*innen von Lehrerausbildungsinstituten haben die Möglichkeit, sich für den islamischen Religionsunterricht ausbilden zu lassen. Mit diesem Diplom können Lehrkräfte an islamischen Grundschulen arbeiten. Im Gegensatz zu Belgien werden in den Niederlanden verschiedene Lehrbücher von Muslim*innen geschrieben, herausgegeben und veröffentlicht. Die Islamitische Besturen Organisatie (ISBO, Islamischer Vorstand für Grundschulen) ist Herausgeber von den zwei Lehrbüchern Worden wie je bent (»Werde, wer du bist«) und Godsdienstmethode Al Amana (Religiöse Bildung in der Al-Amana-Grundschule). Innerhalb des Zuständigkeitsbereichs von ISBO wurde ein Visionsdokument von den SIMON-Schulen (ein Vorstand von islamischen Privatschulen, die ein

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Teil von ISBO sind) veröffentlicht. In diesem Dokument, Worden wie je bent, heißt es: »Die Grundlage der Schulen, die Teil des SIMON-Boards sind, liegt im Islam und in den Glaubensgrundsätzen des Korans und der Sunna, wobei die Einzigartigkeit des Verstehens und Erlebens der islamischen Tradition zu berücksichtigen ist« (Aktaran o. J.). Der sunnitische Islam scheint eine Inspirationsquelle für Worden wie je bent zu sein. »Wir sehen jedes Kind als eine einzigartige Schöpfung Allahs. […] Unser Ausgangspunkt ist, dass Allah uns dazu geschaffen hat, Diener Allahs und ein guter Mensch zu sein« (ebd., S. 51). Das Ziel besteht letztlich darin, die Entwicklung der Kinder zu einer partizipativen Staatsbürgerschaft aus islamischer Sicht zu fördern. Zwei Konzepte sind von zentraler Bedeutung: Tarbiya bezieht sich auf moralische Erziehung und adab auf anständiges Verhalten. Der Lehrplan von SIMON ist in den sogenannten »sieben Perlen der Exzellenz« zusammengefasst, diese sind: Vorstellung von Gott, Toleranz, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Qualität, Transparenz und Zusammenarbeit – jede bezieht sich auf einen Koranvers und wird als pädagogisches Ziel konkretisiert (ebd., S. 37). a) Al Amana Die vom Lehrerteam der islamischen Grundschule Al Amana entwickelten Lehrbücher umfassen fünf Themen: der Prophet,ʿaqı¯da (Glaubenssystem), sala¯t ˙ (Gebet), ramada¯n (Fasten) und hagˇgˇ (Pilgerfahrt). Die Lehrbücher werden von ˙ ˙ ISBO herausgegeben. Im Vorwort heißt es, dass »Wissen, Fähigkeiten, ein einladendes Layout, gut durchdachte Lernwege, Prüfungen und Liebe zum Islam die Merkmale unserer Methode des Religionsunterrichts bei Al Amana« sind (Claassen & Salihi o. J., S. 3). Die Darstellung der fünf Themen ist an die verschiedenen Altersgruppen angepasst. Zum Beispiel lernen Kinder im Alter von sieben bis acht Jahren die fünf Säulen des Islams und den islamischen Glauben (ı¯ma¯n) kennen. Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren machen Bekanntschaft mit dem Tag des Jüngsten Gerichts. Das Konzept von ¯ıma¯n (Glaube) und ˇsirk (Götzendienst) wurde für Kinder von zehn bis elf Jahren ausgearbeitet und behandelt die Vorstellung von Hölle und Himmel. Die Struktur jeder Lektion ist abwechselnd: Information, Präsentation der jeweiligen Sure, anschließender Test und Abschluss mit einer Zusammenfassung. Die Kernkonzepte sind in arabischer Sprache dargestellt. Nur in wenigen Fällen werden andere Religionen wie das Christentum erwähnt. Sie werden dann aus einer islamischen Perspektive betrachtet.

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b)

Islamische Erzählungen im niederländischen Raum: Flandern und die Niederlande Zwei Publikationen sind erwähnenswert, die beide einen sunnitischen Ansatz des Islams veranschaulichen. Als Adaption des Korans für die jüngsten Kinder veröffentlichten Achour und Alic´ Wij vertellen het mooiste verhaal (»Wir erzählen die schönste Geschichte«) (2004), ein wunderschönes und bunt illustriertes kleines Buch. Darin erzählt ein Großvater seinem Enkelkind Geschichten – es handelt sich dabei also um Geschichten in einer Geschichte. Das Buch erzählt von vier kleinen Kindern und ihren Großeltern, die in der Nähe wohnen, mit dieser Situation können sie sich leicht identifizieren. Im Buch sind die Erzählungen über Ibra¯hı¯m, Nu¯h, Yu¯suf und ʿI¯sa¯ ibn Maryam enthalten, die Eltern ihren ˙ Kindern oder Lehrer*innen ihren Schüler*innen vorlesen sollen, sowie die Geschichte eines Generals, der ein Problem zweier kämpfender Menschen löst, und die Sure vom Licht. 2017 veröffentlichte Petra van Helden Kinderen van Adam. Verhalen uit de Koran (»Kinder Adams. Geschichten aus dem Koran«), ein Buch für Kinder von zehn bis 14 Jahren. Kinderen van Adam kann von den Kindern selbst gelesen werden. Es liest sich wie eine schöne und aufregende Seriengeschichte. Dieses Buch, weitaus umfassender als Wij vertellen het mooiste verhaal, beginnt mit der Schöpfungsgeschichte und geht auf die Geschichten von Nu¯h, Ibra¯hı¯m, Yu¯suf, ˙ Ayyûb, Mu¯sa¯, die Könige Israels und die Auferstehung der Menschen vom Tode ein, in der Geschichte von Hizkiel, Yu¯nus und Maryam und ʿI¯sa¯ ibn Maryam. Das Buch ist mit Federzeichnungen auf bräunlichem Hintergrund schön illustriert. Suren sind kursiv dargestellt, was durch eine Kalligrafie am Rand angezeigt wird.

4.

Religiöse Entwicklung von Muslim*innen mit »Bindestrich-Identität«

Bisher war weder in Lehrplänen noch in Lehrbüchern explizit ein psychologischer oder pädagogischer Bezugsrahmen maßgeblich. Eine Ausnahme bildet das Dokument Worden wie je bent, in dem auf aktuelle psychologische und didaktische Erkenntnisse Bezug genommen wird. Im Folgenden werden die Ergebnisse einer kürzlich von dem Religionswissenschaftler Ömer Faruk Gürlesin durchgeführten Studie zu den Merkmalen der Religiosität niederländisch-türkischer Muslim*innen erläutert. Dieser untersuchte, in welcher Weise und in welchem Umfang die religiöse Entwicklung niederländisch-türkischer Muslim*innen – (Nachkommen von) Migrant*innen, die in einem pluralistischen Kontext leben – mit der sogenannten »Eliten-« und »Volksreligiosität« zusammenhängt (Gürlesin 2018). Die Beschreibung der »Eliten-« und »Volksreligiosität«, zu der er

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in seiner Studie gelangt, zeigt seine Perspektive als Soziologe auf die Religion. Die »Volksreligiosität« setzt sich laut Gürlesin aus bestimmten Arten religiöser Praktiken und Überzeugungen zusammen, die gemeinhin von sozial und wirtschaftlich nicht privilegierten Schichten ausgeübt werden. Die »Elitenreligiosität« setzt sich aus bestimmten Arten religiöser Praktiken und Überzeugungen zusammen, die von Schichten ausgeübt werden, die im Allgemeinen sozial und wirtschaftlich privilegiert sind. Zu den »spezifischen Arten religiöser Praxis und Überzeugung« gehören Glaube (sunnı¯), Praxis (ʿamal), Wissen (ʿilm / maʿrifa), Erfahrung (maʿu¯na / ilha¯m) und Konsequenz (natı¯gˇa). Jede von ihnen hat möglicherweise eine andere Bedeutung für eine Person oder eine andere Position in der »Gesellschaft des Geistes« (Hermans & Hermans-Konopka 2010). Die Ergebnisse seiner quantitativen Forschung ermöglichten es Gürlesin, motivationale und kognitive Merkmale und Inhalte zu identifizieren, die »Elitenreligiosität« von »Volksreligiosität« in der Gruppe der niederländisch-türkischen Muslim*innen unterscheiden. Menschen mit einer »Elitenreligiosität« neigen mehr oder weniger dazu, Zweifel und Dynamik innerhalb des ideologischen Aspekts der Religiosität zu betonen. Hinsichtlich des rituellen Aspekts tendieren sie dazu, den inneren Wert von Ritualen zu betonen (d. h. sich auf Qualität zu konzentrieren). Im intellektuellen Bereich unterstreichen sie die Wichtigkeit des Zweifelns an der Gültigkeit ihres gegenwärtigen religiösen Wissens und der Dynamik des religiösen Lernens. Bezüglich des Erfahrungsaspekts der Religiosität halten sie wundersame religiöse Erfahrungen (besondere Gaben Gottes im Austausch für ihre religiösen Bemühungen) für relativ unwichtig: Für sie ist es wichtig, diese geheim zu halten. Befragte in Gürlesins Forschung, die mehr oder weniger in die Gruppe der »Volksreligiosität« eingestuft werden, betonen die Wichtigkeit der Gewissheit und Beständigkeit ihrer gegenwärtigen Überzeugungen, den äußeren Wert von Ritualen (d. h. den Fokus auf Quantität) und erwarten eine materielle Belohnung für ihre Gebete. Diese Personen neigen dazu, sich ihres gegenwärtigen religiösen Wissens sicher zu sein und die intellektuelle Stabilität in den Mittelpunkt zu stellen. Wundersame religiöse Erfahrungen werden als angemessener und notwendiger Bestandteil des religiösen Engagements angesehen, und sie sind bestrebt, solche Erfahrungen anderen mitzuteilen. Auffällig war die Feststellung, dass es neben Gruppen, die sich mit »Eliten-« oder »Volksreligiosität« identifizierten, auch eine Gruppe gab, die Merkmale beider Gruppen aufwies. Aus diesen Untersuchungen lernen wir, dass die Vielfalt innerhalb der Gruppe der niederländisch-türkischen Muslim*innen unbestreitbar ist. Dies könnte ein Ergebnis der Konfrontation mit der »ontologischen Unsicherheit« sein, die mit der Komplexität, Unsicherheit und Vielfalt der Postmoderne einhergeht (Gürlesin 2018, S. 201). Es könnte sein, dass einige Menschen, um mit der »Unsicherheit, die durch die Pluralität und die Fragmentierung der postmodernen Welt« verursacht wird, fertig zu werden, am religiösen Funda-

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mentalismus als einem emotionalen und defensiven Bewältigungsmechanismus festhalten (ebd., S. 195). Gürlesin schließt mit der Feststellung, dass die Ergebnisse seiner Studie darauf hindeuten, dass »die Volksreligiosität zumindest kurzfristig eine wichtige und dominante Quelle der defensiven Lokalisierung innerhalb der türkischen Religiosität bleiben könnte, sowohl in der Türkei als auch in den Niederlanden« (ebd., S. 89). Dasselbe gilt für Belgien, neben anderen Aspekten, die mit der Entwicklung der Religiosität von Muslim*innen in einem westlichen Kontext wie eben Belgien und den Niederlanden zusammenhängen. Darauf kommen wir in unserem Fazit zurück. »Der Apfel und der Baum« Die Ergebnisse von Gürlesins Studie werden auch in den Artikeln der Zeitung Trouw (veröffentlicht in den Jahren 2016–2018) bestätigt. Einer davon trägt die Überschrift »Die religiöse Praxis junger Muslime nimmt ab« und bezieht sich auf Forschungsergebnisse zur Religiosität von Kindern mit Migrationshintergrund und zur Rolle der Eltern (de Hoon & van Tubergen 2014). Laut van Tubergen (2007), der einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Utrecht innehat, verlieren christliche Jugendliche ihren Glauben, für muslimische Jugendliche scheint die Religion immer mehr eine Privatsache zu sein. Insbesondere jene Aspekte der Religion, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, wie das Tragen eines Kopftuchs, werden von jungen Muslim*innen immer öfter ausgelassen. Marije van Beek, Journalistin der Zeitung Trouw, interviewte in den Jahren 2016–2018 15 muslimische Jugendliche zusammen mit jeweils einem Elternteil. Diese Interviews präsentieren den Leser*innen ein differenziertes Bild der Forschungsergebnisse von van Tubergen. In weiterer Folgen sollen einige Beispiele dieser Interviews angeführt werden: »Übrigens, wir geben uns nicht die Hand«, formuliert Abdulmohaimen die Bedingung für ein Treffen zum Interview. Diese Aussage von Abdulmohaimen gilt als islamische Regel. »Es ist aus Liebe und Respekt, dass ich nicht die Hand schüttle. Aus meiner Sicht ist es haram, eine Frau zu berühren, die keine Verwandte ist.« Abdulmohaimen hält an der traditionellen Interpretation des Islams fest. Er fühlt sich beleidigt von Bildern halb nackter Frauen an Bushaltestellen, die Menschen zum Kauf verführen. Dies sei ein Beispiel für »extreme Toleranz, die zum Verlust von Werten und Normen« führe. Dasselbe gilt für ihn für die Homo-Ehe – »bizarr, komisch«. Regelmäßig zu beten und in die Moschee zu gehen, ist Teil seines Lebens, genau wie dies für seinen Vater der Fall ist. Zakaria, ein weiterer befragter Jugendlicher, ist anderer Meinung und erklärt: »Sie können homosexuell und muslimisch sein. Laut meinem Vater ist das unmöglich. Ich bin voll dafür. Einige meiner Freunde sind Homosexuelle. Ich bin mit ihrer Ehe einverstanden, aber gleichzeitig bin ich mit ihren sexuellen Handlungen nicht einverstanden, da dies nach islamischem Recht haram ist.

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Zum Glück haben wir in den Niederlanden die Freiheit, eine andere Meinung zu vertreten, und Homosexuelle können sein, was sie wollen.« Früher war seine Mutter verschleiert, heute aber nicht mehr. Es ist einfach bequemer ohne Kopftuch, es ist stilvoller. Das Gebet ist wichtig für Mutter und Sohn, obwohl keiner von beiden fünfmal am Tag betet. Für Diana ist »Gastfreundschaft ein Teil unseres Glaubens, nicht unserer Kultur, wie viele Leute denken. Sie sind nicht nur unser Gast, sondern auch Gast Allahs.« Diana mag Parfüm und Nagellack, was laut ihrer Mutter freilich verboten ist. Diana trägt kein Kopftuch wie ihre Mutter. Für sie geht es im Glauben um Taten, »ein Kopftuch ist nur eine Nebensache«. Nach ihrer Konvertierung zum Islam hielt sich Claudia sehr streng an islamische Kleidervorschriften, einschließlich des Tragens des Kopftuchs. »Ich war anfangs sehr streng, aber jetzt bin ich entspannter.« In ihrer Pubertät trank Claudia Alkohol und hatte Freunde, die sie auf den falschen Weg führten. »Für mich ist es besser, gehorsam zu sein und den Regeln des Islams zu folgen, wie zum Beispiel das Verbot von Alkohol.« Sie fährt fort: »Glücklicherweise habe ich einige Freunde getroffen, die auf dieselbe Art und Weise gläubig sind und die verstehen, dass der Koran in einer anderen Epoche geschrieben wurde.« Razia, die Tochter von Derwisj Maddoe, hatte Probleme, als sie sich in ihrer Pubertät weigerte, ein Kopftuch zu tragen. »Ich, die Tochter des Imams, die auf den Straßen ohne Verschleierung ist! Ich musste mich verteidigen. Sogar mein Vater musste in Versammlungen die Entscheidung seiner Tochter verteidigen.« Obwohl der Vater der Meinung ist, dass eine Frau ein Kopftuch tragen sollte, bleibt er bei seinem Standpunkt: »Meine Kinder entscheiden selbst, wie sie die Tradition, die ich ihnen beigebracht habe, interpretieren und verinnerlichen wollen.« Wenn sie über Jungfräulichkeit sprechen, geht es nach Ansicht von Razia nicht nur um Sex vor der Ehe, sondern auch um gutes Verhalten im weitesten Sinne. Maddoe geht jede Woche zur Moschee, Razia besucht die Moschee nicht regelmäßig. Beide beten fünfmal am Tag, lesen den Koran und fasten im Ramadan. Jungfräulichkeit ist ein wichtiges Thema für Nazmiye. Sie erzählt, dass ihre Mutter Havva »die Jungfräulichkeit überprüft und versucht hat, mich mit dem Sohn eines Familienfreundes zu verheiraten«. »Das tut mir jetzt sehr leid«, sagt Havva, und sie fährt fort: »Wenn ich damals die Frau gewesen wäre, die ich jetzt bin, hätte ich das nie getan. Aber damals …« Nazmiye wurde und wird den Regeln des Islams nicht gerecht. Für sie dreht sich bei diesem islamischen Glauben alles um Regeln. Für Havva bedeutet der Glaube Folgendes: »Im islamischen Glauben geht es darum, für die Armen zu sorgen, zu fasten, zu beten, anderen gerecht zu werden, das heißt, ein Muslim zu sein.« Murat erinnert sich: »Wir sind aus der Türkei, aber wir sind keine Muslime, wie die Leute von mir erwartet haben, dass ich ein Muslim bin.« Er fährt fort: »Ich

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wusste sehr wenig über den Islam.« Ein Alevit zu sein, ist Teil von Murats Identität, aber »ich bin kein gläubiger Muslim«. Für seine Mutter ist es nur eine gängige Praxis, Muslim zu sein. »Ich mache es so wie ich es für richtig halte, auch bete ich nicht, allerdings höre ich auf mein Gewissen. Es geht nur darum, gerecht zu sein und unsere Mitmenschen nicht zu verletzen.« Fitria nimmt an der Fernsehserie »Moslims zoals wij« teil (2018). »Einigen Muslimen zufolge ist dies haram, da ich mit Männern und Frauen in einem Haus lebe, die nicht mit mir verwandt sind.« Die Mutter von Fitria sagt, dass Koran und Hadith Einschränkungen in Bezug auf die Kontakte mit Jungen erfordern. »Mädchen und Frauen müssen so früh es geht lernen, mit ihrer Reinheit umzugehen und für ihre Ehre zu sorgen.« In Bezug auf Fitria war dies eine echte Herausforderung, insbesondere während ihrer Pubertät, als sie – in ihren eigenen Worten – »alles mit Hosen anprobieren wollte«. Das Tragen eines Kopftuchs ist das Resultat der Worte ihrer Mutter, fügt Fitria hinzu. »Verschleiert zu sein, zeigt, dass ich Gott liebe.« Ihr Vater ist der Meinung, dass es nicht in ein modernes Land wie dieses passt, verschleiert zu sein. Als Fitria ein Baby war, wurde sie »leicht beschnitten«. »Erst kürzlich habe ich erfahren, dass es im Islam keine Befürwortung der weiblichen Beschneidung gibt«, sagt Mutter Lily. Lily ist davon überzeugt, dass, wenn ihre Tochter Fitria einmal Töchter haben sollte, die mit Sicherheit nicht beschnitten werden. »Für mich ist es Teil der kulturellen Tradition, nicht Teil des islamischen Rechts.« Diese Beiträge stimmen mit den Aussagen von Muslim*innen in der australischen Fernsehserie »Muslims Like Us« und der niederländischen Serie »Moslims zoals wij« überein und konkretisieren die theoretischen Ergebnisse von Gürlesin (2018). Außerdem zeigen solche Beiträge die Bandbreite von Religiosität, Positionen und Interpretationen der Regeln des Islams, nicht nur zwischen den Generationen, sondern auch innerhalb der jungen Generation. Wenden wir uns nun dem Kontext zu, in dem die beschriebene religiöse Entwicklung muslimischer Jugendlicher stattgefunden hat und immer noch stattfindet.

5.

Chancen, Gelegenheiten und Herausforderungen

Wie wir gesehen haben, gibt es eine große Vielfalt im Islam in Belgien und den Niederlanden, sowohl im privaten Bereich als auch im Bildungsbereich. Da die Entwicklung von Lehrmaterialien für den islamischen Religionsunterricht im westlichen Kontext eine sehr kurze Geschichte hat, bietet sich hier eine hervorragende Gelegenheit für Pionierarbeit – sowohl für die Entwicklung von Lehrplänen und die Herausgabe von Lehrbüchern, die auf traditionellen Überzeugungen beruhen, als auch für die Entwicklung eines liberalen islamischen Religionsunterrichts im westlichen Kontext. Wie eine Fernsehserie, Zeitungsbeiträge

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sowie die Forschungsergebnisse von Gürlesin nahelegen, gilt es, den Kontext zu berücksichtigen, in dem islamische Jugendliche leben und sich als muslimische Staatsbürger*innen betätigen. Wir bevorzugen einen narrativen Ansatz. Eine solche erzählerische Linie kann ihren Ausgang in den Erzählungen der Kinder und Jugendlichen nehmen, die von alltäglichen Situationen ebenso berichten wie von existenziellen Fragen. Diese Erzählungen bieten auch Ansatzpunkte, um eine Beziehung zur Staatsbürgerschaftskunde aufzubauen. Die finnische Forschung zeigt, dass die Werte und Normen der Gesellschaft von muslimischen Jugendlichen leichter akzeptiert und in ihr Leben integriert werden können, wenn sie in Einklang mit koranischen Werten und den koranischen Versen/Suren gebracht werden. Es heißt, dass »die finnische Lösung für den Religionsunterricht im öffentlichen Unterricht im Vergleich zu den Lösungen, die in anderen europäischen Ländern angewendet werden, ein einzigartiges Modell ist. In Finnland wird der Religionsunterricht entsprechend der jeweiligen Konfession der Schüler*innen erteilt. Das finnische Modell des Religionsunterrichts propagiert die Idee einer demokratischen Zivilgesellschaft, in der unterschiedliche Glaubensrichtungen, Überzeugungen und Weltanschauungen koexistieren können« (Rissanen 2014). Neuere Konzepte wie »maximal citizenship« (McLaughlin 1992) oder »interreligious citizenship« (Miedema 2006) sowie »inclusive« und »impartial citizenship« (Jackson 2014) und insbesondere theologisch begründete Ansätze wie »inklusive religiöse Erziehung« (Roeben 2015) oder kontextualisierter Religionsunterricht (Selçuk 2012; Selçuk & Valk 2012) bieten vielfältige Möglichkeiten, um einen Bezug zu aktuellen psychologischen und pädagogischen Erkenntnissen über die religiöse Entwicklung von Jugendlichen (in der Pubertät und im frühen Jugendalter) sowie zur Wertorientierung, wie sie in der islamischen Tradition entwickelt wurde, herzustellen. Der islamische Religionsunterricht, der sich durch einen solchen interdisziplinären Ansatz auszeichnet und mit der Intersektionalität der Entwicklung einer religiösen Identität konfrontiert ist, kann zum sozialen Zusammenhalt in beiden Gesellschaften, der belgischen und der niederländischen, einen Beitrag leisten, Gesellschaften, die heutzutage unter dem Druck der Segregation stehen. Eine besondere Herausforderung ist die Ausbildung von Lehrkräften für den islamischen Religionsunterricht. In den letzten Jahren wurden Anstrengungen zur Verwirklichung der Ausbildung von Lehrpersonal im Bereich des islamischen Religionsunterrichts und von religiös motivierten Sozialarbeiter*innen unternommen. Aus verschiedenen Gründen war bisher keine wirklich erfolgreich (Boender 2014). Obwohl 2017 eine neue private Initiative für die Ausbildung von islamischen Religionslehrkräften gestartet wurde (Budak 2017), bedarf es nach wie vor eines Dialogs zwischen allen beteiligten Parteien (Regierung, islamische Organisationen, Pädagog*innen), um Wege zu finden, auf das Bedürfnis von

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Jugendlichen in pluralen Gesellschaften wie denen von Belgien und den Niederlanden einzugehen.

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Jørgen S. Nielsen

Islamische Erziehung in Nordeuropa

Zusammenfassung In Skandinavien ist die geschichtliche Etablierung der lutherischen Kirche sehr ausgeprägt. Dies hat insofern starke Auswirkungen auf das Fundament des schulischen Religionsunterrichts, als dieser als konfessionelles lutherisches Projekt angesehen werden kann. Die Ansiedlung muslimischer Gemeinschaften hat sich seit den 1970er-Jahren erst allmählich vollzogen, und ab diesem Zeitpunkt hat die wachsende Zahl von muslimischen Kindern in Schulen zu einer Änderung der Unterrichtsstile und -inhalte geführt. Offizielle Lehrpläne für den Religionsunterricht haben andere Religionen – einschließlich des Islams – und Lebenshaltungen berücksichtigt. Jedoch bleibt der weiter reichende geisteswissenschaftliche Unterricht stark christlich geprägt, denn wie lehrt man die nationale Literatur mit ihrem umfangreichen Inhalt an Hymnen und heiliger Poesie ohne diesen? Während das stark christliche System des Religionsunterrichts fortbesteht, können Eltern ihre Kinder aus Gewissensgründen vom Unterricht abmelden. Nur in Dänemark gibt es eine Tradition elternverwalteter Schulen, die teilweise vom Staat finanziert werden. Seit den 1970er-Jahren wurden etwa 30 solcher Schulen entweder auf explizit islamischer Grundlage oder häufiger auf ethnisch-nationaler Basis von Gemeinschaften muslimischer Einwanderer gegründet. Umstrittener war die regelmäßig aufkommende Forderung nach einer Form der islamischen Ausbildung für Erwachsene, der »Imamausbildung«, im Zusammenhang mit einer häufig politischen Forderung nach »einheimischen Imamen« als angebliche Verhinderung der Radikalisierung, insbesondere nach 2001. Diese Idee wurde in allen skandinavischen Ländern diskutiert, hat sich jedoch nicht wirklich weiterentwickelt, da ein solches Programm in so kleinen »Absatzgebieten« als nicht nachhaltig angesehen wurde.

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1.

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Traditionen religiöser Erziehung

Die Geschichte der vier skandinavischen Länder – Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden – ist stark miteinander verwoben.1 Dänemark, Norwegen und Schweden wurden im Laufe des elften Jahrhunderts verchristlicht. Die Doppelmonarchie Dänemark-Norwegen, die nach der dänischen Eroberung im zwölften Jahrhundert entstand, war eine Zeit lang im Verbund mit Schweden sogar eine dreifache Monarchie unter einem dänischen König. Im 13. Jahrhundert wurde Finnland schrittweise von Schweden übernommen und so zu einer schwedischen Provinz. 1809 gelangte Finnland unter russische Herrschaft und wurde ein autonomes Großherzogtum. Zur Entschädigung bestimmte der Wiener Kongress 1815, dass Norwegen ein Teil Schwedens werden soll. Finnland erlangte seine Unabhängigkeit 1917. Mitte des 16. Jahrhunderts nahm ganz Skandinavien infolge der Reformation den lutherischen Glauben an. Die lutherischen Kirchen von Dänemark-Norwegen und von Schweden waren eng sowohl miteinander als auch mit ihren Königshäusern verbunden. Mit dem wachsenden Nationalismus im 19. Jahrhundert wurde der Glaube auch zu einem Teil der nationalen Identität und die Kirchen wurden Volkskirchen2 mit engen Bindungen zum Staat. Unter russischer Herrschaft wuchs eine große orthodoxe Präsenz in Finnland heran, nachdem Finnland 1917 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, wich diese allerdings der viel größeren lutherischen Kirche. Aus diesem historischen Überblick lässt sich zusammenfassen, dass religiöse Erziehung – insbesondere christliche Erziehung – immer eine zentrale Rolle im skandinavischen Bildungssystem gespielt hat. Im Wesentlichen war christliche Erziehung gleichbedeutend mit der Lehre des konfessionellen lutherischen Christentums. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden jedoch die Unterrichtspläne und Curricula schrittweise geändert. Lokal wurden diese Änderungen durch einzelne, vor allem jüngere Lehrer*innen umgesetzt, insgesamt wurden sie jedoch von den nationalen Bildungsbehörden vorgenommen, um sich vom Monopol der lutherischen Kirche zu lösen. Theoretisch war der Lehrplan wissenschaftsbasiert und die eigentliche konfessionelle Lehre hatte ihren Schwerpunkt in der Kirche selbst. 1 Genau genommen gilt Island aufgrund der jahrhundertelang andauernden norwegischen und dänischen Herrschaft ebenfalls als skandinavisch. Die Zahl der Muslim*innen in Island ist jedoch so gering, dass das Land in diesem Artikel nicht berücksichtigt werden kann (siehe Sigurðsson 2016). 2 Ich verwende hier den Begriff »Volkskirche«, um den üblichen dänischen/skandinavischen Begriff folkekirke, die »Kirche des Volkes/der Nation« abzudecken. Im Englischen werden diese Kirchen oft als »Lutheran state churches« bezeichnet, ein irreführender Begriff, der betont, was ein untergeordnetes Merkmal dieser Kirchen ist.

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Der maßgebliche Zeitraum für die konfessionelle Lehre waren vor allem die Monate vor der Konfirmation im Alter zwischen 13 bis 14 Jahren. Die Gesetzgebung gab vor, dass Schulen ihre Stundenpläne dahingehend anpassen mussten, dass es Schüler*innen während der Regelschulzeit möglich war, den Konfirmandenunterricht zu besuchen. Eltern hatten das Recht, ihre Kinder vom christlichen Religionsunterricht fernzuhalten. Diese Option war vor allem für jene Familien gedacht, die einer religiösen Minderheit angehörten – in der Regel anderen christlichen Konfessionen, dem Judentum oder dem mormonischen Glauben. Obwohl der christliche Religionsunterricht offiziell als wissenschaftsbasiertes Fach galt, gab es in der Umsetzung immer eine strenge konfessionelle Dimension. Dieser Praxis konnte aufgrund der nicht nur dominierenden, sondern geradezu überwältigenden Rolle der lutherischen Kultur sowohl in öffentlichen Institutionen als auch in der Volkskultur nur schwer entgegengewirkt werden. Es ist beispielsweise nicht möglich, skandinavische Literatur zu unterrichten, ohne auf die Schöpfer von Lobliedern bzw. Hymnen einzugehen. Viele der großen Literaten, die vom 17. bis zum 19. Jahrhundert das Fundament der nationalen skandinavischen Literatur gelegt haben, waren auch Verfasser von Kirchenliedern. Sie sahen diese Lieder als einen natürlichen Teil ihrer literarisch-sprachlichen Kompositionen an. Bis heute sind diese Hymnen vor allem in Norwegen und Dänemark ein wesentlicher Teil des Lehrplans für Sprach- und Literaturkunde. Dies birgt Spannungen, wo auch muslimische Kinder anwesend sind, da diese Texte in erster Linie religiös sind. Zum Teil fühlen sich die Familien durch solche Texte von Schulen und vom Bildungssystem provoziert.

1.1

Die Schulen verändern sich

In Skandinavien kam es nach 1980 zu Veränderungen des Religionsunterrichts. Ein wesentlicher Faktor dieser Veränderungen war die Immigration von außerhalb Europas, welche etwa 1950 begann und 1960 erheblich anstieg.3 Die Mehrheit waren Menschen mit muslimischem Hintergrund, insbesondere aus Pakistan, der Türkei und Marokko. Nach 1970 kam die Mehrheit der Flüchtlinge aus Palästina, Libanon, Iran und Somalia und ab dem 21. Jahrhundert aus Afghanistan, Irak und Syrien. Zu Beginn der Einwanderung waren die Regelungen in Skandinavien sehr konstruktiv. Bis in die späten 1980er-Jahre hatte Dänemark 3 Sofern nicht anders angegeben, dienen als Quellen in diesem Kapitel die entsprechenden Länderinformationen in Yearbook of Muslims in Europe (2009–2018, Band 1–6 hrsg. v. Jørgen S. Nielsen, Band 7–10 hrsg. v. Oliver Scharbrodt. Leiden: Brill).

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eine der liberalsten Einwanderungs- und Flüchtlingspolitiken in Europa, die sich allerdings zu einer der restriktivsten mit fast schon böswilligen Zügen gewandelt hat. Schweden hielt lange an seiner liberalen skandinavischen Tradition fest, allerdings hat der starke Zustrom der Flüchtlinge im Jahr 2015 auch dieser ein Ende gesetzt. Eine Statistik zu Muslim*innen in diesen vier Ländern zu führen, ist schwierig, da kein skandinavisches Land Daten über die religiöse Zugehörigkeit erhebt. Aufgrund ethnischer Zugehörigkeiten und Nationalitäten wird angenommen, dass 2009 etwa 220.000 Muslim*innen in Dänemark gelebt haben. Für 2017 wurde diese Zahl auf 306.000 erhöht. Im gleichen Zeitraum gab es in Norwegen einen Anstieg von 150.000 Muslim*innen im Jahr 2009 auf bis zu 300.000 im Jahr 2017. In Schweden rechnet man mit 350.000–400.000 Menschen muslimischen Glaubens im Jahr 2009 und mit bis zu 800.000 zehn Jahre später.4 Auf den ersten Blick scheint dies ein sehr hohes Wachstum für Schweden zu sein, jedoch hat eine unabhängige schwedische Studie 2009 eine Zählung veröffentlicht, die von ca. 500.000 Muslim*innen in Schweden ausgeht; aufgrund dieser Ergebnisse sind die Zahlen für 2017 plausibler (Sayed 2009). Diese Veränderungen riefen nach einer neuen Herangehensweise und einer Entwicklung der religiösen Erziehung, sodass die Lehrpläne seit 1980 vielseitiger gestaltet sind. Als Vorbild diente hierfür das Vereinigte Königreich, welches in den 1970er-Jahren aufgrund der Immigration radikale Veränderungen vornehmen musste (Nielsen 1989). Diese Änderungen waren nicht nur eine Antwort auf die Immigration, sondern wurden auch als Chance zur Einführung neuer pädagogischer Modelle gesehen. Seit den 1980ern ist die sogenannte »christliche Erziehung« in Skandinavien offener in ihren Inhalten geworden. In Dänemark wurde schon 1975 ein neuer Bildungserlass verabschiedet, der vorsah, dass Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 6–9 Weltreligionen behandeln solle (Jensen, Bæk Simonsen & Skovgaard-Petersen 1994). Am Anfang des 21. Jahrhunderts wurde dieser Erlass dahingehend erweitert, dass er nun vom Religionsunterricht auch die Vermittlung von Staatsbürgerschaftskunde verlangt. In Norwegen waren Lehrkräfte wie auch viele Eltern unzufrieden mit den Einschränkungen des traditionellen Systems. 1997 wurde schließlich ein Pflichtfach eingeführt, das sowohl Christentum als auch Religion und Ethik beinhaltete. Nun konnten Eltern ihre Kinder auch nicht mehr von diesem Fach abmelden, da der Lehrplan nicht mehr konfessionell, sondern wissenschaftsbasiert war. 2002 wurden die Lehrinhalte um die Lehre verschiedener Lebensanschauungen erweitert. Dennoch haben mehrere Gruppen gegen dieses Fach protestiert, da es 4 Diese letzte Zahl ist eine Schätzung des Pew Research Center, Europe’s Growing Muslim Populations (Washington, 29. November 2017).

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immer noch den Anschein hatte, primär das Christentum zu vermitteln. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde der Lehrplan 2008 noch einmal überarbeitet und erweitert. In Schweden verliefen die Entwicklungen viel gradueller, sodass heute alle Religionen neutral unterrichtet werden müssen. Die finnische Tradition sieht vor, dass Kinder »nichtkonfessionellen« Unterricht in ihrer eigenen Konfession erhalten sollen (an dieser Stelle möchte ich nicht auf den offensichtlichen Widerspruch eingehen). Dieses Recht wurde 2003 für muslimische Schüler*innen erweitert. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist der Markt für Schulbücher frei und jede Schule kann selbst entscheiden, welche Bücher verwendet werden. Die ersten Bücher, die sich mehrheitlich nicht ausschließlich mit dem Christentum befassten, wurden schon Anfang der 1970er-Jahre veröffentlicht. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass zu dieser Zeit starke Veränderungen stattfanden, welche sich dann später im Lehrplan widerspiegelten. In Dänemark bekamen verschiedene Elterngruppen die Erlaubnis, ihre eigenen »freien« Schulen zu gründen. »Frei« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie unabhängig vom Bildungsministerium sind, aber staatliche Förderungen erhalten. Ursprünglich wurden diese Schulen gegründet, um verschiedene sublutherische und andere kleinere christliche Gruppierungen im Schulsystem zu etablieren. Von diesem Gesetz wurde im 20. Jahrhundert vor allem Gebrauch gemacht, um Schüler*innen alternativ-politische und säkular-ethische Ansichten zu vermitteln. Die erste freie muslimische Schule wurde 1978 eröffnet, heute gibt es derer an die 30. Die meisten dieser Schulen sind vor allem durch ihre ethnische Zugehörigkeit gekennzeichnet. Dem entsprechend findet man insbesondere türkische oder arabische, vereinzelt auch südasiatische Schulen. Im Regelfall besuchen Grundschüler*innen (im Alter von ca. fünf bis elf Jahren) diese Art von Schulen, 2011 wurde die erste freie weiterführende Schule von türkischstämmigen Eltern gegründet. Da ihr Hauptanliegen das Lehren der türkischen Sprache war, geht man nicht davon aus, dass das »Islamischsein« ein Schwerpunkt bei der Gründung dieser Schule war. Das sich zunehmend verschlechternde politische Klima beim Thema »Islam und Muslim*innen« hat einige dieser Schulen unter starken Druck gesetzt. Sowohl ihre Unterrichtsmethoden als auch ihre Inhalte mit Schwerpunkt auf religiöse Erziehung wurden mehrfach von Medien und Behörden untersucht. Ende 2018 wurde eine dieser Schulen geschlossen – mit der Begründung, es sei eine zu konservative Schule, die den »Salafismus« und »Dschihadismus« predige. Die meisten Schüler*innen dieser Schule wechselten allerdings an andere freie islamische Schulen statt an die staatlichen Schulen – entgegen den Erwartungen der Behörden.

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1992 wurden im Rahmen einer neuen Bildungsreform staatlich geförderte freie Schulen in Schweden eingeführt. Bis 2017 gab es 68 solcher freier Schulen, davon waren neun islamisch. Die Freiheiten dieser Schulen sind hinsichtlich ihrer Weltanschauung beschränkt, da die Lehrinhalte, inklusive der religiösen Bildung, dem nationalen Lehrplan Folge leisten müssen. Das norwegische Bildungssystem ist ungewöhnlich einheitlich. Die Primarstufen sind geeint in der »Einheitsschule« (enhetsskolen). Es gibt einige private Träger von muslimischen Kindergärten, allerdings gibt es keine islamischen freien Schulen. In Finnland gibt es nur wenige Privatschulen. Keine dieser ist islamisch, allerdings gab es von 1948 bis 1969 eine tatarische Schule.

2.

Imam-Ausbildung

Wie überall in Europa wurde die Debatte über eine heimische Imamausbildung auch in Skandinavien immer heftiger. An dieser Stelle muss freilich erwähnt werden, dass der erste diesbezügliche Vorschlag von muslimischer Seite schon in den 1990er-Jahren vorgebracht wurde. Dennoch wurden diese Anträge erst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA angenommen. Man glaubte, dass die heimischen Imamkurse zu weniger konservativ-traditionellen oder gar »radikalen« Imamen in den Moscheen führen würden – eine Annahme, die nie untersucht wurde und zum Teil im Widerspruch zum Tätigkeitsbereich eines Imams steht.5 Lange Zeit nahm man an, dass Imame das Äquivalent zu Pastoren und Priestern der verschiedenen Kirchen seien, was freilich ein Irrglaube ist, schließlich waren die ersten Imame, die in den 1960erund 1970er-Jahren ankamen, nur minimal ausgebildet. Sie konnten mehrere Texte aus dem Koran rezitieren, Gebete leiten und die islamische Lehre an jüngere Generationen weitergeben. Mit Sicherheit konnten sie aber nicht mit den (akademisch ausgebildeten) heimischen Priestern und Pastoren einen Dialog auf Augenhöhe führen. Nachdem sich muslimische Organisationen mit Wurzeln in ihrer Heimat mehr und mehr in Skandinavien etabliert hatten, verfügten sie auch über Imame mit einer wahrscheinlich solideren theologischen Ausbildung. Diese Imame waren jedoch oft wegen fehlender Sprachkenntnisse und mangelnder kultureller Kenntnisse nicht in der Lage, ihre Gemeinde in der breiten Gesellschaft zu vertreten. Dies war das allgemeine Bild, dennoch gab es Variationen innerhalb von ethno-nationalen Vereinen. Vor allem in den türkischen Gemeinden wurden ab 5 Die ausführlichste Auseinandersetzung mit diesen Fragen findet sich in Hashas, Jaap de Ruiter & Vinding (2018).

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den 1980er-Jahren vom Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet) hohe Investitionen getätigt. Theologen wurden an den großen türkischen theologischen Fakultäten ausgebildet und danach für drei Jahre als Imame an verschiedene europäische Moscheen entsandt. Dennoch erhielten sie lange Zeit weder Sprachunterricht noch eine Einführung in die dortige Gesellschaft und Kultur. Diese Veränderungen hatten große Auswirkungen auf die verschiedenen muslimischen Gemeinden innerhalb Skandinaviens. Fast ein Viertel der dänischen Muslim*innen sind Bürger*innen türkischer Herkunft. Auch in Norwegen und Schweden bilden Türk*innen die größten muslimischen Gemeinden. Verglichen mit arabischen oder südasiatischen Gemeinden ist die Rolle der Imame aus der Türkei deutlich definiert. Bei den arabischen oder südasiatischen Moscheen ist die Rolle der Imame sehr vage und eher flexibel, es sei denn, ein »Imam« ist in einer großen Moschee mit einem Auftrag beschäftigt. Mit der Zeit und dem Wandel der Generationen hat sich in Skandinavien – genauso wie in anderen Regionen Europas – auch die Rolle des Imams geändert. Die Hauptfunktionen, wie das Leiten der Gebete, blieben zwar erhalten, die Tätigkeitsbereiche erweiterten sich jedoch. So sollte nun ein Imam sowohl Religionslehrer für Kinder als auch Seelsorger für Erwachsene, Sprecher für seine Gemeinde, spiritueller Berater und Moschee-Manager sein sowie als öffentlicher Intellektueller fungieren. Die Rolle hat sich derart geändert, dass der Begriff »Imam« nicht mehr passend ist. Dennoch hat sich dieser Begriff in Skandinavien im öffentlichen Diskurs derart etabliert, sodass »Imam« heute auch für den Tätigkeitsbereich eines Kaplans verwendet wird. In Großbritannien verwenden Muslim*innen jedoch mittlerweile auch den Begriff »Kaplan«, um den erweiterten Tätigkeitsbereich eines Imams zu kennzeichnen. So sagt man beispielsweise im Skandinavischen »Krankenhaus-Imam« oder »Gefängnis-Imam«, wohingegen im Englischen von einem muslimischen Krankenhaus- oder Gefängniskaplan die Rede ist. Tatsächlich ist das »Kaplan«-System in Skandinavien verhältnismäßig unterentwickelt. Dänemark hat in Kopenhagen einen offiziell ernannten »VollzeitKrankenhaus-Imam«, andere Imame haben in Einzelfällen und auf freiwilliger Basis Patientenzugang. Ähnlich sieht es in dänischen Vollzugsanstalten aus, es gibt nur wenig Festangestellte und eine Handvoll Freiwillige, obwohl die Anzahl von muslimischen Insassen auf etwa 20 Prozent geschätzt wird. In Finnland gibt es weder Krankenhaus- noch Gefängniskaplane, während das norwegische Heer wiederum einen muslimischen Kaplan hat. In Schweden ist der schwedische Muslimrat die einzige Organisation, welche Abkommen mit Vollzugsanstalten hat und muslimische Gefängnisseelsorger zur Verfügung stellt. Die Schwedische Agentur zur Unterstützung von Glaubensgemeinschaften (SST) betreibt Seelsorge in Krankenhäusern.

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Die Imamausbildung in Skandinavien wurde oft mit der theologischen Ausbildung an bestimmten Universitäten gleichgestellt. Es ist der historisch sehr engen Beziehung zwischen Kirche und Staat geschuldet, dass die theologische Ausbildung, ausnahmslos lutherischen Glaubens, an den theologischen Fakultäten gemeinsam mit der Rechtswissenschaft zu den ältesten Studienrichtungen an den ältesten Universitäten – Uppsala (gegründet 1477), Kopenhagen (1479), Helsinki (1640, ursprünglich in Åbo/Turku gelegen), Lund (1666) und Oslo (1811) – zählt. Neuere Universitäten haben in der Regel keine theologische Fakultät, bieten aber ihre Fächer im Rahmen der religionswissenschaftlichen Studien an. Dänemark hat wahrscheinlich die längste Diskussion über die Einführung islamischer Theologie auf Universitätsniveau geführt. Ein 2003 erstelltes Diskussionspapier über Integrationsmaßnahmen hielt fest, dass man mit religiösen Minderheiten, insbesondere Muslim*innen, einen Dialog über die Notwendigkeit einer Ausbildung ihrer Geistlichen führen müsse. Man trat nicht an die Theologische Fakultät in Kopenhagen heran, aber der Zeitpunkt dieses Papiers überschnitt sich mit einer fakultätsübergreifenden Forschungsinitiative, welche die »Religion im 21. Jahrhundert« untersuchte. Als Teil dieser Untersuchung wurde die Wissenschaftlerin Brigitte Schepelern Johansen damit beauftragt, die Entwicklungen und Erfahrungen in Europa zu untersuchen. In zwei verschiedenen Berichten analysierte sie zuerst verschiedene islamische und einige wenige Universitätsprogramme in den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Bosnien und Herzegowina. Darauffolgend wurden reine Universitätsprogramme in den Niederlanden, Österreich und Deutschland untersucht (Johansen 2005, 2006). Im November 2005 wurde vom Untersuchungskomitee ein Treffen in Kopenhagen zu den Herausforderungen bei der Einführung einer islamisch-theologischen Ausbildung veranstaltet. Diese Veranstaltung brachte viele signifikante Interessenskonflikte zwischen den geisteswissenschaftlichen und theologischen Fakultäten zutage. Die Geisteswissenschaften vertraten immer wieder die Ansicht, dass die Angebote ihrer islamischen Studien vollkommen ausreichend seien, um jegliche Bedürfnisse einer theologischen Ausbildung abzudecken. Auch wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Universität eine säkulare Einrichtung sei und die Einführung eines konfessionellen Studiums, wenngleich eine konfessionelle Zugehörigkeit keine Zugangsvoraussetzung wäre, nicht angebracht sei. Die Theolog*innen wiederum empfanden, dass die Einführung eines solchen Studiums, das eine Vertiefung im Bereich Theologie vorsah, sehr wohl angebracht sei. Ein Problem stellte allerdings die Theologische Fakultät selbst dar, denn sowohl die Theologische Fakultät als auch das Zentrum für die Ausbildung der Geistlichen der Staatskirchen waren lutherisch ausgerichtet. Natürlich war die Theologische Fakultät, wie auch der Rest der Universitäten, im

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Laufe des 20. Jahrhunderts säkularisiert worden. Entsprechend wird das Fach nur noch akademisch betrachtet, und die eigentliche Ausbildung der Geistlichen findet in einem separaten Pastoralseminar statt. Lange Zeit stagnierten die Diskussionen, bis im September 2011 bei der 6. Versammlung des christlichmuslimischen Dialogs erneut die Frage nach einer »theologischen Ausbildung in einem multireligiösen dänischen Umfeld« vorgebracht wurde. Um die 60 Teilnehmer*innen taten ihre geteilte Unzufriedenheit kund, indem sie beklagten, dass die derzeitige theologische Ausbildung kaum Rücksicht auf die Vielfalt der Religionen und Kulturen nehme und somit ihre Absolvent*innen nicht gut genug auf ihre zukünftigen Gemeinden vorbereitet seien. Auch wurde aufgezeigt, dass eine Imamausbildung im dänischen Kontext nicht sinnvoll wäre. Grund dafür sei auch die zu geringe Nachfrage in einem so kleinen Land wie Dänemark, weshalb eine derartige Ausbildung nicht nachhaltig vertretbar wäre (Rapport 2011). Im Anschluss an dieses Treffen präsentierte der freie Forscher Mogens Mogensen seinen Bericht samt Interviews mit einigen muslimischen und christlichen Führungspersönlichkeiten. Beide Seiten betonten ihre Unzufriedenheit mit der momentanen theologischen Ausbildung von dänischen Theolog*innen und Geistlichen, da keinerlei Rücksicht auf die größte Minderheit der Muslim*innen im Land genommen werde. Der Großteil dieses Berichts thematisierte die Bedeutung der islamisch-theologischen Ausbildung. In seiner Conclusio hielt Mogensen fest, dass es bei einem Teil der muslimischen Führungspersönlichkeiten ein großes Verlangen nach einer solchen Ausbildung gebe, doch waren diese Wünsche auch mit viel Skepsis gegenüber den Chancen einer solchen Ausbildung verbunden. Auch wenn eine solche Ausbildung in Dänemark nicht möglich sei, sollten Länder, die eine derartige Imamausbildung anbieten, darauf bedacht sein, dass diese die religiöse Vielfalt fördere und Extremismus entgegenwirke. Ein weiterer Vorschlag war, dass dänische Studierende mit türkischen oder iranischen Wurzeln ein gesponsertes Training im Herkunftsland ihrer Eltern erhalten sollten.6 Die türkische Diyanet hatte zu diesem Zeitpunkt schon mit einem solchen Programm begonnen, indem sie mehrere junge Dänen türkischen Ursprungs mit einem Stipendium in die Türkei geschickt hatte, um das IlahiyatProgramm (Islamische Theologie) zu absolvieren. Das Programm ist von internationalem Charakter und wird gemeinsam von drei türkischen Universitäten in Istanbul, Izmir und Ankara angeboten. Bedauerlicherweise fanden die Absol-

6 Mogen Mogensens unveröffentlichter Bericht »Teologisk uddannelse i islam i Danmark« wurde dem christlich-muslimischen Dialog-Forum vorgelegt (2012).

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venten dieser Hochschulen wegen ihrer guten Sprachkenntnisse eine Beschäftigung in internationalen türkischen Betrieben.7 Sowohl in Schweden als auch in Norwegen wurden Diskussionen über die Einführung einer heimischen Imamausbildung geführt. In Schweden initiierte diese Diskussionen die Schwedische Agentur zur Unterstützung von Religionsgemeinschaften (SST, Nämnden för statligt stöd till trossamfund). Die SST, die bis 2000 als staatliche Verwaltungsbehörde fungierte, wurde ursprünglich für die staatliche Förderung der Kirchen außerhalb der lutherischen Gemeinden gegründet. Die Höhe der Finanzierung orientierte sich an der Mitgliederzahl der religiösen Gemeinden, die bei der SST registriert sind. Um sich bei der SST zu registrieren bzw. öffentliche Förderungen erhalten zu können, schlossen sich in den 1970er-Jahren die islamischen Organisationen zusammen. Im Jahr 2000 trennte sich die schwedische Kirche vom Staat und stellte damit die Existenz der SST infrage. Auch wurde die SST aufgefordert, ihren Zweck und ihre Beziehungen zu den einzelnen religiösen Gemeinden, inklusive der muslimischen Organisationen, zu öffentlich zu machen. Auslöser dafür waren insbesondere öffentliche Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. 2008 verlangte die schwedische Regierung einen Bericht über die führenden islamischen Gemeinden in Schweden. Die Kommission bestand aus Vertretern der SST, Akademiker*innen und Beamt*innen. Der Bericht wurde im Sommer 2009 veröffentlicht. Er beinhaltete Diskussionen über Maßnahmen zur Verbesserung der Integration, darüber hinaus inkludierte er insbesondere die Verteilung von Moscheen, ihrer Dachorganisationen und deren Personal (Staten och imamerne 2009). Der Bericht unterstreicht immer wieder, dass die vorliegenden Zahlen nur Schätzungen sind: Darin wird von etwa 250 Moscheen im Lande ausgegangen (höchstwahrscheinlich war diese Zahl viel zu hoch).8 Die ausgewerteten Daten der vier Föderationen, die bei der SST registriert sind, zeigen, dass durchschnittlich 28,5 Imame in den Verbänden angestellt sind und 29,5 bei anderen Organisationen wie der Diyanet (z. B. bei den meisten türkischen Moscheen), weitere 108,5 sind ehrenamtlich tätig (ebd., S. 36–38). Die meisten dieser Imame stammen weiterhin aus dem nichteuropäischen Ausland, wenngleich die Option bestand, ausgebildete Imame aus Großbritannien anzustellen, welche dieselben ethnisch7 Basierend auf persönlichen Gesprächen, die mit Personen geführt wurden, welche in das Projekt involviert waren. 8 Den Studien zufolge wurden nur sechs davon zweckmäßig gebaut – bis 2017 waren zwei weitere gebaut worden, jedoch liegen keine verlässlichen Daten über die Anzahl der Moscheen insgesamt vor. Es sei darauf hingewiesen, dass ich in diesem Artikel unter »Moschee« alle Räumlichkeiten verstehe, die regelmäßig zum Gebet genutzt werden, unabhängig davon, ob es sich um eigens errichtete Moscheen oder große und kleine Grundstücke handelt, die für den regulären religiösen Gebrauch adaptiert wurden.

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kulturellen Hintergründe hätten (ebd., S. 40–41). Die meisten Imame, die im Bericht befragt wurden, befanden es für gut, eine Imamausbildung in Schweden anzubieten. Interessanterweise haben diese Imame aber nicht so sehr nach einer theologischen Ausbildung gefragt, sondern primär nach einer kulturellen und schwedischen Allgemeinbildung, wie schwedisches Recht, Geschichte und Gesellschaft, schwedische Sprache sowie Führung und Konfliktlösung in den Moscheegemeinden (ebd., S. 46–48). Es gab ein höheres Interesse an interreligiösem Dialog als an islamischer Theologie. In Norwegen wurde bereits in den Jahren 2006/2007 festgelegt, sich auf eine professionelle »Inkulturation« zu fokussieren, was sich auch die schwedischen Muslim*innen in der 2009 veröffentlichten Studie wünschten. Das Ministerium für Arbeit und Inklusion sowie die Theologische Fakultät der Universität Oslo haben ein weiterführendes Bildungsprogramm für religiöse Führungspersönlichkeiten mit Migrationshintergrund etabliert. Dieses Programm, das mit finanzieller Förderung des Ministeriums im Jahre 2007 startete, deckte die Studiengebühren der Studierenden. Es scheint, dass die jährlichen zehn bis zwölf Teilnehmer*innen, die schon seit längerer Zeit im Lande lebten, weitere Diskussionen überflüssig machten. Die Mehrheit der Teilnehmer*innen sind Muslim*innen und Christ*innen mit orthodoxem Hintergrund, Anhänger*innen der Pfingstbewegung sowie ein kleiner Anteil von Menschen jüdischen, hinduistischen und buddhistischen Glaubens (ebd., S. 74–75). Das Bildungsprogramm besteht aus drei Modulen, welche mit jeweils 10 ECTS bewertet werden: »Religion, norwegische Gesetzgebung und internationale Menschenrechte«, »Werte, Dialog und Gemeindemanagement« und »Moral und religiöse Lebenshilfe«. Studierende haben später die Möglichkeit, sich ihre ECTS in einem Kurs mit einer offiziellen Anerkennung anrechnen zu lassen. Die Theologische Fakultät der Universität Kopenhagen hat für 2016 ein ähnliches Programm eingeführt, allerdings mit einem stärkeren theologischen Fokus. Dieser Kurs wird als »Kompaktkurs« angeboten, wobei jedes Modul während zwei Wochen über zehn volle Tage unterrichtet wird. Für dieses Programm wurden keine öffentlichen Gelder zur Verfügung gestellt. In der Tat gab es sogar eine Zeit lang Probleme, diesen Kurs vom Ministerium für höhere Bildung genehmigt zu bekommen (dänische Universitäten sind zum Teil von der Regierung »micro-gemanaged«), und mindestens ein rechter Abgeordneter äußerte öffentlich Sorge über dieses Projekt. Dies ist wahrscheinlich einer der Hauptgründe, weshalb nur ein kleiner Anteil von Muslim*innen für diesen Kurs eingeschrieben ist.

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3.

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Islamischer Religionsunterricht

Es steht fest, dass muslimische Kinder islamischen Religionsunterricht mehrheitlich im außerschulischen Bereich erhalten, sei es in der Moschee oder anderswo am Nachmittag, Abend oder am Wochenende. Dies zeigt, dass die meisten Eltern, wie in ganz Europa, eher zurückhaltend sind, wenn es darum geht, die religiöse Erziehung dem Staat zu überlassen. Nur in Finnland gibt es seit 2003 einen Erlass, der vorsieht, auf Wunsch der Eltern den religiösen Unterricht an einer öffentlichen Schule abzuhalten. Diese Unterrichtsstunden werden ab drei Schüler*innen in einer Klasse angeboten und stehen unter strengen Auflagen; religiöse Praktiken dürfen nicht unterrichtet werden. Die freien Schulen in Dänemark erlauben es, den islamischen Unterricht nach den Wünschen der Eltern zu gestalten. Nachdem jedoch diese Schulen zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt sind, werden sie nun streng überwacht. Ende 2018 wurde eine dieser freien Schulen in Kopenhagen aufgrund des Verdachts der Verbreitung extremistischer Lehren und der Verweigerung, sich in die Gesellschaft zu integrieren, zur Schließung aufgefordert. Es ist bekannt, dass die Mehrheit der muslimischen Eltern ihre Kinder bevorzugt in freie Privatschulen schickt statt in die regionalen staatlichen Schulen. Die freiwilligen ehrenamtlichen Angebote für die religiöse Erziehung muslimischer Kinder dominieren jedoch weiterhin die Landschaft der religiösen Erziehung. Einige dieser außerschulischen Angebote haben auch klare Strukturen und pädagogische Konzepte, wie jene der Diyanet, wenngleich Expert*innen aus dem öffentlichen Bereich vermutlich größere oder kleinere Mängel konstatieren würden. Andere Einrichtungen bieten Religionsunterricht ganz ohne Konzept an, wobei Schüler*innen dann auch Methoden ausgesetzt sind, die in starkem Kontrast zu jenen im öffentlichen Sektor stehen. Dennoch werden sie weiterhin ihren Religionsunterricht im eigenen kulturellen und religiösen Umfeld erhalten, nicht viel anders als in römisch-katholischen Gemeinden. Vor diesem Hintergrund wäre es interessant, deutsche und österreichische Erfahrungen näher zu betrachten.

Literaturverzeichnis Hashas, M., Jaap de Ruiter, J., & Vinding, N. V. (Hrsg.). (2018). Imams in Western Europe: Developments, Transformations, and Institutional Challenges. Amsterdam: Amsterdam University Press. Jensen, T., Bæk Simonsen, J., & Skovgaard-Petersen, J. (Hrsg.). (1994). Islam i skolen (S. 22– 32). Kopenhagen: Danmarks Lærerhøjskole.

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Johansen, B. S. (2005). Imamuddannelse i Europa – udfordringer og perspektiver: udredning vedr. imamuddannelse i Europa, rapport 1. Kopenhagen: Satsningsområdet »Religion i det 21. årh.«. Københavns Universitet. Johansen, B. S. (2006). Islam at the European Universities, report II. Kopenhagen: University of Copenhagen Research Priority Area Religion in the 21st Century. Nielsen, J. S. (1989). Muslims in English schools., Journal of Muslim Minority Affairs, 10(1), (S. 223–245). Rapport fra den sjette konference i Kristent-Muslimsk Samtaleforum, 18.–19. November 2011. Sayed, M. (2009). Islam och arvsrätt i det mångkulturella Sverige (S. 82–86). Uppsala: Iustus. Sigurðsson, K. (2016). Iceland. In O. Scharbrodt et al. (Hrsg.), Yearbook of Muslims in Europe (Bd. 8, S. 352–361). Leiden: Brill. Staten och imamerne: religion, integration, autonomi. (2009). Stockholm: Statens Offentlige Utredningar. Universität Oslo, Theologische Fakultät [Webseite]. (o. J.). www.tf.uio.no/studier/evu/k urs/2015/relleder/english/index.html. Zugegriffen: 16. Dezember 2018.

Rositsa Atanasova

Nach dem Atheismus: Islamische Erziehung in Bulgarien in der postkommunistischen Zeit

Zusammenfassung Dieser Beitrag untersucht den institutionellen Rahmen der islamischen Erziehung im postkommunistischen Bulgarien. Ziel ist es, die einzigartigen Merkmale des gegenwärtigen Systems zu identifizieren, um eine Analyse seiner Ausgestaltung im aktuellen geopolitischen Kontext zu ermöglichen. Letzten Endes scheint es, als handele es sich dabei um eine atheistisch ausgerichtete islamische Erziehung. Es ist die Wiederherstellung einer unterbrochenen Tradition des Religionsunterrichts in einem säkularisierten Raum. In einen größeren Kontext eingeordnet spiegelt die islamische Bildung in Bulgarien die Unruhe im Land wider. Während die Finanzierung und das historische Erbe der Bildungstraditionen jenen der benachbarten Türkei sehr ähneln, werden die Absolvent*innen Bulgariens über Zeugnisse der Europäischen Union verfügen. Es bleibt jedoch eine Herausforderung, einheimische, zeitgenössische islamische Pädagog*innen und Geistliche zu fördern.

1.

Einführung

Die Haltung des Staates und der Gesellschaft gegenüber den muslimischen Minderheiten, welche nach der Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich in Bulgarien verblieben, verdeutlicht die Herausforderungen in Bezug auf die Staatsbildung, Identität und historische Narrative. Es überrascht nicht, dass die islamische Erziehung zu einem Schwerpunkt dieser Interaktionen wurde und es auch bis heute blieb. Die Vernetzung von Bildung und Identitätsbildung machte den Religionsunterricht zu einem umstrittenen Feld. Muslimische Minderheiten sahen in der islamischen Erziehung die einzige Möglichkeit zur Wahrung ihrer religiösen Identität, während der Staat die Bildungspolitik als die wirksamste Methode zur Förderung der beim Bürgertum erwünschten Einstellung ansah. Diese Dynamik hatte in den verschiedenen Perioden der »neueren und aktuellen

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Geschichte« Bulgariens unterschiedliche Auswirkungen. So blieb in den Jahrzehnten nach der nationalen Unabhängigkeit der vom Osmanischen Reich geerbte institutionelle Rahmen der islamischen Erziehung weitgehend erhalten. Das Aufkommen des Kommunismus leitete jedoch den Abbau der bestehenden Strukturen ein und führte zu einer 40 Jahre umfassenden Lücke im Religionsunterricht. Nach dem Fall des Kommunismus versuchten die Muslim*innen in Bulgarien, die islamische Bildung im Land wiederherzustellen. So ist in den letzten 20 Jahren ein neuer Rahmen islamischer Bildungseinrichtungen entstanden. Während von diesem behauptet wird, er sei eine direkte Fortsetzung der »einheimischen« Tradition des islamischen Lernens, ist er gleichzeitig auch innovativ, um einer erheblich veränderten und herausfordernden Realität gerecht zu werden. Traditionellerweise muss die moderne islamische Bildung in Bulgarien dem Bildungsministerium, privaten Sponsoren, ausländischen Interessen sowie den Anforderungen der einheimischen muslimischen Gemeinschaft gerecht werden. Dieses komplexe und unterschätzte Netz von Einflüssen hat die gleiche Frage aufgeworfen, welche in Bezug auf die islamische Erziehung an anderer Stelle aufgekommen ist: Wie positioniert die einzigartige geografische Lage Bulgariens insbesondere die religiösen Bildungseinrichtungen des Landes auf der Weltkarte des islamischen Lernens?

2.

Historischer Hintergrund: Von der nationalen Unabhängigkeit bis zum Fall des Kommunismus

Nach der Unabhängigkeit erbte Bulgarien das bestehende Netzwerk islamischer Bildungseinrichtungen, welches sowohl aus der Tradition als auch aus den Reformen im Osmanischen Reich hervorgegangen war. Diese wurden nach ethnischer Zugehörigkeit aufgeteilt, mit getrennten Schulen für Türk*innen, bulgarische Muslim*innen (Pomak*innen), Tatar*innen und Roma. Ursprünglich bot ein umfangreiches System aus Grundschulen (subyan) ein bedeutendes Ausmaß an Religionsunterricht an (Usufova 2005, S. 5). Diesen Schulen fehlten feste Lehrpläne und ein getrenntes Klassensystem. Sie wurden durch die frommen Stiftungen (waqf) und durch Spenden der lokalen Bevölkerung finanziert. Jungen im Alter von sieben bis 15 Jahren und Mädchen im Alter von sieben bis 13 Jahren besuchten diese Einrichtungen, während als Lehrer am häufigsten Imame und Muezzins fungierten. Der Unterricht stellte das Lesen des Korans gemäß den Prinzipien von tagˇwı¯d (die Kunst der Koranrezitation) in den Mittelpunkt. Mittelschulen oder Medresen bildeten das Niveau des Religionsunterrichts über subyan. Subyan-Absolvent*innen oder Schüler*innen mit ver-

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gleichbaren Qualifikationen hatten die Möglichkeit, ihre Ausbildung an diesen weiterführenden Schulen fortzusetzen. Die den Moscheen angeschlossenen Medresen wurden auch von den großen Wohltätigkeitsorganisationen finanziert. Neben den religiösen Fächern wurden auf dieser Ausbildungsstufe auch säkulare Fächer unterrichtet. Die Medresen bildeten Imame, Muezzins und wuʿa¯z (Sg. wa¯ʿiz, Prediger in Moscheen) aus und versorgten so die muslimische ˙ ˙ Gemeinschaft mit Laien, die sich um deren spirituelle Bedürfnisse kümmerten. Die Tanzimat-Reformen im Osmanischen Reich lösten grundlegende Änderungen in diesem zweistufigen Schulsystem der islamischen Bildung aus. Die Bildungsreform zielte nicht darauf ab, die religiösen Schulen per se zu reformieren, sondern war vielmehr daran interessiert, die Stellung der militärischen und technischen Fächer in den Bildungseinrichtungen zu stärken (Methodieva 2004, S. 142). Ein erster Schritt in diese Richtung wurde Ende der 1830er-Jahre mit der Gründung der Rüs¸diye unternommen. Diese Mittelschulen wurden entwickelt, um die Beamten des Osmanischen Reiches nach einem säkularen Curriculum auszubilden. 1846 wurde der erste Plan für die staatliche Bildung eingeführt (Usufova 2005, S. 10), daraus ist unter der Verantwortung des Bildungsministeriums ein umfassendes System von Grund- und weiterführenden Schulen entstanden. Subyan-Schulen wurden mit einem Klassen- und Notensystem zu einer vierjährigen Ausbildung umgewandelt. Die 1869 in Kraft getretenen allgemeinen Bildungsgesetze sahen eine kostenlose und obligatorische Grundschulbildung vor. Subyan-Absolvent*innen konnten ihre Ausbildung in der Rüs¸diye fortsetzen, ohne eine Aufnahmeprüfung abzulegen. So gab es im Donau-Vila¯yet am Vorabend der Unabhängigkeit Bulgariens ungefähr 2.700 Subyan, 140 Medresen und 40 Rüs¸diye (ebd., S. 13). Die Umsetzung ging zwar nur langsam voran, jedoch wurde mit diesen Reformen der Grundstein für die Systematisierung und Säkularisierung der Bildung im Osmanischen Reich gelegt. In den Jahrzehnten nach der Gründung des bulgarischen Staates behielten die muslimischen Schulen ein hohes Maß an Autonomie, was es den Osmanen ermöglichte, bei der Synchronisierung der islamischen Erziehung im Fürstentum mit den Bildungstrends innerhalb des Osmanischen Reiches eine aktive Rolle zu spielen. Das »Gesetz zu den öffentlichen und privaten Schulen« des Jahres 1885 markierte den Beginn der staatlichen Beteiligung an der Regulierung der muslimischen Schulen auf bulgarischem Gebiet (Methodieva 2004, S. 147). Obligatorische bulgarische Sprachkurse wurden zusammen mit Fächern wie Mathematik, bulgarische Geschichte und Geografie eingeführt. Die muslimische Gemeinschaft blieb jedoch weiterhin für die Finanzierung und Überwachung der Schulen verantwortlich. Dies war auch in Ostrumelien der Fall, wo das »Ausführungsgesetz« konfessionellen Gruppen das Recht zusprach, ihre eigenen Schulen zu eröffnen und die Unterrichtssprache zu wählen, solange sie diese Einrichtungen subventionierten (ebd., S. 148). Während die Bildungsdirektion

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von Rumelien offiziell für die muslimischen Schulen in der Provinz zuständig war, war das osmanische Bildungsministerium ihr Hauptsponsor. Die Osmanen ernannten Lehrer, bezahlten deren Gehalt und schickten Schulbücher. Nach der Vereinigung des Fürstentums mit Ostrumelien im Jahr 1885 wurde die Direktion Teil des bulgarischen Bildungsministeriums, und muslimische Schulen in beiden Gebieten fielen unter eine Jurisdiktion. Das erste große Bildungsgesetz nach der Vereinigung unterschied zwischen öffentlichen und privaten Schulen. Das »Gesetz zur nationalen Bildung« vom 23. Januar 1892 sah vor, dass der Staat ausschließlich öffentliche Schulen finanzieren und gleichzeitig festlegen sollte, dass private muslimische Schulen die einzige Ausnahme von diesem Grundsatz darstellen (ebd., S. 149). Diese Bestimmungen zielten darauf ab, die materiellen Probleme der Institutionen zu beheben, um so ihre minderwertigen Bildungsstandards zu verbessern. Grundschulen auf dem Land waren ein weiteres Hauptproblem, da sie außerhalb der Kontrolle der osmanischen Bildungsreformen und der Finanzierung lagen, welche sich auf die Rüs¸diye und Sekundarschulen im Allgemeinen konzentrierten. Die unzureichende Finanzierung der Schulen blieb bis zur Unabhängigkeit von Bulgarien unverändert. Die osmanischen Zuschüsse und die nominelle staatliche Aufsicht ermöglichten es der islamischen Bildung in Bulgarien, ihre osmanische Struktur und ihren osmanischen Inhalt in den ersten drei Jahrzehnten der Unabhängigkeit beizubehalten. Es ist notwendig, die Entwicklung der islamischen Bildung im unabhängigen Bulgarien in den komplexen Prozess des Aufbaus von Nationen und in den Kontext der jeweiligen staatlichen Haltung gegenüber dem Islam und den muslimischen Minderheiten zu stellen. Mary Neuburger hat überzeugend argumentiert, dass die »Suche nach einem bulgarischen nationalen Selbst oft durch eine Abkoppelung vom osmanischen Bereich und die Suche nach einer geografischen und konzeptionellen Grundlage in Europa und im Westen gekennzeichnet war« (Neuburger 2004, S. 18). Während eine solche Neufassung der nationalen Identität den Befreiungskampf befeuerte, hatte sie problematische Folgen für die Haltung gegenüber der türkischen Minderheit, welche nach der Unabhängigkeit Bulgariens im Land verblieben war. Die komplizierte Beziehung zwischen Religion und ethnischer Zugehörigkeit, die durch das osmanische Millet-System gefördert wurde, widersetzte sich im Befreiungsdiskurs und im konzeptuellen Aufbau der bulgarischen Zugehörigkeit der christlichen Orthodoxie gegenüber dem Islam. Die Pomak*innen als ein Teil der islamischen Gemeinde trugen mit ihren türkischen Glaubensgeschwistern gemeinsam die Last der bulgarischen Identitätssuche. Pomak*innen – Nachkommen slawischer Christ*innen, die zum Islam konvertierten – waren und sind die zweitgrößte muslimische Minderheit des Landes. Die längste Zeit des 20. Jahrhunderts machten Türk*innen etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus, der Anteil der Pomak*innen lag bei drei Prozent (Neuburger 2004, S. 20). So

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wurden Türk*innen und Pomak*innen zum Gesicht und damit zur greifbaren Erinnerung an die orientalische Vergangenheit Bulgariens auf dem Territorium einer Nation, die sich selbst zum souveränen Mitglied des zivilisierten Europas machte. Nach der formellen Proklamation der Unabhängigkeit Bulgariens erscheinen die Einstellungen des Staates zum Islam im Allgemeinen und zur islamischen Bildung im Besonderen ambivalent und inkonsistent, da sie die Überzeugung widerspiegeln, dass Bildung das wichtigste Instrument für den Aufbau von Nationen darstelle. Die faktische Unabhängigkeit Bulgariens vom Osmanischen Reich im Jahr 1878 wurde am 5. Oktober 1908 de jure anerkannt. Infolgedessen wurde 1909 im Fürstentum, dem türkisch-bulgarischen Abkommen folgend, zum Schutz der Minderheiten das Amt des Großmuftis für die muslimische Konfession eingerichtet (Hakov 2009, S. 22). Das 1919 verkündete Statut für die religiöse Organisation und Verwaltung der muslimischen Bevölkerung im Königreich Bulgarien organisierte die muslimische Gemeinschaft in religiösen Gemeinden, welche von einem örtlichen Mufti geführt und von einem Gemeindevorstand geleitet wurden, dessen Hauptaufgabe darin bestand, Eigentum zu verwalten. Der Großmufti leitete die muslimische Verwaltung und vermittelte zwischen der muslimischen Minderheit und den bulgarischen Institutionen (Mancheva 2001, S. 364). Theoretisch war das Mufti-Amt der Autorität des Sˇeyhülislam in Istanbul untergeordnet, tatsächlich bildete es jedoch eine unabhängige muslimische Struktur. Die Zentralisierung der konfessionellen Verwaltung unter dem Amt des von den Türken dominierten Großmuftis sicherte somit das türkische Monopol auf den islamisch-institutionellen Rahmen in Bulgarien nach der Unabhängigkeit. Dieser Trend fand seinen analogen Ausdruck in den Bildungsreformen. Die muslimischen Schulen hatten nach dem Gesetz zur öffentlichen Bildung des Jahres 1909 (ebd., S. 365) weiterhin als eigenständige private Bildungseinrichtungen fungiert. Seit der Unabhängigkeit waren die wenigen pomakischen Privatschulen Teil des türkischen Privatschulnetzwerks und der Unterricht wurde auf Türkisch abgehalten. 1926 wurden diese jedoch in das bulgarische öffentliche Bildungssystem aufgenommen (ebd., S. 369). Das türkische Monopol auf die islamischen Bildungseinrichtungen hatte die wachsende türkische Infiltration der nichttürkischen muslimischen Bevölkerung gefördert und die klare Kategorisierung der Pomak*innen nach ethnischen Gesichtspunkten weiter erschwert. Das nationalistische Projekt verlangte, dass die pomakische Bevölkerung sich ihrer bulgarischen Identität bewusst werde, während der Islam die Grenzen verwischte, indem er diesen bulgarischen Muslim*innen eine türkische Identität vermittelte. Nach dem Ersten Balkankrieg zwangen orthodoxe Priester, welche die siegreichen bulgarischen Truppen begleiteten, 200.000 Angehörige der pomakischen Minderheit zur Konvertierung und leiteten damit schreckliche Assimilationskampagnen ein, um deren »muslimische

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Identität« zu beseitigen (Neuburger 2004, S. 41). Bei der Verfolgung des pomakischen Islams befürwortete die Regierung jedoch die Wahrung einer traditionellen muslimisch-religiösen Identität unter der türkischstämmigen bulgarischen Bevölkerung als Schutzwall gegen die Bedrohung durch die wachsende kemalistische Beeinflussung (CEDIME-SE 1999, S. 8). Türkische Religionsschulen waren die natürlichen Orte für ein solches Projekt und wurden bevorzugt behandelt. Für die Regierung erwies sich der Islam als weniger problematisch als die damit verbundene ethnische Zugehörigkeit. Folglich spiegelt die Ambivalenz der staatlichen Politik gegenüber den islamischen Bildungseinrichtungen in dieser Zeit die widersprüchlichen Anforderungen eines Staatsbildungsprojekts wider, welches sich auf ethnische Homogenität konzentrierte. Die Zwischenkriegsjahre leiteten die Ausweitung des islamischen Bildungsrahmens ein, dessen Existenz mit der türkischen Minderheit in Bulgarien verbunden wird. Die Agrarregierung von Aleksandar Stambolijski (1919–1923) verpflichtete sich, die privaten türkischen Schulen unter Wahrung ihrer Autonomie zu finanzieren (Usufova 2005, S. 26). Im Rahmen dessen erhielten die Schüler*innen die Möglichkeit, an öffentlichen Grundschulen in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. Am bedeutendsten war die Entwicklung höherer islamischer Bildungseinrichtungen. 1918 wurde in Schumen die Darülmuallimin eröffnet, eine zweijährige Hochschule für Lehrer*innenausbildung, die zu einem wichtigen Zentrum für die Ausbildung türkischer Lehrkräfte wurde. Der Lehrplan der Darülmuallimin spiegelte den Lehrplan der bulgarischen Gymnasien, zusätzlich zu den auf Türkisch unterrichteten pädagogischen und religiösen Fächern, wider (ebd., S. 28). Die Schule nahm Absolvent*innen der Rüs¸diye auf, welche später bei der Bewerbung um eine Stelle an den muslimischen Schulen bevorzugt behandelt wurden. Die Regierung versprach die Eröffnung von zwei zusätzlichen pädagogischen Instituten, um den Bedürfnissen der muslimischen Minderheit gerecht zu werden, jedoch kam die Initiative nicht zustande. Die Darülmuallimin wurde 1928 unter dem Vorwand geschlossen, Anhänger des Kemalismus zu beherbergen. Nach der Schließung wurden türkische Lehrkräfte an der Nüvvab-Sekundarschule in Schumen ausgebildet. Die Nüvvab war 1922 aufgrund eines bulgarisch-osmanischen Abkommens eröffnet worden, welches die Einrichtung einer privaten muslimischen Sekundarschule in Bulgarien vorsah (Ahmed 2009). Die Schule zielte darauf ab, zeitgenössische Theolog*innen und Lehrkräfte auszubilden, die den Bedürfnissen der muslimischen Gemeinschaft gerecht werden konnten, eine Notwendigkeit, der die alten Medresen nicht mehr angemessen entsprachen. Das Sekundarstudium an der Nüvvab dauerte fünf, während der Hochschulkurs nur drei Jahre dauerte. 1932 wurde die Sekundarstufe einer bulgarischen Oberschule gleichgestellt, und ihre Absolvent*innen erhielten das Recht, an den privaten türkischen Schulen zu unterrichten. Die 1930 eingeweihte Abteilung für

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Hochschulbildung wurde von angehenden Muftis und Scharia-Richtern absolviert und bot einen Studiengang mit dem Schwerpunkt islamisches Recht und Rechtsprechung an, wobei der Unterricht auf Arabisch abgehalten wurde. Neben diesen Fächern belegten die Studierenden Kurse in bulgarischem Recht, internationalem Recht und Wirtschaftswissenschaften. Die meisten Schüler*innen, die zur Nüvvab zugelassen wurden, kamen von der 1911 in Schumen gegründeten und 1930 der Nüvvab angegliederten Medresetü’l-A¯liye-Mittelschule. Diese traditionelle Medrese wurde reformiert und die Dauer des Studiums von drei auf vier Jahre verlängert. Die Transformation fungierte als Vorbild für andere Institutionen der gleichen Art. Letztendlich lieferte die Nüvvab-Stuktur den Entwurf für die Organisation der islamischen Erziehung im postkommunistischen Bulgarien. Der Wiederaufbau der Schule im Jahr 1990 markierte die Wiederbelebung der islamischen Bildung im Land und spricht eindeutig für die symbolische Bedeutung der Nüvvab. Der Sturz der Agrarregierung im Jahre 1923 löste eine Zeit der Säkularisierung und des Niedergangs der religiösen Erziehung aus. Das Zurückhalten staatlicher Subventionen nach 1923 führte zur Schließung vieler türkischer Schulen. Mit dem Vorwurf des »Kemalismus« schloss die Darülmuallimin im Jahr 1928. Der türkische Geheimdienst kämpfte in den 1920er-Jahren gegen die konservativ-traditionellen Mitglieder der Gemeinschaft und forderte eine Reform des nichtfunktionierten Bildungssystems und insbesondere der religiösen Bildungseinrichtungen (Usufova 2005, S. 50). Es wurde versucht, das Netzwerk der Rüs¸diye aufgrund ihrer weltlichen Neigung auszubreiten und die Anzahl der säkularen Fächer im Curriculum zu erweitern. Auf der Suche nach Synchronität mit der benachbarten Türkei erreichten die Reformist*innen Ende des Jahrzehnts die Einführung der lateinischen Schrift in den Schulen. So katalysierte der türkische Geheimdienst eine einheimische Säkularisierung der Minderheitenbildung, indem sie sich nach den Reformen in Ankara richtete. Lediglich die Nüvvab behielt ihren Status als Institution der islamischen Erziehung. Eine lebhafte Debatte darüber, ob diese eine traditionelle oder eine moderne Medrese sei, machte der Institution jedoch im Laufe ihrer Geschichte zu schaffen und verursachte Spannungen zwischen traditionellen und reformistischen Tendenzen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft. Die Politik des autoritären Regimes, welches 1934 an die Macht kam, nutzte die Vorwürfe des Kemalismus, um die Reforminitiative weiter aufzuhalten. Die Regierung befürwortete die Ausweitung der religiösen Erziehung auf Kosten der allgemeinen Bildung. Das Kabinett forderte die Wiedereinführung des arabischen Alphabets an den islamisch-türkischen Schulen und verweigerte den privaten türkischen Schulen den gleichen Status wie den bulgarischen Schulen. Der Hauptgrund für staatliche Eingriffe in die Minderheitenbildung blieb die Unterstützung der konservativ gesinnten Muslim*innen. Viele Lehrer*innen ver-

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loren ihre Arbeit an konservative Hodschas (Lehrer) ohne pädagogische Ausbildung. 1934 wurde die »Gesellschaft zum Schutz der islamischen Religion« mit dem angeblichen Ziel gegründet, den Kemalismus und seine Verbreitung unter den bulgarischen Türk*innen zu bekämpfen (ebd., S. 58). Mit Unterstützung der Gesellschaft und des Mufti-Amtes wurde die arabische Schrift im selben Jahr wieder eingeführt. Bis 1940 war die Zahl der privaten türkischen Schulen von 1.700 auf 404 gesunken (ebd., S. 56). Türkische Kinder durften jedoch nicht die bulgarischen Schulen besuchen, sodass 70 Prozent der Schulpflichtigen nicht unterrichtet wurden. Von den religiösen Schulen verblieben lediglich vier Medresen. Zu Beginn des Jahrzehnts waren 24 Lehrer*innen beschäftigt und 678 Schüler*innen waren in den Juniorenseminaren eingeschrieben. Nüvvab war die einzige Einrichtung, die Religionsunterricht auf Sekundar- und Postsekundarstufe anbot. Trotz der offensichtlichen religiösen Wiederbelebung wurde die Herrschaft des autoritären Regimes von den bulgarischen Türk*innen als bewusster Angriff auf ihr Streben nach Modernisierung durch die erzwungene Förderung des vom Aberglauben geprägten Konservatismus anstelle des authentischen Islam angesehen. Das 1944 an die Macht gekommene kommunistische Regime förderte die kulturelle und ethnische Identität der bulgarischen Minderheiten und unterdrückte allmählich die religiöse Gesinnung. Zunächst appellierte die neue Regierung an die türkische Minderheit, indem sie versprach, den Missbrauch der vorangegangenen Kabinette zu korrigieren. In einer im Dezember 1944 abgehaltenen nationalen Konferenz wurde zugesichert, die Schulpflicht für türkische Kinder auszuweiten und sämtliche Fächer an türkischen Grundschulen – mit Ausnahme der Fächer Bulgarisch, Geschichte und Geografie – auf Türkisch zu unterrichten (ebd., S. 64). Darüber hinaus würden die türkischen Lehrkräfte in rechtlicher Hinsicht ihren bulgarischen Kolleg*innen gleichgestellt. Die lateinische Schrift wurde wieder eingeführt und beschlagnahmte Schulgrundstücke und Besitztümer wurden zurückgegeben. Die Partei versprach, zwei neue pädagogische Schulen zu eröffnen und Nüvvab in ein türkisches Gymnasium umzuwandeln, welches die gleichen Rechte wie andere bulgarische Sekundarschulen genießen würde. Die höhere Abteilung der Nüvvab sollte zu einem höheren pädagogischen Institut werden. Dementsprechend erklärte die bulgarische Verfassung von 1947, dass die Bildung in Bulgarien säkular und die Schulen öffentlich seien. Dies machte die Grundschulpflicht obligatorisch sowie kostenlos und garantierte den Minderheiten das Recht auf Unterricht in ihrer eigenen Sprache. Dieses Engagement erforderte jedoch den Ausbau des öffentlichen Schulnetzwerks in den gemischten Regionen und die Lösung des heiklen Problems der türkischen Privatschulen, deren finanzielle Notlage den Analphabetismus der Minderheiten steigen ließ. Geldpolitische Überlegungen lösten somit die Debatte über die Verstaatlichung dieser Bildungseinrichtungen aus.

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Einerseits waren die Schulbehörden in Versuchung, die Maßnahme zur Wiederbelebung der Minderheitenbildung zu unterstützen, andererseits befürchteten sie die Gefährdung der türkischen Identität, die ein solches integrationspolitisches Handeln implizierte. Der private Status der türkischen Schulen geht auf die Unabhängigkeit Bulgariens zurück und war das Ergebnis türkisch-bulgarischer Abkommen zum Schutz von Minderheiten gemäß dem Vertrag von Neuilly-sur-Seine des Jahres 1919. In der Ergänzung zum Gesetz zur öffentlichen Bildung von 1946 hieß es jedoch, dass der Staat die Finanzierung von Privatschulen übernimmt und zugleich sicherstellt, dass sie ihren Minderheitenstatus behalten und weiterhin muttersprachlichen Unterricht abhalten dürfen. 1947 wurde aufgrund einer gemeinsamen Entscheidung des Bildungs- und des Außenministeriums die höhere Stufe der Nüvvab geschlossen und die Sekundarstufe in eine säkulare Oberstufenschule umgewandelt. Diese Maßnahme war bei vielen eingeschriebenen Student*innen, die für die Zulassung zu den Hochschuleinrichtungen gegenüber ihren bulgarischen Kolleg*innen gleichermaßen wettbewerbsfähig sein wollten, nicht unpopulär. Analog dazu wurde die 1945 in Plowdiw gegründete pomakische Oberschule für Theologie 1948 in eine säkulare Hochschule umgewandelt. Noch im selben Jahr wurden sämtliche Schulen verstaatlicht. Schließlich beendete eine Entscheidung des Politbüros zur »Verbesserung der Arbeit mit der türkischen Bevölkerung« im Jahr 1951 die religiöse Erziehung im gesamten Land (ebd., S. 70). Die vier Medresen, die nach Einführung des Kommunismus in Schumen und in den Dörfern Ljuljakowo, Bilka und Strazin weiter bestanden, wurden in dieser Zeit geschlossen oder in säkulare Schulen umgewandelt. Der optionale Religionsunterricht an öffentlichen Schulen wurde ebenfalls eingestellt, und zwischen 1958 und 1960 wurden bulgarische und türkische Schulen zusammengelegt (Ragaru 2001, S. 296). Ab diesem Zeitpunkt wurde die säkulare Identität der türkischen Minderheit durch Bildungsinitiativen und durch Quoten für die Aufnahme von Angehörigen von Minderheiten in die Hochschuleinrichtungen energisch gefördert – in diesem Prozess spielte die Gründung des türkisch-pädagogischen Instituts eine wichtige Rolle. Die allmähliche Verlagerung vom »kommunistischen Internationalismus« zum »kommunistischen Nationalismus« kriminalisierte jedoch schließlich jegliche Ausdrucksform der Minderheitenidentität und führte zu der gewaltsamen Assimilationspolitik der 1980er-Jahre. Die vorliegende kurze Darstellung der islamischen Bildung in Bulgarien verdeutlicht die Komplexität dieses Bildungssystems sowie seine Interaktion mit dem Staat und ermöglicht es, die wichtigsten Trends zu identifizieren, die ihre Rekonstitution in der heutigen Zeit kontextualisieren. Obwohl der bulgarische Islam institutionell nicht ethnisch homogen war, wurde er von der türkischen Minderheit dominiert. Zusammenfassend wurden in den Jahrzehnten nach der

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Unabhängigkeit Bulgariens die osmanische Finanzierung und deren Organisationsformen, durch die die religiöse Erziehung im Fürstentum mit den Bildungsreformen im Osmanischen Reich synchronisiert wurde, beibehalten. Bis zur kommunistischen Zeit blieben die Schulen private Einrichtungen unter der Aufsicht des Mufti-Amts und wurden hauptsächlich durch Einnahmen aus ihrem Besitz und aus Schulbeiträgen finanziert, welche von jeder religiösen Gemeinde erhoben wurden. Unzureichende Subventionen und magere staatliche Hilfen führten jedoch zu deren Verfall und zu niedrigeren Bildungsstandards. Die Unterfinanzierung der religiösen Schulen geht auf die Zeit vor der Unabhängigkeit zurück, als die Tanzimat-Reformen der säkular geprägten Rüs¸diye Priorität einräumten. Nach der Verstaatlichung dieser Bildungseinrichtungen und der Sicherstellung einer verlässlichen staatlichen Finanzierung hörten diese letztendlich auf, als solche zu existieren. Pomakische Schulen waren Teil des türkischen Schulnetzwerks, bis sie 1926 in das öffentliche Bildungssystem integriert wurden. Die muslimische Bevölkerung Bulgariens wurde nun nach ethnischen Gesichtspunkten aufgeteilt, die verbleibenden religiösen Schulen waren eng mit dem Identitätskampf der türkischen Minderheit im Land verbunden. Diese Entwicklungen zeugen von der Vorrangstellung der Bildung als Instrument zum Aufbau der Nation. Die Zwangskonvertierungen der pomakischen Bevölkerung zum Christentum und die Fusion ihrer religiösen Schulen mit den bulgarischen Schulen zeigen die beispiellose Problematisierung der pomakischen Identität in Bulgarien nach der Unabhängigkeit. Der Staat hat es versäumt, die religiöse Zugehörigkeit seiner muslimischen Bevölkerung dauerhaft institutionell zu artikulieren. Die Befreiungsrhetorik erlangte das konzeptionelle Erbe des osmanischen Millet-Systems und verband Ethnizität und Religion, um unterdrückte bulgarische Christ*innen unterdrückenden muslimischen Türk*innen entgegenzusetzen. Die Bemühungen, die pomakische Bevölkerung dazu zu bewegen, ihre bulgarische Identität anzuerkennen, entfremdeten die Minderheit und führten ironischerweise zu einer Zunahme des türkischen Einflusses auf sie und andere nichttürkische Muslim*innen. Die türkische Dominanz der islamischen Institutionen in Bulgarien setzte eine solche Loyalität voraus und nahm diese vorweg. Die staatlichen Positionierungen zum Islam erscheinen nur dann ambivalent, wenn sie außerhalb des Kontexts des Staatsbildungsprojekts betrachtet werden. Während die pomakische Bevölkerung verfolgt wurde, erhielt der türkische Islam zeitweise eine uneinheitlich bevorzugte Behandlung, welche zur Förderung einer konservativen Bewegung auf Kosten eines säkularen Geistes führte. Die allgegenwärtige Befürchtung, dass die türkische Minderheit als Spion der benachbarten Türkei auf bulgarischem Gebiet fungieren könnte, als sogenannte »fünfte Kolonne der Türkei«, war für die offensichtliche Disjunktion verantwortlich. Diese Ungleichheit unterstreicht weiter die Existenz einer starken sä-

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kularen Strömung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft lange vor dem Aufkommen des Kommunismus. Im Gegensatz zu Muslim*innen in anderen postkommunistischen Kontexten war die türkische Minderheit in Bulgarien zweifellos dem Einfluss der benachbarten Türkei ausgesetzt. Das Erbe der Säkularisierung der Tanzimat-Periode wurde durch die kemalistischen Reformen der 1920er-Jahre verstärkt. So sah eine moderne Vision des Staates den Grund für den Analphabetismus von Minderheiten in den schlecht finanzierten religiösen Schulen und erlaubte sich, mit staatlichen Mitteln die entgegengesetzten Bestrebungen der Minderheitenfunktionäre zu unterdrücken. Wenn jedoch diese Vielfalt von Positionen innerhalb der Gemeinschaft nicht berücksichtigt wird und der Staat als einzige Macht gegen die islamische Bildung agiert, schränkt diese Politik die Entscheidungsfreiheit der Muslim*innen bei der Definition ihrer vielfältigen Glaubenstradition in wechselnden Kontexten ein. Der kumulative Effekt von knapper Finanzierung, staatlicher Politik und säkularistischen Reformen war der Grund für den drastischen Rückgang der Anzahl muslimischer Religionsschulen in Bulgarien. Während vor der Unabhängigkeit des Landes 140 türkisch-islamische Schulen existierten, waren zu Beginn des Kommunismus nur noch vier übrig. Das kommunistische Regime sorgte für die Schließung der verbleibenden vier Schulen und betonte die säkulare türkische Identität. Die nachhaltigste Auswirkung dieser Maßnahmen war die Kultivierung einer hauptsächlich aus säkularen Türk*innen bestehenden gebildeten Minderheitenelite. Nach dem Fall des Kommunismus war die Vertretung der muslimischen Gemeinde in einer einzigartigen Situation, um die Forderungen nach ethnischer und religiöser Anerkennung der muslimischen Gemeinschaft zu artikulieren.

3.

Zeitgenössischer Rahmen: Rekonstitution des Religionsunterrichts im postkommunistischen Raum

Das Ende des kommunistischen Regimes und die darauffolgende Demokratisierung Bulgariens ermöglichten den Wiederaufbau des islamischen Bildungssystems an verschiedenen Orten. Am 15. August 1990 erließ das Ministerium für Bildung und Wissenschaft eine Verfügung, die die Wiederherstellung der Nüvvab in Schumen vorsah. Nach einer 43 Jahre andauernden Unterbrechung wurde die Schule am 3. Oktober 1990 als die erste ihrer Art im postkommunistischen Bulgarien als religiöse Sekundarschule wiedereröffnet. Im ersten Jahr wurden 75 Schüler*innen eingeschrieben (Ahmed 2009). Im folgenden Jahr eröffnete die Schule Zweigstellen in Ruse und Momtschilgrad, welche beide 1995 zu unabhängigen religiösen Sekundarschulen wurden.

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Die weiterführenden religiösen Schulen sind privat und werden vom MuftiAmt subventioniert, sind jedoch in das vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft verwaltete Bildungssystem integriert. Artikel 41 des Gesetzes zur Vorschul- und Schulbildung besagt, dass religiöse Schulen für die Bedürfnisse religiöser Konfessionen und auf Ersuchen religiöser Institutionen eröffnet werden können. Die Registrierung und Finanzierung dieser Schulen erfolgt gemäß dem Konfessionsgesetz, jedoch muss das Bildungsministerium ihre Lehrpläne und ihre Umsetzung in die Praxis genehmigen. Trotz der Bestimmung zum Aufsichtsrecht des Mufti-Amts beinhaltet das Gesetz weiterhin die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Institutionen, welche für die religiöse Bildung im vorkommunistischen Bulgarien charakteristisch war. Als privat gelten gemäß dem Gesetz für Vorschul- und Schulbildung Einrichtungen, die auf Antrag bulgarischer natürlicher oder juristischer Personen gegründet und nicht aus dem Staatshaushalt finanziert werden. Eine Ministerialverordnung ermöglicht die Gründung solcher Einrichtungen, die in der Folge öffentlichen Status erhalten. So können diese Schulen Schüler*innen aufnehmen, die nach einem vierjährigen Schulbesuch in der achten Klasse das Abitur machen, welches dem Niveau der säkularen Oberschulen entspricht. Die zeitgenössischen islamischen Schulen teilen ihren Lehrplan in allgemeine und religiöse Fächer auf und sind daher in ihrer Organisation mit anderen professionellen weiterführenden Schulen im Rahmen des bulgarischen Bildungssystems vergleichbar. Das Mufti-Amt bereitet die Lehrpläne für die weiterführenden Schulen vor und stützt sich dabei auf die Lehrpläne der bulgarischen allgemeinen Gymnasien und der professionellen Imam-Hatip-Schulen in der benachbarten Türkei (Yalumov o. J.). Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft genehmigt die Lehrpläne, während das Mufti-Amt weiterhin für die Überwachung ihrer Umsetzung und Anwendung verantwortlich ist. Zwei Drittel aller Fächer sind allgemein, das verbleibende Drittel machen religiöse Fächer aus. Die Unterrichtsfächer sind in drei Kategorien unterteilt: allgemeine Fächer, obligatorische Spezialisierungsfächer und Wahlfächer. Die nachstehend angeführte Tabelle zeigt die Stundentafel der Fächer im Lehrplan der Nüvvab nach der Verordnung 6 vom 28. Mai 2001 (ersetzt durch die Lehrplanverordnung 4 vom 30. November 2015) für die Schulzeitverteilung zur Erreichung des pädagogischen Mindeststandards:

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Bildungsniveau: Sekundarstufe – Gymnasium № Kulturpädagogische Bereiche/Fächer

Klasse/Anzahl der Stunden (45 Min.)

A. Allgemeine Fächer (AF) 1 Bulgarisch und Literatur

9 108

2 Fremdsprachen 1. Fremdsprache

10 108

72

72

72

72

108 72

108

36

36

Geschichte und Zivilisation Geografie und Wirtschaft

72 54

72 54

Psychologie und Logik Ethik und Recht

54

2. Fremdsprache Mathematik, Naturwissenschaften und 3 IT Mathematik Informatik Informationstechnologie 4 Sozial- und Staatsbürgerschaftskunde

Physik und Astronomie Chemie und Umweltkunde

72 72

72 72

Musik Kunst

36 36

Fiqh Tafsı¯r Hadı¯t ¯ ˙ ʿAqa¯ʾid Kala¯m Siyar Rhetorik Islamische Geschichte

62

422 278 144

72

62

494 350 72 72 584

72 36

216 144 54 54 62

72

Verpflichtende Spezialisierungsfächer B. (VSF) Qur’a¯n

9–12 417

54

72

7 Körperkunde und Sport Gesamt allgemeine Fächer

72

12 93

54

Philosophie Welt und Ich 5 Naturkunde und Ökologie Biologie und Gesundheitskunde

11 108

Gesamtstunden

54 62 468 144

36

180 144 36 36

72 1008

72 864

72 522

62 341

278 2735

72

72

108

124

376

36

72

72 36

62 31

242 67

36

36 36

31

103 36

31 36

36

31 72

62 31

134 31

72

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Geschichte der Religionen Arabisch Muttersprachlicher Unterricht (Türkisch) Wahlfach Gesamt VSF Gesamt AF+VSF C. Wahlfach (WF) Gesamt AF + VSF + WF

72

31 62

31 134

72 90

62 124

242 214

1713 1292 1292 1292 1112

4448

144 144 144 124 1296 1296 1296 1116

556 5004

36

72

Die vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft herausgegebenen normativen Dokumente bestimmen die Stundentafel nach Kategorie und Fach. In der sogenannten »professionellen« Sekundarschule ist eine bestimmte Anzahl von Stunden für die Spezialisierungsfächer vorgesehen. In den muslimischen Sekundarschulen sind dies die religiösen Fächer, welche den Absolvent*innen ein Diplom für religiöse Bildung aus der Sekundarstufe und somit die Befähigung zum islamischen Geistlichen ermöglichen. Daher sind die allgemeinen Fächer und ihre Stundentafel mit den bulgarischen Schulen vergleichbar, während die Spezialisierungsfächer je nach Profil der Einrichtung variieren. Unter Berücksichtigung dieser Bedingungen erstellt das pädagogische Personal einer Schule die Spezialisierungsfächer, die von Schüler*innen nach ihrem Ermessen beantragt werden können (Krastanova 2009). Die Leiter*innen der jeweiligen regionalen Bildungsinspektion genehmigen anschließend den Lehrplan, welcher während des Schulverlaufs der jeweiligen Schüler*innen nicht geändert werden kann. Folglich sind die Sekundarschulen trotz ihres privaten Status organisatorisch ein wesentlicher Bestandteil des bulgarischen Bildungssystems. In Bulgarien gibt es weder elementare Einrichtungen für die islamischen Schulen noch öffentliche Förderung. In den drei muslimischen Sekundarschulen fällt die Anzahl der Stunden der allgemeinen Fächer im Vergleich zu den religiösen doppelt so hoch aus. Eine solche Regelung ermöglicht es den Schüler*innen, eine ministerielle Ausbildung zu erhalten und diese somit gleichzeitig anderen Hochschulabsolvent*innen im Wettbewerb um den Hochschulzugang gleichzustellen. Die gegenwärtige Praxis ist eine Mischung aus traditionellen Organisationsformen der islamischen Erziehung und innovativer Anpassung an das neue Bildungssystem unter Berücksichtigung der heutigen Realität. In der Sekundarstufe liegt die islamische Erziehung in der gemeinsamen Verantwortung des Mufti-Amts und des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft. Das Amt des Muftis richtet die muslimischen Schulen ein, die eigene juristische Personen darstellen, ernennt die Schulleitung und subventioniert sie. Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft erkennt sie wiederum als private weiterführende

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Schulen an und gewährt ihren Absolvent*innen ein Abitur, sofern sie die jeweiligen Anforderungen an die höhere Schulen erfüllt haben. Das Prinzip der Trennung zwischen Kirche und Staat schließt die Existenz öffentlich geförderter Privatschulen aus. Somit stellt sich das private Fachschulmodell als eine der wenigen praktikablen Optionen für die institutionelle Gestaltung des Religionsunterrichts in Bulgarien heraus. Im Falle der muslimischen Gemeinschaft bewahrt sie darüber hinaus die konfessionelle Autonomie und Identität angesichts der neueren Erinnerungen an staatlichen Missbrauch von Minderheitenrechten. Privatschulen fehlt jedoch die offizielle Anerkennung, die sie zur Ausstellung von Diplomen berechtigen würde. Aufgrund dessen werden vonseiten der regionalen Bildungsaufsichtsbehörde Bildungsexpert*innen ernannt, welche prüfen, ob der Studiengang dem genehmigten Lehrplan gemäß den einschlägigen Verordnungen entspricht (ebd.). Stimmen diese überein, unterschreiben die Expert*innen das Diplom und verleihen die offizielle Anerkennung des Bildungsministeriums. Diese Bestimmung schützt zwar die relative Souveränität des islamischen Bildungssystems und das Ermessen des Muftis bei der Festlegung der Inhalte der religiösen Fächer, bekräftigt jedoch das einzigartige Vorrecht des Bildungsministeriums zur Ausstellung der Bildungszeugnisse im Lande. Folglich befinden sich die formalen muslimischen Bildungseinrichtungen ausschließlich im institutionellen Rahmen des Staates. Dies stellt einen klaren Bruch mit der vorkommunistischen Praxis dar, bei welcher der private Status der Institutionen die Autonomie der Gemeinschaft muslimischer Gelehrter implizierte, ihren Schüler*innen Zeugnisse (igˇa¯za) zu verleihen. Auf der anderen Seite zeugt es von der pragmatischen Sensibilität des MuftiAmts für die Notwendigkeit der beruflichen Etablierung von Absolvent*innen in der gesamten Gesellschaft. Wie bereits erwähnt, stimmten Mitglieder innerhalb der muslimischen Gemeinschaft der Säkularisierung der religiösen Schulen sowie der Gleichwertigkeit des Lehrplans zu, um den Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Obwohl das Modell funktioniert, weist es aufgrund struktureller Inkompatibilitäten Spannungen auf. Die neu gestaltete Hierarchisierung der Bildungseinrichtungen stattet das Bildungsministerium mit dem Vorrecht – jedoch nicht immer mit dem Fachwissen – aus, die islamische Bildung im postkommunistischen Bulgarien fachgerecht zu beaufsichtigen. Es ist Aufgabe des Mufti-Amts, Finanzmittel und qualifizierte Lehrer*innen für die religiösen Sekundarschulen bereitzustellen. Der Hauptsponsor der drei Gymnasien ist Diyanet ˙I¸sleri Bas¸kanlıg˘ı, das Präsidium für religiöse Angelegenheiten der Republik Türkei (Ahmed 2009). Traditionell wurden sie von den frommen Stiftungen (waqf) finanziert und waren somit selbstfinanzierende Einrichtungen. In den frühen 1940er-Jahren, während des kommunistischen »Nationalisierungsprozesses«, wurde jedoch der größte Teil dieses Eigentums beschlagnahmt (CEDIME-SE 1999, S. 32). In den Jahren 1990 und 1992 wurden

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Gesetze verabschiedet, welche es der muslimischen Gemeinschaft ermöglichen sollten, einen kleinen Teil ihres Vermögens bzw. ihrer Eigentümer zurückzuerlangen. Die Existenz von zwei widersprüchlichen Führungen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in den 1990er-Jahren sowie das Fehlen der erforderlichen Archivdokumentation haben diesen Prozess jedoch zum Stillstand gebracht. Derzeit verzögert der Staat weiterhin die Rückgabe des Waqf-Eigentums. Der gegenwärtige Stillstand fördert die Abhängigkeit der islamischen Institutionen in Bulgarien von externer Hilfe und übt Druck auf ihre Organisationsstrukturen sowie ihre ideologische Ausrichtung aus. So wurden die drei Religionsschulen des Landes bis 1998 von der türkischen Marmara-Stiftung über ihre Zweigstellen in Bulgarien, der Dunav 94-Stiftung und der Balkani-Stiftung, finanziert (CEDIME-SE 1999, S. 40). Im Juli jenes Jahres unterzeichneten das bulgarische und das türkische Präsidium für religiöse Angelegenheiten ein Protokoll, dem zufolge die Marmara-Subventionen gestrichen wurden. Diese Maßnahme zielte darauf ab, junge Muslim*innen vor dem Einfluss des nichttraditionellen, d. h. nichthanafı¯tischen Islams in Bulgarien zu schützen (CE˙ DIME-SE 1999, S. 40). Das Protokoll sah vor, dass türkische Vorlesungen in islamischer Theologie an den bulgarischen muslimischen Schulen gehalten werden dürfen, sofern diese bei Diyanet registriert sind. Darüber hinaus wurden im Abkommen finanzielle Unterstützung und der Import religiöser Bücher aus der Türkei zugesichert (CEDIME-SE 1999, S. 30). Das Protokoll brachte dringend benötigte Maßnahmen gegen den Missbrauch der islamischen Institutionen durch jene Funktionäre, die das kommunistische Regime der muslimischen Gemeinschaft hinterlassen hatte. Seit der Wiederbelebung im Jahr 1990 litt die Nüvvab unter dem Fehlen qualifizierter Lehrer*innen. Vorkommunistische Absolvent*innen der Schule sowie Absolvent*innen anderer Disziplinen wie Philosophie, Geschichte oder Pädagogik waren die ersten Lehrer*innen in den theologischen Fächern (Ahmed 2009). Die neue Vereinbarung brachte die Schulen jedoch in die schwierige Lage, sowohl das Ministerium für Bildung und Wissenschaft als auch das Mufti-Amt mit seinen Sponsoren gleichzeitig zufriedenstellen zu müssen. Letztendlich bestand die Herausforderung darin, einige der eigenen Absolvent*innen als Pädagog*innen zu behalten und durch die Rehabilitation der höheren Abteilung der Nüvvab eine einheimische und sich selbst erhaltende Tradition der islamischen Bildung im postkommunistischen Kontext zu entwickeln. Die Erziehung und Bildung der Mädchen in den religiösen Sekundarschulen wurde synchron zur Praxis der vorkommunistischen Einrichtungen weiter fortgesetzt. Während im Jahr 2000 das Mufti-Amt die Schaffung von Mädchenklassen auch in den beiden anderen Schulen vorsah, haben Mädchen die Möglichkeit, seit der Wiedereröffnung die Schulen in Ruse zu besuchen (Yalumov o. J.). Anfangs wurden Mädchen und Jungen in getrennten Gebäuden unter-

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richtet. Das Gebäude der Jungenschule in Ruse wurde 1920 errichtet und diente als türkische Schule, bis es unter dem kommunistischen Regime in eine bulgarische Schule umgewandelt wurde. 1990 erhielt die örtliche muslimische Behörde den zweistöckigen Komplex zurück, und 1991 eröffnete darin die religiöse Sekundarschule für Jungen. Diese besteht aus vier Klassenzimmern, drei Schlafzimmern, einem Labor, einer Turnhalle und einer masgˇid. Das Gebäude, in dem die Mädchen untergebracht sind, wurde 1900 als Musikhochschule eröffnet. Es besteht aus einer geräumigen Cafeteria, in der auch die Jungen essen, fünf Schlafzimmern, vier Klassenzimmern und einer masgˇid. Die religiöse Sekundarschule in Ruse beherbergt Schülerinnen seit 1993. In Schumen lernen Jungen in einem zweistöckigen Gebäude gegenüber der berühmten Tombul-Moschee, während die Mädchen in einiger Entfernung in einem kleineren Komplex untergebracht sind. Die Schule in Momtschilgrad ist ausschließlich für Jungen, die Mädchenabteilung der Schule befindet sich im Dorf Rogostsche in der Gemeinde Dschebel. Noch heute werden zum Teil Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet. Allerdings wurden sie mehrheitlich nach sieben Jahren gemeinsam unterrichtet, hauptsächlich aufgrund des Mangels an qualifizierten Lehrer*innen. Mädchen erhalten die gleiche berufliche Qualifikation wie die Jungen, obwohl sie nach dem Abschluss nicht als muslimische Geistliche dienen können. Deshalb streben viele von ihnen einen Hochschulabschluss an oder unterrichten Kinder und andere Frauen im Sommer in Basiskursen über den Islam und den Koran, was über die örtliche Direktion des Großmuftis organisiert wird. Weibliche Absolventinnen spielen daher eine wesentliche Rolle bei der Bereitstellung einer islamischen Grundausbildung und bei der Förderung des islamischen Religionsbewusstseins in der gesamten Gemeinschaft. Zusammen mit den weiterführenden religiösen Schulen wurde die höhere Abteilung der Nüvvab im Jahr 1990 als »Islamische Hochschule« wiedereröffnet. Die Resolution Nr. 15 vom 9. März 1998 des Ministerrates verwandelte die Hochschule in das Höhere Islamische Institut in Sofia (Yalumov o. J.). Während die Islamische Hochschule nach dem Fall des Kommunismus den unmittelbaren Bedarf an theologischen Fachkräften abdeckte, erwies sich die kurze Studienzeit als unzureichend, um dem wachsenden Bedarf der islamischen Gemeinschaft an qualifizierten Theolog*innen gerecht zu werden. Darüber hinaus konnten Hochschulabsolvent*innen nach Abschluss ihres Studiums nicht als Islamlehrer*innen fungieren. Das Höhere Islamische Institut hingegen arbeitet in Übereinstimmung mit dem Gesetz für die Hochschulbildung und den Bestimmungen über einheitliche staatliche Anforderungen zum Erwerb eines höheren Abschlusses in Theologie. Gemäß einer Entscheidung des Ministerrats umfasst das Curriculum des Instituts 2.040 Stunden Pflichtfächer und 1.900 Stunden Wahlfächer. Die Fächerverteilung gestaltet sich wie folgt (Hasanov o. J.):

1100 Pflichtfach Der heilige Koran Arabisch

Rositsa Atanasova

Stunden Wahlfach 240 Religiöses Singen 360 Türkisch

Stunden 30 150

Methodologie des tafsı¯r (KoranExegese) Geschichte des tafsı¯r

45

Englisch

120

30

Verfassungsrecht und Menschenrechte

30

Tafsı¯r

150

60

Methodologie des Hadiths (Traditionen des Propheten)

45

Geschichte in der islamischen Welt der Gegenwart Soziologie der Religionen

Geschichte des Hadiths

30

Hadith Das Leben des Propheten Glaubensbekenntnis ˙Ilmihal (islamischer Katechismus) Methodologie des fiqh (islamisches Recht) Fiqh

30 45

150

Geschichte der bulgarischen Muslim*innen Osmanisch

45 30

Geschichte der Türkei Informatik

30 45

60 60

Pädagogische Psychologie Entwicklungspsychologie

30 30

90

45 120

75

Kala¯m

45

Strukturen von religiösen Institutionen Unterrichtsmethoden

Geschichte des Islams Kinderpsychologie

120 30

Philosophie Logik

30 45

Allgemeine Psychologie Psychologie der Religion

30 45

Rede Islamische Kunst

30 45

Methoden der religiösen Erziehung Islamische Ethik

60

Geschichte der Religionen

60

Islamische Philosophie Geschichte der dogmatischen Schulen

45 45

Sufismus Pädagogik

45 60

45

Das Höhere Islamische Institut unterliegt denselben Auflagen wie die religiösen Sekundarschulen, um finanzielle und pädagogische Unterstützung von der türkischen Diyanet zu erhalten. Der konfessionelle Lehrplan wurde hauptsächlich von den Studienprogrammen der islamischen Fakultäten in der Türkei inspiriert, während allgemeine Fächer von Fakultäten anderer bulgarischer Universitäten unterrichtet werden können. Das Institut vergibt Bachelor-, Master-

Nach dem Atheismus: Islamische Erziehung in Bulgarien

1101

und Doktorgrade in islamischer Theologie und ist die erste autonome Hochschule für islamische Bildung in Bulgarien. Das Hauptanliegen des HII ist die Förderung einheimischer islamischer Pädagog*innen und Geistlicher, jedoch wurde dieses oftmals von administrativen Schwierigkeiten und Kontroversen beeinträchtigt. Der Ministerrat schuf das Institut gemäß dem Konfessionsgesetz und genehmigte die Verordnungen über seine Funktionsweise und Tätigkeit. Das Problem bleibt jedoch, dass das HII keine akademische Akkreditierung besitzt und seinen Absolvent*innen folglich keine legitimen Diplome ausstellen kann, die es ihnen ermöglichen würden, außerhalb des Muftiats weiter zu studieren oder eine Beschäftigung aufzunehmen. Ein umstrittenes Thema ist das Fehlen eines geeigneten Gebäudes für das Institut (Yanev 2018). Nach dem bulgarischen Bildungsgesetz setzt die Akkreditierung den Besitz bestimmter zugelassener baulicher Einrichtungen voraus. Obwohl das Institut seit über 15 Jahren versucht, von der Gemeinde Sofia eine Baugenehmigung zu erlangen, konnte dieses Ziel noch immer nicht erreicht werden. Es gibt viele Spekulationen darüber, dass die Gemeinde unter populistischem Druck stehe, und oftmals wird vermutet, bei dem Projekt handle es sich um den konspirativen Bau eines islamischen Zentrums oder einer zweiten Moschee in der Hauptstadt. Bis vor Kurzem bestand eine der wenigen Beschäftigungsmöglichkeiten für Absolvent*innen des Instituts darin, den Islam als Wahlfach an öffentlichen Schulen zu unterrichten. Im Jahr 2000 genehmigte das Bildungsministerium die konfessionelle islamische Unterweisung als obligatorisches oder freiwilliges Wahlfach »Religion«. Diese Option ist ebenso für das orthodoxe Christentum und mittlerweile auch als nichtkonfessioneller Ethikunterricht verfügbar, jedoch bleibt die Kontroverse bestehen, da Gegner*innen der Maßnahme darauf beharren, dass die Bildung in Bulgarien gesetzlich säkular sei und Religion daher keinen Platz im Klassenzimmer habe. Eine starke Lobby, insbesondere der bulgarisch-orthodoxen Kirche, ist der Ansicht, dass das orthodoxe Christentum ein Pflichtfach sein sollte. Der derzeitige Kompromiss besteht darin, den konfessionellen Religionsunterricht als Wahlfach für die Kirche und islamische Gemeinde zu ermöglichen sowie die nichtkonfessionelle Option (Ethik) ebenfalls einzuführen. Beide Konfessionen erarbeiten anschließend die Lehrpläne für die Wahlfächer von der ersten bis zur zwölften Klasse und legen diese dem Bildungsministerium zur Genehmigung vor. Die Verordnung 12 vom 1. September 2016 aktualisierte die Kriterien für die berufliche Anerkennung und beendete die Praxis, welche es den HII-Absolvent*innen ermöglicht hatte, an öffentlichen Schulen zu unterrichten, da sie kein anerkanntes Diplom besaßen. Angesichts des langjährigen Stillstands hinsichtlich der Akkreditierung hat das Institut durch Partnerschaften mit akkreditierten Universitäten in Bulgarien, der Türkei und der EU nach kreativen Lösungen für

1102

Rositsa Atanasova

die Karriereentwicklung gesucht. Eine derzeitige Zusammenarbeit mit der Universität für Bibliotheksstudien und Informationstechnologien (UniBit) ermöglicht den HII-Absolvent*innen, die pädagogische Qualifikation für das Lehramt zu bekommen und neben ihrem Hauptfach auch »Religion« zu unterrichten. Professor Jorjeta Nazarska leitete neben dieser Initiative auch die Vorbereitungen hinsichtlich der aktualisierten Curricula für das Islam-Modul. Das neue Curriculum, das darauf abzielt, die islamische Tradition Bulgariens mit den Grundprinzipien der Menschen- und Kinderrechte sowie der staatsbürgerlichen Erziehung zu verbinden, ist bereits in Kraft. Die moralischen und ethischen Grundsätze der Hanafı¯-Ma¯turı¯dı¯-Tradition in Bezug auf Person, Fa˙ milie und Gesellschaft werden mit wichtigen nationalen und internationalen Menschenrechtsthemen in Zusammenhang gebracht, um dadurch das Programm zu festigen. Das Fach »Islamische Religion« ist als integraler Bestandteil des thematischen Fadens der Staatsbürgerschaftskunde konzipiert, der sich durch alle akademischen Disziplinen der bulgarischen Schule zieht. Es soll daher Grundwerte wie religiöse Toleranz, Religions- und Gewissensfreiheit, Kinderrechte, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung von Minderheiten wie auch Respekt für die Ethik, Sprache sowie die religiöse und kulturelle Identität von Bürger*innen vermitteln. Der aktualisierte Lehrplan für den Kurs zeigt die ernsthafte und kooperative Anstrengung von muslimischen und nichtmuslimischen Gelehrten, den Islam in das Bildungssystem zu integrieren und dabei dem lokalen Erbe treu zu bleiben. Widersprüchliche staatliche Politiken und Einstellungen zur Verwaltung der Konfession haben die islamische Bildung in eine schwierige Lage gebracht. Die offizielle Linie besteht darauf, dass der Islam in Bulgarien ein bulgarischer Islam sein muss, für den die Bildung einheimischer Gelehrter unabdingbar ist. Gleichzeitig wird die einzige realisierbare Option für die Entwicklung einer nachhaltigen lokalen Tradition durch HII-Absolvent*innen durch die Bürokratie erstickt. Solange der derzeitige institutionelle Rahmen für die islamische Bildung im Land von ausländischen Spenden und Fachkenntnissen abhängig ist, wird er auch für ausländische ideologische Einflüsse anfällig sein, sei es aus der Türkei oder aus anderen, weiter entfernten Ländern. Der einzige Ausweg aus diesem Stillstand ist die Akkreditierung des Höheren Islamischen Instituts, die vollständige Integration der konfessionellen Schulen in das staatliche Bildungssystem ohne übermäßige Einmischung sowie stabile Finanzierungsmöglichkeiten durch staatliche Subventionen oder die Rückgabe des Waqf-Eigentums. Das ausführlich diskutierte Beispiel des Unterrichtsfachs »Islamische Religion« gibt bereits einen Einblick, wie der Prozess der Entwicklung des bulgarischen Islams in der heutigen Zeit aussehen könnte.

Nach dem Atheismus: Islamische Erziehung in Bulgarien

4.

1103

Fazit

Dieser Beitrag behandelte den institutionellen Rahmen der islamischen Bildung in Bulgarien und deren postkommunistische Wiederbelebung im Lichte der osmanischen Tradition und der gegenwärtigen Debatten darüber. Es wurde nachgezeichnet, wie die Strukturen der formalen Bildung, wie jene der Nüvvab, an ihre vorkommunistischen Geschichten anschließen und sich gleichzeitig Innovationen öffnen, welche den modernen Realitäten entsprechen. Strukturell ist das konfessionelle Schulsystem derzeit ideal auf gegenwärtige säkulare Sekundarschulen und höhere Schulen ausgerichtet. Die ministerielle Aufsicht geht jedoch nicht mit dem erforderlichen Fachwissen oder entsprechender finanzieller Unterstützung einher. Das Mufti-Amt ist weiterhin für die an die Schüler*innen und Student*innen weitergegebenen Inhalte zuständig, und dabei haben ideologische Entscheidungen oftmals pragmatische Gründe. Während Schüler*innen der religiösen Sekundarschulen staatliche Diplome erhalten, haben Absolvent*innen des Higher Islamic Institute aufgrund von Akkreditierungsproblemen Schwierigkeiten, einen Karriereweg einzuschlagen. Das ungehinderte Funktionieren einer autonomen Institution der Islamwissenschaften ist entscheidend für die Bildung einer lokalen und nachhaltigen Linie von Geistlichen und Pädagog*innen im heutigen Bulgarien.

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Rositsa Atanasova

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Mykhaylo Yakubovych

Islamische Erziehung in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und Rumänien

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag widmet sich der islamischen Bildung in den osteuropäischen Ländern Weißrussland, Ukraine, Moldawien und Rumänien. Auf die einführende Darstellung der geschichtlichen Hintergründe des jeweiligen Landes in Bezug auf den Islam und seiner muslimischen Bevölkerung folgt die nähere Betrachtung der islamischen Erziehung in diesen Ländern, ihrer historischen Entwicklung sowie der heutigen Situation. Dabei wird die islamische Bildung hinsichtlich dreier Bildungs- und Ausbildungsstufen betrachtet, nämlich der Primarstufe der islamischen Bildung, die in Sonntagsschulen stattfindet, der an den Schulen stattfindenden islamischen Bildung der Mittelstufe sowie jener, die an Oberschulen abgehalten wird. Ein weiteres Thema dieses Beitrags ist das »digitale islamische Lernen« auf nationaler und internationaler Ebene.

1.

Einführung

Die osteuropäische Religionslandschaft ist einer der interessantesten Orte, wenn es um die Vielfalt religiöser muslimischer Traditionen geht. Das Erbe einheimischer muslimischer Bevölkerungsgruppen und in jüngster Zeit auch von Neuankömmlingen aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Zentralasien unterscheidet sich sehr von jenem der breiten Bevölkerung einiger osteuropäischer Länder und auffallend stärker sogar von den zeitgenössischen muslimischen Traditionen in anderen Ländern, ganz besonders im Bereich der Bildung. Vier der europäischen Länder (Weißrussland, Ukraine, Moldawien und Rumänien), die politisch in Osteuropa angesiedelt sind, haben vieles von den früheren Reichen (Zaren- und Osmanisches Reich) und sozialistischen Ansätzen hinsichtlich der Stellung der Religion in der Gesellschaft geerbt. All diese Länder sind größtenteils von der orthodoxen Kirche (mit Ausnahme der Westukraine, in

1108

Mykhaylo Yakubovych

der die katholisch-griechische bzw. katholische Kirche eine aktive Rolle spielt) geprägt. Die Ukraine, Weißrussland und Moldawien waren Teile der UdSSR. Darüber hinaus existierte in allen vier Ländern ein starker Einfluss der türkischen Religionskultur, vertreten durch das Osmanische Reich und das Khanat der Krim sowie die polnisch-litauischen Tataren. Schließlich vollzog sich die endgültige Wende in der Entwicklung des muslimischen Ordenslebens in allen vier Ländern bis zum Ende der 1980er-Jahre und Anfang der 1990er-Jahre. Der Fall des Kommunismus öffnete der Welt die Türen dieser Gemeinschaften und stellte verlorene religiöse Traditionen wieder her. Infolgedessen nahm die Entwicklung der muslimischen Bildung in diesem Bereich erst in der postsozialistischen Geschichte der letzten 30 Jahre ihren Anfang. In diesem Artikel wird ein Überblick über die islamische Bildung in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und Rumänien gegeben. Diese besteht als dreidimensionales Modell und umfasst zunächst die Primarstufe (Sonntagsschulen), dann die Mittelstufe (Schulen) sowie die Oberschulen (islamische Universitäten und/oder Islamunterricht an staatlichen/privaten Universitäten). Darüber hinaus werden wir auch einen Blick auf Online-Programme werfen, die in der gesamten muslimischen und westlichen Welt weit verbreitet sind. Diese neuen Arten des »digitalen islamischen Lernens« (national und international) gehören zu den wirksamsten Instrumenten für die Verbreitung und Erziehung der großen Masse (Saifee, Sahikh, Sultan, Baloach & Khalid 2012). Alle diese Trends sind zumindest in einem der behandelten Länder (Ukraine), aber meistens auch in den anderen drei Ländern (vor allem Rumänien) vertreten.

2.

Ukraine

2.1

Geschichte

In der Ukraine war der Islam seit dem Ende des neunten Jahrhunderts über viele Jahrhunderte Teil des religiösen Lebens. Auf der Krim wurde der Islam nach der endgültigen Islamisierung der Goldenen Horde (1313/14) politisch und kulturell vorherrschend. Infolgedessen führte die Gründung des Khanats der Krim im Jahr 1441 zur Eingliederung fast der gesamten heutigen südlichen Ukraine in die muslimische Welt. Die osmanische Invasion (auf dem Höhepunkt ihrer territorialen Ausdehnung war sogar ein Teil der Westukraine osmanisch) hatte nicht nur die Islamisierung der Bevölkerung, sondern auch die Entwicklung religiöser Netzwerke sowie die Errichtung von Moscheen, die Schaffung von Bildungseinrichtungen (Medresen) und Gerichten etc. zur Folge. Das Khanat der Krim (sowie ein Teil der Ukraine, der direkt zum Osmanischen Reich gehörte) war ein mächtiges islamisches Zentrum der postklassischen islamischen Welt, das viele

Islamische Erziehung in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und Rumänien

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wertvolle Elemente für das geistige Erbe hervorbrachte. Nach der Annexion der Krim und der Südukraine durch Russland (zwischen 1783 und 1812) wurde das islamische Leben in diesem Gebiet jedoch in das russisch-islamische Umfeld (vor allem von Kasan) integriert. Dennoch erfuhr die Krim bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auch eine religiöse Wiederbelebung, die in den Werken von Ismail Gaspirali (Gasprinski) (1851–1914) skizziert wird. Dies führte schließlich zur Mobilisierung sowohl muslimischer als auch nationalistischer krimtatarischer Bewegungen, vor allem während der Revolution der Krimtataren in den Jahren 1917–1918, als große Persönlichkeiten wie Noman Celebicihan (1885– 1918) die religiöse Führung übernommen hatten (Fisher 1986). Die kommunistische Ära war, trotz eines gewissen Maßes an Religionsfreiheit in den 1920erJahren (bis 1928/1929, als die Liberalisierung der Sowjets endete), die größte Katastrophe für die Krimtataren: In den 1930er-Jahren wurden viele der führenden Persönlichkeiten unterdrückt und im Mai 1944 schließlich fast alle Krimtataren nach Zentralasien deportiert. Obwohl einige in den 1960er- und 1970er-Jahren illegal in ihre Heimatländer zurückkehrten, war eine Massenrückführung erst nach 1989 möglich. So waren nach dem Zweiten Weltkrieg die einzigen Vertreter der muslimischen Tradition (bis zur Registrierungspflicht der Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion waren diese Organisationen teilweise illegal oder halblegal) polnisch-litauische Tataren, die im heutigen Winnyzja, Riwne und der Oblast Chmelnyzkyi lebten, sowie Wolga-Tataren mit ihren Gemeinden im Donbass (Donezk und anderen Städten), in Odessa und Kiew (Yakubovych 2016). Das Jahr der Unabhängigkeit (1991) markierte den Beginn der Wiederbelebung des Islams in der Ukraine. Es kam zur Gründung neuer religiöser Institutionen (»Spirituelle Verwaltung der Krim-Muslime«, »Spirituelle Verwaltung der ukrainischen Muslime«, »Umma«, »Vereinigung der ukrainischen Muslime« usw.) sowie verschiedener islamischer NGOs (vor allem »Al-Raid«). Bei der gesamtukrainischen Volkszählung im Jahr 2001 wurden bis zu 400.000 Angehörige der islamischen Volksgruppen (Krimtataren, Wolgatataren, Aserbaidschaner usw.) erfasst. Die russische Besetzung der Krim (seit 2014) und der Konflikt im Donbass wirkten sich jedoch äußerst schwerwiegend auf die islamische Bevölkerung aus. Viele Krimtataren (20.000–30.000) verließen die Krim in Richtung des ukrainischen Festlands. Aktivitäten vieler islamischer Organisationen setzten sich im Donbass fort, einige der religiösen Verwaltungen wurden geschlossen und neue eröffnet (die »Geistliche Verwaltung der Muslime der Autonomen Republik Krim« mit dem Zentrum in Kiew wurde die »Geistliche Verwaltung der Krim-Muslime« als »pro-russische« Institution auf der Krim). Im Jahr 2018 gab es laut offizieller Statistik in der Ukraine (ohne Krim) 254 registrierte islamische Gemeinschaften (davon neun schiitische); auf der Krim waren es rund 930 Gemeinden (Yakubovych 2018).

1110 2.2

Mykhaylo Yakubovych

Gegenwart der islamischen Bildung in der Ukraine

In der Ukraine betrafen die grundlegendsten islamischen Bildungsprojekte die Sonntagsschulen. Seit den 1990er-Jahren existierten sie fast an jedem islamischen Ort, wie den Moscheen in Simferopol (Krim), Kiew, Charkiw, Donezk, Dnipro und anderen Städten. Eine der einflussreichsten islamischen NGOs, »Al-Raid« (1997 von der arabischen Diaspora gegründet), eröffnete bis Anfang des Jahres 2000 mehr als zehn Sonntagsschulen. Zunächst zielte der Lehrplan auf das Erlernen der arabischen Sprache, des Korans und der Sunna, der Grundlagen des islamischen Glaubens und der islamischen Ethik ab. Die Schulen standen sowohl Muslim*innen als auch Nichtmuslim*innen offen (einige sind auch konvertiert), sowohl Erwachsenen als auch Kindern. Alleine auf der Krim waren bis 2012 mehr als 70 Sonntagsschulen in Betrieb (die meisten von ihnen gehörten der zentralisierten Geistlichen Verwaltung der Krim-Muslime an). Einige von ihnen wurden auch von saudischen und türkischen Stiftungen unterstützt; Mitte der 2000er-Jahre wurden die meisten saudischen Projekte jedoch eingestellt. Trotzdem arbeiteten mehr als 20 Religionslehrkräfte auf der Krim (Muratowa 2017). Nun könnte man sagen, dass mindestens einige Tausend Muslim*innen verschiedene Sonntagsschulen absolviert haben, obwohl diese Ausbildung in vielen Fällen nicht systematisch war und mehr mit der Verbreitung des Islams (daʿwa) als mit der religiösen Lehre (ta¯lib al-ʿilm) zu tun hatte. Einige der Salafı¯-Ge˙ meinschaften (auf der Krim, in Odessa und in Charkiw) organisierten einfache duru¯s (Unterrichtseinheiten) für ihre Anhänger*innen, diskutierten wichtige religiöse Themen oder beantworteten Fragen. Gleiches gilt für einige Neo-SufiGruppen (türkische Gemeinschaften wie die Nurculuk-, Süleymancılar- und Gülens Hizmet-Bewegungen): Ihre Bildungsprojekte waren Teil religiöser Aktivitäten, zum Beispiel das Studium grundlegender Texte von Said Nursı¯s Risa¯le-i Nu¯r. Orte für solche Lernaktivitäten waren nicht nur Gotteshäuser, sondern auch private Wohnungen (sogenannte dershane, »Häuser des Lernens«, die gleichzeitig Schlafsäle und Bildungseinrichtungen waren). Im Jahr 2018 gab es auf dem ukrainischen Festland 75 »Sonntagsschulen«. In Wirklichkeit ist ihre Zahl jedoch höher, da das ukrainische Gesetz zu Religionsfreiheit und religiösen Organisationen der Ukraine (1996, mit späteren Änderungen) im Allgemeinen den Betrieb von Religionsgemeinschaften und ihre Bildungsaktivitäten ohne offizielle Registrierung erlaubt. Auf der Krim startete (nach 2014) die Geistliche Verwaltung der Krim-Muslime Projekte wie »Faydali Ilm« (»Wert des Wissens«); hier wurden Vorträge zu verschiedenen Themen des islamischen Wissens sowie Kurse zur krimtatarischen Sprache organisiert. Für die mittlere Stufe der islamischen Erziehung gibt es zwei verschiedene Arten von Schulen. Zum einen gibt es Schulen, die säkulare und religiöse Erziehung anbieten und zum anderen gibt es rein religiöse Schulen. Das ukraini-

Islamische Erziehung in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und Rumänien

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sche Gesetz von 2015 (»Über Änderungen einiger Gesetze der Ukraine in Bezug auf die Errichtung von Bildungseinrichtungen durch religiöse Organisationen«) ermöglichte die Eröffnung verschiedener Arten von Schulen durch Religionsgemeinschaften. Ein weiteres Gesetz aus dem Jahr 2015 (»Über die staatliche Anerkennung von Zeugnissen und Abschlüssen, die von höheren religiösen Bildungseinrichtungen ausgestellt werden«) ermöglicht die Anerkennung von Abschlüssen solcher Schulen. In Kiew gibt es zwei solcher Schulen. Zum einen das Gymnasium »Unsere Zukunft«, das 2014 von der Allukrainischen Islamischen Vereinigung »Al-Raid« mithilfe von Sponsoren aus Kuwait und anderen Ländern gegründet wurde. Sie gilt als staatliche Privatschule und bietet ein elfjähriges Bildungsprogramm in säkularen und religiösen Wissenschaften an. Neben den Pflichtfächern (Ukrainisch und Geschichte, Englisch, Arabisch, Naturwissenschaften usw.) gibt es auch ein religiöses Fach. Dieses Fach nennt sich »Ethik und Kultur des Islams«, es vermittelt die Grundlagen des islamischen Glaubens, die Lehre des Korans und der islamischen Geschichte. Ein besonderer Schwerpunkt wird auf die soziale Komponente gelegt (Beziehung zu anderen Muslim*innen und Nichtmuslim*innen). Während des neunten, zehnten und elften Schuljahres werden viele moralische Themen vermittelt, die den muslimischen Charakter, das Verhalten in der Gesellschaft usw. zum Gegenstand haben. In Anlehnung an den »gemäßigten« Islam (wasat¯ıya) deckt der Lehrplan die allgemeine islamische Sichtweise ˙ ab, ohne auf eine einzelne Rechtsschule beschränkt zu sein. Bis 2018 waren mehr als 320 Schüler*innen in dieser Schule eingeschrieben. Es gibt Schulgebühren, allerdings sind diese niedriger als in anderen Privatschulen in Kiew. Eine ähnliche Schule wurde 2017 in Charkiw eröffnet, ebenfalls von der Vereinigung »AlRaid«, basierend auf dem gleichen Programm. Bis 2018 lernten hier mehr als 100 Schüler*innen.1 Der Lehrplan enthält auch allgemeine Wissenschaften, dennoch beziehen sich die religiösen Komponenten mehr auf den Sufismus. Höhere islamische Bildung war immer ein großes Problem für den postsowjetischen Raum. In der Regel gingen die meisten Student*innen ins Ausland, nach Russland, in die Türkei oder nach Saudi-Arabien. In der Ukraine galt der erste Versuch, eine systematische islamische Ausbildung aufzubauen, der Gründung der Islamischen Universität Kiew. Die Universität ist mit der ArRahma-Moschee unter der Leitung von Scheich Ahmed Tamim, Mufti der Geistlichen Verwaltung der ukrainischen Muslime, verbunden, basiert auf den religiösen Grundlagen der Bewegung »Al-Ahba¯s« (gegründet vom libanesischen Gelehrten Abdulla¯h al-Hararı¯, 1910–2008) und verbreitet islamisches Wissen in seiner Asˇʿarı¯ya-/Sufi-Tradition. Da sie als offizielles religiöses Bildungsinstitut registriert ist, wurden nach 2015 die Abschlüsse einiger Absolvent*innen vom 1 Chalid, Oleg (unveröffentlichtes Interview, am 6. November 2018).

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Ministerium für Bildung und Wissenschaft in der Ukraine anerkannt. Nach vierjährigem Studium erhalten Absolvent*innen ein Imam-Hatip-Diplom. Die Absolvent*innen waren hauptsächlich an Aktivitäten der Geistlichen Verwaltung ukrainischer Muslime und einiger ausländischer Institutionen beteiligt (Islamic University 2018). Ein vielversprechender, jedoch gescheiterter Versuch, eine Institution mit einem nicht sektiererischen Lehrplan zu gründen, war die Etablierung der ukrainischen Islamischen Universität. Das 1999 als gemeinsames Projekt von »Al-Raid« mit Sponsoren aus der arabischen Welt und einigen muslimischen Gemeinden aus Donezk wurde 2002 aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen den unterstützenden Parteien eingestellt. Alle Absolvent*innen erhielten Imam-Hatip-Diplome; das Projekt wurde bis dato nicht wiederbelebt (Bogomolov et al. 2006). Sieben der höheren islamischen Schulen waren bis 2014 auf der Krim aktiv. Die einzige Institution mit einem säkular-religiös wissenschaftlichen Curriculum war die 1998 gegründete Asowsche Medrese (»Asowsche Hadschi-Ihsan-Medrese der Islamwissenschaften«) in der Gegend von Dschankoj. Studierende (etwa 70 im Jahr 2017, hauptsächlich Männer) sind in Schlafsälen untergebracht, besuchen die öffentliche Schule im Dorf Majskoe und erhalten in der Medrese ihre islamische Bildung. Der dreijährige Kurs endet mit einem Imam-Hatip-Diplom. Der religiöse Lehrplan folgt dem türkischen Konzept der religiösen Bildung (Kurse zum Asˇʿarı¯-/Ma¯turı¯dı¯-Glaubensbekenntnis, Hanafı¯ fiqh, Sufismus und ˙ Arabisch/Türkisch). Das Bildungsprogramm sowie die Unterbringung und Verpflegung der Studierenden werden kostenlos zur Verfügung gestellt (bis 2014 unterstützte hauptsächlich die türkische Stiftung Aziz Mahmud Huda¯¯ı Vakfi dieses Projekt). Dies ist die einzige höhere Ausbildung im Bereich des islamischen Religionsunterrichts auf der Krim (alle anderen Institutionen wurden geschlossen). Aus undokumentierten Quellen geht auch hervor, dass mehr als 100 Studierende von der Krim nun in Russland islamische Bildung erhalten (Muratowa 2017). Eine weitere Bildungseinrichtung in Kiew ist die Kiewer Islamische Universität im »Tugan-Tel«-Zentrum der Wolga-Tataren (hier befindet sich auch das »Kiewer Muftiat«). Das Bildungsprogramm ist an Schüler*innen im schulpflichtigen Alter (6–16 Jahre) gerichtet und beruht auf einer Lehre, die von türkisch-islamischen Gruppen vertreten wird. Zukünftige Pläne zur Schaffung der »Osteuropäischen Islamischen Universität« wurden von der »SAUM Umma« veröffentlicht. Die Universität wurde unter dem Namen »Institution des religiösen Lernens« registriert und sollte ihre Tätigkeit unter der Leitung von Mufti Said Ismagilov bis Ende 2019 aufnehmen.2 2 Mufti Ismagilow, S. (unveröffentlichtes Interview vom 6. November 2018).

Islamische Erziehung in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und Rumänien

3.

Weißrussland

3.1

Geschichte der islamischen Bildung in Weißrussland

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Im Gegensatz zu den anderen drei Ländern war Weißrussland niemals Teil des Khanats der Krim oder des Osmanischen Reiches. Die Präsenz einer muslimischen Bevölkerung war hauptsächlich auf polnisch-litauische Tataren zurückzuführen, die sich erstmals Mitte des 14. Jahrhunderts fast im ganzen Land (mit Ausnahme des Ostens) niedergelassen hatten. Dutzende von Moscheen, Friedhöfen und andere islamische Orte existierten in Minsk, Iwje, Nawahrudak und weiteren Städten; Tataren aus Weißrussland pflegten enge Beziehungen zu anderen muslimischen Gläubigen in Polen, Litauen und der Westukraine. In der Sowjetzeit wurden die Aktivitäten muslimischer Gemeinschaften eingestellt; die 1902 errichtete Moschee in der Kathedrale von Minsk wurde geschlossen und schließlich zerstört (die Restaurierung erfolgte erst 2016 mittels türkischer Finanzierung). Nach 1991 restaurierte die weißrussische islamische Gemeinde viele alte Kulturstätten (Stand heute: sieben Moscheen und sechs Gebetshäuser). Derzeit sind 25 muslimische Gemeinschaften registriert, die der muslimischen Religionsgemeinschaft und der Geistlichen Verwaltung der Muslime von Weißrussland angehören. Die meisten gehören anderen ethnischen Gruppen (Aserbaidschaner, Turkmenen, Araber usw.) an, während etwa 7.000 Muslim*innen polnisch-litauische Tataren sind. Insgesamt leben heute in Weißrussland bis zu 30.000 Muslim*innen (Slabcanka 2018).

3.2

Gegenwart der islamischen Bildung in Weißrussland

In Weißrussland sind, im Gegensatz zur Ukraine, die einzigen Optionen für islamische Bildung die Grundschule und die Volksbildung. In gewisser Weise ist dies nicht nur auf politische Turbulenzen und Migration im 19. und 20. Jahrhundert zurückzuführen, sondern auch auf das Fehlen einer »Medresen-Tradition« im Lande. Die polnisch-litauischen Tataren, die in Weißrussland die wichtigste muslimische Gruppe bilden, hatten nie private Schulen für religiöse Bildung oder traditionelle Ausbildungsstätten für Imame (d. h. Tradierung der religiösen Bildung in der Moschee durch Unterricht: Abschreiben von Büchern, das Erlernen des arabischen Alphabets in der slawischen Sprache). Islamkurse werden in Minsk, Hrodna und Homel abgehalten (Slabcanka 2018), jedoch ist es nur in Minsk möglich, diese mit einem anerkannten Zeugnis abzuschließen. Die Kurse richten sich hauptsächlich an Kinder und finden ein- oder zweimal im Monat statt. 2017 wurde auch ein Arabischkurs angeboten (basierend auf dem Buch Abd al-Hadi Maqsudi al-Durus al-Shifahiyah). Eine andere weißrussische

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islamische Organisation (Geistliche Verwaltung der Muslime der Republik Weißrussland unter der Leitung von Ali Woronowitsch) bietet in ihrem Büro in Minsk in der Regel Islamkurse für Kinder und Erwachsene an: Dabei handelt es sich um die Grundlagen des Arabischen, Lesen des Korans und andere Aktivitäten. In Weißrussland sind auch einige türkische Gemeinschaften aktiv, die Kurse wie Risa¯le-i Nu¯r (Anhänger*innen von Said Nursı¯) anbieten. Für ein höheres islamisch-theologisches Studium und die Imamausbildung arbeiten weißrussische muslimische Organisationen in der Regel mit islamischen Organisationen in Russland (Russisches Islamisches Institut und MuhammadiyyaMedrese in Kasan) zusammen. Nur wenige Studierende gehen auch in andere Länder, im Allgemeinen begrüßt Weißrussland die islamische Erziehung außerhalb der ehemaligen UdSSR nicht.

4.

Rumänien

4.1

Gesichte der islamischen Bildung in Rumänien

Rumänien ist mit der muslimischen Welt, vor allem mit dem Osmanischen Reich und dem Krim-Khanat, durch eine lange Geschichte verbunden. Dobrudscha, eine Region im Osten des Landes, war fast fünf Jahrhunderte lang (1420–1878) ein Teil des Osmanischen Reiches. Der Islam wurde hier zuerst von dem SufiMeister Sari Saltuk eingeführt, der während der byzantinischen Epoche auch von den Sunniten verehrt wurde. Die islamische Präsenz in Nord-Dobrudscha wurde unter osmanischer Hoheit und Einwanderung sukzessive erweitert (ebenso durch die Krim, zunächst nach der russischen Annexion im Jahre 1783). In der Walachei und in der Republik Moldau, den beiden Donaufürstentümern, ging die Ära der osmanischen Oberhoheit nicht mit einem Anstieg der Zahl muslimischer Gläubiger einher, da deren Anwesenheit dort immer minimal war. Auch Gruppen islamischer Kolonisten in Verbindung mit dem Osmanischen Reich wurden durch die habsburgische Expansion oder andere politische Veränderungen immer wieder in andere Teile des heutigen Rumäniens umgesiedelt. Bereits 1879 waren mehr als 56 Prozent der Dobrudscha-Bevölkerung muslimisch. Nach 1989, als der Grad der Religionsfreiheit stark zunahm, traten einige neue muslimische Gruppen auf (hauptsächlich aus nichttatarischen/türkischen Verhältnissen), die wichtigste religiöse Autorität ist jedoch nach wie vor das zentralisierte Muftiat Rumäniens mit dem Amt des Großmuftis. Von 70.000 Gläubigen gehören die meisten immer noch türkisch-tatarischen Volksgruppen an, die im Osten des Landes leben (Vainovski-Mihai 2018).

Islamische Erziehung in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und Rumänien

4.2

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Gegenwart der islamischen Bildung in Rumänien

Die islamische Erziehung in Rumänien umfasst drei Ebenen. Die »allgemeine Erziehung« findet in fast allen großen Moscheen statt. Gemäß dem Gesetz zur nationalen Bildung von 2011 wird Religion auch an öffentlichen Schulen unterrichtet, und Eltern können den Wunsch äußern, Kurse in einer bestimmten Religion (einschließlich des Islams) zu belegen (ebd.). Es liegen jedoch keine Daten darüber vor, wie viele Schüler*innen sich bis 2018 für den Islamkurs angemeldet haben. Der Religionsunterricht findet hauptsächlich in der türkischtatarischen Region von Dobrudscha, in Städten wie Constanta, Medgidia, Cobadin, Mangalia und Valu lui Traian statt. Wie Laurentiu D. Tanase anmerkt, besteht das allgemeine Ziel des Islamunterrichts an rumänischen staatlichen Schulen darin, »die Persönlichkeit des Schülers/der Schülerin gemäß den religiösen Werten zu formen, indem dieses Wissen die Entwicklung einer moralischreligiösen Haltung stärkt und die islamische Lehre die Schüler*innen in ihrer Identitätsentwicklung stärkt und sie für gesellschaftliche Handlungen befähigt«. Ziel des Religionsunterrichts ist es auch, »den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, die Hauptmerkmale ihres eigenen religiösen Bekenntnisses zu lernen und zu verstehen« (Laurentiu 2015, S. 170). Der Lehrplan basiert auf den Grundlagen des Islams (Prinzipien des Glaubens) sowie auf der Förderung der Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft. Neben dem Islamunterricht an den öffentlichen Schulen gibt es eine Privatschule mit Islamunterricht, die einen Bachelor-Abschluss ermöglicht. Zunächst wurde die »Jerusalemer Schule von Bukarest« (Madrasah al-Quds fi Bukharest) im Jahr 2000 unter der Schirmherrschaft der »Islamisch-Kulturellen Liga Rumäniens« (eine Organisation, die hauptsächlich die arabische Diaspora vertritt) gegründet. Die Schule bietet Kurse in rumänischer und arabischer Sprache sowie Unterricht in Englisch und Islam an. Den Schüler*innen werden auch ein Gebetsraum und andere islamische Aktivitäten angeboten. Die Schule zählt um die 600 Schüler*innen. Auf der offiziellen Webseite heißt es, dass die Schulen vom rumänischen und palästinensischen Bildungsministerium akkreditiert sind. Das Diplom wird auch von den Bildungsministerien einiger ausländischer Staaten anerkannt. Das Bildungsministerium von Saudi-Arabien listet beispielsweise die »Jerusalem School of Bucharest« unter den »akkreditierten ausländischen Schulen« auf (Jerusalemschool 2020). Die höchste islamische Bildung wird vom »Collège National Kemal Atatürk« in Medgidia (in der Region Dobrudscha) angeboten. Es wurde 1995 als gemeinsames Projekt einiger türkischer Sponsoren, des rumänischen Bildungsministeriums sowie der muslimischen Gemeinschaft von der wichtigsten rumänisch-muslimischen Organisation (Cultului Musulman din Romania), eröffnet. Es bietet zwei Schwerpunkte an: Philologie und Theologie. Die Unterrichtssprache ist Rumä-

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nisch, aber die Schüler*innen lernen darüber hinaus Arabisch, Türkisch und Englisch. Die Schule bietet auch Übungen in Moscheen an. Nach einer erfolgreich absolvierten Praxis folgt der Abschluss mit dem Titel »Imam Hatip«. Dieses Diplom erlaubt es, als Prediger in der Moschee oder als Religionslehrer*in in den Schulen zu arbeiten. Einige der Studierenden erweitern ihre Studien in der Türkei (MA- und PhD-Abschlüsse).

5.

Moldawien

5.1

Geschichte der islamischen Bildung in Moldawien

Im Gegensatz zu den anderen drei Ländern ist die muslimische Bevölkerung Moldawiens relativ klein. Die Volkszählung von 2014 listete nur 2.009 Menschen muslimischen Glaubens auf (und mindestens 500 davon leben in Transnistrien), obwohl es Behauptungen gibt, dass die Zahl bei ungefähr 17.000 liegen könnte. Historisch gesehen war fast das gesamte Gebiet der heutigen Republik Moldau Teil des Osmanischen Reichs, und einige Städte, wie Bender, waren bekannte Zentren islamischer Bildung. Nach der Eingliederung dieser Gebiete in das Russische Reich (nach 1812) wanderte fast die gesamte muslimische Bevölkerung nach Dobrudscha oder in andere Gebiete aus. In der Sowjetzeit bildeten die muslimische Bevölkerung Moldawiens Studierende aus arabischen und afrikanischen Ländern oder Zuzügler aus dem zentralasiatischen und kaukasischen Teil der Sowjetunion. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 war Moldawien das letzte Land, das die muslimische Gemeinschaft offiziell anerkannte (dies geschah 2011 mit der »Islamischen Liga der Republik Moldau«) (Felea 2018).

5.2

Gegenwart der islamischen Bildung in Moldawien

Moldawien bietet, ähnlich wie Weißrussland, nur islamische Grundkurse an, welche seit 1994 in Chisinau etabliert wurden. Bisher organisierte die Liga Islamica din Republica Moldova Lesekurse für die arabische Sprache und Korankurse. Bis 2018 besuchten regelmäßig mehr als 30 Studierende solche Kurse. Auch rumänische Gläubige sind hier aktiv (zum Beispiel das Projekt »Lerne den Islam kennen« der »Rumänischen Muslimischen Vereinigung«) (Felea 2018, S. 469). Ebenso existieren einige türkische Schulen im Bildungsbereich, zum Beispiel die türkische Schule Orizont und weitere, die angeblich mit der GülenBewegung in Verbindung stehen (sechs Lehrer wurden 2018 wegen »Islamismus« deportiert, ebenso wie sieben türkische Staatsbürger). Sie boten Kurse zur tür-

Islamische Erziehung in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und Rumänien

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kischen Sprache und Kultur an, mit Fokus auf islamischer Bildung und Erziehung. Einige der moldauischen Salafı¯-Gruppen und andere Gemeinschaften versammeln sich ebenfalls in Gotteshäusern und verbreiten islamische Lehren. Ein weiterer Trend in der islamischen Bildung ist das Online-Lernen. Neben zahlreichen globalen Webseiten, auf denen Kurse zum Islam in englischer, arabischer und türkischer Sprache angeboten werden, gibt es mindestens zwei Projekte, die im russischsprachigen Raum vor allem bei weißrussischen und moldauischen Muslim*innen und teilweise auch in der Ukraine sehr beliebt sind. Dabei handelt es sich um die »Internet-Akademie Medina« (medinasсhool.org), die kostenlose Kurse in adab, tagˇwı¯d, ʿaqı¯da, sı¯ra, hadı¯t, tafsı¯r gemäß dreier ˙ ¯ Rechtsschulen (der hanbalitischen, der schafiitischen und der hanafitischen) anbietet. Das Projekt wurde von Ali Jewtejew, einem bekannten Gelehrten aus Russland und ehemaligen Mufti aus Nordossetien, ins Leben gerufen. Ein weiteres Projekt ist die »Qur’an Academy« (quranacademy.org) mit Sitz in der Türkei, welche verschiedene Funktionen zum Erlernen des Korans bietet. Beide Projekte basieren auf dem sunnitischen Mainstream-Ansatz und erfreuen sich daher bei Muslim*innen großer Beliebtheit (zum Beispiel findet man in einigen ukrainischen Moscheen Flyer, die das Lernen in der »Akademie Medina« bewerben).

6.

Resümee und Ausblick

In allen vier Ländern hat der islamische Religionsunterricht seine Wurzeln im Mittelalter bzw. in der frühen Neuzeit, aber verschiedene negative Umstände des 19. und 20. Jahrhunderts (Kriege, Massenmigrationen, kommunistische Politik gegenüber der Religion) führten zu einem endgültigen Niedergang. Das KrimKhanat und das Osmanische Reich (die das religiöse Leben in der Ukraine, Rumänien und Moldawien prägten) entwickelten ein bedeutendes Netzwerk von Medresen, einer islamisch-religiösen Institution für Hochschullehrgänge. Die Indschibek-Hatun-Medrese auf der Krim (gegründet 1333/1334) war einer der ersten Orte des islamischen Lernens in Osteuropa, gefolgt von der ZincirliMedrese, die 1500 von Mengli-Geray erbaut wurde. Diese war fast 420 Jahre lang in Betrieb (bis zu ihrer Schließung im Jahr 1928). In anderen Teilen der Südukraine, Rumäniens und Moldawiens gab es Dutzende Medresen (neben maktab, Grundschulen und dem traditionellen Lernen in Moscheen). Zahlreiche Artikel und Kommentare (geschrieben und umgeschrieben als Erklärung der klassischen religiösen Werke zur arabischen Grammatik, Exegese, Theologie und zum islamischen Recht), die in diesem Bereich entstanden, lassen darauf schließen, dass die islamische Lehre vom 14. bis in das 15. Jahrhundert recht intensiv war. Viele der bekannten islamischen Gelehrten kamen aus diesen Ge-

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bieten, vor allem große islamische Persönlichkeiten wie Abu l-Baqa ’al-Kafawi (1619–1684) aus dem osmanischen Caffa (heute Feodossija auf der Krim) oder Muhammad al-Aqkirmani (gest. 1761) aus dem Akkerman (heute BilhorodDnistrowskyi in der Region Odessa, Ukraine). Dennoch beendete das 20. Jahrhundert fast all diese Bemühungen um die Erhaltung und Reproduktion des Wissens. In Weißrussland war die Situation noch schwieriger: Die einzige Art der Erziehung war die traditionelle Imamausbildung durch ein Familienmitglied (normalerweise vom Vater an den Sohn weitergegeben), durch die ein Minimum an Lesen arabischer Texte und der Durchführung der häufigsten religiösen Riten weitergegeben wurde, wie zum Beispiel die Freitagspredigt (hutba), Heirat, Be˘ ˙ erdigungen, Festgebete usw. Normalerweise wurden alte Lehrbücher (manchmal Schriften aus Kasan oder Istanbul vom Ende des 19. Jahrhunderts) verwendet und händisch abgeschrieben, um einige Gebetstexte und eine Beschreibung der Rechte zu erhalten. Es gab keine Möglichkeit, sich für Bildungsprogramme außerhalb Rumäniens einzuschreiben (und noch strengere Regeln galten für die Länder der UdSSR). Die letzte höchste muslimische Institution in Rumänien, das theologische Seminar in Medgidia, das 1903 aus Babadag verlegt worden war, wurde 1965 geschlossen (Grigore 1999). So haben fast alle zeitgenössischen muslimischen Bildungsnetzwerke in der Ukraine, in Weißrussland, Moldawien und Rumänien ihre Aktivitäten erst vor Kurzem, Ende der 1980er-Jahre, wieder aufgenommen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die islamische Erziehung in der Ukraine, in Weißrussland, Rumänien und Moldawien einige Gemeinsamkeiten aufweist. Erstens begann in all diesen Ländern die Geschichte der zeitgenössischen islamischen Erziehung Anfang der 1990er-Jahre mit dem Versuch, die alte Tradition neu zu beleben (wie im Fall der tatarischen Bevölkerung in allen Ländern) oder etwas Neues einzuführen (Salafı¯-Gemeinschaften, Anhänger*innen des »gemäßigten« Islams usw.). Zweitens lässt sich festhalten, dass muslimische Aktivitäten hauptsächlich im Bereich der Missionierung (daʿwa) (die Missionsarbeit richtet sich auf die Islamisierung oder Re-Islamisierung nicht praktizierender Muslim*innen) und im Grundschulbereich angesiedelt sind. Drittens waren nur wenige Projekte im Bereich der höheren islamischen Bildung erfolgreich. Es besteht nach wie vor eine große Nachfrage nach allgemeinen islamischen Universitäten, die Imame in säkularen geisteswissenschaftlichen und theologischen Fächern ausbilden. Trotz der Gesetze von mindestens zwei Ländern (Ukraine und Rumänien), die die notwendige Grundlage für die Schaffung islamischer Programme an staatlichen Universitäten (BA, MA oder sogar PhD) bieten würden, sind muslimische Organisationen noch weit von einer Integration ihrer Curricula an höheren Bildungsinstitutionen entfernt. Moldawien und Weißrussland sind noch viel weiter von diesen Zielen entfernt. In diesen Ländern haben junge Menschen muslimischen Glaubens keine Mög-

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lichkeit, eine höhere islamische Ausbildung zu erhalten, und folglich bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ins Ausland zu gehen. Die Erfahrung dieser Studierenden zeigt, dass nicht alle nach ihrem Abschluss an solchen Instituten im Ausland (in der Türkei, in Saudi-Arabien, in Ägypten oder in einem anderen Land) gute Chancen in ihrer Heimat haben: Der Staat und auch die zentralen islamischen Organisationen setzen solche Leute normalerweise mit einem »extremistischen« oder zumindest »nicht traditionellen Islam« in Verbindung. Viele von ihnen kehren aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage nicht mehr in die Heimat zurück und wechseln das Metier, oder sie wenden sich Sekten zu, die sie finanziell unterstützen (seien es türkische neo-sufistische oder salafistische Gemeinschaften). In gewisser Weise hängt die Entwicklung der inländischen islamischen Bildung vom Grad der »Domestizierung« der islamischen Gemeinschaften ab. Zumindest kann gesagt werden, dass einige der späteren Errungenschaften (zum Beispiel die Mittelschulen) ein gutes Beispiel dafür sein könnten.

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Muhamed Ali

Islamische Bildung am Balkan

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag widmet sich der islamischen Erziehung und Bildung in den Ländern der Balkanhalbinsel. Da die Anfänge der Verbreitung des Islams in dieser Region im Zusammenhang mit dem Osmanischen Reich stehen, folgt zunächst eine Einführung in das osmanische islamische Bildungssystem. Aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung der Staaten des Balkans – und ebenso der islamischen Erziehung – im Laufe der Geschichte muss die islamische Bildung in den einzelnen Staaten separat beleuchtet werden. Daher wird im Anschluss an den einführenden historischen Einblick in das osmanische Bildungssystem die islamische Bildung in Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Serbien, Kroatien, im Kosovo und abschließend in Albanien betrachtet. Aufgrund der kulturellen, sprachlichen, religiösen und ethnischen Vielfalt in der Balkanregion besteht eines der wesentlichsten Ziele des islamischen Religionsunterrichts darin, die Schüler*innen für ein gutes Zusammenleben zu sensibilisieren.

1.

Einführung

Da die ersten Kontakte der Bevölkerung des Balkanraums mit dem Islam im Wesentlichen auf die osmanische Epoche zurückgehen, beginnt dieser Beitrag mit einem kurzen Überblick über die islamischen Bildungsaktivitäten zur Zeit des Osmanischen Reichs. Die Unterweisung der Schüler*innen in den verschiedenen islamischen Wissenschaftsdisziplinen erfolgte durch von ihnen selbst gewählte Lehrkräfte und endete mit der Erteilung der Lehrerlaubnis (igˇa¯za) durch die Lehrkraft, nicht durch die Institution (Idriz 2000, S. 221–284; Idriz 2003, S. 169–188). Das Bildungswesen stützte sich auf traditionelle osmanische Bildungsinstrumente und -institutionen wie Tekken, Ibtidai-Schulen, Idadi-Schulen und Me-

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dresen. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erfolgte die Ausbildung an Grundschulen (Muʿallim-ha¯ne), im 16. Jahrhundert kam es dann zur Ausdiffe˘ renzierung der Einrichtungen in: – Medrese, – haniqah (Schule für das Studium der Mystik und die Ausbildung zum Derwisch), – da¯r al-Qurʾa¯n, – da¯r al-hadı¯t. ˙ ¯ Im späten 19. Jahrhundert nahm die Bildung in den Ländern des Balkans jeweils eine nationalstaatliche Prägung an, bevor die religiöse Praxis und die Bildung der muslimischen Bevölkerung im Zuge des Aufstiegs des Sozialismus/Kommunismus im 20. Jahrhundert in arge Bedrängnis gerieten – wobei es hinsichtlich der negativen Folgen zwischen Staaten wie Bulgarien und Albanien, wo die durch das System bewirkte kulturelle Zerstörung besonders drastisch ausfiel, und etwa Jugoslawien durchaus Unterschiede gab. Der Fall des Kommunismus in den 1990er-Jahren stellte die islamischen Gemeinschaften des Balkanraums vor neue Herausforderungen, galt es doch, Bildungseinrichtungen wieder aufzubauen und zu entwickeln, um den Bildungsbedürfnissen der muslimischen Bevölkerung gerecht zu werden. Als eine der größten Errungenschaften kann die Einrichtung von Medresen und islamwissenschaftlichen Fakultäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen werden (Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809–824). Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, stellt sich das islamische Bildungswesen in den Ländern des Balkans im Wesentlichen wie folgt dar: – Die islamische Erziehung findet unter der Aufsicht und Leitung der islamischen Gemeinden in Medresen, an islamischen Fakultäten, in Moscheen und Maktab-Einrichtungen statt. – Die islamische Erziehung sieht sich in erster Linie der Herausbildung und Vermittlung demokratischer Werte verpflichtet, was sich auch in der Gestaltung des sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich erteilten Religionsunterrichts widerspiegelt (vgl. Alibasic & Zubcˇevic´ 2009, S. 51–52). Das 20. Jahrhundert war eine Zeit radikaler politischer und sozialer Umbrüche – in der Welt im Allgemeinen und auf dem Balkan im Besonderen –, die nicht zuletzt dramatische Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Staat und Religion hatten und heftige Debatten über Art, Wesen und Zukunft dieses Verhältnisses auslösten. Von einer einheitlichen Beziehung zwischen Religion und Staat kann angesichts der zwischen den Ländern bestehenden politischen, kulturellen, ethnischen und religiösen Unterschiede keine Rede sein. Hinsichtlich der Ge-

Islamische Bildung am Balkan

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staltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche lassen sich die Länder der Welt grundsätzlich in vier Gruppen einteilen: – In die erste Gruppe fallen jene Länder, die sich als religiös definieren, in denen also die Ausübung der Religion und der Staatsgeschäfte unter der Kontrolle religiöser Institutionen steht (zwölf Staaten). – Die zweite Gruppe bilden die Länder mit einer Staatsreligion, die vom Staat bevorzugt, der jedoch kein Einfluss auf die Rechtsordnung zugestanden wird (ca. 60 Staaten). – Die dritte Gruppe besteht aus den sogenannten säkularen Staaten (ca. 120 Staaten). – In die vierte Gruppe fallen die als antireligiös definierten Staaten, welche jeglicher religiösen Betätigung ablehnend gegenüberstehen (fünf Staaten). Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet sind etwa Saudi-Arabien und der Iran religiöse Staaten, England, Spanien, Italien, Polen, Norwegen usw. Staaten mit einer Staatsreligion, bei Deutschland, Frankreich, Belgien etc. handelt es sich um säkulare und bei China und Nordkorea schließlich um antireligiöse Staaten (Kuru 2011, S. 247–253; Köylü 2017, S. 229–230). Mit Blick auf liberale Demokratien lassen sich – wie Monsma und Soper festhalten –hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche zusätzlich drei Modelle ausmachen: – das (Teil-)Staatskirchentum, das dadurch gekennzeichnet ist, dass eine religiöse Gemeinschaft vom Staat bevorzugt behandelt und als Staatsreligion anerkannt wird, so etwa in England oder Griechenland; – die strikte Trennung zwischen Religion und Staat, bei der Religionsgemeinschaften als vom Staat getrennte Körperschaften bestehen. Diese gelten gemeinhin als Teil der Zivilgesellschaft und erhalten in der Regel keine Unterstützung durch den Staat; Beispiele dafür sind die USA und Frankreich. – Einen Mittelweg in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche verfolgen etwa die Niederlande, Deutschland, Österreich und Norwegen. In diesen Ländern sind mehrere religiöse Gruppen bzw. Religionsgemeinschaften offiziell anerkannt, wodurch sie auch in den Genuss von Schutzregelungen und staatlichen Subventionen kommen (Monsma 1997; Köylü 2017, S. 229–230). Was die religiöse Erziehung und Bildung betrifft, ist die jeweilige Lage in religiös und antireligiös verfassten Ländern relativ klar: Während in Ersteren die Religion im Bildungssystem einen wichtigen Platz einnimmt, spielt sie in Letzteren keine Rolle. In säkular verfassten Staaten ist zudem eine weitere Unterscheidung zwischen einem »passiven« oder »ausgleichenden« Säkularismus, wie in den

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USA, und einem »konfrontativen« Säkularismus, wie etwa in Frankreich, gegeben, die sich auch im öffentlichen und privaten Bildungssektor niederschlägt. Wann immer sich Expert*innen mit der Rolle und Funktion des Religionsunterrichts in westlichen Gesellschaften auseinandersetzen, stehen vor allem drei Fragen im Vordergrund: – Ist der Religionsunterricht von allgemeinpädagogischem Wert oder gehorcht er rein religiösen Zwecken? – Soll der Religionsunterricht Teil des allgemeinen Lehrplans oder aber Sache der Religionsgemeinschaften sein – und wenn Zweiteres der Fall ist, ist er besser an öffentlichen oder an konfessionellen Schulen aufgehoben? – Den dritten wichtigen Grund für Debatten über den Religionsunterricht liefert die Vielfalt religionspädagogischer Strategien und Praktiken als Folge des reichen historischen Erbes der in Europa vertretenen Religionen und Glaubensgemeinschaften. Hierzu nehmen die einzelnen Länder durchaus unterschiedliche Perspektiven ein, was einen internationalen Vergleich entsprechend schwierig macht (Halstead 2005, S. 7731–7736).

2.

Islamische Erziehung und Bildung in Nordmazedonien

Die deutlichste Prägung durch die osmanische Herrschaft erfuhr die Balkanregion Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts. Damals entstanden neben Festungen, Basaren, Hamams (öffentlichen Bädern), Karawansereien und ha¯n ˘ (Gasthöfen) eine Vielzahl von Moscheen, Medresen, Maktab-Institutionen und Tekken, was sowohl der politischen und wirtschaftlichen als auch der kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung enormen Auftrieb gab. Nach der Einverleibung Skopjes in das Osmanische Reich im Jahr 1391 wurde Nordmazedonien zu einem bedeutenden religiösen, kulturellen und wissenschaftlichen Zentrum des Balkans – ein Status, den es bis zum Ende der osmanischen Herrschaft beibehalten sollte. Die zahlreichen Maktab-Einrichtungen und Medresen im Nordmazedonien des 17. Jahrhunderts finden in den Berichten des berühmten Reiseschriftstellers Evliya Çelebi ausführliche Erwähnung. Über die Lehrpläne dieser Bildungseinrichtungen ist zwar wenig bekannt, jedoch wurden Forschungsergebnissen zufolge neben religiösen Fächern auch Gegenstände wie Arabisch, Kalligrafie und Mathematik unterrichtet (Asım 2004, S. 31). Der Abzug der Osmanen aus der Balkanregion (1912) versetzte die von ihnen hinterlassenen Bildungseinrichtungen in eine politisch und wirtschaftlich schwierige Lage. Doch allen Drangsalen seitens der neuen Herrschaft, des Königreichs Jugoslawien, zum Trotz setzte sich die muslimische Bevölkerung Nordmazedoniens mit aller Kraft für den Schutz ihrer religiösen und kulturellen Werte ein. Die größten spirituellen und ökonomischen Anstrengungen der

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muslimischen Bevölkerung galten der Erhaltung der Medresen. Zur Zeit des Königreichs Jugoslawien (1912–1940) gab es insgesamt zwölf über das ganze Land verteilte Medresen, und es waren insbesondere die an ihnen tätigen Lehrkräfte, viele davon mit Abschlüssen von in- und ausländischen Hochschulen, und ihre Absolvent*innen, die sich bei der Verteidigung der nationalen und religiösen Werte der muslimischen Bevölkerung gegenüber antimuslimischen Übergriffen hervortaten. Das Studium, dessen Dauer in der Regel nicht von vornherein festgelegt war, schloss mit der Vergabe des icazetname (Diplom) ab (siehe Zekaj 1997). An dieser Stelle sei angemerkt, dass das in Nordmazedonien etablierte islamische Bildungswesen eines der am besten organisierten und strukturierten religiösen Bildungssysteme in der Region ist. Deren wichtigstes Organ, das zugleich als einziges für das islamische Bildungswesen zuständig ist, ist die 1994 zur Regelung der Beziehungen zwischen Staat und muslimischer Gemeinschaft gegründete »Islamische Gemeinschaft in Nordmazedonien« (IGNM). Mit der Erteilung der islamischen Bildung sind folgende Einrichtungen betraut: – Medresen, – Fakultäten, – öffentliche Schulen, – maktab.

a) Islamische Hochschule Isa Beg Nach der Besetzung Skopjes (1941) war eine der ersten von den bulgarischen Behörden verfügten Maßnahmen die Schließung der Isa-Beg-Medrese. Dieser Zustand hielt mehrere Jahrzehnte lang an, bis die IGNM im Jahr 1979 die Initiative zu ihrer Wiedereröffnung ergriff. Nach einigen Anläufen erhielt sie schließlich die entsprechende Erlaubnis, sodass 1984/1985 das Bildungsprogramm aufgenommen werden konnte. Die Medrese ist eine von der IGNM finanzierte, gesetzlich anerkannte private Einrichtung, die jedoch weder staatliche Subventionen erhält noch im Verzeichnis der höheren Schulen der Republik Nordmazedonien aufscheint, was es den Absolvent*innen bisweilen schwer macht, an eine staatliche Universität zu wechseln. Derzeit beschäftigt die Einrichtung 98 Mitarbeiter*innen, die Zahl der Studierenden beträgt 658. Von den 3.583 Schüler*innen, die sich seit 1984/1985 an der Schule eingeschrieben haben, haben 1.584 ihren Abschluss gemacht. Ihre Hauptaufgabe sieht die Medrese in der Vorbereitung der Studierenden auf den Beruf des Imams, des hat¯ıb und wa¯ʿiz ˙ ˘ ˙ (Nexhipi 2011, S. 24; Brezi i Ri 2011). Besonderen Aufschwung in Gestalt eines erhöhten Zulaufs an Studierwilligen erlebte die Isa-Beg-Medrese ab dem Jahr 2000; als dessen Schlüsselfaktoren gelten das gesteigerte Interesse an einem Studium an dieser Einrichtung sowie

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die Verabschiedung eines Gesetzes zur obligatorischen Sekundarschulbildung. Unter Berücksichtigung früherer Erfahrungen setzte die IGNM konkrete Schritte, um den Bildungsbedarf der muslimischen Bevölkerung in diesem Bereich zu decken. Das große Interesse an einer Ausbildung an dieser Medrese bewog die Religionsbehörden, Zweigstellen in anderen Städten des Landes (darunter Tetovo und Gostivar) zu eröffnen. Darüber hinaus ist die Einrichtung von Klassen in den Städten Kumanovo und Kicˇevo geplant (Ebibi 2011). Angesichts der von dieser Schule ausgehenden Belebung der islamischen Bildung in der Region sind diese Schritte nur zu begrüßen. Was die Lehrplanentwicklung betrifft, erfolgten erste Änderungen im Jahr 1996 und zwar dahingehend, dass einige Fächer aus dem Lehrplan gestrichen und andere zusammengelegt wurden und erstmals Mathematik Eingang in den Lehrplan fand. Neue Trends im Bildungsprozess wurden im Jahr 2010 zum Anlass genommen, eine Kommission zur Reform des Lehrplans der Medrese einzusetzen. Das wichtigste Ergebnis dieser Reform war die Aufnahme neuer Fächer, darunter Chemie, Physik und Didaktik (Ali 2012, S. 209). b) Fakultät für Islamwissenschaften Skopje Das Ende des Kalten Krieges und die Ablösung der bipolaren durch eine monopolare Weltordnung führten zur Verschiebung des internationalen strategischen Gleichgewichts, die in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre auch am Balkan und in Nordmazedonien grobe Verwerfungen zur Folge hatten, namentlich die Zerschlagung Jugoslawiens, zu dem auch das heutige Nordmazedonien gehört hatte. 1991 erklärte die damalige Republik Mazedonien ihre Unabhängigkeit und versprach den Übergang zu einem demokratischen, pluralistischen System. Inmitten all der Herausforderungen, die damit für die muslimische Gemeinschaft verbunden waren, sollte sich die Fakultät für Islamwissenschaften dank des neuen demokratischen Geistes und des Einsatzes der Islamischen Religionsgemeinschaft (1995) als Fels in der Brandung erweisen. Zwei Jahre später, im Jahr 1997, wurde mit der Inbetriebnahme des bei der IGNM angesiedelten »Zentrums für höhere islamische Bildung« der Beginn einer neuen Ära im Bereich der islamischen Erziehung und Bildung eingeläutet. Ein besonderes Datum in der Geschichte der Fakultät war das Schuljahr 2008/ 2009, in dem sie auf Beschluss des Bildungsministeriums als öffentlich-private Fakultät akkreditiert wurde (Pajaziti 2010, S. 41). Das Studium gründet auf dem im Zuge des »Bologna-Prozesses« ins Leben gerufenen ECTS-System, die Dauer beträgt acht Semester. Der Erwerb des Bachelorgrades im Fach »Islamische Studien« setzt die Ablegung von 59 Prüfungen und die Verteidigung einer Diplomarbeit vor einer Kommission voraus (insgesamt 240 Punkte). Die Fakultät beschäftigt 17 Dozent*innen und unterhält eine Reihe von Kooperationen mit einheimischen und ausländischen Universitäten, darunter STU, IFS Prishtina,

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FIS Sarajevo und die Universität Wien. Parallel dazu gibt es Bemühungen zur Zusammenarbeit mit weiteren Ländern, in denen Einrichtungen für islamische bzw. orientalistische Studien bestehen, insbesondere mit der Türkei und westlichen Staaten. Eine wichtige Aktivität der Fakultät, die entsprechende Anerkennung verdient, ist die Herausgabe der akademischen Zeitschrift Përmbledhje Punimesh, die bislang dreimal erschienen ist. Zieht man in Betracht, wie lange die Fakultät bereits besteht und um wie viel die Zahl der akademischen Mitarbeiter*innen seither gestiegen ist, wäre ein häufigeres Erscheinen durchaus wünschenswert. Das Interesse an einem Studium an der Fakultät scheint jedenfalls ungebrochen; so war die Zahl der Studierenden von 63 im Jahr 2010 im Jahr 2011 bereits auf 69 angewachsen, die meisten davon weiblich. Auch dies ist ein neuer Trend, dem Rechnung zu tragen ist. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Fakultät für Islamwissenschaften – Skopje auch ein Masterstudium in islamischer Religionspädagogik anbietet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Eröffnung der Fakultät für Islamwissenschaften der islamischen Bildung in Nordmazedonien und darüber hinaus ungeheuren Auftrieb gegeben hat, und es deutet alles darauf hin, dass dies so bleiben wird – dafür sprechen nicht zuletzt die zunehmende Anzahl von Immatrikulationswilligen und die Bemühungen der Fakultät um eine ständige Verbesserung der Lehrpläne.

2.1

Religionsunterricht an öffentlichen Schulen

Die Bevölkerung der Republik Nordmazedonien zeichnet sich durch große religiöse, kulturelle, sprachliche und ethnische Vielfalt aus. Wiewohl grundsätzlich als ein Gut, das es zu pflegen und zu fördern gilt, angesehen, erweist sich diese Gegebenheit oftmals als Quelle von Konflikten zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen. Ein gedeihliches interethnisches und interreligiöses Miteinander setzt vor allem wechselseitige Anerkennung sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher beziehungsweise ethnischer Ebene voraus – eine Ansicht, die von der Mehrheit der Bürger*innen geteilt werden dürfte, tritt sie doch ungeachtet aller Debatten über das Ob und Wie des Religionsunterrichts an weiterführenden Schulen für seinen Erhalt ein. Als Begründung werden insbesondere die Bewahrung des religiösen Erbes, aber auch der Wunsch nach Stärkung der gegenseitigen Toleranz und der Achtung von Menschenrechten angeführt. Die Unterweisung in religiösen Fächern wie »Ethik der Religionen«, »Einführung in die Religion« oder »Klassische Kultur der europäischen Zivilisation« zielt vor allem auf die Akzeptanz und Stärkung religiöser und demokratischer Werte in der Gesellschaft ab. Die Aufnahme dieser Fächer in den Lehrplan der

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Sekundarschulen der Republik Nordmazedonien stellte einen wichtigen Schritt zur Stärkung des Bewusstseins der Bürger*innen, insbesondere der jungen Generation, als zukünftige Mitglieder der Europäischen Union dar. Im Folgenden werden die legislativen Grundlagen, der Inhalt sowie die Art und Weise der Aufnahme dieser Fächer in das Bildungssystem erläutert. 2.1.1 Der lange Weg des islamischen Religionsunterrichts an die öffentlichen Schulen Der Lehrplan des Schuljahres 2002/2003 für das Fach »Religionswissenschaft« war eindeutig theologisch ausgerichtet, den Schwerpunkt bildete die sogenannte »Glaubenslehre«. Der Religionsunterricht wurde von Geistlichen erteilt, die Schüler*innen waren nach religiösem Bekenntnis in Gruppen eingeteilt. Diese Art der Umsetzung entspricht dem Wesen des Fachs »Religionswissenschaft« im engeren Sinn, das als solches der Auseinandersetzung mit religiösen Wahrheiten gilt, und dies in einer der religiösen Überzeugung gerecht werdenden Form (Koceva 2015, S. 137–141). a)

Aufhebung der Entscheidung über den Religionsunterricht durch das Verfassungsgericht Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts des Landes, wonach der Unterricht im Fach »Religionswissenschaft« aufgrund seines Inhalts als eine in einer staatlichen Einrichtung verfolgte religiöse Aktivität zu werten ist und damit gegen die verfassungsrechtliche Garantie der Religionsfreiheit verstößt, wurde es nach nur einem Jahr aus den öffentlichen Schulen verbannt (vgl. ebd.). b) Gesetz über den Religionsunterricht 2008/2009 Gemäß einer im Jahr 2007 vom mazedonischen Parlament verabschiedeten Novelle des Grundschulgesetzes waren Schüler*innen der fünften Schulstufe der öffentlichen Grundschulen verpflichtet, ab dem Schuljahr 2008/2009 zwischen den Fächern »Religionsunterricht« und »Geschichte der Religionen« zu wählen (BBC 2007). c) 2009 – Abschaffung des Religionsunterrichts durch das Verfassungsgericht Für das »Büro für Bildungsentwicklung« war die Abschaffung des Religionsunterrichts durch das Verfassungsgericht kein Grund, die Idee der Einführung des Religionsunterrichts in Schulen völlig aufzugeben. Vielmehr kündigte die Behörde einen Expert*innenwettbewerb zur Ausarbeitung eines Lehrplans zum Thema »Ethik der Religion« mit Schwerpunkt auf den ethischen Werten der Religionen an.

Islamische Bildung am Balkan

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d) 2010 – Inkrafttreten des neuen Gesetzes zum Religionsunterricht Am 1. September 2010 wurde der Religionsunterricht zusammen mit zwei anderen Fächern in den sechsten Klassen der Grundschulen als Wahlfach eingeführt (Mirascieva 2011, S. 1404–1409). Gemäß Artikel 26 des Gesetzes zur Grundschulbildung in der Republik Mazedonien wird der Religionsunterricht im Rahmen des Wahlfachs »Religiöse Ethik« erteilt, das darüber hinaus die Wahlfächer »Einführung in die Religionen« und »Klassische Kultur der europäischen Zivilisation« umfasst (Koceva 2015, S. 137–141). Gemäß Art. 25 Abs. 2 liegt der Organisation und Durchführung der Bildungsarbeit an Grundschulen der vom »Büro für Bildungsentwicklung« konzipierte und vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft genehmigte Lehrplan zugrunde (Abs. 3), der Pflicht- und Wahlfächer sowie Zusatz- und Ergänzungsunterricht umfasst. Die Einführung des Religionsunterrichts an öffentlichen Bildungseinrichtungen der Republik Nordmazedonien war von folgenden Fragen begleitet: a) »Ist die Säkularität des Staates gefährdet?« Nordmazedonien ist ein säkularer Staat. Die Trennung von Kirche und Staat bedeutet wechselseitige Unabhängigkeit und schließt die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der jeweils anderen Seite aus: Die Wahrnehmung staatlicher Angelegenheiten bedarf nicht der Billigung der Kirche und umgekehrt. Aber ist diese Trennung nicht dazu angetan, Ressentiments, Isolation, den Unwillen, gemeinsame Interessen und Handlungsansätze zu finden, zu fördern? Bei aller Eigenständigkeit und Nichteinmischung in die Arbeit der anderen Seite sind gesellschaftliche Organisationen mit Blick auf das Allgemeinwohl gezwungen, zusammenzuarbeiten. Kirche und islamische Gemeinschaft in Nordmazedonien sind vom Staat getrennt, nicht jedoch von der Gesellschaft (ebd.). b) Zur Zeit des Sozialismus/Kommunismus musste selbstverständlich auch die staatliche Bildung antireligiösen Charakter haben. Auch wenn heute davon keine Rede mehr sein kann, ist der Wiedereinzug der Religion in die Schulen – unter Wahrung des weltlichen Charakters der Bildung – mit hohem Kraftund Zeitaufwand verbunden. Dabei zeigt das Beispiel vieler europäischer Länder, dass der Religionsunterricht die säkulare Bildung in keiner Weise beeinträchtigt, sondern vielmehr deren Erfolg garantiert (ebd.). c) »Werden die Schüler*innen durch das neue Fach überfordert?« Neueren Erkenntnissen zufolge beginnt die Überforderung von Kindern bereits in der ersten Klasse – mit all den negativen Konsequenzen sowohl für das Lernen als auch für ihre allgemeine Entwicklung. Moderne Lehrpläne sind mit Lehrstoff überfrachtet, ungeachtet dessen, dass sich Pädagogik und Psychologie eindeutig für eine Kürzung, Umverteilung und Differenzierung von Lasten gemäß den Neigungen und Fähigkeiten der Schüler*innen aussprechen. Dennoch hat sich die religiöse Bildung als Teil des Lehrplans bewährt (ebd.).

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d) »Befördert Religionsunterricht an Schulen religiöse Toleranz und Pluralismus oder leistet er Intoleranz und interreligiösem Hass Vorschub?« (ebd.). Gerade im Hinblick auf diese Fragen orientiert sich die Gestaltung der religiösen Fächer an mazedonischen Grundschulen an demokratischen und religiösen Werten, wie die Aufnahme der zuvor genannten Fächer – »Einführung in die Religionen«, »Ethik der Religionen« und »Klassische Kultur der europäischen Zivilisation« – in die Lehrpläne der öffentlichen Schulen zeigt. Diesem Schritt lag auch das Bestreben der Regierung zugrunde, der jungen Generation jene Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die erforderlich sind, um sich in einer pluralistischen Zivilgesellschaft – zumal als künftige Bürger*innen der Europäischen Union – zu bewähren, und darüber hinaus die Stärkung und Bestätigung demokratischer und religiöser Werte in der Gesellschaft voranzutreiben. Im Fach »Ethik der Religionen«, das in der sechsten Schulstufe zwei Schulstunden pro Woche unterrichtet wird, sollen die Schüler*innen mit den Grundlagen der Ethik – im Wesentlichen Rechtschaffenheit und Moral – vertraut gemacht werden und anhand der elementaren Prinzipien der Ethik im Islam, im Christentum usw. lernen, dass es darum geht, sich anderen Religionen gegenüber menschlich und tolerant zu verhalten. Damit sollen Toleranz und Respekt für die in Mazedonien vertretenen Religionen und ebenso die Herausbildung der Fähigkeit zu Toleranz, zum Dialog und zur Zusammenarbeit mit anderen religiösen und ethnischen Gemeinschaften gefördert werden (Ramadani 2010, S. 111–112). Das Fach »Einführung in die Religionen« wird in der sechsten Schulstufe für zwei Unterrichtsstunden pro Woche bzw. insgesamt 72 Stunden pro Jahr unterrichtet. Hier sollen die Schüler*innen lernen, den Menschen als religiöses Wesen, als Homo religiosus, zu begreifen. Thematisiert werden monotheistische und andere Religionen der Neuzeit, die wesentlichen Elemente der Religionen, der respektvolle Umgang mit anderen Überzeugungen, Ursprung und Inhalt verschiedener Überzeugungen, die Fähigkeit zum Dialog mit Angehörigen anderer Religionen sowie die Bedeutung der Religion für die Sicherung des Friedens (Shotarovska 2010, S. 104–105). »Klassische Kultur in der europäischen Zivilisation« wird im sechsten Schuljahr zwei Stunden pro Woche unterrichtet. Dieses Fach will den Schüler*innen vor allem einen Einblick in die Sprachen, Traditionen und Überzeugungen, die Literatur, Kunst usw. Europas geben (Janjatova & Tomovska 2010).

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2.1.2 Maktab (konfessionelle Schule) Der Besuch einer maktab, in der Grundkenntnisse des Islams (ʿilm al-ha¯l) und ˙ Koranrezitation vermittelt werden, ist freiwillig. Hier macht sich seit der Einführung des Religionsunterrichts in Nordmazedonien ein Rückgang der Zahl der Interessent*innen bemerkbar.

3.

Islamische Erziehung und Bildung in Bosnien und Herzegowina

Das islamische Bildungssystem in Bosnien und Herzegowina ist neben dem mazedonischen eines der am besten organisierten und strukturierten religiösen Bildungssysteme in der Region. Die wichtigste – und als Einzige für die Verwaltung der islamischen Bildung in Bosnien und Herzegowina verantwortliche – Organisation ist die 1882 gegründete »Islamische Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina« (IGBH) zur Regulierung der Beziehungen zwischen Staat und muslimischer Gemeinschaft. Das islamische Bildungssystem in Bosnien und Herzegowina setzt sich zusammen aus: – Medresen, – Fakultäten, – öffentlichen Schulen, – maktab.

3.1

Medresen

In der osmanischen Ära gab es in Bosnien und Herzegowina 23 Medresen. Zu den angesehensten und bekanntesten gehörte die im Jahr 1537 von Gazi Husrev Beg gegründete Gazi-Husrev-Beg-Medrese. Diese Einrichtung ist seit damals kontinuierlich in Betrieb (Bristric 1988, S. 479). Als 1945 in Bosnien und Herzegowina die Kommunistische Partei an die Macht kam, war einer ihrer ersten Schritte die Schließung der Medresen und der Hochschule für Islamische Theologie und Scharia. Nur eine einzige islamische Bildungseinrichtung durfte während dieser Zeit ihre Tore offen halten – und dies war die Gazi-Husrev-Beg-Medrese. Die Islamische Gemeinschaft von Bosnien und Herzegowina (IGBH) verwaltet sechs Medresen: 1) die eben erwähnte, 1537 in Sarajevo gegründete und einzige ohne Unterbrechung betriebene Gazi-Husrev-Beg-Medrese; 2) die 1626 in Tuzla gegründete und 1993 wiedereröffnete Bahram-Bey-Medrese;

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3) die 1706 in Travnik gegründete und 1993 wiedereröffnete Elcˇi-Ibrahim-PasˇaMedrese; 4) die 1992 in Visoko gegründete Osman-Efendi-Redzˇovic´-Medrese; 5) die 1993 in Cazin gegründete Dzˇemaluddin-Efendi-Cˇausˇevic´-Medrese; 6) die 1557 in Mostar gegründete und 1995 wiedereröffnete Karad¯oz-BeyMedrese. Medresen sind hochrangige religiöse Sekundarschulen, die den Schüler*innen die Möglichkeit bieten, nach der zweiten Klasse zwischen fünf Studienfächern zu wählen: I. Islam, II. Philologie, III. Sozialwissenschaften, IV. Mathematik und Naturwissenschaften, V. interdisziplinäre Fächerkombination. Im Jahr 2004 wurde die Medrese-Ausbildung mehreren Reformen unterzogen, mit der Folge, dass die offiziellen Medresen ihre Programme zur Ausbildung für den Beruf des Imams, des hat¯ıb (Prediger) und des muʿallim (Lehrer) einstellten. ˘ ˙ Darüber hinaus wurde der Umfang der an den Medresen gelehrten traditionellen islamischen Disziplinen zugunsten nichtreligiöser Lehrangebote reduziert, was zum Anlass heftiger öffentlicher Debatten wurde.

3.2

Islamische Hochschulen

In Sachen islamische Hochschulbildung blickt Bosnien und Herzegowina auf eine weithin geachtete Tradition zurück. Zu den frühen Einrichtungen für die höhere islamische Bildung zählten insbesondere: – die 1879 und 1893 zwecks Ausbildung von Religionslehrkräften und muʿallimı¯n in der maktab gegründete Da¯r al-muʿallimı¯n; – die 1887 gegründete und 1935 in eine höhere Schule für islamische Theologie und Scharia umgewandelte »Schule der Scharia«. Diese wurde 1946, nach der Abschaffung der Scharia im sozialistischen Jugoslawien, geschlossen. Seit Kurzem betreibt die IGBH drei Hochschuleinrichtungen: a) Fakultät für Islamwissenschaft in Sarajevo Die Fakultät wurde 1977 gegründet und ist seit 2014 Teil der Universität Sarajevo. Sie bietet Bachelor-, Master- und PhD-Abschlüsse an, die Hauptstudiengänge sind:

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I. Islamische Theologie (usu¯l ad-dı¯n) (acht Semester); ˙ II. Religionspädagogik (al-tarbiyya al-dı¯niyya) (acht Semester; seit 1992); III. Ausbildung zum Imam, hat¯ıb (Prediger) und muʿallim (Lehrer) (sechs Se˘ ˙ mester; seit 2006); IV. ein spezielles außerordentliches Studienprogramm mit dem Titel »Diploma in Islamic Studies« in bosnischer und englischer Sprache. Die Anzahl der Inskribierten beläuft sich pro Semester auf etwa 300 Vollzeitund 500 Teilzeitstudent*innen. Bisher haben etwa 580 Bachelor-Student*innen, 25 Master- und 15 PhD-Student*innen ihren Abschluss gemacht. Derzeit beschäftigt die Fakultät rund 40 Lehrkräfte (darunter 17 Doktorand*innen und zehn Lehrkräfte mit Masterabschluss) (Idriz 2017, S. 185–197). b) Islamische Pädagogische Fakultät in Zenica Die 1993 ins Leben gerufene Islamische Pädagogische Fakultät bietet einen viersemestrigen Studiengang zur Ausbildung von Lehrkräften für den islamischen Religionsunterricht. Die Einrichtung wurde 2004 in eine Fakultät umgewandelt und in die Universität von Zenica integriert. Die Fakultät offeriert folgende Studiengänge: I. Sozialpädagogik (2005), II. Vorschullehrer*innenausbildung (2008), III. arabische Sprache und Literatur (2012). Die Studienprogramme werden sowohl auf Bachelor- als auch auf Master-Ebene angeboten. Darüber hinaus ist die Fakultät berechtigt, ein Doktorand*innenprogramm für zeitgenössische islamische Bildungstheorie zu organisieren (Idriz 2017, S. 185–197). c) Islamische Pädagogische Fakultät in Bihac´ Die 1996 gegründete Islamische Pädagogische Fakultät, ein Gründungsmitglied der Universität von Bihac´, bietet zwei Studiengänge an: I. Islamischer Religionsunterricht (sechs Semester auf Bachelor- und zwei Semester auf Master-Niveau); II. ein Bachelor-Programm in Sozialpädagogik und spiritueller Begleitung (acht Semester), dem es allerdings noch an Ausgereiftheit und Kontur fehlt. Zur Bewältigung des Unterrichts wird großteils auf externe Dozent*innen zurückgegriffen (Idriz 2017, S. 185–197).

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d) Internationales islamisches Universitätsprojekt Pläne zur Errichtung einer internationalen islamischen Universität in Bosnien und Herzegowina unter Einbezug der Fakultät für Islamwissenschaft und der Gazi-Husrev-Beg-Bibliothek haben sich bisher nicht verwirklicht.

3.3

Religionsunterricht an öffentlichen Schulen

1994 wurde auf Beschluss des Bildungsministeriums an Grund- und weiterführenden Schulen der Religionsunterricht als Wahlfach eingeführt. Die Phase der Einführung des Fachs an öffentlichen Schulen war von hitzigen Bürger*innendebatten begleitet, in deren Mittelpunkt vor allem zwei Fragen standen: – Verursacht Religionsunterricht religiöse Spaltungen zwischen den Schüler*innen? – Kann der Religionsunterricht zur Sensibilisierung junger Menschen für den interreligiösen Dialog beitragen? Für die neu eingeführten Fächer gilt, dass sie, sobald gewählt, zu Pflichtfächern werden. Das heißt, dass sie benotet und pro Woche ein oder zwei Stunden in allen Klassen der Grundschule und eine Stunde in den ersten beiden Klassen der Sekundarstufe unterrichtet werden (Idriz 2017, S. 185–197). 2012 wurde in Brcˇko der erste offizielle Kindergarten der IGBH eröffnet (Idriz 2017, S. 185–197).

3.4

Maktab (konfessionelle Schule)

Der Besuch einer maktab beruht auf Freiwilligkeit; gemäß den bildungspolitischen Vorstellungen der IGBH sollte deren Hauptaugenmerk dem praktischen Islamunterricht gelten, der Religionsunterricht hingegen sollte sich auf theoretische Fragen konzentrieren (Idriz 2017, S. 185–197).

4.

Islamische Erziehung und Bildung in Montenegro

Die Mehmed-Fatih-Medrese in Podgorica gilt als ein Grundpfeiler der islamischen Bildung und Erziehung in Montenegro; sie besteht aus einem 2008 gegründeten Zweig für männliche und einem 2014 eröffneten Zweig für weibliche Studierende. Zweigstellen der Medrese für Studentinnen gibt es darüber hinaus in Rozˇaje und Ulcinj. Ihr Lehrplan setzt sich aus religiösen und nichtreligiösen Fächern zusammen. Die Aktivitäten der ebenfalls in Rozˇaje angesiedelten Zweigstelle für weibliche Studierende der von der Islamischen Gemeinschaft

Islamische Bildung am Balkan

1135

Serbiens in Novi Pazar betriebenen Madrasa sind innerhalb der Islamischen Gemeinschaft in Montenegro (IGM) nicht unumstritten (Pacariz 2019, S. 474). Die Diplome der Mehmed-Fatih-Medrese werden von der einzigen staatlichen Universität des Landes, der Universität Montenegro, anerkannt, wobei der Prozess der Akkreditierung der Medrese noch im Laufen ist. Ein Teil der Absolvent*innen setzt die Ausbildung in verschiedenen Disziplinen an Universitäten in anderen Balkanländern fort (Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809–824). Was die Durchführung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen in Montenegro betrifft, so sieht Artikel 14 der montenegrinischen Verfassung, in der die Trennung von Staat und Religion verankert ist, vor, dass die islamische religiöse Bildung in den Händen der IGM und der muslimischen NGOs liegt (siehe ebd.). Traditionelle Maktab-Einrichtungen und Kurse, deren Besuch freiwillig ist, stoßen bei der muslimischen Gemeinde von Montenegro auf regen Zuspruch (Pacariz 2019, S. 474).

5.

Islamische Erziehung und Bildung in Serbien

In Serbien obliegt die Regelung der Beziehungen zwischen der muslimischen Gemeinde und dem Staat zwei Institutionen: – der Islamischen Gemeinschaft Serbiens (IGS) mit Sitz in Belgrad, – der Islamischen Gemeinschaft in Serbien (IGiS) mit Sitz in Novi Pazar. Die Teilung der islamischen Institutionen hatte zur Folge, dass in Serbien im Bereich der religiösen Erziehung nunmehr Parallelstrukturen bestehen – die IGS mit Sitz in Belgrad verwaltet die Nahla-Vorschule, die Sinan-Bey-Medrese in Novi Pazar und die Bakija-Hanuma-Medrese für Frauen in Prijepoje sowie die Fakultät für Islamwissenschaft in Belgrad. Die IGiS mit Sitz in Novi Pazar wiederum betreibt die Vorschule und die Maktab-Einrichtungen Wildan und Rauda, die Gazi-Isa Bey-Medrese in Novi Pazar und die Fakultät für Islamwissenschaft in Novi Pazar (Kostic 2019, S. 592). 2001 an öffentlichen Schulen als Wahlfach eingeführt, ist der islamische Religionsunterricht heute ein Wahlpflichtfach, das, vorausgesetzt, dass sich mindestens sieben Interessent*innen finden, einmal pro Woche in allen Schulstufen angeboten wird (siehe Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809–824).

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6.

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Islamische Erziehung und Bildung in Kroatien

In Kroatien wird Islamunterricht an dem in Zagreb angesiedelten, nach dem islamischen Theologen und Universitätsprofessor Dr. Ahmed Smajlovic´ benannten, privaten islamischen Gymnasium erteilt. Der Unterricht findet in kroatischer Sprache statt. 1992 als Medrese gegründet, wurde die Einrichtung im Jahr 2000 von der kroatischen Regierung als Privatschule anerkannt. Die Umwandlung der Medrese in eine allgemeine höhere islamische Schule (islamisches Gymnasium) erfolgte im Jahr 2006; der Lehrplan der Schule steht im Einklang mit dem Lehrplan der öffentlichen höheren Schule Kroatiens. Auch in Kroatien gab es Pläne zur Einrichtung einer Fakultät für Islamwissenschaft, die jedoch bisher nicht umgesetzt wurden (Alibasˇic´ 2010, S. 630; siehe Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809–824). 2008 eröffnete die Islamische Gemeinschaft Kroatiens in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung von Zagreb den ersten islamischen Kindergarten in Kroatien, der den Namen Jasmin trägt (Mujadzˇevic´ 2013). Nach kroatischem Recht steht es den Angehörigen des islamischen Glaubens frei, Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zu organisieren, wenn sich an der Schule eine Mindestanzahl von sieben muslimischen Schüler*innen findet (siehe Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809–824; Hevesevic 2020, S. 167). 2018 wurde das Institut für arabische Sprache und Islam eröffnet; die arabische Sprache soll auch an der Fakultät für Philosophie und Religionswissenschaft der Universität Zagreb als Wahlfach eingeführt werden (Hevesevic 2020, S. 167).

7.

Islamische Erziehung und Bildung im Kosovo

Im Kosovo findet islamische Erziehung und Bildung in Medresen, an der Fakultät für Islamwissenschaften, den Hifz-Instituten und an Gymnasien statt. Ihre ˙ ˙ Hauptsäule ist die Alauddin-Medrese, die 1949 gegründet wurde und 1952 mit weiteren Niederlassungen in Prizren und Gjilan ihren Betrieb aufnahm. Darüber hinaus befindet sich in der Hauptstadt des Kosovo die 1992 gegründete Fakultät für Islamwissenschaft, an der albanische Student*innen, unter anderem aus dem Kosovo, Albanien, Serbien, Nordmazedonien und Montenegro unterrichtet werden. Neben den genannten Bildungseinrichtungen erfüllen die Hifz-Institute in ˙ ˙ Gjakova und Prizren die religiösen Bildungsbedürfnisse der muslimischen Gemeinschaft. All diese Institutionen unterliegen der Gerichtsbarkeit der Islamischen Gemeinschaft des Kosovo (IGK) (siehe Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809–824). Die Alauddin-Medrese war während des kommunistischen Regimes die einzige islamische Schule mit albanischer Unterrichtssprache. Heute kombiniert der

Islamische Bildung am Balkan

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Lehrplan der Medrese religiöse und nichtreligiöse Fächer, das Diplom wird vom kosovarischen Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Technologie anerkannt, das auch die Besoldung der Mitarbeiter*innen übernimmt (siehe Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809–824). Daneben ist das Hasan-Nahi-Gymnasium in Prishtina zu erwähnen, eine 2013 gegründete Privatschule, die von der GülenBewegung betrieben wird. Diese Schule gilt ebenfalls als Teil des islamischen Bildungssystems im Kosovo (Rasimi 2020, S. 386). Die Fakultät für Islamwissenschaft in Pristina ist die erste Einrichtung für islamische Hochschulbildung auf dem Balkan, an der der Unterricht in albanischer Sprache erteilt wird. 2012 wurde die Fakultät für Islamwissenschaft in Pristina für drei Jahre akkreditiert, die Fakultät bietet ein vierjähriges Bachelorund Masterprogramm in islamischer Theologie an (Alibasˇic´ 2010, S. 625).

7.1

Religionsunterricht an öffentlichen Schulen im Kosovo

Gemäß dem Gesetz und der neuen Verfassung des Kosovo ist der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen untersagt (siehe Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809– 824).

7.2

Maktab (konfessionelle Schule)

Maktab-Einrichtungen sind ein wesentlicher Bestandteil der Moscheen im Kosovo und spielen eine Schlüsselrolle bei der Unterweisung von Kindern und Erwachsenen in den Grundlagen des Islams wie ʿilm al-ha¯l, dem Lesen des Ko˙ rans usw.

8.

Islamische Erziehung und Bildung in Albanien

Nach dem Fall des Kommunismus wurde Albanien zu einem der jüngsten demokratischen Staaten Europas. Anfang der 1990er-Jahre gelang es, ein neues demokratisches System und eine neue Gesellschaft zu schaffen, in der die Religions- und Glaubensfreiheit zu einer der obersten Prioritäten der neuen politischen Eliten zählte; schließlich musste man – als Nebenwirkung des kommunistischen Regimes – miterleben, wie sie vom Regime ignoriert und bekämpft wurde. Die wichtigsten Orte und Institutionen der islamischen Bildung und des islamischen Lernens in Albanien sind Medresen, Hochschuleinrichtungen und NGOs mit unterschiedlichen ideologischen und finanziellen Hintergründen.

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Muhamed Ali

Derzeit betreibt die Muslimische Gemeinschaft Albaniens (MGA) sieben Medresen: I. Hafiz-Mahmud-Dashi-Medrese in Tirana, II. Hafiz-Sheh-Shamia-Medrese in Shkodër, III. Mustafa-Varoshi-Medrese in Durrës, IV. Hafiz-Ali-Korça-Medrese in Kavajë, V. Elbasan-Liria-Medrese in Cërrik, VI. Vexhi-Buharaja-Medrese in Berat, VII. Abdullah-Zemblaku-Medrese in Korçë (siehe Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809– 824; Jazexhi 2018, S. 33). Der Lehrplan der Medresen kombiniert religiöse mit natur- und sozialwissenschaftlichen Fächern (siehe Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809–824). Bis 2003 wurden die meisten Medresen der MGA von arabischen NGOs gesponsert und betrieben. Mittlerweile arbeiten türkische Organisationen (insbesondere der FethullahGülen-Bewegung, die fünf von sieben Medresen betreibt) mit muslimischen Bildungs- und Lerninstitutionen in Albanien in Sachen Finanzen, Infrastruktur und Humanressourcen, zusammen (siehe Hadzˇiomerovic´ 2018, S. 809–824). Seit 2011 betreibt die MGA auch die Universität Beder, deren Organisation größtenteils von den Lehren der türkischen Gülen-Bewegung inspiriert ist. Obwohl sie nicht als theologische Universität gilt, unterhält die Universität eine Abteilung für Islamwissenschaften, die Bachelor-Studiengänge in Islamwissenschaften und Master-Studiengänge in modernen Islamwissenschaften oder islamischen Grundwissenschaften anbietet (Jazexhi 2018, S. 33). Neben dem Unterricht in den Medresen und Hochschuleinrichtungen organisieren muslimische NGOs in Albanien verschiedene Aktivitäten, um das islamische Wissen unter albanischen Muslim*innen zu verbreiten. Ihre Kurse finden in Moscheen oder in verschiedenen Zentren statt (Jazexhi 2018, S. 33).

Fazit Die Gesellschaften der Balkanregion sind durch große kulturelle, sprachliche, religiöse und ethnische Vielfalt gekennzeichnet. Und auch wenn sie als ein zu pflegendes und zu bewahrendes Gut gilt, erweist sich diese Gegebenheit bisweilen als Quelle von Konflikten zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen. Dabei gilt der Religionsunterricht als eine der wichtigsten Säulen des allgemeinen Bildungswesens, dessen Ziel es ist, der jungen Generation Werte wie Multikulturalismus, Achtung der anderen, Redefreiheit, Toleranz usw. nahezubringen.

Islamische Bildung am Balkan

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Im 20. Jahrhundert spielte die islamische Erziehung in der Balkanregion eine wichtige Rolle bei der Bewahrung der traditionellen islamischen Werte und der Förderung des Dialogs zwischen den Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen religiösen, kulturellen und ethnischen Hintergründen. Während sich die islamische Erziehung im 20. Jahrhundert auf Bildungsinstrumente wie Medresen und Maktab-Einrichtungen zur Förderung des islamischen Wissens stützte, waren es im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem die neu errichteten Institutionen zur höheren islamischen Bildung. Die jüngste Zeit war vor allem durch die Einführung neuer religiöser Fächer an öffentlichen Schulen gekennzeichnet, die zur Stärkung und Bestätigung religiöser und demokratischer Werte in den Gesellschaften dieser Region führen sollen. Die Aufnahme religiöser Fächer in den Lehrplan der öffentlichen Schulen stellte einen wichtigen Schritt in Richtung Stärkung des religiösen Selbstbewusstseins vor allem der jungen Generationen – als zukünftige Bürger*innen der vielsprachigen und multireligiösen Europäischen Union – dar. Die traditionellen islamischen Bildungs- und Lerninstitutionen der Balkanregion im Allgemeinen und in Bosnien und Herzegowina sowie Nordmazedonien im Besonderen können durchaus als Vorbild für die islamische Bildung in anderen Teilen Europas gelten. Schließlich spielte und spielt der islamische Religionsunterricht auf dem Balkan eine Schlüsselrolle bei der Eindämmung der negativen Einflüsse ausländischer Ideologien und religiöser Bewegungen auf das traditionelle islamische Modell und das Leben in dieser Region.

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Yahia Baiza

Islamische Erziehung in Afghanistan

Zusammenfassung Die islamische Erziehung in Afghanistan ist Gegenstand eines heftigen Kampfs um Einfluss zwischen mehreren Machtinstanzen. Jede dieser Instanzen handelt im Namen einer bestimmten, historisch entwickelten Ansicht und bemüht sich, die Praxis der islamischen Erziehung auf jene Weise zu beeinflussen, die für sie wünschenswert ist. Die Opfer dieses Kampfes sind Schüler*innen und Student*innen, welche eigentlich das Ziel der Bildung sind und sein sollten. In Anbetracht dessen wird in diesem Beitrag nach originalen Quellen gesucht, um die Entwicklung der islamischen Erziehung in Afghanistan vom frühen 20. Jahrhundert bis heute zu analysieren. Dieser Beitrag befasst sich mit einer übergreifenden Frage, nämlich damit, wie sich die islamische Erziehung in Afghanistan seit dem frühen 20. Jahrhundert entwickelt hat. Diese Frage umfasst Entwicklungen, Herausforderungen sowie die Beziehungen zwischen verschiedenen Machtinstanzen und die Art und Weise, wie sich ihre Verhaltensweisen zueinander auf die islamischen Erziehungseinrichtungen auswirken. Die Frage wird durch eine erkenntnistheoretische Untersuchung dessen beantwortet, wie die staatlichen islamischen Erziehungseinrichtungen in Afghanistan die islamische Erziehung lehren und verbreiten. Diese Frage definiert den Umfang der Studie, die erstens auf die Untersuchung staatlicher islamischer Institutionen und zweitens auf die staatlich geförderte sunnitisch-hanafitische Ausbildung beschränkt ist, da sunnı¯ hanafı¯ seit jeher die offizielle madhab (Rechtsschule) des ¯ ˙ Staates war. Drittens wird dieser Beitrag, da die Ursprungsfrage Bildungsprogramme und -aktivitäten umfasst, auch den Bildungsinhalten (Lehrplan) und Verwaltungsinhalten (Organisation, Management und Struktur) der islamischen Erziehung auf Grund-, Sekundar- und höheren Ebenen besondere Aufmerksamkeit widmen und auf die Art und Weise fokussieren, wie verschiedene Reformen die islamische Erziehung im Laufe eines Jahrhunderts geformt haben.

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1.

Yahia Baiza

Einleitung

Afghanistan hat eine lange Geschichte und Tradition hinsichtlich der öffentlichen und privaten Bildung. Traditionell dienten buddhistische, zoroastrische und hinduistische Tempel sowie Moscheen und mada¯ris seit Jahrtausenden als Bildungszentren. Die Moschee- und Madrasa-Erziehung, welche sich auf die jüngste Geschichte der islamischen Erziehung konzentriert, hat seit dem frühen 20. Jahrhundert ihre Vorherrschaft verloren. Verschiedene gesellschaftspolitische Ereignisse im Laufe der vergangenen Jahrhunderte spielten eine zentrale Rolle im Niedergang des Religionsunterrichts im Allgemeinen und des Islamunterrichts im Besonderen. Bevor auf die Diskussion über den Stand der islamischen Erziehung in Afghanistan eingegangen wird, erfolgt in diesem Teil zunächst eine kurze Analyse der Herstellung einer neuen politischen Ordnung im modernen Europa und des anschließenden Niedergangs des Religionsunterrichts. Danach werden die Ausbreitung dieses neuen Gemeinwesens durch den europäischen Kolonialismus und seine Auswirkungen auf die islamische Erziehung in Britisch-Indien sowie dessen anschließender Einfluss auf die islamische Erziehung in Afghanistan näher betrachtet. Der Aufstieg eines neuen europäischen Staates und die neue globale politische Ordnung haben ihre Wurzeln in den Religionskriegen Europas im 16. und 17. Jahrhundert. Diese Kriege führten zum Niedergang der politischen und sozialen Vorherrschaft der Religion sowie des Religionsunterrichts in Europa. Martin Luthers Veröffentlichung der 95 Thesen im Jahr 1517 (Luther 1965) wurde zum Ausgangspunkt einer Reihe von Religionskriegen in Europa, welche beinahe 150 Jahre lang andauerten. Diese Kriege zwischen der protestantischen und der katholischen Kirche, die als »Reformation« oder »protestantische Reformation« und »Gegenreformation« bekannt wurden, breiteten sich über weite Teile Mittelund Nordeuropas aus. Unabhängig davon, ob Religion der tatsächliche Grund für diese Kämpfe war oder ob sie einfach ein politisches Instrument in den Händen politischer Dynastien und religiöser Kreise wurde, war das Ergebnis eine negative Wahrnehmung und Vorstellung von Religion in Europa. Wie Cathal J. Nolan feststellt, entstand nach den Religionskriegen in Europa eine neue Art von Gemeinwesen: der Nationalstaat. Dieser verdrängte die Idee vom Willen Gottes durch Ideen des Absolutismus und des Willens und der Souveränität der Monarchen. Im Laufe der Zeit verbreitete sich die Idee des Nationalstaates auf der ganzen Welt und verdrängte religiöse Politiken zugunsten des modernen Staates (Nolan 2006, S. xlvii–xlviii). Die neue politische Ordnung trennte die Kirche vom Staat und drängte die Religion in den privaten Bereich. Die muslimischen Länder gerieten unter europäische Herrschaft, während die Trennung von Kirche und Staat bereits geregelt war und der Nationalstaat eine feste Position in Europa innehatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Europa auch ein

Islamische Erziehung in Afghanistan

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hohes Maß an politischer, wirtschaftlicher und militärischer Raffinesse erreicht, auf welche muslimische Länder keine passende Antwort hatten. Obwohl Afghanistan nicht kolonialisiert wurde, konnte sich das Land den Auswirkungen der britischen Kolonialherrschaft in Indien nicht entziehen. Großbritannien und Afghanistan entwickelten enge Verbindungen in den Bereichen Politik, Militär, Wirtschaft und Bildung. In den Jahren 1838, 1879 und 1919 unternahm Großbritannien drei erfolglose Versuche, Afghanistan zu kolonisieren, welche als anglo-afghanische Kriege bezeichnet wurden. Diese Kriege führten sowohl zu einer engen Bindung und Zusammenarbeit als auch zu einem starken Misstrauen zwischen den beiden Nationen, was sich unter anderem auch in den Bereichen Allgemeinbildung und besonders in der islamischen Erziehung widerspiegelt. Indien wurde für Afghanistan zum Tor zur modernen europäischen Politik, zum Denken und zur Kultur Europas. In Indien übernahm die DeobandiʿUlama¯ʾ die Führung in der islamischen Erziehung, und die konservativeʿulama¯ʾ in Afghanistan folgte der Deobandi-Initiative. Bevor der Einfluss der Deobandis auf die islamische Erziehung in Afghanistan jedoch näher behandelt wird, ist kurz auf die Entstehung der Deobandi-ʿUlama¯ʾ in Indien einzugehen. Während des gesamten 19. Jahrhunderts befanden sich die mada¯ris in Britisch-Indien im Niedergang. Nach dem erfolglosen antibritischen Aufstand im Jahre 1857 befürchteten die indisch-muslimischen Eliten eine weitere Marginalisierung der Muslim*innen in staatlichen Institutionen und eine abnehmende Bedeutung islamischer Erziehungsvorstellungen, Werte und Lebensweisen unter dem Einfluss der politischen Dominanz Großbritanniens und der zunehmenden Aktivitäten christlicher Missionar*innen. Inmitten dieses allmählichen und kontinuierlichen Kraftverlusts in Politik, Wirtschaft und Bildung gründete eine Gruppe indischer Elite-Religionsgelehrter unter der Leitung von Muhammad ˙ Qa¯sim Nanautavi (1833–1879) am 30. Mai 1866 eine madrasa (Darul Uloom Deoband 2019; Tayyeb 2003, S. 28) im Distrikt Saharanpur im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Die Schule entwickelte sich zu einer Stätte der höheren Bildung, bevor sie zur da¯r al-ʿulu¯m und einer Universität für Islamwissenschaften und Gnosis wurde (Tayyeb 2003, S. 8). Der Unterricht der da¯r al-ʿulu¯m konzentrierte sich auf die Erhaltung der islamischen Erziehung, Kultur und Bildung durch neue Generationen von islamischen Gelehrten und Führern, welche sich außerhalb der von Großbritannien geführten Bildungs- und Rechtsinstitutionen für den Religionsunterricht und die spirituellen sowie rechtlichen Bedürfnisse der muslimischen Gemeinschaften einsetzen würden. Angesichts der Tatsache, dass Nanautavi, wie Barbara Metcalf schreibt, Mitglied des antibritischen Aufstands von 1857 (1978, S. 116) war, muss die Befreiung muslimischer Länder vom europäischen Kolonialismus ein integriertes Ziel der Deobandi-Mission gewesen sein.

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Die Deobandi-Da¯r-al-ʿulu¯m verabschiedete einen konservativen, traditionellen Lehrplan mit moderner europäischer Verwaltungsbürokratie. Sie repräsentierte nicht mehr das traditionelle Madrasa-System wie die berühmte Farangı¯ Mahall Madrasa in Lucknow, bei dem die Ausbildung in den Privathäusern ˙ der Gelehrten stattfand. Nach dem erfolgreichen Abschluss erhielten die Student*innen eine Bescheinigung, ein Dokument (sanad), wonach sie einen anderen Master beginnen oder nach Hause zurückkehren konnten (ebd., S. 112). Sanad war eine Lizenz (ig˘a¯za oder g˘awa¯z), welche dazu befähigte, das Wissen aus den Büchern an andere Student*innen weiterzugeben. Der Erwerb einer solchen Lizenz war wichtig, insbesondere in Fragen zu Hadith und Rechtsprechung, da die Madrasa-Absolvent*innen ohne Kenntnisse über die Hadithe nicht öffentlich unterrichten oder zitieren und Rechtsgutachten abgeben durften. Im Gegensatz zur Farangı¯ Mahall in traditionellem Stil, fügt Barbara Metcalf hinzu, habe die ˙ Deobandi-Da¯r-al-ʿulu¯m ihr Verwaltungssystem nach dem britischen bürokratischen Modell entworfen. Die Verwaltungsstruktur umfasste drei Hauptbüros: sarparast (Rektor), muhtamim (Kanzler) und sadr mudaris (Schulleiter). Ihr ˙ ˙ Lehrplan beinhaltete jedoch keine modernen europäischen Wissenschaften oder Fächer. Deobandi-Absolvent*innen aus Afghanistan kehrten nach Hause zurück und führten den gemischten konservativen Lehrplan und den modernen bürokratischen Stil in die sunnitisch-islamischen Erziehungseinrichtungen Afghanistans ein. Die afghanische Staatspolitik am Ende des 19. und frühen 20. Jahrhunderts begünstigte jedoch keine islamischen Erziehungseinrichtungen mehr. Amı¯r ʿAbd al-Rahma¯n (reg. 1880–1901) zeigte wenig Interesse für religiöse Einrichtungen ˙ und ignorierte die Bildung im Allgemeinen beinahe zur Gänze. Er ließ einige mada¯ris erbauen, welche an Moscheen in Kabul angeschlossen waren (Ghobar 1989, S. 650). Diese lehrten keine philosophischen und naturwissenschaftlichen Fächer, da erwartet wurde, dass die Schüler in diesen Fächer von Privatlehrern unterwiesen wurden (Karimi 1938, S. 395f.). Er eröffnete einige Zentren für das Auswendiglernen des Korans, deren Lehrplan die Rezitation des Korans, einige Lehren zu moralischen Fragen aus der persischen Literatur und Grundsätze des Islams umfasste. Auch diese waren lediglich auf die Eliten beschränkt. Amı¯r Habı¯bu-lla¯h-Ha¯n (reg. 1901–1919) trat 1901 die Nachfolge seines Vaters Amı¯r ˙ ˘ ʿAbdu-r-Rahma¯n-Ha¯n an. Er war fasziniert von der modernen europäischen ˙ ˘ Kultur, Bildung und Technologien wie Kameras, Druckmaschinen, Telefon, Telegrafen und Autos. Sein Interesse an europäischer Bildung führte 1903 zur Gründung der ersten Jungenschule, welche er nach sich selbst benannte: die »Schule von Habibia« (Baiza 2013). Er empfand moderne Bildung als eine Form moderner Technologie, als Symbol der modernen europäischen Zivilisation und als Mechanismus für Fortschritt und Wohlstand.

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Amı¯r Habı¯bu-lla¯h-Ha¯n interessierte sich, wie auch sein Vater, nicht beson˙ ˘ ders für die Religion und den Religionsunterricht. Er war als »Frauenheld-Amı¯r« bekannt und als Weinliebhaber, mit einer großen Leidenschaft für die Jagd – wenig verwunderlich also, dass sich sein Interesse für religiöse Praktiken in Grenzen hielt. Nach der Gründung der »Schule von Habibia« musste er jedoch seine Beziehung zur religiösen Lobby stärken. Der Amı¯r eröffnete elf mada¯ris, eine in jeder Verwaltungseinheit des Landes, und gründete die »Vereinigung der Auswendiglerner des Korans«, um die Zentren für das Auswendiglernen des Korans zu überwachen, die als da¯r al-huffa¯z bekannt sind. Die Vereinigung stand ˙ ˙ unter der Schirmherrschaft der Abteilung für mada¯ris am Informationsgericht und markierte den Beginn einer organisierten, staatlich geförderten islamischen Erziehung, die sich später zu einer primären (da¯r al-huffa¯z), einer sekundären ˙ ˙ (madrasa) und einer höheren (da¯r al-ʿulu¯m) Bildungsschule entwickelte.

2.

¯ r al-huffa ¯z Primäre islamische Erziehung: da ˙ ˙

Staatlich geförderte islamische Grundschulbildung findet in der da¯r al-huffa¯z ˙ ˙ statt. Der Begriff setzt sich aus den zwei Wörtern da¯r, welches »Haus« oder »Ort« bedeutet, und huffa¯z (Sg. ha¯fiz), was »Auswendiglerner« bedeutet, zusammen. ˙ ˙ ˙ ˙ Die Bezeichnung ha¯fiz ist traditionell einer Person vorbehalten, die den ge˙ ˙ samten Koran auswendig gelernt hat, was in der islamischen Tradition eine große Ehre ist. Als Beispiel zu nennen ist Sˇams ad-Dı¯n Mohammad Ha¯fez-e Sˇ¯ıra¯zı¯ (gest. ˙ ˙ ˙ 1390), einer der berühmtesten mystischen Dichter in persischer Sprache, besser bekannt unter seinem Beinamen Ha¯fiz, welcher auf sein Auswendigkönnen des ˙ ˙ ˙ azal-VersKorans verweist. Seine berühmte Gedichtsammlung, die er in der G ˙ azaliya¯t-e ha¯fiz bekannt. In der da¯r al-huffa¯z ist form komponierte, ist auch als G ˙ ˙ ˙ ˙ das Erlernen des Korans das Hauptziel. Wie bereits erwähnt, gründete Amı¯r Habı¯bu-lla¯h-Ha¯n 1912 die »Vereinigung der Auswendiglerner des Korans«, um ˙ ˘ die Bildungsprogramme der da¯r al-huffa¯z zu überwachen, einschließlich der ˙ ˙ Registrierung, Aufnahme, Prüfung und Zuteilung eines bestimmten Betrags eines monatlichen Stipendiums für diejenigen, die ihre Prüfungen erfolgreich bestanden hatten (Mı¯rza¯ Muhammad Yu¯suf 1912, S. 3–4). Alle Da¯r-al-huffa¯z˙ ˙ ˙ Einrichtungen folgen einem zentral gestalteten Lehrplan und Verwaltungssystem. Wie in Tabelle 1 dargestellt, gab es 1973 zehn Da¯r-al-huffa¯z-Schulen – eine in ˙ ˙ Kabul und neun in den Provinzen.

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Nr. Name Provinz Jahr Madrasa-Zugehörigkeit 1 Bayt al-Qira¯ʾat Kabul 1912 Madrasa-ye Da¯r al-Saltanah ˙ 2 Da¯r al-huffa¯z Hera¯t Herat 1939 Fahr al-Mada¯ris ˙ ˙ ˘ 3 Da¯r al-huffa¯z Andhu¯¯ı Andchoi 1940 Madrasa-ye Abu¯ Muslim ˙ ˙ ˘ 4 Da¯r al-huffa¯z Maı¯manah Maimana 1943 Madrasa-ye Abu¯ Muslim ˙ ˙ 5 Da¯r al-huffa¯z Ku¯t Lu¯¯ı Sˇ¯ınwa¯r Nangarhar 1973 Nag˘m al-Mada¯ris ˙ ˙ 6 Da¯r al-huffa¯z Hadah Nangarhar 1973 Madrasa-ye Hadah ˙ ˙ 7 Da¯r al-huffa¯z Muhammadyah Kandahar 1973 Madrasa-ye Muhammadyah ˙ ˙ ˙ ˙ 8 Da¯r al-huffa¯z Ru¯ha¯nı¯ Paktia 1973 Madrasa-ye Ru¯ha¯nı¯ ˙ ˙ ˙ ˙ 9 Da¯r al-huffa¯z Taha¯rista¯n Tachar 1973 Madrasa-ye Taha¯rista¯n ˙ ˙ ˘ ˘ 10 Da¯r al-huffa¯z Asadyah Balch 1973 Madrasa-ye Asadyah ˙ ˙ Tabelle 1: Da¯r al-huffa¯z-Einrichtungen nach Name, Ort, Jahr und Madrasa-Zugehörigkeit. ˙ (1991, ˙ Adaptiert von Azraq S. 49–52).

Wie in Tabelle 1 dargestellt, war jede da¯r al-huffa¯z mit einer madrasa verbunden, ˙ ˙ dies geht auf eine langjährige Tradition der Beziehung zwischen maktab/kutta¯b und madrasa zurück. Traditionell wurde maktab/kutta¯b, der Grundreligionsunterricht, in kleineren Moscheen und vorzugsweise in der Nähe einer masgˇid (am Freitag) abgehalten, an welche die einzige oder die wichtigste madrasa der Stadt angeschlossen war. Dank dieser Beziehung konnte maktab/kutta¯b, von den personellen und materiellen Ressourcen der madrasa profitieren. Jedoch war nicht jede maktab/kutta¯b mit einer madrasa verbunden, da kleinere Moscheen in den Dörfern von den mada¯ris, die sich hauptsächlich in Städten befanden, weit entfernt waren. Darüber hinaus ermöglichte die Beziehung zwischen da¯r alhuffa¯z und den mada¯ris den Deobandi-ʿUlama¯, ihren Einfluss in und um die da¯r ˙ ˙ al-huffa¯z zu erweitern. Die da¯r al-huffa¯z kopierten das Deobandi-Bildungsmo˙ ˙ ˙ ˙ dell in Bezug auf Verwaltung, Organisation, Einstellung von Lehrkräften, Klassenzimmer, den prüfungsbasierten Aufstieg in die nächste Klasse und die Ausstellung von Abschlusszeugnissen. Die Einrichtung von lediglich zehn Da¯r-al-huffa¯z-Institutionen in 60 Jahren ˙ ˙ (1912–1973), wie in Tabelle 1 dargestellt, deutet darauf hin, dass die islamische Erziehung keine Priorität mehr hatte und die Regierung ihren Schwerpunkt auf die moderne Bildung verlagerte – dies zeigt sich in der Anzahl der modernen Schulen, die im selben Zeitraum gegründet wurden. Laut dem Bildungsbericht von 1956 richtete die Regierung 290 Grundschulen ein, wovon 277 Jungen- und 13 Mädchenschulen waren (Bildungsministerium 1956). Ein Jahrzehnt später, im Jahr 1967, stieg die Zahl der regulären Grundschulen, exklusive der 1.451 dreijährigen Dorfschulen für Jungen und 212 für Mädchen, auf 672, von denen 561 Jungen- und 103 Mädchenschulen waren (Bildungsministerium 1968). Der Lehrplan moderner Grundschulen umfasste nur zwei religiöse Fächer: »Koran« und »Theologie« (dı¯nya¯t), welche jeweils zwei Stunden pro Woche unterrichtet

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wurden (Bildungsministerium 1956). Die Anzahl der modernen Schulen verdeutlicht die Verlagerung der Interessen des Staates und der Öffentlichkeit hin zu moderner Bildung. Religion ist zweifellos relevant, jedoch möchten die Menschen, dass ihre Kinder in modernen Fächern unterrichtet werden, um die für den Arbeitsmarkt notwendigen Kompetenzen zu erwerben. Der Lehrplan der da¯r al-huffa¯z ist einfach gehalten und am Koran orientiert. ˙ ˙ Der frühere, in den 1920er-Jahren entwickelte Lehrplan konzentrierte sich ausschließlich auf das Auswendiglernen und die korrekte Rezitation des Korans. Die arabische Sprache und Grammatik (sarf und nahw) wurden unterrichtet, um die ˙ ˙ Schüler*innen im Fach Koran zu unterstützen. Eine erste große Reform fand 1954 statt, in deren Folge der Lehrplan um neue Fächer erweitert wurde (Tabelle 2) und eine Trennung zwischen normalsichtigen und sehbeeinträchtigten Schüler*innen vorsah. Letztere folgten demselben Lehrplan, mit Ausnahme der Kunst des schönen Schreibens (husn-e hat) und der Mathematik (hisa¯b), da es für ˙ ˙ ˘ ˙ beeinträchtigte Schüler*innen an spezieller Ausrüstung und notwendiger Sonderpädagogik fehlte. Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8

Fächer Auswendiglernen des Korans Arabisch – sarf (Morphologie) ˙ nahw (Syntax) ˙ fiqh (Rechtsprechung) lahgˇah-eqira¯ʾat (rezitierender Ton) husn-e hat (Kalligrafie) ˙ ˘ ˙ tagˇwı¯d (Kunst der Rezitation) ʿaqa¯yʾid (Glaube)

Da¯r-al-huffa¯z-Klasse ˙ ˙ 1 2 3 4 5 6 gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ 1–5 6–10 11–15 16–20 21–25 26–30 20 20 20 20 20 20 4 4 4 4 2

3

3

3

4 4

4 3

2 1

2 1

2 1

1

1

1

1 -

1 -

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1

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9 hisa¯b (Mathematik) 1 1 1 ˙ 10 mantiq-e isa¯g˙u¯g˘¯ı (isagogische Logik) 1 ˙ Tabelle 2: Stundentafel des sechsjährigen Lehrplans für normalsichtige Schüler*innen. Adaptiert von Zahı¯r & ʿIlmı¯ (1960, S. 92–94).

Die Bildungsreform in der da¯r al-huffa¯z folgte der Madrasa-Reform, welche ˙ ˙ wiederum die nationale Bildungsreform für moderne Bildung (Klasse 1–12) widerspiegelte. Diese Reformen haben ebenfalls die Organisation und Struktur der Bildung verändert. Die Strukturreformen schwanken häufig zwischen 6:2:4(von Grundschule, Unterstufe und Oberstufe), 8:4- (von Grundschule und Sekundarstufe) und 6:3:3-Mustern. Dementsprechend bewegte sich der Lehrplan der da¯r al-huffa¯z zwischen einer Dauer von sechs und acht Jahren. Die Tabellen 3 ˙ ˙

1150

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und 4 zeigen den achtjährigen Lehrplan und seine Fächer für normalsichtige und sehbeeinträchtigte Schüler*innen. Nr. Fächer 1

2 3

Da¯r-al-huffa¯z-Klasse ˙ ˙ 1 2 3 4 5 6 7 8 hifz-e Qurʾa¯n (Auswendiglernen gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ gˇuzʾ ˙des˙ Korans) 1–3 4–7 8– 12– 16– 21– 26– 1– 30 20 20 11 15 20 25 30 20 20 20 20 20 20 taʿlı¯ma¯t-e dı¯nı¯ (religiöse Erzie2 2 2 2 2 2 2 2 hung)

5 6

zaba¯n-e awwal (erste Fremdsprache) rı¯ya¯d¯ı (Mathematik) ˙ hat (Schreiben) ˘ ˙ tarbı¯yat-e badanı¯ (Sport)

7 8

zaba¯n-eʿarabı¯ (Arabisch) tag˘wı¯d (Kunst der Rezitation)

4

9

takra¯r (Wiederholung des auswendig gelernten Korans) 10 Biologie 11 g˘ug˙ra¯fyah (Geografie) 12 ta¯rı¯h (Geschichte) ˘ 13 tahz¯ıb (Hygiene) ¯

3

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Regulärer HygieneCheck Tabelle 3: Stundentafel des achtjährigen Lehrplans für normalsichtige Schüler*innen. ¯ ma¯g˘ 1990, S. 123. Adaptiert von: Azraq 1991, S. 64–66; Mı¯rza¯-za¯dah, Sˇafı¯ʿ & A

Im achtjährigen Lehrplan erlernen die Schüler*innen eine geringere Anzahl an Koranversen pro Jahr, was sich zugunsten anderer Fächer auswirkt, da die Schüler*innen somit für diese mehr Zeit haben. Die anderen Änderungen umfassten die Streichung der isagogischen Logik und die Aufnahme des Sportunterrichts. Die Einbeziehung von Biologie, Geografie und Geschichte in das letzte Jahr des Lehrplans für zwei Stunden in der Woche pro Fach zeigt, wie sensibel der Lehrplan gegenüber der islamischen Erziehung war, da die Aufnahme moderner Fächer dem Verdacht der Modernisierung und der absichtlichen Beeinträchtigung der islamischen Erziehung ausgesetzt sein könnte. Der Lehrplan für sehbeeinträchtigte Schüler*innen (Tabelle 4) konzentrierte sich auf das Auswendiglernen und die korrekte Rezitation des Korans und auf einige wenige Grundsätze des Islams.

1151

Islamische Erziehung in Afghanistan

Fach Auswendiglernen des Korans

taʿlı¯ma¯t-e dı¯nı¯ (Religionsunterricht) Sport tag˘wı¯d (Kunst der Rezitation)

Da¯r-al-huffa¯z-Klasse ˙ ˙ 1 2 3 4 5 6 7 8 g˘uzʾ g˘uzʾ g˘uzʾ g˘uzʾ g˘uzʾ g˘uzʾ g˘uzʾ g˘uzʾ 11-3 24-7 88– 11221– 116– 221– 226– 11– 30 30 25 20 15 11 220 220 220 220 220 20 20 220 22 22 22 22 22 22 22 22 31 –

31 –

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31 —

31 -5

31 22

21 –

takra¯r-e Qurʾa¯n (Wiederholung – – – — – – – 118 des auswendig gelernten Korans) Tabelle 4: Stundentafel des achtjährigen Lehrplans für sehbeeinträchtigte Schüler*innen. Adaptiert von Azraq (1991, S. 67).

Die Absolvent*innen der da¯r al-huffa¯z haben eine vordefinierte berufliche ˙ ˙ Laufbahn. In seinem Bericht schreibt das Bildungsministerium, dass die Absolvent*innen an den örtlichen Schulen als qa¯rı¯ ( jemand, der den Koran rezitieren kann) und ha¯fiz ( jemand, der den Koran auswendig gelernt hat) arbeiten ˙ ˙ und als Koran-Lehrer*innen in der Gesellschaft fungieren werden (Mı¯rza¯-za¯dah, ¯ ma¯g˘ 1990, S. 119). Darüber hinaus dienen sie ihren lokalen GemeinSˇafı¯ʿ & A schaften in Bezug auf die Leitung der täglichen Gebete, die Durchführung religiöser Rituale und Riten, die Umsetzung der Vorschulerziehung für Kinder von fünf bis sieben Jahren in der örtlichen Moschee oder privat zu Hause. Obwohl die Karrieremöglichkeiten begrenzt sind, ist der Umfang ihres Dienstes breit gefächert, da die Gemeinden stets Personen benötigen, die darin geschult sind, den Koran bei verschiedenen Veranstaltungen zu rezitieren sowie religiöse Riten und Rituale durchzuführen. Die Karrieremöglichkeiten sehbeeinträchtigter Absolvent*innen sind jedoch eingeschränkt, da keine geeignete Infrastruktur vorhanden ist, um Menschen mit besonderen Bedürfnissen, welche häufig auf die Unterstützung von Familienmitgliedern oder Mitgliedern der Gesellschaft angewiesen sind, ausreichend in das Berufsleben zu integrieren. In der Regel werden sie nicht in Schulen eingesetzt, führen aber eine begrenzte Anzahl religiöser Rituale und Zeremonien durch, wie Gebete und Koranrezitationen in verschiedenen religiösen Zeremonien und zu verschiedenen Anlässen und bieten Koranunterricht zu Hause oder in ihren örtlichen Moscheen an.

1152

3.

Yahia Baiza

Sekundäre und höhere islamische Erziehung: madrasa und ¯ r al-ʿulu ¯m da

Die islamische Sekundarschulbildung in Afghanistan findet in der madrasa statt. Historisch gesehen war die madrasa das Fundament islamischer Reiche und repräsentierte die intellektuelle Identität der glorreichen Jahrhunderte islamischer Zivilisationen. In Afghanistan dominierte die madrasa als Ort der Bildung, der Kultur und des Geistes bis zum Aufkommen der modernen Bildung im frühen 20. Jahrhundert. Die wichtigsten Städte des Landes, Ghazni, Balch und Herat, waren die herausragenden Zentren für hervorragende Bildung, Kultur und Zivilisation. Die älteste madrasa in Afghanistan repräsentiert, wie Azraq beschreibt, eine fast 830 Jahre alte Tradition (Azraq 1991, S. 55). Diese befindet sich ˘ a¯miʿ Hera¯t. Ursprünglich war die Moschee aus Holz gebaut in der Masg˘id al-G und daher feuergefährdet. Sulta¯n G˙iya¯t ad-Dı¯n Muhammad (reg. 1163–1203), ein ¯ ˙ ˙ Herrscher der G˙u¯riya¯n-Dynastie (vor 871–1215), baute sie aus Ziegeln wieder auf und ernannte Imam Fahr ad-Dı¯n ar-Ra¯zı¯ (1150–1210) zum Hauptgelehrten der ˘ madrasa. Später restaurierten die Timuriden die Moschee und schmückten sie mit wunderschönen Fliesen (Humayun 2001, S. 18). Die madrasa ist immer noch ˘ a¯miʿ Sˇarı¯f-e als jene der Moschee von Herat bekannt und wird als Madrasa-ye G Wila¯yat-e Hera¯t (»Die Medrese der edlen Moschee von Herat«) bezeichnet. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die meisten öffentlichen mada¯ris in die Gebäude der masgˇid integriert. 1912 gründete Amı¯r Habı¯bu-lla¯h zehn mada¯ris auf Empfehlung der zustän˙ digen Abteilung für mada¯ris, die Teil des Informationsgerichtshofs war, an welchem die ʿulama¯ʾ am stärksten vertreten waren. Habı¯bu-lla¯h musste seine ˙ Position zwischen den Modernisierungskräften und der konservativen ʿulama¯ʾ ausbalancieren. Nach der Gründung der Schule von Habibia nahmen die Spannungen zwischen den beiden Lobbys zu, da jede den Amı¯r auf ihre eigene Weise beeinflussen wollten. Wie bereits sein Vater Amı¯r ʿAbdu-r-Rahma¯n-Ha¯n inter˙ ˘ essierte sich Habı¯bu-lla¯h weder für religiöse Institutionen noch wollte er die ˙ Madrasa-Erziehung wiederbeleben. Amı¯r ʿAbdu-r-Rahma¯n-Ha¯n gründete, wie ˙ ˘ Ghobar anmerkt, nur eine kleine madrasa in der Masg˘id-e Sˇa¯hı¯ (»Königliche Moschee«) in der Altstadt von Kabul. Die madrasa hatte zwei Mullas (Grundschullehrer) (Ghobar 1989, S. 650). Habı¯bu-lla¯h vertraute derʿulama¯ʾ nicht und ˙ fürchtete ihre geheimen Aktivitäten. Wie der Bericht von Mı¯rza¯ Muhammad ˙ Yu¯suf zeigt, ernannte der Amı¯r seine Provinzgouverneure zu den Schulleitern der mada¯ris (1912, S. 5). Auf diese Weise versuchte er, seine Macht gegenüber der ʿulama¯ʾ über die Kontrolle der Madrasa-Erziehung auszugleichen, da die Madrasa-Lehrer das Interesse der ʿulama¯ʾ vertraten, während die Schulleiter, d. h. die Provinzgouverneure, die Beauftragten des Amı¯r waren.

Islamische Erziehung in Afghanistan

1153

Auch König Ama¯nu-lla¯h Ha¯n (reg. 1919–1929), Sohn von Amı¯r Habı¯bu-lla¯h, ˙ ˘ behandelte die mada¯ris und ʿulama¯ʾ voller Misstrauen. Er bezweifelte die Nützlichkeit der mada¯ris und die Integrationsfähigkeit sowie -bereitschaft der ʿulama¯ʾ im modernen und fortschrittlichen Afghanistan, welches er im Sinn hatte. Er versuchte, die Aktivitäten der ʿulama¯ʾ an die Politik und die Modernisierungsprogramme seiner Regierung anzupassen. Angesichts der bestehenden Spannungen und Machtverhältnisse zwischen der konservativenʿulama¯ʾ und den Modernisierungskräften erschwerten Ama¯nu-lla¯hs Bemühungen die Beziehungen zwischen Staat und ʿulama¯ʾ jedoch nur noch weiter. Beide Parteien sahen sich auf der falschen Seite. Dieʿulama¯ʾ betrachteten sich als Vertreter der religiösen Autorität des Propheten Muhammad sowie als Hüter und Übermittler ˙ islamischer Werte und islamischer Ethik. In ihrer Wahrnehmung des Islams und der islamischen Erziehung war Ama¯nu-lla¯h vom rechten Weg abgekommen (sira¯t al-mustaqı¯m), indem er das europäische politische System anstelle des ˙ ˙ Kalifats, die nationale Verfassung anstelle des Korans und der Sunna des Propheten sowie die moderne Erziehung anstelle der mada¯ris übernahm und das Tragen des Kopftuchs (higˇa¯b) zu einem freiwilligen Akt statt zur religiösen ˙ Pflicht erklärte. Diese ständige Spannung veranlasste Ama¯nu-lla¯h zu einer Reform des Lehrplans für islamische Erziehung und zur Regulierung der Aktivitäten der Deobandi-ʿUlama¯ʾ. Der Begriff »Deobandi« galt sowohl für die indischen Deobandi-ʿUlama¯ʾ, welche in Afghanistan im Exil lebten, wie Mansu¯r ˙ Ansa¯rı¯, als auch für die afghanischenʿulama¯ʾ, die in der Deobandi-Da¯r-al-ʿulu¯m ˙ studierten. Die Reform forderte unter anderem: – Religionsunterricht mit offiziellem Zeugnis, – ein Verbot der Aktivitäten der Deobandi-Mullas, – ein Verbot des Tragens eines gelben Turbans für Hindus, – die Abschaffung der lebenslangen Rente und anderer Privilegien für religiöse Führer, – Medienfreiheit, – die Festlegung des Heiratsalters für Mädchen auf 18 und Jungen auf 22 Jahre, – das freiwillige Tragen des higˇa¯b. ˙ Das Reformprogramm sollte einerseits den Einfluss der Deobandi-Lehren in religiösen Institutionen und Moscheen in ganz Afghanistan kontrollieren und andererseits die Aktivitäten derʿulama¯ʾ regeln. Gemäß dem Bericht von Pa¯yindah Muhammad Zahı¯r und Muhammad Yu¯suf ʿIlmı¯ gründete Ama¯nu-lla¯h 1920 ˙ ˙ die erste Justizschule (Maktab-e Qada¯). Die Schule befand sich ursprünglich im ˙ Ba¯g˙-e Mahma¯n-ha¯nah (Gästehaus-Park) in Kabul. Ihr Lehrplan umfasste zwölf ˘ Klassen (Klasse 1–12) und war die Nachbildung ähnlicher Schulen im Irak, in Saudi-Arabien und in Ägypten. Der Lehrplan umfasste Fächer wie ʿaqa¯yʾid (Glaube), dı¯nı¯ya¯t (Theologie), fiqh (Rechtsprechung), usu¯l al-fiqh (Prinzipien ˙

1154

Yahia Baiza

der Rechtsprechung), mantiq (Logik), falsafa (Philosophie), tasawwuf (Mystik), ˙ ˙ sarf wa-nahw (Morphologie und Syntax), ta¯rı¯h (Geschichte), g˘ug˙ra¯fyah (Geo˙ ˙ ˘ grafie), riya¯d¯ı (Mathematik), handasa (Geometrie) und Farsi sowie Urdu. Die ˙ Regierung übernahm sämtliche Ausbildungskosten, einschließlich der Lebenshaltungskosten der Schüler (Zahı¯r & ʿIlmı¯ 1960). Aus staatlicher Sicht war eine solche Reform sowohl pädagogisch als auch politisch von Relevanz. Im Bildungsbereich benötigte der Staat qualifizierte Arbeitskräfte und die Justizschule konnte zu einer Bereicherung für den Staat werden. Politisch hoffte Ama¯nu-lla¯h, die Aktivitäten derʿulama¯ʾ in die staatlichen Programme zu integrieren und mit diesen in Einklang zu bringen. Die ʿulama¯ʾ waren von ihrer Haltung überzeugt und ignorierten die vorgeschlagenen Reformen. Wie Ghobar schreibt, lehnten sie Ama¯nu-lla¯hs Reformprogramme in der loya g˘irga (der großen Versammlung der Stammes- und religiösen Ältesten) von 1924 ab (Ghobar 1989, S. 811). Im März 1924, während die g˘irga in Kabul stattfand, widersetzten sich einige religiöse Führer und Stammeshäuptlinge während eines Aufstands im südlichen Hu¯st-Distrikt ge˘ meinsam gegen Ama¯nu-lla¯h. Sie verurteilten seine Reformprogramme und führten einen rhetorischen Slogan ein: »Das Verfassungsrecht ist die Aufhebung der Religion«, ein Ausspruch, der sich auf die nationale Verfassung von 1924 bezog. Schließlich zwangen sie Ama¯nu-lla¯h, seine Reformen der islamischen Erziehung zurückzuziehen und den Lehrplan der mada¯ris unverändert zu belassen und eine da¯r-al-ʿulu¯mʿarabı¯, eine Hochschule für Religionsunterricht, zu gründen. Dennoch nahm Ama¯nu-lla¯h ein halbes Jahrzehnt später, nach der Rückkehr von seiner historischen Reise durch Europa, seine Reformprogramme im Juli 1928 wieder auf (Ghobar 1989, S. 792f., S. 799). Ama¯nu-lla¯h fand sich jedoch in derselben Position wieder wie im März 1924. Da die Struktur der Gesellschaft in Afghanistan stark auf religiösen und Stammessystemen beruhte, verlor er einen großen Teil seiner Unterstützer von den paschtunischen Stämmen und den sunnitischen Führern. Der Kampf um Macht und Einfluss ging weiter. Nachdem ihn die sich schnell ausbreitenden Turbulenzen an den Rand des Zusammenbruchs getrieben hatten, nahm er die meisten seiner Reformprogramme zurück. Um die Menschen davon zu überzeugen, dass er nicht gegen die etablierten Traditionen, wie z. B. die Polygamie, war, heiratete er seine Cousine ¯ liyah, die Tochter von Nasrullah Khan (Nasr Alla¯h Kha¯n) und machte sich ʿA ˙ selbst zum Polygamisten. Darüber hinaus versicherte er, – eine Gruppe von Studentinnen, die er im September 1928 in die Türkei geschickt hatte, zurückzuholen, – die Deobandi-ʿUlama¯ʾ uneingeschränkt nach Afghanistan reisen zu lassen, – die Pflicht zum Tragen des higˇa¯b wieder einzuführen (Sayyid Rasul 1999, ˙ S. 18f.).

Islamische Erziehung in Afghanistan

1155

Die Rücknahme der Reformprogramme hatte die Situation nicht verändert. Die sozialen Turbulenzen hatten Kabul bereits erreicht, und es war zu spät, den Thron zu retten und den Untergang aufzuhalten. Habı¯bu-lla¯h Kalaka¯nı¯, besser ˙ bekannt unter seinem Spitznamen Bacˇa-ye Saqao (»Sohn des Wasserträgers«), führte die Rebellen an und kämpfte im Namen der Religion gegen Ama¯nu-lla¯h. Er betrat Kabul am 17. Januar 1929, als Ama¯nu-lla¯h die Stadt bereits Richtung Kandahar verlassen und seinen Bruder Enayatullah (Ena¯yatu-lla¯h) zum Regenten ernannt hatte. Dieser erklärte sich bereit, abzudanken und sich Kalaka¯nı¯ nicht zu widersetzen (ebd., S. 21, 32). Letzterer erklärte sich am 15. Januar 1929 zum neuen Amı¯r (reg. Januar–Oktober 1929) und hielt folgende Rede: »Als ich das ketzerische Gebaren der vorherigen Regierung beobachtete, verpflichtete ich mich zum Dienst an der Religion und gegen die Ketzerei. Ich bin der Sohn eines Bauern. In Zukunft werde ich die nationalen Ressourcen nicht mehr für den Bau von Schulen ausgeben. Vielmehr werde ich sie für die Mullas und das Militär verwenden, damit sie [für uns] beten können. Ich werde von euch keine Steuern verlangen, ihr seid meine Untertanen und ihr werdet in Frieden und Glück leben.« (Ghobar 1989, S. 825; Mujadidi 1999, S. 79–80)

Die ʿulama¯ʾ krönten ihn mit einem weißen Turban anstelle der Krone und verliehen ihm den Titel »Diener der Religion des Gesandten Allahs« (Ha¯dim Dı¯n ˘ Rasu¯l Alla¯h) (Mujadidi 1999, S. 80). Wie er in seiner Rede versprochen hatte, unternahm Kalaka¯nı¯ nichts für die Entwicklung der Bildung. Vielmehr schloss er fast alle modernen Schulen, da er sie als antiislamische Zentren betrachtete. Während sich das Land mitten im Bürgerkrieg befand, kehrte Muhammad Na¯dir, ˙ Ama¯nu-lla¯hs ehemaliger Verteidigungsminister, aus Paris zurück, stürzte Kalaka¯nı¯ am 15. Oktober 1929 (Kabul Almanac 1932, S. 2; Farhang 1992, S. 601) und erklärte sich zum neuen König von Afghanistan. Na¯dir wurde verdächtigt, während seiner Kampagne gegen Kalaka¯nı¯ heimlich britische politische, militärische und finanzielle Unterstützung erhalten zu haben. Er bestritt dies, gab jedoch zu, dass er bedingungslose militärische und finanzielle Unterstützung von Großbritannien erhielt, nachdem er 1930 zum König erklärt worden war. Bei der Einweihung der Nationalversammlung (Sˇu¯ra¯¯ı Millı¯) am 6. Juli 1931 hielt er eine lange Rede (Anis 1931a; 1931b, S. 1; Baiza 2013, S. 95), die sich hauptsächlich mit der Frage seiner geheimen Verbindung zu den britischen Behörden befasste. Na¯dir und seine Familie unterhielten auch geheime Verbindungen zu den Deobandi-ʿUlama¯ʾ, insbesondere zu Nanautavi und seiner Familie. Diese geheime Beziehung erklärt, warum er für dieʿulama¯ʾ im Allgemeinen war und die Position der Deobandi-ʿUlama¯ʾ in Afghanistan im Besonderen stärkten wollte. Wie Ghobar schreibt, förderte Na¯dir das Interesse der ʿulama¯ʾ, indem er eine Vereinigung derʿulama¯ʾ und der Mullas gründete sowie die Madrasa-Studenten und Mullas vom Militärdienst (Ghobar 1999, S. 55, 84) freistellte. Um die Position

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der sunnitischenʿulama¯ʾ zu stärken, erklärte er die sunnitische Hanafı¯-Rechts˙ schule zur offiziellen madhab (Rechtsschule) des Staates, verordnete das Tragen ¯ des higˇa¯b und gründete die Religionspolizei (ihtisa¯b), welche zu einem wesent˙ ˙ lichen Merkmal des Staates wurde. Die Politik Na¯dirs wirkte sich direkt auf den Status der Schia-Gemeinschaften gegenüber anderen religiösen Gruppen aus. Die nationale Verfassung (1932) gab nichtmuslimischen Gemeinschaften, wie Hindus und Juden, volle Freiheit, ihre religiösen Rituale zu praktizieren und religiöse Schulen zu errichten, schiitische Muslim*innen wurden jedoch weder anerkannt noch genossen sie ähnliche Freiheiten wie andere Religionsgruppen. Na¯dir wurde unter den Modernisierungskräften immer unbeliebter, und schließlich wurde er Opfer seines Ehrgeizes, indem er versuchte, sich selbst um sämtliche Angelegenheiten zu kümmern. Die Hinrichtung von General G˙ula¯m ˇ arhi, Ama¯nu-lla¯hs Verteidigungsminister, im Jahr 1932 (ebd., S. 56) Nabı¯ Ha¯n C ˘ ˘ ˇ arhis Patensohn und sollte sein eigenes Todesurteil werden. Aus Rache töteten C ˘ der Oberstufenschüler ʿAbd al-Ha¯liq aus Kabul Na¯dir im November 1933. ˘ Na¯dirs Herrschaft war zwar von kurzer Dauer, seine Politik stärkte jedoch die Position der Deobandi und der konservativen ʿulama¯ʾ. Muhammad Za¯hir ˙ ˙ (reg. 1933–1973) folgte der Religionspolitik seines Vaters, wenn auch auf viel gemäßigterem Niveau. Seine Regierung beförderte Ama¯nu-lla¯hs Justizschule auf das Niveau der da¯r al-ʿulu¯m (Zahı¯r & ʿIlmı¯ 1960, S. 81–83). Der Lehrplan der Schule wurde 1930, 1933 und 1954 mehrmals reformiert. Mit der letzten Reform wurde der Lehrplan von einem zwölfjährigen 4:4:4-Kurs der Primar-, der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II zu einem achtjährigen 4:4-Kurs, bestehend aus der unteren und oberen Sekundarstufe, verändert (Tabelle 5). Die Schüler*innen konnten nun nach der fünften Klasse (ebd., S. 86f.) zur da¯r alʿulu¯m wechseln, nachdem sie ihre Grundschulausbildung in einer da¯r al-huffa¯z ˙ ˙ oder einer modernen Grundschule abgeschlossen hatten. Nr. Fach

1 2 3 4

qira¯ʾat (Rezitieren des Korans) sarf (Morphologie) ˙ nahw (Grammatik) ˙ tag˘wı¯d (Kunst der Rezitation)

Klasse und Stufe SekunSekundarstufe I darstufe II 5 6 7 8 9 10 11 12 1 1 1 1 1 1 - - 4 - - - - - 5 3 - - - - - - -

-

-

-

5 6

hadı¯t (Sprüche des Propheten Muhammad) ˙ ˙ ¯ usu¯l-e hadı¯t (Prinzipien/Methodologie der hadı¯t-Wis¯ ˙ ˙ ˙ ¯ senschaft)

- - - 4 4 - - 1 - -

5 -

4 -

6 -

7 8

tafsı¯r (Exegese) usu¯l-e tafsı¯r (Prinzipien/Methodologie der Exegese) ˙

- - - 4 3 - - - 1 -

-

3 -

3 -

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Islamische Erziehung in Afghanistan

(Fortsetzung) Nr. Fach

9 fiqh (Rechtsprechung/Jurisprudenz) 10 usu¯l-e fiqh (Prinzipien/Methodologie der Rechtspre˙ chung/Jurisprudenz) 11 ʿaqa¯yʾid (Glaube) 12 kala¯m (Theologie) 13 ta¯rı¯h wa-g˘ug˙ra¯fyah (Geschichte und Geografie) ˘ 14 adab (Literatur)

Klasse und Stufe SekunSekundarstufe I darstufe II 5 6 7 8 9 10 11 12 4 5 - - 5 4 x x 1 2 3 - - - 3 1 - - - 3 - - - - -

-

1

3

- 2 2 2 2 1 1 - - -

2 -

2 -

2 -

15 husn-e hat (Kalligrafie) 1 1 1 1 x 1 1 1 ˙ ˘ ˙ 16 mantiq (Logik) 2 3 3 3 - 4 5 ˙ 17 hikmat (Weisheit) - - 6 - - - - ˙ 18 muna¯zara (Disputation) - - - 1 - - - ˙ 19 ʿuru¯z (Prosodie) 1 - - - - - - 20 bala¯g˙at (Eloquenz) - - - - 3 3 - 21 wata¯ʾiq wa-sig˘ila¯t (Dokumente und Aufzeichnungen) - - - - - - - 3 ¯ 22 riya¯d¯ı (Mathematik) 3 1 2 2 2 2 2 2 ˙ 23 ta¯rı¯h al-tasˇrı¯ʿ (Geschichte der Rechtsprechung) 2 - - 1 - - - ˘ 24 mı¯ra¯t (Erbrecht) - - 4 - - - - ¯ Tabelle 5: Stundentafel für den Madrasa-Lehrplan der Sekundarstufe I und II. Quelle: Zahı¯r & ʿIlmı¯ (1960, S. 87–90).

Na¯dir und seine Familie hatten, wie bereits erwähnt, insgeheim eine starke Bindung zu Nanautavi und seiner Familie. Sie behandelten und respektierten Nanautavi und seine Nachkommen als ihre spirituellen Meister. Sie glaubten, dass Nanautavi wundersame spirituelle Kräfte besaß. Nanautavis Enkel Mohammad Tayyeb Qa¯semi, der muhtamim (Kanzler) der Deobandi-Da¯r-al-ʿulu¯m ˙ ˙ ˙ (1928–1980), enthüllte dieses Geheimnis in seinem Bericht Der Report über die Reise nach Afghanistan. Qa¯semi legte einen detaillierten Bericht über seine Reise nach Afghanistan im Juli 1939 vor, in dem er schreibt, dass die außergewöhnliche Gastfreundschaft, die ihm zuteilwurde, auf die Beziehung seines Großvaters Qa¯sim Nanautavi zur Monarchie zurückzuführen war. Der Bericht verdeutlicht, dass König Muhammad Za¯hir und seine beiden Onkel, Premiermi˙ ˙ nister Muhammad Ha¯sˇim und Verteidigungsminister Sˇa¯h Mahmu¯d, Qa¯semi als ˙ ˙ ihren spirituellen Meister behandelten. An einer Stelle des Berichts schreibt Qa¯semi, dass Premierminister Muhammad Ha¯sˇim zu ihm sagte, dass beide zur ˙ selben Deobandi-Familie gehören, als hätte ein Deobandi das Haus eines anderen Deobandi besucht. Anschließend sagte er zwei jungen Ministern, dass »er

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[Qa¯semi] die Person ist, aufgrund deren Gebets die Ältesten [Nanautavi] uns die Verantwortung übertrugen, diesem Land zu dienen«. In derselben Sitzung erzählte Premierminister Muhammad Ha¯sˇim auch eine Familienanekdote, wo˙ nach seine Mutter Nanautavis Hut immer zu Hause behalten habe und ihn ihnen einmal im Jahr gezeigt habe. Wenn ein Familienmitglied erkrankte, setzte sie der kranken Person den Hut auf, damit sie geheilt werde (Qa¯semi 2003, S. 6, 15). Zweifellos wollten Na¯dir und seine Familie zugunsten dieser geheimen JüngerMeister-Beziehung zwischen zwei Familien die Position der Deobandi-ʿUlama¯ʾ in Afghanistan stärken. Qa¯semi besuchte Afghanistan mit einem geheimen Plan. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Hauptgrund für diesen Besuch Mansu¯r Ansa¯rı¯, der bereits ˙ ˙ – als ein nach Kabul verbannter Deobandi – erwähnt wurde, war. Ansa¯rı¯ war sich ˙ der Tatsache bewusst, dass es in Afghanistan lediglich eine Handvoll mada¯ris und Da¯r-al-ʿulu¯m-Einrichtungen gab, die in der Regel von weniger fähigen und dazu sehbeeinträchtigten Schüler*innen besucht wurden. Außerdem unterstützte Na¯dirs Familie dieʿulama¯ʾ sehr, insbesondere die Deobandis. Eine Kombination dieser beiden Faktoren könnte Ansa¯rı¯ dazu bewogen haben, seinen Freund ˙ Qa¯semi zu motivieren, einen Antrag bei der Deobandi-Da¯r-al-ʿulu¯m zu stellen und Afghanistan zu besuchen, um eine mögliche Integration des DeobandiLehrplans in das nationale Bildungssystem Afghanistans zu erreichen. Der Rat, das mächtigste Organ in der Organisationsstruktur der da¯r al-ʿulu¯m, ermächtigte Bundeskanzler Qa¯semi, Afghanistan zu besuchen. Qa¯semis Bericht legt seinen Plan für eine mögliche Integration des DeobandiLehrplans in das moderne afghanische Bildungssystem dar. Er schreibt, er habe der afghanischen Regierung geraten, den Unterricht in Fremdsprachen wie Englisch, Deutsch und Französisch aus dem Lehrplan zu streichen, da dieser der Religion widerspräche. Stattdessen empfahl er der Regierung, das islamische und das moderne Bildungssystem zu beenden und es als ein einheitliches Bildungssystem wiederaufzubauen, um die entstandenen Unterschiede zu beseitigen. In seiner letzten Liste von Empfehlungen schlägt er der Regierung ebenfalls vor, den Lehrplan der Deobandi-Da¯r-al-ʿulu¯m für den Religionsunterricht in das einheitliche Bildungssystem zu übernehmen (ebd., S. 24). Wie diese Empfehlungen zeigen, wollte Qa¯semi sämtliche modernen Schulen in Deobandi-Mada¯ris umwandeln. Die Idee, ein einheitliches System zu schaffen und den dem Islam widersprechenden Fremdsprachenunterricht abzuschaffen, um die entstandenen Unterschiede zu beseitigen, galt als Vorwand für die Verwirklichung seines geheimen Plans. Im Kabinett der damaligen Minister war der Bildungsminister Muhammad Naʿı¯m der Einzige, der Einwände gegen den Lehrplan der islami˙ schen Erziehung erhob. Qa¯semi berichtet, dass der Minister die Rolle und Kapazität der islamischen Gelehrten in der Verwaltung moderner staatlicher Institutionen sehr kritisch sah, da ihre Ausbildung ihnen nicht die in Politik und

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Verwaltung erforderlichen Fähigkeiten vermittle (Qa¯semi 2003, S. 22f.). Die Erklärung warf auch ernsthafte Zweifel an der Nützlichkeit der Deobandi-Da¯r-alʿulu¯m selbst und ihrer Rolle in der modernen Gesellschaft auf. Die Regierung begrüßte Qa¯semi zwar als einen sehr wichtigen Gast, nahm seinen Vorschlag jedoch aufgrund einer anderen Bildungspriorität nicht an. Im Sommer 1939, als Qa¯semi Kabul besuchte, hatte die Regierung gerade das erste Jahr ihres diskriminierenden Paschtunisierungsprogramms abgeschlossen, das 1938 begann und zehn Jahre, bis 1948, andauerte. Das Paschtunisierungsprogramm nutzte das Bildungssystem als politisches Instrument, um die Sprache der Paschtunen, die Traditionen, den Verhaltenskodex der Stämme (pasˇtu¯nwa¯lı¯) sowie die Kleidung als nationale Normen und Standards zu verstaatlichen (Shorish 1998). Die Eliminierung des persischen Dari und die Verstaatlichung von Paschtu (Pasˇtu¯) als Unterrichtssprache waren zwei wichtige Bildungsprioritäten. M. Sediq Farhang zufolge sprachen weder Lehrer*innen noch Schüler*innen Paschtu, auch habe es keine Paschtu-Lehrbücher gegeben, die Schulprüfungen jedoch fanden dennoch auf Paschtu statt (Farhang 1992, S. 637). Premierminister Ha¯sˇim und Bildungsminister Naʿı¯m arbeiteten intensiv an diesem Programm; der ideologische Grundstein wurde von Mahmu¯d Tarzı¯ zu ˙ ˙ Amı¯r Habı¯bu-lla¯hs Zeiten gelegt (Baiza 2013, S. 57f.) und während der Herrschaft ˙ von Ama¯nu-lla¯h zwischen den Jahren 1921 und 1923 institutionalisiert. 1923 erhielt die loya g˘irga die Genehmigung für die Einrichtung der Institution Pasˇtu¯ Marakah (»Pasˇtu¯-Debatte«) (Farhang 1992, S. 544) im Bildungsministerium (Ministry of Education 1923, S. 15; Kambin 1922, S. 24, 196–202; Baiza 2013, S. 86– 88), und somit kam es zur Institutionalisierung des Paschtunisierungsprogramms. Es war dieses Programm, das für die Regierung die höchste Bildungspriorität hatte und einen Schatten auf Qa¯semis Vorschlag zur Verstaatlichung des Deobandi-Lehrplans im modernen afghanischen Bildungssystem warf. Wie Baiza festhält, hat die Regierung ihre diskriminierende Politik, einschließlich der Paschtunisierung der Bildung und Bildungssanktionen gegen die Haza¯ra-Bevölkerung und Frauen (Baiza 2013, S. 104) nach dem Beitritt zu den Vereinten Nationen im Jahr 1946 und dem Erhalt der Bildungsunterstützung der UNESCO ab 1948, welche die Regierung zur Respektierung und Einhaltung internationaler Gesetze verpflichtete, gelockert. Ab Mitte der 1970er-Jahre kam es zu großen Veränderungen in der islamischen Erziehung. In den Jahren 1974 und 1975 fügte das Bildungsministerium dem Lehrplan einer ausgewählten Anzahl an mada¯ris zwei weitere Jahre hinzu und erklärte diese damit zu da¯r al-ʿulu¯m (Klasse 13–14). Nach dem Aufstieg der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) im Jahr 1978 trat ein qualitativer Wandel ein, wenn auch in begrenztem Umfang. Die neue Regierung (1978–1992) entwickelte und genehmigte ein separates Regelwerk für die Verwaltung, den Lehrplan und die Führung von Madrasa- und Da¯r-al-huffa¯z-In˙ ˙

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Yahia Baiza

stitutionen (Ministry of Justice 1990). Parallel zu diesen neuen Maßnahmen gründeten die antisowjetischen Widerstandsparteien, besser bekannt als die »Dschihad-Parteien« (ahza¯b-e g˘iha¯dı¯), in Pakistan und in Gebieten außerhalb ˙ der staatlichen Kontrolle in Afghanistan ihre eigenen mada¯ris. Diese konzentrierten sich auf die Ausbildung einer neuen Generation von Kämpfern, da ein großer Teil der ersten Generation auf den Schlachtfeldern getötet worden war. Der Lehrplan dieser mada¯ris fokussierte sich auf die Indoktrinierung von Kindern mit einer radikalen religiösen Ideologie, mit besonderem Schwerpunkt auf Hass gegen Russland, das in den Lehrbüchern nicht nur als Besatzungsmacht, sondern auch als Land der Ungläubigen dargestellt wurde (Baiza 2013, S. 149– 155). So verwendeten die Paschtu-Lehrbücher, wie in Abbildung 1 gezeigt wird, beispielsweise Bilder von Schwertern, Waffen, Granaten und Kugeln, um das Alphabet und Mathematik zu vermitteln. Aufgrund seiner radikalen und extremistischen Inhalte wurde der Lehrplan als »Kriegslehrplan« und als »DschihadErziehung« bezeichnet (taʿlima¯t-e g˘iha¯dı¯).

Abbildung 1: »Dschihad-Erziehung«. Quelle: De Afghanistan de Mug˘a¯hidı¯n Isla¯mı¯ Atiha¯d (1989). ˙

Die Lehrbücher wurden von der University of Nebraska in Omaha (UNO) entwickelt. Die US-amerikanische Agentur für internationale Entwicklung (USAID) gewährte einen Zuschuss von 50 Mio. USD (Stephens & Ottaway 2002) zur Finanzierung des Programms, und die pakistanische Regierung diente als Koordinierungsstelle zwischen UNO, USAID, Saudi-Arabien und sieben sunnitischen Dschihad-Führern Afghanistans mit Wohnsitz in Pakistan (Baiza 2013). In den 1990er-Jahren erlebte das Land eine beispiellose Welle der Islamisierung. Nach dem Aufstieg der Dschihadisten im Jahr 1992 und der Gründung des »Islamischen Staates Afghanistan« (ISA, 1992–1996), stieg die Zahl der Da¯r-alhuffa¯z-Institutionen und mada¯ris rasch von 13 auf 314, von denen die meisten ˙ ˙ nicht beim Bildungsministerium registriert waren. Die Taliban erhöhten die Zahl weiter auf fast 1.000 (Ministry of Education 2007, S. 38). Im von den Taliban geführten Islamisierungsprozess musste alles islamisiert werden: die Menschen,

1161

Islamische Erziehung in Afghanistan

die Sprache, der Kalender, die Kleidung sowie staatliche Institutionen. Sie wollten moderne Schulen in mada¯ris umwandeln, da sie moderne Bildung als Zentren unislamischer Bildung betrachteten. In ihren offiziellen Dokumenten tauschten sie den Begriff mutaʿlim oder da¯nisˇ-a¯mu¯z (Schüler) durch ta¯lib (Pl. ˙ tulla¯b, »nach religiösem Wissen Suchender«) aus und ersetzten den Sonnenka˙ lender durch den Mondkalender (at-taqwı¯m al-higˇrı¯) (Ministry of Education 2001). Darüber hinaus mussten sich Männer einen Bart wachsen lassen und Frauen durften das Haus nicht mehr ohne Begleitung eines unmittelbaren Familienmitglieds verlassen. Die Ausbildung der Frauen endete mit der dritten Klasse Grundschule (Baiza 2013, S. 176–179). Die Islamisierungspolitik der Taliban brachte eine jahrhundertelange Entwicklung der modernen Bildung an den Rand des Zusammenbruchs. Ihr eigener Zusammenbruch im November und Dezember 2001 bewahrte jedoch sowohl das Bildungssystem als auch die Menschen in Afghanistan vor einem beispiellosen Unglück. In der Zeit nach den Taliban waren die Entradikalisierung sowie die Verhinderung einer weiteren Radikalisierung die Hauptanliegen der Regierung und der internationalen Partner. In seiner Analyse der Planung des Nationalen Bildungsstrategieplans I und II (NESP I und II) stellt Baiza fest, dass das Bildungsministerium in den 1980er- und 1990er-Jahren Angst vor einer Radikalisierung von Madrasa-Schüler*innen hatte. Die Entwicklung eines modernen und breit angelegten islamischen Erziehungssystems für alle Bürger*innen wurde zu einer wichtigen Priorität (Baiza 2014, S. 81). Mit diesem Gedanken reformierte und erweiterte das Bildungsministerium die Anzahl der Da¯r-al-huffa¯z-, Ma˙ ˙ drasa- und Da¯r-al-ʿulu¯m-Einrichtungen, um den Familien, die sich Religionsunterricht für ihre Kinder wünschen, einen sicheren Raum bieten zu können. Infolgedessen reformierte die Regierung den Madrasa-Lehrplan, wie in den Tabellen 6 und 7 dargestellt, indem sie neue Fächer aus den Sozial- und Bildungswissenschaften hinzufügte. Nr.

1 2 3 4 5 6

Fach

Qurʾan hadı¯t (Sprüche des Propheten) ˙ ¯ usu¯l-e hadı¯t (Prinzipien/Methodologie ¯ ˙ hadı ˙ ¯t-Wissenschaft) der ˙ ¯ fiqh (Jurisprudenz/Rechtsprechung) usu¯l-e fiqh (Prinzipien/Methodologie ˙ Rechtsprechung/Jurisprudenz) der ʿaqa¯yʾid (Glaube)

Madrasa-Klasse 7 7 -

8 5 -

9 4 4

10 4 3

11 4 3

12 3 3

Da¯r-alʿulu¯mKlasse 13 14 5 5 4 4

-

2

-

2

-

-

-

-

4

3

2

3

3

3

4

4

-

-

2

2

2

2

3

3

2

3

2

2

-

-

3

2

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Yahia Baiza

(Fortsetzung) Nr.

7 8 9 10 11 12 13 14 15

Madrasa-Klasse

Fach

ta¯rı¯h al-tasˇrı¯ʿ (Geschichte der ˘Rechtsprechung) sı¯rat al-nabı¯ (Biografie des Propheten Muhammad) ˙ mı¯ra¯t (Erbrecht) ¯ a¯da¯b-e isla¯mı¯ (islamische Verhaltenskodizes) sarf (Morphologie) ˙ nahw (Grammatik) ˙ zaba¯n-eʿarabı¯ (Arabisch) bala¯g˙at (Eloquenz)

Da¯r-alʿulu¯mKlasse

7 -

8 -

9 -

10 2

11 2

12 2

13 -

14 -

-

-

-

-

2

2

-

-

-

-

-

2

2

2

2

2

-

-

-

-

-

-

2

2

2

-

-

-

-

-

2 2

2 2

2 2

2 -

4 -

3 -

2

2

-

-

2 2

2 2

2 2

2 2

2

-

16

mantiq (Logik) ˙ usu¯l-e tafsı¯r (Prinzipien/Methodologie ˙ der Exegese)

-

-

-

-

-

2

-

-

17

zaba¯n-e awwal (erste Fremdsprache)

2

2

2

2

2

2

2

-

18

zaba¯n-e du¯wwum (zweite Fremdsprache) sa¯¯ıns (Naturwissenschaften) ig˘tima¯ʿiya¯t (Soziologie)

2

2

2

2

2

2

-

2

2

3

1

2

2

2

-

-

2 3

2 3

2 3

2 -

2 -

2 -

-

2 -

2 2

2 1

2 1

2 -

2 -

2 -

-

-

19 20 21 22 23

riya¯d¯ı (Mathematik) ˙ anglı¯sı¯ (Englisch) tarbiyat-e badanı¯ (Sport)

24 Informationstechnologie - - Tabelle 6: Stundentafel des islamischen Lehrplans für madrasa und da¯r al-ʿulu¯m. Quelle: Bildungsministerium, Islamische Abteilung (unveröffentlicht).

Der angeführte Lehrplan umfasst 24 Fächer, von welchen die ersten 16 traditionell islamisch und die letzten acht nicht islamisch sind. Von den letzten acht Fächern wird Informationstechnologie aufgrund des Mangels an Computern und an qualifizierten Lehrkräften nicht unterrichtet. Die neuen Fächer sollen die Wissensbasis der Schüler*innen erweitern und die Möglichkeit des Übergangs vom islamischen zum allgemeinen Bildungssystem erleichtern, falls Schüler*innen ihren Karriereweg ändern möchten (Baiza 2019). Auf der Da¯r-al-ʿulu¯mEbene gibt es eine Reihe von Fächern, die nicht Teil des Madrasa-Lehrplans sind, wie in Tabelle 7 dargestellt:

1163

Islamische Erziehung in Afghanistan

Nr. Fach

1

Da¯r-al-ʿulu¯mKlasse 13 14 S1 2

S2 2

S1 -

S2 -

3 3

2 -

-

-

-

-

2 2

2

-

-

2 2

2 2

6 7

hikmat (Weisheit) ˙ ta¯rı¯h al-hulafa¯ʾ (Geschichte der Kalifen) ˘ ˘ tabaqa¯t al-fuqaha¯ (Biografie der Richter) ˙ usu¯l wa-fann-e hita¯bat (Rhetorik) ˙ ˘˙ hikmat al-tasˇrı¯ʿ (Logik der Legislatur) ˙ qawa¯ʿid-e fiqhı¯ (rechtliche Maximen) falsafa (Philosophie)

8 9

usul-e daʿwat (Prinzipien/Methodologie der Missionierung) ˙ rawa¯n-sˇina¯sı¯ ʿumu¯mı¯ (allgemeine Psychologie)

2

2

-

2 -

10 11

2 -

2 2

-

-

12 13

usul-e tadrı¯s (Prinzipien der Unterrichtsmethoden) ˙ amtiha¯n wa-arzya¯bı¯ (Prüfung und Evaluierung) ˙ rawa¯n-sˇina¯sı¯ atfa¯l (Kinderpsychologie) ˙ tadrı¯s a¯mu¯zı¯ (Aufsicht)

-

-

2

2 -

14 15

ida¯rah-e tarbyatı¯ (pädagogische Administration) tadrı¯s a¯mu¯zı¯ ʿilmı¯ (wissenschaftliche Aufsicht)

-

-

2 -

2

2 3 4 5

Tabelle 7: Stundentafel des Da¯r-al-ʿulu¯m-Lehrplans (Klasse 13–14). Quelle: Bildungsministerium, Islamische Abteilung (unveröffentlicht). Legende: S1 = Semester 1; S2 = Semester 2.

Das Lernprogramm der da¯r al-ʿulu¯m könnte als eine Art islamisches Lehramtsstudium angesehen werden. Im angeführten Lehrplan werden allgemeine Psychologie, Lehrmethoden, Prüfung und Bewertung, Kinderpsychologie, Nachhilfe und Aufsicht sowie Bildungsverwaltung hinzugefügt, um Da¯r-al-ʿulu¯m-Absolvent*innen auf Lehrstellen vorzubereiten – offiziell sind sie jedoch nicht als Ausbildungsinstitute für Lehrkräfte anerkannt. Die beiden in den Tabellen 6 und 7 dargestellten Lehrpläne werden in 805 mada¯ris und 84 Da¯r-al-ʿulu¯m-Institutionen unterrichtet (Ministry of Education 2007, S. 18; 2010, S. 34; NSIA 2018, S. 77), in welchen 329.762 Student*innen seit 2017/2018 eingeschrieben sind (NSIA 2018, S. 55). Darüber hinaus wird der Lehrplan für die Fächer der islamischen Erziehung und der Islamwissenschaft unter nötiger Berücksichtigung der sunnitischen und der schiitischen Bevölkerung entwickelt (Ministry of Education 2016, S. 18). Während die quantitative Expansion ein positiver Schritt ist, bleibt die Frage nach der Qualität der Ausbildung in den Klassenzimmern bestehen. Das Bildungsministerium räumt ein, dass die Lehrer*innen nicht über ausreichende Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um neue Fächer wie Naturwissenschaften, Mathematik und Sozialwissenschaften zu unterrichten (Mi-

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Yahia Baiza

nistry of Education 2007, S. 39). Derzeit handelt es sich bei den meisten angestellten Lehrkräften um Absolvent*innen von mada¯ris. Die islamische Erziehung ist seit ihrer institutionellen Entwicklung im frühen 20. Jahrhundert im Machtspiel zwischen verschiedenen Machthabern gefangen, welches immer an der Entscheidung über Struktur, Art, Lehrplan und zukünftige Ausrichtung der islamischen Erziehung beteiligt war. Das über ein Jahrhundert aufgebaute komplexe Netzwerk der Machtverhältnisse beeinflusst die islamische Erziehung noch heute. Seit der Ratifizierung des Bildungsgesetzes im Jahr 2008 gab es in staatlichen mada¯ris eine vorsätzliche Verwirrung hinsichtlich Zulassungsalter und -stufe. Das NESP I des Bildungsministeriums besagt, dass Madrasa-Schüler*innen ab der siebenten Klasse zur islamischen Erziehung zugelassen werden, da auch der Lehrplan der meisten mada¯ris für die Klassen 7 bis 12 ausgelegt ist, mit wenigen Ausnahmen einiger mada¯ris, die Unterricht in den Klassen 7 bis 14 anbieten. In Gebieten, in denen es keine allgemeinbildenden Schulen gibt, können mada¯ris jedoch auch Schüler*innen ab der ersten Klasse aufnehmen (Ministry of Education 2007, S. 72). Ein Jahr später entwickelte das Bildungsministerium sein Bildungsgesetz und verabschiedete es im Parlament. Nach dem Bildungsgesetz beginnt die offizielle islamische Erziehung in der zehnten Klasse und dauert bis zur 14. Klasse an (Ministry of Justice 2008, S. 27). Darüber hinaus widerspricht das Bildungsministerium in seinem jüngsten Strategieplan (NESP III) eindeutig dem Bildungsgesetz, indem es Folgendes feststellt: »Es ist wichtig anzumerken, dass die islamische Erziehung nach dem Bildungsgesetz (2008) für die Klassen 10 bis 14 gilt, das MoE [Ministry of Education/ Bildungsministerium] akzeptiert Schüler ab der 1. Klasse und höher. Im Jahr 2013 waren 87 % der Schüler der Islamischen Erziehung in den Klassen 1 bis 9.« (Ministry of Education 2014, S. 12)

Auf den ersten Blick scheint es nicht logisch, dass ein Ministerium seinem eigenen Gesetz widersprechen sollte. Allerdings sind hinter den Kulissen verschiedene Lobbys am Werke, die für ihre eigenen Interessen und ihre Wählerschaft dem Ministerium gegenüber Druck ausüben. Die Unterschiede in der Zulassungspolitik repräsentieren den Machtkampf zwischen verschiedenen Lobbys. Innerhalb des Bildungsministeriums zielten diejenigen, die schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Indoktrination junger Schüler*innen in Madrasa-Schulen hatten, darauf ab, junge Schüler*innen davor zu schützen, eine dogmatische und enge Sicht auf Religion und Gesellschaft zu entwickeln. Sie argumentieren, dass Schüler*innen nach Abschluss ihrer sechsjährigen Grundausbildung (Klasse 1–9) an mada¯ris wechseln. Die andere Lobby betonte unter außergewöhnlichen Umständen die siebente und erste Klasse, um den Interessen der ʿulama¯ʾ gerecht zu werden. An den politischen und pädagogischen Ausein-

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andersetzungen in und um die islamische Erziehung zeigt sich, dass diese in einem starken Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Machtquellen steht. Die aktuelle Situation lässt auch erahnen, dass es noch ein langer Weg ist, bis die islamische Erziehung diese schwierige Lage meistern und sich aus einem jahrhundertealten Sumpf befreien kann.

4.

Schlussbemerkungen

Als Fazit des vorliegenden Beitrags lässt sich festhalten, dass die islamische Erziehung in Afghanistan dringend neuen Aufwind benötigt. Gegenwärtig kämpft jede Machtinstanz darum, die Praxis der islamischen Erziehung auf ihre eigene Weise zu beeinflussen. Die Opfer dieses Kampfes sind die Schüler*innen – also die eigentlichen Ziele der Bildung. Das Haus der islamischen Erziehung muss vom Licht des modernen Wissens durchflutet werden, und die Schüler*innen verdienen es, der Welt mit Hoffnung und Ehrgeiz entgegenzusehen. Der derzeitige Kampf um Einfluss auf die islamische Erziehung ist äußerst schädlich. Solange islamische Institutionen sich nicht offen für moderne Ideen und Themen zeigen, werden interne Änderungen, sei es in Bezug auf Struktur, Management, Organisation oder die Ersetzung eines Fachs aus dem Lehrplan durch ein anderes wenig bewirken. Die Sichtweise des 19. Jahrhunderts, wonach islamische Werte und Lebensweisen durch die europäische Kultur und politische Dominanz bedroht würden, kann nicht länger akzeptiert werden. Dies war eine ängstliche Reaktion im 19. Jahrhundert auf die moderne europäische Politik, Kultur und Bildung. Die heutigen Gesellschaften sind pluralistisch und leben mit ihrer Kultur über Grenzen hinweg, was den Austausch von Wissen, Ideen und Werten befördert. Wie Baiza feststellt, haben Migration, Entwicklungen in der Medien- und Kommunikationstechnologie, insbesondere das Internet, sowie das einfache Reisen die Natur aller Gesellschaften erheblich verändert (Baiza 2018a, S. 3). Er fügt hinzu, dass, wenn Gesellschaften zunehmend pluralistischer werden, die Frage nicht mehr die Wahl des Pluralismus selbst betrifft, sondern es vielmehr darum geht, welcher Diskurs den Verlauf des Pluralismus dominieren und bestimmen wird (Baiza 2018b, S. 12). Wenn muslimische Intellektuelle und ʿulama¯ʾ einflussreiche Partner in der gegenwärtigen und zukünftigen pluralistischen globalen Wissensgemeinschaft sein wollen, müssen sie dem Wissen, der Bildung und dem intellektuellen Pluralismus gegenüber offen sein und auch Vertrauen schenken – auf die gleiche Art und Weise, wie die frühen Muslim*innen es bei ihren Begegnungen mit griechischen, aramäischen, indischen, persischen und chinesischen Zivilisationen taten. Sie suchten nach neuem Wissen und teilten ihre wissenschaftlichen Entdeckungen mit anderen, sei es in Andalusien, im

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Byzantinischen Reich oder in Südasien und Fernost. Beim intellektuellen und kulturellen Pluralismus geht es nicht darum, die eigene Identität, die eigenen Werte und die eigene Geschichte zu leugnen, sondern um Dialog, Interaktion und das Teilen von Werten. Islamische Erziehung gewinnt erst dann ihre geschätzte Position in der Gesellschaft zurück, wenn sie ihren pädagogischen und intellektuellen Rahmen verändert und ihre Bildungspraxis neu definiert. Damit entfällt auch die Grundlage für eine islamische Erziehung, welche hinter verschlossenen Türen und an dubiosen Orten stattfindet.

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Yahia Baiza

Stephens, J., & Ottaway, D. B. (2002). From U.S., the ABC’s of Jihad: Violent Soviet-Era Textbooks Complicate Afghan Education Efforts. The Washington Post. https://www.wa shingtonpost.com/archive/politics/2002/03/23/from-us-the-abcs-of-jihad/d079075a-3e d3-4030-9a96-0d48 f6355e54/?noredirect=on&utm_term=.26c4e73389b6. Zugegriffen: 10. September 2008. Tayyeb, M. (1939). Guza¯risˇ-e safar-e Afg˙a¯nista¯n (pers. Übers. N. A. Sala¯mı¯). Qum: Intisˇa¯ra¯te Ahl-e Bayt. Zahı¯r, P. M., & ʿIlmı¯, M. Y. (1960). De-Afg˙a¯nista¯n de-maʿa¯rif ta¯rı¯h. Kabul: Ministry of ˘ Education.

Włodzimierz Cieciura

Islamische Erziehung in China

Zusammenfassung Dieser Beitrag widmet sich der islamischen Erziehung in China, wobei das Hauptaugenmerk den pädagogischen Traditionen und Praktiken der Chinesisch sprechenden Hui-Muslim*innen gilt. Zu Beginn werden die Anfänge des Islams und seine Verbreitung in China nachgezeichnet sowie die wichtigsten Bildungsstätten vorgestellt, die im Laufe der Geschichte entstanden sind. So wird u. a. die Relevanz der sogenannten »Schriftenhallen-Ausbildung« (Jingtang Jiaoyu) als Standardlehrmethode für chinesisch-muslimische Gemeinschaften verdeutlicht und die Entstehung der separaten islamischen Schulen für Frauen (Nüxue) wie auch der Moscheen für Frauen (Qingzhen Nüsi) in China beschrieben und dargestellt, wie sich die Lehrinhalte der Frauenschulen von den anderen islamischen Schulen unterscheiden. Anschließend folgt eine Betrachtung der Lehrpläne und Lehrbücher. Dabei wird auch die Sammlung von dreizehn Lehrbüchern, die mehrere Jahrhunderte lang Verwendung fanden, näher vorgestellt. Zuletzt werden die Chancen und Herausforderungen thematisiert, denen sich die islamische Bildung in China heute gegenübersieht.

1.

Allgemeine demografische und politische Situation der muslimischen Bevölkerung Chinas

Die genaue Anzahl der in der Volksrepublik China (VR China) lebenden Angehörigen des muslimischen Glaubens ist schwer zu ermitteln, da die Behörden keine Daten zum religiösen Bekenntnis der Bevölkerung sammeln. Daher basieren die in den Quellen angegebenen Zahlen in der Regel auf der Summierung der Gesamtbevölkerung der zehn ethnischen Minderheiten (Shaoshu minzu), welche von der Regierung der VR China anerkannt und üblicherweise als haupt-

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sächlich muslimisch identifiziert werden. Von diesen sind die sinophonen Hui (oder Huizu) und die Uiguren die beiden größten, mit – laut der letzten Volkszählung im Jahr 2010 – 10,6 bzw. 10,07 Millionen Menschen (National Bureau of Statistics). Die anderen acht ethnischen Gruppen umfassen 2,48 Millionen Menschen, wovon die Kasachen mit 1,4 Millionen den größten Anteil ausmachen. Zusammen mit der Gesamtbevölkerung der Hui und der Uiguren ergibt dies eine Summe von 23,14 Millionen Menschen, welche den zehn »muslimischen ethnischen Gruppen« Chinas angehören, was häufig mit der ungefähren Anzahl von Muslim*innen in China gleichgesetzt wird. Die Zahlen der »Islamischen Vereinigung Chinas« (IAC) basieren auf der Volkszählung im Jahr 2000 und belaufen sich auf 20,32 Millionen Menschen (Islamic Association of China 2012a). Diese Schätzungen ignorieren jedoch die Tatsache, dass nicht alle Mitglieder der zehn ethnischen Gruppen tatsächlich praktizierende Muslim*innen sind, einige Mitglieder der anderen 46 ethnischen Gruppen Chinas, einschließlich der Mehrheit der Han, hingegen schon. Aus diesem Grund sind Schätzungen der muslimischen Demografie mit Vorsicht zu behandeln. Ein womöglich besserer Weg, um die Mitglieder der muslimischen Gemeinde in China zu berechnen, ist es, die Anzahl der aktiven Moscheen im Land heranzuziehen. Nach Angaben der IAC gab es im Jahr 2004 insgesamt 35.535 aktive Moscheen im Land, 23.432 davon im uigurischen Xinjiang (Islamic Association of China 2012b). Aus denselben Daten geht hervor, dass es landesweit mehr als 53.000 Imame (oder Ahong) gab und dass in den von den Moscheen betriebenen Schulen 27.000 Schüler*innen unterrichtet wurden. Diese sind auf Chinesisch als Halifa oder Manla bekannt. Die überwiegende Mehrheit der Muslim*innen in China folgt dem Hanafı¯ Madhab. Der vorliegende Beitrag befasst sich ausschließlich mit den ¯ ˙ pädagogischen Traditionen und Praktiken der sinophonen Hui-Muslim*innen.

1.1

Geschichte der islamischen Erziehung in China

Der Islam kam in den ersten zwei Jahrhunderten der islamischen Ära über die Überland- und Seehandelsrouten nach China, welche zusammen als »Seidenstraße« bekannt sind. Muslimische Händler ließen sich zunächst in den Hafenstädten Ost- und Südchinas, wie Guangzhou und Quanzhou, sowie entlang der von Zentralasien in die nordwestlichen Provinzen führenden Landwege nieder. Obwohl muslimische Gemeinschaften, die aus diesen Handelssiedlungen hervorgegangen sind, wahrscheinlich bereits in der Tang-Dynastie (618–907) und mit Sicherheit während der Song-Dynastie (960–1279) in ganz China gut etabliert waren, ist nur wenig über ihr religiöses Leben und ihre Erziehung in der Zeit vor der Gründung der ethnisch mongolischen Yuan-Dynastie (1271–1368) bekannt. In den vorangegangenen Epochen unterschied sich die muslimische Erziehung in

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China vermutlich kaum von jener in den Ländern der islamischen Welt, aus denen die ersten Migrationswellen kamen, wobei Lehrer ausländischer Herkunft mündlich in Moscheen und Privathäusern Gläubige unterrichteten (StöckerParnian 2003, S. 43–46). Während der mongolischen Herrschaft wurden Hunderttausende muslimische Soldaten, Handwerker und andere Spezialisten aus Zentral- und Westasien in China angesiedelt – es war dies die größte Welle muslimischer Migration in der chinesischen Geschichte. Bis zum 14. Jahrhundert wurden die meisten Moscheen in China jedoch von aus dem Ausland kommenden ʿulama¯’ geleitet und der Unterricht nach ausländischem Vorbild abgehalten. Da die Mongolen ihre muslimischen Untertanen als wichtige Verbündete bei der Führung des großen und bevölkerungsreichen chinesischen Reiches betrachteten, wurden spezifische Institutionen – wenn auch nicht religiöser Art – geschaffen, um »muslimisches Wissen« zu lehren und zu verbreiten. Dazu gehörte die Huihui Guozixue, eine staatliche muslimische Schule, welche im Jahr 1289 gegründet und 1314 in die staatliche muslimische Akademie Huihui Guozijian umgewandelt wurde, mit der Absicht, Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen für »muslimische Sprachen« wie Persisch, Arabisch und Türkisch auszubilden. Die Lehrpläne dieser Schulen umfassten auch konfuzianische Klassiker (Jing), chinesische Poesie und chinesische Gesetze (ebd., S. 47f.). Wiewohl die Schulen keinen streng religiösen Unterricht anboten und somit noch nicht zu einer Verschmelzung von Elementen islamischer und chinesischer Bildungspraktiken führten, gelang es ihnen, eine beträchtliche Anzahl von Gelehrten und Beamten mit islamischem Hintergrund, mit guten Kenntnissen der chinesischen Kultur und insbesondere der konfuzianischen Staatsideologie, auszubilden. Mit dem Aufkommen der ethnisch chinesischen Ming-Dynastie (1368–1644) ging ein erheblicher Assimilationsdruck seitens der kaiserlichen Behörden auf ausländische Verbündete der Mongolen einher, die sich entschieden, nach dem Fall der Yuan-Dynastie in China zu bleiben. Es wurden Gesetze verabschiedet, die Muslim*innen dazu zwangen, chinesische Nachnamen, die chinesische Sprache, Kleidung und andere kulturelle Praktiken anzunehmen. Bis zur Mitte der MingÄra waren die meisten Muslim*innen, die in den inneren Provinzen Chinas lebten, in einem Ausmaß akkulturiert, das religiöse Führer das sinkende Niveau des islamischen Wissens beklagen und die früheren Erziehungsmethoden als unzureichend für die Zukunft der Muslim*innen in China kritisieren ließ. Die chinesisch-muslimischen Eliten im Nordwesten sowie in Nordchina begannen, ernsthafte Anstrengungen zur Reform der islamischen Erziehung zu unternehmen. In diesen Regionen erging es der muslimischen Bevölkerung besser als jener der schwindenden Gemeinden der südöstlichen Häfen. Ihre Anzahl und ihre wirtschaftliche Macht nahmen stetig zu, was die Mittel zur Finanzierung neuer Schultypen und zur Durchführung einer Bildungsreform schuf. Der

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Durchbruch gelang Mitte des 16. Jahrhunderts, als Hu Dengzhou (1522–1597), ein Einheimischer aus der Provinz Shaanxi, der sowohl in konfuzianischen Klassikern als auch in Koranstudien ausgebildet worden war und von den alten dialogischen Methoden seiner Moschee-ʿUlama¯’ enttäuscht war, begann, innovative Unterrichtsstrategien zu entwickeln (Petersen 2018, S. 43). Hu studierte jahrelang nach chinesisch-muslimischer Tradition in den Medresen Zentralasiens und Mekkas. Nach seiner Rückkehr nach China gründete er, auf Basis zahlreicher in jenen Regionen erworbener Bücher, ein neues »systematisches und zugängliches Programm zur Vermittlung von Kenntnissen über islamische Klassiker« (Petersen 2018, S. 44). Durch die Einrichtung von Religionsschulen in den Räumlichkeiten der Moscheen – meist in deren Bücherräumen, die Jingtang genannt werden, d. h. in den »Hallen der heiligen Schriften« – änderte Hu den Religionsunterricht von der bisher vorherrschenden Art des Privatunterrichts zu einem Unterricht größeren Maßstabs und öffentlicheren Rahmens. Hus Reformen formalisierten ebenso die Finanzen der islamischen Bildung, indem sie die Art und Weise der Finanzierung der Studiengebühren, Internate und Studienmaterialien durch lokale Gemeinschaften und muslimische Herren festlegten, sodass auch Kinder armer muslimischer Familien Religionsunterricht erhalten konnten. Diese Art der von der Gemeinde finanzierten »SchriftenhallenAusbildung« (Jingtang Jiaoyu) wurde zur Standardlehrmethode für chinesischmuslimische Gemeinschaften in ganz China und führte zur Entstehung dichter Lernnetzwerke, welche der Verbreitung eines hoch entwickelten islamischen Wissens im gesamten chinesischen Reich förderlich waren. In den folgenden Generationen von Schriftlehrern entstanden mindestens fünf regionale Subtraditionen. Die konservativste – die »Shaanxi-Schule« (Shaanxi Xuepai), welche direkt von Hus Unterricht abstammte – legte besonderen Wert auf den Arabischunterricht, die islamische Theologie und die Befolgung der Lehrmeinung der Hanafı¯ya-Rechtsschule. Die »Shandong-Schule« (Shandong ˙ Xuepai), die im frühen 17. Jahrhundert von Hus Schülern der vierten Generation mitfinanziert wurde, war sowohl für ihre arabische und persische Sprachausbildung als auch für ihren Unterricht im Sufismus bekannt. Zu deren wichtigsten Errungenschaften gehörte eines der frühesten bekannten Bücher über persische Grammatik, das 1659 von Chang Zhimei (1610–70), einem Mitbegründer der Schule, verfasste Minha¯gˇ al-talab (»Studienplan«). Die »Henan-Schule« (Henan ˙ Xuepai) war insbesondere auf den Sufismus ausgerichtet, während die »Südostschule« (Dongnan Xuepai) mit Sitz in Nanjing am stärksten von der vorherrschenden neokonfuzianischen Kultur und Wissenschaft beeinflusst war; deren – in den chinesischen Klassikern bestens ausgebildete – Vertreter versuchten, eine Synthese zwischen islamischer und konfuzianischer Philosophie zu schaffen (Stöcker-Parnian 2003, S. 57f.). Das fünfte wichtige Zentrum entstand in der Provinz Yunnan (Yunnan Xuepai), in diesem lag der Schwerpunkt neben

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dem Studium der arabischen, persischen und islamischen Fächer auf der intensiven Unterweisung in klassischen chinesischen Texten, anhand einer Methode namens Zhong-A Bingshou, einer dualen chinesisch-arabischen Ausbildung (Armijo 2008, S. 177). Jingtang Jiaoyu bot eine ansonsten weitestgehend standardisierte sunnitischhanafitische Interpretation des Islams und ermöglichte es den chinesischen Muslim*innen, ihre religiöse Identität zu bewahren und neu auszuhandeln. Dies brachte auch eine einzigartige chinesisch-muslimische literarische Tradition hervor, über islamische Theologie, Rechtsprechung, Philosophie und eine Vielzahl anderer Themen in der chinesischen und insbesondere neokonfuzianischen Sprache zu schreiben, welche während der Zeit der Qing-Dynastie (1644–1912) florierte. Die Absolvent*innen der »Schriftenhallen-Ausbildung« verfassten zahlreiche innovative Werke, von denen einige als Lehrbücher gedacht waren. Sie kombinierten islamische und chinesische Auffassungen und boten eine einzigartige chinesisch-muslimische Vision der Welt, die noch immer im Zentrum der Hui-Identität stand. Diese Tradition – später mit dem chinesisch-arabischen Ausdruck Han Kitab (»chinesische [islamische] Bücher«) bezeichnet – ist wohl eines der bedeutendsten Zeugnisse der fruchtbaren Anpassung des Islams an die chinesische Umwelt durch pädagogische und intellektuelle Bemühungen. Autoren wie Wang Daiyu (1590–1658), Ma Zhu (1640–nach 1710) und Liu Zhi (ca. 1660–ca. 1730) übersetzten arabische und persische Werke ins Chinesische und verfassten islamische Originaltexte in chinesischer Sprache, auf welche neokonfuzianische Gelehrte zurückgriffen (Petersen 2018, S. 6). Wie in anderen muslimischen Kulturen war die islamische Erziehung in China hauptsächlich auf Männer ausgerichtet, eine Tendenz, die durch die vorherrschende, männlich dominierte neokonfuzianische Kultur verstärkt wurde. Ein separates System des Religionsunterrichts für Frauen begann sich jedoch wahrscheinlich bereits in der späten Ming- und frühen Qing-Ära zu bilden, als einige Jingtang-Jiaoyu-Lehrer und Han-Kitab-Intellektuelle erkannten, wie wichtig es ist, den islamischen Glauben auch unter muslimischen Frauen zu verbreiten (Jaschok & Shui 2000, S. 85f.). Schulen für Frauen (bekannt unter dem allgemeinen Begriff Nüxue, d. h. Frauenschulen, genauer Nüzi Jingxue – »weibliche Schriftschulen«) wurden vermutlich erstmals in den Gebieten der nordchinesischen Tiefebene in den modernen Provinzen Henan und Shandong eingerichtet. Ursprünglich von männlichen Lehrern betrieben, welche hauptsächlich von der »Shandong-Schule« der Jingtang Jiaoyu kamen, und als Teil der typischen Schulen durch einen Vorhang von der männlichen Abteilung getrennt, entwickelten sie sich allmählich zu unabhängigen Einrichtungen mit weiblichen Lehrkräften. Schließlich wurden viele dieser Schulen vom männlichen System vollkommen unabhängig und fungierten als reine Frauen-Moscheen (Qingzhen Nüsi), wobei Imaminnen (Nüahong) sämtliche pädagogischen und religiösen

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Angelegenheiten übernahmen (ebd.). Die Idee von weiblichen religiösen Schulen und Moscheen verbreitete sich später, während der Qing- und der republikanischen Ära, in anderen Teilen des Landes, jedoch blieben Henan und Shandong der Kernbereich für den islamischen Religionsunterricht für Frauen. Die traditionelle chinesisch-muslimische Bildung geriet im 19. Jahrhundert unter Reformdruck, als das Aufkommen der modernen Kommunikation und des Verkehrs sowie die tiefgreifenden politischen, kulturellen und sozialen Veränderungen in ganz Eurasien viele ihrer gängigen Methoden überflüssig machten. Einer der ersten Orte, an denen muslimische Schulen einer Reform unterzogen wurden, war Yunnan. Gelehrte wie Ma Dexin (1794–1874) und sein Schüler Ma Lianyuan (1841–1903) erweiterten das bisher verwendete System der zweistufigen Grundschule (Xiaoxue) und Oberschule (Daxue) um eine neue Stufe der »Mittelschule« (Zhongxue) – diese entspricht in etwa kutta¯b und madrasa in anderen Teilen der islamischen Welt (Stöcker-Parnian 2003, S. 155). Die besser organisierten und professionelleren yunnanesischen Kutta¯b-Schulen und Medresen wurden zu Vorbildern für Hui-Schulen in anderen Teilen Chinas. Ein weiterer, substanziellerer, Impuls für die Reformierung der muslimischen Bildung in China ging Ende des 19. Jahrhunderts von dem wiederbelebten Austausch zwischen chinesischen Muslim*innen und dem islamischen Kernland aus. Mit dem Anstieg der Zahl der chinesischen Muslim*innen, die am Hadsch (Pilgerfahrt nach Mekka) teilnahmen, verbreiteten sich neue skripturalistische Ideen, die den Inhalt und die Form der muslimischen Bildung im ganzen Land beeinflussten. Obwohl es zu dieser Zeit durchaus üblich war, dass zurückkehrende Hadschis in den Schulen und Moscheen ihrer Heimatorte neue Lehrmethoden und Sichtweisen vermittelten, wird diese facettenreiche Entwicklung traditionell ausschließlich einem Mann zugeschrieben – Ma Wanfu (1853–1934), einem mongolischsprachigen Muslim aus der stark muslimisch besiedelten Präfektur Hezhou in der Provinz Gansu. Nachdem Ma Wanfu 1892 nach mehreren Jahren in Mekka, wo er bei den örtlichen ʿulama¯’ studierte, nach China zurückgekehrt war, begann er – zunächst an den traditionellen sunnitischen und hanafitischen chinesisch-muslimischen Gemeinden in Zentralchina (oft als Gedimu bezeichnet) –, anhand arabischer Werke (qadı¯m, d. h. alte klassische Werke) zu lehren, was er für den »wahren Islam« hielt. Zurück in seiner Heimatprovinz, suchte Ma mit seiner schriftstellerischen Lehre, den Einfluss der örtlichen Sufi-Bruderschaften zu bekämpfen. Nach der Vertreibung aus seiner Heimatregion verbrachte Ma Jahre damit, sich der Rache der Sufis zu entziehen, welche sowohl in Zentralchina als auch unter den türkischen Muslim*innen von Xinjiang lehrten. Die von Ma Wanfu gegründete Muslimbruderschaft (auf Arabisch Ihwa¯n, auf Chinesisch Yihewani) erlangte Anfang des 20. Jahrhunderts in ˘ anderen Teilen Chinas, mit vielen Imamen und ʿulama¯’ aus den Zentralprovinzen, in denen einige lokale Hadschis ähnliche Reformversuche unternahmen,

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großen Einfluss – ganz im Sinne Mas, der dazu aufgerufen hatte, den Islam von allem zu reinigen, was als übermäßiger chinesischer Einfluss galt (Lipman 1997, S. 200f.). Bald beeinflusste der Yihewani-Unterricht, oft auf indirekte Weise, die Schulen in Shaanxi, Henan und den östlichen Provinzen des Landes (ChérifChebbi 1999). Die Yihewani kamen in China im entscheidenden historischen Moment des Endes des Imperiums an, als die Forderung nach Modernisierung schließlich 1912 zum Zusammenbruch des alten monarchischen Systems und zur Schaffung des republikanischen chinesischen Nationalstaates führte. Die Yihewani-Reform verlief teilweise parallel zu anderen reformistischen Bestrebungen aufseiten der Muslim*innen Chinas – vor allem in den bis dahin von der Jingtang-JiaoyuErziehung alten Stils dominierten östlichen Provinzen – oder stand mit diesen zeitweise in Wechselwirkung. Spontane Bemühungen der klassisch ausgebildeten ʿulama¯’ um Bildungsreformen, angeregt teils durch die landesweiten Schulreformen der letzten Phasen des Qing-Reiches und teils durch dschadidistische (Erneuerung) muslimische Einflüsse aus dem russischen Reich, vermischten sich mit Ideen zur Modernisierung, die meist von chinesisch-muslimischen Student*innen, die im 20. Jahrhundert in Japan studierten, nach China gebracht wurden (Yamazaki 2014). Im Jangtse-Delta, wo der muslimische Einfluss aus Südost- und Südasien in den großen Städten wie Shanghai, Peking und anderen nördlichen Städten nahe der russischen Grenze sowie in Yunnan zu spüren war, wurden neue Schulen gegründet. Wichtige Persönlichkeiten dieser Zeit waren der Imam Wang Kuan (1848–1919) aus Peking, Wang Jingzhai (1879–1949) aus Tianjin, bekannt für seine Sympathie für die Yihewani, Zhang Ziwen (1875–1966) aus der Mandschurei (der aufgrund der ihm nachgesagten Kenntnis der deutschen Sprache auch als »Deutsch-Zhang« bekannt war) und Da Pusheng (1874– 1965) aus dem Jangtse-Delta. Wang Kuan, der älteste dieser Reformer, stellte während seiner Pilgerreise nach Mekka in den Jahren 1905 bis 1906 wichtige politische und persönliche Verbindungen her, sodass er zahlreiche Orte im Osmanischen Reich besuchte und eine Audienz bei Sultan Abdülhamid II. erhielt. Aufgrund Abdülhamids Interesse an den Muslim*innen Chinas und seiner Hoffnung, als Kalif einen direkteren Einfluss auf sie auszuüben, wurden zwei türkische Gelehrte nach Peking geschickt, wo sie an der berühmtesten Moschee der Hauptstadt unterrichteten – der »Rinderstraße-Moschee« (Niujie libaisi) (Yamazaki 2014). Nach der Gründung der Republik und der Anerkennung der muslimischen Bevölkerung als eine der fünf konstituierenden Ethnien (Minzu) der chinesischen Nation unter dem Oberbegriff Hui, der sich insbesondere auf die türkischen Muslim*innen von Xinjiang, aber auch auf die Chinesisch sprechenden Muslim*innen bezog, wurde die islamische Bildungsreform mit der Errichtung Dutzender moderner muslimischer Grundschulen im ganzen Land fortgesetzt.

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Die Bildungsbemühungen der Modernisten gipfelten in den 1920er- und 1930erJahren in der Gründung einer Reihe einflussreicher und gut geführter Schulen. Die drei bekanntesten sind die 1925 in Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, gegründete Chengda-Shifan-Lehrerschule, welche im Jahr 1929 nach Peking verlegt wurde, die 1928 gegründete islamische Hochschule von Shanghai sowie die 1929 in Kunming gegründete Mingde-Mittelschule. Die Schulen in Peking und Shanghai sollten ausdrücklich als Lehrerausbildungseinrichtungen fungieren, in deren Namen das chinesische Wort Shifan (pädagogisch) vorkommt. Chengda war wohl die erfolgreichste und berühmteste der drei Schulen, sie bot neben dem islamischen Lehrplan die chinesische Sprache sowie moderne weltliche Fächer wie Englisch, Mathematik, Physik, Geografie, Biologie und Chemie an (Mao 2011). Muslimische Reformkräfte der republikanischen Ära internationalisierten ihre Suche nach einer Formel moderner islamischer Bildung, indem sie Verbindungen zu Institutionen in den muslimischen Ländern knüpften. Die Azhar war der wichtigste Bezugspunkt für die reformistischen Bemühungen der HuiMuslim*innen und wurde zur Hauptinspirationsquelle für die Modernisierung der chinesisch-muslimischen Bildung. Alle drei genannten Schulen entsandten ihre Absolventen zwischen 1931 und 1938 für weitere Studien nach Kairo. Die ägyptischen Behörden finanzierten 1938 die größte Gruppe von 15 ChengdaAbsolventen und schickten zwei Azhar-Lehrer nach China, die bis zum Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges 1937 in Chengda und anderen muslimischen Schulen in Peking unterrichten sollten. In den 1930er- und 1940er-Jahren studierten an der Azhar insgesamt 34 chinesische muslimische Studenten, von denen die meisten nach ihrer Rückkehr nach China zu einflussreichen Intellektuellen, Gelehrten, Geistlichen und Pädagogen wurden. Nach dem Ausbruch des chinesisch-japanischen Kriegs im Jahr 1937 blieben die Peking- und Shanghai-Schulen in unbesetzten Teilen des Landes weiter in Betrieb. Anfang der 1940er-Jahre wurden beide Schulen verstaatlicht – eine Entwicklung von zentraler Bedeutung hinsichtlich der rechtlichen und finanziellen Situation der muslimischen Bildung in China, die zuvor vollständig von den muslimischen Gemeinschaften selbst finanziert wurde. Die nun verstaatlichten Schulen konnten auf Finanzierung vonseiten des Staates zählen, allerdings zum Preis einer direkteren staatlichen Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Während des chinesisch-japanischen Krieges stieg die nationalistische Stimmung unter den Muslim*innen allgemein an, und mit der Regierung von Guomindang verbündete antijapanische muslimische Organisationen, wie die »Muslimische Vereinigung der nationalen Erlösung«, nutzten die muslimische Bildung, um den Patriotismus der Hui zu stärken. Unter der Schirmherrschaft der Vereinigung wurden rund 300 muslimische Grundschulen eröffnet, oftmals in den Räumlichkeiten der alten Moscheeschulen. Die staatliche Finanzierung

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und die Kontrolle über die muslimische Bildung blieben nach Kriegsende 1945 aufrecht und wurden von den Kommunisten nach ihrem endgültigen Sieg im Bürgerkrieg 1949 fortgesetzt. Mit der Gründung der Volksrepublik China wurde die muslimische Bildung über die 1953 gegründete »Islamische Vereinigung Chinas« (Zhongguo Yisilanjiao Xiehui, IAC) unter die zunehmend verschärfte Kontrolle des kommunistischen Staates gestellt. Mit dem 1955 gegründeten »Chinesischen Islamischen Institut« (Zhongguo Jingxueyuan) wurden für die Muslim*innen Bildungseinrichtungen, unter der Leitung von Da Pusheng als Schulleiter, mit Hauptsitz in Peking etabliert. Das Institut wurde gegründet, um »Imame« auszubilden, welche mit der islamischen Welt vertraut waren, patriotische Überzeugungen vertraten und über fundierte Korankenntnisse verfügten (Li, Qin, Feng & Sha 1998, S. 822). Die Schüler*innen wurden nicht nur in religiösen Fächern unterrichtet, sondern auch – gemäß der früheren Praxis der modernistischen Schulen der republikanischen Ära – in Naturwissenschaften und politischen Fächern. Das Institut sollte auch Fremdsprachen wie Arabisch und Persisch unterrichten und deren Einsatz in der internationalen Propagandaarbeit ermöglichen. Im Gegensatz zur traditionellen Hui-Erziehung, die sich hauptsächlich an Chinesisch sprechende Muslim*innen richtete, wurden das Chinesische Islamische Institut und die Vereinigung für Mitglieder aller muslimischen Gemeinschaften Chinas unabhängig von ihrer ethnischen und sprachlichen Vielfalt gegründet. Dennoch wurde die Mehrheit der Lehrer und Schüler aus den sinophonen Hui und den Absolventen traditioneller Jingtang-Jiaoyou-Schulen rekrutiert, die in den 1950erJahren eine Zeit lang betrieben werden durften. Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der VR China und Nassers Ägypten waren am Institut vier ägyptische Lehrer beschäftigt, um Arabisch und einige religiöse Fächer zu unterrichten (Zhang 1981). In den 1950er-Jahre endete die frühe Ära der relativen Offenheit und Toleranz in der VR China mit den maoistischen Kampagnen gegen alle, die als Oppositionelle und als Klassenfeinde galten. Viele prominente muslimische Gelehrte wurden während der »Anti-Rechts-Bewegung« Mitte des Jahres 1957 getötet, und im Mai 1958 leitete die kommunistische Partei ihre »demokratische Reform der religiösen Institutionen« (Zongjiao Zhidu Minzhu Gaige) ein, die zur Schließung aller religiösen Schulen im Land, einschließlich der Moscheen, führte (He 2004, S. 134). In der darauffolgenden Ära der Kulturrevolution (1966–1976) wurde das religiöse Leben im Land vollständig unterbunden und viele muslimische Schulen sowie Moscheen wurden entweder abgerissen oder für andere Zwecke umgebaut. Ein neues Zeitalter der Entwicklung in der Geschichte der chinesisch-muslimischen Bildung begann nach dem Tod von Mao Zedong im Jahr 1976 und der Inangriffnahme von Wirtschaftsreformen Ende der 1970er-Jahre. Das ideologische Korsett wurde gelockert und die Muslim*innen durften ihre religiösen

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Aktivitäten und ihre Ausbildung wiederbeleben und Kontakte zu Glaubensgenoss*innen wiederherstellen. 1982 wurde das chinesische Bildungsinstitut in Peking reaktiviert, und in den 1980er-Jahren entstanden in sieben Provinzen weitere Institute, um Muslim*innen in verschiedenen Regionen des Landes den Zugang zu weiterführendem Religionsunterricht zu ermöglichen. In den meisten Moscheen des Landes durften die Schulen wiedereröffnet werden. Nach Angaben der IAC aus dem Jahr 2004 studierten rund 27.000 Schüler*innen (halı¯fa) in ˘ Moscheeschulen (Islamic Association of China 2012b). In der Reformzeit nach 1978 stieg die Zahl der kommunalen und privaten muslimischen Schulen in ganz China, mit Ausnahme von Xinjiang, wo die muslimische Bildung immer stark begrenzt war. Obwohl es schwierig ist, Statistiken über die Anzahl dieser Einrichtungen zu erhalten, behauptete ein Wissenschaftler, dass in den 1990er-Jahren derer Dutzende gegründet wurden, wohingegen nach 2000 nur noch einige wenige genehmigt wurden (Armijo 2007). Auch wenn diese Schulen bei den Behörden offiziell registriert werden mussten und von den örtlichen Abteilungen des Chinesischen Islamischen Instituts beaufsichtigt wurden, waren ihre Lehrpläne und deren »unabhängiger Geist« für zahlreiche Muslim*innen Grund genug, sie einer staatlichen Ausbildung, die vielen als zu stark der Kontrolle der Regierung unterworfen galt, vorzuziehen (Armijo 2008, S. 172). Niedrigere Studiengebühren machten diese Privat- und Gemeinschaftsschulen populär und gaben vielen ärmeren muslimischen Kindern eine Chance auf Bildung, welche aufgrund des Angebots einer Reihe nichtreligiöser Fächer wie Englisch und Informatik, neben den islamischen Standardfächern, umso mehr geschätzt wurde (Armijo 2007). Da die staatlichen Schulen jedoch Stipendien vergeben und die besten Lehrer*innen beschäftigen, dienen sie weiterhin als höchste Stufe der muslimischen Bildung in China, sodass viele Absolvent*innen örtlicher kommunaler Schulen für das Studium sowie für die Möglichkeit, ihre Ausbildung im Ausland in staatlich finanzierten Programmen fortzusetzen, in die staatlichen Schriftinstitute eintreten. Die staatlichen Schulen, einschließlich der staatlichen muslimischen Institute, bieten auch bessere Chancen, nach Abschluss des Studiums eine Anstellung in der IAC und anderen staatlichen Institutionen zu erhalten. Für Studenten, die Imame werden möchten, bleiben die örtlichen Medresen und die »Schriftenhallen-Ausbildung« attraktiver (Erie 2016, S. 201). Die örtlichen Gemeinden richteten auch zahlreiche Unterrichtsprogramme für Kinder, ältere Menschen und Erwachsene im erwerbsfähigen Alter ein, welche bisher nur wenig in Kontakt mit dem islamischen Religionsunterricht gekommen waren. Diese Bemühungen erwiesen sich als äußerst wichtig für die Wiederbelebung der muslimischen religiösen Identität in China und ermöglichten es zahlreichen Hui, sich wieder mit dem Glauben ihrer Vorfahren zu verbinden (Armijo 2008, S. 172). In Städten mit muslimischer Bevölkerung können Stu-

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dent*innen und andere Gläubige, die mehr über die Religion erfahren möchten, informelle Unterrichtsveranstaltungen an gemieteten Orten organisieren, um Antworten auf Fragen des Selbststudiums in Bezug auf Praktiken, die Theologie oder sprachliche Fähigkeiten in Arabisch zu erhalten (Stewart 2017, S. 59–62). Einige dieser informellen Gruppen werden im Rahmen der Wiederbelebungsbewegungen islamischer Sympathisanten wie den Salafiyya (seit den 1930erˇ ama¯ʿat-e-Tablı¯g˙-Bewegung organisiert, die Jahren in China präsent) oder der G seit den 1980er-Jahren in China aktiv ist, als die ersten Gruppen pakistanischer und bangladeschischer Aktivist*innen über Hong Kong ankamen, um in verschiedenen Teilen des Landes Daʿwa-Arbeit zu leisten (Chérif-Chebbi 2009). Chinesische Tablı¯g˙-Anhänger*innen organisieren Daʿwa-Touren im Land, um den Islam sowohl jenen Muslim*innen zu predigen, welche ihre Praktiken gelockert haben, als auch den Andersgläubigen (Stewart 2017, S. 111–125). Seit 1978 hat sich die muslimische Bildung in China in solchem Maße entwickelt, wie es dies seit der republikanischen Ära nicht mehr gegeben hatte. Chinas wachsendes Engagement im Ausland hatte zur Folge, dass eine beispiellose Anzahl von Studierwilligen Religionsstudien in muslimischen Ländern aufnehmen konnte. 1982 unterzeichnete die Islamische Vereinigung ein Bildungsabkommen mit der Azhar-Universität, und eine Gruppe von zehn chinesischen Studenten verschiedener Ethnien – darunter Uiguren, Hui und Kasachen – wurde zum Studium nach Kairo geschickt (Liu 2005). Es war dies das erste Mal seit der Gründung der Volksrepublik China, dass Muslim*innen ein Religionsstudium im Ausland absolvieren durften. In den 28 Jahren zwischen 1982 und 2010 wurden mehr als 300 chinesische Studenten an der Azhar eingeschrieben, mit von der ägyptischen Seite gemäß dem Abkommen von 1982 gewährten Stipendien, und mehrere Dutzend weitere wurden zum Studium an Universitäten in Pakistan, Libyen und Oman entsandt (Islamic Association of China 2012c). Seit den 1980er-Jahren ist Malaysia eine beliebte Wahl für muslimische Student*innen aus China, da Religionswissenschaft häufig von den malaysischen Religionsbehörden oder verschiedenen internationalen muslimischen Organisationen gefördert wird. Viele Hui-Muslim*innen wurden an der Internationalen Islamischen Universität von Malaysia (IIUM) und an der Sultan-Zainal-AbidinUniversität (KUSZA) in Terengganu eingeschrieben. Von 1994 bis 1998 studierten 36 muslimische Hui-Studenten aus verschiedenen Regionen Chinas an der KUSZA und erhielten Diplome in Religionswissenschaft. Einige von ihnen fanden nach ihrer Rückkehr nach China Arbeit als Religionslehrer (Ma 2017, S. 14–17). Die Beziehungen zu Saudi-Arabien haben sich seit Beginn der Reformära und noch vor der offiziellen saudischen Anerkennung der VR China als äußerst wichtig für die Wiederbelebung der islamischen Bildung in China erwiesen.

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Ursprünglich wurden diese Verbindungen über von Saudi-Arabien unterstützte Nichtregierungsorganisationen wie die »Islamische Weltliga« geknüpft, die saudisches Geld in Projekte wie die Einrichtung eines separaten Pekinger islamischen Instituts (Beijing Jingxueyuan) im Jahr 1986 fließen ließen. Damit erhielt die Hauptstadt neben der ursprünglichen chinesischen »SchriftenhallenAusbildung« ihre zweite islamische Hochschule. Der Zuschuss von mehr als 900.000 USD für das Pekinger Institut war Teil einer größeren saudischen Spende von vier Millionen USD, die von der IWL über die Islamische Entwicklungsbank nach China überwiesen wurde. Dies half auch bei der Finanzierung der Gründung des Islamischen Instituts von Ningxia, der Arabischen Schule von Tongxin (in Ningxia) und des Islamischen Instituts von Xinjiang (al-Sudairi 2016, S. 42). Die Aufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen zwischen der VR China und Saudi-Arabien im Jahr 1990 ermöglichte es Muslim*innen aus China, offen von Saudi-Arabien finanzierten Religionsunterricht an Universitäten im Königreich wie der Islamischen Universität von Medina zu besuchen, wo erst ab 1998 120 chinesische Studenten eingeschrieben waren, sowie an der König-SaudUniversität in Riad und der Umm Al-Qura in Mekka (Liu 2005). An der Islamischen Universität von Medina wurden chinesischen Studenten vor 2001 652 Stipendien, hauptsächlich für Theologie, ohne Unterscheidung zwischen Hui und Uiguren, gewährt (al-Sudairi 2016, S. 47). Aufgrund der für sie geltenden Einschränkungen in Sachen Bildung und unbegleitetes Reisen entscheiden sich chinesische Musliminnen meist für ein Studium an Universitäten in Ländern wie Syrien, Jordanien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten. Auch der Iran gilt als attraktiv, da dort hervorragende Lebens- und Lernbedingungen, eine vollständige Unterstützung des Programms und eine umfassende islamische Ausbildung, die sunnitisch-religiöses Denken einschließt, geboten werden und Student*innen sowohl Persisch als auch Arabisch lernen (Armijo 2008, S. 186). 1.1.1 Lehrpläne und Lehrbücher Der an den traditionellen Jingtang-Jiaoyu-Schulen geltende Lehrplan war orthodox-islamisch, wenngleich von den meisten Schülern der Primarstufe oder Xiaoxue / kutta¯b ein relativ geringes Niveau an arabischen und persischen Sprachkenntnissen erwartet wurde; dies spiegelt die Tatsache wider, dass chinesische Muslim*innen zum Zeitpunkt der Gründung des Systems durch Hu Dengzhou und seine Kollegen gänzlich sinophon geworden waren. Die Grundlage des in der »Schriftenhallen-Ausbildung« verwendeten Koran-Arabisch (Haiting, arab. hatm) bildeten jene Passagen des Korans, die von Hu und anderen ˘ Begründern der chinesisch-muslimischen Erziehung als am wichtigsten erachtet wurden. Erst nach Abschluss dieses Grundstudiums durften die Schüler*innen

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weiterführende Werke studieren und sich mithilfe eines anderen Lehrbuchs (Zaxue, dt. »diverse Studien«), das Gebete in arabischer Sprache und persische Texte über Glaubenswaschungen enthielt, eingehender in die Anforderungen ihrer Religion hinsichtlich des Betens, des Fastens, der Heirat, der Beerdigungen und Feste vertiefen (Lipman 1997, S. 50). Das von Hu neu eingerichtete System nahm Anleihe bei den Medresen, die dieser in der islamischen Welt besucht hatte. Der Lehrplan und der Kanon arabisch-persischer Texte zu islamischer Theologie, Rechtsprechung, arabischer Grammatik sowie Rhetorik und Logik, die Eingang in das traditionelle chinesisch-muslimische Bildungssystem gefunden hatten, waren den Lehrplänen der Medresen in anderen Teilen Asiens sehr ähnlich (Weil 2016b, S. 44), unterschieden sich von ihnen und von früheren in China verbreiteten Formen der muslimischen Erziehung jedoch in einem wesentlichen Punkt: Die Unterrichtssprache war Chinesisch, und neben den arabischen und persischen Büchern im Lehrplan wurden Werke in literarischem Chinesisch – die Klassiker und die offiziellen dynastischen Geschichten – auch von den chinesisch-muslimischen Gelehrten herangezogen (Ben-Dor Benite 2005, S. 75). Ein weiterer Unterschied war die bedeutende Anzahl an Werken zur islamischen Naturwissenschaft, Astronomie und Mystik in den chinesischen muslimischen intellektuellen Kreisen, welche das Bildungssystem antrieben und in anderen Teilen der muslimischen Welt von den Lehrplänen der Medresen ausgeschlossen wurden (Weil 2016b, S. 44). Auf den höheren Ausbildungsstufen der Jingtang Jiaoyu, Daxue oder Medresen wurde mehrere Jahrhunderte lang eine Sammlung von 13 Lehrbüchern verwendet, wobei die spezifischen Titel offensichtlich zwischen verschiedenen Schulen und Zweigstellen der Jingtang-Jiaoyu-Tradition variierten. Eine genauere Auflistung dieser 13 Titel wurde erst während der Reformen des 19. Jahrhunderts kodifiziert und insbesondere in den Schulen in Shaanxi und Yunnan verwendet. Die Lehrbuchsammlung wurde mit dem chinesisch-arabischen Begriff Saibaiga, abgeleitet vom arabischen sa¯biqa – »die vorläufigen (Texte)« (Weil 2016a, S. 112) –, oder mit dem rein chinesischen Wort Shisanbenjing – »Die Dreizehn Klassiker« (in einigen Auflistungen ist auch von Shisibenjing, den »Vierzehn Klassikern«, die Rede) – bezeichnet, ein Konzept, welches der konfuzianischen Bildungstradition entlehnt ist (Yang & Yu 1995, S. 346). Die Titel der 13 einzelnen Werke sind umstritten, jedoch gibt ein bekannter Artikel von Pang Shiqian (1902–1958), einem chinesischen Islamwissenschaftler aus Henan, der an traditionellen Jingtang-Schulen und an der Azhar (Pang 1937) unterrichtet wurde, einen allgemeinen Überblick über die in der chinesischen muslimischen Bildung verwendeten Texte. Pangs Liste enthält sieben arabische und fünf persische Werke. Der Koran wird als 13. Klassiker dieser Reihe angeführt (Stöcker-Parnian 2003, S. 179–181):

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a) Lianwuben (»Die Reihe der fünf Bände«) – eine Sammlung von fünf Lehrbüchern zur arabischen Linguistik, wovon sich die ersten drei mit arabischer Morphologie befassen (eines davon auf Persisch) und die letzten beiden mit der Syntax. Die fünf Lehrbücher sind: ˇ urg˘a¯nı¯s (gest. I. Suerfu (Sarf, d. h. Morphologie), womöglich Mı¯r Sayyid G ˙ 1413) Sarf-i mı¯rı¯, ein allgemeines arabisches Buch (Weil 2016a, S. 286); ˙ II. Muerze (al-Mu’azzı¯), ein Handbuch der arabischen Konjugation; III. Zujiani oder Zanjiani (Zang˘a¯nı¯), Tasrı¯f al-Zang˘a¯nı¯, auch bekannt als ˙ Tasrı¯f al-ʿIzzı¯, von ʿIzz ad-Dı¯n ʿAbd al-Wahha¯b b. Ibra¯hı¯m az-Zang˘a¯nı¯ ˙ (1257), eine beliebte Einführung in die arabische Grammatik und Wortänderungen; IV. Mi’etai Amilu oder Awamilu (ʿAwa¯mal), al-ʿAwa¯mil al-miʾa, auch beˇ urg˘a¯nı¯ (gest. 1068 oder kannt als al-ʿAwa¯mil fı¯ l-nahw von Abd al-Qa¯hir G ˙ 1078), führt die syntaktischen Komponenten, die auf andere Komponenten angewendet werden, detailliert aus oder wendet einen grammatikalischen Effekt (ʿamal) an (Noy 2018, S. 15); V. Misibaha (al-Misba¯h fı¯ l-nahw – »Die Fackel der Grammatik«) von Na¯sir ˙ ˙ ˙ ˙ b.ʿAbd as-Sayyid Mutarrizı¯ (gest. 1213), eine Arbeit in fünf Kapiteln, die ˙ eine Taxonomie der Wortarten sowie eine Diskussion ihrer Funktionen zur Bedeutung beinhaltet (Weil 2016a, S. 111). b) Zaowu, auch transliteriert als Saowu (Dau’ al-misba¯h – »Licht der Fackel«) – ˙ ˙ ein Buch mit Erklärungen und Kommentaren zu Mutarrizı¯s Misba¯h von Ta¯gˇ ˙ ˙ ˙ ad-Dı¯n Muhammad b. Muhammad Isfara¯’inı¯ (gest. 1285). ˙ ˙ c) Manliang oder Manliao, die chinesische Transliteration des arabischen Mawla¯na (»unser Herr«), ein respektvoller Hinweis auf den Autor, den ˇ amı¯ persischen Gelehrten und Dichter Nu¯r ad-Dı¯n ʿAbd ar-Rahma¯n-i G ˙ (1414–1492). Dabei handelte es sich um eine Einführung in die arabische Grammatik, bekannt als Sˇarh al-Mawla¯. ˙ d) Bayani (Baya¯n – »Erklärung«), der gängige Name eines Handbuchs für arabische Stilistik des persischen Universalgelehrten Saʿd ad-Dı¯n Masʿu¯d ibn ʿUmar ibn ʿAbdallah at-Tafta¯za¯nı¯ (1322–1390) (Yang & Yu 1995, S. 350). e) Keliangmu (vom arabischen al-kala¯m) über die theologische Arbeit von Nag˘m ad-Dı¯n Abu¯ Hafs al-Nasafı¯ (gest. 1142) mit dem Titel Kita¯b al-ʿAqa¯’id, ˙ ˙ auch bekannt als Aqa¯’ad al-Nasafı¯; es ist in der gesamten islamischen Welt weit verbreitet und in den Medresen des Jingtang-Jiaoyu-Systems von hoher Bedeutung. Diese Arbeit hatte insbesondere Einfluss auf die Schule der »Schriftenhallen-Ausbildung« von Shaanxi (Yang & Yu 1995, S. 353–356). f) Shelaha Weijiaye (vom arabischen Sˇarh al-Wiqa¯yah), ein Standardwerk des ˙ hanafitschen fiqh, verfasst von Sadr al-Sˇarı¯‘a at-Ta¯nı¯ al-Mahbu¯bı¯ (gest. 1346), ¯ ¯ ˙ ˙ einer von mehreren Kommentaren zu früheren hanafitischen Werken, erstellt von Mitgliedern der Familie Mahbu¯bı¯ in Buchara und beliebtes Merk˙

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mal sunnitischer Medresen in ganz Eurasien (Weil 2016a, S. 140). Aufgrund seiner dauerhaften Bedeutung für die chinesisch-muslimische Bildung bleibt es eines der wichtigsten Werke für hanafitischen fiqh, welches in religiösen Schulen in China verwendet wird. Wang Jingzhai übersetzte es erstmals 1931– 35 ins Chinesische. 2008 wurde es von zwei Wissenschaftlern des Gansu Qur’anic Institute erneut übersetzt. g) Jiazun (vom arabischen qa¯d¯ı), die chinesische Transliteration des üblichen ˙ Titels Tafsı¯r al-qa¯d¯ı, des berühmten koranischen Erklärungswerks Anwa¯r at˙ Tanzil wa-Asrar at-Ta’wil des persischen schafiʿitischen Gelehrten Qa¯d¯ı Nas¯ır ˙ ˙ ad-Dı¯n Abu¯ al-Hayr ʿAbd Allah ibn ʿUmar al-Bayda¯wı¯ aus Schiras (gest. 1286) ˙ ˘ (Pang 1937, S. 102). Der persische Teil der 13 Klassiker umfasst folgende Werke: a) Hutuobu oder Hutaibu (vom persischen Hotbeh, abgeleitet vom arabischen ˘ ˙ Wort hutab – »Proklamationen«, kurz für Al-arbaʿı¯n Hutab), eine beliebte ˘ ˙ ˘ ˙ Volksbezeichnung, die im chinesisch-muslimischen Bildungssystem für verschiedene persische Übersetzungen der berühmten Sammlung von 40 Hadithen der Sˇa¯fiʿı¯ya des Juristen Yahya¯ bin Sˇaraf Al-Nawawı¯ (1234–1277) ˙ mit dem Titel Al-arbaʿı¯n al-Nawawı¯yyah verwendet wird und in chinesischen Medresen weit verbreitet ist (Fan 2016, S. 211). b) Aierbaiou (Arbaʿu¯na – »vierzig«), eine weitere Sammlung von 40 Hadithen, die Pang aus irgendeinem Grund getrennt von den Hutuobu anführt, obwohl die beiden Werke eng miteinander verbunden zu sein scheinen, da es sich hierbei offenbar um eine weitere persische Übersetzung von al-Nawawı¯s Werk des Genres der »Vierzig Hadithe«, des Arbaʿu¯na al-Fuqara¯ (»Die Vierzig der Armen«, chin. Pinqiong zhi Shi de Sishiduan Shengxun) handelt. Die Übersetzung ins Persische besorgte Husa¯m ad-Dı¯n bin ʿAla¯ ad-Dı¯n an˙ Nu¯g˘aba¯dı¯ im Jahr 1431 (Hu 2018, S. 33). c) Gulisitan (Golesta¯n – »Rosengarten«) von Saʿdı¯, eines der berühmtesten persischen literarischen Werke, das in Medresen in Indien, im Osmanischen Reich und in der gesamten muslimischen Welt als Lehrbuch verwendet wurde und in China als Bildungstext hoch angesehen ist. Es wurde erstmals Ende der 1930er-Jahre von Wang Jingzhai unter dem Titel Zhenjing Huayuan ins Chinesische übersetzt (Stöcker-Parnian 2003, S. 181f.). d) Mi’ersade (Mersa¯d), das Werk Mirsa¯d al-ʿiba¯d min al-mabda ’ila al-ma’a¯d ˙ ˙ (»Der Weg der Knechte Gottes vom Ursprung zur Rückkehr«) von Nag˘m adDı¯n ar-Ra¯zı¯ (1177–1256), einem Anhänger des Kubrawiyya-Ordens, ist ein sufistischer Text, der auch bei den Naqsˇbandı¯-Sufis in Zentralasien beliebt ist und von mehreren Schülern von Hu Dengzhou erworben und in ihre Lehrpläne mit aufgenommen wurde (Weil 2016a, S. 173). Der Text war in China wahrscheinlich bereits während der Yuan-Dynastie präsent und gehört damit

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zu den im islamischen Bildungssystem Chinas am längsten verwendeten Lehrbüchern (Stöcker-Parnian 2003, S. 183). Darüber hinaus handelt es sich dabei auch um das erste islamische Werk, das 1678 von Wu Zunqi (gest. 1698), unter dem Titel Guizhen Yaodao, ins Chinesische übersetzt wurde. Mersa¯d ˙ wird ob seiner Klarheit, Flüssigkeit, der Schönheit der Prosa sowie der Unkompliziertheit der Behandlung schwieriger theologischer und philosophischer Fragen geschätzt (Murata 2000, S. 32). e) Aishai’ertu Laimaiate, Asˇiʿat al-lamaʿa¯t (»Strahlen der Blitze«) von ʿAbd arˇ amı¯, ein zweites Buch dieses Autors im Shisanjing. G ˇ amı¯s Werk Rahma¯n-i G ˙ ist ein auf Persisch verfasster Kommentar zu Fahr Ad-Dı¯n Ibra¯hı¯m ʿIra¯qı¯s ˘ (gest. 1289) Lamaʿat. Es wurde im 17. Jahrhundert von She Yunshan (1638– 1703) unter dem Titel Zhaoyuan Mijue (»Die Geheimnisse der Blitze«) ins Chinesische übersetzt und ist ein hoch angesehenes Lehrbuch zur Vermittlung des richtigen Verständnisses der Lehre von tawh¯ıd (Yang & Yu 1995, ˙ S. 361). Viele der aufgeführten Bücher werden weiterhin in den Medresen und anderen muslimischen Schulen Chinas verwendet. »Die Dreizehn Klassiker« werden in einigen örtlichen Provinzschulen auch gesamt unterrichtet (Matsumoto 2016, S. 191). Die Yihewani-Bewegung, welche die muslimische Bildung in anderen Teilen Chinas beeinflusste, lehnte einige dieser Werke ab, insbesondere jene auf Persisch, und fügte ihrem Lehrplan neue Bücher hinzu. Dazu gehören von Ma Wanfu bevorzugte Werke wie Muhammad ibn ʿAbd al-Wahha¯bs Kasˇf asˇ-Sˇubuha¯t ˙ (»Klärung der Zweifel«), drei Werke des türkischen Theologen Muhammad ˙ Birgewı¯ (1522–1573), darunter Werke der Rechtsprechung (Mag˘a¯lis Irsˇadiyya) und Ethik (Tarı¯qa Muhamadiyya), das klassische Hanafı¯-Lehrbuch Maktu¯ba¯t ˙ ˙ ˙ von Ahmad al-Sirhindı¯ (1564–1624) und ein weiteres Standard-Hanafı¯-Lehrbuch ˙ ˙ ¯ bidı¯n, auch bekannt als Radd al-Muh von Muhammad Amı¯n ibn ʿA ta¯r ʿala ad˙ ˙ ˇ Dur al-Muhta¯r al-Samı¯ (1784–1836) (bzw. in China unter dem Volksnamen ˘ Sˇami) (Pang 1937; Chérif-Chebbi 1999, S. 5). Persische Lehrbücher und der Unterricht in persischer Sprache wurden nicht nur von den Yihewanis, sondern auch von den Modernisierungskräften in den östlichen Provinzen als überflüssig und belastend empfunden. Folglich nahmen moderne Schulen in den Jahrzehnten nach 1920 Persisch nicht mehr in ihre Lehrpläne auf, Chengda strich den Persischunterricht im Jahr 1929 aus dem Lehrplan. Moderne gedruckte Lehrbücher, die aus dem Nahen Osten und Südasien importiert wurden, wurden zu Hauptunterrichtsmaterialien für die neue Art von Schulen, Arabisch wurde zum Hauptbestandteil der Lehrpläne. Viele dieser neuen Schulen wurden als »chinesisch-arabische Schulen« (Zhong-A xuexiao) bezeichnet, um die von ihnen vermittelte neue, arabisch-zentrierte Vision des Islams zu unterstreichen. Auch Literarisches Chinesisch wurde in den

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Schulen eingeführt, da viele der traditionell ausgebildeten ʿulama¯’ es zuvor nur wenig beherrschten; dies sollte sich für die Anpassung der Chines*innen an den modernen Nationalstaat als hinderlich erweisen (Matsumoto 2016). Persisch behielt sein hohes Ansehen in Institutionen wie den beiden privaten Sufi-Schulen in Gansu und Hainan (Erie 2016, S. 196) sowie in der alten weiblichen Bildungstradition der Nüxue, in welcher der Unterricht fast ausschließlich auf die persischen Schriften beschränkt ist und die eine unantastbare Tradition der Ausbildung chinesischer muslimischer Frauen darstellt (Jaschok & Shui 2000, S. 87). Die Ausbildung der Mädchen im Grundschulalter unterschied sich mit den Lesungen aus Haiting und Zaxue nicht von der Ausbildung für die Jungen, war jedoch im fortgeschrittenen Niveau auf persische Texte beschränkt. Fünf davon gelten als die wichtigsten, manchmal werden jedoch auch zehn Texte verwendet, die zusammen als Nürenjing (»Schriften für Frauen«) bezeichnet werden. Dazu gehören Chang Zhimeis Minha¯gˇ al-Talab sowie zwei ˙ persische Texte, die im Rahmen des Han-Kitab-Kanons ins Chinesische übersetzt wurden: Teile eines Werkes, das wahrscheinlich von Mulla¯ Mı¯r Mahmu¯d Na¯˙ ˇ aha¯r Fasl verfasst wurde, ein von mang˘a¯nı¯ mit dem Titel Cˇaha¯r Kita¯b – C Zhang ˙ Zhong (ca. 1584–1670) unter dem Titel Sipian Yaodao Yijie übersetztes vorläufiges Handbuch für Grammatik und Muhimma¯t al-muslimı¯n, eine Zusammenfassung von fiqh, die von Ma Boliang (1678) mit dem Titel Jiaokuan Jieyao übersetzt wurde (Jaschok & Shui 2000, S. 87; Weil 2016a, S. 170–173). In den modernen islamischen Instituten, die nach dem Lehrplan der IAC betrieben werden, setzt sich der Unterricht zusammen aus 70 Prozent religiösen Inhalten, z. B. arabische Sprache und islamische Doktrin einschließlich des islamischen Grundrechts, 20 Prozent kulturellem Inhalt, z. B. chinesische Sprache und islamische Geschichte in China, und zehn Prozent politischem Inhalt (Erie 2016, S. 198f.). Auf der höheren Bildungsstufe der Institute, die vier Jahre dauert und in etwa dem Bachelor-Niveau der Universität entspricht, werden Kurse zu islamischem Recht, Doktrin, Koran, Sunna, Arabisch und Chinesisch angeboten. Wer möchte, kann dann in die »dreijährige Ausbildungsklasse für Geistliche« eintreten, wobei auf dieser Ebene der politische Inhalt mit zahlreichen Kursen zur aktuellen Interpretation der Parteiideologie immer wichtiger wird. Zu den in der Lehre des islamischen Rechts eingesetzten Büchern gehört Sˇarh al-Wiqa¯yah, ˙ obwohl es von einigen als veraltet angesehen wird (Erie 2016, S. 199). Im Jahr 2006 veröffentlichte die IAC neun Lehrbücher in chinesischer Sprache, die im reformierten Lehrplan zu Themen wie Koran, Sunna, Recht, chinesisch-islamische Geschichte und arabische Kalligrafie verwendet wurden (Erie 2016, S. 200).

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Chancen und Herausforderungen

Während die islamische Bildung in der Ära der chinesischen Wirtschaftsreformen ab den späten 1970er-Jahren bis in das frühe 21. Jahrhundert große Fortschritte und Entwicklungen verzeichnen konnte, begann sich die Situation nach 2012 zu ändern. Die fortschreitenden autoritären Tendenzen unter der Führung von Xi Jinping brachten – unter dem Banner der »Sinisierung«, oder besser gesagt »Chinafikation« (Zhongguohua) der Religion – neue Einschränkungen für religiöse Gruppen mit sich. Ziel der Kampagne ist es, alle offiziell sanktionierten Religionen absolut konform mit der Parteiideologie zu machen. Im Falle des Islams bedeutet dies, alle Tendenzen zu bekämpfen, die als förderlich für Radikalismus angesehen werden. Die radikalsten Formen hat die neue Politik in Xinjiang angenommen, wo die Angst vor uigurischem Separatismus und Radikalisierung durch die angeblichen Verbindungen zu fundamentalistischen Organisationen in Zentralasien und im Nahen Osten die chinesischen Behörden dazu veranlasst hat, eine große Anzahl von Uiguren und ebenso Kasachen in »Umerziehungslager« zu stecken und ein fast vollständiges Verbot der meisten öffentlichen Bekundungen religiöser Praxis zu erlassen. Berichten zufolge wurden Tausende Moscheen geschlossen oder sogar abgerissen und der Religionsunterricht eingestellt. Während die Situation in anderen Teilen des Landes weniger schlimm ist, haben Muslim*innen anderer Ethnien die Auswirkungen des wachsenden Misstrauens der Regierung hinsichtlich ihrer Loyalität gegenüber dem Parteistaat ebenfalls zu spüren bekommen. In den Provinzen Ningxia, Gansu und Yunnan wurden arabische Sprachkurse in den Moscheen unterbunden, in Ningxia wurden einige bekannte muslimische Schulen geschlossen (Chen 2019). Die offensichtliche Abneigung der Regierung gegen alles Fremde – ablesbar an der Entfernung der arabischen Schrift aus dem öffentlichen Raum oder am Verbot der Moschee-Architektur im Stil des Nahen Ostens und der Forderung nach »Sinifizierung« des Islams – bedeutet für Menschen muslimischen Glaubens, dass sie ihre Anpassung an die chinesische Kultur demonstrieren müssen. Eine Strategie, um der Kritik der Regierung an der von Hui dominierten »Islamischen Vereinigung Chinas« und ihrem Vorsitzenden Imam Yang Faming zu entgehen, scheint darin zu bestehen, wiederholt auf die jahrhundertelangen Praktiken der Unterweisung in den heiligen Schriften und ihrer intellektuellen Tradition der Han Kitab zu verweisen. So versprach der Vorsitzende Yang in seiner Rede in der Dongsi-Moschee in Peking im Mai 2018, nicht nur die Verfassung und die neuesten Vorschriften für religiöse Aktivitäten einzuhalten, sondern auch Klassiker des Han-Kitab-Kanons wie Liu Zhis Tianfang Dianli und Tianfang Xingli sowie Ma Zhus Qingzhen Zhinan an sämtliche Moscheen des Landes zu verteilen (Yang 2018). In einer früheren Rede versprach Yang, dass

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seine Organisation ihre Bemühungen um die »Standardisierung des traditionellen Jingtang Jiaoyu« als eines der Mittel zur Erfüllung der Forderungen von Xi Jinping nach einer stärkeren politischen Zuverlässigkeit des religiösen Personals verstärken werde (Yang 2017). Derzeit scheint es die größte Hoffnung des Islams zu sein, sicher durch den abermals aufgekommenen ideologischen Sturm zu steuern und an seinen jahrhundertelangen, einzigartigen Bildungstraditionen sowie den mit ihrer Hilfe entwickelten Anpassungsstrategien festzuhalten.

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Islamische Erziehung in China

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Jamal Malik

Muslim*innen und religiöse Bildung in Südasien mit Schwerpunkt Indien

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag bietet einen Überblick über die komplexe Situation der muslimischen Bevölkerung Südasiens, mit besonderer Berücksichtigung Indiens, und ihrer religiösen Bildungsinstitutionen wie Medresen und staatliche Schulen. Zwar ist es aufgrund der gebotenen Kürze des Beitrags nicht möglich, die faszinierende Geschichte, auf die der Islam in dieser Region zurückblickt, ausreichend zu würdigen; es wird jedoch versucht, die nach wie vor wichtige bildungsmäßige Rolle der Medresen aus verschiedenen Perspektiven zu diskutieren – dies vor dem Hintergrund der besonderen Situation der muslimischen Bevölkerung als weltgrößte Minderheit in der pluralen indischen Gesellschaft.

1.

Einführung

Der im Folgenden dargestellte Bereich der indischen Gesellschaft findet hierzulande weder in den Medien noch im wissenschaftlichen Betrieb gebührend Berücksichtigung, und dies ungeachtet der tief greifenden Wechselbeziehungen zwischen muslimischen Kulturträgern und Hindus, die bereits seit frühislamischer Zeit bestehen und die sowohl das Hindutum als auch den Islam in Südasien sowie – seit 1947 – das säkulare Indien nachhaltig geprägt haben. Hier sind sich, wie auch anderswo, Minderheit und Mehrheit begegnet, haben sich voneinander abgegrenzt oder gegenseitig ergänzt und konzeptualisiert und somit stets ein kulturelles und äußerst komplexes Ensemble gebildet. In den Interaktionen treten Gruppenbildungsprozesse zum Vorschein, die religiös interpretiert werden und je nach Interessenlagen der Gruppen in ethnischer, sprachlicher und politischer Hinsicht variieren können. Religiosität wird dabei zum sprachlichen und symbolischen Ausdruck verschiedener Verhandlungsprozesse zwischen Mehrheit und Minderheit, Religion zum ordnungspolitischen Interpretationsrahmen

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gesellschaftlicher Realität. Das heißt aber auch, dass das religiöse Repertoire funktionalen Charakter hat, sich also dem Kontext anpasst. Trotz der jahrhundertelangen Wechselbeziehungen wird Indien gemeinhin als Land der Hindus wahrgenommen. Tatsächlich aber spielen islamische Elemente im kulturellen Gedächtnis Indiens auch gegenwärtig noch eine zentrale Rolle, wie an den zahlreichen Symbolen indomuslimischer Kultur ersichtlich ist: Das Taj Mahal, ein von den Moguln erbautes Mausoleum aus dem 17. Jahrhundert, ist hierzulande als Zeichen indischer Kultur doch weitaus bekannter als etwa ein hinduistisches Mandala.

2.

Zusammensetzung der muslimischen Bevölkerung Indiens – zahlenmäßige Verteilung

In Südasien – Pakistan, Indien und Bangladesch – lebt heute sogar ein größerer Anteil der muslimischen Weltbevölkerung als im Mittleren Osten. In Indien betrug die Zahl der Menschen muslimischen Glaubens im Jahre 1991 etwa 120 Millionen, 2015 war sie bereits auf 195 Millionen angestiegen, was etwa 15 Prozent der indischen Bevölkerung entspricht. Davon gehören etwa 80 Prozent der sunnitischen und 20 Prozent der schiitischen Glaubensrichtung an. Damit bilden die Muslim*innen in Indien über elf Prozent der muslimischen Weltbevölkerung (Delval 1984, S. 18f.; Gupta 1984, S. 182; Kettani 2010) und zugleich die größte religiöse Minderheit weltweit, die gleichwohl in hohem Grad heterogen – religiös, sozial, wirtschaftlich und politisch – ist. Die muslimische Bevölkerung Indiens ist über fast alle 29 Bundesstaaten und die sieben zentral verwalteten Unionsterritorien verteilt – von einer hohen Konzentration von nahezu 75 Prozent im Nordwesten, etwa in Jammu und Kaschmir, bis zu einem verschwindend geringen Anteil von einem Prozent in Orissa, im Osten des Landes. Zudem leben indische Muslim*innen mehrheitlich in den Städten (Muthiah 1990, S. 10). Nach einer landesweiten Umfrage der National Sample Survey Organisation (NSSO) lebten im Jahre 2019 29 Prozent der ländlichen muslimischen Bevölkerung in absoluter Armut, 51 Prozent davon als Landlose. Demgegenüber lag der Anteil der landlosen Hindus bei 40 Prozent (The Hindu 2016). Eine grobe ethnisch-politische Unterscheidung lässt sich zwischen den im Süden und den im Norden lebenden Muslim*innen treffen, wobei der Fluss Narmada die topografische Grenze zwischen Nord und Süd markiert. Erstere scheinen aufgrund ihrer verhältnismäßigen wirtschaftlichen und sozialen Isolation von den übrigen muslimischen Gemeinden urbaner und politisch aktiver zu sein als jene im Norden. Letztere profitieren nämlich noch von den ihnen vor

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1947 von den verschiedenen muslimischen Regimen zugewiesenen Pfründen, die sie jedoch nach und nach verlieren (vgl. Imam 1980). Die muslimische Bevölkerung Indiens ist weder hinsichtlich ihrer Gesellschaftsstruktur noch im Hinblick auf ihre kulturelle Artikulation einheitlich – ganz zu schweigen von den Formen religiöser Institutionalisierung und Organisation. Demnach handelt es sich bei ihr eher um ein Konglomerat vieler muslimischer Gemeinden (Gupta 1984, S. 182; vgl. Emmerich 2020). Abul Kalam Azad (gest. 1958), ein Freiheitskämpfer und später Erziehungsminister, fasste diese strukturelle Heterogenität wie folgt zusammen: »Man kann sie [die Muslime] zwar durch ihre Anti-Hindu Gefühle zusammenführen, nicht aber im Namen des Islams.« Der Mythos einer einheitlichen islamischen Identität geht im Wesentlichen auf eine Praxis der Kolonialherren des 19. Jahrhunderts zurück: Diese differenzierten verschiedene indische Gruppen vornehmlich nach Religionen statt etwa nach Sprachen und Interessen oder gesellschaftlicher Zusammensetzung (Saxena 1981, S. 134; Pandey 1990). Die Alphabetisierungsrate der muslimischen Bevölkerung lag 2001 mit 59,1 Prozent weit unter dem nationalen Durchschnitt von 65,1 Prozent. Auch die Altersgruppe der 6- bis 13-Jährigen hinkt mit einer Alphabetisierungsquote von 74 Prozent dem Landesdurchschnitt von 90,2 Prozent hinterher (Riaz 2008, S. 164).

2.1

Religiöse Unterschiede innerhalb der muslimischen Gemeinde

Die ländliche Bevölkerung ist bisweilen noch in feudalen Strukturen organisiert und folgt einem von Volksfrömmigkeit geprägten Islam. Die Vorherrschaft dieser Anschauungen in ländlichen Regionen ist oftmals das Ergebnis einer Personalunion von örtlichem Großgrundbesitzer und religiösem oder spirituellem Führer. Dieser Volksislam ist integrativ, man spricht von einer »Indigenisierung des Islams«: Die eigene muslimische Gemeinde nimmt bestehende außerislamische Elemente in sich auf (Krishna 1976, S. 148, 160; Gilmartin & Lawrence 2002). In Städten ansässige Gruppen tendieren hingegen eher zum Skripturalismus, wie er vom sogenannten »Fundamentalismus« propagiert wird, obgleich unter ihnen – und zwar nicht nur bei den ärmeren Schichten – auch volksreligiöse Werte populär sind. Der Skripturalismus hat seine gesellschaftliche Basis meist in den mittleren und unteren Mittelschichten und vertritt nicht selten einen islamischen Purismus oder eine Islamisierung (versus Indigenisierung) (vgl. Krishna 1976; Ahmad 1976, 1985). Dennoch wird die durch den Kolonialismus eingeführte und bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung strukturell nicht infrage gestellt. Dieser Purismus, im Verbund mit der Überzeugung, eine

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unterdrückte Minderheit zu sein, führt oft zur Abschottung und Isolation von der als kulturell andersartig empfundenen Umwelt und mündet nicht selten in religiös motivierte Auseinandersetzungen. 2.1.1 Das Kastenwesen Das Kastenwesen ist ein Prinzip der sozialen Ordnung und zeichnet sich durch Hierarchie, Grundsätze zur rituellen Reinheit, Endogamie und durch berufliche Spezialisierung aus (Osterhammel 1998, S. 330f.; Ahmad 1976). Darüber hinaus sind in einer nach Kasten geordneten, ideologisch und religiös grundierten Hierarchie gesellschaftliche Kontakte zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Kasten untersagt (vgl. Ahmed 1973, S. XX–XXXI). Die muslimische Bevölkerung Indiens, ja ganz Südasiens, spiegelt tatsächlich einige dieser Kriterien wider. Insbesondere die unteren und mittleren sozialen Schichten sind meist endogam, in höheren ist auch Exogamie anzutreffen. Die Gründe für endogames Verhalten liegen in dem Wunsch, die eigene wirtschaftliche Position abzusichern, weniger im Bedürfnis, die muslimische Kultur und Religion zu bewahren. Rituelle Reinheit spielt daher eine untergeordnete Rolle. Die berufliche Spezialisierung schafft gegenseitige Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Gruppen. Jede Kaste oder Gruppe übt einen bestimmten Beruf aus (Jajmani-System), auf den oftmals bereits der Name hinweist. Während der Zusammenhang von Beruf und Kaste in unteren sozialen Schichten nach wie vor ausgeprägt ist, machen sich in industrialisierten Regionen und in urbanen Zentren unter den mittleren und höheren Schichten bei der Spezialisierung und damit auch der Endogamie bereits Auflösungstendenzen in diesem Ordnungssystem bemerkbar. Der Bereich des Handels jedoch ist interessanterweise weiterhin stark endogam ausgerichtet. Die Hierarchisierung der muslimischen Bevölkerung ist insbesondere im Süden Indiens verbreitet, wenngleich in schwächerer Form als unter Hindus. Da sie eher auf nichtrituellen Kriterien wie wirtschaftliche Lage und Erziehung als auf Ritual basiert, ist sie auch durchlässiger. So gibt es die Trennung zwischen sogenannten reinen und unreinen Berufsgruppen. Einen ideologischen Überbau, welcher soziale Kontakte zwischen den Angehörigen verschiedener Kasten oder sozialer Gruppen untersagt, kennt man innerhalb der muslimischen Bevölkerung nicht. Tatsächlich verbietet der Islam dem Ideal nach ja gesellschaftliche Ungleichheit, in Wirklichkeit jedoch bestehen solche Abgrenzungen sehr wohl und werden durch die Religion selbst rationalisiert. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen muslimischer Minderheit und hinduistischer Mehrheit im Hinblick auf das Kastenwesen können wie folgt zusammengefasst werden: Bei Ersterer ist das Kastenwesen nicht religiös legitimiert. Wiewohl Phänomene wie Endogamie, die Idee des Geburtsstolzes und der Ab-

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stammung weit verbreitet sind, basieren sie nicht auf einer Ideologie der Reinheit. Viel größere Bedeutung scheinen Wohlstand und andere säkulare Faktoren, die den gesellschaftlichen Status definieren, zu haben. Ferner gibt es bei der muslimischen Minderheit keine rituell reine Kaste mit bestimmten Aufgaben wie etwa die Brahmanen. Sayyids, die direkten Nachkommen des Propheten Muhammad, ˙ genießen aufgrund ihrer Abstammung zwar eine herausragende Stellung, verfügen aber selten über das nötige Charisma, das Brahmanen eigen ist. Das muslimische Kastenwesen ist zunächst ein Resultat der kulturellen Anpassung an den Hinduismus (Akkulturation oder Indigenisierung): Der Islam südasiatischer Prägung hat sich den lokalen Kulturen angepasst beziehungsweise ist er in diese hineingewachsen, und konvertierte Hindus haben ihre sozialen Systeme in ihn hineingetragen. In den meisten heute muslimisch besiedelten Regionen haben synkretistische Elemente und Akkreszenz1 die kreative Interaktion zwischen einheimischen und fremden Ideen und Institutionen überhaupt erst ermöglicht. Gemeint ist die Übertragung islamischer Grundsätze auf die indische religiöse Weltordnung und umgekehrt; der Prophet (nabı¯) wird zur Verleiblichung einer Gottheit (avata¯ra). Abgesehen von solchen Akkulturationsprozessen wohnen jedoch auch dem Islam selbst Elemente inne, die solche tiefgreifenden – ja geradezu kastenartigen – Unterschiede zulassen. Wäre dies nicht so, würden sich im Zuge einer islamischen Durchdringung der Gesellschaft die kastenähnlichen Strukturen auflösen. Tatsächlich aber haben vorislamische Prinzipien der Reinheit und Einheit des Blutes die egalisierenden Aufrufe muslimischer Kulturträger überdauert, so z. B. die Vorstellung, dass Nachkommen der Quraisˇ, Angehörige des Stammes des Propheten Muhammad, besonders ˙ nobel seien – das sogenannte Abkunft-/ Stand- oder Nasab-Prinzip. Auch einige der im zehnten Jahrhundert aufkommenden sunnitischen Rechtsschulen erkannten der prophetischen Nachkommenschaft eine vorrangige Stellung zu, so etwa den in Indien stark verbreiteten Hanafı¯ya: Dementsprechend wurden ˙ arabischstämmige Personen als gesellschaftlich höhergestellt erachtet als nichtarabische, und unter Ersteren galten wiederum die Quraisˇ als die Vorzüglichsten. Ein Nichtaraber hingegen galt als einem Araber gleichgestellt, wenn Vater und Großvater Muslime und dazu wohlhabend genug waren, ein adäquates Brautgeld zu zahlen, aber auch dann, wenn er über eine höhere Bildung verfügte als Letzterer. Ferner genoss ein muslimischer Gelehrter höheres Ansehen als ein Kaufmann, der seinerseits in dieser Hinsicht dem Gewerbetreibenden überlegen war. Andere Rechtsschulen, so die scha¯fiʿitische und die schiitische, räumen dem Prinzip der Geburt einen noch höheren Stellenwert ein, während die Ma¯likiyya eher dem Egalitarismus zugeneigt scheint. Dies wohl deswegen, weil deren Ge1 Demnach werden neue Gottheiten der unveränderten ursprünglichen Kosmologie hinzugefügt oder mit bestehenden Entitäten des Pantheons identifiziert.

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folgschaft, die meist in Afrika verbreitet war und mithin Erfahrung mit Versklavung gemacht hatte, sich schon früh für das Prinzip der Gleichheit einsetzte. Es zeigt sich also, dass durch den starken Einfluss des Hindutums das Kastenwesen auch in die muslimische Bevölkerung Indiens Eingang fand. Abgesehen davon, dass es durch das araboislamische Prinzip der Abstammung gerechtfertigt wird, dient das Kastensystem auch innerhalb der muslimischen Gemeinde als Determinante sozialer Beziehungen (Ahmad 1978). Dies lässt sich wunderbar an den zahlreichen Heiratsanzeigen in indischen, aber auch in britischen und US-amerikanischen Zeitschriften ablesen, aus denen durchaus Kastendenken spricht, wenn es z. B. heißt, dass ein hellhäutiger Sayyid dieser oder jener Provenienz mit guter Ausbildung etc. eine entsprechende Partnerin zwecks Heirat suche. 2.1.2 Familiensystem Auch hinsichtlich des Familiensystems bestehen zwischen beiden, Hindus und Muslimen, starke Ähnlichkeiten (Ahmed 1985, S. 4–15). Letztere leben, wie Hindus, meist im Großfamiliensystem, das im Großen und Ganzen als ideale Lebensform gilt und in ganz Südasien üblich ist (vgl. Östör, Fruzetti & Barnett 1982). Der Sohn bleibt bis zum Tod des Vaters im Hause. Das vorherrschende Prinzip der Großfamilie und der Patrilokalität wird innerhalb der muslimischen Bevölkerung noch konsequenter verfolgt als in der hinduistischen. Auch die Interaktionsmuster verschiedener Familienmitglieder und die interne familiäre Machtstruktur ähneln sich stark. Von zentraler Bedeutung sind eheliche und Mutter-Sohn-Beziehungen. Daher ist das Familiensystem bis in die feinsten Einzelheiten ausgefeilt – der Onkel mütterlicherseits hat andere Funktionen als jener väterlicherseits, alle Verwandte haben eigene Titel etc. Außerfamiliäre Gruppenverbände regeln unter anderem Ehe- und Besitzverhältnisse sowie Erbangelegenheiten. Riten und Praktiken anlässlich Geburt, Heirat, Tod und Antritt der Erbfolge werden in Anlehnung an regionale Bräuche durchgeführt, sie sind mitunter sehr kostspielig und treiben ganze Familien in den Ruin. Im Gegensatz zu muslimischen Ländern ist Polygamie weit verbreitet. Dies spiegelt, gemeinsam mit den relativ einfachen Scheidungsmöglichkeiten für Männer, die auch im Hinduismus bestehende Benachteiligung der Frauen wider. Durch die fortschreitende Industrialisierung, insbesondere in den Ballungszentren, löst sich freilich die interne Autoritäts- und Interaktionsstruktur der Familien innerhalb beider Bevölkerungsteile mehr und mehr auf. Und da die unteren sozialen Schichten aufgrund der Quotenregelung nun auch über wirtschaftliche Mobilität verfügen, kommt es zu verschärften Kastenkonflikten. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass zwischen beiden Religionsgemeinschaften hinsichtlich der Strukturierung der Lebenswelten frappierende

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Ähnlichkeiten bestehen. Die Islamisierung in Indien bedeutet demnach zweierlei: Sie hat den verschiedenen muslimischen Gemeinden in Indien gestattet, die lokalen Bräuche entweder zu legitimieren oder sie mit der Scharia zu vereinbaren. Gleichzeitig hat sie den muslimischen Gemeinden die Möglichkeit eingeräumt, sich ihr eigenes Bild eines wahren Islams zu entwerfen und aufrechtzuerhalten. Dennoch bleiben indische Muslim*innen ein integraler Bestandteil des kulturellen Ensembles, in das sie eingebettet sind (vgl. Carroll 1983, S. 205–222).

2.2

Muslimische Identität

Trotz bestehender tief greifender Unterschiede innerhalb der muslimischen Gemeinschaft selbst und der jahrhundertelangen Assimilationsprozesse zwischen Hindus und Muslimen strebt die in Indien zurückgebliebene muslimische Elite – sofern sie nicht säkular orientiert ist – nach einer einheitlichen muslimischen Identität. Die meist in städtischen Zentren konzentrierten Vertreter dieser Elite – im Wesentlichen männliche Religionsspezialisten und Religionspolitiker – verfechten mitunter eine puristische Version des Islams. Sie proklamieren ihre eigenen normativen Vorstellungen als gesamtgesellschaftlich gültigen Entwurf und betrachten ihre Gemeinde als eine kollektive religiöse Minderheit – im Gegensatz zu einer nationalen Minderheit –, welche jenseits politischer Prozesse und nationaler Solidarität steht und sich lediglich für die Aufrechterhaltung ihrer Sprache (Urdu), das islamische Recht (fiqh) und die (muslimische) Kultur einsetzt. Entsprechend fordert die Elite soziale Wohlfahrtsprogramme, wirtschaftliche und politische Fragen stehen selten im Vordergrund ihres Aktivismus (Bilgrami 1980, S. 171). Nicht zuletzt fördert die Isolation der muslimischen Gemeinde von der hinduistischen Mehrheit ihre Unterrepräsentation im öffentlichen Dienst und macht damit das Dilemma indischer Muslim*innen zu einem Dauerzustand. Ihre formal apolitische Haltung geht zurück auf eine Entscheidung der All India Muslim Conference im traditionellen Kulturzentrum Lucknow im Jahre 1947, wonach die zurückgebliebene muslimische Gemeinde keine politische Partei gründen wollte, wie etwa die »Muslimliga«, die sich für die Schaffung Pakistans einsetzte, oder die »Islamische Gesellschaft« (Jamaʿat-e Islami), die diese Idee anfangs zwar ablehnte, sich aber bald im neuen muslimischen Staat für die Anerkennung der Herrschaft Gottes auf Erden starkmachte. Während die »Muslimliga« in Indien verboten wurde, blieb Letzterer nur der quietistische Weg. Entsprechend wurde 1964 die All India Muslim Majlis-e Mushawarat gegründet, die sich seither ausschließlich für die Wahrung kultureller Interessen einsetzt, während sich das All India Muslim Personal Law Board des islamischen Rechts annimmt.

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Durch die spätere linguistische Neuordnung der Bundesländer wurde die vage propagierte, aber überregionale muslimische Kollektividentität weiter regionalisiert. Das macht deutlich, dass die verschiedenen sozialen Gruppen, Lebensstile, wirtschaftlichen Positionen, die Erziehungs- und Bewusstseinsunterschiede nicht für eine einheitliche muslimische Definition dessen geeignet sind, was die muslimische Minderheit ausmacht. Andere, z. B. wirtschaftliche, Interessen können nämlich die religiösen Schranken zwischen hinduistischer und muslimischer Bevölkerung aufheben, was sich etwa im Wahlverhalten niederschlägt, wenn Muslim*innen nicht notwendigerweise Muslim*innen wählen. Muslimsein wird nur im Gegensatz zum Hindusein wichtig, obgleich auch hier der gleiche Kult, die gleichen Riten, die gleiche Sozialisation und die gleichen Heiligen hohe solidaritätsstiftende Bedeutung haben (Shakir 1980, S. 171). Ungeachtet dieser strukturellen Überlappungen, die natürlich ihre Grenzen haben, gibt es Unterschiede, die sich im Bildungswesen, im religiösen zumal, bemerkbar machen. Bildung ist für die Religion konstitutiv – schließlich muss man religiös alphabetisiert sein, um religiöse Botschaften zu empfangen, zur Kenntnis zu nehmen und zu interpretieren. Und da religiöse Bildung auch einen Teil der nationalen Kultur ausmacht, ist sie auch für den Nationalstaat von Bedeutung. Allerdings ist wegen der unüberschaubaren Fülle religiöser Denominationen verfassungsmäßige Äquidistanz vorgeschrieben. Laut Verfassung Artikel 28(1) ist religiöse Erziehung in den staatlichen Schulen nicht erlaubt. Auf der anderen Seite gestatten die Artikel 28(2), 29 und 30(1) den religiösen Minderheiten die Gründung privater Schulen und anderer Institutionen für die höhere Bildung.2 Daher finden sich in muslimischen Ballungszentren zahlreiche Medresen, die über ausgedehnte Netzwerke verfügen, zuvorderst das 1867 gegründete Seminar in Deoband. Daher haben die Verfechter eines Hindunationalismus besonders das islamische Bildungswesen und die Medresen im Fokus. Die Gemengelage ist allerdings nahezu unübersichtlich, immerhin verwaltet Indien das weltweit größte Bildungssystem, das nicht nur plural, sondern auch äußerst komplex ist. Zu Beginn der 1980er-Jahre reformiert, besteht es aus Primar- und Sekundarstufen (High School) sowie Höheren Schulen (Grundstufe, Mittelstufe und Oberstufe). Nach einer zweijährigen höheren Ausbildung sind die Absolvent*innen berechtigt, eine weiterführende Hochschule zu besuchen. Obwohl Indien 2009 den verpflichtenden Schulbesuch eingeführt hat, haben weiterhin mehr als 30 Millionen Kinder keinen Zugang zu diesem Bildungssys-

2 Einen sehr guten Überblick über die Problematik liefert Sethi (2018); siehe auch Kamat & Mathew (2010).

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tem und können keine Schule besuchen (Chopra 2019).3 Nach Lang-Wojtasik beherbergt Indien »eine der größten Zahlen von Analphabet/innen in Südasien und hat eine der größten Zahlen von Schulabbrecher/innen weltweit« (LangWojtasik 2013). Was dies anbelangt, kann sich die muslimische Bevölkerung glücklich schätzen, über eine finanziell unabhängige Institution wie die Medrese zu verfügen, der schließlich 75 Prozent der muslimischen Kinder in Indien ihre Alphabetisierung verdanken (Kaur 1990, S. 254).

3.

Islamische religiöse Bildung und die Medrese

Ein großer Teil der aktuellen Debatte über Religionsschulen in Indien und Pakistan dreht sich um deren vermeintliche Verbindung zum globalen Terrorismus, obwohl die Medresen jahrhundertelang Symbol muslimischer Gelehrsamkeit waren und weiterhin eine wichtige Rolle in der religiösen Bildung und Erziehung muslimischer Kinder spielen. Ohne ausführlich auf die historische Entwicklung der Medresen-Tradition in Indien einzugehen, soll in weiterer Folge deren besondere Bedeutung für die religiöse Bildung und Erziehung in Indien erörtert werden.

3.1

Medrese in Indien

Madrasa (im Deutschen »Medrese«) ist ein arabisches Wort und bedeutet nichts anderes als »Ort des Lernens«, »Schule«. Dieser Begriff stammt von der arabischen Wortwurzel dars, was so viel heißt wie »Unterricht« oder »Einführung« (Riaz 2008, S. 20). Gemäß dem National Council for Educational Research and Training (NCERT; gegr. 1961) betrug die Zahl der registrierten Medresen in Indien im Jahre 1973 1.033. Im Jahre 2005 war diese landesweit auf über 27.000 gestiegen (Riaz 2008, S. 172). Die Anzahl der Schüler*innen, die diese Medresen besuchen, beläuft sich auf über eine Million (ebd., S. 174). Gemäß den jeweiligen Curricula der Medresen dauert die Ausbildung zwischen zwei und sechs Jahren. Die Regierung bemüht sich zwar, die Bildung in den Medresen zu reformieren, beißt mit ihren Programmen bei den vornehmlich privat organisierten Medresen jedoch auf

3 Die Zahlen der Schüler*innen variieren. So schreibt die UNESCO in ihrem Bericht aus dem Jahre 2005, dass im Jahre 2000 etwa 27 Millionen indische Kinder keine Schule besuchten; siehe UNESCO (2005). Children out of School: Measuring Exclusion from Primary Education (S. 21). Montreal. Summiya Yasmeen et al. dokumentierten für 2004, dass 59 Millionen Kinder keine Schule besuchten (siehe Yasmeen 2004), Riaz (2008, S. 250) spricht von bis zu 60 Millionen.

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Granit, da – wie auch in Pakistan – hinter den zahlreichen Reformen staatliche Intervention, Überwachung und Vereinnahmung vermutet werden. 3.1.1 Historischer Kontext Es ist bekannt, dass muslimische Bildungsinstitutionen von den jeweils herrschenden Schichten mittels religiöser Stiftungen (waqf) gefördert wurden. Medresen konnten von höchster Bedeutung sowohl für kulturelle und imperiale als auch später für nationale Integrations-, aber auch Desintegrationsprozesse sein. Die dort gelehrten Wissenschaften zielten auf die Ausbildung von Funktionseliten, besonders Juristen, ab. Und da das islamische Recht nach langen Gelehrtendebatten einen Konsens hervorgebracht hat, der flexibel genug ist, um es zu gestatten, den Islam in verschiedenen Zusammenhängen zu leben und zu deuten, erübrigte sich eine zentrale Lehrinstitution – heraus kam vielmehr eine pluralistisch angelegte Interpretationsreligion. Daher entwickelte sich in den islamischen Bildungsstätten auch eine Wissenschaft der Disputation (ʿilm alhila¯f), die zu einem konstitutiven Bestandteil der muslimischen juristischen ˘ Ausbildung (muraʿa al-hila¯f) wurde. Abgesehen davon, dass ein solcher Rechts˘ pluralismus der normativen Integration in einem Nationalstaat wenig förderlich ist, ist er ein resignatives Eingeständnis der menschlichen Unfähigkeit, Gottes Erwartungen, die in Koran und Sunna kommunikativ niedergelegt wurden, einvernehmlich zu erfüllen. Tatsache ist, dass Recht und Jurisprudenz – weniger Theologie – die zentralen Rollen in der Lehre beanspruchten. Kurz gesagt, Medresen boten weit mehr als religiöse Bildung. Laut der Systematik des mittelalterlichen Gelehrten Ibn Haldu¯n (1332–1406) ˘ teilte man die Wissenschaften in überlieferte (naqliyya) und rationale (ʿaqliyya oder tabiʿiyya) bzw. sakrale (dı¯niyya) und profane (dunya¯wiyya) ein. Die überlieferten Wissenschaften verdanken ihre Existenz einem göttlich inspirierten Recht, beziehen sich also auf die beiden Quellenkorpora Koran und Prophetentradition sowie auf Theologie und Hilfswissenschaften wie Grammatik und Syntax. Die sogenannten rationalen Wissenschaften fußen auf Wissenschaftstraditionen anderer Religionen, wie z. B. Logik, Philosophie, Astronomie, Medizin, Mathematik und Metaphysik. Der Unterschied zwischen beiden Wissenstraditionen liegt in ihrer Bezugsquelle, das heißt göttlich oder menschlich inspiriertem Wissen (vgl. Bergh 1900). Im Zuge des empire building setzten sich die sogenannten »rationalen Wissenschaften« durch, weil sie einem weitreichenden kulturellen Integrationsprozess förderlich waren. In allen drei muslimischen Großreichen wurden zum Teil die gleichen Bücher, überwiegend Werke der Philosophie, Scholastik und Mathematik, sowie Hadithsammlungen und Rechtswissenschaft studiert. Die Lehrinhalte bezogen sich stark auf die Gelehrtentradition Irans und Zentral-

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asiens des 13./14. Jahrhunderts. Ich gehe aber von der Vermutung aus, dass im Zentrum der Lehre nicht etwa die zum Kanon geronnenen Texte bekannter traditioneller Gelehrter standen, sondern vielmehr die Kommentare, Metakommentare und Glossen späterer Tradenten, die von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort den kanonischen Texten beigefügt wurden und daher die spezifischen zeitund ortsgebundenen Fragestellungen reflektieren; als solche verweisen sie auf eine bisher in der Wissenschaft nicht wahrgenommene curriculare Dynamik. Unterschiede bestanden daher nicht nur in den Bereichen Rechtsprechung und Tradition, was auf den schiitischen bzw. sunnitischen Hintergrund der Reiche zurückzuführen ist. Unterschiede gab es wohl auch in den jeweiligen Interpretationstraditionen der kanonischen Texte. Mystik, Prophetentradition, islamisches Recht und Moral waren dabei die Hauptfächer. Von Bedeutung ist freilich auch die Art und Weise der Lehre selbst, die oftmals in Form des Frontalunterrichts, der einer Art Predigt gleichen konnte, erteilt wurde. Diese – gewissermaßen als systematisierende Kommunikation der Lehren durch Vorlesen und anschließendes Interpretieren der Texte stattfindende – »Scholastisierung« (Stewart-Sykes 2001, S. 83) hing ab vom Lehrer, von dessen Stil und Ausrichtung. Dies deutet auf eine gemeinsame Wissenskultur hin, die lokale und regionale Grenzen sowohl überschritt (vgl. Robinson 1987) als auch neu formulierte. Der in Südasien vorherrschende Lehrplan orientierte sich ab dem 18. Jahrhundert am dars-e neza¯mı¯ – benannt nach Mulla Neza¯m ad-Dı¯n (gest. 1748) aus ˙ ˙ der Residenzstadt Lucknow. Der Mulla – übrigens damals ein Ehrentitel – organisierte diesen Studienplan vor dem Hintergrund politischer Umwälzungen, als in den Peripherien des Mogulhofes autonome Territorialfürstentümer aufkamen. Dieser komplexe politische Prozess, der Anfang des 18. Jahrhunderts in eine »regionale Zentralisierung« münden sollte, wurde getragen durch ethnische oder konfessionelle Gruppierungen und war geprägt durch reale und erfundene Genealogien, lokale Patriotismen, devotionale Religionen, zentralisierte Steuersysteme und die Schaffung standardisierter Sprachen. Zu diesem Zweck waren Funktionseliten notwendig, die auch mit dem Rechtswesen vertraut waren. Das für die Integration der Fürstentümer wichtige standardisierte Rechtswesen basierte auf einer im Bildungswesen reproduzierten Logik, die mit der Vorherrschaft des Staates hochgradig vereinbar war.4 Allerdings war und ist das dars-e neza¯mı¯ ebenso wenig monolithisch wie das islamische Recht oder die ˙ islamische »Orthodoxie«. Es gibt lokale Differenzen zwischen den verschiedenen Traditionen, je nach politischer Lage und Patronageverhältnissen. Angesichts unterschiedlicher Ausrichtungen im dars-e neza¯mı¯ scheint eine Verallgemeine˙ 4 Schon der letzte Großmogul Aurangzeb hatte hierfür eine Grundlage geschaffen, als er mittels der Fatwa-Sammlung Fatawa Alamgiri die Homogenisierung des hanafitischen Rechtssystems ˙ flächendeckend durchzusetzen versuchte.

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rung über dessen Lehrinhalte schwierig, aber spätere Generationen von Wissenschaftler*innen haben immer wieder versucht, frühere Aussagen zu klassifizieren, um so ihre eigenen Erfahrungen zu rationalisieren, bis hin zu der Annahme, das dars-e neza¯mı¯ würde den Höhepunkt rationaler Wissenschafts˙ tradition darstellen (vgl. Malik 1997, S. 522), da es speziell für funktional diversifizierte Beamteneliten konzipiert war. Es kann sein, dass der Unterschied zwischen rationaler und tradierter Wissenschaft im 19. Jahrhundert von muslimischer Seite überzogen dargestellt wurde, um der kolonialen Kritik und Polemik entgegenzutreten. Man denke nur an den Juristen Thomas B. Macauley (1800–1859), der die Meinung vertrat, dass ein einziges Buchregal einer europäischen Bibliothek mehr sinnvolles Wissen enthielte als alle Weisheiten und Schriften des Orients zusammen. Ungeachtet der Unterscheidung in verschiedene Wissenschaftstraditionen durch Ibn Haldu¯n ˘ behaupteten zahlreiche muslimische Stimmen bald, dass die islamischen Wissenschaften zuvorderst rational ausgerichtet seien (vgl. Bergh 1900). Allerdings war eine solche Wissenschaftstradition – wie angedeutet – nicht auf Teile Südasiens beschränkt, sondern hatte auch Bezüge zu Traditionen, die außerhalb der Region lagen. Es handelte sich nur teilweise um eine speziell von den indischen Islamgelehrten getroffene Literaturauswahl. Die arabisch- und persischsprachigen (Haupt-)Werke wurden durch ihre geografische Verbreitung und ihre Bedeutung für das Bildungsbewusstsein auch in der nichtarabischen muslimischen Welt zum Bestandteil des allgemein islamischen Kulturerbes. Der überregionale Charakter des Lehrkanons legt nahe, dass die Gelehrten in Indien intensiv am globalen islamischen Wissensdiskurs teilnahmen und diesen mit notwendigen Kommentaren anreicherten, um ihn so für ihre eigenen spezifischen Bedürfnisse nutzbar zu machen. Infolge der kolonialen Eingriffe und der Einführung neuer Bildungssysteme in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts büßte die Medrese ihre Funktion als allgemeine Lehranstalt fast gänzlich ein und wandelte sich zu einer Institution für ausschließlich religiöse Erziehung. Dieser Trend mochte, wie immer wieder ins Feld geführt wird, geprägt sein durch die koloniale und für Europa typische Trennung von »religiös« (dı¯nı¯) und »säkular« (dunya¯wı¯), d. h. von öffentlicher und privater Sphäre. »Modernisierung« und useful education (also Naturwissenschaften, Mathematik, Ökonomie, Philosophie, Ethik und Geschichtswissenschaft) wurden zu Schlagwörtern in der kolonialen Zivilisationsmission, die schließlich die europäische Tradition der Aufklärung in eine globale Ethik umwandelte. Institutionen, die sich diesem Prozess nicht unterwarfen, wurden marginalisiert und in das Private zurückgedrängt. Nichtsdestotrotz versorgten Medresen einen Großteil der Gläubigen auch weiterhin mit Wissen (Malik 2020). In der Folge nutzten einige Gruppierungen das islamische Wissensarsenal, um gegen die koloniale Macht mobilzumachen; andere versuchten, die religiöse

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Erziehung zu reformieren oder zu konservieren, alles mit dem Ziel, die muslimische Gemeinde mit einer (islamisch) legalen Handreichung in einem kolonialen Kontext zu versorgen. Drei Denkschulen dominieren seither das sunnitische Universum in Südasien: a) Ahl-e Hadı¯t, »Leute der Prophetenüberlieferung«, die sich weigern, die Au¯ ˙ torität der Rechtsschulen (madha¯hib) anzuerkennen und synkretistische ¯ religiöse Praktiken wie Wallfahrten zu Heiligtümern ablehnen; b) die hanafitischen Gelehrten aus Deoband nahe Delhi, welche die Traditi˙ onswissenschaften – insbesondere das islamische Recht – zu erhalten und eine gemeinsame Plattform für die Interessen des sunnitischen Gelehrtentums zu bilden versuchten; c) die hanafitischen Barelwı¯ (benannt nach Bareilly, dem Geburtsort des Be˙ gründers Ahmad Riza Khan (1855–1921)), die vornehmlich in der Agrargesellschaft Nordindiens wirkten und zum Heiligenkult neigten.5 Prophetische Tradition, Recht und Mystik waren die Hauptorientierungspunkte der neuen religiösen Vergemeinschaftungsformen. Sie standen und stehen auch weiterhin in Patronageverhältnissen und bieten weit mehr als nur religiöse Bildung, wie im Folgenden näher erläutert wird. 3.1.2 Das gegenwärtige Erziehungswesen in den Medresen Dieser komplexe Prozess zog eine tiefe Spaltung innerhalb der muslimischen Gesellschaften nach sich, eine Spaltung, die vom postkolonialen Staat gerne akzeptiert und weiter vertieft wird. Denn auch die Hüter der Medresen schienen sich mit der Idee einer Trennung der Lebensbereiche in privat und öffentlich, in profan und sakral zu arrangieren: Religion, so der Konsens, war privatisiert, der Rest sollte durch die säkulare Logik des Staates reguliert werden. Das gegenwärtige Lehrangebot der Medresen ist daher nicht verständlich ohne den normativen und formativen Einfluss des postkolonialen Staates, der stets versucht hat, diese Institutionen dem formalen Erziehungswesen zu unterwerfen. Denn im Gegensatz zu den Postulaten von später aufkommenden islamistischen Strömungen, die eine Islamisierung von Politik und Gesellschaft anstrebten, versuchten die traditionellen Hüter der Religion, die ʿulama¯ʾ, ihren Einfluss offenbar allein über diesen privaten Bereich aufrechtzuerhalten. Auf diese Weise akzeptierten sie implizit die als kolonial wahrgenommene Dicho5 Zu den verschiedenen Bewegungen siehe Riexinger, M. (2004). Sana¯ʾulla¯h Amritsarı¯ (1868– 1948) und die Ahl-i-Hadı¯s im Punjab unter britischer Herrschaft. Würzburg; Metcalf, B. D. (1982). Islamic Revival in British India: Deoband 1860–1900. Princeton; Sanyal, U. (1996). Devotional Islam and Politics in British India: Ahmad Reza Khan Barelwi and his Movement 1870–1920. Delhi.

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tomie. Inzwischen hat allerdings der Kampf um diesen privaten Bereich dramatische Züge angenommen. Solange der Nationalstaat nicht versuchte, bislang unberührte, sprich private Gesellschaftsbereiche zu »kolonisalisieren«, waren die ʿulama¯ʾ mehr oder weniger gefügig und mit dieser Art von Arbeitsteilung zufrieden. Aber dessen zunehmende Übergriffe, die darauf abzielen, die Macht der Religionsspezialisten zu schmälern und sich selbst zum alleinigen Interpreten der Religion – ob öffentlich oder im Privaten ausgeübt – aufzuschwingen, bedroht die Autorität der Religionsgelehrten und schränkt ihren Handlungsspielraum weiter ein. Dergestalt werden dieʿulama¯ʾ entweder befriedet, etwa durch an Auflagen gebundene Privilegien, oder sie erfahren eine – auch legalistische – Marginalisierung. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Verstaatlichung islamischer Stiftungen; dies sollte den Medresen ihre wirtschaftliche Grundlage entziehen. In Pakistan und teilweise auch in Indien reagierten die ʿulama¯ʾ darauf mit dem Aufbau von Dachorganisationen für Medresen, die verschiedenen Denominationen folgten. Ziel war es, augenscheinlich das islamische Erziehungssystem zu reformieren, aber zuvorderst dem postkolonialen Staat die Stirn zu bieten, um die eigene Autonomie zu bewahren. In Pakistan etwa förderte die Islamisierungspolitik der 1980er- und 1990erJahre diese Tendenz durch Änderungen in den Lehrplänen – im Zuge des Bürgerkriegs in Afghanistan sogar in Richtung Gewaltverherrlichung – und Anerkennung der Urkunden tertiärer religiöser Institutionen. Diese Anerkennung wurde an die Einführung eines 16-jährigen modernisierten Lehrplans geknüpft, welcher den bislang achtjährigen des dars-e neza¯mı¯ ersetzen sollte. Im Laufe der ˙ Jahre machten die Islamgelehrten jedoch Zugeständnisse, sodass seit 2003 ein durchaus reformierter Lehrplan gelehrt wird, der zahlreiche vom Staat geförderte Fächer, wie Mathematik, Geschichte und Geografie, aber auch traditionelle Fächer und Gegenpositionen zur Ahmadiyya anbietet. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die in den Medresen gelehrten Fächer. Zu unterscheiden sind vier Stufen: Die erste Stufe ist dem Memorieren des Korans gewidmet und richtet sich an Schüler*innen unter zehn Jahren. Diese Stufe ist der zweiten nicht zwangsläufig vorgeschaltet. Die zweite Stufe dient der Vorbereitung für die Aufnahme in das dars-e neza¯mı¯ und zielt ab auf jene Schüler*innen, die nicht den achtjährigen Kanon des ˙ formalen Erziehungswesens durchlaufen haben. Diese Stufe wird in drei bis fünf Jahren absolviert. Die dritte Stufe umfasst den eigentlichen achtjährigen Lehrplan des dars-e neza¯mı¯ und wird praktisch in allen Medresen gelehrt. Diese endet mit der Quali˙ fikation alsʿa¯lim (was dem Grad eines BA oder MA entspricht).

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Die vierte und letzte Stufe nimmt weitere zwei Jahre in Anspruch und schließt mit einer Spezialisierung ab. Parallel zu den administrativen und curricularen Reformen änderte sich auch die wirtschaftliche Situation der Religionsschulen durch staatliche Zuwendungen – curriculare Reform und politische Loyalität vorausgesetzt.6 Diese zusätzlichen finanziellen Ressourcen können bis zu einem Drittel ihres Jahreseinkommens ausmachen und stehen ausschließlich den Rektoren der Schule zur Verfügung. Dies schuf neue Erwartungen und ein neues Empfängerverhalten. Darüber hinaus nahm die Zahl der an Dachorganisationen angeschlossenen Medresen dramatisch zu, zum Teil um mehrere 100 Prozent. Nicht selten werden die Schulen von der Mittelschicht und von lokalen Unternehmen unterstützt; eine ebenfalls nicht unbedeutende Rolle spielen Remigrant*innen, ganz zu schweigen von den im Krieg in Afghanistan als Fußvolk eingesetzten Absolventen der Medresen – zwischen 1986 und 1994 stellte USAID 50 Mio. USD für die Produktion von Lehrbüchern für Medresen zur Verfügung, um so den Dschihad gegen die sowjetischen Truppen zu befeuern (Mamdani 2004, 136f.). Als ebenfalls durch das Ausland gesponserte Stellvertreterkriege sind die zunehmenden Ausschreitungen zwischen Angehörigen der sunnitischen und der schiitischen Glaubensrichtung zu betrachten. Nun hätten die anerkannten Abschlüsse und die finanziellen Zuwendungen theoretisch neue wirtschaftliche Perspektiven und die Möglichkeit zur Förderung von Graduierten der Religionsschulen eröffnen können. Jedoch gab es von Staats wegen keine konkreten Überlegungen, wie und wo die Tausenden nun offiziell geprüften Islamgelehrten in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten. Diese Kurzsichtigkeit zog enorme Probleme nach sich. Es kann deshalb nicht überraschen, dass sich die mit zunehmender Marginalisierung konfrontierten Religionsgelehrten in wachsendem Maße radikalisieren. Dabei kommt ihnen zugute, dass sie in den lokalen Kontext eingebettet sind und über große Popularität verfügen. Abgesehen davon, dass sie einen Großteil der Drop-outs auffangen, sind sie durch die ihnen angeschlossenen Moscheen (von denen es in Pakistan insgesamt etwa eine Million gibt) auch in der Lage, rasch große Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren. Ein probates Medium dafür bietet die wichtige religiös-moralische Freitagspredigt (hutba), in der ge˘ ˙ sellschaftspolitische Bezüge ebenso zu finden sind wie Aufrufe zu politischer Agitation und Häretisierung. Islamistische ebenso wie politisch marginalisierte traditionalistische Kräfte bedienen sich zunehmend dieses Forums, um den Staat 6 Die Zuweisungen kamen von den zentralen und provinziellen Zaka¯t-Administrationen. Dieses System wurde 1980 von der pakistanischen Regierung ins Leben gerufen: Zehn Prozent der verbindlichen religiösen Almosen (Zaka¯t), die von Girokonten im Quellenabzugsverfahren gesammelt werden, fließen in religiöse Bildung (Malik 1989, S. 202–223, 306–311).

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Jamal Malik Verschiedene Lehrpläne auf einen Blick

Subject

A D.N. 8 y.

Quran, Reading, Memorization Dictation Arithmetic Biography of the Prophet ( Pakistan Studies General Sciences English Islamic Studies ( ) Urdu Persian History Geography Part 3: (darsProper Recitation of Quran Morphology ( ) Syntax ( ) Arabic Arabic Literature Rhetoric Prosody Islamic Law Methods of Islamic Law Interpretation of Quran Methods of Quran Interpretation Tradition Methods of Tradition Philosophy Logic Principles of Belief Science of recitation Practicing Syntax (tark b) Science of Inheritance Astronomy Understanding Qadianiyat u Islamic History Economics Political Sciences Cultural Sciences Comparative Sciences of Religion Discussions ( ) Gymnastics (tamr ) Moral ( ) Natural Sciences Social Sciences Islamic Law Tradition Methods of Tradition

B Wafaq 8 y.

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G Wafaq 16 y.

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State Wafaq Tanzim 16 y. 16 y. 16 y.

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Quellen: A = dars-e neza¯mı¯; siehe Government of Pakistan (1979). ˙ Lehrplan der Deobandi (1979). Wafâq al-madâris al-ʿarabiyyah; siehe ebd. B = achtjähriger C = Vorschlag des National Committee on Dini Madaris (1979); siehe ebd. E = Deobandi Wafâq 1984. F = Barelwi-Tanzîm 1983. G = Deobandi Wafâq 2003.

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herauszufordern und seine Legitimität in Zweifel zu ziehen. Dies macht den religiösen Unterricht und die hutba zu heiß umkämpften Räumen, weswegen der ˘ ˙ Staat versucht, die Freitagspredigt zu entpolitisieren.7 Solcherart zu Loci für die Reproduktion und Verbreitung dieser Ideen geworden, stellen die Medresen oftmals nicht nur religiöse bzw. religiös legitimierte Grenzen infrage, sondern fungieren auch als Akteure der Zivilgesellschaft in der Öffentlichkeit, in der sie nun auch miteinander konkurrieren. Sie operieren jenseits oder unterhalb der Schwelle des staatlichen Rechts und des politischen Gewaltmonopols. Die Abgrenzungs- und Radikalisierungsdiskurse werden bisweilen durch theologische Diskurse angesehener Islamgelehrter befeuert. An dieser Stelle ist die lange Tradition von Disputen, Polemiken und Häresien zu nennen, die sogenannte Widerlegungs- oder Radd-Literatur, die traditionell freilich nicht auf Indoktrination und Intoleranz gegenüber anderen religiösen Systemen fokussiert war. Man denke nur an die »Wissenschaft der Disputation« (ʿilm al-hila¯f), die zum integralen Bestandteil der muslimischen juristischen ˘ Ausbildung wurde. Demgegenüber werden diskriminierende politische und diskursive Strategien gegen sogenannte »Häretiker« – wie aus dem Lehrplan aus dem Jahre 2003 abzuleiten ist – häufig als Vorlage für weitere religiöse Ausschreitungen genutzt. All dies verschafft schließlich den traditionellen Islamgelehrten wachsenden Einfluss, der so weit geht, dass sie sogar die islamistischen Diskurse dominieren und so eine Islamisierung von unten befördern. Dieser Widerstand verweist auf ein imaginiertes Konzept der umma und etabliert zugleich globales islamisches Wissen neu. Diese äußeren und inneren Globalisierungsprozesse laufen synchron, und sie profitieren in einem hohen Maße von Transport-, Informations- und Kommunikationstechnologien. So ist einerseits der Vormarsch des homogenisierten Islams in Richtung einer mehr oder weniger uniformen globalen Zivilisation festzustellen, wie sie etwa von Vertretern postkolonialer Staaten proklamiert wird. Andererseits lassen sich verschiedene von muslimischen Gruppen als (Co-)Akteure, als Re-Akteure oder als Inter-Akteure eingenommene Positionen unterscheiden. Diese wechselseitigen Verflechtungen führen zu neuen Prozessen der Selbstauthentisierung. Dabei spiegelt die Dynamik der religiösen Landschaft die Umverteilung globaler oder staatlicher Ressourcen und der dahinterliegenden Machtstrukturen. Es kommt zur Mobilisierung gewachsener Netzwerke religiöser und gesellschaftlicher Institutionen und Loyalitäten, die über effektive Methoden sozialer Organisation und über beträchtliches religiöses Sozialkapital verfügen. Die Normen und Netzwerke des Zivilengagements sowie gesellschaftliches Vertrauen können die Organisation und Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen fördern (Kippenberg 2008, S. 61). 7 Siehe dazu den interessanten Überblicksartikel von Mattes (2005).

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Neben dem Kampf um knappe Ressourcen – sozusagen die Antwort auf die politische Ökonomie der Globalisierung und die Eingriffe »von oben« – gibt es Indizien für einen »ideellen« Widerstand: Auch die jüngsten Manifestationen religiösen »Widerstands« im Umfeld lokaler Medresen können als Reaktion auf regionale Auseinandersetzungen zwischen lokalen Gruppierungen interpretiert werden, wenn sie sozusagen »von unten« um die knappen Ressourcen kämpfen.8 Untersuchungen legen nahe, dass es sich dabei auch um einen Kampf gegen die homogenisierende Sprache der säkularen »Moderne« selbst handelt. Hier geht es nicht um ein Ringen zwischen »dem Islam« und »dem Westen« um ökonomische und politische Kontrolle, sondern um das Sich-aneinander-Messen von divergierenden Zugängen innerhalb der spezifischen Begrifflichkeit des Islams selbst – etwa mit Forderungen nach einer monolithischen religiösen Identität – auf dem Feld religiöser oder sektiererischer Alternativen. Die Homogenisierungsforderungen einer säkularen Moderne werden dabei durch zwei sehr verschiedene Formen religiösen Widerstands neutralisiert, welche sich beide im Kontext moderner Medresen ausprägen. Die erste Form des Widerstands gilt der Herausforderung homogenisierender Postulate der säkularen Moderne durch (ähnlich) universalisierende Tendenzen des Islams: Angesichts homogenisierender globaler/staatlicher Kräfte fungieren lokale Medresen selbst als Stätten der Homogenisierung muslimischen Widerstands. Ideelle Aspekte der Sektenrivalität werden so zur Triebfeder der Aktivitäten von Medresen. In der zweiten Form des Widerstands werden sowohl die homogenisierenden Tendenzen des Säkularismus als auch jene des Islams herausgefordert, und zwar durch eine Aufwertung des Pluralismus innerhalb der islamischen Tradition selbst (Malik 2008). Dies ist besonders dann der Fall, wenn Religion entprivatisiert (wird) und es infolgedessen zur Zunahme religiöser Gemeinschaften kommt, die als Gegenöffentlichkeiten Anspruch auf Autonomie erheben und die politische Ordnung herausfordern. In einem scheinbaren normativen Vakuum – dem Resultat der Schwäche des Staats und auch traditioneller Loyalitäten – kann die Brüderlichkeitsethik religiöser Gemeinschaften zum begehrten Sozialkapital werden und zum Aufbau neuer sozialer Institutionen beitragen. Dieser komplexe Prozess bringt gleichsam ein neues religiöses Spezialistentum hervor, das einerseits dem Individuum mehr Spielraum gibt, andererseits der Legitimität durch eine religiöse Gruppe bedarf. So mag – scheinbar paradoxerweise – die Individualisierung religiöser Praxis zur Machtzunahme religiöser Gemeinschaften führen. Dies 8 Hierbei handelt es sich um eine interessante Frage für die Wissenschaft, die sich mit der Beziehung zwischen gegenwärtiger politischer Ökonomie und spezifischen Mustern kontinuierlichen institutionellen Wandels beschäftigt, eine Frage, die jedoch separat behandelt werden muss.

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kann sowohl inkludierend wirken als auch exkludierend, wenn die Normen und Netzwerke des Zivilengagements gezielt eingesetzt werden, um als Brücke nach außen zu wirken, oder aber nach innen gelenkt werden, um den eigenen Zwecken zu dienen (Kippenberg 2008). Religiöse Radikalität ist dann in der Logik der politischen Ökonomie – als Widerstand gegen »von oben« angeordnete, staatlich getragene Globalisierungs- und Homogenisierungsprozesse – zu verorten, kann aber auch auf der Ebene der Auseinandersetzung mit der Identität stattfinden. Durch die säkulare Moderne herausgefordert, mobilisieren sich die konkurrierenden religiösen Auffassungen und leiten gewissermaßen Homogenisierungsprozesse »von unten« (Malik 2008) ein. In jedem Fall entstehen multi-vokale und flexible Netzwerke, die auf einer Vielzahl von Medien und Kanälen der Verständigung sowie auf gegenseitigen Verpflichtungen gründen, Verpflichtungen, die oftmals in einen elastischen Rahmen informeller Netzwerke aus Vertrauen und Verantwortung eingebettet sind.

4.

Schlussbemerkungen

Grundsätzlich repräsentiert die muslimische Bevölkerung Indiens eine Vielzahl gesellschaftlicher Identitäten, die religiöse Affinitäten neutralisieren können; dennoch sind der gegenseitigen Assimilation von Angehörigen des Hindutums und des Islams9 Grenzen gesetzt. Die Postulate von auf Wählerstimmen schielenden Religionspolitiker*innen drängen die in jeder Hinsicht heterogene muslimisch-indische Gemeinschaft politisch zusammen, sodass man versucht sein könnte, von einem einheitlichen indischen Islam zu sprechen. »Muslimsein« wird aber nur in Gegenwart eines propagierten »Hinduseins« relevant: Identität entsteht stets im Kontext. Gleichzeitig rufen die Sachwalter einer muslimischen Identitätspolitik nach Minderheitsrechten und nach der Verbesserung der Lage von Minderheiten, wie sie von zahlreichen Ausschüssen gefordert werden: so z. B. das Sachar Committee 2006, dessen Empfehlungen vom Kabinett angenommen, von der Oppositionspartei BJP jedoch abgelehnt wurden; ein auf das Wohl von Minderheiten abzielendes 15-Punkte-Programm des Premierministers (2006) ist kaum umgesetzt worden; der Bericht der Rangnath Misra Commission (nationale Kommission für religiöse und sprachliche Minderheiten) aus dem Jahr 2008 sah eine Quote von zehn Prozent für muslimische und von fünf Prozent für andere Minderheiten in Regierungsämtern und Bildungseinrichtungen sowie wichtige Rechte für DalitGemeinschaften vor. Auch dies wurde von der BJP abgelehnt, womit den An9 Vgl. die Arbeiten von Ahmad (1973, 1976, 1983, 1985). Im Süden des Subkontinents ist der Grad der Assimilation interessanterweise wesentlich höher als im Norden.

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gehörigen der muslimischen Minderheit der Dalit-Status verwehrt blieb. Die seit 2014 fest im Sattel sitzende hinduistische BJP hat durch gezielte religiöse Identitätspolitik das Bild des geächteten Muslims verhärtet. Tatsache ist, dass Nebenwirkungen einer solchen Politik nicht nur in der zunehmenden Anzahl von blutigen Unruhen wie jenen im Jahr 2013 sichtbar werden. Auch Fälle von Lynchmorden im Jahr 2015 oder die von Pro-BJP-Gruppen ins Leben gerufene aggressive »Kuhschutzbewegung« (cow vigilantism) haben zur Verschärfung der Lage beigetragen. Seit 2016 wird diese durch demografische Ängste verstärkt. Deshalb will man zum einen konvertierte Hindus zum Islam zurückführen (ghar wapsi, »zurück nach Hause«), zum anderen interreligiöse Ehen untersagen (»Love Jihad«). Zudem werden auf die Verabschiedung eines Gesetzes zum Schutz der Rechte verheirateter muslimischer Frauen und zum Verbot der Scheidung durch das Aussprechen des dreifachen Scheidungsspruchs (triple talaq) des Ehemanns heftige Reaktionen von konservativer muslimischer Seite erwartet. Hier wie dort geht es erneut um profane Interessen, die religiös verbrämt werden. Dass zusätzlich die den indischen Muslim*innen nachgesagte Loyalität gegenüber muslimischen Staaten, allen voran Pakistan, Wirkung zeigt, kann nicht erstaunen.10 In mehrheitlich muslimischen Staaten wie Pakistan wird über die Bedeutung des Islams in verschiedene Richtungen diskutiert, hier und da gibt es auch einflussreiche Islamparteien, die bei Wahlen jedoch noch nie mit einem politischen Mandat bedacht worden sind. Im säkularen Indien hingegen trifft eine religiöspolitische Partei, die BJP, auf großen Zuspruch, der ihr bei den Wahlen 2019 sogar die absolute Mehrheit einbrachte. In einer Region, in der die überwältigende Mehrheit der Menschen unter der Armutsgrenze lebt, haben utopische Erklärungen Konjunktur; sie wirken solidaritätsstiftend und aufwiegelnd, die »Revolution der steigenden Erwartungen« kann dann nur kurzfristig durch radikale Maßnahmen niedergeschlagen werden. Affären wie jene um Salman Rushdie und Taslima Nasrin sowie die zunehmende Zahl konfessioneller Ausschreitungen, die steigende Zahl von Selbstmordattentaten, die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya 1992 und die Pogrome in Gujarat 2002, sind Ausdruck zunehmender innergesellschaftlicher Konflikte, die religiös artikuliert werden. Dass die Gewalttätigkeiten nicht vor den eigenen Grenzen Halt machen und offenbar von den Hegemonialinteressen fremder Regime befördert werden,

10 Hassan, Z. (2009). Politics of Inclusion: Castes, Minorities, and Affirmative Action. New Delhi; Hassan, Z. (2012). Co-opting the Minorities. In Z. Hassan (Hrsg.), Congress after Indira. Policy, Power, Political Change (1984–2009). New Delhi; Ahmed, H., & Kaviraj, S. (2018). Indian Democracy and World’s Largest Muslim Minority. In A. Stepan (Hrsg.), Democratic Transition in the Muslim World: A Global Perspective (S. 201–226). New York; Ahmed, H. (2019). Siyasi Muslims: A Story of Political Islam(s) in India. New York.

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zeigen die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen schiitischen und sunnitischen Bevölkerungsteilen in Pakistan.11 Die Medresen nehmen in diesem Szenario eine nicht unbedeutende Rolle ein; sie bilden oftmals den Gegenpol zur staatlichen Politik, sowohl in der Islamischen Republik Pakistan als auch im säkularen Indien. Steht dort islamische Bildung nicht nur in Medresen, sondern in allen Schulen am Programm, so ist da religiöse Bildung untersagt. Diese wird innerhalb der Familie vermittelt, zudem ermöglichen verfassungsmäßig verankerte Minderheitenrechte religiöse Erziehung in privaten Institutionen. Was dies anbelangt, haben die Medresen in Indien, trotz miserabler finanzieller Verhältnisse, genügend Zulauf, weshalb sie auch weiterhin die Karrieren einer Mehrheit indischer Muslim*innen prägen werden.

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11 Zaman, M. Q. (2002). The Ulama in Contemporary Islam. Princeton, S. 118ff.; Zaman, M. Q. (2018). Islam in Pakistan, S. 189f.; Zaman, M. Q. (1998). Sectarianism in Pakistan: The Radicalization of Shiʿi and Sunni Identities. Modern Asian Studies, 1998 (32), (S. 689–716); Fuchs, S. W. (2019). In a Pure Muslim Land (Kap. 5). Chapel Hill. In seiner Untersuchung der Dynamik innermuslimischer Auseinandersetzungen seit den 1970er-Jahren argumentiert Fuchs, dass die Iranische Revolution eine Bedrohung für die sunnitischen Vorstellungen eines islamischen Staates darstelle und daher die Idee kolportiert werde, das pakistanische Schiitentum wäre so etwas wie eine fünfte Kolonne.

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Azmil Tayeb

Islamische Bildung in Malaysia

Zusammenfassung In Malaysia, einem Land, in dem der Islam die Religion der Mehrheitsbevölkerung ist, spielt die formelle und informelle islamische Bildung eine wichtige Rolle. Der im nationalen Lehrplan verankerte Islamunterricht wird an verschiedenen, über das ganze Land verteilten islamischen Privatschulen und öffentlichen Schulen erteilt, wobei das Fach »Islam« für alle muslimischen Schüler*innen obligatorisch ist. Zuständig für die islamische Bildung sind die Bundesregierung, die vom Bildungsministerium und von der »Abteilung für islamische Entwicklung« (JAKIM) vertreten wird, und die Landesregierung, für die der staatliche Islamische Rat tätig ist. Dies ist auf die Autonomie der einzelnen Länder gemäß der Verfassung zurückzuführen, welche besagt, dass jedes der Länder seine eigenen islamischen Angelegenheiten, einschließlich der Erziehung, zu verwalten hat. Aufgrund der in Malaysia praktizierten, stark zentralisierten Form des Föderalismus übt jedoch die Bundesregierung einen enormen Einfluss auf die islamische Bildung aus und untergräbt damit häufig die Autorität der Länder. Das Aufkommen eines malaiisch-islamischen Diskurses seit den 1970er-Jahren war der Hauptfaktor für die Föderalisierung der islamischen Bildung im Land, da die frühere Bundesregierung unter der National Front (BN) mit der oppositionellen Pan-Malaysia Islamic Party (PAS) um politische Legitimität konkurrierte. Dieser Beitrag zeigt auf, dass es der Wettbewerb der gegenseitigen »Aus-Islamisierung« zwischen den genannten Parteien war, der letztendlich dazu geführt hat, dass Malaysia von einer stark zentralisierten und ideologisch monolithischen Natur der islamischen Bildung geprägt wird – so wie sie auch heute in Malaysia zu erkennen ist.

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1.

Azmil Tayeb

Einführung

Im Laufe der Geschichte wurde das Gebiet in Südostasien, das heutige Malaysia, ein zentraler Handelspunkt zwischen China und Indien. Penang, Melaka und Singapur waren wichtige Anlaufhäfen der Ost-West-Handelsroute. Folglich ist Malaysia seit Hunderten von Jahren einer kosmopolitischen Kultur ausgesetzt, da Händler aus aller Welt an diesen Häfen Halt machten, um darauf zu warten, dass ein günstiger Monsunwind nach Osten oder Westen bessere Segelbedingungen schafft. Malaysia wurde zur britischen Kolonie, bis es am 31. August 1957 die Unabhängigkeit erlangte. Die Briten brachten Menschen aus China und Indien für die Arbeit in den Zinnminen und auf den Gummiplantagen ins Land, weshalb sich die drei großen ethnischen Gruppen, die heute in Malaysia vertreten sind, aus Malaysier*innen, Chines*innen und Inder*innen zusammensetzen. Geografisch ist Malaysia in zwei Teile unterteilt: die Halbinsel Malaysia, auf der die Hauptstadt Kuala Lumpur liegt, und das malaysische Borneo, das aus den Bundesstaaten Sabah und Sarawak sowie dem Bundesgebiet Labuan besteht. Die Aufnahme von Sabah und Sarawak am 16. September 1963 stärkte den multikulturellen Charakter des Landes zusätzlich, da diese Staaten die Heimat zahlreicher indigener Stämme sind. Bei allen Vorzügen, die die multikulturelle Gesellschaft Malaysias mit sich bringt – etwa die kulturelle Bereicherung durch die Esskultur oder die farbenfrohe Vielzahl unterschiedlichster ethnischer Feste –, hat sie den wesentlichen Nachteil, dass die Politik von ethnisch-religiösen Parteien und Themen dominiert wird, welche die islamische Bildung im Land stark geprägt haben, wie später noch näher erläutert wird.

2.

Muslim*innen in Malaysia

Gemäß den Zahlen des malaysischen Statistikministeriums aus dem Jahr 2018 leben in Malaysia 32,5 Millionen Menschen. Die malaysische Gesellschaft ist bekannt für ihre ethnische Vielfalt, welche sich hauptsächlich aus Malai*innen, Chines*innen, Inder*innen und verschiedenen indigenen Stämmen zusammensetzt. Malaysia ist, wie es bereits J. S. Furnivall (1939, S. 446) beschrieb, eine »pluralistische Gesellschaft«, in der sich die ethnischen Gruppen »mischen, aber nicht verbinden. Jede Gruppe hat ihre eigene Religion, ihre eigene Kultur und Sprache, ihre eigenen Ideen und Wege.« In Prozent ausgedrückt machen die Bumiputra, zu welchen Malai*innen und verschiedene indigene Gruppen gehören, 67,4 % aus, Chines*innen 24,6 %, Inder*innen 7,3 % und andere Völker 0,7 %. Die Religionsgemeinschaften setzen sich aus etwa 61,3 % Muslim*innen, 19,8 % Buddhist*innen, 9,2 % Christ*innen, 6,3 % Hindus und 3,4 % anderen zusammen. In Bezug auf das Geschlecht machen Männer 52 Prozent und Frauen

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48 Prozent aus (Malaysian Department of Statistics 2018). Artikel 160 der Verfassung besagt, dass Muslim*innen auch gleichzeitig Malai*innen sind, da die Definition einer malaiischen Person das Bekenntnis zum islamischen Glauben umfasst. Darauf ist auch die Redensart »masuk Islam, masuk Melayu« zurückzuführen, was bedeutet, dass Personen, die zu Muslim*innen werden, gleichzeitig auch zu Malai*innen werden. Die Definition einer malaiischen Person hat auch politische Folgen, da Malaysia Malai*innen besondere Privilegien gewährt, wie z. B. Quoten in den Bereichen Bildung, öffentlicher Dienst, Handel und Wissenschaft, wie dies in Artikel 153 der Verfassung festgelegt wurde. Der Islam ist die offizielle Religion Malaysias gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Verfassung. Artikel 3 Absatz 2 verleiht den Staaten, symbolisiert durch die Sultanate, die Befugnis, islamische und malaiische Angelegenheiten innerhalb ihrer Grenzen zu verwalten, einschließlich der islamischen Bildung. In der Realität werden islamische Angelegenheiten in Malaysia jedoch stark von der Bundesregierung in Putrajaya und Kuala Lumpur dominiert. In der politischen Praxis spielten ethnische und religiöse Beziehungen eine äußerst wichtige Rolle. Vom Zeitpunkt der Unabhängigkeit Malaysias im Jahr 1957 bis zum Mai 2018 wurde das Land von einer aus ethnischen politischen Parteien zusammengesetzten Koalition regiert. Die unter dem Namen National Front oder Barisan Nasional (BN) bekannte Koalition bildete den Kern einer Vereinbarung zur Aufteilung der Macht, die als »Konsoziationalismus« bezeichnet wurde. Dieser Ansatz wird häufig dort verfolgt, wo es ethnisch oder religiös fragmentierte Länder wie den Libanon oder Belgien zu regieren gilt. Die Idee hinter dem Konsoziationalismus ist es, das Interesse jeder großen Gruppe in der Gesellschaft auf höchster Regierungsebene zu vertreten, und zwar durch politische Parteien, mit dem Ziel, die Stabilität aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass die Mehrheitsbeteiligung die Minderheiteninteressen überfrachtet (Lijphardt 1969, S. 207–225). Tatsächlich gestaltete sich die Vereinbarung über die Aufteilung der Macht zwischen politischen Parteien auf ethnischer Basis in Malaysia jedoch sehr einseitig, sodass die UMNO, die malaiische politische Partei, über andere Komponenten der BN dominiert. Diese ungleichen Machtverhältnisse zwischen den Teilparteien der BN, die durch die Verschärfung des ethnisch-religiösen Diskurses seit den 1970er-Jahren veranschaulicht wurden, wirkten sich nachteilig auf die Art der Massenbildung in Malaysia und insbesondere auf den Religionsunterricht aus, was in der Folge noch detaillierter behandelt wird. Am 9. Mai 2018 fand in Malaysia die 14. Parlamentswahl statt, welche zu einem beispiellosen Regierungswechsel führte. Die neue Koalition, die an die Macht kam, die »Koalition der Hoffnung« (Pakatan Harapan, PH), ist weniger ethnisch oder religiös ausgerichtet als ihr Vorgänger, die BN. Dennoch wäre es zu früh, zu sagen, wie diese neue Vereinbarung zur Aufteilung der Macht

1218

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die Art der interethnischen und interreligiösen Beziehungen in Malaysia und damit die islamische Bildung beeinflusst.

3.

Geschichte der islamischen Bildung in Malaysia

Seit dem frühen 20. Jahrhundert lagen islamische Schulen in der Zuständigkeit des Staatlichen Islamischen Rates (Majlis Agama Islam Negeri, MAIN), der von der Autorität des Sultans über die malaiischen und islamischen Angelegenheiten in seinem Staat erteilt wurde. Die Verwaltungsräte von MAIN und die Gemeinden waren die Kontrollorgane für Medresen, Pondok- und Volksreligionsschulen (Sekolah Agama Rakyat, SAR), welche ernsthafte finanzielle Probleme hatten, wie aus einem Bericht des Ausschusses des Jahres 1956 hervorgeht, in dem finanzielle Hilfen für nichtstaatliche islamische Religionsschulen in Erwägung gezogen wurden. Dem Bericht zufolge verfügten die meisten dieser Schulen über eine schlechte Infrastruktur, unqualifizierte Lehrkräfte und willkürlich gestaltete Lehrpläne, die sich hauptsächlich auf religiöse Fächer konzentrierten (Rosnani 2004, S. 36–39). Die daraus resultierende Bildungsverordnung von 1957 berücksichtigte jedoch nicht die Empfehlung des Berichts, die finanzielle Situation der islamischen Schulen im Land zu verbessern. Während § 49 der Bildungsverordnung von 1957 vorschrieb, dass alle öffentlichen Schulen im nationalen Bildungssystem, an denen mehr als 15 muslimische Schüler*innen teilnahmen, mindestens zwei Stunden Islamunterricht anbieten mussten, geriet die Umsetzung und Finanzierung dieser Richtlinie zu einer chaotischen Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Staat und Bundesregierung, da keine der Behörden die vollen Kosten für die Bereitstellung von islamischem Unterricht an öffentlichen Schulen tragen wollte. Mit dem »Rahman-Talib-Bericht« von 1960 wurde versucht, dieses Durcheinander der Gerichtsbarkeit zu klären, indem empfohlen wurde, dass die staatliche Religionsbehörde Religionslehrer*innen an staatlich unterstützten Schulen zur Verfügung stellen sollte, während der Staat und die zentralen Behörden die Kosten für die Bereitstellung eines solchen Unterrichts teilen würden. In den Berichten von 1956 und 1960 sowie den dazugehörigen Gesetzen wurde jedoch nicht direkt auf den Stand der privaten islamischen Schulen, die sich größtenteils in bemitleidenswertem Zustand befanden, eingegangen. Viele traditionelle islamische Schulen haben ihren Lehrplan seit Beginn des 20. Jahrhunderts modernisiert, um mit den Veränderungen und Anforderungen der modernen Welt Schritt zu halten. Allerdings verfügten nur wenige der islamischen Schulen über die finanziellen Mittel, die für die Umsetzung dieses Unterfangens – darunter die Einstellung zusätzlicher Lehrkräfte, die Bereitstellung neuer Lernmöglichkeiten und der Ersatz veralteter Lehrbücher – erfor-

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derlich gewesen wären, wie aus dem Bericht von 1956 hervorgeht. Zu diesem Zeitpunkt war es nicht die Priorität der Regierung, ihre Unterstützung für die islamische Bildung über das hinaus zu erhöhen, was im »Razak-Bericht« von 1956 und im »Rahman-Talib-Bericht« von 1960 vorgeschlagen wurde, da der Islam als politisches Instrument noch nicht von zentraler Bedeutung für seine Legitimität und die Aufrechterhaltung des Regimes war (Wan Abdul Rahman & Kamaruzzaman 2004, S. 11). Darüber hinaus waren private islamische Schulen – insbesondere jene der SAR – größtenteils Hochburgen der politischen Oppositionspartei PAS, was ein weiterer Grund für die fehlende Unterstützung durch die Bundesregierung war. Die »säkulare« Haltung der Bundesregierung sollte sich ändern, als Malaysia Ende der 1970er-Jahre von einer Welle der islamischen Wiederbelebung erfasst wurde.

3.1

Die Dominanz malaiischer/islamischer Positionen im nationalen Bildungssystem (1970er-Jahre bis heute)

Vor den 1970er-Jahren war der Ansatz der Bundesregierung bei der Gestaltung der nationalen Identität nicht eindeutig, da er nicht ausdrücklich die Interessen einer einzelnen ethnischen Gruppe vertrat (Enloe 1970, S. 58–67). Diese Ambivalenz ermöglichte der Bundesregierung die Flexibilität, die Forderungen nichtmalaiischer – konkret chinesischer – Bildungsvertreter*innen zu erfüllen. Die Mehrdeutigkeit war auch das Ergebnis der widersprüchlichen Ziele der Bildungspolitik. Einerseits erwartete die Regierung, dass die Bildungspolitik als ein Mittel der Integration fungieren würde, das die multikulturelle malaysische Gesellschaft hinsichtlich gemeinsamer Ideale vereinen könnte, andererseits sollte diese Politik auch die sozioökonomischen Bedingungen der Mehrheit der zu dieser Zeit größtenteils in ärmlichen ländlichen Verhältnissen lebenden malaiischen Bevölkerung verbessern (Bock 1971, S. 155). Diese Dynamik sollte sich ab Anfang der 1970er-Jahre ändern, als die Regierung eine stärker malaiisch bzw. auf den Islam ausgerichtete Bildungspolitik verabschiedete. Diese politische Änderung hatte zwei Gründe: die Rassenunruhen am 13. Mai 1969 und die islamische Wiederbelebung, welche Ende der 1970er-Jahre einsetzte. Es gibt unterschiedliche Versionen über die Rassenunruhen vom 13. Mai 1969, kurz gesagt handelte es sich dabei um Zusammenstöße zwischen malaiischen und chinesischen Gruppen, die zu Hunderten von Todesfällen und Verletzungen sowie zu schweren Sachschäden führten (National Operations Council 1969; Kua 2007). Die Wurzeln der Unruhen lagen in der wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen den armen ländlichen Malai*innen und den wirtschaftlich überlegenen Chines*innen, die schnell zum Schlachtruf in den Wahlkampfkampagnen der United Malay National Organization (UMNO) wurde, jener malaiischen Partei,

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die damals die Regierungskoalition dominierte. Nach den Rassenunruhen wurde die »Neue Wirtschaftspolitik« (Dasar Ekonomi Baru) oder NEP ins Leben gerufen, ein positives Aktionsprogramm, das den Bumiputera (»Söhne des Bodens«) zugutekommen sollte, von denen die meisten der malaiischen Ethnie angehörten. Die NEP war Teil des aggressiven Vorstoßes der UMNO-geführten Regierung zur Erhöhung des malaiischen Status in allen Lebensbereichen, auch auf Kosten anderer Nicht-Bumiputra-Gruppen. 1970 gründete die Regierung die Nationale Universität von Malaysia (Universiti Kebangsaan Malaysia, UKM) als erste Hochschule, in der die einzige Unterrichtssprache das Malaiische war. Die Regierung unternahm auch konzentriertere und entschlossenere Anstrengungen, um die Vormachtstellung der malaiischen Sprache in der Bildung zu etablieren. Die nationale Bildungspolitik nach 1970 spiegelte das Bekenntnis zur malaiischen Identität wider, wie die verschärfte Rhetorik der malaiischen Ermächtigung im politischen Diskurs nach den Rassenunruhen von 1969 zeigt. Die obligatorische Verwendung der malaiischen Sprache war eine dieser Maßnahmen, die als Mittel zur Ausübung einer von Malaiisch dominierten nationalen Identität diente. 1970 kündigte Bildungsminister Abdul Rahman Ya’akob an, dass ab dem Jahr 1978 alle standardisierten nationalen Prüfungen in malaiischer Sprache stattfinden würden (Bock 1971, S. 184). Das Ministerium importierte sogar Lehrkräfte aus Indonesien, um die offenen Stellen zu besetzen, die für den Unterricht auf Malaiisch in allen Fächern, außer Englisch, erforderlich waren (Bock 1971, S. 184). Der Aufstieg der malaiischen Identitätspolitik ab den 1970er-Jahren führte zum Konzept des Ketuanan Melayu (»malaiische Vorherrschaft«), das unter anderem von der nichtmalaiischen Bevölkerung die Einhaltung des malaiisch/ islamisch geprägten Begriffs der malaysischen Nationalität verlangte. 1971 formulierte die Regierung die nationale Kulturpolitik (Dasar Kebudayaan Kebangsaan), unverrückbarer Mittelpunkt der Regierungsidee der »malaysischen Kultur« (Jabatan Penerangan Malaysia) waren die malaiische Kultur und der Islam. In den 1970er-Jahren begann eine »Malaiisierungspolitik«, welche seit Beginn der Unabhängigkeit darauf abzielte, den öffentlichen Dienst von britischen Expatriates zu säubern und die Anstellung von Malai*innen aller Ethnien zu forcieren. Dies schaffte der »malaiischen« Politik einen Raum, der die Anstellung von Malai*innen gegenüber anderen Ethnien begünstigte.1 Der Anteil der Malai*innen in leitenden und anderen beruflichen Positionen 1 1957 besetzten europäischstämmige Personen 82,6 Prozent der hochrangigen malaiischen Beamtenposten, Malai*innen hatten keine leitenden Positionen inne. Bis 1967 kehrte sich dieser Trend vollständig um: Nun besetzten 30,3 Prozent der Malai*innen und keine Europäer*innen mehr leitende Positionen. Der malaiische Verwaltungsdienst (46,7 Prozent) und der staatliche öffentliche Dienst (22,9 Prozent) bildeten den Rest des bürokratischen Personals (Shafruddin 1987, S. 164–174).

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im öffentlichen Dienst stieg drastisch von 14,1 Prozent im Jahr 1957 auf 67,8 Prozent bis Ende des Jahres 1999 (Khoo 2005, S. 18f.). Dieser Trend wurde auch durch die zunehmende Einschreibung malaiischer Studierender an öffentlichen Universitäten infolge der NEP begünstigt. 1970 machten diese 40,2 Prozent aller an öffentlichen Einrichtungen eingeschriebenen Studierenden des Tertiärbereichs aus. Bis 1995 war die Zahl auf 61,6 Prozent gestiegen. Der Anteil der Studierenden nichtmalaiischer Herkunft sank von 56,2 Prozent im Jahr 1970 auf 38,4 Prozent im Jahr 1995 (Khoo 2005, S. 21). Die malaiisch ausgerichtete Bildungspolitik der Regierung führte auch zu einem Massenexodus chinesischer Schüler*innen in chinesischen Grundschulen, als die Regierung Anfang der 1970er-Jahre begann, alle englischsprachigen Grundschulen in malaiischsprachige umzuwandeln. Bis 2011 machten chinesische Schüler*innen nur mehr drei Prozent an den malaiischen mittleren öffentlichen Grundschulen und 22 Prozent an den nationalen malaiischen Sekundarschulen aus. Ähnlich verhält es sich mit den indischen Schüler*innen, die ein Prozent der insgesamt eingeschriebenen malaysischen Grundschüler*innen und sieben Prozent der malaysischen Sekundarschüler*innen ausmachen. Ironischerweise gibt es nun mehr malaiische Schüler*innen an chinesischen Grundschulen (neun Prozent) als chinesische Schüler*innen an nationalen Grundschulen (drei Prozent) (Preliminary Report: Malaysia Education Blueprint 2012, S. 95). In Bezug auf die ethnische Zusammensetzung des Lehrpersonals an nationalen Grund- und Sekundarschulen machten 2011 die Bumiputera (die meisten davon sind Malai*innen) 81 Prozent aus, während nur 14 Prozent bzw. fünf Prozent Chines*innen bzw. Inder*innen waren (Malaysian Ministry of Education 2012, S. 96). Die zunehmende malaiische Dominanz im öffentlichen Dienst und im nationalen Schulsystem, die Anfang der 1970er-Jahre einsetzte, bereitete ein ungeeignetes gesellschaftspolitisches Umfeld für die islamische Wiederbelebung vor. Der Hauptgrund dafür war der offizielle Begriff der malaiischen Identität gemäß Artikel 160 der malaysischen Verfassung, welcher eine Malaiin bzw. einen Malaien definiert als »eine Person, die sich zur Religion des Islams bekennt, gewöhnlich die malaiische Sprache spricht und dem malaiischen Brauch gehorcht«. Die Verschmelzung von ethnischer Zugehörigkeit (malaiisch) und Religion (Islam) war zwar seit ihrem Inkrafttreten im Jahr 1957 in der Verfassung stets präsent, erlangte jedoch erst Ende der 1970er-Jahre, als der Islam im öffentlichen Diskurs an Relevanz gewann, ernsthafte politische Bedeutung. Ein weiterer Motivationsschub für islamische Aktivist*innen, die nach politischem Wandel strebten, darunter auch der ehemalige stellvertretende Premierminister Anwar Ibrahim, ging von der Iranischen Revolution von 1979 aus. Die Reaktion der malaysischen Regierung auf die Bedrohung durch die islamische Wiederbelebung zu dieser Zeit umfasste vier Methoden: weit reichende symbolische

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religiöse Zugeständnisse an den islamischen Aktivismus wie den Bau weiterer Moscheen; Forderungen von Kooperationsleiter*innen großer Dakwah-Organisationen (einschließlich Anwar Ibrahim) und ihrer eigenen offiziellen Dakwah-Aktivitäten; zunehmende Kontrolle über islamische Angelegenheiten wie Bildung und die Unterdrückung islamischer Gruppen, die nicht kooptiert werden konnten und von der Regierung als »Verräter« betrachtet wurden (Mauzy & Milne 1984; Barraclough 1983, S. 967; Abu Bakar 1981, S. 1050–1055). Im Bereich der islamischen Erziehung gab die Regierung 1979 unter dem Vorsitz des damaligen stellvertretenden Premierministers Mahathir Mohamad einen Sonderbericht des Ausschusses heraus, in dem vorgeschlagen wurde, die Staatsprüfung für die islamische Erziehung für alle muslimischen Student*innen als auch für Kandidat*innen des islamischen Lehramts obligatorisch zu machen. Diese sollten auf Grundlage der Richtlinien der Bundesregierung ausgewählt werden und es sollte in jedem Staat mindestens einen religiösen Abgeordneten geben, welcher die Durchführung des Religionsunterrichts in den Schulen überwacht (Malaysian Ministry of Education 1979). In den frühen 1980er-Jahren begann die Bundesregierung auch, Mittel für die privaten islamischen Religionsschulen (Sekolah Agama Rakyat, SAR) bereitzustellen, was zuvor aufgrund des Rufs der Schulen, die oppositionelle islamische Partei PAS zu unterstützen, als politisch problematisch empfunden wurde. Beispielsweise erhielten im Jahr 1983 680 SAR-Schulen mit 105.292 Student*innen von der Bundesregierung 3,868,035 RM, 1984 stiegen die Zuwendungen auf 92.924,165 RM für 697 SAR-Schulen mit 105.950 Student*innen (Malaysian Ministry of Education 1984). Mit der Durchdringung aller Bereiche der Regierung durch den Islam prägten mit der Politik von 1985 zur Vermittlung islamischer Werte in der Verwaltung (Dasar Penerapan Nilai-Nilai Islam Dalam Pentadbiran) und der zunehmenden Frömmigkeit innerhalb der malaiischen Gesellschaft im Allgemeinen islamische Grundsätze die malaiisch zentrierte Politik der Regierung. Die zentrale Rolle der malaiisch-islamischen Weltanschauung in der Bildungspolitik manifestierte sich in der »Nationalen Bildungsphilosophie« (Falsafah Pendidikan Kebangsaan) des Jahres 1988 und dem integrierten Lehrplan für Sekundarschulen des Jahres 1989 (Kurikulum Bersepadu Sekolah Menengah, KBSM). Während der Einfluss malaiisch/islamisch geprägter Ansichten in der Bildungspolitik seit den 1970er-Jahren offensichtlich war, handelte es sich bei der Formulierung der Nationalen Bildungsphilosophie und des KBSM um das erste Mal, dass diese Ansichten durch die von der UMNO dominierte Regierung offiziell gemacht wurden. Diese Regierung bemühte sich ebenso, ihren islamischen Ruf aufzupolieren. Religiöse Werte (sprich der Islam), wie sie von der Bundesregierung definiert und gefördert wurden, bildeten nun den Kern des nationalen Lehrplans. Diese Werte wurden nicht länger von den allgemeinen Fächern getrennt, da das Bildungsministerium die nahtlose Integration zwischen

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beiden als die effektivste Möglichkeit ansah, den Charakter junger muslimischer Schüler*innen zu formen. KBSM stand aufgrund der expliziten Rolle religiöser Werte in ihrem Inhalt und der bevorzugten Pädagogik in starkem Kontrast zu früheren nationalen Lehrplänen, um den Lehrplan mit dem religiös durchdrungenen Falsafah Pendidikan Negara in Einklang zu bringen. Während das Bildungsministerium Nilai-Nilai Murni (»tugendhafte Werte«) als universellen Charakter definierte und Religion, Kultur und Normen der malaysischen Gesellschaft nicht widersprachen, deutete die Umsetzung dieser Werte im Lehrplan auf eine hegemoniale Präsenz malaiischer/islamischer Werte in Schulen hin, welche andere Religionen und Weltanschauungen außen vor ließ. Zum Beispiel zeigt sich anhand der aktuellen Lehrplanrichtlinie des Bildungsministeriums (Huraian Sukatan Pelajaran) für das Fach »Geschichte« in der Oberstufe (Form 4), dass 50 Prozent der Inhalte islamisch orientiert sind, trotz des nichtreligiösen Charakters des Gegenstands.2 Ebenso gibt es Berichte über Fälle von malaiischer/islamischer Autorität an öffentlichen Schulen. So soll ein muslimischer Schulleiter nichtmuslimische Schüler*innen zur Teilnahme am islamischen Gebet während der Schulversammlung gezwungen haben. Ein muslimischer Lehrer soll einen nichtmuslimischen Schüler während des Unterrichts im Ramadan verboten haben, Wasser zu trinken, und ihn stattdessen aufgefordert haben, seinen eigenen Urin aus der Toilette zu trinken. Ebenso wird von Versuchen berichtet, nichtmuslimische Schüler*innen zum Islam zu konvertieren, und von einem malaiischen Schulleiter, der rassistische Reden hielt, während er sich an eine multiethnische Schülerschaft wandte (Malaysiakini 2010; Tamboo 2015; Chan 2015; Sibon 2015; Malay Mail Online 2016a). Kurz gesagt scheint das öffentliche System zu einem Nährboden geworden zu sein, auf dem die Bundesregierung den jungen Schulkindern die malaiischen/islamischen Ideen einer Nationalität vermittelt, anstatt die interethnische und interreligiöse Harmonie zu fördern. Das Bildungsgesetz von 1996 wurde durch das Bildungsgesetz des Jahres 1961 aufgehoben und verankerte die übergeordnete Position der malaiisch/islamisch zentrierten Ansichten im nationalen Bildungssystem. Der Hauptunterschied zwischen den Gesetzen der Jahre 1996 und 1961 bestand darin, dass die für die Abhaltung eines Religionsunterrichts erforderliche Mindestanzahl muslimischer Schüler*innen von 15 auf fünf reduziert wurde. Dies war ein offensichtlicher Versuch, chinesische Schulen dazu zu zwingen, der kleinen Anzahl muslimischer 2 Der islamisch orientierte Inhalt umfasst Diskussionen über die Ausbreitung der islamischen Zivilisation im Nahen und Mittleren Osten und in Südostasien sowie über die Goldene Ära des Sultanats von Malakka im 15. Jahrhundert. Der Rest des Lehrplans behandelt umfassend die Geschichte der westlichen Zivilisation und der vorislamischen Zivilisationen Südostasiens, seltsamerweise ohne Hinweis auf hinduistisch-buddhistische malaiische Königreiche auf der Halbinsel (Malaysian Ministry of Education 2015, S. 28–50).

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Schüler*innen, die diese Schulen besuchten, islamischen Religionsunterricht zu erteilen, was für die ohnehin stark unterfinanzierten Schulen eine zusätzliche Belastung darstellte. Die nichtmalaiischen Schulen mussten nun muslimische Lehrer*innen einstellen und höchstwahrscheinlich aus eigenen Mitteln finanzieren, um das Fach anbieten zu können. Einerseits wurde den nichtmalaiischen öffentlichen Schulen das Budget gestrichen und andererseits erhöhte das Bildungsministerium im Jahr 1997 die Mittelzuweisung für den Unterricht in Fächern der Islam- und Moralwissenschaften an staatlichen Schulen um 41,6 Prozent, um die Daʿwa-Aktivitäten (Missionierung) unter den Schüler*innen zu verstärken (Malaysian Ministry of Education 2001, 6–6). Aus den genannten Beispielen geht hervor, dass die Regierung seit Anfang der 1970er-Jahre – als Reaktion auf die Rassenunruhen vom 13. Mai 1969 und das Wiederaufleben des Islams in den späten 1970er-Jahren – aktive Anstrengungen unternimmt, um die nationale Identität in der malaiisch-islamischen Art und Weise zu formen. Die Bildungspolitik ist dabei lediglich eines der Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.

3.2

Öffentliche und private religiöse Erziehung

In Malaysia gibt es schätzungsweise 2.440 islamische Schulen (ungefähr eine Schule pro 7.110 Muslim*innen) (Malaysian Department of Islamic Development 2013, S. 30; Department of Statistics Malaysia 2018), die mehrheitlich entweder unter der Leitung und Kontrolle der Bundesregierung (Bildungsministerium) oder der Landesregierung (»Staatlicher Islamischer Rat« oder Majlis Agama Islam Negeri) stehen. Privat geführte Schulen wie traditionelle Pondokund Tahfiz-Schulen (in welchen der Koran auswendig gelernt wird) sind überwiegend ländlich und nicht Teil des nationalen Bildungssystems, obwohl sie in der Regel von ihren jeweiligen Landesregierungen beaufsichtigt werden. Das malaysische Ministerium für islamische Entwicklung (Jabatan Kemajuan Islam Malaysia, JAKIM), das Teil der Bundesregierung und das Gesicht der islamischen Orthodoxie ist, überwacht auch islamische Schulen und Lehrpläne. Das Gesamtbudget des JAKIM für das Jahr 2018 betrug 810.890.000 RM (194,6 Mio. USD), wovon ein großer Teil zur Finanzierung eines islamischen Grundbildungsprogramms unter dem Namen Kelas Al-Quran dan Fardhu Ain (KAFA) verwendet wird. Das Budget des malaysischen Bildungsministeriums für 2018 betrug 45.962.406.300 RM (11,03 Mrd. USD) (Malaysian Ministry of Finance 2018, S. 101, 479). Als wichtigster Entscheidungsträger der islamischen Orthodoxie in Malaysia hat das JAKIM die Aufgabe der Formulierung und Durchsetzung der »richtigen« islamischen Werte in der muslimischen Gemeinschaft, welche sich in der islamischen Bildung deutlich bemerkbar machen (Azmil 2017).

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Islamische Bildung in Malaysia

Nationale Islamische Sekundarschulen (SMKA)

Von der Regierung unterstützte islamische Schulen (SABK)

Abteilung für Islamische Entwicklung (JAKIM)

Staatlicher Islamischer Rat

Bildungsministerium

Staatliche Islamschulen (SAN)

Islamische Volksschulen (SAR)

Von der Regierung unterstützte islamische Schulen (SABK)

Islamische Volksschulen (SAR)

Abbildung 1: Verwaltung islamischer Schulen in Malaysia (formelle Bildung)

Hinsichtlich der Arten von islamischen Schulen haben muslimische Eltern in Malaysia die Qual der Wahl, abhängig von ihren Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten. Im Allgemeinen können islamische Schulen in die Kategorien »formell« oder »informell« eingeteilt werden. Formelle islamische Schulen sind Teil des nationalen Bildungssystems und bieten neben religiösen auch allgemeine Fächer an. Schüler*innen formeller islamischer Schulen sind verpflichtet, an der nationalen Prüfung teilzunehmen, womit sie sich für eine Hochschulausbildung qualifizieren können. Die meisten formellen islamischen Schulen sind öffentlich und werden entweder vom Bildungsministerium oder vom Staatlichen Islamischen Rat verwaltet. In den letzten Jahren nahm die Anzahl der formellen privaten islamischen Schulen stetig zu. Formelle islamische öffentliche Schulen sind die nationalen islamischen Sekundarschulen (Sekolah Menengah Kebangsaan Agama, SMKA), staatlich unterstützte Islamschulen (Sekolah Agama Bantuan Kerajaan, SABK), staatliche islamische Schulen (Sekolah Agama Negeri, SAN) und islamische Volksschulen (Sekolah Agama Rakyat, SAR). Wie in Abbildung 1 dargestellt, umfasst die Verwaltung islamischer Schulen in Malaysia überlappende Zuständigkeiten dreier Stellen: des Bildungsministeriums (über die Abteilung Islamische Bildung), des Staatlichen Islamischen Rats und der Abteilung für islamische Entwicklung (JAKIM). Die sich überschneidenden Zuständigkeiten führen mitunter zu Uneinigkeiten zwischen Bund und Ländern, insbesondere in Staaten, die von der Oppositionspartei – wie in Kelantan der Fall – regiert werden. Darauf soll später noch näher eingegangen werden. Formelle islamische Privatschulen sind zwar nicht so zahlreich wie formelle öffentliche islamische Schulen, erfreuen sich jedoch bei wohlhabenden Muslim*innen, die sich die hohen Gebühren der Schulen leisten können, zunehmender Beliebtheit. Die Hauptattraktion formeller privater islamischer Schulen ist ihr integrierter Lehrplan, der islamische Werte mit allgemeinen Fächern verbindet, um Wissen zu islamisieren und auf die beruflichen Karrieren vorzubereiten (Azmil 2018, S. 197–215). Viele dieser privaten islamischen Schulen werden von Dakwah-

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Gruppen wie Pertubuhan IKRAM und »Malaysian Islamic Youth Movement« (Angkatan Belia Islam Malaysia, ABIM) gegründet, um ihre islamischen Werte in der Gesellschaft zu verbreiten. Mittlerweile gibt es informelle islamische Schulen wie Pondok, Tahfiz und einige SAR, die nicht Teil des nationalen Bildungssystems sind. Diese Schulen bieten ausschließlich islamische Lehrpläne an – im Fall von Tahfiz-Schulen liegt der einzige Schwerpunkt auf dem Auswendiglernen des Korans. Viele muslimische Eltern schicken ihre Kinder in diese Schulen, weil sie glauben, dass ihnen dort ein strengeres religiöses Lernen geboten werde als in formellen islamischen Schulen, das sie darauf vorbereitet, bessere Muslim*innen zu werden – die an formellen Schulen unterrichteten islamischen Inhalte sind für diese Eltern nicht umfassend genug. Einige dieser informellen islamischen Schulen bieten auch Teilzeitunterricht an, was es muslimischen Schüler*innen ermöglicht, morgens formelle nichtislamische öffentliche Schulen und nachmittags mehrere Stunden lang informelle islamische Schulen zu besuchen, um ihr islamisches Wissen zu erweitern. In formellen nichtislamischen öffentlichen Schulen werden religiöse Inhalte lediglich im islamischen Religionsunterricht angeboten, welcher für alle muslimischen Schüler*innen obligatorisch ist. Tabelle 1: Anzahl der islamischen Schulen (Primar- und Sekundarstufe) und Schüler*innen in Malaysia im Jahr 2013 (Malaysian Department of Islamic Development 2013) Schultyp Öffentliche islamische Sekundarschulen (SMKA)

Anzahl der Schulen 57

Anzahl der Schüler*innen 39.727

Staatlich unterstützte Islamschulen (SABK) 204 Öffentliche Islamschulen (SAN) 1.204

71.020 449.770

Islamische Volksschulen (SAR) Pondok-Schulen

217 99

48.091 1.232

Tahfiz-Schulen Private islamische Schulen

347 312

17.265 37.301

Gesamt

2.440

664.406

3.2.1 Lehrplan und Lehrbücher Wie bereits erwähnt, ist die islamische Orthodoxie in Malaysia zutiefst konservativ, ihre Werte lassen sich dem Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht (Pendidikan Islam) eindeutig entnehmen. In diesem Abschnitt werden Beispiele aus drei Themenbereichen vorgestellt, die im Lehrplan des Pendidikan Islam behandelt werden: Glaube (ʿaqı¯da), Ehe und Regierungsführung/staats-

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bürgerliche Verantwortung. In Bezug auf den Glauben enthält der Lehrplan keine Hinweise auf Pluralismus und die Akzeptanz von Mehrfachinterpretationen im Islam. Er ist sehr spezifisch, wenn es darum geht, zu definieren, was die eigentliche Lehre des Islams darstellt und welche Gruppen als andersdenkend gelten. Die einzig akzeptierte Version des Islams ist die der ahl as-sunna wal-gˇama¯ʿa (»sunnitische Prägung des Islams«), andere islamische Rechtsschulen und religiöse Gruppierungen wie Schiiten, Ha¯rigˇ¯ıya, Qadiyani (Ahmadı¯ya) oder Bahai ˙ ˘ gelten als Abweichler (ajaran sesat) (Seman, Ab Halim & Ab Ghani 2012, S. 201– 208). Darüber hinaus gibt es laut Lehrplan keine Religionsfreiheit für Muslim*innen und die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion wird mit dem Tod bestraft, obwohl es in Malaysia eine solche Bestrafung nach dem Scharia-Gesetz in Wirklichkeit nicht gibt. Der Studienführer listet sogar vier Gründe auf, weshalb das Todesurteil für den Abfall vom Glauben angemessen ist: erstens als Warnung, dass der Islam keine Religion ist, mit der gespielt werden kann; zweitens um zu verhindern, dass sich die muslimische Gemeinschaft auflöst und in Chaos versinkt; drittens um den Islam vor Herabsetzung und Verunreinigung zu bewahren, und viertens um zu verhindern, dass der Abfall vom Glauben die Größe des Islams beeinträchtigt3 (Husin, Sahi, Omar & Yahaya 2014, S. 47). Kurz gesagt spiegelt der Lehrplan die Idee wider, dass nur eine einzige, monolithische Interpretation des Islams zulässig ist und es für Muslim*innen kein Recht auf Religionsfreiheit gibt. Hinsichtlich des Themas Ehe erlaubt der Lehrplan dem Ehemann ausdrücklich, seine Frau wegen Nusyuz (Ungehorsam) zu schlagen, was auch die Weigerung der Frau einschließt, Sex mit dem Ehemann zu haben, das Haus ohne die Erlaubnis des Ehemanns zu verlassen, sich schlecht gegenüber dem Ehemann zu verhalten, ungehorsam in Bezug auf die Befehle des Mannes zu handeln sowie einen nicht verwandten Mann ohne das Wissen des Ehemannes in das Haus zu lassen. Laut Studienführer muss der Ehemann, wenn er seine Frau schlägt, folgende Aspekte beachten: Erstens darf er nicht zu viel Gewalt anwenden, die zu Verletzungen führen kann; zweitens darf er keine empfindlichen Körperteile wie Gesicht und Bauch treffen; drittens darf er es nur mit der Absicht, der Frau eine Lektion zu erteilen und sie für ihre Fehler büßen zu lassen, und viertens muss das Schlagen mit einem nicht tödlichen Gegenstand erfolgen (Seman et al. 2012, S. 229). Polygamie wird im Pendidikan-Islam-Fach in Malaysia auch laut Unterrichtsplan behandelt und ist erlaubt, solange der Mann alle Anforderungen erfüllt, nämlich nicht mehr als vier Frauen zu haben, gerecht mit allen Frauen umzugehen und physisch sowie finanziell dazu in der Lage zu sein. Der Unterrichtsplan listet auch die Vorteile der Polygamie auf, die da seien die Fortpflanzung, die Betreuung von Waisen und Scheidungskindern, die Verhinderung 3 Übersetzung des Autors aus dem Malaiischen.

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von Lastern und die Erlangung von Glückseligkeit im Diesseits wie auch im Jenseits (Seman et al. 2012, S. 235–237). Diese beiden Aspekte – das Recht eines Ehemanns, seine Frau zu schlagen, und die Polygamie – verdeutlichen die konservative Interpretation des Islams, welche die Ideale des Pendidikan-IslamLehrplans in Malaysia darstellen. Das Thema Herrschaft/staatsbürgerliche Verantwortung soll verdeutlichen, dass der Islam dem Legitimationsgefühl des Staates einen politischen Nutzen bringt. Die Behandlung des Themas zeugt davon, dass der Staat eine islamische Interpretation verwendet, um den politischen Status quo zu rechtfertigen, wofür der Pendidikan-Islam-Lehrplan zahlreiche Beispiele enthält. So listet er eine Vielzahl von Verantwortlichkeiten der Bürger*innen gegenüber ihren politischen Führern auf, nämlich Gehorsamkeit (die gegeben muss, solange sie nicht von den Führern gezwungen werden, Sünden zu begehen), bedingungslose Unterstützung, auch wenn sie den Führer nicht mögen, und die Aufgabe, Führer über geeignete und diskrete Wege zu beraten, um sie und das Land in den Augen der Welt nicht öffentlich zu beschämen. Der Unterrichtsplan besagt auch, dass die Folgen für die Bekämpfung der Führer darin liegen, das Land zu destabilisieren, die Wirtschaft nachteilig zu beeinflussen und Feinden die Möglichkeit zu geben, das Land zu zerstören (Husin et al. 2014, S. 311–312; Malay Mail Online 2016b; Malaysiakini 2016). Unter dem Aspekt Staatsbürgerschaft rechtfertigt der malaysische Lehrplan auch die Anwendung repressiver Gesetze, um das Land vor seinen Feinden zu schützen und Stabilität zu gewährleisten. Der Unterrichtsplan besagt, dass Handlungen von Feinden des Landes vereitelt werden können, indem verdächtige Aktivitäten überwacht, rechtliche Schritte gegen bedrohliche Aktivitäten eingeleitet und Präventionsgesetze erlassen werden, welche die Bedrohung im Keim ersticken können (Husin et al. 2014, S. 308). Es wurde Klage dagegen erhoben, dass regierungsnahe Ansichten auch in die nationalen Prüfungen der Oberstufe (Sijil Pelajaran Malaysia, SPM) für das Fach Pendidikan Moral, ein Pendidikan-Islam-Äquivalent für nichtmuslimische Student*innen, einbezogen wurden (Azlee 2015). Daraus geht klar hervor, dass der malaysische Staat aktiv versucht, Werte in den Lehrplan für islamische Bildung einzubringen, von welchen er glaubt, dass sie seine Herrschaft legitimieren und den Status quo bewahren können. 3.2.2 Extracurriculare islamische Bildung Religiöse Aktivitäten nach dem regulären Schulunterricht sind im Allgemeinen von der Art der Schule abhängig. Nichtislamische öffentliche Schulen organisieren aufgrund der geringen Religiosität ihrer muslimischen Schüler*innen in der Regel außerschulische Programme, die sich auf die Grundlagen des Glaubens konzentrieren, wie z. B. geeignete Gebetsmethoden und Koran-Rezitations-

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stunden. Diese Programme sind nicht obligatorisch und werden von den Schulen nach Maßgabe ihrer eigenen Kapazität und Bedürfnisse durchgeführt. Wie bereits erwähnt, besuchen viele muslimische Schüler*innen nichtislamischer öffentlicher Schulen am Nachmittag informelle islamische Schulen, um weiteren Religionsunterricht zu erhalten. Dies bedeutet, dass diese informellen islamischen Schulen die Rolle nichtislamischer öffentlicher Schulen bei der Organisation von außerschulischen religiösen Programmen übernehmen. In der Zwischenzeit konzentrieren sich islamische öffentliche Schulen wie SMKA, SAR und SAN stärker auf religiös orientierten, nicht regulären Nachmittagsunterricht, hauptsächlich, um den Religionsunterricht während der regulären Schulstunden zu verbessern und ihr Image als islamische Schulen zu bewahren. Die Zugehörigkeit zum nationalen Bildungssystem bedeutet für viele islamische öffentliche Schulen, dass sie hinsichtlich ihres Lehrplans Kompromisse eingehen müssen, indem sie ihren religiösen Inhalt reduzieren, um allgemeine Fächer aufzunehmen. Sie fördern religiöse Inhalte durch außerschulische Aktivitäten, wie das Studium wegweisender religiöser Texte, welche nicht im Lehrplan enthalten sind, die Teilnahme an Lernkreisen namens Usrah oder Halaqa oder die Durchführung einer Andachts- und Gebetsstunde über Nacht, welche Qiyamul Lail genannt wird. Private integrierte islamische Schulen in Malaysia bieten ihren Schüler*innen ein umfassenderes außerschulisches Religionsprogramm an. Dies ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass es sich bei diesen Schulen um Ganztagsschulen handelt, was bedeutet, dass die Schulzeiten von 8:00 bis 16:30 oder 17:00 Uhr dauern. Die höhere Anzahl an Schulstunden ist ein wichtiges »Verkaufsargument« für berufstätige muslimische Eltern, haben sie so doch die Möglichkeit, ihre Kinder nach der Arbeit abzuholen, im Gegensatz zu den öffentlichen Schulen, die normalerweise um 13:00 Uhr enden. Die wenigen zusätzlichen Stunden nach dem Unterricht geben diesen Privatschulen auch die Zeit und Gelegenheit, ihren Schüler*innen ihre Werte zu vermitteln, da diese Schulen von Dakwah-Aktivist*innen gegründet wurden. Integrierte islamische Schulen in Malaysia führen Usrah-Aktivitäten in der Grundschule als Teil ihres Tarbiya-Programms (Bildungsprogramm) ein. Diese Studienkreise dauern bis zum Abitur. Die Schulen betrachten Usrah als integralen Bestandteil ihrer Bemühungen, den Charakter, die Führungsqualitäten und das Bewusstsein der Schüler*innen für die Probleme der Gesellschaft und der muslimischen umma zu stärken (Pusat Pendidikan Al-Amin Berhad 2014). Diese privaten integrierten islamischen Schulen organisieren ein außerschulisches Programm unter dem Titel Rihlah (»körperliche Betätigung im Freien«), das sich aus Pfadfinderaktivitäten, Camping und Wandern zusammensetzt. IKRAM, eine Dakwah-Organisation, die ein Netzwerk integrierter islamischer Schulen namens Musleh betreibt, organisiert Pfadfindertreffen und Camping-

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ausflüge wie Perkhemahan Nasional Kadet Remaja Sekolah Musleh und Mukhayyam Latihan Kader Du’at (LKD) (Musleh Berhad o. J., S. 18f., 24). Diese Schulen organisieren auch eine andere Art von Rihlah, die Kembara Dakwah (»Dakwah-Tour«), bei der die Schüler*innen zwischen ein und zwei Wochen in isolierten muslimischen Gemeinden in den Dörfern Sabah, Sarawak und Orang Asli bei den Ureinwohner*innen auf der Halbinsel Malaysia leben, um bei der Stärkung der islamischen Praktiken dieser Gemeinschaften zu helfen (Musleh Berhad o. J., S. 18, 20; Pertubuhan Ikram Malaysia 2015). IKRAM- und ABIMSchulen organisieren regelmäßig Rihlah als Schlüsselkomponente ihres ideologischen Indoktrinationsprozesses, um durch ihre Programme zur Ausbildung islamischer Führungskräfte eine neue Generation muslimischer Führer zu fördern (latihan kepimpinan Islam) (Zainah 1990, S. 95–100). Viele dieser privaten integrierten islamischen Schulen organisieren auch die bereits erwähnten Qiyamul-Lail-Aktivitäten als erforderlichen Bestandteil ihres außerschulischen Programms (Pusat Pendidikan Al-Amin Berhad 2014). In Musleh-Schulen machen beispielsweise Qiyamul-Lail-Nächte zehn Prozent der Gesamtnote aus, die benötigt werden, um eine Teilprüfung zu bestehen (Tunas Kadet Remaja Sekolah Musleh program) (Pusat Pendidikan Hidayah Johor Bahru 2014). Diese privaten integrierten islamischen Schulen kombinieren normalerweise die Qiyamul-Lail-Aktivitäten mit Rihlah, nämlich mit dem Camping, da Qiyamul Lail eine Übernachtung außer Haus vorsieht. Wie auch in anderen außerschulischen Gruppenaktivitäten, die von integrierten islamischen Schulen organisiert werden, besteht der Hauptzweck von Qiyamul Lail darin, den Schüler*innen die Werte der Dakwah-Bewegung in einem weniger formellen Umfeld zu vermitteln, was im Vergleich zum regulären Unterricht wohl eine effektivere Methode der ideologischen Indoktrination darstellt. Außerschulische religiöse Aktivitäten an nichtislamischen öffentlichen Schulen können in ihrer multiethnischen und multireligiösen Studentenschaft für Aufruhr sorgen. Zum Beispiel veranstalten einige nichtislamische öffentliche Schulen im Rahmen der jährlichen ʿI¯du l-Adha¯-Feier Demonstrationen gegen ˙˙ das Ritual der Kuhschlachtung auf dem Schulgelände. Dieses Ritual ruft bei hinduistischen Schüler*innen und Eltern Empörung hervor, da es von Hindus, welche Kühe als heilige Wesen betrachten, als respektlos angesehen wird (MCCBCHST 2011). Trotz der mangelnden Sensibilität einiger der nichtislamischen öffentlichen Schulen bei der Organisation ihrer religiösen außerschulischen Aktivitäten sind die meisten außerschulischen Programme annehmbar, insbesondere, wenn das Bildungsministerium genau beobachtet, was die Schulen in- und außerhalb der Klassenräume veranstalten.

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4.

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Herausforderungen und Möglichkeiten

Die radikale Weltanschauung übt auf die weitgehend konservative malaiischmuslimische Bevölkerung in Malaysia eine gewisse Anziehungskraft aus (A.R. 2014). Laut Global Attitude Survey 2015 des Pew Research Center haben elf Prozent der malaysischen Bevölkerung eine positive Meinung zum IS, verglichen mit nur vier Prozent in Indonesien. Dieses Ergebnis wird durch eine Umfrage des Institut Kajian Strategik Malaysia (MYRISS) aus dem Jahr 2017 ergänzt, in deren Zuge 5.062 Proband*innen von 20 öffentlichen Universitäten in ganz Malaysia befragt wurden. Demnach zeigten erstaunliche 42 Prozent der Student*innen öffentlicher Universitäten Sympathie für den IS (Da¯ʿisˇ). Im Jahr 2018 ergab eine vom Merdeka-Zentrum durchgeführte regionale Umfrage, dass 28 Prozent der malaysischen Muslim*innen »gewalttätige« Tendenzen aufwiesen, wenn es darum ging, Gewalt im Namen des Islams zu rechtfertigen, und 18,1 Prozent zeigten Sympathie für die gewalttätige religiöse Terroristengruppe Jemaah Islamiyah (Aiman 2018). Hinsichtlich des Sympathisierens mit dem IS (Da¯ʿisˇ) war in den letzten Jahren auch ein alarmierend starker Anstieg zu verzeichnen, wie sich an der Zahl der von der Royal Malaysian Police (Polis Di-Raja Malaysia, PDRM) vorgenommenen Verhaftungen im Zusammenhang mit Terrorismus ablesen lässt. Im Jahr 2012 wurden lediglich vier Personen wegen Terrorismus verhaftet, im Jahr 2016 waren es bereits 292. Viele der Festgenommenen waren junge Muslim*innen unter 25 Jahren (Mohammad Aslam 2017, S. 13–17). Es ist kein Zufall, dass die zunehmenden terroristischen Aktivitäten und Verhaftungen mit der Entstehung des IS im Jahr 2013 einhergingen. Die größte Herausforderung für die islamische Erziehung in Malaysia besteht darin, den Einfluss der gewalttätigen Salafı¯-Wahha¯bı¯-Ideologie auf Lernende und Lehrende einzudämmen. Öffentliche und private islamische Schulen sind anfälliger für gewalttätige Ideologien, hauptsächlich aufgrund der Intensität ihres religiösen Lehrplans und des erhöhten religiösen Bewusstseins bei Schüler*innen und Lehrer*innen (Tayeb 2018a). Private islamische Schulen, die nicht direkt vom Bildungsministerium beaufsichtigt werden, gelten besonders als Brutstätten für radikale islamische Ideologien. Anfang der 2000er-Jahre beschuldigte die Bundesregierung einige SAR, Zentren des islamischen Radikalismus und Unterstützer dessen Aktivitäten zu sein, und setzte daher ihre Finanzierung aus. Der frühere Premierminister Mahathir Mohamad erklärte: »SARLehrer sind vom eigentlichen Zweck der Bildung abgewichen und haben den Schülern beigebracht, die Regierung und andere Muslime zu hassen« (Aziz 2003). Im März 2003 kündigte der damalige Bildungsminister Musa Mohamad im Parlament an, dass die landesweite staatliche Finanzierung der SAR, die zu diesem Zeitpunkt 268 Schulen mit 74.453 Schüler*innen und 4.429 Lehrer*innen umfasste, aufgrund ihrer schlechten Leistungen und ihrer Anti-Regierungsak-

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tivitäten an öffentliche islamische Schulen umgeleitet würde. Dies führte zur Versetzung von fast 15.000 SAR-Schüler*innen und 2.000 Lehrer*innen an andere Schulen (Utusan Malaysia 2003). Durch die Aussetzung der SAR-Finanzierung riskierte die Bundesregierung, als dem Islam gegenüber feindlich wahrgenommen zu werden (was sie seit Ende der 1970er-Jahre zu vermeiden versuchte), weshalb sie als Kompromiss beschloss, die Finanzierung der SAR im Jahr 2004, als Gegenleistung für deren Registrierung beim Bildungsministerium, wieder aufzunehmen. Im Jahr 2015 erlangte eine obskure private islamische Schule im nördlichen Bundesstaat Kedah internationale Bekanntheit, als die »New York Times« ein Video eines Religionslehrers der Schule veröffentlichte, der zum IS nach Syrien ging und dort ums Leben kam (Teng & Laffin 2015). Diese Geschichte verstärkte die Wahrnehmung, dass die privaten, meist informellen islamischen Schulen ein fruchtbarer Boden für gewalttätige dschihadistische Ideologien sind. Der weit verbreitete und einfache Zugang zu Social Media und zum Internet ist die größte Bedrohung für Religionslehrer*innen, insbesondere an islamischen Schulen, an denen das Interesse der Schüler*innen an religiösen Themen zunimmt. Wenn Schüler*innen im Internet und in Social Media nach weiteren Informationen suchen, besteht dabei immer die Gefahr, dass sie von extremistischen Ideen und IS-Personalvermittlern verführt werden (Mohamed Yasin 2017). Ein Religionslehrer an einer privaten islamischen Schule im Bundesstaat Penang gab an, es sei eine ständige Herausforderung für ihn, Fragen zu religiösen Themen von Schüler*innen zu beantworten, welche ihre Informationen aus Social Media und dem Internet beziehen, insbesondere, wenn darin ein »falsches« Verständnis der Religion verbreitet würde (Persönliches Interview, 11. Oktober 2018). Es ist nicht ausreichend, einfach den Lehrplan zu unterrichten, Lehrer*innen müssen auch mit aktuellen religiösen Themen und Debatten vertraut sein, um die Schüler*innen effektiver in den Unterricht miteinzubeziehen. Laut einem Religionslehrer an einer privaten islamischen Schule im Bundesstaat Selangor sind seiner Erfahrung nach auch Lehrer*innen – teilweise unwissentlich – dem Online-Einfluss extremistischer Gruppen wie IS (Da¯ʿisˇ) ausgesetzt, wenn sie im Unterricht extremistische Materialien verwenden, ohne deren genauen Ursprung zu kennen (Persönliches Interview, 8. Oktober 2018). Kurz gesagt sind Internet und Social Media mittlerweile zu einem Kanal geworden, über den gewalttätige dschihadistische Ideologien in Schulen verbreitet werden, was für Schüler*innen und Lehrer*innen gleichermaßen eine enorme Herausforderung darstellt. Ein multiethnisches und multireligiöses Land zu sein bedeutet für Malaysia, dass Schulen die Vielfalt in gewissem Maße feiern. Dies findet normalerweise in Form von ethnischen und religiösen Feiertagen statt. Nichtreligiöse öffentliche Schulen neigen dazu, diese Feste energischer zu begehen als religiöse Schulen,

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hauptsächlich aufgrund ihrer ethnisch vielfältigeren Schülerschaft. Selbst religiöse und monoethnische Schulen im Bundesstaat Kelantan, der zu mehr als 95 Prozent aus malaiischen Muslim*innen besteht, ermutigen ihre Schüler*innen, an den Festen anderer ethnischer und religiöser Gruppen teilzunehmen, um so Verständnis und Toleranz zu fördern (Tayeb 2018a). Während dieser Feierlichkeiten veranstalten viele nichtreligiöse öffentliche Schulen ethnische und religiöse Aufführungen und laden externe Gruppen ein, um aufzutreten und Vorträge zu halten. Diese Bemühungen können als sprichwörtliche Brücke angesehen werden, die dazu angetan ist, ethnische und religiöse Unterschiede zu überwinden, was dazu beitragen könnte, die Unwissenheit der Schüler*innen zu beseitigen und sie damit weniger anfällig für extremistische Ideen zu machen. Der Kontakt mit anderen Religionen ist wichtig, um Toleranz und Verständnis zu fördern, insbesondere im Kontext einer ethnisch vielfältigen Gesellschaft wie Malaysia. Ein Beispiel ist die Einführung des Unterrichts für andere Religionen an öffentlichen und privaten Schulen. Auf die Frage, ob andere Religionen als Bestandteil des Lehrplans für den Religionsunterricht an Schulen unterrichtet werden sollen, stimmen die Lehrer*innen prinzipiell zu, jedoch nicht in der Praxis, es sei denn, das Bildungsministerium überarbeite den Lehrplan und mache dies zu einem Teil des überprüfbaren Materials (Tayeb 2018a). Dabei ginge es eher um Einschränkungen, die durch den Lehrplan auferlegt werden, als um den Inhalt selbst. Einfach ausgedrückt sei jedes Material, das nicht getestet werden soll, die Zeit und Mühe des Unterrichts nicht wert. Darüber hinaus besteht die Sorge, dass sich einzelne Lehrer*innen nicht auf alle relevanten Religionen gleichermaßen konzentrieren können oder nicht über das entsprechende Fachwissen verfügen. Derzeit gibt es kein Ausbildungsprogramm für Lehrkräfte, das die Spezialisierung auf andere Religionen vorsieht, was es ihnen erlauben würde, das Fach effektiver zu unterrichten. Insgesamt ist die Idee, muslimische Schüler*innen durch ein Religionsmodul in der islamischen Erziehung auch mit anderen Religionen in Kontakt zu bringen, auf dem Papier attraktiv, jedoch aus den genannten Gründen schwierig umzusetzen. Schulen bieten die beste Gelegenheit, jungen Menschen die Vorzüge von interethnischer und interreligiöser Harmonie nahezubringen. Eine Analyse wichtiger nationaler Umfragen von Hwok Aun Lee zum Zustand der ethnischen und religiösen Beziehungen in Malaysia besagt, dass mehr Interaktionen zwischen ethnischen und religiösen Gruppen dazu führen, dass deren Mitglieder eine günstigere Sicht auf andere erlangen (Lee 2017). Es gibt ein malaiisches Sprichwort, um dieses Phänomen zu beschreiben: tak kenal maka tak cinta (»nicht wissen führt zu nicht lieben«). Mit anderen Worten, je mehr eine Gruppe anderen Gruppen ausgesetzt ist, desto stärker steigen Toleranz und Verständnis. Daher ist es dringend erforderlich, Toleranz und Harmonie in den Schulen durch interkulturelle Aktivitäten zu erhöhen. Beispiele für diese Aktivitäten, welche viele

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Schulen bereits durchgeführt haben, sind der Besuch von Kultstätten und ethnischen Enklaven, die Teilnahme an gemeinsamen Programmen mit anderen Schulen mit unterschiedlicher Zusammensetzung der Schülerschaft, das gemeinsame Zelebrieren religiöser Feiertage und die Einladung religiöser NGOs zu Vorträgen an den Schulen. Die genannte Studie besagt auch, dass in Malaysia zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften ein hohes Maß an Ignoranz besteht, hauptsächlich, da es sich um eine ethnisch getrennte Gesellschaft handelt. Folglich ist es für Schulen unerlässlich, Lehrer*innen und Schüler*innen durch die weitere Förderung von interethnischen und interreligiösen Interaktionen dabei zu helfen, diese Grenzen zu überschreiten.

5.

Zusammenfassung

Ungeachtet des verfassungsmäßigen Rechts der Länder, islamische Schulen und Lehrpläne in ihrem eigenen Hoheitsgebiet zu verwalten, ist die islamische Erziehung in Malaysia stark zentralisiert. Der Trend zur Zentralisierung durch die Bundesregierung begann Ende der 1970er-Jahre und ist als Reaktion auf die islamische Wiederbelebung im ganzen Land zu sehen. Die von der UMNO geführte Bundesregierung war in einen Kampf mit der oppositionellen islamischen Partei PAS um die politische Legitimität der malaiisch-muslimischen Gemeinschaften verwickelt. Die islamische Erziehung wurde zu einem der politischen Schlachtfelder, da sie der Bundesregierung die Möglichkeit gab, den religiösen Diskurs zu ihren Gunsten zu gestalten. Die Bundesregierung verfolgt bei ihren Bemühungen, die islamische Bildung zu dominieren, einen Zuckerbrot-undPeitsche-Ansatz, indem sie mit ihren erheblichen Ressourcen viele finanziell angeschlagene islamische Schulen aufnimmt und gegen jene islamischen Schulen vorgeht, welche sich weigern, die vorgegebene politische Linie einzuhalten. Infolgedessen ist der Lehrplan für islamische Erziehung in Malaysia weitgehend von der konservativen islamischen Orthodoxie geprägt, die von der Bundesregierung gefördert und durchgesetzt wird. Am 9. Mai 2018 erlebte Malaysia einen beispiellosen Wechsel der Bundesregierung, als die ehemalige BN-geführte Regierung nach einer 60 Jahre andauernden Regierungszeit gestürzt wurde. In Bezug auf die islamische Erziehung bleibt abzuwarten, ob die neue Regierung, insbesondere im Kontext der langjährigen ethnisch-religiösen politischen Kultur des Landes, eine Überarbeitung vornehmen wird.

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Islamische Bildung in Malaysia

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Nurullah Altas¸

Islamische Erziehung in der Türkei

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit unterschiedlichen Aspekten der islamischen Erziehung in der Türkei. Zu Beginn werden die Rahmenbedingungen und Kriterien beschrieben, die Einfluss darauf haben, welche Inhalte oder Aspekte Teil der Bildung und Erziehung werden. Anschließend erfolgt eine Betrachtung der Stellung der Religion und der religiösen Erziehung in der Türkei sowie ihrer Entwicklung beginnend mit der Zeit des Osmanischen Reiches bis zur heutigen Situation einschließlich der Bildungswege in der Türkei im Allgemeinen und der religiösen Bildung im Besonderen. In diesem Zusammenhang wird auf den Islam und die Situation der Muslim*innen eingegangen, und schließlich werden die islamische Erziehung, das Curriculum für den Religionsunterricht und die Lehrbücher näher betrachtet. Danach wird auf die Chancen und Risiken in Bezug auf die religiöse Erziehung an den öffentlichen Schulen und die Angebote zur außerschulischen religiösen Erziehung in Moscheen, Medresen und Korankursen eingegangen. Der Beitrag schließt mit Überlegungen dazu, welcher Ertrag sich für den Staat und die Gesellschaft durch den Religionsunterricht ergibt.

1.

Einleitung

Die Prioritäten, die sich Menschen bei der Gestaltung ihres Lebens setzen, variieren von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Individuum zu Individuum, das Bildungssystem einer Gesellschaft beziehungsweise eines Staates stellt aber in jedem Fall als allererstes die Gesellschaft selbst in den Mittelpunkt. So bestimmt das Bildungssystem die Faktoren, welche die heranwachsende Generation beeinflussen, und trifft die Erziehungsmaßnahmen ausgehend von den Werten und Überzeugungen dieser Gesellschaft. Gleichzeitig wird versucht, den Werten anderer Gesellschaften vorurteilsfrei zu begegnen. So wird ein Bildungsprogramm

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entwickelt, das jene Werte in den Mittelpunkt rückt, die im Leben als wichtig erachtet werden, und das Themen außer Acht lässt, die nicht im Zentrum des gesellschaftlichen Interesses stehen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass den Bildungsinhalt all das ausmacht, was die Menschen in ihrem Leben für wichtig erachten. Wie in allen Sozialwissenschaften gibt es auch im Bereich der Erziehung keine genaueren Kriterien, um die Reihenfolge dessen festzulegen, was am relevantesten ist. Diese Ungewissheit zeigt sich am deutlichsten, wenn es um Religion geht. Es gibt keine wissenschaftlichen oder pädagogischen Formeln, um zu bestimmen, was im Bereich der Religion wichtig ist. Das Hauptkriterium, welches bei der Bestimmung des Relevanten angewendet wird, ist oftmals die moralische und politische Ansicht der Mehrheit und deren Religion. Das wird wiederum durch die Bestimmung der gesellschaftlichen Forderungen festgestellt. Wenn jedoch diese Forderungen ausgesprochen werden, wird diesen von manchen zwangsläufig widersprochen. In der historischen Bildungstradition der Türkei war – wie in beinahe allen islamischen Ländern – die Religion das einzige Element, das in allen Bildungsgegenständen beinhaltet war. Die Medresen vertraten Bildungssysteme, die sich vollständig mit dem Islam identifiziert hatten. Obwohl auch die Berufs- und die Volksbildung (tekke/tasawwuf) religiöse Charakterzüge aufwiesen, bildete die ˙ Medrese das Gegenstück zum offiziellen Bildungsprogramm. Die Finanzierung der Medrese war hauptsächlich vom Stiftungssystem und den Gehaltszahlungen an diejenigen abhängig, die eine Leistung empfingen, weswegen die Medresen eine halbautonome Struktur besaßen. Da jedoch die Professor*innen Mitglieder der Gelehrtenklasse (ʿulama¯ʾ) waren, die sich unter staatlicher Kontrolle befand, und die Absolvent*innen der Medresen normalerweise in staatlichen Institutionen arbeiteten, entstand eine offizielle hierarchische Struktur. In der Türkei wird womöglich deshalb für sämtliche Bildungseinrichtungen, angefangen von der Volksschulbildung bis hin zur Hochschulbildung, der Begriff medrese (vom Arabischen madrasa) verwendet, um die historische Bildungstradition zu bewerten. Demnach gilt als Medrese sowohl ein winziger Raum einer kleinen Dorfmoschee, in dem das arabische Alphabet unterrichtet wird, um den Koran lesen zu können, als auch Sahn-ı Seman im Istanbuler Stadtteil Fatih, wo islamische Rechtsgelehrte (qa¯d¯ı) ausgebildet wurden. Darüber hinaus wurden all ˙ diese Medresen auch als integraler Bestandteil der religiösen Identität angesehen, denn die Medrese-Ausbildung gipfelte darin, der von Staat und Gesellschaft hoch geschätzten Gelehrtenklasse anzugehören. Aus diesem Grund wurden die in der letzten Periode des Osmanischen Reiches unternommenen Bemühungen, Schulen westlicher Art zu verbreiten, von der türkischen Bevölkerung zum Teil mit Unmut aufgenommen. Die mit der Gründung der Republik einhergegangene Schließung der Medresen führte zu

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gravierenden Problemen im Bereich der Bildung, welche bis in die Gegenwart reichen. Die schrittweise Abschaffung des Religionsunterrichts in den »westlichen« Schulen in den Jahren nach der Schließung der Medresen stellte für die Einschulung des Volkes und für die Verwirklichung der allgemeinen Bildungsziele erhebliche Hindernisse dar. Die Gesellschaft konnte die rasche Verbannung der Religion aus der Bildung nicht nachvollziehen. In der Welt von heute gewinnt die Religion immer mehr an Einfluss. Die religiösen Stimmen sprechen weiterhin wichtige Themen an und lehnen Teile des traditionellen Wissens aus den Lehrbüchern ab. In diesem Fall müssen die Schüler*innen in der Lage sein, zu unterscheiden, was die Religion und was deren einzelne Interpretationen aussagen. Wer diese Fähigkeit mangels Bildung nicht besitzt, wird nicht in der Lage sein, diese kulturelle Beeinflussung der Religion nachzuvollziehen. Die Bestimmungen der Religion verleihen den Menschen die Kompetenz, auch bei heftigen Diskussionen über tiefgründige religiöse Fragen taktvoll miteinander umzugehen. Auf diese Weise werden, ausgehend von der gemeinsamen Vision, den Platz der Religion im menschlichen Leben zu akzeptieren, Prinzipien präsentiert, welche die Individuen im Zusammenleben mit all ihren Differenzen begleiten. Die Religion ist deshalb von Wichtigkeit, weil sie Antworten auf universelle spirituelle Fragen gibt. Sie bietet den Menschen die ersten Antworten bezüglich vieler Themen, wie Schöpfung, Verantwortung, Tod, Sinn des Lebens, Sünde, Vergebung, Liebe und Gebet. Außerdem liefert die Religion auch Antworten auf die menschlichen Erwartungen und Ängste in Bezug auf das Leben. Die Universalität des Interesses hinsichtlich dieser Fragen und die Relevanz der Bemühungen der Religionen, eine Antwort darauf zu geben, ist unbestreitbar, auch wenn die unterschiedlichen Antworten der einzelnen Religionen auf diese existenziellen Fragen nicht unbedingt befürwortet werden. Falls die Schüler*innen keine Vorstellung von dieser spirituellen Dimension des Lebens haben, lassen sie die angeführten Fragen, die für die menschliche Entwicklung zentral sind, außer Acht. Es erweist sich als schwierig, die Auswirkungen von Religionsfreiheit oder den Einfluss der Religion auf die Politik zu begreifen, ohne etwas darüber zu wissen, was Religionen über die Bedeutung von spirituellen Themen, wie theologische Fragen, Rituale oder existenzielle Probleme, sagen. Wie sollen die Schüler*innen das Schiitentum oder das Alevitentum verstehen, wenn sie die Führungskämpfe nach dem Tod des Propheten Muhammad nicht kennen? Wie sollen sie die ˙ unterschiedlichen Positionen zur Abtreibung nachvollziehen können, wenn sie die religiöse Sichtweise in Bezug auf die Seele nicht kennen? Wenn die Schüler*innen nicht begreifen, wie die islamische Kultur das Heilige und das Nichtheilige im gesellschaftlichen Leben miteinander verknüpft, wie sollen sie dann

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die Ereignisse im Nahen Osten interpretieren? Die Fähigkeit der Schüler*innen, in all diesen problematischen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein Verständnis zu entwickeln, ist von der Hilfe abhängig, welche sie in ihrer religiösen Unterweisung erhalten. Die Antwort auf die Frage, was der Ausgangspunkt der religiösen Erziehung in diesen Prozessen ist, hängt von den Lebensumständen ab, in denen die Kinder leben werden; daher ist die richtige Antwort die Erkenntnis, dass die eigenen Erfahrungen der Schüler*innen wesentlich sind. Die traditionellen religiösen Konzepte werden auf irgendeine Weise in den eigenen Sprachen der Individuen und durch kulturelle Symbole ausgedrückt. Religiöse Begriffe – obwohl göttlich – werden letztendlich ab dem Moment, ab dem sie von der religiösen Literatur ausgehend Eingang in das menschliche Leben finden, also angefangen mit dem Zeitpunkt, in dem das Individuum persönlich mit diesem Begriff konfrontiert wird, aufbauend auf seine eigenen Lebenserfahrungen und auf die der Gesellschaft neu konzipiert. Die religiöse Erziehung ist in gewisser Weise ein Gespräch zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden. Dieses Gespräch ist auch ein Prozess des gemeinsamen Nachdenkens darüber, wie die Zukunft der Gesellschaft gestaltet werden kann. Es liegt in der Verantwortung der religiösen Erziehung, auch die heranwachsenden Individuen in diesen Nachdenkprozess einzubeziehen, damit auch sie einen Beitrag zur Etablierung eines religiösen Verständnisses, mit dem sie in Zukunft leben werden, leisten können. Auf diese Weise können sie ihren religiösen Erfahrungen eine Bedeutung beimessen und sie in ihrem Leben sichtbar machen. Dieser Konstruktionsprozess setzt eine Interpretationsfähigkeit voraus, deren Entwicklung wiederum Inhalte erfordert, welche Vergleiche mit unterschiedlichen Überzeugungen und Werten zulassen. Den womöglich größten Grund zur Sorge in einer solchen Situation sehen die Individuen darin, dass ihre Werte Gefahr laufen, an Bedeutung zu verlieren oder zu verschwinden, wenn sie mit anderen verglichen werden. Tatsächlich können im Leben nichtfunktionale Werte von der Gemeinschaft deaktiviert werden. Bewerten wir uns selbst einmal bezüglich eines Gottesglaubens, der nicht mit den Individuen kommuniziert, oder eines Verständnisses von Gottesdienst, der keinen Einfluss auf das Verhalten der Menschen hat und der Werte wie Gerechtigkeit, Mitgefühl, Verantwortung, Liebe, Lauterkeit, Beachtung der Rechte anderer entbehrt, wie auch von Teilen, die zwar allesamt in den Quellen vorhanden, aber im gesellschaftlichen Leben nicht anzutreffen sind: Es ist leicht zu erkennen, dass der Grund dafür, dass diese Werte in der Gesellschaft nicht anzutreffen sind, darin liegt, dass die Einzelpersonen nicht die Möglichkeit haben, sich ihre eigenen Werte zu schaffen. Es ist nicht vorstellbar, dass die religiöse Erziehung nicht den gleichen Weg beschreitet, während die Erziehungswissen-

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schaft die Individuen dazu ermutigt, in allen Fachbereichen zu fragen, zu suchen und zu finden. Die religiöse Erziehung muss auch – wie alle anderen Bereiche der Erziehung – das Individuum dazu anweisen, den religiösen Aspekt der menschlichen Erfahrung zu erforschen. In diesem Sinn ist die islamische Tradition das Labor der Schüler*innen in diesem Entdeckungsprozess. Die religiöse Erziehung muss, ausgehend von der islamischen Tradition, den heranwachsenden Generationen den Rahmen bieten, den sie benötigen. Die Kinder werden im Entwicklungsprozess, während sie die Erklärungen verteidigen, welche auf der islamischen Auslegung ihres Lebens basieren, auch die Möglichkeit haben, zu sehen, dass diese Auslegung als Ergebnis von Lebenserfahrungen zustande gekommen ist.

2.

Vom Osmanischen Reich zur Republik: Religion und religiöse Erziehung in der Türkei

Die Republik Türkei ist ein moderner Staat, der Erbe des Osmanischen Reiches ist, dessen Herrschaftsbereich sich jahrhundertelang über drei Kontinente erstreckte und welches eine einzigartige Zivilisation hervorbrachte. Das türkische Territorium liegt auf asiatischem und europäischem Boden. Aufgrund ihrer geopolitischen Eigenschaft liegt die Türkei auf der Schnittstelle zwischen der europäischen und der asiatischen Kultur. Sie ist der Treffpunkt von Zivilisationen und Kulturen. Die Republik stellt eine Zäsur dar, in welcher die innovativen Bewegungen der Tanzimat-Zeit und der konstitutionellen Periode im Osmanischen Reich weitergeführt wurden und in der ein rascher Modernisierungsprozess stattfand. Es ist zu beobachten, dass sich auch die sozialen und kulturellen Strukturen veränderten, während die Staats- und Rechtssysteme parallel zu den westlichen Demokratien umstrukturiert wurden. Vor allem das Modell des französischen Schulsystems, das auf der Einteilung in Volksschule, Mittelschule und Lyzeum basiert, welches in der konstitutionellen Periode etabliert wurde und sich ab der Gründung der Republik auch auf die Ausbildung von Lehrkräften konzentrierte, wurde im ganzen Land verbreitet. Der Entwicklungskurs nach westlichem Bildungsmodell aus der Zeit des Osmanischen Reiches wurde beibehalten. Eine der neuen Praktiken aus der republikanischen Zeit ist die Zentralisierung der Verwaltung des Bildungssystems durch das »Gesetz über die Vereinheitlichung der Bildung« (Tevhid-i Tedrisat) und die daraus folgende Schließung aller mit Stiftungen verbundenen Bildungseinrichtungen. Alle Medresen und Privatschulen, welche mit Stiftungen verknüpft waren, die eine autonome Verwaltung hatten, wurden geschlossen;

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einige Privatschulen nahmen später wieder ihren Betrieb auf, nachdem ihr Bildungsprogramm vom Bildungsministerium genehmigt wurde. Manche der Medresen, die jahrhundertelang die Grundpfeiler der islamischen Erziehung waren, bestanden – als privater Schlafsaal oder Nähkurs getarnt – weiter, obwohl ihre Weiterführung illegal war. Einige jener Medresen, die es schafften, diese Phase zu überstehen, boten später mit dem Status eines Korankurses, welcher dem Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet ˙I¸sleri Bas¸kanlıg˘ı) untergeordnet ist, Bildung an. Das heutige türkische Bildungssystem wurde gemäß dem »Grundgesetz für nationale Bildung« mit der Nummer 1739, welches am 14. Juni 1973 verabschiedet wurde, konzipiert. Laut diesem Gesetz besteht das Bildungssystem aus zwei Hauptteilen, nämlich der formalen und der non-formalen Bildung. Die formale Bildung setzt sich aus vier Stufen zusammen: Vorschulbildung, Volksschulbildung bzw. Grundschulbildung, Mittelschulbildung und Hochschulbildung. Die Vorschulbildung umfasst gemäß dem »Grundgesetz für nationale Bildung« die optionale Erziehung der Kinder zwischen drei und fünf Jahren, die noch nicht das Schulalter erreicht haben. Vorschuleinrichtungen können als eigenständige Kindergärten oder an Orten, an denen es als notwendig erachtet wird, als Vorschulklassen in Volksschulen/Grundschulen oder in anderen ähnlichen Bildungseinrichtungen eröffnet werden. Es gibt Volks- und Mittelschulen, die je eine vierjährige Bildung anbieten. Diese Phase umfasst die Bildung und Erziehung von Kindern im Alter von sechs bis 14 Jahren. Die Schulbildung in der Primarstufe ist für alle Kinder obligatorisch und an öffentlichen Schulen kostenlos. Mit dem Gesetz Nr. 4306 wurde die Schulpflicht im Jahr 1998 von fünf auf acht Jahre angehoben, und am 11. April 2012 wurde mit der Änderung des 25. Artikels des »Grundgesetzes für nationale Bildung« mit der Nummer 1739 eine zwölfjährige Schulpflicht mit möglichen Unterbrechungen eingeführt. Die drei Stufen dieser obligatorischen Phase sind eine vierjährige Volksschule, eine vierjährige Mittelschule und ein vierjähriges Lyzeum, wobei die Möglichkeit besteht, verschiedene Schultypen zu besuchen. Zu den Lyzeen zählen allgemeine Lyzeen, Lyzeen mit sprachlichem Schwerpunkt, anatolische Lyzeen, Lyzeen mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt, Lyzeen mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt, anatolische Lyzeen für Bildende Kunst, Lyzeen in Form von Abendschulen, private Lyzeen, Lyzeen mit mehreren Schwerpunkten und Lyzeen als Fernschulen. Berufsbildende und technische Lyzeen umfassen technische Lyzeen für Knaben, technische Lyzeen für Mädchen, Handels- und Tourismusschulen sowie Lyzeen für die Ausbildung von Geistlichen (Imam-Hatip-Lyzeen). Darüber hinaus gibt es auch Sonderschulen für Lernende mit einer Seh- oder Hörschwäche bzw. -behinderung oder mit körperlichen oder psychischen Behinderungen.

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Auf der anderen Seite können private und juristische Personen gemäß dem »Gesetz über private Bildungseinrichtungen« mit der Nummer 625 Schulen, Kurse und Nachhilfeinstitutionen eröffnen. In der Türkei stehen neben den öffentlichen Bildungseinrichtungen auch von privaten oder juristischen Personen gegründete Bildungseinrichtungen unter der Aufsicht und Kontrolle des Ministeriums für Bildung. Zu den privaten Bildungseinrichtungen zählen türkische Schulen, Minderheitenschulen, Schulen von Einwanderern und internationale Schulen. Die Hochschulbildung umfasst alle auf eine Mittelschulbildung aufbauenden Einrichtungen, die mindestens zwei Jahre Hochschulbildung anbieten. Die Hochschulbildung im Rahmen des nationalen Bildungssystems wird als eine Einheit organisiert, welche die Studienvorbereitung sowie das Bachelor- und das Masterstudium umfasst. Neben den staatlichen Universitäten gibt es auch Universitäten von Stiftungen. Die Auswahl der Student*innen an den türkischen Universitäten erfolgt auf der Grundlage von Prüfungen, die von der dem Hochschulrat untergeordneten zentralen Stelle für die Auswahl und Unterbringung von Student*innen (ÖSYM – Türkiye Cumhuriyeti Ölçme, Seçme ve Yerles¸tirme Merkezi) durchgeführt werden. Die non-formale Bildung besteht aus zwei Teilen: der allgemeinen und der beruflichen Bildung. Heute zählen Volkshochschulen, Ausbildungszentren für Lehrlinge, praktische Kunstschulen für Mädchen, Berufsbildungszentren und Lyzeen als Fernschulen, die dem Bildungsministerium untergeordnet sind, zu den wichtigsten Einrichtungen, an denen non-formale Bildung erteilt wird. Neben dem Bildungsministerium werden auch in anderen öffentlichen Einrichtungen sowie im privaten Sektor und in Freiwilligenorganisationen verschiedene Maßnahmen in Sachen Erwachsenenbildung durchgeführt.

2.1

Islam und Muslim*innen in der Türkei

Die Religion, welcher die Bürger*innen der Republik Türkei überwiegend angehören, ist der Islam. Früher wurde in den offiziellen Ausweisen auch die Religion angegeben, und fast jede Volkszählung ergab zu 99 Prozent Anhänger*innen des Islams. In den letzten Jahren wird die religiöse Zugehörigkeit in den Ausweisen nicht mehr angeführt, jedoch hat die neueste Untersuchung, die vom Präsidium für Religionsangelegenheiten, eine offizielle staatliche Einrichtung, durchgeführt wurde, dasselbe Ergebnis geliefert: »99,2 Prozent der Menschen, die in der Türkei leben, bezeichnen sich als Muslim*innen.« Laut der gleichen Untersuchung sind 0,004 Prozent der Bevölkerung Angehörige einer anderen Religion. Die Verteilung der Gläubigen auf die islamischen Rechtsschulen gestaltet sich folgendermaßen: 77,5 % Hanafit*innen, 11,1 % Schaf-

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iit*innen, 0,001 % Hanbalit*innen, 0,003 % Malikit*innen, 0,01 % Dschafarit*innen, 6,3 % gehören keiner Rechtsschule an, und 2,4 % wissen nicht, welcher Rechtsschule sie angehören (Türkiye’de Dini Hayat 2014). Es wird angenommen, dass jene, die ihre Rechtsschule nicht kennen, und jene, die dazu keine Angaben machten, Angehörige der alevitischen Glaubensgemeinschaft sind, denn der Grund dafür, weshalb manche Befragte ihre Rechtsschule nicht kennen, könnte der sein, dass in keiner Kategorie dieser Umfrage das Alevitentum angeführt war, sodass sie keine Möglichkeit hatten, ihre Identität auszudrücken. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Religionsbehörde das Alevitentum in der Umfrage deshalb nicht zur Auswahl stellte, weil es offiziell nicht als Rechtsschule anerkannt wird. Die nichtmuslimischen religiösen Gruppen leben hauptsächlich in Istanbul und den anderen Großstädten sowie im Südosten. Obwohl es keine genauen Zahlen gibt, kann anhand der von diesen Gruppen selbst bekanntgegeben Informationen gesagt werden, dass es etwa 90.000 armenisch-apostolische orthodoxe Christ*innen gibt. (Es wird angenommen, dass davon 60.000 türkische Bürger*innen und 30.000 Migrant*innen aus Armenien sind, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben.) Es gibt ferner 25.000 Katholik*innen (einschließlich einer großen Anzahl von Einwanderern aus Afrika und den Philippinen) und 16.000 Jüd*innen. Außerdem gibt es 15.000 russisch-orthodoxe Christ*innen (die kürzlich aus Russland eingewandert sind und eine Aufenthaltsgenehmigung haben), 10.000 Bahai, weniger als 1.000 Jesid*innen, 5.000 Anhänger*innen der Zeugen Jehovas, 7.000 Protestant*innen, 3.000 chaldäische und 2.000 griechischorthodoxe Christ*innen. Neben diesen Gruppen gibt es auch einige wenige bulgarisch-orthodoxe, nestorianische, georgisch-orthodoxe, ukrainisch-orthodoxe, assyrisch-katholische, armenisch-katholische und maronitische Gläubige, wobei ihre Anzahl nicht genau bekannt ist. Die »Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage« (Mormonen) hat schätzungsweise 300 Mitglieder (Dini Özgürlükler Raporu 2017). Die Leiter*innen der alevitischen Stiftungen schätzen, dass die alevitische Richtung 25 bis 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Die schiitische Dschafariya-Gemeinschaft schätzt den Anteil ihrer Mitglieder an der Gesamtbevölkerung auf vier Prozent. Diese Zahlen, welche hauptsächlich auf außerhalb der Türkei initiierten Forschungen basieren, sind äußerst umstritten. Akademische Arbeiten, die sich auf verschiedene spezifische Probleme konzentrieren, unterstützen die Annahme, dass diese Prozentzahlen nicht der Realität entsprechen. Die Teilnahme am Freitagsgebet und an den Feiertagsgebeten, der Wert, welcher der Pilgerfahrt beigemessen wird, und der Grad der Inanspruchnahme der Dienste der Moscheen bei und nach Todesfällen zeigen, dass etwa drei Viertel der Landesbevölkerung eine Religiosität nach sunnitischer Tradition haben.

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Ein nochmaliger Blick auf die Untersuchung des Präsidiums für Religionsangelegenheiten zeigt, dass in der Türkei 42,5 Prozent der Bürger*innen regelmäßig die täglichen rituellen Gebete verrichten. Der Anteil derer, die diese Gebete nie verrichten, beträgt 16,9 Prozent. Von den türkischen Männern gehen 57,4 Prozent jede Woche zum Freitagsgebet. Lediglich 7,2 Prozent der Männer verrichten nie das Freitagsgebet. In der ganzen Türkei haben 83,4 Prozent angegeben, dass sie fasten, solange ihre Gesundheit es zulässt. Der Anteil derjenigen, die angegeben haben, dass sie nie fasten, liegt bei 2,5 Prozent. Obwohl die alevitischen Mitbürger*innen den grundlegenden Überzeugungen und Praktiken der islamischen Tradition keineswegs ablehnend gegenüberstehen, gibt es zwischen den Sunnit*innen und den Alevit*innen einen großen Unterschied im Religionsverständnis und in den Kulturformen. Diese Unterschiede werden politisiert und spiegeln sich im Bereich der religiösen Erziehung, welche einen Teil der Allgemeinbildung ausmacht, als Debatten und Streitfälle wider. Dass sich die Dschafarit*innen im Vergleich zu den Alevit*innen im öffentlichen Diskurs besser behaupten können, liegt daran, dass sie andere Gebetshäuser haben und ihren Bedarf an Geistlichen mit im Iran ausgebildeten Mullahs decken sowie dass sie sich von den offiziellen religiösen Bildungsprogrammen distanzieren. Ein weiteres Problem ist die Einwanderung aus muslimischen Ländern, vor allem aus Syrien und dem Irak, die in den letzten Jahren stattgefunden hat. Allein die offizielle Zahl der aus Syrien stammenden Menschen dürfte an die vier Millionen betragen. Es wird behauptet, dass sich diese Zahl verdoppeln lässt, wenn diejenigen aus anderen Ländern und jene, die nicht registriert sind, hinzugefügt werden. Obwohl diese Migrant*innen Muslim*innen sind, erregt die Art der Auslegung des Islams, des Lebens und des Glaubens, welche nicht der türkischen Tradition entspricht, die Besorgnis der Gesellschaft und der Staatsverwaltung um den Transfer einer salafistischen Religiosität. Zwar gibt es in der Türkei innerhalb der offiziellen bürokratischen Struktur religiöse Institutionen und Institutionen für religiöse Erziehung, diese sind jedoch nicht befugt, ein Religionsverständnis zu vertreten. Dies sind also keine kirchenähnlichen Strukturen. Sie sind lediglich für die Organisation der von der Gesellschaft geforderten religiösen Dienstleistungen und Erziehungspraktiken verantwortlich. In diesem Sinne arbeiten 150.000 Menschen im Namen des Präsidiums für Religionsangelegenheiten für die Organisation und Durchführung der religiösen Dienstleistungen in der Republik Türkei (Erbas¸ 2018). Die Zahl der Lehrer*innen, die direkt an den Prozessen der religiösen Erziehung im Bildungsministerium beteiligt sind, beträgt rund 40.000 (I˙ktibas Dergisi 2017). Ungeachtet dieser weitverbreiteten, zentralen, offiziellen religiösen Erziehung und Organisation der religiösen Dienstleistungen ist die Landesbevölkerung keinesfalls eine homogene Gemeinschaft, die einer einzigen religiösen Auslegung

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folgt. Obwohl die offiziellen religiösen Strukturen die Aufgabe haben, die Religion zu deuten und Meinungen vorzuschlagen, sind diese Deutungen und Meinungen aufgrund der Struktur der islamischen Theologie nicht bindend. In der Tat nimmt in der Türkei mit der Verbreitung von religiösen Hochschulen und der Zunahme der akademischen Wissensproduktion auch die Religion einen pluralistischen Charakter an. Obwohl sich um traditionelle Bildungseinrichtungen herum einige Formationen gebildet haben, welche sich an den Entwicklungsprozessen und dem Wandel im religiösen Leben stören, sind ihre Stimmen in der Mehrheit noch nicht wirksam.

2.2

Islamische Erziehung in der Türkei

Die Entwicklung des Bildungsverständnisses im philosophischen Sinne und die Gestaltung der institutionellen Struktur des türkischen Bildungssystems sind sehr eng mit der Dynamik des historisch-gesellschaftlichen Wandels und der Transformation verknüpft. Die Eröffnung moderner Schulen nach westeuropäischem Vorbild, die sich von den klassischen osmanischen Bildungseinrichtungen (Schule, Medrese und Enderûn) unterscheiden, begann mit der Transformation des Osmanischen Staates im 19. Jahrhundert. Das Fundament für das heutige Bildungssystem wurde Anfang der 1920er-Jahre mit der Gründung der Republik gelegt. Die Republik wollte eine moderne, demokratische, egalitäre und partizipative Gesellschaftsordnung schaffen. Das von der Republik entworfene Menschenbild beinhaltete folgende Hauptmerkmale: aktive Teilnahme am wirtschaftlichen und sozialen Leben, Übernahme von Verantwortung, Zeigen von Engagement, Lösen von Problemen, Verinnerlichung der Prinzipien der Republik und Schutz der Republik. Die Republik zielte darauf ab, anstelle von Individuen, die ihr Schicksal akzeptieren, mit dem Gegebenen zufrieden sind und in der Vergangenheit feststecken, partizipative und engagierte Individuen heranzubilden, welche bereit sind, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Das Hauptziel war es, der Gesellschaft neue Meinungen, neue Ideen und neue Werte zu vermitteln und die Perspektive der Gesellschaft im Allgemeinen zu ändern. Im Zuge dieser Modernisierung spielte das Bildungssystem eine äußerst wichtige Rolle. Damit dieses seiner Aufgabe nachkommen konnte, war es notwendig, dass das System neu organisiert wurde und eine neue Perspektive einnahm. In dieser Hinsicht war der Übergang zum säkularen Bildungssystem der Eckpfeiler der republikanischen Bildung. Diese beruhte auf dem Prinzip, dass die Bildung den sozialen Bedürfnissen der Gesellschaft und den Erfordernissen der Zeit entsprechen müsse, die da sind Wissenschaftlichkeit, Wissensanwendung, Nationalbewusstsein, Regionalbewusstsein, Universalität und Bildung für alle.

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Nach der Gründung der Republik Türkei wurde die religiöse Bildung und Erziehung innerhalb des neuen Bildungssystems auf Grundlage der eigenen historischen Erfahrungen der Türkei und im Rahmen der laizistischen Prinzipien neu organisiert. Mit dieser Umstrukturierung wollte man erreichen, dass religiöse Erziehung und Bildung unter staatlicher Aufsicht und Kontrolle stattfindet, ohne dass die laizistischen Prinzipien verletzt werden und die Religion politisiert oder ausgebeutet wird. Außerdem war es das Ziel, dass die Individuen, ausgehend von den primären Wissensquellen, in ihrer eigenen Sprache und unter der Leitung einer geeigneten Lehrperson unterrichtet werden, sodass die religiöse Erziehung einen Beitrag zu ihrer moralischen Entwicklung leistet. Mit Blick darauf wurde am 3. März 1924 mit dem »Gesetz zur Vereinheitlichung der Bildung« die religiöse Erziehung und Bildung in der Allgemeinbildung verankert. Gemäß diesem Gesetz wurde an der ersten Universität der Republik, der »Stätte der wissenschaftlichen Disziplinen« (türk. Daru’l-Fünun; arab. Da¯r al-funu¯n), eine theologische Fakultät zur Ausbildung von Religionswissenschaftler*innen eröffnet. Außerdem wurden Imam-Hatip-Lyzeen etabliert, um Geistliche für die Erbringung religiöser Dienstleistungen zu schulen. Darüber hinaus wurde in der Primar- und Sekundarstufe Religionsunterricht angeboten. Das »Gesetz zur Vereinheitlichung der Bildung« ist eines der unveränderlichen Gesetze und eine der ersten verfassungsrechtlichen Grundlagen des Religionsunterrichts. In Übereinstimmung mit dem Gesetz von 1924 wurde der Religionsunterricht in formalen Bildungseinrichtungen vom Bildungsministerium und der informelle Unterricht vom Präsidium für Religionsangelegenheiten organisiert. Im historischen Prozess wurden die Imam-Hatip-Lyzeen im Jahr 1932 und die theologische Fakultät 1933 geschlossen, und ab dem Jahr 1939 wurde Religionsunterricht in keiner formalen Bildungseinrichtung mehr erteilt. Erst 1951 wurden die Imam-Hatip-Lyzeen wiedereröffnet, um Menschen auszubilden, die religiöse Dienstleistungen erbringen können. Diese bestehen nach wie vor als weiterführende Schulen. Die meisten Absolvent*innen besuchen danach theologische Fakultäten. Im Jahr 1949 wurde die Theologische Fakultät der Universität von Ankara eröffnet, um Religionswissenschaftler*innen auszubilden. Die »Islamischen Institute« (Yüksek Islam Enstitüleri) wurden 1959 eingerichtet, um Lehrpersonal für die Imam-Hatip-Lyzeen auszubilden. 1982 wurden diese Einrichtungen den Universitäten in ihrer Region unterstellt und damit in Fakultäten umgewandelt. Bis heute gibt es in der Türkei an verschiedenen Universitäten über 100 religiöse Hochschuleinrichtungen in Form von theologischen Fakultäten, Fakultäten für Religionswissenschaft und Fakultäten für Islamwissenschaft. In beinahe allen dieser Fakultäten gibt es Master- und Doktoratsstudiengänge in den Bereichen Islamwissenschaft und Religionswissenschaft sowie in islamischer Geschichte und Kunst. Die Religionspädagogik ist mit ihrer einer

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wissenschaftlichen Disziplin entsprechenden Struktur eines der Graduiertenprogramme und trägt seit Jahrzehnten zur akademischen Wissensproduktion bei. Die Abteilungen für Religionspädagogik an den theologischen Fakultäten sind die Pioniere und Förderer der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Tagungen, die in der Türkei im Bereich der formalen und nonformalen religiösen Bildung organisiert werden. Diese Abteilungen bieten darüber hinaus nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa – insbesondere in Deutschland und Österreich – wissenschaftliche Unterstützung bei der Erstellung von Lehrplänen für den islamischen Religionsunterricht an (Din Ög˘retiminde Yeni Arayıs¸ları Uluslararası Sempozyumu 2001). Ab 1948 wurde in der vierten und fünften Klasse der Primarstufe Religionsunterricht angeboten, jedoch war er nicht Teil des Curriculums und es erfolgte keine Benotung. 1950 wurde der Religionsunterricht wieder nach den gleichen Prinzipien in das Curriculum aufgenommen, und 1953 wurde beschlossen, dass er optional auch einen Einfluss auf das Bestehen der Klasse haben kann. Im Jahr 1956 wurde der Religionsunterricht in der fünften und sechsten Klasse der Volksschule eingeführt und ab 1976 auch in der achten Klasse. 1967 wurde er in den ersten und zweiten Klassen aller Schultypen der Sekundarstufe als Freifach außerhalb des Curriculums angeboten. Ab 1968 war der Religionsunterricht weiterhin ein Freifach, war jedoch im Curriculum enthalten und hatte einen Einfluss auf das Bestehen der Schulstufe. 1976 wurde der Religionsunterricht auch in der dritten Klasse der Sekundarstufe nach den gleichen Prinzipien eingeführt; bis zum Jahr 1982 wurde er ab der vierten Klasse der Primarstufe zwei Stunden und in der Sekundarstufe eine Stunde die Woche erteilt. In der Türkei wird die religiöse Erziehung der Minderheiten in Übereinstimmung mit dem Friedensvertrag von Lausanne durchgeführt. Angehörige anderer Religionen haben das Recht, eigene Schulen zu eröffnen und dort Religionsunterricht zu erteilen. Religiöse Bildung und Erziehung stehen heute unter der Garantie der türkischen Verfassung und der Gesetze. Artikel 24 der Verfassung von 1982 definiert die religiöse Erziehung folgendermaßen: »Die Religions- und Moralerziehung und -lehre wird unter staatlicher Aufsicht und Kontrolle durchgeführt. Das Fach ›Religionskultur und Morallehre‹ gehört in den Einrichtungen der Primar- und Sekundarstufe zu den Pflichtfächern. Darüber hinaus sind die religiöse Erziehung und Bildung vom eigenen Wunsch der Bürger*innen und bei Minderjährigen vom Wunsch des gesetzlichen Vormundes abhängig.«

Des Weiteren beschreibt Artikel 12 des »Grundgesetzes für nationale Bildung« mit der Nummer 1739 (16. Juni 1983) den Religionsunterricht in formalen Bildungseinrichtungen mit folgenden Worten: »Der Laizismus ist für die türkische nationale Bildung von wesentlicher Bedeutung. Der Unterricht von Religionskultur und Morallehre gehört zu den Pflichtfächern, die an

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Volks- und Mittelschulen sowie in Lyzeen und gleichwertigen Schulen angeboten werden […].«

Artikel 24 der Verfassung und Artikel 12 des »Grundgesetzes für nationale Bildung« sind in Kraft und bilden die Rechtsgrundlage für den Religionsunterricht. Gemäß dem betreffenden Artikel der Verfassung von 1982 wird in der heutigen Türkei das Fach »Religionskultur und Morallehre« als Pflichtfach ab der vierten Klasse der Primarstufe bis zur zwölften Klasse der Sekundarstufe unterrichtet. Das Fach wird zwei Stunden die Woche in Volks-, Mittelschulen und Lyzeen angeboten. Mit der in Artikel 25 des »Grundgesetzes für nationale Bildung« im Jahr 2012 vorgenommenen Änderung wurde außerdem ein Paket von Wahlfächern unter Bezugnahme auf Artikel 24 der Verfassung erstellt, und den Schüler*innen wurde die Möglichkeit gegeben, in der Mittelschule und in den Lyzeen zusätzlich zum Pflichtfach »Religionskultur und Morallehre« die Freifächer »Koran« und »Muhammads Biografie« zu wählen. Es wurde jedoch festgestellt, dass diese seit ˙ 2012 angebotenen Fächer trotz der Neuentwicklung ihrer Lehrinhalte sich stark mit dem Fach »Religionskultur und Morallehre« überschneiden. Darüber hinaus kommen einige Studien zum Schluss, dass die Anmeldungen für diese beiden Freifächer von Jahr zu Jahr geringer wurden, und es wird betont, dass der Grund für diesen Rückgang in den Anmeldungen die inhaltlichen Überschneidungen mit dem obligatorischen Religionsunterricht waren (Gündog˘du 2017). Für die ersten drei Schulstufen in der Volksschule und für die Vorschule ist kein Religionsunterricht vorgesehen. Außerhalb der Schule wird Kindern zwischen vier und sechs Jahren, deren Mütter eine non-formale Bildung erhalten, vom Präsidium für Religionsangelegenheiten ein Korankurs angeboten, der wie ein Kindergarten geführt und in dem ein Lehrplan für die religiöse Erziehung der Vier- bis Sechsjährigen umgesetzt wird. Laut Vorsitzendem des Präsidiums beträgt die Zahl der Korankurse für diese Altersstufe circa 600 und die Anzahl der Schüler*innen über 130.000 (Erbas¸ 2018). Obwohl nicht genügend Informationen vorhanden sind, um diese Kurse, welche sich sehr rasch verbreitet haben, wissenschaftlich zu bewerten, wird das Thema in vielen akademischen Bereichen und auf sozialer Ebene heftig diskutiert. In staatlichen Bildungseinrichtungen ist im Bereich der Vorschulbildung kein Religionsunterricht vorgesehen. Hier findet lediglich eine Werteerziehung statt. 2.2.1 Curriculum des Religionsunterrichts und Lehrbücher Der vollständige Name des heute in den Bildungseinrichtungen der Primar- und Sekundarstufe der Türkei erteilten Religionsunterrichts lautet »Religionskultur und Morallehre«. Wie den angeführten Erläuterungen zu entnehmen ist, hat

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dieses Fach seine Stellung als Pflichtfach, das im Curriculum enthalten ist und eine Auswirkung auf das Bestehen der Klasse hat, nicht von heute auf morgen erreicht, sondern verdankt sie langjährigen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. In den ersten Jahren der Republik hieß das Fach »Koran und Religionslehre«, und als es lediglich als Freifach angeboten wurde, hieß es nur »Religionslehre«. Ab 1982 wurde es »Religions- und Morallehre« genannt, und nach vier Jahren wurde das Wort »Kultur« hinzugefügt; somit wurde daraus »Religionskultur und Morallehre«. Schließlich wurden ab 2012 auch die Freifächer »Koran« und »Muhammads Biografie« eingeführt. Auch wenn es nach den ˙ letzten Regelungen so aussieht, als wäre zu den Freifächern das Fach »Basiswissen über die Religion« hinzugefügt worden, handelt es sich bei diesem hauptsächlich um eine Unterstützung der allgemeinen Lernziele der ImamHatip-Mittelschulen. Die Schüler*innen von allgemeinen Mittelschulen und Lyzeen wählen dieses Fach eher nicht. Die Türkei ist ein laizistischer Staat. Der Wille der Republik war es, dass die Bürger*innen ihre Religion von ausgebildeten Personen lernen, ohne dass dabei die laizistischen Prinzipien verletzt werden, und dass sie sich ihr religiöses Wissen in der Schule aneignen, damit sie keinem religiösen Missbrauch ausgesetzt sind. Der anfänglich erteilte Religionsunterricht wurde einige Zeit nicht in der Volks- und Mittelschule angeboten; dann wurde er unter dem Namen »Religionslehre« als Freifach wiedereingeführt und durch die Verfassung von 1982 schließlich zum Pflichtfach gemacht. Diese Tatsache beruht auf einem wichtigen historischen und wissenschaftlichen Verständnis: So ist dieses Fach ein Kulturund Wissensunterricht und keine religiöse Erziehung, sondern eine Religionslehre. Die Schule, welche einen gemeinsamen Ort für Personen darstellt, die unterschiedliche Erwartungen, Weltanschauungen sowie wirtschaftliche und kulturelle Hintergründe haben, kann nicht eine bestimmte Religion unterrichten. Es ist auch nicht ihre Aufgabe, die Schüler*innen zur Religiosität zu erziehen. Jedoch muss die Schule – so wie sie allen Weltanschauungen dieselbe Nähe zeigt und ihnen einen Platz einräumt – auch dem Religionsunterricht als Sozialwissenschaft einen Raum geben, wenn sie als ein Ort gelten möchte, an dem kritisches Denken vermittelt wird. Wie das Individuum mit dem im Unterricht erworbenen Wissen umgeht, bleibt ihm selbst überlassen. Einer der wichtigsten Gründe, weshalb »Religionskultur und Morallehre« ein Pflichtfach ist, ist das Erreichen der allgemeinen Bildungsziele. Ein nach diesem Ansatz gestalteter Religionsunterricht trägt dazu bei, dass die Schule ihre Aufgaben für die folgenden drei Zwecke vollständig erfüllen kann: 1) den humanitären Zweck (die Religion liefert eine Interpretation und Klarheit in Bezug auf das Verständnis der menschlichen Existenz), 2) den kulturellen Zweck (die Religion als wichtiger Bestandteil des historischen Erbes, welches wiederum die zeitgenössische Kultur geprägt hat, wird der heranwachsenden Generation gelehrt)

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und 3) den sozialen Zweck (das soziale Umfeld, in dem wir für unser Verhalten verantwortlich sind, wird erkannt, und die Schüler*innen werden in dieses Umfeld integriert). Um heute ein beliebiges Thema im Geschichts-, Literaturoder Türkischunterricht verstehen zu können, ist es notwendig, die Religion zu kennen, welche die Kultur beeinflusst hat. Um zu verstehen, warum die Menschen, mit denen man lebt, unterschiedliche Überzeugungen und Meinungen haben, ist es notwendig, Wissen über Religionen zu haben. Kurz gesagt, der Religionsunterricht, der in den Bildungseinrichtungen der Primar- und Sekundarstufe verpflichtend ist, ist ein Fach, das innerhalb der allgemeinen Bildungsphilosophie gedacht ist und darauf abzielt, dass die Individuen das Leben in seiner Gesamtheit begreifen. Aus diesem Grund wurde in das Curriculum fächerübergreifendes Wissen eingebaut, und es wurden auch die anderen Religionen und Weltanschauungen mit einbezogen. In den Bildungseinrichtungen der Primar- und Sekundarstufe gibt es keine Alternative zu diesem Fach. Türkische Staatsbürger*innen, die sich zum Judentum, zum Christentum oder zu einer anderen Religion bekennen und keine Minderheitenschule besuchen, müssen nicht zwingend am Fach »Religionskultur und Morallehre« teilnehmen, wenn sie mit Dokumenten belegen können, dass sie Angehörige einer anderen Religion sind. Falls sie jedoch dieses Fach besuchen möchten, müssen es die Erziehungsberechtigten schriftlich erlauben. Der Religionsunterricht, welcher bis heute in der Türkei in der Primar- und Sekundarstufe obligatorisch ist, wurde in Übereinstimmung mit der Vorstellung eines für andere Weltanschauungen offenen und die Rechtsschulen übergreifenden Religionsunterrichts konzipiert und dementsprechend unterrichtet. Im Entwicklungsprozess des Curriculums wurden wissenschaftliche und forschungsbasierte Erkenntnisse über den Islam und andere Religionen in den Mittelpunkt gestellt und falsche Informationen, die auf Aberglauben beruhen, eliminiert. Bei der Zusammenstellung der islamischen Inhalte wurden große Anstrengungen unternommen, um nach einem koranbasierten, verbindenden und die Rechtsschulen übergreifenden Ansatz die Grundwerte aller religiösen Überzeugungen hervorzuheben. Man hat sich dabei bemüht, die gemeinsamen Werte, die den Glauben, den Gottesdienst und die Moral betreffen und die mithilfe des Korans und auf Grundlage des Wirkens Muhammads aufgestellt ˙ wurden, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, der alle Muslim*innen vereint. Es ist nicht das Ziel, eine Interpretation zu lehren und alle anderen zu transformieren, sondern sicherzustellen, dass die Individuen über die religiöse Kultur und die moralischen Werte richtig informiert werden. Des Weiteren wurden die Rechtsschulen und andere religiöse Gruppierungen, die als unterschiedliche Formen des Religionsverständnisses angesehen werden, nicht ignoriert, sondern als kultureller Reichtum und verschiedene Denkschulen angesehen. Es wurde darauf abgezielt, in der ersten Phase das, was die Muslim*innen

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vereint, und erst in den darauffolgenden Phasen die unterschiedlichen Interpretationen, die sich im Laufe der Geschichte ergeben haben, in beschreibender Weise unter Berücksichtigung der religiös-kulturellen Dimension zu vermitteln. Tatsächlich wurden auch die anderen Religionen miteinbezogen und das Fach erhielt eine interreligiöse Seite. Alle religiösen und moralischen Werte, die diesem Ansatz entsprechen, wurden berücksichtigt, damit das Fach nicht in einen indoktrinierenden oder sich an Rechtsschulen orientierten Religionsunterricht verwandelt würde. Ziel und Zweck des Curriculums ist es, den Schüler*innen das Bewusstsein zu vermitteln, dass die Religion ein Phänomen ist, das dem menschlichen Leben einen Sinn verleiht, dem Menschen hilft, ein menschliches Leben zu führen; das die grundlegenden Kommunikationscodes in sich trägt, welche für das gegenseitige Verständnis der Menschen notwendig sind, und das die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf regelt. Das Ziel war es, Glaube und Vernunft zu vereinen und die Menschen dazu zu bringen, die Sitten, Traditionen und Religionen der anderen in demselben toleranten und respektvollen Rahmen kennenzulernen und zu bewerten wie die eigenen Sitten, Traditionen und die eigene Religion. Man wollte Individuen erziehen, welche die wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen und die Fähigkeit zum Lernen-Lernen und lebenslangen Lernen entfalten, die erforschen, hinterfragen, reflektieren und die Demokratie und das friedvolle Zusammenleben verinnerlichen. Bei der Vorbereitung des Curriculums für »Religionskultur und Morallehre« wurden der konstruktivistische Ansatz, die Theorie der multiplen Intelligenz und das schülerzentrierte Lernen berücksichtigt. In diesem Zusammenhang wird im Curriculum auch ein konzeptioneller Ansatz verfolgt, und es wird betont, dass Konzepte und Beziehungen bezüglich des Fachs »Religionskultur und Morallehre« entwickelt werden müssen. Zusätzlich zu diesen Ansätzen wurde im Zuge der neuesten Arbeiten zur Curriculumentwicklung auch die Kompetenzorientierung hinzugefügt. Bei der Überprüfung des Curriculums wird jedoch klar, dass sich die Kompetenzorientierung lediglich auf die Ziele bezieht und sich nicht in den Inhalten und Leistungserwartungen des Lehrplans widerspiegelt. Im Fokus des Curriculums stehen Lernbereiche, die durch Konzepte und Konzeptbeziehungen gebildet werden. Die konzeptionelle Herangehensweise erfordert es, sich mehr Zeit für den Aufbau der konzeptionellen Wissensgrundlagen bezüglich Religion und Moral zu nehmen und somit eine Beziehung zwischen dem konzeptionellen und dem funktionalen Wissen herzustellen. Durch den konzeptionellen Ansatz sollen die Schüler*innen dabei unterstützt werden, aus ihren konkreten Erfahrungen und Intuitionen religiöse und moralische Bedeutungen abzuleiten. Neben der Entwicklung religiöser und moralischer Konzepte wird mit diesem Ansatz auch die Entfaltung wichtiger Kompetenzen (Problemlösung, Kommunikation, Argumentation etc.) angestrebt. Während die Schü-

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ler*innen aktiv die Religion und die moralischen Werte vermittelt bekommen, lernen sie ebenso, Probleme zu lösen, ihre Lösungen und Ideen anderen mitzuteilen, zu erklären und zu verteidigen sowie die Religion und die moralischen Werte sowohl mit sich selbst als auch mit anderen Bereichen in Beziehung zu setzen. Dadurch schaffen sie beständige, reiche, religiöse und moralische Konzepte. In diesem Sinne wurde bei der Vorbereitung des Curriculums für den Religionsunterricht, basierend auf der Grundlage des Respekts vor Menschen, ihren Gedanken, ihrer Freiheit und ihrem moralischen und kulturellen Erbe, Folgendes zum Prinzip gemacht: Bewusstsein für religiöse Phänomene, sozialer Zusammenhalt, Solidarität und Toleranz, kulturelle Sensibilität, gute Moral und Ehrlichkeit, Verstehen und Entdecken des eigenen Ichs, eigenständiges und kritisches Denken, Objektivität, Wahlfreiheit, Entdecken des Sinns des Lebens, Hinterfragen des eigenen Glaubens, vernünftige Vorgehensweise etc. Das Curriculum für das Fach »Religionskultur und Morallehre«, das in der Türkei in den Bildungseinrichtungen der Primar- und Sekundarstufe umgesetzt wird, wird vom »Ausschuss für Erziehung und Unterricht«, einer Abteilung des Bildungsministeriums, erstellt. Bei der Vorbereitung des Curriculums finden jedoch mehrere Prozesse mit mehreren Personen statt, das heißt, dass im Entwicklungsprozess des Curriculums Vertreter*innen aller Interessengruppen anwesend sind und das Curriculum im gemeinsamen Konsens vorbereitet wird. Schulbücher, Arbeitsbücher, Lehrerhandreichungen und andere Materialien können sowohl vom Ministerium als auch von privaten Verlagen erarbeitet werden. Aus diesem Grund gibt es viele Lehrbücher, die dem Curriculum entsprechen. Die Schulen dürfen sich aussuchen, welches Lehrbuch sie im Religionsunterricht benutzen möchten. Von privaten Verlagen herausgegebene Bücher müssen jedoch hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit der Philosophie, den Leistungserwartungen sowie den Lehr- und Lernprozessen des Curriculums durch den »Ausschuss für Erziehung und Unterricht« überprüft werden und dürfen erst dann im Unterricht eingesetzt werden. Die Lehrer*innen, die in der Primar- und Sekundarstufe Religionsunterricht erteilen, werden vom Bildungsministerium aus den Reihen jener ausgewählt, welche die vorgesehene Prüfung bestanden haben. Um zur Prüfung, die das Bildungsministerium durchführt, antreten zu können, gilt es, bestimmte Kriterien zu erfüllen. In der Türkei werden die Religionslehrer*innen an den theologischen Fakultäten ausgebildet. Früher haben Studierende, die an der theologischen Fakultät nur Fachwissen erworben hatten, nach Abschluss ihres Studiums pädagogische Fächer und Unterrichtspraktika nachgeholt und erhielten dadurch die Möglichkeit, Religionslehrer*innen zu werden. Ab 2017 wurden Lehrveranstaltungen für den Lehrberuf in den Lehrplan der theologischen Fakultäten aufgenommen. Als angehende Lehrkräfte werden heutzutage Studie-

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rende der theologischen Fakultäten akzeptiert, die nach dem Arabisch-Vorbereitungskurs acht Semester lang die Lehrveranstaltungen für den Lehrberuf besucht und die Unterrichtspraktika erfolgreich absolviert haben. Nach ihrer Ernennung arbeiten die Religionslehrkräfte ein Jahr lang im Unterrichtspraktikum. Wenn sie dieses Jahr erfolgreich abschließen, bekommen sie eine feste Anstellung. Seit Kurzem macht das Bildungsministerium jedoch auch befristete Verträge; die Gehälter werden vom Ministerium bezahlt. Um die Klasse erfolgreich zu bestehen müssen Schüler*innen im Religionsunterricht, der in der Primar- oder Sekundarstufe jährlich erteilt wird, bestimmte Mindestanforderungen erfüllen. Fünf Prozent der Fragen, die in den Aufnahmeprüfungen der weiterführenden Schulen, welche die Absolvent*innen der Volksschule nach bestandener Prüfung aufnehmen, gestellt werden, sind aus dem Bereich des Religionsunterrichts. Bei der Aufnahmeprüfung für die Universität gibt es im sozialen Bereich, insbesondere bei den geschichtlichen Fragen, auch solche zur Religion und auch Fragen zum Inhalt des Fachs »Religionskultur und Morallehre«. Obwohl verfassungsrechtlich keine Hindernisse bestehen, gibt es in der Türkei keine von Privatpersonen betriebenen religiösen Schulen oder Kurse. Wie bereits erwähnt, ist der Religionsunterricht in der Türkei nach einem die Rechtsschulen übergreifenden Modell konzipiert. Das Hauptziel des Unterrichts liegt nicht darin, die Schüler*innen zu einer Rechtsschule oder einer Glaubensrichtung zu erziehen oder ihnen die jeweiligen Rituale beizubringen, sondern die Religion auf einer rationalen Basis als eine Sozialwissenschaft aus einer kritischen Perspektive zu unterrichten. Bei der Konzipierung des heute in der Primarund Sekundarstufe gültigen Curriculums wurde jedoch aus bildungstechnischer Sicht der themenzentrierte Ansatz soweit wie möglich vermieden und stattdessen der problem- und zielorientierte Ansatz als flexibler Rahmen gewählt, der die Schüler*innen, die Gesellschaft, die Kultur und die Ökumene berücksichtigt. Dies bedeutet, dass für den Religionsunterricht ein Rahmen geschaffen wurde, innerhalb dessen immer eine gewisse Flexibilität gegeben ist. Hinter dieser Konstruktion des Curriculums liegt folgende Realität: Die Türkei ist ein großes Land. Sie ist reich an Lebens- und Denkweisen, die von Westen nach Osten und von Süden nach Norden verstreut sind. Dieser Reichtum kann bei unterschiedlichen Themen verschiedene Lernbedürfnisse hervorbringen. Zumindest können die Dringlichkeit und die Intensität dieser Bedürfnisse variieren. Die Tatsache, dass es sich um ein flexibles Programm handelt, ermöglicht es, die Religion diesen Bedürfnissen entsprechend differenziert zu unterrichten. Der Rahmen verhindert ein Entfernen vom Hauptziel des Religionsunterrichts durch ein Verweilen bei den Unterschieden. In allen Teilen der Türkei wird das vom Bildungsministerium genehmigte Curriculum umgesetzt, weil es die Rechtsschulen

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übergreifend konzipiert ist, wobei in Bezug auf den Inhalt des Religionsunterrichts im Lehr-Lern-Prozess dieser flexible Rahmen gegeben ist. 2.2.2 Chancen und Risiken der religiösen Erziehung an den öffentlichen Schulen Einer der wichtigsten Vorzüge der religiösen Erziehung in der Türkei sind die langjährigen Erfahrungen im Anpassungsprozess der Bildung an westliche Standards. Die Evaluationen, Kritiken und Diskussionen, die sich im Zuge der Reformierung der Medresen ergaben, bildeten die Grundlage für die Entwicklungen in der Tanzimat-Zeit und der konstitutionellen Periode. Wichtige Schritte waren, dass die osmanische Regierung in der konstitutionellen Periode die Medresen sich selbst überließ, die religiösen Bildungseinrichtungen der Kontrolle derʿulama¯ʾ entzog, sich der Lehrer*innenausbildung widmete und begann, Bildungseinrichtungen nach westlichem Modell zu schaffen. Die Erfahrungen, die gemacht wurden, während eine Entwicklung, ausgehend von Schulen, die unabhängig von Medresen Rechtsgelehrte (qa¯d¯ı) ausbildeten, hin zu Bildungs˙ einrichtungen, die Imame, Redner, Prediger und Lehrer ausbildeten, stattfand, schufen den Boden für die Reformen in der Republikzeit. Auch liefern die Ergebnisse der völlig gegensätzlichen Bildungspolitiken bezüglich der religiösen Erziehung aus der Republikzeit Erfahrungsberichte für die Entwicklung des Bildungssystems des Landes, denn jede Praxis bringt auch Diskussionen, Kritiken und Ideen mit sich. Der obligatorische Religionsunterricht, welcher als Ergebnis dieser Erfahrungen eingeführt wurde und der versucht, alle Teile der Gesellschaft anzusprechen, ist ein der Türkei eigenes Modell und verdient es meiner Meinung nach, als »türkisches Modell« bezeichnet zu werden. Natürlich ist es schwierig, bei der Curriculum-Entwicklung alle einzelnen Ziele sämtlicher Bestandteile des Curriculums zu erreichen. Im Angesicht dieser Herausforderung wird in der Türkei das Curriculum für den Religionsunterricht kontinuierlich aktualisiert, um die Ziele der einzelnen Bestandteile näher zusammenzubringen. Diese neue Situation verhindert auch die Spaltung der verschiedenen kulturellen Teilen der Gesellschaft aufgrund von religiösem Fanatismus und macht es möglich, dass diverse kulturelle Gruppen mit unterschiedlichen religiösen Interpretationen in einem Unterricht zusammenkommen. Es wurde ein verbindliches Religionsunterrichtsmodell entwickelt, das alle Gesellschaftsschichten anspricht und auf die Befriedigung der Bedürfnisse des Staates, der Eltern und der Schüler*innen abzielt. Das Fach »Religionskultur und Morallehre« ermöglichte die Aufstellung eines die Rechtsschulen übergreifenden interreligiösen Modells. Des Weiteren gehören auch »Citizenship Education«, Werteerziehung und Charakterbildung zu den Zielen des Religionsunterrichts, und als Ergebnis der

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stattfindenden Begegnung können sich alle Gruppen der Gesellschaft im Rahmen gemeinsamer Werte entwickeln. Die Werteerziehung ist jedoch nicht nur die Aufgabe des Religionsunterrichts, obwohl sie eine besonders wichtige Funktion dabei hat. Indem er ihnen auch religiöse Antworten auf die grundlegenden Fragen der Menschen vor Augen führt, befähigt der Religionsunterricht die Schüler*innen dazu, die Welt ganzheitlich zu begreifen. Die Tatsache, dass er ein Pflichtfach ist und von allen Schüler*innen besucht wird, ermöglicht es, dass zusätzlich zu den Antworten der im Bildungsprogramm vorgesehenen Fächer bezüglich des Ursprungs und der Zukunft des Universums auch die alternativen religiösen Antworten gehört werden. Die grundlegenden Fragen nach dem Woher, dem Wohin und dem Wozu des Menschen sind keine Fragen, die nur von der Wissenschaft und der Philosophie beantwortet werden. Auch die Religion ist ein soziales Konstrukt, das auf diese langjährigen Fragen der Menschheit eine Antwort liefert. Die Sinnsuche lebendig zu halten, ist von der Fähigkeit des Menschen abhängig, alle Alternativen bei der Sinnsuche gemeinsam zu betrachten und zu bewerten. Die Antworten der Religion auf diese Fragen bewirken, dass die Sinnsuche der Menschen lebendig bleibt. Den Individuen lediglich die Antwort einer einzigen Disziplin zu vermitteln, ist eine Art Aufzwingen von Bedeutungen. Der Religionsunterricht, in dem alle Schüler*innen des Bildungssystems zusammenarbeiten, bringt daher eine dynamische Sinnsuche mit sich. Er entfaltet die Fähigkeit zu kritischem Denken, indem er unterschiedliche religiöse Interpretationen zulässt, was auch vom Lehrplan so verlangt wird. Das verhindert gleichzeitig auch, dass die Individuen Missbrauch zum Opfer fallen oder sich Ideologien oder Bewegungen zuwenden, die gewaltbasierte religiöse Meinungen als Grundlage haben. Wer nicht erkennt, dass es unterschiedliche Auslegungen von Religion geben kann, könnte, wenn er auf religiöse Suggestionen einer Interpretation stößt, diese als die absolute Wahrheit annehmen, der es sich anzuschließen und der es allenfalls auch mit terroristischen Aktionen zum Durchbruch zu verhelfen gilt. Die religiöse Erziehung, die über die Suggestionsmethode hinaus auf Methoden und Inhalte abzielt, welche die Entwicklung von kritischer Denkfähigkeit ermöglichen, ist ein wichtiger Faktor, um den Missbrauch von Religion zu verhindern. Wird von den Methoden im Lehrplan ausgegangen, dann hat der obligatorische Religionsunterricht in der Türkei einen befreienden Charakter, weil er die Fähigkeit zur Bewertung der Tradition verleiht. Im Allgemeinen wird oft die Eigenschaft der Religion betont, die Freiheit des Menschen einzuschränken. Und tatsächlich kann der Religionsunterricht die Freiheit des Menschen einschränken, wenn er durch die Methode der Indoktrination einer einzigen Wahrheit gestaltet wird, indem nur eine einzige Interpretation der Religion zugelassen wird. Er kann jedoch auch mehrere Alternativen zur Wahl stellen, wenn er sowohl

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die Tradition kritisch hinterfragt als auch unterschiedliche religiöse Interpretationen vergleichend behandelt. Der Religionsunterricht, an dem alle Schüler*innen teilnehmen, bietet diese Gelegenheit. Auf der anderen Seite erhöhen die immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Beziehungen und Verantwortungen die Verantwortung der Schule in Bezug auf die Wertevermittlung und schwächen die Rolle der Familie. Die Schule gewinnt immer mehr an Bedeutung bei der Weitergabe religiöser, moralischer und kultureller Werte der Familie. Einige Aufgaben auf der einfachen Beziehungsebene, die eigentlich Pflichten der Familie wären, werden dabei auf die Schule übertragen. Daher beginnt die Schule zu einem Mechanismus zu werden, der in Bezug auf die Menschenrechte den Weg für Religions- und Gewissensfreiheit ebnet. Der Status der Religions- und Glaubensfreiheit einer Gesellschaft wird durch die Ermittlung seines Ausdrucksvermögens von Ideen und Gedanken, seine Organisationsstruktur und sein Bildungsniveau bestimmt. Die in den vergangenen Jahren zusätzlich zum obligatorischen Religionsunterricht angebotenen Freifächer ermöglichen es sowohl der sunnitischen Mehrheit als auch den Alevit*innen und jenen Familien, die andere religiöse Interpretationen befolgen, dass ihre eigenen Überzeugungen und Werte in der Schule gelehrt werden. Eine Religion, die zum Lerngegenstand wird und über die in der Schule gesprochen wird, bringt auch die Möglichkeit mit sich, dass die Wege zur Religions- und Gewissensfreiheit offengehalten werden. Der seit 1982 als Pflichtfach geltende Religionsunterricht ist zum Gegenstand der akademischen Forschung – insbesondere in der Abteilung für Religionspädagogik – geworden. Das hat dazu geführt, dass dieses Fach bei den nachfolgenden Entwicklungsprozessen des Curriculums, basierend auf vielen wissenschaftlichen Erkenntnissen, mitberücksichtigt wurde. Die religiöse Erziehung wurde als ein Teil der Erziehungswissenschaft akzeptiert, und mit dem Beitrag der Religionspädagogik wurde dafür der Weg geebnet, dass sich dieses Feld eher als eine Sozialwissenschaft entwickelte und nicht als Theologie. In diesem Sinne konnte man in diesem Forschungsfeld mehr Wissen und Erfahrung sammeln als in den meisten europäischen Ländern, in welchen ein konfessioneller Religionsunterricht stattfindet. Die Tatsache, dass der Religionsunterricht im Bereich der formalen Bildung schnelle Fortschritte machte, ließ die Befürchtung aufkommen, dass die religiöse Bildung die Struktur des gesamten Bildungssystems beeinflussen könnte. Obwohl sich die religiöse Bildung in der Türkei derzeit als ein Bereich der Sozialwissenschaft weiterentwickelt, besteht die Möglichkeit, dass im Laufe der historischen Entwicklung der Religion entstandene Interpretationen auf das Bildungssystem übertragen werden und dieses dann beeinflussen. Es wird beobachtet, dass in dem liberalen Umfeld, das ein Resultat der Entmilitarisierung

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der Türkei ist, manche religiösen Gemeinden und Orden dazu tendieren, den Menschen ihre eigenen Meinungen als die einzige Wahrheit aufzuzwingen. Ein weiteres Problem, das sich negativ auf den Verlauf der religiösen Erziehung in der Türkei auswirken könnte, hat seine Wurzeln in der Geschichte. Da in der jüngeren Geschichte der türkischen Erziehung eine Tradition liegt, die allen Bereichen der Bildung eine religiöse Färbung gab, haben manche Menschen ernste Bedenken dahingehend, dass die Entwicklungen im Bereich der religiösen Erziehung alle Gebiete der Bildung beeinflussen könnten. Diejenigen, die sich mit der Bildung auseinandersetzen, haben ein besonderes Interesse an der Schulbildung der Mädchen und sehen in der Einrichtung von getrennten Klassen oder Schulen für Mädchen und Buben nicht den Gebrauch eines Rechts, sondern die Bemühung um eine Rückkehr zu alten Traditionen. Diese Menschen untermauern ihre Bedenken mit dem Argument, dass der optionale Religionsunterricht in manchen Schulen zu einem Pflichtfach wird, weil die Schulleitungen die Schüler*innen zum Besuch dieses Faches zwingen. Dass die Anzahl der ImamHatip-Mittelschulen und -Lyzeen rapide steigt, dass die Zahl der theologischen Fakultäten stetig zunimmt, dass viele Religionslehrer*innen eingestellt werden und dass dem Präsidium für Religionsangelegenheiten viel Personal zugewiesen wird, ist für manche ein Hinweis auf einen Rückwärtstrend im Bildungsbereich. Eines der größten Hindernisse für die Entwicklung der religiösen Erziehung auf einer gesunden und wissenschaftlichen Basis ist, dass der Begriff »Laizismus« unterschiedlich interpretiert werden kann. Manche sprechen sich, ausgehend von laizistischen Prinzipien, kritisch gegenüber dem Religionsunterricht aus und meinen, dass in den Schulen keine Art von Religionsunterricht stattfinden sollte. Das Hauptargument dieser Menschen ist es, dass die Türkei ein laizistischer Staat sei und dass in laizistischen Staaten der Religionsunterricht keinen Platz in den Schulen habe. Sie sind der Meinung, dass der Religionsunterricht den religiösen Gemeinschaften überlassen werden sollte und dass es keine Ausgaben aus der Staatskasse für religiöse Angelegenheiten geben dürfe. In dieser Diskussion argumentiert eine andere Gruppe, ausgehend von Artikel 24 der türkischen Verfassung, dahingehend, dass ein Fach vorhanden sein muss, welches einen Bezug zur Religion hat. Dieses Fach sollte jedoch nicht die Lehre einer Religion sein, sondern, passend zur Formulierung und zum Geist der Verfassung, ein Unterricht über die Religionen. Der Unterricht sollte obligatorisch sein, die Gehälter der Lehrer*innen sollten vom Staat bezahlt und die Lehrbücher und Materialien vom Staat erstellt werden. Eine weitere Gruppe vertritt die Meinung, dass der bestehende, die Rechtsschulen übergreifende und interreligiöse Religionsunterricht als Pflichtfach fortgeführt werden sollte, und fordert, dass in das Schulprogramm zusätzlich ein optionaler Religionsunterricht eingeführt wird, in dem die Individuen über ihre eigene Religion und Rechtsschule unterrichtet werden. Die Lehrer*innen dieses

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optionalen, konfessionellen Religionsunterrichts sollten nicht aus der Staatskasse bezahlt werden, sondern alle Kosten des Unterrichts sollten von den Religionsgemeinschaften, die diesen Unterricht verlangen, selbst gedeckt werden. In der Diskussion darüber, welche Form der Religionsunterricht an türkischen Schulen haben sollte, vertreten alle Parteien berechtigte Argumente. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Türkei ihre aktuelle Situation ihren langjährigen, historischen Erfahrungen sowie ihren speziellen Bedingungen und wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Bereich verdankt. Nichtsdestotrotz kann gesagt werden, dass die Diskussionen über dieses Thema einen bestimmten Punkt erreicht haben. Heute konzentriert man sich nicht mehr auf die Frage, wozu in den Schulen Religionsunterricht angeboten wird, sondern viel intensiver darauf, wie der Religionsunterricht gestaltet werden soll.

2.3

Außerschulische religiöse Erziehung in der Türkei: Moscheen, Medresen und Korankurse

Zu den religiösen Dienstleistungen zählt neben den Dienstleistungen in Moscheen, in welchen die Gemeinschaftsgebete stattfinden, auch eine Reihe von Dienstleistungen, die außerhalb der Moschee benötigt werden. Schule, Familie, Arbeitsplatz, Gefängnis oder Krankenhaus – all dies sind Orte, an denen gläubige Menschen der Betreuung bedürfen. Obwohl die Erbringung dieser Dienstleistungen in der islamischen Tradition als eine kollektive Aufgabe angesehen wurde, hat der Zivilisationsprozess institutionelle Strukturen und eine Dienstleistungsklasse hervorgebracht, die diese Aufgabe im Namen der Gesellschaft erfüllt, und die Herausbildung einer eigenen Bildungstradition beeinflusst. Das Präsidium für Religionsangelegenheiten, dem per Gesetz die Aufgabe zukommt, die Gesellschaft in Bezug auf die Religion aufzuklären, sorgt in diesem Rahmen für die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse und die Lösung auftauchender Probleme. Ihm zufolge, da es die Bereitstellung von religiösen Dienstleistungen als seine wichtigste Dienstleistungsart betrachtet, umfassen diese sowohl diejenigen innerhalb als auch jene außerhalb der Moschee. Der Begriff »religiöse Dienstleistungen«, den wir in einem theoretischen Rahmen gebrauchen, deckt seit den im Jahr 2010 vorgenommenen Änderungen im »Gesetz über die Gründung und die Pflichten des Präsidiums für Religionsangelegenheiten« mit der Nummer 633 zwei Hauptanwendungsbereiche ab. Auch wenn der Unterscheidungsprozess lange vor der Einführung dieser gesetzlichen Regelung einsetzte, wurde die Trennung des Begriffes »Bildungsdienstleistungen« von den allgemeinen religiösen Dienstleistungen erst durch die neue Regelung im Gesetz Nummer 633 offiziell vorgenommen. Die Organisation von Bildungsdienstleistungen, welche ursprünglich in den Zuständigkeitsbereich der

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Abteilung für Bildung (Eg˘itim Daire Bas¸kanlıg˘ı) fiel, wurde nun zur Aufgabe des Generaldirektorats für Bildung (Eg˘itim Hizmetleri Genel Müdürlüg˘ü). Das eingeführte Gesetz regelt die Pflichten und Aufgaben im Bereich der religiösen Dienstleistungen und Bildungsdienstleistungen gemäß Artikel 7 und betrifft die Organisation von Panels, Konferenzen, Seminaren, Symposien und ähnlichen religiösen Veranstaltungen außerhalb der Moschee, die Seelsorge in Gefängnissen, Altersheimen und Krankenhäusern, die religiöse Aufklärung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen wie Familien, Frauen und Jugendlichen sowie die Organisation von Korankursen, Fortbildungen und fachwissenschaftlichen Ausbildungen. Werden das Gesetz, die Verordnung und die Richtlinien in Bezug auf das Präsidium für Religionsangelegenheiten betrachtet, so zeigt sich, dass die religiösen Dienstleistungen unter den grundlegenden Rubriken »Moschee-Dienste«, »Seelsorge«, »Familie« und »Beratung« sowie »soziale religiöse Dienste« aufgeführt sind. Die Bildungsdienstleistungen werden hingegen unter den Rubriken »non-formale religiöse Bildung« (Auswendiglernen des Korans, Korankurse, Korankurse in den Sommerferien, bedarfsorientierte Korankurse), »Fortbildungen« und »Kurse für fachwissenschaftliche Ausbildung« angeführt. Das Pendant zu den Begriffen »Beratung« (irs¸at) und »Verkündung« (teblig˘), welche die unter der Aufsicht und Verantwortung des »Präsidiums für Religionsangelegenheiten« erbrachten religiösen Dienstleistungen bezeichnen, findet sich in den gesetzlichen Regelungen als »religiöse Aufklärung der Gesellschaft«. Diese Formulierung ist in allen Gesetzen, einschließlich des »Gesetzes zur Organisation des Präsidiums«, enthalten. Daher ist dieses neue Konzept auch ein Indiz für den Beginn eines neuen Dienstleistungsprozesses außerhalb der Moschee. Tatsächlich ist das Präsidium für Religionsangelegenheiten durch die in Moscheen erbrachten Dienstleistungen sowie durch jene Dienstleistungen, die es in Zusammenarbeit mit verschiedenen Vereinen außerhalb der Moscheen erbracht hat, faktisch sichtbarer geworden. Für verschiedene benachteiligte gesellschaftliche Gruppen, insbesondere in Gefängnissen und Krankenhäusern, stellen die Mitarbeiter*innen des Präsidiums Predigt- und Beratungsdienste bereit und bieten Seelsorge an. Die religiöse Erziehungsarbeit des »Präsidiums für Religionsangelegenheiten« erfolgt außerhalb der Moscheen über Korankurse. Das wichtigste Angebot stellen die Kurse für das Auswendiglernen des Korans dar, welche eine Fortsetzung des traditionellen Koranunterrichts sind, bei denen der gesamte Koran in einer dreijährigen Ausbildung memoriert wird. Kurzfristige Korankurse, die verschiedenen Gruppen jeden Alters und jeder Berufsgruppe das Koranlesen und Basiswissen über die Religion vermitteln sollen, sind ebenfalls ein Bestandteil der offiziellen religiösen Bildungsstruktur des Präsidiums. Neben den üblichen Fortbildungen gibt es Kurse für die fachwissenschaftliche Ausbildung, die den

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Zweck haben, dem eigenen Personal, welches aus religiösen Hochschulabsolvent*innen besteht, basierend auf der Medrese-Tradition eine Spezialisierung anzubieten. Diese Kurse sehen sich einiger Kritik ausgesetzt, sowohl hinsichtlich der Unvereinbarkeit mancher ihrer Aspekte mit den Fortbildungsformaten als auch hinsichtlich ihrer Ziele, die nicht mit jenen der religiösen Hochschulbildung übereinstimmen. In der Türkei gibt es neben der vom Bildungsministerium verantworteten formalen religiösen Bildung und dem vom Präsidium für Religionsangelegenheiten organisierten offiziellen Religionsunterricht in Moscheen und Korankursen auch nichtstaatliche religiöse Bildungseinrichtungen. Die wichtigsten sind die Dog˘u Medreseleri, also die »östlichen Medresen«, da diese auch politische Probleme verursachen. Diese Medresen – eine Weiterführung der seldschukischen und osmanischen Medresen – führen ihre Aktivitäten seit jeher in alten Siedlungen in Ost- und Südostanatolien, nämlich Diyarbakir Bitlis, Hakkari, Siirt, Mardin und Van, fort. Obwohl diese Medresen nicht offiziell sind und daher keine staatliche Finanzierung erhalten, setzen sie ihre erzieherischen Tätigkeiten mit eigenen Mitteln und der Unterstützung des Volkes durch. Unter diesen Medresen darf man sich keine voll ausgestatteten Bildungseinrichtungen vorstellen. Die »östlichen Medresen« sind kleine, neben Moscheen angesiedelte Räumlichkeiten, in denen kleine Gruppen von zehn bis 20 Personen unterrichtet werden. Einige von ihnen verfügen bereits über große, moderne Räumlichkeiten, obwohl sie keinen offiziellen Status haben und daher nicht staatlich überprüft wurden. Die Medresen in dieser Region werden in zwei Hauptgruppen eingeteilt: In die erste Gruppe fallen jene, die mit einem Orden in Verbindung stehen. Das sind Medresen, die von dem in der Region weit verbreiteten Naks¸ibendi-Orden, welcher bei der Gründung von Medresen Pionierarbeit geleistet hat, verwaltet werden. Sie machen die Mehrheit der Medresen in der Region aus. Die Orden-Scheichs, die diese Medresen betreiben, kümmern sich einerseits um die Besucher*innen und beraten sie über den Sufismus, andererseits lehren sie den traditionellen Medrese-Lehrplan. Die Gayda-Medrese in Bitlis, die Nors¸in-Medrese in Güroymak in Bitlis und die Ohin-Medrese in Mutki in Bitlis sind Beispiele dafür. Zur zweiten Gruppe zählen Medresen, die im Rahmen des kostenlosen Unterrichts durch die Seyda (Hodschas) etabliert wurden, welche die traditionelle Medrese-Ausbildung in der Region durchlaufen und die Erlaubnis zum Lehren erhalten haben. Diese Art von Medresen haben im Zentrum einen Seyda und wurden in den Dörfern, in denen sich diese aufgrund ihrer Tätigkeit in den Moscheen befanden, von den Dorfbewohner*innen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse gegründet. Solche Medresen haben im Allgemeinen zehn bis 20 Schüler*innen, je nach dem Wissensstand des Seyda und den finanziellen Mitteln der Dorfbewohner*innen. In beiden Gruppen von Medresen wird der Lehrplan gemäß den seit Jahrhunderten bestehenden Traditionen

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umgesetzt. Nach dem Unterricht in Arabisch (Anfänger und Fortgeschrittene) werden auch Bücher über Fiqh-, Kala¯m-, Hadı¯t- und Tafsı¯r-Wissenschaft stu¯ ˙ diert. Darüber hinaus werden einige Kurse zu Moral, Logik und Philosophie, Debattenführung, Poesie und Kalligrafie angeboten. Religiöse Wissenschaftsdisziplinen, die in der Türkei ein integraler Bestandteil der Tradition von theologischen Fakultäten sind, wie Religionssoziologie, Religionspsychologie, Religionspädagogik, Religionsgeschichte, Religionsphilosophie etc., werden in diesen Medresen nicht unterrichtet. Die »östlichen Medresen« haben keinen offiziellen Status und stehen auch nicht unter offizieller Kontrolle. Exakte Angaben zur Anzahl dieser Medresen und ihrer Schüler*innen, zu ihren Zielen und zur Qualität des Unterrichts sind daher nicht möglich. Neben den »östlichen Medresen« gibt es weitere Medresen, die unter der Verantwortung von Stiftungen und Vereinen, welche von verschiedenen nichtstaatlichen Strukturen geführt werden, stehen, ebenfalls keinen offiziellen Status haben und daher nicht der staatlichen Kontrolle unterliegen. Die wichtigsten davon sind die von der Ismailag˘a-Gemeinschaft geführten Medresen. Laut der offiziellen Homepage der Gemeinschaft, die über ein landesweites Bildungsnetzwerk verfügt, werden 2.500 Schüler*innen nach einem nichtstaatlichen religiösen Hochschulprogramm ausgebildet (Ismailag˘a 2020). Auch bezüglich dieser Medresen ist nicht die nötige Transparenz gegeben, um eine wissenschaftliche Bewertung vornehmen zu können. In den letzten Jahren wurde beobachtet, dass neben dieser Gemeinschaft viele weitere Organisationen ernsthaft bemüht waren, die Medrese-Tradition in einem zivilen Charakter wiederzubeleben. Eine davon ist die Organisation, die von dem pensionierten Prediger Ihsan S¸enocak angeführt wird, landesweit vernetzt ist und speziell für Studierende der theologischen Fakultäten Medrese-Programme anbietet (ifam 2020). Behauptungen, wonach diese Organisationen, die sich gegenüber den offiziellen Bildungsprogrammen und darin enthaltenen von ihren Überzeugungen abweichenden Ideen offen feindselig äußern, salafistisches Gedankengut hegen, lassen sich mangels Transparenz nicht wissenschaftlich belegen. Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Organisationen eine Bedrohung für Staat und Gesellschaft sind, solange im Bereich der religiösen Erziehung und des religiösen Lebens keine Staatspolitik entwickelt wird, die für Transparenz und Offenheit sorgt.

2.4

Ertrag des Religionsunterrichts für Staat und Gesellschaft

Die Türkei verwaltet das Erbe einer langjährigen systematischen, von religiösen Motiven beherrschten Bildungstradition. Diese Tradition bietet einerseits die Möglichkeit, die enorme Erfahrung in bestehenden Praktiken und beim Lösen

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von Problemen umzusetzen, andererseits erweist sie sich aber auch als einschränkender Faktor für die Modernisierung und die Fähigkeit, wissenschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen. Der Religionsunterricht ist in der letzten Periode des Osmanischen Reiches mit dem Aufkommen der Mehrparteienpolitik zum Gegenstand politischer Spannungen geworden. Beinahe alle Entwicklungen und Veränderungen in der religiösen Erziehung lieferten neben wissenschaftlichen Grundlagen auch Material für politische Spannungen. Die Studie über religiöse Überzeugungen und Werte, welche im Land in bestimmten Abständen durchgeführt wird, zeigt, dass die religiöse Erziehung zu den gemeinsamen Werten der Gesellschaft beiträgt. Es gibt Forschungen, die nachweisen, dass religiöse Menschen aufgrund ihrer religiösen Erziehung im Vergleich zu nichtreligiösen anpassungsfähiger und verantwortungsbewusster sind, dass die Praktiken des religiösen Lebens (rituelles Gebet, Fasten, Bittgebete und Reuebezeugung) und Verantwortungsbewusstsein sowie soziale Kompetenz eng zusammenhängen, dass Schüler*innen, die eine religiöse Erziehung erhalten haben, ein höheres Maß an Selbstkontrolle, Anpassung und Ausdauer haben, und dass die Beziehung zwischen einigen Dimensionen der Religiosität und dem Gewissen, der Opferbereitschaft und dem Altruismus eine Bedeutungsebene erreicht hat (Yapıcı 2018). Des Weiteren wird angenommen, dass die religiöse Bildung einen wichtigen Beitrag zur Weitergabe der gesellschaftlichen Tradition an die heranwachsende Generation leistet. Insbesondere die Imam-Hatip-Lyzeen werden von der Mehrheit der Gesellschaft nicht nur als berufsbildende Schulen, sondern auch als integraler Bestandteil der Identität betrachtet. Für andere sind diese Schulen ein Symbol für die Rückentwicklung in der Staatsverwaltung. Darüber hinaus kann der Beitrag der Imam-Hatip-Lyzeen zur Erhöhung der Anzahl von weiblichen Lernenden in der Sekundarstufe nicht abgestritten werden. Außerdem spielen Politiker, die diese Schulen abgeschlossen haben, eine wichtige Rolle bei der Annäherung und Versöhnung zwischen Staat und Gesellschaft. Der obligatorische Religionsunterricht bringt die Angehörigen verschiedener religiöser Überzeugungen und Kulturen der Gesellschaft zusammen, ermöglicht die Wahrnehmung von Differenzen durch Begegnung und minimiert Konflikte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Türkei die blutigen politischen Auseinandersetzungen vor 1980 noch einmal erlebt, ist aufgrund dieser Annäherung geringer, denn eine der wichtigsten Dynamiken jener Konflikte war die Spaltung zwischen Angehörigen der alevitischen und der sunnitischen Glaubensrichtung. Des Weiteren hat dieser Religionsunterricht das Potenzial, einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung ethnischer Spannungen im Land zu leisten. Die Vermittlung der islamischen Tradition im Rahmen eines Pflichtfachs, welche eines der wichtigsten Elemente der türkischen Kulturgeschichte darstellt, bringt die Mög-

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lichkeit mit sich, dass alle, die in diesem Land leben, dieses wesentliche Element gemeinsam kennenlernen und bewerten. Auch wenn gewaltbasierte religiöse Organisationen wie IS, Hisbollah oder alNusra ein gewisses Maß an öffentlichem Interesse genießen, schenkt die türkische Bevölkerung dieser Art von Organisationen wenig Beachtung. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass in der Türkei keine religiösen Gewalttaten verübt werden, obwohl es sich um eine sehr unruhige Region handelt, und dass sich die türkischen Bürger*innen nur in sehr geringer Zahl an Ereignissen beteiligen, die jenseits der Staatsgrenzen passieren. Außerdem wurde in dieser Region keine weltweit bekannte, radikale religiöse Organisation gegründet und es war nie jemand aus der Türkei in diesen Organisationen tätig. Auf türkischem Boden herrscht kein geeignetes religiöses Klima für radikale Organisationen. Einer der wichtigsten Gründe dafür ist das Verständnis von religiöser Erziehung, das in einer laizistischen, demokratischen und republikanischen Tradition entwickelt wurde und als Vorbild gelten könnte. Dieses Verständnis von religiöser Erziehung ist für bestimmte radikale Gruppen im Land aufgrund der kritischen Sprache, der liberalen Haltung und der demokratischen Elemente inakzeptabel. Dass die radikalen religiösen Gruppen die offizielle religiöse Erziehung in der Türkei nicht akzeptieren, zeigt sich in heftigen Reaktionen auf die Curricula in theologischen Fakultäten und auf das dort vermittelte religiöse Wissen und führt in manchen Fällen zu Kampagnen, die darauf abzielen, Fakultätsmitglieder zu diskreditieren. Dennoch wird in den Print- und visuellen Medien hauptsächlich eine religiöse Pluralität beobachtet. Ungeachtet dieser Produktivität und Pluralität wird der Erfolg der formalen und non-formalen religiösen Bildung hinsichtlich der Erzeugung einer gemeinsamen Moral und einer Religiosität, die das Individuum beziehungsweise die Gesellschaft berührt, infrage gestellt. In der Türkei ist davon die Rede, dass in Bezug auf Themen wie die Aufrechterhaltung einer gesunden Familienstruktur, das Verhindern von häuslicher und gesellschaftlicher Gewalt, Sucht, Sexualität, die gesellschaftliche Unterstützung der Migrationspolitik usw. keine ausreichende Entwicklung stattgefunden hat. Ferner hat diese intensive Begegnung mit der Religion die Folge, dass teilweise von einer »religiösen Ermüdung« gesprochen wird. Das Land muss, während es den Beitrag des entwickelten Modells schützt, danach trachten, Individuen zu erziehen, welche die Fähigkeit besitzen, bei der Organisation ihres eigenen Lebens von der Religion Gebrauch zu machen. Wenn das erwähnte Problem überwunden werden kann, kann vielleicht das auf dem Gebiet der religiösen Erziehung in der Türkei entwickelte System die Herausbildung eines Modells bewirken, mit dem die Religion für die Einzelpersonen und die Gesellschaft sowohl in der islamischen Welt als auch im Westen einen Beitrag leisten kann.

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Ghazaleh Faridzadeh

Islamische Erziehung im Iran

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag bietet zunächst einen historischen Überblick über die Entwicklung verschiedener religiöser Bildungs- und Erziehungszentren im iranischen Kontext. Daran anschließend werden die gegenwärtigen grundlegenden Komponenten der religiösen Erziehung im Iran im Einzelnen dargelegt. Nach der Ausbreitung des Islams im Iran waren die ersten Orte der religiösen Bildung die Moscheen, die – wie in den meisten islamischen Ländern – sowohl die Funktion von Kultstätten als auch von Bildungs- und Wissenschaftszentren innehatten. Mit der Zeit verselbständigten sich die Erziehungsinstitutionen von der Moschee: Die Grundschulbildung wurde in der maktab und die höhere Bildung in der Medrese erteilt. Doch die Gründung moderner Schulen unter den Qadscharen ließ die traditionell-religiösen Bildungseinrichtungen deutlich schrumpfen. In der Pahlavi-Zeit verschwand die maktab gänzlich und die wenigen Medresen konzentrierten sich nur noch auf die Ausbildung von Geistlichen. Seit der Islamischen Revolution (1979) verfolgt der Iran das Ziel, das Bildungssystem gemäß den Anforderungen der islamischen Tradition durch religiös-islamische Reformen umzugestalten. Zur Umsetzung dieses Ziels liegen gegenwärtig zahlreiche Planungen zum »grundlegenden Wandel des Bildungssystems« und mehrere offizielle Dokumente zur »Philosophie der islamischen Erziehung« vor. Parallel dazu wurden auch die Medresen weiterentwickelt und zunehmend auf eine planmäßige Grundlage gestellt. Eines der wichtigsten Medresen-Zentren im Iran ist das Theologische Seminar von Qom, bekannt als houze-ye ʿilmiyye Qom. Als eine der bedeutendsten islamisch-schiitischen Aus˙ bildungsstätten entwickelte sich die houze von Qom zu einem internationalen ˙ Zentrum mit mehr als zweihundert Medresen und islamischen Forschungseinrichtungen.

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Einleitung

Das Studium der Bildungs- und Erziehungssysteme anderer Länder ist nicht nur aus Sicht der Pädagogik besonders aufschlussreich. Das Bildungssystem eines jeden Landes versammelt ein Bündel von Kulturelementen, das einen umfassenden Einblick in die Verfasstheit des Gemeinwesens, seine Weltanschauung, sein Ethos und seine Einstellung zu Sittlichkeit und Moral erlaubt. Ihre Schlüsselfunktion macht die Bildung daher auch für andere Geistes- und Sozialwissenschaften hoch interessant. Dies gilt insbesondere für die religiöse Bildung und Erziehung, da diese einen ganz unmittelbaren Zugang zu den Glaubensinhalten, Wertesystemen und zum Standpunkt des Gemeinwesens gegenüber Kultur, Tradition, Moral, Politik, Philosophie und Kosmologie eröffnet. Dies gilt auch für den Iran. Ein Blick auf das System der religiösen Erziehung kann viel über die sozialen Werte und die historisch-sozialen Interaktionen in der Gesellschaft lehren. Besonders im Rahmen einer entwicklungshistorischen Untersuchung der verschiedenen Erziehungsreformen und der damit verbundenen Diskussionen lässt sich eine Menge Erkenntnisse über etablierte Glaubenssysteme und deren Einfluss auf frühere und gegenwärtige soziale und politische Reformen in diesem Land gewinnen. Vor diesem Hintergrund bietet der vorliegende Beitrag zunächst einen historischen Überblick über die Entwicklung verschiedener Bildungszentren und deren Rolle für die religiöse Erziehung im iranischen Kontext, um daraufhin die grundlegenden Komponenten der religiösen Erziehung im Iran von heute im Einzelnen darzulegen. Die Betonung der geschichtlichen Dimension der religiösen Erziehung ist der Auffassung geschuldet, dass das heutige iranische Bildungssystem Resultat einer dialektischen Weiterentwicklung historischer Prozesse und daher nur unter Berücksichtigung vorhergehender Entwicklungen zu verstehen ist. Selbstverständlich sind andere Blickwinkel zum Thema religiöse Bildung im Iran nicht weniger relevant. Gerade deshalb weist der vorliegende Beitrag jeden Anspruch auf Vollständigkeit von sich. So wichtig es beispielsweise ist, »Absichten und Ziele, Projekte und Visionen zu analysieren«, so wenig kann darauf verzichtet werden, zu untersuchen, »wie diese Projekte aktualisiert, vermittelt oder manipuliert« wurden. Dazu bedarf es ausführlicher Studien, in denen »Ziele mit ihren Ergebnissen, Projekte mit ihren Auswirkungen und Visionen mit Realitäten« verglichen werden (Ringer 2001a, S. 3). Doch auch all diese weiterführenden und ergebnisorientierten Untersuchungen werden immer auf historische Faktoren und entwicklungsgeschichtliche Diskussionszusammenhänge angewiesen sein, wie sie dieser Beitrag darzulegen versucht.

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2.

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Bildung und religiöse Erziehung im vorislamischen Iran

Die wenigen erhalten gebliebenen Quellen aus dem antiken Persien zeugen davon, dass religiöse Bildungseinrichtungen und Erziehungsmaßnahmen im Iran bereits vor 2.500 Jahren existierten (Dandamayev 1997, S. 178–179). Neben einer Handvoll Dokumenten aus der Zeit um 550 v. Chr., in denen die Menschen aufgefordert werden, Wissen zu erlangen, um Gott besser zu verstehen und ein Leben in Wohlstand zu führen (ebd., mit Verweis auf Hallock 1969, S. 1137), sind es vor allem griechische Quellen, die eine Vorstellung von der typischen persischen Bildung unter der Herrschaft der Achämeniden (ca. 550–330 v. Chr.) vermitteln. Nach Herodot wurden persische Jungen im Alter von fünf bis 20 Jahren in Reiten, Bogenschießen und Wahrheitsfindung geschult (Vakı¯liya¯n 2008, S. 82f.; Blanco & Roberts 1992, 1:136). In Alkibiades I heißt es, dass persische Prinzen im Alter von 14 Jahren vier Lehrern, sogenannten »königlichen Erziehern«, zugewiesen wurden, die jeweils als »der Weiseste«, »der Gerechteste«, »der Gemäßigtste« und »der Mutigste« der Gemeinschaft galten. Der erste lehrte die Weisheiten von Zarathustra und die Kunst der Regierungsführung, der zweite die Tugenden der Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, der dritte Freiheit und Frömmigkeit, was auch die Zügelung der eigenen Begierden einschloss, und der vierte schließlich vermittelte den Prinzen Mut und Tapferkeit (Vakı¯liya¯n 2008, S. 87; Denyer 2001, S. 179–181). Eine besondere Stellung kam der ethisch-religiösen Bildung zu. Deren Vermittlung lag in den Händen von Priestern, die in Feuertempeln, dem offiziellen Ausbildungsort, neben religiösen Lehren auch Medizin, Mathematik und Astronomie unterrichteten (Ogˇa¯q & Va¯ʿez Sˇahresta¯nı¯ 2013, S. 6–7). ˙ Während der Zeit der Sassaniden breitete sich zwar die iranische Kultur weiter aus, die Ausbildung blieb jedoch weiterhin bestimmten Gruppen – Adligen, Geistlichen und Verwaltungsträgern – vorbehalten. Der Pahlavı¯-Abhandlung Xusraw ud Re¯dag lässt sich entnehmen, dass die Ausbildung des Nachwuchses einer Adels- oder Oberschichtfamilie hauptsächlich aus Schreibunterricht, Religionsunterricht, Sportunterricht und der Unterweisung in höfischen Künsten bestand (Tafaz˙z˙olı¯ 1997, S. 179–180). Ein edles Kind trat im »richtigen Alter« zwischen fünf und sieben Jahren in die Schule ein (fra-hangesta¯n), um im Alter von 15 Jahren eine allgemeine Ausbildung und ein Religionsstudium abzuschließen (ebd.). In der Schule lernte es zudem die Yasˇts, Ha¯do¯xt, Baya¯n Yasn und Vide¯vda¯d1 – eigentlich für die Priesterausbildung (He¯rbed: Priester und 1 Teile des Avesta, des heiligen Buchs der zoroastrischen Religion, das auf den altiranischen Propheten Zarathustra zurückgeht. Das Buch enthält eine Sammlung verschiedener Texte aus unterschiedlichen Zeitperioden, die zum Teil sprachlich und auch literarisch voneinander abweichen.

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Religionslehrer) vorgesehene Texte aus dem Avesta – auswendig und studierte den Zand, eine Kommentierung, Auslegung und Übersetzung des Avesta in mittelpersischer Sprache. Astrologie war ebenfalls Teil des Lehrplans (ebd.). Interessant sind Hinweise darauf, dass in der sassanidischen Zeit auch Frauen die Schule besuchten, zumindest den allgemeinen Religionsunterricht, wenn auch wohl nur in relativ geringer Anzahl (Ogˇa¯q & Va¯ʿez Sˇahresta¯nı¯ 2013, S. 9). ˙ Im Bereich der höheren Bildung kam neben den beiden Stätten Ktesiphon und Raʾs al-ʿAin (Resaena) dem Bildungszentrum von Gundischapur (3.–10. Jahrhundert) eine herausragende Stellung zu (Alma¯sı¯ 1999, S. 40; Vakı¯liya¯n 2008, S. 99). Bestehend aus einer Akademie, einer Bibliothek und dem ältesten bekannten Lehrkrankenhaus, galt das Zentrum als die führende Forschungseinrichtung und als das wichtigste medizinische Institut der Antike (Vakı¯liya¯n 2008, S. 99–102). Die Akademie, die sowohl persisches als auch griechisches und indisches Wissen anwandte, bot eine Ausbildung in Medizin, Philosophie, Theologie, Astronomie und Naturwissenschaften an (Alma¯sı¯ 1999, S. 40).

2.1

Islamische Erziehung bis zum Aufkommen der Qadscharen2

Die Ausbreitung des Islams im Iran brachte das vorislamische Erziehungssystem keineswegs auf einmal zum Verschwinden. Vielmehr wurde das in der islamischen Lehre nachdrücklich eingeforderte Bekenntnis zum Wissenserwerb in die im Land unternommenen Bildungsbestrebungen integriert. Demnach bestanden zunächst zwei Arten der allgemeinen Bildung parallel zueinander: eine für jene, die an der Religion ihrer Vorfahren festhielten, und eine für diejenigen, die zum Islam konvertierten (Vakı¯liya¯n 2008, S. 106). Diese zeigten sich zum Teil bemüht, das arabische Alphabet zu lernen, um den Koran zu rezitieren. Da jedoch die breite Bevölkerung kaum des Lesens und Schreibens mächtig war, wurden die Prinzipien der Religion und Überlieferungen (aha¯dı¯t) in den Städten, in denen ˙ ¯ allmählich auch Moscheen entstanden, mündlich weitergegeben (Berkey 2007, S. 42f.). Die ersten Orte der religiösen Bildung waren denn auch die Moscheen, die – wie in den meisten islamischen Ländern – sowohl die Funktion von Kultstätten als auch von Bildungs- und Wissenschaftszentren innehatten – daher auch die Bezeichnung masgˇid gˇa¯miʿ, »universale Moschee«, von der später das Wort gˇa¯miʿa als Bezeichnung für die Universität abgeleitet wurde (Nasr & de Santillana 1968, S. 65). Die Moscheen dienten zwar zunächst als Orte, an denen der Koran und die aha¯dı¯t rezitiert wurden, mit der Zeit wurde aber auch die Unterweisung in der ˙ ¯ arabischen Grammatik und Literatur in diese einfache und rudimentäre Form 2 Eine Dynastie, die von 1779 bis 1925 im Iran an der Macht war.

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der Bildung integriert, die den Kern späterer und höherer Formen des Lernens bildete. Aus diesem frühen Unterricht in Sprache und Religion gingen sowohl die Grundschulen (maktab) als auch die Lernzentren für Fortgeschrittene (madrasa, pers. madrese) hervor, die sich zu den ersten Universitäten des Mittelalters entwickeln und als Vorbilder für die frühen europäischen Universitäten des elften und zwölften Jahrhunderts dienen sollten (ebd., S. 66). Aufgrund des regen Zustroms von Wissenssuchenden aller Richtungen, die sich in ihren Räumen und Stuben (hugˇra) niederließen, sahen sich die Moscheen ˙ bald außerstande, den vielfältigen Bildungsbedarf zu decken. Als auch die Anzahl der lernwilligen Kinder zunahm, wurde deren Unterweisung allmählich aus der Moschee ausgegliedert und in spezielle Bildungs- und Erziehungsorte für Kinder (maktab) in entlegeneren Gegenden ausgelagert. Einige Jahrhunderte später verselbständigten sich dann auch die Einrichtungen der höheren religiösen Bildung (madrese). Abgesehen davon fand eine spezielle religiöse Erziehung auch in den seit ca. dem zehnten Jahrhundert verbreiteten Sufi-Klöstern (ha¯˘ naqa¯h) statt. Im Folgenden wird die Art und Weise der islamischen Erziehung in diesen Bildungszentren näher untersucht. 2.1.1 Elementarunterricht (maktab) Wörtlich bedeutet maktab (Pl. maka¯teb) oder maktab-ha¯ne »Ort, an dem Bücher ˘ gelesen werden«. Im Iran bezeichnete man damit den Ort, an dem Lesen und Schreiben unter der Anleitung eines Lehrers unterrichtet wurde (Du¯stha¯h & ˘ Yag¯ma¯ʾı¯ 1997, S. 180). Maka¯teb, die in vielen Teilen der islamischen Welt noch immer existieren (zum Teil unter dem Namen kutta¯b) (Hefner 2007, S. 5), sahen es als ihre Aufgabe, Kinder mit dem Lesen und Schreiben und insbesondere mit den Prinzipien der Religion vertraut zu machen. Unterrichtet wurden sowohl Jungen als auch Mädchen, in der Regel in einer Moschee oder in deren Nähe, und später immer mehr in Privathäusern. Die Schüler*innen waren angehalten, sowohl der Lehrkraft als auch dem unterrichteten Fach und der Lehre selbst mit Ehrfurcht zu begegnen. Damit prägte der elementare Unterricht auf der Ebene der maktab sehr früh deren Grundeinstellung sowohl gegenüber Lehrenden als auch gegenüber dem Lernen und Wissen als solchem (Nasr & de Santillana 1968, S. 66). Auf diese Weise war es möglich, die Begabten früh zu erkennen und zu ermutigen, ihr Studium auf einem höheren Niveau fortzusetzen. Die maktab diente somit einerseits als Zentrum für die religiöse und literarische Bildung der Allgemeinbevölkerung und andererseits der Vorbereitung auf ein Studium an höheren Lerninstitutionen, in denen die Wissenschaften unterrichtet und kultiviert wurden (ebd.).

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Eine typische Eigenschaft der maktab war, dass sie kein Zulassungsverfahren und keine speziellen Zulassungsvoraussetzungen vorsah, die einer Einschreibung im Wege gestanden wären. Ebenso wenig gab es einen bestimmten Anmeldeschluss – der Einstieg in den Unterricht war jederzeit möglich (Madani 2015, S. 48–49). Da die maka¯teb in der Regel von Privatpersonen oder Stiftungen gegründet wurden – auch diesbezüglich gab es weder Einschränkungen noch Anforderungen –, unterlagen sie auch nicht einer einheitlichen, für alle maka¯teb geltenden Administration und Regelung, sondern wurden vielmehr nach Gutdünken des Gründers und der Lehrkraft verwaltet. Dies erklärt auch, weshalb die Ausbildungsmethoden in maka¯teb sich je nach örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten und Gebräuchen unterschieden (Darra¯nı¯ 1998, S. 98). Gleichwohl enthielten die meisten islamischen Bücher über Ethik oder Bildung ein oder mehrere Kapitel, die sich mit den idealen Bedingungen für die Erziehung und Ausbildung in den maka¯teb befassten und Empfehlungen betreffend die Vorbereitung auf ein Studium in Medresen formulierten (Nasr & de Santillana 1968, S. 66). 2.1.2 Höhere Bildung (madrese) Die ersten Medresen (pers. madrese, wörtlich »Ort des Studierens«) entwickelten sich offenkundig erst einige Jahrhunderte nach den maka¯teb. Als Orte der höheren Bildung stammten die ersten Medresen (10. Jahrhundert) nicht aus dem arabischen Kernland, sondern aus der Provinz Chorasan im Osten des Irans, von wo sie sich zügig in der gesamten islamischen Welt ausbreiteten (Hefner 2007, S. 5). Wie bereits angemerkt, waren die ersten Bildungsaktivitäten zunächst auf die Moscheen und andere religiöse Kultstätten beschränkt, die mit der qualitativen und quantitativen Entwicklung der Bildung und den unterschiedlichen Bildungsbedürfnissen jedoch bald nicht mehr Schritt halten konnten, weswegen die Bildungsstätten nach und nach von den Moscheen getrennt wurden. Im Iran fand die Verlegung der Bildungsstätten aus den Innenhöfen der Moscheen in unabhängige Schulen bereits ab dem zehnten Jahrhundert statt. Dennoch behielten die Moscheen ihre pädagogische Funktion weiterhin bei (Melchert 1997, 182f.). Den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichten die Medresen in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts, als der seldschukische Wesir Niza¯m al-Mulk ˙ (1018–1092) in Bagdad und anderen Städten eine Kette von Bildungseinrichtungen gründete (ebd.; Nasr & de Santillana 1968, S. 71). Damit wurde die Errichtung von Bildungsinstitutionen zum ersten Mal Teil der politischen Agenda der islamischen Herrschaft. In der Folge setzte sich die Medrese in modifizierter Form auch in anderen Teilen der islamischen Welt durch. Bis zum zwölften Jahrhundert war sie viel-

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leicht »die charakteristischste religiöse Institution der mittelalterlichen Stadtlandschaft des Nahen Ostens« (Berkey 2002, S. 187). Viele führende Persönlichkeiten und Wissenschaftler*innen der islamischen Welt wurden an der Medrese ausgebildet, darunter zahlreiche Jurist*innen, Religionswissenschaftler*innen, Mathematiker*innen, Ärzt*innen und Astronom*innen (Hefner 2007, S. 6). Besonders in den späteren Jahren entwickelte sich die Medrese zur konkurrenzlosen, zentralen Institution der mittelalterlichen muslimischen Zivilgesellschaft (ebd.; Arjomand 1999, S. 263–293). Obwohl sich die schiitische Version der Medrese bereits Mitte des 13. Jahrhunderts im ganzen Land etabliert hatte, waren der Aufstieg der Safawiden (1501–1722) und die unter ihrer Herrschaft erfolgte Proklamation des schiitischen Glaubens zur offiziellen Konfession im Iran bedeutende Faktoren der Ausweitung der schiitischen Medresen (Zarya¯b 1997, S. 184). In struktureller Hinsicht gab es damals zwischen schiitischen und sunnitischen Medresen keine nennenswerten Unterschiede. In beiden Schulen war es üblich, auf formelle Prüfungen und Notenvergabe zu verzichten, das Studium galt ausschließlich dem Zweck des Wissenserwerbs. Beide Schulsysteme waren so konzipiert, dass sie den individuellen intellektuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten Rechnung trugen. Einzelne Lehrkräfte boten Kurse auf verschiedenen Ebenen an, wobei sowohl Erstere als auch Letztere von den Lernenden frei gewählt werden konnten. Der Unterricht basierte überwiegend auf einem Lehrvortrag eines Professors, gefolgt von Gruppendiskussionen (muba¯hisah) (Melchert 1997, S. 183f.). ˙ Was hingegen den Inhalt des Studiums betraf, gab es zwischen sunnitischen und schiitischen Lerninstitutionen durchaus Unterschiede. Die sunnitische Medrese war im Wesentlichen bestrebt, Studierende in islamischem Recht und anderen textbasierten Religionswissenschaften (ʿulu¯m naqlı¯) auszubilden. Das Programm bestand hauptsächlich aus Koranexegese (tafsı¯r), Überlieferungsforschung (hadı¯t), Jurisprudenz (ʿusu¯l al-fiqh), Theologie (kala¯m) und zum Teil ˙ ¯ ˙ auch arabischer Grammatik, Philologie und Syntax (ebd.). Die schiitischen Schulen zeigten jedoch auch eine Affinität zu den nichtreligiösen, rationalen Wissenschaften (ʿulu¯m ʿaqlı¯). Neben Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Mathematik, Medizin und Naturwissenschaften wurde besonders der Philosophie und Metaphysik Bedeutung beigemessen. Einzelne Schulen der griechischen Philosophie und Wissenschaft, insbesondere die esoterischen, dem Neupythagoreismus und der Hermetik zugetanen Schulen wurden sehr früh in die schiitische Perspektive integriert (Nasr & de Santillana 1968, S. 72). Vor allem die Lehre der islamischen Philosophie an den Medresen erlebte unter den Safawiden eine Blütephase. Von Mı¯r Da¯ma¯d (1561–1631) wurde etwa die »Schule von Isfahan« ins Leben gerufen, deren Tradition unter anderem von dem berühmten Philosophen Mulla¯ Sadra¯n (1572–1640) weiterverfolgt wurde, der seinerseits die ˙ »Schule der Transzendentalen Theosophie« (al-hikmat al-mutaʿa¯liyah) grün˙ ˙

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dete. Die sunnitischen Gelehrten und Juristen hielten sich von diesen Wissenschaften jedoch größtenteils fern und leisteten ihnen gegenüber nicht selten Widerstand. So etwa soll Niza¯m al-Mulk den Philosophieunterricht an seinen ˙ Medresen (niza¯miyyah) ausdrücklich verboten haben (Nasr 2006, S. 44). Eine ˙ Ausnahmestellung hatte die aristotelische Logik, da sie sich bei der Lösung von Fragen zum Recht, zur Theologie und sogar zur arabischen Grammatik als nützlich erwies (ebd.). Der Unterschied im Lerninhalt der schiitischen Medresen manifestierte sich auch in der Gliederung, Beschaffenheit und Architektur der Medresen selbst. Schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts leiteten die Ereignisse im Iran – mit dem Aufkommen dessen, was Said Amir Arjomand als »gemeinnützigen pädagogischen Komplex« bezeichnet (Arjomand 1999, S. 272) – eine weitere Entwicklungsphase der Medrese ein (Hefner 2007, S. 6). Der durch eine einzige Stiftungsurkunde geschaffene neue Komplex umfasste nicht nur Moschee, Medrese und Gründerresidenz, sondern auch ein Krankenhaus, ein Sufi-Kloster und sogar öffentliche Bäder sowie ein astronomisches Observatorium (ebd.). Diese pädagogische Wohlfahrtseinrichtung breitete sich zwar bald vom Iran auch nach Syrien und Ägypten aus, den gesamten Komplex mit seiner einzigartigen Kombination von Sozialdiensten und rationalem Lernstoff übernahmen jedoch nur wenige Schulen des Nahen Ostens (ebd.). Unter den Safawiden erhöhte sich Tag für Tag nicht nur die Zahl der Medresen und damit einhergehend die Anzahl der Studierenden. Einen weiteren Meilenstein bildete der Umstand, dass religiöse Bücher, die zuvor ausschließlich auf Arabisch geschrieben und unterrichtet wurden, in einfachem Persisch zusammengestellt und der Allgemeinbevölkerung zugänglich gemacht wurden (Nouru¯zı¯ 2012, S. 42–43). Auch in den Medresen wurden manche Unterrichtsinhalte auf Persisch angeboten, was zu einer weiteren Spezifizierung der iranischen Medresen führte (ebd.; Darra¯nı¯ 1998, S. 103f.). Die Medrese blieben bis zum Ende der Qadscharen-Dynastie im späten 18. Jahrhundert die wichtigste islamische Bildungseinrichtung im Iran. Aber auch danach konnte sich die Medrese – ungeachtet des Aufkommens moderner Institutionen der säkularen Bildung – behaupten und machte sich vor allem um die Ausbildung von Geistlichen verdient. Eine Wiederbelebung erfuhr die Medresen-Erziehung im Iran besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Stadt Qom, dem wichtigsten Zentrum der religiösen Bildung. Dank einer Reihe von Modifikationen und Adaptionen der traditionellen Medresen-Struktur entwickelte sich das heutige Theologische Seminar in Qom (houze-yeʿilmiyye Qom) ˙ zu einem internationalen Zentrum für schiitische Bildung und Forschung, in

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dem sich Lehrende und Lernende aus mehr als 75 Ländern mit Fragen der islamischen Wissenschaften auseinandersetzen (Arjmand 2018, S. 560).3 2.1.3 Sufi-Kloster (za¯viye/ha¯naqa¯h) ˘ Als eine weitere bedeutende Stätte der islamischen Erziehung, die im Iran (Chorasan) seit dem zehnten Jahrhundert bestand, sind die Sufi-Zentren (pers. za¯viye oder ha¯naqa¯h) zu nennen (Estahrı¯ 2010, S. 34). In der Frühzeit des Islams ˘ galten die ha¯naqa¯hs als Orte der Zusammenkunft und der Ausführung spiritu˘ eller Übungen unter der Leitung eines spirituellen Meisters (Nasr & de Santillana 1968, S. 90). Dorthin zog es jene, die sich nicht mit dem in den Medresen gebotenen formalen Lernen begnügen wollten, sondern nach unmittelbarer Erfahrung der Wahrheit strebten. Dergestalt dienten die Sufi-Klöster auch als Erziehungseinrichtungen, wenngleich der Lehrstoff, anders als jener der Medresen, nicht in theoretischen Büchern zu finden war (ebd.). Nach der Invasion der Mongolen im 13. Jahrhundert, in deren Zuge viele Bildungseinrichtungen des Landes zerstört wurden, nahmen die Sufi-Zentren immer mehr die Form strukturierter Lerninstitutionen an, die in vielen Teilen der islamischen Welt Funktionen der Medresen zu ersetzen versuchten. Seit damals wurden in manchen ha¯naqa¯hs neben den esoterischen Wissenschaften und der Gnosis auch die ˘ zuvor nur in den Medresen gelehrten klassisch-islamischen Wissenschaften angeboten (Estahrı¯ 2010, S. 38; Nasr & de Santillana 1968, S. 91).

2.2

Islamische Erziehung in der Qadscharen-Zeit (1785–1925)

Die Qadscharen-Zeit war vor allem durch die Errichtung von modernen Bildungseinrichtungen gekennzeichnet, denen parallel zu den unter dem traditionellen Erziehungssystem der Vor-Qadscharen-Phase gegründeten maka¯teb und Medresen wichtige Erziehungsfunktionen zukommen sollten. Die Einführung moderner Bildungseinrichtungen kann als Reaktion auf die soziale Stagnation und eine Reihe damit einhergehender politischer Krisen, von denen die iranische Gesellschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert erfasst war, betrachtet werden (Ringer 2001b, S. 5f.). Da der Iran im Gegensatz zu den meisten Ländern des Nahen Ostens nie von westlichen Mächten kolonialisiert wurde, war die Kolonialschule dort unbekannt (Paivandi 2013, S. 80). Doch der Kontakt zwischen dem Iran und anderen Ländern schuf ein klares Bewusstsein von der Unabdingbarkeit moderner Bildungseinrichtungen für den wirtschaftlichen und 3 Vgl. die Seite des Managements des Theologischen Seminars von Qom (Modı¯ryat-e houze˙ yeʿilmiyye Qom), http://hawzahqom.ir/. Zugegriffen: 26. Juni 2020.

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technischen Fortschritt des Landes (Ringer 2001b, S. 213ff.). So kam es im 19. Jahrhundert unter Reformisten zu Debatten über neue Erziehungsstrategien oder neue Schulen (madrese-ye gˇadı¯d), die sich von den traditionellen Schulen grundsätzlich zu unterscheiden hätten – tatsächlich kreiste der moderne iranische Diskurs in jener kritischen Phase der iranischen Geschichte im Wesentlichen um ein neues Ausbildungssystem als Symbol des Fortschritts schlechthin (Paivandi 2013, S. 80). Welche Faktoren genau bei der Geburt der modernen Schule im Iran während der Qadscharen-Dynastie eine Rolle gespielt haben, wird in der Literatur nach wie vor heftig diskutiert (Koyagi 2009, S. 107–118). Als Triebfeder der modernen Bildungsentwicklung gelten aber vor allem die Modernisierungsmaßnahmen (neza¯m-e gˇadı¯d) des Kronprinzen ʿAbba¯s Mı¯rza¯ (1785–1833) und seines Wesirs ˙ Mı¯rza¯ Abu’l Qa¯sem Qa¯ʾem-maqa¯m (1783–1848) (Ringer 2001b, S. 15ff.). Deren erster bedeutender Schritt zur Abwehr westlicher Hegemonialansprüche, besonders der russischen Expansionsbestrebungen, war die Entsendung von Studentendelegationen ins Ausland – zumeist zwecks militärischer und technischer Ausbildung – und die Beiziehung von europäischen Militärexperten (Vahdat 2002, S. 27f.; Hurewitz 1968, S. 153ff.), eine Praxis, die man einige Jahrzehnte beibehielt. Nach ihrer Rückkehr in den Iran nahmen einige dieser in Europa ausgebildeten Absolventen direkt die Gründung neuer Schulen und Hochschulen in Angriff (Ashraf 1997, S. 189). Diese neuen Schulen lassen sich wie folgt klassifizieren: 2.2.1 Missionsschulen Als erster Schritt in Richtung strukturelle Neuausrichtung des Schulwesens kann die Errichtung moderner Missionsschulen gelten – das Werk religiöser Minderheiten und ausländischer Missionare, das dem Iran ab den 1830er-Jahren erste Erfahrungen mit einem modernen Bildungswesen ermöglichte (Madani 2015, S. 58f.). Den Anfang machte 1838 der amerikanische Priester Justin Perkinz (1805–1865) mit der Eröffnung einer christlichen Schule in Urmia (ebd., S. 59), die zweite entstand dann 1839 auf Betreiben des französischen Priesters Eugène Boré (1809–1878) in Täbris (ebd.). Weitere Missionsschulen wurden nach und nach während der Qadscharen-Zeit von Amerikanern, Engländern und Deutschen in mehreren Städten, darunter Urmia, Täbris, Salmas, Dscholfa, Isfahan, Hamadan, Kerman und Teheran, errichtet (Ringer 2001b, S. 109ff.). Diese Schulen, die vielfach auch Kindern aus muslimischen Familien offenstanden, brachten frischen Wind in das kulturelle und pädagogische Umfeld und legten – ungeachtet ihrer religiösen Ausrichtung – das Fundament, auf dem die Bildung einer Neustrukturierung unterzogen werden konnte (Paivandi 2013, S. 81). Gegenüber der traditionellen Bildung enthielt der Lehrplan der Missionsschulen

Islamische Erziehung im Iran

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eine Reihe von Neuerungen, darunter Fremdsprachen- und Geografieunterricht, die zeitliche Gliederung des Studiums in Tage, Wochen und Schuljahr, die Einführung von Leistungsstufen und Klassen oder die Implementierung fortschrittlicher Unterrichtsmethoden und moderner Unterrichtsmaterialien (Ringer 2001b, S. 130f.; Paivandi 2013, S. 81). 2.2.2 Staatliche Schulen Die zweite Art von Schulen, die sich von den traditionellen maka¯teb unterschieden, verdankte sich dem Bemühen der Politik, die Rückständigkeit des Landes gegenüber dem Westen, insbesondere auf militärischem und technologischem Gebiet, mit der Einführung moderner Bildungseinrichtungen zu überwinden. Im Gegensatz zu den vom Staat sowohl organisatorisch als auch finanziell unabhängigen und der Allgemeinbevölkerung zugänglichen traditionellen Bildungseinrichtungen (maka¯teb und Medresen) entstanden diese neuen Schulen direkt auf Betreiben der Politik und waren zunächst auch nur für die Erziehung der Kinder der staatlichen Eliten vorgesehen. Es war besonders der Bedarf an Unterricht in Fächern, die nicht Teil des traditionellen Lehrplans waren (wie moderne europäische Sprachen, Militärwissenschaften und Technologie), der 1851 zur Gründung der ersten staatlich finanzierten Schule, Da¯r al-fonu¯n, durch Amı¯r Kabı¯r (1807–1852)4 führte (Ringer 2001b, 67ff.). Entworfen nach dem Vorbild des französischen Saint-Cyr und des osmanischen Mekteb-i Erkân-ı Harbiyye-i S¸âhâne, entwickelte sich Da¯r al-fonu¯n zu einem Militärcollege mit einem modernen Lehrplan zur Ausbildung des Personals für das gesamte Armeekorps. Der Lehrplan umfasste Fächer wie Militär- und Ingenieurwissenschaften, Mathematik, Zeichnen, Bergbau, Physik, Pharmakologie und Medizin, später kamen dann persische Literatur und Arabisch hinzu (ebd.). Mangels ausreichend qualifizierter Muttersprachler und geeigneter Lehrbücher wurden die meisten Lehrer aus Europa (besonders aus Österreich und Deutschland) rekrutiert. Unterrichtssprache war zunächst Französisch. Später wurden die Fakultäten um eine Sprachabteilung erweitert, an der Französisch, Russisch, Deutsch und Englisch gelehrt wurde. Deren Absolventen sollten auch Lehrbücher für zukünftige Schüler übersetzen, was wiederum die Verbreitung neuer Wissenschaften und Technologien förderte. Infolgedessen formierte sich ein Kader von Armeeangehörigen, die in allen Aspekten der modernen Militärwissenschaft und des öffentlichen Dienstes bewandert waren, um in den verschiedenen Organisationseinheiten des Staats zu dienen (Madani 2015, S. 53). Der Da¯r al-fonu¯n folgten 1885 das staatliche Militärcollege von Teheran (Madrese-ye Neza¯miyyeh) und 1899 die staatliche Akademie für Politikwissen˙ 4 Ministerpräsident unter dem qadscharischen König Na¯ser ad-Dı¯n Sˇa¯h (1831–1896). ˙

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schaften (Madrese-ye ʿUlu¯m-e Siya¯sı¯) (Ringer 2001b, S. 145ff.). An den ersten Absolventen der Da¯r al-fonu¯n und anderer staatlicher Colleges und an deren Unterschieden zu den Maktab-Schülern wurde immer mehr deutlich, wie wenig Letztere für neue Fächer gerüstet waren. Für sie galt es daher nicht nur, eine bessere Grundlage in Mathematik und Naturwissenschaften, die nicht im Lehrplan der maka¯teb enthalten waren, zu schaffen, sondern auch die Unterrichtsmethoden umzugestalten – vom Auswendiglernen zu einem analytischeren und kritischeren Ansatz, der die Schüler befähigen würde, das Gelernte auch sachgemäß anzuwenden.5 Diese Einsicht verstärkte den Drang zur Modernisierung der allgemeinen Grundschulbildung im Lande und ebnete den Weg für die darauffolgenden Reformen. 2.2.3 Moderne Schulen der Zivilgesellschaft (madrese-ye novı¯n) Eine neue Phase setzte also um die Wende des 20. Jahrhunderts ein, als sich unter reformorientierten Intellektuellen die Auffassung durchzusetzen begann, dass die Entfaltung eines modernen Bildungssystems eine wichtige Voraussetzung für den sozialen und politischen Fortschritt des Landes ist. Das Bedürfnis nach moderner Bildung war sogar bei einigen reformistischen Geistlichen zu spüren (Mohammadı¯ 2016, S. 107–131). Auf dieser Grundlage versuchten die von ira˙ nischen Intellektuellen veröffentlichten Zeitschriften und Bücher, die öffentliche Meinung zugunsten einer Modernisierung des Schulwesens und von Bildungsreformen zu mobilisieren (Ringer 2001b, S. 221ff.). Private Initiativen, vor allem der neuen Zivilgesellschaft und der aufstrebenden urbanen Bevölkerung, spielten in dieser Zeit eine entscheidende Rolle beim Aufbau der ersten modernen Schulnetzwerke für Kinder aus der großstädtischen Mittel- und Unterschicht (Ringer 2000, S. 63f.). Eine der ersten privaten Schulen dieser Art, Madrese-ye Rosˇdiyye, wurde 1315/ 1898 von Mı¯rza¯ Hasan Rosˇdiyye gegründet. Unter der Schirmherrschaft des ˙ Großwesirs Mı¯rza¯ ʿAlı¯ Khan Amı¯n-al-Dawla wurde diese Institution zum Vorbild für andere moderne Schulen, die sich im ganzen Land ausbreiteten (Ashraf 1997, S. 189). Im Gegensatz zu ihren Vorformen, die nur Adligen und den königlichen Prinzen offenstanden, waren diese Schulen allen Schichten der Gesellschaft zugänglich. Die Kosten für ihren Betrieb trug der Gründer, der zu diesem Zweck bisweilen geringe Studiengebühren einhob (ebd.). Zur Förderung der modernen Bildung im Iran wurde 1898 die »Gesellschaft für Bildung« oder der Bildungsrat (Angˇoman-e Maʿa¯ref) ins Leben gerufen. Diese Gesellschaft war vor allem damit betraut, die schulische Infrastruktur für die Ausbildung der Allgemeinbevölkerung zu erweitern, wissenschaftliche Veröf5 Dies war jedenfalls die damals herrschende Auffassung; vgl. Ringer (2001b, S. 243ff.).

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fentlichungen zu fördern, öffentliche Bibliotheken einzurichten und die Erwachsenenbildung zu organisieren (Paivandi 2013, S. 81). Auf diese Weise konnte sich bis zum Vorabend der Konstitutionellen Revolution (1906) ein Netzwerk privater moderner Schulen etablieren. Tunlichst bemüht, den direkten Konflikt mit der Geistlichkeit und den Anhängern der traditionellen Bildung zu vermeiden (ebd.), bezogen die Pioniere des modernen Schulwesens die Vertreter der Religion von Beginn an in den Reformprozess ein. Religionsunterricht und Koranrezitation wurden als Pflichtfach in den Lehrplan der neuen Schule integriert, viele Lehrfächer wurden von Geistlichen unterrichtet, die sich mitunter selbst als Gründer solcher Schulen hervortaten (Mohammadı¯ 2016, S. 121f.). Nicht alle Geistlichen reagierten frei˙ lich in ein und derselben Weise – so mancher blieb der modernen Schule gegenüber skeptisch und lehnte sie als »Nachahmung ausländischer Organisationen« vehement ab (ebd.). 2.2.4 Entwicklungen nach der Konstitutionellen Revolution (1906) Wie bereits angemerkt, ließ die Gründung moderner Schulen in der QadscharenZeit ein duales Bildungssystem entstehen, in dem zwei unterschiedliche Bildungsapparate – eben die traditionellen maka¯teb und Medresen einerseits und moderne Schulen (Missionsschulen, staatliche und private Schulen) andererseits – nebeneinander existierten. Durchaus bemerkenswert ist der Umstand, dass es in der Modernisierungsphase keinerlei Versuche gab, die bereits bestehenden traditionellen Einrichtungen umzugestalten oder zu reformieren – sämtliche Anstrengungen galten der Übertragung von neuen Bildungsmodellen und deren Verankerung parallel zu den traditionellen Institutionen. Dies erklärt auch, weshalb diese neuen Schulen heute nicht als Ergebnis lokaler Erfahrungen und Anforderungen betrachtet werden – schließlich ersetzte die Nachahmung europäischer Modelle die Weiterentwicklung und Neuerung der einheimischen Bildungseinrichtungen (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 87). Ein weiteres wesentliches Moment der unter den Qadscharen errichteten modernen Schulen ist ihr nichtstaatlicher Charakter – seit ihrer Gründung durch Rosˇdiyye bis zur Verabschiedung der ersten iranischen Verfassung im Jahr 1906 agierten sie bei der Planung, Umsetzung und Festlegung von Inhalten weitestgehend unabhängig vom Staat. Ungeachtet wiederkehrender Versuche der positiven oder negativen Einflussnahme seitens einzelner Regierungsbeamter gab es keine gesetzliche Grundlage, die staatliche Eingriffe jedweder Art in das Bildungssystem legitimiert hätte (ebd., S. 89). Als organisatorisch und inhaltlich unabhängige zivile Institutionen konstituierten diese Schulen aber auch kein einheitliches und zentralisiertes Erziehungssystem. Im Zuge der Konstitutionellen Revolution (1905–1907) sprachen sich einige Reformer für die Einrichtung

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eines landesweiten öffentlichen Grundschulsystems aus. Die Konstitutionelle Verfassung (1906) bestätigte zwar den dualen Charakter des Bildungssystems (religiöse Institutionen und moderne Schulen), institutionalisierte jedoch die Rolle des Staates im Bildungsbereich und unterstellte beide Bildungseinrichtungen dem Bildungsministerium. Ferner verpflichtete die Verfassung die Regierung, sich aktiv an der Einrichtung und Entwicklung von Schulen zu beteiligen und auch den Unterricht unter ihre Obhut zu nehmen (Art. 19 der Verfassungsergänzung). Auch die Bildungsfreiheit und die obligatorische Bildung für alle Kinder sollten durch die Verfassung garantiert werden (Art. 18 der Verfassungsergänzung). In Befolgung der Verfassungsbestimmungen ging das Bildungsministerium daran, sämtliche öffentliche und private Schulen in ein einheitliches System zu überführen. Im Jahr 1910 wurde die Organisation durch das Ministerium im Verwaltungsrecht gesetzlich festgelegt (Qa¯nu¯n-e eda¯rı¯-e veza¯rat-e maʿa¯ref va sana¯yeʿ-e mostazrafa va ʾavqa¯f). Dem Obersten Bildungsrat (Sˇu¯ra¯-ye ʿa¯lı¯-e ˙ ˙ maʿa¯ref) wurden in vielen Bereichen weitreichende Befugnisse eingeräumt. 1911 ratifizierte das Parlament das Grundgesetz für Bildung (Qa¯nu¯n-e asa¯sı¯-e maʿa¯ref), das die landesweite Grundschulbildung für Kinder ab sieben Jahren vorsah (Ashraf 1997, S. 189f.). Doch all diese verwaltungsrechtlichen Vorschriften konnten offenbar nichts daran ändern, dass in der Realität weiterhin ein vom Staat unabhängiges, bürgerliches Erziehungssystem dominierte und pädagogische Einrichtungen bis zu Beginn des Pahlavi-Regimes dezentralisierte und selbstständige Institutionen blieben (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 89). 2.2.5 Islamische Erziehung während der Pahlavi-Dynastie Zur tatsächlichen Umsetzung eines zentralisierten Bildungssystems sollte es erst unter der Herrschaft der Pahlavi-Dynastie (1925–79) kommen, als das Bildungsministerium mit der Regulierung des gesamten öffentlichen und privaten Schulwesens und der Erstellung eines einheitlichen Lehrplans für die Grund- und Sekundarschulen beauftragt wurde. Dies ließ den traditionellen Bildungssektor deutlich schrumpfen; die maka¯teb verschwanden allmählich ganz und die wenigen Medresen konzentrierten sich nur noch auf die Ausbildung von Geistlichen (Paivandi 2013, S. 83). 2.2.6 Islamische Erziehung in der ersten Pahlavi-Phase (1925–1941) Unter Rez˙a¯ Sˇa¯h, dessen Politik vor allem auf die Konsolidierung eines persischen Nationalstaats abzielte, wurden von der Regierung systematische Maßnahmen zur völligen Abschaffung des traditionellen Erziehungssystems und zum Aufbau eines säkularen Bildungs- und Erziehungsapparats ergriffen. Rez˙a¯ Sˇa¯h sah im

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Bildungssystem eine gute Grundlage für den Ausbau seiner absoluten politischen Macht und einer nationalen Identität, die es für ihn so rasch wie möglich von jeglicher Tradition loszulösen galt. Dabei scheute er auch nicht vor dem massiven Einsatz von Zwangsmitteln zurück, um jegliche Kritik zum Verstummen zu bringen und den Widerstand der Geistlichkeit zu brechen (Moazami 2008, S. 54f.). Diese autoritäre Modernisierung ließ die Zahl gebührenfreier Bildungseinrichtungen in die Höhe schnellen, zerstörte aber alle Hoffnungen auf einen kritischen Dialog zwischen den Verfechtern eines neuen Bildungswesens und den Anhängern der traditionellen Institutionen (Paivandi 2013, S. 83). Sehr bald wurde das neue Bildungsgesetz (1922) um zahlreiche Verordnungen ergänzt, kraft derer alle Arten von Bildungseinrichtungen – einschließlich der Missionsschulen – in den Kompetenzbereich des neu strukturierten Obersten Bildungsrats (Sˇu¯ra-ye ʿa¯lı¯-e maʿa¯ref) übergingen. Wie bereits angesprochen, wurden die maka¯teb nach und nach ganz abgeschafft und die Anzahl der Medresen reduziert, ihr Weiterbetrieb aber generell erlaubt (Zarya¯b 1997, S. 185). Die Geistlichkeit wurde aus dem offiziellen Bildungssystem verbannt, ehemalige geistliche Lehrer vor die Wahl gestellt, entweder ihre religiöse Kleidung abzulegen und sich den Vorschriften des Bildungsrates zu unterwerfen oder aus dem Erziehungssystem auszuscheiden (Abrahamian 2018, S. 86–88). Im ganzen Land wurde Frauen, einschließlich Schülerinnen und Lehrerinnen, das Tragen jeder Form des islamischen Schleiers verboten (ebd., S. 86f.). Der Religions- und der Arabischunterricht wurden aus dem Grundschulcurriculum gestrichen und nur im ersten Jahrgang der Sekundarschule, die sich seit 1928 offiziell am französischen Lycée-System orientierte, angeboten (ebd., S. 87; Sˇaʿba¯nı¯, Mehrı¯ & Mansu¯rbaht 2019, S. 117). ˙ ˘ Im Bereich der höheren Bildung eröffnete Rez˙a¯ Sˇa¯h 1935 die Universität Teheran als die erste staatliche Universität nach dem Vorbild französischer Hochschulen. Die Universität verfügte über eine theologische Fakultät, die mit dem traditionellen Medrese-Studium rivalisieren sollte (Moazami 2008, S. 54). 1939 wurde die »Organisation zur Geistesbildung und -pflege« (Sa¯zma¯n-e parvaresˇ-e afka¯r) gegründet, mit dem Ziel, im Zuge der Vereinheitlichung des Lehrplans Patriotismus und Loyalität zum Monarchen in den Lehrbüchern der Grund- und Sekundarschulen zu verankern und wirksam auszubauen (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 92). Die vorislamische Periode der iranischen Zivilisation sollte wiederbelebt, der Einfluss des Islams auf die iranische Kultur möglichst heruntergespielt werden (Paivandi 2013, S. 83). So verwandelte sich das ehemals nichtstaatliche, dezentralisierte moderne Bildungswesen in ein vollständig zentralisiertes und gleichzeitig nachahmendes, autoritäres und formalistisches Bildungssystem (Ashraf 1997, S. 190; ¯Irava¯nı¯ 2014, S. 93).

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2.2.7 Islamische Erziehung in der zweiten Pahlavi-Phase (1941–1979) Die von Rez˙a¯ Sˇa¯h eingeleitete Bürokratisierung und Militarisierung der Bildungspolitik wurde in der zweiten Pahlavi-Phase fortgesetzt. Die Bestrebungen des formal-staatlichen Erziehungswesens galten nach wie vor der Formierung einer nationalen Identität durch die Verherrlichung des vorislamischen Iran, die Anerkennung des Staates und der traditionellen Autorität des Sˇa¯h und die Heranzüchtung eines loyalen und gehorsamen Staatsvolks (Moazami 2008, S. 58; ¯Irava¯nı¯ 2014, S. 94). Am nachahmenden, autoritären, zentralisierten und formalistischen Charakter des Bildungssystems änderte sich mithin nichts (ebd.). Doch die veränderte politische Lage nach dem Zweiten Weltkrieg (wie z. B. die geschwächte Regierungsmacht des Sˇa¯h, die Präsenz ausländischer Streitkräfte im Lande und die Verlagerung der internationalen Machtverhältnisse) erforderten einige Anpassungen bei der Durchsetzung der bezweckten Maßnahmen (Moazami 2008, S. 57). Eine dieser Modifikationen war die Instrumentalisierung der Religion für die Herausbildung einer nationalen Identität (ebd.). Das Religionsstudium wurde erneut in den nationalen Lehrplan aufgenommen, Tabus wie das Schleierverbot zum Teil aufgehoben. Auch der Druck auf Geistliche ließ nach. Manche wurden erneut zum Schuldienst zugelassen und durften sogar unabhängige religiöse Schulen gründen (wie etwa die Schulen, die mit Unterstützung der »Gesellschaft für religiöse Erziehung« errichtet wurden) (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 93–94.). Infolgedessen wurden bis 1979 von Aktivisten und informellen islamischen Gruppen mehrere islamische Privatschulen gegründet, die das Ziel verfolgten, islamische Werte und Ethik zu fördern und damit eine ergänzende islamische Erziehung außerhalb des formalen Lehrplans anzubieten (Ra¯ʿı¯ & Rahma¯niya¯n 2017, S. 69– ˙ 70). Diese alternativen Schulen galten vielen als Modell, in dem sich Islam und modernes Bildungssystem in Einklang bringen ließen (Paivandi 2013, S. 84). Tatsächlich sollten einige ihrer Gründer und Absolventen später eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung der Islamischen Revolution von 1979 spielen (Ra¯ʿı¯ & Rahma¯niya¯n 2017, S. 70). Diese islamischen Reformisten widersetzten sich also ˙ grundsätzlich nicht dem modernen Bildungssystem als solchem, wie dies einige Geistliche während der Konstitutionellen Revolution taten. Vielmehr akzeptierten sie das moderne Bildungssystem, kritisierten jedoch seine theoretische und praktische Ausrichtung nach Westen. Parallel dazu entwickelte sich aber auch eine andere kritisch-intellektuelle Bewegung, die einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Erziehungspolitik des Landes forderte (Paivandi 2013, S. 83). Als Vordenker dieser Bewegung können Persönlichkeiten wie ʿAlı¯ Sˇarı¯ʿatı¯ ˇ ala¯l A ¯ l-e Ahmad (1923–1969) und Morteza¯ Motahharı¯ (1920– (1933–1977), G ˙ ˙ ˙ 1979) genannt werden (ebd.).

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ʿAlı¯ Sˇarı¯ʿatı¯s Kritik etwa richtete sich gegen den Ansatz der modernen Bildung, ihren Positivismus und ihren Szientismus (Paivandi 2013, S. 85). Ihm zufolge hatte die Aufklärung ethische und spirituelle Aspekte der Schule im Namen der Wissenschaft, der Rationalität und der individuellen Freiheiten zum Verschwinden gebracht (Sˇarı¯ʿatı¯ 1998, S. 664ff.; Paivandi 2013, S. 84). Dem stehe die reiche Tradition der Bildung im Islam gegenüber, die mit Freiheit ausgestattet und durch die Sehnsucht nach Lernen, Wissen und Sinn motiviert sei (Sˇarı¯ʿatı¯ 1998, S. 658ff., 607ff.). Diese intrinsische Motivation sei es gewesen, welche die Muslim*innen dazu gebracht habe, Bildung als eine bürgerliche und religiöse Pflicht zu betrachten. Ferner sei das traditionelle Erziehungsmodell nicht nur durch Kohärenz in Sachen Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit geprägt gewesen, sondern habe den Lernenden auch dazu verholfen, ein Gefühl der kollektiven Verantwortung und moralisches Engagement zu verinnerlichen (ebd., S. 657ff.; Paivandi 2013, S. 84). Laut Sˇarı¯ʿatı¯ hatte die Wissenschaft jener Zeit eine Seele, die Lehrende und Lernende dem Lernprozess eingehaucht hätten (Sˇarı¯ʿatı¯ 1998, S. 601, 622). Im Gegensatz dazu würden die modernen, rationalistisch und bürokratisch verfassten Schulen allen denselben Inhalt vorsetzen und dabei den Menschen als solchen vergessen (ebd., S. 667ff.; Paivandi 2013, S. 84). Seine Kritik an den Befürwortern der neuen Schule bestand mithin darin, dass sie die islamische Tradition ignorieren und den europäischen Vorbildern folgen würden. Mortez˙a¯ Motahharı¯ hingegen kann als einer der ersten neuzeitlichen irani˙ schen Denker betrachtet werden, der versuchte, aus islamischen Quellen und Prinzipien eine »islamische Erziehungsphilosophie« zu konzipieren. Seine Position zur islamischen Erziehung ergab sich aus seiner Gesamtphilosophie, die auf einem allumfassenden und multidimensionalen Islambild beruhte. Er betrachtete die islamische Religion als ein System, das sich der Konkurrenz mit anderen Arten gesellschaftlicher Ordnung stellen müsse: »Der Islam kann angesichts der heutigen atheistischen und nichtatheistischen Systeme nur dann überleben, wenn er zu einer Lebensphilosophie wird, die in der Gesellschaft Anwendung findet und sich nicht in die Moscheen und Tempel zurückzieht« (Motahharı¯ 2007a, S. 107). Die islamische Denkschule, so Motahharı¯, verfügt ˙ ˙ – wie jedes andere Denksystem mit spezifischen Zielen und umfassenden Vorschriften – definitiv über ein eigenständiges Erziehungsprogramm, genauso wie sie ein eigenständiges Rechtssystem oder Wirtschaftssystem aufweist (Motahharı¯ ˙ 2007b, S. 15). Diese Erziehungsphilosophie gelte es zu erarbeiten und vertieft zu studieren. Denn Ziel einer islamischen Erziehung sei es, menschliche Eigenschaften wie »seine Denkfähigkeit, seinen Scharfsinn, sein soziales Verantwortungsgefühl, seinen Sinn für Liebenswürdigkeit und Wahrhaftigkeit, seinen Glauben, seinen Sinn für Ästhetik und spirituelle Erfahrung, seine Willenskraft und Handlungsfreiheit und seine körperliche Gesundheit« zu fördern und aus-

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zubauen (Sa¯leh¯ı, Mora¯dı¯ & Fı¯ru¯zı¯ 2014, S. 21ff.). Für die Erreichung dieser Ziele ˙ ˙ definiert Motahharı¯ eine Reihe von Prinzipien und Methoden, die bei der Um˙ setzung zu befolgen seien. ¯ l-e Ahmad einen radikaleren Ansatz. Im Unterschied zu Motahharı¯ verfolgte A ˙6 ˙ ˙ arbzadegı¯ (»Westoxifizierung«) In seinem Buch G kritisierte er den modernen Schullehrplan, in dem es »keine Hinweise auf Tradition, keine Spur der vergangenen Kultur, keinen inhaltlichen Unterricht in Ethik oder Philosophie oder Literatur, keine Verbindungen zwischen gestern und morgen, zwischen Heim und Schule, zwischen Ost und West, zwischen Individuum und Kollektiv« gebe ¯ l-e Ahmad 1963, S. 148–149). Aus seiner Sicht verfolgten die westlichen Bil(A ˙ dungsinstitutionen und die westliche Kultur nur das Ziel, Menschen »zu Westverehrern (Westoxifizierten) auszubilden« (ebd., S. 148; Paivandi 2013, S. 83). Wiewohl diese Kritiken und Vorschläge in der Pahlavi-Zeit ungehört verhallten, lieferten sie den intellektuellen Rahmen für die Entwicklung einer »Philosophie der islamischen Erziehung« in der Nachrevolutionszeit, wenn auch ohne Beteiligung der eigentlichen Ideengeber.

3.

Islamische Erziehung im heutigen Iran

Seit der Islamischen Revolution (1979) verfolgt die Islamische Republik das Ziel, das Bildungssystem gemäß den Anforderungen der Revolution durch religiösislamische Reformen umzugestalten. Die eingeführten Änderungen werden im Folgenden näher betrachtet.

3.1

Islamische Erziehung im Schulsystem

Einige erziehungspolitische Maßnahmen im Überblick Die nachrevolutionären Erziehungsmaßnahmen lassen sich grob in zwei Zeiträume einteilen: Die in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Revolution durchgeführten Maßnahmen waren eher praktischer und formaler Natur, die dem Umbau des Systems dienten. Ziel war in erster Linie, das Erziehungssystem durch Änderung der Lehrpläne und Lehrbücher mit islamischen Grundsätzen in Einklang zu bringen. So wurden zunächst (1979–1980) minimale inhaltliche Änderungen an Lehrmaterialien vorgenommen und einige Textabschnitte zu den Werten der Islamischen Revolution hinzugefügt sowie sämtliche an die PahlaviZeit erinnernde Symbole entfernt (Nı¯knesˇa¯n, Pa¯kseresˇt & Liya¯qatda¯r 2016, 6 Andere Übersetzungen sind »Verwestlichung«, »Euromania«, »Okzidentose«, »Westen-Fanatismus«.

Islamische Erziehung im Iran

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S. 145f.). Der eigentliche Lehrstoff änderte sich in dieser Phase nicht gravierend. Sehr früh war das Personal im gesamten Bildungssystem betroffen. All jene, die dem Pahlavi-Regime die Treue hielten, wurden entlassen (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 95). Im Jahr 1980 wurde in jeder Schule ein »Bereich für Erziehungsangelegenheiten« (Naha¯d-e omu¯r-e tarbiyatı¯) eingerichtet, der für die Vermittlung der islamischen Kultur verantwortlich war (Nı¯knesˇa¯n et al. 2016, S. 146). Dieser Bereich wird heute durch das »Büro für Bildung und kulturelle Angelegenheiten« des Bildungsministeriums zentral verwaltet. Im selben Jahr wurden alle koedukativen Schulen in gleichgeschlechtliche Einrichtungen umgewandelt und islamische Kleidungsvorschriften für Schülerinnen und Lehrerinnen eingeführt (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 95). Besonderer Wert wurde von Beginn an auf die religiöse Ausrichtung von außercurricularen schulischen Aktivitäten gelegt. Derartige Aktivitäten nehmen bis heute ständig zu, wobei hinsichtlich ihrer Gestaltung den Schulleitungen ein gewisser Spielraum zur Verfügung steht (Nı¯knesˇa¯n et al. 2016, S. 148). 1980 wurden alle nationalen oder privaten Schulen verstaatlicht, um die »angestrebte Bildungsgerechtigkeit im Sinne eines Ideals der Islamischen Revolution« zu etablieren (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 95). Doch damit war bald Schluss: Mit dem abermaligen Ruf nach »Dezentralisierung« wurden 1987 wieder Genehmigungen für die Gründung von gemeinnützigen Schulen, die später in private bzw. nichtstaatliche Schulen umgewandelt wurden, erteilt. Ebenfalls 1988 verabschiedete das Parlament das neue Gesetz zu den »Zielen und Aufgaben des Bildungsministeriums« (Qa¯nu¯n-e ahda¯f va vaza¯ʾef-e veza¯rat-e a¯mu¯zesˇ va parvaresˇ). Dem˙ nach ist die Schule beauftragt, Schüler*innen auf der Basis von »Vernunft, Koran und Sunna« und »durch die Vermittlung islamischer Werte und islamischer Ethik« zu »tugendhaften Gläubigen« zu erziehen (§1–2). Gleichzeitig besagt § 1 Abs. 2: »Die gemäß Art. 13 der Verfassung anerkannten religiösen Minderheiten sind berechtigt, unter der Aufsicht des Bildungsministeriums ihre eigenen religiösen Lehrbücher zu verfassen und diese gemäß ihren heiligen Büchern, Ritualen und Traditionen in ihren Schulen zu unterrichten.« Der eigentliche Schritt zur Umstellung des Erziehungssystems im Sinne der islamischen Werte erfolgte – wenn auch vorwiegend auf rein formaler Ebene – erst nach dem Ersten Golfkrieg im Jahr 1988 mit der Verabschiedung der Richtlinie des »Obersten Rates der Kulturrevolution« (Sˇora-ye ʿalı¯-ye enqela¯b-e farhangı¯) zur grundlegenden Änderung des Bildungssystems (Tarh-e tag˙yı¯r-e ˙ ˙ bonya¯dı¯n-e neza¯m-e a¯mu¯zesˇ¯ı). Demnach sollten »in der Bildung nicht nur be˙ stimmte religiöse Lehren, sondern auch alle weiteren Programme und Schulungen als Bestandteile eines harmonischen islamischen Netzwerks je nach Notwendigkeit und Kapazität eine religiöse Ausrichtung haben« (Art. 4). Ferner heißt es: »Der ethischen und religiösen Erziehung kommt die Priorität zu, und der Ethik- und Religionsunterricht ist mit einer praktischen, ethisch-religiösen

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Erziehung verbunden« (Art. 5). Demgemäß wurde ein bedeutender Teil des Curriculums den Religionswissenschaften, der islamischen Ethik, der arabischen Sprache und dem Studium des Korans gewidmet (Mehran 1992, S. 11). In organisatorischer Hinsicht änderte sich danach das Sekundarschulsystem in Richtung eines halbjährlichen und später eines ganzjährlichen Systems (Einteilung der Fächer nach Kurseinheiten). Auch wurde eine zweijährige Vorschulerziehung in Grundschulen eingeführt. Die zweite Phase der iranischen Bildungsreformen begann Ende der 1990erJahre; in dieser lag der Schwerpunkt auf der Durchführung theoretischer Studien und der Erarbeitung verschiedener Konzepte mit Blick auf die Entwicklung einer sogenannten »Philosophie der islamischen Erziehung« (falsafe-ye taʿlı¯m va tarbiyat-e esla¯mı¯). Zwar kam es auch in dieser Zeit zu einer Reihe struktureller Umstellungen im Schulsystem (wie die großen Änderungen von 2012), doch weitaus bedeutender war, dass Stimmen laut wurden, die darauf hinwiesen, dass das Bildungssystem Irans dringend einer »kodifizierten Philosophie« als Grundlage sämtlicher Bildungs- und Erziehungsaktivitäten bedürfe. Die zahlreichen Entwürfe und Planungen zur Entwicklung einer »Philosophie der islamischen Erziehung«, die seit den späten 1990er-Jahren bis zur Gegenwart kursieren, zeugen von der einer solchen Maßnahme zuerkannten Relevanz. Einer der ersten Entwürfe wurde 2001 im Auftrag der »Organisation für Bildungsforschung und -planung« (Sa¯zma¯n-e pazˇu¯hesˇ va barna¯me-rı¯zı¯-ye a¯mu¯zesˇ¯ı) unter dem Namen »Bildungs- und Erziehungsphilosophie der Islamischen Republik Iran« erarbeitet. Dem Dokument folgte 2004 das »Nationale Bildungsdokument auf Grundlage eines islamischen Erziehungsansatzes« (Sanad-e mellı¯-ye a¯mu¯zesˇ va parvaresˇ ba¯ ru¯ykard-e taʿlı¯m va tarbiyat-e esla¯mı¯). Doch der vielleicht bis heute einflussreichste Entwurf ist der »Plan zur grundlegenden Umgestaltung des Bildungssystems« (Sanad-e tahavvol-e bo˙ nya¯dı¯n-e neza¯m-e a¯mu¯zesˇ¯ı) von 2012, der parallel und zeitgleich zu dem »Na˙ tionalen Lehrplandokument« (Sanad-e barna¯me-ye darsı¯-ye mellı¯) erstellt wurde. Der Plan betont vor allem »die Notwendigkeit, die Lehren des Heiligen Korans und seine spirituelle, vorbildliche und leitende Rolle in allen Bereichen zur Verwirklichung der Gerechtigkeit zu beachten« (Sˇora-ye ʿa¯lı¯-e enqela¯b-e farhangı¯ 2012, S. 15). »Der Bildungs- und Erziehungsprozess soll in allen Bereichen, einschließlich der religiösen, glaubensbasierten, sozialen und politischen, biologischen und physischen, ästhetischen und künstlerischen, wirtschaftlichen und beruflichen, wissenschaftlichen und technologischen Schulung, gemäß den islamischen Standardlehren (das heißt den Prinzipien und Werten, die aus dem Heiligen Koran, der Tradition und der Vernunft abgeleitet sind) erfolgen« (ebd., S. 16). Besondere Beachtung wird der »dem Menschen innewohnenden und ihm zukommenden Würde und moralischen Tugenden wie Glaube, Frömmigkeit, Großzügigkeit und Vergebung, Tugendhaftigkeit, Selbst-

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vertrauen, Tapferkeit, Bekämpfung der Unterdrückung, Wissenschaft, Weisheit, Mäßigkeit, Mut, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Bereitwilligkeit und Einsatzbereitschaft« zuteil (ebd., S. 17). Diese Werte sollen letzten Endes den Schüler*innen dazu verhelfen, »mit allen Menschen der Welt gerechte, nach Gerechtigkeit strebende und den Menschen achtende Beziehungen zu pflegen« (ebd.). 3.1.1 Islamische Erziehung im aktuellen formalen Lehrplan Heute werden die Unterlagen für den Religionsunterricht an Schulen von der Abteilung für Lehrbuchforschung des Bildungsministeriums zur Verfügung gestellt und ständig aktualisiert. Die Bücher haben unterschiedliche Bezeichnungen: »Himmlische Gaben« (für die Grundschulen ab der zweiten Jahrgangstufe), »Himmlische Botschaften« (für die Unterstufe der Sekundarschulen), »Religion und Leben« (für die Oberstufe der Sekundarschulen). Die Religionsbücher werden in drei Versionen (für Angehörige der schiitischen und der sunnitischen Glaubensrichtung und für religiöse Minderheiten) verfasst, für den Religionsunterricht sind im allgemeinen Curriculum jeweils zwei Wochenstunden vorgesehen. Daneben erhalten die Jahrgangsstufen 1–9 eine Wochenstunde Koranunterricht. Ab der siebenten Jahrgangsstufe kommen noch zwei Wochenstunden für die arabische Sprache hinzu, die dann in der Oberstufe (Jahrgangsstufe 10–12) mit dem Koranunterricht zu einem Lehrfach mit zwei Wochenstunden kombiniert werden. Seit 1995 besteht für die Schüler*innen die Möglichkeit, in der Qualifikationsphase (Jahrgangsstufe 11–12 der Sekundarschule) neben den klassischen vier Schwerpunkten (Mathematik und Physik, Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Kunst) den Schwerpunkt islamische Wissenschaften (maʿa¯ref-e esla¯mı¯) zu wählen. Dieser Schwerpunkt, der nur an bestimmten dafür zugelassenen Schulen angeboten wird, umfasst neben einigen Hauptkursen der Geisteswissenschaften zusätzliche Kurse in islamischer Geschichte, islamischen Glaubensprinzipien, islamischer Normenlehre, islamischer Ethik und Rechtsableitungsprinzipien.7 In den Religionsbüchern werden islamische Lehren in die Form von Bildern, Illustrationen und Textabschnitten, in einfache Geschichten mit moralischen Botschaften und spirituellen Themen übertragen. Wie ein Blick in die Bücher zeigt, ist ein bedeutender Teil des Lehrinhalts den islamischen Verhaltensregeln im öffentlichen und privaten alltäglichen Leben der Menschen muslimischen Glaubens gewidmet. Das Buch »Himmlische Gaben« etwa, das in der Grundschule ab der zweiten Jahrgangsstufe verwendet wird, befasst sich mit Themen wie Einführung in die islamischen Sitten der Begrüßung, Sauberkeit, Ess- und 7 Alle Angaben sind der offiziellen Webseite des Bildungsministeriums über Schullehrbücher (Pa¯yga¯h-e keta¯b-ha¯-ye darsı¯) entnommen: http://chap.sch.ir/. Zugegriffen: 20. Juni 2020.

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Trinkmanieren und Wahrhaftigkeit (zweite Jahrgangsstufe), islamische Tugenden wie Hilfsbereitschaft und Freundschaftlichkeit sowie islamische Feste und Zeremonien (dritte Jahrgangsstufe), die Pflichten eines Menschen muslimischen Glaubens gegenüber Familie und Freunden (vierte Jahrgangsstufe) oder soziale Umgangsformen (fünfte Jahrgangsstufe). Wie bereits erwähnt, bleibt die religiöse Erziehung nicht allein dem formalen Lehrplan überantwortet, darüber hinaus gibt es eine Reihe außercurricularer Aktivitäten, die je nach Gutdünken der Schulleitung unterschiedlich ausfallen können. Die Anzahl dieser Aktivitäten ist beträchtlich. Ein Blick auf die Webseite des »Büros für Bildung und kulturelle Angelegenheiten« des Bildungsministeriums zeigt, dass eine normale Schule während eines Schuljahres im Schnitt mehr als hundert politische und religiöse Veranstaltungen organisiert.8 Bei solchen Veranstaltungen handelt es sich in der Regel um die Verrichtung von Gebeten und um Koranrezitationen, um religiöse Vorträge, Ausflüge in Museen und an religiöse Orte oder Gedenkveranstaltungen für islamische Heilige. Die Vorgaben für diese sogenannten »Erziehungsveranstaltungen« (omu¯r-e tarbiyatı¯) beziehen die Schulen vom »Büro für Bildung und kulturelle Angelegenheiten« des Bildungsministeriums. Zur Beurteilung der Qualität der schulischen Leistungen ist das Lehrpersonal einer jeden Schule angehalten, dem Büro jährlich einen illustrierten Bericht über die von ihnen durchgeführten »Erziehungsaktivitäten« vorzulegen. 3.1.2 Islamische Bildung am Theologischen Seminar (houze-ye ʿilmiyye) ˙ Wie bereits beschrieben, handelt es sich bei traditionellen Medresen um Bildungseinrichtungen, die einen studentenzentrierten Ansatz verfolgen und sich daher – unter Verzicht auf formale Prüfungen und strukturierte Bewertungssysteme – nach individuellen Bedürfnissen und Ansprüchen richten (Zarya¯b 1997, S. 186f.). Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden aber auch die Medresen zunehmend auf eine planmäßige Grundlage gestellt. Eines der wichtigsten Medresen-Zentren im Iran ist das bereits erwähnte Theologische Seminar von Qom, bekannt als houze-yeʿilmiyye Qom, das in seiner modernen Form 1922 von ˙ ʿAbd al-Karı¯m Ha¯ʾerı¯ Yazdı¯ (1859–1937) gegründet wurde (Algar 2002). Als eine der bedeutendsten islamisch-schiitischen Ausbildungsstätten entwickelte sich die houze von Qom parallel zur Schule von Nagˇaf zu einem internationalen ˙ Zentrum mit mehr als 200 Medresen und islamischen Forschungseinrichtungen.9 8 Siehe die offizielle Webseite des Büros für Bildung und kulturelle Angelegenheiten, https:// www.medu.ir/fa?ocode=1000000293. Zugegriffen: 20. Juni 2020. 9 Management des Theologischen Seminars von Qom (Modı¯ryat-e houze-ye ʿilmiyye Qom), ˙ http://hawzahqom.ir/. Zugegriffen: 26. Juni 2020.

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Das iranische Medresen-System besteht nach wie vor aus drei Ebenen mit jeweils einem ausgearbeiteten und umfassenden Lehrplan: Die erste Phase beginnt mit dem muqaddama¯t (Grundstudium), das meistens drei Jahre dauert. Im Mittelpunkt des Lernprogramms steht das Erlernen der arabischen Sprache (Grammatik und Syntax), der Grundlagen der Logik und der Rhetorik. Daran anschließend beginnt das Sath-Studium (Hauptstudium), das selbst in drei ˙˙ Stufen eingeteilt ist (sath 1, 2 und 3). Das Studium aller drei Stufen dauert in der ˙ Regel sieben bis zehn Jahre. Hier liegt der Lernschwerpunkt auf fiqh (islamisches Recht), usu¯l al-fiqh (Methoden der Rechtsfindung), Philosophie (islamische und ˙ westliche), kala¯m (Theologie), tafsı¯r (Koranexegese), Hadı¯t-Wissenschaft, rigˇa¯l ¯ ˙ (Wissen der Traditionarier), islamischer Geschichte, arabischer Literatur, ahla¯q ˘ (Ethik), ʿerfa¯n (Mystik) und Fächern aus ʿulu¯m al-ʿaqlı¯ (rationale Wissenschaften) wie Medizin, Astronomie, Arithmetik, hayʾat (traditionelle Astronomie) und Geometrie. Die letzte Phase ist das Ha¯regˇ-Studium (fortgeschrittenes Stu˘ dium), das mindestens vier Jahre (manchmal auch bis zu zehn Jahre) dauert. Ziel dieser Phase ist die Erlangung der Fähigkeit zur selbstständigen Rechtsfindung und Rechtsableitung. Dieser Studienabschnitt kommt ohne zuvor festgelegte schriftliche Lehrmaterialien aus, ebenso wenig ist die Ablegung einer speziellen Buchprüfung vorgesehen – daher auch die Bezeichnung ha¯regˇ (außenliegend), ˘ weil das Studium über den Rahmen eines bestimmten Buches (sath) hinausgeht. ˙˙ Das Ha¯regˇ-Studium ist eine intensive Phase der Übung, Untersuchung, Analyse, ˘ Diskussion und Kommentierung des usu¯l al-fiqh und des fiqh für jene, die den ˙ Grad des igˇtiha¯d (selbstständige Rechtsfindung und Rechtsentscheidung) anstreben (Zarya¯b 1997, S. 186–187). Während einige Medresen sich weiterhin an den traditionellen Lehrplänen und Konzepten orientieren und das Lernen in einem informellen Umfeld praktizieren (neza¯m-e sonnatı¯), entwickelten sich die modernen Medresen ˙ (neza¯m-e gˇadı¯d) – besonders nach der Islamischen Revolution – zu einem eher ˙ strukturierten und systematischen Netzwerk mit einem um neue Fächer ergänzten Curriculum (darunter Fremdsprachen, westliche Philosophie, Sozialund Geisteswissenschaften) (Arjmand 2018, S. 566f.). Diese neuen Medresen werden heute unter der Leitung des »Obersten Seminarrates« (Sˇora-ye ʿa¯lı¯-e houze-ye ʿilmiyye) organisiert und weiterentwickelt.10 Um die islamische Med˙ resen-Ausbildung zu reformieren, führte der Seminarrat eine Reihe von Neuerungen ein, wie etwa einen strukturierten Lehrplan mit neuen Fächern, formale Prüfungen und ein Beglaubigungssystem. Darüber hinaus setzt sich die houze-ye ˙ ʿilmiyye bis heute aktiv für den Aufbau und die Erweiterung elektronischer Datenbanken und die Produktion digitaler Lehrmaterialien wie DVDs und CDs ein 10 Siehe die Webseite des Obersten Seminarrates, http://www.shorayeaali.com/. Zugegriffen: 26. Juni 2020.

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und bietet einen weitreichenden Zugang zu Online-Materialien und -Diensten für alle Interessierten weltweit.11 Eine weitere bemerkenswerte Entwicklung ist die Teilnahme von weiblichen Studierenden an den verschiedenen Seminaren der houze-ye ʿilmiyye. Unter ˙ ˇ a¯miʿat az-Zahra¯ in Qom (Gründung vielen Initiativen kann die G 1984) genannt werden, die zahlreiche Frauenseminare mit kostenlosen Pflegeeinrichtungen und Kindertagesstätten unterhält und Studentinnen aus mehr als siebzig Ländern beherbergt (Arjmand 2018, S. 568f.).12

4.

Schlussbemerkungen

Auch wenn seit der Gründung der Islamischen Republik Iran (1979) islamische Erziehungsreformen eine der wichtigsten Daueraufgaben des Erziehungssystems sind, zeigen sich die meisten Fachleute mit den bisher erzielten Resultaten wenig zufrieden. Trotz der unterschiedlichen Ansätze sind sich Erziehungspolitiker*innen und Pädagog*innen darin einig, dass es bezüglich des einst erhofften »grundlegenden Wandels« des iranisch-islamischen Bildungssystems bislang kaum Erfolge vorzuweisen gibt (ʿAlam al-hoda¯ 2002; ¯Irava¯nı¯ 2014; Nı¯knesˇa¯n et al. 2016). Bis heute liegen im Iran zahlreiche Planungen zum »grundlegenden Wandel des Bildungssystems« und mehrere offizielle Dokumente zur »Philosophie der islamischen Erziehung« vor, die zunächst den ernsthaften Willen der Entscheidungsträger zu einer fundamentalen Infrastrukturreform bezeugen. Tatsache ist jedoch, dass bis dato keines dieser Dokumente auf schulischer Ebene erfolgreich implementiert werden konnte (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 101). Einige dieser Dokumente heben einander sogar gegenseitig auf, da sie sich dem Thema mit unterschiedlichen Ansätzen und verschiedenen Herangehensweisen an die Erziehungsphilosophie, die Beziehung zwischen Religion und Erziehungsphilosophie und die Quellen religiösen Wissens nähern. Kritische Stimmen gegenüber den offiziellen Ansätzen sind vielfältig. Während den einen diese Dokumente und die unterschiedlichen islamisch-philosophischen Entwürfe aufgrund der »Vernachlässigung eines praktischen Ansatzes« ¯ l-e Hoseynı¯, Sagˇgˇa¯dı¯, als »unwirksam« und daher »belanglos« erscheinen (A ˙ Sa¯deqza¯de Qamsarı¯ & Mehrmohammadı¯ 2012), vermissen andere Elemente ˙ ˙ ˙ 11 Vgl. die Internetseite des Computerforschungszentrums für Islamische Wissenschaften (Markaz-e tahqı¯qa¯t-e ka¯mpiyu¯terı¯-ye ʿulu¯m-e esla¯mı¯), https://www.noorsoft.org. Zugegrif˙ fen: 26. Juni 2020. ˇ a¯miʿat az-Zahra¯, http://j-alzahra.org/en/. Zugegriffen: 12 Siehe die englischsprachige Seite der G 26. Juni 2020.

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einer »kritischen Reflexion« dieser Konzeptionen (Sagˇgˇa¯diyyeh, Madanı¯far & Ya¯rı¯ Dehnavı¯ 2013). Wieder andere stellen generell infrage, ob eine religiös-islamische Erziehung im Rahmen eines übernommenen, autoritären Bildungssystems überhaupt verwirklicht werden kann. In deren Augen haften dem heutigen iranisch-islamischen Bildungs- und Erziehungswesen nach wie vor all die nachahmenden, autoritären, zentralisierten und formalistischen Eigenschaften an, die das System einst kennzeichneten. Der einzige Unterschied sei, dass dem Bildungssystem als eine neue Komponente die Religion hinzugefügt wurde, von der erwartet wird, dass sie friedlich mit den anderen Komponenten koexistiere (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 100). Diese neu eingeführte Komponente im Sinne einer selektiven Religiosität, die eher an religiös-formalen Riten und Zeremonien ansetze, verschärfe und vertiefe die früheren autoritären Eigenschaften sogar, da in ihr Spuren von Quantitätsorientierung und Formalismus weiterhin offensichtlich seien (ebd.). Zahlreiche in jüngster Zeit im Iran durchgeführte Studien haben sich genau diesem deutlich erkennbaren Formalismus der religiösen Erziehung gewidmet und in empirischen Untersuchungen auf dessen Unzulänglichkeit und negative ˇ aʿfarı¯ 2016; Nebenwirkungen aufmerksam gemacht (Rahma¯npu¯r & Mı¯rsˇa¯h G ˙ Nı¯knesˇa¯n et al. 2016; Kesˇa¯varz 2008). Zugunsten einer funktionsgerechten und zweckmäßigen islamischen Erziehung plädieren diese Stimmen dafür, sich nun von höherrangigen Maßnahmen mit einem Makroansatz abzuwenden, da diese unweigerlich autoritäre und richtungsweisende Eigenschaften haben würden, die das iranische Bildungssystem auch in der Vergangenheit geschädigt haben (I¯rava¯nı¯ 2014, S. 100). Derartige Ansätze widersprächen ohnehin den inhaltlichen Zielen und Zwecken jeglicher religiöser Erziehung. Stattdessen sollte eine verstärkte dezentralisierte Zusammenarbeit durch Einbeziehung lokaler Akteure gefördert werden. Solche lokalen Mikroansätze könnten diverse Innovationspotenziale freisetzen und neue Chancen auf diesem Gebiet eröffnen, die es vielleicht auch erlauben, annähernd Ausgewogenheit zwischen Qualität und Quantität der religiösen Erziehung herzustellen.

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Haimaa El Wardy

Islamische Erziehung in Ägypten

Zusammenfassung Der folgende Aufsatz behandelt die Entstehung, Geschichte und Entwicklung der islamischen Erziehung in Ägypten sowie aktuelle Fragen, die in letzter Zeit in Bezug auf die Rolle des islamischen Religionsunterrichts im ägyptischen Bildungssystem diskutiert werden. Bei der vorliegenden Darstellung wird die Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen »Erziehung« und »Bildung« zwar beiläufig angesprochen, auf eine ausführliche Begriffserklärung wird allerdings bewusst verzichtet; demnach werden die beiden Wörter »Erziehung« und »Bildung« an manchen Stellen als Synonyme verwendet.1 In dieser Darstellung soll zur besseren Nachvollziehbarkeit zunächst ein kurzer Überblick über die Geschichte des Landes und die Rolle des Islams, vor allem auf soziopolitischer Ebene, gegeben werden. Zudem werden Besonderheiten des Islams in Ägypten benannt, die bei der Entstehung und Entwicklung der islamischen Erziehung im Land durch die verschiedenen Epochen von Bedeutung waren. Darüber hinaus dient dieser historische Abriss dazu, die daraus im nächsten Abschnitt abgeleiteten Konsequenzen sowie den Ist-Zustand der islamischen Erziehung bzw. der Rolle des Islams allgemein im Bildungsprozess in Ägypten sowohl im schulischen als auch im universitären Bereich gründlicher und präziser zu erfassen. Der letzte Abschnitt vor der Conclusio beschäftigt sich mit den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen, mit denen sich die islamische Erziehung bzw. Bildung in Ägypten heute konfrontiert sieht, und versucht, die verschiedenen Zukunftsvisionen betreffend die Rolle des Islams im ägyptischen Bildungssystem vor dem Hintergrund der vorhandenen Gegebenheiten zu erörtern.

1 Die vollständige Bezeichnung des ägyptischen Bildungsministeriums lautet »Ministerium für Erziehung und Bildung« (‫)ﻭﺯﺍﺭﺓ ﺍﻟﺘﺮﺑﻴﺔ ﻭ ﺍﻟﺘﻌﻠﻴﻢ‬.

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1.

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Einleitung

Die in den letzten Jahrzehnten, insbesondere seit dem 11. September 2001 vor allem im Westen vermehrt stattfindenden Diskussionen über den Islam zeichnen sich in vielen Fällen dadurch aus, dass sie »so intensiv, so kontrovers und emotional« (Sejdini 2016, S. 15) geführt werden. In diesen Diskussionen, die oft durch einen Mangel an Reflexion und Differenzierung gekennzeichnet sind, wird versucht, die Motivationen der Täter mit dem Islam als Religion in Verbindung zu bringen – so wird am meisten der Einfluss des Islams auf die verschiedenen politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensbereiche thematisiert. Dem Tenor dieser Debatten zufolge ist der Islam im Allgemeinen für die Muslim*innen »not a religion in the same sense that Christianity or Buddhism is. Islam, for Muslims, is much more than a moral philosophy of life, system of belief, or spiritual order, it is a complete and comprehensive way of life‹« (Cook 2000, S. 479). Da der Islam eine »vollständige, umfassende Lebensweise« sei und sich massiv auf das alltägliche Leben seiner Anhänger auswirke, werde die Idee von der Trennung zwischen Staat und Religion bzw. Säkularismus – anders als in den meisten westlichen Staaten – von der Mehrheit der Muslim*innen nicht akzeptiert, was jeglicher Reform im Weg stehe (vgl. ebd.), insbesondere im Bildungsbereich (Gesink 2006, S. 325). Auch in der islamischen und arabischen Welt setzten nach dem 11. September intensive Debatten zum Thema Islam und Reform ein, die freilich aus einer völlig anderen Perspektive geführt werden. Erwähnenswert ist, dass die Diskussionen zum Thema »Islam und Reform« in den meisten islamischen und arabischen Ländern nicht erst nach dem 11. September begonnen haben – tatsächlich geht deren Anfang vielfach auf das 19. Jahrhundert zurück (vgl. Amberg 2009; Cook 2000; Hildebrandt 2002; Gesink 2006), also auf eine Zeit, da fast die gesamte islamische Welt unter einem durch die westlichen Kolonialmächte ausgelösten Kulturschock stand. Um die Diskussionen zum Thema »Islam und Reform«, insbesondere im Bildungsbereich, in der islamischen und der arabischen Welt, der Ursprungsregion des Islams, wirklich zu verstehen, ist zunächst die historische Beziehung zwischen Bildung und Religion zu erläutern und die wichtige Rolle der Erziehung im Islam klar darzustellen. In diesem Aufsatz liegt das Augenmerk auf der islamischen Erziehung bzw. Bildung in Ägypten und der besonderen Rolle, die dieses Land bei der Entwicklung der islamischen Bildung weltweit spielte, und zwar durch den Einfluss der ältesten Bildungsinstitution in der islamischen Welt, Al-Azhar, deren großer geistiger und theologischer Einfluss auf die islamische Welt seit ihren Anfängen im Jahr 972 n. Chr. bis heute spürbar ist und durch deren führende Vertreter auch die sogenannte »islamische Reformbewegung« im 19. Jahrhundert angestoßen wurde.

Islamische Erziehung in Ägypten

2.

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Quellen der Erziehung und Bildung im islamischen Ägypten

Seit seiner Entstehung legt der Islam großen Wert auf Wissen, Bildung und Erziehung. Allein der Umstand, dass das Wort ʿilm (dt. »Wissen« oder »Erkenntnis«) im Koran über 800-mal auftaucht (Cook 2000, S. 478) sowie das in den Aussagen des Propheten Muhammad wiederkehrende Lob derer, die nach ˙ Wissen streben,2 bestätigen diese Behauptung. Aufgrund dessen wird unter dem Begriff »Bildung« laut B. J. Cook in der Frühzeit des Islams lediglich eine Art »koranische« oder religiöse Bildung verstanden, die darauf abzielt, Wissen über Gott und den rechten Weg zu ihm zu vermitteln (vgl. ebd.). Diese Art von Bildung war in der Frühzeit des Islams immer mit einer Moschee verbunden, an die ausnahmslos eine Koranschule – die Medrese – angeschlossen war (vgl. Gesink 2006, S. 326; Neill 2006, S. 484). Zunächst privat und unorganisiert betrieben, kamen die meisten Koranschulen in späteren Zeiten unter staatliche Kontrolle. In der Medrese wurde in der Regel nicht nur der Koran gelehrt, sondern auch Hadith (Aussagen des Propheten Muhammad), Sunna (Überlieferung über ˙ Leben und Verhalten des Propheten), Grammatik, Beredsamkeit bzw. Rhetorik und islamische Rechtslehre (vgl. Gesink 2006, S. 326; Arjmand 2017, S. 2f.), die laut Charlotte M. Neill seit dem elften Jahrhundert meistens mit der Rechtsschule der Regierenden verbunden war und von der jeweiligen politischen Macht organisiert wurde (Neill 2006, S. 484). Obwohl die Geschichte des Islams in Ägypten mit der arabischen Eroberung in ¯ s – ein Gefährte des Proden Jahren 640/641/642 n. Chr. durch ʿAmr ibn al-ʿA ˙ pheten Muhammad und Feldherr zur Zeit des zweiten Kalifen ʿUmar ibn al˙ Hatta¯b – beginnt, wird der Anfang der Geschichte der institutionellen isla˘ ˙˙ mischen Erziehung bzw. Bildung zumeist mit der Eroberung Ägyptens durch die ismailitische Dynastie der Fatimiden (909–1171) im Jahr 969 n. Chr. und die 2 Wie zum Beispiel die folgenden zwei Hadithe: I. Abdullah Ibn Masʿud berichtete, dass der Prophet, Allahs Segen und Heil auf ihm, sagte: »Wünscht euch niemals, wie andere zu sein, außer in zwei Fällen: Wie ein Mann, dem Allah ein Vermögen gegeben hat, das von ihm in einer rechtschaffenen Weise eingesetzt wurde, und wie ein Mann, dem Allah Weisheit gegeben hat, und er ihr gemäß handelt und damit andere (Menschen) lehrt« (Sahih al-Buchari, Kapitel 3/Hadithnr. 73). http://islamische-datenbank.de /sahih-al-buchari?action=viewhadith&chapterno=3. Zugegriffen: 1. September 2018. II. Abud-Darda (May Allah be pleased with him) reported: The Messenger of Allah (‫ )ﷺ‬said, »He who follows a path in quest of knowledge, Allah will make the path of Jannah easy to him. The angels lower their wings over the seeker of knowledge, being pleased with what he does. The inhabitants of the heavens and the earth and even the fish in the depth of the oceans seek forgiveness for him. The superiority of the learned man over the devout worshipper is like that of the full moon to the rest of the stars (i. e., in brightness). The learned are the heirs of the Prophets who bequeath neither dinar nor dirham but only that of knowledge; and he who acquires it, has in fact acquired an abundant portion« (Abu Dawud and at-Tirmidhi, Book 13, Hadith 1388). https://sunnah.com/riyadussaliheen/13/13. Zugegriffen: 1. November 2018.

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Gründung der Azhar-Moschee und später der Universität verbunden. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass die muslimische Gemeinde in Ägypten nach der arabisch-islamischen Eroberung jahrhundertelang eine religiöse Minderheit darstellte und dass der Einfluss des Islams bzw. der islamischen Erziehung begrenzt blieb, zumal die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung dem koptischen Christentum angehörte. Auch während der Eroberung des Landes durch die Fatimiden herrschte eine schiitische Elite über eine mehrheitlich sunnitische Bevölkerung, die wiederum als eine muslimische Minderheit unter mehrheitlich koptischen Volksgruppen galt. Erst unter der Herrschaft der Mamluken (ab 1250) verschob sich das Zahlenverhältnis zwischen den verschiedenen Volksgruppen langsam zugunsten der sunnitischen Glaubensrichtung.3 Wie bereits erwähnt, kann die Azhar-Moschee als die erste staatlich geförderte und organisierte Institution für islamische Erziehung und Bildung in Ägypten gelten. Im Laufe der Jahrhunderte erlangte diese Institution, die ursprünglich und fast zwei Jahrhunderte lang als Symbol der geistigen Herrschaft der Fatimiden-Dynastie und Ort der Verbreitung der ismailitischen bzw. schiitischen Rechtslehre galt (vgl. Awad 1971, S. 4–8; Arjmand 2017, S. 3), in der islamischen Welt höchstes Ansehen als eine der ältesten sunnitisch-islamischen Universitäten, an der die religiösen und rationalen Wissenschaften gelehrt wurden. Den Grund für dieses außerordentliche Ansehen seit dem späten Mittelalter sieht der frühere Rektor der Azhar-Universität, Badawy Abdellatif Awad, in seinem Beitrag »Die Azhar einst und jetzt« (1971) im Niedergang der Bildungsstätten sowohl in Bagdad – nach dem Fall des Abbasiden-Reichs – als auch im muslimischen Spanien als Folge des Sturzes der Umayyaden gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Dieser Untergang hinterließ ein Vakuum, das allein von der Azhar gefüllt wurde, die sich inzwischen zum »Zentrum der geistigen Ausstrahlung in der islamischen Welt« und zum »Mittelpunkt der höheren islamischen und arabischen Studien« entwickelt hatte (ebd., S. 9). Selbstverständlich verdankte sich der gute Ruf der Azhar nicht nur dem Niedergang der Bildungsstätten in Bagdad und in Andalusien. Für die Anziehungskraft, die die Azhar auf junge Studierende aus der ganzen islamischen Welt und die muslimische Lernbegierde ausübte, waren auch andere Faktoren maßgeblich, wie z. B. die Vielfalt der vorgefundenen Studienmöglichkeiten, die alle Wissensgebiete der Religion, alle Richtungen des traditionellen islamischen Denkens und der Sprachwissenschaften einschloss, sowie die Förderung von renommierten Gelehrten und ausländischen Studierenden, deren Studium samt Kost und Logis durch das islamische Almosensystem, das waqf, finanziert wurde und die in Wohnquartieren nach Nationalitäten und entsprechend ihren Ernährungsge3 Vgl. dazu https://www.aegypten-online.de/islam-in-aegypten.htm. Zugegriffen: 03. September 2018.

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wohnheiten untergebracht wurden (vgl. ebd., S. 9–11; Arjmand 2017, S. 3; Gesink 2006, S. 326). Die durch das traditionelle Waqf-System garantierte, beinahe vollständige finanzielle Unabhängigkeit der Azhar vom Staat trug dazu bei, dass die Gelehrten eine gewisse Freiheit in der Wahl der für den Unterricht vorgesehenen Bücher, Lehrmaterialien und Forschungsgegenstände besaßen, was später, in der Zeit der osmanischen Herrschaft (1517–1882), die Erhaltung der Azhar als eigenständige, unabhängige, aufgeschlossene Bildungseinrichtung sowie zur Bewahrung der arabischen Identität des Landes begünstigte (vgl. Awad 1971, S. 12). Der hohe Rang und die Souveränität, durch die sich die Azhar unter den islamischen wissenschaftlichen Institutionen weltweit auszeichnete, waren auch Ende des 18. Jahrhunderts, der Zeit der französischen Expedition und der Eroberung Ägyptens (1798–1801) durch Napoleon Bonaparte ein großes Thema, zumal bereits in den Entwürfen und Plänen zur Eroberung Ägyptens von den französischen Kennern des Landes darauf verwiesen wurde, dass dieʿulama¯ʾ, die muslimischen Theologiegelehrten, in der Bevölkerung einen guten Ruf genössen, über große Macht über sie verfügten und so während der Zeit der Okkupation eine mögliche Gefahr darstellten, da sie zum religiös motivierten Widerstand gegen den französischen Feldzug aufrufen könnten (Motzki 1983, S. 11–12). Deshalb versuchte Bonaparte, diese entscheidende Gruppe für sich zu gewinnen, um auch die muslimische Bevölkerung auf seine Seite zu bringen und der französischen Herrschaft den Anschein islamischer Legitimität zu verleihen (ebd., S. 13). So pflegte er persönliche Kontakte zu einzelnenʿulama¯ʾ, suggerierte seine mögliche Bekehrung zum Islam, tauschte in ihrer Anwesenheit seine Uniform gegen ein orientalisches Gewand ein, richtete für sie einen dı¯wa¯n ein und ließ sie den Vorsitzenden wählen. Dessen Aufgaben bestanden darin, der französischen Heeresführung und Verwaltung beratend zur Seite zu stehen sowie zwischen dem ägyptischen Volk und der französischen Verwaltung zu vermitteln, insbesondere, wenn Probleme oder Konflikte mit der muslimischen Bevölkerung auftraten, die die französische Existenz in Ägypten in Gefahr hätten bringen können. Der dı¯wa¯n sollte also als »Schiedsstelle, Appellationsinstanz und Kontrollorgan der Rechtspflege« (ebd., S. 16) fungieren. Allerdings führten die Aufstände in Kairo gegen die französische Okkupation – in die auch einige Gelehrte verwickelt waren – dazu, dass Napoleon Bonaparte den dı¯wa¯n von Kairo für einige Monate auflöste und die Azhar-Moschee bombardierte und besetzte. Obwohl die Zusammenarbeit zwischen den französischen Machthabern und den ʿulama¯ʾ dramatische Konsequenzen hatte und von der (Geschichts-)Wissenschaft bis heute unterschiedlich bewertet wird,4 könnte man behaupten, dass 4 Während Harald Motzki der Meinung ist, dass dieʿulama¯ʾ »in der Regel nicht die Promotoren des Widerstandes, und wenn, dann nur solche der zweiten und dritten Garnitur« waren,

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dieser Kontakt in den folgenden Jahrzehnten die ägyptischen Gelehrten veranlasste, die Gründe der wissenschaftlichen und kulturellen Rückständigkeit vor allem bei sich zu suchen und ihnen half, ihre politische Rolle in der Gesellschaft besser zu verstehen. Aus diesem Grund wird die französische Expedition Ende des 18. Jahrhunderts in der Historiografie des modernen Ägyptens oft als der Beginn eines epochalen Einschnitts in der modernen ägyptischen Geschichte und ein Symbol der kulturellen Begegnung zwischen dem islamischen, arabischen Orient und dem christlichen Okzident wahrgenommen, auch wenn diese Begegnung einen Kulturschock verursachte (vgl. Maher 1988, S. 310). Wie erwähnt, war die französische Expedition für die meisten ägyptischen Gelehrten eine Art Aufrüttlung nach Jahrhunderten der Stagnation. Einige Jahre nach dem Rückzug der Franzosen schickte sich der ursprünglich aus Albanien stammende Machthaber Ägyptens und Vertreter des Osmanischen Reichs Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ (1769–1849) an, das ägyptische Bildungssystem zu revolu˙ tionieren. Neben den traditionellen islamischen Schulen (madrasa/kutta¯b), in denen die Lernenden auf dem Boden der Moschee in einem Kreis um einen Gelehrten (Imam) saßen, der den Lehrstoff – einen traditionellen Text zu tafsı¯r (Koranexegese), hadı¯t (Prophetenaussagen), fiqh (Rechtslehre) oder nahw ˙ ¯ ˙ (arabische Grammatik) – vortrug und kommentierte, den die Schüler dann auswendig lernten, ließ er moderne Schulen nach europäischem Vorbild errichten, in denen die Schüler im Gegensatz zur traditionellen Koranschule (kutta¯b) in Rechnen, Naturwissenschaften und anderen nichttheologischen Fächern unterwiesen wurden und deren Aufgabe in der Ausbildung von Ärzten, Ingenieuren, Übersetzern und Militäroffizieren bestand. Die Absolventen sollten als Beamte in der Staatsverwaltung, im Militär oder in anderen Bereichen des neuen Staatssystems eingesetzt werden. Die Aufmerksamkeit, die Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ dem neuen Bildungssystem ˙ schenkte, einerseits sowie die Herabsetzung und Vernachlässigung des traditionellen, islamischen Medresen-Systems und der Azhar andererseits führten zur Spaltung der ägyptischen Bevölkerung in eine kleine Elite, die die neuen Schulen besuchte und sich dabei vom islamischen Bildungssystem entfernte, und einer Mehrheit von Armen, die dem traditionellen Medresen-System treu blieb, obwohl Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ die religiösen Stiftungen der Azhar und die aus ihnen ˙ fließenden finanziellen Mittel ersatzlos abzog und somit das bis dahin funktionierende Waqf-System der islamischen Erziehung stark einschränkte (vgl. Awad 1971, S. 17f.; Arjemand 2017, S. 6f.; Gesink 2006, S. 328ff.).

bezeichneten Badawy Awad und Reza Arjmand die Gelehrten der Azhar als das Zentrum des Widerstandes gegen die französische Okkupation (vgl. Motzki 1983, S. 27; Awad 1971, S. 17; Arjmand 2017, S. 6).

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Trotz der daraus resultierenden Beinahe-Stagnation konnte das islamische Bildungssystem überleben; in der Folge sollten seine Absolventen auch die Schulen Muhammad ʿAlı¯s besuchen und ebenfalls an den Reformen im Bil˙ dungssystem teilhaben. Das bekannteste Beispiel ist der ägyptische Azhar-Gelehrte Rifa¯ʿa Ra¯fiʿ at-Tahta¯wı¯ (1801–1873), der in den Jahren 1826 bis 1831 im ˙ ˙ ˙ Auftrag von Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ als geistlicher Begleiter einer Gruppe von ˙ Studenten der ägyptischen wissenschaftlichen Gesandtschaft in Paris tätig war. Während seines Aufenthalts lernte er Französisch, konnte sich »frei« bilden und »mit Sprache, Geschichte, Philosophie, sonstigen Geisteswissenschaften und aktuellen Fragen befassen« (Maher 1988, S. 311). Dabei kam er in engen Kontakt mit der westlichen Zivilisation, mit der er sich später in seinem berühmten Bericht von 1849 – Tahlı¯s al-ibrı¯z fı¯ talh¯ıs Ba¯rı¯z (1848, dt. »Die Läuterung des ˘ ˙ ˘˙ Goldes in einer Darstellung von Paris«) – auseinandersetzte. In diesem Reisebericht, der bis heute als eines der wichtigsten Dokumente des 19. Jahrhunderts gilt, beschränkte sich Rifa¯ʿa Ra¯fiʿ at-Tahta¯wı¯ nicht auf die bloße Beschreibung ˙ ˙ ˙ der kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zustände in Paris, sondern versuchte, durch Vergleiche zwischen Ägypten und Frankreich die Missstände in Ägypten aufzuzeigen (vgl. ebd.). Unter seiner Aufsicht wurde später, im Jahr 1873, die erste Mädchenschule Ägyptens (Al-Saniya) errichtet, die von Isma¯ʿı¯l Pa¯sˇa¯ (1830–1895), einem Enkel von Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯, gefördert ˙ wurde. Im Gegensatz zu seinem Großvater maß Isma¯ʿı¯l Pa¯sˇa¯ der Azhar und ihrer Rolle als starkes und wirksames Instrument gegen die auf geistige und kulturelle Dominanz abzielende osmanische Politik (vgl. Awad 1971, S. 19) große Bedeutung bei und förderte die Reform der islamischen Erziehung, deren Institutionen, wie alle anderen Bildungsinstitutionen Ägyptens, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Erneuerungsbewegung erfasst wurden. 1872 erließ er ein Gesetz zur Organisation des Studiums an der Azhar, schuf damit ein neues Abschlusszeugnis (Sˇaha¯da al-ʿa¯limı¯ya) und wählte die für den Erwerb des Zeugnisses erforderlichen Studienfächer aus den Gebieten der islamischen Theologie und der arabischen Sprache aus (vgl. ebd.). Die Reformbewegung im Bereich der islamischen Bildung in Ägypten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die von mehrmaligen Aufenthalten des ˘ ama¯laddı¯n al-Afg˙a¯ni (1838–1897) berühmten afghanischen Reformgelehrten G an der Azhar begleitet war, brachte später prominente Figuren hervor, wie zum Beispiel Muhammad ʿAbduh (1849–1905) und Ta¯ha¯ Husain (1889–1973), die ˙ ˙ ˙ geistige Schüler al-Afg˙a¯nis waren und deren Wirkung nicht nur auf die veraltete, traditionelle islamische Bildung, sondern auf das gesamte ägyptische Bildungssystem erheblich war (Awad 1971, S. 20). Muhammad ʿAbduh, der in seiner ˙ Jugend großes Interesse an der mystischen Lehre der Sufis zeigte und in den ersten Studienjahren an der Azhar eine asketische Lebensweise pflegte, vertrat

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später, wie sein Lehrer al-Afg˙a¯ni, die Ansicht, dass der Islam eine rationale Religion sei, imstande, moderne Entwicklungen auf den Gebieten der Technik und Naturwissenschaften aufzugreifen, und zu diesen durchaus nicht im Widerspruch stehen müsse (Hildebrandt 2002, S. 212). Als Religions- und Rechtsgelehrter, der Paris und Beirut bereiste, als Journalist arbeitete und sich neben der Theologie mit Werken der europäischen Literatur und Philosophie auseinandersetzte, sah Muhammad ʿAbduh sich eher als Vermittler zwischen dem ˙ islamischen Orient und dem christlichen europäischen Okzident. Seine Begeisterung für den Okzident entsprach dem »neuen Geist«, der auf Reformen des Isma¯ʿı¯l Pa¯sˇa¯ zurückging und der von Thomas Hildebrandt als Haltung beschrieben wird, »die die veralteten Unterrichtsmethoden zwar noch nicht berührte, sich aber in einer vorsichtigen Rückkehr zum klassischen Erbe manifestierte« (ebd., S. 211). Obwohl sich sein Interesse am Westen aufgrund seiner antibritischen Haltung vorwiegend auf die neuen wissenschaftlichen Entwicklungen beschränkte, war er davon überzeugt, dass eine Synthese zwischen den islamischen Wissenschaften und dem europäischen Gedankengut möglich sei. Als Großmufti von Ägypten unter der Herrschaft von ’Abba¯s Hilmı¯ Pa¯sˇa¯ (1874– ˙ 1944) in der Zeit von 1899 bis zu seinem Tod 1905 versuchte er wie sein Lehrer alAfg˙a¯ni, das Konzept des igˇtiha¯d (»Anstrengung«) – das in der Regel in der islamischen Rechtstheorie verwendet wird und zum Bemühen um ein eigenständiges Urteil bei der Findung vom Normen aufruft – auch in der islamischen Bildung wiederzubeleben und somit das Gegenstück taqlı¯d (»Nachahmung«) abzulösen (Gesink 2006, S. 334f.). Deshalb rief er dazu auf, ein nach europäischem Vorbild gestaltetes administratives System in die islamische Bildung einzuführen, das die Registrierung zum Studium, regelmäßige Prüfungen, Anwesenheitslisten und praktische Anwendung umfassen sollte, und zwar unter der Betreuung der jeweiligen islamischen Lehrinstitution (vgl. ebd., S. 335, 337). Er rief eine Zulassungskommission zur Auswahl der Studienbewerber ins Leben und erstellte zwei Lehrprogramme mit Abschlusszeugnissen, die in acht oder in zwölf Jahren absolviert werden konnten (ebd., S. 337). Seine Erneuerungen auf dem Gebiet der islamischen Bildung – im Bereich der Rechtslehre durch die pragmatischen, zeitgenössischen Fatwas (religiöse Meinungen zu Fragen von besonderem öffentlichen Interesse), die er erlassen hatte – sowie sein umfassender Korankommentar, den er in Fortsetzungen in einer Zeitschrift veröffentlichte, brachten ihm allerdings die Feindschaft der traditionellen islamischen Gelehrten ein, die solche Neuerungen scharf kritisierten und mit denen er in heftige Auseinandersetzungen geraten war (vgl. ebd.). Ähnlich wie Muhammad ʿAbduh geriet Ta¯ha¯ Husain, der von 1950 bis 1952 ˙ ˙ ˙ Erziehungsminister war, in Konflikt mit den konservativen Gelehrtenkreisen. Als junger Mann studierte Ta¯ha¯ Husain zunächst an der Azhar, konnte allerdings ˙ ˙ aufgrund seiner Ablehnung der traditionellen Lehrmethoden sowie seiner

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– Meinungsverschiedenheiten geschuldeten – heftigen Debatten mit den konservativen Professoren das Studium an der damals einzigen Bildungseinrichtung Ägyptens nicht abschließen, weil er die Prüfungen nicht bestand.5 Später wechselte er an die im Jahr 1908 gegründete Universität Kairo, die im Gegensatz zur Azhar das europäische Bildungssystem als Vorbild und europäische Professoren als Lehrkräfte hatte. Das an der Azhar etablierte alte Medresen-System wurde allerdings später zum größten Teil beseitigt, und zwar durch das Gesetz von 1930, das die Azhar-Institution Reformen unterzog und die drei Stufen des modernen Systems (Grund-, Ober- und Hochschule) übernahm. Darüber hinaus wandelte das Gesetz die Azhar offiziell in eine Universität um, reformierte deren Studienordnung und machte eine Teilung des Studiums an drei Fakultäten möglich, nämlich der Fakultät für Theologie (Kullı¯yat ad-dı¯n), der Fakultät für islamisches Recht (Kullı¯yat asˇ-sˇarı¯ʾa) und der Fakultät für Arabische Sprache (Kullı¯yat allug˙a al-ʿarabı¯ya) (vgl. Harby & Affifi 1960, S. 228; Awad 1971, S. 22). Laut Harby und Affifi hatte Ägypten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges fünf nebeneinander bestehende Erziehungssysteme: a) das Kutta¯b- oder Medresen-System und Al-Azhar, b) das System der Grund-, Ober- und Hochschulen, die Unterrichtsgebühren einhoben und Fremdsprachen lehrten, c) das System der Volksschule und der Berufsgrundschule mit Schulgeldfreiheit ohne Fremdsprachen, d) die gebührenfreien Pflichtschulen, die 1925 gegründet wurden und den Volksschulen ähnelten, e) die Fremdschulen, die in Ägypten ursprünglich von nichtislamischen religiösen Vereinigungen oder weltlichen Gruppen aus dem Ausland eingerichtet wurden und deren Lehrpläne ebenfalls aus dem Ausland importiert waren, wie z. B. die Missionsschulen (vgl. Harby & Affifi 1960, S. 224f.) In seiner Amtszeit als Erziehungsminister (1950–1952) setzte sich Ta¯ha¯ Husain ˙ ˙ für eine allgemeine Reform des ägyptischen Bildungswesens ein und plädierte für eine kostenlose Bildung für die breiten Massen und für die Förderung der Bildung für Frauen sowie von ausgezeichneten Studierenden im Ausland.6 Diese Wünsche wurden durch die Revolution von 1952, die der Dynastie von Muhammad ʿAlı¯ Pa¯sˇa¯ und seiner Familie ein Ende bereitete, erfüllt. Ägypten wurde ˙ 5 In seiner Autobiografie Al-Aiya¯m (»Die Tage«), die in drei Bänden zwischen 1926 und 1955 erschienen ist und in mehrere Fremdsprachen übersetzt wurde, schildert Ta¯ha¯ Husain aus˙ ˙miserablen führlich den Konflikt mit den Gelehrten an der Azhar und kritisiert die veralteten, Studienbedingungen an der traditionellen Azhar. 6 Von Ta¯ha¯ Husain stammt der berühmte Satz, dass alle Menschen das Recht zur Bildung haben ˙ die ˙ Bildung in diesem Sinne wie Wasser und Luft sei. »‫ﺍﻟﺘﻌﻠﻴﻢ ﺣﻖ ﻟﻠﺠﻤﻴﻊ ﻛﺎﻟﻤﺎﺀ ﻭ ﺍﻟﻬﻮﺍﺀ‬.« Vgl. und dass dazu https://www.youm7.com/story/2018/1/12/23/3598402. Zugegriffen: 23. November 2018.

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zur Republik proklamiert, in der alle Schichten der Bevölkerung Zugang zu unentgeltlicher Bildung erhalten sollten (Harby & Affifi 1960, S. 219f.). Auch die Azhar, die seit ihrer Gründung in die Moschee integriert war, wurde infolge der Revolution zu einer unabhängigen Universität und 1961 durch das von Präsident ˇ ama¯l ʿAbd an-Na¯sir erlassene Gesetz verstaatlicht. Die Aufgabe der Azhar sollte G ˙ laut dem neuen Gesetz darin bestehen, den Menschen die Botschaft des Islams zu vermitteln und im Sinne der Verkündung von dessen Wahrheit zu wirken (vgl. Awad 1971, S. 23). Weitere Aufgaben der Azhar-Universität waren laut dem Gesetz: – die Wiederbelebung der arabischen Kultur sowie die Bewahrung des wissenschaftlichen, geistigen und geistlichen Erbes der arabischen Nation, – die Ausbildung von Gelehrten und Imamen für die arabische und islamische Welt, die Festigung der kulturellen und wissenschaftlichen Verbindungen zu den islamischen Universitäten der arabischen und islamischen Welt sowie zum übrigen Ausland (vgl. ebd., S. 24). Das Gesetz von 1961 führte zu einem Anstieg der Zahl der Fakultäten an der Azhar-Universität, insbesondere der nichttheologischen Fakultäten, und ermöglichte den Studierenden neben einer umfassenden religiösen Bildung eine wissenschaftliche und berufliche Ausbildung. Bis 1961 umfasste die Universität elf Fakultäten in verschiedenen Bereichen. Im Zuge der Feierlichkeiten zum 1000-jährigen Bestehen der Azhar-Moschee in Kairo in den 1970er-Jahren wurden in verschieden Teilen Ägyptens weitere Zweigstellen und Fakultäten der Azhar-Universität eröffnet. Heute umfasst die Azhar neben der großen Moschee universitäre und nichtuniversitäre Einrichtungen, die von der Grundschule bis zur Hochschule sämtliche Bildungsstufen einschließen. Zu den nichtuniversitären Einrichtungen zählen die voruniversitären Institute mit ihren im ganzen Land verbreiteten Schulen, die verschiedene Abschlüsse anbieten. Neben der uralten Hauptmoschee befindet sich die Azhar-Direktion, die sich aus mehreren Räten und Expertengremien unter der Führung des Großscheichs (Sˇaih al-Azhar) zusam˘ mensetzt. Der Großscheich besitzt laut ägyptischem Gesetz die Amtsprivilegien eines Ministerpräsidenten und ist gemeinsam mit der Azhar-Direktion für die internen Amtsangelegenheiten verantwortlich. Für die Erlassung von Fatwas sind verschiedene Gremien zuständig, wie z. B. die Abteilung für religiöse Gutachten der Azhar-Direktion (ifta¯ʾ), die Akademie für islamische Untersuchungen (magˇmaʿ al-buhu¯t al-isla¯mı¯ya) – die 1961 gegründet wurde und deren Mitglieder ˙ ¯ sich nicht nur aus Theologen rekrutieren – sowie der Rat der größten Gelehrten (hayʾat kiba¯r al-ʿulama¯ʾ), der nur aus Theologen besteht und ursprünglich 1911 unter dem Namen »Gemeinschaft der großen Gelehrten« (gˇama¯ʿat kiba¯r alʿulama¯ʾ) geschaffen, 1961 aufgelöst und 2012 wiederbelebt wurde. Seit den

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jüngsten Reformen von 2012 haben die großen Gelehrten das Recht, den Großscheich sowie den Großmufti aus dem Mitgliederkreis zu wählen (Hefny 2016, S. 90). Durch die verschiedenen Einrichtungen, Räte und Gremien der Azhar ist diese nicht mehr als eine reine Bildungsstätte zu betrachten, deren Aufgabe nur darin bestünde, Schüler*innen und Studierende religiös zu erziehen. In seinem Artikel über das nach der Revolution 2011 von der Azhar herausgegebene »Document on the Future of Egypt« beschreibt Assem Hefny die Rolle der Azhar und ihre Wirkung auf das Leben in Ägypten wie folgt: »Al-Azhar does not only represent the oldest educational system of Egypt, it has also been an influential power in Egyptian politics since its founding in 972 A.D. Regularly throughout Egyptian history, critics have been open with their skepticism toward Al-Azhar’s impact when they considered its two main functions, namely Islamic worship and education, being exceeded or misused.« (Ebd., S. 89) Im Anschluss an diese Ausführungen zur Azhar, der ältesten religiösen Bildungsinstitution Ägyptens, deren Rolle laut dem Zitat über die erzieherische Funktion hinausgeht, wollen wir uns im nächsten Kapitel dem gegenwärtigen Zustand der islamischen Erziehung in Ägypten widmen und versuchen, das vielfältige Angebot des Religionsunterrichts in den voruniversitären und universitären Bildungsstätten darzustellen.

2.1

Der gegenwärtige Zustand der religiösen Erziehung in Ägypten

Der Bereich der voruniversitären Bildung ist in Ägypten durch zwei nebeneinander bestehende Systeme gekennzeichnet: – das vom Staat kontrollierte säkulare Bildungssystem, das sowohl die staatlichen als auch die privaten Schulen einschließt; – das Azhar-Bildungssystem, das die religiösen Schulen und die voruniversitären Bildungsstätten umfasst. Außerdem gibt es die sogenannten »International Schools«, für welche die Anforderungen der ägyptischen Curricula nicht gelten und deren Wirken in der Regel Verträge zwischen Ägypten und dem jeweiligen Land zugrunde liegen (Neill 2006, S. 485). Ebenso wenig, wie sich ihre Rolle als Religionsinstitution – wie bereits dargestellt – auf die islamische Bildung und Erziehung beschränkt, ist die Azhar die einzige Bildungseinrichtung, die den Lernenden einen islamischen Religionsunterricht bietet, auch wenn ihre voruniversitären Institute und theologischen Fakultäten als die wichtigsten religiösen Bildungsstätten im Lande gelten. Was den – für muslimische Schüler*innen obligatorischen – islamisch-konfessionel-

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len Religionsunterricht in den Schulen bzw. den voruniversitären Bildungsstätten anbelangt, so sollen in dessen Genuss alle Schüler*innen von staatlichen und privaten Schulen – die dem staatlichen Curriculum folgen müssen – kommen. Der Religionsunterricht beträgt ungefähr drei Stunden wöchentlich in der Grundschule (für die 6–12-Jährigen) und zwei Stunden wöchentlich in den Vorbereitungsschulen (für die 12–15-Jährigen) und Oberschulen (für die 15–18Jährigen) (Neill 2006). Die Frage nach der Rolle des Religionsunterrichts in den verschiedenen Schultypen ist seit Jahrzehnten ein Fixpunkt in öffentlichen Debatten, in denen kaum ein Minister oder Verantwortlicher im Ministerium für Bildung und Erziehung die Notwendigkeit der Reform des ägyptischen Bildungssystems unerwähnt lässt. Im religiösen Bildungssystem der Azhar müssen die Schüler*innen neben den im Curriculum des säkularen staatlichen Systems vorgesehenen Schulfächern den Koran sowie tagˇwı¯d und fiqh (die vier sunnitischen Hauptlehrrichtungen) lernen,7 was vielfach als Überforderung der Schüler*innen erachtet wird. Was den universitären Bereich betrifft, können die Absolvent*innen der Azhar-Schulen entweder an den theologischen oder den nichttheologischen Fakultäten der Azhar-Universität studieren. Das Studium an der Azhar-Universität beruht – wie auch das an anderen Universitäten Ägyptens – auf einem Numerus-clausus-System.

3.

Herausforderungen und Zukunft des Islams im ägyptischen Bildungssystem

Zweifellos ist die islamische Bildung bzw. Erziehung in Ägypten heutzutage mit einer Vielzahl an neuen Herausforderungen, wie z. B. Fundamentalismus, Globalisierung, Abwendung von der Religion usw. konfrontiert, die nicht nur Reformen verlangen, sondern auch den Sinn und Zweck der islamischen Erziehung infrage stellen. Wie der Islamwissenschaftler und Al-Azhar-Absolvent Assem Hefny in seinem Artikel über die islamische Azhar-Universität festhält, wird »alles, was im Guten wie im Schlechten mit dem Islam zu tun hat, auch mit der AlAzhar assoziiert […] – entweder direkt, wie im Falle Ägyptens, oder indirekt« (Hefny 2017). Dies ist laut Hefny darauf zurückzuführen, dass die Azhar nicht nur die weltweit bedeutendste Institution des sunnitischen Islams ist, die auf eine lange Tradition islamwissenschaftlicher Forschung und Lehre zurückblickt, sondern – gemäß Artikel VII der ägyptischen Verfassung – auch »die grundlegende Instanz in theologischen Fragen und in allen den Islam betreffenden

7 Vgl. http://www.alazhar.gov.eg/. Zugegriffen: 25. November 2018.

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Angelegenheiten. Ihr obliegt die Verbreitung des Glaubens, der islamischen Wissenschaften und der arabischen Sprache in Ägypten und weltweit« (ebd.). Vor diesem Hintergrund nimmt seit einigen Jahrzehnten der Druck auf die Azhar sowohl von innen als auch von außen zu, insbesondere nach der Ausbreitung des sogenannten »politischen Islams« und von mit ihm verbundenen islamistischen, radikalen militanten Gruppierungen, die die Stabilität in etlichen Ländern in Gefahr bringen. Als Reaktion auf diesen Druck hat die Azhar 2015 – wie der Großscheich und oberste Geistliche der Azhar-Universität, A. M. at˙ Taiyib, in einem Interview erklärte – »ein mehrsprachiges Beobachtungszentrum ˙ [aufgebaut], um zu verfolgen, was ISIS und die anderen bewaffneten Bewegungen in der Welt verbreiten. All das wird einer Kommission von Al-Azhar-Gelehrten vorgetragen und von ihnen dann analysiert. Es werden anschließend Empfehlungen formuliert, die übersetzt und auf der Website der Al-Azhar veröffentlicht werden.«8 Um den wissenschaftlichen Austausch mit nichtarabischsprachigen Institutionen für islamische Theologie und Islamwissenschaft weltweit zu fördern, wurde 1965 an der Azhar-Universität die Fakultät für Sprachen und Übersetzung gegründet, die anfänglich zwei Abteilungen enthielt (Englisch und Französisch) und heute zwölf verschiedene Sprachabteilungen umfasst. 2008 wurde die Abteilung für Islamische Studien in ausländischen Sprachen gegründet, zu der neben der Sektion für Islamische Studien in Deutsch (SISD)9 auch die Sektionen für Islamische Studien in Englisch, Französisch und Afrikaans gehören und die vom Dekan der Fakultät geleitet wird. Theologische Seminare an der Abteilung werden in den jeweiligen Fremdsprachen abgehalten. Außerdem gibt es Studierendenaustauschprogramme mit den Partnerinstituten im Ausland, wie etwa dem Orientalischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die Anfang 2013 eine vom DAAD geförderte Kooperation mit der Sektion für Islamische Studien auf Deutsch der Azhar-Universität eingegangen ist.10 Die Verwendung der deutschen Sprache im Studium an der Fakultät für Sprachen und Übersetzung vermittelt laut ihrer Website »einen Zugang zur westlichen Kultur, i. e. eine Möglichkeit, die in der westlichen Moderne neu entwickelten wissenschaftlichen Methoden kennenzulernen, um sie mit eigenen Methoden vergleichend bei der Auseinandersetzung mit den eigenen traditionellen Inhalten zu

8 Interview mit Al-Azhar-Großscheich Ahmed al-Tayyeb. Qantara.de, 28. 04. 2015. https://de. qantara.de/inhalt/interview-mit-al-azhar-grossscheich-ahmed-al-tayyeb-instrumentalisiert er-glaube. Zugegriffen: 25. November 2018. 9 http://www.sisd-azhar.com/. Zugegriffen: 27. November 2018. 10 https://www.orient.uni-freiburg.de/islamwissenschaft/kooperationen-ausland. Zugegriffen: 15. September 2018.

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verwenden. Somit eröffnet die Sektion neue Perspektiven und Anschlussmöglichkeiten an die europäischen Diskurse über Religion.«11 Erwähnenswert ist, dass die Debatte um die Rolle des islamischen Religionsunterrichts im ägyptischen Bildungssystem nicht erst mit dem Aufstieg militanter islamistischer Gruppierungen wie ISIS einsetzte, sondern vielfach bereits seit den 1970er-Jahren – seit der Auflösung der sozialistischen Machteinrichtungen – geführt wird, und zwar im Zusammenhang mit dem Versuch einer Definition der ägyptischen Identität und Zukunft (Neill 2006, S. 488). Auch wenn der obligatorische Religionsunterricht an den diversen Schulen nicht zur Gesamtpunkteanzahl der Abschlussprüfungen beiträgt, dauert die Diskussion über verschiedene Themen betreffend den Religionsunterricht und seine Rolle im ägyptischen Bildungssystem bis heute an, so etwa jene über den Inhalt des Religionsunterrichts, die Darstellung von Nichtmuslim*innen in den Lehrbüchern, den Umgang mit traditionellen Texten sowie die Möglichkeit der Einführung von Ethikunterricht als Alternative oder Ergänzung zum konfessionellen Religionsunterricht.12 Da der Religionsunterricht an allen Schulen angeboten wird, die dem staatlichen Bildungssystem folgen, finden die Debatten über ihn meistens unter Aufsicht der Regierung statt.

4.

Conclusio

Die islamische Erziehung in Ägypten hat eine besondere Tradition und eine lange Entwicklungsgeschichte, die beide bis in die Gegenwart hineinwirken, namentlich wenn es um die Definition der Rolle des Islams im ägyptischen Bildungssystem geht. Neben der Frage des Umgangs mit der Tradition spielen neue globale Phänomene wie Fundamentalismus, Globalisierung und der Aufstieg des politischen Islams in letzter Zeit eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Gestaltung des Inhalts des islamischen Religionsunterrichts in den verschiedenen religiösen Bildungseinrichtungen Ägyptens. Vorschläge wie die Einführung einer Ethikstunde als Alternative oder Ergänzung zum konfessionellen Religionsunterricht, die Einschränkung der Rolle der privaten religiösen Schulen oder die Etablierung von nichtislamischen Bildungssystemen stellen die traditionelle islamische Erziehung in Ägypten vor enorme Herausforderungen.

11 http://www.sisd-azhar.com/. Zugegriffen: 15. September 2018. 12 Muhammed, Yasmin (2018). ‫ ﻭﺯﻳﺮ ﺍﻟﺘﻌﻠﻴﻢ ﻳﻜﺸﻒ ﺣﻘﻴﻘﺔ ﺇﻟﻐﺎﺀ ﻣﺎﺩﺓ ﺍﻟﺘﺮﺑﻴﺔ ﺍﻟﺪﻳﻨﻴﺔ ﺑﺎﻟﻨﻈﺎﻡ ﺍﻟﺠﺪﻳﺪ‬Zugegriffen: 13. Mai 2018. http://www.masrawy.com/news/news_egypt/details/2018/5/13/1345311. Zugegriffen: 29. November 2018.

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Margaret J. Rausch

Islamische Bildung in den USA und Kanada

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich – jeweils in einem eigenen Kapitel – mit islamischer Bildung in den USA und Kanada. Jeder Teil beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung der Geschichte des jeweiligen Landes. Anschließend werden die frühesten Kontakte zwischen der amerikanischen bzw. kanadischen Bevölkerung und Menschen muslimischen Glaubens, dem Islam und der islamischen Kultur behandelt, zu denen es in Amerika im 16. Jahrhundert und in Kanada im Jahre 1854 kam. Danach wird die Geschichte der Immigration und der Präsenz der ersten muslimischen Gläubigen in den beiden Ländern von den Anfängen bis in die Gegenwart einschließlich alltäglicher Interaktionen sowie der Entwicklung von Beziehungen und der Entstehung von Konflikten zwischen der muslimischen und der nichtmuslimischen Bevölkerung der USA und Kanadas geschildert. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Gründung islamischer Gemeinden, Gemeinschaften, Organisationen, Moscheen, muslimischer Schulen und zusätzlicher bzw. ergänzender Bildungsinstitutionen und deren Funktionen in Bezug auf die islamische Bildung. Der Beitrag schließt mit einer Beschreibung der im Unterricht angewandten Inhalte und methodologischen Ansätze sowie einer Diskussion von deren Vor- und Nachteilen.

1.

Islamische Bildung in den USA

1.1

Muslimische Präsenz und Interaktionen

Als Angehörige der drittgrößten und am schnellsten wachsenden Religion in den USA zeichnen sich Muslim*innen durch die enorme Vielfalt ihrer nationalen, ethnischen und kulturellen Herkunft aus. Der erste Muslim war ein marokkanischer Matrose, der 1528 als Mitglied einer vorkolonialen Erkundungsmission zusammen mit vier weiteren Besatzungsmitgliedern in der Nähe von Galveston

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(Texas) einen Schiffbruch überlebte. Die nächsten waren Afrikaner, die als Sklav*innen in den neu gegründeten Kolonien zwangsangesiedelt wurden. Spätere Einwanderungswellen fielen in den 1930er-Jahren mit dem Übertritt der Afroamerikaner*innen zum Islam zusammen, was zu einem stetigen Anstieg der Zahl der Muslim*innen führte. Die Dimensionen ihrer Präsenz und die Schwankungen in Bezug auf Status und Behandlung durch ihre amerikanischen Mitbürger*innen hängen mit den nationalen und internationalen Ereignissen und Entwicklungen zusammen, welche die Komplexität ihrer aktuellen Situation offenbaren (GhaneaBassiri 2010, S. 35–36). Das Bewusstsein, dass einige afrikanische Sklav*innen bereits Muslim*innen waren, begann in den 18. und 19. Jahrhunderten, als die Siedler*innen allmählich entdeckten, dass einige von ihnen gebildete und manchmal sogar hochgebildete Menschen waren und sie in ihren Bemühungen unterstützen konnten, das Christentum in Afrika zu verbreiten. Interviews mit Nachkommen ehemaliger Sklav*innen, die von Ethnograf*innen des frühen 20. Jahrhunderts geführt wurden, boten eine neue Informationsquelle über muslimische Sklav*innen und deren im Verborgenen ausgeübte islamische Praktiken. Aus Angst vor Verfolgung durch Plantagenbesitzer, die seit dem 17. Jahrhundert auf ihrer Taufe und ihrer Teilnahme am christlichen Gottesdienst bestanden, wagten sie nicht, die von ihnen mitgebrachten Überzeugungen und Praktiken an ihre Kinder weiterzugeben (GhaneaBassiri 2010, S. 37–58). Daher wird die Annahme des Islams bei den Afroamerikaner*innen im frühen 20. Jahrhundert eher als Rückkehr denn als Übertritt bezeichnet. Als Rückkehr wird die Annahme des Islams auch mit Blick auf eine steigende Zahl von Amerikaner*innen lateinamerikanischer Herkunft bezeichnet, da diese möglicherweise Nachkommen von Einwohner*innen Spaniens sind, das zwischen 756 bis 1492 unter muslimischer Herrschaft stand, und möglicherweise in der Zeit schon zum Islam übergetreten waren (Mattson 2008, S. 132). Mit dem Zustrom von Einwander*innen aus verschiedenen Teilen der Welt wuchs auch die muslimische Präsenz in den USA. Die erste Welle begann in den 1890er-Jahren und endete mit den Immigrationsgesetzen von 1924, die eine geografische Verteilung nach religiösen und rassischen Merkmalen vorsahen. Die meisten Immigrant*innen kamen aus osmanischen Provinzen im Nahen Osten und Südosteuropa, die durch den Niedergang des Osmanischen Reiches und den damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten angetrieben wurden, in den USA ihr Glück zu versuchen. Muslim*innen und Christ*innen suchten nach billigen Unterkünften und Arbeitsplätzen, damit sie ihren Familien Geld überweisen konnten. Als klar wurde, dass sie dauerhaft bleiben würden, holten sie ihre Familien nach und gründeten Moscheegemeinschaften (GhaneaBassiri 2010, S. 136–150).

Islamische Bildung in den USA und Kanada

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Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert brachte bedeutende Denker*innen und Aktivist*innen wie den klassischen Musiker, Lehrer und Gründer des SufiOrdens des Westens Inayat Khan hervor. Er distanzierte sich bewusst vom Islam und betonte stattdessen die metaphysische Gleichheit und den Pluralismus, wenn er Nichtmuslim*innen unterrichtete. Er gründete Niederlassungen in den USA, Kanada und Europa, von denen einige noch heute existieren (GhaneaBassiri 2010, S. 113–132).

1.2

Muslimische Organisationen

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ließen der weiße protestantische Überlegenheitskomplex und der moderne Optimismus nach, was den Weg für einen neuen Eklektizismus ebnete. Während muslimische Einwander*innen Vereinigungen bildeten und Moscheen bauten, erlebten Afroamerikaner*innen, die, um der durch die Jim-Crow-Gesetze auferlegten Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen zu entgehen, in den Nordosten und Mittleren Westen ausgewandert waren, das Eindringen des Islams in das öffentliche Leben gemeinsam mit dem von weißen Amerikaner*innen begründeten Mormonismus, Shakerismus und Spiritualismus, der Christlichen Wissenschaft und der Theosophischen Gesellschaft. Sie fühlten sich dadurch inspiriert, ihre eigenen spirituellen Institutionen zu bilden, darunter das »United House of Prayer for All People«, die Friedensbewegung von Father Divine und die schwarzen Freimaurer. Während weiße Freimaurerorden seit dem frühen 18. Jahrhundert islamische Symbole verwendet hatten, schuf Noble Drew Ali für die Afroamerikaner*innen innerhalb seines »maurischen Wissenschaftstempels« eine eindeutig islamisch nationale Identität. Diese neue Identität wurde beeinflusst von der vom in Jamaika geborenen Panafrikanisten Marcus Garvey gegründeten »Universal Negro Improvement Association«, dem Ägypter Mohamed Duse und der von dem in Indien geborenen Mohammed Sadiq geförderten muslimischen Ahmadi-Missionarsbewegung und bereitete den Boden für die Gründung der »Nation of Islam« (GhaneaBassiri 2010, S. 193–223). Gegründet 1930 von Wallace D. Fard Muhammad in Detroit, markierte die Nation of Islam den Anfang einer Bewegung in Richtung selbstbewusster Selbstverbesserung, Reflexion, Umbruch und Selbstbestimmung, die in der Bürgerrechtsbewegung, der Erweiterung des Zugangs zum öffentlichen Raum und zum Arbeitsmarkt sowie Möglichkeiten im Bildungswesen für Afroamerikaner*innen ihren Höhepunkt fand. Gekennzeichnet durch synthetischen Eklektizismus und Unternehmergeist, versammelte sie die religiöse Dimension der vorangegangenen Bewegungen in ihren Schilderungen des afroamerikanischen Islams, indem sie Schwarze, Islam und das göttliche Potenzial für Fortschritt

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miteinander verschmolz. Die Botschaften des Begründers des »maurischen Wissenschaftstempels« und selbsternannten Propheten Drew Ali, des Gründers der Nation of Islam Fard Muhammad und dessen Nachfolger Elijah Muhammad in Bezug auf die göttlichen Ursprünge der »verlorengegangenen und wiedergefundenen« Nation der Afroamerikaner*innen, die angeborene Göttlichkeit der Menschheit, die böse Natur der Weißen, deren Ende unmittelbar bevorstehe, und die Entfremdung der Schwarzen von ihrer »ursprünglichen« Religion des Islams befassten sich alle mit ihren vergangenen und gegenwärtigen Zwangslagen. Sie behaupteten, dass ihre prophetischen Gesetze und Institutionen ihnen das Wissen und die Mittel zur Verfügung stellten, um ihr göttliches Potenzial verwirklichen zu können (GhaneaBassiri 2010, S. 223–227). Unter der Führung von Elijah Muhammad wuchs die Nation of Islam von 1934 bis 1974 stark an. Sie fand Anhänger*innen in allen sozialen Schichten und diente als neue Quelle des Stolzes, der Rechtleitung und der gegenseitigen Unterstützung angesichts der Herausforderungen des täglichen Lebens. Als Antwort auf die unterfinanzierten separaten Schulen für schwarze Kinder sowie als Mittel, um Moralität und andere Werte zu schaffen, richtete Elijah Muhammad ein neues Schulsystem ein. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn, der Philosoph und Islamwissenschaftler Warith Deen Muhammad, die Führung der Bewegung, und seine Anhänger*innen waren sofort für die Veränderungen bereit, die dieser einführte. Er verwandelte sie in eine halborthodoxe islamische Mainstream-Bewegung (»The World Community of Islam in the West«), die später »The American Society of Muslims« genannt wurde. Er ersetzte Lehre und Rituale durch sunnitische Überzeugungen und Praktiken, wandelte das Schulsystem um, führte Pilgerreisen nach Mekka (hagˇgˇ) und knüpfte Beziehungen zu politischen ˙ Führern des Nahen Ostens, die die Anhänger der Nation of Islam zu Besuchen einluden (GhaneaBassiri 2010, S. 284–289; Memon 2009, S. 26–28). Nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Bürgerrechtsbewegung kamen Einwander*innen unterschiedlicher geografischer Herkunft hinzu. Durch die Antidiskriminierungsgesetze wurden die Grenzen wieder geöffnet und Quoten erweitert oder aufgehoben. Die meisten Muslim*innen, die in dieser Phase ankamen, gehörten zur Bildungselite, die höhere Universitätsabschlüsse anstrebte. Wie ihre Vorgänger*innen beabsichtigten sie, nach dem Erreichen ihrer Ziele nach Hause zurückzukehren, viele heirateten jedoch Einheimische, bekamen Kinder, errichteten Moscheen und gründeten islamische Schulen. Als Student*innen bildeten sie örtliche und nationale Organisationen, Institutionen und Netzwerke. So wurde die erste große Organisation, die Muslim Student Association der USA und Canada (MSA) 1963 gegründet. Erweiterte Aufgabenfelder und Diskussionen über Fragen von nationaler und internationaler Bedeutung ermöglichten ihnen Wege für gemeinsame Projekte wie die Veröffentlichung eines Mitteilungsblattes und von Fachzeitschriften, den Druck und

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Vertrieb von Flugblättern und Büchern über den Islam und die Einrichtung eines Hilfsfonds für bedürftige Muslim*innen. Ähnlich wie die amerikanische Gesellschaft erwuchs daraus ein richtiger Schmelztiegel, der die kulturellen und ethnischen Unterschiede und religiösen Lehrvariationen aber doch nicht vollständig aufheben konnte. Mit der steigenden Anzahl der MSA-Niederlassungen erwuchs die Notwendigkeit, eine übergeordnete Organisation zu schaffen, was zur Gründung der Islamic Society of North America (ISNA) führte. Dabei handelt es sich um eine Vereinigung von Organisationen und Einzelpersonen, die eine gemeinsame Plattform zur Repräsentation des Islams bietet sowie gute Beziehungen zu Menschen aus anderen Religionsgemeinschaften, Dienstleistungs- und Bürgerorganisationen pflegt und muslimische Gemeinschaften durch die Entwicklung von Bildungs-, Sozial- und Outreach-Programmen unterstützt, um eine vorbildliche und vereinigende islamische Organisation in Nordamerika zu sein, die zur Verbesserung der muslimischen Gemeinschaft und der Gesellschaft insgesamt beiträgt (GhaneaBassiri 2010, S. 265–271; Memon 2009, S. 24–26). Weitere sunnitisch geprägte muslimische Organisationen sind Al-Fatiha Foundation (1997), Al-Madinah Cultural Center (1999), Alianza Islámica (1987), American Islamic Congress (2001), American Islamic Forum for Democracy (2003), American Muslim Council (1990), American Muslim Health Professionals (2004), American Society of Muslims (1993), Association of Muslim Chaplains (2011), As-Sunnah Foundation of America (1997), Association of Islamic Charitable Projects of North America (1970), Federation of Islamic Medical Associations (1982), Fiqh Council of North America (1986), Free Muslim Coalition Against Terrorism (2004), Inner-City Muslim Action Network (1996), International Institute of Islamic Thought (1981), Islamic Information Center (2002), Islamic Medical Association of North America (1967), LALMA-Los Angeles Latino Muslim Association (1999), The Mosque Cares (1969), The North American Islamic Trust (1973), Peaceful Families Project (2000), Pillars Fund (2010) und Somali Institute for Peace and Justice in Minneapolis (2006). Obwohl diese Gruppen sehr unterschiedlich sind, arbeiteten sie alle direkt oder indirekt darauf hin, dass Muslim*innen anderen Muslim*innen und auch Nichtmuslim*innen in ihren Gemeinden, Nachbarschaften und Städten helfen, indem sie ihnen Unterstützung verschiedener Art anbieten. Die meisten der 70 schiitischen Organisationen in den USA sind in der Absicht, schiitische islamische Gemeinschaftszentren, Moscheen und Schulen einzurichten, gegründet worden (QFAB o. J.). Von besonderer Bedeutung in Bezug auf islamische Bildung ist die gemeinnützige islamische Bildungsorganisation IQRA’ International Educational Foundation, die als Antwort auf den wachsenden Bedarf muslimischer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener an islamischem Unterricht gegründet wurde. Ihre

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Gründer, Abidullah und Tasneema Ghazi, entwickelten 1968 das Konzept für ein umfassendes islamisches Bildungsprogramm für eine islamische Sonntagsschule an der Universität Harvard. Bei der Suche nach Büchern und anderen Unterrichtsmaterialien erkannten sie den problematischen Zustand der islamischen Erziehung im Westen. Sie vereinten das Wissen eines professionellen Pädagogen und eines islamischen Gelehrten und schufen ein auf der traditionellen Medresen-Struktur basierendes Bildungsprogramm mit modernen pädagogischen Methoden, das sie später in islamischen Schulen in San Diego und Minneapolis verwendeten. Nachdem sie 1979 nach Chicago gezogen waren, schrieben sie Lehrbücher für das Chicago Muslim Community Center. IQRA’ hat ein integriertes islamisches Bildungssystem mit 150 Lehrbüchern, Arbeitsbüchern, Lehrplanhandbüchern, Leitfäden für Lehrpersonen und anderen Materialien entwickelt, das in Gemeinschaften in Nordamerika und vielen anderen englischsprachigen Ländern weltweit beliebt ist (IQRA’ o. J.).

1.3

Islamische Bildungseinrichtungen

Die islamische Bildung in den USA begann mit den Outreach- und Bildungsinitiativen der Nation of Islam. Die zweite Phase bestand aus der Errichtung islamischer Zentren, Moscheen und islamischer Schulen durch Einwander*innen aus mehrheitlich muslimischen Ländern. In der dritten Phase wurden islamische Abend- und Wochenend-Erziehungsprogramme für Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche, die keine muslimischen Schulen besuchten, kreiert. Die vierte Phase bestand darin, auf die traditionellen islamischen Wissenschaften spezialisierte islamische Universitäten zu gründen. In der fünften Phase wurden Ausbildungsprogramme für Imame und Kapläne an öffentlichen und privaten Universitäten geschaffen. Der Anstoß für die letztgenannte Phase war unter anderem die zunehmende Zahl von inhaftierten afroamerikanischen Muslim*innen, von denen viele zu übermäßigen Haftstrafen oder sogar unrechtmäßig verurteilt worden waren und meistens Jahrzehnte später dank des Innocence Project endlich freigelassen wurden (IP o. J.; Rausch 2013a). 1.3.1 Islamische Zentren Der Name »Islamisches Zentrum« bezieht sich im Allgemeinen auf ein Gebäude, dessen Hauptfunktion die eines Gebetsraums ist, groß genug, um die Gemeinschaft, die ihn errichtet hat, unterzubringen. In den USA gibt es ungefähr 1.500 islamische Zentren. Einige bestehen lediglich aus einem einzigen Gebäude, das als Gemeindezentrum und Moschee dient. Die größeren enthalten auch einen Gebetssaal, einen Speisesaal und eine Küche sowie Klassenzimmer, Bespre-

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chungsräume, Personalbüros und Unterkünfte, welche an Moscheen und islamische Schulen angrenzen. 1.3.2 Moscheen Die älteste noch erhaltene »zweckgebaute« Moschee in den USA, die Mother Mosque of America (MMA) in Cedar Rapids (Iowa), wurde 1934 erbaut, 13 Jahre nach der Errichtung der Al-Sadiq-Moschee in Chicago, die in einem bestehenden Gebäude untergebracht war. MMA diente 40 Jahre lang als Kultstätte, bis 1971 die Moschee des Islamischen Zentrums von Cedar Rapids gebaut wurde. Die aufeinanderfolgenden Besitzer der ursprünglichen Moschee vernachlässigten die Gebäude, die Gläubigen aus der Gegend beteten anderswo. Der Islamische Rat von Iowa erwarb und renovierte das Gebäude 1991 und verwandelte es in ein muslimisches Kulturzentrum. Aufgrund der geringen Größe verrichten die meisten Muslim*innen in der Gegend anderswo ihr Gebet. Es ist aber immer noch ein bekanntes Zentrum für Information und Gebet, obwohl Überschwemmungen im Jahr 2008 die umfangreiche Buch- und Archivsammlung im Untergeschoss zerstörten. Die erste, heute nicht mehr erhaltene Moschee wurde 1929 von libanesischen und syrischen Einwander*innen und ihren Nachkommen in der Nähe von Ross (North Dakota) gegründet. Sie wurde 1970 abgerissen und durch eine kleinere Moschee ersetzt, um an die Geschichte zu erinnern (Rossiter 2008). Heute gibt es in den USA etwa 1.500, von örtlichen Gemeinschaften gegründete Moscheen, die sich oftmals in der Nähe von islamischen Zentren befinden. Darüber hinaus bieten sie häufig abends und am Wochenende islamische Bildungsprogramme für alle Altersgruppen und organisieren Trauungszeremonien, Trauerfeierlichkeiten und verschiedene andere Gemeinschaftsaktivitäten. 1.3.3 Medresen Der Begriff madrasa wird in den USA häufig mit negativen Stereotypen in Verbindung gebracht, weshalb er dort selten verwendet wird. Einige Beispiele traditioneller Medresen gibt es dennoch, nämlich das Al-Maghrib Institute und das Zaytuna Institute. Das Al-Maghrib Institute wurde 2002 von Muhammad al-Shareef in Houston (Texas) gegründet und hat auch Ableger in Kanada und England. Es bietet sechstägige und dreitägige Kurse an. Der sechstägige Kurs wird an zwei Wochenenden abgehalten, der dreitägige Kurs an einem Wochenende. Das Zaytuna Institute wurde 1996 in Hayward (Kalifornien) von dem renommierten muslimischen Prediger Hamza Yusuf und einem lokalen Geschäftsmann gegründet, mit dem Ziel, die »traditionelle islamische Erziehung«,

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sowohl in Bezug auf den Lehrplaninhalt (klassische Texte im islamischen Recht, Theologie, Rhetorik usw.) als auch in Bezug auf die pädagogische Methode wiederzubeleben. Yusufs Vision ist es, die mystische Tradition des Sufismus im Islam und sein pädagogisches Modell der initiativen Übertragung, insbesondere das Igˇa¯za-System, das die Grundlage für die Weitergabe der religiösen Disziplinen innerhalb des sunnitischen Islams bildete, unter amerikanischen Muslim*innen zu neuem Leben zu erwecken. In dem, was sie das »traditionelle« System nannten, lasen der Lehrer und der Schüler gemeinsam Texte in jeder Kerndisziplin, und der Lehrer erläuterte den normalerweise knappen Text, der zum Zweck des Auswendiglernens geschrieben wurde (Grewal & Coolidge 2013, S. 259). 1.3.4 Ausbildungsprogramme für Imame und Kapläne Einige private und öffentliche Universitäten und Seminare in den USA bieten Programme an, die auf die Ausbildung von Imamen und Kaplänen spezialisiert sind. Der steigende Bedarf an Imamen ist auf die wachsende Anzahl der Muslim*innen und der von ihnen gegründeten Moscheen in den USA zurückzuführen. Der steigende Bedarf an Kaplänen korreliert mit der Zunahme der Inhaftierungsrate von Afroamerikaner*innen, darunter viele muslimischen Glaubens. Das Islamic Chaplaincy Program am Hartford Seminary in Hartford (Connecticut) und das Bayan Claremont Chaplaincy Program an der Claremont School of Theology in Claremont (Kalifornien) gehören zu den bemerkenswertesten Programmen. Das Hartford Program kombiniert praktische Ausbildung und Anwendung mit einem akademischem Studium. Es konzentriert sich auf christlich-muslimische Beziehungen und Islamwissenschaft und spezialisiert sich darauf, muslimisch religiösen Führer*innen und Seelsorger*innen grundlegende Fähigkeiten in der Seelsorge, den Praktiken der Arbeit, der Theologie und der Ethik zu vermitteln. Darüber hinaus wird eine Ausbildung in interreligiösen Beziehungen angeboten, die erforderlich ist, um als Seelsorger*in in verschiedenen Umgebungen zu dienen, einschließlich den Verantwortlichkeiten muslimischer Seelsorger*innen und religiöser Führer*innen, die sich in den folgenden Bereichen spezialisieren: Lebensereignisse wie Geburt, Tod, Ehe und Verlust und die damit verbundenen Rituale; die Prüfung des islamischen Rechts, das alle islamischen Rituale umfasst und die Moralität und Ethik einschließt; die Anwendung des islamischen Rechts im täglichen Leben; die Begegnung mit und Verständnis für die Fähigkeiten der Seelsorge in den verschiedenen Glaubensrichtungen; und das Verständnis anderer Glaubensüberlieferungen (HS o. J.). Das Bayan Claremont Islamic Chaplaincy Program vermittelt Männern und Frauen eine feste Grundlage in islamischer Gelehrsamkeit und fördert praktische Fähigkeiten in den Bereichen spiritueller Pflege, kultureller Sensibilität und re-

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ligiöser Führung und Seelsorge. Es bietet Veranstaltungen in Islamwissenschaft, darunter sı¯ra (die Biografie des Propheten) und Themen aus dem Koran, die auch islamische Geschichte, Theologie, Rechtswissenschaft, Philosophie und Mystik umfassen. Darüber hinaus profitieren Studierende von Veranstaltungen in Ethik, Führung und interreligiösen Studien (BC o. J.). Ein Hauptanstoß für die Errichtung von Kaplanlehrgängen ist die zunehmende Zahl inhaftierter afroamerikanischer Muslim*innen, von denen die Mehrzahl oft unrechtmäßig zu übermäßigen Haftstrafen verurteilt wurden – ein Umstand, der auf die weitverbreiteten Vorurteile gegenüber Afroamerikaner*innen beziehungsweise den systemischen Rassismus in den USA zurückzuführen ist. Dank des »Innocence« Project wurden inzwischen viele von ihnen nach Jahrzehnten in Haft freigelassen (IP o. J.). 1.3.5 Islamische Schulen Anfangs waren die muslimisch-amerikanischen pädagogischen Diskurse von antiautoritären Einstellungen geprägt. Mit der Zeit haben sich die islamischen pädagogischen Praktiken in den USA jedoch zunehmend an die heutigen institutionellen Ansätze amerikanischer Bildungsmuster der Grund-, Mittel- und Oberschulen sowie Universitäten angepasst. Obwohl die Überwachung muslimischer Institutionen nach dem 11. September 2001 manche dieser Änderungen vorantrieb, kann das politische Klima allein den grundlegenden Wandel in der islamischen Bildung nicht erklären. Trotz des abgeleiteten Charakters eines Großteils der islamischen Pädagogik halten muslimische Pädagog*innen heute noch an ihrer Überzeugung fest, dass die islamische Erziehung eine wichtige und einzigartige Alternative in der pädagogischen Landschaft der USA darstellt. Die ersten offiziellen amerikanischen islamisch-pädagogischen Institutionen für Kinder und Erwachsene wurden von der Nation of Islam im dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etabliert. 1930 gründete W. D. Fard Elijah die Nation of Islam in Detroit und eine Schule, die er »University of Islam« nannte. Unterrichtet wurden die Kinder – zunächst auf Grundschulebene – von Clara Muhammad, der Ehefrau von Fards erstem Konvertiten zum Islam, Elijah Muhammad, dem späteren Leiter der Nation of Islam (zwischen 1934 und 1974). Bald fungierten auch andere Mütter als Lehrerinnen, oft bei sich zu Hause. Schließlich wurden Schulen in vielen Städten, in denen die Nation of Islam wirkte, gegründet. 1974 gab es bereits 47 University-of-Islam-Schulen. Elijahs Sohn Warith Deen Mohammed benannte die Schulen um in »Clara Muhammad Schools«, um seine Mutter zu ehren, später wurden sie »Mohammed Schools« genannt. Sie vermittelten nicht nur Wissen, sondern auch Selbstvertrauen, Stolz, Moralität und Integrität. Darüber hinaus ermöglichten sie den Schüler*innen, familien- und gemeinschaftsorientierte, staatsbürgerliche, gesetzestreue und

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erfolgreiche Erwachsene zu werden. Anfangs diskutierten die Erzieher*innen der Nation of Islam mit muslimischen Einwander*innen über islamische Bildungsmethoden. Die Unterschiede, die aus ihren unterschiedlichen historischen Bahnen stammten, führten dazu, dass sie die Bemühungen einstellten. Obwohl die Clara Muhammad Schools weiterhin Wert auf akademische Standards legten und den schwarzen Stolz pflegten, zog die sunnitische Theologie in die Theologieklassen der Nation of Islam ein. Als Reaktion auf die Lehrplanreformen von W. D. Mohammed gründete Louis Farrakhan 1989 die K-12-Schulen der University of Islam in den Innenstädten der USA mit Religionsunterricht, der auf der frühen Theologie der Nation of Islam basierte. Anfang des 21. Jahrhunderts gab es in den USA und der Karibik rund 75 Grundschulen und Gymnasien, die als »Modelle islamischer Erziehung mit lobenswerten Ergebnissen« betrachtet wurden. Afroamerikanische Kinder besuchen manchmal islamische Schulen, die von Einwander*innen gegründet worden sind, Einwandererkinder gehen hingegen nur selten auf Mohammed Schools (Grewal & Coolidge 2013, S. 246–251; Muhammad 2005, S. 264). Als muslimische Einwander*innen nach dem Ersten Weltkrieg anfingen, Gemeinschaften zu bilden und zügig Moscheen zu bauen, begannen sie auch, Gemeinschaftsschulen einzurichten. Anfangs fand der Unterricht häufig in freien Räumen der Moscheen statt, später bauten viele Gemeinschaften immer mehr Schulen. Spendengelder unterstützten den Bau von Moscheen und Schulen, Studiengebühren deckten die Betriebskosten und die Gehälter der Lehrer*innen ab. Obwohl die offizielle Anerkennung von Moscheevereinigungen und Schulverwaltungen gesetzlich vorgeschrieben ist, ist die Akkreditierung der Schule freiwillig. Sie ist jedoch ein wichtiges zukünftiges Ziel der meisten Moscheen- und islamischen Schulgemeinschaften. Die Suche nach engagierten, hochqualifizierten und gewissenhaften Lehrer*innen, die trotz der niedrigen Gehälter arbeiten wollen, stellt eine der größten Herausforderungen dar. Die einzige staatliche Finanzierung, die die Schulen erhalten, wird für die Lehrerfortbildung aufgewendet (Rausch 2013a; Rausch 2013b). 1.3.6 Institutionelle, pädagogische und lehrplanmäßige Entwicklungen Die Lehrpläne der islamischen und der öffentlichen Schulen sind in Bezug auf die unterrichteten Fächer identisch, mit Ausnahme der zusätzlichen Unterrichtsstunden, die der arabischen Sprache, der Koranrezitation und den islamischen Lehren und Praktiken gewidmet sind. Diese Ergänzungskurse verlängern den Schultag nur um 20 bis 30 Minuten, da alle Unterrichtsstunden jeweils um drei bis fünf Minuten verkürzt werden. Der Unterricht in allen Kursen wird unabhängig von Inhalt, Thema und Themenbereich durch Rollenspiele und implizite Anwendung islamischer Dispositionen, Einstellungen und Werte vermittelt

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(Rausch 2013a; Rausch 2013b). Integration in die amerikanische Gesellschaft, eine breitere gemeinschaftliche Mitwirkung und bürgerschaftliches Engagement stehen ganz oben auf der Liste der Lehrpläne der islamischen Schulen. Die Mittel, um dies zu erreichen, sind sehr unterschiedlich und zeugen von der Kreativität und dem innovativen Denken der Lehrer*innen und Verwalter*innen. Zahlreiche Aktivitäten und Projekte werden organisiert, um den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, mit Schüler*innen und Lehrer*innen aus öffentlichen Schulen und anderen Mitgliedern der umliegenden Gemeinschaft zu interagieren. Diese Projekte beziehen sich indirekt auf islamische Werte und das Ziel, das Wissen der breiteren Gesellschaft über den Islam zu erweitern, aber auch das Wissen der Schüler*innen über die breitere Gesellschaft sowie interreligiöse und interkulturelle Verständigung zu fördern. Der Prozess fängt oft innerhalb der Schule an, da die Schüler*innen und Mitarbeiter*innen sich häufig aus unterschiedlichen Ethnien und Nationalitäten zusammensetzen (Rausch 2013a). Darüber hinaus profitieren auch die Eltern von den Schüler*innen in islamischen Schulen, vor allem jene, die noch nicht lange im Land leben. Denn auch sie beteiligen sich mitunter an Gemeinschaftsaktivitäten und werden dadurch mit Bereichen der Gemeinschaft vertraut gemacht, die ihnen sonst verschlossen blieben. So führt die islamische Schule zu einer aktiven Teilnahme an der Zivilgesellschaft, wie auch die Wissenschaft nachgewiesen hat (Cristillo 2009, S. 74–80). Die jährlichen ISNA-Konventionen ziehen eine große Anzahl islamischer Schulverwalter*innen und Lehrer*innen sowie Student*innen und Vertreter*innen von Universitätsfakultäten verwandter Bereiche an, die lehren oder erforschen, wie sie Pädagogik und Unterrichtsmethoden zukünftig verbessern können (Memon 2009, S. 23– 26). Islamische Bildung ist auch direkt in die Schule eingebettet. Die Schüler*innen nehmen sich Zeit vom Unterricht, um die obligatorischen Gebetszeiten einzuhalten, Speisen werden nach islamischen Regeln mit Hala¯l-Fleisch zubereitet, ˙ und die Speisekarte enthält oft Gerichte aus der Küche des Nahen Ostens. Schüler*innen und Mitarbeiter*innen grüßen einander, indem sie einander Frieden wünschen, wie es in der gesamten muslimischen Welt üblich ist. Darüber hinaus tragen die Schüler*innen züchtige Uniformen und sitzen in den Klassenzimmern nach Geschlecht getrennt, um die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu respektieren und sich auf intellektuelle Eigenschaften statt auf körperliche Merkmale anderer zu konzentrieren (Rausch 2013a; Rausch 2013b). In den afroamerikanischen Mohammed Schools und in Schulen der Einwanderergemeinschaft wie auch in anderen Religionsschulen der USA herrscht eine ganzheitliche Bildungsvision vor, da Wissen und Werte im Einklang miteinander übertragen werden. Die Ergebnisse zeugen davon, dass dieser Ansatz viele Vorteile hat. Die Leistungen von Schüler*innen beider Arten von islamischen Schulen sind in der Regel überdurchschnittlich und ihre Noten sind oft

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besser als die von Schüler*innen öffentlicher Schulen in den jeweiligen Bundesstaaten. An früheren Generationen von Absolvent*innen zeigt sich, dass viele zudem Hochschulabschlüsse erwerben und später auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet in anspruchsvollen, hart umkämpften und lukrativen Positionen tätig sind (Rausch 2013a; Rausch 2013b). Der Status und die Rolle des Islams und anderer Religionen sowie die Beziehungen zwischen Staat und Religion in den USA haben große Veränderungen durchlaufen. Trotz schädlicher, diskriminierender und unmenschlicher Behandlung erweisen sich amerikanische Muslim*innen als ausdauernd und widerstandsfähig und sehen sich Werten wie soziale Gerechtigkeit, Integrität und Freiheit verpflichtet. Zu ihren positiven Beiträgen für die amerikanische Gesellschaft zählen ihre Schulen, die Schüler*innen verschiedener ethnischer und nationaler Herkunft absolvieren. Darüber hinaus sind deren Leistungen bei standardisierten Prüfungen, beim Einsatz für bürgerschaftliches Engagement und in erfolgreichen Karrieren beispielhaft für die islamischen Grundwerte und zeugen von der Qualität des Unterrichts und der Bildung von muslimischen Schulen. An den Bemühungen, Muslim*innen in der westlichen Gesellschaft zu erziehen und zu integrieren, sind zwei US-kanadische Organisationen beteiligt: die MSA (Muslim Students’ Association), die für Universitätsstudent*innen zuständig ist, und die ISNA (Islamic Society of North America), die sich mit ihrer Publikation Islamic Horizons Magazine an Eltern, Lehrer*innen und die breitere Gesellschaft richtet sowie Möglichkeiten und Einblicke bietet, in der Hoffnung, der gesamten Menschheit weltweit eine positive Zukunft zu sichern. Darüber hinaus veranstalten die USA und Kanada zahlreiche Konferenzen und fördern umfangreiche Universitätsausbildungsprogramme für Imame und Kapläne im Westen. Eines der grundlegenden Aufgabengebiete der Letztgenannten ist die Unterstützung von inhaftierten afroamerikanischen Muslim*innen, deren Lebensumstände zu verbessern die Kapläne bestrebt sind (Memon 2009, S. 23–26).

1.4

Potenzielle Konfliktbereiche und -situationen

Die nationalistischen Bewegungen der Mitte des 20. Jahrhunderts, der israelischpalästinensische Konflikt und andere Ereignisse haben auch die Beziehungen der Muslim*innen zu anderen Amerikaner*innen beeinflusst. Im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert konzentrierten sich viele Muslim*innen auf den Aufbau von Gemeinschaften und Institutionen und auf bürgerschaftliches Engagement und Aktivismus sowie Assimilation. Nichtsdestoweniger führten die iranische Geiselnahme und die Anschläge vom 11. September dazu, dass Muslim*innen zunehmend mit Argwohn betrachtet wurden. Darüber hinaus trugen die Medien dazu bei, dass negative Klischees, die alle Muslim*innen mit Terrorismus und

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Unterdrückung von Frauen in Verbindung bringen, stärker in den Mittelpunkt gerückt werden (El-Aswad 2013). Als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September erklärte Präsident Bush einen Krieg gegen den Terrorismus, und die USA marschierten in Afghanistan ein. Nach der Präsentation vorgeblicher Beweise für die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen durch Saddam Hussein griffen die USA – ungeachtet deren Zurückweisung durch Expert*innen – den Irak an, und Präsident Bush gründete das Ministerium für Heimatschutz. Der Kongress verabschiedete den Patriot Act, der die Regierung unüberwachte Befugnisse über terroristische Verdächtige verlieh (GhaneaBassiri 2010, S. 328–329). Infolge dieser Ereignisse und Maßnahmen wurden Muslim*innen dämonisiert und einer gesetzlich vorgeschriebenen Überwachung unterzogen, was zu allgemeiner Angst vor Muslim*innen und diskriminierender Behandlung von ihnen führte. Während einige Amerikaner*innen die weit verbreitete Islamophobie und Diskriminierung als atypisches Verhalten ablehnen, hatten einer in Kalifornien durchgeführten Umfrage der Islamischen Menschenrechtskommission von 2012 zufolge 30 Prozent der 1.200 befragten Muslim*innen durch Hass motivierte körperliche Angriffe erlebt. 88 Prozent berichteten von negativen Erfahrungen im Alltag einschließlich Diskriminierung am Arbeitsplatz oder in der Schule und Diskriminierung in Form von willkürlicher und ungerechtfertigter Überwachung durch staatliche Behörden, wenn sie die Vorfälle an Vorgesetzte oder Aufsichtsbehörden gemeldet hatten (Ameli et al. 2013, S. 112–153). Einerseits werden die Medien zu Recht für die Verbreitung negativer Klischees verantwortlich gemacht, andererseits ermöglichte Präsident Bushs Patriot Act aus dem Jahr 2001 die rasche Inhaftierung unschuldiger, gesetzestreuer muslimischer Amerikaner*innen unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September, die auf angeblichen, später fallengelassenen Anklagen beruhten. So erhielt auch die New Yorker Polizei die Möglichkeit, ihre lange Liste diskriminierender Handlungen gegen Afroamerikaner*innen und Lateinamerikaner*innen durch eine ungerechtfertigte Überwachung von Muslim*innen zu erweitern, die Feindseligkeit gegenüber Muslim*innen zu verstärken und diese zu schikanieren. Erschrocken und wütend, aber nicht entmutigt, reagierten die Muslim*innen, indem sie durch interreligiösen Dialog und kommunale Bildungsaktivitäten bürgerschaftliches Engagement und Verständnis förderten (GhaneaBassiri 2010, S. 328).

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2.

Islamische Bildung in Kanada

2.1

Einleitung

Kanada ist nach Russland das zweitgrößte Land der Welt. Es besteht aus zehn Provinzen und drei Territorien. Indigene Völker besiedelten einen Großteil davon vor der Kolonialisierung, die mit britischen und französischen Expeditionen im 16. Jahrhundert begann. Im Jahr 1763 gab Frankreich nach einem langen bewaffneten Konflikt die meisten seiner Kolonien auf. Kanada wurde offiziell als föderaler Staat mit vier Provinzen gegründet und ist heute eine föderale parlamentarische Demokratie und eine konstitutionelle Monarchie mit Königin Elizabeth II. als aktuellem Staatsoberhaupt. Offiziell zweisprachig, zählt es international zu den höchstentwickelten Demokratien in Bezug auf staatliche Transparenz, wirtschaftliche Freiheit, bürgerliche Freiheiten, Lebensqualität und Bildung. Aufgrund der umfangreichen Einwanderung ist die kanadische Nation eine der ethnisch vielfältigsten und multikulturellsten Nationen der Welt.

2.2

Muslimische Präsenz

Die ersten kanadischen Muslime waren Einwanderer. Den Einwanderungsakten zufolge immigrierten die schottischen muslimischen Konvertiten Agnes und James Love 1854. Ihr Sohn James Jr. war der erste in Kanada geborene Muslim. Die muslimischen Konvertiten Martha und John Simon immigrierten 1871 aus den Vereinigten Staaten. Bei der ersten Volkszählung 1871 wurden nur 13 Muslim*innen verzeichnet, doch bereits vor dem Ersten Weltkrieg kamen viele muslimische Einwander*innen aus Europa, insbesondere Bosnien, hinzu. Die Lage in muslimischen Ländern, einschließlich Bürgerkrieg und Verfolgung, und andere globale Ereignisse sowie Verheißungen wie Beschäftigung, Hochschulbildung und Religionsfreiheit und die Aufhebung der politischen Präferenzen für europäische Einwander*innen führten in den späten 1960er- und frühen 1970erJahren zu einem starken Anstieg. Bei vielen, die in den 1960er-Jahren eingewandert waren, handelte es sich um Student*innen, die nach ihrem Studium beschlossen, in Kanada zu bleiben. Trotz weiterer Anstiege nach dem Zweiten Weltkrieg blieben Muslim*innen eine Minderheit (MAC o. J.). In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nahm Kanada Einwander*innen aus vielen muslimischen Ländern, darunter Bosnien-Herzegowina, Albanien, Bangladesch, Pakistan und dem Jemen, auf. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kamen Wirtschaftseinwander*innen. Darunter waren zahlreiche qualifizierte Fachkräfte, die für hochbezahlte Arbeitsplätze rekrutiert wurden. Einige von ihnen standen vor Herausforderungen in Bereichen wie Ak-

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kreditierung und Beschäftigung. Trotzdem war ihre Einwanderung in das breitere kanadische Mosaik weitgehend erfolgreich. Die Einwanderung nahm weiter zu und förderte ethnische Gemeinschaften, wodurch sich Kanadas Engagement für Multikulturalismus verstärkte (MAC o. J.). Der nationalen Haushaltserhebung zufolge lebten 2011 in Kanada 1.053.945 Muslim*innen, was 3,2 Prozent der Bevölkerung entspricht. Damit ist der Islam nach dem Christentum die Religion mit der zweitgrößten Anzahl an Mitgliedern. Im selben Jahr lebten 424.925 Muslim*innen im Großraum Toronto (7,7 Prozent der Gesamtbevölkerung), wovon die Mehrheit aus Bangladesch, Indien, Pakistan, Iran und Saudi-Arabien stammte. Muslim*innen, die im Großraum Montreal lebten, machten insgesamt 221.040 Einwohner*innen aus, also sechs Prozent der Bevölkerung. Darunter waren Muslim*innen aus West- und Südeuropa, der Karibik, Nordafrika, dem Nahen Osten und dem indischen Subkontinent. Im Jahr 2011 belief sich die Zahl der in der Hauptstadt Ottawa lebenden Muslim*innen auf 65.880 (5,5 % der Bevölkerung). Darunter waren viele Südasiat*innen, Libanes*innen und Somalier*innen. Heutzutage findet man Muslim*innen in fast jeder größeren Stadt, so in Vancouver (73.215, über ein Drittel davon iranischer Abstammung), Calgary (58.310), Edmonton (46.125), Windsor (15.575), Winnipeg (11.265) und Halifax (7.540). Edmonton und Calgary sind aufgrund ihrer blühenden Volkswirtschaften schnell gewachsen. Die meisten kanadischen Muslim*innen sind Sunniten, während Schiiten und Ahmadi eine bedeutende Minderheit bilden (MAC o. J.).

2.3

Mögliche Konfliktbereiche

Die Fertilitätsrate ist bei Muslim*innen höher als bei anderen Kanadier*innen. Da die »Kanadische Charta der Rechte und Freiheiten« die Freiheit der religiösen Meinungsäußerung garantiert, sind Muslim*innen offiziell keiner religiösen Diskriminierung ausgesetzt. Gemäß Abschnitt 2a der Charta ist das Tragen des higˇa¯b (Kopfschleier) in Schulen und Arbeitsstätten erlaubt, außer in Quebec, wo ˙ medizinische Einrichtungen auch nicht verpflichtet sind, dem Wunsch muslimischer Frauen nach Behandlung durch weibliches Personal nachzukommen. 2011 erließ die Regierung ein Verbot des Tragens des niqa¯b (Gesichtsschleier) bei Einbürgerungszeremonien, das vom Bundesgericht wieder aufgehoben wurde. Die Aufhebung wurde jedoch 2015 vom Obersten Gerichtshof zurückgewiesen. Religiöse Feiertage und Ernährungsbeschränkungen werden respektiert. Es gibt 18 muslimische Bauernhöfe mit Schlachthöfen und viele Hala¯l-Restaurants, ˙ davon 14 im Großraum Toronto. Schwieriger gestaltet sich die Einhaltung des islamischen Wucherverbots. Kanadische Muslim*innen, die Familiengerichte fordern, um ihre Familienangelegenheiten zu regeln, werden von konservativen

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und liberalen muslimischen wie auch nichtmuslimischen Gruppen heftig angefeindet (MAC o. J.).

2.4

Muslimische Organisationen

Die erste muslimische Organisation wurde 1934 in Regina (Sasketchewan) von libanesischen Einwander*innen gegründet. Die Muslim Student Association (MSA), eine gemeinsame US-amerikanische und kanadische Organisation, gegründet 1963 in Illinois, widmet sich der Gründung, Pflege und Unterstützung ihrer angegliederten Zweige sowie auch anderer Islamischer Organisationen an Universitäten in den USA und Kanada. Die Islamic Society of North America (ISNA), ebenfalls eine gemeinsame US-amerikanische und kanadische Organisation, wurde 1982 gegründet (zu weiteren Einzelheiten zu diesen beiden Organisationen siehe den Abschnitt über muslimische Organisationen in den USA). Im Laufe der Jahre wurden weitere lokale und nationale kanadische muslimische Organisationen gegründet, um die Bedürfnisse muslimischer Gemeinschaften zu befriedigen. Am bedeutendsten in Bezug auf Reichweite und Wirkung ist die Muslim Association of Canada (MAC o. J.). Ziel der 1997 gegründeten MAC ist die Förderung einer muslimischen Gemeinschaft in Kanada, die ein ausgewogenes und gemäßigtes Verständnis des Islams hat und sich aktiv in der Gesellschaft engagiert. Ihre Gründer waren bereits in lokalen und nationalen Organisationen tätig. In den späten 1990erJahren jedoch herrschte das Gefühl, dass etwas fehlte. Sie hatten das Bedürfnis, die Kluft zu überwinden, indem sie den Muslim*innen halfen, positiv zu ihren Gemeinden beizutragen. Seitdem hat sich MAC zu einer nationalen Grundorganisation entwickelt mit Zweigen in ganz Kanada und religiösen und sozialen Programmen, die wertvolle Gemeinschaftsdienstleistungen anbieten. Es handelt sich um eine religiöse, pädagogische und soziale gemeinnützige Organisation mit Programmen und Dienstleistungen für die ganzheitliche erzieherische und spirituelle Entwicklung von Muslim*innen und ihren Familien. Die Organisation hat keine offiziellen Verbindungen zu anderen Organisationen, arbeitet aber mit vielen Verbänden zusammen, um allen Gemeinschaften zu helfen, wobei die ganzheitliche Botschaft des Islams im Kontext einer pluralistischen Gesellschaft betont wird. Die persönliche Entwicklung jedes Einzelnen gilt als Schlüssel zu einem fruchtbaren Engagement innerhalb der Gemeinschaft und fördert ein konstruktives, ausgewogenes und engagiertes Verständnis des Islams. Sie besitzt und betreibt Gemeindezentren, Moscheen, Jugendzentren und muslimische Ganztags- und Halbtagsschulen. 1997 erwarb sie ihr erstes Gemeindezentrum in Toronto. Vielen neuen Einwander*innen half sie, sich an ihre neue Umgebung zu

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gewöhnen, und unterstützte junge Menschen bei der Entwicklung ihrer Identität als kanadische Muslim*innen (MAC o. J.). Darüber hinaus gibt es auch eine Organisation für Muslim*innen anstatt von Muslim*innen unter dem Namen »A New Life in a New Land«, diese bietet – im Sinne von Kanadas integrativer multikultureller Politik – eine Dokumentationsreihe und ein Medienprojekt mit aktuellen und genauen Informationen über den Islam und die Muslim*innen in Kanada. Das Medienprojekt überwindet Barrieren und beseitigt negative Stereotypen, die Rassismus und Diskriminierung befeuern. Insbesondere die tragischen Ereignisse vom 11. September 2001 ließen es für die muslimische Gemeinschaft in Kanada und den USA geboten erscheinen, Pädagog*innen und der Öffentlichkeit Quellen über den Islam und Muslim*innen zur Verfügung zu stellen. Leiter des Projekts sind Flordeliza Dayrit und Michael Milo, Verfasserin der Serie und des Leitfaden für Erzieher*innen ist Saira Rahman und der Animateur der Serie ist Dawud Wharnsby. Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit der Universität von Saskatchewan und erhält unter anderem Finanzmittel von der Regierung von Saskatchewan, der Universität von Saskatchewan, dem Saskatchewan Arts Board, Vision TV SCN, dem kanadischen Bildungsfernsehen, der Olive Tree Foundation, dem Muslimischen Rat von Calgary, der British Columbia Muslim Association, der Islamic Association of Saskatchewan, dem Islamic Information Center und der Meser Charitable Foundation sowie der Al-Rashid Mosque-Gemeinde in Edmonton (Alberta), die seit über einem Jahrhundert besteht. Es berichtet über innovative Projekte, darunter den Bau der ersten Moschee in Kanada. Die Webseite wurde teilweise von ihr finanziert (NLNL o. J.).

2.5

Islamische Bildungseinrichtungen

In Kanada gibt es fünf Arten von Einrichtungen, die islamische Bildungsprogramme anbieten: islamische Zentren, Moscheen, Medresen, muslimische Schulen und Kaplan-Ausbildungsprogramme. 2.5.1 Islamische Zentren Es gibt ungefähr 200 sunnitische und fünf schiitische islamische Zentren. Viele von ihnen sind mit Moscheen und muslimischen Schulen verbunden. Die meisten bieten Hochzeitszeremonien und Trauerfeierlichkeiten sowie abendliche Koran-Studiengruppen, Samstagsunterricht und Sommercamps an. Zwei prominente Beispiele sind das Al-Nadwa Educational Islamic Center und die AlHuda Muslim Society.

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Das Al-Nadwa Educational Islamic Center wurde im Jahr 2000 in Richmond Hill in Ontario gegründet. Es handelt sich dabei um eine gemeinnützige Organisation, die Islamunterricht, Freitagsgebet und Gemeinschaftshilfe für in Richmond Hill lebende Muslim*innen anbietet. Lehrveranstaltungen und Online-Programme kombinieren moderne und traditionelle Instrumente und Methoden, um ein tiefes Verständnis der Anleitung des Korans, der Sunna und der frühen islamischen Gelehrsamkeit zur Bewältigung zeitgemäßer Herausforderungen zu vermitteln (ANEIC o. J.). Die Al-Huda Muslim Society ist eine schiitische islamische Non-Profit-Organisation in Scarborough (Ontario). Ihr Ziel ist es, die Lehren des Islams gemäß ˇ a’farı¯-Denkschule zu fördern und eine sichere islamische Atmosphäre für der G Erwachsene, Jugendliche und Kinder zu schaffen. Sie wurde 1993 von einer Gruppe von Familien gegründet, die das Bedürfnis nach einer Einrichtung zur Unterstützung ihrer Gemeinschaft und zum Erhalt der kulturellen und islamischen Atmosphäre hatten. Nachdem die Al-Huda Muslim Society einige Jahre lang Versammlungen in einer gemieteten Anlage abgehalten hatte, hatte sie ausreichende Mittel gesammelt, um 1996 ihr erstes Grundstück zu erwerben, das es ihr erlaubte, zu expandieren. Obwohl verschiedene Komitees Vollzeit daran arbeiteten, um ihre Programme erfolgreich durchzuführen, war die Gemeinde zu groß für den Raum. Außerdem waren die Schul- und Jugendprogramme aufgrund mangelnder Einrichtungen begrenzt. 2005 begannen sie, nach einer Lösung zu suchen. Nachdem sie jahrelang Spenden gesammelt und ihre Möglichkeiten geprüft hatten, kauften sie eine neue Einrichtung, in der sie die Dienste einer Moschee, einer Schule, eines Jugendzentrums und eines Kultur- und Bildungszentrums anbieten konnten. Heute arbeitet das Jugend- und Schulprogramm mit den höchsten Zahlen an Teilnehmer*innen, die jemals erreicht wurden. Ihre Ziele sind die Verbesserung der Gemeinschaft und die Ausbildung von Führungskräften, die den Wohlstand von Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften fördern (AHMS o. J.). 2.5.2 Moscheen Die erste kanadische Moschee, die Al-Rashid-Moschee, wurde 1938 in Edmonton in Alberta errichtet, als die Zahl der dort lebenden Muslim*innen etwa 700 erreicht hatte. Die Idee, eine Moschee zu bauen, kam von einer Gruppe muslimischer Frauen, die sich an den Bürgermeister John Fry wandten, um ein Stück Land zu kaufen. Die älteste Moschee in Ontario und die zweitälteste in Kanada wurde 1955 erbaut. In Toronto lebende Bosniak*innen und Albaner*innen hatten das Projekt initiiert und waren die Hauptverantwortlichen für die Gründung der ersten drei Moscheen. Asiatische Muslim*innen gründeten die JamiMoschee 1968. Albaner*innen und Bosniak*innen gründeten später ihre eigenen

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Moscheen in Toronto, die Albanisch-Muslimische Gesellschaft und die Bosnische Moschee im Bosnisch-Islamischen Zentrum (NLNL o. J.). Derzeit gibt es in Kanada 523 auf alle Provinzen und Territorien verteilte Moscheen, die beträchtlichen muslimischen Gemeinschaften dienen. Im Großraum Toronto dienen 70 Moscheen 250.000 Muslim*innen. Die meisten kanadischen Moscheen bieten islamische Unterrichtsstunden am Abend und am Wochenende sowie frei zugängliche Veranstaltungen an, bei denen die breite Öffentlichkeit Islamische Zentren und Moscheen besuchen kann, um etwas über den Islam zu lernen. Besucher*innen sind aber auch zu anderen Zeiten herzlich willkommen (NLNL o. J.). 2.5.3 Medresen – Religiöse Hochschulinstitute bzw. Seminare Es gibt drei islamische Seminare bzw. Hochschulinstitute (mada¯ris). Dazu gehören das Al-Rashı¯d Institute, die Jamʿı¯a Ahmadiyya und das Al-Huda Institute in Kanada. Sie unterscheiden sich stark in Bezug auf Herkunft, Strukturen, Perspektiven, Ansätze, Entwicklungen und Finanzierungsquellen. 2.5.3.1 Al-Rashı¯d Institute Die erste madrasa (islamisches Seminar) in Kanada, das Al-Rashı¯d Institute, das huffaz (Koranspezialisten) und ʿulama¯’ (Islamische Gelehrte) ausbildet, wurde ˙ ˙ 1980 von Maulana Mazhar Alam, ursprünglich aus Bihar in Indien, unter der Leitung seines Lehrers, des führenden indischen Tablı¯g˙¯ı-Gelehrten Sˇayh al-hadı¯t ˘ ˙ ¯ Muhammad Zakariya Kandhlawi, an einem provisorischen Ort in Montreal gegründet und zog, wie ursprünglich geplant, 1985 nach Cornwall (Ontario) um. Es ist nach der traditionellen Hanafı¯-Denkweise ausgerichtet. Da es nahe der ˙ amerikanischen Grenzstadt Massena liegt, gab es in der Vergangenheit einen hohen Anteil an amerikanischen Studenten. Sein prominentester Absolvent, Sˇayh Muhammad al-Shareef, der Anfang der 1990er-Jahren sein hifz (Speziali˙ ˙ ˘ sierung auf und Auswendiglernen des Korans) absolvierte, gründete 2001 das AlMaghrib Institute, ein Zentrum für Islamstudien in Houston (Texas), das heute eine islamische Universität für fortgeschrittene islamische Studien ist (http:// www.alrashid.ca/about.php). 2.5.3.2 Ja¯mi’ah al-Ahmadı¯yyah Ja¯mi’ah al-Ahmadı¯yyah (Ahmadiyya-Universität) ist laut ihrer Webseite ein islamisches Seminar und Bildungsinstitut mit Zweigen in Bangladesch, Kanada, England, Deutschland, Ghana, Indien, Indonesien, Malaysia, Nigeria, Pakistan und Tansania. Es richtet sich nach einem internationalen islamischen Lehrplan, der als Teil der 1906 vom Gründer der Ahmadiyya Muslim Gemeinschaft (Jamaʿat) Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad gegründeten Taʿlim-ul-Islam Hochschule

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entstanden. Dieser spürte das Bedürfnis nach einer Hochschule (madrasa), um die nächste Generation von Ahmadi-Gelehrten und Imamen auszubilden. Einzelheiten über den Zweig, der seinen Hauptsitz in Maple, Ontario hat, befinden sich auf der Webseite mit dem Titel Bildungsministerium Ta’lim AMJ Kanada (TAMJK o. J.) der Ahmadiyya Muslim Jamaʿat (AMJ o. J.), auf welcher sich die Gemeinde als internationale, islamische, schnell wachsende und dynamische Wiederbelebungsbewegung präsentiert. 1889 entstanden, umfasst sie heute mehr als 200 Länder und hat eine globale Mitgliedschaft, die zehn Millionen übersteigt. Auch auf der Webseite des Bildungsministeriums werden andere Schulungsstufen aufgelistet, die die AMJ Kanada anbietet. Sie beginnen mit der AMJGrundschule, welche die Stufen eins bis sieben umfasst und von den Schüler*innen gleichzeitig mit dem Sonntagsprogramm besucht wird. Dieses bietet Religionsunterricht von der ersten bis zur zwölften Klasse. Darüber hinaus gibt es auch ein an Mädchen gerichtetes Programm der ʿAisha Academy (http://www.aishaacademy.ca/). Dieses beginnt mit einem zweijährigen Kurs, der sich auf das Auswendiglernen des Korans konzentriert. Danach melden sich Schülerinnen für das dreijährige Mubashira-Abschlussprogramm an, welches sie auf ein Leben voll Dienstleistung und Segen vorbereitet. Schließlich folgt das einjährige Islamic Sociology Diploma Program, das die Schülerinnen darin unterrichtet, wie sie zu Hause islamische Glückseligkeit einkehren lassen können. Die Ahmadiyya-Universität von Kanada richtet sich nach demselben Lehrplan wie die anderen Einrichtungen weltweit. Erfolgreiche Schüler*innen erhalten das Sˇahı¯d-Zeugnis nach erfolgreichem Abschluss des siebenjährigen Kurses über islamische Theologie und vergleichende Religionswissenschaft. Nach Ermessen von Hadhrat Khalifatul Masih können sie dann in das Team von AhmadiyyaMissionar*innen und Wissenschaftler*innen aufgenommen werden. Die AMJ in Kanada wurde von Hadhrat Khalifatul Masih IV 2003 genehmigt. Regelmäßiger Unterricht findet seit dem 7. September 2003 statt. Der Lehrplan und die akademische Infrastruktur bestehen aus drei Stufen: die erste Stufe dauert zwei Jahre, die zweite drei Jahre und die dritte zwei Jahre. Die Unterrichtssprache ist Englisch und das Studierendenalter für die Zulassung im ersten Jahr beträgt 17 bis 20 Jahre. Voraussetzung ist der erfolgreiche Abschluss der zwölften Klasse. 2.5.3.3 Al-Huda Institute Al-Huda International ist laut Webseite »eine gemeinnützige, nicht sektiererische, nicht politische Organisation«, die derzeit daran arbeitet, authentisches islamisches Wissen zu fördern. Das Al-Huda Institute Canada hat sein Bildungsprogramm im Jahr 2001 begonnen und bietet nun strukturierte Kurse für Menschen aus allen Lebensbereichen an. Es bietet auch Online-Kurse, Workshops sowie eine Vielzahl von Veröffentlichungen und Multimedia-Downloads an. Das Hauptziel des Al-Huda Institute ist es, ein wahres Verständnis der

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göttlichen Offenbarung, des Korans und der Sunna zu vermitteln. Die Kurse sollen es Studierenden ermöglichen, eine enge Beziehung zum Schöpfer aufzubauen, inneren Frieden zu finden, einen guten Charakter zu entwickeln, effektive zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen und nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu werden, die sich für einen besseren Dienst an der Menschheit einsetzen. Das Al-Huda Institute, das Vollzeitstudierende sowie berufstätige Frauen und Hausfrauen betreut, hat bereits 10.000 Absolventinnen hervorgebracht. Al-Huda spricht auch Frauen in ländlichen Gebieten, Mitarbeiter und Insassen des Gefängnissystems sowie Frauen in Krankenhäusern an (Al-Huda Institute o. J.). Seine Gründerin, Farhat Hashmi, ist vollverschleiert. Sie hat an der Universität Glasgow in Islamwissenschaft promoviert. Sie betont, dass sie sich für die Befreiung, Ermächtigung und Bildung von Frauen einsetzt und sich als islamische Feministin betrachtet. Von ihren Kritiker*innen wird sie jedoch eher als Fundamentalistin charakterisiert. Größter Beliebtheit erfreut sie sich ironischerweise bei westlich geprägten, englischsprachigen, gebildeten Frauen in Pakistan, wovon die bis zu 1.000 Teilnehmerinnen zeugen, die bei ihren öffentlichen Reden anwesend sind. Sie konzentriert sich auf die alltäglichen praktischen Aspekte des Islams und führt die Popularität ihrer Vorträge darauf zurück, dass die Menschen eigentlich verzweifelt nach Religion suchen. Gemäß Hashmi gibt es heute eine verstärkte Suche nach Richtung und Führung. Ihr Ziel ist die Wiederbelebung der authentischen islamischen Bildung (Esposito 2010, S. 124–25).

2.6

Muslimische Schulen

Unabhängige Religionsausbildung wird in der Provinz Ontario nicht öffentlich gefördert – mit Ausnahme des katholischen Schulsystems – aufgrund der verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Konföderation, in der die britischen Kolonien Kanada, Neuschottland und New Brunswick zu einer Herrschaft vereinigt wurden. Die alte Provinz Kanada wurde in die Provinzen Ontario und Quebec aufgeteilt; mit Nova Scotia und New Brunswick bestand die Konföderation somit aus vier Provinzen. Seit der Konföderation hat Kanada zahlreiche territoriale Änderungen und Erweiterungen erlebt, die zur Vereinigung von zehn Provinzen und drei Territorien geführt haben. In einigen Bundesländern stehen derzeit öffentliche Mittel für muslimische Schulen zur Verfügung. Unabhängige religiöse Bildung als Alternative zur öffentlichen Bildung hat in Kanada eine sehr lange Geschichte. Vor allem die katholische, die jüdische, die Hutterer- und die mennonitische Gemeinschaft haben sehr alte alternative Institutionen, um die Wahrung ihres Glaubens, ihrer Praktiken und ihrer Identität sicherzustellen. Verglichen mit diesen ist die muslimische Gemeinschaft relativ

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jung und neu. Viele Muslim*innen haben mit den Auswirkungen der öffentlichen Bildung zu kämpfen und betrachten unabhängige religiöse Bildung als eine praktikable Alternative zur säkularen öffentlichen Bildung. Die meisten kanadischen Muslim*innen leben in der Greater Toronto Area (GTA), daher war das Bestreben, eine unabhängige religiöse Erziehung zu entwickeln, dort am stärksten. Mitte der 1990er-Jahre herrschte ein großes Bedürfnis nach unabhängigen islamischen Schulen, das zur Entwicklung mehrerer Vollzeiteinrichtungen für die Ausbildung muslimischer Kinder führte. Bis Ende des Jahres 1999 waren in der GTA 19 muslimische Schulen gegründet worden, und mehrere weitere waren in der Planungsphase. Heute gibt es in Kanada etwa 170 sunnitische und fünf schiitische muslimische Schulen. Eine Alternative bietet laut Homepage Dar ul-Uloom Canada, ein privates Internat für Schüler*innen der Klassen fünf bis acht. Es bietet »eine islamische Umgebung, in der junge, in der Entwicklung befindliche Intellektuelle zusammenkommen, um zu lernen. Seine engagierten und erfahrenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben einen gemeinsamen Glauben. Sie arbeiten mit Eltern und Schüler*innen zusammen, die einzigartige Qualitäten für ein gemeinsames Ziel mit sich bringen« (DUC o. J.).

2.7

Seelsorge und Imam-Ausbildungsprogramme

Zurzeit gibt es nur ein Chaplain Training Program in Kanada. Das Programm Islamic Spiritual Care and Theology am Emmanuel College der Victoria University – Teil der University of Toronto – begann im Jahr 2010. Die Mehrheit der Kapläne, die heute in Kanada tätig sind, haben einen Teil ihrer Ausbildung an amerikanischen und europäischen Institutionen absolviert. Die meisten sind auch Mitglieder der Association of Muslim Chaplains, der zentralen Verwaltung für kanadische Kapläne (AMC o. J.). Ebenfalls nur ein Ausbildungsprogramm gibt es für Imame und zwar im Zentrum für Dekanstudien (https://centrefordeenstudies.com/about-us). Das Zentrum wurde 2011 in Mississauga, in Ontario gegründet, um dem dringenden Bedürfnis nach Imamen abzuhelfen. Auch kanadische Imame haben eine zentrale Verwaltung, das Canadian Council of Imams (CCI o. J.).

2.8

Institutionelle, pädagogische und lehrplanmäßige Entwicklungen

Die Interaktion sowohl zwischen Wissenschaftler*innen und Professor*innen an öffentlichen Einrichtungen, die sich auf Islamwissenschaft und Erziehung spezialisiert haben, als auch Verwalter*innen und Lehrer*innen an islamischen

Islamische Bildung in den USA und Kanada

1335

Schulen, hat zur Verbesserung des Lehrplans und der Pädagogik an islamischen Schulen beigetragen. Die Verbindungen zwischen diesen beiden Gruppen wurden durch die Teilnahme an ISNA-Konferenzen, die sich speziell auf die lehrplanmäßige und pädagogische Entwicklung konzentrieren, verbessert. Es gibt die Möglichkeit der Ausbildung in islamischen Schulen als tragfähige Alternative zur Ausbildung, die in öffentlich-säkularen Schulen angeboten wird. Weitere Informationen sind unter »pädagogische und lehrplanmäßige Entwicklungen in islamischen Schulen« im Abschnitt »Islamische Bildung« im Teil dieses Beitrags über islamische Bildung in den USA enthalten (Rausch 2013a). Zwei wissenschaftliche Studien bieten Einblick in die Methoden, die an islamischen Schulen angewandt werden. In ihrer Studie zu zwei kanadisch-islamischen Schulen untersuchte Jasmin Zine Techniken zur Islamisierung von Wissen, die von Lehrern an den Schulen eingesetzt wurden, um der Forderung des Korans zu entsprechen, dass die Menschen ihren Intellekt verwenden sollen, um die Zeichen in der Schöpfung zu studieren und von ihnen zu lernen. Darüber hinaus soll nachgeforscht werden, auf welche Art und Weise frühere Gelehrte diesem Ruf folgten und wesentlich zum menschlichen Fortschritt beitrugen. Im Mathematik-, Geschichts- und Naturwissenschaftsunterricht integrierten die Lehrer Koranverse, die für die behandelten Themen relevant waren: natürliche Phänomene und Prozesse, aber auch Beispiele für Fortschritte und Entdeckungen früherer muslimischer Gelehrten in diesen Bereichen, einschließlich jener, deren Konzepte und Methoden für die Mathematik von zentraler Bedeutung sind, wie Algorithmus (al-Hwa¯rizmı¯) und Algebra (al-gˇabr), und anderen, deren Er˘ kenntnisse und Beiträge zu bedeutenden Entdeckungen und Fortschritten in Bereichen der Medizin (Ibn Sı¯na¯) führten und letztendlich dazu beitrugen, dass es in allen muslimischen Großstädten Krankenhäuser gab, lange bevor die Europäer die Medizin als Studienfach und das Krankenhaus als Institution eingeführt hatten (Zine 2008, S. 18–22). Auf diese Weise werden muslimische Kinder auf die bedeutenden Dimensionen ihres Glaubens, ihrer Geschichte und ihres Erbes aufmerksam und entwickeln ein Gefühl von Stolz (Zine 2008, S. 23). Claire Alkouatli untersucht in ihrem Artikel über Pädagogik die Art und Weise, wie ein Lehrer an einer islamischen Schule in Kanada seine Interaktionen mit seinen Schüler*innen in Einklang mit Techniken bringen kann, die der Prophet Muhammad auf den Grundlagen des Korans entwickelt und im Umgang ˙ mit den Mitgliedern seiner Gemeinschaft verwendet hat. Basierend auf diesen Techniken entwickelte Alkouatli drei Themen: Beziehungspädagogik, Pädagogik des gegenseitigen Engagements und Pädagogik der bewussten Wahrnehmung. Die Beziehungspädagogik »fordert die Menschen [auf], intersubjektive Beziehungsfähigkeiten, moralisch-ethische Bindungen und vernünftig-moralisches Denken zu entwickeln« durch »das Schaffen von einem warmen Beziehungsklima« und »die Zuneigung, die von den Lehrern den Kindern gegenüber vorgezeigt

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wird« (Alkouatli 2018, S. 6). Das zweite Thema behandelt die Pädagogik des gegenseitigen Engagements und veranschaulicht das gemeinsame Tun, Sprechen und Fragen, jene Elemente, auf denen Muhammads wirksame Pädagogik be˙ ruhte (Alkouatli 2018, S. 9). Der Erzieher in der Studie nutzte diese Methode, um seine Schüler*innen in das gemeinsame Gebet einzuleiten, mit dem Ziel, »die Kinder in eine komplexe Gemeinschaftspraxis einzubringen und sie mit den notwendigen Fähigkeiten auszustatten, um ein durch Ritualgebet strukturiertes Leben führen zu können und einen Einblick in eine mögliche Zukunft als religiöser Führer zu geben« (Alkouatli 2018, S. 10). Das dritte Thema, »das Bewusstsein für den Islam als ein konzeptuelles System, das durch die Verfeinerung der Vermittlung und Reflexivität erweitert wird, […] greift ein grundlegendes epistemisches Konzept der Lernenden auf, das für die Selbstentwicklung gerüstet ist, wodurch jeder über Instrumente verfügt, um Wissen zu sammeln, zu reflektieren, zu analysieren, zu merken und zu nutzen und um Sinn zu machen – sie verkörpern Sinnesorgane, Erkenntnis und Emotion«. Laut Alkouatli »solle der Erzieher Mediation auf mindestens zwei Arten nutzen: direkte Unterweisung und vermittelte Partizipation mit unterschiedlichen Antworten seiner Schüler« (Alkouatli 2018, S. 12). Ausgehend von Beobachtungen war Alkouatli der Meinung, dass das Niveau der Verfeinerung der Reflexivität bei den Lehrern noch mangelhaft sei (Alkouatli 2018, S. 13). Diese beiden und andere, ähnliche auf praxisorientierter Forschung basierende Beiträge von Hochschullehrer*innen zeigen beispielhaft die Art der Zusammenarbeit und des Austauschs zwischen Lehrer*innen und Expert*innen, die für die Verbesserung der Bildungsqualität in muslimischen Schulen in Kanada und anderswo entscheidend ist. Sie können Lehrer*innen in muslimischen Schulen in Kanada und anderswo dabei helfen, ihre Lehrpläne und Lehrmethoden zu verbessern und zu erweitern. Die jährliche ISNA-Tagung ist ein wichtiger Ort für Wissenschaftler*innen, Pädagog*innen, Lehrer*innen und Leiter*innen muslimischer Schulen, ihre Erkenntnisse und Beobachtungen auszutauschen und mit den Ergebnissen muslimische Schulen zu verbessern.

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Verzeichnis der Autor*innen

El Abdaoui, Khalid: Dr., Senior Lecturer, Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik, Universität Innsbruck Agbaria, Ayman: Dr., Senior Lecturer, Fachbereich Education Policy and Politics, University of Haifa Akgönül, Samim: Prof. Dr., Fachbereiche: Geschichte, Politikwissenschaften, Turkish Studies, Université de Strasbourg Ali, Muhamed: Dr., Fakultät für Rechtswissenschaften, International University of Sarajevo Altas¸, Nurullah: Prof. Dr., Fakultät für Theologie, Marmara Üniversitesi Aslan, Ednan: Prof. Dr., Institut für Islamisch-Theologische Studien, Fachbereich Islamische Religionspädagogik, Universität Wien Atanasova, Rositsa: Anwältin, Gesellschaftswissenschaftlerin, tätig im Bereich Migration und Flüchtlingsrecht in Bulgarien Aysel, Asligül: Dr.in, Professur für die sozialwissenschaftliche Erforschung des Islams im Europa des 20. und 21. Jahrhunderts, Institut für Soziologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Badawia, Tarek: Prof. Dr., Professor für Islamisch-Religiöse Studien mit Schwerpunkt Religionspädagogik/Religionslehre, Philosophische Fakultät, Fachbereich Theologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Baiza, Yahia: Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute of Ismaili Studies, London

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Verzeichnis der Autor*innen

Bakker, Cok: Prof. Dr., Professor für Religions- und Weltanschauungspädagogik, Universität Utrecht Behr, Harry Harun: Prof. Dr., Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam, Fachbereich Islamische Religionspädagogik und Fachdidaktik des Islamischen Religionsunterrichts, Goethe-Universität Frankfurt Biondo, Vincent F.: Dr., Religious Studies, College of Arts, Humanities and Social Sciences, Humboldt State University, Arcata Çakir-Mattner, Naime: Prof.in Dr.in, Professur für Islamische Theologie mit dem Schwerpunkt muslimische Lebensgestaltung, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Justus-Liebig-Universität Gießen Cavis, Fatima: Dr.in, Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems Ceylan, Rauf: Prof. Dr. Dr., Professor für gegenwartsbezogene Islamforschung, Institut für Islamische Theologie, Universität Osnabrück Chbib, Raida: Dr.in, Lehrstuhl für Religionswissenschaft, Centrum für Religionswissenschaftliche Studien, Ruhr-Universität Bochum Cieciura, Włodzimierz: Dr., Assistant Professor am Institut für Sinologie, Universität Warschau Dawoud, Mohamed: Dr., Islamwissenschaftler, Fachbereich Islamische Religionspädagogik, Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Freiburg Ebrahim, Ranja: Dr. in, Islamisch-Theologische Textwissenschaften, Institut für Islamisch-Theologische Studien, Universität Wien Ermert, Dorothea: MA, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Professur für Islamische Theologie und ihre Didaktik, Justus-Liebig-Universität Gießen Ers¸an Akkılıç, Evrim: Dr.in, Institut für Islamisch-Theologische Studien, Fachbereich Islamische Religionspädagogik, Universität Wien Faridzadeh, Ghazaleh: Dr.in, Institut für Orientalistik, Universität Wien Güler, I˙lhami: Prof. Dr., Theologische Fakultät, Ankara Üniversitesi

Verzeichnis der Autor*innen

1341

Hajatpour, Reza: Prof. Dr., Lehrstuhl für Islamisch-Religiöse Studien mit Systematischem Schwerpunkt, Philosophische Fakultät, Fachbereich Theologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Hermansen, Marcia K.: Prof.in Dr.in, Islamic World Studies Program und Professorin am Institut für Theologie, Loyola University Chicago Is¸ık, Tuba: Prof.in Dr.in, Professorin für Islamische Religionspädagogik und Praktische Theologie, Berliner Institut für Islamische Theologie, HumboldtUniversität zu Berlin Jacobs, Andreas: Dr., Koordinator Islam und Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung El Jamouhi, Yassir: Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Georg-August-Universität Göttingen Karagedik, Ulvi: Dr., Institut für Islamische Theologie/Religionspädagogik, Pädagogische Hochschule Karlsruhe Karakoç, Betül: Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Doktorandin), Goethe-Universität Frankfurt am Main Kellner, Martin: Dr., Vertretungsprofessur, Institut für Islamische Theologie, Universität Osnabrück Khorchide, Mouhanad: Prof. Dr., Professor für Islamische Religionspädagogik, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Kiliçdag˘i, Durdane: MA, Islam in der Gegenwartsgesellschaft, Institut für Islamisch-Theologische Studien, Universität Wien Koçyig˘it, Ibrahim: MA, Islam in der Gegenwartsgesellschaft, Institut für Islamisch-Theologische Studien, Universität Wien Kuehn, Sara: Dr.in, Lehrbeauftragte, Institut für Islamisch-Theologische Studien, Universität Wien

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Verzeichnis der Autor*innen

Kulaçatan, Meltem: Dr.in, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Islamische Religionspädagogik und Fachdidaktik des Islamischen Religionsunterrichts, Goethe-Universität Frankfurt Louhichi-Güzel, Soumaya: Dr.in, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam, Goethe-Universität Frankfurt Malik, Jamal: Prof. Dr., Professur für Islamwissenschaft, Philosophische Fakultät, Universität Erfurt Nielsen, Jørgen: Prof., Institut für Theologie und Religion, University of Birmingham Ourghi, Abdel Hakem: Prof. Dr., Professur für Islamische Theologie/Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg Polat, Mizrap: Prof. Dr., Humanwissenschaftliche Fakultät, Abteilung für Soziologie, Erzurum Atatürk Üniversitesi Rausch, Margaret: Dr.in, unabhängige Wissenschaftlerin und Hochschullehrbeauftragte für Religions- und Islamwissenschaften Sarιkaya, Yas¸ar: Prof. Dr., Professur für Islamische Theologie und ihre Didaktik, Justus-Liebig-Universität Gießen Schröter, Jörg Imran: Jun.-Prof. Dr., Institut für Islamische Theologie/Religionspädagogik, Pädagogische Hochschule Karlsruhe Sejdini, Zekirija: Prof. Dr., Professor für Islamische Religionspädagogik, Institutsleiter am Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik, Universität Innsbruck Stein, Margit: Prof. in Dr.in, Professorin für Allgemeine Pädagogik, Fakultät für Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften, Fach Erziehungswissenschaften, Universität Vechta Tabaalite, Driss: Prof. Dr., Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems Tayeb, Azmil: Dr., Universiti Sains Malaysia Ter Avest, Ina: Prof. in Dr.in, Vrije Universiteit Amsterdam

Verzeichnis der Autor*innen

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Ulfat, Fahimah: Jun.-Prof. in Dr.in, Professur für Islamische Religionspädagogik, Institut für Islamisch-Religionspädagogische Forschung (IIRF), Eberhard Karls Universität Tübingen Uslucan, Hacı-Halil: Prof. Dr., Professor für Turkistik, Universität DuisburgEssen El Wardy, Haimaa: Dr. in, Assistant Professor an der Germanistischen Abteilung der Ain-Shams-Universität, Kairo Yakubovych, Mykhaylo: Dr., Orientalisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Zimmer, Veronika: Dr.in Dr.in, Vertretung der Professur Allgemeine Pädagogik, Fakultät für Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften, Universität Vechta Zwilling, Anne-Laure: Prof. in Dr.in, Centre National de la Recherche Scientifique, Université de Strasbourg

Personenregister

ʿAbba¯s, Sa¯lih 917, 933f. ˙ ˙ Abd al-Maqsoud, Sarra 899 ˇ ama¯l 923, 1306 ʿAbd an-Na¯sir, G ˙ ʿAbd ar-Ra¯ziq, ʿAlı¯ 903 ʿAbduh, Muhammad 178, 229, 1303f. ˙ Abdülhamid II. 982, 1175 Abdullah, Muhammad Salim 13, 60, 177, 295, 450, 455, 517, 816, 1138, 1299 Abdullah, Tatarcık 177 Abdülmecid I. 1035 Abharı¯, At¯ır ad-Dı¯n al-Mufaddal b. ʿUmar ¯ ˙˙ al- 171, 227 Abidi, Ahmed 1015, 1179 Abu¯ Hanı¯fa, an-Nuʿma¯n b. Ta¯bit al-Ku¯fı¯ ¯ ˙ 55, 132, 149f., 192, 914 Abu¯ Ha¯ˇsim, ʿAbd as-Sala¯m b. Muhammad ˇ uba¯ʾı¯ ˙ 45 b. ʿAbd al-Wahha¯b al-G Abu¯ Tamma¯m, Habı¯b b. Aws 139 ˙ Abu¯ Zaid, Nasr Ha¯mid 181, 510 ˙ ˙ Achour, Farouk 1060 ¯ dam (Adam) 113–118, 120, 799f., 850, A 856, 1060 ʿAdawiyya, Ra¯biʿa al- 137 Afas, Al-Habeeb al- 1043 Afsˇa¯r, Sa¯diqı¯ Beg 576 ˙ Afsaruddin, Asma 787 Aga Khan III. 1037 Agbaria, Ayman K. 691, 1339 Ahmad, Mirza¯ G˙ula¯m 169, 188, 192, 336, ˙ 914, 931, 933, 1024, 1184 Ahmed, Shahab 61, 177, 574f., 1088, 1093, 1097f., 1136, 1194, 1196, 1210, 1309 ˇ ala¯l ad-Dı¯n Muhammad 226, 576, Akbar, G ˙ 698f., 702, 853

Akbir, Midrasch 287 Akca, Ays¸e Almıla 299, 639 Akgönül, Samim 440, 937, 942, 946, 948, 951, 1002, 1339 Akın-Kıvanç, Esra 570 ˇ ala¯l 1284, 1286 ¯ l-e Ahmad, G A ˙ Alacacıog˘lu, Hasan 251, 255, 638 Alam, Maulana Mazhar 1292, 1331 Alamdar-Niemann, Monika 403–405 Aldeeb, Sami Abu-Sahlieh 807, 813 Ali, Gelibolulu Mustafa 227 Ali, Mir Aulad 1036f. Ali, Muhamed 1121 Ali, Noble Drew 1315f. Ali, Syed Ameer 901 ʿAlı¯ Pa¯ˇsa¯, Muhammad 915, 918, 920, ˙ 1302f., 1305 Alic´, Senad 1060 Alkouatli, Claire 1044, 1335f. Alkresh, Ibrahim 236 ʿAlla¯mı¯, Abu¯ l-Fadl Ibn Muba¯rak 576 ˙ Alp Arslan, Diya¯ʾ ad-Dı¯n ʿAdud ad-Dawla ˙ ˙ Abu¯ Sˇugˇa¯ʿ Muhammad b. Da¯ʾu¯d ˙ ˇ Gag˙rı¯bek 133 Alrawashdeh, Ziyad 44f. Altab, Ali 1028 Altas¸, Nurullah 1239, 1339 Altmeyer, Stefan 590, 593–595 Alu¯sı¯, Mahmu¯d al- 116, 119 ˙ Amin, Husain Ahmad 902, 1229f. Amı¯n ad-Dawla, Mı¯rza¯ ʿAlı¯ Khan 1280 Amı¯r Kabı¯r, Mı¯rza¯ Mohammad Taqı¯ Ha¯n-e ˙ ˘ Fara¯ha¯nı¯ 1279 Amir-Moazami, Schirin 267, 278, 299, 441

1346 Andrássy, Gyula 983 Andrœ, Tor 73 Ansa¯rı¯, Mansu¯r 1153, 1158 ˙ ˙ ¯ qkirma A ¯ nı¯, Muhammad b. Mustafa¯ b. ˙ ˙ Hamı¯d al-Ku¯fı¯ al- 1118 ˙ Arfi, Badredine 701 Aristoteles 153, 161, 187, 565, 567f., 573, 593, 718, 946 Arjmand, Reza 1277, 1291f., 1299–1302 Arjomand, Saïd Amir 868, 1275f. Arkoun, Mohammed 153, 509, 511, 514, 1012 Asad, Muhammad 25, 27, 60, 62, 66–68, 97, 284, 504, 612, 851, 991 Asˇʿarı¯, Abu¯ l-Hasan ʿAlı¯ b. Isma¯ʿı¯l al- 172, ˙ 1112 Aslan, Ednan 13, 17, 26, 34, 43, 48, 50, 59, 63, 84, 253, 382, 427, 441–443, 453, 465, 522, 529, 611, 622, 624–626, 691f., 696, 698f., 704, 775, 777, 780–782, 784, 786, 788, 791, 793, 835f., 865, 956, 967, 984– 987, 991, 1339 ʿAsqala¯nı¯, Ibn Hag˘ar al- 209 ˙ Atanasova, Rositsa 675, 1083, 1339 Atatürk, Mustafa Kemal 179, 427, 677, 946f., 1115, 1342 Atay, Hüseyin 45, 227, 230, 233 Ates¸, Gülay 247–250 ʿAtta¯s, Muhammad Naqı¯b al- 53, 678, 781 ˙ ˙˙ Auga, Ulrike 270–272, 285 Aurangzeb, Muhyı¯ ad-Dı¯n Muhammad ˙ ˙ 1201 ¯ gˇurrı¯, Abu¯ Bakr Muhammad b. al-Husain A ˙ ˙ b. ʿAbd Alla¯h al- 152 Awad, Badawy Abdellatif 1300–1303, 1305f. Ayari, Chedly 895 Aydın, Mehmet S. 248f. Aygün, Adem 248f., 414, 419 Ayoub, Mahmoud 836 Aysel, Asligül 399, 405f., 414f., 419f., 449– 452, 454, 462, 468, 603, 1339 Ayyu¯b (Hiob) 871 Azad, Abul Kalam 1193 Azraq, Mohammad Yousuf 1148, 1150– 1152

Personenregister

Bacon, Roger 1024 Badawia, Tarek 335, 338, 342, 359, 1339 Bag˙da¯dı¯, Abu¯ Mansu¯r ʿAbd al-Qa¯hir b. ˙ Ta¯hir al- 152, 172 ˙ Baig, Akhtar Ali 1028 Baiza, Yahia 1143, 1146, 1155, 1159–1162, 1165, 1339 Bakker, Cok 211, 214, 663f., 1049, 1051, 1340 Baldwin, James 279 Balya¯nı¯, Awhad ad-Dı¯n ʿAbd Alla¯h b. ˙ Masʿu¯d b. Muhammad al- 733 ˙ Bandura, Albert 75, 646 Banna¯, Hasan al- 180, 789 ˙ Ba¯qilla¯nı¯, Abu¯ Bakr Muhammad b. ˙ at-Taiyib al- 45 ˙ ˙ ˇ Ba¯qir, Abu¯ Gaʿfar Muhammad b. ʿAlı¯ Zain ¯ bidı¯n al- 116˙ al-ʿA Bar-On, Dan 278 Bardakog˘lu, Ali 180f. Barelwi, Ahmad Riza Khan 232, 1203 Basrı¯, Abu¯ Saʿı¯d al Hasan b. Abı¯ l-Hasan ˙ ˙ ˙ al- 137 Basta¯mı¯, Abu¯ Yazı¯d al- 137 ˙ Bauer, Thomas 159, 735, 859, 1155 Baumgarten, Alexander Gottlieb 567, 594, 596, 598 Bayda¯wı¯, ʿAbd Alla¯h b. ʿUmar Nas¯ır ˙ ˙ ad-Dı¯n Abu¯ al-Hayr al- 1183 ˘ Bechari, Mohamed 1015 Beemsterboer, Marieke 1055 Behçet, Mustafa 177 Behler, Gabriele 959 Behr, Harry Harun 29, 84, 104, 265, 269– 272, 274, 276f., 280, 284, 286, 288, 342, 353–355, 359, 566, 645, 648f., 662, 667, 826, 834, 958, 964, 1340 Bell, Richard 511f. Ben Abdeljelil, Moncef 899f., 902, 905 Ben Achour, Mohamed Tahar 902 Ben Ali, Zine el-Abidine 893, 898 Ben Salah, Ahmed 895 Ben Youssef, Salah 895 Benedikt XVI. 808, 831 Benford, Robert 789 Benner, Dietrich 339

Personenregister

Berkey, Jonathan 135, 1272, 1275 Biehl, Peter 88f., 492, 494 Bilgen, Recep 465 Bilgin, Baki 85, 991 Bint al-Kama¯l, Zaynab 209, 212, 216 Biondo, Vincent 671, 1340 Birgewı¯, Muhammad 1184 ˙ Bitter, Gottfried 595f., 601, 647f. Blachère, Régis 511 Blanquer, Jean-Michel 1005 Bobzin, Hartmut 60, 854 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 274f., 356 Bonaparte, Napoleon 1301 Boos-Nünning, Ursula 244, 247f., 254f., 380, 401f., 420 Boré, Eugène 1278 Boschki, Reinhold 85, 87–89, 103f., 647, 664 Boubakeur, Dalil 1009 Bourdieu, Pierre 664 Bourguiba, Habib 892–897, 906 Bowen, Harold 173 Brand, Paul 19, 278, 1024 Brettfeld, Katrin 255, 778 Bubenheim, Frank 121 Buha¯rı¯, Muhammad b. Isma¯ʿı¯l b. Ibra¯hı¯m ˙ ˘ b. al-Mug˙¯ıra al- 120, 151, 225, 613f., 738, 757, 769f., 869, 876 Buhturi, Abu¯ ʿUba¯da al-Walı¯d b. ʿUbayd ˙ Alla¯h al- 139 Bush, George Walker 1325 Byrd, Scott 789 Çakir-Mattner, Naime 545, 1340 Çalık, Fatma 65 Casey, Edward 571 Çavis¸, Fatima 823 Çelebi, Evliya 1124 Çelebi, Ka¯tib 227f. Çelebicihan, Noman 1109 Çelik, Özcan 228, 230, 253, 450–453, 455– 457, 461 Cevdet, Ahmed 177 Ceylan, Rauf 124, 241, 247, 250–256, 285, 304, 384, 399f., 406f., 440, 452, 463f., 636–638, 645, 650, 665, 823, 962, 1340

1347 Chang, Zhimei 793, 1172, 1185, 1210 Charfi, Abdelmajid 897, 899 Charfi, Mohamed 891, 893, 898–901, 904– 907 Chaucer, Geoffrey 1024 Chbib, Raida 293, 295–299, 301, 305, 453, 1340 Chevènement, Jean-Pierre 1012 Chipman, Leigh 114, 117 Cieciura, Wlodzimierz 1169, 1340 Claussen, Johann Hinrich 570 Clavreul, Gilles 1007 Coles, Maurice Irfan 683–685, 1034, 1045 Coovadia, Hoosen 1037 Da, Pusheng 1175, 1177 Dabashi, Hamid 575 Dahlsgaard, Katherine 257 Dalgaard-Nielsen, Anja 776f. Dariaba¯dı¯, ʿAbd al-Magˇ¯ıd 281 Davis, Angela 279 ˇ ala¯l ad-Dı¯n Muhammad b. Dawa¯nı¯, G ˙ Asʿad ad- 721 Dawoud, Mohamed 61, 553, 911, 929, 1340 Da¯wu¯d (David) 149, 201, 531, 538, 738, 870, 876, 897 Dayrit, Flordeliza 1329 Debray, Régis 905f. Defoe, Daniel 1026 Dere, Ali 201, 343, 427, 485, 531, 534f., 650, 817, 926, 1125, 1271, 1278f. Derrida, Jacques 701 Dewey, John 672 Diehl, Claudia 378, 418 Dietrich, Cornelie 338, 595 Dihlawı¯, Sˇa¯h Walı¯yulla¯h Ahmad b. ʿAbd ˙ ar-Rah¯ım ad- 226 ˙ Djaït, Hichem 899 Donner, Fred 807 Douglas, Susan Lynn 781f. Dronkers, Jaap 682 Duderija, Adis 696, 787, 794 Duffett, Ann 675 Dürig, Günter 268 Durkheim, Émile 340, 905 Dusé, Mohamed Ali 1315

1348 Dziri, Bacem

Personenregister

780

Ebrahim, Ranja 114, 503–507, 510, 514– 517, 1340 Eck, Diana 138, 575, 692, 695, 703 El-Abdaoui, Khalid 129 El Général, Hamada Ben Amor 573 El Jamouhi, Yassir 145, 153, 1341 El-Mafaalani, Aladin 406, 414, 419 El Wardy, Haimaa 1297, 1343 Elisabeth I. 1025 Elyas, Nadeem 121 Engler, Bernd 963 Ennaifer, Hmida 896, 899–901, 903 Ennasri, Nabil 1011 Ermert, Dorothea 589, 591f., 600f., 603– 606, 608, 1340 Ers¸an Akkılıç, Evrim 775, 1340 Esad, Mehmed 177 Esfaha¯nı¯, Ahmad b. Roste 1024 ˙ ˙ Esposito, John Louis 359, 1026, 1333 Essam, Ramy 573 Faas, Daniel 681 Fabio, Udo di 356 ˇ ama¯l 931 Fahmı¯, G Fairu¯za¯ba¯dı¯, Muhammad ibn Yaʿqu¯b 45 ˙ Fakhri, Majid 135 Falaturi, Abdoljavad 337, 801–803, 805f., 811, 813, 848 Faour, Muhammad 679 Fa¯ra¯bı¯, Abu¯ Nasr Muhammad al- 47f., 52, ˙ ˙ 153, 718 Färber, Alexa 298 Farhang, Mohammed Sediq 1155, 1159 Faridzadeh, Ghazaleh 1269, 1340 Farkas, Steve 675 Farmer, Henry George 571, 604 Farrakhan, Louis 1322 Fa¯ru¯q I. 923 Faruqi, Lois Lamya Ibsen al- 604 Fayya¯d, ʿAbd Alla¯h 211 ˙ Feige, Andreas 247, 663 Ferjani, Mohamed-Chérif 904–906 Ferry, Jules 894 Ferry, Luc 1013

Feuer, Sarah 611, 621, 790, 892, 894f., 897, 900 Firestone, Reuven 869, 871, 873–875, 877 Fischer-Lichte, Erika 576 Föllinger, Sabine 149 Fowler, James William 767 Franken, Leni 1051, 1057f. Frese, Hans-Ludwig 248f., 413 Frindte, Wolfgang 248, 378f. Frischmuth, Barbara 802 Fry, John 1330 Fuʾa¯d I. 903 Furnivall, John Sydenham 1216 ˇ a¯birı¯, Muhammad ʿA ¯ bid al- 129–131, G ˙ 133, 136 ˇ aʿfarı¯, Muhammad Taqı¯ 717, 1293 G ˙ ˇ Ga¯hiz, ʿAmr b. Bahr al- 658f. ˙ ˙ ˙ Galen 77 ˇ a¯lu¯t (Goliath) 201 G ˇ amı¯, Nu¯r ad-Dı¯n ʿAbd ar-Rahma¯n-i G ˙ 1182, 1184 Gangˇawı¯, Niza¯mı¯ 575 ˙ Gans, Herbert Julius 418 Garfinkel, Harold 547 Gartenstein-Ross, Daveed 778 Gärtner, Claudia 591, 595–597, 723 Garvey, Marcus 1315 Gaspirali, Ismail (Gasprinskiy) 1109 G˙azza¯lı¯, Abu¯ Ha¯mid Muhammad b. ˙ ˙ Muhammad al- 47f., 51, 67, 113, 121, ˙ 133, 137, 139–141, 156–161, 171f., 175, 341, 571, 573, 659–661, 667, 723, 727, 769, 781 Gebauer, Klaus 269 Gellner, Christoph 673, 802 Gennerich, Carsten 247 George, David Lloyd 682, 1005, 1027 Ghannouchi, Rached al- 896, 898 Ghazi, Abidullah 1318 Ghazi, Tasneema 1318 Ghobar, Ghulam Muhammad 1146, 1152, 1154f. Gibb, Hamilton Alexander Rosskeen 173 Glock, Charles Young 248, 254, 282, 378, 846

Personenregister

Goffman, Erving 547 Gökalp, Ziya 204 Goldziher, Ignaz 55, 135 Gönüleglendiren, Kamil 400 Gonzalez, Valérie 570, 573 Gosh, Ratna 791f. Gramlich, Richard 113, 855 Grethlein, Christian 597 Grimmit, Michael 705f. Grossman, Laura 778f. Grunebaum, Edmund Gustav von 147 Gülen, Fethullah 324, 958, 1005f., 1053, 1110, 1116, 1137f. Güler, I˙lhami 185, 1340 ˇ unaid, Abu¯ l-Qa¯sim b. Muhammad aHaa¯z G ˙ ˘ al-Qawa¯rı¯rı¯ al- 137 Günther, Sebastian 48, 67, 85f., 89f., 92, 97, 124, 145–147, 149f., 153, 155–157, 161, 215, 657–660, 965 ˇ urgˇa¯nı¯, as-Sayyid asˇ-Sˇarı¯f ʿAlı¯ b. G Muhammad al- 171f., 227 ˙ ˇ urgˇa¯nı G ¯, Mı¯r Sayyid 1182 Gürlesin, Ömer Faruk 1060–1062, 1064f. Gutmann, Hans-Martin 763 ˇ uwainı¯, Abu¯ l-Maʿa¯lı¯ ʿAbd al-Malik b. G ʿAbd Alla¯h al- 45, 171f. Habermas, Jürgen 329, 345f. Habı¯l (Abel) 287 Haddad, Taher 117, 892 Ha¯dimı¯, Abu¯ Saʿı¯d Muhammad b. ˙ ˘ Muhammad b. Mustafa¯ b. ʿUtma¯n al¯ ˙ ˙˙ 175f. Ha¯fı¯, Bisˇr b. al-Ha¯rit al- 157 ˙ ˙ ¯ Hahn, Jörg-Uwe 958 Hajatpour, Reza 94, 114, 122, 593, 711, 718f., 721, 1341 Hakluyt, Richard 1025 Halawa, Hussein 1039 Halstead, Mark 780f., 1124 Halwati, Abu¯ ʿAbd Alla¯h Sira¯gˇ ad-Dı¯n ˘ ʿUmar b. Akmal ad-Dı¯n al-Lahgˇ¯ı al175 Hama¯da, Fa¯ru¯q 804f., 807, 809, 811f. ˙ Ha¯ma¯n (Haman) 201 Hamdi, Ahmed 227, 1057

1349 Hamidullah, Muhammad 807f. Hammer-Purgstall, Josef von 160, 173 Ha¯n, ʿAbd ar-Rahma¯n 1146 ˙ ˘ Ha¯n, Habı¯bu-lla¯h 1146f., 1152f., 1159 ˙ ˘ Ha¯n, ʿIna¯yatu-lla¯h 1155 ˘ Ha¯n, Nasru-lla¯h 1154 ˙ ˙ ˘ ˇ arh Ha¯n C i, Gula¯m Nabı¯ 1156 ˘ ˘ Harborne, William 1025 Harter, Georg 601, 603 Ha¯ru¯n (Aaron) 372, 866f. Hashmi, Farhat 1333 Ha¯sˇim, Muhammad 1157–1159 ˙ Hatibog˘lu, Nihat 181 Hawwa¯ʾ (Eva) 117 ˙ Haymerle, Heinrich Karl von 983 Heckmann, Friedrich 255, 402 Hefny, Assem 1307f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 187, 897 Heimbrock, Hans-Günter 663–665 Heine, Heinrich 602f. Heinig, Hans Michael 468 Helden, Petra van 1060 Hemel, Ulrich 516, 518, 740 Henry II. 1024 Herakleios 805–808 Hermansen, Marcia 671, 683, 1341 Herodot 1271 Herzog, Martin 303, 307 Heyd, Uriel 177 Hick, John 698, 706 Hila¯lı¯, Ahmad Nagˇ¯ıb al- 921f. ˙ Hildebrandt, Thomas 1298, 1304 Hilger, Georg 590–592, 595f., 598–601, 603 Hilmı¯ Pa¯sˇa¯, ʿAbba¯s 1304 ˙ Himyarı¯, ʿAbd al-Malik b. Hisˇa¯m b. Ayyu¯b ˙ al- 871 Hintersberger, Benedikta 598 Hirschfeld, Hartwig 511f. Hood, Ralph 380, 742 Howard, Michael 438 Hu, Dengzhou 1172, 1180f., 1183 Husain, Ta¯ha¯ 1303–1305 ˙ ˙ Hussein, Yahya al- 1039 Husrev Beg, Gazi 1131 ˇ aʿfar Muhammad b. Mu¯sa¯ Hwa¯rizmı¯, Abu¯ G ˙ ˘ al- 1044, 1335

1350 Ibn ʿAbba¯s, ʿAbd Alla¯h 512 Ibn ʿAbd al-Barr, Yu¯suf b. ʿAbd Alla¯h b. Muhammad 152 ˙ Ibn ʿAbd al-Malik, Hisˇa¯m 871 Ibn ʿAbd al-Wahha¯b, Muhammad 1184 ˙ Ibn Abı¯ Ta¯lib, ʿAlı¯ 137 ˙ Ibn Adham, Ibra¯hı¯m b. Mansu¯r b. Yazı¯d b. ˇ a¯bir al-ʿIgˇlı¯ 157 G Ibn ‘Affa¯n, ʿUtma¯n 489 ¯ Ibn al-Anba¯rı¯, Abu¯ Bakr Muhammad b. ˙ al-Qa¯sim b. Muhammad 61 ˙ ¯ s, ʿAmr 1299 Ibn al-ʿA ˙ ˇ auzı Ibn al-G ¯, Abu¯ l-Faragˇ ʿAbd ar-Rahma¯n ˙ b. ʿAlı¯ 174 Ibn al-Haitam, Abu¯ ʿAlı¯ al-Hasan ¯ ˙ (Alhazen) 573, 1024 Ibn al-Hatta¯b, ʿUmar 18, 814, 1299 ˘ ˙˙ Ibn al-Nafı¯s, ʿAla¯ʾ ad-Dı¯n Abu¯ l-Hasan ʿAlı¯ ˙ b. Abı¯ Hazm al-Qurasˇ¯ı ad-Dimasˇqı¯ ˙ 1026 Ibn Anas, Ma¯lik 763 Ibn ʿArabı¯, Muhyı¯ d-Dı¯n Abu¯ ʿAbd Alla¯h ˙ Muhammad b. ʿAlı¯ b. Muhammad b. ˙ ˙ al-ʿArabı¯ al- Ha¯timi at- Ta¯ʾı¯ 661, 704, ˙ ˙ ˙ 741 ¯ sˇu¯r, Muhammad at-Ta¯hir 118f. Ibn ʿA ˙ ˙ ˙ Ibn Battu¯ta, Abu¯ ʿAbdalla¯h Mu˙˙ ˙ hammad 20 ˙ Ibn Ba¯z, ʿAbd al-ʿAzı¯z b. ʿAbd Alla¯h 120 Ibn Haldu¯n, Walı¯ ad-Dı¯n ʿAbd ar-Rahma¯n ˙ ˘ b. Muhammad 227, 571, 574, 660f., 667, ˙ 790, 1056, 1200, 1202 Ibn Hanbal, Abu¯ ʿAbd Alla¯h Ahmad b. ˙ ˙ Muhammad 914 ˙ Ibn Hazm, Abu¯ Muhammad ʿAlı¯ b. ˙ ˙ Ahmad 47 ˙ Ibn Hisˇa¯m, ʿAbd al-Malik b. Hisˇa¯m b. Ayyu¯b al-Himyarı¯ 146 Ibn Isha¯q, Muhammad b. Isha¯q b. Yasa¯r b. ˙ ˙ ˙ Hiya¯r 146 ˘ Ibn Kat¯ır, Abu¯ l-Fida¯ʾ b. ʿUmar 757, 813 ¯ Ibn Masʿu¯d, ʿAbd Alla¯h 1299 ˇ irgˇis 808 Ibn Mı¯na¯, G Ibn Rasu¯l, Abu¯ Rida¯ Muhammad b. ˙ ˙ Ahmad 188 ˙

Personenregister

Ibn Rusˇd, Abu¯ l-Walı¯d Muhammad b. ˙ Ahmad (Averroes) 136, 745, 1024 ˙ Ibn Sahnu¯n, Muhammad b. Sahnu¯n b. ˙ ˙ ˙ Saʿı¯d b. Habı¯b at-Tanu¯h¯ı 150f., 658 ˙ ˘ Ibn Sala¯m, ʿAbdulla¯h 870 Ibn Sı¯na¯, Abu¯ ʿAlı¯ al-Husain b. ʿAbd Alla¯h ˙ (Avicenna) 47, 153, 156, 570f., 573, 604, 716, 745, 1024, 1044, 1335 Ibn Taimı¯ya, Taqı¯ ad-Dı¯n Ahmad 174 ˙ Ibn Tufaı¯l, Abu¯ Bakr Muhamad b. ʿAbd ˙ ˙ al-Malik b. Muhammad 1026 ˇ ubair, Abu¯ l-˙ Hasan Muhammad b. Ibn G ˙ ˙ Ahmad 21 ˙ Ibrahim, Anwar 678, 808, 1035, 1132, 1221f., 1341 Ibra¯hı¯m (Abraham) 152, 157, 367, 370, 372, 625, 695, 812, 847, 849f., 902, 914, 920f., 1060 Idrı¯sı¯, Abu¯ ʿAbd Alla¯h Muhammad b. ˙ Muhammad b. ʿAbd Alla¯h b. Idrı¯s al˙ 1035 ¯Igˇ¯ı, ʿAdad ad-Dı¯n al- 171, 227 ˙ Ihwa¯n as-Safa¯ 604 ˙ ˙ ˘ ʿI¯lı¯, Abd l-Hakı¯m Hasan al- 119 ˙ ˙ ʿIlmı¯, Muhammad Yu¯suf 1149, 1153f., ˙ 1156f. ʿImra¯n (Amram) 372 I˙nönü, I˙smet 179 Iqbal, Muhammad 901 ʿIra¯qı¯, Fahr Ad-Dı¯n Ibra¯hı¯m 1184 ˘ ʿI¯sa¯ (Jesus) 372, 695, 704, 800, 806, 811, 847, 850, 853, 857, 1060 Isensee, Josef 462, 958f. Isfara¯’inı¯, Ta¯gˇ ad-Dı¯n Muhammad b. ˙ Muhammad al- 1182 ˙ Isha¯q (Isaak) 571, 695, 902 ˙ Is¸ık, Tuba 605f., 613 Islam, Yusuf 680 I˙slamog˘lu, Mustafa 55 Ismagilov, Said 1112 Isma¯ʿı¯l (Ismael) 695, 902, 918–920 Isma¯ʿı¯l Pa¯ˇsa¯ 919, 1303f. I˙zmirli, Ismail Hakki 766f. Izutsu, Toshihiko 44, 483, 504, 508–511, 513 Izzet Efendi, Mustafa 577

Personenregister

Jacobs, Andreas 425, 432, 440, 463, 1341 Jazi, Dali 898f., 905 Jonker, Gerdien 299f. Jouli, Jeanette Soufiane 299 Joxe, Pierre 438 Kafka, Franz 203 Kaiser, Astrid 576, 590, 805–809, 941 Kalaka¯nı¯, Habı¯bu-lla¯h 1155 ˙ Kalbı¯, Dihya al- 806 ˙ Kalisch, Sven 960 Kamali, Mohammad Hisham 119, 691f. Kandhlawi, Muhammad Zakariya 1331 Kant, Immanuel 203, 594, 712 Karagedik, Ulvi 521, 1341 Karakas¸og˘lu, Yasemin 247–249, 251, 255 Karakoç, Betül 631f., 637, 639, 645, 649f., 653, 1341 Karimi, Ahmad Milad 508, 564, 569, 852, 1146 Ka¯ˇsa¯nı¯, ʿIzz ad-Din Mahmu¯d b. ʿAlı¯ 720, ˙ 722 Kassir, Samir 901 Ka¯tib, al-Hasan b. ʿAlı¯ b. Ahmad al- 571 ˙ ˙ Kaupp, Angela 547 Kellner, Martin Mahmud 111, 209, 216, 1341 Kepler, Roy 776 Kermani, Navid 569f., 593 Kerner, Hans-Jürgen 247 Kerntke, Felix 664f. Khalifatul Masih, Mirza Tahir Ahmad 1332 Khan, Inayat 1315 Khan, Mirza Abu Talib 1036 Khorchide, Mouhanad 315, 321, 326, 328, 379, 452, 835–837, 855, 857, 960, 967, 969, 971, 983f., 986f., 989–991, 1341 Khoury, Adel Theodor 60, 524, 809f. Kiefer, Michael 30, 124, 243, 285, 304–306, 452–456, 458, 465, 506, 513, 780, 963 Kılıçdag˘ı, Durdane 981 Kindı¯, Abu¯ Yaʿqu¯b b Isha¯q al- 47, 135, 571, ˙ 604 Klafki, Wolfgang 270, 273, 341f., 599 Klepacki, Leopold 593–595, 597

1351 Klinkhammer, Gritt 248f., 254, 299, 412f. Klopfer, Helmut 171, 226 Knitter, Paul Francis 858 Koc¸i Bey, Mustafa¯ 227 ˙˙ Koçyig˘it, Ibrahim 955, 1341 Kohlberg, Lawrence 770 Kojève, Alexandre 186 Kolb, Jonas 26, 50 König, Matthias 21, 188, 201, 302f., 418, 612, 805, 816 Kraemer, Gudrun 153 Kraml, Martina 87f., 828, 830, 833f. Krinninger, Dominik 595 Kuçuradi, I˙oanna 196, 198, 200 Kuehn, Sara 563, 580, 583, 1341 Kühn, Fritz 267, 277 Kulaçatan, Meltem 265, 269, 359, 1342 Küng, Hans 257f., 802, 848 Lafrarchi, Naima 1053, 1055f. Lähnemann, Johannes 28, 497, 641 Lahri, Fadoua 1056 Lang-Wojtasik, Georg 1199 Langer, Thomas 293 La¯uı¯ b. Yaʿqu¯b (Levi) 372 Le Corbusier, Charles-Édouard JeanneretGris 597 Leder, Stefan 807 Lee, Hwok Aun 1233 Legenhausen, Gary Carl Muhammad 692, 698, 703f. Leidinger, Paul 639 Leimgruber, Stephan 34, 384, 593, 596f., 825–828 Lessing, Gotthold Ephraim 594 Lincoln, Abraham 682 Lingens, Ella 802 Liu, Zhi 1173, 1179f., 1186 Locke, John 594 Lohlker, Rüdiger 212, 218, 788, 792 Loobuyck, Patrick 1054 Lorz, Ralph Alexander 462 Lösch, Brigitte 964 Louhichi, Soumaya 891, 1342 Love, Agnes 1326 Love, James 1326

1352 Lübcke, Claudia 407, 414 Luhmann, Niklas 294 Luqma¯n 119, 1042 Luther, Martin 282, 594, 1144 Ma, Boliang 1185 Ma, Dexin 1174 Ma, Lianyuan 1174 Ma, Wanfu 1174, 1184 Ma, Zhu 1173 Maʿa¯firı¯, Ibn al-ʿArabı¯ al- 66, 151 Maʿarrı¯, Abu¯ l-ʿAla¯ʾ al- 905 Macauley, Thomas Babington 1202 Macedo, Stephen 701 Machelon, Jean-Pierre 1013 Maddoe, Derwisj 1063 Mahbu¯bı¯, ʿUbaı¯d Alla¯h b. Masʿu¯d b. Ta¯gˇ asˇ˙ Sˇarı¯ʿa al- (Sadr asˇ-Sˇarı¯‘a at-Ta¯nı¯) 1182 ¯ ¯ ˙ Mahomet, Sake Dean 1027, 1036 Makdisi, George 130, 132f., 135, 138, 147, 225f. Makdisi, John 1024 ¯ l- 1038, Maktu¯m, Muhammad b. Ra¯ˇsid A ˙ 1041 Malik, Jamal 226, 243, 674, 871, 1191, 1202, 1205, 1208f., 1342 Manuel II. Palaiologos 808 Mao, Zedong 1176f. Marcia, James E. 254, 1341 Mariam bint ʿImra¯n (Maria) 372, 513, 805, 811, 850, 856 Marquet, Yves 153 Marx, Karl 601, 897 Ma¯turı¯dı¯, Muhammad b. Muhammad b. ˙ ˙ Mahmu¯d Abu¯ Mansu¯r al- 46, 51, 1102, ˙ ˙ 1112 Maudu¯dı¯, Abu¯ l-Aʿla¯ 180 Maunz, Theodor 268 McKim, Robert 694, 702 Mead, George Herbert 344f. Melanchton, Philipp 594 Mendl, Hans 75, 590, 597 Meng, Frank 299, 338, 728, 1270 Merkens, Hans 404 Merleau-Ponty, Maurice 568, 572 Merton, Walter de 1024

Personenregister

Meskine, Dhaou 1014 Messadi, Mahmoud 893f. Mestiri, Mohamed 1015 Metcalf, Barbara 1145f., 1203 Miedema, Siebren 682, 1051, 1053, 1056f., 1065 Miktar, Ahmed 1011 Milo, Michael 1329 Minty, Abdul Samad 1037 Mı¯r Da¯ma¯d, Muhammad Ba¯qir b. ˙ ad-Da¯ma¯d 1275 Mı¯rza¯, ʿAbba¯s 1147, 1150–1152, 1278, 1280 Miskawaih, Abu¯ ʿAlı¯ Ahmad b. Mu˙ hammad b. Yaʿqu¯b 153–156, 161, 714– ˙ 717, 719 Mogensen, Mogens 1077 Mohagheghi, Hamideh 338, 387, 605 Mohamad, Mahathir 1222, 1231 Mohamad, Musa 1231 Mohamed, Yasien 658–661 Mohr, Irka-Christin 30, 274, 458, 487 Molla, Abdülhak 177, 734, 759 Montagu, Mary Wortley 1026 Montesquieu 892 Motahharı¯, Mortez˙a¯ 1284–1286 ˙ Motzki, Harald 1301f. Mourou, Abdelfattah 896, 898 Moussa, Amal 895–897 Muba¯rak, Muhammad Husnı¯ as-Saiyyid ˙ ˙ 157, 918f., 921, 925, 927f., 930f. Mudarrisı¯, Muhammad Rez˙a¯ 716, 719 ˙ Muhammad 27, 73, 97, 525, 770, 807, 875 ˙ Muhammad, Clara 1321f. Muhammad, Elijah 1316, 1321 Muhammad, Wallace Fard 1315 Muha¯sibı¯, al-Ha¯rit b. Asad al-ʿAnazı¯ al˙ ¯ ˙ 137 Muhyiddin, Alizâde Hoca 229–231 Mulla¯ Sadra¯, Sadr ad-Dı¯n Muhammad b. ˙ ˙ ˙ Ibra¯him al-Qawa¯mı¯ asˇ-Sˇira¯zı¯ 717, 720f., 1275 Müller, Rabeya 245, 324, 415, 828, 830, 835–837 Murad III. 1025 Mursı¯, Muhammad Muhammad ʿI¯sa ˙ ˙ al-ʿAiyya¯t 930f. ˙

1353

Personenregister

Mursı¯, Muhammad Munı¯r 60, 612 ˙ Mu¯sa¯ (Moses) 65, 201, 372, 695, 866, 869, 876, 1060 Muschg, Adolf 802 Muslim, Abu¯ -ʾl- Husain b. al- Hagˇgˇa¯gˇ ˙ ˙ an-Naysa¯bu¯rı¯ 92 Mutanabbı¯, Abu¯ t- Tayyib Ahmad b. al˙ ˙ ˙ Husain b. al- Hasan al- 139 ˙ ˙ Mutarrizı¯, Burha¯n ad-Dı¯n Abu¯ l-Fath Na¯sir ˙ ˙ ˙ b. Abi l-Maka¯rimʿAbd as-Sayyid b. ʿAlı¯ al-Ha¯razmı¯ al-Hanafı¯ al- 1182 ˙ ˘ Mzali, Mohamed 893, 896–898 Na¯dir, Muhammad 1155–1158 ˙ Naim, Ahmed 684, 1340 Naʿı¯m, Muhammad 1158f. ˙ Nanautavi, Muhammad Qa¯sim 1145, ˙ 1155, 1157f. Naqsˇband, Muhammad Baha¯ʾ ad-Dı¯n 175 ˙ Nas, Mehmet 622 Nasafı¯, ʿAzı¯z-ad-Dı¯n b. Muhammad 45, ˙ 723 Nasafı¯, Nag˘m ad-Dı¯n Abu¯ Hafs ʿUmar b. ˙ ˙ Muhammad b. Ahmad b. Isma¯ʿı¯l b. ˙ ˙ Luqma¯n al-Hanafı¯ an- 1182 ˙ Nasa¯ʾı¯, Ahmad b. ʿAlı¯ b. Sˇuʿaib an- 757, ˙ 764, 769 Na¯ser ad-Dı¯n Sˇa¯h 1279 ˙ Nasr, Seyyed Hossein 181, 508, 575, 577, 602, 1004, 1272–1277 Nasrin, Taslima 1210 Nassery, Idris 236 Naurath, Elisabeth 607 Nawawı¯, Yahya¯ b. Sˇaraf an- 524, 845, 1183 ˙ Nazarska, Jorjeta 1102 Negus 804f., 808 Neill, Charlotte M. 1299, 1307f., 1310 Nekroumi, Mohammed 339 Neuburger, Mary 1086, 1088 Neumann, Peter 776 Neuwirth, Angelika 146f., 280, 489 Nielsen, Jørgen S. 675, 1069, 1071f., 1342 Nikolova, Roumiana 339 Niza¯m al-Mulk, Abu¯ ʿAlı¯ Hasan b. ʿAlı¯ b. ˙ ˙ Isha¯q Tu¯sı¯ 133, 223, 226, 235, 1274, 1276 ˙ ˙ Nökel, Sigrid 248f., 254, 299, 412f.

Nolan, Cathal J. 1144 Nöldeke, Theodor 60, 488, 511f. Nourbakhsh, Younes 801–803, 808 Nu¯h (Noah) 625, 1060 ˙ Nursı¯, Said 1110, 1114 Nuwairı¯, Sˇiha¯b ad-Dı¯n b. ʿAbd al-Wahha¯b b. Muhammad an- 902 ˙ Ockley, Siman 1026 Oebbecke, Janbernd 384, 965 Omerovic, Mirsad 785 Oran, Baskın 945 Ourghi, Abdel-Hakim 479, 1342 Özcan, Hanifi 46, 51 Özdil, Ali Özgür 636, 642, 647, 956, 960, 962, 991f. Özsoy, Ömer 53, 55, 852, 855, 958 Öztürk, Halit 248f., 251, 400, 402, 615–617 Pahlawı¯, Rez˙a¯ Sˇa¯h 1282 Pang, Shiqian 1181, 1183f. Panjwani, Farid 702 Paret, Rudi 112, 145, 337 Peele, George 1025 Pels, Trees 1056f. Perkinz, Justin 1278 Pervez, Anwar 1028 Peter, Frank 1012 Peterson, Christopher 257 Peukert, Helmut 101 Pfeiffer, Silke 590 Piaget, Jean 343–345 Piazolo, Michael 965 Platon 187, 567, 593, 718, 801f., 946 Pococke, Edward 1026 Polat, Mizrap 731, 738, 744, 751, 759, 772, 1342 Porzelt, Burkard 495, 591, 595f., 607 Poscher, Ralf 293 Powell, Enoch 1027f. Puerta, José Miguel 577 Qa¯bı¯l (Kain) 287 Qarada¯wı¯, Yu¯suf al- 181 ˙ Qa¯semi, Muhammad Tayyib ˙ ˙

1157–1159

1354 Qurtubı¯, Abu¯ ʿAbd Alla¯h Muhammad b. ˙ ˙ Ahmad b. Abu¯ Bakr b. Farh al-Ansa¯rı¯ ˙ ˙ ˙ al-Hazragˇ¯ı al- 115f., 118–120, 694 ˘ Qusˇairı¯, Abu¯ l-Qa¯sim ʿAbd al-Karı¯m b. Hawa¯zin al- 157, 872 Qutb, Sayyid 180, 877 ˙ Race, Alan 694, 702 Racy, Ali Jihad 572 Rafique, Sher 1039 Ra¯g˙ib al-Isfaha¯nı¯, Abu¯ l-Qa¯sim al-Husain ˙ ˙ b. Muhammad al-Mufaddal ar- 47, 659, ˙ ˙˙ 714 Rahman, Fazlur 22, 27, 52f., 60, 167, 177f., 181, 204, 228f., 234, 236, 272, 836, 855f., 901 Rahman, Saira 1329 Rahner, Karl 83, 85 Rasˇ¯ıd, al-Maʾmu¯n ar- 19 Rasˇ¯ıd, Ha¯ru¯n ar- 19 Rausch, Margaret J. 572, 1023, 1313, 1318, 1322–1324, 1335, 1342 Ra¯zı¯, ʿAbdulla¯h b. Muhammad Nag˘m ˙ ad-Dı¯n ar- 1183 Ra¯zı¯, Abu¯ ʿAbd Alla¯h Muhammad b. ˙ ʿUmar b. al-Husain Fahr ad-Dı¯n ar- 47, ˙ ˘ 156, 171, 226, 1152 Ra¯zı¯, Abu¯ Bakr Muhammad b. Zakariyya¯ ˙ ar- 77, 718f., 1024 Ra¯zı¯ at-Tahta¯nı¯, Qutbaddı¯n Muhammad b. ˙ ˙ ˙ Muhammad ar- 227 ˙ Reichmuth, Stefan 156f. Reiss, Murad (Jan Janszoon) 1035 Renz, Andreas 94, 593, 596f. Reynolds, Gabriel Said 512 Riaz, Ali 1193, 1199 Ribolits, Erich 101 Robinson, Mary 512f., 1026, 1041, 1201 Roger II. 1024, 1035 Rohe, Mathias 427, 462 Rosa, Hartmut 858 Rosˇdiyye, Mı¯rza¯ Hasan 1280f. ˙ Rose, Paul Lawrence 868 Rosenow, Kerstin 303 Rosenow-Williams, Kerstin 293, 303, 305 Rosenthal, Franz 44, 134, 146

Personenregister

Rothgangel, Martin 13, 50, 88f., 487, 606, 664, 735 Rousseau, Jean-Jacques 594, 897 Roy, Olivier 427f., 442, 444, 776, 1007 Rudolph, Ulrich 133, 149, 970 ˇ ala¯l ad-Dı¯n Muhammad bin Sˇayh Ru¯mı¯, G ˙ ˘ Baha¯ʾ ad-Dı¯n Muhammad b. Husain ˙ ˙ Balh¯ı ar- 175, 704 ˘ Rushdie, Salman 437, 671, 1210 Saada, Najwan 788, 794 Saadallah, Sherin 783 Saçaklizade, Mehmed Efendi 47 Sachedina, Abdulaziz 691, 693, 696f. Sa¯da¯t, Muhammad Anwar as- 925–928 ˙ Saʿdı¯, Abu¯ Muhammad Musˇarrif ad-Dı¯n ˙ Muslih b. ʿAbd Alla¯h b. Musˇarrif Sˇira¯zi ˙ ˙ 1183 ˇ aʿfar b. Muhammad as- 715 Sadiq, G ˙ ˙ ˙ Sadiq, Muhammad 1315, 1319 ˇSa¯fiʿı¯, Muhammad b. Idrı¯s asˇ- 132, 169, ˙ 192, 216, 914 Sageman, Marc 217, 777f. Saib Efendi, Osman 177 Saʿı¯d Pa¯sˇa¯, Muhammad 918 ˙ Salama, Abd al-Qadir 896 Saltuk, Sari 1114 Samarqandı¯, Abu¯ l–Lait as- 768 ¯ Samarqandı¯, Abu¯ Muqa¯til Hafs b. Silm as˙ ˙ 149f. Sˇaʿra¯wı¯, Muhammad Mutawallı¯ asˇ- 114, ˙ 116 Sˇarı¯ʿatı¯, ʿAlı¯ 1284f. Sarıkaya, Yas¸ar 167, 175f., 178, 223, 229f., 450, 454, 462, 468, 524, 530f., 534, 541, 600, 603, 646 Sarra¯gˇ at- Tu¯sı¯, Abu¯ Nasr ʿAbd Alla¯h as˙ ˙ ˙ 157 Sarrazin, Thilo 270, 450 Sauer, Martina 255, 297–299, 324, 378, 633 Sˇauqı¯, Ta¯riq 932f. ˙ Saussures, Ferdinand de 510 Schepelern Johansen, Brigitte 317f., 1076 Schiffauer, Werner 268f., 299, 304, 320, 381 Schiller, Friedrich 594

Personenregister

Schimmel, Annemarie 77, 138, 175, 602, 604, 722, 728, 745, 801, 846, 852 Schmid, Bruno 147, 492, 639, 970, 1001 Schmischke, Christoph 468 Schöller, Marco 524, 731, 845 Schröter, Jörg Imran 454, 459, 830, 835, 837, 841, 859, 1342 Schubert, Volker 595 Schwally, Friedrich 60, 488, 511 Schweitzer, Friedrich 27, 87f., 243, 380, 517, 663f., 667, 825–827 Sedgwick, Mark 776 Sejdini, Zekirija 83f., 87f., 94f., 98–100, 102–105, 505, 680, 828, 830, 833f., 968, 1298, 1342 Seligman, Martin Elias Peter 257 Selim I. 941 Selim II. 644, 941 Selim III. 177 S¸en, Faruk 255, 451 Serematakis, Nadia 572 Seufert, Günter 462, 958f. Shabestari, Mohammad Mojtahed 72 Shakespeare, William 1025 Shakir, Amena 524, 877, 991, 1198 Shareef, Muhammad al- 1319, 1331 She, Yunshan 1184 Siba¯ʿı¯, Mustafa¯ al- 119 ˙˙ Sieckelinck, Stijn 1056 Silber, Bernd 965 Simon, John 1326 Simon, Martha 1326 Sˇ¯ıra¯zı¯, Qutbaddı¯n Mahmu¯d b. Masʿu¯d b. ˙ ˙ Muslah asˇ- 171, 227 ˇS¯ıra¯zı¯, ˙Sˇams ad-Dı¯n Muhammad Ha¯fez-e ˙ ˙ ˙ 1147 Sirhindı¯, Ahmad al-Fa¯ru¯qı¯ as- 1184 ˙ Sı¯sı¯, ʿAbd al-Fatta¯h as- 912, 931f. ˙ Skeie, Geir 697 Smajlovic, Ahmed 1136 Snow, David 789 Söder, Markus 965 Sokrates 150, 161 Solgun-Kaps, Gül 606 Soroush, Abdolkarim 182, 697–699, 702, 707

1355 Spielhaus, Riem 267, 298f., 303, 306f., 419f. Stamboliiski, Alexander 1088 Stasi, Bernard 1013 Stein, Margit 241, 244f., 248–250, 252–257, 611, 621, 665, 1342 Stosch, Klaus von 91, 644, 858 Streib, Heinz 742 Stroezel, Holger 247 Stubbes, Henry 1025 Suavi, Ali 228–230 Sˇuʿayb (Jitro) 197 Suharto, Haji Mohamed 678 Suhrawardı¯, Abu¯ Hafs ʿUmar as- 157 ˙ ˙ Suhrawardı¯, Sˇiha¯b ad-Dı¯n Yahya¯ b. Habasˇ ˙ ˙ b. Amı¯rak as- 722f. Sukarno, Kusno Sosrodihardjo 678 Sulaima¯n (Salomon) 201, 915–918, 920– 923 ˇ ala¯l ad-Dı¯n as- 21, 66f., 216f., 612 Suyu¯t¯ı, G ˙ Swanton, Christine 78 Tabaalite, Driss 799, 1342 ˇ arı¯r at- 693, 696, Tabarı¯, Muhammad b. G ˙ ˙ ˙ 755, 866f., 873, 902 Tabassum, Marina 578 Tafta¯ za¯ nı¯, Saʿd ad-Dı¯n Masʿu¯d b. ʿUmar b. ʿAbd Alla¯h at- 171, 227 Tahir, Mehmed 177 Tahta¯wı¯, Rifa¯ʿa Ra¯fiʿ at- 918, 921, 1303 ˙ ˙ ˙ Takım, Abdullah 120, 217, 506, 517, 836, 958 Talbi, Mohamed 899 Talib, Rahman 1218f. Ta¯lu¯t (Saul) 201 ˙ Tamim, Ahmed 1111 Tan, Charlene 783, 786, 791, 794 Tanase, Laurentiu D. 1115 Tanta¯wı¯, Muhammad Sayyid 928 ˙ ˙ ˙ Tarzı¯, Mahmu¯d 1159 ˙ ˙ Tautz, Monika 644, 825–827, 834f., 850, 858 Tawfı¯q Pa¯sˇa¯, Muhammad 920 ˙ Tayeb, Azmil 1215, 1231, 1233, 1342 Taylor, Charles 329, 700f. Télili, Ali 899

1356 Ter Avest, Ina 1342 Tezcan, Levent 464 Thielmann, Jörn 296, 300, 419 Tibawi, Abdul Latif 658–660, 662 Tietze, Nikola 50, 249, 303, 382, 413 Timm, Uwe 590 Tirmid¯ı, Abu¯ ʿIsa¯ Muhammad b. ʿIsa¯ b. ¯ ˙ Saura as-Sulamı¯ at- 92, 336, 531, 538, 757, 764, 769, 771 Toprak, Ahmet 405f., 414, 419 Tritton, Arthur Stanley 121f. Trocmé, Étienne 1012f. Tubergen, Frank van 1062 Tufan-Destanog˘lu, Turunç Sultan 411f. Tunahan, Süleyman Hilmi 180 Türker, Ömer 47f. Tustarı¯, Sahl Ibn ʿAbd Alla¯h at- 565 Tworuschka, Udo 28 Uçar, Bülent 84, 342, 592, 637, 962 Ulfat, Fahimah 123, 307f., 657f., 660, 664, 1343 Uludag˘, Süleyman 604 Uslucan, Hacı-Halil 24, 248–252, 307, 342, 377, 382, 384, 388, 400, 419f., 454, 457, 529, 1343 ˇ uhaima¯n al- 903 ʿUtaibı¯, G Uygun-Altunbas¸, Ays¸e 248, 252 Uysal, Nebi 991 Valera, Éamon de 1037 Valls, Manuel 1013 Velizâde, Mehmed Emin 177 Vermeer, Paul 1051 Vidino, Lorenzo 431 Villepin, Dominique de 1013 Vrijdags, Bartholomeus 752 Vural, Ümit 988 Wa¯hidı¯, Abu¯ l- Hasan ʿAlı¯ b. Ahmad b. ˙ ˙ ˙ Muhammad al- 506, 510, 512, 875 ˙ Wang, Daiyu 1173 Wang, Jingzhai 1173, 1175 Wang, Kuan 1175 Ward, John 1025 Wegel, Melanie 247

Personenregister

Weil, Gustav 51, 200, 297, 316, 343, 492, 511f., 614, 624, 671, 763, 908, 990, 1181– 1183, 1185 Weinert, Franz 342 Weiss, Hildegard 26, 247f., 250, 418 Wensierski, Hans-Jürgen 407, 414 West, Candace 548 Wetzels, Peter 255, 778 Wharnsby, Dawud 1329 Wiktorowicz, Quintan 777–779, 784 Wild, Stefan 510 Willems, Ulrich 342, 468 Worbs, Susanne 255 Woronowitsch, Ali 1114 Wu, Zunqi 1184 Xi, Jinping

1186f.

Ya’akob, Abdul Rahman 1220 Yakubovych, Mykhaylo 1107, 1109, 1343 Yang, Faming 844, 1181f., 1184, 1186f. Yaʿqu¯b (Jakob) 372, 565f., 695 Yaʿqu¯bı¯, Abu¯ l-ʿAbba¯s Ahmad b. Isha¯q b. ˙ ˙ Wa¯dih al- 21 ˙ ˙ Yasmeen, Summiya 1199 Yavuzcan, Ismail 302, 449 Yazdı¯, ʿAbd al-Karı¯m Ha¯ʾerı¯ 1290 Yildiz, Erol 26, 50, 666 Yu¯ka¯bid bint La¯uı¯ (Jochebed) 372 Yunus Emre 759 Yu¯nus (Jona) 1060 Yusuf, Hamza 1319 Yusuf, Samy 605 Yu¯suf (Josef) 383 Zag˙lu¯l Pa¯ˇsa¯, Saʿd b. Ibra¯hı¯m 921 Za¯hir, Muhammad 1156f. ˙ ˙ Zahı¯r, Pa¯yindah Muhammad 1149, 1153f., ˙ 1156f. Zain, Maher 605 Za¯ka¯nı¯, Niza¯m ad-Dı¯n ʿUbayd Alla¯h az˙ 716f. Zamahsˇarı¯, Abu¯ l-Qa¯sim Mahmu¯d b. ˙ ˘ ʿUmar az- 281 Zang˘a¯nı¯, ʿIzz ad-Dı¯n ʿAbd al-Wahha¯b b. Ibra¯hı¯m az- 1182

Personenregister

Zarathustra 1271 Zarnu¯gˇ¯ı, Burha¯n ad-Dı¯n az- 152 Zhang, Zhong 1185 Zhang, Ziwen 1175 Zia-ul-Haq, Mohammed 236 Zimmer, Veronika 241, 252–256, 665, 1343

1357 Zimmermann, Don H. 548 Zirfas, Jörg 593–595, 597 Zulayha¯ (Suleika) 565f. ˘ Zurayk, Constantin 153 Zwilling, Anne-Laure 440, 999, 1004, 1007, 1010f., 1014, 1016, 1343

Sachregister

adab, siehe Moral, Benehmen ʿadla, siehe Gerechtigkeit ahl al-kita¯b 813, 836, 851, 870 ahla¯q-i ʿamalı¯ 718 ˘ ahla¯q-i nazarı¯ 718 ˙ ˘ ahla¯q, siehe Ethik, Moral ˘ Ahmadiyya Muslim Jamaat 307, 461, 463, 467, 633, 958f. Ahmadiyya, siehe Ahmadiyya Muslim Jamaat Al-Azhar 20, 927, 929f., 933f., 991, 1298, 1305–1309 al-falsafa, siehe Islamische Philosophie al-Madrasa al-Niza¯mı¯ya 20 ˙ al-mutlaq 756 ˙ al-nafs, siehe Seele, Geist al-ʿulu¯m ʿaqlı¯ya 225, 232f. ama¯na 95, 100, 771 Ankaraner Schule 182 an-nafs al-lawwa¯ma 747, 769 Anthropologie 55, 111–114, 117, 122f., 125, 280, 355, 361f., 712, 744, 993 ʿaqa¯ʾid, siehe Glaube arka¯n al-ı¯ma¯n 845, 847 arka¯n al-isla¯m 426, 845f. Asˇʿarı¯ya 190f., 226 ATIB, siehe Diyanet I˙¸sleri Bas¸kanlıg˘ı Aufklärung 86, 322, 594, 596, 599, 706, 1000, 1202, 1262, 1285 Bait al-Hikma 20, 135 ˙ Balkan 175, 743, 941, 983, 1038, 1121f., 1124, 1126, 1137, 1139 Benehmen 347, 409

Bildung 12, 18–21, 23, 25, 28, 31, 35, 37, 41, 43, 47, 51, 60f., 66–68, 71f., 74, 79, 81, 83–93, 95, 97, 103f., 111, 124, 129–131, 134, 138, 140, 145, 148, 154–157, 160f., 167f., 170f., 176, 178, 180–182, 205, 209f., 217f., 223–235, 237, 239, 243, 253, 265, 270, 273, 275, 293–296, 298–302, 306, 308f., 315, 318, 320, 324, 326, 335– 342, 344, 349f., 353, 361, 382, 384, 395f., 400–403, 409, 411, 413, 418, 438, 440, 443, 449–451, 457, 463, 480, 486–489, 491, 493, 495–498, 503, 505–507, 523f., 526f., 529, 535–537, 550, 566, 568, 572, 590–592, 594–599, 603, 605, 615, 617– 620, 622, 624, 631f., 635f., 639f., 642f., 648, 650–652, 657f., 660f., 663, 672–676, 678, 681f., 686, 706, 713, 719, 731, 733– 737, 739, 747, 762, 765, 771f., 782, 786, 791–795, 824–826, 829f., 832, 834, 847, 859, 896, 900, 908, 911–915, 918–923, 925–934, 937–939, 942f., 949, 952f., 955, 957, 960f., 968, 991, 993, 999, 1002f., 1005, 1012, 1015f., 1023, 1028, 1030f., 1033, 1035f., 1038, 1040f., 1045, 1049– 1051, 1053–1058, 1074, 1079, 1083–1087, 1089–1094, 1096–1098, 1101–1103, 1107f., 1110–1119, 1121–1127, 1129, 1131f., 1134–1139, 1143–1146, 1148f., 1152, 1155, 1159, 1161, 1165, 1169, 1172, 1174, 1176–1181, 1183f., 1186, 1191, 1195, 1198–1200, 1203, 1205, 1211, 1215– 1220, 1222, 1224f., 1228, 1231, 1234, 1239, 1241, 1243–1245, 1248–1251, 1257, 1259f., 1262f., 1265f., 1269–1274, 1276,

1360 1278, 1280–1283, 1285, 1287f., 1290, 1293, 1297–1300, 1303–1308, 1313, 1317f., 1321, 1323f., 1326, 1333–1335, 1342f. Christen 191, 246, 347, 508, 614, 692, 695, 804, 810–813, 815, 835, 847, 850–852, 854f., 872f. Citizenship 620, 671–686, 1034, 1045, 1065, 1257 Da¯r al-Hikma 20 ˙ daʿwa 786, 789, 791 Deobandi 231, 1145f., 1148, 1153–1159, 1206 Dialog 52, 54f., 68, 104, 149f., 344, 393, 410f., 450, 457, 480, 491, 496, 499, 537, 565, 640f., 680, 693, 695, 697, 703, 732f., 735f., 744, 752, 799–805, 809–817, 824, 827, 831, 833, 835, 842, 844, 846f., 849– 851, 854, 857f., 904, 933, 965f., 994, 1054, 1065, 1074, 1076f., 1079, 1130, 1134, 1139, 1166, 1283, 1325 dı¯n 1133, 1147, 1152, 1155, 1182f., 1201, 1287f., 1305 dikr 112, 137, 138f., 156, 193, 571f., 853, ¯ 870 dikrullah, siehe dikr ¯ ¯ dı¯n 47, 50, 130, 133, 152, 156f., 160, 175, 367, 563f., 660f., 699, 704, 717, 721–723, 755, 759, 844f., 867 DITIB 33, 268, 304, 324f., 406, 417, 454– 457, 459–462, 464, 466, 631, 637f., 650, 958f., 962–966, 971 Diversität, siehe Vielfalt Diyanet I˙s¸leri Bas¸kanlıg˘ı, siehe DITIB, ATIB Dogmatische Theologie 139 Dschihad 755f., 771, 779, 1057, 1160, 1205 Ethik 78, 148, 153, 156, 169, 174–176, 199f., 241, 244, 275f., 347, 354, 368, 382, 407, 410f., 513, 599, 660, 711–721, 723f., 727– 729, 733, 738, 744, 768, 770, 893, 901, 933f., 993, 1034, 1042, 1052, 1054, 1057, 1072, 1095, 1100–1102, 1110f., 1127–

Sachregister

1130, 1153, 1184, 1202, 1274, 1284, 1286– 1289, 1291, 1320f. Exegese 112, 115, 117, 119, 124f., 131, 287f., 300, 369, 371, 482, 511, 513f., 557, 693f., 696, 869, 876, 1100, 1117, 1156, 1162 Exklusivismus 327, 694–697, 702f., 843 fata¯wa¯, siehe fatwa¯ fatwa¯ 202, 1201, 1304, 1306 fiqh 32, 130–134, 139f., 170, 174, 176, 192, 225f., 228, 348, 792, 845, 914, 992f., 1095, 1100, 1112, 1149, 1153, 1157, 1161, 1182f., 1185, 1197, 1264, 1275, 1291, 1302, 1308, 1317 fitra 62 ˙ Friedensbildung 751, 859 Fundamentalismus 11, 24, 286, 304, 319, 324f., 332, 619, 787, 1062, 1193, 1308, 1310 fuqaha¯, siehe Gelehrte Fürstenethik 716 Gebetsraum 298, 1115, 1318 Gedenken Gottes 137 Geist 46, 94, 96, 119, 121, 124, 140, 194, 204, 231, 360, 365, 368f., 377, 379f., 569, 571, 577, 593, 602, 720, 811, 835, 842, 847, 899, 1011, 1061, 1092, 1126, 1152, 1178, 1260, 1270, 1304 Geistwesen 116 Gelehrte 19, 21, 44, 48, 50, 55f., 66f., 72, 85, 91f., 112, 118, 130–138, 140, 147–149, 152, 155f., 158, 167–177, 179–182, 187, 193, 201f., 204, 209f., 216, 225–235, 237, 366, 427, 484f., 488, 506, 512, 526, 567, 571, 573, 577, 603f., 658, 719–721, 725, 735, 738, 768, 800, 812, 831, 867, 870, 875f., 892, 895f., 902f., 914, 926, 931, 1007, 1024, 1042, 1044, 1097, 1102, 1111, 1117, 1132, 1145f., 1158, 1171, 1173– 1177, 1181–1183, 1195, 1200–1204, 1276f., 1300–1307, 1309, 1318, 1331f., 1335 Gemeinschaft 18, 24, 26, 30, 37, 61, 91, 124, 138, 147, 155, 169, 192, 197, 213, 256f.,

Sachregister

268, 275f., 281, 286, 289, 295–297, 299, 301f., 304f., 307, 309, 321, 324, 329, 357, 362f., 365, 368, 372f., 420, 426, 431, 434, 441, 453, 457, 459f., 465, 572, 579, 600, 613, 651, 677, 685, 691, 693f., 696, 706f., 713, 716, 725f., 775, 787, 812, 814, 836, 857, 859f., 865, 868, 870f., 938f., 955, 963, 971, 984, 1002, 1010, 1012, 1014, 1023, 1033, 1038, 1041, 1051, 1058, 1069, 1084f., 1087–1089, 1093, 1097–1099, 1108–1110, 1113–1119, 1122f., 1125f., 1129–1131, 1134–1136, 1138, 1145, 1151, 1156, 1169f., 1172, 1176f., 1197, 1208f., 1224, 1227, 1230, 1234, 1242, 1246f., 1260, 1264, 1271, 1306, 1313, 1317–1319, 1322–1324, 1327–1331, 1333, 1335 Gemeinschaft der Muslim*innen 373, 523 Genderkompetenz 545f., 550–554 Gerechtigkeit 115, 151, 153, 185, 187, 189f., 202–205, 258, 273, 281, 283, 328f., 373, 411, 531, 536, 545, 549, 551, 553, 617, 676, 678, 685, 692f., 716f., 724, 726, 734, 739, 757, 764, 771f., 803f., 809, 816, 835, 847, 1059, 1242, 1285, 1287–1289, 1324 Gewalt 186, 189, 205, 256, 272, 285, 287, 318, 322, 327, 363, 371, 395, 483, 553, 621f., 671, 746, 752–758, 763–765, 776– 778, 780, 790f., 802, 804, 808, 877, 898, 900, 931, 1227, 1231, 1266 Gewissen 46, 64, 174, 185, 188, 190, 194– 206, 213, 282, 318, 358, 360, 365, 367, 371, 633, 694, 743, 746, 751, 858, 1064, 1109, 1265 g˘izya 813–815, 873 Glaube 18, 24, 27, 37, 43f., 50f., 56, 59, 62, 64, 68, 74, 79, 88, 95–97, 99, 102–104, 123, 132, 152, 181, 188, 194f., 199f., 234f., 246–248, 251f., 282, 284, 307, 318, 327f., 347, 358, 363, 367f., 371, 382, 395, 403, 411f., 431, 480–484, 486, 488, 495f., 499, 504, 518, 526, 529, 534, 537, 571, 574, 597f., 601, 603, 611, 613, 666, 678, 682, 693, 695f., 699f., 703, 705, 711–713, 721f., 724, 726f., 733, 737–741, 743, 745f., 753, 757f., 761f., 764–770, 772, 790, 800f., 807–813, 828–831, 836–838,

1361 844–847, 849, 855f., 858, 860, 867, 871, 873, 875, 900, 905f., 960, 964, 981, 992, 1006, 1032f., 1043, 1050, 1059, 1061– 1063, 1070f., 1149, 1153, 1157, 1161, 1173, 1178, 1217, 1226f., 1253f., 1285, 1288, 1334 Glaubensbekenntnis 27, 625, 829, 845, 847, 990, 1042, 1100, 1112 Gottesbewusstsein 66, 848 Gottesdienst 113, 194, 234, 245, 742, 745, 760, 770, 848, 871, 1058, 1242, 1253, 1314 Gottesebenbildlichkeit 119f., 123 Hadith 19, 73–75, 91f., 120, 147–149, 151, 153, 169f., 174f., 192f., 215–217, 226, 336f., 340, 364, 366, 369, 510, 521–528, 530–541, 557f., 565, 724, 738, 754, 757– 759, 763, 769f., 786, 791, 800f., 807f., 811f., 841, 845f., 848f., 853, 901, 1034, 1042f., 1057, 1064, 1100, 1146, 1183, 1299 Hadithdidaktik 993 Hadithgelehrte 168, 209 Hadithwissenschaft 19f., 173, 225, 234, 992 ha¯kim, siehe Richter ˙ ha¯l 720, 733, 1131, 1137 ˙ hala¯l 615, 624, 972, 1036, 1038f., 1323, 1327 ˙ halqa 169 ˙ haqı¯qa 130 ˙ higˇa¯b 622, 1007, 1016, 1153f., 1156, 1327 ˙ hikma, siehe Weisheit ˙ Hindus 19, 257, 371, 698, 966, 1028, 1036, 1079, 1144, 1153, 1156, 1191–1198, 1209f., 1216, 1223, 1230 houze-ye ʿilmiyye 1269, 1276, 1290–1292 ˙ hulq 714f., 717 ˘ Humanismus 153, 361, 371 iba¯da¯t, siehe Gottesdienst Ibtidai-Schulen 1121 ʿiffat 717 IGGÖ, siehe Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich ihtila¯f 694 ˘ Ihwa¯n as-safa¯ʾ 153 ˙ ˙ ˘

1362 ʿilm 44f., 48, 64, 67, 129, 138, 140, 146, 152, 158, 172, 193, 565, 723, 733, 766, 845, 870, 1061, 1110, 1131, 1137, 1200, 1207, 1299 Imam 33f., 36, 132, 173, 176, 193, 201, 230, 251, 268, 299, 308, 315, 318, 323–326, 330, 332, 369, 402, 427, 432, 434, 440f., 444, 450, 452, 463f., 467, 637, 641, 649f., 685, 715, 738, 784, 792, 896, 914, 969f., 983, 988f., 1008–1016, 1038f., 1056f., 1063, 1069, 1074f., 1078f., 1084f., 1113, 1116, 1118, 1125, 1132f., 1152, 1170, 1174f., 1177f., 1186, 1193, 1257, 1302, 1306, 1318, 1320, 1324, 1332, 1334 Imam-Hatip 677, 953, 1094, 1112, 1244, 1249, 1252, 1260, 1265 ¯ıma¯n 27, 37, 51, 120, 152, 188, 194, 504, 740, 765–770, 844f., 855, 1059 Indien 177, 224, 226, 229, 231f., 236, 400, 572, 580, 985f., 1000, 1027, 1036, 1144f., 1183, 1191–1199, 1202, 1204, 1209–1211, 1216, 1315, 1327, 1331 Inklusivismus 694f., 702, 836, 843, 857 gˇinn, siehe Geistwesen interreligiöses Lernen 828, 841–843 Iran 18, 171, 180, 227, 242, 427, 443, 572, 574, 897, 903, 985f., 1071, 1123, 1180, 1200, 1247, 1269–1278, 1280, 1284, 1286, 1288, 1290, 1292f., 1327 ʿirfa¯n 131, 136, 733 Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich 24, 438, 522, 877, 955, 967, 969, 984, 987–989, 991 Islamische Philosophie 134, 368, 563, 712, 715, 744f., 781, 993, 1024, 1100, 1275 Islamische Republik 1211, 1288, 1292 Islamisierung 26, 53, 243, 289, 371, 381, 415, 418, 623, 850, 949, 1034, 1043, 1108, 1118, 1160, 1193, 1197, 1203, 1207, 1215, 1335 Islamunterricht 32–34, 274, 277, 280, 299, 335, 386f., 449f., 452, 454, 456, 459, 461– 463, 465f., 494, 640, 911, 926, 955, 965, 991, 1043, 1108, 1115, 1134, 1136, 1144, 1215, 1218, 1330 igˇtiha¯d 202f., 234, 1291, 1304

Sachregister

Juden 286, 325, 508, 614, 804, 810f., 813, 835, 847, 850–852, 855, 869f., 872, 876f., 902, 1156 Kaaba 120, 621, 704, 758, 849 Kaʿba, siehe Kaaba Kalif 18f., 115, 136, 138f., 179, 193, 489, 738, 743f., 759, 771, 903, 914, 941, 1024, 1153, 1163, 1175, 1299 kara¯ma 271 Kastenwesen 1194–1196 Kolonialismus 815, 831, 1036, 1144f., 1193 Kompetenzorientierung 218, 342, 503, 514, 516, 537, 541, 1254 Koranschule 50, 251, 267, 330, 416, 419, 600, 616, 784, 912, 915, 917, 924, 1010, 1056, 1273f., 1278–1280, 1299 Körperschaft des öffentlichen Rechts 307, 436, 468, 623, 633, 987 Krieg 27, 37, 53, 273, 371, 623, 751–754, 805f., 814, 823, 896, 925, 951, 982, 985, 1025, 1029, 1117, 1126, 1144f., 1176, 1205, 1325 kufr 181, 844, 855f. kutta¯b 18–20, 170, 912, 915f., 918–920, 924, 929, 1148, 1174, 1180, 1273, 1302, 1305 laïcité 999f., 1003, 1006f., 1009f. Lehrbücher 170f., 175f., 178, 227, 391, 456, 504, 507f., 513–517, 522, 524f., 530, 673, 899, 905, 990f., 1043, 1057–1060, 1064, 1118, 1159f., 1169, 1173, 1180–1182, 1184f., 1205, 1218, 1226, 1239, 1241, 1251, 1255, 1260, 1279, 1283, 1286f., 1310, 1318 mada¯ris, siehe madrasa madhab 132f., 139, 225, 845, 1143, 1156, ¯ 1170 madrasa 20f., 130, 133f., 138–140, 427f., 916f., 922, 924, 1144–1148, 1152–1154, 1158–1161, 1163f., 1273, 1331 maka¯teb, siehe maktab

1363

Sachregister

maktab 20, 170, 173, 1030, 1117, 1122, 1124f., 1131f., 1134f., 1137, 1139, 1148, 1153, 1269, 1273f., 1279f. marʿifa 130 masgˇid, siehe Moschee, Gebetsraum Ma¯turı¯dı¯ya 47, 191 Medrese, siehe Koranschulen mekteb, siehe maktab Millet 179, 937–941, 943, 1086, 1092 Minderheitenschulen 943–950, 952f., 1245 Mı¯ta¯q al-Madı¯na 804 ¯ Moral 197, 199, 204, 335, 338, 340–342, 344, 349, 368, 402, 410, 558, 617, 658, 713f., 763, 792, 947, 1057, 1079, 1130, 1201, 1228, 1253–1255, 1264, 1266, 1270, 1298 Moschee 18f., 21, 23, 25, 36, 132, 135, 137f., 151, 169f., 173, 176, 251, 288, 297– 301, 308, 321, 323–325, 330, 356f., 363, 369, 380, 384–387, 390, 392, 408–410, 416, 426–429, 431–433, 439, 441, 468, 527, 536f., 575, 578f., 583, 603, 631f., 635f., 639, 641–645, 647, 649, 783–785, 812, 892, 896, 903, 912, 914f., 964, 969, 988f., 1009–1011, 1013–1016, 1023, 1028–1030, 1034, 1038–1041, 1055–1057, 1062f., 1074f., 1078, 1080, 1085, 1099, 1101, 1108, 1110f., 1113, 1115–1117, 1122, 1124, 1137f., 1144, 1146, 1148, 1151–1153, 1169–1175, 1177f., 1186, 1205, 1210, 1222, 1239, 1246, 1261–1263, 1269, 1272–1274, 1276, 1285, 1299–1302, 1306, 1313, 1315–1320, 1322, 1328–1331 Moscheepädagogik 647–649, 653 Muʿallim-ha¯ne 1122 ˘ Muhammad 37, 45, 51, 59, 61, 71–76, 78f., ˙ 85f., 90f., 116, 129, 137, 140, 146f., 151– 153, 155, 169–171, 174f., 188, 192f., 204, 226, 252, 270, 281, 328, 335, 355f., 358, 361, 365, 369f., 393, 483, 489f., 498, 509, 511f., 558, 571, 573, 578, 605, 612, 617, 621, 623, 625, 645, 658–662, 679, 684, 691–694, 696, 714, 718f., 723, 738, 754, 757f., 763, 769, 799f., 805–808, 810–813, 836, 845, 847, 849f., 856, 865–869, 871f.,

876, 914f., 917–920, 925, 928, 930, 960, 1044, 1056, 1145, 1147, 1152f., 1155– 1158, 1162, 1182, 1184, 1195, 1241, 1251– 1253, 1299, 1302–1305, 1335f. muhsin 770f. ˙˙ Muslimbruderschaft 180, 430f., 877, 896f., 903, 931, 1015, 1174 Muʿtazila 47, 123, 170, 178, 190, 788 Nachahmung 46f., 51, 72f., 75, 86, 133, 195, 408, 412f., 481, 484f., 488, 499, 607, 646, 699, 719, 869, 914, 1281, 1304 Naturlage, siehe fitra Niza¯m al-Mulk 1274, 1276 ˙ Parallelgesellschaften 304 Pluralismus, siehe Pluralität Pluralität 17, 26f., 56, 87, 102, 330, 346, 350, 396, 411, 463, 486, 491, 493, 529, 531, 569, 578, 651, 673, 676, 678, 680, 683, 691–708, 792, 795, 810, 824f., 830, 832, 834f., 836f., 842, 843, 857, 859f., 898, 900, 908, 966, 971, 992, 1006, 1054, 1061, 1130, 1165f., 1208, 1227, 1266, 1315 Pluralitätsfähigkeit 83, 87, 89, 101, 103, 794, 801, 835 Qing-Dynastie 1173 Qingzhen Nüsi 1169, 1173 qita¯l, siehe Krieg Qom, siehe Iran rabb 60f., 187, 612, 744, 759f. Radikalisierung 11, 284, 323, 332, 359, 363, 371, 419, 676, 775–780, 782, 784, 791– 795, 1028, 1031, 1034, 1044, 1056, 1069, 1161, 1186 rahma 288, 758, 1111 ˙ Rechtsschulen 21, 133, 139, 168, 170, 225f., 347, 417, 485f., 535, 725, 845, 984, 993f., 1013, 1117, 1195, 1203, 1227, 1245, 1253f., 1256f., 1260 Religionsästhetik 567f. Religionsgemeinschaft 34, 99, 146, 255, 275f., 294, 297, 302f., 307, 318, 354, 379, 430, 436f., 444, 452–464, 466–468, 624,

1364 633, 652, 672, 683, 703, 803, 832, 841, 866, 947, 958, 961, 965, 969, 983f., 994, 1001, 1008, 1013, 1027, 1032, 1044, 1078, 1109– 1111, 1113, 1123f., 1126, 1196, 1216, 1234, 1261, 1317 Religionspädagogik 11–13, 17, 22–37, 43– 45, 47–50, 52–56, 59, 65, 67, 72, 83–90, 93–95, 98–105, 122–124, 145, 160f., 213, 217, 271, 302, 335, 337, 353–355, 357, 360, 370, 441, 479–482, 486–499, 503, 505–507, 513, 517, 530, 545f., 551, 553, 558, 589–591, 595, 607, 635, 645, 648, 663, 667, 744, 823–825, 827f., 834, 838, 857, 859, 877, 879, 911, 955–958, 960– 963, 967–970, 972, 993–995, 999, 1127, 1133, 1249f., 1259, 1264, 1339–1343 Richter 120, 167, 172, 174, 176, 187, 189– 193, 225, 233, 235, 356, 361, 724, 848, 1089, 1163 Rüs¸diye 938, 1085f., 1088f., 1092 sˇagˇa¯ʿa 717 saha¯ba 27, 132, 511, 787 ˙ ˙ ˇsaha¯da, siehe Glaubensbekenntnis sˇaih-murı¯d 157 ˘ Säkularisierung 17, 22, 48, 167f., 176f., 180f., 223f., 237, 241, 244f., 677, 941f., 952, 1051f., 1085, 1089, 1093, 1097 sala¯m 347–350, 759f., 870 ˇsarı¯′a, siehe Scharia Scharia 48, 50, 137, 180, 202, 329, 347, 349, 699, 778, 781, 892, 926, 930, 1089, 1131f., 1197, 1227 Seele 50, 113, 120f., 154f., 157, 160, 565, 571, 593, 660, 711, 714–718, 720, 722– 725, 728, 732–734, 744, 747, 758, 764, 767, 769, 771, 905, 1241, 1285 Seelsorge 33–35, 280, 294, 317, 427, 429, 440, 465, 968, 989, 994, 1010, 1075, 1262, 1320f., 1334 Spiritualität 68, 137, 175, 301, 322, 347, 504, 537, 539, 578f., 598, 602, 641, 646f., 731–747 Stiftung 176, 229, 243–245, 307, 378, 384, 401, 403, 414, 427f., 434, 458–460, 465f., 539, 619, 650, 682, 816, 894, 915f., 919,

Sachregister

924, 938, 943, 945f., 951, 961, 984, 1005, 1032, 1038, 1041, 1084, 1097f., 1110, 1112, 1200, 1204, 1243, 1245f., 1264, 1274, 1302, 1341 Sunna 13, 18, 21, 24, 54f., 60, 72–74, 79, 83, 85, 89–93, 122, 132, 134, 137, 169, 192, 272, 283, 361, 365, 498, 521–534, 536– 541, 600, 612, 622, 725, 738, 741, 747, 751, 754, 757f., 781, 787–789, 791, 807, 845, 878, 1059, 1110, 1153, 1185, 1200, 1227, 1287, 1299, 1330, 1333 taʾdı¯b 61, 716, 781 tafsı¯r, siehe Exegese tahd¯ıb al-ahla¯q 153f. ¯ ˘ taʿlῑm 64 tam ilmiha¯l 356 Tanz¯ıma¯t 229, 1085, 1092 ˙ taqlı¯d, siehe Nachahmung taqwa¯, siehe Gottesbewusstsein tarbiya 24, 60f., 282, 612, 781, 891, 893f., 904, 1059, 1229 tasawwuf 137f., 160, 176, 191, 731f., 734, ˙ 740–742, 744–747, 761f., 993, 1154, 1240 tazkῑya 62 Theodizee 371 ʿulama¯, siehe Gelehrte Umayyaden 18f., 814f., 1300 ummat al-isla¯miyya 373 ummat al-muslimı¯n, siehe Gemeinschaft der Muslim*innen Vernunft 45, 64f., 83, 85, 94, 96–100, 103f., 130f., 134, 153, 169f., 181, 225f., 232– 234, 347f., 367f., 481, 483, 504, 531, 547, 605, 649, 660, 706, 711f., 718–721, 724– 727, 733, 738f., 745, 788f., 791, 808, 835, 1254, 1287f. Vielfalt 24, 27, 102, 112, 125, 147f., 281, 286, 354, 361, 365, 379, 384, 407f., 417, 419, 445, 457, 486, 515, 524, 563, 578f., 604, 640, 677, 692, 695, 697, 699, 707, 736, 746, 800, 823, 827, 832, 838, 857, 981, 985, 994, 1006, 1031, 1049f., 1054, 1058, 1061,

Sachregister

1064, 1077, 1093, 1107, 1121, 1124, 1127, 1138, 1177, 1216, 1232, 1300, 1313 VIKZ 324, 439, 456, 466, 637, 963, 966, 971 waqf, siehe Stiftung Weisheit 20, 64, 92, 94, 116, 129, 134f., 176, 187f., 190–192, 195, 200, 258, 566, 612, 678, 716–718, 720f., 723, 726, 728, 732f., 743, 810, 1157, 1163, 1202, 1271, 1289, 1299 Weltanschauungen 188, 316, 350, 362, 364, 370, 404, 419, 529, 680, 698, 712, 779, 817, 831f., 835, 837, 842, 857–859, 1052–1054, 1065, 1223, 1252f. Würde 22, 45, 48, 50, 52, 55f., 59, 76, 78, 83, 85, 94–96, 98f., 102, 112, 114, 116, 118f.,

1365 123f., 133, 186, 203, 227f., 230f., 235, 255, 267, 271, 284, 298, 318f., 341, 400, 458, 460, 492, 499, 526, 528, 532, 536, 557, 599, 626, 644, 652, 679, 681, 683, 693, 697, 700, 702, 712, 726–728, 731, 737, 760, 772, 778, 782, 788, 803, 806, 832, 835, 847, 850, 870, 872, 878f., 899f., 902, 934, 961, 1016, 1040f., 1044, 1056, 1074, 1080, 1090, 1097, 1101, 1118, 1145, 1165, 1195, 1202, 1218–1220, 1232f., 1254, 1280, 1285, 1288, 1293, 1314 zaka¯h, siehe zaka¯t zaka¯t 426, 640, 754, 760, 770, 814, 845f., 871, 1205 Zongjiao Zhidu 1177