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German Pages 400 [395] Year 2013
16:19 Uhr
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as Handbuch »Islamische Philosophie im Mittelalter« präsentiert in einer umfassenden Gesamtdarstellung eine der faszinierendsten Epochen der Geschichte des Denkens. Renommierte internationale Fachleute führen sowohl in die Theorien und Argumente der bedeutendsten islamischen Philosophen als auch in ihre Biographien ein. Überblicksartikel behandeln die Geschichte der islamischen Philosophie, ihre historischen Rahmenbedingungen und die Geschichte ihrer Rezeption im Westen. Dabei treten nicht zuletzt auch die philosophisch-rationalen Wurzeln deutlich hervor, die die arabische Kultur mit der europäischen bis heute verbinden. »Gut lesbar und höchst kenntnisreich werden einzelne Denker und ihre Werke vorgestellt. ... ein absolutes Muss für jede Bibliothek, ein Standardwerk auf dem Weg zu einem Verständnis unserer globalen Welt.« kunstundbuecher.at
Prof. Dr. Heidrun Eichner ist Inhaberin des Lehrstuhls Islamwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Prof. Dr. Matthias Perkams ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Antike und mittelalterliche Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Christian Schäfer ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie I an der Universität Bamberg.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26885-6
Seite 2
Islamische Philosophie im Mittelalter
21.09.2017
Eichner/Perkams/ Schäfer (Hrsg.)
PR032675_Islamische-Philosophie-im-Mittelalter_RZ_neu:Broschur
Heidrun Eichner/Matthias Perkams/Christian Schäfer (Hrsg.)
Islamische Philosophie im Mittelalter Ein Handbuch
HeidrunEichner, Eichner, Matthias Perkams, Christian Schäfer Heidrun Matthias Perkams, Christian Schäfer (Hrsg.)
Islamische Philosophie Philosophie im Islamische im Mittelalter Mittelalter Ein Handbuch Handbuch Studienausgabe 2. Auflage
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. http://dnb.d-nb.de abrufbar. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. DasWerk gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Das ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Mikroverfilmungen dieZustimmung Einspeicherung in und Verarbeitung Jede Verwertung istund ohne des Verlags unzulässig. durchfür elektronische Systeme.Übersetzungen, Das gilt insbesondere Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Studienausgabe 2., unveränderte Auflage 2017 © 2013 2013 by by WBG WBG (Wissenschaftliche © (WissenschaftlicheBuchgesellschaft), Buchgesellschaft),Darmstadt Darmstadt Die Herausgabe Herausgabe des Die des Werkes Werkes wurde wurde durch durch die die Vereinsmitglieder Vereinsmitglieder der der WBG WBGermöglicht. ermöglicht. Lektorat: Andrea Andrea Graziano Graziano di Lektorat: di Benedetto Benedetto Cipolla Cipolla Satz:UMP UMP Utesch Utesch Media Media Processing Satz: Processing GmbH, GmbH,Hamburg Hamburg Herstellung: pp030 – Produktionsbüro Heike Herstellung: pp030 – Produktionsbüro Heike Praetor, Praetor, Berlin Berlin Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: Unterricht in einer Medresse, Miniatur von Al Wasiti © bpk Einbandabbildung: Unterricht in einer Medresse, Miniatur von Al Wasiti © bpk Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-22357-2 ISBN 978-3-534-26885-6
Elektronisch sind sind folgende folgende Ausgaben Ausgaben erhältlich: erhältlich: Elektronisch eBook 978-3-534-73123-7 eBook(PDF): (PDF): 978-3-534-73123-7 eBook eBook (epub): 978-3-534-73124-4 978-3-534-73124-4
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Inhalt Einleitung 7 I.
Allgemeiner Teil ......................................................................................
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1. Die Bedeutung des arabisch-islamischen Denkens in der Geschichte der Philosophie (Matthias Perkams) 13 2. Ein historischer Überblick über die islamische Philosophie bis Averroes (Matthias Perkams) 32 3. Die Avicenna-Rezeption. Das Phänomen der enzyklopädischen Darstellungen (Heidrun Eichner) 50 4. Das gegenseitige Verhältnis von Philosophie und Islam (Rémi Brague) 67 5. Avicennas Erbe. Das ,Goldene Zeitalter‘ der arabischen Philosophie (1000 – ca. 1350) (Dimitri Gutas) 96 II. Einzelne Denker und Werke .....................................................................
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1. Die Übersetzung philosophischer Texte aus dem Griechischen ins Arabische und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund (Matthias Perkams) 115 2. Al-Kindī und die frühe Rezeption der griechischen Philosophie (Peter Adamson) 143 3. Die Theologie des Aristoteles (Rotraud Hansberger) 162 4. Der arabische Liber de causis und seine Erfolgsgeschichte im lateinischen Westen (Christian Schäfer) 186 5. Abū Bakr ar-Rāzī (Peter Adamson) 199 6. Al-Fārābī und der arabische Aristotelismus (Cleophea Ferrari) 218 7. Die Philosophen in der Tradition al-Kindīs. Al-ʿĀmirī, al-Isfizārī, Miskawayh, as-Siǧistānī und at-Tawḥīdī (Elvira Wakelnig) 233 8. Avicennas Metaphysik (Nadja Germann) 253 9. Psychologie und Noetik bei Avicenna. Einige entwicklungsgeschichtliche Aspekte (Heidrun Eichner) 275 10. Al-Ġazālī als Kritiker (Frank Griffel) 289 11. Ibn Rušds (Averroesʼ) Auffassung von Philosophie und ihre Kontexte (David Wirmer) 314 12. Metaphysik und Intellektlehre. Philosophische Hauptthemen des Ibn Rušd (Averroes) (David Wirmer) 340 13. Ibn Ḫaldūn (Rocío Daga Portillo) 365 III. Die Rezeption der arabischen Philosophie im Westen ............................. Die Überlieferung arabischer Philosophie im lateinischen Westen (Dag Nikolaus Hasse) 377
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Einleitung Eine handbuchartige Darstellung der arabisch-islamischen Philosophie des Mittelalters ist im deutschen Sprachraum gegenwärtig nicht verfügbar. Nicht nur Studierende und Lehrende, die sich direkt mit der Philosophie dieser Epoche befassen, sondern auch andere Interessierte sind bislang darauf angewiesen, sich überblickshafte Informationen aus verschiedenen, teils schwer zugänglichen Quellen zu verschaffen. Zwar gibt es inzwischen auch auf Deutsch Überblicksdarstellungen der arabisch-islamischen Philosophie,1 doch sind diese aufgrund ihres beschränkten Umfanges nur bedingt in der Lage, zu den Quellen als solchen hinzuführen. Dagegen wird der neue „Ueberweg“ zur Islamischen Philosophie,2 dessen erster Band gerade erschienen ist, den Forschungsstand sowie die Primär- und Sekundärliteratur sehr ausführlich präsentieren. Das vorliegende Handbuch steht in der Mitte zwischen diesen beiden Formaten und soll gerade in diesem Umfang den interessierten Nicht-Fachmann so gründlich in die arabisch-islamische Philosophie einführen, dass er sich eigenständig mit den Quellen beschäftigen und in ausführlicheren Darstellungen orientieren kann. Denn aufgrund ihrer vielen philosophischen, kulturellen und geistesgeschichtlichen Bezugspunkte findet die arabisch-islamische Philosophie gerade auch bei NichtFachleuten breites Interesse. Sie ist nämlich nicht nur eine wichtige Quelle für die arabischen Diskurse der Gegenwart, die für das Gespräch zwischen westlich-europäischen und arabisch-islamischen Gelehrten – und damit auch für die europäische Reflexion auf die eigene Stellung in der Welt – immer wichtiger werden. Vielmehr wird auch zunehmend der Wert der Zeugnisse dieser philosophischen Epoche als zusätzliche Informationsquelle für die antike Philosophie erkannt. Schließlich ist ihre Bedeutung als anregende Vorlage philosophischer und theologischer Denker des europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit ohnehin längst bekannt. Gerade diese intensive Rezeption der mittelalterlichen islamischen Philosophie in verschiedenen kulturellen Kontexten ist ein nicht zu übersehendes Indiz für ihre hohe historische und systematische Qualität und Relevanz. Entsprechend muss nicht mehr eigens betont werden, dass dieses Handbuch dazu anregen möchte, das Denken dieser Epoche als interessanten und eigenständigen Beitrag zur globalen Philosophiegeschichte zu begreifen. Seit der ersten Konzeption dieses Bandes war es unser Ziel, allen hieran Interessierten so viel Informationen zur Verfügung zu stellen, dass zumindest die wichtigsten philosophischen Quellen und Textzeugnisse dieser Epoche vom Leser vor dem Hintergrund sowohl ihres geistesgeschichtlichen als auch ihres allgemeinhistorischen Kontextes verstanden und eingeordnet werden können. Damit soll ein solcher Leser – so unsere Hoffnung – einen Rahmen erhalten, den er eigenständig vertiefen kann, um zu einem eigenen Urteil über die ihn interessierenden Fragen zu gelangen. Daneben soll der Band aber auch einfach als Informationsquelle für jeden dienen, der sich aus privaten oder beruflichen Gründen einen Überblick über die Anfänge und frühe Entwicklung der philosophischen Tradition im Islam verschaffen möchte. Um dies zu erreichen, haben wir viel Wert darauf gelegt, dass dieser Band nicht nur Beiträge zu einzelnen Philosophen und 1 2
Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 22008; Geert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt am Main 22011. Ulrich Rudolph (Ed.), Philosophie in der islamischen Welt. Band 1: 8.–10. Jahrhundert (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Abteilung 8, 1). Basel 2012.
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Einleitung
ihren Theorien enthält, sondern zunächst durch eine ganze Reihe von Überblicksdarstellungen eingeleitet wird. Diese sollen über die allgemeine Geschichte der Philosophie im arabischen Raum – von den ersten Übersetzungen philosophischer Texte ins Arabische bis ins 15. Jahrhundert –, ihr Verhältnis zu Religion und Theologie, sowie zu ihren griechischen Quellen eine Übersicht geben, die es prinzipiell erlaubt, den einzelnen Denker in seinen historischen und geistesgeschichtlichen Kontexten zu sehen. Dies ist umso wichtiger, als solche Kontexte für die arabischen Denker, die häufig keine direkten philosophischen Lehrer und Schulzusammenhänge kannten, nicht leicht herzustellen sind. Der relativ allgemein gehaltene erste Teil möchte so den Rahmen liefern für den zweiten Teil, in dem die Theorien der wichtigsten Philosophen der mittelalterlichen islamischen Welt etwas umfangreicher und detaillierter vorgestellt werden. Hier soll auch der spezifisch interessierte Leser genügend Informationen finden, um den Ansatz des jeweiligen Denkers verstehen zu können. Das scheint uns nicht nur der Sache nach vielversprechend, sondern auch eine Voraussetzung für die Bewertung von einzelnen Rezeptionsphänomenen zu sein. Des Weiteren haben wir einen allgemeinen Überblick über die Rezeption im lateinischen Raum aufgenommen, damit die weitgespannte Bedeutung der arabischen Quellen für den lateinischen Westen gewürdigt und verstanden werden kann. Für die insgesamt wenig erforschte und äußerst komplexe Rezeption der mittelalterlichen islamischen Philosophie im arabischen Kulturraum haben wir uns, von verstreuten Hinweisen abgesehen, auf zwei Überblicke zur ersten Phase der Diskussion um Avicennas Philosophie beschränkt; der Zeitpunkt für eine zusammenfassende Darstellung scheint uns hier noch nicht gekommen. Doch möchten wir ausdrücklich unterstreichen, dass dies wohl eher auf eine Forschungslücke zurückzuführen ist als auf eine geringe philosophische Aktivität in dieser Epoche. Die volle Bedeutung der mittelalterlichen islamischen Philosophie wird sich erst dann angemessen verstehen lassen, wenn uns in großem Umfang bekannt ist, wie sie in ihrem ureigenen Umfeld, nämlich der islamischen Welt, bis heute rezipiert worden ist. Gerade auf diesem Gebiet lassen die gegenwärtige Forschung und der erfreulicherweise anhaltende europäisch-islamische Diskurs für die nächsten Jahrzehnte spannende Entwicklungen erwarten.3 Diese Forschungslage erklärt im Übrigen auch die aus pragmatischen Gründen gewählte, für die islamische Welt durchaus anfechtbare Epochenbezeichnung als „Mittelalter“ im Titel unseres Handbuchs und die schon mehrmals angesprochene zeitliche Beschränkung auf die Entwicklungen bis zum 15. Jahrhundert europäischer Zeitrechnung. Auch für den auf diese Weise ausgewählten Zeitabschnitt gilt noch immer, dass die Ausarbeitung eines Handbuchs über ein dermaßen schwieriges Thema auf nicht unbeträchtliche Probleme stößt. Dies beginnt bereits beim Titel, wo wir uns für die Bezeichnung „islamische“ und nicht „arabische“ Philosophie entschieden haben. Den Ausschlag für diese Entscheidung, die wir als rein pragmatisch verstehen, gab dabei zunächst einmal das Ziel, sich in der Tat auf die philosophische Tradition im Islam selbst zu beschränken; vor allem eine Aufnahme der jüdischen Denker arabischer Sprache hätte den Aufriss des Bandes grundlegend verändert, wenn er denn überhaupt zu realisieren gewesen wäre. Des Weiteren schien uns, aufs Ganze gesehen, der relativ begrenzte Einfluss der arabisch schreibenden christlichen Denker, der vor allem bis zum 10. Jahrhundert spür3
Erste Informationen zu diesem komplexen Thema findet man z. B. in folgenden deutschsprachigen Publikationen: Anke von Kügelgen, Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam, Leiden u. a. 1994; Geert Hendrich, Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt 2004; Michael Kreutz, Arabischer Humanismus in der Neuzeit, Berlin 2007.
Einleitung
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bar ist (vgl. die historische Gesamtübersicht), eine entsprechende Änderung der Konzeption und des Titels nicht zu rechtfertigen. Schließlich sollte auch nicht vergessen werden, dass der islamische Hintergrund für viele der hier behandelten philosophischen Theorien von entscheidender Bedeutung ist und die Gestalt ihres Werkes wesentlich geprägt hat. Diese Tatsache, die mitentscheidend ist für die Bedeutung dieser Autoren bis heute, schien uns schon eine Würdigung im Titel des Bandes zu verdienen. Als konkretes Problem erwies es sich in vielen Fällen, Autoren zu finden, mit denen sich die ursprüngliche Konzeption des Bandes umsetzen ließ. Daher konnten Themenfelder wie der für die Philosophie wichtige frühe kalām, also die rationale Theologie, ebenso wenig ausführlich behandelt werden wie einige Autoren, deren Bedeutung zwar inzwischen bekannt, deren Denken aber insgesamt noch wenig erforscht ist (z. B. Abū l-Barakāt al-Baġdādī, ʿAbd al-Lāṭif al-Baġdādī, Ibn al-ʿArabī, as-Suhrawardī oder auch Ibn Bāǧǧa). Hier haben wir uns bemüht, in den Überblicksdarstellungen zumindest einige Informationen zu liefern. Immerhin können wir dank der engagierten Mitarbeit verschiedener Kollegen zusammenfassende Darstellungen auch für einige Autoren anbieten, die gerade erst näher erforscht werden (z. B. Abū Zakariyāʾ ar-Rāzī oder al-ʿĀmirī). Für einige Beiträge haben wir schließlich als Herausgeber selbst zur Feder gegriffen und hoffen, im Rahmen unserer Möglichkeiten einigermaßen erfolgreich gewesen zu sein. Wenn es sich trotzdem nicht erreichen ließ, sämtliche berechtigten Wünsche an ein Handbuch zu erfüllen, so bauen wir darauf, dass uns dies in Anbetracht der noch immer eingeschränkten Erforschung des weiten Feldes wohlwollend nachgesehen werden kann. Ein weiteres Problem, das für das Erstellen eines Handbuchs schwer wiegt, ist die Vielfalt und Varietät der Meinungen sowie die auffallend stark auseinandergehenden weltanschaulichen Vorentscheidungen, die ein Gebiet wie die arabisch-islamische Philosophie besonders betreffen: In einem Feld, in dem viele Quellen teils nicht ediert, teils kaum erforscht sind, dem sich zudem verschiedene Forscher von ganz unterschiedlichen Interessen her nähern (Philosophiegeschichte, Religionsgeschichte, islamische Geistesgeschichte etc.), kann es nicht ausbleiben, dass zu vielen Fragen kein Konsens herrscht, so dass ein solcher auch in einem einführenden Handbuch nicht herzustellen ist. Unsere Aufgabe als Herausgeber konnte hierbei nicht darin bestehen, einzelnen Meinungen den Vorrang vor anderen zu geben; andererseits konnte aber auch kein vollständiger Überblick über all die divergierenden Meinungen erreicht werden. Aus diesem Grund ist es, häufiger, als man es vielleicht in einem Handbuch erwarten würde, der Fall gewesen, dass wir unterschiedliche Ansichten gedruckt und nebeneinander stehen gelassen haben, ohne freilich den Anspruch erheben zu können, allen Positionen gerecht geworden zu sein. In vielen Fragen wird der Leser selbst entscheiden müssen, wie er das eine oder andere Problem betrachtet; wir hoffen, dass die Informationen in diesem Band ihm dabei helfen werden, dies systematischer und auf der Grundlage umfangreicherer Informationen zu tun als bisher. *** Projekte wie dieses bedürfen der tätigen Mitarbeit vieler, deren Bemühungen wir hier dankbar Erwähnung tun wollen: Ines Potzernheim, Manuel Gebhardt und vor allem Matthias Waha von der Universität Bamberg, Katja Weber und Lisa-Maria Knothe von der Universität Jena sowie Fjedor Benevich von der Universität Tübingen haben mit großem Fleiß über Jahre hinweg an der Erstellung des Textes mitgewirkt. Im Mai 2013,
Heidrun Eichner, Matthias Perkams, Christian Schäfer
Hinweise zur Umschrift Die Umschrift des Arabischen folgt im Allgemeinen den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Es wurden aber aufgrund ihrer fast allgemeinen Verbreitung die Grapheme ay und aw anstelle von ai und au für Yā bzw. Wāw nach a-Laut bevorzugt. Abkürzungen Insgesamt werden nur wenige Abkürzungen verwendet, die in der Regel selbsterklärend sein sollten oder vor Ort erklärt werden. Die folgenden Abkürzungen, die aus redaktionellen Gründen ab und an auftauchen, können aber auch hier zusammengestellt werden: DPA = Dictionnaire des philosophes antiques, éd. Goulet ebd. = Ebendort EI2 = The Encyclopedia of Islam, second edition. Enn. = Enneaden (des Plotin) GK = Großer Kommentar (des Averroes zu Aristoteles) Q = Koran (vor Zitaten)
I. Allgemeiner Teil
1. Die Bedeutung des arabisch-islamischen Denkens in der Geschichte der Philosophie Matthias Perkams (Jena)
1. Vorbemerkung Es ist inzwischen bekannt, dass es in den islamischen Ländern bedeutende und originelle philosophische Denker gegeben hat (und gibt1). Namen wie Avicenna, Averroes und al-Ġazālī sind nicht mehr bloße Chiffren für Quellen mittelalterlicher christlicher Autoren und werden auch nicht mehr nur – wenn überhaupt – in den lateinischen Übersetzungen ihrer Texte studiert. Vielmehr sind sowohl diese Autoren als auch ihre weniger bekannten Landsleute heute Gegenstand eigenständiger Forschung, die in den letzten Jahrzehnten bedeutende Fortschritte gemacht hat. Auch im universitären Philosophiestudium werden sie, auf der Grundlage deutscher und englischer Übersetzungen, in zunehmendem Maß verwendet. Diese Entwicklung ist auch bedeutsam, weil sie hilft, die Behauptung einer scharfen geistigen Kluft zwischen „europäisch-abendländischer“ und „arabisch-islamischer“ Kultur in Frage zu stellen. Die Beschäftigung mit der arabisch-islamischen Philosophie ist aus europäischer Sicht keine „interkulturelle Philosophie“ im Sinne der Auseinandersetzung mit einer gänzlich fremden Gedankenwelt wie etwa der chinesischen oder afrikanischen Philosophie.2 Korrekter könnte man sie vielleicht ein semi-interkulturelles Unterfangen nennen, denn der in der abendländischen Philosophie geschulte Leser stößt bei den islamischen Autoren auf zahlreiche Fragestellungen und Begrifflichkeiten, die ihm aus den klassischen griechischen Philosophen bekannt sind. Insofern das antike Denken Europa zudem teilweise vermittelt und verändert durch Entwicklungen im arabisch-islamischen Kulturraum erreichte, leistet das Studium der Arabisch schreibenden philosophischen Autoren auch einen Beitrag zur Klärung des Selbstverständnisses der Philosophie in den westlichen Ländern selbst. Diese Zusammenhänge möchte ich im Folgenden näher erläutern, indem ich zu zeigen versuche, dass sich die von den Griechen übernommene Philosophie im arabisch-islamischen Mittelalter in einer Weise weiterentwickelte, die im europäischen Denken bedeutsame Spuren hinterlassen hat, ja einen wesentlichen Beitrag zu dessen Selbstverständnis geleistet hat. Dazu möchte ich in einem ersten Schritt zusammenfassen, wie sich im arabisch-islamischen Mittelalter und aufgrund seiner spezifischen Situation – zu der die verfügbaren philosophischen Quellen und die Interessen der führenden Denker nicht weniger beitragen als die religiösen und sozialen Rahmenbedingungen – das Verständnis der Philosophie selbst verändert hat. Dazu wiederum werde ich einige zentrale Punkte anhand der Stichworte Philosophie und Religion, Wissenschafts- und Metaphysikverständ1
2
Zu gegenwärtigen Entwicklungen, auf die hier nicht eingegangen wird, vgl. zum Beispiel Fakhry, A History of Islamic Philosophy, S. 330–367; Heendrich, Arabisch-islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart, S. 153–168; Ziai, Recent Trends in Arabic and Persian Philosophy, S. 405–425; Rudolph, Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, S. 105–111. Zu diesem Begriff vgl. Paul, Einführung in die Interkulturelle Philosophie, S. 21f. Vgl. auch Wimmer, Interkulturelle Philosophie, S. 43–50.
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Allgemeiner Teil
nis sowie Philosophie und Glück kurz herausarbeiten. Auf dieser Grundlage möchte ich dann in einem zweiten Teil auf Aspekte hinweisen, in denen das europäische Denken durch diese Ideen so nachhaltig geprägt wurde, dass sie noch heute aus den Inhalten und dem Selbstbild der westlichen Philosophie nicht wegzudenken sind.3 In meinen Ausführungen zu den Entwicklungen im arabischen Raum beschränke ich mich auf die falāsifa, das heißt auf diejenigen Denker, die sich ausdrücklich als Philosophen im griechischen Sinne verstanden.4 Dies rechtfertigt sich dadurch, dass gerade sie die Entwicklung in Europa beeinflussten.5 Aufgrund des begrenzten Raumes nehme ich in Kauf, diese Philosophen in einer schematischen Weise behandeln zu müssen, also ohne auch nur die wesentlichen Unterschiede zwischen ihnen im Detail würdigen zu können.
2. Philosophie und Religion: ein neuartiges Problemfeld Das Problemfeld, auf dem das arabisch-islamische Denken philosophiegeschichtlich in besonderem Maße bedeutsam wurde, stellt das Verhältnis von Philosophie und Religion dar, das für beide Größen von Anfang an zentral war. Bedeutende Gemeinsamkeiten zwischen arabisch-islamischem und europäischem Denken ergeben sich daraus, dass die Religionen Islam, Christentum und Judentum in einigen Punkten übereinstimmen, die für das Verhältnis ebendieser Religionen zur Philosophie wichtig sind.6 Hierzu gehört zunächst einmal ein pointierter Monotheismus, der in allen drei Religionen auf die Offenbarung des einen Gottes an Abraham zurückgeführt wird. Diese Gemeinsamkeit wird im Islam dadurch betont, dass der Koran selbst die „Schriftbesitzer“ (ahl al-kitāb, wörtlich: Leute des Buches), nämlich Juden und Christen, unter besonderen Schutz stellt.7 Die Formulierung „Schriftbesitzer“ weist auf die allen drei Religionen gemeinsame Überzeugung hin, dass sich Gott nicht vollständig durch die Vernunft begreifen lässt, sondern dass an ihn so geglaubt werden muss, wie es aus einer schriftlich vorliegenden Offenbarung ersichtlich ist. Aber auch in inhaltlichen Fragen gibt es zwischen den drei Religionen philosophisch relevante Gemeinsamkeiten: Sowohl Muslime als auch Juden und Christen glauben nicht nur an einen einzigen Gott, sondern auch daran, dass dieser die Welt erschaffen hat sowie jederzeit direkt und unvermittelt in sie eingreifen kann. Parallelen gibt es weiterhin in dem philosophischen Erbe, auf das alle drei monotheistischen Religionen zurückgriffen.8 Denn sowohl die christlich-europäische als auch die arabisch-islamische Kultur sehen sich in der Tradition der griechischen Antike, deren Selbstverständnis wesentlich durch eine philosophisch-rationale Deutung des menschlichen Lebens sowie der Wirklichkeit als ganzer geprägt war, die bereits in der Antike auf Judentum und Christentum abgefärbt hatte.9 Damit kannten alle drei Religionen den Anspruch der philosophischen Vernunft, die Welt als ganze in ihrem Verhältnis zu ihrem göttlichen Ursprung zu erklären. Sie erfuhren dabei die hieraus resultierende Spannung,
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Zum Begriff der „philosophiehistorischen Bedeutung“ eines Autors und den historischen und systematischen Dimensionen dieser Frage vgl. Müller, Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus. Zu diesem Begriff vgl. unten im Kapitel über al-Ġazālī S. 289. Das ergibt sich im Detail aus dem Überblick, den Dag Hasse im Kapitel über die lateinischen Übersetzungen gibt. Eine aktuelle Verhältnisbestimmung aus religionswissenschaftlicher Sicht ist zum Beispiel Schmitz, Von der einen Religion des Alten Israel zu den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam. Dazu zum Beispiel Vajda, Ahl al-kitāb. Das gilt implizit auch für die Juden, die in beiden kulturellen Großräumen philosophisch aktiv waren. Zu diesem Anspruch im frühen Islam siehe unten S. 118f. im Kapitel über die griechisch-arabischen Übersetzungen.
Die Bedeutung des arabisch-islamischen Denkens in der Geschichte der Philosophie
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die darin begründet liegt, dass eine so verstandene Philosophie strukturell unabhängig von der Offenbarungswahrheit ist und folglich geeignet, deren alleinigen Wahrheitsanspruch infrage zu stellen. Noch vertieft wird diese Problematik dadurch, dass der Gottesbegriff der griechischen Philosophen mit demjenigen der monotheistischen Religionen nicht leicht vereinbar ist: Viele antike griechische Philosophen sprechen zwar auch von einem (höchsten) Gott, verstehen diesen aber als eine erste Ursache, welche nur gemäß bestimmten Gesetzmäßigkeiten und über mehrere Stufen, die zumindest teilweise selbst „göttlich“ genannt werden, in die Welt hineinwirken kann. Zumindest unter der, von den meisten von ihnen geteilten, Voraussetzung, dass die Verbindung von Gott und Welt ewig, notwendig und prinzipiell unveränderlich ist – weswegen eine rationale Beschreibung von ihr überhaupt möglich ist –, wirft das griechische Erbe für Denker in monotheistischen Kontexten, in denen von der Möglichkeit eines freien Eingriffs Gottes in die Welt ausgegangen wird, beträchtliche inhaltliche Probleme auf. Dies fiel bereits in der Antike dem Arzt und Philosophen Galen auf: „Das ist nämlich das, worin sich unsere Meinung, d. h. die Platons und die der anderen bei den Griechen, die die Untersuchungen über die Natur richtig angegangen sind, von der des Mose unterscheidet: Denn ihm genügt es, dass Gott die Materie ordnen will, und sofort ist sie geordnet. Er glaubt nämlich, dass Gott alles möglich ist, selbst wenn er will, dass die Asche ein Pferd oder ein Ochse wird. Wir aber erkennen, dass das nicht so ist, sondern sagen, es gebe Dinge, die natürlicherweise unmöglich sind und dass Gott diese gar nicht erst in Angriff nimmt, sondern dass er aus dem Möglichen auswählt, dass das Beste geschieht.“10
Mit den methodischen und inhaltlichen Problemen, die aus derartigen Unterschieden resultierten, wurden die arabisch-islamischen Philosophen in einer im Vergleich zur Antike deutlich gesteigerten Schärfe konfrontiert: Denn sie waren einerseits selbst Muslime, das heißt sie erkannten den Wahrheitsanspruch einer monotheistischen Religion mit dem universalen Geltungsanspruch einer Offenbarung an. Andererseits war für sie als Philosophen letztlich nur die Vernunft, deren Prämissen sie mit ihren griechischen Vorgängern weitgehend teilten, ein angemessenes Wahrheitskriterium. Die von Galen offengelegte Spannung war also innerhalb ihrer eigenen Persönlichkeiten und Biographien vorhanden. Zudem mussten die arabisch-islamischen Philosophen die Philosophie in einem religiösen und gesellschaftlichen Spannungsfeld definieren, das die Antike in dieser Form nicht kannte. Zwar hatte es auch in dieser Epoche philosophische Religionskritik und Repressionen gegen Philosophen aus religiösen Gründen gegeben. Insgesamt überwog aber ein Verhältnis gegenseitiger Anerkennung: Die philosophische Kritik an der Religion erwuchs aus dem Bemühen um deren rechtes Verständnis und um die, nicht zuletzt ethisch und politisch motivierte, Reinigung von irrationalen Elementen. Vielfältige religiöse Inhalte, zum Beispiel Götternamen, Kulte und Mythen, wurden von der Philosophie aufgegriffen und in einer Weise gedeutet, die eine Integration der philosophischen Lebensführung in die antike Religiosität ermöglichte.11 Dies lag unter anderem daran, dass die antiken Religionen nicht auf Offenbarungsschriften mit festgelegten Glaubenslehren
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Claudius Galenus, De usu partium [Der Gebrauch der Körperteile] XI, 14 S. 158f. Wichtige Hinweise hierzu geben zum Beispiel van den Berg, Proclus’ Hymns und OʼMeara, Platonopolis. Platonic Political Philosophy in Late Antiquity.
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Allgemeiner Teil
und einem universal-exklusiven Geltungsanspruch beruhten, sondern sehr mannigfaltig, wandlungsfähig und für neue Elemente offen waren.12 Insofern trat die Philosophie weder als platonische Mythenkritik noch als stoische Schicksalslehre oder neuplatonische Hypostasenmetaphysik in einen direkten Gegensatz zur Religion, auch wenn ihr Verhältnis zu konkreten Formen antiker Religiosität nicht selten schwierig war. Das Ideal „Allein der Weise ist ein Priester“ einte trotzdem viele Stoiker und Platoniker.13 Selbst skeptische Philosophie und paganer Kult schlossen sich nicht unbedingt aus.14 In der Spätantike, dem unmittelbaren philosophischen Bezugspunkt der arabischen Philosophen, etablierte sich die neuplatonische Philosophie sogar als systematisches Erklärungsmodell antiker Religionen, das dem Christentum, das sich seinerseits häufig als wahre Philosophie verstand,15 zumindest eine Zeitlang Paroli bieten konnte. Trotzdem bestehende Spannungen zwischen Philosophie und Volksreligion wurden, wie schon zuvor in Aristotelesʼ Metaphysik, durch die Annahme erklärt, die göttlichen Wahrheiten, welche die Philosophen rational erklärten, vermittle die Religion dem Volk durch Mythen und Symbole.16 Im Vergleich zu dieser Situation sahen sich die falāsifa, die Philosophen in der islamischen Welt, mit einem deutlich stärker akzentuierten offenbarungsreligiösen Wahrheitsanspruch konfrontiert und mussten des Verhältnis der Philosophie zu diesem bestimmen. Von Anfang an taten sie dies recht dezidiert, wobei sie an spätantike Verhältnisbestimmungen anknüpften.17 Bereits al-Kindī behauptete um 850 eine sachliche Einheit der Philosophie mit dem vom Propheten verkündeten Islam: Die Philosophen seien in der Lage, mit rationalen Mitteln dieselbe Wahrheit zu erkennen wie die Propheten, wenn auch langsamer und mit mehr Mühe. Diese harmonistische Position dürfte er auch deswegen für richtig gehalten haben, weil er das islamische Grunddogma der Einheit Gottes mithilfe neuplatonischer Ideen beschreiben und auch andere wichtige religiöse Themen philosophisch stützen konnte. So konnte er zum Beispiel für die creatio ex nihilo Argumente des christlichen Philosophen Johannes Philoponos nutzen. Al-Kindī vertrat also eine methodische Unabhängigkeit der Philosophie von religiösen Wahrheitsansprüchen, bestritt aber einen inhaltlichen Unterschied beider.18 Noch entschiedener wurde die Eigenständigkeit der Philosophie von al-Fārābī verfochten, dessen methodische und inhaltliche Überlegungen ihm den Titel eines „zweiten Lehrers“ (al-muʿallim aṯ-ṯānī) der arabischen Philosophen nach Aristoteles einbrachte. Er fasst seine Überlegungen in seiner eigenen Bearbeitung der Metaphysik, dem Buch der Buchstaben (Kitāb al-ḥurūf),19 prägnant folgendermaßen zusammen: 12 13 14
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Viele Aspekte dieser Thematik werden in der Forschungsübersicht berührt, die die Zeitschrift Verkündigung und Forschung 52 (2007) in Form von nicht weniger als sieben verschiedenen Artikeln bietet. Porphyrios, Ad Marcellam [An Markella], S. 16; Diogenes Laertios, Vitae philosophorum [Biographien der Philosophen], VII 119. Das zeigt exemplarisch Ciceros Schrift De natura deorum [Über das Wesen der Götter], in der der akademische Skeptiker Cotta kein Problem in seiner Rolle als Priester sieht, selbst wenn er viele philosophische Argumente für die Götter skeptisch prüft (III 2, 5). Siehe dazu ausführlich Kobusch, Christliche Philosophie, S. 26–63. Aristoteles, Metaphysik XII.8, 1074b 1–14 (dazu Bordt, Aristoteles’ „Metaphysik XII“, S. 138); Julian Apostata, Oratio [Rede] 7, 216cd. Die Auseinandersetzung zwischen Heiden und Christen hierüber illustriert ein Vergleich von Julian Apostata, Contra Christianos [Gegen die Christen] 39b mit Augustinus, De vera religione [Die wahre Gottesverehrung] 1f.; vgl. auch Kobusch, Christliche Philosophie, S. 46f. Zum Folgenden vgl. insbesondere Daiber, Die Autonomie der Philosophie im Islam; Endress, The Defense of Reason, S. 1–50. Interpretation und Belege bei Endress, The Defense of Reason, S. 3–13. Siehe ferner die Ausführungen von Peter Adamson im Kapitel zu al-Kindī, unten S. 156–158. Das war der damalige Titel von Aristoteles’ Metaphysik; siehe unten S. 134–136 im Kapitel über die Übersetzungen.
Die Bedeutung des arabisch-islamischen Denkens in der Geschichte der Philosophie
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„Weil durch das Verfahren der apodeiktischen Beweise etwas erst im Anschluss an die Dialektik (ǧadal) und die sophistischen Schlüsse gewusst wird, ist es nötig, dass diese Fähigkeiten, beziehungsweise die auf Meinung beruhende und die verfälschte Philosophie, der methodisch abgesicherten Philosophie (al-falsafa al-yaqīnīya), d. h. der apodeiktisch beweisenden (al-burhānīya), zeitlich vorangehen. Nun folgt die Religion (milla), wenn sie als menschliche verstanden wird, der Philosophie nach, sowohl zeitlich als auch überhaupt, weil sie nur zur Belehrung der großen Menge über die theoretischen und praktischen Dinge dient, welche die Philosophie erforscht, und zwar derart, dass den Menschen das Verständnis hiervon entweder durch Überredung (iqnāʿ) oder durch das Hervorrufen vorgestellter Bilder (taḫyīl) oder durch beides zugleich erreicht.“20
Auch al-Fārābī hält also daran fest, dass sich Philosophie und Religion auf dieselbe Wahrheit beziehen, aber er stellt den methodischen Vorrang der Philosophie stärker heraus: Letztlich beruht jede Religion auf einem philosophisch ermittelten Weltbild und vermittelt dieses der ungeschulten Masse der Menschen. „Die Philosophie geht der Religion auf dieselbe Weise voran, wie in der Zeit der Benutzer des Werkzeugs dem Werkzeug vorangeht.“21 Die Qualität des von einer Religion vertretenen Weltbildes hängt näherhin davon ab, ob die zugrundeliegende Philosophie selbst deduktiv-apodeiktisch bewiesen ist und daher zuverlässig die Wahrheit erfasst, oder ob sie nur auf unzuverlässigen dialektisch-topischen Schlüssen oder gar sophistischen Fehlschlüssen22 beruht. Ist die Richtigkeit einer Religion schon insofern von ihren philosophischen Voraussetzungen abhängig, so besteht zudem die Gefahr, dass die auf Überzeugung ausgerichteten Mittel, mit denen die Religion das breite Volk anspricht, zu einer weiteren Verzerrung der philosophischen Grundlage führen. Al-Fārābī hält also auch im islamischen Kontext strikt an der antiken Idee des epistemischen Vorrangs der Philosophie, die nur wenige begreifen, gegenüber der Religion fest, die sich an das breite Volk wendet. Im Sinne seines Aristotelismus erweitert er die oben erwähnte Bemerkung aus der Metaphysik zu einer systematischen Gesamtdeutung des Verhältnisses von Philosophie und Religion.23 Religion hängt nach dieser Theorie, wenngleich sie auch gelegentlich heuristisch auf verborgene Wahrheiten hinweisen kann,24 letztlich immer von der Philosophie ab, die also selbst gegenüber einer idealen, die Wahrheit verkündenden Religion immer einen klaren methodischen Vorrang behält. Dem exklusiven Anspruch der Offenbarungsreligion Islam wird so eine elaboriertere Theorie des Vorrangs der wissenschaftlich-apodeiktischen Philosophie gegenübergestellt, als die Antike sie je gekannt hatte. Al-Fārābī hat damit die Grundposition formuliert, von der aus sich die späteren falāsifa bis hin zu Averroes prinzipiell orientierten: „Das Wahre steht nicht im Gegensatz zum Wahren, sondern es stimmt damit überein und bezeugt es.“25 Mit dieser Maxime, die 20
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Al-Fārābī, Kitāb al-ḥurūf, §108; S. 131.6–9. Interpretation und Übersetzung von S. 131.7–9 bei Rudolph, Islamische Philosophie S. 33. Englische Übersetzung der gesamten Passage in: Khalidi, Medieval Islamic Philosophical Writings, S. 1–4 (mit der Paragraphenzählung des Originaltextes). Al-Fārābī, Kitāb al-ḥurūf, §110; S. 132.7f. Englische Übersetzung in Khalidi, Medieval Islamic Philosophical Writings, S. 2. Gemeint sind Schlüsse, wie sie sich entweder in Aristotelesʼ Topik (ǧadal) oder den Sophistici elenchi finden, im Gegensatz zu den deduktiven Schlüssen der Analytica posteriora (burhān). Dazu unten mehr. Der arabische Terminus iqnāʿ entspricht dem griechischen peithō aus Metaphysik, XII.8, 1074b4 (so zum Beispiel Averroes im Kommentar zur Stelle: Tafsīr ma baʿd aṭ-ṭabīʿa (Großer Kommentar zur Metaphysik), Band 3, S. 1688. 13; siehe auch Alon/Abed, Al-Fārābīʼs Philosophical Lexicon, Band 1, S. 376). Der Hinweis auf die Vorstellungskraft könnte auf erdichtete Mythen der antiken Religion anspielen. Unter Verweis auf Proklos hierzu O’Meara, Religion als Abbild der Philosophie. Al-Fārābī, Iḥṣāʾ al-ʿulūm, S. 133 (dt. Übersetzung: Schupp, Al-Fārābī, Über die Wissenschaften. De scientiis. Nach der lateinischen Übersetzung Gerhards von Cremona). Ibn Rušd, Faṣl al-maqāl, S. 9. Zu den deutschen Übersetzungen vgl. das Kapitel zu Averroes.
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ebenfalls Aristoteles entnommen ist,26 vertraten sie im Rahmen einer monotheistischen Offenbarungsreligion einen eigenständigen philosophischen Wahrheitsanspruch, der sich zwar nur methodisch von der religiösen Verkündigung abheben sollte – die Wahrheit der islamischen Offenbarung wurde nicht bestritten –, aber zumindest in dieser Hinsicht „einen Vorrang für die Vernunft angesichts religiöser und sozialer Auseinandersetzungen beanspruchte“27. Damit wurde erstmals außerhalb des griechischen Kulturraums, und noch dezidierter als dort, der Vorrang des philosophischen Wahrheitszugangs gegenüber religiösen Ansprüchen betont.
3. Charakteristische Züge der arabisch-islamischen Philosophie (falsafa) 3.1 Apodeiktische Methode und Verwissenschaftlichung der Philosophie
Die Bedeutung der Araber für das Selbstverständnis der Philosophie erschöpft sich jedoch nicht im Herausstellen des Wahrheitsanspruchs der Vernunft. Vielmehr wurde dieser, wie al-Fārābīs Zitat bereits andeutete, durch sorgfältige Analysen der verschiedenen methodischen Vorgehensweisen der einzelnen Wissenschaften genauer ausgeführt, die grundsätzlich die aristotelischen Vorlagen weiterzuentwickeln suchten. Dabei lassen sich zwei wichtige Aspekte unterscheiden: Erstens schenkten die arabischen Philosophen dem Konzept der Wissenschaft und der ihr adäquaten Methodik besondere Aufmerksamkeit, und zweitens klassifizierten sie die verschiedenen Wissenschaften in systematischer Weise. Dabei arbeiteten sie nicht zuletzt die besondere Methodik der Philosophie deutlich heraus und unterstrichen deren Erklärungskompetenz für die gesamte Wirklichkeit, indem sie die Disziplin der Metaphysik neu begründeten. Auch für diese Leistungen, die die philosophische Entwicklung Europas mitprägten, haben al-Kindī und al-Fārābī eine bahnbrechende Rolle gespielt; Avicenna und Averroes führten insbesondere al-Fārābīs Ideen in unterschiedlicher Weise fort. Den Schlüsseltext für den Wissenschaftsbegriff bildeten seit dem 10. Jahrhundert Aristoteles’ Analytica posteriora, welche die Baġdāder Aristoteliker, in deren Umfeld al-Fārābī arbeitete, das Buch des Beweises (Kitāb al-burhān) nannten.28 Damit trat ein Werk in den Mittelpunkt des Interesses, das in der Antike zwar kommentiert,29 aber nicht durchgängig zum methodischen Paradigma erhoben worden war. Im syrischen Aristoteles-Curriculum oder in der lateinischen Aristoteles-Übertragung des Boethius war es sogar überhaupt nicht enthalten. Die arabischen Aristoteliker fanden hierin das Ideal einer deduktiv-syllogistischen Ableitung wahrer wissenschaftlicher Erkenntnisse aus intuitiv erkannten Prinzipien, die als Apodeiktik bezeichnet wird. Diese deduktive Methode30 wurde bei den falāsifa zum Prinzip der spezifisch philosophischen, nicht auf Fehlschlüssen beruhenden Weltdeutung.31 Diese unterscheide sich, so al-Fārābī, dadurch von den religiös begründeten Wissenschaften, dem islamischen Recht (fiqh) und der Theologie 26 27 28 29 30 31
Taylor, Truth does not contradict truth, hat gezeigt, dass der zitierte Satz als ein direktes Zitat aus Aristoteles, Analytica priora, I.32, 47a 8f. übernommen ist. Endress, The Defense of Reason, S. 1. Weitere Informationen hierzu gibt das Kapitel über die griechisch-arabischen Übersetzungen. Einen Überblick über die antiken Kommentare gibt Brunschwig, Aristote de Stagire, S. 498f. Zur Bedeutung von „deduktiv“ vgl. Diemer, Der Wissenschaftsbegriff in historischem und systematischem Zusammenhang, S. 6f. Vgl. Marmura, The Fortuna of the Posterior Analytics in the Arabic Middle Ages.
Die Bedeutung des arabisch-islamischen Denkens in der Geschichte der Philosophie
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(kalām), dass die Philosophie einen universalen, diese aber nur einen auf eine Religion begrenzten Geltungsanspruch hätten; die Theologie sei demnach in gewisser Hinsicht eine „Dienerin“ (ḫādima) der Philosophie. Zudem hielten die religiösen Wissenschaften „Bilder und Vorstellungen“ für wahr und gewiss, ohne deren Wahrheit selbst beweisen zu können, da dazu nur die apodeiktische Philosophie imstande sei; daher sei die Theologie besonders gefährdet, sophistische Fehlschlüsse nicht zu erkennen.32 Diese Abgrenzung von Religion und Theologie bestimmte das Selbstverständnis der arabisch-islamischen Philosophen als Vertreter einer apodeiktisch-syllogistischen Deutung der gesamten Wirklichkeit: Avicenna beispielsweise verstand das philosophische Arbeiten im strengen Sinn als das systematische Gewinnen von Mittelbegriffen zur Konstitution neuer, sachlich richtiger Syllogismen. Mittels dieser Syllogismen wurde aus unbezweifelbaren Prämissen ein nicht mehr zu überbietendes, zuverlässiges Wissen über die verstandenen Sachverhalte gewonnen. Diese Methode nannte Avicenna „Verifizierung“ (taḥqīq).33 „Ich habe Dinge erkannt, die ich verifiziert habe; in Bezug auf sie kann ich nicht verbessert werden.“34 Averroes folgte diesem methodischen Ideal einer syllogistisch durchstrukturierten Erklärung der Welt als ganzer35 und verteidigte es gegen die Kritik, die al-Ġazālī in seiner Inkohärenz der Philosophen geübt hatte. Damit erfuhr die Philosophie eine durchgreifende Verwissenschaftlichung ihrer Methodik, die sie nicht nur gegen religiöse Wahrheitsansprüche abgrenzte, sondern auch Standards festlegte, die die Gestalt der Philosophie weit über die arabisch-islamische Welt hinaus bis heute beeinflussen. Während Aristoteles selbst die in den Analytica posteriora entwickelte Methodik nur in begrenztem Maße anwandte, ja sie vielleicht nur als Darstellungsweise wissenschaftlicher Ergebnisse festhielt,36 wurde sie im arabischen Bereich zu der Vorgehensweise schlechthin, die die philosophische Erkenntnis von anderen Methoden der Annäherung an die Wahrheit unterschied. Im frühmittelalterlichen Baġdād entstand so die Idee eines kohärenten Systems logisch verknüpfter Sätze als Idealgestalt von Philosophie. 3.2 Die Klassifizierung der Wissenschaften und der zweite Anfang der Metaphysik
Diese methodische Bestimmung der Philosophie im vollen Sinne ergänzte al-Fārābī durch eine Katalogisierung aller Wissenschaften nach einem einheitlichen Schema. Sein berühmter Iḥṣāʾ al-ʿulūm (Katalog der Wissenschaften) beeinflusste in lateinischer Übersetzung unter dem Titel De scientiis das lateinische Europa direkt.37 Die Bedeutung des Werks im arabischen Kontext liegt in dem Versuch, „einheimische“, das heißt arabisch-islamische, und „fremde“, das heißt griechische, Wissenschaften, erstmals in einer Systematik zu vereinen. Dabei wird die in der arabischen Tradition besonders wichtige Grammatik vor der von Aristoteles ererbten syllogistischen Logik behandelt. Trotzdem behält letz32 33 34 35 36 37
Al-Fārābī, Kitāb al-ḥurūf, §110f.; S. 132f. Englische Übersetzung in Khalidi, Medieval Islamic Philosophical Writings, S. 2f. Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 187–194 und 311–313. Avicenna, Brief an einen anonymen Schüler, übersetzt aus Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 59; ähnlich bereits Johannes Philoponos, In Analytica posteriora, S. 2.17–20. Taylor, Averroes. Religious Dialectic and Aristotelian Philosophical Thought, S. 183f. Dieses Thema behandeln in hervorragender Weise die Beiträge von Barnes, Owen und Wieland in dem Band: Articles on Aristotle. 1. Science. Einen guten Überblick über das Werk und seine Wirkung gibt es in der Einleitung zur deutschen Übersetzung von Franz Schupp. Vgl. auch al-Fārābī, De scientiis secundum versionem Dominici Gundisalvi/Die Wissenschaften. Die Version des Dominicus Gundissalinus; Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae/Die Einteilung der Philosophie.
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tere einen sachlichen Vorrang, denn sie liefert die Regeln, anhand derer die Wahrheit auf methodisch sicherem Wege erkannt werden kann, während die Grammatik mit der Korrektheit des Sprachgebrauchs befasst ist.38 Islamisches Recht und Theologie ordnet alFārābī unter die politischen Wissenschaften ein, da sie, wie schon im Buch der Buchstaben (Kitāb al-ḥurūf), nur einen eingeschränkten, von den Vorgaben des Religionsstifters abhängigen Wirkungsbereich haben.39 Die Naturwissenschaft beziehungsweise Physik sowie die „göttliche Wissenschaft“ (al-ʿilm al-ilāhī) haben demgegenüber, da sie zu den philosophisch-apodeiktischen Wissenschaften gerechnet werden, einen universalen Wahrheitsanspruch.40 Damit berührt al-Fārābī die Disziplin, von der der philosophische Anspruch auf eine Gesamtdeutung der Wirklichkeit letztlich argumentativ vertreten werden musste, nämlich die ebenfalls von Aristoteles begründete Metaphysik. Bereits al-Kindī hatte sie in den arabischen Raum eingeführt, als er sein Hauptwerk Erste Philosophie (al-falsafa al-ūlā) nannte,41 aber erst al-Fārābī bestimmte ihre Stellung im Rahmen der Wissenschaften. In seiner kleinen Schrift Die Ziele des Buches der Metaphysik erläutert er, dass die aristotelische Metaphysik von der islamischen Theologie unterschieden werden müsse, deren Ziel die Rede über Gott ist. „Dagegen betrachtet die allgemeine Wissenschaft das, was allem Seienden (ǧamīʿ al-mawǧūdāt) gemeinsam ist, so das Sein und die Einheit in ihren Arten und Anhängen.“ Die Theologie als die Lehre von der höchsten Ursache sei ein Teil dieser Wissenschaft, die Metaphysik genannt werde, nicht die ganze.42 Im Katalog der Wissenschaften unterscheidet al-Fārābī drei Untersuchungsziele der Metaphysik, nämlich 1. „das Seiende und das, was dem Seienden zukommt, insofern es seiendes ist“, 2. „die Prinzipien der Beweise in den einzelnen theoretischen Wissenschaften“, und 3. die unkörperlichen Dinge als solche. Unter diesem letzten Punkt zeichnet er knapp einen Argumentationsgang nach, der aus der Reflexion über unkörperliches Seiendes deduktiv die Existenz einer ersten Ursache und die Art ihrer Wirkung auf die Welt aufzeigt.43 Diese kurze Skizze einer philosophisch-metaphysischen Theologie kann in ihrem Anspruch kaum überschätzt werden: Hier wird exemplarisch gezeigt, wie auf apodeiktisch-syllogistischem Wege mit nicht hintergehbarer Gewissheit sowohl die Ursache der Welt bewiesen als auch deren Wirkung auf die Welt nachgezeichnet werden kann. Offensichtlich unter dem Einfluss der neuplatonischen Ursachenlehre, wie sie zum Beispiel das Buch vom reinen Guten (Kitāb al-ḫayr al-maḥḍ bzw. Liber de causis) vermittelt,44 erweitert al-Fārābī die aristotelische allgemeine Seinswissenschaft der Metaphysik zu einer „göttlichen Wissenschaft“ (al-ʿilm al-ilāhī), die sowohl die erste Ursache als auch ihre Wirkung auf die abhängige Welt als Seiendes im Sinne der aristotelischen Metaphysik versteht, das folglich mit apodeiktisch-deduktiver Methode zu untersuchen ist.45 Mit dieser Charakterisierung der Metaphysik schuf al-Fārābī den Rahmen, der etwa 80 Jahre später von Avicenna mit einem umfassenden Entwurf der so verstandenen universalen Seinswissenschaft ausgefüllt wurde. Noch eindeutiger als Aristoteles entwi38 39 40 41 42 43 44 45
Al-Fārābī, Iḥṣāʾ al-ʿulūm, S. 67–69 (dt. Schupp in al-Fārābī, Über die Wissenschaften, S. 23–25). Al-Fārābī, Iḥṣāʾ al-ʿulūm, S. 130–132 (dt. Schupp in al-Fārābī, Über die Wissenschaften, S. 123–125). Siehe Schupp in al-Fārābī, Über die Wissenschaften, S. XIX–XLVI. Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 243f. Al-Fārābī, Aġrāḍ al-kitāb al-mawsūm bi-l-ḥurūf, S. 35 (arab. Text) bzw. S. 56f. (dt. Übersetzung von Dieterici). Vgl. auch die historische Einordnung dieses Textes bei Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 238–253. Al-Fārābī, Iḥṣāʾ al-ʿulūm, S. 120–123 (dt. Schupp in al-Fārābī, Über die Wissenschaften, S. 104–111). Vgl. Endress, La via della felicità. Il ruolo della filosofia nell’ Islam medievale. Rashed, al-Fārābīʼs Lost Treatise On Changing Beings and the Possibility of a Demonstration of the Eternity of the World, besonders S. 38, weist deutlich auf den letztlich unaristotelischen Charakter dieses Ansatzes hin.
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ckelte dieser die philosophische Rede von Gott aus der Bedeutung von Sein und seiner verschiedenen Bedeutungen heraus. Insbesondere die prinzipielle Unterschiedenheit des „in sich notwendig Seienden“ (wāǧib al-wuǧūd bi-ḏātihī), nämlich Gottes, von allem anderen, in sich möglichem Seienden, deutet die mehrfach gestufte neuplatonische Wirklichkeitskonzeption neu durch eine zweigliedrige Gegenüberstellung der ersten Wirkursache und der Gesamtheit des Verursachten, die der Stellung Gottes in einer monotheistischen Religion Rechnung trägt.46 Der Notwendigkeit der ersten Ursache korrespondiert hierbei letztlich eine Notwendigkeit alles Seienden, das immer „notwendig von etwas anderem her“ existiert, nämlich von der ersten Ursache. Mit der Betonung dieser inneren Notwendigkeit kommt Avicenna zeitgenössischen Strömungen der islamischen Theologie inhaltlich entgegen.47 Sein Ansatz ist aber auch eine Form von Metaphysik, die der apodeiktischen Methode angemessen ist. Deren deduktiv zwingende Vorgehensweise findet ihre Entsprechung in der kausalen Determination der Wirklichkeit als ganzer durch ihre erste Ursache.48 Hervorzuheben ist, dass dieser Ansatz wesentlich auf dem Seinsbegriff und der Deutung von Notwendigkeit und Möglichkeit als ihm innewohnenden Modalitäten beruht.49 Damit vertieft Avicenna die zentrale Bedeutung einer universalen, Gott und Welt umfassenden Theorie des Seienden als solchen (on hēj on = al-mawǧūd bi-mā huwa mawǧūd = ens inquantum ens) und seiner „transzendenten“ Eigenschaften für die philosophische Metaphysik, die al-Fārābī bereits angedeutet hatte.50 Der „zweite Anfang der Metaphysik“, den Ludger Honnefelder an einem veränderten Verständnis von Metaphysik festmacht, das diese nicht mehr als Untersuchung des ersten Seienden, sondern als eine des Seienden im Ganzen begreift, findet nicht erst, wie Honnefelder selbst meint, im europäischen 13. und 14. Jahrhundert statt,51 sondern bereits im arabisch-islamischen Raum: Die universale, Gott und die Welt umgreifende Ontologie wurde von al-Fārābī programmatisch formuliert und von Avicenna in einem großen Entwurf ausgeführt.52 Es lässt sich sogar behaupten, es habe im Bagdad des 8. und 9. Jahrhunderts in der Tat einen zweiten Anfang, das heißt einen Neubeginn der Metaphysik als philosophischer Disziplin gegeben: Denn nach der Einführung des Konzepts der ersten Philosophie durch al-Kindī verstand al-Fārābī wohl als erster nach einer circa 300-jährigen Pause, dass die Metaphysik eine eigene Wissenschaft mit einem eigenen Objekt ist. Auch in dieser Hinsicht ist er zum „zweiten Lehrer“ der Philosophie geworden.
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Wisnovsky, Avicenna and the Avicennian Tradition, S. 123–133. Belo, Chance and Determinism in Avicenna and Averroes, S. 11f. und 231f. Die grundsätzliche Parallelität von Seins- und Erkenntnisordnung wird von al-Fārābī explizit vorausgesetzt, wobei sie freilich in der Untersuchung erst eingeholt werden muss: al-Fārābī, Taḥṣīl as-saʿāda [Die Erlangung des Glücks], §4 und §7, S. 51f.; eine englische Übersetzung wurde vorgelegt in Mahdi, Alfarabi, The Philosophy of Plato and Aristotle, S. 15, 16f. (dort als §5 und §8). Zu weiteren Differenzierungen, zum Beispiel zwischen Essenz und Existenz sowie Notwendigkeit und Möglichkeit, vgl. das Kapitel von Nadja Germann zu Avicennas Metaphysik in diesem Band. Eine Auslegung von Avicennas Metaphysik vor diesem Horizont liefert Koutzarova, Das Transzendentale bei Ibn Sīnā. Zur Metaphysik und Wissenschaft erster Begriffs- und Urteilsprinzipien. Honnefelder, Der zweite Anfang der Metaphysik. Voraussetzungen, Ansätze und Folgen der Wiederbegründung der Metaphysik im 13./14. Jahrhundert, S. 166f. Honnefelders These ließe sich durch systematisch sorgfältige Untersuchungen der spätantiken, arabischen und lateinischen Metaphysiken genauer fassen und relativieren.
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3.3 Theoretische Philosophie als eigener Weg zum Glück
Der Anspruch der arabisch-islamischen Philosophen wäre freilich nur unvollständig beschrieben, wenn man die Bedeutung ausklammern würde, die die philosophische Aktivität ihrer Meinung nach für das menschliche Leben besitzt. Auch in dieser Hinsicht nahmen die falāsifa eine Grundintention der antiken Philosophie auf und tradierten sie weiter, nämlich die These, Philosophie könne den Menschen zur Eudaimonie beziehungsweise zum Glück führen. Indem die islamischen Philosophen dieses Ziel nicht weniger hervorhoben als ihre antiken Vorgänger,53 beanspruchten sie zumindest implizit nicht weniger als die Religion eine Kompetenz für die Anleitung zu einer richtigen menschlichen Lebensführung.54 Dies geschah bereits im 10. und 11. Jahrhundert auf unterschiedliche Weise: Während al-Fārābī die politische Dimension menschlichen Glücks hervorhob und Platons Philosophenkönigtum zu einem Ideal für das Kalifat ausbaute, entwickelten Abū Bakr ar-Rāzī, Miskawayh und andere, meist in sokratisch-platonischer Tradition, individualethisch geprägte Ansätze einer philosophischen Vollendung des menschlichen Lebens.55 Indem Avicenna die Übereinstimmung des vollendeten Philosophen mit der prophetischen Weisheit genauer herausarbeitete sowie die Notwendigkeit religiöser Gesetze klarer begründete, schuf er die Möglichkeit zur Integration dieses philosophischen Glücksmodells in die mystischen Traditionen des Islam.56 Rein philosophische Glücksmodelle waren hingegen im muslimischen Spanien des 12. Jahrhunderts ein zentrales Thema, wo man sich freilich mehr am Vorbild des Aristoteles orientierte. Ibn Bāǧǧa und Ibn Ṭufayl stellten ausdrücklich die Frage nach der Möglichkeit einer guten Lebensführung des einzelnen Philosophen in einer schlechten Gesellschaft. In Ibn Ṭufayls berühmter Schrift Ḥayy ibn Yaqẓān erreicht der Protagonist seine Vollendung auf einer einsamen Insel ohne den Einfluss anderer Menschen. Obwohl seine Erkenntnisse mit der religiös vermittelten Wahrheit inhaltlich übereinstimmen, erweist sich ein langfristiges Leben in der religiösen Gemeinschaft für ihn als unmöglich.57 Dagegen vertrat Averroes, zeitweise ermutigt durch die almohadische Regierung, noch einmal das Ideal einer philosophischen Staatsführung, die ihre Rechtfertigung in dem apodeiktisch-syllogistischen Wissen des Philosophen findet, das der Masse der Menschen nicht direkt vermittelbar sei.58 In seinen späten Großen Kommentaren zu Aristoteles steht aber wieder die individuelle Vollendung des Philosophen im Mittelpunkt, allerdings in einer besonderen, auf dem Habitus der Wissenschaft beruhenden Form. „Das Sein des Menschen gemäß seiner höchsten Vollendung und seiner vollendeten Substanz ist, dass er gemäß der theoretischen Wissenschaft vollendet ist, und diese Lage ist für ihn das äu-
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Zur antiken Philosophie als „Lebenskunst“ vgl. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike; Horn, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern. Einen Überblick über Glückstheorien in der arabisch-islamischen Philosophie gibt Endress, La via della felicità. Vgl. Brague, Sens et valeur de la philosophie dans les trois cultures médiévales, besonders S. 242. Einen Überblick über die Ethik in der islamischen Philosophie gibt Adamson, The Arabic Tradition. Vgl. die Kapitel zu den genannten Autoren in diesem Band. Endress, La via della felicità, S. XLI-XLVII. Vgl. die Bemerkungen dazu im Kapitel über die Geschichte der islamischen Philosophie und die dort angegebene Literatur. Geoffroy, Averroè, S. 730–740.
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ßerste Glück und das ewige Leben.“59 Dieses Ideal schließt insbesondere an Aristoteles’ Aussagen zum Geist beziehungsweise Intellekt in De anima, der Metaphysik und der Nikomachischen Ethik an, während Aristoteles’ Modell einer politischen Lebensführung keine zentrale Rolle spielt. Mit Hilfe der genannten Schriften arbeitet Averroes die Idee aus, dass das Glück des Menschen von dessen Verbindung zum universalen Intellekt abhänge, die nur durch das Studium der apodeiktischen Wissenschaft erreicht werden könne. Damit entwirft er, wahrscheinlich im Anschluss an Alexander von Aphrodisias’ Kommentar zur aristotelischen Physik, ein kohärentes Ideal der Vollendung des Menschen durch theoretische philosophische Tätigkeit, welche auch die Erwerbung sämtlicher Tugenden zur Folge hat. Es sollte seine Wirkung auf die lateinische Nachwelt, die es schnell in Übersetzungen erreichte, nicht verfehlen. 3.4 Zusammenfassung
Mit der apodeiktischen Methodik, der Neubegründung der Metaphysik als universaler Wissenschaft vom gesamten, Gott und die Welt umfassenden, Sein und der Annahme einer Vollendung des menschlichen Lebens durch philosophische Aktivität sind drei Merkmale benannt, die für die Philosophie in der arabisch-islamischen Welt charakteristisch sind. Obwohl ihr Verhältnis bei den einzelnen Philosophen im Detail unterschiedlich bestimmt wird, hängen die drei Punkte sachlich eng zusammen: Die Apodeiktik deutet durch die Metaphysik die gesamte Wirklichkeit in ihrem Verhältnis zu ihrer ersten Ursache. Durch die damit sichtbar werdende universale Rationalität der Welt als ganzer erhält wiederum das Bemühen, sie auf intellektuellem Wege zu begreifen und genau dadurch die Eudaimonie zu erlangen, seinen Sinn, und zwar sowohl in gesellschaftlicher als auch in individueller Hinsicht. Alle drei Annahmen gemeinsam verleihen der Philosophie eine spezifische Gestalt, unter der sie innerhalb des religiösen Kontextes des Islam als eigene Lebens- und Denkform jahrhundertelang fortbestand und erkennbar blieb. Auf diese Weise konnten die falāsifa seit al-Fārābī die Bedeutung, die die Philosophie in der griechischen Welt hatte, nicht nur in wesentlichen Punkten wiederherstellen, sondern ihre Akzentsetzungen verliehen ihr noch klarere Konturen als je zuvor, gerade auch in Abgrenzung zur Religion. Andererseits wurde die Philosophie selbst hierdurch prinzipiell auf ein einziges methodisches Paradigma festgelegt. Beispielsweise traten die rhetorischen und doxastischen Anteile, aber auch das skeptische Potential der antiken Philosophie deutlich hinter den apodeiktischen Beweisanspruch zurück.
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Prooemium zum Großen Kommentar zu Aristoteles’ Physik, laut Schmieja, Drei Prologe im Großen Physikkommentar des Averroes, S. 185f. = Averroes, In Physicam, Ed. Venedig 1560, f. 1r C-1v D; korrigiert durch Vergleich mit Harvey, The Hebrew Translation of Averroes’ Prooemium to his Long Commentary on Aristotle’s Physics, S. 65 (hebr. Übers.) und S. 73f. (engl. Übers.). Die mittelalterliche lateinische Überlieferung enthält denselben Text in zwei verschiedenen Übersetzungen zu Beginn des ersten und des achten Buchs der Physik, die hebräische Harvey zufolge nur vor dem ersten.
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4. Die Wirkung auf die europäische Philosophie In dieser Form präsentierten die lateinischen Übersetzungen arabischer Texte die islamische Philosophie auch den Denkern des europäischen Mittelalters sowie der frühen Neuzeit. Diesen lagen seit dem frühen 13. Jahrhundert mit al-Fārābīs Katalog der Wissenschaften, der Metaphysik aus Avicennas Kitāb aš-Šifāʾ sowie Averroes’ Großen Kommentaren zu Aristoteles’ Physik, Metaphysik und De anima genügend Texte in Übersetzung vor, um die eben genannten Punkte sowie die unterschiedlichen Akzentsetzungen von Avicenna und Averroes zumindest in ihren Grundzügen erkennen zu können. Während die Schriften al-Fārābīs und Avicennas vor allem in methodischen und inhaltlichen Fragen Wirkung entfalteten, transportierte insbesondere das Œuvre des Averroes die Ansprüche der Philosophie auf einen nicht offenbarungsgestützten Zugang zur Wahrheit sowie auf eine Hinführung zum menschlichen Glück. So wurde es zur entscheidenden Quelle, die das Ideal einer autonomen Philosophie nach Europa vermittelte. Ich möchte im Folgenden anhand zweier Punkte andeuten, auf welche Weise diese Ideen in Europa eine beträchtliche Wirkung entfalteten, deren Konsequenzen bis heute fühlbar sind. Dabei möchte ich besonders die Wirkung der ursprünglich im Kontext der arabisch-islamischen Zivilisation entstandenen philosophischen Ideen berücksichtigen. Diese Ideen entfalteten im lateinischen Mittelalter ihre Wirkung, indem sie zu einer kritischen Abgrenzung einluden, die sich ihrerseits philosophisch als fruchtbar erwies. Dies sei einerseits in Bezug auf die Eigenständigkeit der Philosophie und andererseits auf die Rezeption der avicennischen Metaphysik kurz ausgeführt. 4.1 Die Philosophie und ihre Eigenständigkeit im Verhältnis zur Religion
Averroes’ Überlegungen zur Rolle der Philosophie und zum philosophischen Vorgehen stießen im lateinischen Mittelalter schnell auf Kritik. Insbesondere die für ihn, ebenso wie schon für al-Fārābī, zentrale These von der Einheit der offenbarten und der rational ermittelbaren Wahrheit führte zu erbittertem Widerspruch. Christliche Theologen und Philosophen kamen schon Mitte des 13. Jahrhunderts, also nur 50 Jahre nach Averroes’ Tod, zu der Überzeugung, dass ein philosophisches Vorgehen, das die Offenbarung nicht ebenfalls berücksichtige, zu einer „doppelten Wahrheit“ führen müsse. Gemeint war damit, dass die Philosophie zu Überzeugungen gelangen könne, die der christlichen Offenbarungswahrheit widersprächen. Thomas von Aquin behauptete um 1270 gegenüber den sogenannten lateinischen Averroisten, die sich dem Ideal einer aristotelischen Philosophie verschrieben hatten, dass eine derartige Gefahr bestehe.60 Wenige Jahre später, im Jahre 1277, verurteilte der Bischof von Paris 219 Thesen, die der aristotelisch-averroistischen Philosophie zugeschrieben wurden, aus demselben Beweggrund heraus als häretisch. Infolge dieser Entscheidung verschwand eine von theologischen Vorgaben unabhängige philosophische Forschung zunächst weitgehend von den Universitäten, an denen die Philosophie freilich als Vorbereitung auf die höheren Studien der Theologie, Medizin und Juristik weiter gelehrt wurde.61 Aus dem Blickwinkel des arabisch-islamischen Kontextes stand eigentlich die These von der Einheit der (zwar in sich verschiedenen) philosophischen und religiösen Wahr60 61
Thomas von Aquin, De unitate intellectus contra Averroistas, S. 314.412–430; dt. Über die Einheit des Geistes gegen die Averroisten. Über die Bewegung des Herzens, S. 98. Zur gesamten Debatte siehe Perkams, Einleitung, S. 26–43. Siehe zum Beispiel Schulthess/Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter; Wirmer, Einleitung zu Averroes, Über den Intellekt, S. 9–11.
Die Bedeutung des arabisch-islamischen Denkens in der Geschichte der Philosophie
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heit stark im Vordergrund. In Europa blieb dieser Aspekt bemerkenswert wirkungslos. Dies hat verschiedene Gründe, hier möchte ich nur einige nennen: Erstens wurden die einschlägigsten Texte von al-Fārābī und Averroes nicht ins Lateinische übersetzt, sondern man war vor allem auf programmatische Hinweise in Averroesʼ Kommentaren angewiesen. Zweitens musste die selbst im Islam fühlbare62 Problematik der These von der sachlichen Einheit von Philosophie und Religion in Anbetracht rational schwer nachvollziehbarer christlicher Glaubensüberzeugungen wie Dreifaltigkeit, Menschwerdung Gottes und Erbsünde noch stärker zutage treten.63 Drittens wurden solche Spannungen an den im 13. Jahrhundert bereits weit entwickelten Universitäten mit ihrer ausgeprägten Argumentations- und Disputationskultur wesentlich schneller kritisch reflektiert, als dies bei den meist eher für sich arbeitenden Philosophen im Islam der Fall gewesen war. Zusammengenommen führten diese Faktoren zu der genannten Entwicklung, dass die Autonomie einer rational vorgehenden Philosophie nicht als methodische Alternative, sondern als inhaltliche Konkurrenz zum Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligion wahrgenommen wurde. Die großen und einflussreichen philosophischen Ansätze des Spätmittelalters wurden infolgedessen von christlichen Theologen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Glaubensüberzeugungen entwickelt. Diese Autoren, zum Beispiel die Franziskaner Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, hatten zwar wie alle Universitätsabsolventen der Zeit eine philosophische Ausbildung anhand der aristotelischen Texte erhalten. Deren Wahrheitsanspruch wurde dabei jedoch nur insofern anerkannt, als er nicht im Widerspruch zu den philosophischen Konsequenzen stand, die man aus der biblischen Offenbarung ableitete; ansonsten wurden die überlieferten philosophischen Lehren ihrerseits mit neuen philosophischen Argumenten kritisiert. 4.2 Metaphysische Systeme der Freiheit und der Notwendigkeit als Rezeption avicennischer Metaphysik
Diese Arbeitsweise führte ab Ende des 13. Jahrhunderts zu einer ganzen Reihe auch philosophisch grundlegender Neuansätze. Der Einfluss, den die arabisch-islamische Philosophie dabei ausübte, zeigt sich beispielhaft an der Rezeption der Grundprinzipien von Avicennas philosophischer Metaphysik mit ihrer Idee einer notwendigen Kausalität. Zwei in vielem konträre Gegenpositionen können exemplarisch die mannigfaltigen Resultate dieses Einflusses verdeutlichen: Um 1300 behauptete der Franziskanertheologe Johannes Duns Scotus, die Annahme einer notwendigen Erstursache impliziere zwangsläufig eine Notwendigkeit von sämtlichen Zweitursachen und deren Wirkungen, was das Vorhandensein von Kontingenz in der Welt ausschließe. Da diese aber offensichtlich und eine unverzichtbare Vorbedingung freien menschlichen Handelns sei, müsse man vielmehr auch für die erste Ursache eine durchgängige Notwendigkeit bestreiten; zumindest in ihrer Wirkweise, dem Willen, müsse diese ebenfalls kontingent sein.64 Diese Theorie, die deutlich als Reaktion auf Avicennas in sich schlüssiges Notwendigkeitsdenken erkennbar ist,65 stellt gerade in des62 63 64 65
Dazu Niewöhner, Zum Ursprung der Lehre von der doppelten Wahrheit. Vgl. dazu die Bemerkungen von Rémi Brague, unten S. 80f. Vgl. zum Beispiel Duns Scotus, Reportatio Parisiensis examinata in I Sent. d. 39–40 q. 1–2 nr. 26–57. Das zeigt besonders eindeutig die Variation des gerade zitierten Gedankenganges ebd. d. 42 nr. 13–17, wo „den Philosophen“ die Aussage unterstellt wird, „dass die Erstursache mit Notwendigkeit tätig ist“. Explizit tut das am eindeutigsten Avicenna.
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sen Ablehnung einen wichtigen Schritt zur Anerkennung der rationalen Unverfügbarkeit der Wirklichkeit dar: Wenn es keine notwendige Wirkung der ersten Ursache auf die Welt gibt, dann kann auch das Verhältnis dieser ersten Ursache zur Welt nicht auf apodeiktischem Wege voll begriffen werden. Das Verhältnis von Gott und Welt ist kontingent, weswegen es letztlich nur vom Glauben voll erfasst werden kann. Diese Konsequenz eines Denkens, dessen primären Anstoß das theologische Motiv der Erhaltung der Freiheit des Schöpfergottes gab, blieb nicht unwidersprochen. Um einen solchen Widerspruch philosophisch konsequent durchzuführen, wählte 300 Jahre später Benedikt de Spinoza (ein Autor, der mit den Ansätzen von Averroes und Avicenna gut vertraut war66) einen Ansatz, der die notwendige Kausalität der ersten Ursache in den Mittelpunkt stellte. Schon die Form von Spinozas Philosophie, die in geometrischer Notwendigkeit aus einer begrenzten Zahl klar definierter Prämissen folgt, erinnert an das apodeiktische Ideal der falāsifa. Aber auch inhaltlich vertritt er, im Kern nicht anders als Avicenna, einen notwendigen Zusammenhang der Welt mit der ersten Ursache, deren Freiheit lediglich darin besteht, dass sie „aus der bloßen Notwendigkeit der Natur da ist“, während dasjenige als notwendig definiert wird, „was von einem anderen durch einen gewissen und bestimmten Grund zu sein und zu wirken bestimmt wird“.67 Schon diese einleitende Definition greift bis in die Terminologie hinein Avicennas Unterscheidung von an sich bestehender und abgeleiteter Notwendigkeit auf, wodurch der ansonsten terminologisch stark fühlbare Einfluss des Duns Scotus68 konterkariert wird. Damit wird Avicenna wiederum zum Ansatzpunkt für die Zurückweisung des spätmittelalterlichen Freiheitsdenkens. Hier stellt sich die Frage nach den Gemeinsamkeiten zweier so gegensätzlicher Ansätze wie denen von Duns Scotus und Spinoza. Einen Hinweis kann die Überlegung geben, dass sie beide das Verhältnis der Welt zu ihrer ersten Ursache und deren eigene Wirkweise auf einheitliche Weise beschreiben – entweder ist beides kontingent oder beides notwendig. Die für viele Positionen der antiken Tradition kennzeichnenden Übergänge vom Ewigen zum Zeitlichen, von der Notwendigkeit zur Kontingenz oder von der Wahrheit zum Schein, wie sie Thomas von Aquin in neuplatonischer Tradition noch für möglich hielt,69 werden hingegen als ungerechtfertigte Nivellierungen von Gegensätzen abgelehnt, die einander sachlich ausschließen. Das lässt sich unter anderem dadurch verstehen, dass nach den wissenschaftlichen Prinzipien der Analytica posteriora einheitlich verwendete Begriffe für das Ziehen gültiger Schlüsse erforderlich sind. Die Wirklichkeit, die durch derartige Schlüsse korrekt beschreibbar sein soll, muss aber selbst entweder durchgehend notwendig oder durchgehend kontingent sein. Letztlich dürfte das arabisch-islamische Denken demnach die europäische Philosophie am tiefsten durch seine methodischen Reflexionen beeinflusst haben. Diese behielten selbst nach einer Abkehr von aristotelisch-neuplatonischen Ontologie- und Kausalitätsprinzipien ihre Bedeutung. Sie förderten somit das Hervortreten der scharf konturierten Gegensätze, die das spätmittelalterliche und neuzeitliche Denken vor schwer lösbare Probleme stellten. Beispiele sind die Verhältnisse von Vernunft und Offenbarung als Quellen 66 67 68 69
Wolfson, The Philosophy of Spinoza, Band 1, S. 82 (zur Methodik) und 187f. (zum Notwendigkeitsbegriff). Zu Weiterem vgl. das Register unter den Namen Averroes und Avicenna. Spinoza, Die Ethik, mit geometrischer Methode begründet, Band 1, Definition VII, S. 88. Meine Übersetzung. Scotischer Einfluss zeigt sich zum Beispiel in Spinozas Definition Gottes mithilfe des Unendlichkeitsbegriffs sowie in seiner Rede von modi des Seienden sowie von der realitas verschiedener Seinsgrade. Thomas von Aquin hingegen hielt es, wohl auch wegen des neuplatonischen Modells der analogia entis, für möglich, dass Gott sowohl notwendige wie kontingente Wirkungen hervorbringt: Summa theologiae, I, 19, 8 responsio.
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wahrer Erkenntnis oder auch von Freiheit und Notwendigkeit als Ausgangspunkte von Denksystemen. Diese Spannungen dürften wiederum die Frage nach einem Kriterium zur Beurteilung konkurrierender inkommensurabler Wahrheitsansprüche tendenziell verstärkt haben, die sich auch auf politischer und religiöser Ebene in Anbetracht der Konflikte der europäischen Neuzeit zunehmend stellte. Ein methodisch abgesichertes wissenschaftlich-rationales Vorgehen kristallisierte sich dabei als wichtigste Möglichkeit heraus, solche Probleme beherrschen zu können. Auf diese Weise erlangte der Vorrang wissenschaftlicher Rationalität vor Glaubensüberzeugungen, den ursprünglich al-Kindī, al-Fārābī, Avicenna und Averroes innerhalb der Offenbarungsreligion Islam entwickelt hatten, im westlichen Europa eine größere Bedeutung, als er je zuvor besessen hatte. Ohne die von den Arabern geleistete methodische Fundierung der Philosophie wäre die geistige Dynamik, der das säkulare Europa sein Selbstverständnis verdankt, kaum in derselben Weise zustande gekommen.
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2. Ein historischer Überblick über die islamische Philosophie bis Averroes Matthias Perkams (Jena)
1. Die Anfänge der Philosophie in theologischen Diskussionen 1.1 Erste Übersetzungen aus dem Griechischen
Die Anfänge der Beschäftigung mit Philosophie im arabischen Sprachraum sind für die frühe ʿAbbāsidenzeit, also die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts bezeugt. Wie im Kapitel über die Übersetzungen ausgeführt, lässt sich für diese Zeit ein Interesse an philosophischen Fragen ausmachen. Dieses äußerte sich in ersten Logikkompendien, von denen das von Ibn al-Muqaffaʿ bereits um die Mitte des 8. Jahrhunderts entstanden sein könnte, sowie in ersten Übersetzungen der aristotelischen Topik und Physik. Diese ersten philosophischen Zeugnisse in der arabischen Welt waren vermutlich durch konkrete theologische Interessen angeregt; sie bezeugen insofern noch nicht den Beginn einer philosophischen Aktivität, die sich als solche verstand. 1.2 Früher Kalām: Muʿtaziliten und Ašʿariten1
In der Gesellschaft des rasch expandierenden muslimischen Gemeinwesens, in die diese neuübersetzten Texte hineintreten und eine eigenständige Tradition begründen, besteht ein durchaus fruchtbares Umfeld für ihre Rezeption und Weiterentwicklung. Das Interesse an naturphilosophischen Fragestellungen ist zum einen begründet in genuin „(natur-)wissenschaftlichen“ Fragestellungen – und hierin haben wir sicher eine wichtige Motivation für die rege Übersetzungstätigkeit zu erkennen. In seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist jedoch auch der Kontext des genuin religiös motivierten Interesses an rationaler Begründung und Absicherung von Glaubensinhalten. Dieses Interesse ist stark ausgebildet in der Tradition des kalām – oft beschrieben als „rationale Theologie“ des Islam – einer Linie religiösen Denkens, die sich ganz deutlich von stärker traditionalistischen Ansätzen absetzt, wie sie durch die Gruppe der ḥadīṯ-Gelehrten vertreten wird. Die Gruppe der frühesten Denker ist unter der Bezeichnung Muʿtazila bekannt – wörtlich heißt dies „die sich zurückziehen“. Der Ursprung dieser Bezeichnung ist unklar, eine Erklärung besagt, dass sich der legendäre „Gründer“ der Muʿtazila, Wāṣil b. ʿAṭāʾ (gestorben ca. 748), mit seinen Schülern aus dem üblichen Lehrbetrieb zurückgezogen habe. Eine andere Erklärung ist die, dass die Muʿtazila mit Bezug auf die Frage, was der Status eines schweren Sünders sei (eine theologischen Frage mit hoher politischer Relevanz, geht es doch um die Beurteilung der Legitimität der frühen Kalifen), eine Entscheidung abgelehnt habe. Insgesamt erscheint die Muʿtazila erst aus dem Rückblick als eine einheitliche Schule, und fünf Grundprinzipien werden als die Basis ihrer theologischen Ansichten beschrie-
1
Zu den Inhalten dieses Kapitels vgl. genauer Nagel, Geschichte der islamischen Theologie, besonders S. 95–122 und 153–164. Zur Muʿtazila und ihrer modernen Rezeption siehe insbesondere Hildebrandt, Neo- Muʿtazilimus?, besonders S. 120–151.
Ein historischer Überblick über die islamische Philosophie bis Averroes
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ben: strikter Monotheismus (tawḥīd), die göttliche Gerechtigkeit (ʿadl), Verheißung und Drohung (al-waʿd wa-l-waʿīd), der Sünder steht zwischen Glauben und Unglauben (al-manzila bayna al-manzilatayn), Aufforderung zum Guten und Verbieten des Tadelswerten (alamr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar). Sehr breiten Raum nehmen im Denken der frühen Muʿtazila naturphilosophische Spekulationen ein – insbesondere bildet sich eine sehr spezifische Form eines theologisch fundierten Atomismus heraus: Die Grundlage der körperlichen Welt bilden Atome (al-ǧuzʾ allaḏī lā yataǧazzaʾ, al-ǧawhar [al-fard]), in ihnen inhärieren Akzidenzien (ʿaraḍ) (Beispiele können sein: Schwärze, Bewegung, Komposition mit einem anderen Atom (taʾlīf), aber auch Leben) – über die genaue Ausgestaltung dieser Theorie werden heftige Debatten geführt. Im 10. Jahrhundert tritt mit Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī (gestorben 935) ein Theologe auf, dem es gelingt, eine neue Form des kalām zu etablieren. Dabei folgt er weiterhin der Methodik einer rationalen, aber auch stark dialektisch geprägten Argumentation – anders als die Muʿtaziliten nehmen die Ašʿariten aber stärker Rücksicht auf traditionelle Thematiken und Positionen. Im Bereich des sunnitischen Islam wird die Muʿtazila dabei zunehmend in eine Außenseiterposition gedrängt – ab dem 13. Jahrhundert kommt es aber zu einer Renaissance muʿtazilitischer Theologie: Dort wird sie etwa ab der Zeit von Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsi von den imāmitischen Schiiten gepflegt. Die Ašʿariten betonen sehr stark, dass Gott in seiner Allmacht nicht eingeschränkt ist – Spekulationen, die nachweisen wollen, dass Gott an gewisse rationale Grundüberlegungen gebunden sei, lehnen die Ašʿariten ab. Sie übernehmen den Atomismus als Grundtheorie, formen diesen aber noch konsequenter in ein okkasionalistisches Weltbild aus: Nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit ist durch eine atomistische Struktur geprägt, es handelt sich um eine Aufeinanderfolge von „Augenblicken“. In jedem Augenblick schafft Gott neu – und daher wirkt keine naturgesetzliche Kausalität. Vielmehr handelt es sich bei den beobachteten Regelmäßigkeiten um göttliche Gewohnheit (ʿāda), die Gott jederzeit durchbrechen kann, nämlich in Form von Wundern (ḫarq al-ʿāda, wörtlich: Durchbrechen der Gewohnheit). Die Ašʿariten insistieren, dass die moralischen Kategorien „gut“ und „schlecht“ durch die göttliche Offenbarung definiert werden, nicht durch rationale Grundstrukturen, an die Gott gebunden wäre. Aus der Retrospektive präsentieren sich die Ašʿariten (gemeinsam mit einer weiteren, ursprünglich in Transoxanien beheimateten theologischen Schule, der Māturīdīya) als einheitliche und historisch unwandelbare Gruppe von Vertretern der Sunna – eine Selbstsicht, die durch neuere Forschung in vielen Details in Frage gestellt wird.
2. Die Begründung der Philosophie im Islam: Al-Kindī, seine Nachfolger und Gegner 2.1 Philosophie in Übereinstimmung mit der Religion: Al-Kindī und seine Schüler
Die falsafa, also eine Philosophie, die bewusst an das griechische Erbe anschloss und dieses durch rationale Analysen fortführte, begann erst mit Abū Yūsuf Yaʿqūb b. Isḥāq al-Kindī (ca. 800–870), der auch als „der Philosoph der Araber“ (faylasūf al-ʿarab) bekannt ist.2 Diese Bezeichnung trifft auch deswegen zu, weil al-Kindī in der Tat einer alten ara2
Ibn an-Nadīm, Kitāb al-fihrist, S. 255. 22. Gesamtdarstellungen sind: D’Ancona, Al-Kindī e la sua eredità; Adamson, Al-Kindī.
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bischen Familie entstammte – er gehörte einem führenden Geschlecht aus dem Stamm der Kinda an und soll direkt von einem Gefährten des Propheten abgestammt haben – und über beste Beziehungen zum Kalifenhof verfügte. „Seine Bücher behandeln verschiedene Wissenschaften wie die Logik, die Philosophie, die Geometrie, die Mathematik, die Arithmetik, die Musik, die Astrologie und andere mehr.“3 Mit diesem breiten Interessenspektrum, das Ibn an-Nadīm in seinem Fihrist bezeugt, zeigt sich al-Kindī als interessiert an nahezu allen Wissensgebieten, die zu seiner Zeit aufgrund von Übersetzungen aus dem Griechischen bekannt waren. Sein Projekt, diese Wissenschaften durch eine philosophische Gesamtkonzeption zu vertiefen, verband die Übersetzungen aus dem Griechischen, die er teils selbst in Auftrag gab und bearbeitete,4 mit der Entwicklung eigener systematischer Gedanken, besonders zur Metaphysik und Philosophie des Geistes, aber auch zu Optik und Wahrnehmungstheorie. Seine philosophische Begründung der Einheit Gottes, des tawḥīd, traf sich mit den Interessen der zeitgenössischen islamischen Theologen. Al-Kindī konnte hierfür insbesondere auf ein neuplatonisches Einheitsdenken zurückgreifen, das er aus den Übersetzungen der spätantiken Neuplatoniker Plotin und Proklos kannte, die uns als Vorlagen des Liber de causis und der Theologie des Aristoteles bekannt sind. In Fragen, bei denen ein Konflikt zwischen spätantiker Philosophie und islamischer Theologie aufbrechen konnte (und später auch tatsächlich aufbrach), entschied sich al-Kindī ebenfalls für Positionen, die dem muslimischen Glauben entsprachen; so argumentierte er gegen die aristotelische These von der Ewigkeit der Welt. Einflussreich war auch seine Lehre vom Intellekt beziehungsweise Geist (griech. nous, arab. ʿaql, lat. intellectus). In seiner kurzen Schrift Über den Geist (Fī l-ʿaql) nahm er wie Aristoteles drei Stufen geistiger Aktivität beim Menschen an: Entweder habe er lediglich die Fähigkeit, denken zu lernen, oder er habe dies bereits gelernt, denke im Moment aber nicht, oder er denke im gegenwärtigen Moment. Neben diese drei Modalitäten stellt alKindī als vierte Art des Denkens „den Geist, der sich immer im Akt“, aber „außerhalb der Seele“ befindet.5 Wenn er damit suggeriert, dass menschliches Denken stets von einem ewigen, übermenschlichen Geist angeregt sein muss, gibt er seinen Nachfolgern die Frage nach der genauen Rolle dieses Geistes im Erkenntnisprozess sowie seiner Natur und seinem Verhältnis zu Gott und Mensch mit auf den Weg. Damit ist ein weiteres zentrales Thema der islamischen Philosophie festgelegt. So wurde al-Kindī einerseits durch die Festlegung thematischer Schwerpunkte in der Metaphysik und der Philosophie des Geistes zur Gründungsfigur der islamischen Philosophie. Andererseits begründete er innerhalb dieser durch sein positives, unpolemisches Verhältnis zur islamischen Religion eine eigene Position: Seiner Meinung nach erreicht der Philosoph auf langsame, argumentative Weise dasselbe Wissen, dass der Prophet in vorbildlicher Kürze und Klarheit offenbart erhält.6 Der Vorrang der Religion blieb ebenso gewahrt wie die Einheit der Wahrheit, die Propheten erkennen und um die Philosophen sich bemühen. Die philosophischen Positionen al-Kindīs wurden durch einige Schüler nahezu 200 Jahre nach seinem Tod weiter vertreten und entwickelt. Besonders nahe stand ihm Aḥmad b. aṭ-Ṭayyib as-Saraḫsī (ca. 835–899), dessen Interessen ebenso enzyklopädisch 3 4 5 6
Ibn an-Nadīm, Kitāb al-fihrist, S. 255. 22f. Dieses Thema ist im Kapitel über die Übersetzungen aus dem Griechischen ausführlich behandelt worden. al-Kindī, Fī l-ʿaql [Über den Intellekt], S. 158. Vgl. das am Ende des Kapitels von Peter Adamson zu al-Kindī abgedruckte Zitat; unten S. 156.
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waren wie die seines Lehrers. As-Saraḫsī übte als Erzieher des zukünftigen Kalifen al-Muʿtaḍiḍ (892–902) auch politischen Einfluss aus, was vermutlich mitverantwortlich dafür war, dass er Mitte der 890er Jahre eingekerkert wurde und schließlich umkam. Einen Grund hierfür könnten auch kritische Bemerkungen über die Glaubwürdigkeit von Propheten geliefert haben; jedenfalls war as-Saraḫsī an Fragen der Religion sowie dem Vergleich verschiedener Religionen nachweislich interessiert.7 Zwei weitere Schüler al-Kindīs stammten aus der Stadt Balḫ im Norden des heutigen Afghanistan. Abū Maʿšar al-Balḫī, fast ein Altersgenosse al-Kindīs, war eher Astrologe als Philosoph, beschäftigte sich aber unter anderem mit der Stellung seines Fachs im aristotelischen Wissenschaftskanon sowie, anhand von Aristoteles’ De interpretatione, Kapitel 9, mit der Vereinbarkeit menschlicher Freiheit und der Vorherbestimmung durch die Sterne.8 Abū Zayd Aḥmad b. Sahl al-Balḫī (ca. 850–934) war wiederum besonders am Verhältnis von Philosophie und Religion interessiert, wie sich unter anderem daran zeigt, dass er einen – verlorenen – Korankommentar verfasste. Berühmt geworden ist er vor allem als Autor einer Weltkarte, die zu einer der wichtigsten Quelle der islamischen Geographie wurde.9 Da er nach acht Jahren im Irak in seine Heimat zurückkehrte, dürfte er verantwortlich dafür sein, dass sich philosophische Studien in der Tradition al-Kindīs am längsten in Ḫurāsān, das heißt in dem heutigen Nordafghanistan, Tadschikistan und Usbekistan hielten. 2.2 Konfrontation von Philosophie und Religion: Abū Bakr ar-Rāzī
Die späteren Schüler und Nachfolger al-Kindīs mussten sich neuen philosophischen Entwicklungen stellen. Eine solche Herausforderung bildete das Denken des Abū Bakr Muḥammad b. Zakarīyāʾ ar-Rāzī (865–925 oder 935), der traditionell als „der freidenkerischste der großen Philosophen des Islam“ angesehen wird.10 Gebürtig aus Rayy unweit des heutigen Teheran, war ar-Rāzī zunächst Leiter des dortigen Krankenhauses, bevor er dieselbe Position in Baġdād einnahm. Wie andere führende Ärzte seiner Zeit, verband er mit seinen medizinischen Aufgaben auch weitere Tätigkeiten an den Höfen, in deren Umfeld er arbeitete. Insbesondere setzte er aber die Tradition des antiken Arztes Galen (2. Jahrhundert) fort und verband die medizinische Tätigkeit mit philosophischem Nachdenken, dem etwa 80 seiner 200 Schriften gewidmet sein sollen, deren Titel uns erhalten sind. Erhalten sind von diesem umfangreichen Werk vor allem zwei ethische Schriften, Die geistige Medizin (aṭ-Ṭibb ar-rūḥānī) und Die philosophische Lebensführung (as-Sīra al-falsafīya). Die erste von ihnen richtete sich, als Anhang an ein medizinisches Werk, an den Kalifen al-Manṣūr, die zweite wurde gegen Ende seines Lebens zur Rechtfertigung des eigenen Lebensstils verfasst. Beide lassen deutliche Anklänge an antike Theorien gelingenden Lebens erkennen, wobei theologische Perspektiven sowie die Unsterblichkeit der Seele kaum eine Rolle spielen. Im Mittelpunkt von ar-Rāzīs Interesse steht das Ziel, Freude an den rechten Dingen zu haben. Aus diesem Grund wird ihm traditionell eine inhaltliche Nähe zu epikureischen Positionen nachgesagt, doch wurde dieser Deutung jüngst von Peter Adamson widersprochen: Letztlich lasse sich ar-Rāzīs Theorie der Freude weder als
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Rosenthal, Al-Sarakhsī; D’Ancona, Al-Kindī e la sua eredità, S. 316f. Baffioni, Una citazione di De interpretatione 9 in Abū Maʾšar? Dunlop, Al-Balkhī, Abū Zayd Aḥmad b. Sahl; D’Ancona, Al-Kindī e la sua eredità, S. 315–317. Gesamtdarstellung: Goodman, Al-Rāzī, Abū Bakr Muḥammad b. Zakarīyāʾ.
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platonisch noch als epikureisch deuten, sondern im Gegensatz zu beiden lehne er die Idee einer qualitativ von der sinnlichen Freude verschiedenen nicht ab.11 Berühmt geworden ist ar-Rāzī jedoch weniger durch diese erhaltenen Schriften als durch seine Position zur Religion, die aus einigen erhaltenen Fragmenten bekannt ist, vor allem aus dem Bericht seines Zeitgenossen und Namensvetters, des ismāʿīlitischen Denkers Abū Ḥātim ar-Rāzī (gestorben 933).12 Diesen Zeugnissen zufolge ist der Geist jedem Menschen gegeben, und daher sei jeder grundsätzlich befähigt, durch Denken zur Wahrheit zu gelangen. Dieses Vertrauen auf die menschliche Vernunft bringt ar-Rāzī gegen die Religion und insbesondere die Prophetie in Stellung: Nicht nur sei diese überhaupt nicht notwendig, um die Wahrheit über Gott und die Welt zu erkennen, sondern vielmehr sei jeder ein Schwindler und Betrüger, der sich ein besonderes Wissen zuschreibe. Mit diesen Thesen wendet sich ar-Rāzī dezidiert gegen den Anspruch eines Vorrangs der Religion vor jeder rationalen Erkenntnis, der zu seiner Zeit deutlich dezidierter verfochten wurde als von den muʿtazilitischen Zeitgenossen al-Kindīs. Allerdings fiel diese Botschaft zu ar-Rāzīs Zeit nicht auf fruchtbaren Boden. Folglich blieb ar-Rāzī eine Einzelgestalt und fand praktisch keine Nachfolger. Eher war sein Denken geeignet, den Wahrheitsanspruch der Philosophie in den Augen gläubiger Muslime fraglich erscheinen zu lassen; die Vereinbarkeit von Philosophie und Islam war damit keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern beider Verhältnis zeigte sich als eine rational zu klärende Aufgabe.
3. Methodische Grundlegung der Philosophie: die Baġdāder Aristoteliker Eine Voraussetzung hierzu bestand darin, das philosophische Denken methodisch zu vertiefen und zu systematisieren. Wichtige Schritte hierzu wurden dadurch ermöglicht, dass syrisch-christliche Lehrer der Philosophie ihre jahrhundertealte Schultradition in Baġdād unterrichteten und sich vor allem auf den Philosophen stützten, dessen Bearbeitung logischer Fragen bereits in der Antike die methodische Absicherung der Philosophie ermöglicht hatte: Aristoteles. 3.1 Der Aristotelismus von Baġdād: Abū Bišr Mattā und Yaḥyā b. ʿAdī
Nach al-Fārābīs Bericht, der am Beginn des Übersetzungskapitels zitiert wurde, begannen die aristotelischen Studien in Baġdād als vier christliche, in aristotelischen Schulen ausgebildete Syrer aus ihren traditionellen Bildungszentren nach Baġdād kamen:13 Ibrāhīm al-Marwazī14 und Yūḥannā b. Ḥaylān aus Marw im heutigen Turkmenistan sowie der Bischof Isrāʾīl und Abū Isḥāq Ibrāhīm al-Quwayrī15 aus Ḥarrān in der Südosttürkei. Diese Angaben eines direkten Schülers von Yūḥannā weisen vermutlich darauf hin, dass bereits 11 12 13
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Siehe dazu den Beitrag zu ar-Rāzī in diesem Band. Eine Edition befindet sich in Kraus, Raziana II. Extraits du kitāb aʿlām al-nubuwwa d’Abū Hātim al-Rāzī. Ein Auszug in englischer Übersetzung findet sich bei Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 207–209. Übersichtsdarstellungen über die Baġdāder Aristoteliker sind rar. Besonders für die frühe Zeit ist zu empfehlen: Zimmermann, Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De interpretatione, S. lxviii–cxxxviii. Ansonsten gibt Ferrari, La scuola aristotelica di Bagdad einen nützlichen Überblick. Vgl. auch die Bemerkungen im Kapitel über die Übersetzungen aus dem Griechischen. In Ibn an-Nadīm, Kitāb al-fihrist, S. 249.14 heißt der Lehrer Mattās Abū Yaḥyā al-Marwazī, während er bei al-Fārābī Ibrāhīm heißt. Beides schließt einander nicht aus, doch ist unklar, ob man beide Namen kombinieren kann. Zum Namen vgl. Ibn an-Nadīm, Kitāb al-fihrist, S. 252.24.
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die ersten Baġdāder Aristoteliker aus beiden christlich-syrischen Kirchen, den ostsyrischen Nestorianern und den westsyrischen Jakobiten, stammten.16 Sie bildeten die zweite, besser bekannte Generation der Baġdāder Aristoteliker aus: Al-Marwazī und al-Quwayrī waren die Lehrer von Abū Bišr Mattā b. Yūnus,17 und Yūḥannā unterrichtete al-Fārābī. Das Besondere ihres Unterrichts bestand darin, dass die Baġdāder Autoren nicht nur, wie es in den syrischen Kirchen üblich war, einen Grundkurs der aristotelischen Logik gaben, der bis zum siebten Kapitel des ersten Buchs der Analytica priora reichte; vielmehr unterrichteten sie ein umfangreiches Organon, das zusätzlich zu den sechs Schriften des alexandrinischen Logik-Kurses – Porphyrios’ Eisagoge sowie Aristoteles’ Kategorien, Hermeneutik, Analytica priora und Analytica posteriora sowie Topik – auch die aristotelische Rhetorik und Poetik umfasste.18 Komplett auf Arabisch vorgelegt wurden diese Schriften wohl erst durch Abū Bišr Mattā, der nach 934 nach Baġdād kam und dort bereits 940 starb. Davor scheint er seine Ausbildung in dem bedeutenden nestorianischen Bildungszentrum des Klosters Qennešreh erhalten zu haben. Sein Werk, das bereits im Kapitel über Übersetzungen kurz vorgestellt wurde, bestand vorwiegend in der Erarbeitung kompletter Texte der wichtigsten aristotelischen Werke auf Arabisch, die er entweder neu übersetzte oder aufgrund der vorliegenden syrischen Versionen korrigierte.19 Insbesondere ist sein Name mit den Analytica posteriora verknüpft, die er wohl erstmals ganz übersetzte. Ferner wird man in ihm und seinen Lehrern die Begründer der genauen philologischen und philosophischen Detailanalyse verschiedener aristotelischer Traktate sehen dürfen, von denen die erhaltenen Handschriften des Organon und der Physik zeugen.20 Die Analytica posteriora, die als „Buch vom Beweis“ (Kitāb al-burhān) bezeichnet wurden, waren für das Selbstverständnis und die Wirkung der Baġdāder Aristoteliker, wie schon angedeutet, von besonderer Bedeutung: Durch das Studium dieses Buches entdeckten sie Aristoteles’ Idee neu, die gesamte Philosophie als ein System deduktiv ableitbarer Beweise zu entwickeln. Damit erhielt die Philosophie zusätzlich zu der grundsätzlichen Idee, Probleme rational zu lösen, auch noch die aristotelische Apodeiktik als methodisches Grundgerüst, das von nun an als besonderes Kennzeichen der falsafa gelten sollte: Die Kunst des syllogistischen Schließens stand im Mittelpunkt der methodischen Interessen Avicennas, es wurde von al-Ġazālī kritisiert und von Averroes als methodisches Prinzip hochgehalten und durchzuführen gesucht.21 Dieser rationale Anspruch musste freilich schon im 10. Jahrhundert gegen Kritik verteidigt werden: Abū Bišr Mattā musste sich 937/38 vor einem Publikum führender muslimischer Würdenträger einer Diskussion mit dem arabischen Philologen Abū Saʿīd asSīrāfī (892/902–979)22 stellen.23 As-Sīrāfī widersetzt sich entschieden dem Anspruch, ausschließlich die Logik könne als Instrument dazu dienen, die Wahrheit und Falschheit
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Vgl. das Kapitel zu den Übersetzungen aus dem Griechischen, oben S. 122–125. Ibn an-Nadīm, Kitāb al-fihrist, S. 262.24f. und 263.16. Vgl. hierzu die genaueren Bemerkungen im Kapitel über die griechisch-arabischen Übersetzungen, oben S. 123f. Siehe oben S. 129f. Zu diesen Handschriften siehe im Kapitel über die Übersetzungen aus dem Griechischen S. 131f. Zu al-Fārābī vgl. die Bemerkungen von Frank Griffel im Kapitel zu al-Ġazālī in diesem Band, zu Averroes siehe Endress, “If God Will Grant me Life”. Averroes the Philosopher. Studies on the History of his Development und Taylor, Averroes: Religious Dialectic and Aristotelian Philosophical Thought, hier S. 182–188. Humbert, Al-Sīrāfī. Deutsche Übersetzung: Endress, Grammatik und Logik. Arabische Philologie und griechische Philosophie im Widerstreit, hier S. 235–270. Arabischer Text (Seitenzahlen in Endress’ Übersetzung angegeben): at-Tawḥīdī, Abū Ḥayyān, Kitāb al-Imtāʿ wa-l-muʾānasa [Buch des Genießen-Lassens und der Unterhaltung], Band 1, S. 107–129.
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von Aussagen zu unterscheiden. Seine Argumente sind teilweise ziemlich fragwürdig: Die aristotelische Logik sei eine griechische Technik und daher für das Arabische ungeeignet, im Übrigen sei Mattā kein geeigneter Vermittler, da er weder Griechisch noch hinreichend Arabisch beherrsche. In anderen Punkten – so soll er Mattā dazu gebracht haben, den unsinnigen Satz „Zayd ist der beste seiner Brüder“ als richtig anzuerkennen, ohne den Unterschied zu „Zayd ist der beste der Brüder“ erklären zu können – hat man eine Vorwegnahme moderner Kritiken an einer aristotelischen Logik sehen wollen, denen zufolge diese den relationalen Charakter von Aussagen vernachlässige.24 Derlei Feinheiten lässt allerdings der sehr tendenziöse Bericht, in dem Mattā kaum zu Wort kommt, nicht erkennen. In jedem Fall wirft die Debatte ein Licht auf die geistige Situation im Baġdād des 10. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt hatte die arabische Philologie ein hohes Niveau erreicht und, nicht zuletzt wegen der großen Bedeutung des koranischen Wortlauts im Islam, einen eigenen Wahrheitsanspruch entwickelt, der dem Anspruch der griechischaristotelischen Logik auf universale Geltung selbstbewusst entgegengestellt wurde. Dieser Entwicklung entsprach in der Theologie die zunehmende Durchsetzung der rationalitätsskeptischen Ašʿariten gegenüber den Muʿtaziliten. Damit war die Möglichkeit einer selbstverständlichen Koexistenz zwischen einheimisch-arabischen Wissenschaften und Importen aus dem Griechischen bereits nicht mehr gegeben, als die Philosophie begann, ihr methodisches Potential zu entfalten. Diesen Herausforderungen stellte sich ausdrücklich der wohl bedeutendste christliche Repräsentant der Baġdāder Aristoteliker, Yaḥyā b. ʿAdī (893–974), über dessen vielfältiges Werk uns nicht zuletzt sein Freund und Buchhändler-Kollege, Ibn an-Nadīm, Verfasser des Fihrist, informiert.25 Yaḥyā b. ʿAdī tat sich ebenfalls als Übersetzer wichtiger aristotelischer Werke hervor,26 doch entwickelte er auch eigenständigere philosophische Aktivitäten. Diese begannen bei Kommentaren, zum Beispiel zum Buch Alpha Elatton, dem ersten Buch der aristotelischen Metaphysik in ihrer arabischen Fassung. In einem Kompendium der Ethik entwickelte er das Ideal einer philosophischen Lebensform. Darüber hinaus äußerte sich Yaḥyā auch zu zahlreichen systematischen Einzelfragen, zum Beispiel zum Ursprung von Kontingenz. Mit seinen logischen Kenntnissen verteidigte er sowohl seinen jakobitischen Glauben gegen andere christliche Überzeugungen als auch den christlichen Trinitätsglauben gegen muslimische Zweifel.27 Nicht zuletzt bemühte er sich, in einem eigenen Traktat das Verhältnis von Logik und Grammatik, das seinem Lehrer die oben erwähnte Niederlage eintrug, aus logischer Perspektive neu zu formulieren. Hierzu unterscheidet er deutlich zwischen dem Objekt der Grammatik, dem sprachlichen Zeichen (lafẓ), und dem der Logik, dem gemeinten Inhalt (maʿnā). Dabei leugnet er nicht den faktischen Zusammenhang, der sich für beide Wissenschaften daraus ergibt, dass Form und Inhalt nie vollständig zu trennen sind; die Rechtfertigung des philosophischen Zugangs wird aber dadurch gesichert, dass die Referenzobjekte der Worte als Universalien beziehungsweise Allgemeinbegriffe (al-umūr al-kullīya) verstanden werden, so dass er recht starke ontologische Vorannahmen zugesteht.28 Auf
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De Libera, La philosophie médiévale, S. 87. Ibn an-Nadīm, Kitāb al-fihrist, S. 264.5–14. Der heutige Leser findet wesentlich ausführlichere Informationen bei Endress, The Works of Yaḥyā ibn ʿAdī. Genaueres siehe oben S. 129f. im Kapitel zu den Übersetzungen aus dem Griechischen. Vgl. die knappe Werkübersicht bei Endress, Yaḥyā b. ʿAdī. Deutsche Übersetzung und Interpretation des Textes in Endress, Grammatik und Logik, S. 204–211 und 271–296.
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diese Weise trug Yaḥyā nicht nur zur Eingliederung der arabischen Philologie in den Kanon aristotelischer Wissenschaften bei, sondern auch dazu, dass sich im arabischen Raum ein differenziertes Verständnis der wissenschaftlichen Behandlung von Sprache herausbildete. 3.2 Aristotelismus und politische Metaphysik: Abū Naṣr al-Fārābī
Entscheidend hierfür war jedoch das Werk eines Muslims, nämlich des bereits erwähnten Abū Naṣr Muḥammad al-Fārābī (870–950), in dem die arabischen Quellen den „zweiten Lehrer“ der Philosophie nach Aristoteles erblickten.29 Al-Fārābī scheint in jungen Jahren aus Ḫurāsān nach Baġdād gekommen zu sein. Er könnte seinen ersten aristotelischen Unterricht bei Yūḥannā b. Ḥaylān noch in Marw erhalten haben. In jedem Fall umfasste dieser Unterricht auf al-Fārābīs persönlichen Wunsch auch die Analytica posteriora, so dass er das wissenschaftstheoretische Grundanliegen seiner Lehrer geteilt, wenn nicht von Anfang an gefördert haben dürfte. 942 verließ al-Fārābī Baġdād und ließ sich in Aleppo nieder, wo er 950 starb. Anders als seine Baġdāder Kollegen verfasste er keine Übersetzungen, sondern widmete sich ganz der philosophischen Erschließung von Aristoteles’ Werk sowie der Begründung eines Ansatzes, der die Fragestellungen der antiken, aristotelischen Philosophie neu durchdachte und ihnen in der arabisch-islamischen Kultur eine angemessene Stellung sichern sollte. Das Verhältnis von Logik und Grammatik diskutierte er in seinem berühmten Katalog der Wissenschaften (Iḥṣāʾ al-ʿulūm). Hier stellt al-Fārābī die Grammatik vor der Logik dar, und erst dann die übrigen Wissenschaften des aristotelischen Kanons. Diese wissenschaftstheoretische Einteilung vertieft er durch Überlegungen zum Seinsbegriff im Buch der Buchstaben (Kitāb al-ḥurūf) und nicht zuletzt durch eine Schrift über Die Ziele des Buches der Metaphysik. Ebenso wie al-Kindī verfasste er auch ein Werk Über den Geist, in dem er vier Stufen des Intellekts unterschied. Interessanterweise ist er aber von Aristoteles’ Modell weiter entfernt als al-Kindī: Durch das Erkennen der geistigen Formen wird der Geist in Möglichkeit zum Geist im Akt. Wenn er sich so selbst erkennt, wird er zum erworbenen Geist, der sich dem transzendenten aktiven Geist annähert. Auf diese Geistmetaphysik griff al-Fārābī zurück, als er seine Version der Idee eines philosophischen Glücks- und Lebensideals entwickelte. In seinem Hauptwerk Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt entwickelt er zunächst eine Kosmologie, in der sich die gesamte Wirklichkeit über zehn Stufen des Geistes zum aktiven Geist und dann zur wahrnehmbaren Welt entfaltet. Dann schildert er, wie der optimale Staat aussieht, wer dessen Einwohner sind und wie insbesondere Regierende Einsicht in diese Zusammenhänge besitzen. In weiteren politischen Schriften diskutiert er das Verhältnis des Philosophen zu einer unvollkommenen Gesellschaft. Auf der Grundlage des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs wurde so eine in sich schlüssige Weltdeutung vorgelegt, die als Leitideal für gesellschaftliche Entwicklungen dienen konnte. Der damit erhobene Anspruch, die gesamte Wirklichkeit auf rein rationale Weise zu erklären und auch das gesellschaftliche Zusammenleben auf diese Idee zu gründen, war allerdings geeignet, um auf gläubige Muslime fragwürdig zu wirken. Verstärkt wurde dieses Problem durch einige weitere Ansichten, die al-Fārābī vertrat und an nach-
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Für Überblicksdarstellungen siehe Ibn an-Nadīm, Kitāb al-fihrist, S. 263.8–14; Walzer, Al-Fārābī; Fakhry, Al-Fārābī. Founder of Islamic Neoplatonism. His Life, Works and Influence; Martini Bonadeo/Ferrari, Al- Fārābī, S. 380–438; Reisman, Al-Fārābī and the philosophical Curriculum, S. 52–71.
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folgende Denker weitergab, die aber nur schwer mit dem Islam vereinbar waren: die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Welt, die Beschränkung von Gottes Erkenntnis, die geistig sein muss, auf allgemeine Begriffe sowie die Unsterblichkeit der denkenden menschlichen Seele ohne Berücksichtigung des Körpers. In dem Höhepunkt, zu dem al-Fārābī die Philosophie geführt hatte, trat damit zugleich weiteres Konfliktpotential zutage. Die Leistung der Schule von Baġdād, die Wiedererschließung der aristotelischen Texte und des apodeiktischen Wissenschaftsbegriffs der Analytica posteriora, übte trotzdem große Wirkung aus: Sie beeinflusste nicht nur das arabische Denken, sondern, infolge der Übersetzungen von al-Fārābī im 12. und 13. Jahrhundert, auch die lateinische Welt. Hier trug sie dazu bei, dass eine methodisch vorgehende, rational argumentierende Wissenschaft sich an den Universitäten Westeuropas als eigenständiges gesellschaftliches Subsystem etablieren und damit letztlich die gesamte Gesellschaft prägen konnte. Insofern gehören die Baġdāder Aristoteliker zum gemeinsamen Fundament der arabisch-islamischen und der westeuropäischen Zivilisation. 3.3 Aristoteliker und Kindīaner: Philosophische Debatten bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts
Aus den philosophischen Traditionen al-Kindīs und der Baġdāder Aristoteliker entwickelte sich am Ende des 10. und zu Beginn des 11. Jahrhunderts eine philosophische Landschaft, in der sich beide Ansätze wechselseitig befruchteten. Unter der Regierung der schiitischen Dynastie der Būyiden in Baġdād (945–1055), die das sunnitische Kalifat weiter bestehen ließen, herrschte dabei das Bemühen um eine Vereinbarkeit von Philosophie und Islam vor, die dieser Epoche die Bezeichnung „Humanismus“ eingetragen hat.30 Professionelles Zentrum der Philosophie blieben die aristotelischen Zirkel, in denen vorwiegend christliche Gelehrte wie Abū ʿAlī ʿĪsā b. Zurʿa (gestorben 1008) und Abū l-Faraǧ b. aṭ-Ṭayyib (gestorben 1043) noch jahrzehntelang die Übersetzung und Kommentierung aristotelischer Texte auf hohem Niveau fortführten. Ihre muslimischen Schüler, die eigene Zirkel bildeten, nahmen regen Anteil an den intellektuellen Debatten der Zeit und öffneten sich für weitere Einflüsse. Ein Beispiel hierfür ist Abū Sulaymān as-Siǧistānī al-Manṭiqī (ca. 912–985/87), ein Schüler Yaḥyā b. ʿAdīs: Er übernahm in Fragen wie der Ewigkeit der Welt und der Natur der ersten Ursache einige Positionen al-Kindīs.31 Unter seinem Einfluss stand auch Abū Ḥayyān at-Tawḥīdī (922/32–1023), der um 970 auch bei Yaḥyā b. ʿAdī studierte.32 Eher Literat als Philosoph, stand er Miskawayh geistig nahe und nahm an den wichtigsten Debatten seiner Zeit teil. Beispielsweise überlieferte er das berühmte Streitgespräch zwischen Abū Bišr Mattā und as-Sīrāfī. Während diese Autoren primär vom Baġdāder Aristotelismus geprägt waren, war Abū l-Ḥasan al-ʿĀmirī (gestorben 992), wohl gebürtig aus Ḫurāsān, ursprünglich ein Schüler Abū Zayd al-Balḫīs, der noch al-Kindī gehört hatte. Doch soll er auch in Baġdād studiert
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Alle in diesem Absatz vorgestellten Denker werden unter diesem Aspekt gewürdigt von Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam. Stern, Abū Sulaymān; D’Ancona, Al-Kindī e la sua eredità, S. 322f. Verwirrenderweise wird dieser Autor sowohl als Abū Sulaymān als auch als as-Siǧistānī oder al-Mantiqī (der Logiker) abgekürzt. Stern, Abū Ḥayyān al-Tawḥīdī.
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und dort Aristoteles kommentiert haben.33 Aus einer versöhnlichen Sichtweise auf Philosophie und Islam heraus setzte er sich unter anderem mit Abū Bakr ar-Rāzī auseinander, diskutierte andererseits aber auch, wie schon Abū Bišr Mattā, mit dem Grammatiker as-Sīrāfī. Abū ʿAlī Aḥmad Miskawayh (940–1030), der in Rayy und Baġdād aktiv war, führte diese Linie einer Versöhnung islamischer und philosophischer Traditionen fort.34 Dabei wirkte er nicht nur als Philosoph, sondern auch als didaktisch interessierter Historiker und Literat. In seinem Werk Die ewige Weisheit versuchte er, griechische, iranische und indische Traditionen in Übereinstimmung mit der koranischen Überlieferung zu lesen. Dieses geistesgeschichtliche Bemühen resultierte in einem Interesse an Ethik, in dem er eine aristotelische Tugend- und Glückslehre mit einer platonischen Psychologie verband. AlKindīs Projekt einer Philosophie, die das islamische Leben befruchtete, ohne im Konflikt mit ihm zu stehen, erreichte mit ihm einen letzten Höhepunkt.
4. Avicenna: aristotelische Philosophie neu durchdacht Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen in Baġdād entstand im Osten der arabischen Welt, im Iran und seinen damaligen Randgebieten, der berühmteste und einflussreichste philosophische Entwurf im Islam: die Philosophie des Abū ʿAlī al-Ḥusayn b. ʿAbd Allāh b. alḤasan b. ʿAlī Ibn Sīnā (980–1037), in Europa meist bekannt als Avicenna. Geboren in Buchara im heutigen Usbekistan, wurde er gezwungen, vor der Expansionsbewegung turkstämmiger Herrscher nach Westen auszuweichen. Im heutigen Iran fand er an den Höfen verschiedener Fürsten in Rayy, Hamadan und Iṣfahān eine, freilich immer unruhige, Zuflucht. Die dortigen Herrscher, die ebenfalls dem Haus der Būyiden angehörten, beschäftigten ihn als Wesir, als Arzt und als Höfling, was ihm nur wenig Zeit für seine Forschungen ließ. Zudem brachte ihn die Parteinahme in ihren gegenseitigen Fehden zeitweise ins Gefängnis. Erst am Hofe des toleranten Fürsten ʿAlāʾ ad-Dawla in Iṣfahān, wo er von 1023 bis zu seinem Tode lebte, hatte er relativ viel Freiraum für philosophische Aktivitäten.35 Avicenna brachte sich die Philosophie und die Medizin, die beiden Wissenschaften, mit denen sein Name in erster Linie verbunden ist, weitgehend autodidaktisch bei; seine Lehrer überflügelte er bereits als Jugendlicher. Diese Tatsache trug zu seiner eigenständigen Auseinandersetzung mit der Philosophie bei. Diese war prinzipiell aristotelisch geprägt und von al-Fārābī beeinflusst, der, soweit wir wissen, in der philosophischen Landschaft des damaligen Baġdād nicht allzu stark rezipiert wurde: Avicenna berichtet selbst, wie er erst mit Hilfe von al-Fārābīs Die Ziele des Buches der Metaphysik einen Ansatzpunkt gewann, von dem aus er dieses aristotelische Werk begreifen konnte. Sein Einfluss lässt sich auch an manch anderer Stelle greifen, zum Beispiel an der Vorstellung, die Welt entwickle sich durch die Emanation von zehn Intellektstufen aus der ersten Ursache. Man kann durch33
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Überblicksdarstellungen: D’Ancona, Al-Kindī e la sua eredità, S. 318–322; Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch, S. 5–48. Dort findet sich S. 12f. das Zeugnis Miskawayhs über sein Studium in Baġdād. Vgl. zu all dem ausführlich den Beitrag von Elvira Wakelnig in diesem Band. Arkoun, Miskawayh. Über Avicennas Leben sind wir durch seine Autobiographie, die von seinem Schüler al-Ǧūzǧānī ergänzt wurde, recht gut informiert. Einen gut lesbaren Überblick mit langen Zitaten liefert Strohmaier, Avicenna, S. 15–42. Empfehlenswert ist auch die Überblicksdarstellung von Bertolacci, Il pensiero filosofico di Avicenna sowie insbesondere Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition.
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aus vermuten, dass al-Fārābīs umfassende philosophische Synthese Avicenna wesentliche Anregungen für die methodische Strenge philosophischen Arbeitens und die Weite der zu erforschenden Gebiete vermittelt hat, auch wenn Avicenna inhaltlich häufig andere Wege ging als sein Vorgänger. Ebenso wie dieser, und anders als seine Baġdāder Zeitgenossen, bemühte er sich jedenfalls, Aristoteles’ gesamte (theoretische) Philosophie, von der Logik über die Naturphilosophie zur Metaphysik, systematisch neu zu durchdenken und zu einem kohärenten Gedankengebäude zu entwickeln. Die beständige Weiterentwicklung seiner Gedanken wird durch die Vielzahl von Werken bezeugt, in denen Avicenna sich immer wieder aufs Neue mit den Kernthemen gerade der Intellektlehre, der Erkenntnistheorie und der Metaphysik beschäftigt.36 Eine Reihe kleinerer Frühschriften, von denen das Buch des Ausgangs und der Heimkehr (alMabdaʾ wa-l-maʿād; ca. 1012/13) hervorgehoben sei, bereiteten die umfassenden Darstellungen der späteren Philosophie vor: das Buch der Genesung (Kitāb aš-Šifāʾ; 1020–1027), das zu großen Teilen ins Lateinische übersetzt wurde, das kürzere Buch des Wissens für ʿAlāʾ ad-Dawla (Dānišnāme-yi ʿAlāʾī; 1027), das erste größere philosophische Werk auf Persisch, sowie die Hinweise und Erinnerungen (al-Išārāt wa-t-tanbīhāt; 1030–1034), deren prägnante, schwer verständliche Formulierungen in der islamischen Welt besonders einflussreich waren. Zumindest die drei späteren Werke waren thematisch weitgespannte philosophische Summen, die im Prinzip alle Teilbereiche der Philosophie behandelten. Neben ihnen verfasste Avicenna noch einige kleinere Werke, wie etwa den Ḥayy b. Yaqẓān, dessen Titel (etwa: Der Lebendige, Sohn des Wachenden) später Ibn Ṭufayl aufgriff. Die philosophische Entwicklung, die sich in diesen Werken vollzog, lässt sich am Beispiel der Metaphysik beispielhaft verdeutlichen: Schon im Buch des Ausgangs und der Heimkehr lieferte Avicenna eine eigene Darstellung der klassischen Inhalte der arabischen Metaphysik, das heißt der Bücher Alpha Elatton und Lambda. Der hier erhaltene Beweis einer ersten Ursache wurde in mancher Hinsicht verbessert und durch eine Emanationslehre ergänzt, die von al-Fārābī und dem kosmologischen Traktat des Alexander von Aphrodisias inspiriert war.37 Im Buch der Genesung werden diese Texte als Buch VIII und IX des metaphysischen Teils fast unverändert übernommen, jedoch in einen neuen Kontext gestellt, der nun auch den methodischen Ansatz der aristotelischen Metaphysik als universaler Wissenschaft vom gesamten Seienden einholt und tiefgreifend verändert. Hierzu greift Avicenna vor allem auf Buch Gamma von Aristoteles’ Metaphysik und dessen Lehre vom Seienden qua Seienden (arab. mawǧūd bi-mā huwa mawǧūd) zurück.38 Innerhalb des Seinsbegriffs unterscheidet Avicenna Existenz und Essenz sowie mögliches und wirkliches Sein, das wiederum entweder aus sich selbst heraus oder von etwas Anderem her notwendig ist. Mit diesen Konzepten liefert er die begriffliche Rahmung und systematische Grundlegung des älteren Gottesbeweises.39 Avicennas meisterhafte Metaphysik erweist sich somit als Ergebnis eines komplizierten und langwierigen Denk- und Schreibprozesses, der von Aristoteles aus-, zugleich aber auch über ihn hinausgeht. Dieser Prozess, der sich auch für andere Aspekte von Avicennas Denken, zum Beispiel die Intellektlehre, plausibel machen lässt,40 ist erst ansatzweise 36 37 38 39 40
Den wohl besten Überblick über Avicennas Werke gibt Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 79–145. Von al-Fārābī ist die Abfolge der Intellekte im Wesentlichen übernommen; zum Einfluss von Alexanders Traktat siehe unten S. 136f. im Kapitel über die Übersetzungen. Die Rolle von Buch Gamma wurde herausgearbeitet von Bertolacci, The Reception of Aristotle’s Metaphysics in Avicenna’s Kitāb al-Šifāʾ, S. 375–401. Zum Übrigen siehe oben im Kapitel über die Übersetzungen S. 134–136. Zu den systematischen Details siehe das Kapitel von Nadja Germann zu Avicennas Metaphysik in diesem Band. Siehe dazu das Kapitel von Heidrun Eichner zu Avicennas Psychologie und Noetik in diesem Band.
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erforscht. Er zeigt aber, dass die Entwicklung seines Denkens selbst einen Teil der Geschichte der arabisch-islamischen Philosophie ausmacht, da er mit jedem Werk größere Selbständigkeit in Bezug auf das immer präsente aristotelische Erbe erhält. Gerade seine relativ späten Überlegungen zum Seinsbegriff übten in der Philosophiegeschichte großen Einfluss aus, nicht zuletzt in Europa, als sie in Johannes Duns Scotus einen Rezipienten fanden, der Avicennas Ideen ebenso kritisch weiterführte, wie dieser es mit Aristoteles’ Gedanken getan hatte, und damit wichtige Grundlagen für die neuzeitliche Metaphysik legte. Seiner islamischen Umwelt lieferte Avicenna ein Konzept von Philosophie, das die Eigenständigkeit von deren Ansatz weniger eindeutig einfordert, als al-Fārābī es getan hatte – obwohl auch Avicenna für die Ewigkeit der Welt, die nur universale Erkenntnis Gottes und die Unsterblichkeit der Seele ohne den Körper argumentierte. Daher war es seinen Zeitgenossen und Nachfolgern möglich, viele seiner Gedanken auch in theologischen Kontexten zu rezipieren, nachdem sie sich mit den aus religiöser Sicht kritischen Punkten auseinandergesetzt hatten. So konnte Avicenna das islamische Denken für Jahrhunderte prägen, nicht nur in der Metaphysik, sondern auch in anderen Bereichen wie der Logik.41
5. Aristotelismus in al-Andalus Während sich die Philosophie im Zweistromland und seinen Nachbargebieten vor allem in enger Verbindung mit theologischen Kontexten und unter starkem Einfluss Avicennas weiterentwickelte, erfuhr die philosophische Tradition im muslimischen Spanien eine andere Ausprägung. Hier wurde die stark neuplatonisch ausgerichtete Überformung, die so kennzeichnend für Avicennas philosophisches System ist, deutlich zurückhaltender aufgenommen. Stärker als Avicenna beherrscht hier die Interpretation des al-Fārābī die Wahrnehmung der aristotelischen Tradition. Diese Besonderheit der andalusischen philosophischen Tradition kann man vermutlich wenigstens zum Teil aus der Rezeptionsgeschichte erklären, die aufgrund der geographischen und auch politischen Randlage des umayyadischen al-Andalus einen besonderen Verlauf nahm. In al-Andalus wirkten im 12. Jahrhundert drei bedeutende Denker, die sich in diesem Sinne als Fortführer der aristotelischen Tradition verstanden: Ibn Bāǧǧa, Ibn Ṭufayl und Ibn Rušd (Averroes). Der kulturelle Reichtum des muslimischen Spaniens wird zudem dadurch unterstrichen, dass auch der jüdische Denker Moses Maimonides (1138–1204) und die christliche Übersetzerschule, in der Autoren wie Dominicus Gundissalinus (ca. 1110– 1190) arabische Philosophie ins Lateinische übertrugen, in diesem Kontext wirkten. Diese philosophische Blüte war keineswegs langfristig absehbar gewesen. Unter dem rationalitätskritischen Einfluss der malikitischen Rechtsschule begann philosophische Aktivität in Spanien erst, nachdem der umayyadische Kalif ʿAbd ar-Raḥmān III. (gestorben 961) in Cordoba eine große Bibliothek errichtet hatte. Auf Basis der dort erhaltenen Werke beschäftigten sich bereits einige Zeitgenossen Avicennas und der letzten Baġdāder Aristoteliker mit logischen Fragen. Vor diesem Hintergrund beantwortete Ibn as-Sīd alBaṭalyūsī (1052–1127) die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Religion im
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Vgl. dazu in diesem Band die Beiträge von Heidrun Eichner und Dimitri Gutas zum nach-avicennischen Denken. Zur Rolle Avicennas in der arabischen Logik siehe Street, Logic.
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Sinne al-Fārābīs durch den Verweis auf apodeiktisches und rhetorisches Wissen derselben Sachverhalte. Damit eröffnete er das Fragefeld, mit dem sich der ihm persönlich bekannte Ibn Bāǧǧa und seine Nachfolger besonders auseinandersetzen sollten.42 5.1 Fortführung aristotelischen Denkens bei Ibn Bāǧǧa
Ibn Bāǧǧa (lateinisch Avempace), dessen genaues Geburtsdatum unbekannt ist, begegnet uns zu Beginn des 12. Jahrhunderts als ein bekannter Logiker in Saragossa, einer Stadt, die zu diesem Zeitpunkt noch von einem lokalen arabischen Kleinkönig regiert wird.43 Dieser dürfte das offene Klima ermöglicht haben, in dem der junge Ibn Bāǧǧa von unbekannter Seite seine philosophische Ausbildung erhielt und mit Ibn as-Sīd al-Baṭalyūsī philosophische Fragen diskutierte. 1109 wurde die Stadt von Truppen der tendenziell antirationalistischen Dynastie der Almoraviden erobert, die zu diesem Zeitpunkt fast das gesamte muslimische Spanien beherrschten. Indem Ibn Bāǧǧa als Wesir in die Dienste des dortigen Gouverneurs eintrat, blieb er von dieser Seite unbehelligt, zog sich aber die Feindschaft des ehemaligen Königs zu, der seiner habhaft wurde und ihn für einige Monate ins Gefängnis warf. Beim Fall Saragossas an die Christen im Jahre 1118 hatte er die Stadt jedenfalls schon verlassen und diente die folgenden Jahrzehnte den Almoraviden als Wesir in Sevilla. Sein angeblich allzu früher Tod im marokkanischen Fes im Jahre 1139 soll auf eine Vergiftung zurückzuführen sein. Philosophisch ist Ibn Bāǧǧa stark von al-Fārābī geprägt: Er kommentiert dessen Darstellungen der aristotelischen Logik und verfasst, ebenso wie er, Kommentare zu Aristoteles. Der Schwerpunkt liegt auf dessen naturwissenschaftlichen Schriften, wobei Ibn Bāǧǧa die aristotelische Bewegungstheorie kritisch diskutiert und weiterentwickelt. Über dieses Thema kommt er auch zur Lehre vom Intellekt als dem ersten Beweger des Körperlichen, der ihn zu einem Kernanliegen seiner Philosophie führt: In dem Werk Die Regierung des Einsamen diskutiert er das Verhältnis des Philosophen zu einer unvollkommenen Gesellschaft und empfiehlt den Rückzug auf sich selbst mit dem Ziel der Vereinigung mit dem Intellekt. Diesen letzten Gedanken, der das Kernkonzept seiner Ethik einer philosophischen Lebensführung bildet, führt Ibn Bāǧǧa auch in der Schrift Die Vereinigung des Intellekts mit dem Menschen aus. Damit stellt er das Thema der Vollendung des Menschen durch Philosophie wieder dezidiert in den Mittelpunkt. 5.2 Der Ḥayy b. Yaqẓān des Ibn Ṭufayl
Dieses Thema wurde in veränderter Form fortgeführt durch eine der originellsten Schriften des Mittelalters, die Erzählung Ḥayy b. Yaqẓān des Ibn Ṭufayl. Er ist das erste Zeugnis einer politischen Veränderung, die in der Folgezeit auch das Werk von Ibn Ṭufayls Protégé Averroes ermöglichte: Zwischen 1147 und 1150 setzte sich die marokkanische religiöse Bewegung der Almohaden in Spanien fest und dehnte ihre Macht in den folgenden Jahrzehnten über fast das ganze al-Andalus aus. Schon der volle Name der Bewegung, almuwaḥḥidūn, „die Bekenner der Einheit“, verweist auf den tawḥīd, die Einheit Gottes, als zentrales Motiv der almohadischen Lehre, das sie mit Hilfe rationaler Einsicht den Gläubigen vermitteln wollten. Obwohl die Almohaden religiös intolerant waren – sie stellten 42 43
Die historischen Anfänge der Philosophie in al-Andalus sind von Geoffroy, La formazione della cultura filosofica nell’ Occidente musulmano, hier S. 671–687 dargestellt worden. Darstellungen seines Lebens und Werks: Dunlop, Ibn Bādjdja; Geoffroy, La formazione della cultura filosofica nell’ Occidente musulmano, S. 687–703.
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die spanischen Juden, unter ihnen Moses Maimonides, vor die Wahl zwischen Zwangsbekehrung oder Auswanderung44 –, waren sie im Gegensatz zu den ašʿaritischen Theologen davon überzeugt, dass die islamische Lehre rational nachvollziehbar war. Folglich standen sie der Philosophie positiver gegenüber als andere Herrscherdynastien und förderten die Beschäftigung mit ihr in al-Andalus. Namentlich der Kalif Abū Yaʿqūb Yūsuf (regierte 1163–1184), bereits seit 1160 Gouverneur von Sevilla, war an philosophischen Fragen interessiert. Hiervon profitierte Ibn Ṭufayl, der zu Beginn des 12. Jahrhunderts unweit von Granada geboren worden war. Seit etwa 1160 lebte er als Arzt und Höfling an Abū Yaʿqūbs Hof und stand hoch in seiner Gunst.45 Ein Jahr nach dem Kalifen starb er 1185. Abū Yaʿqūb ist vermutlich der Adressat des Ḥayy b. Yaqẓān, der zwischen 1169 und 1184 entstand. Das Werk schildert das Leben des gleichnamigen Protagonisten, der alleine auf einer Insel aufwächst und von einer Gazelle ernährt wird, die er als Mutter verehrt. Ob diese einsame Situation auf einer spontanen Entstehung beruht oder ob Ḥayy von einer Prinzessin auf der Insel zurückgelassen wurde, bleibt dabei offen. In jedem Fall lernt Ḥayy in seinem einsamen Leben durch Anwendung von Sinnen und Vernunft nach und nach die verschiedenen Bereiche der Philosophie, bis er schließlich in die Lage versetzt wird, aus seinem Körper herauszutreten. Dadurch kann er sich nicht nur mit dem aktiven Intellekt vereinigen, wie es bereits Ibn Bāǧǧa geschildert hatte, sondern erlebt auch eine mystische Union mit dem Höchsten. Als er diese äußerste Stufe erreicht hat, lernt er einen weiteren Menschen namens Asāl kennen, der ihn mit der menschlichen Gemeinschaft auf der Nachbarinsel bekannt macht. Hier stellt Ḥayy fest, dass deren Religion, die den Islam symbolisiert, inhaltlich mit seinen rational gewonnenen Erfahrungen übereinstimmt. Da es sich jedoch als unmöglich erweist, die philosophische Begründung den Gläubigen zu vermitteln, verlässt er diese wieder und zieht sich mit Asāl auf seine eigene Insel zurück. Es handelt sich um ein außergewöhnlich vielschichtiges und beziehungsreiches Werk:46 Der Titel und Name des Protagonisten, „Lebendiger, Sohn des Wachenden“, ist von der oben erwähnten kleinen Schrift Avicennas entlehnt. Anders als dieser behandelt Ibn Ṭufayl aber nicht die Emanation des Höchsten, sondern die Rückkehr des Menschen zu diesem. Dabei ist er um die Rechtfertigung einer friedlichen Koexistenz von Philosophie und islamischer Religion bemüht, weswegen er auf den alten Topos zurückgreift, dass die philosophische Erkenntnis nicht vom gemeinen Volk eingesehen zu werden braucht. Im Übrigen kann Ḥayys Bildungsweg als Plädoyer für die Natürlichkeit und Allgemeingültigkeit der Erkenntnisse der falāsifa interpretiert werden. Dieses Bildungsideal und die attraktive literarische Form haben dafür gesorgt, dass die Schrift bereits 1671 ins Englische übersetzt wurde und im 18. Jahrhundert in Westeuropa wohlbekannt war, wo sie vielleicht sogar Daniel Defoe mit Anregungen für seinen Robinson Crusoe versorgte.
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Musall/Schwartz, Einleitung, S. 12–14. Carra de Vaux, Ibn Ṭufayl; Geoffroy, La formazione della cultura filosofica nell’Occidente musulmano, S. 703f. Überblicksdarstellung bei Goichon, Ḥayy b. Yakzān; Geoffroy, La formazione della cultura filosofica nell’ Occidente musulmano, S. 704–711. Deutsche Übersetzungen: Ibn Ṭufayl, Hajj ibn Jaqzan der Naturmensch, übersetzt von J. G. Eichhorn, sowie Der Philosoph als Autodidakt, übersetzt von P. O. Schaerer. Arabischer Text mit ausführlicher Einleitung und französischer Übersetzung: Hayy ben Yaqdhân, herausgegeben von L. Gauthier.
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5.3 Averroes und der Versuch einer Synthese von Rationalismus und Religion
Ibn Ṭufayl und Abū Yaʿqūb Yūsuf bilden den unmittelbaren Kontext, in dem der im Westen vielleicht bekannteste islamische Philosoph einen großen Teil seiner philosophischen Werke verfasste: Abū l-Walīd Muḥammad Ibn Rušd oder, in lateinischer Umschreibung, Averroes.47 1126 wurde er in Córdoba in eine der führenden Familien in al-Andalus hineingeboren; sein Vater und Großvater dienten den Almoraviden als oberste religiöse Richter für ganz Spanien. Entsprechend erhielt Averroes eine hervorragende Ausbildung im islamischen Recht und der Medizin. Weniger klar ist, wer seine philosophischen Lehrer waren, doch wurde er recht früh durch Gedanken Ibn Bāǧǧas beeinflusst. Bereits in den 1150er Jahren verfasste er knappe Zusammenfassungen zu den meisten aristotelischen Schriften, die heute als seine Epitomen oder Kurze Kommentare bekannt sind. Dabei deutete er Aristoteles noch häufig im Lichte seiner griechischen und arabischen Kommentatoren. Zu einem nicht sicheren Zeitpunkt, entweder zu Beginn oder gegen Ende der 1160er Jahre, führte ihn Ibn Ṭufayl beim Kalifen Abū Yaʿqūb Yūsuf als begabten Philosophen ein. Averroes erhielt die Aufgabe, die Schriften des Aristoteles für den Herrscher zu erklären. Dieser kam Averroes in den Werken nach, die heute als seine Mittleren Kommentare bekannt sind, die den aristotelischen Text selbst in Form von ausführlichen Paraphrasen darstellen. Zwischen 1178 und 1180 verfasste er schließlich drei zentrale Schriften zum Verhältnis von Philosophie und Religion: Die entscheidende Abhandlung, das Buch der Enthüllung der Beweismethoden für die Dogmen der Religion und die Inkohärenz der Inkohärenz. Während er in der letzten Schrift die Kritik al-Ġazālīs an der Philosophie zu entkräften sucht, definiert die erste die philosophische Argumentation als apodeiktische Beweisführung für dieselbe Wahrheit, die die Religion auf rhetorische Weise vermittelt. Damit folgt Averroes der philosophischen Verhältnisbestimmung beider Größen, die bereits al-Fārābī in ähnlicher Weise vorgenommen hatte. Die Annahme zweier Wahrheiten, für die Averroes in der westlichen Tradition bekannt ist, ist damit nicht verbunden.48 In den folgenden Jahren wandte sich Averroes einer „wörtlichen“ Auslegung des Aristoteles zu. Er schrieb von nun an Kommentare in klassischer Form, die den aristotelischen Text abschnittweise zitieren und kommentieren. Diese sogenannten Großen Kommentare enthalten viele der philosophischen Ansichten, für die Averroes berühmt geworden ist. Sie beziehen sich einerseits auf Aristoteles zurück, andererseits sind sie auch von Averroes’ eigenem Projekt im Rahmen des Almohadenreichs geprägt: Im Gegensatz zu Avicenna hält er daran fest, dass die Metaphysik sich in erster Linie mit theologischen Fragen beschäftige; die Existenz Gottes wird seiner Meinung nach bereits in der Naturphilosophie oder Physik bewiesen und kann daher in der Metaphysik als deren eigener Gegenstand vorausgesetzt werden. Das stimmt mit der almohadischen Idee überein, dass Gott aus seiner Schöpfung heraus rational erkennbar ist. Zu De anima vertritt Averroes die berühmte These, dass alle Menschen gemeinsam sowohl einen materialen als auch einen aktiven Intellekt besitzen: Dadurch dass irgendein Mensch sich etwas vorstellt, bringt der aktive Intellekt eine Idee hervor, die dann im materialen Intellekt gedacht wird. Dieser ist damit das universale Denken der Menschheit, das fortbesteht, solange es Menschen gibt. Mit dieser Lehre löst Averroes nicht nur einige Probleme bei der Interpretation von 47 48
Gute Überblicksdarstellungen sind: Endress, “If God Will Grant me Life”; Geoffroy, Averroè; Wirmer, Nachwort: Einführung in die Psychologie des Averroes, hier S. 287–313. Genauere Diskussionen dieses Problems bieten die Kapitel über das Verhältnis von Philosophie und Religion sowie über Averroes.
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De anima III.4–5; nicht zuletzt stellt er auch heraus, dass Rationalität ein universales Kennzeichen des Menschen ist, an dem prinzipiell jeder Mensch teilhaben kann. Auf das Problem, dass damit andererseits eine individuelle Unsterblichkeit unmöglich wird, haben seine muslimischen und christlichen Kritiker freilich bald hingewiesen. In diesen letzten Lebensjahren schälten sich die Grenzen von Averroes’ Projekt deutlich heraus: Zum einen erkannte er, dass manche Probleme der Aristoteles-Interpretation unlösbar bleiben werden, zum anderen veränderte sich die politische Situation zu seinen Ungunsten. An die Stelle der Hoffnung auf einen philosophisch-rational regierten Staat, die Averroes unter Abū Yaʿqūb Yūsuf gehegt zu haben scheint, trat die Sorge um den Fortbestand der Philosophie und um sein persönliches Wohl. Tatsächlich musste er gegen Ende seines Lebens für anderthalb Jahre in die Verbannung gehen und starb kurz nach seiner Rückberufung an den Hof in Marrakesch. Mit Averroes’ Tod endete die Blütezeit der Philosophie in al-Andalus. Nur 50 Jahre später wurde fast ganz Südspanien durch die christlichen kastilischen Könige erobert, und die Almohadenherrschaft endete. Die letzten philosophisch interessierten Köpfe wie die rätselhafte Gestalt des Ibn Sabʿīn (ca. 1216–1270)49 flohen nach Nordafrika oder in die östlichen arabischen Länder. 5.4 Soziales Denken im Westen des Reiches: Ibn Ḫaldūn
Auch wenn dort keine Philosophie mehr um ihrer selbst willen getrieben wurde, so gab es doch weiterhin große intellektuelle Leistungen. Das gilt insbesondere für Ibn Ḫaldūn (1332–1406): Er entstammte einer führenden Familie aus al-Andalus und hielt sich zumindest kurzzeitig im noch muslimischen Granada sowie – in diplomatischer Mission – am kastilischen Königshof auf. Ansonsten war sein Leben bis 1382 durch eine weitgehend erfolglose Teilnahme an den zahlreichen Fehden im damaligen Nordwestafrika gekennzeichnet; den Rest seines Lebens verbrachte er als religiöser Richter und Schriftsteller in Kairo und Damaskus. Seine denkerische Leistung bestand im Wesentlichen darin, als erster darauf hinzuweisen, wie sehr bei der Geschichtsschreibung der soziologische und kulturelle Hintergrund zu beachten ist. Damit zeigt sich an seinem Beispiel, dass die Abkehr von einer Philosophie, die auf eine rationale Gesamtdeutung der Wirklichkeit abzielt, durchaus die Möglichkeit lässt, mithilfe philosophischer Konzepte auch andere Wissenschaften durch eine grundlegende Reflexion ihrer Bedingungen besser zu verstehen.
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Siehe dazu die Einleitung von Akasoy zu Ibn Sabʿīn, Die sizilianischen Fragen.
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Bertolacci, Amos: Il pensiero filosofico di Avicenna. In: C. d’Ancona, Storia della filosofia nell’Islam medievale, Band 2, S. 522–626. –: The Reception of Aristotle’s Metaphysics in Avicenna’s Kitāb al-Shifāʾ. A Milestone of Western Metaphysical Thought. Leiden 2006. Carra de Vaux, B.: Ibn Ṭufayl. In : EI2. d’Ancona, Cristina: Al-Kindī e la sua eredità. In: C. d’Ancona, Storia della filosofia nell’Islam medievale, Band 1, S. 282–351. d’Ancona, Cristina (Ed.): Storia della filosofia nell’Islam medievale. 2 Bände. Turin 2005. d’Ancona, Cristina und Serra, Giuseppe (Ed.): Aristotele e Alessandro di Afrodisia nella tradizione araba. Padua 2002. Dunlop, Douglas M.: al-Balkhī, Abū Zayd Aḥmad b. Sahl. In: EI2. –: Ibn Bādjdja. In: EI2. [EI2 =] The Encyclopaedia of Islam. 2. Auflage. 13 Bände. Leiden 1960–2009. Endress, Gerhard: Grammatik und Logik. Arabische Philologie und griechische Philosophie im Widerstreit. In: B. Mojsisch, Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter, S. 163–299. –: “If God Will Grant me Life”. Averroes the Philosopher. Studies on the History of his Development. In: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 15 (2004), S. 227–253. –: The Works of Yaḥyā ibn ʿAdī. An Analytical Inventory. Wiesbaden 1977. –: Yaḥyā b. ʿAdī. In: EI2. Fakhry, Majid: Al-Fārābī. Founder of Islamic Neoplatonism. Oxford 2002. Ferrari, Cleophea: La scuola aristotelica di Bagdad. In: C. d’Ancona, Storia della filosofia nell’Islam medievale, Band 1, S. 352–379. Geoffroy, Marc: Averroè. In: C. d’Ancona, Storia della filosofia nell’ Islam medievale, Band 2, S. 723–782. –: La formazione della cultura filosofica nell’ Occidente musulmano. In: C. d’Ancona, Storia della filosofia nell’ islam medievale, Band 2, S. 671–722. Goichon, A.-M.: Ḥayy b. Yakzān. In: EI2. Goodman, Lenn E.: Al-Rāzī, Abū Bakr Muḥammad b. Zakarīyāʾ. In: EI2. Gutas, Dimitri: Avicenna and the Aristotelian Tradition. Leiden 1988. Hildebrandt, Thomas: Neo-Muʿtazilimus? Intention und Kontext im moderner arabischen Umgang mit den rationalistischen Erbe des Islam. Leiden/Boston 2007. Humbert, Géneviève: al-Sīrāfī. In: EI2. Ibn an-Nadīm: Kitāb al-Fihrist. Ed. G. Flügel. 2 Bände. Leipzig 1871–1872. Ibn Rušd [Averroes]: Über den Intellekt. Auszüge aus seinen drei Kommentaren zu Aristoteles’ De Anima: Arabisch, Lateinisch, Deutsch. Ed. und übs. D. Wirmer. Freiburg im Breisgau 2008. Ibn Sabʿīn: Die sizilianischen Fragen: Arabisch, Deutsch. Übs. A. Akasoy. Freiburg im Breisgau 2005. Ibn Ṭufayl, Abū Bakr: Hayy ben Yaqdhân. Roman philosophique d’Ibn Thofaïl. Ed., Trad. Léon Gauthier. Beirut 1936. —: Hajj ibn Jaqzan der Naturmensch. Ein philosophischer Robinson-Roman aus dem Mittelalter. Übs. Johann Gottfried Eichhorn. Ed. Stefan Schreiner. Leipzig/Weimar 1983. –: Der Philosoph als Autodidakt. Ḥayy b. Yaqẓān. Ein philosophischer Inselroman. Übs. Patric O. Schaerer. Hamburg 2004. Jolivet, Jean: L’Intellect selon Kindī. Leiden 1971. Kraemer, Joel: Humanism in the Renaissance of Islam. The Cultural Revival during the Buyid Age. Leiden 21992.
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3. Die Avicenna-Rezeption Das Phänomen der enzyklopädischen Darstellungen Heidrun Eichner (Tübingen) Die arabisch-islamische philosophische Tradition ist vor allem in den Bereichen (verhältnismäßig) gut erforscht, in denen sie für die europäische Rezeption eine große Rolle spielte. Diese Perspektive führt zu durchaus erheblichen Verzerrungen und blinden Flecken, und erst im Laufe des letzten Jahrzehnts ist es verstärkt ins Bewusstsein einer breiteren akademischen Öffentlichkeit gelangt, dass eine solche stark eurozentrische Sicht höchst problematisch ist. Die fragliche frühere Periode wird in unbestimmter Weise bisweilen als „klassisch“ bezeichnet, und im vorliegenden Band wurde die Bezeichnung „mittelalterlich“ gewählt. So problematisch eine solche Periodisierung unter vielen Gesichtspunkten auch sein mag, lässt sie sich aus forschungsgeschichtlichen Motiven herleiten und vermittelt einem weiteren Leserkreis eine ungefähre intuitive Vorstellung davon, welche Texte und Autoren hierunter zu zählen sind. Die Erweiterung eines solchen Autorenkanons ist eng verbunden mit neueren Forschungsparadigmen, die das intuitive, an der europäischen Rezeptionsgeschichte orientierte Vorverständnis, in Frage stellen. Einige Ausblicke in diese Richtung möchte ich auf den folgenden Seiten geben. Besonders betrifft eine solche Neuorientierung die spätere Phase, insbesondere nach dem Wirken des Avicenna – und deshalb wird diese neue Forschungsagenda oft mit dem Begriff der post-avicennischen Philosophie assoziiert. Diese neue Forschungsagenda wird programmatisch formuliert in D. Gutasʼ Artikel The Golden Age of Arabic Philosophy.1 Ein zentrales Element in dieser neuen Betrachtungsweise ist eine Neubewertung des Ġazālī-Mythos, also der Ansicht, philosophische Aktivität sei in der späteren Zeit des sunnitischen Islam zum Erliegen gekommen, weitgehend bestimmt durch eine intrinsische Feindseligkeit des theologisch geprägten Geisteslebens im Islam gegenüber dem freien philosophischen Gedanken. Eben hierfür wird im Kontext des Ġazālī-Mythos Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gestorben 1111) als Kronzeuge wie auch als Verursacher dingfest gemacht. Während also Darstellungen, die diese Sicht vertreten, von einem Ende oder zumindest einem schweren Bruch in der späteren philosophischen Tradition sprechen, tritt anstelle dessen in neuerer Forschungsliteratur mittlerweile das Paradigma eines „goldenen Zeitalters“ der post-avicennischen Philosophie. Interessanterweise stellt allerdings bereits die älteste spezifisch der islamischen Philosophiegeschichte gewidmete Überblicksdarstellung aus der Feder T. J. de Boers Folgendes fest: „Dass Gazali die Philosophie für alle Folgezeit vernichtet habe, ist eine oft wiederholte, aber ganz irrige Behauptung, die weder von geschichtlichem Wissen noch von Verständnis zeugt. Die Philosophie hat im Osten nach ihm ihre Lehrer und Schüler zu Hunderten und Tausenden gezählt. […] Und die allgemeine Bildung hat einen Bestandteil philosophischer Gelehrsamkeit in sich aufgenommen.“2
1 2
Vgl. Gutas, The Heritage of Avicenna: The Golden Age of Arabic Philosophy, 1000–ca. 1350. Eine deutsche Übersetzung dieses Artikels befindet sich in diesem Sammelband. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, S. 151.
Die Avicenna-Rezeption. Das Phänomen der enzyklopädischen Darstellungen
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Auch in manchen anderen Einzelheiten nimmt de Boer Elemente neuerer Forschungsperspektiven vorweg. Ähnlich auch wie im Falle von D. Gutas’ Golden Age Artikel kann ein aufmerksamer Leser de Boers seiner Darstellung die Namen einer Vielzahl von Persönlichkeiten der späteren Zeit entnehmen, die auch philosophisch aktiv gewesen sind. Mit der Forschungsagenda und dem Begriff der „post-avicennischen“ Philosophie verbindet sich dabei auch ein implizites Bekenntnis zu einer Bereitschaft, die Konzeptionalisierung des Begriffes von Philosophie im arabisch-islamischen Kulturbereich zu hinterfragen. Während viele Autoren der früheren Zeit (zum Beispiel die meisten im vorliegenden Band versammelten Denker) durch die Übersetzungsbewegungen in sehr enger Verbindung zur westlich-abendländischen Tradition stehen, verändert sich das in der hier relevanten Periode. Hier steht kein – in seiner Legitimation wie auch immer fragwürdiger – eurozentrisch determinierter traditioneller Kanon von Autoren bereit. Möchte man diesen Teil der islamisch-arabischen Tradition als Teil einer globalen Philosophiegeschichte verorten, ist oftmals Neuland zu betreten. Eigenständige Entwicklungen im arabisch-islamischen Bereich müssen dabei ernst genommen werden und unter dem Gesichtspunkt ihrer philosophischen Relevanz unvoreingenommen ausgewertet werden – auch und gerade dann, wenn es sich um Entwicklungen handelt, die von den aus dem europäischen Bereich Bekannten abweichen. Wie D. Gutas hervorgehoben hat, markiert die Philosophie Avicennas insbesondere dadurch eine Zäsur, dass mit ihr eine Naturalisierung der aristotelischen philosophischen Tradition innerhalb der islamischen Kultur erreicht wurde. Avicenna gelingt es dabei, überzeugende philosophische Antworten auf relevante und dringliche Fragen des intellektuellen Lebens seiner Zeit zu geben; zudem entsprach sein Werk auch in der sprachlichen Form und der Zugänglichkeit den Ansprüchen der zeitgenössischen Leser.3 Ein weiterer Aspekt von Avicennas Œuvre ist zusätzlich hervorzuheben, nämlich die enzyklopädische Abgeschlossenheit seiner Werke, die auf das aristotelische Corpus Bezug nehmen. Im Bereich des mathematischen Schrifttums wird dieses Corpus dabei durch Werke anderer Autoren (Euklid, Ptolemäus) ergänzt. Bereits bei Avicenna selbst begegnen wir dem Phänomen, dass er eine ganze Reihe von Gesamtdarstellungen seines philosophischen Systems verfasst hat, die in großem Umfang frühere Arbeiten wiederverwerten. Abgesehen von Aktualisierungen bestimmter Einzellehren betreffen die Modifikationen dabei substantiell Struktur und Aufbau – mit anderen Worten: die Systematik der Werke. Neben den Erfordernissen des Alltagsgeschäfts (einige Werke waren Auftragswerke) stehen dahinter auch genuin philosophische Überlegungen: Zum einen spiegeln Modifikationen in Struktur, Argumentationsstil und Ausführlichkeit eine Veränderung in der Beurteilung des aristotelischen Schrifttums als eines philosophischen Modells wider, zum anderen – teilweise eng verbunden hiermit – arbeitete Avicenna kontinuierlich daran, die Wissenschaftslehre der Zweiten Analytiken auf die Konzeption seines Werkes anzuwenden.4 Die frühe Phase der philosophischen Avicenna-Rezeption ist in ganz hohem Maße von Zügen geprägt, die dies fortsetzen. Nach Avicenna wird eine große Anzahl von Schriften verfasst, die das gesamte Themengebiet systematischer aristotelischer Philosophie oder einen größeren Teilbereich hiervon abbilden. Während aber Avicenna hierbei seine eige3 4
Vgl. hierzu Gutas, The Golden Age. Das grundlegende Werk hierzu ist Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition. Hier wird ausführlich untersucht, wie sich die Einstellung Avicennas zur aristotelischen Tradition entwickelt. Insbesondere für die Konzeption der Wissenschaften bei Avicenna vgl. ebd., S. 237–285.
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nen Schriften oft wörtlich wiederverwertete, griffen später Avicennas Schüler auf die Werke ihres Lehrers zurück. Aus den frühesten Schülergenerationen sind uns gleich zwei solcher Werke erhalten: Das K. at-taḥṣīl (Buch der sorgfältigen Validierung) des Bahmanyār b. al-Marzubān (eines prominenten direkten Schülers des Avicenna) und Bayān al-ḥaqq bi-ḍamān as-ṣidq (Erklärung des Wahren mit Versicherung der Richtigkeit) des Abū l-ʿAbbās al-Lawkarī.5 Beide Werke bestehen nahezu ausschließlich aus umfangreichen Textstücken, die den Werken des Avicenna entnommen sind, oft nur geringfügig oder überhaupt nicht überarbeitet. Anders als spätere enzyklopädische philosophische Gesamtdarstellungen sind beide Werke mit Vorworten versehen, in denen die Autoren ihre Ziele bei der Abfassung des Werkes erklären. Zwar erwähnen beide Autoren, dass ihre Darstellungen auf den Werken und den Erkenntnissen früherer Philosophen basieren, aber keiner der beiden geht dabei auf die großzügige Verwertung fremden Textmaterials ein, deren Collagetechnik wir heute ohne Zögern als Plagiierung bezeichnen würden. Interessanterweise vermerkt al-Lawkarī allerdings im Metaphysikteil seines Werkes (das ansonsten völlig kommentarlos vollständige Kapitel aus den Schriften Avicennas übernimmt) eine solche Übernahme. Gerade am Anfang eines einzigen Kapitels betont er, dass die folgenden Ausführungen aus einem Werk des Avicenna (seinem Kommentar zur Theologie des Aristotles) entnommen seien, das nicht weitverbreitet leicht zugänglich sei.6 Anscheinend ist es für beide Autoren selbstverständlich, dass die Schriften des Avicenna der Ausgangspunkt ihres Schaffens sind. Aus ihren Vorworten können wir entnehmen, dass sie durchaus das Bewusstsein haben, wichtige Autoren zu sein und nützliche Bücher zu verfassen. Bahmanyār hebt dabei vor allem die Nützlichkeit, die Kürze und die Struktur seiner Darstellung hervor, während al-Lawkarī zudem selbstbewusst darauf vertraut, dass sein Werk als Denkmal nach seinem Tode bestehen bleibt.7 Interpretieren wir diesen doch sehr merkwürdigen Befund im Lichte der oben zu Avicenna gemachten Beobachtungen, so können wir erkennen, dass hier das Vorbild des Avicenna offenbar die Bedeutung der Werke des Aristoteles ablöst: Aristoteles spielt in dieser frühesten Phase der Avicenna-Rezeption überhaupt keine Rolle mehr. Das Corpus aristotelischer Schriften wird vollständig durch das Werk des Avicenna ersetzt. Beide Autoren verwenden erhebliche Sorgfalt auf die Strukturierung des Textmaterials (und möglicherweise auch auf seine Auswahl) – besonders beachtenswert ist hierbei die Struktur des K. at-Taḥṣīl. Wie es scheint, nutzt Bahmanyār die avicennische Essenz-Existenz-Distinktion sowie die Unterscheidung zwischen „essentiell notwendigen“ und „essentiell kontingenten“ Existierenden, um seine Darstellung zu strukturieren. Nach dem ersten Teil zur Logik folgt eine Sektion über Metaphysik (die auch explizit diesen Titel, arabisch mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, trägt). Diese beschäftigt sich ausschließlich mit Ontologie. Nach einer Diskussion von Existenz als solcher (somit: Existenz unter Absehung von Essenz) folgt eine Sektion, die sich mit konkret existierenden Dingen (aʿyān al-mawǧūdāt) befasst. Im ersten Teil wird Gott als das essentiell notwendig Existierende behandelt, im zweiten Teil werden die verursachten essentiell kontingent Existierenden dargestellt. Der Bezug zum 5
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Beide Texte sind bisher nur auf Arabisch zugänglich. Eine vollständige und teilweise kritische Ausgabe liegt vor für Bahmanyār Abū l-Ḥasan b. al-Marzubān, Kitāb at-taḥṣīl. al-Lawkarīs Bayān al-ḥaqq liegt nur in Teilen (Isagoge und Metaphysik) von I. Dībājī ediert vor. Vgl. al-Lawkarī, Bayān al- Ḥaqq, S. 388. Für eine detaillierte Beschreibung der Metaphysik-Sektion von al-Lawkarīs Bayān al-Ḥaqq siehe J. Janssens, Al-Lawkarī’s Reception of Ibn Sīnā’s Ilāhīyāt. Vgl. jeweils die Vorworte, insbesondere Bahmanyār, Kitāb at-taḥṣīl, besonders S. 2; al-Lawkarī, Bayān al-ḥaqq (Isagoge), S. 111f.
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aristotelischen Corpus in seiner Vermittlung durch Avicenna wird dabei in den einzelnen Kapitelschriften hergestellt – die jeweils zugehörigen Schriften werden dort erwähnt. Der Aufbau des K. at-taḥṣīl selbst aber folgt einer Klassifizierung alles Existenten auf der Basis der avicennischen Distinktionen.8 Die philosophischen Ideen Avicennas erlangten im Folgenden immer mehr Einfluss auch auf das Werk islamischer Theologen. Die Rezeption innerhalb der islamischen Theologie ist dabei teils kritisch, teils aber auch sehr positiv. Hier ist es sinnvoll, drei Phasen zu unterscheiden:9 Zunächst (bis zum Wirken al-Ġazālīs, gestorben 1111) besitzen wir nur sehr sporadisch dokumentierte Evidenz für diesen Prozess der wechselseitigen Beeinflussung. Der Beginn einer zweiten Phase ist anzusetzen mit al-Ġazālī. Dieser war sehr gut mit den Werken Avicennas bekannt, und seine Schriften lassen dies an unzähligen Stellen erkennen. Mit dem Werk des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gestorben 1210) tritt die durch al-Ġazālī eingeleitete verstärkte Rezeption Avicennas durch die mutakallimūn in ein drittes Stadium ein: Die Rezeption ist systematisch geprägt und ähnelt in vielen Einzelheiten Entwicklungen, die uns auch aus der lateinischen Scholastik bekannt sind. Nun zunächst zu al-Ġazālī: Dieser wohl bekannteste ašʿaritische Theologe verdankt seinen Ruf als Zerstörer der Philosophie im Bereich des sunnitischen Islam einem Werk, seinem Tahāfut al-falāsifa (Inkonsistenz der Philosophen). Dieses Werk besteht aus 20 Kapiteln, jedes dieser Kapitel ist spezifisch einer These der Philosophen gewidmet. Wie intensiv al-Ġazālī die jeweilige Meinung der Philosophen ablehnt, ist dabei unterschiedlich: Nur in drei Fällen ist der Irrtum der Philosophen so massiv, dass ihre Ansichten als Unglauben (kufr) zu qualifizieren sind. Hierbei handelt es sich (1) um die Lehre von der Urewigkeit (qidam) der Welt, (2) um die Lehre, Gott erkenne die partikulären Einzelwesen lediglich in universeller Weise und (3) um die Ablehnung der leiblichen Auferstehung. Neben diesen theologisch nicht akzeptablen Lehren sind andere Lehren lediglich intensiv zu kritisieren (wie zum Beispiel das philosophische Verständnis von Kausalität), und andere Lehren sind mit der Orthodoxie völlig konform – allerdings ist der Beweisansatz der Philosophen dem der Theologen unterlegen. Während al-Ġazālī also durchaus zu einer sehr harschen Kritik der Philosophen ansetzt, zeigt die obige Beschreibung schnell, wie der Ġazālī-Mythos zu relativieren ist: Dadurch, dass al-Ġazālī sehr präzise identifiziert, welche Thesen der Philosophen inakzeptabel sind, setzt er einen Prozess in Gang, der letztlich dazu führt, dass das avicennische System als Ganzes sehr weitgehend von muslimischen Theologen akzeptiert werden kann: Um bei einer Beschäftigung mit Philosophie die eigene Rechtgläubigkeit zu wahren, ist es lediglich nötig, sich von den als Unglauben identifizierten Thesen der Philosophen fernzuhalten.10 Ist schon das Werk des al-Ġazālī in seiner Beziehung zum philosophischen Denken höchst facettenreich und komplex, so steigert sich die Ambiguität im Falle des Faḫr adDīn ar-Rāzī bis hin zur Widersprüchlichkeit. Während in al-Ġazālīs Werken oftmals die systematische Behandlung von Themenkomplexen nach Grundsätzen der Philosophen nur in einem Teilausschnitt oder in eine andere Terminologie transponiert übernommen wird, ist die Situation bei Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī ganz anders: In seiner Darstellung wird der
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Hierzu das ausführliche Inhaltsverzeichnis des Kitāb at-taḥṣīl, S. 841–893. Während die Unterpunkte auf den Editor zurückgehen, stammen die gleichfalls sehr detaillierten Kapitelüberschriften (auch im Text enthalten) vom Verfasser. Vgl. hierzu Shihadeh, From al-Ghazālī to al-Rāzī: 6th/12th century developments in Muslim philosophical Theology. Für eine übersichtliche Darstellung der Klassifikation des Tahāfut vgl. Rudolph, Islamische Philosophie, S. 57–60.
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Kontext einer systematischen Erläuterung in viele kleine Einzelprobleme aufgelöst. Diese Einzelprobleme werden dann von verschiedensten Seiten argumentativ beleuchtet – zugehörige Argumente und Gegenargumente werden in scholastischer Manier bis in kleinste Details ausgeführt. Diese Darstellungsweise ist zwar kompliziert und erfordert höchste Konzentration, wenn man den Faden des Arguments nicht verlieren möchte, aber die Probleme werden sehr explizit dargestellt. Die Unklarheit der Einschätzung der Position des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī rührt vielmehr daher, dass es oft nicht auszumachen ist, welche unter den vielen möglichen Positionen, deren Implikationen er ausführlich erläutert, denn nun die eigene Position des Autors ist. Oft werden Probleme in verschiedenen Werken des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī sehr ähnlich analysiert und die Darstellungen der Positionen verlaufen parallel – allerdings scheint ar-Rāzī zwischen den Werken gewissermaßen die Seiten gewechselt zu haben: Positionen, die er in einem Werk vertreten hat, greift er in anderen Werken mit Argumenten an, die wir im ersten Werk als Argumente der Gegenseite kennengelernt haben. Dies geschieht nicht nur in isolierten Einzelfällen, sondern durchaus in relevanten Grundlagenfragen, wie zum Beispiel der Stellung zum Atomismus, der ontologischen Frage von „Existenz im Geiste“ (wuǧūd ḏihnī), und dergleichen mehr.11 Für die weitere Entwicklung der philosophischen Tradition, aber auch für die systematische Durchdringung der späteren theologischen Tradition mit Elementen avicennischer Philosophie ist insbesondere ein Werk des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī von Bedeutung, das den Titel al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma (Kompendium über Philosophie) trägt. Die Grundstruktur dieses Werkes ist analog zu Bahmanyārs K. at-taḥṣīl: Wie dieses behandelt der al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma den gesamten Stoff des avicennisierten Corpus Aristotelicum und teilt ihn nach einer eigenen Systematik auf. Im Vergleich zu Bahmanyārs K. at-taḥṣīl ist die Systematik des al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma jedoch noch deutlich komplexer. Zunächst behandelt eine Sektion über „allgemeine Dinge“ (al-umūr al-ʿāmma) wichtige ontologische Grundbegriffe (Existenz, Essenz, Einheit/Vielheit, Konzeption von Modalbegriffen). Dann werden die verursachten, kontingenten Dinge behandelt, unterteilt in Akzidenzien (aʿrāḍ) und Substanzen (ǧawāhir). Die Akzidenzien werden entsprechend den neun akzidentellen aristotelischen Kategorien aufgeteilt. Als Substanzen werden Körper, Seele und Intellekt unterschieden. Den Abschluss bildet eine (vergleichsweise sehr kurze, aber eigens abgeteilte) Sektion über divinalia (Ilāhīyāt), also über Gott als das notwendige Existierende. Für nahezu zwei Jahrhunderte bildete der al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma einen der wichtigsten Bezugspunkte für die meisten Autoren, die sich mit avicennischer Philosophie auseinandersetzten; teilweise war er wichtiger als Avicennas Werke selbst.12 Wie man aus der Anzahl von überlieferten Manuskripten und Zitaten erkennen kann, geriet der al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma dann allmählich in Vergessenheit. Heute sind die al-Mabāḥiṯ al-mašriqīya (Östliche Untersuchungen) sehr viel weiter verbreitet. Sie verwenden dieselbe Struktur wie der al-Mulaḫḫaṣ fī
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Für den Versuch einer chronologischen Anordnung der komplexen Abfolge von ar-Rāzīs Werken vgl. Griffel, On Fakhr al-Din al-Razi’s Life and the Patronage He Received. Eine Chronologie erstellt ebenfalls die sehr umfassende Monographie zu Rāzīs Ethik: Shihadeh, The teleological Ethics of Fakhr al-Dīn al-Rāzī. Für ein Beispiel, wie diese Aufspaltung philosophischer Zusammenhänge bei Rāzī und auch in der späteren Rezeption im Kontext ontologischer Diskussionen vorgenommen wird vgl. Eichner, Essence and Existence – 13th century Perspectives in Arabic-Islamic Philosophy and Theology. Zur Rezeption vgl. Pourjavady/Schmidtke, Quṭb al-Dīn al-Shīrāzī’s (d. 710/1311) Durrat al-Tāj and Its Sources sowie Eichner, Dissolving the Unity of Metaphysics; Eichner, The Chapter “On Existence and Non-existence” of Ibn Kammūna’s al-Jadīd fī l-Ḥikma; Eichner, Essence and Existence – 13th century Perspectives in Arabic-Islamic Philosophy and Theology.
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l-ḥikma (und explizieren diese auch im Vorwort). Dabei sind sie im Detail sehr viel ausführlicher gehalten, allerdings besitzen sie keine Sektion über Logik.13 An dieser Stelle noch einige kurze Bemerkungen zum Thema Logik: Die Wichtigkeit der Beiträge arabischer Philosophen der post-avicennischen Periode in dieser Disziplin ist im Prinzip schon länger bekannt. Zusammen mit den Leistungen dieser Epoche auf dem Gebiet der Naturwissenschaft (vor allem in der Astronomie) war dies ein Anlass dafür, stereotype Urteile über einen angeblichen Niedergang jeglichen philosophisch relevanten Geisteslebens im späteren Islam zu hinterfragen.14 Die Produktion enzyklopädischer Darstellungen von Philosophie ist in der Tat ein Phänomen, das aus dem überwältigenden Erfolg und der Rezeption avicennischer Philosophie zu erklären ist und die Erforschung und Beurteilung dieser Epoche erschwert. Neben diese enzyklopädische Produktion treten dann wieder zunehmend stark spezialisierte Monographien und kleinere Abhandlungen, die sich mit spezifischen Einzelthemen befassen. Logik und die mathematischen Wissenschaften (also vor allem die aus der Spätantike bekannten Disziplinen des quadriviums) nehmen im Rahmen dieser enzyklopädischen Produktion – schon bei Avicenna selbst – eine besondere Stellung ein: Konzeptionell wird ihnen zwar ein Platz im Wissenschaftsgebäude zugewiesen, in vielen Werken werden die einzelnen Teile aber nicht sorgfältig ausgeführt. Im Falle Avicennas betrifft dies besonders die mathematischen Wissenschaften.15 Auch im Falle der Logik lässt sich eine zunehmende Tendenz zur Spezialisierung ausmachen. Es gab natürlich Autoren, die von vorneherein spezialisierte Logikkompendien verfassten,16 oft aber trat eine Separierung erst nachträglich ein. Sirāǧ ad-Dīn alUrmawīs Maṭāliʿ al-anwār (Aufstiegsort der Lichter) ist eine der wichtigsten Einführungen in die Logik – hiervon gibt es hunderte von Manuskripten. Der andere Teil dieses Kompendiums (derjenige, der sich mit ḥikma, also Physik und Metaphysik beschäftigt) galt als verschollen. Mittlerweile sind einige wenige Manuskripte identifiziert worden. Genauso verhält es sich auch bei at-Taftāzānīs Tahḏīb al-manṭiq wa-l-kalām (Geglättete Zusammenfassung der Logik und des kalām) – auch hier ist der Logikteil in hunderten Manuskripten bekannt. Der (nur schwach überlieferte) zweite Teil ist hier allerdings der Theologie (kalām) gewidmet.17 Diese Separierung der Logik (manṭiq) von der Philosophie (ḥikma) beruht zum Teil auf einer zunehmenden Tendenz zur Spezialisierung der Disziplinen, hat aber auch einen anderen Grund. Hier stellt wohl das Werk des al-Ġazālī einen Wendepunkt dar: Nicht nur hatte sein Tahāfut al-falāsifa der Logik theologische Unbedenklichkeit bescheinigt, sondern sein innovatives und weithin einflussreiches Kompendium zur Rechtsmethodik (uṣūl al-fiqh), das K. al-Mustaṣfā, enthält zu Beginn eine kurze Einführung in die wichtigsten Grundlagen aristotelischer Logik und leitete damit deren weite Verbreitung und 13 14
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Für eine Analyse diese Struktur vgl. Eichner, Dissolving the Unity of Metaphysics und Jannsen, Ibn Sīnā’s Impact on Faḫr al-Dīn al-Rāzī’s Mabāḥiṯ al-Mašriqīya with Particular Regard to the Section Entitled al-Ilāhiyāt al-maḥḍa. Einen sehr wichtigen Anstoß gaben hierzu zwei (mittlerweile in vielen Details aber überholte) Artikel von Abdelhamid Sabra: Sabra, The Appropriation and Subsequent Naturalization of Greek Science in Medieval Islam: A Preliminary Report sowie Sabra, Science and Philosophy in Medieval Islamic Theology. Ebenso grundsätzlich (mit konkreterem Bezug v.a. auf die Astronomie) ist Ragep, Freeing Astronomy from Philosophy, An Aspect of Islamic Influence on Science. Zur Rolle der mathematischen Wissenschaften und der nachträglich eingesetzten Traktate in zwei Werken Avicennas vgl. Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 112–114. Für einen umfassenden Überblick über die spätere logische Tradition anhand einer Fragestellung vgl. al-Rouayheb, Relational Syllogisms and the History of Arabic Logic, 900–1900. Hierzu vgl. Hasse, Mosul and Frederick II Hohenstaufen. Ein weiterer wichtiger Beitrag, der vor allem den historischen Kontext des Wirkens des Sirāǧ ad-Dīn al-Urmawī nachzeichnet, ist Marlow, A Thirteenth-Century Scholar in the Eastern Mediterranean. Für eine Studie zu al-Urmawīs Modalsyllogistik vgl. Ahmed, Interpreting Avicenna: Urmawī/ Taḥtānī and the Later Logical Tradition on Propositions.
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Akzeptanz im Bereich der islamischen Rechtsmethodik ein. Angriffe auf diese Tendenz gab es dabei natürlich immer wieder – am bekanntesten ist hier eine Schrift des Ibn Taymīya mit dem Titel ar-Radd ʿalā l-manṭiqīyīn (Widerlegung der Logiker).18 Im Bereich des islamischen Rechts, aber eben auch in der Theologie beansprucht das Studium der Logik damit einen wichtigen Platz bereits in der Propädeutik dieser Disziplinen. Logik ist somit nicht nur das Werkzeug der Philosophie, sondern auch der religiösen Wissenschaften des Islam.
1. Die Herausbildung der Illuminationsphilosophie Im Laufe des 12. Jahrhunderts treten aber auch Philosophen auf, die sich bewusst von Avicenna, oder besser: von der zeitgenössischen Interpretation seiner Werke, distanzieren. Einflussreich war hier der jüdischstämmige Philosoph Abū l-Barakāt al-Baġdādī (gestorben 1165), Verfasser des K. al-muʿtabar (Buch dessen, was eigenständig in Augenschein genommen wurde). Im Denken des Abū l-Barakāt al-Baġdādī ist bisher der Kontext von Selbsterkenntnis/Selbstbewusstsein sowie seine Bewegungslehre (Impetustheorie) ausführlicher dargestellt worden.19 Abū l-Barakāt nimmt einige Kritikpunkte an Avicenna vorweg, die später von der Illuminationsphilosophie as-Suhrawardīs ausgebaut werden. Die Illuminationsphilosophie as-Suhrawardīs (gestorben 1191) etabliert sich in den folgenden Jahrhunderten als wichtigste philosophische Konkurrenz und Alternative zur avicennischen Philosophie, die dann in diesem Kontext oft mit peripatetischer (maššāʾī) Philosophie gleichgesetzt wird. As-Suhrawardīs wichtigste Werke sind in einer sehr kurzen Zeitspanne von weniger als einem Jahrzehnt entstanden: 1183 konnte er sich – wie sein Name uns ja bereits verrät ursprünglich aus Iran kommend – in Aleppo prominent im Umfeld des lokalen Herrschers etablieren. Bereits 1191 wurde er auf Befehl des Sultans Saladin hingerichtet und erhielt so einen weiteren Beinamen, „der Getötete“ (al-maqtūl), unter dem er bekannt ist.20 Im Werk des as-Suhrawardī lassen sich drei Hauptgruppen ausmachen. Eine Reihe von zum Teil auf Persisch verfassten Schriften befasst sich mit spezifischen Problemen, teilweise solchen, die die Grundlagen der Illuminationsphilosophie betreffen.21 Hinzu treten kürzere allegorische Texte, die für die spätere Rezeption trotz ihrer Kürze sehr wichtig wurden.22 In unserem Kontext sind aber vier monumentale systematische philosophische Abhandlungen as-Suhrawardīs relevant, die dieser auch als eine Gruppe eigenständiger, teils einander ergänzender Werke hervorgehoben hat. Diese Schriften heißen at-Talwīḥāt (Andeutungen), al-Muqāwamāt (Gegenreden), al-Mašāriʿ wa-l-muṭāraḥāt (Pfade und Diskussionen) sowie Ḥikmat al-išrāq (Philosophie der Erleuchtung). Die drei ersten dieser vier Werke sind stärker auch auf „peripatetische“ Fragestellungen hin orientiert – das heißt sie folgen in vielen Abschnitten deutlich erkennbar prominenten Themen des Systems des Avicenna, hinterfragen dieses aber aus der Perspektive der Illuminationsphilosophie. Alle vier Gesamtschauen nehmen durch Querverweise aufeinander Bezug, und Die 18 19
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Vgl. Ibn Taymīya, Against Greek Logicians. Vgl. Nony, La dynamique d’Abu l-Barakat. Die grundlegende Serie von Aufsätzen zu Abū l-Barakāt von Shlomo Pines ist zusammengefasst in: The Collected Works of Shlomo Pines, Band 1 (Studies in Abu-l-Barakāt al-Baghdādī: Physics and Metaphysics). Zur Biographie as-Suhrawardis vgl. Sinai, Philosophie der Erleuchtung, S. 231–238. Vgl. Sinai, Philosophie der Erleuchtung, S. 265–267. Zu den allegorischen Schriften as-Suhrawardīs vgl. Sinai, Philosophie der Erleuchtung, S. 267–275.
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Philosophie der Erleuchtung steht also im Werke des as-Suhrawardī keinesfalls einer „peripatetischen“ Schaffensphase gegenüber, vielmehr sind die Übergänge fließend.23 Die Beziehung zwischen as-Suhrawardī und dem, was er und dann später die Anhänger seiner Lehre als „peripatetisch“ wahrnehmen, ist also sehr komplex: Die Werke des as-Suhrawardī lassen deutlich erkennen, wie sorgfältig und intensiv er sich mit den Schriften Avicennas auseinandergesetzt hat und sie auf ihre philosophische Konsistenz hinterfragt hat. Einen ganz anderen Charakter haben seine allegorischen Werke, in denen der mystisch inspirierte Anteil seines Denkens sich sehr viel stärker in den Vordergrund drängt. Im Zentrum der Philosophie der Erleuchtung steht – eigentlich wenig überraschend – das Licht. Trotz der mystischen Assoziationen, die die Illuminationsphilosophie as-Suhrawardīs weckt, beginnt das Werk Ḥikmat al-išrāq jedoch mit einem Teil über Logik. Dort zählt as-Suhrawardī gegen Ende als Beispiele für Fehlschlüsse verschiedene grundlegende Irrtümer der Peripatetiker auf. Dies bietet also eine gute Übersicht über wichtige Grundlagen der Illuminationsphilosophie. As-Suhrawardī kritisiert zunächst die aristotelische Definition von Akzidenz, dann behandelt er die Natur mentaler Konstrukte (iʿtibārāt ḏihnīya; besonders bekannt ist as-Suhrawardīs Lehre, Existenz sei ein „mentales Konstrukt“). Er kritisiert die aristotelische Lehre von der Definition (die die Kenntnis der spezifischen Differenz von Substanzen voraussetzt) sowie ganz allgemein und grundlegend den Hylomorphismus, das heißt die Vorstellung, dass Materie und Form zusammen unsere materielle Welt konstituieren.24 Licht spielt in as-Suhrawardīs Lehre einerseits eine Rolle, insofern es Grundlage für Evidenz ist – die Theorie des Sehens interessiert asSuhrawardī daher sowohl unter physischen als auch physiologischen und psychologischen Gesichtspunkten. Zum anderen nimmt Licht aber in vielen Kontexten eine Rolle analog zu der von Existenz im System des Avicenna ein.25 So schreibt der Beginn des eigentlich „metaphysischen“ Teils der Ḥikmat al-išrāq dem Licht Selbstevidenz zu, teilweise mit denselben Worten, wie dies Avicenna für Existenz tut: „Wenn etwas existiert, das weder einer Definition noch einer Erklärung bedarf, so ist es offenbar. Da nichts in höherem Grade offenbar ist als das Licht, so gibt es auch nichts, das weniger einer Definition bedürftig ist.“26
Der Unterscheidung von essentiell notwendigem und essentiell kontingentem (also nur akzidentell durch etwas anderes notwendigem) Existierenden bei Avicenna steht bei as-Suhrawardī eine Unterscheidung zwischen essentiellem und akzidentellem Licht gegenüber: „Ein Ding ist entweder wesensmäßig Licht und Glanz, oder nicht […]. Das Licht unterteilt sich in solches, das ein Zustand von etwas anderem ist, nämlich das akzidentelle Licht, und solches, das kein Zustand von etwas anderem ist, nämlich das immaterielle oder reine Licht. Das was nicht wesensmäßig Licht ist, unterteilt sich in das, was keines Substrats bedarf, nämlich die finstere Substanz, und in das, was ein Zustand von etwas anderem ist, nämlich der dunkle Zustand.“27
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Zur Grundstruktur der Ḥikmat al-išrāq und den Argumentationslinien seines Systems vgl. Sinai, Philosophie der Erleuchtung, S. 275–301. Vgl. die Übersetzung in: Sinai, Philosophie der Erleuchtung, S. 67–75 zu den iʿtibārāt ḏihnīya (,intellektuelle Betrachtungsweisen‘ bei Sinai); S. 78–93 zur Materie. Für einen Überblick vgl. Sinai, Philosophie der Erleuchtung, S. 283–295, „Ontologie des Lichts“. Übersetzung aus Sinai, Philosophie der Erleuchtung, S. 109.10–14. Übersetzung aus Sinai, Philosophie der Erleuchtung, S. 109.20–110.9 (leicht gekürzt und modifiziert).
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Vor dem Hintergrund dieser Lichtmetaphysik ist auch as-Suhrawardīs sehr grundsätzliche Kritik am Hylomorphismus zu sehen. As-Suhrawardī ist stark an den Prozessen und Phänomenen im Bereich des Übergangs vom Immateriellen zum Materiellen interessiert, zum einen im Bereich der Epistemologie, zum anderen auch im Bereich der Kosmologie. Die zentrale Rolle, die er dabei dem Licht zuweist, macht ihn gerade für moderne Aktualisierungsversuche interessant.28 As-Suhrawardī identifiziert – anders als die traditionelle aristotelische Physik – anstelle von eigenschaftloser Materie reine Extensionalität als Grundvoraussetzung der uns bekannten materiellen Welt. Körper werden dabei als „Schranke“ (barzaḫ) identifiziert. Aus sich heraus sind diese Schranken dunkel und begrenzen das Strömen des Lichts. Das Wirken des as-Suhrawardī führt dazu, dass das Verhältnis von philosophischer Tradition und islamischer Mystik auf eine neue Basis gestellt wird. Ein grundsätzliches Problem in der Bewertung ist hierbei, dass es bereits für die Spätantike höchst problematisch ist, klare Abgrenzungen insbesondere zwischen (Neu-)Platonismus und Mystik vornehmen zu wollen. Im Bereich arabisch-islamischer Traditionen bildet sich teilweise im Kontext „islamischer Mystik“ eine auch institutionell verankerte Trennung heraus. Diese wird aber – teilweise unter Rückgriff auf schon vorliegende Muster der Spätantike, teilweise aber auch durch neue eigenständige Entwicklungen – in einem durchaus vergleichbaren Prozess wieder aufgelöst – auch im Kontext islamischer Mystik spielen neuplatonische Traditionen explizit oder implizit eine sehr wichtige Rolle.29 Interessant ist in diesem Kontext eine Traumbegegnung, die as-Suhrawardī in seinem K. at-talwīḥāt schildert: Aristoteles erscheint dem as-Suhrawardī und erläutert diesem die wichtigsten Züge seiner Epistemologie (will heißen: as-Suhrawardīs Konzept des Wissens durch unmittelbare Präsenz, ʿilm ḥuḍūrī). Zum Abschluss der Vision preist Aristoteles seinen Lehrer Platon, und as-Suhrawardī fragt neugierig, welcher unter den Philosophen des Islam denn würdig sei, das Erbe Platons anzutreten. Keiner der „Philosophen“ (falāsifa) kann hier Aristoteles zufriedenstellen – wohl aber die islamischen Mystiker Abū Yazīd (Beyazid) al-Bisṭāmī und Sahl at-Tustarī.30 Die Schriften des as-Suhrawardī bilden den Ausgangspunkt für ein spezifisch stark illuminationistisch geprägtes Schrifttum. Zu nennen sind hier zunächst die beiden grundlegenden Kommentare zu Ḥikmat al-išrāq selbst, das heißt die Werke von aš-Šahrazūrī (gestorben 1288) und Quṭb ad-Dīn aš-Šīrāzī (gestorben 1311 oder 1316). Diese beiden Autoren haben auch ihrerseits enzyklopädische Darstellungen der Philosophie verfasst, nämlich aš-Šaǧara al-ilāhīya (Der göttliche/metaphysische Baum, aš-Šahrazūrī) und Durrat at-tāǧ (Die Perle der Krone, Quṭb ad-Dīn aš-Šīrāzī) – teilweise greifen sie hierin direkt auf die Illuminationsphilosophie zurück.31 Ibn Kammūna (gestorben 1285) verfasste einen wichtigen Kommentar zu as-Suhrawardīs at-Talwīḥāt, aber auch zu Avicennas K. al-išārāt wa-ttanbīhāt.32
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Siehe zum Beispiel Yazdi, The principles of Islamic epistemology. Eine grundlegende Materialsammlung zum Verhältnis von islamischer Traditionen und neuplatonischen Kontexten bieten die Analysen zum Konzept der „platonischen Ideen“ in der arabisch-islamischen Tradition in Arnzen, Platonische Ideen in der arabischen Philosophie. Vgl. Sinai, Philosophie der Erleuchtung, S. 259–262. Für eine neue Übersetzung des Dialogs siehe Eichner, „Knowledge by Presence“, Apperception and the Mind-Body Relationship. Diese Werke liegen nicht in Übersetzung vor. Zu Ibn Kammūna siehe Pourjavady/Schmidtke: A Jewish Philosopher of Baġdād – ʿIzz al-Dawla ibn Kammūna. Zur Positionierung Ibn Kammūnas zwischen illuminationsphilosophischen und avicennischen Traditionen vgl. Mühlethaler, Ibn Kammūna (d. 683/1284) on the Argument of the Flying Man in Avicenna’s Ishārāt and al-Suhrawardī’s Talwīḥāt.
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Neben einer sich auf as-Suhrawardī zurückleitenden Tradition tritt eine weitere Linie gewissenmaßen in Konkurrenz hierzu, nämlich die Rezeption der Schriften des Ibn al-ʿArabī (gestorben 1240). Ibn al-ʿArabī hat ein sehr umfangreiches aber schwer zu deutendes Schrifttum hinterlassen.33 Anders als im Falle as-Suhrawardīs orientiert sich dieses kaum an diskursiven Darstellungsweisen der Philosophie. Seine Kosmologie, die die Welt als Manifestation von göttlichen Attributen und Manifestationen beschreibt, greift dabei im Einzelnen auf Versatzstücke der zeitgenössischen philosophischen Tradition zurück, zum Beispiel im Bereich der Sprachphilosophie; auch die Grundlagen zeitgenössischer ontologischer Theorien sind ihm durchaus gut vertraut.34 Für die Rezeption im Kontext der philosophischen Tradition sind gar nicht so sehr die Schriften von Ibn alʿArabī selbst von Bedeutung, vielmehr versuchen schon sehr früh seine Schüler und Anhänger die Lehre des Ibn al-ʿArabī zu systematisieren. Sein Schüler Ṣadr ad-Dīn alQunyawī tritt in eine Korrespondenz mit dem Philosophen-Astronomen-Theologen Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī ein, und in dieser Korrespondenz werden verschiedene Grundlagenprobleme abgeklärt.35 Schon al-Qunyawī versucht, die mystische Ontologie des Ibn al-ʿArabī systematisch und als geordnete Wissenschaft darzustellen. Spätere Autoren, zum Beispiel der im Gebiet des Osmanischen Reichs tätige Dāwūd al-Qayṣarī (gestorben 1350), setzen dies fort. Dāwūd al-Qayṣarī verfasste einen Kommentar zu Ibn al-ʿArabīs Schrift Fuṣūṣ al-ḥikam (Ringsteine der Weisheit, eine mystische Schrift, deren Kapitel sich um verschiedene Propheten gruppieren).36 Zu diesem Kommentar verfasste Dāwūd al-Qayṣarī eine Einleitung mit Prolegomena (muqaddamāt), die sich auch ganz unabhängig von der restlichen Kommentarschrift sehr weiter Verbreitung erfreute. Diese Einleitung enthält eine systematische Skizze eines auf Ibn al-ʿArabī zurückgeführten Systems und ist hierin anderen Schriften der späteren Avicenna-Rezeption sehr ähnlich, die theologische und philosophische Traditionen vermischen. Die Prolegomena, in denen Ibn al-ʿArabīs mystische Ontologie breiten Raum einnimmt, enthalten folgende 12 Abschnitte: (1) Existenz; (2) Göttliche Namen und Attribute; (3) Archetypen (al-aʿyān aṯṯābita) und Manifestationen; (4) Substanz und Akzidenz; (5) Die universellen Welten; (6) Die Welt der Abbilder; (7) Die verschiedenen Arten von Enthüllung/Offenbarung; (8) Der Kosmos als Abbild des menschlichen Wesenskerns; (9) Die Nachfolge Muḥammads; (10) Der höchste Geist und seine Manifestationen in der Welt des Menschen; (11) Die Rückkehr des Geistes (zu Gott); (12) Prophetie.37 Solche weitgehend dem Gebiet der islamischen Mystik (taṣawwuf) nahestehenden Ansätze habe ich hier so ausführlich behandelt, weil insbesondere die Ontologie dieser beiden Autoren (aber auch ihre Epistemologie) auf der Rezeption philosophischer (konkret: avicennischer) Systeme aufbaut. Außerdem wirken sie im Verlauf späterer Jahrhunderte stark auf die Interpretation avicennischen Schrifttums zurück. Dieses Zusammenwachsen der Tradition lässt sich einerseits an seinem späten Höhepunkt, dem Werk al-Asfār 33
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Eine Vielzahl von Interpretationen seines Werkes haben wir der Aktivität der teilweise weltanschaulich motivierten The Muhyiddin Ibn al-Arabi Society zu verdanken (www.ibnarabisociety.org, dort sind auch viele Aufsätze und Übersetzungen eingestellt). Seit 1982 publiziert die Gesellschaft auch eine eigene Zeitschrift. Als Einführung in das Denken Ibn Arabis sind am ehesten zu empfehlen zwei Werke von W. Chittick: The Self-Disclosure of God: Principles of Ibn Al-ʿArabī’s Cosmology und The Sufi Path of Knowledge: Ibn Al-ʿArabi’s Metaphysics of Imagination. Hierzu vgl. Schubert, Annäherungen. Der mystisch-philosophische Briefwechsel zwischen Sadr ud-Din-i Qonawi und Nasir ud-Din-i Tusi. Eine deutsche Übertragung dieser Schrift des Ibn al-ʿArabī ist Die Weisheit der Propheten. Diese beruht auf der französischen Übertragung von Titus Burckhardt aus dem Jahre 1974. Vgl. al-Qayṣarī, al-Muqaddamāt, S. 27.
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al-arbaʿa (Die vier Reisen, hierzu siehe unten) des Mullā Ṣadrā aš-Šīrāzī (gestorben 1640) festmachen, zum anderen aber auch anhand vieler weniger umfassend angelegter Syntheseentwürfe früherer Autoren. Das Miteinanderverwachsen dieser Traditionen erfolgt oft im Kontext von Kommentierungstraditionen. Im Bereich des philosophischen Schrifttums sind hier vor allem zu nennen: Avicennas al-Išārāt wa-t-tanbīhāt (Hinweise und Vermerke), Aṯīr ad-Dīn al-Abharīs Hidāyat al-ḥikma (Rechtleitung in der Philosophie) sowie Naǧm ad-Dīn al-Kātibī al-Qazwīnīs Ḥikmat al-ʿayn (d. h.: Philosophiesektion, dem Kernstück (ʿayn) zugehörig; dieser Titel leitet sich daraus her, dass al-Kātibī zunächst einen Logiktraktat verfasste ʿUyūn al-qawāʿid „Kernstücke der [logischen] Grundregeln“. Diesen Traktat ergänzte er später durch eine Sektion zu den anderen Gebieten der Philosophie). Zu diesen Werken entwickelte sich eine Kommentierungs- und Glossierungstradition, die zeigt, dass die Interpretation dieser Schriften zunehmend durch die Integration von Elementen aus der Illuminationsphilosophie angereichert wurde. Im Einzelnen sind diese Prozesse noch nicht detailliert untersucht.38 2. Die Theologische Tradition – weitere Interaktion mit Philosophie und Mystik
Mit dem Wirken as-Suhrawardīs tritt in der Geistesgeschichte des Islam ein Stadium ein, in dem sich mystische Traditionen auch in den Details terminologischer und technischer Konzeptionen stark an die Begrifflichkeit und Fragestellungen der philosophischen Tradition angenähert haben. Autoren können problemlos zwischen beide Bereiche wechseln beziehungsweise beide Traditionen verschmelzen ununterscheidbar miteinander. Schon der Fall von al-Ġazālī hatte gezeigt, wie das Wirken eines bedeutenden Autors das Verhältnis von Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft und Mystik in vollständig neue Bahnen lenken konnte. Im Laufe des 13. Jahrhundert führt die Rezeption der Werke des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, vor allem seines al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma, jedoch zu einer grundlegenden Neudefinition der theologischen Tradition des kalām. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts, im Wesentlichen in der Zeit der mongolischen Dynastie der Ilḫaniden, übernehmen mutakallimūn verschiedener Konfessionen (der imāmitische Schiit Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī, der māturīditische Sunnit Šams ad-Dīn as-Samarqandī, die ašʿaritischen Sunniten Nāṣir ad-Dīn al-Bayḍāwī und ʿAḍud ad-Dīn al-Īǧī) ein völlig neues Formular als Standardaufbau ihrer theologischen Werke: Sie wählen als Grundstruktur diejenige von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzīs al-Mulaḫḫaṣ fī l-Ḥikma. Dabei wird im weiteren Verlauf der Rezeption die Feinstruktur des letzten Teils über divinalia erheblich ausgebaut. Sie orientiert sich dabei im Detail an einem andern Werk des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, seinem Muḥaṣṣal afkār al-mutaqaddimīn wa-l-mutaʾaḫḫarīn (Quintessenz der Gedanken der Altvorderen und der Späteren).39 Auch um diese theologischen Summen entwickelt sich eine Kommentierungstradition, innerhalb derer wir dieselben Trends und Entwicklungen identifizieren können wie im Bereich der philosophischen Tradition, also insbesondere das Zunehmen von Elementen der illuminationsphilosophischen Lehre.40
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Zu diesen Prozessen vgl. Endress, Die wissenschaftliche Literatur, insbesondere S. 60–61. Hierzu vgl. Eichner, Dissolving the Unity of Metaphysics. Die Rolle as-Samarqandīs wird dort nicht adäquat berücksichtigt. Dieser Prozess ist ebenfalls nicht hinreichend untersucht. Einige Einblicke in relevante Entwicklungen im schiitischen Bereich bietet Schmidtke, Theologie, Philosophie und Mystik im zwölferschiitischen Islam des 9.–15. Jahrhunderts.
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Dieser neue Typ von theologischen Summen ist im Wesentlichen nur in der Ilḫanidenzeit produktiv (at-Taftāzānīs Werke, die etwas später am Hofe Tīmūrs in Samarqand entstanden sind, bilden hier die Ausnahme) – sie markieren jedoch ein völlig neues Stadium in der systematischen philosophischen Durchdringung theologischen Denkens im Islam. Der Aufbau dieser Werke, die im Laufe der folgenden Jahrhunderte als Klassiker präsent bleiben und immer wieder durch Kommentierungen aktualisiert werden, definiert für das spätere Verständnis die Themen von Theologie – ein Bereich, in dem die früheren äußerst heterogenen Traditionen theologischen Denkens im Islam deutliche Defizite aufzuweisen hatten. Während Faḫr ad-Dīn ar-Rāzīs al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma im Bereich der Theologie weitgehend die Basisstruktur bestimmte, kehrten viele Werke der philosophischen Tradition wieder zur altvertrauten Einteilung in Logik/Physik/Metaphysik zurück – allerdings ist auch hier ein großer Teil der Werke in seinen Unterstrukturen durch den al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma beeinflusst (insbesondere die oben bereits erwähnten Hidāyat al-ḥikma von Aṯīr ad-Dīn al-Abharī und Ḥikmat al-ʿayn von al-Kātibī al-Qazwīnī).
3. Die Rückschauperspektive Ibn Ḫaldūns Die eben geschilderten Entwicklungen in der Interaktion philosophischer und theologischer Wissenschaftskonzeptionen kommen mit Ende der Ilḫanidendynastie zu einem gewissen Abschluss. Zeitlich sehr nahe steht dem die Rückschauperspektive, die der nordafrikanische Historiker Ibn Ḫaldūn (gestorben 1406) gibt. Berühmt geworden ist Ibn Ḫaldūn durch seine Muqaddima (Prolegomena). Diese Muqaddima ist die Vorrede zu seinem Geschichtswerk K. al-ʿibar (Buch der Beispiele), und auf der Grundlage dieses Textes wird Ibn Ḫaldūn in populären Darstellungen gerne als arabischer „Vater der Soziologie“ beschrieben.41 Da Ibn Ḫaldūns Gesellschaftstheorie den Künsten und Wissenschaften eine wichtige Rolle zuerkennt, enthält seine Darstellung viele Details, die unabhängig auch von der neuen Forschung bestätigt werden. Allerdings passt er seine Beobachtungen in seine zyklische Gesellschaftstheorie ein, so dass seine Bewertungen hiervon oft stark beeinflusst werden. Ibn Ḫaldūn beobachtet den Prozess der gegenseitigen Annäherung der verschiedenen Wissenschaften sehr genau und steht ihm (mit Bezug auf eine Vielzahl von Kontexte und Disziplinen) grundsätzlich kritisch gegenüber. Zum Verhältnis von Theologie und (philosophischer) Metaphysik äußert er sich: „Gegenstand und Probleme von Theologie und Metaphysik ähnelten sich einander an, und sie wurden gewissermaßen eine und dieselbe Disziplin (fann). Dann veränderten sie die Anordnung der Philosophen, wie Physik und Metaphysik behandelt wurden. […] Der Imām Ibn al-Ḫaṭīb [Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī] verfuhr so in den Östlichen Untersuchungen, und so taten dies auch die späteren Theologen. kalām wurde so mit Philosophie vermischt, und Werke über kalām wurden mit Philosophie angefüllt. Das Ziel von Philosophie und Theologie mit ihren jeweiligen Gegenständen und Problemen erschien als ein und dasselbe.“42
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Die grundlegende akademische Monographie zu Ibn Ḫaldūn ist bis heute Mahdi, Ibn Khaldūn’s Philosophy of History. Das grundlegende Interpretationsmuster von Mahdis Monographie ist es, Ibn Ḫaldūns Geschichtstheorie als implizierte „Philosophie“ zu beschreiben. Mahdis Interpretation basiert dabei sehr weitgehend auf Paradigmen der Leo-Strauss-Schule. Ibn Ḫaldūn, al-Muqaddima, S. 653–654; (27. faṣl fī ʿilm al-ilāhīyāt) bzw. Kapitel 26 „the science of metaphysics“ (Bd. 3, S. 153ff.) in Rosenthals Übersetzung.
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In seiner Muqaddima möchte Ibn Ḫaldūn „Geschichte“ (taʾrīḫ) als Wissenschaft begründen und greift dabei auf die Wissenschaftslehre der Zweiten Analytiken zurück: Der Gegenstand von Geschichtswissenschaft ist die menschliche Gesellschaft beziehungsweise die Zivilisation der Welt (al-iǧtimāʿ al-insāni alladī huwa ʿumrān al-ʿālam),43 deren essentielle Akzidenzien untersucht werden. Ibn Ḫaldūns Beschreibung des Verhältnisses zwischen Theologie und Philosophie in seiner Zeit geht auf eine gute Vertrautheit mit diesen Traditionen zurück. Ibn Ḫaldūn erwähnt, dass er während eines Aufenthaltes in Ägypten die Werke des at-Taftāzānī kennengelernt habe.44 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Ibn Ḫaldūns singuläres Interesse an einer wissenschaftstheoretischen Fundierung von „Geschichte“ inspiriert ist durch ganz ähnliche sehr ausführliche Diskussionen in der Einleitung von kalām-Werken – wie zum Beispiel at-Taftāzānīs Maqāṣid al-Maqāṣid (Intentionen der Intentionen). Ibn Ḫaldūn entwickelt – basierend wohl auf der Beobachtung des Aufstiegs und Niedergangs verschiedener Dynastien in seiner Heimat, dem westlichen Nordafrika –, ein zyklisches Gesellschaftmodell. Blühende Zivilisationen und Städte werden von militärisch starken und untereinander durch Stammessolidarität (ʿaṣabīya) verbundenen Beduinenstämmen erobert. Diese passen sich im Laufe einiger Generationen an die städtische Zivilisation an, dabei geht ihre militärische Stärke verloren, aber Handwerk, Künste und Wissenschaften gelangen zur Blüte. Auch Ibn Ḫaldūns Sicht auf die Entwicklung von Philosophie im Islam wird in dieses Schema eingepasst: Während in den allerersten Jahrzehnten nach Gründung des islamischen Staatswesens in der beduinischen Gesellschaft kein Platz für Philosophie war, ist die islamische Zivilisation zur Zeit der Abbasidenkalifen dafür genug gereift. In seiner eigenen Zeit, so Ibn Ḫaldūn, befinden sich die philosophischen Wissenschaften im Niedergang – als Ausnahmen nennt er das ferne Ḫurasān und Transoxanien sowie die Länder der Franken. Ibn Ḫaldūns Sicht auf die Entwicklung von Philosophie hat auch die spätere Tradition im osmanischen Reich beeinflusst. Besonders wichtig ist hier der Kašf aẓ-ẓunūn [ʿan asāmī l-kutub wa-l-funūn] (Enthüllung der Zweifel [über die Namen der Bücher und Disziplinen]) des Katip Čelebi (gestorben 1657). Bei diesem Werk handelt es sich um unsere wohl wichtigste bibliographische Quelle für die osmanische Zeit – und es spiegelt einerseits die Wertungen und Einstellungen der eigenen Zeit wider. Zum anderen wirkt es aber auch auf die spätere Wahrnehmung. Neben bibliographischen Angaben enthält der Kašf aẓ-ẓunūn auch Kurzbeschreibungen zu den einzelnen Wissenschaften und Disziplinen. Dabei folgt Katip Čelebi dem Ibn Ḫaldūn und diagnostiziert nun für die eigene Zeit (also 250 Jahre nach Ibn Ḫaldūn) mit weitgehend denselben Worten ebenfalls einen Niedergang. Auch Katip Čelebi vergleicht die eigene Tradition mit derjenigen der Franken. Solcher Blick auf das Osmanische Reich – und somit auf eine der wichtigsten Traditionslinien innerhalb des sunnitischen Islam – hat wesentlich mit dazu beigetragen, dass der Mythos von einem Aussterben der Philosophie im Bereich des sunnitischen Islam sich so erfolgreich etablieren konnte.
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Vgl. Ibn Ḫaldūn, al-Muqaddima, S. 46.9; Rosenthals englische Übersetzung überdeckt den wissenschaftstheoretischen Charakter der gewählten Terminologie conditions affecting the nature of civilizations (Band 1, S. 71). Ibn Ḫaldūn weist in zwei Kontexten auf die Wichtigkeit at-Taftāzānīs hin: Neben der hier erwähnten Stelle (Band 3, S. 117, the various kinds of intellectual sciences) gibt es ein Kapitel, das auf die Wichtigkeit der Nicht-Araber für die Entwicklung der Wissenschaften verweist. Dort sagt Ibn Ḫaldūn, dass er durch at-Taftāzānī auf die Bedeutung Transoxaniens aufmerksam geworden sei (Band 3, S. 315).
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4. Iran Abschließend ist an dieser Stelle ein Blick auf die Situation im schiitischen Iran der Safawidenzeit zu werfen. Die Existenz einer prominenten philosophischen Tradition dort ist wohlbekannt. Für diese späte Nachblüte – im Gegensatz zur Lage im sunnitischen Islam – werden meist zwei Erklärungsmodelle herangezogen: Entweder wird auf die Abwesenheit der philosophiefeindlichen sunnitischen Gesinnung verwiesen, oder Iran wird als Stätte einer die Zeiten überdauernden philosophia perennis portraitiert.45 Bei näherem Hinsehen präsentiert sich die Situation jedoch deutlich komplexer. In der frühen Safawidenzeit ist Iran keineswegs selbstverständlich ein schiitisch geprägtes Land, vielmehr bildet sich der vehemente Gegensatz des zunehmend schiitisierten safawidischen Iran zum sunnitischen Osmanenreich erst im Laufe der Zeit heraus. In der Frühzeit tritt insbesondere die Stadt Šīrāz in den Vordergrund. Hierfür scheint das Wirken des aš-Šarīf alǦurǧānī (gestorben 1413), eines sunnitischen Theologen alidischer Abstammung, eine große Rolle gespielt zu haben.46 Gegen Ende des 15. Jahrhundert und in den folgenden Jahrzehnten sind in Šīrāz viele Autoren aktiv, die wir als seine Schüler identifizieren können. Zu nennen ist hier etwa Ǧalāl ad-Dīn ad-Dawānī (gestorben 1502), Ṣadr ad-Dīn adDaštakī (gestorben 1498) und sein Sohn Ġiyāṯ ad-Dīn (gestorben 1542), Mīr Ḥusayn alMaybudī (gestorben 1504) oder Šams ad-Dīn al-Ḫafrī (gestorben 1535).47 Arabisch ist auch zu dieser Zeit noch die primär verwendete Sprache der Philosophie. Diese Persönlichkeiten sind wir gewohnt als Philosophen anzusprechen, und sie positionieren sich zumeist auch als solche. Viele der Fragen, die sie behandeln und diskutieren, sind aber im Bereich philosophisch-theologischer Grenzfragen angesiedelt (Gottesbeweise, Leib-Seele-Problematik), oft handelt es sich um stark spezialisierte Monographien. Die Illuminationsphilosophie gewinnt an Bedeutung, und auch mystisch geprägte ontologische Spekulationen prägen das Geistesleben der Zeit. Im Werk des Mullā Ṣadrā aš-Šīrāzī (gestorben 1640) kulminieren diese Strömungen. Sein Hauptwerk heißt mit vollem Namen al-Asfār al-ʿaqlīya al-arbaʿa fī l-ḥikma al-mutaʿāliya (Die vier Reisen des Intellekts, über/in der hocherhobenen Weisheit/Philosophie). Dieses Werk greift wieder auf die Strukturen des al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma und al-Mabāḥiṯ al-mašriqīya zurück – einige Sektionen, zum Beispiel diejenige über Essenz und Existenz, sind jedoch deutlich differenzierter ausgestaltet. Dies wird kombiniert mit einem Schema, das der Philosophie des Ibn al-ʿArabī entnommen ist: Die vier Reisen (arab. safar heißt „Reise“ aber auch „Buch“) sind wie folgt überschrieben: 1. Von der Schöpfung (ḫalq) zu Gott (ḥaqq); 2. In Gott; 3. Von Gott zur Schöpfung; 4. In der Schöpfung. Neben Ibn al-ʿArabī ist die Auseinandersetzung mit as-Suhrawardī und mit anderen Philosophen ein wichtiger
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Zu nennen ist hier v.a. Werk und Wirken von Henry Corbin und seiner Adepten, die die Wahrnehmung der Illuminationsphilosophie über Jahrzehnte geprägt haben, siehe etwa Corbins Gesamtentwurf En Islam Iranien: Aspects spirituels et philosophiques. Corbin verdanken wir die grundlegende kritische Edition wichtiger Teile von asSuhrawardīs Werken (erschienen erstmals in vier Bändern 1945 unter dem Titel Oeuvres philosophiques et mystiques de Shihabaddin Yahya Sohrawardi/Opera metaphysica et mystica, mehrere Neuauflagen). Die Studien und Übersetzungen, die aus dem Umfeld Corbins hervorgegangen sind, sind in höchstem Masse weltanschaulich geprägt. Für eine freundliche, aber um Rationalität bemühte Würdigung siehe Landolt, Henri Corbin, 1903–1978: Between Philosophy and Orientalism. Weniger freundlich zu den Grundannahmen der Corbinschen Weltsicht äußert sich Gutas, Avicenna’s Eastern (‚Oriental‘) Philosophy: Nature, Contents, Transmission sowie auch Gutas’ Rezension zu J. Walbridge, The Leaven of the Ancients: „Essay-Review: Suhrawardi and Greek Philosophy“. Vgl. Pourjavady, Philosophy in Early Safavid Iran, S. 1f. Vgl. Pourjavady, Philosophy in Early Safavid Iran, S. 1–41.
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Bezugspunkt für Mullā Ṣadrā.48 Zu seiner Zeit werden Ibn al-ʿArabī und as-Suhrawardī als Vertreter zweier einander diametral entgegengesetzter ontologischer Grundpositionen wahrgenommen: Mit Ibn al-ʿArabī verbindet man in dieser Zeit den Begriff aṣālat alwuǧūd („Priorität, Ursprünglichkeit der Existenz“), mit as-Suhrawardī aṣālat al-māhīya („Priorität, Ursprünglichkeit der Essenz“). Mit Mullā Ṣadrā als Hauptvertreter der „Schule von Isfahan“ gelangen wir in eine Zeit, in der die philosophische Tradition im Iran – auch forschungsgeschichtlich – eine sehr weitgehend eigenständige Identität erreicht hat, die sich von „mittelalterlicher“ arabisch-islamischer Philosophie klar absetzen kann.
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Eine neue halbkritische Gesamtausgabe der al-Asfār al-arbaʿa erschien 2001–2004 in Teheran unter Leitung von Ġulāmriḍā Aʿwānī. Gesamtdarstellungen sind Rahman, The Philosophy of Mulla Sadra und Rizvi, Mulla Sadra Shirazi: His Life, Works and Sources for Safavid Philosophy.
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4. Das gegenseitige Verhältnis von Philosophie und Islam Rémi Brague (Paris/München) Das Wort Islam hat drei Bedeutungen. Es bezeichnet erstens die Religion, die von Muḥammad (gestorben 632) auf Grund der ihm geoffenbarten Botschaft in Arabien gepredigt wurde. Zweitens bedeutet „Islam“ ein bestimmtes politisches und kulturelles Gebilde, das ab dem 7. Jahrhundert weite Strecken des südlichen Mittelmeerraums und Zentralasiens eroberte und dessen geographischer Bereich sich heute vom Westen Afrikas bis Indonesien erstreckt. Drittens versteht man unter „Islam“ auch den Inbegriff der heute lebenden Völker, deren Kultur von der Religion des Islam geprägt wurde und die dem islamischen Kulturkreis angehören. Nun kann man die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zum Islam je nach der Bedeutung des Wortes Islam anders stellen. Man kann etwa den heutigen Zustand des philosophischen Unterrichts in den islamischen Ländern untersuchen, was hier beiseite bleiben soll. Hier sollen nur die ersten zwei Bedeutungen des Wortes Islam berücksichtigt werden. Die Philosophie entstand nämlich in einem Kulturbereich, von dem sie wesentliche Anregungen bekam, der aber nicht ausschließlich vom Islam als Religion geprägt worden war, sondern der Ausbildung der islamischen Dogmatik vorausging, die erst im 9. Jahrhundert eine feste, fast endgültige Gestalt annahm.
1. Islam als geschichtliches Gebilde Die Anfänge des Islam, sei es, dass man ihn als Religion, sei es, dass man ihn als Kultur betrachtet, sind dunkler als gewöhnlich angenommen. Das älteste datierbare Ereignis ist die ab den dreißiger Jahren des 7. Jahrhunderts bezeugte Anwesenheit arabischer Stämme außerhalb der Halbinsel, wo sie bisher vom Nomadentum oder vom Handel lebten. Man findet sie im Irak, in Syrien, später in Ägypten und im Iran. 711 fielen arabische beziehungsweise berberische Stämme in Spanien ein. 751 wurde ein arabischer Vorstoß an der Grenze des chinesischen Reiches (Schlacht bei Talas) gestoppt. 1.1 Ein fruchtbarer Boden
Einige der besetzten Gegenden, und zwar diejenigen, die im Kernland des neu entstandenen Reiches lagen, waren die Wiege der ältesten Kulturen: Ägypten und Mesopotamien, wo der Staat und die Schrift erfunden worden waren; Phönizien, wo man vom Ideogramm und von den syllabischen Zeichen zum Alphabet fortgeschritten war; Iran, das Zentrum des ältesten multiethnischen beziehungsweise multireligiösen Reiches, des ersten rein juridischen Gebildes, das nur staatliche Werkzeuge – die Königswege, das Postamt, das Steuersystem und die Armee – zu einer Einheit bildeten. Die politische Macht und der kulturelle Einfluss waren mit Alexander dem Großen und dessen Nachfolgern bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. an die Griechen übergegangen. Man kennt das gewagte Wort von Carl Heinrich Becker: „Die Erklärung für die Möglichkeit einer islamischen Einheitszivilisation liegt hauptsächlich in der weltgeschichtlichen Tatsache des Hellenismus. So bizarr es klingt: Ohne Alexander den Großen keine islamische
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Zivilisation!“1 Im 2. Jahrhundert v. Chr. hatte das römische Reich den Mittleren Osten bis zum Zweistromland erobert, wo es gegen die iranischen Dynastien einen ständigen Krieg führte. Das „römische“ Reich blieb jedoch in seiner überwiegenden Mehrheit griechischer Kultur, so dass man vom einem „griechisch-römischen Reich“ hat sprechen dürfen.2 Das war vor allem in seiner östlichen Hälfte der Fall, wohin Kaiser Konstantin die Hauptstadt verlegt hatte: Seit 330 befand sich Rom offiziell nicht mehr im Latium, sondern am Bosporus. Im Orient wurden die bedeutendsten Gelehrten und Wissenschaftler geboren, die dort oft auch lebenslang blieben und wirkten: der Pharmakologe Dioskurides von Anazarba (Kilikien) (1. Jahrhundert), der Arzt Galen von Pergamon (gestorben 199), der Astronom Ptolemaios von Alexandrien (2. Jahrhundert). Auf dem Gebiet der Rechtsstudien beeinflusste die Schule von Beirut die ganze östliche Hälfte des Reichs.3 In der Philosophie wurde der Mittel- und Neuplatonismus von den zwei Syrern Noumenios (2. Jahrhundert) und Iamblichos aus Chalkis (Libanon) (4. Jahrhundert) wesentlich geprägt und vertieft. Plotin (gestorben 270), der in Rom dozierte, war ein Grieche aus Alexandrien und sein Schüler und Herausgeber Porphyrios (ursprünglich Malchos, gestorben um 300) war ein Phönizier.4 Besonders im Osten des spätantiken römischen Reiches wurde das christliche Dogma mit Hilfe der philosophischen Begrifflichkeit formuliert: in Alexandrien mit Origenes (gestorben um 253), Athanasius (gestorben 373) und Kyrill von Alexandrien (gestorben 444), in Kappadozien mit Basilios dem Großen (gestorben 379), Gregor von Nazianz (gestorben 390) und Gregor von Nyssa (gestorben 394). Dort lebten im frühen 6. Jahrhundert auch die letzten dem (philosophisch umgedeuteten) Heidentum treu gebliebenen Neuplatoniker wie Simplikios und Damaskios (beide gestorben nach 533) und auch diejenigen, die zum Christentum übergetreten waren, wie Johannes Philoponos (gestorben um 570). Auch dort und um dieselbe Zeit wirkte der unbekannt gebliebene syrische Mönch, der unter dem Pseudonym Dionysios Areopagita ein Corpus mystischer Schriften spätneuplatonischer, vor allem proklischer Prägung verfasste. 1.2 Die syrischen Schulen
Selbstverständlich wachsen Ideen nicht wie Pflanzen. Die geographische Lage ohne das Vorliegen einer Unterrichtstradition in einem Netzwerk von Schulen hätte nicht genügt. Nun verzeichneten Syrien und Irak, die damals unter byzantinischer Herrschaft waren, in den ersten Jahrhunderten des christlichen Zeitalters eine besonders rege Tätigkeit auf dem Gebiet der Theologie und der Philosophie. Sie fand in griechischer Sprache statt, aber auch in Syrisch, der christlichen Form des Aramäischen, die seit Jahrhunderten schon als Lingua franca im Mittleren Osten diente. Die Klosterschulen gaben einen theologischen Unterricht, der jedoch eine philosophische Grundlage voraussetzte. Insbesondere kommentierte man die Werke des Aristoteles, vor allem das Corpus der logischen Schriften, deren Hauptbegriffe (Substanz, Akzidenz usw.) eine Schlüsselrolle in der Dreifaltigkeitslehre und in der Christologie spielten. Einige Werke sind mehrmals übersetzt worden, wie zum Beispiel die Kategorienschrift, von der wir drei syrische Übersetzungen kennen. Es scheint, dass gewisse Schulen nur ele1 2 3 4
Becker, Vom Werden und Wesen der islamischen Welt, S. 16. Vgl. Veyne, L’Empire gréco-romain. Vgl. Collinet, Histoire de l’école de droit de Beyrouth. Eunapios, Vitae Sophistarum [Leben der Gelehrten], III.1 und IV.4, S. 5f.
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mentare Logik lehrten, bis Analytica Priora I 7, und vor der Modallogik Halt machten, wohingegen andere bis zum Ende der höheren Logik, der Lehre des apodeiktischen Beweises in den Analytica Posteriora, gingen. 1.3 Eine erste öst-westliche translatio studiorum
So war in der spätantiken Welt der Mittlere Osten die Gegend, die „exportierte“. Wirtschaftlich hatte das ägyptische Getreide Rom ernährt. Auch geistig kamen vom Osten her zu den übrigen Teilen des Mittelmeerbeckens religiöse Bewegungen wie der Mithraskult, die dem Hermes Trismegistos zugeschriebenen Schriften, das Judentum und in dessen Fahrwasser das Christentum. Während der Epoche, die der arabischen Eroberung beziehungsweise dem Aufstieg des Islam unmittelbar voranging, war der Mittlere Osten immer noch exportierend in Personen und Gütern kulturellen, geistigen und geistlichen Inhalts. Auf dem Gebiet des alltäglichen Lebens war zum Beispiel das Krankenhaus eine Institution, deren östlicher Ursprung den Europäern der damaligen Zeit noch bekannt war.5 Was das intellektuelle Leben anbelangt, so strahlten die syrischen Schulen bis zum fernen Westen aus. So adaptierte Junilius Africanus die auf syrisch geschriebene Einführung in die Heilige Schrift von Paul dem Perser (beide 6. Jahrhundert), der die Erträge der exegetischen Schule zu Antiochien zusammenfasste, ins Lateinische.6 Als Cassiodor 555 das Kloster Vivarium in Kalabrien als Zentrum biblischer Forschung und Konservatorium der klassischen Literatur gründete, schwebte vor seinen Augen das Musterbeispiel der syrischen Schule zu Nisibis.7 Nach der arabischen Eroberung hörte der griechische und syrische Osten nicht auf, einen beträchtlichen Teil des hohen kirchlichen Personals des Westens zu liefern. Unter den römischen Päpsten des 7. und 8. Jahrhunderts findet man mehrere Syrer wie Sergius (687–701) oder Gregor III. (731–742). So lässt sich eine erste, zwar noch bescheidene, translatio studiorum vom Mittleren Osten nach Europa schon vor dem Islam belegen, erst recht vor den im 12. Jahrhundert verfassten toledanischen und sizilianischen Übersetzungen philosophischer und wissenschaftlicher Werke aus dem Arabischen.
2. Das arabische Reich und die Entstehung des Islam Ab dem 7. Jahrhundert kam diese ganze Region uralter und höchster Kultur in die Hände der arabischen Stämme, die sich teils auch dort ansiedelten. Die arabische Herrschaft verlieh dieser Gegend eine Einheit, die sie nie besessen hatte: Jetzt sprachen Ägypten, Syrien, Mesopotamien, Iran mit seinen Nachbargebieten dieselbe Sprache. Die Bedingungen für eine allumfassende mittelöstliche Zivilisation waren da, und mit ihnen der Rahmen für die Aneignung früherer Kulturgüter, unter anderem auch der Errungenschaften der griechischen Philosophie.
5 6 7
Vgl. Sternberg, Orientalium more secutus. Räume und Institutionen der Caritas des 5. bis 7. Jahrhunderts in Gallien. Vgl. Junilius Africanus, Instituta regularia divinae legis. Cassiodorus, Institutiones, I.1, S. 3.
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2.1 Sozialer Rahmen und kultureller Hintergrund
Die neuen Herrscher bildeten eine militärische Kaste, die den ansässigen Bewohnern gegenüber zunächst eine winzige Minderheit darstellte und von deren Arbeit lebte. Diese soziale Struktur ähnelte sehr derjenigen der hellenistischen Königtümer. Für die herrschende Oberschicht spielte der Islam dieselbe Rolle wie die griechische paideia (in der auch ein wenig Philosophie willkommen war) für die Eliten, die Alexanders Eroberungszüge hinter sich gelassen hatte: ein Zeichen der gegenseitigen Anerkennung für deren Mitglieder, aber auch die Eintrittsbedingung in den Klub für diejenigen, die einen sozialen Aufstieg erstrebten.8 Rasch verlor Arabien, wo die Eroberer herstammten, seine politische Bedeutung zugunsten von Damaskus unter der Dynastie der Umayyaden (ab 661), dann von Bagdad unter den ʿAbbāsiden (ab 750). Aus Arabien hatten sie eine lyrische Dichtung mit erotischen und militärischen Themen geerbt. Dagegen war die wissenschaftliche, philosophische und theologische Tätigkeit in Arabien so gut wie nicht vorhanden. Eine vorphilosophische Dichtung wie diejenige Hesiods in Griechenland gab es nicht. Das einzige Thema, das philosophisch klang, war die Vorstellung einer alles beherrschenden Zeit (dahr), die dem griechischen aiōn ähnelt. Auf der Ebene der Religion lebte der heidnische Polytheismus in Arabien nur am Rande weiter. Es ist vermutet worden, dass die arabischen Geschichtsschreiber in die Epoche Muḥammads schon seit Jahrhunderten überholte religiöse Verhältnisse, etwa des Jemen, hineinprojiziert hätten.9 Die Anwesenheit von jüdischen Gemeinden, nicht notwendig jedoch von der rabbinischen („orthodoxen“) Richtung, ist ebenfalls in den Oasen des Nordens bezeugt. Verschiedene christliche, vielleicht auch jüdisch-christliche Strömungen und Gruppen waren auf der arabischen Halbinsel präsent. 2.2 Die Entstehung der islamischen Religion
Die religiöse Geschichte der islamischen Welt ist diejenige des allmählichen Beitritts der eroberten Völker in die neue Religion. Die Bekehrung zum Islam war die Vorbedingung dafür, in die führende Schicht aufzusteigen, da sie es erlaubte, gewisse diskriminierende Regelungen zu vermeiden. Während derselben Periode verlief die Kulturgeschichte der Gegend parallel dazu: Das Wissen der unterworfenen Völker wurde allmählich von den Eroberern assimiliert. Die Religion, die wir heute unter dem Namen Islam kennen, entstand stufenweise. Die traditionelle islamische Geschichtsschreibung betrachtet den Koran als ein übernatürliches Diktat, das ohne Verlust dem Propheten Muḥammad durch den Engel Gabriel überliefert wurde, wobei Gott als der alleinige echte Verfasser gilt. Die Sammlung der Offenbarungen sei unter dem Kalifen ʿUṯmān (gestorben 656) endgültig fixiert worden. Andere Hypothesen betrachten den Koran eher als das Ergebnis einer Kollektivarbeit, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte. Das islamische Reich brauchte Rechtsregeln, wo der Koran nur wenige lieferte, auf den Gebieten des Familien-, Erb- und Strafrechts. Man übernahm die Sitten, die bei den eroberten Völkern galten, wobei man sie mit Bräuchen kombinierte, die aus Arabien kamen. Das Ganze wurde dem Propheten zugeschrieben als der letzten Quelle der Legitimität. Die Rechtsgelehrten mussten die dem Propheten zugeschriebenen Handlungen und 8 9
Vgl. Rostovtzeff, The Social and Economic History of the Hellenistic World, Bd. 2, S. 1057–1061. Vgl. Hawting, The Idea of Idolatry and the Emergence of Islam: From Polemic to History.
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Äußerungen (ḥadīṯ) sieben, um das auszumerzen, was nicht passte, oder um sie durch andere zu konterkarieren. 2.3 Islamische und „äußere“ Wissenschaften
Die Wissensarten unterscheiden sich klassisch in islamische und „äußere“ Wissenschaften. 2.3.1 Islamische Wissenschaften
Die ersteren bildeten sich um die Tatsache der koranischen Offenbarung und des Lebens des Propheten aus. Sie umfassen die koranische Exegese mit den Hilfswissenschaften, die nötig sind, um das heilige Buch korrekt zu verstehen: Grammatik, Kenntnis der klassischen Dichter. Maßgebend war die Kunst, aus den geoffenbarten Daten das in einem konkreten Fall gebotene Verhalten herzuleiten. Dieses Fach würden wir „Jura“ nennen. Die Araber wählten das ursprünglich vage Wort fiqh (etwa: Reflexion) und gaben ihm eine genauere Bedeutung. Der soziale Träger dieser Wissenschaften war die Klasse der „Gelehrten“ (ʿulamāʾ), die vor allem Sammler von Traditionen über den Propheten und Rechtsgelehrte sind. Diese beanspruchen die Fähigkeit, die dem Koran und den Berichten über den Propheten entnommenen Lebensregeln gemäß der vier im 8./9. Jahrhundert entstandenen „Schulen“ (maḏhab) zu interpretieren. 2.3.2 Von außen her
Die anderen Wissenschaften umfassen die Kenntnisse, deren Ursprung als außer der Offenbarung liegend wahrgenommen wird. Da die Philosophie nach ihrem damaligen Selbstverständnis auch Gebiete, die wir heute eher als „Wissenschaften“ bezeichnen, umfasste, seien sie hier kurz erwähnt. Im 9. Jahrhundert fand eine Übersetzungswelle aus dem Syrischen oder direkt aus dem Griechischen statt.10 Sie betraf Werke über Philosophie (im heutigen, engen Sinne), Mathematik, mit ihr die sich damals noch nicht ganz klar von der Sterndeutung unterscheidende Astronomie, Medizin und Pharmazie, Chemie (die sich ebenfalls nicht klar von der Alchemie abhob) und so weiter. Ein riesengroßes Corpus ging ins Arabische über: das Gesamtwerk von Aristoteles, Galen, Ptolemaios, Dioskurides und so weiter. So breit war die Auswahl, dass mehrere griechische Werke heute nur noch in der arabischen Übersetzung vorliegen, wie zum Beispiel die letzten Bücher von Diophantes’ Kegelschnitten. Die Aneignung der Wissenschaften griechischer Herkunft, die im Mittleren Osten zugänglich waren, fand ihren sozialen Träger in einer Klasse von hohen Beamten, die über eine gewisse Muße verfügten. Ihre Zuständigkeit als „Sekretäre“ erforderte, dass sie eine Buchhaltung führen konnten, für die eine mathematische Ausbildung erforderlich war. Die Naturwissenschaften wurden vor allem von Ärzten und im Hinblick auf die Medizin gepflegt. Die Mediziner brauchten die Traktate der großen Theoretiker und Praktiker der Heilkunst wie Galen. Religiöse Probleme spielten auch eine ausschlaggebende Rolle in der Übersetzungstätigkeit und im damit wachsenden Interesse für die Philosophie. Die Philosophie erlaubte es einem, gewisse Fragen religiöser Natur klarer zu stellen und zu beantworten. Das Inte10
Vgl. die Synthese von Gutas, Greek Thought, Arabic Culture.
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resse für die Philosophie war unzertrennbar Wirkung und Ursache der Übersetzungstätigkeit. Als Beispiel kann man die Streitgespräche zwischen den Religionen erwähnen. Sie erweckten das Bedürfnis nach strenger Argumentation. Nun sind die Regeln und Kunstgriffe der Dialektik in den Lehrbüchern des Aristoteles enthalten. Deswegen war das erste Werk des Philosophen, das man ins Arabische übertrug, die Sophistischen Widerlegungen, denen wir kaum den ersten Rang im Corpus beimessen würden. Innerhalb der islamischen Religion waren auch Fragen wie diejenige nach dem Ursprung des Bösen und Gottes Verantwortung dafür sowie solche nach der menschlichen Freiheit philosophisch relevant und einer begrifflichen Erörterung anhand griechischer Gedanken zugänglich. 2.3.3 Die Weiterentwicklung
Nun begnügten sich die arabischen Gelehrten keineswegs damit, sich das griechische Wissen passiv anzueignen. Auf jedem Gebiet konnten sie es fortführen und vertiefen, ja auch kritisieren. Das geschah vor allem in der Mathematik: Die Algebra hat ihren arabischen Namen seit al-Ḫwārizmī (gestorben 850) behalten. In der Astronomie suchten die Andalusier des 12. Jahrhunderts wie al-Biṭrūǧī (Alpetragius) Modelle, die sich mit der aristotelischen Physik könnten vereinbaren lassen, um die rein hypothetischen Modelle des Ptolemäus zu ersetzen. Arabische Forscher waren Neuerer in der Erdkunde, auch dank der Erweiterung der bekannten Gebiete durch die arabischen Eroberungszüge und den großen Seehandel, zum Beispiel nach Indien. Gewisse Männer, wie al-Bīrūnī aus Choresm (Ḫwārizm, d. h. Chiwa im heutigen Usbekistan) (gestorben 1053), widmeten sich Wissensgebieten, welche die Griechen vernachlässigt hatten, wie Erdmessung (Geodäsie) oder Zeitmessung (Chronologie). Der Ägypter Ibn al-Hayṯam (Alhacen) (gestorben 1039) revolutionierte die Optik, indem er sie auf die Idee gründete, nach der die Sichtwahrnehmung von Strahlen herrührt, die die Gegenstände aussenden, nicht, wie früher angenommen, von einem dem Augapfel innewohnenden Licht. Dieses Wissen entstand unabhängig von der koranischen Offenbarung; so erübrigte sich die Frage nach seiner Vereinbarkeit mit dieser. Einige große Gelehrte waren übrigens keine Moslems, ja religiös indifferent. Der Arzt ar-Rāzī (Rhazes) (gestorben 925) war ein Freidenker, der zwar an einen Schöpfergott glaubte, sich jedoch keiner geoffenbarten Religion anschloss; der Astronom Ṯābit b. Qurra (gestorben 901) gehörte der kleinen Gemeinde der Sabäer an, die eine Art aufgeklärtes Heidentum pflegten. Auch auf dem Gebiet der Philosophie trugen Juden und Christen zum intellektuellen Aufschwung der islamischen Welt bei. Al-Fārābī hatte bei Christen studiert und hatte wiederum christliche Schüler wie Yaḥyā b. ʿAdī (gestorben 973), ein Jakobit (Monophysit), der, neben philosophischen Werken, auch rein theologische Abhandlungen über die Trinitätslehre und Christologie verfasste. Gewisse Aspekte des erworbenen Wissens konnten dahingegen zu einer strikteren Anwendung des islamischen Gesetzes verhelfen: Mit der Arithmetik konnte man die schwierigen Teilungsprobleme lösen, die sich aus dem koranischen Erbrecht ergaben; die Astronomie erlaubte es einem, die Richtung von Mekka (qibla) genau zu bestimmen, nach der der Beter sich wenden soll. 2.4 Philosophie als falsafa
Unter den „äußeren“ Wissenschaften befindet sich auch die falsafa. Sie entspricht nur teilweise unserem heutigen Begriff der „Philosophie“. Erstens, weil sie auch Fächer umfasst, die wir eher der Mathematik oder den Naturwissenschaften zuweisen würden, ein
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Phänomen, das sich auch in der Antike und im vorneuzeitlichen Europa beobachten lässt. Zweitens, weil ihre mittelalterlichen Anhänger sie von den religiösen Wissenschaften abgrenzten, sorgfältiger sogar als die Christen derselben Epoche Philosophie und Theologie unterschieden. Ein Zeichen dieses Willens, eine Grenze zu ziehen, ist eben der Gebrauch des Wortes falsafa, das noch lange als Fremdwort griechischer Herkunft empfunden wurde. Wo dagegen versucht wurde, eine Synthese zwischen Philosophie, Kalām und/ oder Mystik zu erreichen, wählte man eher das vagere gemeinsemitische Wort ḥikma, „Weisheit“, wobei man, als Reminiszenz an die aristotelische Metaphysik (al-Ilāhīyāt), dann und wann das Adjektiv ilāhīya hinzufügte. Dies mag dann ähnlich geklungen haben wie „Theosophie“ (H. Corbin). Hier soll nun ausschließlich von dem zu sprechen sein, was nach dem Selbstverständnis derjenigen, die sich falāsifa nannten, als falsafa gelten sollte.
3. Die Offenbarung als Hintergrund der Philosophie Die koranische Offenbarung weist besondere Züge auf, die der Aneignung der äußeren Wissenschaften beziehungsweise der Entwicklung der Philosophie eine besondere Richtung zuweisen. 3.1 Biblischer und koranischer Stil der Offenbarung
Die koranische Offenbarung deckt sich nicht ganz mit derjenigen des Alten und Neuen Testaments. Nicht so sehr vom Inhalt her, in dem die Überschneidungen zahlreich sind, so dass man sie in einem dicken Band hat zusammenbringen können,11 sondern eher durch den Modus der Offenbarung. Israels Gotteserfahrung ist zuerst diejenige eines Gangs zur Freiheit unter Gottes Leitung, dann die eines Zusammenlebens auf einem von Ihm geschenkten Stück Erde. So ist die Offenbarung zuerst diejenige der Sitten Gottes (mores Dei), bevor sie sich in bestimmte Gebote kristallisiert. Diese Gebote beziehungsweise Verbote sind wie die Bräuche des Landes, in dem das Volk mit Gott leben soll, wobei es sich an ein Leben gewöhnen soll, das auch, analog, Gottes eigenes Leben ist. Der Gott der Bibel übertritt die Grenzen seiner eigenen Göttlichkeit (bildlich gesprochen: Er „steigt vom Himmel herab“), um einen Bund mit dem Volk zu schließen und es zu seiner Befreiung zu lenken. Das Christentum treibt das Abenteuer des Bundes noch weiter, bis zu einem doppelten Paradoxon: Auf der einen Seite konzentriert sich Gottes Geschichte mit dem Menschen bis zur Vereinigung des Göttlichen und des Geschöpflich-Menschlichen in einer einzigen Person, derjenigen Christi als des menschgewordenen Wortes Gottes; andererseits erweitert das Christentum diesen Bund, indem es das ganze Menschentum in die Kirche als Leib Christi einverleibt. Die koranische Offenbarung ist diejenige eines Gottes, der, dem Fachwort nach, eine Botschaft „herablässt“ (nuzūl). Dieses Herablassen ist die Bekanntmachung seines Willens als Verheißung (waʿd) der jenseitigen Belohnung, die denjenigen beschert wird, die Ihm gehorchen, und als Drohung (waʿīd) der Strafen, die diejenigen erwarten, die Ihm trotzen. Der koranische Gott bleibt in der undurchdringlichen und unerreichbaren Sphäre des Göttlichen. Er lässt den Ausdruck seines Willens herabsteigen, ohne aber irgendetwas 11
Vgl. Masson, Monothéisme coranique et monothéisme biblique. Doctrines comparées.
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von Seinem Wesen mitzuteilen. Ein so gedachter Gott nimmt Rücksicht auf den Schnitt, den die Philosophen klassisch zwischen dem Transzendenten und dem Immanenten (mythisch: „Himmel“ und „Erde“) durchführen. So bestand vom Anfang an eine bestimmte Affinität zwischen dem Gott des Korans und dem Gott der Philosophen. 3.2 Philosophie als religiöse Pflicht
Ferner enthält der Koran zahlreiche Abschnitte, in denen die Menschen dazu angespornt werden, ihr Denkvermögen zu benutzen, um über die Wunder der Schöpfung zu reflektieren und daraus auf die Weisheit und Allmacht Gottes zu schließen. Im Kontext wollte der Koran die Aufmerksamkeit auf die unerwarteten Phänomene der Vegetation lenken, wie wenn der Regen urplötzlich fällt und binnen einiger Stunden aus der öden Wüste dichtes Gras emporwachsen lässt. Dadurch sollte Gottes Fähigkeit, die Leiber aufzuerwecken, um die Menschen vor Gericht zu stellen, nahegebracht werden. Die Praktizierenden „äußerer“ Wissenschaften, auch der Philosophie, konnten diese Abschnitte anführen, um ihre Tätigkeit zu rechtfertigen. Zwar dachte der Koran vor allem an Gottes Fähigkeit, einmalige Wunder zu bewirken. Die Praktizierenden der „äußeren“ Wissenschaften transponierten aber das Argument, um die Erforschung der natürlichen Gesetzmäßigkeiten zu empfehlen. Ihr bekanntestes Beispiel befindet sich in der Definition der Philosophie mit der Averroes seine Entscheidende Abhandlung (Faṣl al-maqāl) eröffnet: „Wenn die philosophische Tätigkeit in nichts mehr besteht als die Seienden zu beschauen (naẓar) und sie zu betrachten (iʿtibār) im Hinblick auf die Weise, wie sie auf den Schöpfer hindeuten [...]“12 Die Definition ist nicht zu finden unter dem halben Dutzend herkömmlicher Definitionen der Philosophie, die seit den griechischen Kommentatoren des Aristoteles in Umlauf waren und im ganzen Mittelalter bezeugt sind (Wissenschaft der Wissenschaften, Liebe zur Weisheit, Einübung ins Sterben usw.).13 Sie ist lediglich ad hoc. Ja, sie erinnert an Äußerungen von Denkern des Kalāms, wie zum Beispiel Ǧuwaynī, dem Meister al-Ġazālīs. Ferner bildet diese Definition einen hypothetischen Satz, von dem nirgendwo gesagt wird, dass er als eine bewiesene Tatsache zu betrachten sei. Der Obersatz dieses hypothetischen Untersatzes ist nichts anderes als der ganze Traktat des Averroes. Mit der Zustimmung zu ihm steht und fällt das ganze Argument. 3.3 Ein philosophisch plausibler Gott
Das Gottesbild, das der Islam verteidigt, ist für den gesunden Menschenverstand relativ plausibel und grenzt an den Monotheismus der Philosophen: ein einziger Gott, ohne Partner, ohne Tempel, ohne Götzenbild. Die Populärphilosophen stoischer und epikureischer Richtung am Athener Areopag wären Muḥammads Botschaft genauso wohlwollend entgegengekommen wie derjenigen des früheren Paulus (Apostelgeschichte, 17). Ja, die von Muḥammad verkündigte Auferstehung – ein künftiges, eschatologisches, leichter als Allegorie der Unsterblichkeit der Seele umdeutbares Ereignis –, wäre vielleicht auf minderen Widerstand gestoßen als die geschehene, historische Auferstehung des bestimmten Menschen Jesu, die Paulus’ Zuhörer zu einem „achselzuckenden Kichern“ brachte. Die koranische Gottesauffassung lässt sich ohne allzu große Umstände in die neuplatonische Sprache übersetzen. Die kanonisch gewordene Formel „Er [Gott] hat weder ge12 13
Averroes, Faṣl al-maqāl [Entscheidende Abhandlung], §2, S. 3 Schupp = S. 1 Schaerer. Vgl. zum Beispiel Al-Kindī, Fī Ḥudūd al-ašyāʿ wa-rusūmihā [Definitionen], S. 172–174.
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zeugt, noch ist Er gezeugt worden“, in die ein berühmter Vers den „reinen Kult“ – al-iḫlāṣ, den „Glauben ohne Vorbehalt“ (R. Paret) – zusammenfasst (Q 112.3), ist übrigens bei neuplatonischen Autoren zu lesen.14 In den Muḥammad zugeschriebenen Äußerungen (ḥadīṯ) sind auch neuplatonische Einflüsse spürbar, wenn vom Intellekt als erstem Geschöpf die Rede ist.15 Im Sog des Neuplatonismus oder parallel zu ihm drangen auch in den islamischen Kulturbereich Elemente des Hermetismus und der Astrologie ein. Ein vereinfachter Neuplatonismus hat gewissen mystischen Schulen einen philosophischen Unterbau geliefert – und auch dem Schiitentum, als diese ursprünglich wohl politische Bewegung sich eine Weltanschauung zusammenbasteln wollte.16 Man kennt Nietzsches bissiges Wort über das Christentum, dass es ein „Platonismus für das Volk“ sei.17 Mit einem Schmunzeln könnte man den Islam als einen Neuplatonismus für das Volk karikieren. Der koranische Gott kann auch den seit Platon geäußerten Wunsch der Philosophen befriedigen, dem Göttlichen eine ethische Dimension zu verleihen.18 Diesem Gott ist das Benehmen der Menschen nicht gleichgültig: Er mag und belohnt diejenigen, die Er als gut betrachtet; Er hasst (Q 40.10) und straft diejenigen, die Er als böse betrachtet. Der Gott des Korans kann so die Rolle des „belohnenden und rächenden“ Gottes spielen, den Voltaire brauchte und fallweise gerne hätte „erfinden“ wollen. 3.4 Eine religiös gefärbte Philosophie
Auf der Seite der Philosophie, die sich auf dem spätantiken Markt anbot, war die Stimmung der Religion gegenüber überhaupt nicht feindlich gesinnt. Im 5. und 6. Jahrhundert hatte der Spätneuplatonismus die übrigen Schulen (Stoa, Epikureismus, Skeptizismus) fast völlig verdrängt. Unter den Werken des Aristoteles hatte er diejenigen, die als Lehrbücher (Pragmatien) der Logik, der Physik und der Ethik dienen konnten, als erste, propädeutische Etappe ins Curriculum der Studien integriert. Dabei bildeten die Dialoge Platons die höchste Stufe, die als Einweihung in Mysterien verstanden wurde. Die Konkurrenz der orientalischen Religionen, unter denen es auch das Christentum gab, versuchten die Philosophen durch eine stärkere Betonung der Religiosität zu übertrumpfen. Das Phänomen des Heiligen Buchs, das eine endgültige Wahrheit enthält und sie liefert, wenn man es sinngemäß auslegt, war bisher das Privileg des Judentums. Mit den Schriften des Hermes Trismegistos und den Chaldäischen Orakeln erschienen im späten 2. Jahrhundert „heidnische“ Äquivalente.19 Die ersteren waren für das niedrige Volk gemeint, die letzteren aber, die den geistigen Bedürfnissen der Elite angemessener waren, wurden von Philosophen wie Porphyrios und Proklos kommentiert. Der Weg für die philosophische Aneignung des Korans war geebnet. Das Gebet wurde zu einem integrierenden Teil der philosophischen Praxis, so dass manche Philosophen Hymnen an die Götter und Gebete verfassten. So Proklos;20 so viel später der byzantinische Giorgios Gemistos (Plethon), der im 15. Jahrhundert als dritten Weg zwischen Christentum und Islam ein neuplatonisch gedeutetes Heidentum erneuern 14 15 16 17 18 19 20
Macrobius, Commentarii in Somnium Scipionis [Kommentar zu Scipios Traum], I 5 und 16, S. 17 und 31; Candidus der Arianer, Brief an Marius Victorinus, 1, S. 106. Vgl. Goldziher, Neuplatonische und gnostische Elemente im Hadith, S. 317–344. Vgl. Halm, Die Schia, S. 215–219. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 12. Vgl. Platon, Staat, II, 377e–383c. Vgl. Oracles chaldaïques avec un choix de commentaires anciens. Vgl. Procli Hymni.
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wollte.21 Wenn die Große Anrufung, die dem Fārābī zugeschrieben wird, wirklich von ihm stammt, ist sie vielleicht auf dem Hintergrund dieser philosophischen Gewohnheit zu verstehen.22 3.5 Die Streitpunkte
Zwischen Philosophie und Islam waren die heiklen Punkte recht zahlreich. Keiner hat sie besser eingesehen als al-Ġazāli, der eine Liste solcher Punkte aufgestellt hat. Wegen dreier ihrer Thesen verdienten es die Philosophen, des Unglaubens bezichtigt zu werden (takfīr); in siebzehn weiteren Punkten seien sie der unerlaubten Neuerung zu beschuldigen (tabdīʿ).23 Die drei Steine des Anstoßes sind: – Die Welt sei nach den Philosophen ewig und ungeschaffen; der Koran erzählt mehrmals von ihrer Schöpfung in sieben Tagen. – Gott kenne, nach Aristoteles, im Grunde nur Sich selbst. Von der Welt kenne Er, so die späteren Kommentatoren, nur die Ideen oder Gattungsbegriffe (Universalien), nicht dagegen die Individuen als solche;24 nach dem Koran entgeht Gott nicht das Gewicht eines Stäubchens (Q 10.61). – Die Philosophen bekennen lediglich die Unsterblichkeit der vom Leibe befreiten Seele, vielleicht entkomme nur der Intellekt dem Vergehen, wobei der Leib, und mit ihm die niederen Seelenvermögen unwiederbringlich verwesen; der Koran verkündet feierlich die Auferstehung der Leiber am jüngsten Tag. Hier ist eine weitere Schwierigkeit hinzuzufügen: Die moralischen Werte, für die Gott bürge, sind nicht die Gebote eines allgemeinen, von der Religion unabhängigen natürlichen Gesetzes, so wie es die Philosophen bevorzugen; vielmehr bilden sie ein positives Gesetz, das den ausdrücklichen Willen Gottes wiedergibt. Der Gott des Islam gebe den Menschen sein Gesetz. Es bestimmt das, was den Augen Gottes als gut und schlecht gilt. Das Gute und das Böse kulminieren im Glauben und im Unglauben. Der Glaube sei ein Werk, das besser sei als jede gute Handlung; der Unglaube sei eine schlimmere Sünde als all die übrigen. Die Philosophen waren sich ebenfalls bewusst, dass das Verhältnis ihres Fachs mit der zivilen und religiösen Obrigkeit nicht immer friedlich war. Die Vorsicht, mit der Sokrates seine Methode des Fragens als rein menschliches Wissen vom „göttlichen Wissen“, für das er sich als nicht zuständig erklärte, abhob, blieb den mittelalterlichen Denkern im Gedächtnis;25 und auch sein Schierlingsbecher. Sie wussten, dass ihre Kollegen in der Antike angesichts der Verfolgungsgefahr einen esoterischen Stil der Mitteilung hatten benutzen müssen, ja fallweise Meinungen vertreten mussten, denen sie im Grunde ihrer Herzen keinen Glauben schenkten. Das könnte das Verhalten des Johannes Philoponos erklären, als er für die Schöpfung der Welt Partei nahm.26
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Plethon, Traité des Lois, Kapitel 35. Al-Farabi, Duʿāʾ aẓīm [Große Anrufung], S. 89–92. Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers (Tahāfut al-falāsifa), §2–4, S. 226f.; al-Ġazālī, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl [Der Erretter aus dem Irrtum], S. 19–24 [arabisch]; S. 16–24 [deutsch]. Aristoteles, Metaphysik, XII.9.1074b33f.; Themistios, In Metaphysicorum librum Lambda paraphrasis, S. 28f. Al-Fārābī, Kitāb al-burhān, 5, S. 82; vgl. Platon, Apologie, 20d–e. Al-Fārābī, ar-Radd ʿalā Yaḥyā an-Naḥwī fī ar-radd ʿalā Arisṭūṭālīs, S. 111; Mahdi, Alfarabi against Philoponus, S. 257; Avicenna, Briefwechsel mit al-Bīrūnī, 2. Frage, §16, S. 16 [arabisch]; S. 49 [deutsch].
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4.1 Der Kalām
Unter den islamischen religiösen Wissenschaften wird oft der sogenannte Kalām als eine „Theologie“ verstanden und mit diesem Wort übersetzt. Er hat zwar sehr subtile Gedanken entwickelt. Sein Projekt ist jedoch nicht dasselbe wie dasjenige der christlichen Theologie, zu der der Islam keinen adäquaten Gegenpart besitzt. Das Ziel des Kalāms ist nämlich nicht die Klarstellung des geoffenbarten Geheimnisses mit begrifflichen Mitteln, also das Verständnis des Geglaubten (quod credimus intelligere) so wie es Anselm von Canterbury in Anlehnung an Augustin formulierte.27 Vielmehr versucht er zu zeigen, inwiefern das islamische Dogma, dessen Wahrheit vorausgesetzt wird, plausibel ist, oder zumindest, dass es plausibler ausfällt als dasjenige der anderen Religionen, deren Ungereimtheiten aufgedeckt werden. Deswegen kann Ibn Ḫaldūn im 15. Jahrhundert seelenruhig schreiben, dass zu seiner Zeit der Kalām nutzlos geworden sei. Alle Ketzer seien schon widerlegt!28 Der Kalām ist von Überlegungen über die menschliche Verantwortung und deren Kompatibilität mit der göttlichen Allmacht ausgegangen. Der allgemeine Trend der islamischen Mentalität betonte immer mehr die Unentrinnbarkeit des göttlichen Willens im Sinne einer Prädestination. Besonders geeignet, um Gottes Allmacht und das Bedürfnis der Schöpfung nach Erhaltung zu erklären, war die atomistische Weltsicht, die vor allem al-Ašʿarī (gestorben 935) und später al-Bāqillānī (gestorben 1013) entwickelten. Aristoteles hatte einer kontinuierlichen Physik zum Sieg verholfen. Der Kalām stellte dagegen ein Wiederaufblühen des Atomismus griechischer oder vielleicht indischer Herkunft dar. Nicht nur die Materie, sondern auch die Zeit bestehe aus unteilbaren Teilchen (Augenblicken), so dass Gott zu jedem Zeitpunkt die Welt sozusagen neu erschaffen kann, wobei die Kontinuität in den Eigenschaften keineswegs eine „Natur“ der Dinge, sondern bloß eine Gewohnheit (ʿāda) Gottes ausdrückt.29 4.2 Kalām und Philosophie
Die Philosophen aristotelischer Richtung haben den Kalām angegriffen. Sie warfen ihm vor, sich um die Entdeckung der Wahrheit nicht ernsthaft zu kümmern, sondern diejenigen Argumente zu suchen, die schon vorgefasste Meinungen glaubhaft machen können. Etwa im Geiste der heutigen „Ideologiekritik“ versteht al-Fārābī den Kalām als Legitimation bestehender Zustände. Bissig behandelt er ihn unter den politischen Wissenschaften: Das Ziel seiner Vertreter sei es nicht, die Wahrheit zu suchen, sondern die Meinungen zu verteidigen, auf die sich die Gemeinden berufen, in denen sie leben.30Al-Fārābīs Polemik gegen den Kalām wurde von dem christlichen Philosophen Yaḥyā b. ʿAdī und vom Muslim as-Siǧistānī (gestorben um 987) fortgeführt.31 In Andalusien nehmen sie Ibn Bāǧǧa und Averroes wieder auf: Der Kalām beruhe lediglich auf der trägen Gewohnheit seiner Anhänger.32 Al-Fārābīs späterer Bewunderer Maimonides (gestorben 1204) hat seine Kritik am Kalām ins Judentum eingeführt. Er fasste die Lehren des zeitgenössischen
27 28 29 30 31 32
Vgl. Anselm v. Canterbury, Cur Deus homo, I.1, S. 212; vgl. noch Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, §77, S. 101. Ibn Ḫaldūn, al-Muqaddima [Einführung in die Geschichte], VI.14, Bd. 3, S. 43 [arabisch]; Bd. 3, S. 54 [englisch]. Vgl. zum Kalām auch die Bemerkungen im Historischen Überblick S. 32f. Al-Fārābī, Iḥṣāʾ al-ʿulūm, S. 107–113. Beide zitiert in at-Tawḥīdī, al-Muqābasāt, S. 203–206. Ibn Bāǧǧa, Libro de la generación y de la corrupción, S. 42, 9–14; Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa [Großer Kommentar der Metaphysik], Buch Alpha Elatton, C 15, S. 44.
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ašʿaritischen Systems in Thesen zusammen, die er dann widerlegte.33 Die Vorwürfe der Philosophen gegen die Mutakallimūn betreffen insbesondere die Leugnung der Kausalität: Gott sei die einzige, unmittelbare Ursache allen Geschehens, ferner die Leugnung „natürlicher“ ethischer Werte zugunsten der Willkür des befehlenden und verbietenden Gottes.34 Daneben mag al-Fārābī davon geträumt haben, einen Kalām zu entwickeln, der als Magd der Philosophie die in dieser bewiesenen Wahrheiten dem Volk gemäß dessen Fähigkeiten mitteilen sollte. Auf der anderen Seite hat die ablehnende Haltung der Philosophen den späteren Kalām nicht daran gehindert, sich Elemente aus der Philosophie zu borgen. Kindīs und Avicennas Auffassung der ersten Ursache mag den Okkasionalismus des Kalāms oder Ġazālīs vorbereitet haben, indem sie den Zweitursachen fast keinen Platz in ihrer Ontologie zuweisen. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gestorben 1209) hat Avicennas al-Išārāt wa-t-tanbīhāt (Hinweise und Erinnerungen) kommentiert und dessen Werk für seinen Kommentar des Korans benutzt. Auch ein profilierter Gegner der Philosophie wie al-Ġazāli, der Avicenna als seine Zielscheibe wählt, hat vom Philosophen viele Begriffe und Gedanken erhalten, vor allem in der Psychologie. Noch radikalere Eiferer haben ihm diesen Kontakt vorgeworfen: Er sei „an der „Genesung“ (Avicennas Kitāb aš-šifāʾ) erkrankt“.35
5. Gemeinsame und trennende Probleme Der Kalām und die Philosophie mussten sich mit Fragen beschäftigen, die der Islam mit den ihm vorhergehenden Monotheismen, ja in gewissen Fällen auch mit den heidnischen Philosophen, gemein hatte. Der Islam hat auch Problemen, die ihm vorausgingen, eine neue Schärfe verliehen, während sich andere hingegen erübrigten. 5.2 Gemeinsame Probleme
Das seit Gottfried Wilhelm Leibniz (1710) „Theodizee“ genannte Problem war für jede Art von Monotheismus von zentraler Bedeutung. Wie lässt sich das Dasein des Bösen mit der Güte des Schöpfers vereinbaren? Wie reimen sich die menschliche Freiheit und die göttliche Allmacht beziehungsweise Vorsehung zusammen? Wie kann Gott den Menschen gerecht belohnen und strafen, wenn Er selber die Handlungen im Menschen schafft? Das sind die ersten Fragen, von denen wir wissen, dank Johannes Damaskenos’ (gestorben 750) Zeugnis, dass sie die Denker unter denjenigen, die er „Sarazenen“ nennt, in Atem hielten.36 Nach Platon hatte Plotin die Frage nach dem Ursprung des Bösen gestellt und Proklos hatte ihr mehrere kurze Traktate gewidmet.37 Unter den Christen musste Augustinus (354–430) die Manichäer, denen er sich mehrere Jahre angeschlossen hatte, gerade in diesem Punkt bekämpfen. Die Frage nach dem Ursprung der bestehenden Weltordnung bildete ein zweites schwieriges Problem. Es hatte in der Antike verschiedene Antworten darauf gegeben. Nach den Mythen der Dichter nahmen die frühen Philosophen die Vorstellung einer Weltentstehung auf, diesmal aus einer Urmaterie. Im Timaios hatte Platon die Herstellung 33 34 35 36 37
Maimonides, Dalālat al-ḥāʾirīn [Führer der Unschlüssigen], I, Kap. 71–76. Vgl. zum Beispiel Averroes, Kommentar zu Platons Staat, II, vii.1, S. 66 [hebräisch]. Zitiert von Ibn Taymīya, ar-Radd ʿalā al-manṭiqīyīn, Bd. 2, S. 232. Johannes Damaskenos, Controverse entre un musulman et un chrétien, S. 228–234. Platon, Theaitetos, 176a; Plotin, Enneaden, I.8 [51]; Proklos, De malorum subsistentia.
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der Welt durch die Tätigkeit eines göttlichen Handwerkers erzählt. Sehr schnell wurde aber diese Geschichte als ein pädagogischer Mythos zum besseren Verständnis einer im Grunde immer schon dagewesenen Struktur gedeutet und damit verharmlost. Aristoteles hatte hieb- und stichfeste Argumente zugunsten der Ewigkeit der Welt vorgebracht, so dass die These das Feld jahrhundertelang behauptete.38 Mit dem Eintritt der biblischen Schöpfungsberichte in die spätantike Gedankenwelt wurde der Streit wieder entfacht und verschärft: Die Schöpfung war mehr als eine philosophische These, sie hatte den Status eines religiösen Dogmas angenommen. Proklos schrieb eine Abhandlung über die Ewigkeit der Welt, die der Christ Johannes Philoponos widerlegte.39 Der Athener Neuplatoniker Simplikios verteidigte wiederum die Argumente des Proklos und parierte Philoponos’ Einwände in den gegen jenen gerichteten Abschnitten seines Kommentars zur Aristotelischen Physik. Die Araber kannten den ganzen Streit sehr gut. Al-Fārābī schrieb eine kurze Abhandlung gegen Philoponos, den er als „Johannes der Grammatiker“ (Yaḥyā an-Naḥwī) kannte. Avicenna erkennt sofort die Quelle der Einwände Bīrūnīs gegen die Ewigkeit der Welt: Sein Gegner habe zu viel Johannes gelesen und ihm geglaubt.40 Averroes’ Widerlegung des Ġazāli im Tahāfut at-tahāfut (Inkohärenz der Inkohärenz) wiederholt Simplikios’ Antwort auf Philoponos mit anderen Mitteln. Die Frage nach der Vorsehung war durch eine dem Aristoteles zugeschriebene einfache Unterscheidung beantwortet worden: Die Welt über dem Mond sei der Gegenstand der göttlichen Fürsorge. Die niedere Welt dagegen sei zwar nicht ganz dem Zufall überlassen, wie Epikur es glaubte, aber nur indirekt von der Vorsehung regiert.41 Diese Lösung konnte die Monotheisten unmöglich befriedigen. Bibel und Koran setzen die direkte Sorge des dem Geschöpf unmittelbar nahen Gottes für ein jedes Individuum voraus. 5.3 Die Prophetie
Die Idee einer durch Propheten mitgeteilten Erkenntnis des Göttlichen, möglicherweise einer Teilhabe an göttlichem Wissen, die etwa die Sicht der künftigen Ereignisse, mithin deren Vorhersage ermöglichen könnte, spielte im Judentum eine sehr wichtige Rolle. Im Christentum wurde die Lehre der Prophetie zwar beibehalten, geriet jedoch in eine gewisse Vergessenheit, als das Dogma der Menschwerdung, das einen engeren Kontakt Gottes mit der menschlichen Natur ermöglichte, ins Zentrum rückte. Dabei wurde die Prophetie zu einem Phänomen der Geschichte: Die Propheten des Alten Bundes seien nur Vorläufer und Verkünder Christi gewesen. Mit dem Islam erlebte die Prophetie in der Wirklichkeit der Botschaft Muḥammads eine Rückkehr und wurde folglich auch Gegenstand der Reflexion. Der Islam befand sich in einer umso gefährlicheren Lage, da er aus rein geographischen Gründen, und zwar wegen seiner Nähe zu Indien und China, schon früh mit Völkern in Verbindung kam, bei denen die Prophetie unbekannt war. Die Chinesen besitzen kein ʿilm, schrieb mit Erstaunen 851 ein Reisender.42 Damit meint er nicht, dass sie keine Wissenschaft besitzen, sondern dass sie keine religiösen Richtlinien des Verhaltens von Gott in Form eines heiligen 38 39 40 41 42
Platon, Timaios, 31b; Aristoteles, De Caelo, I.10–12. Johannes Philoponos, De aeternitate mundi contra Proclum. Vgl. al-Fārābī, ar-Radd ʿalā Yaḥyā an-Naḥwī fī r-radd ʿalā Arisṭūṭālīs, S. 108–115; Mahdi, Alfarabi against Philoponus, S. 233–260; Avicenna, Briefwechsel mit al-Bīrūnī, an der in Anm. 26 zitierten Stelle. Vgl. Alexander von Aphrodisias, Traité de la providence [Über die Vorsehung], S. 15–23. Aḫbār aṣ-sīn wa-l-hind, §72, S. 26.
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Buchs bekommen haben. So müssen die Mutakallimūn als ersten Schritt die Möglichkeit, dann die Wirklichkeit der Prophetie beweisen, was sie oft in Form einer Diskussion mit den sogenannten Barāhima (Brahmanen) tun, ab und zu auch mit den „Sabiern“ (Ṣābiʾa), wie etwa in einem vom Häresiographen aš-Šahrastānī (gestorben 1153) inszenierten Gespräch zwischen jenen und offenbarungsgläubigen Monotheisten (ḥunafāʿ).43 Über die Prophetie hatte die griechische Philosophie so gut wie nichts zu sagen. Sie war aber mit ähnlichen Phänomenen vertraut, vor allem mit der Wahrsagerei und mit den Träumen. Aristoteles hatte ihnen eine kleine Abhandlung gewidmet.44 Diese bisher am Rande gebliebenen Abhandlungen bekamen eine neue Relevanz. Die Philosophen des Islam interpretierten die prophetische Tätigkeit im Lichte der aristotelischen Psychologie. Der Philosoph hatte eine Lehre der Einbildungskraft entworfen. Er hatte auch eine Erkenntnislehre, nach der der Erkenntnisvorgang als Übergang des potentiellen zum aktuellen Wissen von einer Beeinflussung des passiven Intellekts vom tätigen Intellekt (später nous poiêtikos, al-ʿaql al-faʿʿāl, intellectus agens) herrührt. Der sich damit befassende kurze und dunkle Abschnitt, der sowieso schon zu den meistkommentierten im ganzen Corpus gehörte, wurde noch brisanter.45 Ferner war der Hauptgegenstand der Prophetie nicht die Offenbarung der Seinsgeheimnisse, geschweige denn der künftigen Ereignisse. Der Inhalt der prophetischen Botschaft war eher eine Ordnung der menschlichen Verhältnisse, daher so etwas wie ein Gesetz. Folglich nahm die Prophetie eine politische Dimension an. Der Prophet wurde als der Gründer des vortrefflichen Staats gedeutet. Der Traum der griechischen Philosophen, Platons Kallipolis, sei in die Tat umgesetzt worden. So eine Vorstellung befindet sich bei al-Fārābī, obwohl dieser den Namen des Propheten und dieses Staats nie verrät. Unklar bleibt, ob die vortreffliche Staatsleitung schon existiere, etwa in einer bestimmten Form der islamischen Politie, oder ob sie noch zu erwarten sei. Wenn dies der Fall wäre, bliebe die Aufgabe, die vortreffliche Polis zustande zu bringen, Aufgabe des Philosophen. 5.4 Verharmloste Probleme
Dahingegen brauchten sich die Denker des Islam nicht mit paradoxen Dogmen auseinanderzusetzen wie diejenigen des Christentums: die Menschwerdung, die Dreifaltigkeit, die reale Gegenwart des auferstandenen Leibes Christi im Heiligen Messopfer und so weiter. Ihnen obliegt es ebenso wenig, gewisse dem ersten Anschein nach sinnlose Gebote zu begründen, wie es die Suche nach den taʿamey ham-miṣwōt im Judentum mit den biblischen ḥuqqim („Zeremonialgesetz“ im scholastisch-christlichen Wortschatz) tun muss.46 Die Rechtsverordnungen des Koran und des Hadith sind im Großen und Ganzen für die Vernunft annehmbar und waren es im Kontext der mittelalterlichen Sitten noch mehr als heutzutage. Ferner braucht der Islam nicht zu erklären, wie zwei Schriftgruppen koexistieren können, wie im Christentum das Alte und das Neue Testament. Nach der christlichen Lehre seien zwar beide wahr, aber ihre Harmonie ist keine Selbstverständlichkeit. Dafür braucht man eine komplizierte, ab und zu an den Haaren herbeigezogene allegorische Auslegungsmethode. Der Islam kann sich dieser Aufgabe entledigen: Er behauptet nämlich, 43 44 45 46
Vgl. aš-Šahrastānī, Kitāb al-milal wa-n-niḥal [Buch der Religionen und der Sekten], Bd. 2, S. 98–142 [arabisch]; Bd. 2, S. 8–60 [deutsch]. Aristoteles, De divinatione per somnium, 462b–464b. Aristoteles, De anima, III.5. Vgl. zum Beispiel Maimonides, Dalālat al-ḥāʾirīn [Führer der Unschlüssigen], III, Kap. 28–31 und 37.
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dass der Sinn, ja der Wortlaut der früheren heiligen Bücher von ihren jeweiligen jüdischen oder christlichen Besitzern verfälscht (taḥrīf) wurde. Folglich haben diese Texte jeden Anspruch auf Autorität verloren und stellen keine Gefahr dar.47
6. Die Angehörigkeit der Philosophen zum Islam War die Zugehörigkeit zum Islam ein bedeutendes Element für das Selbstverständnis der islamischen Philosophen? 6.1 Von innen her gesehen
Al-Fārābī rekonstruiert die Geburt der Philosophie bei den Völkern, die sie von einem früheren Volk vererbt bekommen haben. Unschwer kann man aus seinen Äußerungen herauslesen, dass er vor allem an die Art und Weise dachte, wie die griechische Philosophie von den Völkern arabischer Kultur empfangen wurde.48 Fārābī spricht des Öfteren von den Arabern oder von den Eigenschaften ihrer Sprache. Er weist auch darauf hin, dass sowohl die Überlieferer als auch die Empfänger eine Religion besaßen, vermeidet es jedoch, diese beim Namen zu nennen. Averroes erwähnt dann und wann Denker, die er als „die Philosophen des Islam“ bezeichnet. Damit meint er al-Fārābī und Avicenna.49 Er nennt sie „die Neueren unter den Philosophen“ (falāsifa) oder „unter den Weisen“ (ḥukamāʾ) des Islam.50 Ferner bemerkt er, dass die Lehre, nach der die Formen von einem „Formengeber“ (wāhib as-ṣuwar, dator formarum) herrühren, sich bei den Alten nicht findet, dagegen nur bei gewissen Philosophen des Islam, wobei er ausdrücklich auf Avicenna verweist.51 Für Averroes besteht die Geschichte der Philosophie aus zwei Teilen: Nach den Alten, das heißt vor allem nach Aristoteles und seinem Meister Platon, sind die Moslems gekommen. So scheint es, dass für ihn „Islam“ vor allem eine chronologische Bedeutung hatte. Das Wort soll den zweiten Höhepunkt der Philosophie bezeichnen, nach den alten Griechen. An eine Pflege der Philosophie bei Juden und Christen hat er wohl nie gedacht. In seiner Widerlegung von Ġazālī spricht Averroes von „Avicenna und den übrigen unter denjenigen, die sich zum Islam bekennen“ noch einmal, um sie von den wahren Lehren der Alten zu unterscheiden. Sein Gegner Ġazālī habe sich einen großen Ruf erworben „in der Nation (umma) des Islam“.52 In einem besonders lehrreichen Abschnitt betont Averroes die religiöse Zugehörigkeit gewisser Denker. Dort spricht er von den „Anhängern des Kalāms (mutakallimūn) unter den Menschen unserer religiösen Gemeinde (milla) und in der religiösen Gemeinde der Christen“; etwas weiter unten spricht er von „denjenigen, die unter den Männern unserer religiösen Gemeinde Philosophie treiben“ (mutafalsifūn).53 Hier hat das Partizip mutafalsif, wie des Öfteren, einen verschlechternden Nebenton, wie „Amateurphilosoph“. Das Wort milla, im Unterschied zu Islām, bezeichnet eine religiöse Gemeinde als solche. Man
47 48 49 50 51 52 53
Vgl. zum Beispiel Lazarus-Yafeh, Intertwined Worlds. Medieval Islam and Bible Criticism. Al-Fārābī, Kitāb al-ḥurūf [Buch der Buchstaben], §108–158, S. 131–161, dann §106, S. 157. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut [Inkohärenz der Inkohärenz], III, §68, S. 179. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, III.56, S. 173 und VIII.4, S. 39; Epitome der Metaphysik, §60, S. 153, no. 8. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, XIX (= Physik III) 7, S. 407 und 579. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, VI.29, S. 325 und 84, S. 353. Ibn Rušd, Epitome der Physik, VIII, S. 134f.
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erhält den Eindruck, dass nur eingeschworene Feinde der Philosophie oder unzuständige Pfuscher sich auf Grund ihrer religiösen Zugehörigkeit charakterisieren lassen. Nur in einem Fall ist es mir gelungen, einen Hinweis auf die religiöse Zugehörigkeit eines Philosophen zu belegen: in einem Werk des Astronomen und Philosophen Naṣīr adDīn aṭ-Ṭūsī (gestorben 1274). Dort liest man: „Yūsuf al-Kindī, der einer der Philosophen des Islam (az hukamāʾ-yi islām) war“. Diese Formel hat die Aufmerksamkeit des Übersetzers auf sich gezogen. In einer Anmerkung schreibt dieser: „The appellation given him by Ṭusī [...] raises all sorts of problems turning on: (a) the ambiguity of the Arabic term for ‚wise man‘, ‚philosopher‘ [...], and (b) the question whether ‚of islam‘ means ‚writing within the islamic era, as opposed to ancient times‘ or ‚as a Muslim, concerned to harmonize philosophy with the Islamic faith‘.“54
Nun begegnet man dem Ausdruck nicht, wenn Ṭusī andere Philosophen der islamischen Welt erwähnt, wie al-Fārābī und Avicenna, was übrigens nur je ein einziges Mal geschieht.55 Dasselbe gilt von seiner Hauptquelle, Miskawayh, dem Verfasser des berühmten Traktats über die Verfeinerung der Sitten.56 6.2 Von außen her gesehen
Dieser Eindruck einer gewissen Fahrlässigkeit im Gebrauch des Wortes „Islam“ wird auch dann bestätigt, wenn man das Zeugnis der Andersgläubigen und auch derjenigen berücksichtigt, die innerhalb des Islam die Philosophie mehr oder weniger mild angreifen. In der Christenheit wird die Religion der arabischen Philosophen nicht sehr häufig erwähnt, vielleicht weil sie als eine Selbstverständlichkeit galt. Das schloss eine gewisse Ungenauigkeit nicht aus: So nennt zum Beispiel Meister Eckhart Avicenna „einen heidnischen Meister“.57 Ich kenne nur einen Abschnitt, in dem der Islam eines Philosophen ausdrücklich genannt wird: Johannes Duns Scotus (gestorben 1308) schreibt im Prolog zu seiner Ordinatio über den von ihm doch tief bewunderten Avicenna: „Er vermengte seine Religion (secta), die diejenige des Muḥammad war, mit philosophischen Lehren (philosophica), so dass er einige Dinge als philosophisch und von der Vernunft bewiesen aussagt, andere dagegen als mit seiner Religion übereinstimmend.“58 Überraschenderweise erinnert Scotus’ Bemerkung an Averroes’ Verdacht, Avicenna habe unredlich mit dem Kalām kokettiert, um die Gunst seiner Zeitgenossen zu gewinnen.59 Innerhalb des Islam wird derselbe Wortschatz von denjenigen benutzt, die die Philosophie beschreiben, ohne deren Lehren zu teilen. Als „islamisch“ gelten für sie auch Denker, die sie als Ketzer brandmarken oder über deren Angehörigkeit zu anderen Religionen sie sich im Klaren sind. Der Historiker Ṣāʿid al-Andalusī (gestorben 1070) nennt al-Fārābī „den echten Philosophen der Muslime“ (faylasūf al-muslimīn bi-l-ḥaqīqa), ar-Rāzī ist für ihn aber „der Arzt der Muslime“ und al-Kindī nur „der Philosoph der Araber“.60 Aš-
54 55 56 57 58 59 60
Nasir ad-Dīn aṭ-Ṭūsī, The Nasirean Ethics, I.9, S. 121 und Anm. 1210, S. 292. Nasir ad-Dīn aṭ-Ṭūsī, The Nasirean Ethics, III.1, S. 187 und II.1, S. 155. Nasir ad-Dīn aṭ-Ṭūsī, The Nasirean Ethics, S. 25f., 59, 66, 105 und 116. Meister Eckhart, Predigt Nr. 26 und 37 (Deutsche Werke, Bd. 2, S. 30, 218 und 220). Duns Scotus, Ordinatio, Prologus, §33, S. 19f. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, IV.27, S. 276 ; Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa [Großer Kommentar der Metaphysik], Buch Gamma, C3e, S. 313. Ṣāʿid al-Andalusī, Ṭabaqāt al-umam [Die Generationen der Nationen], S. 137 und 134.
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Šahrastānī zitiert unter den „Philosophen des Islam“ zwei Christen: den vorislamischen Johannes Philoponos und Yaḥyā b. ʿAdī.61 So nennt al-Ġazālī die Philosophen, die er als schlechte Moslems betrachtet, „islamische Praktizierende der Philosophie“ (al-mutafalsifa l-islāmīyūn) auch wo er urteilt, dass ihre Irrtümer sie aus der Gemeinde der Moslems (kāffat al-islāmīyīn) entfernen.62
7. Einige Philosophen und die Hauptlehren des Islam Die Philosophen, die im islamischen Reich lebten, nahmen alle an der islamischen Zivilisation teil. Ihr Verhältnis zum Islam als Religion war dagegen verschieden. Einige waren nicht Muslime, sondern Juden (Saadia Gaon, Maimonides und andere) oder Christen (Yaḥyā b. ʿAdī, Ibn aṭ-Ṭayyib und andere). Auch bei denjenigen, die nominell als Muslime galten, variierte die Zustimmung zum Dogma. Hier seien einige der bekanntesten kurz untersucht. 7.1 Al-Kindī (gestorben um 870)
Al-Kindī gilt häufig als der älteste der islamischen Philosophen und bekommt, wegen seiner adligen, rein arabischen Abstammung den Ehrennamen „Philosoph der Araber“ (faylasūf al-ʿarab). Als Mäzen hat er Übersetzungen neuplatonischer Texte gefördert, unter anderem der berühmten und rätselhaften Theologie des Aristoteles – tatsächlich eine Blütenlese aus Plotins letzten drei Enneaden, in der von „Theologie“ so gut wie nirgendwo die Rede ist. Al-Kindī hat aber keine Schule der Philosophie gegründet, und die späteren Denker aristotelischer Richtung, die sogenannten falāsifa, erwähnen ihn kein einziges Mal. Unter all den arabischen Philosophen ist er wohl derjenige, dessen Anhängerschaft zur Religion am eindeutigsten ist. Er nimmt Bezug auf Gedanken, die im Koran vorkommen und deutet sie im Licht der damals herrschenden philosophischen Kosmologie neuplatonischer Färbung. Seine Auffassung des „Einen“ liest sich als eine philosophische Umdeutung und Rechtfertigung der ersten Hälfte des Glaubensbekenntnisses (šahāda) „Kein Gott außer Allah“ sowie des Glaubens an die Schöpfung. Die Welt sieht er eindeutig als geschaffen im wörtlichen Sinne an, das heißt durch einen Akt des göttlichen Willens aus dem Nichts ins Sein gerufen. In seiner Epistel über die Bücher des Aristoteles interpretiert er in diesem Sinne die berühmte Äußerung: „Wenn Er etwas will, sagt er dazu nur: Sei!, dann ist es (kun fa-yakūnu)“ (Q 2.117 u. a.).63 Er erklärt auch, dass der Vers „die Sterne und Bäume fallen [vor Gott] nieder“ (Q 55.6) die Seinsweise der Geschöpfe, vor allem der Himmelssphären, ausdrückt.64
61 62 63 64
Aš-Šahrastānī, Kitāb al-milal wa-n-niḥal [Buch der Religionen und der Sekten], Bd. 3, S. 93 [arabisch]; Bd. 2, S. 212f. [deutsch]. Al-Ġazālī, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl [Der Erretter aus dem Irrtum], S. 20 und 23 [arabisch]; S. 18 und 24 [deutsch]. Vgl. Al-Kindī, Fī Kammīyat kutub Arisṭū [Über die Menge der Bücher des Aristoteles], S. 372–376. Al-Kindī, Fī l-Ibāna ʿan suǧūd al-ǧirm al-aqṣā [Über die Erklärung zur Anbetung der äußersten Sphäre].
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7.2 Ar-Rāzī (gestorben um 925)
Ar-Rāzī verstand sich selbst als einen Philosophen und Jünger des Sokrates. Seine Zunftgenossen sahen ihn zwar als den hervorragenden Arzt an, der er unbestritten war, nahmen ihn aber als Philosophen kaum ernst, ja verspotteten ihn ab und zu sehr stark.65 Da er weder von der Zunft noch von den Frommen unterstützt wurde, wurde sein philosophisches Werk kaum überliefert, mit Ausnahme der noch harmlosen ethischen Abhandlung Die geistige Medizin. Seine kühnsten Gedanken wurden uns nur durch die Streitschriften seiner Gegner überliefert, die ihn nicht immer nennen. Sein Hauptanliegen war wohl das Geheimnis des Bösen in der Welt. Er löst es mit Hilfe einer platonisch und gnostisch gefärbten Weltanschauung, die fünf gleichursprüngliche Prinzipien annimmt und vom Fall der Seele in die niedere Welt redet. Es scheint, dass arRāzī jede Prophetie geleugnet hat. Er soll eine radikale Kritik an den Propheten als Stifter von Zerwürfnissen, mithin von Kriegen ausgeübt haben. Auf Grund seiner Seelenwanderungslehre erklärt er ferner, dass Propheten die wieder zu Menschen gewordenen Seelen großer Verbrecher seien.66 Die Vielfalt der Prinzipien und die Theorie über den Ursprung der Prophetie verneint genau die zwei Hälften der šahāda, wie al-ʿĀmirī (gestorben 992) einsehen konnte.67 Obwohl er der islamischen Zivilisation angehörte, kann ar-Rāzī kaum als Muslim gelten. 7.3 Al-Fārābī (gestorben 950)
Der um eine Generation jüngere al-Fārābī stellt einen neuen und anderen Anfang dar. Er vertritt eine streng aristotelische Auffassung der philosophischen Tätigkeit. Nach seinem Tode wurde er kaum mehr erwähnt. Auch sein unmittelbarer Jünger Yaḥyā b. ʿAdī nennt nur seinen anderen Lehrer Abū Bišr Mattā, al-Fārābī dagegen nie.68 Später nahmen ihn jedoch alle nachfolgenden Philosophen im Osten wie im Westen als Bezugspunkt. Der Perser Avicenna, der sich doch gerne als eine Art „philosophische Urzeugung“ betrachtete, nannte ihn „den besten meiner Vorgänger“.69 Im Westen bewundern ihn die Andalusier ab Ibn Bāǧǧa (gestorben 1138), der seine logischen Schriften kommentierte, sowie Averroes und der Jude Maimonides.70 Den Kern seines Schaffens bilden Kommentare zu den logischen Schriften des Aristoteles. Dort kommen Bezüge zu religiösen Fragen sachgemäß relativ selten vor. Er besteht darauf, wohl gegen Kindī, dass die Metaphysik des Aristoteles keineswegs mit dem tawḥīd (Lehre der Einheit [Gottes]) verwechselt werden darf; ihr Inhalt sei lediglich ontologischer Natur.71 Seine persönlicheren Schriften behandeln die Art und Weise, den tugendhaften Staat zu errichten. Im umfangreichsten dieser Werke, dessen Titel man gewöhnlich als Der Musterstaat übersetzt, nennt er das oberste Prinzip des Universums einfach „der/das Erste“ (al-awwal), nie dagegen „Gott“. Allah wird dort nur erwähnt, wenn von den Gegenständen
65 66 67 68 69 70 71
Vgl. Avicenna, Briefwechsel mit al-Bīrūnī (wie Anm. 26); Maimonides, Brief an Samuel Ibn Tibbon, S. 380a. Vgl. ar-Rāzī, Opera philosophica, S. 295 (Streit mit Abū Ḥātim), dann S. 177f. (aus Nāṣir-i Ḫusraw, Zād al-Musāfirīn); vgl. auch Nāṣir-i Ḫusraw, Le Livre réunissant les deux sagesses, S. 157. Rowson, A Muslim Philosopher on the Soul and Its Fate, S. 75. Vgl. zum Beispiel Yaḥyā ibn ʿĀdī, Kitāb Aǧwibat Bišr al-Yahūdī ʿan masāʾilihī, S. 333. Vgl. Avicenna, Risāla ilā l-Kiyā [Brief an Kiyā], S. 375.15. Vgl. Maimonides, Iggeret ha-Rambam le-Shemuel ben Tibbon [Brief an Samuel Ibn Tibbon], S. 379a. Al-Farabi, Fī Aġrād mā baʿd at-ṭabīʿa [Über die Ziele der Metaphysik], S. 32.10.
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der prophetischen Einbildungskraft die Rede ist.72 In einer Zusammenfassung des genannten Werks schreibt er am Anfang, dass das erste Kapitel folgendes behandeln soll: „das Ding, von dem es sich ziemt, dass man es als Gott setzt in der vortrefflichen Gemeinde“ (aš-šayʾ allaḏī yanbaġī an yūḍaʿa ilāhan fī l-milla al-fāḍila).73 Über die Eigenschaften Gottes entscheiden politische Bedürfnisse. Kein Wunder, dass die Lektüre dieses Satzes den jungen Ibn al-ʿArabī (gestorben 1240) so verstimmte, dass er das Buch dem Freund zurückwarf, der es ihm geliehen hatte.74 Al-Fārābī entwirft eine Typologie der Weltanschauungen, die er als verfehlt brandmarkt und die sich in verfehlten Staaten konkretisieren. Unter diesen Ansichten findet man auch Elemente der islamischen Frömmigkeit, wie zum Beispiel die Vorstellung, nach der Gott sich auch um die niedere Welt kümmert, während al-Fārābī den Ersten nur als Ursache der unmittelbar nach Ihm stehenden Wesen betrachtet. Sonst müsste man Gott auch für die in der niederen Welt begangenen Verbrechen verantwortlich machen.75 In einem verschollenen Kommentar zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles habe er das Leben nach dem Tode geleugnet.76 Die wahre Religion ruhe auf einer wahren Philosophie, die sie nachahmt und deren Lehren sie in eine der Einbildungskraft des Volks angepasste Bildersprache überträgt. Dabei bleibt die Frage offen, ob so eine Religion schon vorhanden ist (mit dem Islam) oder erst nach dem nur noch erhofften Sieg der wahren Philosophie und ihrer bildlichen Darstellungen ad captum vulgi wird zustande kommen können. In diesem Fall wäre Fārābīs Religion eher diejenige der griechischen Philosophen als der Islam. 7.4 Die Lauteren Brüder (um 1000)
Die Lauteren Brüder, eigentlich „Die Brüder der Lauterkeit“ (Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ), sind die anonym gebliebenen Verfasser einer philosophischen Enzyklopädie, die 52 Abhandlungen umfasst, obwohl der Text nur von 51 spricht.77 Ein zeitgenössisches Zeugnis gibt ihre Namen an. Ihnen wird auch eine Umfassende Abhandlung (Risāla Ǧāmiʿa) zugeschrieben, die das in den übrigen Texten dunkel Gebliebene erläutern soll, die jedoch genauso verschlüsselt bleibt wie diese.78 Aller Wahrscheinlichkeit nach gehörten sie der ismaelitischen Bewegung an, einer extremen Form des Schiitentums. Es ist möglich, dass sie für die Fatimidische Dynastie warben, die 969 Ägypten besetzt hatte. Die Wahl ihres Namens erklärt sich auch dadurch, dass die Ismaeliten sich als die reinste Elite (ṣafwa) der ganzen Menschheit betrachteten. Sie treiben nicht Philosophie im Sinne einer Analyse der Begriffe oder einer Behandlung gewisser Probleme. Zwar pflegen sie eine von Pythagoras inspirierte Weltsicht mit gewissen gnostischen Anklängen. Ihr Hauptanliegen liegt jedoch vielmehr darin, das philosophische Gedankengut zu benutzen, um ihre Weltsicht zu unterstützen, die zugleich kosmologischer und politischer Natur ist. Die Kosmologie ist Magd der Propaganda. Folg-
72 73 74 75 76 77 78
Al-Fārābī, Kitāb Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila [Buch der Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt], V.15, §10, S. 244 [arabisch]; S. 90 [deutsch]. Vgl. al-Fārābī, Fuṣūl Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila [Kapitel der Meinungen der Bewohner der vortrefflichen Stadt], 1, S. 79. Ibn al-ʿArabī, al-Futūḥāt al-Makkīya [Mekkanische Eröffnungen], §344; Bd. 3, S. 178. Al-Fārābī, Fuṣūl muntazaʿa [Ausgewählte Aphorismen], §87, S. 91. Vgl. Ibn Ṭufayl, Hayy ben Yaqdhān, S. 9. Rasāʾil Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ. Eine neue kritische Edition mit englischer Übersetzung erscheint sukzessive bei Oxford University Press. Ar-Risāla al-ǧāmiʾa.
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lich nahmen sie weder die Philosophen noch deren Gegner als Fachleute ernst. Ġazālī verachtet sie: Sie seien das Füllsel der Philosophie (ḥašw al-falsafa).79 Durch viele Zitate aus dem Koran und dem Ḥadīṯ versuchen sie, den Eindruck von Frömmigkeit zu erwecken. Ab und zu tauchen aber bei ihnen Gedanken auf, die mit dem geläufigen Verständnis des Islam nicht übereinstimmen: Neben der orthodoxen Fassung des Schicksals Jesu, der, wie der Koran sagt, bloß dem Anschein nach (Q 4.157) gekreuzigt wurde, lehren sie auch, dass er wirklich am Kreuz hing.80 Die Vorstellung, nach der die Haut der Verdammten sich immer wieder verjüngt, damit sie immer wieder verbrannt werde (Q 4.56), scheint ihnen unerträglich grausam.81 Sie preisen das von vielen Ḥadīṯen gerügte Zölibat.82 7.5 Avicenna (gestorben 1037)
Avicenna (Ibn Sīnā) ist wohl der erste Philosoph, der sich ausdrücklich und betont zum Islam bekennt, ja der sich der orthodoxen (sogenannten sunnitischen) Form dieser Religion anschließt, und gegen die schiitischen Strömungen, von denen er in seiner – zwar für einen streng sunnitischen Fürst und Gönner verfassten – Autobiographie erzählt, dass sowohl sein Vater als auch sein Bruder ihr erlegen seien.83 Neben seiner kolossalen philosophischen Enzyklopädie hat Avicenna kurze Abhandlungen theologischen Inhalts verfasst und auch Kommentare zu gewissen Versen des Korans.84 Er war wohl der erste, der die Erlebnisse der Mystiker ernst nahm, ja der sie als eine echte Quelle metaphysischer Erkenntnis ausbeutete. Dagegen beansprucht er nie, mystische Erfahrungen gehabt zu haben. Seine sogenannten Mystischen Abhandlungen sind in der Tat eine Art Mythen, die seine rein rationale Lehre bildlich wiedergeben. Avicenna behandelt gern Fragen nach dem Ursprung der Welt (Schöpfung) und dem Schicksal der Seelen nach dem Tod. Seine Auffassung des „notwendigen Seienden“ (wāǧib al-wuǧūd), das die übrigen Wesen, die an und für sich genommen nur möglich sind, auch zur Notwendigkeit erhebt, erlaubt es ihm, die Schöpfung als Abhängigkeit gegenüber Gott zu begreifen. Dabei rückt der Willensakt des koranischen Gottes aus dem Zentrum, sodass die Schöpfung Gefahr läuft, als eine notwendige, „natürliche“ Emanation des Wesens Gottes verstanden zu werden. Avicennas Auffassung der Unsterblichkeit und des Jenseits versucht, die Lehren des Korans durch eine psychologische Deutung plausibel zu machen: Das Fortleben geschieht für die Elite der Philosophen im Intellekt, im intellectus agens. Für die einfachen Leute geschehen die Genüsse des Paradieses beziehungsweise die höllischen Strafen in der Einbildungskraft: Für sie gibt es eine eingebildete Seligkeit (saʿāda ḫayālīya) und eingebildete Qualen.85 Dieses Seelenvermögen bedarf eines Trägers, der vielleicht ein Himmelskörper ist.86 Avicenna verteidigt jedoch die koranische Vorstellung der leiblichen Genüsse im Paradies gegen die rein spirituelle Auffassung der Christen (visio beatifica Dei) auf Grund der größeren Wirksamkeit der ersteren auf die Masse.87 79 80 81 82 83 84 85 86 87
Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers (Tahāfut al-falāsifa), II.3, S. 33. (anonym), Rasāʾil Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ, IV.3 [44]; Bd. 4, S. 31; orthodoxe Fassung etwa IV.1 [42]; Bd. 3, S. 533. (anonym), Rasāʾil Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ, IV.1 [42]; Bd. 3, S. 527. (anonym), Rasāʾil Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ, IV.9 [50]; Bd. 4, S. 259. Vgl. The Life of Ibn Sina. A Critical Edition and Annotated Translation, S. 19. Vgl. ʿĀṣī, at-Tafsīr al-qurʾānī wa-l-luġat aṣ-ṣūfīya fī falsafat Ibn Sīnā, S. 84–125. Ibn Sina, Kitāb al-hidāya [Buch der Rechtleitung], §194, III.6, S. 306. Ibn Sina, Kitāb al-išārāt wa-t-tanbīhāt [Betrachtungen und Warnungen], II.8, S. 196. Avicenna, Epistola sulla vita futura [Brief über das künftige Leben], III.1, S. 97.
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Die Gründung der „gerechten Stadt“ ist ein realer, durch die Erwähnung der Eigennamen ʿUmar und ʿAlī in die Wirklichkeit der islamischen Geschichte verankerter Prozess.88 Avicenna versucht, die Regelungen des islamischen Rechts (Scharia) rein deduktiv zu begründen. So verbindet seine Beschreibung der „gerechten Gemeinschaft“ Elemente platonischen Ursprungs, wie etwa die Dreiteilung des sozialen Körpers (Wächter, Krieger, Arbeiter), mit einer Deduktion gewisser Rechtsverordnungen der islamischen Scharia, wie das Verbot von Alkohol und Glücksspiel oder der Schleier der Frauen.89 7.6 Ibn Bāǧǧa (gestorben 1138)
Ibn Bāǧǧa, der erste Vertreter der aristotelischen Schule in Andalusien, scheint vom Werk Avicennas keine Kenntnis genommen zu haben. Sein Meister ist al-Fārābī, den er gegen den Verdacht des Unglaubens in Sachen Jenseits verteidigt.90 Er kommentierte dessen logische Schriften und nahm ihre Begrifflichkeit wieder auf. Er äußert Zweifel über die Möglichkeit einer Verwirklichung des vortrefflichen Staats und versucht, eine Ethik des Einzelnen zu entwerfen, der mitten in der Gemeinde als Einsiedler leben soll. Die Philosophen seien wie die „Ausländer“ (ġurabāʾ), wobei er zwar den Wortschatz Fārābīs benutzt, aber auf die Sufis hinweist.91 Der Einzelne richtet sich nach den Regeln einer religiös neutralen Ethik, die das Bild des Philosophen im Dialog seines christlichen Zeitgenossen Peter Abaelard hat beeinflussen können.92 Ibn Bāǧǧas Auffassung des Schicksals der Seelen hat seine Zeitgenossen und Nachfolger bewegt: Nach dem Tod bilden die Seelen der Seligen, das heißt der Philosophen, eine einzige Seele, in die sie aufgehen.93 7.7 Ibn Ṭufayl (gestorben 1165)
Ibn Ṭufayl hat ein einziges Werk philosophischen Inhalts hinterlassen, den nach seiner Hauptfigur benannten Bildungsroman Ḥayy ibn Yaqẓān. In einem Vorwort stellt er sich als Strenggläubiger vor und klagt die Philosophen an: Sie seien dem Islam gegenüber zweideutig geworden, ja abtrünnig in mehreren Punkten des Dogmas, insbesondere das Schicksal der Seelen nach dem Tode betreffend.94 Er bezwecke eine Synthese des avicennischen Gedankenguts mit den Erfahrungen der Mystiker. In der Erzählung wird die Entwicklung eines auf einer Insel aufwachsenden Einsamen geschildert. Er entdeckt, nur kraft der Anstrengung seines Geistes, das ganze System der avicennischen Philosophie wieder und widmet sich der mystischen Schau. Als er einem anderen Menschen von der benachbarten Insel begegnet, verstehen beide, dass die dort herrschende Religion bildliche Darstellungen derselben Wahrheiten enthält, welche die dem Autodidakten zugängliche Philosophie in ihrer Reinheit auffasst.95 Zwar bestätigen die kraft der bloßen Vernunft gewonnene philosophische Einsicht und die herkömmliche Religion einander. Wenn das stimmt, inwiefern bleibt aber die Offenbarung notwendig? 88 89 90 91 92 93 94 95
Ibn Sīnā, Kitāb aš-šifāʾ. al-Ilāhīyāt [Buch der Heilung. Metaphysik], X.5, S. 452. Avicenna, Epistola sulla vita futura [Brief über das künftige Leben], X.4, S. 450. Ibn Bāǧǧa, ar-Rasāʾil al-falsafīya [Philosophische Schriften], S. 197–202. Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid [Lebenswandel des Einzelnen], S. 43; vgl. al-Fārābī, as-Siyāsa al-madanīya [Die politische Leitung], S. 80. Abaelardus, Collationes, vgl. insbesondere §39, S. 48. Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān [Konjunktion des Intellekts mit dem Menschen]; vgl. Jehuda Halevi, Kitāb ar-radd wa-d-dalīl fī d-dīn aḏ-ḏalīl „Kuzari“ [Buch des Arguments und des Beweises zugunsten der verachteten Religion], I.1, S. 5. Ibn Ṭufayl, Ḥayy b. Yaqdhān, S. 12–18; vgl. auch Ibn Rušd, Commentarium Magnum in Aristotelis De Anima, S. 432f. Ibn Ṭufayl, Ḥayy b.Yaqdhān, S. 144f.
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Erlaubt es ferner die jeden Inhalts entbehrende religiöse Philosophie des Einsamen, eine Praxis zu begründen? 7.8 Averroes (gestorben 1198)
Averroes (Ibn Rušd) verbrachte und verdiente sein Leben als hoher Beamter. Wie vor ihm sein Großvater und sein Vater war er Oberster Richter zu Córdoba. Er identifiziert sich mit der islamischen Umma, indem er mehrmals von „unserer religiösen Gemeinde“ (millatunā) spricht.96 Er diente der besonders strenggläubigen und gegenüber Juden und Christen intoleranten Dynastie der Almohaden. Die Herrscher vertraten jedoch eine Auffassung Gottes, die sich mit der Philosophie unschwer vereinbaren ließ: ein ziemlich abstraktes Wesen, ohne Eigenschaften. Nach Averroes ist es nicht statthaft, die Religion zu kritisieren, in der man aufgewachsen ist. Diejenigen, die die Religion dennoch kritisieren, wobei sie die Grundlagen der Polis untergraben, soll man töten.97 Averroes hat eine Auslegungsmethode des Korans vorgeschlagen und ein Werk über dieses Thema geschrieben. Gegen die Spitzfindigkeiten des Kalāms preist er einen dem einfachen Volke verständlichen Weg der Demonstration, der übrigens schon die vom Koran angewandte Methode war.98 Gegen al-Ġazālis Angriff verteidigt er die Philosophie: An den Irrtümern seien nur die späteren al-Fārābī und vor allem Avicenna schuld. Aristoteles habe dagegen das Höchste des Wissens erreicht, das dem menschlichen Geiste erreichbar ist. Deswegen versucht Averroes in den zahlreichen Kommentaren zu Aristoteles, die sein Hauptanliegen blieben, dessen Werke von den avicennischen Konkretionen reinzuwaschen. In der Entscheidenden Abhandlung äußert er sich als Jurist über den Rechtswert (ḥukm) der philosophischen Tätigkeit: Sie sei für diejenigen, die sie kompetent ausüben können, nicht nur erlaubt, sondern stelle eine religiöse Pflicht dar; denjenigen, die dazu unfähig sind, sie zu verstehen, ist sie untersagt.99 Die Religion (šarīʿa), die den Weisen eigen ist, besteht darin, die Gesamtheit der seienden Dinge zu erforschen.100 Als politischer Denker nimmt Averroes die Vorstellung auf, nach der der Prophet eine vortreffliche Staatsordnung gestiftet habe. Seine Theorie der Prophetie ist aber ziemlich dürftig, abgesehen von einigen flüchtigen Bemerkungen im Kommentar zum Traktat des Aristoteles Über den Traum.101 Die Offenbarung (waḥy) vervollkommne die Erkenntnis, die der Intellekt verleiht; sie sei eine Gnadengabe Gottes an die Menschen.102 Interessanterweise lässt aber Averroes eine wichtige Frage unbeantwortet: Muss der Gründer der vortrefflichen Polis unbedingt ein Prophet sein?103 Die spätere Legende des gefährlichen Freidenkers Averroes, der die Idee einer „doppelten Wahrheit“ vertreten, ja das berüchtigte Buch von den Drei Betrügern verfasst habe, hat lange Zeit im Westen angehalten, entbehrt jedoch jeglicher Grundlage. Vielmehr haben
Vgl. zum Beispiel oben Anm. 52. Averroes, Tahāfut at-tahāfut [Inkohärenz der Inkohärenz], XX (= Physik IV) 5, S. 583 und XVII (= Physik I) 17, S. 527. 98 Averroes, Kašf ʿan manāhiǧ al-adilla fī ʿaqāʾid al-milla [Darlegung der Beweismethoden über die Grundannahmen der Religion]. 99 Averroes, Faṣl al-maqāl [Entscheidende Abhandlung], §29, S. 45–47 Schupp = §49, S. 35 Schaerer. 100 Averroes, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa [Großer Kommentar der Metaphysik], Buch Alpha Elatton, C 2c, S. 10. 101 Averroes, Talḫīṣ kitāb al-ḥāss wa-l-maḥsūs [Epitome zum Buch De sensu et sensato], S. 221f., 224 und 228f. 102 Averroes, Tahāfut at-tahāfut [Inkohärenz der Inkohärenz], III, S. 227 und 255f. 103 Averroes, Kommentar zu Platons Staat, II, I.1.7, S. 61. 96 97
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gewisse Denker der Renaissance seine Abhandlung über die Beweismethoden als für die islamische Position stellvertretend betrachtet.104
8. Die Rezeption der Philosophie 8.1 Die Kritik an der Philosophie
Der erste regelrechte Angriff gegen die falāsifa kam vom Rechtsgelehrten al-Ġazālī (gestorben 1111).105 Seine Kritik war Teil einer allseitigen Verteidigung des sunnitischen Islam gegen alle Gegner, die er identifizieren konnte. So griff Ġazālī auch die schiitischen Anhänger einer allegorischen Exegese des Heiligen Buchs an, und ebenso die Richtungen im Sufismus, denen er die Relativierung der Gebote zugunsten der mystischen Erfahrung vorwirft. Auch relativiert er den Wert des Kalāms, der dem gemeinen Haufen nicht empfohlen sei, da er die Reinheit des naiven unreflektierten Volksglaubens gefährden könnte.106 Seine Kritik an den falāsifa geht von einer gründlichen Kenntnisnahme ihrer Lehren aus, vor allem der des Avicenna. In seiner kleinen, stark stilisierten geistigen Autobiographie Der Erretter aus dem Irrtum (al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl) erklärt er nachträglich seine Absicht.107 In einem ersten Buch, den Absichten der Philosophen (Maqāṣid al-falāsifa), fasst er die Hauptlehren seiner Gegner ehrlich und genau zusammen.108 Dann prüft er die Vereinbarkeit der Lehre der falāsifa mit dem islamischen Dogma. Sein Urteil ist negativ. Die Philosophen verteidigen die drei oben genannten ketzerischen Thesen.109 Ferner seien sie, auch wenn sie den Glauben vorspiegeln, unfähig, ihr Versprechen zu halten: Es gelinge ihnen nicht, die Hauptlehren des Islam überzeugend zu begründen, auch die Schöpfung der Welt nicht. Spätere Denker machten sich noch die Mühe, die Kritik wiederaufzunehmen. So Ibn Taymīya (gestorben 1328) in seiner extrem scharfen Widerlegung der Logiker: Die Philosophen seien den Religionen gegenüber indifferent, sie schätzten den Aristoteles höher als den Propheten, kurz, sie seien noch schlimmer als die Juden und Christen.110 Ibn Ḫaldūn (gestorben 1406), der doch den Philosophen einige Begriffe geliehen hat, wohl auf Grund einer Lektüre gewisser Compendia (Epitomai) des Averroes, widmet ein Kapitel seiner Prolegomena zur Weltgeschichte der Kritik der Philosophie.111 Im 15. Jahrhundert übernahm ʿAlāʾ ad-Dīn aṭ-Ṭūsī (gestorben 1482) den Titel des Werkes von al-Ġazālī, um noch einmal die Philosophie anzugreifen.112 Die Kritik blieb meistens auf der Ebene der gedanklichen Auseinandersetzung. Nur ausnahmsweise kam es zu einer konkreten Verfolgung. Den Philosophen erging es besser als etwa den Ketzern manichäischer Richtung (zanādiqa) wie Ibn al-Muqaffaʿ (gestorben 756). Al-Kindī wurde auf Geheiß des Kalifen al-Mutawakkil (gestorben nach 848) gegeißelt 104 Šimʿon
ben Zemaḥ Duran, Qešet u-Magen [Der Bogen und der Schild], S. 18a–23a [hebräisch]. The Incoherence of the Philosophers (Tahāfut al-Falāsifa). Streitschrift des Ġazālī gegen die Batinijja-Sekte (Hg. I. Goldziher); al-Ġazālī, Ilǧām al-ʿawāmm ʿan ʿilm al-kalām [Entfernung des gemeinen Volkes von der Wissenschaft des Kalāms]. 107 Al-Ġazālī, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl [Der Erretter aus dem Irrtum], S. 18–27 [arabisch]; S. 18–30 [deutsch]. 108 Al-Ġazālī, Maqāṣid al-Falāsifa [Die Absichten der Philosophen]. 109 Vgl. oben Anm. 23. 110 Ibn Taymīya, ar-Radd ʿalā l-manṭiqīyīn, Bd. 2, S. 172 und 235. 111 Ibn Ḫaldūn, Muqaddima [Einführung in die Geschichte], VI.30; Bd. 3, S. 209–220 [arabisch]; Bd. 3, S. 245–258 [englisch]. 112 ʿAlāʾ ad-Dīn aṭ-Ṭūsī, Tahāfut al-falāsifa [Inkohärenz der Philosophen]. 105 Al-Ġazālī, 106 Siehe
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und seine Bibliothek vorläufig beschlagnahmt. Am Ende seines Lebens wurde Averroes aus Cordoba verstoßen. Wir wissen aber nicht, ob sein Exil mit seiner Beschäftigung mit der Philosophie zusammenhing. Der Grund war viel wahrscheinlicher ein politischer Wechsel. Die allgemeine Stimmung der Gesellschaft gegenüber der Philosophie war von Misstrauen gekennzeichnet, das übrigens auch anderswo und schon in der Antike belegt ist.113 Der soziale Druck war für die philosophische Forschung nicht günstig. So sagt uns Ibn Ḫaldūn, dass zu seiner Zeit diejenigen, die sich mit philosophischer Forschung befassten, unter der Aufsicht der Rechtsgelehrten waren.114 8.2 Die sozialen Bedingungen des Philosophierens
Die Unterscheidung zwischen dem Islam als Zivilisation und dem Islam als Religion nahm konkrete Aspekte für das philosophische Leben an. Zwischen der Zivilisation, die ihr Dasein ermöglicht hatte, und der Religion, so wie sie diejenigen Rechtsgelehrten verstanden, die sie mit großem Misstrauen beargwöhnten, mussten die Philosophen lavieren. Das Hauptproblem war die Funktion und der Platz des Wissens in der Gesellschaft. Selbstverständlich ist in ihr ein Wissen (ʿilm), das ihr reibungsloses Funktionieren ermöglicht, wie auch das Recht, institutionalisiert. Dagegen blieb das interesselose oder schroffer gesagt „nutzlose“ Wissen bis zur Neuzeit am Rande des gesellschaftlichen Lebens, bis die Wissenschaft sich durch ihre technischen Anwendungen rechtfertigen ließ. In Europa zum Beispiel erfreuten sich die Naturwissenschaften erst ab dem 17. Jahrhundert dank der Akademien einer zuerst noch schüchternen Institutionalisierung. Das Hauptphänomen im christlichen Europa war die Tatsache, dass es der Philosophie gelang, sich seit dem Mittelalter einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, indem sie zum Programm einer Institution wurde, der Universität. Diese ist eine Zunft, in der die Studenten wie Lehrlinge leben, wobei das Dozieren einen sozial anerkannten Beruf darstellt. In den islamischen Ländern blieb die Philosophie eine private Tätigkeit. Diejenigen, die sie trieben, waren der Begabung nach Genies, gesellschaftlich dagegen Amateure, die ihr Leben verdienten, indem sie andere Berufe ausübten. Al-Kindī war ein reicher Grundbesitzer (wie vor ihm Platon). Al-Fārābī war Musiker und fristete ein kümmerliches, fast asketisches Leben, Avicenna war Arzt und Wesir. In Andalusien waren Ibn Bāǧǧa und Ibn Ṭufayl ebenfalls Ärzte und Wesire. Averroes stellt eine echte Ausnahme dar: Als Jurist und hoher Beamter war er „organischer Intellektueller“ des almohadischen Regimes. Für dieses Regime verfasste er die Werke, die die Regierenden bestellt hatten. Trotzdem blieb er unter der Aufsicht der offiziellen Ideologen. Der Islam, vor allem im sunnitischen Verständnis, kennt keine definierte, geschweige denn in einem Lehramt geronnene Orthodoxie, wie das im Christentum der Fall ist. Sehr gerne hätten die Kalifen diese Rolle an sich gerissen, was sie aus Anlass der muʿtazilitischen Krise zu tun versuchten. Seit ihrem Scheitern bürgte für Orthodoxie nur ein diffuser sozialer Druck, den ab und zu politische, militärische oder religiöse Anführer zu kanalisieren versuchen. Als Folge davon kannte der Islam wenige förmliche Anklagen und ausdrückliche Verurteilungen. Die große Ausnahme bildet der berühmte gegen al-Ḥallāǧ (gestorben 922) angestrengte Prozess, der kein Philosoph, sondern ein Mystiker war. Im mittelalterlichen Europa behielt sich die Kirche ein Aufsichtsrecht über die Philosophie vor, verlieh ihr aber Legitimität. Im Islam gab es keine organisierte Inquisition wie 113 Vgl. 114 Ibn
Platon, Staat VII, 517a; Cicero, Tusculanae disputationes, II.1, 4; Seneca, Ad Lucilium, I.5.2. Ḫaldūn, Muqaddima, VI.18; Bd. 3, S. 92 [arabisch]; Bd. 3, S. 117 [englisch].
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seit 1231 in der Christenheit. Es gab aber auch keine Institution, die die Philosophen gegen die Feindschaft des gemeinen Volkes schützen konnte, das die Männer der Religion, die auch Rechtsgelehrte waren, gegen sie aufhetzen konnten. Der Philosoph konnte sich nur auf die Gunst des jeweiligen Mäzens verlassen, dem er diente, eine Gunst, die prekär blieb und auf jeden Fall den Herrschenden nicht überlebte. Diese Lage zeitigte sowohl Nachteile als auch Vorteile: ”The status of philosophy was [...] much more precarious in Judaism and in Islam than in Christianity: in Christianity philosophy became an integral part of the officially recognized and even required training of the student of the sacred doctrine. This difference explains partly the eventual collapse of philosophic inquiry in the Islamic and in the Jewish world, a collapse which has no parallel in the Western Christian world [...] The official recognition of philosophy in the Christian world made philosophy subject to ecclesiastical supervision. The precarious position of philosophy in the IslamicJewish world guaranteed its private character and therewith its inner freedom from supervision.“115
Wie dem auch sei, der Mangel einer tragenden Institution hat die Tatsache mit sich gebracht, dass die Philosophie nur einen geringen Einfluss auf die sozialen Verhältnisse hat ausüben können. Selbstverständlich konnten sich die Eliten der islamischen Gesellschaft für Philosophie interessieren. Davon zeugt das Vorhandensein von Handschriften philosophischen Inhalts in den öffentlichen beziehungsweise privaten Bibliotheken der islamischen Welt. Philosophische Lehren konnten überliefert werden, wenn der Student einen Meister fand. Nie wurde jedoch die Philosophie zu einer gesellschaftsbildenden Macht.
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5. Avicennas Erbe Das ‚Goldene Zeitalter‘ der arabischen Philosophie (1000–ca. 1350)1 Dimitri Gutas (Yale University, USA)
1. Einleitung Ich bin für Behauptung bekannt, dass die Epoche der arabischen Philosophie, die mit Avicenna beginnt und sich mehr als drei Jahrhunderte über seinen Tod hinaus erstreckt, „eines Tages als deren goldenes Zeitalter anerkannt werden wird“2. Diese Aussage bedarf einer ausführlicheren Diskussion, und so soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, einige Argumente für diese These bereitzustellen. Da es nur wenige Forschungsergebnisse zu diesem Thema gibt, werden meine Argumente teilweise etwas impressionistisch bleiben müssen, und hoffentlich werde ich deswegen nicht zu sehr kritisiert werden. Aber auch solche Argumente sind von einigem Wert, wenn es ihnen gelingt, die Aufmerksamkeit auf ein Forschungsgebiet zu lenken, das bisher weitgehend übersehen worden ist. Betrachtet man nämlich die Entwicklung der Philosophie in arabischer Sprache über den Zeitraum von zehn Jahrhunderten, wie ich es mit der diesem Beitrag beigefügten tabellarischen Übersicht versuchen will, ist Folgendes festzustellen: Die Zeit, die es mit Fug und Recht beanspruchen darf, die insgesamt bedeutendste zu sein, und die ich im Folgenden behandle, gehört zu den Zeitabschnitten, die bisher am wenigsten untersucht worden sind. Mein Ziel ist es daher, eine kohärente Darstellung der Philosophie in arabischer Sprache vorzulegen, die als eine Art protreptikos dienen soll, dieses wenig erforschte, aber höchst wichtige Gebiet in Augenschein zu nehmen.3 Die tabellarische Übersicht richtet sich an Avicenna aus, in dessen Denken – so die These – frühere Tendenzen kulminieren und der den Referenzpunkt für die nachfolgende arabischsprachige Philosophie bildet. Man kann kaum davon ausgehen, dass diese zentrale Position, die Avicenna damit zugesprochen wird, von irgendjemandem bestritten wird, der sich für die Zeit nach Avicenna ernsthaft mit den Traditionen des Geisteslebens innerhalb der islamischen Kultur beschäftigt. Andere Philosophen sind in diesen Kontext entsprechend einzuordnen: Diejenigen, die vor Avicenna kommen, bekommen ihren Rang danach zugemessen, wie sich ihr Einfluss auf Avicenna deuten lässt. So hören Traditionslinien, die durch Philosophen wie zum Beispiel [Abū Bakr] ar-Rāzī repräsentiert werden, einfach auf zu existieren, weil Avicenna sie nicht rezipiert hat. Diejenigen, die nach 1
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Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Version eines 1999 an der Universität Löwen sowie am Oxford Centre for Islamic Studies gehaltenen Vortrags. Mein Dank geht an die Teilnehmer beider Veranstaltungen für hilfreiche Kommentare, an D. C. Reisman und besonders an Dag N. Hasse für nützliche Hinweise. Die deutsche Übersetzung des Beitrags stammt von Heidrun Eichner, Christian Schäfer und Matthias Waha. Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 172. Seit kurzem befinden wir uns im Besitz eines ausgezeichneten Recherchewerkzeugs, das es uns ermöglichen sollte, Unausgewogenheiten in unseren Studien zur arabischen Philosophie zu beheben: Hans Daibers monumentale Bibliography of Islamic Philosophy (Leiden 1999; Supplement: Leiden 2007). Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis des zweiten Bandes gibt eine Vorstellung von den Bereichen, auf die sich vorangegangene Studien beschränkt haben. (Ausführlicher dazu siehe meine Rezension im Journal of Islamic Studies 11 (2000), S. 368–372). Die Bibliography of Islamic Philosophy ist auch ein nützlicher Bezugspunkt für die Namen all der Philosophen, die im Folgenden genannt werden.
Avicennas Erbe. Das ‚Goldene Zeitalter‘ der arabischen Philosophie
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ihm kommen, werden danach klassifiziert, ob sie Avicenna folgen, sich ihm explizit entgegenstellen, oder seine Philosophie reformieren wollen. Dieses Panorama zeigt deutlich, auf welche Gebiete sich die Forschung bisher konzentriert hat. Die meiste Aufmerksamkeit haben Avicennas Vorgänger erfahren. Von den Späteren sind nur die in al-Andalus wirkenden Philosophen in nennenswerter Weise erforscht worden (dies wegen der Verbindung von Averroes zum lateinischen Mittelalter und wegen der herausragenden Bedeutung von Maimonides im jüdischen Kontext), ferner as-Suhrawardī und die ‚Schule von Iṣfahān‘ (dies wegen H. Corbins Fixierung auf das, was er als „iranische Spiritualität“ wahrgenommen wissen wollte; dieses Interesse wird auch von seinen Schülern mit Enthusiasmus geteilt) sowie Abū l-Barakāt al-Baġdādī (dies wegen S. Pines’ persönlichem Forschungsinteresse). Das, was für mehr als drei Jahrhunderte „mainstream Avicennismus“ war, das „goldene Zeitalter“, für dessen Existenz hier argumentiert wird, sowie seine späteren Ausläufer bei den Osmanen in Kleinasien und bei den Mogul-Herrschern in Indien, ist fast überhaupt nicht untersucht worden.4 Die tabellarische Übersicht soll möglichst getreulich die wichtigsten Namen in der Geschichte der arabischsprachigen Philosophie wiedergeben. Es konnte dabei nicht ausbleiben, dass gewisse Unvollständigkeiten und – den räumlichen Beschränkungen solch eines Überblicks geschuldet – gewisse Vereinfachungen in den Einteilungen und philosophiegeschichtlichen Abhängigkeiten hingenommen werden mussten. Sie muss also in ihrer herausfordernden und protreptischen Absicht gelesen werden und wird ihren Zweck erfüllt haben, wenn zukünftige Forschungsleistungen sie ausarbeiten und verbessern werden. Die tabellarische Übersicht soll zugleich repräsentativ sein für die Philosophen, die innerhalb der islamischen Kultur in arabischer Sprache geschrieben haben.5 Dies, so die leitende Überzeugung, entspricht dem tatsächlichen Wesen arabischsprachiger Philosophie. Diese war keine „islamische“ Philosophie in einem religiösen Sinne. Sie war vielmehr die Form von Philosophie, die von allen innerhalb der islamischen Welt praktiziert und schriftlich niedergelegt wurde, unabhängig von religiöser oder ethnischer Zugehö-
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Zum Beispiel wurde in der jüngst erschienenen History of Islamic Philosophy nur Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī ein Kapitel gewidmet, das seiner Bedeutung angemessen ist (verfasst von H. Dabashi, S. 527–584). Noch gravierender ist, dass selbst für Avicenna nur fünfzehn blutleere Seiten abfallen (verfasst von Sh. Inati, S. 231–246). Der restliche „mainstream Avicennismus“ wird unter dem Titel From aṭ-Ṭūsī to the School of Iṣfahān auf zwölf Seiten diskutiert (verfasst von J. Cooper, S. 585–596), während die unmittelbaren Schüler Avicennas in den ganzen zwei Bänden fast überhaupt nicht auftauchen. Auf Philosophie in der Mogul-Zeit wird kurz im Kapitel zu Indien (allerdings unter der Überschrift Islamic Philosophy in the modern Islamic World) hingewiesen (verfasst von H.A. Ghaffar Khan, S. 1060– 1070), die Osmanen hingegen fehlen völlig. Demzufolge ist die einzige Schule, die in der Sektion „Spätere islamische Philosophie“ (S. 525–670) auftaucht – da die Philosophen der Mogul-Zeit als „modern“ tituliert werden und die Osmanen fehlen –, die Schule von Iṣfahān. Diese verzerrte Sichtweise auf den Gang der arabischen Philosophie soll durch die tabellarische Übersicht am Ende dieses Textes kontrastiert werden. Einige grundlegende Informationen über philosophische Aktivitäten und Personen während der Zeit der Osmanen können gezogen werden aus: Uzunçarşılı, Osmanlı devletinin ilmiye teşkilatı, Index s.v. felsefe. Für die Philosophen der Mogul-Zeit siehe: Ahmad, The Contribution of Indo-Pakistan to Arabic literature, S. 127–156. Die jüdischen Philosophen, die in arabischer Sprache schrieben, sind zweckmäßig erörtert in: Sirat, La philosophie juive médiévale en terre d’Islam.
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rigkeit. Sie war das Ergebnis einer gemeinsam geteilten Weltsicht, die durch die Teilhabe an der islamischen Kultur vermittelt wurde.6 Dies führt zu der Frage, inwiefern Philosophie als intellektuelles Unterfangen in islamischen Gesellschaften Autonomie genießen konnte; dies ist ein Thema von großer Wichtigkeit, das ernsthaft diskutiert werden muss. Es sollte nicht unter den Teppich gekehrt werden, indem man schlicht von „islamischer Philosophie“ spricht. So wird nämlich jegliches intellektuelles Unterfangen in undifferenzierter Weise auf einen gemeinsamen „islamischen“ Nenner gebracht, so dass alles beliebig austauschbar wird. Koran und Ḥadīṯ werden „Philosophie“, genauso wie Theologie und Mystik (so geschieht dies in der erst kürzlich erschienenen History of Islamic Philosophy von O. Leaman und S.H. Nasr).7 Sofern also diese Beschreibung der Entwicklung der Philosophie in arabischer Sprache irgendwie zutreffend ist, mag man mit einer gewissen Plausibilität dafür argumentieren, dass die Jagd nach „goldenen Zeitaltern“ ein ziemlich müßiges Unterfangen ist – um nicht zu sagen: ein nutzloses. Ich wäre der Erste, der das zugibt, wenn sich die Erforschung der arabischsprachigen Philosophie in einer Weise entwickelt hätte, die ihrer tatsächlichen Geschichte entspricht: Das heißt, wenn philosophische Denker und Strömungen in einer Weise Aufmerksamkeit erfahren hätten, die ihrer jeweiligen historischen Bedeutung angemessen wäre. Aber die Erforschung der arabischsprachigen Philosophie ist bisher alles andere als ausgewogen gewesen. (Dafür gibt es handfeste historische Gründe, die für eine auf das 20. Jahrhundert bezogene wissenssoziologische Betrachtung höchst interessant sind, aber jenseits des Interessenhorizonts dieses Beitrags liegen.) Stattdessen wurden in der Forschung verschiedene unhaltbare Behauptungen aufgestellt. So zum Beispiel die Behauptung, die arabische Philosophie sei mit dem Tod von Averroes erloschen; oder die, arabische Philosophen hätten aus Furcht vor politischer Repression das, was sie wirklich meinten, nur zwischen den Zeilen gesagt; oder diejenige, dass das Wesen islamischer Philosophie in einer illuminationistischen, nicht weiter differenzierbaren Spiritualität liege, und so weiter. Was jedoch – entgegen einer überwältigenden Evidenz von Manuskripten8 – nicht gesagt wurde, ist, dass in der Zeit zwischen dem Jahr 1000 und der Mitte des 14. Jahrhunderts eine intensive philosophische Aktivität in arabischer Sprache zu verzeichnen ist. Nach gängigen Standards ist also einsichtig, dass diese Epoche mit gutem Recht beanspruchen kann, in hohem Maße produktiv und kreativ zu sein. Möglicherweise stellt sie sogar alle anderen Perioden in der tausendjährigen Geschichte vormoderner arabischsprachiger Philosophie in den Schatten. Die Standards, auf die hier das Augenmerk zu richten ist, sind zunächst Originalität und Tiefe des 6
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Auf die gleiche Weise bezieht sich der Begriff „griechische Philosophie“ vorrangig auf die verwendete Sprache und nicht auf Religion oder ethnische Zugehörigkeit der Gelehrten – Porphyrios und Iamblichos waren Syrer mit aramäischen Namen, Johannes Philoponus war Christ, aber alle waren unter dem Dach der griechischen Philosophie vereint. Ebenso scheint es irreführend und nicht charakteristisch für die historische Realität der arabischen Philosophie, diese religiösen und ethnischen Unterscheidungen jetzt beim Studium dieser Philosophen zu machen und, wie es von vielen gegenwärtigen Wissenschaftlern praktiziert wird, von einer „islamischen“, „jüdischen“ oder „christlichen“ Philosophie innerhalb der islamischen Gesellschaft zu sprechen. Bezüglich des Hauptgrundes für dieses Vorgehen und bezüglich eines ausschlaggebenden diskriminierenden Faktors in diesem Kontext siehe unten Anmerkung 14 zu Avicennas Einrichtung eines philosophischen Rahmens für die Religion. Leaman fasst die inhärenten Probleme des Begriffs „islamische“ Philosophie selbst gut in seiner Einleitung zusammen, obwohl er am Ende auf der Grundlage einer kulturellen Verstehbarkeit des Begriffs für seine Beibehaltung plädiert. Aber diese Methode raubt nicht nur diesem Begriff jedwede Spezifizität, sondern verwässert auch den Begriff „Philosophie“ selbst. Damit sind Tür und Tor geöffnet für dessen Aufnahme in Artikeln wie S.H. Nasrs The Qurʾān and ḥadīth as source and inspiration of Islamic philosophy (S. 27–39) und M.E. Kılıçs Mysticism (S. 947–958): Artikel, für die jeder andere als die Autoren selbst sich schwer tun würde, irgend geartete philosophische Relevanz auszumachen. Gleiches gilt für den sonst hervorragenden Aufsatz von N. Calder über Law (S. 979–998). Vgl. dazu nur Ahlwardt, Verzeichnis der arabischen Handschriften der königlichen Bibliothek zu Berlin, Band 4, S. 375ff.
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philosophischen Gedankengangs, die an Inhalt und Stil zu bemessen sind; des Weiteren die Intensität und Qualität dieser philosophischen Aktivität, die aufgrund einer Bewertung ihrer Methodik abzuschätzen ist und auch aufgrund dessen, ob sie zu neuen Erkenntnissen führt; drittens die Verbreitung philosophischer Werke und ihr Einfluss auf die Gesellschaft als ganze, zu ermitteln aufgrund der Intensität der Reaktionen auf ebendiese Werke – und dies sowohl aufseiten der Philosophen als auch aufseiten der Nichtphilosophen. Gemessen an all diesen Faktoren gibt es deutliche Indizien dafür, dass die hier zur Diskussion stehende Epoche allen anderen überlegen ist.
2. Inhalt und Stil von Avicennas Philosophie Das „goldene Zeitalter“ beginnt mit Avicenna. Seine Philosophie war so erfolgreich, dass später jede Form arabischer Philosophie mit seiner identifiziert wurde. Das hatte zur Folge, dass Aristoteles nicht länger gelesen oder kommentiert wurde, Avicenna hingegen schon. Natürlich wurde auch Platon nicht gelesen, teilweise weil nur wenige tatsächlich platonische Texte existierten, die man hätte lesen können, teilweise aber auch, weil sich in den Jahrhunderten vor Avicenna keine Tradition herausgebildet hatte, die wenigen verfügbaren Texte Platons zu lesen.9 Lediglich sein Name wurde – aus ganz eigenen Motiven – von as-Suhrawardī und seinen Anhängern im Munde geführt.10 Warum aber war Avicennas Philosophie so erfolgreich? Möchte man diese Frage beantworten, sind zumindest drei Elemente zu unterscheiden: Erstens gelang es Avicenna in sehr gekonnter Weise, die zwei Hauptströmungen der arabischsprachigen Philosophie vor seiner Zeit zu einem philosophisch dynamischen und theoretisch kohärenten System zu verschmelzen. Hierbei handelt es sich um den Neuplatonismus des Kreises um al-Kindī mit den Texten von Plotin und Proklos und um den Aristotelismus der Schule al-Fārābīs, also der Bagdader Peripatetiker. Beide Schulen waren im Begriff, allmählich ihre Bedeutung zu verlieren. Der al-Kindī-Kreis glitt in die philosophische Bedeutungslosigkeit ab, was sich etwa mit Blick auf al-ʿĀmirī begründen lässt, der philosophische Strenge zugunsten islamischer Apologetik zu opfern bereit war. Die Tradition um al-Fārābī hingegen war auf dem Weg in die gesellschaftliche Irrelevanz: Ihre Anhänger behandelten die Philosophie als eine schulmeisterliche Disziplin, die keinen Bezug zu zeitgenössischen Angelegenheiten hatte. Das lässt sich aus dem Fall von Abū l-Faraǧ b. aṭ-Ṭayyib ersehen, der einen Kommentar zu den Kategorien schrieb, welcher im Grunde eine exakte Replik von Kommentaren darstellte, die fünf Jahrhunderte zuvor in Alexandria geschrieben worden waren. Zweitens kann man sich hier das Urteil des Ibn Taymīya zu Eigen machen, der ein höchst sensibler Beobachter und Kritiker von Intellektuellen verschiedenster Couleur war. Über Avicenna sagt er nun Folgendes: „Als Avicenna etwas von der Religion der Muslime in Erfahrung brachte (und seine Erfahrungen mit Häretikern und anderen, die besser sind als sie, das heißt den Mutaziliten und Schiiten, gemacht 9
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Das Hauptwerk zur Kenntnis von Platons Philosophie in der islamischen Welt ist immer noch der Aufsatz von Rosenthal, On the Knowledge of Plato’s Philosophy in the Islamic World. Für hieran anknüpfende Studien siehe Daiber, Bibliography of Islamic Philosophy, Band 2, S. 434–435. Eine umfassende Bewertung des arabischen Platons ist nun im Eintrag von D. Gutas zu Platon zu finden, in: Goulet, Dictionnaire des Philosophes Antiques. Zur ersten Annäherung siehe R. Walzers Literaturhinweise in seinem Eintrag zu Aflāṭūn in EI2. Zum Platonismus as-Suhrawardīs siehe Walbridge, The Leaven of the Ancients. Suhrawardi and the Heritage of the Greeks, und meine Rezension dazu.
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hatte), verlangte es ihn, alles, was er in Gedankenanstrengung von ihnen erfahren hatte, mit dem, was ihm von vorangegangenen Philosophen überkommen war, in Synthese zu setzen. So sind seine philosophischen Lehren eine Verbindung der Theorien seiner Vorläufer und seiner eigenen Neuzusätze: Etwa im Fall seiner Theorie der Prophetie und der inwendigen Bedeutung von Zeichen11 und Träumen, und sogar in Teilen seiner Physik und Logik, seiner Theorie des notwendig Existierenden und was dergleichen mehr ist. Denn Aristoteles und seine Anhänger verlieren in ihren Schriften nicht ein Wort über das notwendig Existierende noch über seine Eigenschaftsbestimmungen. Sie erwähnen lediglich die Erstursache, die sie dadurch feststellen, dass sie sie als Zielursache der Himmelsbewegung erweisen, nach der sich die Himmelssphäre im Bestreben sie nachzuahmen bewegt.12 […] Avicenna sprach über Dinge, die seine Vorläufer nicht behandelten, die ihr Geist nicht begreifen konnte und die ihre Wissenschaften nicht erreichen konnten – Dinge wie die philosophische Gotteslehre [ilāhīyāt], die Theorie der Prophetie, die Rückkehr der Seele zu ihrem Ursprung [nach dem Tod] und Themen des Islamischen Gesetzes.“13
Ibn Taymīya erkannte sehr genau, was Avicenna getan hatte: Er hatte in sein eigenes philosophisches System alle intellektuellen Anliegen der islamischen Gesellschaft, wie zum Beispiel Prophetie und Eschatologie (maʿād), integriert und diese nach Maßgabe eben dieses Systems behandelt. Avicenna hat so im 11. Jahrhundert der Philosophie Bedeutung für spezifisch islamische Anliegen verliehen und sie gleichzeitig systematisch zwingend und stringent gemacht. Er hat also in einem höheren Ausmaß als seine Vorgänger den Skopus der Philosophie so ausgeweitet, dass religiöse Phänomene darin Platz hatten, und er führte dieses Vorhaben mit unbeirrbarer philosophischer Geradlinigkeit und Konsistenz aus. Daraus ergab sich, dass seine Philosophie eine „bessere“ Philosophie wurde, nicht aber, dass sie eine „religiöse“ Philosophie wurde.14 Als ein dritter, keineswegs zu unterschätzender Faktor wäre hier dann noch die sprachliche Formgebung zu erwähnen. Die Sprache in Avicennas Werken ist technisch, aber nicht hochgestochen (wie die von al-Fārābī) oder holperig (wie die der griechischen Übersetzungsliteratur). Auch experimentierte er mit verschiedenen, teilweise literarischen Schreibstilen, die seinen Schriften größeren Reiz verliehen. Modern gesprochen könnte man sagen, dass seine Ausdrucksweise exakt den Bedürfnissen des intellektuellen Diskurses seiner Zeit entsprach. Aus all diesen Gründen hatte er überwältigenden Erfolg. Avicennas wissenschaftliche Agenda dominierte die philosophischen Diskussionen der späteren Jahrhunderte und stellte auf diese Weise sicher, dass – zumindest was die von ihm behandelten Themen angeht – die von Avicenna erreichte philosophische Tiefe nicht verloren ging. Logik, Physik und Metaphysik (die drei Gebiete, auf die Avicenna seine Aufmerksamkeit konzentriert hatte) wurden auf hohem Niveau betrieben. Weitere Details bleiben hier noch zu erforschen. Als ein Beispiel von dutzenden sei die Diskussion erwähnt, die durch Avicennas These ausgelöst wurde, dass alles Wissen entweder Begriffsbildung (taṣawwur) oder die Gewährung von Zustimmung (taṣdīq) sei. Dieses Thema 11
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Das heißt Anzeichen von außergewöhnlichen körperlichen Fähigkeiten – etwa der Verzicht auf Nahrungsaufnahme – und außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten – etwa Wissen um das Verborgene. Bezugspunkt ist hier der Titel der zehnten namaṭ aus Avicennas Išārāt. Ibn Taymīya, Kitāb ar-radd ʿalā l-manṭiqīyīn, S. 143f. Ibn Taymīya, Kitāb ar-radd ʿalā l-manṭiqīyīn, S. 141. Für eine andere Sichtweise vergleiche: Janssens, Ibn Sīnā (Avicenne): un projet „religieux“ de philosophie? Ich würde dafür argumentieren, dass die Vorrangstellung der Offenbarung im Hinblick auf die praktische Philosophie (dies ist die Position, die Janssens vertritt) nicht die Unterlegenheit der Philosophie gegenüber der Offenbarung impliziert (vgl. S. 870). Vielmehr bedeutet es die Einverleibung der Offenbarung (das heißt des Wissens, das der Prophet unmittelbar vom aktiven Verstand – dank dessen stark ausgebildeter Fähigkeit zur intuitiven Erkenntnis – erlangt hat) in die aristotelische Psychologie. Somit wird, umgekehrt zu Janssens Position, ein philosophischer Kontext für Religion geschaffen.
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wurde en detail von Generationen von Philosophen untersucht, es wurden ganze Bücher darüber verfasst. Das erste stammte von Quṭb ad-dīn at-Taḥtānī, dem Vater der Muḥākamāt, darauf folgte eine Monographie seines Schülers, al-Ǧurǧānī. Weitere folgten, alle späteren Schulen der arabischen Philosophie setzten sich damit auseinander: die Schule von Isfahan (in Gestalt von Mullā Ṣadrā), die Osmanische Schule (durch Taşköprüzade) sowie die Indische Schule (durch az-Zāhid al-Harawī).15
3. Die philosophische Methode: Aporetik und Untersuchung Avicenna hat nicht einfach nur ein vollständiges, zeitgemäßes und konsistentes philosophisches System in entsprechender Ausformulierung vorgelegt. Ein solches hätte leicht in schulphilosophische Erstarrung abgleiten können. Vielmehr hat Avicenna – teilweise auf der programmatischen Ebene, meist aber durch Beispiele – darüber hinaus eine diskursive oder auch aporetische Methode gewählt, Philosophie zu betreiben oder philosophisch zu forschen. Als Belege dafür stehen Werke wie die Mubāḥaṯāt (Erörterungen) und die Taʿlīqāt (Anmerkungen); letztere sind möglicherweise das Werk, das Avicenna in der Einleitung zum Šifāʾ als die Lawāḥiq bezeichnet, die ansonsten weder bekannt noch belegt sind.16 Die Bedeutung solcher Werke für das Verständnis von Avicennas Methode kann kaum überschätzt werden. Wenn er in der Einleitung des Šifāʾ sagt, dass die Lawāḥiq (Anhänge) jährliche Supplemente zu seinem philosophischen System sein würden, so heißt das, dass dieses System nicht als geschlossen zu betrachten ist. Probleme müssen vielmehr mehrfach diskutiert werden, und bessere und überlegene Lösungen sind zu suchen. Dies ist genau das, was er in den Mubāḥaṯāt tut: Diese bestehen aus Antworten auf Fragen, die die beiden Schüler Avicennas, Bahmanyār und Ibn Zayla, gestellt haben.17 In dieser Kompilation findet man Fragen, wie sie sich aus dem Text des Šifāʾ ergeben, die Antworten, die Avicenna zunächst gegeben hat, sowie die erneuten Nachfragen der Schüler mit besseren und gründlicher ausgeführten Antworten Avicennas. Es hat hier also dementsprechend ständige philosophische Neupositionierungen als Ergebnis wiederholter Besprechungen bestimmter Problemstellungen gegeben. Ein solches Vorgehen setzt einen lebendigen dialektischen Austausch mit einem konstruktiv fragenden philosophischen Gegner oder einem ernsthaften Studenten voraus, der bestimmte Punkte klären möchte. Dies stellt ein Modell für philosophische Diskussion bereit, das in den nächsten drei Jahrhunderten weiter befolgt wurde und der arabischen Philosophie ihre Vitalität verlieh.18 Im Vergleich dieser Art Philosophie zu betreiben mit der vorangehenden Gründerzeit eines al-Kindī und al-Fārābī werden die Unterschiede unmittelbar deutlich: Diese Philosophen legten ihre Argumente weniger gegen wirkliche Diskussionsgegner vor. Vielmehr legten sie ihre Lehren dar und beschrieben diese unterrichtsdienlich für ihre Schüler. Der Umstand, dass Avicenna formell eine Tradition ins Leben rief, auf drängend gestellte Fra-
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Ein erster Schritt in der Erforschung dieses Gegenstands wurde durch die die englische Übersetzung und die Untersuchung von Mullā Ṣadrās Abhandlung getan, siehe Lameer, Conception and Belief in Sadr ad-Din Shirazi. Zum goldenen Zeitalter der Logik siehe insbesondere: Street, Arabic Logic. Vgl. Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 141–144. Zur Entstehung und Zusammenstellung des Mubāḥaṯāt siehe: Reisman, The Making of the Avicennan Tradition. Die Dokumentierung dieses Einflusses ist langsam im Fortschreiten begriffen. Siehe zum Beispiel: Schubert, Annäherungen. Der mystisch-philosophische Briefwechsel zwischen Ṣadr ud-Dīn-i Qōnawī und Naṣīr ud-Dīn-i Ṭūsī. Zu einem derartigen gegenseitigen Austausch über Generationen von Philosophen hinweg siehe auch die nächsten beiden Abschnitte.
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gen seiner Schüler zu antworten und jährlich seine Systemanpassungen in einem Buch niederzulegen, das er al-Lawāḥiq nannte, und dass die Schüler der Nachwelt die gegebenen Antworten und Berichtigungen erhielten und eigens in den als die Mubāḥaṯāt beziehungsweise als die Taʿlīqāt bekannten Sammlungen herausgaben, verlieh der philosophischen Arbeitspraxis einen aporetischen und diskursiven Stil, den sie vorher so nicht besessen hatte. Dieses dialektische Betreiben von Philosophie sowie die wissenschaftliche Terminologie und der Stil, derer Avicenna sich bedient, war allen Intellektuellen innerhalb der islamischen Kultur leicht zu vermitteln und ließ die Philosophie wie ein altvertrautes Unterfangen erscheinen. Dies gilt vor allem für diejenigen, die den Gebrauch der Dialektik in juristischen und theologischen Argumenten gewohnt waren. Nicht weniger als die Inhalte waren es also die sprachlichen und methodischen Leistungen Avicennas, welche die Philosophie letztlich im Mainstream islamischer Kultur verankerten. Das erklärt den Erfolg seiner Philosophie, und es definiert zugleich jene Zeit intensiver philosophischer Debatten, die damit eingeläutet war, als das „goldene Zeitalter“ arabischer Philosophie.
4. Die Verbreitung der Philosophie und die Intensität der Reaktionen darauf durch Nichtphilosophen Avicennas Schüler edierten und tradierten Schriften, die seine diskursive und aporetische Methode in vollem Umfang bewahrten. Im Jahrhundert nach seinem Tode propagierten und verbreiteten sie Avicennas Philosophie durch eigene Werke in Ḫurāsān und im Osten Irans. Insbesondere Bahmanyār war hier tätig: Er kompilierte ein monumentales Dossier avicennischer Philosophie, das Kitāb at-taḥṣīl. Allerdings zögerte er nicht, ganz im Geiste von Avicennas Konzept einer unabhängigen philosophischen Forschung, dann und wann von den Lehren des Meisters abzuweichen.19 Inwiefern andere Autoren Beiträge geleistet haben, bleibt noch näher zu untersuchen. Wie al-Bayḥaqī in Tatimma berichtet, war al-Lawkarī (gestorben 1123) der Hauptverantwortliche dafür, dass die Philosophie in Ḫurāsān verbreitet wurde.20 Al-Īlāqī und as-Sāwī (gestorben zwischen 1140 und 1150) waren ebenfalls in Ḫurāsān und im Iran aktiv.21 Ihre Bestrebungen waren wohl sehr erfolgreich, sowohl kurz- wie auch langfristig. Das deutlichste Anzeichen hierfür ist die Reaktion, die Avicennas Philosophie in allen wichtigen intellektuellen Milieus hervorgerufen hat. In den drei Jahrhunderten nach seinem Tod hat sie dabei auch zahlreiche wirkungsmächtige Angriffe seitens verschiedenster Intellektueller auf sich gezogen. Bekannter Beleg hierfür ist eine šāfiʿitisch-ašʿaritische Koalition, die für sich zunehmend eine leitende intellektuelle Rolle im Nahen Osten in Anspruch zu nehmen begann. Lediglich fünf dieser Angriffe auf Avicennas philosophisches System seien hier aufgezählt. Es handelt sich dabei um die wohl berühmtesten Angriffe, obgleich sie nicht alle den gleichen Bekanntheitsgrad genießen: 1. al-Ġazālīs (gestorben 1111) Tahāfut al-falāsifa (Widerlegung der Philosophen), verfasst aus einer šāfiʿitisch-ašʿaritischen Perspektive, ist bereits Gegenstand ausführlicher wissenschaftlicher Untersuchung geworden. Gleichermaßen berühmt ist die Widerle19 20 21
Siehe Janssens, Bahmanyâr, and His Revision of Ibn Sīnā’s Metaphysical Project. Al-Bayḥaqī, Tatimmat ṣiwān al-ḥikma, S. 120. Zum Problem der Ermittlung des Todeszeitpunkts von al-Īlāqī siehe Sellheim, Materialien zur arabischen Literaturgeschichte, Band 1, S. 147.
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gung durch Averroes, Tahāfut at-tahāfut (Widerlegung der Widerlegung). Weniger bekannt ist eine dritte Widerlegung (nämlich eine Widerlegung von Averroes) durch den Lehrer und Hofphilosophen des osmanischen Sultans Mehmed II. des Eroberers, Ḫoǧazāde (gestorben 1488);22 aš-Šahrastānīs (gestorben 1153) Muṣāraʿat al-falāsifa (Kampf gegen die Philosophen), verfasst aus einer ismāʿīlitisch-ašʿaritischen Perspektive;23 Faḫr ad-Dīn ar-Rāzīs (gestorben 1210) Šarḥ al-Išārāt (Kommentar zu den Hinweisen, das heißt zu dem Werk al-Išārāt wa-t-tanbīhāt von Avicenna) und sein Šarḥ ʿUyūn al-ḥikma, (Kommentar zu den Grundlagen der Philosophie, auch ein Werk Avicennas), ebenfalls verfasst aus einer šāfiʿitisch-ašʿaritischen Perspektive. Das erstgenannte Werk wurde nicht šarḥ (Kommentar) genannt, sondern ǧarḥ (Verwundung).24 Es zog den Widerspruch der Parteigänger Avicennas auf sich, zunächst durch den berühmten Theologen und Juristen Sayf ad-Dīn al-Āmidī (gestorben 1233) mit seinem Kašf at-tamwīhāt fī Šarḥ al-Išārāt (Enthüllung der inhaltlichen Verdrehungen in [Rāzīs] Kommentar zu den Išārāt), später dann von dem berühmten Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī (gestorben 1274) in seinem Ḥall muškilāt al-išārāt (Auflösung der Schwierigkeiten der Išārāt).25 Später dann gab es Bestrebungen, zwischen den beiden Positionen zu vermitteln, die sogenannten „Schiedsgerichte“: dasjenige von Badr ad-Dīn at-Tustarī (gestorben 1307), al-Muḥākamāt bayna aṭ-Ṭūsī wa-r-Rāzī (Schiedsgericht zwischen aṭ-Ṭūsī und ar-Rāzī), und das berühmtere von Quṭb ad-Dīn at-Taḥtānī (gestorben 1364), ebenfalls mit dem Titel al-Muḥākamāt (Schiedsgericht);26 Abū Ḥafṣ ʿUmar as-Suhrawardīs (gestorben 1234) Rašf an-naṣāʾiḥ al-īmānīya wa-kašf alfaḍāʾiḥ al-yūnānīya (Aufnahme der Räte des Glaubens und Enthüllung der griechischen Schändlichkeiten), verfasst 1224 aus einer ismāʿīlitisch-ašʿaritischen Perspektive;27 Ibn Taymīyas (gestorben 1328) ar-Radd ʿalā l-manṭiqīyīn (Widerlegung der Logiker) und das umfangreiche Darʾ taʿāruḍ al-ʿaql wa-n-naql (Zurückweisung der Antithese von Rationalität und Tradition), verfasst aus einer ḥanbalitischen Perspektive.
Wissenschaftlicher Streit ist ein sehr guter Gradmesser für die Bedeutung von Ideen. Die Widerlegungen und Argumente gegen Avicennas Philosophie zeigen die Dominanz und die Durchschlagskraft seiner Philosophie in allen Bereichen islamischen intellektuellen Lebens in den drei Jahrhunderten nach seinem Tod. Nach der Mitte des 15. Jahrhunderts scheinen keine expliziten Widerlegungen von Philosophie mehr zu existieren. Theologie und Sufismus lösen ihre Diskrepanzen mit der Philosophie durch Kooptierung und Integration vieler ihrer Inhalte. Theologie (kalām) und Sufismus entdecken zunehmend Gemeinsamkeiten, die sie mit der Philosophie teilen, und dies so sehr, dass sogar die Trennungslinien zwischen den Disziplinen verschwimmen. Ein Hinweis auf diese Entwicklung ist ein Gesuch von Sultan Mehmed II. dem Eroberer an Nūr ad-Dīn Ǧāmī (gestorben 1492), einen Traktat über die Positionen der
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Vgl. Daiber, Bibliography of Islamic Philosophy, Band 2, S. 346. Vgl. ebd., Band 2, S. 482. Erwähnt in: Ḥāǧǧī Ḫalīfa, Kašf aẓ-ẓunūn, S. 94, unter dem Eintrag al-Išārāt. Von diesem Werk existiert eine handschriftliche Kopie, beglaubigt mit einem iǧāza von aṭ-Ṭūsī selbst. Die Kopie stammt von 1274, also dem Todesjahr aṭ-Ṭūsīs (zugänglich in der Universitätsbibliothek Leiden, Golius 95). Auch hier gibt es ein Manuskript, Paris. arab. 6263, das im Jahrzehnt vor at-Taḥtānīs Tod kopiert wurde. Siehe A. Hartmanns Artikel über Abū Ḥafṣ in der EI2, hier S. 780f.
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Theologen, der Sufis und der Philosophen zu schreiben, die ad-Durra al-fāḫira (Die kostbare Perle).28 Dies waren Angriffe von Nichtphilosophen, die sich, das muss besonders erwähnt werden, um die Argumente der Philosophen zu widerlegen, einen philosophischen Standpunkt und eine philosophische Argumentationsweise zu Eigen machten. Dass Philosophie eine ausreichend bedeutende Rolle spielte, um das Ziel solcher Angriffe zu werden, sowie die Tatsache, dass diese Angriffe philosophische Standpunkte einnahmen, belegt den Siegeszug der Philosophie im Mainstream islamischen intellektuellen Lebens. Es ist dies ein weiterer Grund, diesen Zeitabschnitt als das „goldene Zeitalter“ der arabischen Philosophie zu bezeichnen.
5. Die Verbreitung von Philosophie und die Reaktionen von Seiten der Philosophen Jedoch haben nicht nur Außenstehende auf die Philosophie reagiert. Wie zu erwarten, kamen auch aus den Reihen der Philosophen selbst heftige Reaktionen, pro und contra Avicennas Philosophie. Drei wichtige Trends sind auszumachen: (a) „Reaktionäre“: diejenigen, die Avicennas Philosophie von einem aristotelischen Standpunkt aus widerlegten; (b) „Reformer“: diejenigen, die der Meinung waren, Avicennas Philosophie habe ihre Ziele nicht erreicht, und die folglich Verbesserungen vornahmen; (c) „Anhänger“: diejenigen, die im Wesentlichen Avicennas Philosophie verteidigten. Um mit den „Reaktionären“ zu beginnen, das heißt mit solchen „Konservativen“, die die Uhr zurückdrehen und zu einem „echten“ Aristoteles zurückkehren wollten, in Abkehr von der innovativen Synthese Avicennas: Zu dieser Gruppe gehören die andalusischen Philosophen, vor allem weil sie al-Fārābīs Philosophie rezipierten, während sie – zumindest zu Beginn – über Avicenna nur unzureichende Informationen besaßen. Dies mag chronologisch zu erklären sein: Wenn die Philosophie zuerst gegen Ende des 10. Jahrhunderts nach al-Andalus kam, das heißt im Gefolge der Herrschaft von ʿAbd ar-Raḥmān III. und von al-Ḥakam II., die für den Import griechischen Wissens nach Spanien verantwortlich waren, dann mussten die entsprechenden Texte offenbar die von al-Fārābī sein. Es war noch zu früh, als dass Avicennas Texte so weit hätten verbreitet werden können. Jedenfalls ist klar, dass Ibn Bāǧǧa nur al-Fārābī kannte. Sein überlieferter laufender Kommentar zum ersten Teil des Organon bis zum Ende der Zweiten Analytik ist ein Kommentar zu al-Fārābīs berühmter zwölfteiliger Zusammenfassung der Logik, und eben nicht des aristotelischen Textes. Dasselbe gilt auch für die Auszüge aus dem Organon – oft zu Unrecht als Kurzkommentare bezeichnet29 –, die Averroes geschrieben hat: Auch dies sind Auszüge aus al-Fārābī, nicht aus Aristoteles. Das Resultat des reaktionären Standpunktes dieser Schule war allerdings ihre philosophische Bedeutungslosigkeit innerhalb der islamischen Tradition. Averroes und seine zwei jüngeren Zeitgenossen Maimonides und Ibn al-ʿArabī waren Kinder der blühenden Zivilisation in al-Andalus am Ende des 12. Jahrhunderts. Anders jedoch als seine beiden Landsleute, die die spätere jüdische und islamische Tradition in hohem Maße prägten, gelang es Averroes nicht, nach seinem Tod einen blei-
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Siehe Heer, The Precious Pearl. Vgl. Gutas, Aspects of Literary Form in Arabic Logical Works.
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benden Einfluss auf die arabische Philosophie auszuüben – trotz seiner auch heute noch beachtlichen Brillanz als Aristoteles-Kommentator.30 Ähnlich quijoteske proaristotelische Reaktionen auf Avicenna lassen sich vereinzelt auch im Osten fassen. Das beste Beispiel in solchem Sinne schulmäßiger Pedanterie bietet ʿAbd al-Laṭīf al-Baġdādī (gestorben 1232). Er war aufgebracht über die Neuerungen, die Avicenna in die Philosophie eingeführt hatte und verfasste einen eigenen Traktat, Kitāb an-naṣīḥatayn (Zwei gute Ratschläge), um vor der Lektüre Avicennas in philosophischen und medizinischen Fragen – die beiden Gegenstände, zu denen er seine Ratschläge gibt – zu warnen und dringlich anzuraten, sich an Aristoteles und Galen zu halten. Seine Überlegung für das Geben dieser Ratschläge ist, in seinen eigenen Worten, die folgende: „Aus allem, was wir dargelegt haben, ist deutlich geworden, dass die Absichten und Ziele Platons und seines Schülers Aristoteles die gleichen waren. Soweit die Philosophie betroffen ist, verblieb ihren Nachfolgern allein die Aufgabe, sie zu verstehen und sich mit ihnen im Studium zu beschäftigen, da es keinen bedeutenden Teil von ihr mehr zu entdecken, unter Beweis zu stellen und zu vollenden gab, noch auch Raum zur Verbesserung.“31
Dies steht in auffallendem Gegensatz zu Avicennas Haltung von ständigem Ausfeilen, Überdenken und Umarbeiten philosophischer Standpunkte, eine Haltung, die er seinen Schülern und Nachfolgern übermittelte und die zum großen Teil für die Blüte der Philosophie nach seinem Tode verantwortlich zeichnet. Bei den „Reformern“ nahm Abū l-Barakāt al-Baġdādī, ein Philosoph, dessen Bedeutung durch das Werk von S. Pines wieder ins rechte Licht gerückt wurde, einen kritischen und unabhängigen Standpunkt gegenüber Avicennas System ein. Er scheint einerseits Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, den großen theologischen Kritiker Avicennas, beeinflusst zu haben, was den Weg für die avicennische Wiederbelebung durch Nasiraddin aṭ-Ṭūsī bereitete, sowie zu einem gewissen Grad as-Suhrawardī, den Erleuchtungstheoretiker.32 Die von asSuhrawardī begründete illuminationistische Tradition baute auf Avicennas System auf, strebte aber danach, es hinter sich zu lassen. Sie kulminierte in Gestalt der „Schule von Iṣfahān“ im Iran der Safawidenzeit. Deren Geschichte ist gut dokumentiert durch die Arbeit von H. Corbin und seinen Anhängern und muss hier nicht weiter behandelt werden. Jedoch ist der „mainstream Avicennismus“ in diesem goldenen Zeitalter bisher wissenschaftlich ziemlich stark vernachlässigt worden. Und dies trotz der Tatsache, dass er eine bemerkenswerte Fähigkeit an den Tag legte, die zahlreichen Angriffe, die von Philosophen und Nichtphilosophen gegen ihn geritten wurden, zurückzuschlagen. Wie eingangs bereits erwähnt, ist gerade während dieser Zeit die Produktivität von Philosophen, die Avicennas Philosophie unterstützen, sehr bemerkenswert. Im 14. Jahrhundert legt der ägyptische Enzyklopädist Ibn al-Akfānī eine Liste von 23 wichtigen Büchern über Logik und einige über Metaphysik vor, die in dieser Zeit von Autoren, die in meiner tabellarischen Übersicht aufgeführt werden, verfasst worden sind.33 Wie genau die avicennische Philosophie sich im Nahen Osten verbreitet hat, ist ungeklärt. Gegenwärtig wissen wir nicht, wie im 12. Jahrhundert philosophische Lehren von Ḫurāsān nach Syrien und in den Irak gelangt sind. Bis zu dieser Zeit hatten alle Gelehrten 30 31 32 33
Siehe: Harvey, Conspicuous by His Absence: Averroes’ Place Today as an Interpreter of Aristotle. In: MS Bursa, Hüseyin Celebi 823, f. 87v. Eine Zusammenfassung dieser Passage findet sich bei: Stern, A Collection of Treatises by ʿAbd al-Laṭīf al-Baġdādī. Siehe Ziai, The Illuminationist Tradition. Eine Übersetzung der Passage von Ibn al-Akfānī findet sich in: Gutas, Aspects of Literary Form in Arabic Logical Works, S. 60–62.
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mit philosophischer Bildung im Iran oder in Ḫurāsān studiert. Das Wiedererstarken philosophischer Traditionen in Syrien gegen Ende des 12. Jahrhunderts bleibt noch zu untersuchen. Augenscheinlich waren diese nämlich durch das Schwinden von al-Fārābīs Einfluss in Aleppo nach seinem Tode im Jahr 950 allmählich zum Erliegen gekommen. Ebenso bleibt die Wiederbelebung philosophischer Lehren (gleichfalls gegen Ende des 12. Jahrhunderts) im Irak nach dem Ende der Bagdader Linie des Aristotelismus Mitte des 11. Jahrhunderts mit dem Ableben Abū l-Faraǧ b. aṭ-Ṭayyibs zu untersuchen. ʿAbd al-Laṭīf al-Baġdādī, der in den 1170er und 1180er Jahren studierte, berichtet in seiner Autobiographie, dass er im Irak und in Syrien keine philosophischen Lehrer finden konnte. Er erwähnt lediglich Kamāl ad-Dīn b. Yūnus in Mosul (siehe unten) und asSuhrawardī in Diyarbakır und Aleppo, gibt aber an, von ihren Leistungen nicht besonders beeindruckt worden zu sein.34 Nun ist ʿAbd al-Laṭīf zwar ein äußerst voreingenommener Autor, doch sind seine Bemerkungen zu den besagten Personen wertvoll. Obwohl er mit as-Suhrawardī und Kamāl ad-Dīn nicht einverstanden ist, so erwähnt er sie doch und bestärkt damit den Gesamteindruck, dass philosophischer Unterricht in Syrien und Irak in dieser Zeit nicht weit verbreitet war. An dieser Stelle muss eine wichtige Unterscheidung vorgenommen werden: die zwischen der Verfügbarkeit von Lehrern und damit der regen Anleitung zum Philosophieren auf der einen Seite, und dem Kopieren von philosophischen Texten, insbesondere derer Avicennas, durch Privatgelehrte auf der anderen. Letzteres nämlich ließ keineswegs nach, wie Untersuchungen – selbst wenn es schmerzlich wenige gibt – zur Übertragung von Handschriften von Werken Avicennas zeigen. So verbrachte ʿAbd al-Laṭīf selbst, wie er in seiner Autobiographie schreibt, trotz seiner Klage über das Fehlen von Philosophielehrern viele Stunden damit, die Werke Avicennas zu kopieren. Offensichtlich ist jedoch, dass Philosophie im Syrien der Ayyūbidenzeit starke Unterstützung fand, insbesondere in Ḥamā unter der Herrschaft des al-Malik al-Manṣūr (regierte 1191–1220). Zu den frühesten Lehrern, von denen wir hören, gehört der berühmte Jurist und Theologe Sayf ad-Dīn al-Āmidī (aus al-Āmida, heute Diyarbakır, gestorben 1233), bekannt auch für seinen philosophischen Kenntnisreichtum. Wie bereits erwähnt, schrieb er in Zurückweisung von ar-Rāzīs Kritik einen Kommentar zu den Išārāt und eignete ihn, was von Bedeutung ist, dem Ayyubiden al-Malik al-Manṣūr zu.35 Derjenige Gelehrte aber, der im 13. Jahrhundert die erschöpfendste Quelle für eine bedeutende Bandbreite philosophischer Bildung im Nahen Osten war, ist der eben erwähnte Kamāl ad-Dīn b. Yūnus (gestorben 1242). Er lebte in Mosul und war ein Experte in den griechischen Wissenschaften. Keine seiner philosophischen Abhandlungen hat die Zeit überdauert, doch gibt es in den historischen und biographischen Quellen Bezugnahmen auf seine Fachkompetenz für die Philosophie von al-Fārābī und Avicenna. Sein Ruhm war weithin verbreitet. Kaiser Friederich II. sandte Briefe mit Fragen zu Medizin, Philosophie und Mathematik an den Ayyubidensultan al-Malik al-Kāmil, der diese dann an Kamāl ad-Dīn b. Yūnus weiterreichte. Auch war Kamāl ad-Dīn, so berichtet Bar Hebraeus, der philosophische Lehrer von Theodoros von Antiochien, der später tatsächlich an den Sizilianischen Hof ging und als „der Philosoph“ Friedrichs II. bekannt war.36 Ferner zählte Naṣīr
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Bezugspunkt ist die Version seiner Autobiographie, die Ibn Abī Uṣaybiʿa bewahrt hat: ʿUyūn al-anbāʾ, Band 2, S. 204. Siehe in der EI2 über al-Āmidī (D. Sourdel). Die Widmung findet sich im Berliner Manuskript des Werks (Pm 596), Ahlwardt, Verzeichnis der arabischen Handschriften, S. 388a, Nr. 5048. Zu al-Malik al-Manṣūr siehe den Artikel von A. Hartmann in EI2 und das Literaturverzeichnis dort. Burnett, Master Theodore, Frederick II’s Philosopher.
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ad-Dīn aṭ-Ṭūsī zu den Schülern des Kamāl ad-Dīn. Der intellektuelle Austausch zwischen Sizilien und den Ayyubiden wurde auch unter den Mameluken fortgeführt. 1262 sandte der Mamelukensultan Baybars den vor allem als Historiker bekannten Universalgelehrten Ibn Wāṣil al-Ḥamawī (gestorben 1298) zu König Manfred von Sizilien. Ibn Wāṣil widmete diesem ein Buch über Logik, mit dem passenden Titel ar-Risāla al-imbirūrīya (Das imperiale Sendschreiben).37 Ein weiterer Student von Kamāl ad-Dīn b. Yūnus war Aṯīr ad-Dīn al-Abharī, ebenfalls in Mosul geboren und ausgebildet. Mit al-Abharī erhält Avicennas Philosophie ihre klassische scholastische Ausformulierung in seinem reichhaltigen Lehrbuch Hidāyat al-ḥikma (Rechtleitung in der Philosophie). Dieses wurde in den nachfolgenden Jahrhunderten unzählige Male kommentiert. Ebenso populär war seine Zusammenfassung des gesamten Organons, die er mit dem „griechischen“ Titel al-Īsāġūǧī bedachte. al-Īsāġūǧī ist dabei keineswegs, wie oft angenommen, eine Zusammenfassung der Eisagoge des Porphyrios,38 aber doch ein Lehrbuch, das in traditionellen Madrasas der islamischen Welt bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts genutzt wurde.39 Sein Student Naǧm ad-Dīn al-Kātibī kam seinem Meister gleich, wenn es darum ging, langlebige Lehrbücher zu produzieren – möglicherweise übertraf er ihn sogar. Sein logisches Werk ar-Risāla aš-šamšīya genoss ebenso großen Ruhm wie die al-Īsāġūǧī. Auch sein philosophisches Werk Ḥikmat al-ʿayn wetteiferte mit der Hidāya um Popularität. Al-Kātibī war zusammen mit Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī einer der Begründer des Observatoriums von Marāġa. Im nächsten Jahrhundert zu erwähnen sind al-ʿAllāma al-Ḥillī, der große zwölferschiitische Theologe, dessen logische und philosophische Werke diesen Typ von Avicennismus in der Schīʿa einführte, des Weiteren sein Student Quṭb ad-Dīn at-Taḥtānī (gestorben 1364), der Autor der bereits erwähnten al-Muḥākamāt; ferner dessen Student, der berühmte as-Sayyid aš-Šarīf al-Ǧurǧānī (gestorben 1413) und dessen Sohn Nūr ad-Dīn (gestorben 1434), der ebenfalls über Philosophie und Logik schrieb.40 Nach dieser Zeit vermischte sich in einer Art und Weise, die noch näher zu bestimmen bleibt, der „mainstream Avicennismus“ oft mit Illuminationsphilosophie. Dies setzte sich in der Mamelukenzeit im Nahen Osten fort, ebenso nach der Eroberung von Konstantinopel im Osmanischen Reich. Wie zahlreiche Beschreibungen von Lehrplänen und curricula erkennen lassen, war das Studium von ḥikma (Philosophie) ein reguläres Studienfach. Ein Belegfall ist die außerordentlich detailfreudige Autobiographie des aus Damaskus stammenden Gelehrten Šams ad-Dīn b. Ṭūlūn (1473–1546), in der er eine Liste seiner Studien von ḥikma unter Angabe der jeweiligen Unterrichtsleiter gibt.41 Diese Praxis wurde auch unter den Osmanen beibehalten. Mehmed II. der Eroberer unterstützte bereitwillig die Wissenschaften, und im 15. und 16. Jahrhundert können wir ein Phänomen beobachten, das man mit voller Berechtigung die „Osmanische Schule“ in der arabischen Philosophie nennen kann. Informationen hierüber gibt uns der berühmte osmanische Bibliograph 37 38 39 40
41
Siehe den Eintrag zu Ibn Wāṣil von El-Shayyal in EI2. Siehe darüber zum Beispiel: Brockelmann, Geschichte der arabischen Litteratur, Band 1, S.464. Sowie Anawati, Encyclopaedia Iranica, I, 216b. Vgl. Gutas, Aspects of Literary Form in Arabic Logical Works, S. 62f. Der Autograf von Nūr ad-dīns Kommentar zu al-Abharīs Hidāya, Ḥall al-hidāya (L–265), findet sich in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library an der Yale University. Siehe: Nemoy, Arabic Manuscripts in the Yale University Library, S. 147, nr. 1386. Zu Šams ad-Dīn b. Ṭūlūn siehe EI2 (Eintrag von W. M. Brinner). Seine Autobiographie mit dem Titel al-Fulk almašḥūn fī aḥwāl Muḥammad b. Ṭūlūn (Das vollbeladene Schiff über das Leben des Ibn Ṭūlūn) wurde 1929 in Damaskus veröffentlicht.
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Allgemeiner Teil
Ḥāǧǧī Ḫalīfa (1017–1067/1609–1657). In seinem Eintrag über die Geschichte und Entwicklung der Philosophie im Islam schreibt er Folgendes: „Die philosophischen Wissenschaften (al-falsafa wa-l-ḥikma) fanden nach der muslimischen Eroberung auch einen guten Nährboden in Anatolien (ar-Rūm), bis in die mittlere Periode des osmanischen Reichs. Während dieser Zeit wurde der Adel eines Menschen daran gemessen, in welchem Ausmaß er die rationalen und überkommenen Wissenschaften erlernen und meistern konnte. Damals lebten große Meister, die Philosophie und islamisches Recht miteinander in Einklang bringen konnten, wie zum Beispiel der hochgelehrte Šams ad-Dīn al-Fanārī, der herausragende Qāḍīzāde ar-Rūmī, der hochgelehrte Ḫoǧazāde der hochgelehrte ʿAlī al-Qušǧī, der herausragende Ibn al-Muʾayyad Mīram Čelebi, der hochgelehrte Ibn Kamāl sowie der herausragende Ibn al-Ḥinnāʾī, welcher der letzte von ihnen war.“42
Besonders bemerkenswert unter diesen Gelehrten, die alle noch zu erforschen sind, ist Kemalpaşazade (Ibn Kamāl Bāšā, gestorben 1533). Er hat zahlreiche Traktate über philosophische Themen in der avicennischen Tradition verfasst, vergleichbar mit der „Osmanischen Schule“ ist die der indischen Gelehrten der Mogulzeit. Die Erforschung dieses philosophischen Traditionsstrangs hat gerade erst begonnen. Hunderte von Texten existieren, die noch nicht ediert und ausgewertet sind, und deren Verbreitung zu untersuchen bleibt. So war schon die Rede von einem Manuskript aus der Universitätsbibliothek Leiden, das Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsīs iǧāza enthält, um seinen Kommentar zu den Išārāt zu überliefern. Eine zufallsgeleitete Suche bringt noch andere solche Studienzertifikate und Weitergabelinien anhand philosophischer Manuskripte zutage, so etwa dasjenige eines gewissen Abū l-Qāsim al-ʿAlawī (um 1360) auf einer weiteren Handschrift des gleichen Kommentars von aṭ-Ṭūsī in einem Manuskript der McGill-University.43 Studienzertifikate (iǧāzāt) für die Überlieferung von philosophischen Texten bezeugen, dass die philosophische Ausbildung nach dem 4. Jahrhundert der Hiǧra dem typischen Muster höherer Bildung in islamischen Gesellschaften folgte. Ihr Verbreitungsgrad kann also durch das Studium von Manuskripten verfolgt werden. So können Cluster philosophischer Aktivität zeitlich und räumlich fixiert, Lehrer, Studenten und Werke identifiziert werden. So ist beispielsweise bekannt, dass eine solche Gruppe von Gelehrten am Observatorium von Marāġa versammelt war, wo unter anderen aṭ-Ṭūsī und al-Kātibī aktiv waren. So ist etwa ein ansonsten unbekanntes Werk aufgetaucht, ein Kommentar zu al-Urmawīs Maṭāliʿ alanwār, das von einem unbekannten Kollegen von aṭ-Ṭūsī in Marāġa verfasst wurde und dessen Autograph sich in Berlin befindet.44 Auf der Basis derartiger Dokumente kann das Studium arabischsprachiger Philosophie in Marāġa und anderswo verfolgt werden. Nur wenn diese Werke untersucht und ihre Beziehungen zu Avicennas Philosophie analysiert worden sind, wird sich ein präziseres Bild des avicennischen Erbes und des „Goldenen Zeitalters“, das es eingeläutet hat, abzeichnen.
42 43 44
Ḥāǧǧi Ḫalīfa, Kašf aẓ-ẓunūn, I, S. 680. Ebenfalls zitiert in: Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 173. Hier werden die oben aufgelisteten Personen genauer bestimmt. McGill OL 478; siehe: Gacek, Arabic Manuscripts in the Libraries of McGill University, Montreal 1991, S. 32, Nr. 40. MS or. oct. 1487, beschrieben in: Sellheim, Materialien zur arabischen Literaturgeschichte, Band 1, S. 153–157, Nr. 45.
Avicennas Erbe. Das ‚Goldene Zeitalter‘ der arabischen Philosophie
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Tabellarische Übersicht über Autoren der arabischsprachigen Philosophie vom 9. bis zum 18. Jahrhundert ZeitNeuplatonismus spanne im Gefolge al-Kindīs 800 900
al-Kindī as-Saraḫsī Abū Zayd al-Balḫī Isaac Israeli al-ʿĀmirī
1000 Salomon b. Gabirol
Eklektiker/Unabhängige
Q 1 1 1 1 A 1 1 1 1 Y
Ṯābit b. Qurra Abū Bakr ar-Rāzī Bakr al-Mawṣilī Miskawayh
Baghdader Peripatetiker
q 1 1 1 a 1 1 1 y
Mattā b. Yūnus al-Fārābī Yaḥyā b. ʿAdī Abū Sulaymān as-Siǧistāni ʿĪsā b. Zurʿa Ibn al-Ḫammār Ibn as-Samḥ Abū l-Faraǧ b. aṭ-Ṭayyib
Avicenna († 1037) 1100
Joseph b. Ṣaddīq
(Andalusische antiavicennistische Peripatetiker)
110
Allgemeiner Teil
Avicenna († 1037)
1100
1200
1300
Mainstream Avicennismus
Antiavicennistische Peripatetiker u. a.
(vermittelt über direkte Schüler in Ḫorasān)
(Andalusische (Bagdader Tradition al-Fārābīs) Tradition)
Bahmanyār al-Maʿṣūmī al-Ǧūzǧānī Ibn Zayla al-Lawkarī al-Īlāqī ʿUmar b. Sahlān aṣ-Ṣāwī (Befürworter), ()
Abrahām b. Dāwūd
al-Āmidī
Kamāl ad-Dīn b. Yūnus Theodor von Antiochia al-Ḫūnaǧī al-Abharī Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī al-Kātibī al-Urmawī Šams ad-Dīn as-Samarqandī Ibn Wāṣil al-Ḥamawī at-Tustarī al-Ḥillī
at-Taḥtānī
Q 1 1 1 1 1 1 1 1 A 1 1 1 1 1 1 1 1 1 Y
Ibn Bāǧǧa
Ibn Ṭufayl Averroes Maimonides Ibn Ṭumlūs
Ibn Sabʿīn
Osmanische Schule
Illuminationistischer Avicennismus
Abū-l-Barakāt
q 1 ʿAbd-al-Laṭīf 1 1 1 1 1 a 1 1 1 1 1 y
Indische Schule
as-Suhrawardī
Ibn-Kammūna aš-Šahrazūrī Quṭb ad-Dīn aš-Šīrāzī
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Avicennas Erbe. Das ‚Goldene Zeitalter‘ der arabischen Philosophie
1400
1500
1600
at-Taḥtānī
Osmanische Schule
al-Ǧurǧānī Nūr ad-Dīn b. al- Ǧurǧānī
Šams ad-Dīn al-Fanārī Qāḍīzāde Rūmī
Ḥusayn al-Maybudī
ʿAlī al-Qūšǧī Ḫoǧazāde Ibn al-Muʾayyad
Indische Schule Ibn Abī Ǧumhūr al-Aḥṣāʾī ʿAbd Allāh at Tulumbī
ad-Dawānī
Mīram Čelebi ad-Daštakī Ibn Kamāl-Bāšā Muḥammad al-ʿIlmī al-Lārī Qınālızāde ʿAlī Čelebi (Schule von Iṣfahān) Mīr Dāmād Maḥmūd al-Ǧawnpūrī Mullā Ṣadrā aš-Šīrāzī ʿAbd al-Ḥakīm Aḥmad al-ʿAlawī as-Siyālkūtī Muḥṣin Fayẓ Mīr Zāhid al-Harawī ʿAbd ar-Razzāq al-Lāhiǧī Esʿad al-Yanyāwī al-Bihārī Qāḍī Saʿīd al-Qummī usw. as-Sihālawī usw.
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112
Allgemeiner Teil
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II. Einzelne Denker und Werke
1. Die Übersetzung philosophischer Texte aus dem Griechischen ins Arabische und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund Matthias Perkams (Jena) „In Alexandrien blieb der philosophische Unterricht bestehen [...], bis nach langer Zeit der Islam kam. Da wurde der Unterricht aus Alexandrien nach Antiochien überführt und blieb dort eine lange Zeit, bis ein einziger Lehrer übrigblieb. Von ihm lernten zwei Männer und zogen fort, wobei sie die Bücher mitnahmen. Der eine von ihnen stammte aus Ḥarrān und der andere aus Marw. Von dem aus Marw lernten zwei Männer, der eine war Ibrāhīm al-Marwazī, der andere war Yūḥannā b. Ḥaylān. [...] Sie begaben sich nach Baġdād. [...] Abū Naṣr al-Fārābī berichtet von sich selbst, dass er bei Yūḥannā b. Ḥaylān bis zum Ende des Buches vom Beweis (Kitāb al-burhān) lernte.“1
Die Quelle für die vom Medizinhistoriker Ibn Abī Uṣaybiʿa (13. Jahrhundert) überlieferten Worte war ein Bericht des Abū Naṣr al-Fārābī (870–950), den spätere arabische Philosophen als ihren „zweiten Lehrer“ (al-muʿallim aṯ-ṯānī) nach Aristoteles ansahen. Er bezeugt das Selbstverständnis der Philosophen in der islamischen Welt, genannt die falāsifa, die legitimen Erben einer ununterbrochenen Denktradition seit Sokrates zu sein. Diese Einschätzung hat einen wahren Kern: Will man die Ursprünge und Ideen der arabisch-islamischen Philosophie verstehen, muss man ihre antiken griechischen Quellen berücksichtigen. Zumindest den falāsifa war dieser griechische Ursprung das ganze Mittelalter hindurch bewusst. Ihre Argumentationsformen waren insbesondere von Aristoteles’ Analytica posteriora inspiriert, die al-Fārābī hier unter dem Namen „Buch des Beweises“ hervorhebt.2 Eine Quelle wie al-Fārābīs Bericht kann aber nur nach kritischer Prüfung ein Ausgangspunkt für die Rekonstruktion historischer Überlieferungsprozesse sein. Eine solche Prüfung, die weitere Quellen berücksichtigt, hat in den letzten Jahrzehnten bedeutende Fortschritte gemacht. Obwohl die Forschungen dazu noch keineswegs abgeschlossen sind, lassen sich bereits heute einige Grundlinien, auf denen die griechische Philosophie bei den Arabern bekannt geworden ist und rezipiert wurde, relativ klar erkennen. Sie sollen in drei Schritten nachgezeichnet werden: Ein erster Abschnitt stellt den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Übersetzungen im arabischen Raum vor, in einem zweiten wird auf die Geschichte der philosophischen Übersetzungen im engeren Sinn eingegangen – einschließlich eines Überblicks über die Voraussetzungen dieser Übersetzungen –, und in einem dritten sollen die Übersetzungen einzelner besonders wichtiger Werke vorgestellt werden.
1
2
Ibn Abī Uṣaybiʿa, ʿUyūn al-anbāʾ, Band 2, S. 134f. Auszüge aus der Übersetzung von Strohmaier, Von Alexandrien nach Bagdad, S. 382. Vgl. auch die Übersetzung von Meyerhof, Von Alexandrien nach Bagdad, S. 394 und 405 sowie die Paralleltexte, die Meyerhof auf S. 406–408 sowie Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 91–93, zitieren. Vgl. die Bemerkungen hierzu von F. Griffel am Beginn seines Beitrags zu al-Ġazālī in diesem Band. Zur Bedeutung der Analytica posteriora siehe auch: Marmura, The Fortuna of the Posterior Analytics in the Arabic Middle Ages.
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Einzelne Denker und Werke
1. Die arabische Übersetzungsbewegung und die ersten philosophischen Übersetzungen Die griechische Philosophie wurde durch die Araber im Rahmen eines breiteren Prozesses der Aneignung antiken Wissens rezipiert. Auf der Grundlage von Übersetzungen aus dem Griechischen wurde praktisch der gesamte Kanon an griechischen wissenschaftlichen Disziplinen in der arabischen Welt fortgeführt. Zu diesem Zweck übertrug man im Laufe von nahezu zwei Jahrhunderten griechische Werke nicht nur aus der Philosophie, sondern auch aus Astronomie, Mathematik, Medizin, Musik, Optik und anderen Disziplinen in die arabische Sprache. „Fast alle nichtliterarischen und nichthistorischen weltlichen griechischen Bücher, die im Osten des Byzantinischen Reichs und im Nahen Osten erhältlich waren, wurden ins Arabische übersetzt. [...] Alle [...] griechischen Schriften, mit den gerade genannten Ausnahmen, und viele andere, die nicht im griechischen Original überlebt haben, wurden der transformatorischen Magie einer übersetzenden Feder unterworfen.“3
Unter Mitarbeit zahlreicher Nichtmuslime, besonders syrischsprachiger Christen, aber auch von Byzantinern und Persern, entstand so die „erste internationale Wissenschaftsepoche, die die Welt gesehen hat“4 – und in deren Mitte stand wiederum die Philosophie, die Leitwissenschaft im griechischen Kulturraum. Eine solch komplexe Entwicklung begann freilich nicht, wie man zunächst denken könnte, unmittelbar mit der Einnahme des antiken Bildungszentrums Alexandrien durch die Araber im Jahre 642 – also nur zehn Jahre nach Mohammeds Tod und 20 Jahre nach dem Gründungsereignis des Islam, dem Auszug von Mekka nach Medina. Richtiger scheint zu sein, dass die Aneignung griechischen Wissens durch die Araber erst über 100 Jahre später als bewusster und zielgerichteter Prozess seinen Anfang nahm, zu einem Zeitpunkt, als sowohl der junge islamische Staat als auch die philosophische Tradition eine gewisse Entwicklung genommen hatten. Erst zu diesem Zeitpunkt war eine auch sprachlich umfassende Arabisierung der vormals griechisch-, aramäisch- und persischsprachigen vorderorientalischen Länder gegeben.5 In den ersten Jahrzehnten islamischer Herrschaft hatte die damals noch kleine Oberschicht arabischer Muslime die praktische Verwaltungstätigkeit meistens den alten byzantinischen und persischen Eliten der neu eroberten Länder überlassen, die diese zunächst auch in der überlieferten Sprache, also in Syrien, Palästina und Ägypten auf Griechisch, ausführten. Damaskus, der Regierungssitz der von 661 bis 750 regierenden Kalifen aus dem Haus der Umayyaden, blieb zunächst ein Zentrum griechischer Kultur, das beispielsweise den bedeutenden Griechisch schreibenden Kirchenvater Johannes von Damaskus (ca. 650–750) hervorbrachte. Erst etwa 70 Jahre nach der arabischen Eroberung machte der Umayyade ʿAbd al-Malik (regierte 685–705) das Arabische zur Kanzleisprache in Syrien und dem Irak6 und forcierte damit dessen Durchsetzung als allgemeine Sprache der Oberschicht des Reichs. Trotzdem war das geistige Leben der Christen und Juden in Ägypten und Syrien zunächst nach wie vor von deren Muttersprachen Griechisch und Syrisch beziehungsweise Aramäisch geprägt. Wegen der kulturellen Dominanz des Grie3 4 5 6
Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 1. Jaeger, Die Antike und das Problem der Internationalität in den Geisteswissenschaften. Endress, Die wissenschaftliche Literatur [1], S. 420. Ebd., S. 416. Unter „Syrien“ wird hier der geographische Raum verstanden, der vom Golf von Akaba bis zum Euphrat und in die südöstliche Türkei reicht.
Die Übersetzung philosophischer Texte aus dem Griechischen ins Arabische
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chischen war der Bedarf an Übersetzungen ins Arabische zunächst gering und erfasste die Philosophie praktisch nicht.7 Die bald danach einsetzende Änderung und der Beginn einer intensiven Übersetzungstätigkeit aus dem Griechischen wird von Dimitri Gutas mit einem Wechsel der islamischen Herrscherdynastie in Verbindung gebracht: Ausgehend von der wohlhabenden Landschaft Ḫurāsān im östlichen Iran und den angrenzenden Ländern besiegten die Anhänger der Dynastie der ʿAbbāsiden 747 bis 749 die Truppen des letzten Umayyadenkalifen Marwān und töteten diesen auf der Flucht nach Ägypten. In der Folge verlegte der erste bedeutende ʿAbbāsidenkalif Abū Ǧaʿfar al-Manṣūr (regierte 754–775) den Regierungssitz von Damaskus in das neugegründete Baġdād, unweit der alten persischen Hauptstadt Seleukeia-Ktesiphon am Tigris. Das politische Zentrum des islamischen Reiches verlagerte sich damit in eine multiethnische Metropole, deren Bevölkerung sich aus Arabern, Persern und überwiegend syrischsprachigen Christen zusammensetzte.8 Gutas zufolge hat die Übersetzungsbewegung, mit Unterstützung der ʿabbāsidischen Herrscher, gerade in diesem Milieu ihren Anfang genommen. Ausweislich mehrerer Quellen hat bereits al-Manṣūr damit begonnen, Übersetzungen in Auftrag zu geben, dem Historiker al-Masʿūdī zufolge inklusive einiger Schriften des Aristoteles;9 ein mögliches Zeugnis davon ist eine frühere Einführung in die Logik, die Ibn al-Muqaffaʿ (gestorben ca. 756, bekannt auch als Übersetzer der Fabelsammlung Kalīla wa-Dimna [Kalila und Dimna]) zugeschrieben wird.10 Als ursprünglichen Anlass für die ersten Übersetzungen vermutet Gutas einen bewussten Anschluss an die alte persische Reichsideologie, die vielen Unterstützern der ʿAbbāsiden noch präsent gewesen sein dürfte.11 Konkretere Informationen gibt es für al-Manṣūrs Nachfolger, insbesondere für den aus der Legende berühmten Hārūn ar-Rašīd (regierte 786–809). Er beauftragte den nestorianischen Bischof Timotheos, die aristotelische Topik, vermittelt durch das Syrische, ins Arabische zu übersetzen. Während seiner Regierungszeit wandte sich bereits der schiʿitische Theologe Hišām b. al-Ḥakam, der Gott als körperliches Ding (šayʾ) ansah, in einer eigenen Schrift gegen aristotelische Gottesvorstellungen, die er wohl aus einer ersten, heute verlorenen arabischen Übersetzung der aristotelischen Physik gekannt haben dürfte.12 Gutas vermutet, dass an diesen früh übersetzten Texten ein praktisches Interesse bestand: Während dies bei der Physik wohl theologische Fragen waren, die besonders in Buch VIII dieses Werkes behandelt werden, vermutet er die Bedeutung der Topik in ihrer Rolle für die Austragung argumentativer Auseinandersetzungen.13 Zu diesem Zeitpunkt scheinen daher noch konkrete Anliegen den Ausschlag für die Anfertigung bestimmter Übersetzungen gegeben zu haben. Geändert zu haben scheint sich dies unter dem Kalifen al-Maʾmūn (regierte 813–833), dessen Zeit schon von arabischen Quellen als der eigentliche Ausgangspunkt der Überset-
7 8 9 10 11 12
13
Dieser Abschnitt folgt Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 11–17. Zu Spuren früher, zur Umayyadenzeit entstandener Übersetzungen siehe Endress, Die wissenschaftliche Literatur [1], S. 420–422. Einen Überblick gibt z. B. der EI-Eintrag ʿAbbasids von Lewis, besonders S. 15–17. Al-Masʿūdī, Murūǧ aḏ-ḏahab, §3446, zitiert bei Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 30. Es hat sich wohl vor allem um das Organon gehandelt, Endress, Die wissenschaftliche Literatur [1], S. 422. Endress, Die wissenschaftliche Literatur [1], S. 420. Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 34–53. Zur geistigen Situation im Perserreich vgl. auch Hartmann, Geist im Exil, S. 143–149. Van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, Band 1, S. 358f. Laut Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 72, handelt es sich um die verlorene Übersetzung eines gewissen Sallām al-Abraš, der nach Ibn anNadīm, K. al-fihrist, S. 244.5f. (Ed. Flügel) zur Zeit der Barmakiden, das heißt vor 803, gearbeitet haben soll. Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 61–74.
118
Einzelne Denker und Werke
zungsbewegung angesehen wird. Die Zahl der Übersetzungen nimmt nämlich nach seinem Regierungsantritt deutlich zu, auch im Zusammenhang mit dem Ziel einer besseren Ausbildung der muʿtazilitischen Hoftheologen. Offenbar trug der Kalif selbst dafür Sorge, aus den vorderasiatischen Bibliotheken, aber auch aus Byzanz, zum Übersetzen geeignete Manuskripte zu besorgen. Die zeitgenössischen Quellen zeigen ebenfalls deutlich, welcher Wert den griechischen Denkern in breiten Gesellschaftsschichten beigemessen wurde. Mehrere Quellen überliefern eine Erzählung, in der Aristoteles selbst dem Kalifen im Traum erscheint und ihn auf die Bedeutung philosophischen Wissens hinweist. Mit der Rezeption der antiken Quellen wird der Anspruch verbunden, selbst auf diesem Gebiet den Byzantinern überlegen zu sein: „Wenn doch das einfache Volk wüsste, dass die Christen und Byzantiner keine Weisheit und keine Erklärung und keinerlei herausragende Einsicht haben [...], wegen ihrer Abkehr von den Begriffen der Gebildeten und der Erleuchtung durch die Überzeugungen der Philosophen und Weisen! Denn das Buch der Logik und Über Werden und Vergehen und die Meteorologie und die übrigen sind von Aristoteles, und er ist weder ein Byzantiner noch ein Christ. Und das Buch Almagest ist von Ptolemaios, und er ist weder ein Byzantiner noch ein Christ. Und das Buch Euklids ist von Euklid, und er ist weder ein Byzantiner noch ein Christ. Und das Buch der Medizin ist von Galen, und er ist weder ein Byzantiner noch ein Christ. Und ebenso steht es mit den Büchern von Demokrit, Hippokrates und Platon, und von vielen anderen. Und diese Leute sind gewiss aus ihrem Volk verschwunden, und es blieben nur Spuren ihrer Gedanken.“14
In dieser Aussage des dem Kalifenhof nahestehenden Schriftstellers al-Ǧāḥiz spiegelt sich nicht nur die antibyzantinische Frontstellung der damaligen Zeit (die auf durchaus kuriose Weise mit dem Interesse an byzantinischen Büchern kontrastiert) und eine auffallend breite Kenntnis griechischer Schriftsteller wider, sondern auch eine bemerkenswerte Wertschätzung von Bildung. Wissenschaft ist nicht das Erbe eines bestimmten Volkes und einer bestimmten Sprache, sondern richtet sich an die Menschen und Kulturen, die die Tradition methodischen Denkens produktiv fortführen. Damit ist genau die Haltung zur antiken Bildung angedeutet, die 100 Jahre später al-Fārābī in Bezug auf die philosophische Tradition ausdrücklich in Anspruch nimmt: Die Araber seien die eigentlichen Fortführer des griechischen Denkens, das sich ihnen in einer Vielzahl von Übersetzungen erschließt. Vor dem Hintergrund dieser progriechischen Einstellung weiter Kreise im frühʿabbāsidischen Baġdād begann im weiteren Verlauf des 9. Jahrhunderts auch eine weitgespannte Übersetzungstätigkeit philosophischer Werke. Dass die allgemeine Bewegung des Übersetzens wissenschaftlicher Texte auch die Philosophie auf dermaßen breiter Front erfasste, war zunächst nicht selbstverständlich. Denn anders als im Falle von Wissenschaften wie der Medizin und der Mathematik war der praktische Nutzen philosophischer Texte beschränkt, es sei denn, diese konnten zu polemischen Zwecken verwendet werden. Ein Bemühen um die Übersetzung nahezu aller erreichbaren philosophischen Werke begann daher erst relativ spät, nämlich dann, als sich in Baġdād erste philosophisch interessierte Zirkel, wie der Kreis um al-Kindī und die sogenannten Baġdāder Aristoteliker, gebildet hatten. Diese hatten nicht nur Bedarf an philosophischen Quellenschriften, sondern ihre eigene philosophische Kompetenz war eine wichtige Vorbedingung für die Anfertigung qualitativ hochwertiger Übersetzungen.15 14 15
Siehe Rasāʾil al-Ǧāḥiẓ, Band 3, S. 314f. Zur Person von al-Ǧāḥiẓ vgl. den EI-Eintrag Al-Djāḥiẓ von Ch. Pellat. Vgl. die Anforderungen des bereits zitierten al-Ǧāḥiz an einen guten Übersetzer, zitiert und kommentiert bei Badawī, La transmission de la philosophiegrecque au mondearabe, S. 21–25.
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„Das Curriculum, das mit al-Kindīs Programm philosophischer Studien deutlich wird [...] muss einer klaren Nachfrage und einem dringenden Bedürfnis entsprochen haben. Dieses Bedürfnis entstand aus einem Milieu von Wissenschaftlern, die ihre Stellung in der islamischen Gesellschaft zu wahren hatten. [...] Die Philosophie sollte den Rang und das Prestige der wissenschaftlichen Gemeinschaft fördern; [...] die Wissenschaftler sollten Rivalen der geistigen und politischen Elite [...] des Islam werden.“
Gerhard Endress erläutert diese programmatische Zielsetzung weiter, indem er die philosophischen Werke des Kreises um al-Kindī als Brückenschläge zur Theologie und als eine geistphilosophische Begründung einer eigenständigen intellektuellen Tätigkeit liest.16 Mit derartig grundsätzlichen Fragestellungen waren die Grundlagen für eine Behandlung philosophischer Probleme auf hohem Niveau gelegt. Sie waren ihrerseits nicht denkbar ohne eine erste Serie von Übersetzungen, die al-Kindī selbst initiierte, um das philosophische Rüstzeug für sein Projekt zur Verfügung zu haben. Auf deren mögliche Vorlagen ist nun näher einzugehen.
2. Philosophische Traditionen bis zum 9. Jahrhundert Hierbei ist zu beachten, dass man den Beginn einer intensiven Übersetzungstätigkeit in der Mitte des 9. Jahrhunderts ansetzen kann. Ein direkter Anschluss der arabischen Philosophie an die Antike, insbesondere den spätantiken Neuplatonismus, erscheint daher nicht ganz so selbstverständlich wie das manche Darstellungen nahelegen. Immerhin liegen zwischen den allerspätesten antiken philosophischen Texten, die wir kennen (nämlich den Aristoteles-Kommentaren des Stephanos von Alexandria), und der Zeit al-Kindīs nicht weniger als ca. 200 Jahre. Eine Vorbedingung für das Verständnis der arabischen Übersetzer und ihrer Werke ist daher ein Überblick über die Entwicklung der Philosophie von der Spätantike bis ins frühe 9. Jahrhundert, der freilich aufgrund des Fehlens klarer Quellen häufig spekulativ und unsicher bleiben muss. Trotzdem sollen auf den folgenden Seiten einige Eckpunkte angesprochen werden. 2.1 Die Entwicklung der Philosophie bis zum 9. Jahrhundert 2.1.1 Lose Enden einer Überlieferung: Spätantiker Neuplatonismus und arabischer Aristotelismus
Die Philosophie der ausgehenden Antike wird im Verständnis der heutigen Forschung meist unter dem Stichwort „Neuplatonismus“ zusammengefasst, da ab dem 3./4. Jahrhundert kaum mehr philosophische Schriften einer anderen Provenienz entstanden. Der Neuplatonismus ist von Plotin (ca. 205–270) begründet worden, dessen herausragende Leistung darin bestand, die früheren, „mittelplatonischen“ Theorien dadurch zu transformieren, dass er die ganze Welt von einer ganz transzendenten, mit menschlicher Sprache nicht adäquat beschreibbaren Ursache ableitet, dem Einen beziehungsweise Guten. Dieses Eine soll jenseits des Seienden liegen, das heißt auch jenseits der platonischen Ideen, als deren Ort Plotin – wie schon einige Denker vor ihm – den aristotelischen Geist (nous) ansetzte. Da dieser Geist wiederum jenseits der Seele angesiedelt ist, welche innerhalb der Zeit aktiv ist, ist Plotins System der ewigen Welt durch die drei „Hypostasen“ 16
Endress, The Circle of al-Kindī, Zitat S. 65; vgl. auch Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 119f.
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Eines, Geist und Seele gekennzeichnet, die die Ursachen für die sichtbare, veränderliche Welt darstellen sollen. Es handelt sich also um eine integrierende Deutung verschiedener platonischer, aristotelischer und auch stoischer Ideen, bei denen der Bezug auf Platon den Ausschlag gibt.17 Durch Plotins Nachfolger Porphyrios von Tyros (ca. 232/34–305) und Jamblich von Chalkis (ca. 240–320) ist diese Denkleistung zu einem umfassenden System umgebaut worden, das insbesondere den Anspruch erhob, die Wahrheit wiederzugeben, die Platon und Aristoteles inhaltlich übereinstimmend gelehrt hätten. Die philosophische Arbeit der folgenden Jahrhunderte bestand demnach in erster Linie darin, dieses System weiter auszudifferenzieren, indem die verschiedenen Texte von Platon und Aristoteles als Zeugen für jeweils bestimmte Teile der Wirklichkeit ausgelegt wurden. Neben einigen systematischen Schriften, von denen hier besonders die Theologische Elementarlehre (Elementatio bzw. Institutio theologica) sowie die Platonische Theologie des Athener Neuplatonikers Proklos (412–485) genannt sein sollen, bestand die philosophische Arbeit der folgenden Jahrhunderte vorwiegend darin, durch Kommentare zu Platon und Aristoteles nachzuweisen, dass deren einzelne Schriften in der Tat am besten von den neuplatonischen Grundgedanken aus zu interpretieren waren. Diese Arbeit wurde vorwiegend an den beiden philosophischen Schulen in Athen und Alexandrien geleistet. Die Athener Schule wurde 529 durch Kaiser Justinian geschlossen, während die Schule von Alexandrien noch bis mindestens zu Beginn des siebten Jahrhunderts weiterarbeitete. Von ihr ausgehend soll nach dem oben zitierten Bericht des al-Fārābī die Philosophie zunächst nach Antiochien im heutigen Syrien sowie nach Ḥarrān in der südlichen Türkei gewandert sein, bevor sie im 9./10. Jahrhundert in Baġdād eine neue Heimat fand. Das wird durch die vorhandenen Übersetzungen insofern bestätigt, als neben Werken des Aristoteles zahlreiche spätantike Texte neuplatonischen Charakters ins Arabische übertragen wurden. „Die Araber empfingen nicht einen voraussetzungslosen Aristoteles, sondern dessen neuplatonische Interpretation.“18 Grundsätzlich fällt allerdings auf, dass die im Arabischen vorhandenen Texte sich fast durchweg als Beiträge zu einer aristotelischen Philosophie verstehen. Das für den Neuplatonismus charakteristische Selbstverständnis, eigentlich Auslegung Platons zu sein, lässt sich in ihnen kaum mehr finden. Originalwerke Platons und Kommentare zu ihnen wurden nur in begrenztem Maße übersetzt und spielten eine vergleichsweise geringe Rolle, während die nicht- und vorneuplatonischen Aristotelesausleger Alexander von Aphrodisias und Themistios einige Aufmerksamkeit fanden. Einiges Licht auf die Ursachen für diesen Unterschied zwischen spätantiker und arabischer Philosophie ergibt sich aus einem Blick auf die griechischen und syrischen Lernumfelder zwischen ca. 500 und 800, soweit uns diese bekannt sind. 2.1.2 Gab es einen griechischen Aristotelismus am Ausgang der Antike?
Im griechischen Sprachraum fällt auf, dass uns bereits aus der Schule von Alexandrien nur wenige Platon-Interpretationen, dafür aber sehr viele Aristoteles-Deutungen erhalten sind. Die Philosophiegeschichte des Athener Neuplatonikers Damaskios (ca. 462–538) bestätigt, dass die führende Gestalt unter den Alexandriner Philosophen, Ammonios (ca. 435–nach 517), Sohn des Hermeias, sich vorwiegend mit Aristoteles beschäftigte. Die
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Eine auch nur einigermaßen angemessene Einführung in das Denken Plotins kann hier nicht gegeben werden; vgl. dazu Tornau, Einleitung; Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus. Endress, Die wissenschaftliche Literatur [2], S. 25.
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Gründe hierfür sind nicht ganz klar, denn ebenso wie Damaskios sehen die meisten modernen Neuplatonismusforscher, im Anschluss an eine grundlegende Arbeit von Ilsetraut Hadot,19 eine prinzipielle geistige und inhaltliche Einheit zwischen den Philosophenschulen von Athen und Alexandrien. Daher erklären einige die Beschränkung der Alexandriner auf Aristoteles entweder durch eine Art Arbeitsteilung zwischen den Athener und Alexandriner Kollegen, durch das persönliche Interesse des Ammonios oder durch Rücksichtnahme auf das christliche Umfeld in Alexandrien. Ihnen schließt sich unter anderem der Islamwissenschaftler Gerhard Endress an: „Ammonios war Aristoteles-Spezialist, aber das Zurücktreten seiner Platon-Kommentierung gegenüber den Werken der großen Athener läßt nicht auf einen Bruch mit der platonischen Tradition schließen.“20 Während auch er also einen besonderen, eher aristotelischen Charakter der alexandrinischen Schule, wie ihn Karl Praechter 1910 vermutet hatte,21 eher ablehnt, betonen neuerdings Wissenschaftler, die sich intensiv mit der arabischen Philosophie auseinandergesetzt haben, eher die Eigenständigkeit von Ammonios’ Position. Robert Wisnovsky leitet diese besondere Rolle des Aristoteles aus der inneren Dynamik des Neuplatonismus selbst ab: Auf die Etablierung der „größeren Harmonie“ zwischen Platon und Aristoteles bei den Athener Neuplatonikern des 5. Jahrhunderts sei im Umfeld des Ammonios die Ausarbeitung der „kleineren Harmonie“ erfolgt, nämlich der Nachweis, dass alle Aussagen des Aristoteles mit denjenigen Aussagen übereinstimmten, die ihn besonders nah an Platon gerückt hätten. Das Ergebnis dieses Projekts nennt er „ammonianische Synthese“, wobei er deren „erschöpfende Beschreibung“ als „Aufgabe für Spezialisten im griechischen Neuplatonismus“ ansieht.22 Dagegen spricht Cristina D’Ancona Costa lediglich von „einem faktischen Primat des Aristoteles in der philosophischen Tradition Alexandriens“. Dieser habe sich besonders aus der Bedeutung der aristotelischen Physik und Metaphysik für die theologischen Fragen nach der Ewigkeit der Welt und der Wirkursächlichkeit des ersten Prinzips ergeben, die auch für die zeitgenössischen Christen wichtig gewesen seien.23 Als Paradebeispiel gilt ihr der Streit des Christen Johannes Philoponos (ca. 500–575) und des Neuplatonikers Simplikios (intensivste Schaffensperiode zwischen 530 und 540) über die Ewigkeit der Welt, der vorwiegend anhand von Aristoteles’ Physik ausgetragen wurde.24 Derartige Überlegungen geben nützliche Hinweise, um die Entstehung der besonderen Wertschätzung für Aristoteles zu verstehen, die der arabischen Übersetzungsbewegung zugrunde liegt. Man wird allerdings vorsichtig sein müssen, diese Entwicklung bereits ins Zeitalter des Ammonios im 5./6. Jahrhundert zu datieren, also in die Zeit einer lebendigen neuplatonischen Schultradition. So lässt der von Gutas zitierte Alexandriner Kategorien-Kommentator Olympiodor, wohl ein Schüler von Ammonios, noch klar einen Vorrang Platons gegenüber Aristoteles erkennen, gerade weil Platon ohne die wissenschaftliche Methodik des Aristoteles die Wahrheit erkannt habe.25 Die eigentliche Bedeutung des Stagiriten ist demnach in der Herausarbeitung eines klaren Wissen-
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Hadot, Le problème du néoplatonisme Alexandrin. Endress, Die wissenschaftliche Literatur [1], S. 403f. Praechter, Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. Wisnovsky, Avicenna’s Metaphysics in Context, S. 15 und 64; Wisnovsky, Avicenna and the Avicennian Tradition, hier insbesondere S. 97f.; kritisch hierzu Perkams, Selbstbewusstsein in der Spätantike, S. 18–21 und 74–76. D’Ancona, Le traduzioni di opere greche e la formazione del corpus filosofico arabo, hier S. 189; vgl. auch D’Ancona, La filosofia della tarda antichità e la formazione della falsafa, S. 5–47. Zu diesem Streit vgl. jetzt Golitsis, Les commentaires de Simplicius et de Jean Philopon, S. 124–195. Olympiodor, Logicae Prolegomena, S. 17f.
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schaftsbegriffs zu sehen.26 Die daraus resultierende Wertschätzung scheint unter anderem dazu geführt zu haben, dass das reguläre Medizinstudium anhand der Werke Galens mit Studien der aristotelischen Logik anhand von Kategorien, Hermeneutik, Analytica priora I 1–7 und wohl auch Analytica posteriora begann.27 Vor diesem Hintergrund könnten auch die spätesten erhaltenen griechischen Einleitungen zu Aristoteles, von den kaum bekannten Autoren David und Elias, verfasst worden sein, deren Klassifizierung der Wissenschaften, über syrische Zwischenstufen, das arabische Denken beeinflusste.28 Die Entwicklung der griechischen Aristoteles-Kommentare vom Ende der Antike bis zur arabischen Rezeption lässt sich auch an den Erklärungen eines nichtlogischen Werks nachvollziehen, nämlich an denen von Aristoteles’ Schrift Über die Seele (De anima). Aus der Zeit kurz nach 500 sind uns zwei sehr verschiedene Auslegungen dieses Werkes überliefert: Der Kommentar des Priskian von Lydien, der in den Handschriften dem Simplikios zugeschrieben wird, interpretiert bewusst von den neuplatonischen Voraussetzungen des Jamblich von Chalkis her, während der Kommentar des Johannes Philoponos, der direkt auf die Vorlesungen des Ammonios zurückgeht, aristotelische Anliegen deutlich ernster nimmt, obwohl er nach wie vor den neuplatonischen Denkhorizont erkennen lässt. In dem nächsten erhaltenen Kommentar, der um 600 von Stephanos von Alexandrien verfasst wurde, stehen hingegen neuplatonische Elemente vermischt mit Aussagen anderer Provenienz, vereinzelt auch mit christlichen Einsprengseln.29 Schließlich ist uns auf Arabisch eine De anima-Paraphrase erhalten, die auf ein verlorenes griechisches Original zurückgeht, das sich in die Zeit nach Stephanos datieren lässt, also vermutlich ins 7. bis 8. Jahrhundert, und selbst mit der Einführungsliteratur von Elias und David arbeitete.30 Diese Paraphrase scheint interessanterweise wieder eine stark neuplatonisch akzentuierende Interpretation zu bieten.31 Möglicherweise war diese Position mit dem christlichen Interesse an der Unsterblichkeit der Seele kompatibel, das zum Beispiel bei der Interpretation von De anima III.4 in den Vordergrund tritt.32 In jedem Fall hat diese neoplatonisierende Paraphrase die arabische Tradition maßgeblich beeinflusst, da sie früher übersetzt wurde als De anima selbst und auch die spätere Rezeption dieses Werkes beeinflusste.33 2.1.3 Philosophie und christliche Theologie im syrischsprachigen Raum
Eine weitere philosophische Entwicklung, die die Araber beeinflusste, fand im Vorderen Orient selbst statt, wie das einführende Zitat al-Fārābīs schon andeutete.34 Am Ausgang der Antike hat es hier an verschiedenen Orten philosophische Studien gegeben. Gut bezeugt sind die intellektuellen Interessen des persischen Königs Kosrau (Chosroes) III. 26 27 28 29
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Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 201–206. Gutas, The From Alexandria to Bagdad Complex of Narratives. Vgl. den Abschnitt zum syrischen Aristotelismus. Perkams, Selbstbewusstsein in der Spätantike, S. 278–280; Charakterisierungen von Stephanos’ Kommentar geben W. Charlton, Introduction, S. 5–12, und (mit Hinblick auf christliche Elemente) Westerink, The Alexandrian Commentators and the Introductions to their Commentaries. Arnzen, Aristoteles’ De anima, S. 92–95 und 104. Arnzen, Aristoteles’ De anima, S. 119, zu S. 216 der deutschen Übersetzung bzw. S. 217.3–8 des arabischen Textes. Ebd., vgl. besonders S. 308 der deutschen Übersetzung und S. 309 des arabischen Textes. Siehe unten S. 133f. Zur eher symbolischen Bedeutung der hier erwähnten Ortsnamen Antiochia und Ḥarrān siehe Lameer, From Alexandria to Baghdad, S. 189f. Vgl. aber die Bemerkung im Kapitel über die Geschichte der islamischen Philosophie oben S. 36f.
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Anuširwan (531–579). Kurz nach der Schließung der philosophischen Schule von Athen im Jahre 529 nahm deren letzter Leiter, Damaskios, zusammen mit den Aristoteles-Kommentatoren Simplikios, Priskian von Lydien und weiteren neuplatonischen Philosophen, hier für kurze Zeit seine Zuflucht.35 Neben dem Bericht des griechischen Historikers Agathias hierüber bezeugen auch Priskians erhaltene „Erklärungen der Punkte, über die der Perserkönig Chosroes zweifelte“36 sowie die Widmungen logischer Schriften des gleich näher zu besprechenden Denkers Paul der Perser37 die philosophische Neugierde dieses Herrschers. Inwieweit sie eine Fortsetzung in den folgenden Jahrhunderten fand, ist aber nicht recht klar.38 Das gleiche gilt für eine philosophische Tradition in der von al-Fārābī erwähnten Stadt Ḥarrān in der Südosttürkei. Die Existenz einer fruchtbaren philosophischen Tradition an diesem Ort ist neuerdings bezweifelt worden.39 Nachweisbare philosophische Aktivitäten entwickelten in diesen Jahrhunderten aber die semitischen Christen des Vorderen Orients. Ihre Sprache war das Syrische, eine heute nur lokal und stark verändert überlebende Variante des Aramäischen, die im 1. Jahrtausend in weiten Teilen des Vorderen Orients gesprochen wurde. Viele syrische Christen, die bis ins 7. Jahrhundert zum großen Teil im Byzantinischen Reich lebten,40 studierten in Alexandrien und führten die dort gewonnenen Erkenntnisse jahrhundertelang selbständig weiter.41 Dadurch spielen sie eine wichtige Rolle in der Überlieferung antiken Wissens, insbesondere auch im Hinblick auf das Studium des Aristoteles. „Weil das siebte Jahrhundert anscheinend eine Tiefebbe in der Geschichte griechischen aristotelischen Denkens erlebte, ist der Beitrag syrischer Denker von besonderer Relevanz für die Geistesgeschichte.“42 Die Wertschätzung des Aristoteles im syrischen Bereich ist durch lobende Erwähnungen bei verschiedenen Autoren bezeugt.43 Neben Fragmenten spätantiker Viten spielten hierfür Einführungen eine Rolle, mit denen in Alexandrien die Lektüre von dessen Werken eingeleitet wurde.44 Nachweislich übersetzte der bereits erwähnte Paul der Perser, ein ostsyrischer Christ im 6. Jahrhundert, eine Einführungsschrift aus dem Umfeld der Alexandriner Philosophen David und Elias ins Syrische. Diese Schrift wurde im frühen 10. Jahrhundert ins Arabische übertragen und von al-Fārābī und Miskawayh direkt rezi-
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Detaillierte Überblicke hierzu geben Hartmann, Geist im Exil; Hoffmann, Damascius. Prisciani philosophi solutiones eorum de quibus dubitavit Chosroes Persarum Rex. Das Werk ist nur in einer lateinischen Übersetzung aus der Karolingerzeit erhalten. Vgl. dazu Gutas, Paul the Persian and the classification of the parts of Aristotle’s Philosophy, S. 238 und 246f. Jedenfalls soll das früheste erhaltene arabische Kompendium der aristotelischen Logik durch Ibn al-Muqaffaʿ aus dem Persischen übersetzt sein; siehe oben S. 117. Lameer, From Alexandria to Baghdad, S. 186–188. Zu der Vermutung, dass die nach Persien geflohenen Philosophen um Damaskios sich später hier niederließen, vgl. zudem Luna, Rezension zu R. Thiel, Simplikios und das Ende der neuplatonischen Schule in Athen. Diese, die sogenannten „Westsyrer“, waren meistens monophysitische Jakobiten, während die ursprünglich im Perserreich ansässigen Christen, die „Ostsyrer“, der Konfession der Nestorianer angehörten. Beide betrieben philosophische Studien. Zum Überlieferungsstand siehe Endress, Die wissenschaftliche Literatur [1], S. 407–411. Den wohl besten Überblick über die griechisch-syrischen Übersetzungen und die syrische Bildungstradition gibt D’Ancona, Le traduzioni di opere greche e la formazione del corpus filosofico arabo, S. 180–258, besonders 180–191. Vgl. daneben im selben Band Bettiolo, Scuole e ambienti intellectuali nelle chiese di Siria, S. 48–100. Brock, The Syriac Commentary Tradition, hier S. 8f. Den breitesten Überblick gibt Bettiolo, Scuole e ambienti intellectuali nelle chiese di Siria, S. 93–97; weiterhin Gutas, Paul the Persian and the classification of the parts of Aristotle’s Philosophy, S. 233 sowie Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 205 (mit Übersetzung eines wichtigen Textes von Paul dem Perser). Eine im Detail überholte, aber immer noch informative Übersicht bietet Baumstark, Syrisch-arabische Biographieen des Aristoteles. Den besten Überblick über die arabischen und syrischen Aristoteles-Viten, die auf einen spätantiken Autor namens Ptolemaios zurückgehen, gibt Düring, Aristotle in the Ancient Biographical Tradition, S. 184–246 und 470f., der sie alle ins Englische übersetzt.
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piert. „Al-Fārābī nimmt für das gesamte Kapitel zur Logik in seinem Iḥṣāʾ al-ʿulūm den entsprechenden Abschnitt aus Pauls Einführung zu den Werken des Aristoteles als Vorlage.“45 Die wohl erste und wichtigste systematische Klassifizierung aller Wissensbereiche in der arabischen Philosophie ist demnach direkt von einer syrischen Zwischenstufe inspiriert, die ihrerseits spätalexandrinische Gedanken zu Aristoteles nur leicht variiert.46 Die Aristoteles-Studien der Syrer selbst scheinen allerdings weitgehend auf logische Probleme begrenzt gewesen zu sein: Al-Fārābī berichtet von einem Beschluss christlicher Bischöfe, die aristotelische Logik nur bis zu den „Schlussfiguren aus die Existenz aussagenden Prämissen“ (al-aškāl al-wuǧūdīya) öffentlich zu unterrichten. Gemeint ist wiederum das Kapitel Analytica priora I 7, an dem die Behandlung der Syllogismen mit faktischen Prämissen endet und diejenige der modalen Syllogismen beginnt.47 In der Tat endet eine der beiden erhaltenen syrischen Übersetzungen der Analytica priora an dieser Stelle. Doch studierten zumindest einige Syrer das gesamte Werk, wie eine erhaltene vollständige Übersetzung mit Kommentar bezeugt, die zu Beginn des 8. Jahrhunderts von einem Denker namens Georg der Araberbischof angefertigt wurde.48 Von den früheren Werken des Organon in der Reihenfolge des spätantiken Lektürekanons (den Kategorien und der Hermeneutik) sind syrische Übersetzungen ebenfalls erhalten; von den späteren sind sie verloren, aber bezeugt.49 Interessanterweise scheint es hingegen in den ersten syrischen Jahrhunderten keine intensive Beschäftigung mit den naturwissenschaftlichen und ethischen Schriften des Aristoteles sowie mit De anima und der Metaphysik gegeben zu haben.50 Die arabischen Übersetzungen dieser Werke sind entweder nicht aufgrund syrischer Vorlagen entstanden, oder diese wurden für die Weiterübersetzung ins Arabische angefertigt.51 An ihrer Stelle wurden freilich teilweise andere Schriften übersetzt, mit deren Hilfe kosmologische und metaphysische Fragen studiert werden konnten. Die meisten dieser Texte, die später fast durchweg ins Arabische übertragen wurden, stehen ebenfalls in einem Zusammenhang mit der aristotelischen Tradition. Beispiele sind die pseudoaristotelische Schrift über den Kosmos, die unter dem Namen De mundo bekannt ist,52 eine weitere Schrift über den Kosmos des Aristotelikers Alexander von Aphrodisias, die nur auf Syrisch und Arabisch erhalten ist,53 eine nur in Auszügen erhaltene Gesamtdarstellung der aristotelischen Philosophie durch Nikolaus von Damaskus,54 ein wohl verlorener 45 46
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Gutas, Paul the Persian and the classification of the parts of Aristotle’s Philosophy, Zitat S. 255; Baumstark, Syrisch-arabische Biographieen des Aristoteles, S. 160–166. Zur Bedeutung von al-Fārābīs Klassifikation der Wissenschaften vgl. neben dem zitierten Artikel von Gutas C. Martini Bonadeo/C. Ferrari, Al-Fārābī, besonders S. 387–390; Rudolph, Islamische Philosophie, S. 31f., sowie die Bemerkungen im Kapitel über die Bedeutung der islamischen Philosophie, S. 19–21. Die Formulierung „Schlussfiguren aus Existenzprämissen“ (al-aškāl al-wuǧūdīya) ist wohl eine wörtliche Übersetzung von ta schēmata tōn hyparchūsōn protaseōn (Philoponus, In Analytica priora, S. 119.4). – Al-Fārābīs Bericht dürfte besagen, dass der öffentliche Unterricht an dieser Stelle endete; Gutas, The from Alexandria to Bagdad Complex of Narratives. Brock, The Syriac Commentary Tradition, S. 4; Lameer, Al-Fārābī and Aristotelian Syllogistics, S. 2. Zu Georg, der auf Italienisch kaum weniger beeindruckend Giorgio delle Nazioni heißt, vgl. die kuriose Notiz von P. Bruns in S. Döpp/W. Geerlings, Lexikon der antiken christlichen Literatur, S. 251, der zufolge dieser die philosophischen Werke „auf seinen zahlreichen Visitationen“ verfasst haben soll. Brock, The Syriac Commentary Tradition, S. 4f. Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 16f. So kann man z. B. die im Fihrist erwähnte Übersetzung von De anima ins Syrische verstehen: Ibn an-Nadīm, K. al-fihrist, S. 251.11. Endress, Die wissenschaftliche Literatur [1], S. 409. Vgl. die Beschreibung im Abschnitt über die Übersetzungen einzelner Werke. Endress, Die wissenschaftliche Literatur [1], S. 410.
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Kommentar des Simplikios zu Aristoteles’ De anima55 sowie die Eisagoge des Porphyrios von Tyros56. Dieses Werk, das in Alexandrien als Einführung zu allen aristotelischen Schriften diente, wurde üblicherweise zusammen mit Aristoteles’ Kategorien studiert, gehört also zum logischen Curriculum. Die Bedeutung der Syrer für die Übersetzungen ins Arabische liegt also nicht primär darin, dass alle aristotelischen Schriften im 9. Jahrhundert bereits auf Syrisch vorlagen und nur weiter ins Arabische übersetzt wurden. Eher ist die persönliche Rolle einiger Syrer für den Beginn des arabischen philosophischen Denkens zu beachten: Neben ihrer Leistung als Übersetzer aus dem Griechischen ins Arabische57 dürfte die Bedeutung syrischer Christen darin gelegen haben, dass sie auch im 8. und 9. Jahrhundert noch eine lebendige Tradition philosophischen Unterrichts besaßen, in der sie interessierte Muslime unterrichten konnten, so wie es al-Fārābī in seinem Bericht bezeugt. 2.2 Die Übersetzungen philosophischer Texte ins Arabische
Damit ist die geistige Situation umrissen, unter deren Voraussetzungen zur Zeit des alKindī eine intensive Übersetzungsarbeit an philosophischen Texten begann: Während das griechische philosophische Studium sich nur noch in einzelnen Arbeiten manifestierte, lebte in den syrischen Kirchen eine aktive Lehrtradition fort. Die bei ihnen und in den griechischen Kulturzentren wie Alexandrien und Damaskus vorhandenen Bibliotheken dürften zudem noch reichlich Material enthalten haben, auf das sich die Übersetzer stützen konnten. Zudem lagen, wie bereits erwähnt, einige aristotelische Werke – vor allem das Organon und die Physik – in ersten Übersetzungen vor, die zu neuen Arbeiten anregen konnten. 2.2.1 Übersetzungen im Umfeld von al-Kindī
Der erste philosophisch bedeutende Übersetzerzirkel bildete sich, wie oben schon geschildert, um al-Kindī. Die Leistung dieses Kreises besteht in einer beträchtlichen Erweiterung der zur Verfügung stehenden philosophischen Texte einerseits um neuplatonische Werke, andererseits um solche, die auf Aristoteles zurückführbar sind. Eine ganze Reihe von Übersetzungen aus diesem Umfeld ist vorwiegend von Gerhard Endress identifiziert sowie stilistisch und philosophisch untersucht worden:58 1. Aristoteles’ Analytica priora, übersetzt von Yūḥannā b. al-Biṭrīq, heute verloren. 2. Aristoteles’ De caelo, übersetzt von Yūḥannā b. al-Biṭrīq. 3. (Ein spätantikes Kompendium von) Aristoteles’ Meteorologie, übersetzt von Yūḥannā b. al-Biṭrīq. 4. Aristoteles’ Physik, heute verloren, angeblich vom selben Übersetzer wie De caelo.59 5. Aristoteles’ Metaphysik, übersetzt von Usṭāṯ (Eustathios).
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Ibn an-Nadīm, K. al-fihrist, S. 251, 14f. Es handelt sich wahrscheinlich nicht um den auf Griechisch erhaltenen Kommentar, der heute meist dem Simplikios abgesprochen wird. Kontroverse Positionen dazu z. B. bei Hadot, Simplicius or Priscianus? On the Author of the Commentary on Aristotle’s De anima (CAG 11); Perkams, Priscian of Lydia, Commentator on the De anima in the Tradition of Iamblichus. D’Ancona, Le traduzioni di opere greche, S. 186. Vgl. dazu unten im Abschnitt über die einzelnen Übersetzungen. Die grundlegende Untersuchung ist Endress, Proclus Arabus. Zwanzig Abschnitte aus der Institutio theologica in arabischer Übersetzung. Die folgende Zusammenstellung folgt der aktuellsten und handlichsten Zusammenfassung in Endress, The Circle of al-Kindī, S. 52–58. Siehe unten S. 132f.
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6. Die bereits erwähnte, im Griechischen verlorene Paraphrase von Aristoteles’ De anima, deren Übersetzer nicht sicher zu identifizieren ist.60 7. Aristoteles’ Nikomachische Ethik, übersetzt von Usṭāṯ (Eustathios). Die Übersetzung zu Buch V-X ist erhalten.61 8. Platons Timaios, übersetzt von Yūḥannā b. al-Biṭrīq, heute verloren. 9. Die im Neuplatonismus populäre Einführung in die Mathematik des Nikomachos von Gerasa, nach einer Übersetzung von Ḥabīb b. Bihrīz bearbeitet von al-Kindī selbst. 10. Eine Übersetzung von Plotin, Enneaden IV-VI, die vorwiegend, aber nicht ausschließlich in der bearbeiteten Kompilation Theologie des Aristoteles greifbar ist. Übersetzer und wohl auch Bearbeiter war ʿAbd al-Maṣīh b. Nā ʿima aus dem syrischen Ḥims (Homs). 11. Eine Sammlung von Extrakten aus Proklos’ Theologischer Elementarlehre, die teils in den verschiedenen Versionen des Liber de causis und teils separat überliefert ist, verwirrenderweise vermischt mit Texten des Alexander von Aphrodisias, unter dessen Namen die ganze Sammlung steht. Diese Schriften, denen möglicherweise noch Übersetzungen von Aristoteles’ zoologischen Schriften und den Parva Naturalia hinzuzufügen sind, wurden wohl in der Regel direkt aus dem Griechischen übersetzt. Endress hebt insbesondere die Leistung dieses Übersetzerzirkels für die Entstehung einer konsistenten arabischen philosophischen Terminologie hervor. Von ihm wurde eine Reihe wichtiger arabischer Begriffe geprägt, die in den folgenden Texten zusehends systematisches Gewicht erhielten:62 Ein Beispiel ist māhīya, ein Lehnwort vom arabischen mā, „was“, das auf Deutsch als „Washeit“ nachgebildet werden kann; es diente zunächst als Übersetzung von Wendungen wie to ti esti – „das Was-es-ist“, wobei es weitere Abstrakta wie annīya für to einai und huwīya für to on begleitete.63 Insbesondere māhīya entwickelte sich zu einem der wichtigsten Begriffe für „Essenz“ im avicennischen Denken und erreichte als quidditas auch den lateinischen Raum. Ein anderes Beispiel ist das Wort tamām, „Vollendung“, als Übersetzung für den aristotelischen Terminus Entelecheia, das einer neuplatonischen Deutung der aristotelischen Seelenkonzeption Vorschub leistete.64 Die weitreichenden philosophischen Implikationen dieser Beispiele, die sich leicht vermehren lassen, zeigen die tiefgreifenden Veränderungen der philosophischen Terminologie durch die Übertragung ins Arabische. Seinen größten Einfluss übte al-Kindīs Umfeld jedoch nicht durch die Übersetzungen aus, sondern durch deren philosophische Bearbeitung, aufgrund derer sich einige Werke aus diesem Kreis nicht unwesentlich von ihren griechischen Vorlagen unterscheiden. Am deutlichsten ist dies im Falle der neuplatonischen Kompilationen Theologie des Aristoteles und Liber de causis, die sowohl Aristoteles zugeschrieben als auch um aristotelisches Material ergänzt wurden,65 das freilich selbst wieder neuplatonisch überformt ist. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn die Seele nicht so wie eine natürliche Form Entelechie (tamām) sein soll, sondern nur, „weil sie den Körper so vollendet (yutammimu), dass er mit sinnlicher Wahrnehmung und Intellekt versehen wird“ – was bedeutet, dass die Seele trotz
60 61 62 63 64 65
Eventuell auch die erhaltene anonyme Übersetzung von De anima selbst; siehe unten S. 133. Schmidt/van Ess, Aristoteles in Fes, S. 12–14. Eine ausführliche, sehr aufschlussreiche Liste weiterer Besonderheiten bietet Endress, Proclus Arabus. Zwanzig Abschnitte aus der Institutio theologica in arabischer Übersetzung, S. 58–62. Endress, Die wissenschaftliche Literatur [2], S. 19–21. Vgl. dazu Wisnovsky, Avicenna’s Metaphysics in Context, S. 99–104. Vgl. hierzu den Artikel von Rotraud Hansberger in diesem Band; ferner Adamson, The Arabic Plotinus.
Die Übersetzung philosophischer Texte aus dem Griechischen ins Arabische
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dieser funktionalen Verbindung zum Körper abgetrennt und unsterblich bleiben kann.66 Diesem neuplatonischen Aristotelismus entsprechen auch vom arabischen Bearbeiter eingefügte Ergänzungen in der genannten De anima-Paraphrase, die vermutlich auf Plotin zurückgehen;67 sogar die Gestalt von Usṭāṯs Übersetzung der aristotelischen Metaphysik könnte hiermit zu tun haben.68 Über diese Bezüge zum Neuplatonismus hinaus sind die Theologia Aristotelis und der Liber de causis auch an ein islamisches Umfeld angepasst, zum Beispiel durch Überlegungen zu einer direkten, nicht via einer stufenweisen Emanation verlaufenden, Schöpfung der Welt.69 Insgesamt erwecken diese Schriften den Eindruck, Aristoteles selbst habe neuplatonische Theoreme und eine mit monotheistischen Religionen (bedingt) vereinbare Schöpfungslehre vertreten. Dieser Eindruck trug entscheidend dazu bei, dass die arabische und zum Teil auch die mittelalterliche lateinische Philosophie ab dem 13. Jahrhundert aristotelische und neuplatonische Elemente zu philosophischen Synthesen verbanden, die mit den jeweiligen Religionen mehr oder weniger kompatibel waren, wie es die Beispiele von al-Fārābī, Avicenna, Averroes, Albertus Magnus oder Thomas von Aquin zeigen. 2.2.2 Die professionellen Übersetzer: Ḥunayn b. Isḥāq, Isḥāq b. Ḥunayn und ihr Umfeld
Die Arbeiten al-Kindīs beeinflussten nicht nur das philosophische Denken als solches, sondern festigten auch den Status der Philosophie als Wissenschaft. Entsprechend wuchs das Interesse an Übersetzungen weiterer oder auch an Verbesserungen der bereits vorliegenden Übersetzungen. Diesem Bedürfnis kamen in den folgenden Jahrzehnten zunächst nicht mehr Philosophen nach – offenbar fand al-Kindī in Baġdād kaum direkte Nachahmer –, sondern in erster Linie professionelle Übersetzer, deren Arbeit von interessierten Mitgliedern des Hofes und Privatleuten teuer bezahlt wurde.70 Die meisten von ihnen waren syrische Christen, die sich vorwiegend mit Medizin, aber zum Teil auch mit Mathematik und anderen Wissenschaften befassten. Der bekannteste ist ein jüngerer Zeitgenosse al-Kindīs, Ḥunayn b. Isḥāq (gestorben ca. 873), der mehr als 100 antike Texte ins Syrische und circa 30 ins Arabische übertrug.71 Sein Hauptarbeitsgebiet war die Medizin, und seine Auftraggeber dürften meistens syrischsprachige Ärzte gewesen sein;72 allerdings nahm die Zahl arabischer Auftraggeber im Laufe seines Lebens zu. Von seiner Hand haben wir eine ausführliche Schrift „Über die seines Wissens übersetzten Bücher Galens und einige der nicht übersetzten“, die uns einen interessanten Einblick in seiner Arbeitsweise verschafft.73 Hier hält Ḥunayn fest, „daß [...] wir und die übrigen [...] Leser von Büchern auf syrisch und arabisch das Bedürfnis haben zu erfahren, welche von jenen Büchern in die syrische und arabische Sprache übersetzt sind und welche nicht übersetzt sind, [...] von welchen von diesen Büchern, so weit sie bis zu diesem Zeitpunkte noch nicht übersetzt sind, eine Handschrift auf griechisch vorhanden ist, und von welchen von ihnen keine Handschrift vorhanden ist oder nur ein Stück. Denn dies ist etwas, was man braucht, um sich 66 67 68 69 70 71 72 73
Theologie des Aristoteles, S. 42 Dieterici = S. 55 Badawī; vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 50–55. Arnzen, Aristoteles’ De anima, S. 116–123; Adamson, The Arabic Plotinus, S. 63–69. Siehe unten S. 134–136. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 137–142. Zu den Mäzenen der Übersetzungstätigkeit siehe Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 121–150. Zu seiner Person siehe Strohmaier, Hunayn b. Ishāk al-ʿIbādī. Zur zentralen Rolle von Syrern in der Medizin im 10. Jahrhundert vgl. den von Meyerhof, Von Alexandrien nach Bagdad, S. 402f. zitierten Bericht. Mit deutscher Übersetzung herausgegeben als Ḥunain ibn Isḥāq über die syrischen und arabischen Galen-Übersetzungen. Zum ersten Mal herausgegeben und übersetzt von G. Bergsträsser, Leipzig 1925; zu einer zweiten Rezension vgl. Bergsträsser, Neue Materialien zu Ḥunain ibn Isḥāqs Galen-Biographie.
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um die Übersetzung der Bücher, die vorhanden sind, zu bemühen, und um die zu suchen, die nicht vorhanden sind.“74
Derartige Bemerkungen bezeugen das ausgeprägte bibliophile Interesse der damaligen Zeit, dessen bedeutendstes Zeugnis der Kitāb al-Fihrist des Ibn an-Nadīm aus dem Jahre 987/88 ist, ein Katalog der damals auf Arabisch und Syrisch vorliegenden Bücher, dem wir einen Großteil unserer Kenntnisse über die Übersetzungsliteratur verdanken.75 Das methodische Bewusstsein Ḥunayns erstreckte sich nicht nur auf die Frage nach den vorhandenen Büchern und deren Authentizität, sondern auch auf methodische Probleme wie die Gewinnung eines hinreichend zuverlässigen griechischen Textes. Hierzu benutzte er gerne mehrere Handschriften, auf deren Basis er zunächst einmal eine griechische Vorlage für seine Übersetzung schuf. Die Auffindung geeigneter Vorlagen war nicht immer leicht: „Bis zu diesem Zeitpunkt ist keinem von unseren Zeitgenossen eine vollständige Handschrift von Galens Buch Über den Beweis (Kitāb al-burhān) auf griechisch in die Hände gekommen. [...]. Ich habe [...], um es zu suchen, die Länder von ganz Mesopotamien und Syrien, Palästina und Ägypten bereist, bis ich nach Alexandrien gelangte, habe aber nichts davon gefunden, außer in Damaskus ungefähr die Hälfte davon, jedoch nicht aufeinanderfolgende und unvollständige Teile. [...] Dann habe ich, was ich gefunden hatte, ins Syrische übersetzt.“76
Dieses Selbstzeugnis zeigt nicht nur die Begeisterung und Akribie, mit der Ḥunayn seiner Aufgabe nachging.77 Sie ist auch philosophiehistorisch interessant, weil die so ins Syrische (und bald darauf ins Arabische) kommende, heute auf Griechisch verlorene GalenSchrift De demonstratione, die ihrerseits offenbar viel stoisches Material übermittelt, die arabische Beweislehre zunächst prägte. Erst Abū Bišr Mattās Übersetzung von Aristoteles’ Analytica posteriora, die auf Arabisch den gleichen Titel tragen wie Galens Werk, verhalf dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff zum Durchbruch.78 Neben der Vorbereitung des Textes unternahm Ḥunayn weitere Schritte zur Sicherung der Qualität seiner Arbeit. Lexikalischer Sicherheit dienten zum Beispiel griechisch-syrisch-arabische Wortverzeichnisse. Zudem gab es ein verstärktes Bemühen um Wörtlichkeit und Konsistenz der Übersetzungen. „Philologische Akribie, sprachliche Meisterschaft und vor allem die Sicherheit und Konsistenz in der Wiedergabe der Fachterminologie ließen seine Arbeiten zum Maßstab für die ganze Zunft werden.“79 Diese Meisterschaft wurde allerdings von Ḥunayn, wie schon angedeutet, weniger an philosophischen Übersetzungen ins Arabische gezeigt als an solchen medizinischer Werke. Dies änderte sich mit Ḥunayns Sohn Isḥāq b. Ḥunayn (gestorben ca. 910).80 Die Übersetzungen beider, von denen viele auch ganz verloren sind, lassen sich allerdings meistens nur schwer unterscheiden. So nennt der Fihrist Ḥunayn als Übersetzer von Aristoteles’ Kategorien, während die einzig erhaltene Handschrift diese Übersetzung Isḥāq zuschreibt.81 Derartige Schwierigkeiten liegen nicht nur an der Ähnlichkeit der Namen, sondern vor allem wohl daran, dass Isḥāq häufig syrische Übersetzungen seines Vaters 74 75 76 77 78 79 80 81
Bergsträsser, Ḥunain ibn Isḥāq über die syrischen und arabischen Galen-Übersetzungen, S. 1, in dessen Übersetzung. Fück, Ibn an-Nadīm. Ḥunayn, Über die seines Wissens übersetzten Bücher, Nr. 115; Bergstraesser, Ḥunain ibn Isḥāq über die syrischen und arabischen Galen-Übersetzungen, S. 47, in dessen Übersetzung. Vgl. aber die vorsichtigen Bemerkungen von Hugonnard Roche, Les traductions du syriaque, S. 23f. Zimmermann, Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De interpretation, S. lxxxi. Endress, Die wissenschaftliche Literatur [1], S. 425. Strohmaier, Isḥāk b. Ḥunayn. Ibn an-Nadīm, K. al-fihrist, S. 248.20; D’Ancona, Le traduzioni di opere greche, S. 221.
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ins Arabische übertrug oder dessen arabische Übersetzungen neu bearbeitete. An diesem Prozess waren zudem noch weitere, zum Teil namentlich bekannte Übersetzer beteiligt, die anscheinend eine Art Werkstattgemeinschaft bildeten; von ihnen sei hier nur Abū ʿUṯmān ad-Dimašqī genannt, der unter anderem Aristoteles’ Topik und Alexander von Aphrodisias’ Schrift Über den Kosmos direkt aus dem Griechischen übersetzte; als sein Arbeitgeber ist ʿAlī b. ʿĪsā (gestorben 946), einer der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, bekannt.82 Ḥunayn und Isḥāq haben zusammen mit ihren Kollegen fast alle Schlüsseltexte der klassischen griechischen Philosophie übersetzt, wobei sie häufig alte Übersetzungen verbesserten. Neben zahlreichen Werken des Aristoteles, zu denen häufig Erklärungen von Alexander, Themistios und anderen hinzugefügt wurden, übersetzten sie auch einige platonische Werke wie die Politeia, den Timaios und die Nomoi, die jedoch keine weite Verbreitung fanden.83 Der Vorteil dieser Übersetzungen lag offenbar einerseits in ihrer Zuverlässigkeit84 und andererseits in ihrer verbesserten arabischen Stilistik, die sich positiv von den älteren Übersetzungen abhob. So wurden, um nur einige Beispiele zu nennen, Isḥāqs Übersetzungen von De interpretatione, der Physik und De anima85 die Standardreferenztexte für die weitere philosophische Arbeit, die im 10. und 11. Jahrhundert ihre höchste Blüte erreichte. 2.2.3 Abū Bišr Mattā und die Baġdāder Aristoteliker
Die letzte Phase der philosophischen Übersetzungstätigkeit steht wieder in engem Zusammenhang mit einem philosophischen Projekt, nämlich mit dem der Baġdāder Aristoteliker.86 Begonnen wurde diese Übersetzungstätigkeit von dem syrischen Aristoteliker Abū Bišr Mattā b. Yūnus (gestorben 940)87, dessen Werk sein Schüler Yaḥyā b. ʿAdī (gestorben 990)88 fortführte. Beide waren syrische Christen und übertrugen vorwiegend syrische Vorlagen ins Arabische, vermutlich wiederum viele von der Hand Ḥunayns b. Isḥāq. Ihr Programm bestand darin, Aristoteles als wissenschaftliche Autorität in einer Weise zu erschließen, die über die relativ begrenzten Arbeiten der früheren Syrer hinausging. Ihre Übersetzungen „repräsentieren eine Wiederbelebung der aristotelischen Studien, die, unter Zuhilfenahme der verfügbaren Kommentare von Alexander von Aphrodisias und Themistios, einen vollständigeren und authentischeren Aristoteles vorstellten, als er bis dahin arabischen Lesern bekannt gewesen war.“89 Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bildeten neue oder revidierte Übersetzungen der Schriften des Organons sowie verwandter, eher methodisch orientierter Schriften: So übersetzte Mattā die Analytica posteriora neu, die als Buch des Beweises (Kitāb al-burhān) bei seinen Schülern Yaḥyā und al-Fārābī zum Kerntext des Wissenschaftsverständnisses wurden.
82 83 84 85 86 87 88 89
Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 61 und 123. Die beste Übersicht über seine philosophischen Übersetzungen gibt meines Wissens D’Ancona, Le traduzioni delle opere greche, S. 220–225. Hugonnard Roche, Les traductions du syriaque, S. 35f. Vgl. auch das Zeugnis des Averroes unten S. 132. Zimmermann, Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De interpretation, S. lxviiif. und lxxix; Ivry, The Arabic Text of Aristotle’s De anima and its Translator. Vgl. die Bemerkungen zu ihnen im Kapitel „Historischer Überblick über die Geschichte der islamischen Philosophie“. Endress, Mattā b. Yūnus. Endress,Yaḥyā b. ʿAdī. Endress, Mattā b. Yūnus.
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„Al-Fārābīs Äußerungen der höchsten Wertschätzung dieses Werkes, die sich in seinen Schriften häufig wiederholen, spiegeln den Stolz der Gründer der aristotelischen Bewegung in Baġdād über die Leistung wider, diesen vergessenen Schatz zu seinem verdienten Ruhm verholfen zu haben.“90
Neben diesem Werk und den von Yaḥyā selbst übersetzten Sophistici elenchi wurde eine Fülle fast durchweg verlorener Übersetzungen zu verschiedenen Schriften des Aristoteles angefertigt, die zum Teil die vorhandenen Übersetzungen ergänzten. Ein gutes Beispiel dafür sind die teilweise erhaltenen Übersetzungen Mattās und Yaḥyās zu Buch Lambda der Metaphysik, einem zentralen Text für die philosophisch-theologische Diskussion.91 Ein nicht geringer Teil ihrer Bemühungen dürfte ferner darin bestanden haben, die teils schlecht überlieferten älteren Übersetzungen mithilfe syrischer Originale wiederherzustellen und mit Randnoten zu versehen.92 Eine solche Vorgehensweise bot sich wohl auch deswegen an, weil die gebürtigen Syrer zunächst nur begrenzte Arabischkenntnisse besaßen. Fritz Zimmermann hat Mattās Übersetzungswerk deswegen als „eine ungewöhnlich gewundene Übersetzung der Analytica posteriora und eine ungewöhnlich ungeschickte der Poetik“ charakterisiert.93 Das hinderte ihn und Yaḥyā nicht daran, erstmals nach vielen Jahrhunderten eine vollständige und mit Erläuterungen versehene Variante des Organon einschließlich der aristotelischen Rhetorik94 vorzulegen, die die tiefergehende inhaltliche Erschließung der Texte zunächst im arabischen, aber später auch im lateinischen Sprachraum ermöglichte. An der Verbesserung der auf Arabisch vorliegenden Aristotelestexte arbeiteten auch weitere Übersetzer des 10. Jahrhunderts mit, zum Beispiel Abū ʿAlī Naẓīf b. Ayman (Yumn?) ar-Rūmī, der das Buch Alpha Meizon, unser Buch I der aristotelischen Metaphysik, übersetzte.95 Derartige Bemühungen zeigen, dass die Übersetzung philosophischer Texte, die mit den neuplatonisch geprägten Arbeiten des al-Kindī-Zirkels voll einsetzte, mit einem Bemühen um Abrundung der auf Arabisch verfügbaren Kenntnis der aristotelischen Schriften endete. Mit wenigen Ausnahmen lagen zu diesem Zeitpunkt einige Texte von Platon und den Neuplatonikern, vor allem aber nahezu sämtliche Werke des Aristoteles mit vielen Erklärungen auf Arabisch vor.
3. Die arabischen Übersetzungen einzelner philosophischer Werke 3.1 Eigenart der arabischen Übersetzungen
Der komplexe Überlieferungs- und Bearbeitungsprozess führte allerdings dazu, dass die so entstandenen Übersetzungen teilweise recht deutlich von ihren griechischen Vorlagen abwichen– zumindest von derjenigen Form, in der wir diese heute kennen und benutzen. Das ergab sich im Wesentlichen aus drei Gründen: 90 91
92 93 94
95
Zimmermann, Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De interpretatione, S. cviii. Bertolacci, The Reception of Aristotle’s Metaphysics in Avicenna’s Kitāb al-Shifāʾ, S. 13–19. Al-Fārābī, Über die Ziele des Buches der Metaphysik, S. 56 [deutsch] bzw. S. 34 [arabisch]. Dieterici erwähnt beide Kommentare, nennt den Alexanders aber unvollständig. Zimmermann, Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De interpretatione, S. lxix. Ebd., S. lxxvi. Diese Werke bezeichnet Zimmermann, Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De interpretatione, S. lxxviiif. als „Baġdāder Schulkanon“; vgl. auch Endress, Die wissenschaftliche Literatur [2], S. 53f.; Ferrari, La scuola aristotelica di Bagdad, S. 365. Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 151; Bertolacci, The Reception of Aristotle’s Metaphysics in Avicenna’s Kitāb alShifāʾ, S. 12f.
Die Übersetzung philosophischer Texte aus dem Griechischen ins Arabische
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1. Der Kanon übersetzter Schriften war von dem heute bekannten verschieden. Die Araber kannten einige Werke, die wir nicht kennen, und andere, die wir kennen, kannten sie nicht. 2. Die auf Arabisch vorliegenden Werke wichen aus verschiedenen Gründen mehr oder weniger deutlich von ihren griechischen Vorlagen ab. Das kann die Zuschreibung an Autoren, Erweiterungen und Weglassungen in den griechischen Vorlagen, aber auch gezielte Bearbeitungen durch Syrer oder Araber betreffen. 3. Die Übersetzung aus einer indogermanischen Sprache wie dem Griechischen in eine semitische Sprache wie das Arabische stellte die Übersetzer vor eine sehr schwierige Aufgabe. Auch wenn diese teilweise brillant gelöst wurde, wurde doch eine neuartige Terminologie eingeführt, und auch ansonsten boten die übersetzten Texte ganz neue Interpretationsmöglichkeiten. Um zumindest einen kleinen Einblick in die so entstandene Problematik zu geben, soll nun noch kurz auf die wichtigsten Übersetzungen einzelner Werke sowie auf deren konkrete Übersetzer und Überlieferungswege eingegangen werden. Da der Liber de causis und die Theologia Aristotelis, also die Übersetzungen aus Proklos und Plotin, in einem eigenen Beitrag behandelt werden, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf Aristoteles sowie in zweiter Linie auf Alexander von Aphrodisias und Platon.96 Auf die sprachlichen Besonderheiten des Arabischen, über die sich schon al-Fārābī Gedanken machte, kann dabei leider kaum eingegangen werden.97 3.2 Aristoteles 3.2.1 Organon
Das Organon, also der logisch-methodische Grundkurs aristotelischer Schriften, umfasste bei den Baġdāder Aristotelikern, wie bereits angemerkt, nicht nur das bis heute wirksame alexandrinische Organon aus Kategorien, Hermeneutik, Analytica priora und posteriora sowie der Topik, sondern zusätzlich auch Rhetorik und Poetik.98 Dieses Organon lag den Arabern im uns bekannten Textumfang vor, zum Teil in mehreren Übersetzungen, die zumindest im 10./11. Jahrhundert noch beständig korrigiert und kommentiert wurden. Das bezeugt eine in Paris aufbewahrte Handschrift des kompletten Organon, die direkt aus der Schule von Baġdād stammt.99 Sie enthält arabische Übersetzungen aller Werke des Organon zusammen mit Randnotizen, die vor allem auf verlorene syrische und arabische Übersetzungen, zum Teil aber auch auf Kommentierungen der aristotelischen Schriften zurückgehen.
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98 99
Zum unübersichtlichen Feld der Aristoteles-Kommentare vgl. D’Ancona, Commenting on Aristotle, besonders die Synopse S. 250f. Hierzu sei stattdessen auf die hervorragende Übersicht von Endress, Die wissenschaftliche Literatur [2], S. 7–23 verwiesen; zu den Übersetzungen Isḥāqs und seines Umfeldes siehe ferner Hugonnard-Roche, Les traductions du syriaque. Ibn an-Nadīm, K. al-fihrist, S. 248.16–19. Eine nützliche Charakterisierung bietet Hugonnard-Roche, Remarques sur la tradition arabe de l’Organon d’après le manuscrit Paris, Bibliothèque nationale, ar. 2346. Sämtliche Texte wurden herausgegeben von A. Badawī, Mantiq Aristū. Zu den Kategorien vgl. ferner Georr, Les catégories d’Aristote dans leurs versions Syro-Arabes; die Rhetorik ferner von Lyons, Aristotle’s Ars rhetorica. The Arabic Version.
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Die Übersetzungen stammen, den Angaben der Handschrift zufolge, von verschiedenen Autoren: Die Kategorien (DPA I, S. 510f.)100 und De interpretatione von Isḥāq b. Ḥunayn (DPA I, S. 514f.), die Analytica priora von einem nicht näher bekannten at-Taḏarī (DPA I, S. 517f.), die Analytica posteriora101 und die Poetik von Abū Bišr Mattā (DPA Suppl., S. 211f.), die Sophistici elenchi in nicht weniger als drei Versionen (DPA I, S. 527f.), die Topik von Abū ʿUṯmān ad-Dimašqī und Ibrāhīm b. ʿAbd Allāh (DPA I, S. 525), die Rhetorik in einer anonymen Version, die älter ist als Isḥāq (DPA I, S. 457–460). Bei at-Taḏarīs Version der Analytica priora könnte es sich um eine Bearbeitung von Isḥāqs Version handeln.102 Bei der Rhetorik fällt auf, dass trotz der begrenzten Qualität der alten Übersetzung – sie ist „im Allgemeinen sehr dunkel“ – sowohl hier als auch in Averroes’ Kommentar an dieser festgehalten wird.103 Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass selbst im Baġdād des 10. Jahrhunderts nicht alle angefertigten und im Fihrist bezeugten Übersetzungen tatsächlich verfügbar waren. Für die Sophistici elenchi sind derartige Schwierigkeiten ausdrücklich bezeugt.104 3.2.2 Naturwissenschaftliche Schriften
Zu den naturwissenschaftlichen Schriften rechnet das alexandrinische Curriculum neben der Physik auch die Schrift Über den Himmel (De caelo) und Meteorologie (Meteorologica). Sie alle waren den Arabern bekannt und wurden benutzt, doch war der Zustand der Übersetzungen sehr unterschiedlich. Die Übersetzung der Physik (DPA Suppl., S. 269f.) durch Isḥāq b. Ḥunayn liegt vollständig in einer Leidener Handschrift vor, die dem Pariser Organonmanuskript vergleichbar ist.105 Die Handschrift enthält ebenfalls Zitate aus den verlorenen Übersetzungen des Qusṭā b. Lūqā und Abū ʿUṯmān ad-Dimašqī; ganz verloren sind hingegen zwei bezeugte ältere Übersetzungen von Sallām al-Abraš (Ende 8. Jahrhundert) und Yūḥannā b. al-Biṭrīq (9. Jahrhundert).106 Die Randnotizen der Handschrift sind für den spätantiken Aristotelismus bedeutsam, weil sie, neben Erklärungen arabischer Autoren, auch ansonsten verlorene Stücke aus den Physik-Kommentaren des Alexander von Aphrodisias und Johannes Philoponos enthalten.107 Für die übrigen naturwissenschaftlichen Schriften ist die Situation komplizierter: Von De caelo (DPA Suppl., S. 284-286)108 sind in einer ganzen Reihe von Handschriften insgesamt drei unterschiedliche anonyme Versionen erhalten, deren genaues Verhältnis nicht ganz klar ist. Jedenfalls beklagt Averroes, nur die wenig zuverlässige Version (aus dem Umfeld) al-Kindīs, nicht aber eine bessere von Isḥāq zur Verfügung zu haben.109 Von De generatione et corruptione (DPA Suppl., S. 304-312) haben wir Informationen über drei im
100 Die
Abkürzungen DPA I und DPA Suppl. verweisen auf Band I und den Supplementband zum Dictionnaire des philosophes antiques, Ed. R. Goulet, Paris 1994 und 2003, wo man eine detaillierte Darstellung des jeweiligen Forschungsstandes mit Bibliographie findet. 101 Zu diesem Werk ist eine weitere anonyme Übersetzung in den Lemmata von Averroes’ Großem Kommentar zur Physik erhalten: Elamrani-Jamal, in: DPA I, S. 521–523. 102 Lameer, Al-Fārābī and Aristotelian Syllogistics, S. 4f.; genauer Hugonnard-Roche, Les traductions du syriaque, S. 41–45. 103 M. Aouad in Ibn Rušd, Commentaire moyen à la Rhétorique d’Aristote, S. 2. 104 Hugonnard-Roche, Les réfutations sophistiques, in: DPA I, S. 527. 105 Herausgegeben inklusive der Randnotizen von: Badawī, Arisṭūṭālīs, aṭ-Ṭabīʿa. 106 Siehe oben S. 117.125. 107 Neuerdings sind nennenswerte Auszüge aus diesem Kommentar auf Griechisch wiedergefunden und ediert worden: Rashed, Alexandre d’Aphrodise. 108 Der Eintrag gibt im Prinzip den provisorischen Bericht von Endress, Die arabischen Übersetzungen von Aristoteles’ Schrift De caelo, S. 189–191, wieder. 109 Ibn Rušd, Averrois Cordubensis commentum magnum super libro de celo et mundo Aristotelis, S. 567.45–47.
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Original verlorene arabische Übersetzungen, von denen aber nur diejenige Isḥāqs in lateinischer und hebräischer Tochterübersetzung erhalten ist.110 Die Meteorologica (DPA Suppl., S. 324-326) wurden überhaupt nur in Form spätantiker griechischer (oder syrischer?) Kompendien ins Arabische übersetzt, wobei sich zwei Versionen von Ibn al-Biṭrīq aus dem Umfeld al-Kindīs und von Ḥunayn b. Isḥāq unterscheiden lassen. „Im Vergleich zum griechischen Original ist die arabische Fassung ein neuer und nahezu unabhängiger Text mit eigenem Wortlaut, Formulierungen, einem persönlichen Interesse usw.“111 Ähnlich scheint die Situation bei den pseudoaristotelischen Problemata physica zu liegen. Auch hier gibt die arabische Übersetzung offensichtlich eine spätantike griechische Überarbeitung des uns erhaltenen Textes wieder.112 3.2.3 De anima und Schriften über Lebewesen
Aristoteles’ De anima (DPA Suppl., S. 346-351), eine der Schriften, die das arabische Denken am meisten angeregt haben, weist eine besonders komplizierte Rezeptionsgeschichte auf, die bis heute nicht vollständig geklärt ist.113 Im Kreis um al-Kindī wurde anscheinend zunächst nur die bereits erwähnte späte griechische Paraphrase mit einer neuplatonischen Deutung übersetzt.114 Der aristotelische Text selbst wurde erst später bekannt. Der Fihrist teilt hierzu mit, Ḥunayn b. Isḥāq habe das vollständige Werk ins Syrische und sein Sohn Isḥāq ins Arabische übersetzt. Allerdings soll er zunächst nur ein unvollständiges Exemplar übersetzt und dies dreißig Jahre später vervollständigt haben, und zwar unter Verwendung der Paraphrase des Themistios. Diese Angabe ist zumindest insoweit verwirrend, als Themistios’ Paraphrase keinen vollständigen Text von De anima enthält.115 Nicht klarer ist die handschriftliche Überlieferung: Die einzige komplett erhaltene arabische Übersetzung, die in der Handschrift dem Isḥāq zugeschrieben wird, passt stilistisch nicht zu diesem Autor. Es handelt sich offensichtlich um eine Übersetzung mit Elementen spätantiker Paraphrasierung,116 die eventuell doch auf den Kreis um al-Kindī zurückgehen könnte.117 Auf Isḥāq ist eher eine weitere Version zurückzuführen, die, so wie bei De generatione et corruptione, nur in Tochterübersetzungen auf Lateinisch und Hebräisch erhalten ist: Die Lemmata in Averroes’ nur lateinisch erhaltenem großen De anima-Kommentar gehen auf denselben arabischen Text zurück wie eine mittelalterliche hebräische De anima-Übersetzung des Zeraḥyah ben Šealtiel aus dem 13. Jahrhundert. Dieser Übersetzer berichtet, 110 Eichner,
Averroes’ Mittlerer Kommentar zu Aristoteles’ De generatione et corruptione, S. 1–6. Aristotle’s Meteorology in the Arabico-Latin Tradition, S. XV. 112 Filius, The Problemata Physica Attributed to Aristotle, S. XVII–XXIX. 113 Die beiden zusammenfassenden Darstellungen von Gätje, Studien zur Überlieferung der aristotelischen Psychologie im Islam, S. 20–27 und Elamrani Jamal in: DPA Suppl., S. 346–358 weisen zudem darauf hin, dass sich selbst die modernen Interpreten untereinander teilweise missverstehen. 114 Herausgegeben, auf Deutsch übersetzt und untersucht von Arnzen, Aristoteles’ De anima. Dies ist die Darstellung Arnzens sowie von Endress, The Circle of al-Kindī, S. 52–58. Anders die Schlussfolgerungen von Helmut Gätje zur von Badawī edierten anonymen De anima-Übersetzung (siehe unten). 115 Ibn an-Nadīm, K. al-fihrist, S. 251.11–18; übersetzt und diskutiert bei Elamrani Jamal, De anima. Tradition arabe. In: DPA Suppl., S. 346–358, hier S. 348. 116 Der paraphrasierende Charakter dieser bisher wenig untersuchten Übersetzung zeigt sich jedenfalls daran, dass z. B. in III.5, 430a 25f. die griechische phantasia (lateinisch: existimatio) in den Text eingetragen wird. Vgl. den Textvergleich bei Minio-Paluello, Le texte du De anima d’Aristote, S. 271. 117 Gätje, Studien zur Überlieferung der aristotelischen Psychologie im Islam, S. 42–44. Herausgegeben wurde diese Übersetzung in Badawī, Arisṭūṭālīs fī n-nafs. 111 Schoonheim,
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dass seine Vorlage von Isḥāq stamme, aber ab 431a 14 durch Abū ʿAlī b. Zurʿa (gestorben 1008), einem Schüler Yaḥyā b. ʿAdīs, komplettiert worden sei.118 Es hat sich demnach um die erste, unvollständige Übersetzung Isḥāqs gehandelt, die von den Baġdāder Aristotelikern vervollständigt worden war. Ob daneben noch eine vollständige Version Isḥāqs existierte oder ob sich die Angabe des Fihrist nur auf Themistios’ Paraphrase bezog, lässt sich nicht sicher feststellen, weil nur wenige arabische Fragmente, überliefert in Randnotizen Avicennas, existieren.119 Die arabische Überlieferung von De anima war also kompliziert und wurde nicht durchweg als zuverlässig empfunden, weswegen zum Beispiel Averroes mehrere Übersetzungen nebeneinander benutzte.120 Aus heutiger Perspektive scheinen zumindest die Reste der Isḥāq’schen Übersetzung noch immer von textkritischem Interesse zu sein, wie Lorenzo Minio-Paluello 1955 bemerkte: „Wahrscheinlich könnte man hier sehr interessante Lesarten finden, die vielleicht denen der anderen Handschriften überlegen sind.“121 Dies würde jedenfalls ein methodisch durchdachtes Vorgehen erfordern.122 Die Parva naturalia sind wiederum nur in einem stark überarbeiteten Kompendium erhalten, bei dem es unklar ist, wie viel sich den arabischen Übersetzern und wie viel spätantiken Bearbeitern verdankt.123 Auch die zoologischen Schriften des Aristoteles sind in einem Kompendium überliefert, das die Schriften Historia animalium, De partibus animalium und De generatione animalium in nicht weniger als 19 Büchern unter dem Titel Buch der Lebewesen (Kitāb al-ḥayawān) zusammenfasst, sich aber ansonsten strukturell nicht zu weit vom griechischen Text entfernt. Diese Zusammenstellung wurde zur Grundlage entsprechender Werke von Avicenna und Albertus Magnus, der die lateinische Übersetzung von Michael Scotus benutzen konnte. Dagegen fehlte eine arabische Übersetzung von De motu animalium, wie schon Averroes beklagt.124 3.2.4 Metaphysik
Einige Besonderheiten zeigt auch die Überlieferung von Aristoteles’ Metaphysik (DPA I, S. 531–534; DPA Suppl., S. 261–264), die bekanntermaßen von großem Interesse für die arabischen Denker war. Darauf weist bereits an-Nadīm in seinem Fihrist hin: „Das Buch der Buchstaben (Kitāb al-ḥurūf). Es informiert über die göttlichen Fragen (al-Ilāhīyāt). Die Anordnung dieses Buches folgt der Anordnung der Buchstaben der Griechen, deren erster das kleine Alpha (al-alif aṣ-ṣuġrā) ist, den Isḥāq übersetzte. Alles, was es davon gibt, geht bis zum Buchstaben My. Diesen Buchstaben übersetzte Abū Zakarīyāʾ Yaḥyā b. ʿAdī. Ferner liegt der Buchstabe Ny auf Grie118 Zum Detail siehe die kritische Ausgabe der hebräischen Übersetzung: Aristotle’s ‘De anima’. Translated into Hebrew by
Zeraḥyah ben Isaac ben Shealtiel Hen, S. 9f. Dagegen hält F. St. Crawford in Ibn Rušd, Averrois Cordubensis Commentarium magnum in Aristotelis De anima libros, S. XIf. die hebräische Version für eine Tochterübersetzung des lateinischen Texts. 119 Den besten Überblick gibt Gätje, Studien zur Überlieferung der aristotelischen Psychologie im Islam, S. 28–42; angenommen wird eine dritte Übersetzung z. B. von Ivry, The Arabic Text of Aristotle’s De anima and ist Translator; Elamrani Jamal, De anima. Tradition arabe, S. 351. Die hier vertretene Einschätzung wird geteilt von Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, S. 313–317. 120 Gätje, Studien zur Überlieferung der aristotelischen Psychologie im Islam, S. 28–32. 121 Minio-Paluello, Le texte du De anima d’Aristote, S. 273. Dort auch eine Liste rekonstruierter griechischer Lesarten. 122 A. Jannone, Introduction, S. XXVIIIf. und XLI meint, dass die Handschrift Laurentianus 87, 20 der griechischen Vorlage der Isḥāq-Übersetzung nahesteht und entnimmt ihr zahlreiche Lesarten. 123 Hansberger, Kitāb al-Ḥiss wa-l-maḥsūs, S. 143–162. 124 J. Brugman/H.J. Drossaart Lulofs, in: Aristoteles, Generation of Animals. The Arabic Translation commonly ascribed to Yahyā ibn al-Bitrīq, S. 1–30; R. Kruk, Aristoteles Semitico-Latinus. The Arabic Version of Aristotle’s Parts of Animals. Book XI-XIV of the Kitāb al-ḥayawān, S 9–24.
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chisch vor, mit dem Kommentar des Alexander. Diese Buchstaben übersetzte ferner Usṭāṯ für alKindī; und von ihm gibt es eine Nachricht hierüber. Ferner übersetzte Abū Bišr Mattā das Buch Lam mit dem Kommentar des Alexander […] ins Arabische. Ḥunayn b. Isḥāq übersetzte dieses Buch ins Syrische. Ferner kommentierte Themistios das Buch Lambda, und Abū Bišr Mattā übersetzte es mit dem Kommentar des Themistios. Vorher hatte es Šamlī übersetzt. Isḥāq b. Ḥunayn übersetzte mehrere Bücher.“125
Diese Nachricht weist zunächst auf die Ratlosigkeit der arabischen Leser gegenüber der aristotelischen Metaphysik hin, von der auch Avicenna berichtet, als er trotz 40-maliger Lektüre kein Verständnis dieses Buches erhielt.126 Da das Thema des Werks nicht klar war, benannte man es nach seiner Anordnung anhand der griechischen Buchstaben. Näherhin informiert uns Ibn an-Nadīm darüber, dass die arabische Metaphysik nicht, wie die uns geläufige, mit dem Buch Alpha meizon („Groß-Alpha“), sondern mit unserem Buch II beginnt, das im Griechischen Alpha elatton, also „Klein-Alpha“ genannt wird. Über den Grund für das Fehlen des ersten Buches kann nur spekuliert werden: Entweder a) fehlte es zufällig in der den Übersetzungen zugrundeliegenden griechischen Handschrift, oder b) die Araber hielten es mit einer spätantiken Tradition, von der Albertus Magnus berichtet, für unecht, oder c) es wurde bewusst weggelassen, um den theologischen Charakter von Aristoteles’ Werk zu unterstreichen.127 Jedenfalls war das Buch Alpha meizon durchaus bekannt, wurde aber erst spät als Bestandteil der Metaphysik angesehen. Dann wurde es nochmals übersetzt128 und, zum Beispiel in Averroes’ Großem Kommentar zur Metaphysik, in verkürzter Form nach Alpha elatton eingeordnet.129 Wie die Übersicht des Fihrist zeigt, standen bis zum Ende des 10. Jahrhunderts vor allem die Bücher Alpha elatton und Lambda im Mittelpunkt des Interesses. Sie wurden mehrmals übersetzt, auch in Verbindung mit griechischen Kommentaren, aber auch im arabischen Raum selbst bearbeitet. Inhaltlich begünstigte die Kombination dieser beiden Bücher eine theologische Deutung der Metaphysik, wie sie noch in Buch VIII der Metaphysik von Avicennas Kitāb aš-šifāʾ (Buch der Genesung), einem der ältesten Teile des Werkes,130 erkannt werden kann. Dies änderte sich erst durch al-Fārābīs kurze Schrift Die Ziele des Buches der Metaphysik, die erstmals einen Ansatz zu einer Metaphysik als Seinswissenschaft lieferte.131 Unsere direkte Kenntnis der arabischen Metaphysik-Übersetzungen beruht auf Averroes’ Großem Kommentar zu ihr, in dessen Lemmata in der Regel die Übersetzung von Usṭāṯ zitiert wird. Daneben wird vor allem auf die Übersetzungen von Isḥāq und Abū Bišr Mattā Bezug genommen.132 Die Bücher Kappa, My und Ny (X, XIII, XIV in unserer Zählung) feh125 Ibn
an-Nadīm, K. al-fihrist, S. 251.25–28. Ausführlichere, zum Teil anders interpretierende Übersetzung bei Bertolacci, The Reception of Aristotle’s Metaphysics in Avicenna’s Kitāb al-Shifāʾ, S. 8. 126 Text zitiert bei Strohmaier, Avicenna, S. 25. 127 Diese Möglichkeiten werden diskutiert von Martini, La tradizione araba della Metafisica di Aristotele. Libri α – Α. 128 Neuwirth, Neue Materialien zur arabischen Tradition der beiden ersten Metaphysik-Bücher; Martini, The Arabic Version of the Book Alpha Meizon of Aristotle’s Metaphysics and the Testimony of the ms. Bibl. Apostolica Vaticana, Ott. Lat. 2048; sowie Martini, La tradizione araba della Metafisica di Aristotele. Libriα – Α. Zum Übersetzer siehe oben S. 130. 129 Bouyges in Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd at-ṭabīʿa, Bd. 4, S. CXLIX–CLI; vgl. Neuwirth, Neue Materialien zur arabischen Tradition der beiden ersten Metaphysik-Bücher, S. 91–95. 130 Die Bücher VIII und IX sind weitgehend unverändert aus dem älteren Al-Mabdaʾ wa-l-maʿād [Ursprung und Rückkehr] übernommen worden: Gutas, Greek Thought, Arabic Culture, S. 99; Endress, Alexander Arabus on the First Cause, S. 57. 131 Zu diesem Text (Arabisch: Alfārābī’s philosophische Abhandlungen, Ed. F. Dieterici, S. 32–38; deutsche Übersetzung: Alfārābī’s philosophische Abhandlungen, übersetzt von F. Dieterici, S. 54–60) und seinem Einfluss auf Avicenna siehe Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 238–254; Bertolacci, The Reception of Aristotle’s Metaphysics in Avicenna’s Kitāb al-Shifāʾ, S. 65–108 sowie die Bemerkungen im Kapitel über die Bedeutung der arabisch-islamischen Philosophie. 132 Vgl. die Übersicht bei Bertolacci, The Reception of Aristotle’s Metaphysics in Avicenna’s Kitāb al-Shifāʾ, S. 14.
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len ganz, obwohl sie dem Fihrist zufolge übersetzt waren. Für die erhaltenen Bücher ist deren arabische Übersetzung jedoch wörtlich genug, um bei der Konstitution des griechischen Textes zu helfen, insbesondere bei der Abwägung verschiedener Lesarten der griechischen Handschriften.133 3.2.5 Ethische und politische Schriften
Von den Schriften zur praktischen Philosophie kannten die Araber lediglich die Nikomachische Ethik (DP Suppl., S. 191–198), die aber auf vergleichsweise wenig Interesse stieß. Neben der erhaltenen Übersetzung, die teils auf Usṭāṯ (Eustathios) (Buch V–X), teils auf Isḥāq b. Ḥunayn (Buch I–IV) zurückgeht134 und kurioserweise elf oder zwölf Bücher umfasste (das 11. und eventuell das 12. Buch basierten wohl auf einem Kommentar des Porphyrios),135 war noch ein wohl spätantikes Kompendium der aristotelischen Ethik bekannt, das unter dem Titel Summa Alexandrinorum in einer lateinischen Tochterübersetzung erhalten ist. 3.3 Alexander von Aphrodisias und andere Aristoteliker
Da die aristotelischen Schriften auf manche Verständnisschwierigkeiten stießen, bemühte man sich frühzeitig auch um Übersetzungen griechischer Erklärungen. Besonders beliebt waren Alexander von Aphrodisias (2./3. Jahrhundert) und Themistios (ca. 317– 388), die bis heute als peripatetisch orientierte Ausleger hohes Ansehen genießen. Von Alexander ist nicht nur viel übersetzt worden, sondern es wurde ihm auch manches zu Unrecht zugeschrieben. „Der arabische Alexander entwickelte sich zu einem […] virtuellen Text, der vielfältige authentische Übersetzungen, Kompilationen und Pseudepigrapha umfasste.“136 Trotzdem lassen sich einige auf Griechisch verlorene Werke Alexanders in arabischer Übersetzung identifizieren. Davon können Teile seiner Kommentare zu Aristoteles’ Physik und De generatione et corruptione, eine Schrift über die Vorsehung sowie ein Kompendium über den Kosmos besonders hervorgehoben werden.137 Auf zwei seiner Schriften sei näher hingewiesen: 1. Von besonderer Bedeutung für die arabische Tradition war Isḥāq b. Ḥunayns Übersetzung des kleinen, eventuell pseudoalexandrinischen Traktats Über den Geist (Peri nū). In einer meisterhaften Studie hat Marc Geoffroy gezeigt, wie die eigentlich sehr wörtliche arabische Übertragung dieser Abhandlung, in der Alexander drei Stufen des Geistes (materieller, habitueller und aktiver Geist) unterscheidet, al-Fārābī zur Unterscheidung der vier Stufen möglicher, aktualer, erworbener und aktiver Intellekt an-
133 Bauloye,
La traduction arabe de la Métaphysique et l’établissement du texte grec, S. 281–289. Ess, Aristoteles in Fes, S. 12–14.
134 Schmidt/van
135 Der Text ist mit englischer Übersetzung verfügbar in: Aristoteles, The Arabic Version of the Nicomachean Ethics. Siehe
dort S. 55–62 zum großenteils erhaltenen „siebten“ Buch der arabischen Nikomachischen Ethik. Die textkritische Bedeutung der Übersetzung für zahlreiche Stellen der Nikomachischen Ethik wird erläutert von Schmidt/van Ess, Aristoteles in Fes, S. 19–114. 136 Endress, Alexander Arabus on the First Cause, S. 38. 137 Eine komplette Liste der auf Griechisch und Arabisch erhaltenen Werke Alexanders mit bibliographischen Angaben geben R. Goulet/M. Aouad, Alexandros d’Aphrodisias, in: DPA I, S. 125–139; Fazzo, Alexandros d’Aphrodisias, in: DPA, Suppl., S. 61–72. Zum Physik-Kommentar siehe oben S. 132, zu dem zu De generatione et corruptione siehe Eichner, Averroes’ Mittlerer Kommentar.
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regte, die die arabische und lateinische Intellektlehre der Folgezeit nicht unwesentlich bestimmte.138 2. Unter dem Titel Über die Prinzipien des Universums nach Meinung des Philosophen Aristoteles haben Isḥāq und seine Mitarbeiter ein Kompendium des Alexander über den Kosmos übersetzt, das auf Griechisch verloren ist. Dieser Text hat die arabische Kosmologie wesentlich beeinflusst und dazu beigetragen, dass die Spekulationen der Muslime über die Stufen des Intellekts diese meist als kosmische, Bewegung übertragende Prinzipien beschrieben.139 3.4 Platon und Autoren in platonischer Tradition
Die Platon-Rezeption in der arabischen Welt war mit der des Aristoteles nicht zu vergleichen. Platonische Originalwerke wurden nur sehr wenige übersetzt, und kaum etwas davon ist erhalten. Die indirekte Überlieferung bestätigt jedoch einen gewissen Einfluss des Timaios, der Nomoi und der Politeia. So haben al-Fārābī und Averroes nachweislich die Politeia kommentiert. Es ist jedoch nicht klar, ob sie sich ausschließlich auf Synopsen des Galen bezogen haben, die auf Griechisch meist verloren, auf Arabisch aber teilweise erhalten sind. In Anbetracht dieser spärlichen direkten Platon-Überlieferung war das arabische Platon-Bild stark von indirekten Traditionen geprägt.140
Literaturhinweise: – Die Übersetzungsbewegung vom Griechischen ins Arabische ist insbesondere von Gerhard Endress breit dargestellt worden: Die wissenschaftliche Literatur, in: Grundriß der arabischen Philologie II. Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1987, S. 400–506; fortgeführt in: Grundriß der arabischen Philologie III. Supplement, Wiesbaden 1992, S. 3–152 (S. 25–62 speziell zur Philosophie). – Die Gründe für die Übersetzungsbewegung sowie ihre Entwicklung werden in brillanter Weise dargestellt von Gutas, Dimitri, Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early Abbasid Society (2nd to 4th/8th to 10th centuries), London/New York 1998. Auf die detaillierten Überblicke zu einzelnen Übersetzungen im Dictionnaire des philosophes antiques, besonders in seinem Supplément, wurde bereits verwiesen (S. 132 Anm. 100). Hier finden sich unter den entsprechenden Lemmata auch Informationen zu Übersetzungen, die hier nicht besprochen werden konnten.
138 Geoffroy, La tradition arabe du Peri nū d’Alexandre d’Aphrodise et les origines de la théorie farabienne des quatre dégrés de
l’intellect. Der Text der arabischen Übersetzung von Über den Geist findet sich in Badawī, Šurūḥ ʿalā Arisṭū mafqūda fī l-Yūnānīya wa-rasāʾil uḫrā, S. 31–42. 139 Edition und englische Übersetzung: Genequand, Alexander of Aphrodisias on the Cosmos. Dort S. 20–26 zum Einfluss der Schrift in der arabischen Welt. Vgl. auch Endress, Alexander Arabus on the First Cause, S. 41–46. 140 Für Weiteres vgl. den konzisen Überblick von Hasse, Plato Arabico-Latinus, S. 31–34.
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Die Übersetzung philosophischer Texte aus dem Griechischen ins Arabische
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2. Al-Kindī und die frühe Rezeption der griechischen Philosophie1 Peter Adamson (München)
1. Einleitung Die philosophische Überlieferung der islamischen Welt lässt sich bis zur Übersetzungsbewegung während des ʿabbāsidischen Kalifats zurückverfolgen, als Werke der griechischen Wissenschaft und Literatur ins Arabische übertragen wurden.2 Die Übertragung von im heutigen Sinne philosophischen Werken bildete nur einen kleinen Teil dieser Bewegung. Die Übersetzung von Philosophen ging mit der Übersetzung eher „naturwissenschaftlicher“ Texte einher, wie etwa der medizinischen Schriften Galens und der astronomischen und mathematischen Arbeiten von Euklid, Ptolemäus und anderen. Die bedeutendste Übersetzergruppe unter den Abbasiden, was die Zahl der übersetzten Texte und deren Qualität anbelangte, war die um den Christen Ḥunayn ibn Isḥāq (808–873) und seinen Sohn Isḥāq ibn Ḥunayn (gestorben 910). Ḥunayn und seine Schule brachten viele Übersetzungen hervor, darunter Werke von Platon und Aristoteles (vor allem die logischen Schriften). Für Ḥunayn selbst waren die Übersetzungen Galens von besonderer Wichtigkeit; diese legte er seinen eigenen Abhandlungen zur Medizin zugrunde.3 Eine zweite, etwas früher aktive Gruppe war diejenige, die sich um die Person Abū Yūsuf Yaʿqūb b. Isḥāq al-Kindī (gestorben ca. 870) gebildet hatte. Al-Kindīs Kreis fertigte zwar nicht so viele Übersetzungen an wie der Ḥunayns, doch unter den zustande gekommenen Arbeiten befanden sich einige ungemein wichtige Werke, die die arabische Rezeption des philosophischen Denkens der Griechen maßgeblich bestimmten. Die philosophischen Interessen al-Kindīs und seiner Mitarbeiter waren wahrscheinlich mit ausschlaggebend dafür, welche Texte zur Übersetzung herangezogen wurden. Die Resultate fielen unterschiedlich aus. Manche Arbeiten orientieren sich eng am Text, halten jedoch keinem Vergleich mit den Hervorbringungen Ḥunayns stand, die aus einem überlegenen Verfahren (der Kollation zahlreicher Manuskripte beispielsweise) hervorgegangen und durch eine anspruchsvollere und in sich stimmigere Begrifflichkeit gekennzeichnet sind.4 Man sehe sich nur einmal die im al-Kindī-Kreis entstandene Übersetzung von Aristoteles’ Metaphysik an.5 Andere Übersetzungen wiederum waren relativ ungenaue 1 2 3
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Dies ist eine überarbeitete Fassung von P. Adamson, Al-Kindī. In: The Cambridge Companion to Arabic Philosophy. Hg. von P. Adamson und R. C. Taylor. Cambridge 2005, S. 32–51. Die Übersetzung stammt von Axel Walter. Siehe weiterführend Gutas, Greek Thought, Arabic Culture: The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and early ʿAbbāsid Society (2.–4./8.–10. centuries); Endress, Die wissenschaftliche Literatur. Für eine nützliche Übersicht über Ḥunayns Laufbahn siehe Iskandar, Ḥunayn ibn Isḥāq. Für das Sendschreiben, in dem Ḥunayn beschreibt, wie er die Werke Galens übersetzte, siehe Bergsträsser, Ḥunayn ibn Isḥāq über die syrischen und arabischen Galenübersetzungen. Die Unzulänglichkeiten der Übersetzungen des al-Kindī-Kreises waren so offensichtlich, dass es zu Beschwerden kam. Aṣ-Ṣafadī etwa beklagte, dass zwei von al-Kindīs Übersetzern (Ibn Nāʿima al-Ḥimṣī und Ibn al-Biṭrīq) ihre Quellen Wort für Wort übertragen hätten. Demgegenüber habe der Ḥunayn-Kreis den Satz als ein Ganzes übersetzt, wodurch seine Bedeutung bewahrt blieb. Die Passage ist ins Deutsche übertragen bei Rosenthal, Das Fortleben der Antike im Islam. Dies ist eine der Übersetzungen, die Averroes in seinem langen Kommentar zur Metaphysik (Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabī‘a) herangezogen hat. Siehe außerdem Martin, La Métaphysique. Tradition Syriaque et Arabe und Bertolacci, On the Arabic Translations of Aristotle’s Metaphysics.
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Paraphrasen ihrer Quellentexte. Die arabischen Verfasser nahmen sich erhebliche Freiheiten gegenüber den griechischen Quellen heraus, wobei die Resultate mitunter von der ursprünglichen Anordnung abwichen und sogar diverse Ausführungen der Mitglieder des Übersetzerkreises enthalten konnten. Als Beispiele lassen sich anführen: eine Paraphrase von Aristoteles’ De Anima,6 die berühmte Theologie des Aristoteles und das Buch über das reine Gute (bekannt unter dem lateinischen Titel Liber de causis). Die Methode, nach der diese auslegenden, interpretierenden Paraphrasen verfuhren, gibt uns einen ersten Hinweis auf die Ziele der Übersetzungsbewegung, soweit es al-Kindī betraf. Dieser selbst fertigte keine Übersetzungen an und konnte wohl auch kein Griechisch. Er beaufsichtigte vielmehr die Arbeit der Übersetzer und bediente sich der Resultate in seinen eigenen Schriften.7 Sein Vorhaben beschreibt er als den Versuch, „das, was die Alten sagten, vollständig verfügbar zu machen […] und das, was sie nicht sagten, allumfassend zu vervollständigen, im Einklang mit den sprachlichen Gepflogenheiten und den Gebräuchen der Zeit“.8 Dazu bedurfte es der Schaffung eines neuen philosophischen Wortschatzes im Arabischen; und das war ein Prozess, der bei den Übersetzungen des al-Kindī-Kreises seinen Anfang nahm und den al-Kindī in seinen eigenen Werken voranbrachte. Zu ihnen gehört die in mehreren unterschiedlichen Fassungen in etlichen Manuskripten enthaltene Abhandlung Über die Definition und Beschreibung der Dinge (Fī Ḥudūd al-ašyāʾ wa-rusūmihā), die einen Überblick über die neue arabische philosophische Terminologie gibt und Definitionen enthält, die sich zum Teil auf griechische Quellen stützen. Wie wir noch sehen werden, ging es al-Kindī bei seiner Verbreitung des griechischen Denkens auch darum, zu zeigen, dass die philosophischen Ideen dazu taugten, die bestehenden Probleme der Zeit zu lösen, einschließlich derer, die in der islamischen Theologie (kalām) zutage getreten waren. Bei den einschlägigen Arbeiten handelte es sich um unterschiedlich lange Traktate, die sich in der Form von Episteln an seine Förderer richteten (mehrere an den Sohn des Kalifen al-Muʿtaṣim). Al-Kindī legte eine bemerkenswert reiche und vielfältige Produktivität an den Tag. Die Liste seiner Arbeiten umfasst Hunderte von Abhandlungen aus den unterschiedlichsten Bereichen, angefangen bei der Metaphysik, der Ethik und der Psychologie (das heißt dem Studium der Seele) über die Medizin, die Mathematik, die Astronomie und die Optik bis hin zu abgelegenen praktischeren Themen wie den Düften und den Schwertern.9 Das Gros dieser Abhandlungen ist verlorengegangen, und das Erhaltene erinnert uns beständig daran, wie spärlich die historischen Aufzeichnungen dieses frühen Zeitraums des arabischen Denkens sind: Von vielen der philosophischen Arbeiten ist lediglich ein einziges Manuskript erhalten geblieben, das in Istanbul aufbewahrt wird. Weil al-Kindī sich erklärtermaßen auf die griechische Philosophie stützte, weil er sich in seinen Abhandlungen mit speziellen Themen befasste und weil seine erhalten geblie6
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Siehe Arnzen, Aristoteles’ De Anima. Eine verlorene spätantike Paraphrase in arabischer und persischer Überlieferung. In diesem Fall dürfte die Variation zu großen Teilen auf eine griechische Vorlage zurückgehen; Arnzen zeigt, dass die Überlieferung der antiken De anima-Kommentare zum Teil in die Paraphrase selbst einbezogen wurde. Al-Kindīs Arbeiten werden aus Band 1 von al-Kindī, Rasāʾil al-Kindī al-falsafīya, hg. von M. Abū Rīda (Kairo 1950– 1953) zitiert, unter Angabe der Seitenzahl und Zeilennummer. Verbesserte, zweisprachige (arabisch-französische) Ausgaben von einigen seiner Werke finden sich in: Œuvres philosophiques & scientifiques d’al-Kindī, hg. und übers. von R. Rashed und J. Jolivet, bislang 2 Bde. (Leiden 1997 und 1998). Ein groß angelegter Band mit englischen Übersetzungen ist jüngst erschienen: The Philosophical Works of al-Kindī, trans. Adamson/Pormann. Al-Kindī, al-Falsafa al-ūlā, S. 103.9–11. Die wichtigste Auflistung der Arbeiten findet sich in Ibn an-Nadīm, K. al-fihrist, S. 315–320; in der englischen Übersetzung von Dodge, S. 615–626. Für gesammelte Informationen zu den Schriften al-Kindīs siehe McCarthy, at-Taṣānīf al-mansūba ilā faylasūf al-ʿArab und besonders The Philosophical Works of al-Kindī, trans. Adamson/ Pormann (mit englischer Aufstellung aller bekannten Schriften Kindīs).
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benen Schriften sich ab und an widersprechen oder nicht vereinbaren lassen, dürfte es schwierig sein, ein neuartiges und schlüssiges System in seinem Werk auszumachen.10 Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass al-Kindī den Versuch unternahm, zahlreiche disparate Stränge der griechischen Philosophie einzubeziehen, insbesondere den Aristotelismus und den Neuplatonismus. Dass er mit seinen relativ beschränkten Möglichkeiten sogar eine solche Aufgabe in Angriff zu nehmen vermochte, lässt sich nur damit erklären, dass ihm die späten Griechen den Weg geebnet hatten. Al-Kindī hielt sich in erster Linie an ihre Vorgaben, als er seine eigenen philosophischen Arbeiten verfasste.
2. Metaphysik als Theologie Die komplexeste und wichtigste dieser Arbeiten ist Über die Erste Philosophie (Fī l-Falsafa al-ūlā), eine metaphysische Abhandlung in vier Abschnitten (die zusammen den „ersten Teil“ einer längeren Arbeit bildeten, von der ansonsten nichts erhalten geblieben ist).11 Der erste Abschnitt, der die oben angeführte Äußerung über den Zweck des Unternehmens enthält, ist eine geistreiche Verteidigung des griechischen Denkens. Al-Kindī zufolge sollte das griechische Denken, obgleich es aus dem Ausland kommt, begrüßt werden, würden doch die eigenen Bemühungen um die Erforschung der Wahrheit eine außerordentliche Unterstützung durch die Menschen erfahren, die sich in der Vergangenheit in den Besitz der Wahrheit gebracht haben. Al-Kindī unterstreicht die Bedeutung der Metaphysik der Griechen für die muslimische Leserschaft. Die Erforschung der Metaphysik umfasse und sei sogar in erster Linie die Erforschung Gottes: „Der edelste und am höchsten stehende Teil der Philosophie ist die Erste Philosophie, das heißt die Wissenschaft von der Ersten Wahrheit, die die Ursache aller Wahrheit ist.“12 Diese Destillierung von Metaphysik zu Theologie beeinflusste Generationen von Philosophen darin, wie sie Aristoteles lasen: Avicenna sagte, dass die Lektüre al-Fārābīs ihn von einem Missverständnis befreit und es ihm ermöglicht habe, Aristoteles Metaphysik richtig zu verstehen; man hat plausibel machen können, dass es sich bei dem nämlichen Missverständnis um die Auslegung al-Kindīs handelte, der zufolge sich das Werk in erster Linie mit Gott befasse.13 Für al-Fārābī – und in seiner Nachfolge für Avicenna – war die Erste Philosophie die Erforschung des Seins qua Sein und lediglich beiläufig das Studium Gottes. Al-Kindī dagegen lässt keinen Raum für eine scharfe Unterscheidung zwischen Theologie und Metaphysik. Der erhalten gebliebene Teil von Über die Erste Philosophie endet tatsächlich mit einer Aussage zum Wesen Gottes. Der Weg aber, auf dem al-Kindī zu ihr gelangt, ist doch einigermaßen verwunderlich. Auch wenn Über die Erste Philosophie voller Anspielungen auf und Anleihen bei Aristoteles ist, umfasst die Arbeit als Ganze zwei Hauptelemente, die jeweils nicht sonderlich aristotelisch anmuten. Das erste kommt in Wahrheit einer Zurückweisung der aristotelischen These gleich, die Welt existiere ewig. Die von al-Kindī vorgebrachten Argumente sind der erklärtermaßen antiaristotelischen Polemik des späten griechischen Kommentators und christlichen Neuplatonikers Johannes Philoponos 10 11 12 13
Nachdem ich diesen Artikel in seiner ursprünglichen Fassung geschrieben hatte, habe ich mich in der Monographie Great Medieval Thinkers: al-Kindi (New York 2007) um eine systematische Darstellung seiner Philosophie bemüht. Für eine Übersetzung dieses Werkes mit Kommentar siehe Ivry, Al-Kindī’s Metaphysics. Eine deutsche Übersetzung von A. Akasoy liegt jetzt vor. Al-Kindī, al-Falsafa al-ūlā, S. 98.1–2. Siehe Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 238–254.
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entnommen.14 Diese Argumente sollen zeigen, dass die geschaffene Welt nicht unendlich sein kann. Die Zeit – und mithin die Bewegung, weil die Zeit ein Maß der Bewegung ist – muss einen Anfang haben. Darin unterschied sich al-Kindī von der späteren aristotelischen Tradition im arabischen Raum. Avicenna und Averroes sind bekannt dafür, dass sie Aristoteles’ These von der Ewigkeit der Welt verteidigt haben. Das andere Hauptmerkmal von Über die Erste Philosophie besteht in der Thematisierung und Erörterung des Einsseins (waḥda). Al-Kindī legt zunächst dar, dass in der geschaffenen Welt alle Dinge durch Vielheit und Einheit charakterisiert sind. So sind etwa die Dinge, die über Teile verfügen, sowohl vieles (weil es zahlreiche Teile sind) als auch eins (weil die Teile Teil eines Ganzen sind). Keines dieser Dinge stellt jedoch eine „wahre Einheit“ dar, womit al-Kindī etwas meint, das in jeder Hinsicht eins ist und nicht mehreres. Die geschaffenen Dinge sind vielmehr aus einer Einheit hervorgegangen, das heißt aus etwas, das „wesentlich eins“ ist, eben vollkommen eins, und durchaus nicht mehreres.15 Al-Kindī stützt sich in seinen Ausführungen auf Aristoteles’ Kategorien (und zudem auf eine Einführung in diese Schrift, die von dem Neuplatoniker Porphyrios verfasste Isagoge), um dem Leser eine umfassende Auflistung all dessen an die Hand zu geben, was sich sagen lässt beziehungsweise ausgesagt werden kann (maqūlāt). Dazu gehören die fünf Prädikabilien (Gattung, Art, Differenz, Proprium/wesentliche Eigenschaft, Akzidenz/unwesentliche Eigenschaft) und verschiedene andere Ausdrücke, wie etwa das schon angesprochene „Ganze“ oder der besagte „Teil“. Al-Kindīs Argumentation nach muss nun was auch immer von einer Sache geäußert wird die Vielheit miteinbegreifen. Diese ist mitunter offensichtlich, wie etwa in den Beispielen „Der Elefant wiegt zwei Tonnen“ und „Dieser Elefant ist zwanzig Jahre alt“, bei denen die Prädikate Gewicht und Zeit sich jeweils durch Messen teilen lassen (in diesem Fall in zwei bzw. zwanzig). Die Teilbarkeit ist aber auch bei Aussagen wie „Dies ist ein Körper“ und „Dieses Tier gehört zur Art Elefant“ gegeben. Hier kommt sie, beziehungsweise die Vielheit, in zwei weiteren Formen zum Tragen: erstens bei „Körper“, der in Vieles geteilt ist, weil Körper viele Teile haben, und dann bei „Elefant“, der in Viele geteilt ist, weil es viele Elefanten gibt. Kein Begriff oder Prädikat, das sich einem Etwas zuschreiben lassen, ist mit dem absoluten Einssein vereinbar. Weil Gott als Quelle und Ursprung allen Einsseins das nämliche Eine ist, schließt die Argumentation eine sehr strenge negative Theologie in sich. Alles das, was sich von etwas anderem sagen lässt, kann unmöglich von dem absolut Einen gesagt werden oder für es gelten. Wie al-Kindī vorbringt, „hat das wahrhaft Eine weder Materie noch Form, weder Quantität noch Qualität sowie auch keine Relation, und es lässt sich nicht durch eine der anderen Kategorien beschreiben. Es hat weder Genus noch spezifische Differenz, es hat nichts Individuelles und auch kein spezifisch Eigentümliches oder allgemeines Akzidens. Es bewegt sich nicht. […] Es ist folglich nichts als reines Einssein [huwa … waḥda faqaṭ maḥḍ].“16 Wir haben es hier dem Anschein nach mit so etwas wie einem verzweifelten Rat für die an Theologie Interessierten zu tun: Das Fazit lautet offenkundig, dass man von Gott überhaupt nichts wissen und gar nichts sagen kann. Dennoch verbirgt sich hier ein konstruktiverer Theologieansatz, denn al-Kindī findet sich immerhin bereit, zweierlei über Gott zum Ausdruck zu bringen: dass er „eins“ ist und dass er der Ursprung des Einsseins der geschaffenen Dinge ist. Dies ist in der Tat der zentrale Punkt, auf den al-Kindī 14 15 16
Siehe Davidson, John Philoponus as a Source of Medieval, Islamic and Jewish Proofs of Creation. Vgl. diese Aussage mit dem Beweis des Einen als das Erste Prinzip in der Schlussbehauptung des Buches über das reine Gute (Liber de Causis). Al-Kindī, al-Falsafa al-ūlā, S. 160.13–16.
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hinarbeitet. Er ist der Ansicht, dass Gott, indem er einem Etwas das Einssein zuteil werden lässt, dieses Ding existieren macht, anders gesagt, dass er es erschafft. Demnach kommt die Bestimmung Gottes als das „wahre Eine“ seiner Bestimmung als Schöpfer aller Dinge gleich. Darauf aufbauend gelangt man zu einer allgemeinen Methode des Redens über Gott. Was auch immer Gott auszeichnet, es zeichnet ihn absolut aus, und dass er über das Gegenteil dessen verfügt, ist ausgeschlossen; er ist zudem der Ursprung dessen, was ihn auszeichnet, im Hinblick auf andere Dinge. Dieser Auffassung nach kann Gott, weil er eins ist, unmöglich mehreres sein und ist die Ursache allen Einsseins. Dies steht in Einklang mit einem anderen Werk, Über den wahren, ersten vollkommenen Handelnden und über den unzulänglichen Handelnden, der [nur] metaphorisch [ein Handelnder] ist (Fī l-Fāʿil al-ḥaqq alawwal at-tāmm wa-l-fāʿil an-nāqiṣ allaḏī huwa bi-l-maǧāz). Darin bringt al-Kindī die gleiche Methode zur Anwendung, um zu bekräftigen, dass Gott ein „Handelnder“ ist (fāʿil, was ferner eine „Bewegungs- oder Wirkursache“ bedeutet). In Wahrheit ist Gott streng genommen der einzige Handelnde, weil allein er handelt, ohne Objekt eines Handelns oder einer Einwirkung zu sein. Mit anderen Worten ist er völlig und unbedingt aktiv und in keiner Hinsicht passiv, genauso wie er vollkommen eins ist und in keiner Hinsicht mehreres. Die geschaffenen Dinge sind indes bloß „metaphorisch“ oder bildlich gesprochen Handelnde, weil sie Gottes Wirken nur übermitteln können in einer Ursachenkette (ganz ähnlich sagt al-Kindī in Über die Erste Philosophie, dass geschaffene Dinge nur „bildlich“ eins sind, weil sie auch vieles sind). Die Vorstellung ist hier offenbar die, dass Gott durch vermittelnde Ursachen handelt: Gott wirkt auf etwas ein, dann „handelt“ dieses und wirkt auf etwas anderes ein, und so weiter. Diese sekundären oder nachrangigen Ursachen „handeln“ jedoch gar nicht wirklich, sie dienen lediglich der Übermittlung des Handelns Gottes auf das nächste Kettenglied. Wie es scheint, befinden wir uns hier in ziemlich großer Entfernung zu dem Autor, der al-Kindī generell am nachhaltigsten beeinflusste und zumal dessen Schrift Über die Erste Philosophie, nämlich zu Aristoteles. Al-Kindīs Charakterisierung Gottes lässt hingegen an Platons Theorie der Formen denken. Platon hatte betont, dass die Formen, anders als die physisch-materiellen Dinge, ihre Gegensätze ausschließen: Ein schwerer Elefant ist leicht verglichen mit einem Berg, die Form des Schweren aber ist in keiner Hinsicht leicht. Ganz ähnlich ist Gott, der wahre Eine und der wahre Handelnde, in keiner Hinsicht mehreres oder passiv. Doch al-Kindī war mit Platon nicht besonders gut vertraut, und die Kenntnisse, die er von ihm hatte, waren wohl Kenntnisse aus zweiter Hand.17 Mit Aristoteles kannte sich al-Kindī dagegen ziemlich gut aus und er bediente sich der aristotelischen Begriffe und Termini ständig, in Über die Erste Philosophie wie in anderen Schriften. Häufig aber benutzte er diese Begriffe, um Auffassungen zu verteidigen und Argumente zu entwickeln, die sich bei Aristoteles nicht finden lassen. Dadurch gewinnt man den Eindruck, dass, geht man von Platon und Aristoteles direkt zu al-Kindī, die griechische und die frühe arabische Philosophie in einem sehr schwachen Zusammenhang stehen. Doch dies täuscht: Demgegenüber ist festzuhalten, dass es sich bei al-Kindīs Aristoteles um einen durch die Arbeiten der spätantiken Autoren „gefilterten“ Aristoteles handelt. Die Wichtigkeit des späten antiken Denkens lässt sich, was al-Kindī betrifft, kaum überschätzen, und insofern lohnt die Betrachtung einiger Autoren, die die Lücke zwischen Aristoteles und al-Kindī schließen. Zunächst wären da die Schulen der hellenistischen 17
Siehe dazu Gutas, Plato’s Symposion in the Arabic Tradition.
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Philosophie zu nennen: die Schule der Stoiker, die der Skeptiker und die der Epikureer. Die beiden letzteren haben anscheinend keine Spuren in al-Kindīs Philosophie hinterlassen und von der Stoa blieb nur eine schwache Spur in seiner Ethik: In seiner Trostschrift Über die Kunst, den Kummer zu zerstreuen (Fī l-Ḥīla li-dafʿ al-aḥzān) zieht al-Kindī eine Allegorie aus Epiktets Handbuch der Moral heran und vergleicht unser Erdenleben mit einem vorübergehenden Landaufenthalt, der eine Seereise unterbricht.18 Die Haupteinflussquelle ist freilich die griechische Tradition des Neuplatonismus, die ungefähr von Plotin (205–270 n. Chr.) bis zum Ende der Spätantike die dominante philosophische Richtung blieb. Al-Kindī kannte diverse arabische Fassungen zumindest von Teilen der Enneaden des Plotin und von Proklos’ Elementen der Theologie, insbesondere die erwähnte Theologie des Aristoteles und das Buch über das reine Gute. Von diesen beiden nahm man später an, dass Aristoteles sie verfasst hätte, doch al-Kindī war sich wohl im Klaren darüber, dass sie in Wahrheit nicht von diesem selbst stammten. Dennoch waren Aristoteles und der Neuplatonismus aus seiner Sicht vereinbar miteinander, und zwar aus zwei Gründen. Erstens neigte al-Kindī aufgrund seines Anliegens, die Kraft und die Wahrheit der griechischen Philosophie zu verkünden und anzupreisen, dazu, das griechische Denken in seiner Gesamtheit als ein in sich stimmiges, zusammenhängendes System aufzufassen. Weil er von der Wahrheit der aristotelischen Philosophie und von der Wahrheit des Neuplatonismus überzeugt war, konnte er schwerlich gelten lassen, dass die beiden unvereinbar miteinander sind.19 Zweitens zeigte er sich nicht nur für Aristoteles selbst empfänglich, sondern auch für manche der enorm zahlreichen Kommentare über ihn sowie für diverse eigenständige von ihm inspirierte Abhandlungen. Einen besonders hohen Stellenwert genossen der Peripatetiker und Aristoteles-Kommentator Alexander von Aphrodisias und die Neuplatoniker Porphyrios und Johannes Philoponos.20 Demnach ist al-Kindīs offenkundig unorthodoxe Aristoteles-Auslegung im Gegenteil ein Indiz für die Kontinuität von griechischem und arabischem Denken, basiert sie doch auf neuplatonischen Interpretationen von und Reaktionen auf Aristoteles, wie bereits an ein paar Beispielen deutlich wurde. Am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein Gedanke, der leicht als selbstverständlich betrachtet wird: Al-Kindīs Auffassung nach ist Gott eine Wirkursache und nicht bloß eine Zweckursache, und er scheint davon auszugehen, dass Aristoteles dem beipflichten würde (eine Wirkursache wirkt, um ihre Wirkungen hervorzubringen, wohingegen eine Zweckursache die Kausalität nur dadurch ausübt, dass sie Objekt eines Trachtens oder Strebens ist). Damit übernimmt al-Kindī, vielleicht unwissentlich, die Deutung des Neuplatonikers Ammonios, der insistierte und ein ganzes Werk dazu verfasste, dass Aristoteles’ Gott eine Wirk- und auch eine Zweckursache sei.21 Dies ist insofern ein entscheidender Schritt, als er es ermöglicht, Aristoteles’ 18
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Für diese Schrift siehe Ritter/Walzer, Uno Scritto Morale Inedito di al-Kindī und Druart, Al-Kindī’s Ethics. Auch die Kyniker beeinflussten al-Kindī, insbesondere seine Darstellung des Sokrates, siehe dazu Adamson, Al-Kindī, S. 146– 149. Als Beispiel sei auf al-Kindīs Kurze Ausführungen über die Seele verwiesen, in denen es in Bezug auf zwei angeblich von Platon und Aristoteles herrührende Bemerkungen zur Seele heißt: „Manch einer könnte auf den Gedanken kommen, dass diese beiden Äußerungen nicht in Einklang miteinander stehen“ (al-Kindī, Fī n-nafs, muḫtaṣar waǧīz, S. 281.10). Im Weiteren erläutert er jedoch, weshalb die beiden nicht unvereinbar seien. Wie Cristina D’Ancona festhielt, „wird leicht vergessen, dass die Vermischung von Aristoteles und dem Neuplatonismus in erster Linie in den aristotelischen Werken stattfand, wenn diese innerhalb eines neuplatonischen Rahmens gelesen wurden, und erst in zweiter Linie in Arbeiten wie der sogenannten Theologie des Aristoteles“, so in ihrer Besprechung von Arnzen, Aristoteles’ De anima, S. 344. Für Porphyrios im Arabischen siehe meine Abhandlung Porphyrius Arabus on Nature and Art: 463F Smith in Context. Für Philoponos siehe Davidson, John Philoponus as a Source of Medieval, Islamic and Jewish Proofs of Creation. Simplikios, In Physicam commentaria [Kommentar zu Aristoteles’ Physik], S. 1363.8-12 Diels.
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Gott (der reine, immaterielle Intellekt oder Geist und die unbewegte Ursache der Bewegung) als einen Gott zu begreifen, der sich mit den beiden anderen konkurrierenden Theologien vereinbaren lässt – erstens mit der neuplatonischen Theorie, der zufolge das Eine oder Gott die Welt aus sich selbst gebiert durch „Emanation“, in einem Sich-Ergießen oder Überströmen von Großzügigkeit und Stärke, das durch den Intellekt vermittelt wird; zweitens mit dem Schöpfungsgott des Islam und der anderen Offenbarungsreligionen. Wie auch immer man diese Vorstellung von einem „erschaffenden“ Gott interpretiert, sie scheint die Wirkkausalität einzubegreifen – und nicht bloß die Zweckkausalität. Al-Kindī bekräftigt in der Tat alle drei dieser Gottesbilder, die den Traditionen des Aristotelismus, des Neuplatonismus und der abrahamitischen Religionen entstammen. Seiner Auffassung nach ist Gott der unbewegte Beweger, aber auch ein Handelnder, der seiner Schöpfung das Sein verleiht. In diesem Zusammenhang verwendet er den Ausdruck fayḍ, „Emanation“, und er bekräftigt – wie wir bei Über den wahren, ersten vollkommenen Handelnden gesehen haben – die neuplatonische Vorstellung, nach der Gott durch vermittelnde Ursachen auf die Welt einwirkt. Gottes Handeln ist Erschaffen, worunter er versteht, „das Sein aus dem Nichts ins Sein zu bringen“,22 und Gott ist das Prinzip des Seins, „das wahre Sein“ (annīya),23 ebenso wie er das Prinzip des Handelns und des Einsseins ist. Diese verschiedenen Charakterisierungen Gottes scheinen tatsächlich in engem Zusammenhang zu stehen, wenn nicht äquivalent zu sein. Wenn Gott erschafft, emaniert aus ihm das Einssein oder Sein „auf“ eine Sache, wobei es sich hier um Synonyme handelt, zumindest wenn dies Gott betrifft: „Sein Einssein (waḥda) ist nichts anderes als sein Sein (huwīya).“24 Al-Kindī hält sich stärker an die aristotelische Diktion, wenn er sagt, dass Gott etwas erschafft, „indem er etwas hinaustreten lässt ins Sein“ (iḫrāǧ al-maʿānī ilā alkawn).25 Diese Ansicht vermittelt er anhand zahlreicher technischer Termini, sie leuchtet allerdings unmittelbar ein. Wenn Gott beispielsweise einen Elefanten erschafft, macht er, dass der Elefant ist, macht mithin, dass er einer ist, nämlich „ein Elefant“ – also nicht ein Elefant, der bloß existieren könnte, sondern ein Elefant, der wirklich existiert oder ist. Diese Auslegung des göttlichen Erschaffens, zugleich aristotelisch, neuplatonisch und islamisch, wird in der ganzen späteren arabischen Überlieferung nachklingen. In bestimmten Aspekten haben die spätantiken Autoren sie vorweggenommen. Die Idee von Gott als dem Ersten Prinzip, als Urform des Einen und Ursprung des Einsseins bei allen anderen Dingen, findet sich sowohl bei Plotin als auch bei Proklos, auf die al-Kindī sich in Über die Erste Philosophie bezieht; obwohl man sagen muss, dass Plotin Gott nicht dem reinen Sein gleichsetzt – dieses ist für ihn vielmehr der universale Intellekt, das Reich der Formen. Diese Unterscheidung aber ist in den arabischen Plotin- und Proklos-Fassungen nicht klar erkennbar.26 Johannes Philoponos’ Polemiken gegen Aristoteles bildeten indes einen Ausgangspunkt für die Bestimmung der Schöpfung als das Hervortreten des Seins aus dem Nichts. In seiner ausführlichsten Erörterung der Schöpfung, die ziemlich unpassend in einer Übersicht über Aristoteles’ Werke erschien (Über die Zahl der Bücher des Aristoteles und was man davon benötigt, um sich die Philosophie anzueignen – Fī kammīyat kutub Arisṭūṭālīs wa-mā yuḫtāǧu ilayhi fī taḥṣīl al-falsafa), bezieht sich al-Kindī auf Philoponos’ 22 23 24 25 26
Al-Kindī, al-Falsafa al-ūlā, S. 118.18. Al-Kindī, al-Ibāna ʿan al-ʿilla al-fāʿila al-qarība li-l-kawn wa-l-fasād, S. 215.4. Al-Kindī, al-Falsafa al-ūlā, S. 161.14, vgl. auch S. 160.4–5. Vgl. al-Kindī, al-Ibāna ʿan suǧūd al-ǧirm al-aqṣā, S. 257.10; sowie al-Kindī, Fī Kammīyat kutub Arisṭūṭālīs, S. 375.13. Siehe die gesammelten Studien in D’Ancona, Recherches sur le Liber de Causis; Taylor, Aquinas, the Plotiniana Arabica and the Metaphysics of Being and Actuality und meine Darstellung The Arabic Plotinus: A Philosophical Study of the ‚Theology of Aristotle‘, 5. Kapitel.
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Gegen Aristoteles, die Ewigkeit der Welt betreffend.27 Im Zuge dieses Angriffs auf Aristoteles hatte Philoponos davon gesprochen, dass Gott erschafft, indem er etwas aus dem Nichts (mê on) ins Sein bringt, und al-Kindī wiederholt diese Ansicht. Al-Kindīs Argumentation zugunsten dieser Schöpfungsauffassung folgt Philoponos’ Strategie, aristotelische Ideen einzusetzen, um Aristoteles’ Metaphysik „‚richtigzustellen“. Eines der aristotelischen Hauptprinzipien lautet, dass jeder Wandel, jede Veränderung über Gegensätze verläuft. Damit etwas heiß werden kann, muss es zunächst kalt gewesen sein. Al-Kindī wendet dieses Prinzip auf Gottes Schöpfungsakt an und argumentiert, dass auch dieser einen Übergang von einem Gegensatz zum anderen darstellt. In diesem Fall nimmt das, was Gott erschafft, das Sein auf, wie wir gesehen haben. Demnach muss das Erschaffene zuvor in einem Zustand des „Nichtseins“ gewesen sein. Al-Kindī hält sich also an Philoponos und gibt Aristoteles unrecht in zwei eng zusammenhängenden Punkten: Erstens bestreitet er die Ewigkeit der Welt; zweitens übernimmt er den Gedanken, dass das Sein aus dem absoluten Nichts hervorgeht.
3. Psychologie Philoponos beeinflusste al-Kindī jedoch noch in anderen Punkten. Zu al-Kindīs historisch bedeutsamsten Arbeiten zählt seine kurze Epistel Über den Intellekt (Fī l-ʿaql).28 Auch diese Abhandlung erschließt sich nur unter Berücksichtigung der späten antiken Autoren. Sie gibt deren Verständnis von Aristoteles’ Theorie des Intellekts (der Vernunft, des Geistes) wieder, wie er sie im dritten Buch von De anima darlegt. Um all dem, was Aristoteles dort über den nous äußert, Rechnung tragen zu können, hatten antike Autoren wie Alexander, Themistios und Philoponos zwischen verschiedenen Stufen oder Arten des Intellekts unterschieden. Diese Taxonomie erreichte al-Kindī mutmaßlich von Philoponos her, wenngleich al-Kindī nicht in allen Details mit dessen Auffassung übereinstimmt. Al-Kindīs Theorie nach gibt es einen abgetrennten immateriellen „Ersten“ Intellekt, den er nicht mit Gott identifiziert, wie es die spätantiken Autoren mitunter taten. Die einzelnen menschlichen Intellekte unterscheiden sich von diesem Ersten Intellekt. Sie nehmen ihren Anfang „in der Potenzialität“, das heißt, sie beginnen mit dem Vermögen, universale Begriffe zu erfassen. Dieses Vermögen wird jedoch nur dann realisiert beziehungsweise ausgeübt, wenn der Erste Intellekt, der stets über all die Universalien nachdenkt, „bewirkt, dass unser potenzieller Intellekt aktualisiert und also wirklich wird“, wenn er, mit anderen Worten, bewirkt, dass der menschliche Intellekt wirklich über einen bestimmten universalen Begriff nachdenkt. Warum ist der menschliche Intellekt allein nicht in der Lage, zu diesen Begriffen vorzudringen, warum benötigt er dazu die Hilfe des Ersten Intellekts? Al-Kindī antwortet, dass genauso, wie beispielsweise Holz der Potenz nach heiß ist und auf etwas wirklich Heißes angewiesen ist, wie etwa Feuer, um dieses potenzielle Heißsein zu aktualisieren, auch der Intellekt, der bloß der Potenz nach über etwas nachdenkt, eine anstoßende Ursache nötig hat, um wirklich zu denken. Diese Ursache muss über den gleichen Begriff nachdenken, wirklich nachdenken, genauso wie das Feuer wirklich heiß sein muss, um die Hitze hervorzurufen. Die Ursache der Verwirklichung oder Aktualisierung im Falle des Denkens ist der Erste Intellekt. Im unmittelbaren Anschluss 27 28
Wie gezeigt in Adamson, Al-Kindī and the Muʿtazila: Divine Attributes, Creation and Freedom. Siehe auch Adamson, AlKindī, 4. Kapitel. Siehe Jolivet, L’Intellect selon Kindī. Dort wird gezeigt, dass sich Über den Intellekt auf Philoponos stützt.
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an die Aktualisierung wird der Begriff in der „geistigen Bibliothek“ der betreffenden Person gespeichert – al-Kindī spricht hier vom „erworbenen Intellekt“ –, und von da ab kann sie ihn wann immer sie will zum Gegenstand ihres Nachdenkens machen. Diese kurze Abhandlung ist vielleicht eher als „Vorbote“ der berühmteren Schriften über den Intellekt von al-Fārābī, Avicenna und Averroes von Bedeutung denn als Verständnishilfe im Hinblick auf al-Kindīs andere Arbeiten. Dieser führt die technischen Unterscheidungen zwischen den Intellektarten dort eher selten ins Feld. Was al-Kindīs allgemeine Erkenntnistheorie angeht, so ist eine andere Unterscheidung, die er in Über den Intellekt trifft, von elementarer Bedeutung. Wie aus dem Gesagten hervorgeht, ist al-Kindī nicht der Ansicht, dass die Menschen allgemeine oder universale Begriffe unmittelbar aus der Sinneswahrnehmung beziehen können. Das heißt, ich kann nicht dadurch zu dem Allgemeinbegriff von einem Elefanten kommen, dass ich einen Elefanten oder auch eine Elefantenherde in den Blick nehme. Wenn ich meinen Blick auf einen Elefanten richte, nehme ich al-Kindī zufolge bloß eine „wahrnehmbare Form“ auf, anders gesagt, die visuelle Repräsentation des Elefanten. Diese ist von dem rein geistigen Begriff, das heißt der Art oder Spezies Elefant, zu unterscheiden, der bei al-Kindī gleichfalls „Form“ heißt, universale Form allerdings. Die Unterscheidung zwischen wahrnehmbarer Form und universaler Form spielt sowohl in Über die Erste Philosophie als auch in Über den Intellekt eine Rolle, und sie erlaubt es al-Kindī abermals, in seiner Darlegung der philosophischen Tradition der Griechen „auf zwei Hochzeiten zu tanzen“. Er kann Aristoteles’ empiristischer Erkenntnistheorie die Treue halten und sagen, dass wir Dinge über die Welt herausfinden, weil wir durch bestimmte Organe des Körpers (wahrnehmbare) Formen aufnehmen. Zugleich aber übernimmt er eine eher neuplatonisch ausgerichtete Erkenntnistheorie. Diese behauptet die Existenz eines abgetrennten, selbständigen Intellekts oder Geistes, der permanent im Nachdenken über sämtliche universale Formen begriffen ist, und sie macht geltend, dass die Menschen kraft der Beziehung mit diesem selbständigen Intellekt dahin kommen, diese Formen zu erfassen.29 Diese Theorie des Wissens ist im Hinblick auf al-Kindīs Betrachtung der Seele äußerst wichtig. Er stellte seine Psychologie in einer Reihe von Arbeiten dar, insbesondere aber im Diskurs über die Seele (Fī l-Qawl fī n-nafs). Dieser verspricht – nach dem Muster, das wir nun schon kennen – eine auf Aristoteles aufbauende Betrachtung der Seele, geht dann aber dazu über, sich seinem Gegenstand auf eine ausgesprochen unaristotelische Weise zu widmen. Die Seele, sagt al-Kindī, ist „einfach“ (= nicht zusammengesetzt, basīṭ).30 Sie ist unstofflich beziehungsweise immateriell und steht einzig dadurch mit der Welt der Materie in Verbindung, dass ihr Vermögen und Fähigkeiten eignen, die durch den Körper ausgeübt werden.31 Al-Kindī – der Platons Phaidon wiedergibt, aber auch Anleihen beim 29
30 31
Ziemlich unklar werden die Zusammenhänge durch eine andere Epistel al-Kindīs, die sich um die Frage der Wiedererinnerung dreht. Die Epistel ist eine unmittelbare Reaktion auf eine Passage im arabischen Plotin, wobei der Eindruck entsteht, dass al-Kindī unabhängige Kenntnisse von Platons Theorie der Wiedererinnerung hatte. Al-Kindī gibt Platons Auffassung wieder, dass man durch die Sinneswahrnehmung keine Formenkenntnis erlangen kann; was ein Erlernen zu sein scheint, ist in Wahrheit das Sich-Erinnern an solche Kenntnisse, an ein Wissen aus einer Zeit, als die Seele vom Körper getrennt war. Für diese Arbeit siehe Endress, Al-Kindī über die Wiedererinnerung der Seele. Al-Kindī, al-Qawl fī n-nafs, S. 273.4. In Dass es Substanzen gibt, die keine Körper sind (Fī annahū ǧawāhir lā aǧsām) weist al-Kindī die Immaterialität der menschlichen Seele nach, indem er zeigt, dass es sich bei ihr um die spezifische Form des Menschen handelt und also um ein Intelligibles. Auch hier kommt die Unterscheidung zwischen wahrnehmbaren Formen und intelligiblen Formen zum Tragen: Die Seele ist eine Form im letzteren Sinne. Die Begrifflichkeit erlaubt es al-Kindī, Aristoteles’ Definition der Seele als die „Form des Körpers“ nominell weiterhin anzuhängen. Mehr hierzu siehe Adamson/ Pormann, Aristotle’s Categories and the Soul: an Annotated Translation of al-Kindī’s That There Are Separate Substances.
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Pythagoreismus und bei der Theologie des Aristoteles macht32 – betont, dass diese Vermögen (die reizbaren und strebenden Vermögen) dazu neigen, die Seele irrezuleiten und in die Verbindung mit dem Körper zu versenken. Die Seele befindet sich wohl, wenn sie sich sammelt und auf ihren „geistigen“ Aspekt konzentriert. Dann steht ihr, zumal nach dem Tod, das Sein in einer rein „intelligiblen Welt“ (ʿālam al-ʿaql) und „im Lichte des Schöpfers“ (nūr al-bārī) offen.33 Ich kann mir sicher sein, dass sie tatsächlich überdauert, um an einem solchen Jenseits teilzuhaben, weil sie anders ist als der Körper und weil dieses Anderssein zeigt, dass der Tod meines Körpers nicht den Tod meiner Seele bedeutet. Als die unstoffliche und einfache Substanz, die sie ist, ist meine Seele vielmehr unsterblich. Al-Kindīs Eschatologie hält also dazu an – in Entsprechung zu seiner Erkenntnistheorie, die auf der Unterscheidung zwischen wahrnehmbaren Formen und intelligiblen Formen beruht –, das Sinnliche zurückzuweisen und nach dem Intelligiblen oder Geistigen zu streben. Sein ethisches Hauptwerk Über die Kunst, den Kummer zu zerstreuen betont diese Dichotomie nachdrücklich: „Niemand vermag all das zu erreichen, wonach es ihn verlangt, oder sich vor dem Verlust all der Dinge, die er liebt, zu bewahren, weil Dauer und Beständigkeit nicht von dieser Welt des Werdens und Vergehens sind, die wir bewohnen. Und darum kann es Dauer und Beständigkeit nur in der Welt des Intellekts geben (ʿālam al-ʿaql).“34
Das ist ein typisches Beispiel dafür, wie al-Kindī disparate Stränge des antiken Denkens zusammenfasst, in diesem Fall eine stoische und eine neuplatonische Vorstellung. Dieser zufolge sollten wir unser Glück nicht auf die irdisch-stofflichen Dinge bauen, weil sie uns früher oder später genommen werden. Wir sollten vielmehr das schätzen, was bleibt, nämlich – und das ist neuplatonisch gedacht – die intelligible Welt mit ihren immateriellen, universalen Formen. Erneut greift al-Kindī der späteren arabischen Philosophie voraus, während er dem griechischen Denken ein Echo zu verschaffen bemüht ist, und behauptet, dass die Philosophie selbst der Menschheit höchstes Gut sei. Denn die Philosophie ist das Studium der universalen Formen und nimmt uns das Verlangen nach den vergänglichen Dingen dieser Welt. Das Jenseits, mit dem al-Kindī aufwartet, ist nichts anderes als ein fortwährendes Erfassen dieser Formen und mithin das Paradies, wie ein Philosoph es sich ausmalt.
4. Naturwissenschaft Diese Betrachtungen könnten vermuten lassen, dass al-Kindī sich kaum für die strengen Naturwissenschaften interessiert. Doch weit gefehlt. Wie die anderen Neuplatoniker glaubt auch al-Kindī, dass die empirische Wissenschaft zum festen Bestand der Philosophie gehört. Und zwar hauptsächlich deshalb, weil die wahrnehmbare Welt gestattet, Gott mittelbar zu erforschen, oder in seinen Worten: „In den den Sinnen evidenten Dingen hat Dir Gott das Verborgene deutlich gemacht.“35 Geht man nach den Titeln, befassten sich sogar sehr viele von al-Kindīs verloren gegangenen Arbeiten mit den Naturwissenschaften, und etliche der erhalten gebliebenen tun das auch. Zwei dieser
32 33 34 35
Siehe Genequand, Platonism and Hermeticism in al-Kindī’s fī al-Nafs. Al-Kindī, al-Qawl fī n-nafs, S. 275.12f. Zitiert nach der Nummer des Abschnitts bei Ritter/Walzer, Uno Scritto Morale Inedito di al-Kindī, I.5–9. Al-Kindī, al-Ibāna ʿan al-ʿilla al-fāʿila al-qarība, S. 214.9.
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Wissenschaften sind in dem noch vorhandenen Werk besonders umfangreich vertreten: die Kosmologie und die Optik. 4.1 Kosmologie und Astrologie
Wie seine Nachfolger in der arabischen philosophischen Tradition übernahm auch al-Kindī die von Ptolemäus und Aristoteles überlieferte Kosmologie, wonach die Erde sich im Mittelpunkt eines sphärischen Universums befindet. Sie ist von Sphären umgeben, in die die Planeten eingebettet sind (angefangen mit dem Mond und der Sonne, die man beide für Planeten hielt), und schließlich von der Sphäre der Fixsterne. Al-Kindī deutet an, dass die Seele nach dem Tod eine Verbindung mit den Planetensphären eingeht: Im Diskurs über die Seele schreibt er Pythagoras eine solche Auffassung zu. Für al-Kindī ist das Wichtigste an den Himmelssphären oder Himmeln jedoch ihre Rolle als Werkzeug der göttlichen Vorsehung. Ein Sendschreiben widmet sich der Erklärung einer Passage im Qur’ān, worin es heißt, dass die Himmel sich vor Gott „niederbeugen“ (saǧada) (Über das Sich-Niederwerfen der äußersten Sphäre – Fī l-Ibāna ʿan suǧūd al-ǧirm al-aqṣā). Hier argumentiert al-Kindī, dass die Sterne lebendig sein müssen, da sie eine vollkommene und gleichförmige Kreisbewegung um die Erde ausführen. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass die Sterne über rationale Seelen verfügen; ihre Bewegung wiederum resultiere aus ihrem Gehorsam gegen Gottes Gebot. Diese von Gott gebotene Bewegung ist, wie es al-Kindī im Titel einer anderen Arbeit ausdrückt, „die unmittelbare Wirkursache des Werdens und Vergehens“ (vgl. Fī l-Ibāna ʿan al-ʿilla al-fāʿila al-qarība li-l-kawn wa-l-fasād). Mit anderen Worten: Die Himmel sind die unmittelbare Ursache für all die kommenden und schließlich ihr Ende findenden Dinge in der Welt der vier Elemente, der Welt unterhalb des Mondes. Die nichtunmittelbare oder ferne ursprüngliche Ursache ist natürlich Gott selbst. Al-Kindī macht sich daran, das empirisch zu belegen: Er sagt, wir alle können sehen, dass das Wetter und die Jahreszeiten von den Bewegungen der Himmelssphären und -körper abhängen,36 am augenfälligsten von denen der Sonne. Er erwähnt auch die galenische und hippokratische Ansicht, dass Aussehen und Charakter der Menschen davon abhängen, wo in der Welt sie leben.37 Auch dies sei auf den Einfluss und die Einwirkung des Himmels zurückzuführen. Im Zusammenhang mit der Frage, wie dieser Einfluss zustande kommt, beansprucht al-Kindī zwei inkompatible Erklärungen. In Über die unmittelbare Wirkursache des Werdens und Vergehens nimmt er auf Alexander von Aphrodisias Bezug,38 um zu argumentieren, dass die Rotation der Himmelssphären buchstäblich Reibung verursacht, wenn sie sich umeinander und um die sublunare Welt bewegen. Dieser Vorgang wühlt die vier Elemente (Erde, Luft, Feuer und Wasser) auf und bringt sie miteinander in Verbindung, um all die Dinge in der natürlichen Welt entstehen zu lassen. In einem anderen, nur auf Lateinisch erhalten gebliebenen Werk mit dem Titel Über die Strahlen liefert al-Kindī eine andere Erklärung.39 Diesmal versucht er, den Einfluss des Himmels im Rahmen einer allgemeinen Darlegung der Fernwirkung zu erklären. Seiner Ansicht nach üben viele Ursachen ihre Wirkung über „Strahlen“ aus, die sich geradlinig 36 37 38 39
Für eine Anwendung dieser Kosmologie auf meteorologische Themen siehe Adamson, Al-Kindī, 8. Kapitel, und für das im Allgemeinen Lettinck, Aristotle’s Meteorology and its Reception in the Arab World. Vgl. Galens Schrift Quod Animi Mores, die ins Arabische übertragen wurde: Biesterfeldt, Galens Traktat „Dass die Kräfte der Seele den Mischungen des Körpers folgen“ in arabischer Übersetzung. Wie dargelegt in Fazzo/Wiesner, Alexander of Aphrodisias in the Kindī-Circle and in al-Kindī’s Cosmology. Die Echtheit von Über die Strahlen ist eine ungelöste Frage; ich habe vorsichtig dafür plädiert, dass die Schrift echt ist und von ihm stammt, siehe Adamson, Al-Kindī, S. 188–191.
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fortbewegen. Das Feuer beispielsweise wärmt die Dinge, indem es in alle Richtungen Wärmestrahlen aussendet. Was die Sterne betrifft, so befindet sich der irdische Ort, der dem stärksten Einfluss eines Sternes ausgesetzt ist, direkt unter ihm, entlang einer geraden Linie. Diese Erklärung unterscheidet sich ohne Frage von der eher aristotelischen Erklärung aus der Unmittelbaren Wirkursache; die beiden Texte vertreten in der Tat fundamental andere Ansichten über das physikalische Wirkgeschehen: Über die Strahlen erläutert eine Wirkbeziehung aus der Ferne, eine actio in distans, während Über die unmittelbare Wirkursache des Werdens und Vergehens das, was dem Anschein nach eine Fernwirkung ist, auf eine Kontaktwirkung zu reduzieren versucht und die Reibungswärme ins Feld führt. Doch wie auch immer sein Einfluss erklärt wird, es scheint, dass der Himmel für al-Kindī die unmittelbare Ursache von allem ist, was in der natürlichen Welt geschieht. Während seine am deutlichsten zutage tretenden Wirkungen, wie etwa der Wechsel der Jahreszeiten, von jedem Beliebigen vorausgesagt werden können, gibt es eine Wissenschaft, die weniger offensichtliche Ereignisse voraussagt, indem sie die Bewegung der Sterne analysiert. Und dies ist die Sterndeuterkunst oder die Astrologie. Viele der Arbeiten al-Kindīs, die erhaltenen wie die verlorenen, widmeten sich der angewandten Astrologie und verhießen Hilfe bei der Lösung von Problemen und Fragen wie etwa „Wie wird sich diese Krankheit auswirken?“, „Wie kann ich einen vergrabenen Schatz finden?“, „Wann ist der günstigste Zeitpunkt für mich, eine Reise zu machen?“ und „Wie lange werden die Araber herrschen?“. Die Zufälle der textlichen Überlieferung sorgten dafür, dass der astrologischen Seite von al-Kindīs Denken in den darauffolgenden Jahrhunderten größeres Gewicht zufiel, sodass die Menschen des Mittelalters, die seine Schriften in Latein lasen, ihn für einen Sterndeuter hielten. Sie sahen in der Astrologie nicht zu Unrecht einen wichtigen Teil seines Denkens. Es ist kein Zufall, dass der größte unter den arabischen Sterndeutern, Abū Maʿšar al-Balḫī, ein Schüler oder Mitarbeiter al-Kindīs war.40 Philosophisch gesehen ist der vielleicht wichtigste Aspekt im Zusammenhang mit al-Kindīs Interesse an den Himmelssphären seine Behauptung, dass deren Bewegungen Werkzeug und Ausdruck der göttlichen Vorsehung sind. Wir haben es hier zugleich mit einer Bekräftigung der Universalität dieser Vorsehung zu tun, insofern als alle Dinge in unserer Welt von den Sternen herrühren und die Sterne von Gott zur Bewegung geschaffen wurden, und mit einer Bekräftigung des Gedanken, dass sich die göttliche Vorsehung durch eine rationale, empirische Wissenschaft erfassen und sogar vorhersagen lässt (denn al-Kindīs Auffassung nach ist die Astrologie eine ebensolche Wissenschaft). Gleichzeitig füllt seine Kosmologie die schematische Theorie von Über den wahren ersten vollkommenen Handelnden mit Gehalt. Gott sei der Urquell des Handelns, und dieses Handeln werde durch seinen unmittelbaren oder nächsten Gegenstand, den Himmel, lediglich auf die ferneren Handlungs- oder Einwirkungsgegenstände übertragen, nämlich auf uns und die sublunare Welt, in der wir leben. 4.2 Optik
Bei der Optik zeigt sich deutlicher, inwiefern al-Kindīs Auffassung eine unmittelbare Reaktion auf die philosophische Tradition der Griechen darstellt, während er gleichzeitig die Leistungen des großen Ibn al-Hayṯam (gestorben 1040) in mancher Hinsicht vorweg-
40
Siehe meinen Beitrag Adamson, Abū Maʿshar, al-Kindī and the Philosophical Defense of Astrology.
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nimmt.41 In der Sache ist al-Kindī zwischen zwei Autoritäten gefangen: zwischen Aristoteles und Euklid. Er bezieht sich auf beide in zahlreichen Arbeiten über das Sehen, deren wichtigste (wieder nur in der lateinischen Fassung erhalten) Über die Perspektive ist, eine Bearbeitung und Erweiterung von Euklids Optik.42 Der widerstreitende Einfluss von Aristoteles und Euklid im Bereich der Optik ist für al-Kindī ein ebenso heikles Problem wie die widerstreitenden metaphysischen Ansichten von Aristoteles und den Neuplatonikern. Aristoteles zufolge beruht das Sehen darauf, dass eine wahrnehmbare Form durch ein durchlässiges Medium wie etwa die Luft zum Auge übertragen wird. Das Medium kann die wahrnehmbare Form nur dann übertragen, wenn es lichtdurchflutet ist. Demnach braucht es zum Sehen vier Dinge: ein Wahrnehmbares beziehungsweise ein Wahrnehmungsobjekt, ein Auge, ein durchlässiges Medium zwischen Auge und Wahrnehmungsobjekt und Licht, das das Medium ausfüllt. Die Optik von Euklid dagegen lieferte geometrische Konstruktionen zur Erklärung optischer Phänomene, mit der Begründung, dass sich das Sehen und das Licht grundsätzlich in geraden Linien „ausbreiten“. Anhand dieser Konstruktionen wird etwa erläutert, wie Spiegel Bilder oder Licht aus bestimmten Winkeln reflektieren und wieso die Dinge unterschiedlich lange Schatten werfen. Die Erklärungskraft dieser Konstruktionen macht der aristotelischen Theorie Probleme. Al-Kindī veranschaulicht die Schwierigkeit mit einem Theon von Alexandria entlehnten Beispiel: Wenn wir von der Seite auf einen Kreis schauen, sehen wir eine Linie, keinen Kreis. Doch gemäß der Theorie des Aristoteles dürfte ein Kreis bloß seine eigene (kreisrunde) Form durch das Medium übertragen. Aristoteles kann nicht erklären, weshalb die Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln unterschiedlich aussehen. Aus diesem und aus anderen Gründen weist al-Kindī die aristotelische Theorie des Sehens zurück, bei der es sich um eine Theorie des „Eindringens“ handelt: Etwas (eine wahrnehmbare Form) muss von draußen in mein Auge (hinein)gelangen. Al-Kindī übernimmt stattdessen eine Theorie des „Heraustretens“, der zufolge unsere Augen Sehstrahlen in die Welt (aus-)senden.43 Wenn diese Strahlen auf beleuchtete Objekte treffen, sehen wir Objekte. Der Vorteil dieser Theorie ist es, dass Strahlen gerade Linien sind, was dem geometrischen Modell des Sehens von Euklid entgegenkommt. Al-Kindī verwendet das gleiche Modell für die Ausbreitung des Lichts und macht einen erheblichen gedanklichen Fortschritt, indem er nahelegt, dass Licht sich von jedem Punkt einer beleuchteten Oberfläche aus in geraden Linien und in alle Richtungen ausbreitet. Das steht in Einklang mit Über die Strahlen, worin es heißt, dass Dinge vermöge der über Verursachungskraft verfügenden Strahlen aus der Ferne aufeinander einwirken.44 In seinen Arbeiten über das Sehen gibt al-Kindī diesem Modell der Fernwirkung den Vorzug vor dem aristotelischen Modell der Wirkung durch unmittelbaren Kontakt (das Auge berührt das Medium, dieses das Objekt, und das erlaubt es der Form, vom Objekt auf das Medium überzugehen und dann weiter zum Auge). Dennoch ist er, wie dargelegt, nach wie vor bereit, an anderer Stelle davon zu reden, dass beim Sehen und den anderen Sinneswahrnehmungen „wahrnehmbare Formen“ empfangen oder aufgenommen werden.
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Siehe Lindberg, Alkindi’s Critique of Euclid’s Theory of Vision; Adamson, Vision, Light and Color in al-Kindī, Ptolemy and the Ancient Commentators. Rashed/Jolivet, Ouevres, Band 1, S. 438–523. Diese Theorie lässt sich mit der von Platon vergleichen, Timaios 45b–46c. Für eine Untersuchung von Über die Strahlen und Über die Perspektive siehe Travaglia, Magic, Causality, and Intentionality. The Doctrine of Rays in al-Kindī.
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5. Al-Kindī und der Islam Es gibt in den naturwissenschaftlichen Darstellungen al-Kindīs also ganz ähnliche Spannungsverhältnisse wie in seiner Metaphysik. Mögen daraus auch Unvereinbarkeiten resultieren, al-Kindī verfährt dennoch immer gleich: Er knüpft an die antiken Denker an und versucht, derartige Spannungen so gut es geht auszugleichen. Obwohl man al-Kindīs Arbeiten also unmöglich gerecht werden kann, ohne die griechische Überlieferung zu kennen, wäre es falsch zu sagen, dass sie einzig durch seine Rezeption und Abwandlung des griechischen Denkens Interesse beanspruchen dürfen. Wie angedeutet, versucht alKindī vorzuführen, dass die griechische Philosophie Probleme seiner Zeit anzugehen und zu lösen imstande ist, einschließlich derer, die aus der islamischen Theologie erwachsen sind. Das prägnanteste Beispiel hierfür ist, dass er von der Philosophie Gebrauch macht, um Textstellen des Koran zu erhellen. Über das Sich-Niederwerfen der äußersten Sphäre erklärt, weshalb der Qurʾān (Q 55.6) sagt, dass der Himmel und die Bäume sich vor Gott „niederwerfen“. Al-Kindī sieht darin eine Gelegenheit, die (oben erörterte) Idee auszulegen, wonach der Himmel das Werkzeug der göttlichen Vorsehung ist. Dem schickt er eine kurze Instruktion darüber voraus, wie man bei der Auslegung der heiligen Schrift des Islam mit uneindeutigen Ausdrücken umgeht. Ein anderes Beispiel für die Koranexegese ist der schon erwähnte Exkurs über die Schöpfung in Über die Zahl der Bücher des Aristoteles. In diesem Fall macht al-Kindī anhand eines Verses aus Sure 36 – der verkündet: „Wenn Gott etwas will, sagt er dazu nur: sei!“ – geltend, dass Schöpfungstätigkeit oder Erschaffen heißt, etwas aus dem Nichts ins Sein zu bringen. Ein paar Mal äußert er sich zu Propheten und Philosophen und stellt sie einander gegenüber. Philosophen müssen ausführliche Studien betreiben und zunächst die einführenden Wissenschaften beherrschen, etwa die Mathematik. Im Gegensatz dazu gelangen Propheten zum Wissen „ohne Zeit [die es für das Studium und dergleichen braucht], sondern allein durch Gottes Willen (er ist groß und erhaben!) durch die Reinigung ihrer Seelen und ihre Erleuchtung zur Wahrheit durch Seine Hilfe und Rechtleitung. Andererseits vermag der Philosoph zu den gleichen Wahrheiten vorzudringen wie der Prophet, wenn er die Mühe nicht scheut, sich ohne göttliche Inspiration ans Werk zu machen.“45
Wir haben es hier mit al-Kindīs wichtigster Äußerung zur Prophetie zu tun. Der springende Punkt ist, dass das Wissen des Philosophen und das des Propheten sich inhaltlich nicht unterscheiden.46 Bezogen auf das, was al-Kindī in diesen beiden Texten und in Über das Sich-Niederwerfen der äußersten Sphäre tut, leuchtet das allemal ein: Er liefert eine philosophische Erklärung der Wahrheit, die im Qur’ān bündiger und eleganter zum Ausdruck komme. Ein anderer für al-Kindīs Vorstellungen über die Prophetie maßgeblicher Text ist seine Epistel Über den Schlaf und den Traum (Fī Māhīyat an-nawm wa-l-ruʾyā). Darin bezieht er sich auf die in seinen anderen Arbeiten dargelegte Psychologie und greift auf die Unterteilung der Seelenvermögen in diejenigen der Sinneswahrnehmung und diejenigen des Geistes zurück. Mit den Sinnesvermögen steht die Fähigkeit in Zusammenhang, die Aristoteles „Vorstellungskraft“ nannte (al-Kindī verwendet sowohl den arabischen Ausdruck qūwa muṣawwira, das heißt das Vermögen, Formen aufzunehmen, als auch eine Transliteration 45 46
Al-Kindī, Fī Kammīyat kutub Arisṭūṭālīs, S. 373.2 sowie insgesamt S. 372.15–373.15. Für eine ähnliche Lesart siehe Endress, The Defense of Reason, S. 8.
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des griechischen Ausdrucks phantasia).47 Die Vorstellung empfängt und unterhält wahrnehmbare Formen bei Abwesenheit ihrer „Träger“ – sie ermöglicht es uns beispielsweise, einen Elefanten vorzustellen, auch wenn sich kein Elefant im Raum befindet. Sie ermöglicht uns zudem, wahrnehmbare Formen miteinander zu kombinieren, um ein reines Vorstellungsbild hervorzubringen, einen gefiederten Menschen etwa. Im Schlaf, wenn die Sinnestätigkeit zum Stillstand kommt, kann die Imagination gleichwohl aktiv sein und die Bilder erzeugen, die wir Träume nennen. Nachdem al-Kindī das konstatiert hat, geht er dazu über, das Phänomen des prophetischen Traums (ruʾyā) zu erklären. Menschen, die über eine besonders „reine“ und gut gerüstete Seele verfügen, können die Formen von wahrnehmbaren Dingen und Ereignissen in ihrer Vorstellung fassen oder erfahren, bevor diese eintreten, und so tatsächlich in die Zukunft blicken. Dazu kommt es dann besonders leicht, wenn die Sinne nicht aktiv sind, das heißt, wenn wir träumen. Al-Kindī bringt das zwar nicht explizit mit der religiösen Prophetie in Verbindung und er sagt auch nicht, dass die mit den Träumen einhergehende Prophetie von Gott herrührt (wie er das in Über die Zahl der Bücher des Aristoteles mit Blick auf Muḥammads Prophetie tut).48 Dennoch ist man sehr versucht, diese Arbeit al-Kindīs in die Nähe anderer naturalistischer Erklärungen der Wundergaben von Propheten zu rücken, wie sie von al-Ġazālī in Die Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa) kritisiert wurden. Jenseits der konkreten Frage nach der Prophetie bleibt der Bezug von al-Kindīs Arbeiten zur islamischen Theologie häufig unerwähnt. Doch viele der oben erörterten Themen müssen ebenso sehr vor dem Hintergrund des Islam des 9. Jahrhunderts wie dem des griechischen Denkens des 6. Jahrhunderts begriffen werden. So gesehen sind al-Kindīs wichtigste Gesprächspartner nicht die Aristoteles-Kommentatoren, sondern die Verfechter des kalām, oder der rationalen Theologie, und vor allem der Muʿtazila. Die Titel einiger seiner verloren gegangenen Arbeiten zeugen davon, dass al-Kindī sich der bis ins Einzelne gehenden Widerlegung diverser Auffassungen der Muʿtaziliten verschrieben hatte, insbesondere ihrer atomistischen Physik. Trotzdem scheint al-Kindī mit einigen der weiter gefassten Positionen einverstanden gewesen zu sein, die spätere Schreiber, einigermaßen obsolet, zur Definition der „Schule“ der Muʿtaziliten des 3./9. Jahrhunderts heranziehen wollten.49 Das Problem der Eigenschaften Gottes ist ein augenfälliger Berührungspunkt zwischen al-Kindīs falsafa und dem kalām der Muʿtazila. In beiden Fällen rührt der Hang zur negativen Theologie von dem unbedingten Verlangen her, das absolute Einssein Gottes zu behaupten. Aus Sicht der Muʿtazila verstieße es gegen den tawḥīd oder das Einssein Gottes, würde man ihm Eigenschaften zuschreiben, die nicht in seinem Wesen begründet liegen beziehungsweise sich von diesem unterscheiden. Denn nimmt man an, dass Gott sowohl gut als auch gnädig ist und dass seine Güte und Gnade sich voneinander und von Gott selbst unterscheiden – dann hat man es nicht mit einer, sondern mit drei Dingen zu tun: mit Gott, seiner Güte und seiner Gnade. Das verletzt die Grundlehre des Islam, dass an Gottes Göttlichkeit nichts sonst „teilhabe“. Im kalām jener Zeit wird das oft mit den Worten zum Ausdruck gebracht, dass nichts außer Gott „ewig“ 47 48
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Al-Kindī, Māhīyat an-nawm wa-r-ruʾyā, S. 295.4–6. Das ließe sich mit der arabischen Fassung von Aristoteles’ Parva Naturalia/Kleine naturwissenschaftliche Schriften kontrastieren, die explizit Gott als den Urheber der prophetischen Träume nennt: siehe Pines, The Arabic recension of the Parva Naturalia, S. 130–132; siehe auch Hansberger, How Aristotle Came to Believe in God-given Dreams: The Arabic Version of De divinatione per somnum. Die Muʿtaziliten stritten oft verbittert miteinander und bildeten noch keine einheitliche Schule mit einer (einzigen) Lehrmeinung. Die umfassendste Informationsquelle zum kalām in dieser Zeit ist van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra.
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Einzelne Denker und Werke
sein kann, wobei „ewig“ der Lehre zufolge „unerschaffen“ impliziert. Deshalb bestanden die muʿtazilitischen Theologen auch darauf, dass der Qur’ān geschaffen wurde und nicht mit Gott selbst ewig ist, wovon so manche ausgingen, weil es sich beim Qur’ān um Gottes Wort handelt. Diese Entgegensetzung hilft dem Verständnis von Über die Erste Philosophie auf die Sprünge, hilft, das ansonsten irritierende Nebeneinander von al-Kindīs Argumentationen – gegen die Ewigkeit der Welt und für das absolute Einssein Gottes – zu verstehen. Wie wir gesehen haben, vertritt auch al-Kindī die Ansicht, dass die These von der Ewigkeit der Welt der Behauptung gleichkommt, die Welt sei unerschaffen. Folglich stehen die Bemühungen um den Nachweis, dass die Welt nicht ewig ist, in engem Zusammenhang mit denen, geltend zu machen, dass Gott absolut einzigartig und eins ist.50
6. Fazit Al-Kindīs Position als der erste „Philosoph“ (faylasūf) der islamischen Welt macht ihn in mehreren Hinsichten zu einer Übergangsfigur. Seine Philosophie greift die antike Tradition auf, hebt zugleich aber an, auf ein ganz anderes intellektuelles Umfeld zu reagieren. Al-Kindīs Rezeption der griechischen Philosophie gibt der falsafa für die kommenden Generationen in manchem die Richtung vor: So finden etwa seine Sicht auf den Intellekt und seine Schöpfungstheorie in der ganzen arabischen Philosophie ihren Nachklang. AlKindīs Bemühen um die Aufnahme des griechischen Denkens in seinen Kreis erinnert uns zuallererst daran, dass Übersetzen immer Auslegen und Interpretieren ist und dass Philosophen den Höhepunkt ihres kreativen Schaffens erreichen können, wenn sie sich das Verstehen ihrer Vorgänger zur Aufgabe machen. Wie es scheint, ging es al-Kindī bloß darum, die griechische Philosophie weiterzugeben und zu zeigen, wie viel Kraft in ihr steckt und wie kohärent sie ist. Untrüglichstes Zeichen seines Erfolges ist die echte Philosophietradition, die er im Arabischen begründet hat.51 Doch so wie er sein Vorhaben auffasste, hatte er nicht die Absicht, innovativ oder kreativ zu sein, in der von mir dargelegten Weise. Er wollte unoriginell sein, und in der Hinsicht ist er gescheitert.
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51
Für eine weitergehende Erörterung von al-Kindīs Beziehung zu den Muʿtaziliten siehe Adamson, Al-Kindī and the Muʿtazila. Für die Beziehung zwischen Philosophie und Theologie in dieser Zeit siehe Adamson, Arabic Philosophy: Falsafa and the Kalām Tradition before Avicenna. An dieser Stelle bietet es sich an, etwas über al-Kindīs unmittelbares Vermächtnis zu sagen. Abū Maʿšar, der oben bereits erwähnte Astrologe, war ein wichtiger Mitarbeiter, und zu seinen Studenten gehörten as-Saraḫsī (über diesen siehe Rosenthal, Aḥmad b. aṭ-Ṭayyib as-Sarakhsī) und Abū Zayd al-Balḫī. Abū Zayd lebte lange genug, um Lehrer des im 10. Jahrhundert tätigen Philosophen al-ʿĀmirī zu sein, der auf al-Kindī und die in dessen Kreis entstandenen Arbeiten Bezug nahm. Al-Kindī beeinflusste auch andere neuplatonische Denker in dieser späten Periode, wie Miskawayh. Ungefähr zur selben Zeit aber wollte al-Fārābī von al-Kindīs Synthese des griechischen Denkens nichts wissen, wie oben erwähnt. Dass Avicenna al-Fārābīs Auffassung derjenigen al-Kindīs vorzog, könnte erklären, weshalb diesem in der späten Tradition wenig Beachtung geschenkt wurde, war die doch in erster Linie damit beschäftigt, auf Avicenna einzugehen. Für die Traditionslinie Abū Zayd/al-ʿĀmirī siehe Rowson, The Philosopher as Littérateur: al-Tawḥīdī and his Predecessors und Rowson, A Muslim Philosopher on the Soul and its Fate: al-ʿĀmirī’s Kitāb al-Amad ʿalā l-abad; Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch. Für den Neuplatonismus des 10. Jahrhunderts siehe auch Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam: Abū Sulaymān al-Sijistānī and his Circle.
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3. Die Theologie des Aristoteles Rotraud Hansberger (King’s College London) Die sogenannte Theologie des Aristoteles (lat. Theologia Aristotelis) stellt die umfangreichste erhaltene Schrift der arabischen Plotin-Überlieferung dar. Handelte es sich um eine bloße Übersetzung, gäbe es wohl geringen Anlass, sie hier in einem eigenen Kapitel zu besprechen. Wie jedoch schon in Kapitel II.1.2.2.1 angeklungen, weist der Text, ebenso wie der arabische Proklos und andere im Kindī-Kreis entstandene Werke, einen hohen Grad an Bearbeitung auf und stellt aufgrund seines dem griechischen Original gegenüber abgeänderten Inhalts durchaus einen philosophischen Neubeginn dar. Mit ihrer charakteristischen Version des Neuplatonismus hat die Theologie des Aristoteles in der Folge maßgeblich auf die Entwicklung der arabisch-islamischen Philosophie eingewirkt.
1. Art und Entstehung des Textes Im Arabischen unter dem Titel Uṯūlūǧīya Arisṭāṭālīs überliefert, stellt die Theologie des Aristoteles (im Folgenden: Theologie) eine durch Zusätze und Interpretamente erweiterte Paraphrase diverser Textabschnitte aus Plotins Enneaden IV–VI dar. Der Text existiert in zwei Fassungen, einer längeren und einer kürzeren. Wie verschiedene Forscher herausgearbeitet haben, geht die längere Fassung auf die kürzere zurück und ist somit jünger.1 Daher ist die ältere, kürzere Fassung für die Untersuchung der Entstehungsgeschichte der Theologie die entscheidende. Im Hinblick auf die Nachwirkung des Textes hat die längere Fassung aber ebenfalls Bedeutung: Sie wurde von verschiedenen Philosophen im arabischen Raum rezipiert und diente außerdem als Grundlage für die im 16. Jahrhundert entstandene lateinische Übersetzung.2 Da gegenwärtig keine arabische Edition der längeren Fassung vorliegt, steht eine genauere Erforschung ihres Einflusses sowie des Verhältnisses zwischen den beiden Fassungen noch aus. Wo nicht eigens angegeben, bezieht sich dieser Beitrag auf die ältere Fassung. Die Theologie ist der umfangreichste, aber nicht der einzige Text der arabischen PlotinÜberlieferung: Weitere Fragmente finden sich in der al-Fārābī zugeschriebenen Epistel der göttlichen Weisheit, in den in mehreren Textquellen überlieferten Sprüchen des griechischen Weisen und neuerdings in der arabischen Bearbeitung der aristotelischen Parva naturalia.3 Wie sich an sprachlichen und inhaltlichen Charakteristika festmachen lässt, gehen alle diese Fragmente, die Theologie eingeschlossen, auf eine gemeinsame arabische Quelle zurück, die sich allerdings nicht genau rekonstruieren lässt. Es wird heute allgemein als wahrscheinlich angesehen, dass die Übersetzung beziehungsweise Paraphrase von dem im Titel der Theologie genannten ʿAbd al-Maṣīḥ b. Nāʿima al-Ḥimṣī, einem zum Übersetzerkreis um den Philosophen al-Kindī gehörenden syrischen Christen, direkt auf der
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Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 162–165; für Hinweise auf frühere Studien siehe S. 227, Anmerkungen 19, 20. Siehe Kraye, The Pseudo-Aristotelian Theology in Sixteenth- and Seventeenth-Century Europe. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 5–7; D’Ancona, Pseudo-Theology of Aristotle, S. 78–83; Aouad, La Théologie d’Aristote et autres textes du Plotinus Arabus, S. 544–546, 564–565 und 571. Für die Fragmente in den arabischen Parva naturalia siehe Hansberger, Plotinus Arabus Rides Again.
Die Theologie des Aristoteles
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Grundlage des griechischen Textes abgefasst wurde. Auch die bearbeitenden Eingriffe stammen wohl im Allgemeinen von al-Ḥimṣī.4 Als Vorlage verwendete al-Ḥimṣī die von Porphyrios redigierte Ausgabe, in der Plotins Schriften in die uns bekannten sechs Enneaden angeordnet sind.5 Da alle bekannten Fragmente auf Abschnitte aus Enneaden IV–VI zurückgehen, liegt die Vermutung nahe, dass sich der Umfang der arabischen PlotinQuelle auf diese drei letzten Enneaden beschränkt hat. Ob sie eine mehr oder weniger lückenlose Paraphrase aller in diesen drei Enneaden enthaltenen Traktate umfasste oder ob schon sie nur eine Auswahl an Passagen enthielt und wie diese angeordnet waren, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit beurteilen.6 In der Theologie folgen die Fragmente jedenfalls nicht in einer den griechischen Enneaden entsprechenden Reihenfolge aufeinander. So wie sie überliefert ist, ist die Theologie kein durchkomponierter Text, sondern wurde wohl von einem (namentlich nicht bekannten) Schreiber aus Bruchstücken eines ihm nicht mehr vollständig zugänglichen Textes zusammengesetzt. Dieser Schreiber und Editor war es vielleicht auch, dem die irrtümliche Zuschreibung des Textes an Aristoteles unterlief.7 Die Entstehungszeit dieser Redaktion wird auf die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts angesetzt, während die ursprüngliche arabische Plotin-Paraphrase in die erste Hälfte desselben Jahrhunderts zu datieren ist.8 Laut einer einflussreichen These von Fritz Zimmermann war Letztere Teil einer umfangreicheren im Kindī-Kreis angelegten philosophischen Textsammlung zur Metaphysik, die auch Schriften von Proklos und Alexander von Aphrodisias enthielt. Nach der Vorstellung Zimmermanns zerfiel die Handschrift dieser Textsammlung bereits im 9. Jahrhundert und ging in Teilen verloren. Fragmente der in ihr enthaltenen Texte wurden in verschiedenen Zusammenhängen überliefert; einige Faszikel des arabischen Plotin-Textes bildeten so die Grundlage für die Theologie, deren Titel außerdem den Namen jener ursprünglichen Textsammlung widerspiegeln mag („Theologie“ oder „Theologie des Aristoteles“).9 Während Fritz Zimmermann die heutige Anordnung des Textes als generell chaotisch und sachlich wenig motiviert betrachtet und allein dem späteren Editor zuschreibt, gehen Cristina D’Ancona und Peter Adamson davon aus, dass die Theologie in ihrer heutigen Form zumindest ansatzweise eine aus sachlichen Gründen vorgenommene Zusammenstellung von Passagen aus den Enneaden reflektiert. Eine solche Auswahl könnte schon im Zuge des Übersetzens getätigt oder aber auf der Grundlage einer zuvor erstellten, durchgängigen Übersetzung beziehungsweise Paraphrase von Enneaden IV–VI vorgenommen worden
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Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 115–118; Adamson, The Arabic Plotinus, insbesondere S. 7–21, 171–177. Für eine teilweise abweichende Beurteilung siehe D’Ancona, Pseudo-Theology of Aristotle, Chapter I: Structure and Composition, S. 111; für die Frage einer syrischen Zwischenstufe siehe Anm. 24 unten. Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 113; Adamson, The Arabic Plotinus, S. 8. Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 123, 125–126, 134 und 152–162; Adamson, The Arabic Plotinus, S. 12–17; D’Ancona, Pseudo-Theology of Aristotle, Chapter I: Structure and Composition, S. 95–97. Vgl. Auch Hansberger, Plotinus Arabus Rides Again, S. 77–84. Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 120, 123 und 134; siehe aber auch Zimmermann, Proclus Arabus Rides Again, S. 35f. — Dieser Schreiber wird aber nicht der letzte gewesen sein, der den Text der kürzeren Version der Theologie verändert hat; siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 162–165. Siehe ebd., S. 128 und 135f. Siehe ebd., S. 119, 121f. und 128–131; vgl. Zimmermann, Proclus Arabus Rides Again, S. 33–47.
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Einzelne Denker und Werke
sein.10 Der wichtigste Punkt, den es hier festzuhalten gilt, ist, dass die Bearbeitung auf den Kindī-Kreis zurückzuführen ist und die arabischen Leser den plotinischen Text von Anfang an in einer veränderten Fassung kennenlernten.
2. Struktur 2.1 Titel und Vorwort
Der Text der Theologie lässt sich in drei Komponenten gliedern: in ein Vorwort, eine Reihe von Überschriften und den eigentlichen Haupttext der Plotin-Paraphrase. Dem Vorwort vorangestellt ist die Titelbezeichnung des Textes, die Aristoteles als Autor und Porphyrios als Kommentator nennt; beide Elemente sind vermutlich auf Korruptelen beziehungsweise Missverständnisse seitens des späteren Herausgebers der Theologie zurückzuführen. Höheren Wahrheitsgehalt scheinen die restlichen Angaben des Titels zu besitzen, welche al-Ḥimṣī als den Übersetzer, al-Kindī als den Herausgeber beziehungsweise Bearbeiter und den Kalifen al-Muʿtaṣim (regierte 833–842 n. Chr.) als den Widmungsträger des Textes anführen.11 In dem vermutlich von al-Kindī verfassten Vorwort12 werden Zweck, Inhalt und Aufbau der Schrift sowie ihr philosophischer Kontext dargelegt. Dieses Vorwort bezieht sich freilich nicht auf den Text der Theologie in seiner überlieferten Form, sondern auf seine ursprüngliche Fassung, die oben erwähnte arabische Plotin-Quelle. Mit seinen Angaben zu Struktur und Inhalt der Schrift gibt das Vorwort somit Hinweise auf die Gestalt dieses verlorenen Textes.13 Interessant ist es vor allem auch deswegen, weil es konkrete Informationen dazu liefert, welchen Platz al-Kindī und seine Mitarbeiter ihrer Bearbeitung der plotinischen Enneaden IV–VI innerhalb des von ihnen übersetzten philosophischen Œuvres zuwiesen, das stark vom aristotelischen Kanon geprägt war.14 Dabei sticht sogleich ein charakteristischer Zug der Plotin-Paraphrase ins Auge: das Bestreben, plotinische und aristotelische Philosophie harmonisch zu verbinden. So werden im ersten Teil des Vorworts Überlegungen zum letzten Ziel und Zweck von Wissen und Philosophie angestellt, die klare Bezüge zu Aristoteles’ Metaphysik (und in der Tat auch konkret zu der im Kindī-Kreis erstellten Übersetzung der Metaphysik) aufweisen.15 Das Vorwort erklärt, dass die Metaphysik die Existenz eines solchen letzten Zweckes erweist, der zugleich Quelle und Prinzip allen Wissens sowie allen Seins ist, und präsentiert dann die Plotin-Paraphrase als den Schlussstein der Philosophie: „[...] nun wollen wir unser Ziel nennen in dem, was wir in diesem unseren Buch darlegen wollen: 10
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Siehe Zimmermann,The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 125f.; D’Ancona, Pseudo-Theology of Aristotle, Chapter I: Structure and Composition, S. 85, 96 und 111; Adamson, The Arabic Plotinus, S. 12–17. DʼAnconas Annahme, dass die Bearbeitung auf der Basis einer durchgängigen Übersetzung erfolgt ist, hängt auch damit zusammen, dass sie al-Kindī als Bearbeiter des Textes ansieht. Für Zimmermann liegt es dagegen näher, anzunehmen, dass wir es nur mit einem einzigen von al-Ḥimṣī ausgeführten Arbeitsgang (und einem verlorenen Text) zu tun haben. Die Existenz von Fragmenten aus Enn. IV.6 in dem mit dem Kindī-Kreis in Verbindung stehenden Kitāb al-ḥiss wa-lmaḥsūs könnte darauf hinweisen, dass es tatsächlich eine durchgängige Übersetzung gab. Siehe Hansberger, Plotinus Arabus Rides Again, S. 80–84. Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 118–121; Adamson, The Arabic Plotinus, S. 18f. So die Auffassung von Peter Adamson und Cristina D’Ancona, siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 35–40 und D’Ancona, Al-Kindī on the Subject-Matter of the First Philosophy, S. 844–847 und 850–851. Zimmermann hält al-Ḥimṣī für den Verfasser, siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 121f. Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 125f. Siehe besonders Adamson, The Arabic Plotinus, S. 27–48. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 30–35.
Die Theologie des Aristoteles
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Dieses ist universales Wissen, ein Gegenstand, mit dem wir die Gesamtheit unserer Philosophie erschöpfen werden.“16 Dieser Gegenstand ist die „Theologie“, die Lehre von der Gottheit (al-qawl fī r-rubūbīya), mit der jener in der Metaphysik gewonnene Begriff des letzten Zieles und Grundes gefüllt werden soll. „Unser Vorhaben in diesem Buch ist die Lehre von der Gottheit und die Erläuterung dessen, dass sie die erste Ursache ist, dass sie Zeit und Ewigkeit unter sich hat, und dass sie in gewisser Weise die Ursache und der Urheber aller Ursachen ist; ferner, dass die erhellende Kraft von ihr auf den Geist überströmt, und dass sie von ihr her kommend über den Geist auf die universale, himmlische Seele strömt, des Weiteren vom Geist über die Seele auf die Natur, und von der Seele über die Natur auf die Dinge, die dem Entstehen und Vergehen unterliegen; dass dieser Akt von [Gott] her ohne Bewegung zustande kommt, dass die Bewegung aller Dinge von ihm her und durch ihn entsteht, und dass sich die Dinge auf ihn zubewegen wie in Sehnsucht und Verlangen.“17
Schon in dieser kurzen Skizze des Gegenstandes tritt die Einbindung aristotelischer Elemente in Plotins metaphysische Kosmologie in Erscheinung: Gott wird als erste Ursache bezeichnet und darüber hinaus konkret als Finalursache und unbewegter Beweger, der die Dinge durch ihr Verlangen nach ihm in Bewegung setzt (vgl. Metaphysik XII [Λ], 6–7). Anders als bei Aristoteles ist diese Ursache jedoch nicht mit dem Geist gleichzusetzen: Die plotinische Differenzierung zwischen Einem und Geist bleibt in der arabischen Fassung erhalten. Das Bemühen, Aristoteles und Plotin in eins zu bringen, wird hier in zweierlei Weise sichtbar: Zum einen wird die Bearbeitung der Enneaden und mit ihr die metaphysische Kosmologie Plotins in den Rahmen der aristotelischen Philosophie eingeordnet und zu ihrem Zielpunkt erklärt, zum anderen wird die plotinische Doktrin inhaltlich aristotelisch modifiziert. Die Homogenität der griechischen Philosophie wird in einer weiteren Passage durch die Behauptung demonstriert, dass alle maßgeblichen Philosophen die (aristotelische) Lehre von den vier Ursachen teilen.18 Diese Art von Synthese ist kein radikal neuer Einfall. Der Kindī-Kreis setzt hier gewissermaßen den in der spätantiken Kommentartradition vorherrschenden Trend fort, aristotelische und (im weiteren Sinne) platonische Philosophie als harmonische Einheit und als aufeinander aufbauend zu begreifen.19 Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass die Übereinstimmung der beiden philosophischen Richtungen nicht nur ein Ergebnis von Interpretation und Kommentierung bleibt, sondern, wie weiter unten zu sehen sein wird, durch die im Rahmen einer Übersetzung erfolgende Bearbeitung in die primären Bezugstexte gleichsam hineingeschrieben wird. 2.2 Die Überschriften
Dem Vorwort folgt eine Reihe von 142 Überschriften,20 welche eine Art detailliertes Inhaltsverzeichnis darstellen, dem aber sowohl Anfang wie auch Ende fehlen. Sie basieren auf Enneade IV.4 (Probleme der Seele II); aber es ist möglich (wenn vielleicht auch nicht
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Zitaten aus dem arabischen Text liegt die Edition von ʿAbdurraḥmān Badawī zugrunde (Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab). Übersetzungen des arabischen Textes stammen von mir. Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab, S. 6. Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab, S. 4f.; vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 28, 31; Zimmermann, The Origins of the SoCalled Theology of Aristotle, S. 124f. Vgl. Endress, The Circle of al-Kindī, S. 50–52; D’Ancona Costa, Porphyry, Universal Soul and the Arabic Plotinus, S. 48–51. Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab, S. 8–18.
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wahrscheinlich), dass in der ursprünglichen Fassung der gesamte Text der Paraphrase von solchen korrespondierenden Überschriften abgedeckt war.21 Zusammen mit der Nennung des Porphyrios im Titel der Theologie galten die Überschriften längere Zeit als Indiz dafür, dass die Theologie auf Porphyrios zurückzuführen sei, der in seiner Plotin-Biographie erwähnt, Kommentare und zusammenfassende Überschriften zu Plotins Werk verfasst zu haben.22 Diese These wurde von Fritz Zimmermann widerlegt; nennenswerter Einfluss von porphyrischem Gedankengut ist darüber hinaus vor allem von Cristina D’Ancona auch generell angezweifelt worden.23 2.3 Der Haupttext
Der Haupttext, die eigentliche Übersetzung beziehungsweise Paraphrase, ist in zehn Kapitel eingeteilt, die mit dem syrischen Wort mīmar (Traktat, Kapitel) überschrieben sind. Diese Einteilung sowie die Anordnung des Textes überhaupt gehen aller Wahrscheinlichkeit nach auf den späteren Herausgeber der Theologie zurück.24 Knapp zusammengefasst decken die Kapitel folgende Themen ab: mīmar 1: Der Abstieg der unsterblichen Seele in den Körper, ihre Rückkehr zu ihrem Ursprung nach dem Tod und ihre Verbindung zur göttlichen Welt während des Lebens. Grundlagen der Schöpfungslehre nach Platon (vgl. Enn. IV.7.13–15, 8.1–2). mīmar 2: Das Wissen der Seele in der höheren Welt; der Geist; die Erinnerung der Seele an die höhere Welt nach ihrem Abstieg in den Körper. Die Lehre von der das Wissen übersteigenden Unwissenheit. Die Teile und Vermögen der Seele; ihr Verhältnis zu Körper und Raum (vgl. Enn. IV.4.1–4, IV.3.18–20). mīmar 3: Warum die Seele weder materiell ist noch Harmonie. Die Seele als aktive Perfektion des Körpers (vgl. Enn. IV.7.8–82). mīmar 4: Die Schönheit der intelligiblen und jene der sensiblen Welt; ihr Verhältnis zueinander und ihr Ursprung im Geist. Die Überlegenheit der „inneren“ Schönheit; die Fähigkeit der geistigen Wesen zur Kontemplation der intelligiblen Schönheit (vgl. Enn. V.8.1–4). mīmar 5: Die providentielle Ausrüstung der Seelen im Diesseits mit geeigneten körperlichen Organen durch den Schöpfer; die zeitlose Perfektion der Schöpfung im Schöpfer. Die Einheit des Geistes und seiner Attribute (vgl. Enn. VI.7.1–2). mīmar 6: Die Himmelskörper als willenlose Vermittler kausaler Notwendigkeiten von der höheren Welt an die Sinnenwelt; die Wirkung von Magie und natürlicher Anziehungskraft (Sympathie) auf die animalische Seele; die Macht des Gebets. Die Unbeeinfluss-
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Vgl. Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 126–127 und 165–170. Peter Adamson (The Arabic Plotinus, S. 46) geht davon aus, dass die Überschriften auf Enneade IV.4 beschränkt waren, und der Bearbeiter die Aporiai über die Seele als passende Zusammenfassung für das von ihm anvisierte Programm ansah. Dies hängt mit Adamsons Auffassung zusammen, dass die arabische Plotinparaphrase schwerpunktmäßig dem Thema der Seele gewidmet war; siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 16f. Porphyrios, Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften, S. 66–69. Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 127f. und 131–134; D’Ancona Costa, Porphyry, Universal Soul and the Arabic Plotinus; Adamson, The Arabic Plotinus, S. 19–20, 102–106 und 159–162. Für porphyrischen Einfluss spricht sich u. a. Richard C. Taylor aus (Aquinas, the Plotiniana Arabica, and the Metaphysics of Being and Actuality). Dass das syrische Wort „Mīmar“ als Kapitelbezeichnung verwendet wird, lässt nicht notwendigerweise auf eine frühere syrische Fassung schließen, deren Existenz aus anderen Gründen unwahrscheinlich ist. Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 118, 126 und 150–152; Brock, A Syriac Intermediary for the Arabic Theology of Aristotle?
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barkeit der Vernunftseele sowie des kontemplativen und guten Menschen (vgl. Enn. IV.4.32, 39–45). mīmar 7: Die Notwendigkeit der Schöpfung und des Abstiegs der Seele in die Welt; ihre Mittelstellung und ihre Rückkehr. Universalseele und Einzelseele (vgl. Enn. IV.8.5–8). mīmar 8: Die Lebendigkeit der höheren Welt; die diesseitige Welt als ihr Abbild. Der Geist als alles Seiende umfassend. Die Überlegenheit der Potentialität gegenüber der Aktualität in der höheren Welt. Wie die herabgestiegene Seele die höhere Welt erinnert. Die Stufen der Emanation. Kontemplation der höheren Welt durch den tugendhaften Menschen (vgl. Enn. VI.7.11–14, IV.4.4–5, V.1.2–6, V.8.10–13). mīmar 9: Der Mensch als bestehend aus Körper und Seele und seine Unsterblichkeit qua Seele. Die Unkörperlichkeit der Seele. Die Tugenden beweisen die Zugehörigkeit der Seele zu beiden Welten (vgl. Enn. IV.7.1–4, V.1.10–12). mīmar 10: Das absolute Eine: perfekt und jenseits der Perfektion. Die drei primären Hypostasen als Ursachen. Die Seele in Pflanzen, Tieren und Menschen. Die Perfektion aller Dinge im Geist, einschließlich des Menschen, seiner seelischen Vermögen sowie der vernunftlosen Geschöpfe. Der Schöpfer erschafft, ohne zu reflektieren (vgl. Enn. V.2.1– 2, VI.7.2–11, V.8.4–7). Wie schon angedeutet, stellt der Haupttext keine Übersetzung im eigentlichen Sinne dar. Zum einen ist der Übersetzungsstil in der Regel nicht wortgetreu, weshalb auch von einer Paraphrase gesprochen wird. Jedoch gehen die Abweichungen vom griechischen Originaltext weit über das bei einer Paraphrase zu erwartende Maß hinaus. Nicht nur verändern die freien Paraphrasierungen oft den Sinn des Originals; der Text ist außerdem von durch den plotinischen Text nicht gedeckten Zusätzen durchzogen — seien es Einzelworte, kurze Phrasen, ganze Sätze oder Abschnitte von mehreren Zeilen. Dazu kommen ferner eine Anzahl längerer, in sich geschlossener, vom Text der Enneaden unabhängiger Textpassagen, die in die Paraphrase eingefügt worden sind. Aufgrund inhaltlicher wie sprachlicher Übereinstimmungen kann man annehmen, dass alle diese Abweichungen und Zusätze aus derselben Feder geflossen sind, wohl der des Übersetzers al-Ḥimṣī, auch wenn dies nicht eindeutig beweisbar und eine größere Rolle al-Kindīs theoretisch ebenfalls in Betracht zu ziehen ist.25 Die vom Bearbeiter eingefügten Änderungen und Zusätze verändern den Sinn des Textes in unterschiedlichem Grade, von lediglich verbreiternden Erläuterungen über Kommentierungen zu tiefergreifenden und mit Absicht vorgenommenen Uminterpretationen. Dabei erweist er sich als inspiriert — sei es direkt oder indirekt — von anderen griechischen oder griechisch-arabischen Texten, wie Aristoteles’ Metaphysik und De anima26 oder der Schrift Über die göttlichen Namen des Pseudo-Dionysius.27 Ebenso wird aber eine Auseinandersetzung mit Fragen und Theorien zeitgenössischer muslimischer Theologen (mutakallimūn), insbesondere der Anhänger der Muʿtazila, deutlich.28
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So D’Anconas Annahme, siehe Anm. 10. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 63–68. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 162–165; D’Ancona Costa, Cause prime non est yliathim. Liber de causis, prop. 8[9]: les sources et la doctrine, S. 116–118; D’Ancona Costa, La doctrine Néoplatonicienne de l’être entre l’antiquité tardive et le moyen âge. Le liber de causis par rapport à ses sources, S. 147–152; D’Ancona Costa, L’influence du vocabulaire arabe: causa prima est esse tantum, S. 80–92. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 165–170; D’Ancona Costa, Liber de causis, prop. 8 [9]: les sources et la doctrine, S. 112.
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3. Charakter und Doktrin 3.1 Anliegen und Voraussetzungen
Die verändernden Eingriffe des Bearbeiters der arabischen Plotin-Paraphrase lassen sich nur unter Berücksichtigung des generellen Anliegens des Kindī-Kreises richtig einordnen.29 Der von al-Kindī und seinen Mitarbeitern vertretene Hellenismus war keine museale Angelegenheit. Es ging nicht darum, das Erbe der Griechen um seiner selbst willen zu bewahren, sondern darum, das Wissen der Griechen für aktuelle Fragen und Probleme fruchtbar zu machen und weiterzuentwickeln. Im Hintergrund stand die Überzeugung, dass der Rationalismus der Griechen den besten Zugang zu wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnis bot. Mit diesem Anspruch trat der arabische Hellenismus innerhalb der intellektuellen Zirkel des ʿAbbasidenreiches in Konkurrenz zu den sich entwickelnden und zunehmend an Selbstbewusstsein gewinnenden arabisch-islamischen Disziplinen der Grammatik und Literaturwissenschaft, der rationalen Theologie (kalām) und der Traditionswissenschaft (ḥadīṯ). Dass die Philosophie (falsafa) ihren universalen Geltungsanspruch in einem skeptischen bis antagonistischen Umfeld verteidigen musste, mag einen Teil der Motivation dargestellt haben, Aktualisierungen nicht erst in eigenen, neuen Schriften vorzunehmen, sondern bereits die maßgeblichen Primärtexte den eigenen Anliegen anzupassen und das überkommene philosophische Corpus somit als sinnvoll, relevant und kohärent darzustellen. Es wird aber auch der Wunsch mitgespielt haben, die übersetzten Texte dem Leser mitsamt der als richtig empfundenen Interpretation an die Hand zu geben. Neben der schon erwähnten Harmonisierung von platonischem und aristotelischem Denken gehörte zu dieser Interpretation auch die Kompatibilität der griechischen Philosophie mit der monotheistischen Offenbarungsreligion des Islam. Auch dieser Zug war zu einem gewissen Grad durch die Auseinandersetzung christlicher Denker mit heidnischer Philosophie in der Spätantike schon vorbereitet worden.30 Plotins Philosophie wird sich aus mehreren Gründen dazu angeboten haben, die Lücke einer philosophischen Theologie zu füllen; es ist aber auch offensichtlich, dass sie den Anliegen des Kindī-Kreises nur unter Voraussetzung einer teilweise einschneidenden Bearbeitung gerecht werden konnte. Plotins Vorstellung des absoluten Einen, das Quelle alles Seienden, selbst aber jenseits des Seienden ist, mag vor dem Hintergrund des emphatischen Monotheismus des Islam sehr eingeleuchtet haben, zumal sie sich auch mit dem Bild eines von seiner Schöpfung wesentlich verschiedenen Schöpfergottes verbinden lässt. Das System der Hypostasen stellte allerdings größere Herausforderungen an den Bearbeiter; problematisch ist insbesondere die Rolle des Geistes, der bei Plotin Züge des Demiurgen trägt, welche die arabische Fassung freilich dem Einen vorbehalten will. Des Weiteren musste der Bearbeiter sich damit auseinandersetzen, dass laut Plotin dem Einen keine Eigenschaften zugesprochen werden können, da strenggenommen die Rede vom Einen überhaupt nicht möglich ist. Mit seinem Ringen um diese Frage fand sich der Bearbeiter gleichsam inmitten einer aktuellen Diskussion wieder: Der Status der Gott im Koran zugeschriebenen Attribute war ein von zeitgenössischen Theologen heiß umkämpftes Thema.31 Dies wird die Auseinandersetzung mit den Enneaden nicht weniger reizvoll gemacht haben. Plotins Differenzierung zwischen intelligibler Welt, der eigentli-
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Siehe Endress, The Circle of al-Kindī. Siehe Anm. 19. Siehe van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, Bd. 4, S. 425–477.
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chen Heimat der Seele, und materialer Welt, in der die Seele in den Körper „fällt“, aus der sie aber auch zurückkehren kann, lässt sich ferner als Parallele zur islamischen Vorstellung von Diesseits und Jenseits konstruieren, samt der Hoffnung, sich durch ein lauteres Leben die Aussicht auf ewige Seligkeit im Paradies zu erwerben. In diesem Zusammenhang bot Plotins platonisch ausgerichtete Seelenlehre, die der Seele eine vom Körper unabhängige Existenz zuspricht, ebenfalls wichtige Anknüpfungspunkte. Im folgenden Abschnitt werden anhand von Textbeispielen aus der Theologie einige der wichtigsten Punkte dargestellt, in denen die arabische Plotin-Paraphrase ihrer griechischen Vorlage gegenüber neue Wege einschlägt. Dabei wird auch die Vorgehensweise des Übersetzers und Bearbeiters beleuchtet. 3.2 Zentrale Themen 3.2.1 Die Seele als Entelechie: eine Synthese von Aristoteles und Plotin
Die Bedeutsamkeit der Seelenlehre im Kontext der Vermittlung zwischen islamischer Theologie und griechischer Philosophie ist schon angeklungen. Gleichzeitig ist sie ein Gebiet, auf dem sich (neu-)platonische und aristotelische Philosophie recht grundsätzlich unterscheiden — und ist somit auf mehreren Ebenen eine Herausforderung für den Bearbeiter der Theologie, der mit Aristoteles’ Psychologie nachweislich vertraut war.32 Grundsätzlich folgt die Theologie Plotin in seiner Kritik an Aristoteles’ Vorstellung von der Seele als Form des Körpers, ebenso wie in der Annahme, dass die Seele unabhängig vom Körper existiert. Trotzdem werden Elemente der aristotelischen Seelenlehre in größerem Maße beibehalten, vor allem was die enge Verbindung von Körper und Seele betrifft. Dadurch, dass der Bearbeiter nicht der platonischen Dreiteilung der Seele folgt, sondern die aristotelische Einteilung in vegetative, animalische und rationale Seele übernimmt, wird es ihm möglich, die zwei ersteren als mit dem Körper vergänglich aufzufassen und nur den rationalen Seelenteil als unsterblich anzusehen. Das Vorgehen des Bearbeiters lässt sich gut anhand seines Umgangs mit dem Begriff der Entelechie veranschaulichen. Plotin übt hier Kritik an der aristotelischen Auffassung der Seele als Form und Entelechie des Körpers. In der Theologie wird diese Charakterisierung jedoch nicht ganz aufgegeben. Wie in Text (i) deutlich wird, versteht der Bearbeiter die Aussage, dass die Seele Entelechie oder Perfektion des Leibes sei, nicht dahingehend, dass sie ihm im Sinne einer Form immanent sei; seiner Auffassung nach ist die Seele vielmehr eine äußere Entelechie: Sie ist dasjenige, was dem (belebten) Körper Perfektion verleiht, indem sie ihm nämlich die seelischen Vermögen vermacht, die allein ihn über den Status des Unbelebten hinausheben. Dabei kann der Bearbeiter implizit auf eine These zurückgreifen, die er auch in anderen Teilen der Plotin-Paraphrase vertritt und die in jeweils unterschiedlichem Sinne sowohl mit Plotin als auch mit Aristoteles verträglich ist: dass eine Ursache die Natur ihrer Wirkung stets teilen muss.33 Durch das umfängliche Textbeispiel (i) soll vor allem auch ein Eindruck vom Charakter der Paraphrase im Vergleich mit Plotins Urtext gegeben werden. Die dem griechischen Text direkt entsprechenden Segmente der arabischen Paraphrase sind kursiv gesetzt. Ge32
33
Für das Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Plotinparaphrase und der im Kindī-Kreis entstandenen De animaParaphrase siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 63–68; vgl. Arnzen, Aristoteles’ De anima. Eine verlorene spätantike Paraphrase in arabischer und persischer Überlieferung, S. 115–124; Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 124f. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 86.
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nerelle Entsprechungen sind darüber hinaus durch die aufeinander bezogene Abschnittszählung in beiden Texten kenntlich gemacht. Text i:
Enneade IV.7.85 (Harder, Bd. 1a, S. 55, 57): (1) In welchem Sinne aber die Seele als Entelechie bezeichnet wird, versteht man folgendermaßen. (2) Die Seele, sagt diese Lehre, verhält sich in dem Zusammengesetzten zum Körper wie die Form zum Stoff; sie ist aber nicht Form eines beliebigen Körpers und nicht sofern er bloß Körper ist, sondern eines „naturhaften“, „organischen“, „der potential Leben hat“.
(3) Ist sie dabei nun dem angeglichen mit dem sie verbunden ist, wie die Form einer Statue dem Erz, so muß die Seele, wenn der Körper zerlegt wird, mit geteilt werden, und wenn ein Teil abgehauen wird, muß auch bei dem Abgehauenen ein Teil der Seele sein. (4) Dann kann auch die Entrückung der Seele im Schlaf nicht stattfinden, wenn anders die Entelechie fest verbunden sein soll mit dem, dessen Entelechie sie ist; in Wahrheit aber könnte es nicht einmal Schlaf geben. (5) Wenn sie ferner Entelechie ist, könnte die Vernunft nicht den Begierden entgegentreten, sondern die Seele müßte als ganze immer nur einer einheitlichen, gleichmäßigen, widerspruchslosen Affektion unterliegen. (6) Wahrnehmungen könnte es vielleicht geben, Gedanken aber unmöglich.
Theologie III.67–76 (Badawī, S. 54–55) Sollten sie sagen: „Die besten Philosophen stimmen darin überein, dass die Seele die Perfektion des Körpers ist; weil aber Perfektion keine Substanz ist, ist auch die Seele nicht Substanz, da die Perfektion einer Sache aus ihrer Substanz entsteht“ — so entgegnen wir: (1) Wir müssen ihre Aussage, dass die Seele eine Perfektion sei, untersuchen, sowie in welchem Sinne sie die Seele „Entelechie“ nennen. Wir sagen also: Die besten Philosophen sagen, (2) dass die Seele als eine Form im Körper ist, durch die er ein beseelter wird, ganz so wie die Materie durch die Form zu einem Körper wird. Nur dass die Seele, auch wenn sie die Form des Körpers ist, nicht Form eines jeden Körpers qua Körper ist, sondern die Form eines Körpers ist, der potentiell lebendig ist. Wenn die Seele Perfektion gemäß dieser Beschreibung ist, so gehört sie nicht dem Bereich der Körper an. (3) Denn wenn sie Form eines Körpers wäre so wie die Form, die in einer bronzenen Statue entsteht, dann würde sie, wann immer der Körper zerteilt und zerstückelt würde, ebenfalls zerteilt und zerstückelt werden. Wann immer ein Körperteil abgeschnitten würde, würde ebenso von ihr ein Teil abgeschnitten werden. Dies aber ist nicht der Fall. Daher ist die Seele keine Form von Perfektion wie die natürliche und die künstliche Form. Vielmehr ist sie Perfektion, weil sie den Körper perfekt macht, so dass er Sinneswahrnehmung und Vernunft erhält. Wir sagen: (4) Wenn die Seele eine Form ist, die (dem Körper) anhaftet und sich nicht (von ihm) trennen lässt, wie die natürliche Form, wie kann sie sich dann im Schlaf zurückziehen und den Körper verlassen, ohne sich von ihm zu trennen? Ebensolches gilt für ihre Aktivität im wachen Zustand, wann immer sie zu sich selbst zurückkehrt: Denn zuweilen kehrt sie zu sich selbst zurück und (5) wehrt die körperlichen Dinge ab. Nur geht dies klarer aus ihrer Aktivität während der Nacht hervor, da die Sinne (dann) ruhen und ihre Funktionen eingestellt sind. Wenn die Seele eine Perfektion des Körpers qua Körper wäre, würde sie ihn nicht verlassen; (6, 9) sie würde um nichts wissen können, das sich fern von ihr befindet, und würde nur die ihr gegenwärtigen Dinge kennen, so wie das Wissen der Sinneswahrnehmung. Sie und die Sinne wären daher eins. Dies ist nicht der Fall, da die Seele auch solche Dinge kennt, die fern von ihr sind, und da sie die Affektionen, die die Sinne erfahren haben, kennt und unterscheidet, wie wir mehrfach gesagt haben. Aufgabe der Sinne ist es lediglich, Affektionen der Dinge aufzunehmen; Wissen und Unterscheidung sind Sache der Seele. Wir sagen: (5) Wenn die Seele eine natürliche Form der Perfektion wäre, würde sie nicht den Begierden des Körpers und vielen seiner Handlungen entgegenwirken; vielmehr würde sie ihm in nichts entgegenstehen, und wenn den Körper etwas affizierte, würde sich diese Affektion auch in der Seele finden.
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(7) Weshalb sie denn auch selbst eine andere Seele einführen, den Geist, welchen sie als unsterblich setzen. (8) Die überlegende Seele muß also in einem andern Sinn als diesem Entelechie sein, wenn überhaupt dieser Ausdruck zur Anwendung kommen soll. (9) Die wahrnehmende Seele ferner trägt in sich Abdrücke von den Wahrnehmungsobjekten auch wenn sie nicht da sind; sie können also nicht an die Gemeinschaft mit dem Körper gebunden sein; sonst müßten sie in ihr sein wie eingeprägte Formen und Abbilder; dann aber wäre es unmöglich andre aufzunehmen.
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Der Mensch würde lediglich Sinne besitzen, da Sinneswahrnehmung Aufgabe des Körpers ist, während Denken, Wissen und Überlegen nicht zu seinen Aufgaben gehören. (7) Dies war den Materialisten bewusst, und sie waren dadurch genötigt, eine weitere Seele und einen weiteren Geist anzunehmen, der nicht sterblich ist. (8) Wir hingegen sagen, dass es keine weitere Seele außer dieser vernunftbegabten Seele gibt, die jetzt im Körper weilt; diese ist es, welche die Philosophen als Entelechie des Körpers bezeichnen. Nur nennen sie die Seele ‚Entelechie‘ und „Form der Perfektion“ in einem anderen Sinne als dies die Materialisten tun: ich meine, dass sie keine Perfektion wie die natürliche, passive Perfektion ist, sondern vielmehr eine aktive Perfektion; sie stellt Perfektion her. (2) In diesem Sinne behaupten sie, dass die Seele die Perfektion des natürlichen, organischen Körpers ist, welcher potentiell beseelt ist.
a) Änderung der argumentativen Stoßrichtung
Ein auffälliges stilistisches Charakteristikum der Texte aus dem Kindī-Kreis ist die Darlegung von Argumenten in Form eines hypothetischen Schlagabtausches mit Vertretern einer Gegenposition, sowie die Verwendung einleitender und strukturierender Formeln zu diesem Zweck („Sollten sie sagen ... so entgegnen wir“ etc.).34 Eine solche Formel findet sich auch am Anfang des vorliegenden Textes. Die gegnerischen Protagonisten sind hier Vertreter materialistischer Positionen, die die Seele als körperlich betrachten. Ihnen fällt die Rolle zu, die aristotelische Definition der Seele als Entelechie (vgl. De anima II.1, 412a27–b1) vorzutragen. Allerdings wird sie ihnen nicht direkt in den Mund gelegt: Sie berufen sich auf die „besten Philosophen“, die maßgeblichen Autoritäten in der Philosophie. Diese werden nicht näher benannt, aber inhaltlich wird nahegelegt — zumindest in der Materie geschulten Lesern —, dass es sich um Aristoteles und die Peripatetiker handelt. Die vage, generelle Bezeichnung der „besten Philosophen“ macht es gleichzeitig möglich, hier einen Konsens zwischen den Hauptvertretern der griechischen Philosophie, Platon und Aristoteles, zu suggerieren. Der Autor der Paraphrase stellt es nun so dar, als ob die Materialisten Aristoteles’ Definition der Seele als Entelechie oder Perfektion zur Untermauerung ihrer eigenen Position in Anspruch nehmen wollten. Sie wird im Gegenargument („wir entgegnen“) nicht abgelehnt oder widerlegt. Während Plotin die Definition selbst kritisiert, wird in der Theologie der strittige Punkt als ein Problem der Interpretation dargestellt: Die Materialisten verstehen die Behauptung der Peripatetiker falsch und können nur deshalb glauben, sie zur Unterstützung ihrer eigenen Thesen heranziehen zu dürfen. Die korrekte Interpretation, so möchte der Bearbeiter zeigen, gibt sich nicht für eine materialistische Doktrin her. Mit diesem Schachzug gelingt es dem Bearbeiter, die von Plotin angeführten Argumente gegen die aristotelische Position ins Feld zu führen, ohne Aristoteles selbst kritisieren zu müssen.
34
Siehe Endress, Proclus Arabus, S. 183f.
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b) Entelechie und natürliche Form: das Argument der Äquivokation
Was Plotin in Enneade IV.7.85 kritisiert, ist die Vorstellung der Seele als Entelechie im Sinne einer Form des Körpers. Er führt mehrere Kritikpunkte an, zum einen, dass die Seele unter dieser Definition Aspekte der Körperlichkeit mit dem Körper teilen müsste (Teilbarkeit, Lokalisierung im Raum), zum anderen, dass anerkannte Funktionen der Seele wie Denken, Wahrnehmung, Widerstand gegen körperliche Begierden sowie das Phänomen des Schlafes dann als absurd oder unmöglich erscheinen müssten (3–6). Die Theologie reproduziert diese Kritik, aber unter geänderten Vorzeichen. Die von der Kritik betroffene Position wird als Missverständnis behandelt, als falsche Interpretation der These, dass die Seele die „Perfektion des Körpers“ sei. Dabei macht der Bearbeiter sich Plotins Bemerkung zunutze, dass „die überlegende Seele in einem anderen Sinne Entelechie“ sein müsse — falls man das Wort denn überhaupt benutzen wollte (8). Die Theologie nimmt ihn beim Wort. Sie spricht von zwei rivalisierenden Interpretationen des Begriffs der Entelechie (8). Den Materialisten schreibt sie die Auffassung zu, die Seele sei Perfektion im Sinne der „natürlichen“ Form oder Perfektion des Körpers, vergleichbar der Form einer bronzenen Statue. Die von Plotin übernommenen Gegenargumente werden so in Stellung gebracht, dass sie diese Annahme als widersinnig offenbaren. Daraus ergibt sich für den Bearbeiter der Theologie, dass eine andere Interpretation die richtige sein muss. Dass die ursprüngliche Definition als solche falsch sein könnte, wird hingegen nicht erwogen. Die Seele ist Perfektion des potentiell lebendigen, organischen Körpers, aber sie ist keine „natürliche“, „passive“ Perfektion, sondern eine „aktive“ Perfektion, die den Körper perfekt macht — nicht, indem sie ihm seine äußere Form gibt, sondern indem sie ihm Wahrnehmungsfähigkeit und Vernunft verleiht. Die aristotelische Definition wird so wiedergegeben, dass der Eindruck entsteht, der entscheidende Unterschied (den die Materialisten außer Acht lassen) sei die Tatsache, dass es sich um einen beseelten Körper handelt.35 c) Auslassung störenden Materials
Der Bearbeiter der Theologie versteht es nicht nur, Plotins Argumente für seine eigenen Zwecke nutzbar zu machen, sie umzudisponieren und in neuem Licht erscheinen zu lassen. Es macht den Eindruck, dass er auch mit sicherer Hand Material übergangen hat, das sich in sein Konzept nicht hätte einarbeiten lassen. Dies wird ebenfalls anhand von Mīmar 3 beziehungsweise Enneade IV.7.85 deutlich. Einige Abschnitte nach dem oben zitierten Absatz heisst es bei Plotin weiter: „Ferner: dieselbe Seele gehört mehreren Lebewesen nacheinander an. Wie kann die des ersteren die des zweiten werden, wenn sie die Entelechie von einem war? (Dieser Einwand wird deutlich an den Lebewesen, die sich in andere Lebewesen verwandeln.)“36 Diese Zeilen gehören einem Textabschnitt an, der im arabischen Plotin keine Entsprechung hat. Nun ist es zwar theoretisch möglich, dass der entsprechende Teil der Paraphrase nur aus überlieferungsgeschichtlichen Gründen fehlt. Besieht man sich jedoch das Konzept der Seele, das in der Theologie vertreten wird, so lässt sich vermuten, dass der Bearbeiter Plotins Affirmation der Seelenwanderung nicht übernehmen wollte und man es somit mit einer bewussten Auslassung zu tun hat. 35
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Vgl. auch Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 124 und Adamson, The Arabic Plotinus, S. 63–68. Für die Interpretationsgeschichte des aristotelischen Begriffs der „Entelechie“ von den (spät-)antiken Kommentatoren über die griechisch-arabischen Übersetzungen bis hin zu Avicenna siehe die ausführliche Diskussion in Wisnovsky, Avicenna’s Metaphysics in Context, S. 21–141. Enneaden IV.7.85.36–38, Übersetzung Harder, Bd. 1a, S. 57.
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3.2.2 Theologie: Das Eine als Schöpfergott
Obwohl man davon ausgehen kann, dass die Enneaden mit Bedacht als Grundlagentext für eine philosophische Theologie ausgesucht wurden, hat der Bearbeiter offensichtlich einige Mühe aufwenden müssen, um die plotinische Metaphysik und Kosmologie seinen theologischen Vorstellungen und Erfordernissen anzupassen. Sein Vorgehen kann hier freilich nur zusammenfassend und anhand einzelner exemplarischer Textstellen vorgestellt werden.37 Selbstverständlich wird Gott mit der höchsten Instanz im plotinischen System, dem Einen, gleichgesetzt. Schon an den im Text verwendeten alternativen Bezeichnungen für Gott lässt sich aber ablesen, dass der Bearbeiter eine Rolle Gottes betonen möchte, die das Eine in dieser Form bei Plotin nicht hat: die des weisen und voraussehenden Schöpfers der Welt. Der Bearbeiter benutzt häufig Worte wie „Schöpfer“ (ḫāliq, bārī, mubdiʿ), „(erster) Erzeuger“ (fāʿil), „(erster) Lenker“ (mudabbir), also traditionell-islamische, auf den Koran zurückgehende Namen Gottes.38 Dies geschieht auch an Stellen, wo der griechische Text vom „Einen“ spricht (siehe zum Beispiel Text [ii], 2). Um dem inhaltlich gerecht zu werden, muss der Bearbeiter gewisse Änderungen an Plotins Kosmologie vornehmen. Dies erfolgt nicht nur in vom griechischen Text unabhängigen Abschnitten; der Bearbeiter versteht es auch, einschlägige Passagen aus den Enneaden so umzuschreiben, dass bestimmte Aussagen, die bei Plotin über die Schöpfungstätigkeit des Geistes oder der Seele getroffen werden, in der arabischen Bearbeitung auf Gott beziehungsweise das Eine bezogen erscheinen (siehe zum Beispiel Text [iii], [iv]). Damit wird freilich auch ein weiterer Kernpunkt plotinischer Philosophie in Mitleidenschaft gezogen: die Ineffabilität des Einen. Laut Plotin entzieht sich das höchste Prinzip der Beurteilung und Beschreibung durch diskursives Denken und Sprache, weshalb Aussagen über das Eine überhaupt nur mit Vorbehalt und innerhalb gewisser Grenzen getroffen werden können.39 In der arabischen Fassung, in der Plotins abstraktes Eine zum Schöpfergott umgedeutet wird, gewinnt diese Schwierigkeit noch an Brisanz. Die Theologie erhält grundsätzlich mit Plotin aufrecht, dass dem Einen — Gott — keine Eigenschaften zugeschrieben werden können (siehe etwa Text [iv].). Zum einen würde dies Pluralität implizieren; zum anderen ist das Eine überhaupt erst die Ursache aller Eigenschaften und kann genau deshalb selbst keine solchen besitzen.40 Damit sieht sich der Bearbeiter Fragen gegenüber, der eine negative Theologie grundsätzlich ausgesetzt ist, und die, wie schon angemerkt, auch von zeitgenössischen Theologen diskutiert wurden:41 Wie soll von Gott gesprochen werden können? Was ist mit den Eigenschaften, die Gott im Koran zugeschrieben werden, wie Güte oder Weisheit? Besagt die Tatsache, dass diese Eigenschaften ihm nicht zugeschrieben werden können, dass sie ihm fehlen?
37 38
39 40 41
Für eine eingehende Darstellung siehe Adamson, The Arabic Plotinus, insbesondere Kapitel 4 und 5. Siehe Gimaret, Les noms divins en Islam. Exégese lexicographique et théologique für eine Studie des Themenkomplexes der muslimischen Gottesnamen; siehe auch van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, S. 427f. Gimaret betont den hier relevanten Aspekt von Umsicht und Weisheit der Bezeichnung al-mudabbir (S. 326). Siehe etwa Enneade III.8.10, Enneade V.3.13. Vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 85. Vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 113–115, 118f. und 122. Siehe Anm. 31 oben; vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 165–170, D’Ancona Costa, La doctrine Néoplatonicienne de l’être entre l’antiquité tardive et le moyen âge. Le liber de causis par rapport à ses sources, S. 144–146.
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Einzelne Denker und Werke
Wie Peter Adamson herausgearbeitet hat, wendet der Bearbeiter eine zweifache Strategie an, um dieses Problem zu lösen. Sie geht in ihren Ansätzen zwar auf Plotin zurück, wird in der arabischen Paraphrase aber auf ganz eigene Weise entwickelt.42 Der erste Teil der Strategie beruht auf der Annahme, dass Ursachen die Eigenschaften ihrer Wirkungen teilen. Eigenschaften Gottes sollten daher von den von ihm verursachten Wirkungen abgeleitet werden können (gleiches gilt für den Geist). Dem liegt ein aristotelischer Gedanke zugrunde: Um eine potentielle Eigenschaft aktuell werden zu lassen, muss die Wirkursache diese Eigenschaft selbst aktuell besitzen. Bei Aristoteles lässt sich dies allerdings nur auf natürliche Ursachen, nicht aber auf den unbewegten Beweger anwenden, da dieser nicht als Wirkursache, sondern rein als Zweckursache aufgefasst wird; die arabische Plotin-Paraphrase hingegen sieht das Eine, qua Schöpfer, durchaus als Wirkursache an.43 Dabei ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit, wenn nicht gar Paradoxie: Dass man Gott keine Eigenschaften zuschreiben kann, wird an anderer Stelle ausgerechnet damit begründet, dass Gott die Eigenschaften erst ursächlich hervorbringt; teilte er außerdem Eigenschaften mit dem Geist (seiner Wirkung), so würde der Unterschied zwischen beiden verwischt.44 Dieser Schwierigkeit begegnet der Bearbeiter mit dem zweiten Teil seiner Strategie: Ursachen besitzen Eigenschaften nicht in gleicher Weise wie ihre Wirkung, sondern in einem höheren Maße, in „eminenterer“ Weise. Was dies auf das Eine bezogen heißt, welches die Ursache des Geistes ist, der wiederum alles Seiende und alle Eigenschaften in sich umfasst, lässt sich an folgendem Textbeispiel ablesen: Text ii:
Enneade V.2.1 (Harder, Bd. 1a, S. 239) (1) [D]a Jenes [das heißt das Eine, R. H.] von vollkommener Reife ist (es sucht ja nichts, hat nichts und bedarf nichts), so ist es gleichsam übergeflossen und seine Überfülle hat ein Anderes hervorgebracht. (2) Das so Entstandene aber wendete sich zu Jenem zurück und wurde von ihm befruchtet, und indem es entstand, blickte es auf Jenes hin; und das ist der Geist.
Theologie X.6 (Badawī, S. 135) (1) Dass das reine Eine vollkommen und jenseits der Vollkommenheit ist, lässt sich daraus beweisen, dass es rein gar nichts braucht und nicht danach verlangt, irgendetwas zu gebrauchen. Aufgrund der Intensität seiner Vollkommenheit und seiner Überfülle entsteht ein weiteres Wesen aus ihm. (1a) Denn was jenseits der Vollkommenheit ist, kann nichts hervorbringen, was nicht vollkommen wäre. Wäre dem nicht so, wäre es nicht jenseits der Vollkommenheit. Denn wenn das Vollkommene etwas hervorbringt, dann muss folglich das, was jenseits der Vollkommenheit ist, Vollkommenheit hervorbringen, weil es das Vollkommene hervorbringt, das von keinem der hervorgebrachten Wesen an Stärke, Glanz oder Erhabenheit übertroffen werden kann. (2) Denn wenn das wahre Eine, welches jenseits der Vollkommenheit ist, das Vollkommene erschafft, so wendet sich jenes Vollkommene seinem Schöpfer zu und richtet seinen Blick auf ihn. Es wird angefüllt mit von ihm [ausgehendem] Licht und Glanz, und wird zum Geist.
Satz (1) zeigt den Widerspruch: In Abweichung von der griechischen Vorlage wird das Eine hier nicht nur als „vollkommen“, sondern auch als „jenseits der Vollkommenheit“ bezeichnet. Diese Formulierung, die mehrfach wiederholt wird (1a, 2), hat zunächst eine 42 43 44
Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 85–119. Siehe Aristoteles, Physik, II.7, 198a25–32 und III.1, 202a3–11, vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 87f. Siehe etwa Th. X.93 (Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab, S. 148, vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 113–115).
Die Theologie des Aristoteles
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negative Bedeutung: Das Eine ist nicht vollkommen in dem Sinne, in dem der Geist, das Inbild der Vollkommenheit, es ist. Da das Eine jedoch die Vollkommenheit des Geistes hervorbringt, kann dies aber auf der anderen Seite keinen Mangel an Vollkommenheit bedeuten. Das Eine ist deshalb „jenseits“ der Vollkommenheit in dem Sinne, dass es sie übersteigt. Das wiederum macht es dem Bearbeiter möglich, Plotins positive Beschreibung des Einen als „vollkommen“ parallel beizubehalten: Das Eine ist vollkommen in höherem Sinne, es ist mehr als vollkommen. Somit lässt sich die Spannung auflösen und negative mit positiver Theologie verbinden: Dass eine Eigenschaft wie Weisheit als solche dem Einen nicht zugeschrieben werden kann, heißt nichts anderes als dass es in einem Maße weise ist, das sich unseren Begriffen entzieht.45 Um dies auszudrücken, gebraucht der Bearbeiter neben der Formulierung „jenseits von ...“ auch Wendungen wie „der höchste Grad von ...“, „das reine ...“, „das erste ...“, „das wahre ...“ und so weiter (siehe Text [iv] für einige Beispiele). Ein besonderer Aspekt dieser Strategie ist es, dass sie dem Bearbeiter erlaubt, die Eigenschaften des plotinischen Geistes auf das Eine, auf Gott zu übertragen.46 Ein Beispiel bietet Text (iii). Text iii:
Enneade VI.7.3.7–9 (Harder/Theiler/ Beutler, Bd. 3a, S. 253) (1) Denn im Ewigen hat keine Überlegung statt; sie würde ja ein Vergessen voraussetzen, wie es früher gemacht wurde. (2) Ferner, würde es nach der Überlegung besser werden, so war es vorher nicht schön; war es aber schön, so bleibt es sich immer gleich. Schön aber waren die Dinge dann, wenn ihre Ursache in sie einbegriffen war.
Theologie X.41–42 (Badawī, S. 140) (1) Die ewigen Dinge sind nicht durch Überlegung und Denken erschaffen worden, denn es ist der Ewige, der sie erschaffen hat; der Ewige aber überlegt nicht, weil er vollkommen ist. Das Vollkommene aber führt sein Werk vollkommen aus, mit höchster Vollkommenheit, ohne dabei etwas hinzufügen oder wegnehmen zu müssen.47 (2) Sollte jemand sagen: „Möglicherweise hat der erste Erzeuger das erste Wesen [zunächst] hergestellt und ihm dann etwas anderes hinzugefügt, um es schöner und besser zu machen“, so sagen wir: Wenn [der erste Erzeuger] das erste Wesen in einem beliebigen Zustand herstellt, und ihm dann etwas hinzufügt und es [dadurch erst] schön wird, so war das erste Werk nicht schön. Es steht dem ersten Erzeuger jedoch nicht an, ein Werk zu vollbringen, das nicht schön ist: denn er ist das erste Schöne, der höchste Grad der Schönheit. Ist das Werk des ersten Erzeugers schön, so wird es schön bleiben, da nichts Vermittelndes zwischen ihm und dem ersten Erzeuger steht, weil alle Dinge in ihm sind.
Plotin spricht hier darüber, dass im Geist (bei Plotin mit dem Bereich des Ewigen assoziiert) kein diskursives Denken stattfindet: In ihm sind alle Dinge (als Formen) auf einmal gegenwärtig, in zeitloser Perfektion. Ihre Perfektion und „Schönheit“ beruht eben darauf, dass sie mit dem Geist, ihrer Ursache, vereint und keiner zeitlichen Ausfaltung und Entwicklung unterworfen sind. 45 46 47
Die Eigenschaft der Vollkommenheit hat freilich einen besonderen Status, da sie die vollständige, unveränderliche und gleichzeitige Präsenz aller anderen Eigenschaften impliziert. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 124. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 119 und 123f. G. Lewis ordnet diesen Abschnitt einem längeren unabhängigen Zusatz des Bearbeiters zu (Plotini Opera 2. Ed. Henry/Schwyzer, S. 441). Meiner Meinung nach ist hier aber eine Beziehung zum griechischen Text zu erkennen; die Grenze zwischen Paraphrase und Zusatzmaterial verschwimmt. Vgl. zu diesem Problem generell auch Adamson, The Arabic Plotinus, S. 9–11.
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Einzelne Denker und Werke
In der Theologie wird die Aussage Plotins vom Geist auf Gott, den „ersten Erzeuger‘“ (2), übertragen. Plotins „Ewiges“ wird in „ewige Dinge“ und „den Ewigen“ (Gott) unterschieden. Der Geist wird zum Objekt des Schöpfungsakts: Er kommt hier als das „erste Wesen“ und das „erste Werk“ vor; im Griechischen gibt es dazu wohlgemerkt keine Entsprechung. Es ist Gott, in dem „alle Dinge [...] sind“, zeitlos, perfekt („schön“) und unberührt von Diskursivität. Die Begründung liegt zunächst in der Vollkommenheit Gottes (1), die an sich schon ein Überlegen (als einen Prozess, der „Hinzufügen und Wegnehmen“ impliziert) ausschließt. Sie wird aber wiederum auch mit der Vollkommenheit des Geistes, des „ersten Werkes“ und dem Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen den beiden in Beziehung gesetzt: Das Werk des „ersten Schönen“, des Über-Schönen also, muss selbst schön (vollkommen) sein; dies wiederum setzt voraus, dass es ohne Überlegung erschaffen worden ist. In Anlehnung an Plotin erhält die arabische Fassung den Gedanken aufrecht, dass die sinnlich wahrnehmbare Welt erst durch Vermittlung von Geist und Seele entsteht.48 Dennoch gibt sie dem Einen eine prononciertere Rolle: Alle Dinge sind schon im Einen angelegt; im Erschaffen des Geistes hat Gott immer schon alles hervorgebracht, auch wenn die aktuelle Existenz der Dinge in der Zeit erst das Werk von Geist und Seele ist.49 Wie im letzten Satz des Textbeispiels anklingt, übersteigt Gottes Schöpfungsakt den des Geistes, da es sich bei ihm um einen direkten Schöpfungsakt handelt. Der des Geistes basiert hingegen auf „Vermittlung“, was erneut darauf hinweist, dass der eigentliche Schöpfungsakt derjenige Gottes, des Einen ist.50 Auch wenn sein erstes, direktes Werk der Geist und nicht die sinnlich wahrnehmbare Welt ist, wird so durch die Aussage, dass „alle Dinge in ihm sind“ (2) sowie durch die Betonung der vollkommenen Schönheit des „ersten Werkes“ das Bild eines für die perfekte und umsichtige Einrichtung der Welt direkt verantwortlichen Schöpfers gezeichnet. Auch im nächsten Textbeispiel (iv) wird der Geist auf seine vermittelnde Rolle beschränkt, während Gott als dem „ersten Erzeuger“ das zugeschrieben wird, was sich im parallelen griechischen Text auf den Geist bezieht.
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Die beiden plotinischen Prinzipien Geist und Seele werden in der arabischen Fassung zuweilen zusammengefasst; ein Beispiel dafür findet sich in Text iv (siehe unten). Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 140; vgl. auch Endress, The Circle of al-Kindī, S. 59, wo die Tendenz, die Pluralität der neuplatonischen göttlichen Prinzipien zu eliminieren, unter den Charakteristika der Kindī-Kreis-Übersetzungen aufgeführt wird. Dies hat auch Verbindungen zu der in der Theologie (sowie auch in der Adaption der Parva naturalia) vertretenen Doktrin, dass im Bereich des Geistigen Potentialität über der Aktualität steht; siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 94–102. Vgl. auch Th. III.47 (Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab, S. 51). Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 137–142. Eine solche Doktrin der durch den Geist vermittelten Schöpfung („creatio mediante intelligentia“) findet sich ebenso im Liber de causis (siehe D’Ancona Costa, La doctrine de la création „mediante intelligentia“ dans le Liber de causis et dans ses sources, S. 73–95), und ähnlich auch in der im Kindī-Kreis erstellten Adaption der Parva naturalia des Aristoteles (Kitāb al-ḥiss wa-l-maḥsūs); siehe Hansberger, How Aristotle Came to Believe in God-given Dreams, S. 54.
Die Theologie des Aristoteles
Text iv:
Enneade V.8.3 (Harder, Bd. 3a, S. 41) (1) Es ist also auch in der Natur eine rationale Form der Schönheit, Urbild der Schönheit im Leibe; aber der Form in der Natur ist diejenige in der Seele an Schönheit überlegen, von der auch die in der Natur stammt. (2) Am ungetrübtesten ist aber gewiß die Form in einer edlen Seele, sie schreitet an Schönheit noch weiter vor. (3) Denn indem sie die Seele schmückt und Licht dargibt von einem größeren Licht her, welches primär Schönheit ist, so läßt ebendiese ihre Anwesenheit in der Seele ermessen, wie herrlich die ihr übergeordnete sein muß, die nun nicht mehr in etwas eintritt, überhaupt nicht in einem anderen ist, sondern in sich selber. (4) Deshalb ist sie gar nicht mehr rationale Form, sondern Hervorbringer der ersten rationalen Form von der Schönheit, die sich in der seelischen Materie verwirklicht: das ist Geist, Geist, der immer Geist ist und nicht nur manchmal, denn er ist nicht zu sich selbst von außen zugefügt.
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Theologie IV.43–47 (Badawī, S. 61f.) Sollte jemand sagen: „Wir finden schöne Formen in Körpern“, so antworten wir: (1) Solch eine Form bezieht sich lediglich auf die Natur, denn es gibt in der Natur des Körpers eine gewisse Schönheit. Aber die Schönheit, die in der Seele existiert, ist vorzüglicher und ehrenwerter als diejenige in der Natur. Die Schönheit in der Natur kommt ja von nichts anderem als von der Schönheit in der Seele. (2) Die Schönheit der Seele zeigt sich dir nur im rechtschaffenen Menschen. (3) Denn wenn der rechtschaffene Mensch die irdischen Dinge von seiner Seele abwirft und seine Seele mit annehmlichen Werken schmückt, dann gießt das erste Licht von seinem Licht über ihn aus, und macht ihn schön und glänzend. Wenn die Seele ihre Schönheit und ihren Glanz sieht, weiß sie, woher jene Schönheit kommt, ohne dass sie sich für diese Erkenntnis des Analogieschlusses bedienen muss, weil sie es durch die Vermittlung des Geistes weiß. Das erste Licht ist nicht ein Licht in irgendeiner Sache, sondern es ist Licht allein, beständig in sich selbst. (4) Daher kommt es, dass dieses Licht die Seele durch Vermittlung des Geistes erleuchtet, ohne Eigenschaften zu bemühen wie die des Feuers oder sonstiger wirkmächtiger Dinge. Denn für alle wirkmächtigen Dinge gilt, dass ihre Werke durch Eigenschaften in ihnen entstehen, nicht durch ihr Sein selbst. Der erste Erzeuger jedoch erzeugt Dinge ohne irgendeine Eigenschaft, weil ihm gar keine Eigenschaft zukommt; vielmehr erzeugt er [sie] durch sein Sein. Daher ist er der erste Erzeuger, und der Erzeuger der ersten Schönheit, die sich im Geist und der Seele befindet. Der erste Erzeuger ist der Erzeuger des Geistes, der ewiger Geist ist, nicht unser Geist, da er kein abgeleiteter oder erworbener Geist ist.
Im griechischen Text, einem Abschnitt aus Enneade V.8.3, Über die geistige Schönheit, wird der Geist als das „größere Licht“ bezeichnet, welches letztlich das Licht spendet, mit dem die Form der Schönheit die edle Seele erhellt (3). Im arabischen Text wird dies zum „ersten Licht“, das etwas von seinem Glanz auf den rechtschaffenen Menschen ausgießt. Wie in (4) mit Nachdruck verdeutlicht wird, vertritt es aber nicht den Geist, sondern Gott, der „durch Vermittlung des Geistes“ die Seele erleuchtet. Den Abschnitt, in dem Plotin den Geist als „Hervorbringer der ersten rationalen Form der Schönheit“ betitelt, benutzt der Bearbeiter, um den Status Gottes als Schöpfer des Geistes — und damit der „ersten Schönheit“ — hervorzuheben (der Ausdruck „erste Schönheit“ wird hier also nicht im Sinne einer Übersteigung gebraucht wie das „erste Schöne“ in Text (iii). Vielmehr geht er direkt auf das Griechische τοῦ πρώτου λόγου κάλλους, „die erste rationale Form von der Schönheit“, zurück). Der Geist hingegen wird vom schaffenden Subjekt zum erschaffenen Objekt. Wie auch an anderen Stellen der Paraphrase51 wird er hier nahe an die Seele herangerückt: In beiden Fassungen handelt der Textabschnitt ja von der Schönheit, die sich in der edlen Seele manifestiert. Im griechischen Text wird sie vom Geist hervorgebracht; 51
Vgl. z. B. Th. X.192 (Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab, S. 163), Th. X.31 (Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab, S. 138).
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wie wir gesehen haben, wird diese Rolle in der arabischen Fassung von Gott übernommen. Da der Geist aber das ist, was Gott beziehungsweise das Eine hervorbringt, muss der Bearbeiter Geist und Seele nun zusammenziehen — er spricht also von der Schönheit, „die sich im Geist und der Seele befindet“. An einer Stelle, wo er Aussagen über den Geist auf Gott überträgt, mag es dem Bearbeiter ein besonderes Bedürfnis gewesen sein, den Unterschied zwischen den beiden Prinzipien eigens zu betonen. Jedenfalls fügt er an, dass Gott nicht wie der Geist (und andere Ursachen) durch Eigenschaften erschafft, sondern durch sein Sein allein (dies mag auch ein Grund sein, aus dem hier auf eine Charakterisierung Gottes als das „erste Schöne“ verzichtet wird). Aber gerade auch das Sein wird bei Plotin vornehmlich mit dem Geist assoziiert, während er das Eine als „jenseits des Seins“ bezeichnet.52 In diesem Punkt schlägt die arabische Bearbeitung auf signifikante Weise eine neue Richtung ein: Gott beziehungsweise das Eine wird immer wieder ausdrücklich mit dem Sein identifiziert. Zuweilen wird Gott als das „erste Sein“ (al-annīya al-ūlā/al-ann al-awwal)53 bezeichnet; und der Bearbeiter spricht des Öfteren davon, dass Gott „nichts als Sein“ (annīya faqaṭ) sei oder, wie im obigen Beispiel, „durch sein Sein allein“ schaffend tätig werde.54 Damit verbunden ist des Weiteren die Charakterisierung Gottes als das, was „wahrhaft in Aktualität existiert“, oder auch als „reine Aktualität“ (fiʿl maḥḍ).55 Mit solchen Wendungen wird nicht nur die radikale Einfachheit und Eigenschaftslosigkeit des Einen zum Ausdruck gebracht; es wird auch reflektiert, dass Gott, als Ursache des Seins, notwendigerweise selbst Sein ist — gemäß der Auffassung von Kausalität, die auch die vom Bearbeiter angewandten Regeln der Prädikation beeinflusst (siehe oben). Dies ist verbunden mit der oben angesprochenen Idee, dass Gott die Welt durch Vermittlung des Geistes erschafft: Gott erschafft das Sein, das der Geist durch Formgebung differenziert.56 Der unvermittelte Schöpfungsakt Gottes, aus dem der Geist resultiert, bringt alle Dinge in Potentialität hervor; ihre aktuelle Verwirklichung in der Zeit erfolgt durch die formgebende Vermittlung des Geistes. Insofern kann der Bearbeiter sagen, dass Gott die Welt sowohl durch einen vermittelten als auch einen unvermittelten Schöpfungsakt hervorbringt. Mit der Vorstellung des Einen als reine, nur auf sich selbst bezogene Aktualität überträgt der Bearbeiter einmal mehr Eigenschaften des aristotelischen Geistes auf das Eine, wie sie in der ebenfalls im Kindī-Kreis übersetzten (und im Vorwort der Theologie erwähnten) Metaphysik beschrieben werden.57 Während der Bearbeiter hier versucht, die direkte schöpferische Verantwortung Gottes für die Geschöpfe der sinnlich wahrnehmbaren Welt innerhalb des ihm gesetzten Rahmens aristotelischer und neuplatonischer Philosophie umzusetzen, kann er jedoch nicht in allen Punkten Konflikte mit dem muslimischen Gottesbild vermeiden. Die Vorstellung, dass Gott allein durch sein Sein schaffend tätig wird, impliziert, dass die Erschaffung der Welt mit Notwendigkeit erfolgt, nicht aus einem freien Willensakt Gottes heraus. Ebenso stellt sie einen zeitlichen Beginn der Welt infrage; zumindest die geistige Welt wird in der Theologie auch ausdrücklich als ewig bezeichnet.58 Freilich lässt sich mit dem 52 53 54 55 56 57 58
Siehe zum Beispiel Enneade V.4.2.33–48. Zur Terminologie siehe Endress, Proclus Arabus, S. 77–109; Adamson, The Arabic Plotinus, S. 125–128; D’Ancona, La doctrine Néoplatonicienne de l’être entre l’antiquité tardive et le moyen âge. Le liber de causis par rapport à ses sources. Vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 128–132. Th. III.48–49 (Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab, S. 51f.). Vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 133 und 141f. Vgl. ebd., S. 135–137. Siehe z. B. oben Text iii (1). Vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 142–145; D’Ancona Costa, Esse quod est supra eternitatem. La cause première, l’être et l’éternité dans le Liber de causis et dans ses sources, S. 53–72.
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Bearbeiter argumentieren, dass die Frage nach einem zeitlichen Anfang der Welt keinen rechten Sinn hat, da sich Gott ohnehin jenseits von Zeit (und Ewigkeit) befindet. Ähnliches gilt für die Notwendigkeit der Schöpfung: Der Bearbeiter kann — gemäß seiner Regeln der Prädikation — geltend machen, dass der Gegensatz zwischen Notwendigkeit oder Zwang und freiem Willensakt ein Phänomen der Sinnenwelt ist, deren Gesetzmäßigkeiten Gott nicht unterliegt: Er ist jenseits von Notwendigkeit und Willen; unsere Begriffe von Notwendigkeit und freiem Willen können auf ihn nicht angewendet werden. In Gott fallen Freiheit und Notwendigkeit zusammen.59 3.2.3 Körper-Geist-Dualismus und Leibfeindlichkeit
Im Textbeispiel (iv) kommt noch ein anderer Charakterzug zum Vorschein, der die arabische Plotin-Paraphrase prägt und auch in anderen Texten aus dem Kindī-Kreis anzutreffen ist: der Hang zu einer streng dualistischen Unterscheidung zwischen geistiger und sinnlich-körperlicher Welt sowie zu einer Leibfeindlichkeit, die in dieser speziellen Form von Plotins Philosophie nicht gedeckt ist.60 Damit geht außerdem eine Betonung des Ethisch-Moralischen einher, die ebenfalls bei Plotin nicht in gleicher Weise zu finden ist. Plotin stellt im oben zitierten Text körperliche Schönheit als solche nicht in Frage, auch wenn er darauf hinweist, dass sie der seelischen und geistigen Schönheit unterlegen ist. Der Bearbeiter geht jedoch noch weiter. Zum einen setzt er einen leicht anderen Schwerpunkt: Wo es bei Plotin heißt, dass „der Form in der Natur [...] diejenige in der Seele an Schönheit überlegen“ sei [Hervorhebung R.H.], nimmt er eine andere Art der Bewertung vor: Für ihn geht es nicht um einen höheren Grad an Schönheit, also darum, dass in der sinnlichen Welt die geistigen Formen in schwächerer Weise abgebildet werden, vielmehr wird Schönheit noch einmal nach anderen Kriterien beurteilt. Seelische Schönheit ist „vorzüglicher“ und „ehrenwerter“ als körperliche Schönheit. Zu dieser ins Moralische übergehenden Hierarchisierung passt auch die Betonung der ethischen Komponente: Wo Plotin nur von einer „edlen Seele“ spricht, führt die arabische Bearbeitung aus, dass der Seelenadel vornehmlich auf guten Werken basiert und darauf, dass die Seele alle „irdischen Dinge [...] abwirft“ (3). Damit aber wird auch körperliche, „irdische“ Schönheit im Grunde disqualifiziert und ihrer positiven Rolle als Abglanz und Zeugin einer höheren Schönheit enthoben. Diese Tendenz offenbart sich noch deutlicher in vom griechischen Text unabhängigen Textpassagen. In Text (v) wird die Hierarchie der Bewertung verschärft: Text v: Theologie X.19 (Badawī, S. 136) Denn solange die Seele im Geist weilt und auf ihn fixiert ist, wird sie sich nicht von ihm trennen. Wenn sie aber unaufmerksam wird und ihr Blick ermüdet von ihm abweicht, wird sie ihn hinter sich lassen und den Weg hinab antreten, vom ersten sinnenhaften, geschaffenen Wesen angefangen, bis sie das letzte ergriffen hat. Sie erzeugt schöne Wirkungen; aber wenn diese auch schön sind, sind sie doch hässlich und minderwertig verglichen mit den erhabenen Wesen, die in der intelligiblen Welt existieren. Die Seele erzeugt diese Wirkungen nur, wenn sie sich nach den niedrigsten und minderwertigsten Dingen sehnt. Wenn sie [solch ein Ding] ersehnt, erzeugt sie eine Wirkung in ihm; [diese
59 60
Vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 145–149, der auf Enneade VI.8 als wahrscheinliche Quelle für diesen Gedanken hinweist. Für ähnliche Interpretamente im arabischen Proklos siehe Endress, Proclus Arabus, S. 202–204; für die prägnante Wendung zu einem leibfeindlichen Dualismus in der arabischen Fassung der Aristotelischen Parva naturalia (Kitāb al-ḥiss wa-l-maḥsūs) siehe Hansberger, Kitāb al-Ḥiss wa-l-maḥsūs: Aristotle’s Parva naturalia in Arabic Guise, S. 146f. und 151–158.
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Wirkungen] aber sind im Urteil der sinnlichen Wahrnehmung schöner als jegliches Schöne.61 Partikuläre Dinge sind im Urteil der sinnlichen Wahrnehmung deshalb schöner, weil die sinnliche Wahrnehmung zu ihrem Bereich gehört. Das Hässliche aber freut sich und hat Gefallen an dem, was ihm ähnlich ist. Im Urteil der erhabenen, intelligiblen Wesen jedoch sind [solche Dinge] äußerst hässlich und minderwertig.
Das zur Sinnenwelt gehörige Schöne ist nicht nur weniger schön als das zur geistigen Welt gehörige Schöne: Mit der geistigen Welt verglichen ist es vielmehr „hässlich“ und „minderwertig“. Die rein positive Skala der Schönheit wird erweitert zu einer dualistischen Skala, die einen negativen Bereich des Hässlichen sowie einen positiven Bereich des Schönen umfasst. In strikter Zweiteilung werden jeweils Sinnenwelt und Hässlichkeit, intelligible Welt und Schönheit nebst Erhabenheit einander zugeordnet. Dies bedeutet auch, dass unser Urteil über das sinnlich Schöne völlig disqualifiziert wird: Es gibt in der Sinnenwelt nichts wirklich Schönes. Dass wir in ihr Schönes finden und benennen liegt nur daran, dass wir selbst mit unseren Sinnen der Sinnenwelt verhaftet sind und daher die ihr eigenen, letztlich falschen Maßstäbe anwenden. Das körperlich Schöne ist nicht mehr nur etwas, das in seiner Unvollkommenheit über sich hinausdeutet auf das wahre, vollkommene Schöne, sondern etwas, das die Seele vom wahren Schönen ablenkt.
4. Bedeutung und Einfluss Die Theologie ist für uns nicht nur als Zeugnis der philosophischen und übersetzenden Tätigkeit des Kindī-Kreises bedeutsam, sondern auch in ihrer Eigenschaft als wahrscheinlich wichtigste Quelle des arabischen Neuplatonismus. Schon innerhalb des Umfelds, in dem sie entstanden ist, hat die Plotin-Paraphrase offenbar auf die Gestaltung anderer Texte eingewirkt. Zu nennen sind hier die arabische Proklos-Version,62 die De anima-Paraphrase63 und die Bearbeitung der Parva naturalia64— allesamt im Kindī-Kreis entstandene Texte. So hat der arabische Plotin spätere Autoren nicht nur direkt, sondern über jene Texte auch indirekt beeinflusst. Der erste, der zu diesen Texten Zugang hatte und in vielfacher Weise auch auf die Plotin-Paraphrase als Quelle zurückgegriffen hat, war der Philosoph al-Kindī (gestorben nach 870), der ja auch an ihrer Entstehung mit beteiligt gewesen war.65 Bezüge zur Plotin-Paraphrase finden sich des Weiteren bei dem jüdischen Philosophen Isaac Israeli (gestorben 955),66 bei den Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ67 sowie in den Schriften einiger zur Sekte der Ismaʿīlīya gehörender Denker wie Abū Yaʿqūb as-Siǧistānī (gestorben etwa 971), die wohl auch Zugang zum arabischen Proklos hatten.68 Die Theologie wird außerdem in dem al-Fārābī zugeschriebenen Werk Die Harmonie zwischen den Auffassungen der zwei 61 62 63 64 65 66
67 68
Badawīs Text erscheint hier korrekt und ergibt besseren Sinn als Lewis’ Emendierung, welcher auch Adamson folgt; siehe Plotini Opera, Ed. Henry/Schwyzer, Band 2, S. 293, vgl. Adamson, The Arabic Plotinus, S. 63 und 213, Anm. 14. Siehe Endress, Proclus Arabus; D’Ancona Costa, Sources et structure du Liber de causis, S. 36–45. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 63–68. Siehe Hansberger, Plotinus Arabus Rides Again. Siehe Adamson, The Arabic Plotinus, S. 179–205 und Adamson, Al-Kindī. Dies betrifft vor allem auch die längere Fassung der Theologie; siehe Stern, Ibn Ḥasdāy’s Neoplatonist: A Neoplatonic Treatise and its Influence on Isaac Israeli and the Longer Version of the Theology of Aristotle, und Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 190–208, der gegen Sterns These einer gemeinsamen Quelle argumentiert und stattdessen die Auffassung vertritt, dass Israeli die längere Fassung der Theologie als Quelle benutzt hat. Vgl. auch Altmann/Stern, Isaac Israeli. A Neoplatonic Philosopher of the Early Tenth Century. Siehe Aouad, La Théologie d’Aristote et autres textes du Plotinus Arabus, S. 583. Siehe Walker, The Ismaʿilis, S. 76–77; Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 196–208.
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Weisen Platon und Aristoteles (Kitāb al-ǧamʿ bayna raʾyay al-ḥakīmayn Aflaṭīn wa-Arisṭūṭālīs) zitiert.69 Einfluss des arabischen Plotin findet sich bei Miskawayh (gestorben 1030)70 und, auch indirekt über den arabischen Proklos, bei al-ʿĀmirī (gestorben 992).71 Dass Avicenna (980–1037) direkten Zugriff auf die Theologie hatte, bezeugt ein von ihm verfasster Kommentar zu der Schrift.72 ʿAbd al-Laṭīf al-Baġdādī (gestorben 1231) scheint noch im 12. beziehungsweise 13. Jahrhundert Zugang zu der originären Kindī-Kreis-Textsammlung zur Metaphysik gehabt zu haben; seine Schrift Buch über die metaphysische Wissenschaft (Kitāb fī ʿilm mā baʿd aṭ-ṭabīʿa) enthält Material aus mehreren Graeco-Arabica, unter anderem der Plotin- und der Proklos-Version.73 Innerhalb der auf as-Suhrawardī zurückgehenden Tradition der Illuminationsphilosophie wurden noch Jahrhunderte nach ihrer Entstehung Kommentare zur Theologie verfasst; der Kommentar des Saʿīd Qummī fällt in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts.74 Dabei sind es auch und gerade diejenigen Themen, denen der Bearbeiter seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat, die auch späterhin in der arabisch-islamischen Philosophie aktuell bleiben. So werden die Fragen nach dem Wesen Gottes, nach der Natur seines Schöpfungsaktes, nach dem Wesen der Seele oder nach der Ewigkeit der Welt weiterhin entlang der in der Theologie entwickelten Linien diskutiert. Dies liegt nicht einseitig an einem arbiträren Einflussreichtum dieses Textes, sondern auch daran, dass es dem Bearbeiter gelungen ist, einige in der geistesgeschichtlichen und kulturellen Situation bleibend relevante Fragen zu identifizieren. Die Theologie ist somit zugleich Ausdruck und Anstoß der Auseinandersetzung der arabischen Philosophie mit diesen Fragen gewesen.
5. Bibliographische Hinweise 5.1 Arabischer Text
Eine kritische Edition der Theologie mit englischer Übersetzung und Kommentar wird derzeit im Rahmen eines europäischen Forschungsprojektes unter der Leitung von Cristina D’Ancona an der Universität Pisa vorbereitet. Bis zu ihrer Fertigstellung bleibt der Leser auf ʿAbdurraḥmān Badawīs Edition von 1947 angewiesen (Aflūṭīn ʿinda l-ʿArab, Kairo 1947 / 1955 / 1977). Sie hat den Vorteil, auch die meisten der übrigen Plotin-Fragmente zu enthalten. Außerdem berücksichtigt sie mehr Handschriften als die Erstedition von Friedrich Dieterici, der sich im Übrigen auch um die Verbindung zu den Enneaden nicht im Klaren war (Die sogenannte Theologie des Aristoteles, aus arabischen Handschriften zum ersten Mal herausgegeben von Friedrich Dieterici. Leipzig 1882). Als kritische Edition weist sie dennoch erhebliche Mängel auf.75
69 70 71 72
73 74 75
Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 177–183. Siehe Adamson, Miskawayh’s Psychology, S. 39–54. Siehe Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch; Rowson, A Muslim Philosopher on the Soul and its Fate, S. 42. Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 183f. und Adamson, Non-Discursive Thought in Avicenna’s Commentary on the Theology of Aristotle, S. 87–111; Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 130– 140. Siehe Zimmermann, The Origins of the So-Called Theology of Aristotle, S. 177–183. Siehe Aouad, La Théologie d’Aristote et autres textes du Plotinus Arabus, S. 589, und insbesondere Rizvi, (Neo)Platonism Revived in the Light of the Imams: Qādī Saʿīd Qummī (d. AH 1107/ AD 1696) and his Reception of the Theologia Aristotelis. Siehe die Rezension von G. Lewis in Oriens 10 (1957).
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Einzelne Denker und Werke
5.2 Übersetzungen
– Deutsch: Die einzige deutsche Übersetzung ist die von Friedrich Dieterici (Die sogenannte Theologie des Aristoteles. Aus dem Arabischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Fr. Dieterici. Die Philosophie der Araber im X. Jahrhundert n. Chr., Bd. 12–13. Leipzig 1883); sie beruht auf seiner nach dem heutigen Forschungsstand nicht mehr adäquaten Edition und ist nur mit Vorbehalt zu benutzen. – Englisch: Die Standardübersetzung stammt von Geoffrey Lewis. Sie ist im 2. Band der Plotin-Ausgabe von Henry und Schwyzer abgedruckt (Plotini Opera. Ed. Paul Henry und Hans-Rudolph Schwyzer. Band 2. Paris, Brüssel 1959) und enthält alle zum Zeitpunkt ihrer Abfassung bekannten Fragmente des arabischen Plotin. Parallel zum griechischen Text angeordnet, folgt sie allerdings nicht der Ordnung des arabischen Textes der Theologie. Die Beziehung des Textes zum griechischen Original ist typographisch kenntlich gemacht: Was dem griechischen Text entspricht, ist kursiv gedruckt, längere vom griechischen Text unabhängige Passagen erscheinen in kleinerem Schriftsatz. 5.3 Sekundärliteratur
– Adamson, Peter: The Arabic Plotinus. A Philosophical Study of the Theology of Aristotle. London 2002. Dies ist die bislang einzige dem arabischen Plotin gewidmete Monographie. Sie verbindet überzeugende philosophiehistorische Aufarbeitung mit klarer und zugänglicher Darstellung und stellt eine sehr gute Einführung in die Materie dar. Während Adamson auch die Herkunfts- und Überlieferungsgeschichte sowie die Autorschaft der Adaption bespricht, legt er einen deutlichen Schwerpunkt auf die philosophischen Inhalte der Paraphrase, die er unter den Rubriken „Psychology and Ethics“, „Language and Epistemology“ und „Theology and Metaphysics“ diskutiert. Ein Anhang zum Verhältnis zwischen dem arabischen Plotin und der Philosophie al-Kindīs schließt das Buch ab. – Adamson, Peter: The Theology of Aristotle. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy. Weblink: . Eine prägnante Zusammenfassung zur ersten Orientierung. – Aouad, Maroun: La Théologie d’Aristote et autres textes du Plotinus Arabus. In: Dictionnaire des philosophes antiques. Ed. R. Goulet. Band 1. Paris 1989, S. 541–590. Eine detaillierte Übersicht über die Forschungsgeschichte bis 1988, mit genauen Angaben zu Handschriften, Editionen und Sekundärliteratur. Cristina D’Ancona hat ihre Forschungsergebnisse zum arabischen Plotin, zum arabischen Proklos sowie zu den Beziehungen zwischen beiden Textgruppen in zahlreichen Artikeln veröffentlicht. Im Folgenden wird eine Auswahl genannt. – D’Ancona, Cristina: Porphyry, Universal Soul and the Arabic Plotinus. In: Arabic Sciences and Philosophy 9 (1999), S. 47–88. Eine kritische Diskussion der These, dass die Theologie maßgeblich von Porphyrius beeinflusst worden sei. – D’Ancona, Cristina: Pseudo-Theology of Aristotle, Chapter I: Structure and Composition. In: Oriens 36 (2001), S. 78–112. Eine Analyse des ersten Buchs der Theologie, aufgrund derer D’Ancona dafür argumentiert, dass der Theologie eine bewusst angelegte Struktur zugrundeliegt. – D’Ancona, Cristina: Recherches sur le Liber de causis. Paris 1995. Obwohl in erster Linie dem Liber de causis gewidmet, enthalten mehrere der in diesem Band versammelten Artikel wichtige Informationen und Diskussionen zur Theologie.
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– Zimmermann, Fritz W.: The Origins of the So-Called Theology of Aristotle. In: Jill Kraye, W. F. Ryan und Charles B. Schmitt (Ed.), Pseudo-Aristotle in the Middle Ages. The Theology and other Texts (Warburg Institute Surveys & Texts XI). London 1986, S. 110–240. Eine höchst einflussreiche, detaillierte Studie zur Textgeschichte der Plotin-Paraphrase, an deren Thesen sich alle nachfolgenden Studien zum arabischen Plotin in der einen oder anderen Weise orientieren.
Bibliographie: Adamson, Peter: Miskawayh’s Psychology. In: P. Adamson, Classical Arabic Philosophy, S. 39–54. –: Non-Discursive Thought in Avicenna’s Commentary on the Theology of Aristotle. In: J. McGinnis, Interpreting Avicenna, S. 87–111. –: The Arabic Plotinus. A Philosophical Study of the Theology of Aristotle. London 2002. –: Al-Kindī. Oxford 2007. –: The Theology of Aristotle. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy. Weblink: . Adamson, Peter (Ed.): Classical Arabic Philosophy. Sources and Reception. London 2007. Adamson, Peter und Taylor, Richard (Ed.): The Cambridge Companion to Arabic Philosophy. Cambridge 2005. Aertsen, Jan A. und Speer, Andreas (Ed.): Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea Mediaevalia 26). Berlin 1998. Altmann, Alexander und Stern, Samuel M.: Isaac Israeli. A Neoplatonic Philosopher of the Early Tenth Century. Oxford 1958. [anonym]: (Theologie des Aristoteles, arab.) - Die sogenannte Theologie des Aristoteles. Ed. F. Dieterici. Leipzig 1882. (Theologie des Aristoteles, arab.) – In: A. Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab, S. 1–164. (Theologie des Aristoteles, dt.) - Die sogenannte Theologie des Aristoteles. Übs. F. Dieterici. Leipzig 1883. (Theologie des Aristoteles, engl.) – Übs. G. Lewis. In: Plotini Opera. Ed. P. Henry und H.-R. Schwyzer. Band 2. Paris, Brüssel 1959. Aouad, Maroun: La Théologie d’Aristote et autres textes du Plotinus Arabus. In: R. Goulet, Dictionnaire des philosophes antiques, S. 541–590. Aristoteles: Physica. Ed. W. D. Ross, Oxford 1936. Arnzen, Rüdiger: Aristoteles’ De anima. Eine verlorene spätantike Paraphrase in arabischer und persischer Überlieferung. Leiden 1998. Badawī, ʿAbdurraḥmān: Aflūṭīn ʿinda l-ʿArab. Kairo 21977. Brock, Sebastian P.: A Syriac Intermediary for the Arabic Theology of Aristotle? In Search of a Chimera. In: C. D’Ancona, The Libraries of the Neoplatonists, S. 294–306. D’Ancona, Christina: Pseudo-Theology of Aristotle, Chapter I: Structure and Composition. In: Oriens 36 (2001), S. 78–112. –: Al-Kindī on the Subject-Matter of the First Philosophy. In: J. A. Aertsen und A. Speer, Was ist Philosophie im Mittelalter?, S. 841–855. –: «Cause prime non est yliathim». Liber de causis, prop. 8 [9]: les sources et la doctrine. In: C. D’Ancona, Recherches sur le Liber de causis, S. 97–119.
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–: Esse quod est supra eternitatem. La cause première, l’être et l’éternité dans le Liber de causis et dans ses sources. In: C. D’Ancona, Recherches sur le Liber de causis, S. 53–72. –: L’influence du vocabulaire arabe: causa prima est esse tantum. In: J. Hamesse und C. Steel, L’élaboration du vocabulaire philosophique au Moyen Âge, S. 51–97. –: La doctrine de la création «mediante intelligentia» dans le Liber de causis et dans ses sources. In: C. D’Ancona, Recherches sur le Liber de causis, S. 73–95. –: La doctrine Néoplatonicienne de l’être entre l’antiquité tardive et le moyen âge. Le Liber de causis par rapport à ses sources. In: C. D’Ancona, Recherches sur le Liber de causis, S. 121– 152. –: Porphyry, Universal Soul and the Arabic Plotinus. In: Arabic Sciences and Philosophy 9 (1999), S. 47–88. –: Sources et structure du Liber de causis. In: C. D’Ancona, Recherches sur le Liber de causis, S. 23–52. –: Pseudo-Theology of Aristotle, Chapter I: Structure and Composition. In: Oriens 36 (2001), S. 78–112. –: Recherches sur le Liber de causis. Paris 1995. D’Ancona, Cristina (Ed.): The Libraries of the Neoplatonists. Leiden 2007. [EI2 =] The Encyclopaedia of Islam. 2. Auflage. 13 Bände. Leiden 1960–2009. Endress, Gerhard: Proclus Arabus. Zwanzig Abschnitte aus der Institutio Theologica in arabischer Übersetzung. Beirut 1973. –: The Circle of al-Kindī. Early Arabic Translations from the Greek and the Rise of Islamic Philosophy. In: G. Endress und R. Kruk, The Ancient Tradition in Christian and Islamic Hellenism, S. 43–76. Endress, Gerhard und Kruk, Remke (Ed.): The Ancient Tradition in Christian and Islamic Hellenism: Studies on the Transmission of Greek Philosophy and Sciences dedicated to H. J. Drossaart Lulofs on his ninetieth birthday. Leiden 1997. Gimaret, Daniel: Les noms divins en Islam. Exégese lexicographique et théologique. Paris 1988. Goulet, Richard (Ed.): Dictionnaire des philosophes antiques. Paris 1989ff. McGinnis, Jon: Interpreting Avicenna: Science and Philosophy in Medieval Islam. Leiden 2004. Grellard, Christophe und Morel, Pierre-Marie: Les Parva naturalia d’Aristote. Fortune antique et médiévale. Paris 2010. Hamesse, Jacqueline und Steel, Carlos: L’élaboration du vocabulaire philosophique au Moyen Âge: Actes du colloque international de Louvain-la-Neuve et Leuven, 1214 septembre 1998. Brüssel 2000. Hansberger, Rotraud: How Aristotle Came to Believe in God-given Dreams. In: L. Marlow, Dreaming Across Boundaries, S. 50–75. –: Kitāb al-Ḥiss wa-l-maḥsūs: Aristotle’s Parva naturalia in Arabic Guise. In: C. Grellard und P.-M. Morel, Les Parva naturalia d’Aristote, S. 142–162. –: Plotinus Arabus Rides Again. In: Arabic Sciences and Philosophy 21 (2011), S. 57–84. Kraye, Jill: The Pseudo-Aristotelian Theology in Sixteenth- and Seventeenth-Century Europe. In: J. Kraye, W. F. Ryan und B. Schmitt, Pseudo-Aristotle in the Middle Ages, S. 265–286. Kraye, Jill, Ryan, W. F. und Schmitt, Charles B. (Ed.): Pseudo-Aristotle in the Middle Ages. The Theology and other Texts. London 1986. Lewis, Geoffrey: Rez. zu Badawī, Aflūṭīn ʿinda al-ʿArab. In: Oriens 10 (1957), S. 395–399. Marlow, Louise: Dreaming Across Boundaries. Dream and Dream Interpretation in Islamic Lands. Cambridge 2008.
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Plotin: (Enneaden, griech.) – Plotini opera. Ed. P. Henry/H. Schwyzer. 3 Bände. Oxford 1964–1983. – (Enneaden, griech., dt.) – Schriften. Ed. und übers. R. Harder, R. Beutler und W. Theiler. 5 Bände. Hamburg 1956-1967. Porphyrios von Tyros: Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften. In: Plotins Schriften. Übs. R. Harder, Band 5c, Hamburg 1958. Rizvi, Sajjad: (Neo)Platonism Revived in the Light of the Imams: Qādī Saʿīd Qummī (d. AH 1107/ AD 1696) and his Reception of the Theologia Aristotelis. In: Adamson, Classical Arabic Philosophy: Sources and Reception, S. 176–207. Stern, Samuel M.: Ibn Ḥasdāy’s Neoplatonist: A Neoplatonic Treatise and its Influence on Isaac Israeli and the Longer Version of the Theology of Aristotle. In: Oriens 13–14 (1961), S. 58–120. Taylor, Richard C.: Aquinas, the Plotiniana Arabica, and the Metaphysics of Being and Actuality. In: Journal of the History of Ideas 59 (1998), S. 217–239. Van Ess, Josef: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des theologischen Denkens im frühen Islam. 6 Bände. Heidelberg 1991–1997. Walker, Paul E.: The Ismaʿilis. In: P. Adamson und R. Taylor, The Cambridge Companion to Arabic Philosophy, S. 72–91. Wisnovsky, Robert: Avicenna’s Metaphysics in Context. London 2003. Zimmermann, Fritz W.: The Origins of the So-Called Theology of Aristotle. In: J. Kraye, W. F. Ryan und B. Schmitt, Pseudo-Aristotle in the Middle Ages. The Theology and other Texts, S. 110–240. –: Proclus Arabus Rides Again. In: Arabic Sciences and Philosophy 4 (1994), S. 9–51.
4. Der arabische Liber de causis und seine Erfolgsgeschichte im lateinischen Westen Christian Schäfer (Bamberg) Im Verlauf des 13. Jahrhunderts gelangte im lateinischen Westen ein Werk mit dem Namen Das Buch von den Ursachen (Liber de causis) zu großer Berühmtheit, das den Zeitgenossen als eine metaphysische Schrift des Aristoteles galt, näherhin als eine Art lange verschollenes missing link in dessen Metaphysik: Es befasste sich nämlich mit der Problematik der immateriellen Substanzen und erfüllte damit relativ passgenau die Erwartungen an eine Fortführung der Themen des 12. Buchs der Metaphysik, insbesondere der Verursachungslehre und des Unbewegten Bewegenden.1 Das Werk zirkulierte in einer lateinischen Übersetzung des arabischen Originals, die Gerhard von Cremona (gestorben 1187) in Toledo angefertigt hatte. Das arabische Original wiederum stellt eine – mehr oder minder stark überarbeitete – Zusammenfassung und Umdeutung der Elementatio oder Institutio theologiae (des „Theologischen ABCs“) des Proklos Diadochos aus dem 5. Jahrhundert dar, wie auch Thomas von Aquin, der um 1270 eine lateinische Fassung der Elementatio zum Vergleich vorliegen hatte, feststellten konnte: Der Liber de causis sei offenkundig von irgendeinem der Philosophen der Araber als Auswahl aus dem genannten Buch des Proklos zusammengetragen (videtur ab aliquo philosophorum Arabum ex praedicto libro Proc[u]li excerptus)2. Allerdings ist man sich nach wie vor nicht ganz sicher, wie viele Zwischenschritte im Übergang von Proklos zur arabischen Urfassung oder Endfassung des – wohl – 9. Jahrhunderts gelegen haben mögen: Dass dazwischen mindestens ein christlicher (griechischer oder syrischer) Kompilator und Übersetzer anzunehmen sein muss, und dass eine ursprünglich knappere Zusammenfassung der Proklosschrift allmählich durch weitere philosophische Einflüsse aus anderen Quellen angereichert worden ist, gilt als gesichert.3 So kann die proklische Elementarlehre als strukturgebendes und thementragendes Skelett angesehen werden, in das verschiedene Versatzstücke anderer Provenienz eingefügt und aufgefüllt wurden, aber eben auch interessantes eigenständiges Gedankengut des arabischen Bearbeiters, der sich daher nicht als geistlos verkürzender Zusammenschreiber charakterisieren lässt. Die Aneignung der neuplatonischen Philosophie im Liber de causis anhand des Gerüstes der Elementatio lässt sich daher vielleicht am besten als ein Belegfall dessen ansehen, was Rémi Brague als „stoffwechselartig umsetzende Verwertung“ (digestion) griechischen Gedankenguts in der islamischen Philosophie und als rela1 2 3
Vgl. für einen immer noch sehr brauchbaren Überblick dazu Saffrey, Gegenwärtiger Stand der Forschung zum Liber de causis. Thomas von Aquin, Proömium zur Expositio in Librum de causis (Darlegung zum Buch über die Ursachen). Es gibt dazu jedenfalls umfangreiche und detaillierte Untersuchungen von Philosophiehistorikern, Mediävisten und Arabisten, die zeigen, wie verwirrend und kompliziert die Entwicklungslinien verlaufen sein könnten. Vgl. zum Beispiel die maßgebliche Studie von D’Ancona, Sources et structure du Liber de causis oder die einschlägigen Stellen zum Liber de causis in Endress, The Circle of al-Kindī. Nach wie vor lesenswert zum Thema der Entstehungsgeschichte ist Saffrey, Gegenwärtiger Stand der Forschung zum Liber de causis. Dass mehrere Schriften des Proklos vor der Jahrtausendwende ins Syrische übertragen wurden, steht nach Dodds, Proclus: The Elements of Theology, S. xxviii, fest. Vgl. dort auf S. xxiv auch die kurzen, aber interessanten Ausführungen zum Zusammenhang von proklischer Elementatio und Liber de causis. Dass vor einiger Zeit eine dem Liber de causis sehr ähnliche, aber eben nicht textgleiche arabische Zwillingsschrift aufgetaucht ist, die in der Forschung u. a. den Namen „Liber de causis II“ erhalten hat und statt eine direkte Abhängigkeit vom bisher bekannten Text des Liber de causis eher ein gemeinsames Vorgängerwerk nahezulegen scheint, hat die Lage nicht gerade vereinfacht: vgl. Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch, S. 55–61.
Der arabische Liber de causis und seine Erfolgsgeschichte im lateinischen Westen
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tiv konstantes Vorgehen derselben in dieser Aufnahmetätigkeit bezeichnet hat.4 Im Folgenden werden noch einige belegende Beispiele dafür ausgeführt werden, wie das zu verstehen ist.5
1. Das Buch vom reinen Guten Über die Entstehungsgeschichte des Liber de causis lässt sich folgender Grundbestand an als gesichert geltenden Fakten und ernstzunehmenden Konjekturen zusammentragen: Alle Evidenzen verweisen die Entstehung des Textes nach Bagdad und an den dortigen im 9. Jahrhundert rege tätigen Übersetzerkreis. Sie widersprechen damit einer älteren Forschungsansicht, die zeitweilig eine Abfassungszeit im 12. Jahrhundert favorisierte. Zu diesen Evidenzen gehören etwa sprachliche Besonderheiten, die auf den Bagdader Stil des 9. Jahrhunderts hindeuten.6 Gewichtiger zählen jedoch Nachweise von Zitaten und parallelen Textstücken bei islamischen Denkern vor dem 12. Jahrhundert, denen der Liber de causis offenbar vorlag. Besondere Aufmerksamkeit haben dabei Stellen aus dem Werk von al-Kindī hervorgerufen, was auch die Frage aufgeworfen hat, ob nicht dieser (oder einer seiner unmittelbaren Schüler) als Verfasser oder Auftraggeber des Liber de causisTextes anzusehen sein könnte.7 Die inhaltliche Nähe zum Denken al-Fārābīs hatte übrigens in der Zeit nach dem Bekanntwerden des Liber de causis im Westen und vor dem Aufweis der Proklosvorlage Vermutungen genährt, die 31 Leitsätze der Schrift stammten zwar von Aristoteles, die nachfolgenden Erklärungen dieser Sätze seien aber al-Fārābī zuzuschreiben: Der Text selbst8 findet sich nämlich (ähnlich wie die Elementatio des Proklos) formal in 31 Lehrsätze – Propositionen – aufgegliedert, die durch erklärende Ausführungen inhaltlich bereichert und gefestigt werden. Für die Frage der „stoffwechselartigen Verwertung“ der Vorlage ist dabei von Bedeutung, dass allein schon die Anzahl und die Anordnung dieser Eingangsthesen oder Leitsätze im Liber de causis gegenüber der Elementatio vielsagende Modifikationen aufweisen, um dem ganz eigenen Grundanliegen des arabischen Autors besser gerecht zu werden. In der für das scholastische Denken des lateinischen Westens so einflussreichen lateinischen Übersetzung kursiert das Buch in den Handschriften unter zwei verschiedenen Titeln: Einmal, und zwar seltener, als Liber de expositione bonitatis purae (Buch von der Darlegung des reinen Guten), und dann als Liber de causis (Buch von den Ursachen), der Titel, der sich schließlich allgemein durchsetzt. In den (auffallend wenigen) arabischen Hand4 5
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Vgl. Brague, Inclusion et digestion. Die folgenden Ausführungen zur Philosophie des Liber de causis und ihrer Aufnahme im Westen, vor allem bei Thomas von Aquin, greifen in Vielem zurück auf eine frühere Veröffentlichung des Verfassers: Schäfer, Die ontologische Realdistinktion im Liber de causis. Vgl. Fidora/Niederberger, Von Bagdad nach Toledo, S. 21; Taylor, Remarks on the Latin Text and the Translator, S. 77; sowie Endress, Proclus Arabus und Endress, The Circle of al-Kindī. Vgl. D’Ancona, Al-Kindī et l’auteur du Liber de causis. Ein sicherer terminus ante quem für den Liber de causis scheint sich aus dem Todesjahr al-ʿĀmirīs (992) zu ergeben, da die Aufnahme des Liber de causis in dessen Schriften als unabweisbar gilt: Vgl. Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch, S. 52. Die erste wissenschaftliche Ausgabe des arabischen Textes legte Otto Bardenhewer vor: Bardenhewer, Die ps-aristotelische Schrift Über das reine Gute. Die heute maßgebliche kritische Edition ist Taylor, The Liber de causis (Kalām fī maḥḍ al-ḫayr); Taylor bietet auf S. 106–113 eine ausführliche Darstellung und Diskussion der arabischen Handschriften, ähnlich in Taylor, The Liber de causis: a Preliminary List of Extant Manuscripts, schließlich Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch, S. 52f. Gleichwohl bietet der Liber de causis seine ganz eigenen editorischen Probleme, die noch nicht vollständig bewältigt sind und eine letztgültige Ausgabe des arabischen Originaltextes bislang hintertrieben haben.
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schriften trägt das Werk unter Autorenzuweisung an Aristoteles den Titel Buch vom reinen Guten (Kitāb al-ḫayr al-maḥḍ).9
2. Die Thematik des Liber de causis Mit dem in zwei Varianten überlieferten Titel sind aber auch schon gleich die ersten inhaltlichen Probleme der Schrift aufgeworfen. Der Liber de causis ist nämlich im Grunde – ähnlich wie seine neuplatonische(n) Vorlage(n) – eine axiomatische Metaphysik mit dem Versuch, in einer Reihe von aufeinander rück- und weiterverweisenden Lehrsätzen zu zeigen, wie man die gesamte Wirklichkeit aus einem einzigen ersten Grund herleitend erklären kann.10 Wie und was aus dieser Erstursache alles entsteht, wird methodisch über bestimmte Ableitungsregeln dargestellt, die für den Autor als intuitiv richtig unzweifelhaft gelten. Solche aus dem Textverlauf erkennbaren Ableitungsregeln sind zum Beispiel: – was vollkommen ist, das bleibt nicht für sich, sondern wirkt über sich hinaus; – das Bewirkende ist vollkommener als das Bewirkte; – Bewirkendes und Bewirktes sind einander ähnlich; – je vollkommener das Bewirkende, desto umfassender die Wirkung; – Einheit geht der Vielheit voraus; und anderes mehr.11 Damit ergibt sich im Liber de causis eine typisch neuplatonische Stufenordnung der Gesamtwirklichkeit, in der auf die absolute und einzige Erstursache (Gott) der allumfassende Geist oder, um in der philosophiehistorisch für den Neuplatonismus eingebürgerten Terminologie zu bleiben, der „Intellekt“ folgt, der wiederum der seelischen Welt übergeordnet ist, die ihrerseits die Natur lenkt und beherrscht und Ursache für das Leben in der Körperwelt ist, und so weiter. Besonderes Augenmerk legt der Liber de causis in der Reflexion dieser Ableitungsfolge anschließend auf die Frage nach zeitlichen und unzeitlichen (oder überzeitlichen) Verursachungsmodi sowie generell auf die Frage nach der Entstehung der Zeit und in der Zeit, was auch von den lateinischen Kommentatoren später mit großem Interesse besprochen wurde. Aus dieser nur sehr kurzen Darstellung ist bereits erkennbar, welche Probleme eine Übersetzung allein schon des Titels Liber de causis aufwirft. Denn Kausalität soll hier offenbar alles abdecken, von „Gründen“ über „Ursachen“ bis zu „Prinzipien“ oder „Begründungen“, wie sie eben in den verschiedenen Lehrsätzen des Buchs dargestellt und ausgeführt werden. Genau diese Problematik der rechten Bestimmung von materialen Gründen und formalen Begründungen innerhalb der für das Denken des Liber de causis so bezeichnenden ontologischen Stufung der Wirklichkeit ist in der Forschung immer wieder mit Aufmerksamkeit verzeichnet worden. Dieser Problemkreis war auch themengebend für die lesenswertesten und originellsten Untersuchungen zu Einzelthemen des Liber de cau9
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Weitere Titelvarianten insbesondere der lateinischen und hebräischen Übersetzungs- und Kommentierungstradition zitiert zum Beispiel Rolf Schönberger in seiner Einleitungsstudie zur Übersetzung von Schönfeld, Liber de causis, S. VII. Am Begriff „axiomatisch“ sei im Folgenden auch trotz bestehender Bedenken in der gängigen Literatur festgehalten, die teilweise einen engeren Axiomatikbegriff favorisiert. Vgl. dazu etwa Niederberger, Zwischen De Hebdomadibus und Liber de causis. Eine ausführlichere Liste klassisch gewordener Axiome aus dem Liber de causis liegt vor bei Saffrey, Gegenwärtiger Stand der Forschung zum Liber de causis, S. 482.
Der arabische Liber de causis und seine Erfolgsgeschichte im lateinischen Westen
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sis, insofern er als „typisch“ für die islamisch-arabische Aufnahme, Transformation oder „Pseudomorphose“ antiker Metaphysik gelten konnte. Ein bedeutendes Theoriestück, das bei den muslimischen Philosophen (wie al-Fārābī) und bei den lateinischen Kommentatoren genauso wie in der modernen Forschung gesteigertes Interesse hervorgerufen hat, betrifft dabei das grundlegende Verhältnis von Erstursache und Intellekt in der Hervorbringung aller anderen Wirklichkeiten. Der damit verbundene Auffassungsstreit über den rechten Begriff von (im weitesten Sinne) „Verursachung“ ist daher ein Identifikationsmerkmal der Philosophie des Liber de causis geworden und ist dafür verantwortlich, dass die Schrift mehr als nur philosophiehistorisch von Belang ist. Man kann dieses zentrale Thema der Schrift wie folgt darstellen:
3. Die philosophischen Innovationen im Liber de causis Insbesondere in der 3. und der 8. Proposition12 des Liber de causis fallen verschiedene Besonderheiten auf, welche die veränderte Darstellungsabsicht des anonymen Autors gegenüber seiner antiken griechischen Vorlage klar zu erkennen geben. So haben diese Lehrsätze, wie einige andere des Liber de causis auch, erstens kein eindeutig identifizierbares Pendant in den Propositionen der proklischen Elementatio, was wiederum bereits Thomas von Aquin in seiner Behandlung der 8. Proposition aufgefallen war: Diesen Lehrsatz habe Proklos nur in eher allgemeinerer Weise aufgestellt (hanc propositionem Proclus ponit sed universalius), sagt er in seinem Kommentar zum Liber de causis; und es ist tatsächlich so: Das Thema dieses Lehrsatzes hat Proklos in seiner theologischen Elementarlehre eigentlich nur in Form einer recht allgemein unterstellten Überlegung, und nicht in einer eigenen Proposition ausgeführt.13 Sodann zerfällt die 8. Proposition mit ihren Untersätzen ganz auffällig in drei thematisch unterscheidbare Teile. Nur für den ersten und längsten dieser Teile ist auch richtig, dass sich seine Aussagen „in allgemeinerer Form“ bei Proklos wiederfinden lassen. Thema ist die Bestimmung und der Stellenwert des Intellekts als der ontologischen Größe, die als zweite unmittelbar auf die Erstursache folgt und ihr als das erste Verursachte am ähnlichsten ist. Die beiden anderen inhaltlich abgrenzbaren Teile des Lehrsatzes führen im Gegensatz dazu einen gezielten und für die Grundaussage des Liber de causis allgemein bedeutsamen Bruch mit der Lehre des Proklos herbei: Für Proklos war die ontologische Verursachungsfolge systematisch unstrittig, oder jedenfalls möchte es so scheinen:14 Die Erstursache wirkt in ihrer Vollkommenheit über sich hinaus und sie tut das, indem sie sich selbst sozusagen vor Perfektion berstend in gewissen inneren Regelabläufen überströmend weitergibt an eine somit konstituierte zweite ontologische Stufe, die ihr – durch die Kontigu12
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Die lateinische Zählung, wie man sie etwa bei den scholastischen Kommentatoren des Liber de causis oder auch in der Fachliteratur des 19. Jahrhunderts vorherrschend findet, eilt der hier verwendeten arabischen immer um eine Proposition voraus, da die vierte des Originaltextes in zwei aufgespalten wurde. Die 8. Proposition wäre also demnach in der Zählung der lateinischen Übersetzung die 9. Vgl. Thomas von Aquin, In Librum de causis expositio, prop. IX, l. ix, n. 210. Eine vielsagende Vergleichstabelle der Inhalte und Propositionenfolge bei Proklos und dem Liber de causis bietet Schönfeld, Liber de causis, S. 155–157. Freilich ist das proklische System insgesamt komplizierter als der in dieser Hinsicht vorsätzlich aufs Wesentliche beschränkte Liber de causis es durchscheinen lässt. Zu einer würdigenden Gesamtdarstellung der Philosophie des Proklos Diadochos vgl. vielleicht am besten Siorvantes, Proclus. Neo-Platonic Philosophy and Science. D’Ancona, Sources et structure du Liber de causis, S. 37–39 und öfter, argumentiert mit guten Gründen, die Reduzierung auf ein dreistufiges Hypostasensystem im Liber de causis gegenüber dem differenzierteren Durchgang bei Proklos sei plotinischem Einfluss (den sogenannten Plotiniana Arabica) zu verdanken. Vgl. dazu auch weiter unten die Ausführungen in Abschnitt 3.1.
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ität in der genealogischen Folge – ähnlich ist: der Intellekt (bei Proklos: der nous). Weil der Intellekt, obschon nicht ranggleich mit der Erstursache, dieser auf untergeordnetem Niveau doch ähnlich ist, tut er auch das, was sie tut: Er gibt sich aus seiner eigenen Vollkommenheit überströmend weiter an eine somit zustande kommende dritte ontologische Stufe, die sich dann ihrerseits wieder gemäß denselben Ableitungsregeln überlaufend weitergibt, und so fort, bis das Resultat der perfekt durchgestuften Gesamtwirklichkeit erreicht ist, in der jede ontologische Stufe in sinnvoller Verwiesenheit und Rückvernetzung am Sein der nächstoberen hängt wie die Glieder in einer Kette. Dieses „emanative“ Ableitungssystem15 des Proklos, in dem jede ontologische Stufe einmal von der nächsthöheren hervorgebracht wird und selbst wiederum die ihr nächstfolgende hervorbringt, wird vom schöpfungstheoretisch denkenden Verfasser des Liber de causis radikal modifiziert. Er bricht dabei in mehr als einer Hinsicht mit seiner Proklosvorlage, indem er nicht zulässt, dass jede ontologische Stufe die ihr nachfolgende ontologisch überströmend erschafft. Vielmehr besteht er darauf, dass Erschaffung/Schöpfung als initiative Seinssetzung allein Gottes Sache ist und alles direkt von Gott, nicht von anderen – wenn auch vollkommeneren – Geschaffenen ins Dasein gerufen wird; was hier reflexiv dargelegt wird, ist ein fester Grundsatz der biblischen, und damit auch der entsprechenden theoretischen jüdischen, christlichen und islamischen Schöpfungslehren. Für das islamische Denken sagt der anonyme Verfasser des Liber de causis in Aufnahme und Abgrenzung von Proklos: Die Erstursache erschafft alles, sie erschafft den Intellekt ohne Vermittlung und auch die Seele und die Natur und auch alles Übrige erschafft sie, aber unter Zuhilfenahme des Intellekts.16 3.1 Die Rolle des Intellekts
Der Verfasser des Liber de causis nimmt an der besprochenen Stelle also eine Korrektur17 und Überarbeitung am proklischen System vor: Er spricht den verschiedenen ontologischen Größen „nach“ Gott ab, Schöpfungsprinzip der ihr jeweils nachgeordneten zu sein, und lässt alles von Gott allein ins Dasein gesetzt werden. Gerade die 3. und die 8. Proposition hatten sich für diesen korrigierenden Eingriff angeboten, weil sich in ihnen entscheidet, wie es denn jeweils nach der Stufe des Erstverursachung und nach der Intellekt-Stufe mit der Konstituierung und der axiomatischen Herleitung der Welt im Liber de causis weitergehen soll – hier werden also die Vorgaben für alle weiteren Lehrsätze der Herleitungsfolge festgelegt.18 Die Antwort des arabischen Anonymus ist eindeutig: Der Intellekt hat seinen eigenen Sinn, Stellenwert und Standort im Gesamtgefüge der Wirklichkeit. Aber: Es ist nicht er selbst, der die ihm nachfolgende Wirklichkeit ins Dasein ruft, denn
15
16 17 18
Was als Bezeichnung keineswegs unproblematisch ist, da sich die Neuplatoniker selbst gern gegen das Emanationsdenken sensu stricto zu wehren scheinen (so Plotin in Enneaden V.1[10].3) – wie übrigens auch gegen den Systembegriff. Die neuere Forschung verwahrt sich deswegen meist gegen die Anwendung der Emanationsvorstellung. Allerdings legen die üblichen sprachlichen Metaphern und die Wortwahl der Neuplatoniker den Emanationsgedanken sehr nahe. – Wenn hier und im Folgenden also von einem „Emanationssystem“ des antiken paganen Platonismus gesprochen wird, so in einer versuchsartigen Angleichung an die Sichtweise, die eher beim Verfasser (und dem zeitgleichen Leser) des Liber de causis im Blick auf seinen Proklos und dessen philosophischen Entwurf angenommen werden darf. Vgl. die ausführliche Studie von D’Ancona, La doctrine de la création mediante intelligentia. Vgl. D’Ancona, Sources et structure du Liber de causis, Anm. 4 zu S. 24. Eine erste Vorbereitung für das Schöpfungsdenken hatte der Liber de causis bereits in der 4. Proposition vorgelegt und somit das Feld für die dann offensichtlicher zutage tretende Schöpfungslehre der 8. bestellt. Vgl. zur Interpretation D’Ancona, Sources et structure du Liber de causis, S. 32.
Der arabische Liber de causis und seine Erfolgsgeschichte im lateinischen Westen
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alles, was er selbst und was nach ihm ist, ist Gottes Schöpfung und zwar allein und unmittelbar Gottes Schöpfung. Der Liber de causis präsentiert mit dieser Lehre also eine originelle Sichtweise in der Verbindung von Übernahme des beibehaltenswerten proklischen Grundgedankens, philosophischer Eigenleistung und binnenplatonischer Korrektur durch den Import – wahrscheinlich – plotinischen Lehrguts zur argumentativen Stützung dieser Eigenleistung. Innerhalb des proklischen Grundrasters übernimmt der Liber de causis „das plotinische Lösungsangebot, das zunächst eine unvermittelte Schöpfung der Intelligenz durch das Eine vorsieht, um dann vermittels ihrer das Entstehen von Vielheit [in der Wirklichkeit nach der Intellektstufe, C.S.] zu erklären. Er geht allerdings mit der kreationistischen Adaption Plotins in der arabischen Tradition über diesen hinaus und bestimmt beide Momente dieses Prozesses als Schöpfungsvorgang“.19 3.2 Schöpfungstheologie und neuplatonische Lehrbuch-Metaphysik
Es wäre ein Fehler der philosophiehistorischen Unterschätzung des anonymen Autors, wenn man diese schöpfungstheoretische Wendung gegenüber dem paganen griechischen Neuplatonismus rein extrinsisch etwa durch den doktrinalen Druck skriptueller Vorgaben erklären wollte. Das verbietet sich allein schon deswegen, weil diese Wendung interessante theoretische und praktische Folgerungen zeitigt, die den Liber de causis unabhängig vom religiösen Hintergrund zur Wirklichkeitserklärung gerade so attraktiv machen konnten. Eine dieser Folgerungen zumindest sei hier genannt: Der Bruch mit dem „klassischen“ Emanationsdenken will die Erstursache/Gott über den Bereich des Geschöpflichen noch deutlicher hinausheben als das bei Proklos ohnehin schon versucht wird. Gott als der im Vergleich zu jeder weiteren Wirklichkeit gänzlich Andere wird dadurch alleiniger Schöpfer und ist auch darin einzig. Alles Weitere ist dagegen bloß Geschöpf, ohne selbst Schöpfer zu sein. Zudem aber macht das Schöpfungsmodell als zweiten theoretischen Gewinn, obwohl es Gott als in dieser Weise einzigartig so deutlich von den Geschöpfen abhebt, das Gott-WeltVerhältnis auch wieder intensiver: Alle Geschöpfe stehen hier nämlich in unmittelbarer Hervorbringungsverbindung zu Gott, der Erstursache, statt durch viele hervorbringende Zwischenstufen vom Erstgrund distanziert zu sein und also nur gewissermaßen letztlich oder ganz allgemein auf ihn zurückzugehen. Das Interesse konzentriert sich dabei darauf, was so eine Aufwertung jedes Geschaffenen als unmittelbar von Gott geschaffen etwa in der Anthropologie bewirkt, in der der Mensch nun nicht mehr als Endresultat eines längeren ontologischen Abstiegs und der Entfernung von Gott, sondern eben als direkt dem Wirken Gottes verdankt angesehen wird. Der Koran selbst kann in seinen Ausführungen zur Gottunmittelbarkeit aller Geschöpfe im Kontrast zu ihrer ganz verschiedenen ontologischen Ranghöhe durchaus eine skriptuelle Vorgabe zu solch einer philosophischen Unterscheidung leisten (vgl. Q 2.31 und 7.11). Davon unberührt bleibt jedoch die Eigenständigkeit des philosophisch-theologischen Ertrags, den der Liber de causis mit seiner einschlägigen Innovation verbuchen kann. Leo Sweeney20 hat die einschlägigen Passagen des Liber de causis untersucht und kommt in seiner Gesamtschau zu dem Ergebnis: “The impact of devine revelation upon our author has been strong enough to break through an otherwise rather rigid neoplato19 20
Fidora/Niederberger, Von Bagdad nach Toledo, S. 158. Sweeney, The Doctrine of Creation in Liber de Causis.
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Einzelne Denker und Werke
nism.“ Und am Ende seiner Studie bezeichnet er das Hervorbringen aller übrigen ontologischen Stufen durch die Erstursache/Gott streng von jedem Emanationsdenken abgegrenzt als „an act of genuine creation“.21 Sweeney beharrt jedoch andererseits ganz zu Recht darauf, dass man es im Liber de causis nach wie vor mit “an otherwise rather rigid neoplatonism“ zu tun hat. Tatsächlich will der Liber de causis zwar einerseits von einer emanativen Weitergabe von Sein über jeweils erschaffene und dadurch gleichzeitig erschaffende ontologische Stufen nichts wissen. Andererseits will er aber auch die neuplatonische Vorstellung von der „goldenen Kette“ der Wirklichkeitsordnung nicht aufgeben, in der innerhalb eines sinnvollen hierarchischen Systems jede ontologische Stufe den ihr benachbarten – unter- oder übergeordneten – durch den Hervorbringungszusammenhang in vielerlei Weise ähnlich und verbunden ist. Wie aber soll das gewahrt werden, wenn durch die Schöpfungslehre der Hervorbringungszusammenhang zwischen den verschiedenen ontologischen Stufen aufgehoben wird? 3.3 Das Problem von Sein und Form
Eine mögliche Antwort darauf gibt der Autor des Liber de causis, wenn er (dies wieder in der 8. Proposition) sagt, dass es in allem, was nicht mit der Erstursache identisch ist (in allem Geschaffenen also), eine inwendige Unterscheidungsmöglichkeit gibt: Denn während Gott schlicht und einfach nur Sein sei, könne man bei allem übrigen das Sein von etwas trennen, was dann selbst im lateinischen Text des Gerhard von Cremona mit dem arabischen Wort des Originaltextes bezeichnet und als terminus technicus unübersetzt belassen wird. Das Wort heißt in der phonetischen Transkription des Gerhard von Cremona helya(tin) beziehungsweise yliathim. Alles außer Gott sei also Sein und helya; der Text substituiert im Folgenden ab und an den Begriff des helya-Besitzes umschreibend mit „Form [-Haben]“, und Cristina D’Ancona übersetzt den ansonsten im Arabischen etymologisch nicht fassbaren Terminus schließlich als „détermination formelle“.22 Es ist gewissermaßen wiederum Sondergut des Liber de causis, dass er Gott gegen einen Mainstream der neuplatonischen Auffassung vom Einen-Ersten mit dem Sein gleichsetzt, ein Weg, den ganz unabhängig davon auch die patristische Philosophie des lateinischen Westens in der Fortführung des antiken Neuplatonismus gegangen war. Dass dies aus ähnlichen Gründen wie im Liber de causis geschehen war und dass die Identifizierung Gottes mit dem Sein aus der christlichen Vätertradition bereits hinlänglich bekannt war, mag dem Liber de causis seinen Siegeszug im Westen zusätzlich erleichtert haben. Damit besagt der Liber de causis also über die Hauptfrage der Verursachung aller Wirklichkeit durch Gott, – dass allen Geschöpfen Gottes die Tatsache des Seins zukommt, und zwar, wie gesehen, durch einen Schöpfungsakt Gottes; – dass allen Geschöpfen, die dadurch (entstanden) sind, immer schon eine bestimmte Art des Gegebenseins, eine détermination formelle, also nicht nur die Tatsache, sondern auch davon ontologisch unterscheidbar eine bestimmte Art und Weise des Seins, zukommt;
21
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Ebd., S. 289. Vgl. dazu auch Saffrey im Vorwort zu seiner Ausgabe der Expositio in Librum de causis des Thomas von Aquin (XXXI): „la transposition du système néoplatonicien des « processions » en celui d’une véritable création“ etc., sowie vor allem D’Ancona, Sources et structure du Liber de causis, S. 52. Eine interessante Genetisierung des philosophischen Schöpfungsbegriffs des Liber de causis findet sich bei derselben Autorin in der Arbeit: Cause prime non est yliatim, S. 105f. D’Ancona, Sources et structure du Liber de causis, S. 107. Zum hilya-Begriff und den kursierenden Vermutungen zu seiner etymologischen Herleitbarkeit aus dem Griechischen vgl. des Weiteren ebd., Anm. 84 zu S. 43.
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– dass Gott allein dieser Unterscheidung nicht unterliegt, sondern dass er schlicht Sein ohne Einschränkung auf eine Art und Weise zu sein ist – ein esse tantum, ein nur-Sein, wie es in der lateinischen Diskussion dann heißt.23 So löst der Liber de causis die Frage, wie für die Konstitution der Wirklichkeit – beziehungsweise für deren Interpretation – Schöpfungslehre einerseits, und das in sich so beeindruckend schlüssige Derivationssystem einer in hierarchischer Stufung zusammenhängenden und zusammengehaltenen Gesamtwirklichkeit andererseits ohne Verlust der Vorteile beider Denkansätze in eins gebracht werden kann. Die Unterscheidung von Seinstatsache und Seinsart ist für den Verfasser des Liber de causis offenbar der Schlüssel zur Lösung dieser Aufgabe, wie sie in den nachfolgenden Propositionen durchgeführt wird: Die Tatsache ihres Seins, ihre Existenz, verdanken alle Seienden allein Gott, der sie als ihr Schöpfer vorgabelos ins Dasein setzt. Die Wirklichkeit des Seins ist hier also richtiggehend Tat-Sache, Faktum, da das Dasein der Dinge allein die Tat ihres Schöpfers ist. Und die Vorteile dieser Lösung liegen auf der Hand: Während der primäre Seinsakt, also die Existenz oder die Tatsache des Seins, alles Geschaffene individuell und in ausschließlicher Beziehung direkt an den göttlichen Schöpfer zurückverweist, stellt die Art und Weise des Seins, was also als yliatim des Seienden bezeichnet wird, den Zusammenhang innerhalb der Wirklichkeit, also zwischen den einzelnen Entitäten, her. Die Lösung des Liber de causis bietet den Intellekt als eine Art „Pool“ aller Seinsformen an, die Gottes Schöpfung als so oder so, in verschiedenen Arten und Weisen zu sein (welche der Intellekt alle umschließt, aber eben im Gegensatz zur Erstursache als fassbar definiert), sozusagen „filtert“. Damit ist einerseits das neuplatonische Odium eliminiert, dass Seinssetzung und Wesensweitergabe ein und dasselbe seien: Emanation in diesem engen Auslegungssinne der neuplatonischen Verursachungslogik ruft ja nichts Neues in die Existenz, sondern ist eine auffächernde Formverwandlung des einen immer schon Existenten in immer neuen Ausprägungen. Andererseits ist damit aber auch das Forte der neuplatonischen Herleitungsordnung beibehalten, das Hervorgehen des Vielen aus dem Einen zu erklären, ohne die Vielheit bereits in das Eine hineinzutragen, und sei es nur der Voreingeschlossenheit nach. Die sozusagen bewahrende Innovation, die der Liber de causis demgegenüber bietet, tritt dann auch klar hervor: Nicht durch das Übereinkommen in der formal vielfach variierten einen Existenz wird der philosophisch so interessante und wertvolle Wirklichkeitszusammenhang begründet. Sondern (wie der Liber de causis differenziert) über die ontologische Beschaffenheit der Seienden, die andererseits ihre eigene Existenz, ihr Dasein, einem unmittelbaren Schöpfungsakt allein der Erstursache verdanken, wird die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den verschiedenen ontologischen Stufen gewahrt. Der Liber de causis bietet damit über alle historischen Kontingenzen zwischen griechischem Neuplatonismus und islamisch-monotheistischer Aufnahme in einer bestimmten Jahrhundertkonstellation hinweg eine Musterlösung für ein systematisches Problem der Verursachungslogik überhaupt.
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Auch für diese Lehre der Differenzierungsunmöglichkeit in Gott weist D’Ancona vorsichtig auf mögliche plotinische Vorläufergedanken hin (vgl. ebd., S. 110), sieht aber in der esse-tantum-Doktrin letztlich dann doch eine genuine Leistung des Liber de causis (S. 113).
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4. Die Erfolgsgeschichte des Liber de causis im Westen Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Rezeptionsgeschichte des Liber de causis, dass die arabische Originalfassung in der islamischen Philosophie vergleichsweise nur geringe Beachtung fand. Auch die dürftige Anzahl erhaltener Handschriften kann man vielleicht für vielsagend halten, genauso wie die Tatsache, dass die älteste von ihnen aus dem späten 12. Jahrhundert stammt – ein Umstand, der zeitweise die (überholte) Forschungsmeinung wiederaufleben ließ, der vor 1180 in Toledo wirksame jüdische Denker Abraham ibn Daud sei womöglich der Autor des Liber de causis; wiederaufleben deswegen, weil bereits im 13. Jahrhundert Albertus Magnus einen jüdischen Autor mit dem Namen David als Verfasser vermutet hatte. Immerhin gab es auch einige mittelalterliche hebräische Übersetzungen und Kommentare des Liber de causis.24 Seine größten Erfolge feierte der Liber de causis im lateinischen Westen, wo er von den Philosophen nach der Übersetzung des Gerhard von Cremona gewissermaßen unmittelbar und mit fast schon begierigem Interesse aufgegriffen und diskutiert wurde. Die imposante Anzahl von erhaltenen Manuskripten (weit über 200) ist dabei auf das thematische Interesse am Liber de causis genauso zurückzuführen wie auf den Umstand, dass der Liber de causis zunächst als Werk des Aristoteles verstanden wurde und seit Mitte des 13. Jahrhunderts als Grundlagenschrift Eingang in den regulären Lehrbetrieb an den Universitäten fand.25 Die folgende Darstellung orientiert sich jedoch nicht so sehr an der äußeren Verlaufsgeschichte der Aufgriffe und Kommentierungen des Textes selbst26 als vielmehr daran, welche doktrinalen Elemente des Liber de causis hauptsächlich Aufmerksamkeit und philosophische Behandlung fanden. 4.1 Erste Auseinandersetzungen mit den Lehren des Liber de causis
Bereits mit Dominicus Gundisalvi (Gundissalinus) und Alain de Lille (Alanus ab Insulis), zwei Zeitgenossen des Gerhard von Cremona, beginnt die Auseinandersetzung mit dem Liber de causis und insbesondere mit der auffälligen Sonderlehre, Gott erschaffe alles mediante intelligentia.27 Während Alain de Lille die schöpfungstheoretische Korrektur des Liber de causis mit der aristotelischen Unterscheidung von Wirkursache und Formursache einzufangen und darzustellen versucht, wird in kreativer Umdeutung des Textes von Gundissalinus die Rolle des Intellekts (der intelligentia im Lateinischen des Liber de causis) den Engeln (als intelligentiae) überantwortet: Diese vollführen nach Gundissalinus die Formmitteilung an die Materie und sind somit die unmittelbar Beteiligten am Zustandekommen aller anderen Substanzen, einschließlich der Seelen.28 Dass hier von „Seelen“ im Plural geredet werden muss, zeigt auch, dass Dominicus Gundisalvi hier an die Einzel24
25 26 27
28
Vgl. dazu D’Ancona/Taylor, Le Liber de causis, insbesondere S. 607–609 und 617–619, sowie Rothschild, Les traductions hébraïques du Liber de causis latin. Zu der David-These bei Albertus Magnus vgl. Fidora/Niederberger, Von Bagdad nach Toledo, S. 227. Näheres zur scholastischen und lehrbetrieblichen Einpassung des Liber de causis in das Corpus der aristotelischen Schriften bietet Schönberger, Einleitungsstudie zu Liber de causis, S. VIII–X. Diese liefert in konziser Form der Abschnitt 2.1. des Beitrags von Dag Hasse im vorliegenden Band. Einen gesicherten Text des lateinischen Liber de causis mit deutscher Übersetzung, der auch diesem Beitrag zugrundeliegt, liefert Schönfeld, Liber de causis. Weitere maßgebliche Übersetzungen in moderne europäische Sprachen sind: Bernardo Carlos Bazan (Übersetzer) und Dennis J. Brand (Hg.), The Book of Causes: Liber de Causis (Englisch); Magnard/Boulnois/Pinchard/Solere, La demeure de l‘être (Französisch). Zum Liber de causis bei Gundissalinus und Alain de Lille sowie zu weiteren deutlichen Spuren der Auseinandersetzung mit dem Liber de causis im 12. Jahrhundert vgl. Fidora/Niederberger, Von Bagdad nach Toledo, S. 205–214.
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seelen der (vor allem menschlichen) Lebewesen denkt, nicht an eine neuplatonische Weltseele oder an das Phänomen des Seelischen allgemein bestimmt. Gegenüber dem Text des Liber de causis ist dies ein schwerwiegender Eingriff, der aber das Interesse der scholastischen Philosophen an der Kausalitätsproblematik nur noch steigern musste. Gleichzeitig zeigt die hylemorphistische Wendung bei Gundissalinus ähnlich wie die Ursachenunterscheidung bei Alain de Lille, wie genuin aristotelisch der Liber de causis den Zeitgenossen der lateinischen Erstübersetzung erschien, die sich daher zur Deutung und Lösung problematischer Passagen auch der aristotelischen Philosophie bedienten. Dass im Westen die Annahme der aristotelischen Verfasserschaft aus den arabischen Vorlagen übernommen wurde, gehorchte jedoch keineswegs einer rein arbiträren oder aus Ehrerbietung konventionellen Zuweisung an einen bedeutenden Philosophenfürsten. Sie hatte vielmehr ihre systematische Bestätigung nicht zuletzt darin (gehabt), dass der Liber de causis bereits zu seiner Entstehungszeit im Übersetzerkreis von Bagdad – und später etwa ganz explizit von al-Fārābī – dazu herangezogen wurde, eine axiomatische Herleitung der Welt in einer Weise zu leisten, die formal mit der aristotelisch-syllogistischen Logik kompatibel erschien, thematisch hingegen die Kausalitätsfolge der von Aristoteles „ausgelassenen“ immateriellen Substanzen behandelte und dabei eine erkenntnistheoretische Sichtweise von Seiten der Ursachen her bot, die das von Aristoteles bekannte Schema, die Welt von Seiten des Verursachten her zu verstehen, gleichsam ergänzend um die Gegenrichtung komplettierte. Im Anschluss daran wurde im 13. Jahrhundert auch die Identifizierung der Erstursache des Liber de causis mit dem Unbewegten Bewegenden der aristotelischen Metaphysik systematisch vollzogen.29 Das Augenmerk, das man der Verursachungslogik damit unter neuem Aspekt schenken konnte, wird auch dadurch belegt, dass sich im 13. Jahrhundert dann der Name Buch von den Ursachen gegenüber dem davor dominanten Titel Das Buch von [der Darstellung] der reinen Gutheit, wie er noch in der Übersetzung des Gerhard von Cremona zu finden ist, durchsetzt. Die „Gutheit“ war dabei in der neuplatonischen Denkweise die Bezeichnung für die außenwirksame Seite des Ersten-Einen, das selbst in keinerlei unmittelbare Wirktätigkeit mit den nachfolgenden Wirklichkeitsstufen tritt. Unter aristotelischer Perspektive rückte dieser Aspekt nun zugunsten der allgemeineren Frage von Verursachungslogik und Verursachungstendenz in den Hintergrund. 4.2 Die prominenten Kommentare und Verarbeitungen
Im 13. Jahrhundert entstehen die großen und einflussreichen Kommentare zum Liber de causis, unter anderem von Verfassern mit so berühmten Namen wie Roger Bacon, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Siger von Brabant, Aegidius Romanus, Heinrich von Gent und Walter Burleigh. Die Geschichte der Kommentierung zieht sich bis ins 15. Jahrhundert hin. Die Kommentarwerke ringen dabei vor allem um die Frage des Kausalitätsbegriffs und der immateriellen Substanzen und somit auch lange nach der Anerkennung der pseudoaristotelischen Verfasserschaft und der proklischen Primärquelle um Themenfelder, die den Liber de causis ursprünglich gerade als angeblich aristotelische Schrift so interessant erscheinen ließen. Die Frage nach der Vermittlungsrolle des Intellekts in der Verursachungslogik der Welt behält dabei ihren prominenten Status.30 Bei Siger von Brabant hat die Kommentierung des Liber de causis offenbar zu einer Wende in seiner 29 30
Zum gesamten Problemkreis vgl. Schönberger, Einleitungsstudie zu Schönfeld, Liber de causis, S. XIX–XXIV. Vgl. Fidora/Niederberger, Von Bagdad nach Toledo, S. 220–222 und 237–247.
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Lehrmeinung geführt, da er seit seiner Beschäftigung mit dem Liber de causis in den 1270er Jahren gegenüber früher geäußerter Thesen die alleinige Schöpfungstätigkeit und gleichzeitig die absolute Jenseitigkeit Gottes vertritt. Im Hintergrund mitzudenken ist dabei immer das zusätzliche Problem, dass die christlichen Kommentatoren sich vor die Herausforderung gestellt sahen, die Rede von der Schöpfung unter Zuhilfenahme des Intellekts möglichst mit der Glaubenswahrheit des Logos Christus zu vereinbaren, durch den die Welt erschaffen wurde und der doch eins ist mit dem Vater (statt, wie im Liber de causis, dem einzigen Erstprinzip ontologisch nachgeordnet) – oder beides nicht miteinander ins Gehege kommen zu lassen. Die zweite Abgrenzungstendenz wirkte in anderer Richtung der Gefahr einer Vermengung der intelligentia des Liber de causis mit dem Geist als der dritten Person der christlichen Trinitätslehre entgegen. Doch nicht nur in direkten Kommentaren zum Text erschöpft sich die Wirkung des Liber de causis. Interessant sind vielmehr die vielen, oft auch nichtexpliziten Bezugnahmen, Aufgriffe und Weiterverarbeitungen in der scholastischen Philosophie. Sie durchziehen etwa in vielerlei Facetten und Intensitätsabstufungen in ständiger Hintergrundpräsenz fast das gesamte neuplatonische Werk von Meister Eckhart.31 Wie sich gedankliche Versatzstücke aus dem philosophischen Sondergut des Liber de causis in der philosophischen Diskussion der Zeit niederschlagen, lässt sich aber auch zum Beispiel an der Schrift De ente et essentia des Thomas von Aquin und der von ihr angestoßenen Lehre von der später so benannten „ontologischen Realdistinktion“ ablesen. Tatsächlich zitiert Thomas den Liber de causis und seine Kommentare in De ente et essentia relativ häufig. Und er ist sich, so sagt er im 4. Kapitel der Schrift, sicher, dass in der 8. Proposition forma (hilya) soviel heißt wie quidditas, dass hier also dem esse, dem Sein, eine „Washeit“, ein irgendetwas-Sein oder etwasBestimmtes-Sein (eben quidditas) als metaphysisches Seinsprinzip der seienden Dinge ergänzend zugesellt wird. Nun kann diese Unterscheidung zwar, wie in der Forschung gerne herausgestellt wird, auch mit anderen Vorläuferkandidaten aufwarten, etwa mit Passagen bei Plotin, Avicenna oder Anselm von Canterbury. Doch mit der engen inneren Verbindung und der argumentativen Abhängigkeit der Rede von Gott als dem Sein schlechthin gegenüber der inwendigen ontologischen Unterscheidbarkeit der Geschöpfe in der Tatsache ihres Seins und in dessen Art und Weise verweist Thomas von Aquin deutlich auf den Liber de causis zurück.32 Das betrifft nun vor allem die durch Thomas – und vor allem dann nach ihm durch seine Kommentatoren (von Johannes Capreolus bis Francisco Suárez) – berühmt gewordene scholastische Lehre der „ontologischen Realdistinktion“ von Existenz und Essenz. Diese Realdistinktion besagt, allgemein gesprochen, dass mit der Tatsache des Seins, dem Dasein beziehungsweise der Existenz eines jeden Seienden, gleichzeitig immer eine davon geistig unterscheidbare bestimmte Weise des Gegebenseins, ein So-Sein oder ein Wesen, ausgemacht werden kann; wobei dieses So-Sein eben zum Beispiel bei Thomas auch durchaus mit dem Terminus forma benannt wird: Eine andere Bezeichnung für „We-
31 32
Eine detaillierte Tabelle der textlichen Aufgriffe des Liber de causis im Werk von Meister Eckhart findet sich zum Beispiel bei Schönfeld, Einleitungsstudie zu Schönfeld, Liber de causis, S. 161–164. Das ist der stärkste unter den Hinweisen, die dafür sprechen, dass die Lehre von der „ontologischen Realdistinktion“ insgesamt stark von der esse-tantum-These für Gott abhängig ist, genauso wie das eben im Liber de ausis der Fall ist. Bei den weiteren möglichen Kandidaten für das „Erfinderpatent“ einer Essenz-Existenz-Unterscheidung (also etwa Avicenna oder al-Fārābī: vgl. zum Beispiel De Rijk, La philosophie au moyen âge, S. 146) scheint dieser essetantum-Schlüssel zum Verständnis der scholastischen Realdistinktions-Diskussion dagegen zu fehlen. Vgl. speziell zu dieser Frage angewendet auf Avicenna auch Fidora/Niederberger, Von Bagdad nach Toledo, Anm. 5 auf S. 207.
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sen“ ist „Form“ (essentia [...] dicitur etiam forma), sagt Thomas tatsächlich im Kapitel 1 von De ente et essentia. Diese beiden metaphysisch seinskonstitutiven Momente alles Seienden hatte Thomas erstmalig genau in De ente et essentia herausgearbeitet.33 Er war darin zu seiner Ansicht gekommen, die metaphysische Seinsstruktur alles kontingent Seienden sei – im Gegensatz zu Gott als bloßem Sein, als esse tantum34 – als compositio ex esse et quod est zu kennzeichnen, also als eine „Zusammensetzung“ von (tatsächlich) Sein und Etwas-Sein (die Formulierung hier aus der späteren Schrift De veritate q.27 a.1 ad 8). Aus dieser Zusammensetzung wurde bei den thomistischen Bearbeitern der These schließlich in zunehmender terminologischer Verfestigung die Realdistinktion von Existenz und Essenz, von Sein und Wesen. – Zu Descartes’ Zeiten etwa war die ontologische Realdistinktion dann bereits so sehr in den Blutkreislauf des philosophischen Denkens übergegangen, dass er sie nach eigener Aussage fast schon automatisch, jedenfalls wie aus Gewohnheit anwendet: Assuetus sum in omnibus rebus existentiam ab essentia distinguere, schreibt er in den Meditationes (V 8), „ich bin es so gewohnt, bei allen Dingen das Dasein vom Wesen zu unterscheiden“.
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Vgl. v. a. Thomas von Aquin, De ente et essentia/Über das Seiende und das Wesen 4, S. 34.14f.: „es ist offenkundig, dass das Sein etwas Andres als das Wesen oder die Washeit ist“ (patet quod esse est aliud ab essentia vel quiditate). Vgl. De ente et essentia 5, S. 37.13f.: Deus cuius essentia est ipsumet esse suum. Zur Besprechung des esse-tantum-Begriffs durch Thomas (mit recht ausgiebiger Bezugnahme auf die 8. propositio des Liber de causis) vgl. De ente et essentia 5, S. 37.21–39.4.
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Mensch. al-ʿĀmirīs al-ʿĀmirīs Kitāb Kitāb al-fuṣūl al-fuṣūl fīfī l-maʿālim l-maʿālim al-ilāhīya al-ilāhīya und und die diearabische arabischeProklos-Rezeption Proklos-Rezeptionim im��.��ahrhundert. ��.��ahrhundert. Leiden Leiden2006. 2006.
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5. Abū Bakr ar-Rāzī Peter Adamson (München)
1. Einleitung Muḥammad b. Zakarīyāʾ Abū Bakr ar-Rāzī (gestorben 925) zählt zu den rätselhaftesten Philosophen der islamischen Welt. Er gehört der aufregenden und vielgestaltigen Periode philosophischen Denkens an, die zwischen der ersten Blüte der Philosophie zu Zeiten alKindīs (gestorben nach 870) und dem neuem System Avicennas zu verorten ist, das das spätere Denken in dieser Tradition beherrschte. Ar-Rāzī war ein ungefährer Zeitgenosse des etwas berühmteren al-Fārābī (gestorben 950)1 und stand genau wie dieser unter dem starken Einfluss von Werken der griechischen Philosophie, deren Übersetzung ins Arabische in dieser Zeit zu einem Ende kam. Doch nahmen beide äußerst unterschiedliche Haltungen gegenüber dem griechischen Erbe ein. Al-Fārābī war ein Aristoteliker durch und durch, der auf Grundlage des Corpus Aristotelicum zahlreiche Kommentare und Übersetzungen verfasste und sich selbst als den Wiederentdecker der aristotelischen Hinterlassenschaft präsentierte, welche bis zu seiner Zeit größtenteils verloren gegangen sei.2 Im Gegensatz dazu weicht ar-Rāzīs Philosophie ganz bewusst von der aristotelischen Weltsicht ab. Für ihn waren Platon und Sokrates die Größen der Philosophie und mit seiner Ethik und Kosmologie bot er eine verfeinerte Version dessen dar, was diese beiden gelehrt hatten. Den Unterschied zwischen al-Fārābī und ar-Rāzī veranschaulicht am aufschlussreichsten ihre jeweilige Aufarbeitung Galens. Als ein treuer Aristoteliker war al-Fārābī die Kritik Galens an Aristoteles’ kardiozentrischer Anthropologie ein Dorn im Auge. Zur Verteidigung des Stagiriten schrieb er unter anderem, dass Aristoteles’ scheinbare Unkenntnis über das Nervensystem schlicht von einer terminologischen Verwirrung herrühre.3 ArRāzī dagegen achtete Galen als seine oberste Instanz in allen medizinischen Belangen und akzeptierte ohne Einwand die enzephalozentrische Theorie Platons und Galens. Gleichwohl soll damit nicht gesagt sein, dass er sich jeglicher Kritik an Galen enthielt, im Gegenteil: Er verfasste ein Werk mit dem selbsterklärenden Titel Zweifel gegen Galen. Dennoch zeigt die Einleitung dieses Werkes,4 wie stark ar-Rāzī von der Autorität Galens eingenommen war. Er verdeutlicht seinen Respekt diesem gegenüber, entschuldigt sich für seine Kritik an einer solch herausragenden Persönlichkeit der Medizin und beruft sich selbst hierbei noch auf Galen: Auch dieser hatte nämlich die Ansicht vertreten, dass man stets nach einem aussagekräftigen Beweis suchen solle, statt sich nur auf eine Autorität zu verlassen. Galens Ansicht nach war es erstrebenswert, eine Autorität nur als Inspiration zum Aufschwung der eigenen Ideen zu benützen, statt ihr sklavisch zu folgen. Wie sich noch zeigen wird, hat ar-Rāzī dies beherzigt. 1 2 3 4
Zu unterschiedlichen Aspekten der Philosophie dieser Zeit vgl. die Beiträge in Adamson, In the Age of al-Fārābī: Arabic Philosophy in the Fourth/Tenth Century. Hierfür macht er teilweise die Christen verantwortlich, die es versäumt hätten, Aristoteles’ Logik über den ersten Teil der Analytica apriora hinaus zu studieren. Vgl. hierzu Gutas, The “Alexandria to Baghdad” complex of narratives. Vgl. al-Fārābī, Radd ʿalā Ǧālīnūs [Widerlegung Galens], S. 38–107. Ar-Rāzī, Kitāb aš-šukūk ʿalā Ǧālīnūs, S. 1. Für ar-Rāzīs Einstellung zu Galen vgl. Richter-Bernburg, Abū Bakr ar-Rāzī and al-Fārābī on Medicine and Authority.
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Sowohl in der Philosophie als auch in der Medizin war Galen in der Tat ar-Rāzīs oberste Autorität. So hatten Galens eigene ethische Schriften den größten Einfluss auf ar-Rāzīs längste erhaltene Abhandlung: Die geistige Medizin (aṭ-Ṭibb ar-rūḥānī).5 Wie Titel und Vorwort des Buches deutlich machen, versuchte ar-Rāzī hier eine ethische Lehre vorzulegen, die für die menschliche Seele das zu leisten imstande wäre, was medizinischer Rat für den menschlichen Körper zu leisten imstande ist.6 Weniger offensichtlich ist die entscheidende Bedeutung Galens für ar-Rāzīs kosmologische Theorie, die für ihre religionskritischen Aspekte berühmt ist. Er stellte diese Theorie als eine Version der Lehre Platons dar und hatte dabei allem Anschein nach dessen Timaios im Sinn. Der Timaios wiederum war ar-Rāzī und anderen Lesern dieser Zeit vorwiegend durch Galens Vermittlung bekannt. Ar-Rāzī kannte Galens (nur teilweise erhaltenen) Kommentar zu diesem Dialog, denn er zitierte einige ansonsten verlorene Fragmente davon.7 Möglicherweise hat er auch Galens Paraphrase des Timaios gelesen.8 Wie noch genauer darzulegen ist, basieren darüber hinaus einige Aspekte der Kosmologie ar-Rāzīs auf einem anderen Werk Galens: dem inzwischen verloren gegangenen Über den Beweis, ein weiterer Text, von dem ar-Rāzī wertvolle Fragmente und Zeugnisse bewahrte. Die Kosmologie, welche zum Teil aus der Lektüre dieser Texte hervorging, ist einzigartig in der Geschichte der Philosophie des Islam. Ihr Inhalt muss allerdings aus den Berichten späterer Autoren rekonstruiert werden, von denen viele ar-Rāzī gegenüber außerordentlich feindlich gesinnt waren. Etliche dieser Autoren gehörten zur Glaubensgemeinschaft der Ismāʿīliten, so etwa der Theologe und Philosoph Abū Ḥātim ar-Rāzī (gestorben 934), der (Abū Bakr) ar-Rāzī persönlich kannte und mit ihm debattierte. In seinen Zeichen der Prophetie holt Abū Ḥātim zum Angriff auf ar-Rāzī aus, wobei er den Inhalt der vorangegangen Debatten zusammenfasst und so die verschollenen Schriften ar-Rāzīs nachzeichnet.9 Seinem Beispiel folgten zwei weitere Ismāʿīliten: Ḥamīd ad-Dīn al-Kirmānī (gestorben 1021), dessen Goldene Sprüche (al-Aqwāl al-ḏahabīya) die Geistige Medizin zitieren und kritisieren, und Nāṣir-i Ḫusraw (gestorben ca. 1077). Der Zād al-Musāfirīn (Proviant der Reisenden) des letzteren enthält einen umfassenden Bericht (und vernichtende Worte der Kritik) über ar-Rāzīs Ansichten zu diversen Themen. Etwas neutralere und gelöstere Mitteilungen finden sich in einigen Werken eines anderen Mannes aus Rayy (ar-Rāzī bedeutet wörtlich „der Mann aus Rayy“), bei dem Philosophen und Theologen Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gestorben 1210). Wohlgesinnter ist auch al-Bīrūnī (gestorben 1048), ein Wissenschaftler und Gelehrter, der in seiner monumentalen Abhandlung über die Kultur Indiens (al-Hind) eine Liste der Werke ar-Rāzīs erstellte und auf seine jeweiligen Theorien hinwies.10 Der größte Teil der Informationen über ar-Rāzī bei diesen und anderen Autoren wurde 1939 in der grundlegenden Edition von Paul Kraus gesammelt, welche nach wie vor den 5 6 7 8
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Vgl. hierzu Bar-Asher, Quelques aspects de l’éthique d’Abū Bakr ar-Rāzī et ses origines dans l’oeuvre de Galien. Zu dem in dieser Zeit verbreiteten Vergleich von Medizin und Ethik siehe Adamson, The Arabic Tradition, S. 63–75. Vgl. Galen, In Platonis Timaeum commentarii fragmenta, Ed. H.O. Schröder mit einem Anhang zu den arabischen Fragmenten von P. Kraus. Siehe Galen, Compendium Timaei Platonis. Der Fihrist von Ibn an-Nadīm sagt außerdem, dass ar-Rāzī einen Kommentar zu Plutarchs Kommentar zum Timaios geschrieben habe. Hiermit könnte das erhaltene Werk De generatione animae in Timaio gemeint sein. Abū Ḥātim ar-Rāzī, Aʿlām an-nubūwa. Französische und englische Teilübersetzungen sind zu finden bei Brion, Philosophie et révélation: traduction annotée de six extraits du Kitāb aʿlām al-nubuwwa d’Abū Ḥātim ar-Rāzī und Brion, Le temps, l’espace et la genèse du monde selon Abū Bakr ar-Rāzī und Goodman, Rāzī vs Rāzī – Philosophy in the Majlis. Zahlreiche Passagen finden sich außerdem übersetzt bei Stroumsa, Free thinkers of Medieval Islam: Ibn al-Rāwandī, Abū Bakr ar-Rāzī, and their Impact on Islamic Thought. Die Werkliste ist erhalten bei al-Bīrūnī, Risāla fī fihrist kutub Muḥammad b. Zakarīyāʾ ar-Rāzī.
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Ausgangspunkt jeglicher Forschung über das philosophische Denken ar-Rāzīs darstellt. Paul Kraus nahm auch drei von ar-Rāzī verfasste und erhaltene Arbeiten über praktische Philosophie auf. Dies sind zum einen die bereits genannte Geistige Medizin, zum anderen die kürzere Philosophische Lebensweise (as-Sīra al-falsafīya), worin ar-Rāzī sich selbst gegen anonyme Ankläger verteidigt, welche ihm vorwerfen, dem Beispiel seines Imāms, Sokrates, nicht gerecht geworden zu sein. Des Weiteren gibt es eine weitgehend unerforschte kleine Schrift über politische Philosophie mit dem Titel Die Anzeichen von Glück und Herrschaft (Fī amārāt al-iqbāl wa-d-dawla).11 Ein anderes, offensichtlich unvollständiges Werk, das Kraus in seiner Edition bedachte, ist die Schrift Über die Metaphysik (Fī mā baʿd aṭṭabīʿa). Ihre Authentizität war lange Zeit umstritten, doch die dialektische Herangehensweise und kritische Einstellung gegenüber der aristotelischen Naturphilosophie bestärken die Auffassung von ihrer Echtheit.12 Zwei weitere Werkkomplexe zählen zur einschlägigen Literatur der Philosophie ar-Rāzīs: Diese sind zum einen die Abhandlungen über Alchemie, eine Wissenschaft, die er mit Begeisterung betrieb.13 Zum anderen seine Schriften über Medizin, welche den Großteil der erhaltenen Schriften ar-Rāzīs bilden. Zu diesen gehört das berühmte Kompendium (al-Ḥāwī), eine extrem umfangreiche Notizensammlung zu medizinischen Texten und Angelegenheiten, welche eines der wichtigsten Werke für die Geschichte der islamischen Medizin darstellt (und damit auch für die Geschichte der Medizin überhaupt).14 Ein erster Eindruck von seinem medizinischen Denken lässt sich jedoch leichter aus der sehr viel kürzeren Einführung in die Kunst der Medizin (Madḫal ilā ṣināʿat aṭ-ṭibb) gewinnen.15 Von den zahlreichen medizinischen Schriften gehören diese beiden (zusammen mit den Zweifel gegen Galen) vermutlich zu den am besten bekannten Werken, welche erhalten geblieben sind (wobei die Zweifel gegen Galen noch sehr viel mehr Themenfelder umfassen als nur die Medizin). Aber auch andere wichtige Werke wurden ediert, zum Beispiel eine Abhandlung über die Differenzialdiagnose sowie eine Sammlung medizinischer Aphorismen.16 Bei der Deutung seiner Philosophie ist es wichtig, nie aus den Augen zu verlieren, dass ar-Rāzī in erster Linie Arzt war. Da seine Philosophie zudem als ausgefallen oder gar unorthodox erachtet wurde, hinterließ er auch vorrangig der Medizin ein bedeutendes Vermächtnis. Seine bahnbrechende klinische Arbeit zählt zu den größten wissenschaftlichen Errungenschaften im islamischen Raum.17 Dies wurde dadurch ermöglicht, dass ar-Rāzī – im Gegensatz zu vielen anderen „Philosophenärzten“ – sehr viel Zeit damit verbrachte, Medizin tatsächlich zu praktizieren: Er suchte seine Patienten auf und notierte darüber hinaus auch sorgfältig die Erfolge verschiedener Behandlungsmethoden. Daher ist es durchaus berechtigt, wenn die spätere Überlieferung ihn in erster Linie als medizinischen Autor betrachtet. Auch waren es nicht seine philosophischen, sondern seine medi-
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Eine englische Übersetzung der Geistigen Medizin bietet Arberry, The Spiritual Physick of Rhazes. Eine englische Übersetzung der Philosophischen Lebensführung und anderer Texte findet sich bei McGinnis/Reisman, Classical Arabic Philosophy: An Anthology of Sources, S. 36–53. Eine Untersuchung bietet Lucchetta, La natura e la sfera: La scienza antica e le sue metafore nella critica di Rāzī. Vgl. zu diesem Thema Ruska, Die Alchemie ar-Rāzīs, S. 281–319; ein Hauptwerk ar-Rāzīs über Alchemie ist Kitāb alasrār wa-sirr al-asrār [Buch der Geheimnisse und Geheimnis der Geheimnisse]. Ar-Rāzī, Kitāb al-ḥāwī fī ṭ-ṭibb. Dieses Werk wurde in 23 Bänden in Haiderabad herausgegeben. Ar-Rāzī, Libro de la introducción dal arte de la medicinao «Isagoge». Ar-Rāzī, Kalām fī l-furūq bayna al-amrāḍ [Diskurs über die Unterschiede zwischen Krankheiten] und Kitāb al-muršid aw al-fuṣūl [Buch der Rechtleitung, oder der Aphorismen]. Vgl. zu letzterem auch die französische Übersetzung Guide du médecin nomade von Moubachir. Vgl. Pormann, Medical Methodology and Hospital Practice: the Case of Fourth-/Tenth-Century Baghdad.
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zinischen Schriften, welche ins Lateinische übersetzt und so in Europa zugänglich gemacht wurden. Dort galt er (nun unter dem Namen Rhazes) neben Avicenna bald als wichtigste medizinische Autorität aus dem arabischen Raum. Selbst eingefleischte Kritiker seiner philosophischen Ideen räumten bisweilen ein, dass er in medizinischen Belangen eine herausragende Persönlichkeit sei. Die Tatsache, dass ar-Rāzīs Hauptinteresse nicht der Philosophie, sondern der Medizin galt, hatte weitreichende Konsequenzen für sein philosophisches Denken. Zum einen mag seine Rolle als „Außenseiter“ hilfreich sein, seine ungewöhnlichen Ansichten zu erklären. Zum anderen können viele Grundzüge seines philosophischen Werkes im Lichte seiner Tätigkeit als Arzt verstanden werden. Wir sahen bereits zwei Beispiele: seinen Rückgriff auf Galen als Sprachrohr der griechischen Geisteshaltung und seine Beteuerung der Parallelität von Medizin und Ethik. Es ließe sich außerdem spekulieren, dass seine Erfahrungen als Arzt ausschlaggebend für sein beinahe zwanghaftes philosophisches Interesse am Thema des Leidens waren. Wie sich im Folgenden zeigen wird, bildete die Leidensthematik nicht nur das Kernstück seiner Ethik, sondern ebenso das seiner berühmtberüchtigten Doktrin von den „fünf ewigen Prinzipien“ sowie auch das Zentrum seiner viel diskutierten Bemerkungen zum Thema der Prophetie.
2. Die fünf ewigen Prinzipien Die Darstellungen bei Abū Ḥātim, Nāṣir-i Ḫusraw und Faḫr ad-Dīn erhellen uns in angemessenem Umfang eine äußerst originelle Theorie ar-Rāzīs, die als schamlose Leugnung des muslimischen Glaubens an den tawḥīd, das heißt die Einheit und Einzigkeit Gottes, aufgefasst wurde.18 Denn gemäß ar-Rāzī ist Gott nicht das einzige ewige Prinzip. Stattdessen gebe es nicht weniger als fünf ewige Dinge. Neben Gott seien dies Seele, Materie, Zeit und Ort. Er behauptet, dass jedes dieser Prinzipien bereits vor der Erzeugung des Kosmos als notwendige Bedingung für seine Schöpfung existiert habe. Zeit und Ort seien daher durch sich selbst bereits „absolut“, unabhängig von jedwedem bestimmten Körper und jeglicher Bewegung, mit dem Ergebnis, dass die absolute Zeit nichts anderes ist als Dauer, und der absolute Ort nichts anderes als leerer Raum. Auch die Materie, verstanden als ewiges Prinzip, sei „absolut“: Sie sei noch nicht zu komplexen Körpern verbaut, sondern bestehe vielmehr aus Atomen. Die Seele sei es schließlich, welche die Schöpfung der Welt initiiere, indem sie sich zu einer Verbindung mit der Materie entschließe. Wie bereits erwähnt, behauptete ar-Rāzī, dass seine Theorie auf derjenigen Platons basiere (vermutlich auf der des Timaios). Diese Theorie ist kurz und bündig von al-Bīrūnī in der Geschichte Indiens (Taʾrīḫ al-Hind) dargestellt worden: „Muḥammad b. Zakarīyāʾ ar-Rāzī sprach, indem er die alten Griechen nachzeichnete, von fünf Prinzipien: dem Schöpfer (Gepriesen sei Er!), der universalen Seele, der ersten Materie, dem absoluten Ort und der absoluten Zeit. Auf diese baut er seine Lehre (maḏhab) auf, welche sich auf [diese Prinzipien] gründet. Er unterscheidet zwischen Zeit (zamān) und Dauer (mudda) aufgrund dessen, dass die eine gezählt werden kann, die andere aber nicht, weil alles Zählbare endlich ist – ebenso, wie auch die Philosophen sagen, dass Zeit die Dauer von dem ist, was einen Anfang und ein Ende besitzt, die Ewigkeit (dahr) dagegen die Dauer von dem, was weder Anfang noch Ende hat. Auch sagt er, dass die Existenz der fünf [ewigen Prinzipien] eine notwendige Existenz ist. Das sinnlich Wahrnehmbare un18
So wird es beispielsweise vom Gelehrten Ibn al-Ḥasan al-Marzūqī al-Iṣfahānī (gestorben 1030) gefasst, in einem Abschnitt, der in ar-Rāzī, al-Qawl fī l-qudamāʾ al-ḫamsa, S. 197 einzusehen ist.
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ter ihnen ist die Materie, welche durch Zusammensetzung Form erlangt, und da diese [Materie] an einem Ort ist, so gibt es zweifellos auch einen Ort. Die Veränderung ihrer [d. h. der wahrnehmbaren] Zustände geschieht infolge ihres Daseins als Subjekt der Zeit, denn einige von ihnen treten früher auf, andere später; durch die Zeit wird das Alte und das Neue erkannt, das Ältere und das Jüngere, ebenso das Gleichzeitige. Daher kann kein Zweifel an ihr [der Zeit] bestehen (fa-lā budda minhu). Existent sind auch lebende Dinge, also gibt es zweifellos die Seele. Und unter ihnen [den lebenden Dingen] gibt es geistige Gegenstände, und es gibt Kunst von höchster Vollendung, also besteht kein Zweifel daran, dass es einen Schöpfer gibt, der weise ist, wissend, vollkommen, verbessernd im höchstmöglichen Grad, der die Kraft des Geistes ausstrahlt um Befreiung (taḫlīṣ) zu bieten.“19
Man beachte die wiederholte Behauptung, es könne „kein Zweifel“ an der Existenz der Prinzipien bestehen. Dies wirft die Frage nach dem epistemischen Stellenwert der Theorie auf: Wie gelangen wir zu Wissen über die fünf ewigen Prinzipien? Die Berichte legen nahe, dass ar-Rāzī zuweilen auf eine Art direkte Eingebung vertraute und annahm, dass die Existenz der Prinzipien schlichtweg offensichtlich sei. Dies wird besonders deutlich im Falle des ersten der fünf Prinzipien, die al-Bīrūnī nannte, nämlich der Zeit. Faḫr ad-Dīn erklärt diesbezüglich: „Wisse, dass sich die, welche die Dauer beteuern, in zwei Gruppen spalten. Die eine behauptet, das Wissen von ihrer Existenz sei ein Wissen, das notwendig in uns entstehe, ohne Beweis oder Ableitung. Die andere versucht dasselbe mittels Beweis und Ableitung zu begründen. Zur ersten Gruppe zählt nebst anderen Muḥammad b. Zakarīyāʾ ar-Rāzī.“20
Für die Existenz der „Dauer“ – das heißt der ewigen und absoluten (muṭlaq) Zeit – bedarf es keiner Argumente. Ar-Rāzī suchte eine Bestätigung der epistemischen Vorrangstellung der Zeit von gewöhnlichen Leuten (im Gegensatz zu Philosophen), die seine Eingebung teilten, dass die Zeit ihren Fluss fortsetzen würde, selbst wenn man sich vorstellte, dass die Welt nicht mehr existierte. Dies zeige, dass wir die Zeit in erster Hinsicht nicht als ein Maß der Bewegungen begreifen, die wir beobachten, sondern als eine absolute Bedingung, die der Bewegung vorausgeht. Das bedeutet freilich eine Absage an die aristotelische Definition der Zeit als Maß oder Zahl der Bewegung.21 Damit folgte ar-Rāzī dem Beispiel Galens, dessen Über den Beweis dieser Definition der Zeit den Vorwurf der Zirkularität machte. Galens Erörterung könnte auch der Idee ar-Rāzīs zugrundeliegen, dass Zeit in sich selbst intuitiv und unmittelbar verstanden werden muss, da sie ja nicht zirkelfrei in Begriffen der Bewegung bestimmt werden kann.22 Das antiaristotelische Vorhaben der rāzianischen Theorie wird weiterhin in einer Passage bei al-Bīrūnī deutlich, welche zwischen der Dauer unterscheidet, die zahllos ist, und der Zeit, welche sich auf etwas Endliches bezieht und daher zahlenmäßig ermessen werden kann. Die absolute Zeit ist zwar durch ein Vorher und Nachher bestimmt, doch kann sie auch begriffen werden, ohne dies in Bezug zu irgendeiner vorhergehenden oder nachfolgenden bestimmten Bewegung zu setzen. Abū Ḥātim berichtet von einer Diskussion mit ar-Rāzī, in welcher sie das Vergehen der absoluten Zeit schlichtweg durch die Laute taf taf taf veranschaulichten – einem Klang wie von einem kosmischen Metronom, gänzlich unabhängig von wirklichen Bewegungen.23 Relativ dazu ist die aristotelische Zeit lediglich die Anwendung von Vorher und Nachher auf bestimmte Bewegungen, die je19 20 21 22 23
Ar-Rāzī, al-Qawl fī l-qudamāʾ al-ḫamsa, S. 195. Ebd., S. 272. Ar-Rāzī selbst stellte vermutlich die Tatsache klar, dass er eine Sichtweise verteidigte, die er als eine Platons ansah, während er die Ansicht des Aristoteles zurückwies; vgl. al-Munāẓarāt, S. 305. Vgl. Adamson, Galen and al-Rāzī on Time. Ar-Rāzī, al-Munāẓarāt, S. 304.
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mand zu messen wünscht: Beispielsweise ist ein Tag die Messung jeweils eines einzelnen Umlaufs der Sonne um die Erde. Dieselbe Methode wird beim Ort angewandt. Ebenso wie bei der Zeit gibt es sowohl einen absoluten als auch einen relativen Ort (makān).24 Wie die absolute Zeit ist auch der absolute Ort unabhängig vom Körper; ar-Rāzī vergleicht ihn mit einem leeren Behälter, in welchem die Welt entstand, gleich einem leeren Gefäß, das mit Flüssigkeit gefüllt werden kann.25 Diese Analogie lässt vermuten, dass der absolute Ort ar-Rāzīs Version des „bergenden Hortes“ (hypodochê) ist, welcher in Platons Timaios (49a) besprochen wird. Andererseits kann der absolute Ort, da er in sich selbst leer ist, ebenso gut als „Leere“ bezeichnet werden (so wie die absolute Zeit als „Dauer“ bezeichnet werden kann). Darüber hinaus gibt es, wie auch bei der Zeit, eine zweite Art von Ort, der sich auf bestimmte Körper bezieht, „der Ort, welcher einen Umriss durch den Umriss dessen erhält, was in ihn hineingesetzt wird, wie das Wasser in Bezug auf die Körper, die sich in ihm lösen.“26 Natürlich ist dies genau die Art und Weise, auf welche Aristoteles den Ort in seiner Physik bestimmt: Der Ort eines Dinges ist seine Umgrenzung. Ar-Rāzīs Plan war es demnach, die Unzulänglichkeit der Zeit-Ort-Konzeption des Aristoteles aufzudecken, wenngleich auch unter dem Zugeständnis, dass einiges davon richtig ist. Denn zumindest in Bezug auf bestimmte Körper ist Aristoteles die Definition von Zeit und Ort geglückt. Er übersah jedoch etwas Grundsätzlicheres und Elementareres, nämlich dass sowohl eine absolute Zeit als auch ein absoluter Ort angenommen werden müssen, um die Existenz bestimmter Körper überhaupt erst erklären zu können. Deswegen sind Zeit und Ort ewig: Sie müssen bereits existieren, sofern die Entstehung eines physischen Kosmos möglich sein soll. Ohne absolute Zeit gäbe es keine Dauer, innerhalb welcher ein erster Augenblick gezählter Zeit (jener der ersten, initialen Bewegung des Kosmos) auftreten könnte; ohne absoluten Ort gäbe es nichts, worin der Kosmos verortet sein könnte. All dies setzt natürlich voraus, dass der Kosmos nicht schon immer bestanden hat. Ar-Rāzī nahm zwar an, dass es noch andere ewige Entitäten außer Gott gibt, doch die Welt zählte er nicht dazu. Indem er in seiner Darlegung der Weltentstehung mit Platon übereinstimmte, folgte ar-Rāzī implizit einer Auslegung des Timaios, die in der spätantiken Überlieferung wenig Zuspruch gefunden hatte. Dass Platon die Ewigkeit der Welt im Timaios nicht bestreite, wurde seit Plotin von den Neuplatonikern entweder explizit behauptet oder als selbstverständlich vorausgesetzt. Dieser Konsens wurde von Johannnes Philoponos aufgehoben und ihm folgte al-Kindī. Beide behaupteten, dass die Welt nicht ewig sein könne und dass Gott sie zusammen mit dem ersten Augenblick der Zeit „aus dem Nichts“ (ex nihilo) geschaffen habe.27 Ar-Rāzī stimmte in dieser Frage keiner der beiden Parteien zu: Zwar nahm er an, dass die Welt, so wie wir sie kennen, erst seit einer begrenzten Zeitspanne existiere, gleichwohl leugnete er ihre Erschaffung ex nihilo. Vielmehr sei sie aus Materie erschaffen worden, in absoluter Zeit und am absoluten Ort. Um eine analoge Interpretation des Timaios zu finden, müsste man bis zu Plutarch zurückgehen, also ins zweite Jahrhundert unserer Zeit.28
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Zur Rede von „absoluter“ Zeit und Örtlichkeit vgl. das obige Zitat aus al-Bīrūnī. Die Terminologie wird von anderen Autoren bestätigt, u. a. al-Iṣfahānī (ar-Rāzī, al-Qawl fī l-qudamāʾ al-ḫamsa, S. 196). Ar-Rāzī, al-Qawl fī z-zamān wa-l-makān, S. 243 und 306. Ebd., S. 243. An anderer Stelle (S. 254) wird dies partieller Ort (al-makān al-ǧuzʾī) genannt. Vgl. meinen Beitrag zu al-Kindī im vorliegenden Band. Die Übereinstimmung ist insbesondere deswegen bemerkenswert, weil ar-Rāzī, wie oben erwähnt (Anm. 8), eine Arbeit auf Grundlage von Plutarchs Interpretation des Timaios verfasst haben soll.
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Wie haben wir die Materie, aus welcher die Welt geschaffen sein soll, zu verstehen? Die angeführte Textstelle aus al-Bīrūnī verweist auf eine „erste Materie“, die an die aristotelische Idee eines unbestimmten, rein potentiellen Substrats der Form denken lässt. Angesichts der antiaristotelischen Polemik, die seiner Theorie unterliegt, wäre es jedoch sehr verwunderlich, wenn ar-Rāzī diese Konzeption angenommen haben sollte. Tatsächlich nahm er hinsichtlich der Materie einen ungewöhnlichen Standpunkt ein: Er befürwortete, wie erwähnt, den Atomismus. Zugegeben, in einer Hinsicht war der Atomismus nicht so ungewöhnlich in seiner Zeit, da die meisten Theologen des kalām die eine oder andere atomistische Theorie vertraten. Nichtsdestotrotz stand ar-Rāzīs Theorie der der klassischen Atomisten sehr viel näher als dem mathematischeren Konzept der mutakallimūn.29 Seiner Theorie nach bestehen Körper aus zweierlei: aus Atomen und aus leerem Raum. Überwiegt der Anteil der Leere in einem Körper, so ist er leicht; überwiegen hingegen die Atome, ist er schwer. Mithilfe dieses Verhältnisses erklärte ar-Rāzī die Tatsache, dass sich Feuer, Wasser, Luft und Erde nach unten und oben bewegen.30 Insofern erweisen sich die Atome als eine sehr viel elementarere Art von Materie, welche den vier aristotelischen Elementen zugrunde liegen und sie überhaupt erst ermöglichen, ebenso wie die absolute Zeit und der absolute Ort die ermöglichende Grundlage von Zeit und Ort Aristoteles’ darstellen. Es ist daher nicht überraschend, dass, entsprechend der Identifikation der Leere mit dem „absoluten Ort“, die Atome mit der absoluten Materie (hayūlā muṭlaq) identifiziert werden.31 Wie schon im klassischen Atomismus ist der leere Raum, in welchem sich die Atome befinden, unbegrenzt und unendlich groß, gerade so, wie die absolute Zeit in ihrer Dauer unendlich ist.32 All dies zusammengenommen ergibt sich folgendes Bild des Kosmos und seiner Vorgeschichte: Ausgehend von der Ewigkeit gibt es die absolute Zeit, welche nichts anderes ist als unzählbare Dauer; den absoluten Ort, welcher sich als unbegrenzte Leere zeigt; und die absolute Materie in Form von Atomen, die sich noch nicht zu Körpern verbunden haben. An einem gewissen Punkt konstituiert sich die Materie zu Körpern und einem Kosmos, sodass nun eine relative Zeit, ein relativer Ort sowie die Elemente (aus welchen die Körper bestehen) in Erscheinung treten können. Doch warum geschieht das? Um diese Frage zu beantworten, muss ein Blick auf die verbleibenden beiden ewigen Prinzipien geworfen werden: Gott und Seele. Man könnte erwarten, dass ar-Rāzī als Bewunderer des Timaios auf die Seele verzichten und sich einzig auf Gott berufen würde, indem er ihm die Aufgabe zukommen ließe, eine Seele zu erschaffen und mithilfe der bereits vorhandenen Materie einen Kosmos zu kreieren. Doch hat er zwei gute Gründe, die Seele mit auf die Liste seiner Prinzipien zu setzen. Zum einen, um eine Antwort auf mögliche Argumente für die Ewigkeit der Welt parat zu haben; zum anderen, um das Bestehen von Leid in der Welt erklären zu können. Das mögliche Argument zugunsten der Ewigkeit der Welt ist folgendes: Wenn man annimmt, dass es einen ersten Moment der Existenz der Welt gegeben hat, so muss man auch annehmen, dass sie früher oder später ins Dasein hätte treten können. Doch bis der Kosmos zu existieren begann, waren alle Momente der Zeit exakt gleich: Es gibt keinen Grund, irgendeinen Zeitpunkt einem anderen vorzuziehen. Daher wäre es willkürlich, einen bestimmten Moment für die Entstehung der Welt auszuwählen. Gott jedoch ist über29 30 31 32
Baffioni, Atomismo e antiatomismo nel pensiero islamico. Ar-Rāzī, al-Qawl fī l-hayūlā, S. 218. Ebd., S. 220. Ar-Rāzī, al-Qawl fī z-zamān wa-l-makān, S. 253f.
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aus weise und tut nichts ohne guten Grund. Folglich kann er die Welt nicht mit einem ersten Moment ihrer Existenz erschaffen haben.33 Ar-Rāzī erkannte dieses Argument grundsätzlich an; nichtsdestotrotz versuchte er eine Möglichkeit zu finden, überzeugend darzulegen, dass die Welt nicht ewig sei. Die Lösung findet er im Postulat des fünften ewigen Prinzips: der Seele. Ar-Rāzī erachtet die Seele nicht nur als weniger weise denn Gott, sondern geradezu als unwissend, leichtsinnig und willkürlicher Handlung fähig. Folglich sei es die Seele, welche den Moment der Entstehung der Welt beschließe.34 Dies tue sie, indem sie das Begehren ausbilde, mit der Materie verstrickt zu werden – was übrigens eine weitere Begründung darstellt, weshalb die Existenz von Materie der des Kosmos vorangehen muss. Dieses Begehren erweist sich insofern als töricht, als eine Verstrickung mit der Materie die Seele dem Leiden aussetzt. Barmherzigerweise jedoch interveniert Gott und gewährt dem Kosmos eine bestmögliche Fügung. So berichtet Faḫr ad-Dīn: „Da dem Schöpfer vollkommene Weisheit zu eigen ist, kümmerte er sich eigenhändig um die erste Materie, nachdem sich die Seele an diese geheftet hatte, und verband sie in diversen Kombinationen, wie den Himmeln oder den Elementen, und mischte die Körper der Lebewesen in vollkommenster Weise, doch kann die Verdorbenheit, die in ihnen bleibt, nicht aufgehoben werden.“35
Dies leitet zum zweiten und wahrscheinlich wichtigeren Grund über, weshalb laut ar-Rāzī eine Seele anzunehmen ist. Er machte sich nämlich, weit mehr als die meisten Philosophen des Mittelalters, intensiv über das Gedanken, was wir heute das Problem des Bösen nennen. Offensichtlich war er davon überzeugt, dass die Existenz von so viel Leid in der Welt, wie wir es feststellen können, prima facie gänzlich unvereinbar mit einem allwissenden und gütigen Gott ist. Seine Lösung ist im Ergebnis eine kosmologische Version der Theodizee anhand einer Berufung auf den freien Willen: Die Welt mit all ihrem Leid existiere nur deshalb, weil die Seele sich dazu entschloss, mit der Materie vereint sein zu wollen. Diese Verbindung mit der Materie ist es, was den Schmerz verursacht; und der Schmerz kann nicht eher vollständig behoben werden, als bis die Seele einmal Abschied von der Materie nimmt und zurückkehrt in „ihre eigene Welt“. Dieser Vorgang wird durch einen weiteren Akt göttlicher Barmherzigkeit ermöglicht, wie Faḫr ad-Dīn im unmittelbaren Anschluss an obiges Zitat erklärt: „Als nächstes bewirkte er, dass Intellekt und Erkenntnis (idrāk) der Seele zuströmten, was zur Ursache ward, dass sich die Seele wieder ihrer eigenen Welt entsann und begriff, dass sie, solange sie in der materiellen Welt verbliebe, niemals frei von Schmerz sein würde. So sich die Seele dessen bewusst wird und sie versteht, dass sie in ihrer eigenen Welt, allen Schmerzes bar, Lüste genießen kann, wird sie sich nach dieser Welt sehnen, und emporsteigen nach ihrer Scheidung [von der Materie] und dort für immer und ewig verweilen in höchster Freude und Glückseligkeit.“36
Prinzipientreu wie er war, hatte ar-Rāzī einen gut durchdachten Grund zu behaupten, dass der Seele Versenkung in die Materie Leid und Schaden unvermeidlich mache. Die Seele begehrte die Verbindung mit der Materie zunächst, um Lust zu suchen. Doch ist Lust in der physischen Welt unvermeidlich mit Mangel und Schaden verflochten. Wir erlangen zwar Lust, wenn wir unsere Körper in ihren ordnungsgemäßen, „natürlichen“ Zustand zurückversetzen. Doch setzt dies voraus, dass sich unsere Körper, zum Zeitpunkt 33 34 35 36
Vgl. eine klassische Version dieses Arguments bei al-Ġazālī, Tahāfut al-falāsifa, erster Diskurs. Vgl. u. a. ar-Rāzī, al-Qawl fī l-qudamāʾ al-ḫamsa, S. 207f.; al-Qawl fī n-nafs wa-l-ʿālim, S. 282–284. Ar-Rāzī, al-Qawl fī l-qudamāʾ al-ḫamsa, S. 205f. Ebd., S. 206f.
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der Lust, noch immer im Zustand des Mangels befinden: Beispielsweise muss jemand, solange er trinkt, immer noch durstig sein. Technisch gesehen ist es zwar möglich, so allmählich vom Naturzustand abzufallen, dass man es nicht bemerkt und folglich (noch) keinen Schmerz dabei hat. Doch erleidet man auch bei diesem allmählichen Abfall bereits einen Schaden. Deshalb umfasst unser Leben in dieser Welt zwar stets Lust, doch ist diese Lust kraft ihres ureigensten Wesens immer verbunden mit Mangel und Schaden. Dies erklärt, weshalb die körperliche Existenz so eng an Schmerz und Leid (dies ist ein Schaden, dessen wir gewahr werden) gebunden ist.37 Ar-Rāzī war sich der Folgerungen seiner Behauptung, dass es unklug seitens der Seele ist, eine Verstrickung mit der Materie zu suchen, vollkommen bewusst. Gottes Eingreifen und seiner bestmöglichen, heilsamen Ordnung der Welt zum Trotz hing ar-Rāzī dennoch der für die antike und mittelalterliche Philosophie sehr ungewöhnlichen Ansicht an, dass es in gewisser Hinsicht besser gewesen wäre, wenn der Kosmos nie existiert hätte. Dies ging so weit, dass er einen weiteren Einwand ins Auge fasste: Wenn Gott wirklich weise und gnädig wäre, so hätte er die Seele von Anfang an daran gehindert, sich mit der Materie zu einzulassen. Ar-Rāzīs Lösung war, dass die Verstrickung mit der Materie der Seele eine Lektion erteile. Gott erlaube der Seele diese ihre unkluge Entscheidung nur, damit sie letztlich daraus lerne. In einem ausführlichen Gleichnis verglich er Gottes Verhalten mit dem eines gütigen Vaters, der seinem Kind gestattet, einen herrlichen Garten voller Dornen zu betreten, damit es aus den Folgen seiner Torheit lerne.38 Die Welt mag ein Ort sein, an dem das Böse das Gute überwiegt, doch ihre Schöpfung dient einem höheren Ziel, nämlich dem, dass die Seele sich vervollkommnen und ein Heil erlangen möge, das sie auf keine andere Weise hätte erlangen können. Dies scheint der Hintergrund eines Aphorismus zu sein, der ar-Rāzī von at-Tawḥīdī zugeschrieben wird: „Ist es klug, im Angesicht zweier Wege den längeren und schwierigeren zu wählen?“ Wie at-Tawḥīdī ergänzt, war ar-Rāzīs Argument, dass Gottes Wahl des schwierigeren Weges, das heißt die Seele der Mühsal auszusetzen, einen guten Grund gehabt haben muss, und zwar die schwer erkämpfte Einsicht, die sie dadurch gewinnt.39
3. Ethik In dieser Theodizee wird die Verknüpfung zwischen der Theorie der fünf ewigen Prinzipien, die lediglich aus späteren Rezeptionen bekannt ist, und ar-Rāzīs Ethik, wie sie in der Geistigen Medizin und der Philosophischen Lebensweise dargelegt ist, am stärksten deutlich. Die ethische Einstellung, die sich in diesen beiden letztgenannten Werken zeigt, insbesondere in der Geistigen Medizin, ist eine hochgradig antihedonistische.40 So wie die Gier nach Lust das ursprüngliche Motiv der Seele für ihre unkluge Verstrickung mit der Materie war, so ist es auch nun die Lust, welche die Seele, jetzt, da sie im Körper ist, an diese Welt bindet. Dies zeigt sich besonders deutlich in einer Darstellung der Ethik und Psychologie Platons im zweiten Kapitel der Geistigen Medizin. Darin wird Platon die Auffassung in den Mund gelegt, dass es unser Ziel sein sollte, das Verlangen zu unterdrücken, um damit, 37 38 39 40
Zu alledem vgl. Adamson, Platonic Pleasures in Epicurus and al-Rāzī. Ar-Rāzī, al-Munāẓarāt, S. 309f. At-Tawḥīdī, al-Baṣāʾir wa-ḏ-ḏaḫāʾir, Band 4, S. 27–29. Siehe Rashed, Abū Bakr al-Rāzī et la prophétie, S. 174–175. Entgegen der Interpretation ar-Rāzīs, die L.E. Goodman in einigen Studien vorgebracht hat, so etwa in Goodman, Rāzī and Epicurus. Eine kritische Besprechung von Goodmans Interpretation findet sich bei Adamson, Platonic Pleasures.
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letztendlich, der Befreiung der Seele vom Körper den Weg zu ebnen. Dies werde durch eine Unterordnung der niederen Teile der Seele – laut Platon die begehrenden und muthaften Teile – unter den höchsten, den vernünftigen Teil der Seele, bewerkstelligt. Die Seele, welche dies verwirkliche, werde bei Eintritt des Todes „in ihre eigene Welt eintreten, und danach nie mehr die Bindung an irgendeinen Teil des Körpers suchen; sondern bei sich selbst verweilen, lebendig und rational, ohne Tod und Schmerz, glücklich mit ihrer Stellung und Lage.“41 Auf den ersten Blick veranschaulicht diese Ansicht lediglich einen „volkstümlichen Platonismus“, der in der arabischen Ethikliteratur des 9. bis 10. Jahrhunderts weit verbreitet ist. Sehr ähnliche Darstellungen, einschließlich der Dreiteilung der Seele in Vernunft, Willen und Begierde, finden sich bei Autoren wie al-Kindī und Miskawayh.42 Im Falle ar-Rāzīs jedoch wirft diese Passage mindestens drei Fragen auf. Erstens: Wie passt diese antihedonistische Doktrin der Ethik mit der Theorie von den fünf ewigen Prinzipien zusammen? Zweitens: Wie können Abschnitte wie der obige aus der Geistigen Medizin mit den weniger asketischen Passagen der Philosophischen Lebensweise in Einklang gebracht werden? Drittens: Kann ar-Rāzī diese Lehre über die Selbstbeherrschung soweit ausbauen, das damit erklärt wird, weshalb wir anderen lebenden Geschöpfen mit Güte begegnen sollen? Betrachten wir die Fragen der Reihe nach. Man ist geneigt zu glauben, die erste Frage, die nach der Beziehung zu den fünf ewigen Prinzipien, sei leicht zu beantworten: In beiden Fällen betonte ar-Rāzī, dass die Seele sich ihrer Vernunft (ʿaql) bedienen müsse, um sich aus ihrer törichten Verstrickung mit der materiellen Welt zu lösen. Nichtsdestotrotz zeigt sich hier eine gewisse Problematik, denn in der Theorie über die fünf Ewigen scheint die Seele eher eine einzige, universelle beziehungsweise eine Weltseele darzustellen als eine individuelle Seele, die diejenige Art von Ethik verkörpern würde, die in der Geistigen Medizin dargelegt ist. Soweit wir wissen hat ar-Rāzī nie behauptet, dass alle unsere individuellen Seelen schon immer vor dem Zusammenfall mit der Materie existiert hätten, auch wenn er annahm, dass sie den Tod des Körpers überleben würden.43 Unglücklicherweise findet sich nichts, was eine direkte Verbindung zwischen der individuellen Seele und der Seele als ewigem Prinzip belegen würde. Doch lässt sich spekulieren, dass die individuellen Seelen überhaupt erst aufgrund der anfänglichen Verstrickung der Seele mit der Materie entstehen. Zumindest die niederen Teile der Seele scheinen zweifellos nur wegen des Körpers zu bestehen.44 Gesetzt diesen Fall würde sich eine zufriedenstellende Parallele zu den restlichen nicht-göttlichen Prinzipien ergeben: Ebenso wie die absolute Zeit, der absolute Ort und die Materie die Prinzipien sind, welche der Zeit und dem Ort eines bestimmten gegebenen Körpers vorgelagert sind, so wäre auch die Seele ein Prinzip, das der Entstehung einer konkreten, an einen lebendigen Körper gebundenen Seele voranginge.45 41 42 43
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Ar-Rāzī, aṭ-Ṭibb ar-rūḥānī, S. 30. Vgl. zum Beispiel al-Kindī, al-Qawl fī n-nafs, S. 273f. und Miskawayh, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 15; vgl. auch Adamson, Miskawayh’s Psychology. Am Ende der Geistigen Medizin bringt er Argumente gegen die Furcht vor dem Tod vor, die selbst diejenigen beruhigen sollen, welche eine postmortale Existenz der Seele bestreiten. Doch sind diese Argumente schlicht für die bestimmt, welche nicht wie ar-Rāzī an die Unsterblichkeit der Seele glauben. Zur Anpassung der Geistigen Medizin an die Bedürfnisse ihrer Leser siehe unten. Vgl. ar-Rāzī, aṭ-Ṭibb ar-rūḥānī, S. 28. Hier wird erklärt, dass die begehrende Seele nur existiert, um den körperlichen Bedürfnissen zu genügen, und die muthafte Seele nur, um die vernünftige Seele bei ihrer Bändigung der begehrenden zu unterstützen. Auch sagt er, wie soeben bemerkt, dass lediglich der vernünftige Seelenteil den Körper überlebt. Eine weiterführende Diskussion der Beziehung zwischen Psychologie und Ethik bei ar-Rāzī findet sich bei Druart, al-Razi’s Conception of the Soul: Psychological Background to his Ethics.
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Die zweite Frage betrifft das Verhältnis der Geistigen Medizin zur Philosophischen Lebensweise. Wie festgestellt scheinen diese beiden Texte divergierende Ansichten im Hinblick auf die Rolle der Lust im idealen Leben zu vertreten.46 Während die Geistige Medizin auf die Unterdrückung unserer Bedürfnisse Wert legt, scheint die Philosophische Lebensweise gerade das Gegenteil im Sinn zu haben. Wie bereits erwähnt, ist dieses Werk die Antwort auf gewisse namentlich unbekannte Kritiker ar-Rāzīs, welche ihm vorwarfen, nicht asketisch genug zu leben. Es sei ihm, so sagen sie, nicht gelungen, dem Beispiel Sokrates gerecht zu werden, welcher für seinen enthaltsamen Lebensstil bekannt war. Im Gegenzug behauptete ar-Rāzī, dass zwar der junge Sokrates in der Tat überaus enthaltsam lebte, der ältere dies aber überwand und stattdessen ein Leben der Mäßigung aufnahm, ebenso wie er selbst, ar-Rāzī, es führe.47 So weist er etwa darauf hin, dass Sokrates bekanntermaßen Kinder hatte und (vegetarische) Kost und Wein gern genoss. Geschichtlich betrachtet zeigt sich hier der Zusammenstoß zweier verschiedener Auffassungen über Sokrates in der arabischen Tradition. Einerseits wurde er oft als Held des enthaltsamen Moralismus dargestellt und in dieser Rolle bisweilen mit dem Kyniker Diogenes von Sinope verwechselt.48 Andererseits wusste man aus den Berichten Platons, dass Sokrates Kinder hatte (vgl. Phaidon) und an Trinkgelagen teilnahm (vgl. Symposion).49 Ar-Rāzī versuchte beide Darstellungen geschickt miteinander zu verbinden, indem er einen Wandel im Lebensstil des Sokrates suggerierte. Doch dies lässt ein philosophisches Problem weiterhin offen: Warum verteidigt ar-Rāzī hier ein Leben der Mäßigung statt eines der Enthaltsamkeit, wie er es in der Geistigen Medizin befürwortet? Eine plausible Antwort wird im bloßen Titel des letztgenannten Textes offenbar. Die Geistige Medizin offeriert gewissermaßen eine Art Kur für die Seele, die man mit einer Diät oder ärztlich verordneten Trainingseinheiten vergleichen könnte. So beim Leser ein Hang zur Lustbefriedigung und anderen Charakterschwächen (wie etwa Neid) angenommen wird, rät ar-Rāzī diesem, er solle versuchen, seiner Neigungen Herr zu werden, um so von seinem Irrweg abzulassen und die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Das ist durchaus vereinbar mit dem höchsten Ziel in Form von Mäßigung, da jemand eine sehr strikte Diät halten kann, um Gewicht zu verlieren, aber auch, sobald er nicht länger zu dick ist, wieder beginnen kann, normal zu essen. Allerdings findet sich ar-Rāzīs Vorschlag der Mäßigung vor allem in eher medizinischen Kontexten, wie etwa in einer Abhandlung über Sexualität, in der er tatsächlich feststellt, dass es ungesund sei, sich sexueller Aktivität vollständig zu enthalten.50 Wenn dies zutrifft, so liegt der Unterschied der beiden ethischen Abhandlungen ar-Rāzīs darin begründet, dass sie sich jeweils an ein unterschiedliches Publikum richten. Die Geistige Medizin zielt auf einen Menschen ab, dessen Vernunftseele von Verlangen und Lust beherrscht wird, statt andersherum; Die Philosophische Lebensweise dagegen spricht den Menschen an, der fälschlicherweise meint, jegliches Verlangen und jede Lust ausmerzen zu müssen. Im Ergebnis dieser Abwägung
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Eine hilfreiche Erörterung dieses Problems ist wieder einem Beitrag von Druart zu entnehmen: Druart, The Ethics of al-Razi. Ar-Rāzī, as-Sīra al-falsafīya, S. 99–101. Vgl. Alon, Socrates in Mediaeval Arabic Literature Sowie Alon, Socrates Arabus und Adamson, The Arabic Socrates: The Place of al-Kindî’s Report in the Tradition. Zur Frage, inwieweit diese Texte in der arabischen Welt bekannt waren (wahrscheinlich nur durch Zusammenfassungen und ähnliches), vgl. Rosenthal, On the Knowledge of Plato’s Philosophy in theIslamic World und Klein-Franke, Zur Überlieferung der platonischen Schriften im Islam, Gutas, Plato’s Symposion in the Arabic Tradition. Vgl. Pormann, Ar-Rāzī (d. 925) on the Benefits of Sex: A Clinician Caught between Philosophy and Medicine.
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befürwortet er die Mäßigung: Bis zu einem gewissen Grad sollten wir unser Verlangen stillen, doch nur so weit, wie kein schädliches Übermaß entsteht.51 Kommen wir schließlich zur dritten Problematik, nämlich dazu, dass sich die Ethik ar-Rāzīs, so wie wir sie kennengelernt haben, ausschließlich um die Beherrschung und Befriedigung des Verlangens zu drehen scheint, aber kein Wort darüber verliert, wie wir andere Menschen behandeln sollten. In Wirklichkeit war ar-Rāzī, verglichen mit zeitgenössischen Ethikern wie Miskawayh und Ibn ʿAdī, in ungewöhnlich hohem Maß an auf andere bezogene Tugenden interessiert. Sein Kernprinzip war der platonische Grundsatz einer „Angleichung an Gott“.52 Wer das Verlangen der Vernunft unterordnet, ahmt Gott bereits teilweise nach, und zwar insofern als Gottes Vernunft und Weisheit das Vor- und Urbild der menschlichen sind. Doch ist er auch barmherzig und gerecht, was zu sagen arRāzī nie müde wird. Daher sollten auch wir andere mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit behandeln. Eine der augenfälligsten Umsetzungen dieser Idee ist ar-Rāzīs Diskussion eines ethischen Umgangs mit Tieren in der Philosophischen Lebensweise.53 Hier folgert er die Notwendigkeit eines barmherzigen und gütigen Umgangs mit Tieren unmittelbar daraus, dass Gott uns gegenüber Barmherzigkeit und Güte zeige. Gott lässt uns nur so viel Schaden wie nötig erleiden – man erinnere sich der Erklärung dafür, dass Gott die Seele nicht davon abhält, sich mit der Materie einzulassen –, daher sollten auch wir keinem Tier ein Leid zufügen, sofern es nicht absolut notwendig ist.54 Einmal mehr wird hier ersichtlich, dass die Vermeidung von Leid und Schaden im Zentrum der Philosophie ar-Rāzīs steht.
4. Prophetie Gottes Güte und seine Ablehnung allen Leides bilden ebenfalls das Kernstück von ar-Rāzīs Äußerungen zu dem wesentlich provokanteren Thema der Prophetie. Seine Ansichten hierzu stellen zweifellos den bekanntesten Aspekt seines Denkens dar, aber auch, wenn die jetzt zu skizzierende Interpretation zutrifft, einen der am gründlichsten missverstandenen. Es ist bekannt, dass ar-Rāzī ein freimütiger Skeptiker war, der den Anspruch Muḥammads und aller anderen, die Offenbarung zu bringen, als Scharlatanerie und Betrug abtat. Dies aus dem Munde eines vermeintlich muslimischen Denkers im 10. Jahrhundert zu hören ist doch recht verblüffend und gab sowohl Anlass zu Bestürzung als auch – in jüngerer Zeit – zu Bewunderung unter ar-Rāzīs Lesern. Zunächst jedoch dürfen wir nicht vergessen, dass wir in Wirklichkeit gar nicht in der Lage sind, irgendetwas zu lesen, was ar-Rāzī zum Thema Prophetie geschrieben hat. Vielmehr sind wir beinahe ausschließlich auf Darstellungen ismāʿīlitischer Autoren angewiesen. Die bei weitem aufschlussreichste Quelle, welche vermutlich auch die späteren Dis51
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Man beachte, dass das Streben nach Lust lediglich erlaubt wird, ar-Rāzī jedoch nirgends verlauten lässt, dass Vergnügen an sich ein Gut des menschlichen Lebens ist. Und dies aus gutem Grund, denn wie wir bereits sahen, glaubte er, dass Vergnügen in der Sphäre des Physischen stets vorausgegangenes Unheil erfordere. Dieses Motiv wird vorgebracht in Druart, The Ethics of al-Razi, S. 53–56. Zum Thema der Nachahmung Gottes durch Aneignung von Gerechtigkeit und Einsicht vgl. Platon, Theaitetos, 176b; und weiterhin Sedley, The Ideal of Godlikeness. Ar-Rāzī, as-Sīra al-falsafīya, S. 103–105. In diesem Zusammenhang spekuliert ar-Rāzī über einen Grund, weswegen es erlaubt sein könnte, gewisse Tiere zu töten: Dies würde ihre Seelen befreien und ihnen damit leichter ermöglichen, sich in besseren, letztlich vielleicht sogar menschlichen Körpern zu manifestieren (ar-Rāzī, as-Sīra al-falsafīya, S. 105). Diese Bemerkung deuteten spätere Autoren wie Ibn Ḥazm als einen Glauben an die Seelenwanderung (tanāsuḫ) seitens ar-Rāzī (vgl. ar-Rāzī, Min Kitāb al-ʿilm al-ilāhī, S. 174). Zum Thema der Reinkarnation in der Islamischen Tradition vgl. Walker, The Doctrine of Metempsychosis in Islam.
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kussionen über ar-Rāzī entscheidend beeinflusste, ist das bereits genannte Buch Abū Ḥātims, Die Zeichen der Prophetie. Beispielsweise basiert Sarah Stroumsas detaillierte Darstellung der religiösen Ansichten ar-Rāzīs, die ihn als einen „Freidenker“ beschreibt, fast ausschließlich auf Abū Ḥātim.55 Sein Bericht lässt sich lediglich um einige Äußerungen späterer Ismāʿīliten und wenige andere Informationen, wie etwa die Titel verloren gegangener Werke, ergänzen. Ein weiteres maßgebliches Zeugnis wurde jedoch durch Marwan Rashed ergänzt.56 Er wies auf einen längeren Abschnitt in Faḫr ad-Dīns Maṭālib hin,57 der eine sorgfältige Darstellung eines Koranverses durch ar-Rāzī nachzeichnet, mittels welcher dieser zu zeigen versuchte, wie diese Stelle seine eigenen Lehren unterstütze, einschließlich derer über die Notwendigkeit, den Freuden dieser Welt zu entsagen. Dies lässt sich nur schwer mit dem üblichen Porträt ar-Rāzīs als eines antireligiösen Polemikers in Einklang bringen. Wie es scheint, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir nehmen das Zeugnis Abū Ḥātims für bare Münze und betrachten ar-Rāzī als einen erbitterten Gegner der Offenbarungsreligion (nicht nur des Islam, sondern jeglicher prophetischer Offenbarung). Oder aber wir misstrauen dem Zeugnis der Zeichen der Prophetie in Anbetracht der Darstellung Faḫr ad-Dīns und Abū Ḥātims offensichtlicher Feindlichkeit. Ich folge Rashed darin, Letzteres zu bevorzugen, wofür ich andernorts detailliertere Argumente anführen werde.58 Hier möchte ich lediglich meine Interpretation skizzieren, indem ich aufzeige, was wir durch Abū Ḥātim über ar-Rāzī wissen, welche Bestandteile seiner Darstellung glaubwürdig erscheinen und welche Gründe er wohl dafür hatte, ar-Rāzīs Standpunkt zu verfälschen.59 Ar-Rāzīs Hauptthese wird von Abū Ḥātim wie folgt dargestellt: „Das der Weisheit des Weisen und der Gnade des Gnädigen Angemessenste ist die Inspiration aller seiner Diener mit dem Wissen (maʿrifa) um das Nützliche und Schädliche, sowohl jetzt als auch im Kommenden, ohne die einen den anderen vorzuziehen, damit nicht Kampf und Streitigkeit zwischen ihnen herrsche, so dass sie zugrunde gehen. Das wäre achtsamer als wenn er einige von ihnen zu Imāmen der anderen machte, so dass jede Sekte (firqa) ihrem eigenen Imām die Wahrheit zuspräche und den anderen die Falschheit, bis sie sich gegenseitig mit dem Schwerte ins Gesicht schlügen, Elend verbreiteten und sich selbst mit Feindschaft und Wettstreit dem Untergang weihten. Denn viele Menschen gingen auf diese Weise zugrunde, wie wir wissen.60“
In anderen Worten: Es ist unvereinbar mit der göttlichen Gerechtigkeit und Gnade, nur bestimmte Individuen an der Offenbarung teilhaben zu lassen, da dies unvermeidlich bittere Zwietracht nach sich ziehen würde. Schon wieder zeigt sich, wie viel Wert ar-Rāzī darauf legt, dass Gott das Leid so gut wie möglich zu vermeiden sucht. Darüber hinaus bedarf es ihm zufolge überhaupt gar keiner Offenbarung. Denn es läge in der Kraft der Menschen, notwendige Wahrheiten durch Nachforschung und Untersuchung (naẓar und baḥṯ) selbst zu entdecken.61 Dies steht im Einklang mit der Art und Weise, in welcher sich ar-Rāzī in seinen ethischen Schriften über Vernunft (ʿaql) äußert, womit wir eine weitere 55 56 57 58 59
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Stroumsa, Freethinkers of Medieval Islam. Rashed, Abū Bakr ar-Rāzī et le kalām. Ar-Rāzī, al-Maṭālib al-ʿālīya, Band 4, S. 401–419. In meinem demnächst erscheinenden Buch über ar-Rāzī. Obwohl diese und andere Abschnitte zur Prophetie in Aʿlām an-nubūwa von Paul Kraus exzerpiert wurden, berücksichtigt er nicht das gesamte relevante Material. Ich zitiere daher immer nach der Edition der Aʿlām an-nubūwa durch Ṣalāḥ aṣ-Ṣāwī. Ich füge einen Verweis auf Kraus’ Edition in ar-Rasāʾil al-falsafīya hinzu, sofern der jeweilige Text dort zu finden ist. Abū Ḥātim, Aʿlām an-nubūwa, S. 3f.; ar-Rāzī, al-Munāẓarāt, S. 295. Der Begriff naẓar ist ein ständiger Refrain in den Zitationen Rāzīs in der Nubūwa und häufig gepaart mit baḥṯ. Vgl. zum Beispiel 12 [Kraus 302], S. 35–6, S. 273.
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Übereinstimmung zwischen Abū Ḥātims Bericht und den sicher bezeugten razianischen Ideen festgestellt hätten. Weil es so wichtig ist, sich auf eine kritische, unabhängige Nachforschung einzulassen, hat ar-Rāzī für taqlīd, eine unhinterfragte Übernahme autoritärer Doktrinen, nichts als Verachtung übrig.62 Dies scheint typisch razianisch zu sein, angesichts seiner Bereitwilligkeit sogar von ihm angesehene griechische Autoritäten wie Platon und Galen zu korrigieren. Abū Ḥātim zufolge lieferte ar-Rāzī außerdem eine detaillierte Kritik der Inhalte gewisser Offenbarungstexte, von denen er sagte, sie seien voller Aberglauben (ḫurāfāt).63 Zudem enthalte jeder Text auch noch Widersprüche, und verschiedene Offenbarungen (wie etwa die der Christen) widersprächen sich gegenseitig.64 Eine weitere Lüge sei die Behauptung der Propheten, Wunder zu vollbringen. Diese werden als bloße „Tricks“ entlarvt und sogar die Wunder, die dem Propheten Muḥammad zugeschrieben werden, seien zweifelhaft angesichts der geringen Anzahl von Zeugen, die sie geschehen sahen.65 Weiterhin beanstandete ar-Rāzī gewisse Ḥadīṯe, entweder weil diese den taqlīd befürworteten, oder weil sie zu Themen wie dem freien Willen oder dem Vorrang ʿAlīs66 widersprüchliche Ansichten lieferten. Er wies auch bestimmte Passagen sowohl des Korans als auch des Ḥadīṯ zurück, die anthropomorphe Vorstellungen von Gott (tašbīh) implizierten, wie etwa, dass er sinnlich wahrnehmbar sei oder auf einem Thron sitze.67 Schließlich wies ar-Rāzī auch noch das Kernwunder der Existenz des Korans selbst zurück, mit der Begründung, dass dieser nicht „unnachahmlich“ sei.68 Gewiss, dies klingt auf den ersten Blick nach einer generellen Ablehnung des Islam und seines Propheten. Doch offenbart ein zweiter Blick auf die Zeichen der Prophetie eine andere Interpretationsmöglichkeit. Selbst wenn wir annehmen, dass die von Abū Ḥātim vorgelegten Details wirklich den Bemerkungen und Schriftstücken ar-Rāzīs entnommen sind, müssen wir noch nicht glauben, dass er die prophetische Offenbarung so pauschal verworfen hat. Er mag vielmehr nur bestimmte kontroverse und in der Tat schismatische Strömungen innerhalb der islamischen Gemeinschaft seiner Zeit kritisch beäugt haben. Die Unnachahmlichkeit des Korans war damals zwar eine orthodoxe, aber noch nicht allseits anerkannte Überzeugung, und ar-Rāzī mag sie und andere Wunder schlicht deshalb in Abrede gestellt haben, weil Wunder uns dazu verführen können, durch taqlīd an die Lehren des Islam zu glauben, statt durch eigene Einsicht in ihre Übereinstimmung mit der Vernunft. Es ist kaum überraschend – oder ungewöhnlich – dass er die anthropomorphe Darstellung Gottes kritisierte, und die Ḥadīṯe, die er ablehnte, unterstützten häufig die schismatischen Bewegungen (ein offensichtliches Beispiel ist der Ḥadīṯ zum Thema ʿAlī). Anders ausgedrückt: Ar-Rāzīs Ziel mag es ebenso gewesen sein, gegen die verhängnisvollen Kontroversen innerhalb der islamischen Gemeinschaft zu protestieren und vor allem die Annahme des Glaubens durch die Nachahmung einer Autorität (taqlīd) statt durch Vernunft (ʿaql) zu kritisieren. Wenn dies die Hauptstoßrichtung der Bemerkungen arRāzīs zur Religion war, so ist es nicht verwunderlich, dass er damit den Zorn der Ismāʿīliten erregte. Sie waren das Paradebeispiel einer schismatischen Gruppierung, die sich begeis62 63 64 65 66 67 68
Abū Ḥātim, Aʿlām an-nubūwa, S. 13 (vgl. 31); ar-Rāzī, al-Munāẓarāt, S. 303. Ebd., S. 13, 71 und 114. Ebd., S. 69f. Ebd., S. 191. Ebd., S. 32. Ebd., S. 114. Ebd., S. 273f.
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tert für das Prinzip des taqlīd einsetzte.69 Schließlich war eine Hauptdoktrin des Ismāʿīlitentums, dass wir unfähig seien, die Wahrheit ohne fremde Hilfe zu erkennen und daher gezwungen, den Lehren eines göttlich inspirierten Imām zu folgen, dessen unvergleichliche Autorität durch Abstammung von ʿAlī legitimiert sei. So gelesen wäre ar-Rāzīs Gesinnung nicht weit entfernt von der eines so orthodoxen Autors wie al-Ġazālī, der die Ismāʿīliten in vergleichbar scharfer Weise für ihre gedankenlose Ausübung des taqlīd kritisierte.70 Neben der vergnüglichen Ironie, ein gewisses Maß an Übereinstimmung zwischen dem „ketzerischen“ ar-Rāzī und einem Autor wie al-Ġazālī zu finden, ist ein weiterer Vorteil dieser Interpretation, dass sie helfen würde zu erklären, weshalb so viele unserer Informationen über ar-Rāzī bei ismāʿīlitischen Autoren zu finden sind. Sie waren sozusagen seine natürlichen Feinde sofern er sich gegen den taqlīd und für den Gebrauch der eigenen Vernunft einsetzte und letztere zum Richter darüber erhob, was für die Religion akzeptabel sei. Doch war dies gar keine so skandalöse Sichtweise: Eine ähnliche Auffassung findet sich auch bei Autoren wie al-Fārābī und Averroes.
5. Zusammenfassung Das indirekte Wesen der meisten Zeugnisse über ar-Rāzīs philosophisches Denken kann leicht den Eindruck erwecken, er habe sich in einer Art intellektuellem Vakuum betätigt. Dieser Eindruck verschärft sich, betrachtet man den ungewöhnlichen Inhalt seiner Lehren und den Umstand, dass sich seine positive Nachwirkung auf die Medizin beschränkte. Doch waren seine Ideen nicht aus der Luft gegriffen. Im Gegenteil: Wie wir gesehen haben, entwickelte er seine Haupttheorie über die fünf ewigen Prinzipien anhand einer kritischen Beschäftigung mit Platon, Aristoteles und Galen. Auch seine Ethik knüpft stark an die Galens an und verdeutlicht seine Ergebenheit gegenüber den Lehren Platons und Sokrates. In Hinblick auf zeitgenössische Einflüsse ist soeben seine Auseinandersetzung mit den Ismāʿīliten erörtert worden, insbesondere die mit Abū Ḥātim. Doch waren diese nicht seine einzigen Gesprächspartner. Es ist bekannt, dass er ebenfalls mit Muʿtazilī-Autoren debattierte, einschließlich Abū l-Qāsim al-Balḫīs, auch bekannt als al-Kaʿbī.71 Wenn Über die Metaphysik ein authentisches Werk ar-Rāzīs ist, lässt sich hinzufügen, dass er außerdem keinen Hehl um seine antiaristotelische Polemik machte. Diese Schrift war vermutlich gegen die zeitgenössischen Aristoteliker in Bagdad gerichtet. Obwohl ar-Rāzī ein Systemphilosoph war – seine Theorie der fünf Prinzipien bezeugt dies mehr als hinreichend –, war seine wesentliche philosophische Haltung tatsächlich eher kritisch und dialektisch. In allen Bereichen seines Denkens war er bereit, gewisse Ideen schlicht um des Argumentes willen vorzubringen oder einfach, um seinen Gegnern zu zeigen, dass sie außerstande sind, sie zu widerlegen. Hier ein paar Beispiele: Zu Beginn der Zweifel über Galen kritisiert er Galens Diskussion der Ewigkeit der Welt, indem er zeigt, dass Galen es versäumte, die Vorstellung auszuschließen, dass die Welt „auf einen Schlag“ zerstört werden könne statt lediglich graduell, „wie gewisse Religionsanhänger behaupten“.72 In vergleichbarer Weise unterbreitet er in Über die Metaphysik die Idee, 69
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Das soll aber nicht heißen, dass sie der einzige Gegenstand von ar-Rāzīs Kritik gewesen seien. Beispielsweise lehnten auch die Ismāʿīliten anthropomorphe Vorstellungen von Gott ab. Ein Überblick ihrer Ansichten zum Wesen Gottes und anderen Themen findet sich bei Walker, The Ismāʿīlīs. Vgl. sein al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl [Der Erretter aus dem Irrtum]. Zu ar-Rāzīs Beziehung zur Muʿtazila vgl. Rashed, Abū Bakr ar-Rāzī et le kalām. Ar-Rāzī, Kitāb aš-šukūk ʿalā Ǧālīnūs, S. 5.
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Gott könnte alle Phänomene in der Welt unmittelbar verursacht haben, was uns gestatten würde, auf eine naturimmanente Kausalität, so wie sie sich die Aristoteliker denken, zu verzichten.73 Doch scheint ar-Rāzī in keinem der beiden Fälle die konkurrierende Sichtweise, die er entwickelt, eindeutig zu befürworten. Vielmehr ist es offensichtlich sein Ziel aufzuzeigen, dass gewisse philosophische Standpunkte (etwa derjenige Galens oder derjenige der Aristoteliker) es versäumt haben, Fragen, die sich aus dem theologischen Kontext ergeben, angemessen zu beantworten. Dies zeigt, dass die philosophische Diskussion noch keinen beweiskräftigen Status erreicht hat. Ar-Rāzī hütete sich davor, diesen Fehler zu begehen. Wie bereits erwähnt, vermeidet er es tunlichst, ein Fortbestehen der Seele anzunehmen, wenn er gegen Ende der Geistigen Medizin hin gegen die Furcht vor dem Tod argumentiert. Diese dialektische Argumentationsweise könnte von der intellektuellen Kultur des kalām herrühren, auch wenn sie zweifellos ebenso an Galens verlorengegangenes Über den Beweis anknüpft, worin das Dialektische vom Demonstrativen sorgfältig unterschieden wird.74 Urteilt man in Anbetracht seiner erhaltenen Schriften, fand ar-Rāzī offenbar Vergnügen an der Kontroverse und folgte bereitwillig dem rationalen Argument, wohin auch immer es ihn führte. Mindestens in dieser Hinsicht hat er Sokrates, seinem Idol, zweifellos nachgeeifert.75
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Ar-Rāzī, Maqāla fī mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 116. Zu diesem Werk und seinen Zielen vgl. Chiaradonna, Le traité de Galien Sur la démonstration et sa postérité tardo-antique. Der Beitrag wurde übersetzt von Katja Weber.
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6. Al-Fārābī und der arabische Aristotelismus Cleophea Ferrari (Erlangen)
1. Biographisches Abū Naṣr al-Fārābī, der aus Turkestan stammte, kam nach einem schweren, heute weithin unbekannten Lebensweg mit Stationen in Bagdad und Aleppo, auf dem Weg nach Damaskus im Jahre 950 ums Leben. Zu dieser Zeit war das Bagdader Kalifat bedroht von der an die Macht drängenden, aus dem Norden des Irans stammenden Dynastie der Būyiden.1 Die allmähliche Auflösung des ʿabbāsidischen Kalifats hatte einen Bürgerkrieg zur Folge, der das Vorspiel für den Machtwechsel bildete. Die Zeit der Blüte des alten Kalifats war die fruchtbarste für die Rezeption der griechischen Wissenschaften und, in ihrem Gefolge, der Philosophie gewesen. Vor allem durch die Logik stand der Erkenntnisgewinn mittels rationaler Beweisführung in hohem Ansehen, sei es in der Medizin, in der Jurisprudenz oder in der Theologie. In der Zeit des Niedergangs standen nun die arabischen Erben der antiken Wissenschaften vor der Herausforderung, ihre Rolle im islamischen Gemeinwesen zu rechtfertigen und die universale Autorität rationaler Erkenntnis in der religiösen Gemeinschaft durchzusetzen. Auf diese Gelehrten traf al-Fārābī, als er im Laufe seines Lebens in Bagdad weilte. Sie gehörten zu den führenden Köpfen der Bagdader Aristoteliker. So las er bei Yuḥannā b. Ḥaylān das aristotelische Organon2 und wurde selbst Teil der Bagdader Gelehrtenwelt, die sich der Rezeption der antiken Philosophie verschrieben hatte. Al-Fārābī wurde eine so zentrale Figur dieser Epoche, dass ihm, im Rückblick der Schule Avicennas, der Beiname „der zweite Lehrer“ verliehen wurde, und zwar „der zweite“ nach Aristoteles, weil er für die Erklärung und Verbreitung von dessen Lehre so eminent wichtig geworden war.
2. Die arabische Tradition der griechischen Philosophie und die Quellen al-Fārābīs Die aristotelische Logik war in der christlichen Überlieferung der syrisch-aramäischen Klosterschulen als zur Propädeutik gehörende Disziplin jahrhundertelang gefördert worden. Durch die arabischen Übersetzer wie Mattā b. Yūnus (gestorben 940) und seine Nachfolger fanden die logischen Werke Eingang in die Kreise der Baġdāder Aristoteliker. Eine ausführliche Darstellung der Philosophiegeschichte bis al-Fārābī liegt uns vor in der fragmentarisch erhaltenen Schrift Über das Aufkommen der Philosophie (Fī Ẓuhūr al-falsafa), die bei Ibn Abī Uṣaybiʿa3 überliefert ist.4 Er stellt dar, dass, als Aristoteles gestor1 2 3 4
Siehe Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, S. 31–102. Siehe Ibn Abī Uṣaybiʿa, ʿUyūn al-anbāʾ [Quellen der Nachrichten], Band 2, S. 135.20–25. Ibn Abī Uṣaybiʿa, ʿUyūn al- anbāʾ, Band 2, S. 134.30–135.24. Vgl. das Zitat zu Beginn des Kapitels über die Übersetzungen. Fī ẓuhūr al-falsafa, überliefert bei al-Masʿūdī, Kitāb at-Tanbīh wa-l-išrāf [Buch der Warnung und der Aufsicht], S. 121.19– 122.14. Zur Überlieferung des Berichtes von al-Fārābī siehe Gutas, The “Alexandria to Baghdad“ Complex of Narratives.
Al-Fārābī und der arabische Aristotelismus
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ben war, seine Schüler die Lehre weitergaben und im spätantiken Alexandria eine lange und kontinuierliche Lehrtradition bestand. Aufgrund des Beschlusses der christlichen Bischöfe, die Schriften des Organon nur bis zu Analytica priora I 7 zu lesen,5 blieb diese Einschränkung auch in der weiteren Lehrtradition gültig. Noch in frühislamischer Zeit in Antiochia, wohin sich das Zentrum der Lehrtradition verschoben hatte, blieb sie bestehen. Auch das Auftreten von Gelehrten aus Ḥarrān und Marw habe nichts daran geändert, bis die Philosophie in Bagdad angekommen sei, wo sie wieder ohne Einschränkung habe studiert werden können. Der Bericht von al-Fārābī ist kein historischer, aber es lässt sich daraus erkennen, wie er sein eigenes Schaffen in der Geschichte der Philosophie einordnete. In seiner Darstellung entstand die falsafa, die das Erbe der antiken griechischen Philosophie weitertrug, unter dem Schutz des Islam, während die alexandrinische Tradition unter christlichem und damit unter einem der Philosophie feindlichem Einfluss nicht weiterleben konnte. In dieser Sichtweise haben die Araber die Philosophie auf der höchsten Stufe ihrer Vollendung, und darunter verstanden sie die apodeiktische Philosophie des Aristoteles, wieder in die ihr gebührende Stellung gebracht.6 An den überlieferten Schriften al-Fārābīs lässt sich der starke alexandrinische Einfluss deutlich erkennen. Eng an alexandrinischen Quellen angeschlossen verfasste er kleinere Einführungsschriften, wie zum Beispiel die Schrift Was dem Studium der Philosophie vorausgehen sollte (Fī mā yanbaġī an yuqaddam qabla taʿallum al-falsafa), in der die zehn Punkte der spätantiken Einführung in die aristotelische Philosophie, die sogenannten Prolegomena, behandelt werden.7 Auch seine Literalkommentare zu Logik und Physik, also die durchlaufenden Kommentare, die Wort für Wort erklären, gestaltete er im Anschluss an die alexandrinische Tradition. Das Besondere an dieser Leistung besteht darin, dass al-Fārābī seine Tätigkeit als Gelehrter und Kommentator reflektiert hat. Außerdem hat er den Beitrag und die Aufgabe definiert, die die Philosophie zu leisten und zu erfüllen hat in Bezug auf das Erreichen des Ziels, nämlich die menschliche Vollkommenheit und das höchste Glück im Allgemeinen. Gleichzeitig soll sie aber auch einen Beitrag leisten zur Gesellschaft, das heißt zur Verfassung der islamischen Religionsgemeinschaft (milla).8 Im Zuge dieses Ansatzes bildete al-Fārābī eine Hermeneutik der philosophischen Sprache heraus, die es ermöglichte, die Philosophie in den Kontext der arabisch-islamischen Kultur zu integrieren, eine universale Philosophie, welche die Deutungshoheit in der islamischen Religionsgemeinschaft beanspruchte.
5 6 7 8
Diese Darstellung entspricht jedoch nicht dem Befund der syrischen Versionen; al-Fārābī streicht vielmehr die Überlegenheit der arabischen Rezeption heraus. Die zentrale Stellung al-Fārābīs in der Philosophiegeschichte des arabischen Mittelalters umreißt im Gesamtzusammenhang: Endress, Der arabische Aristoteles, besonders S. 170f. Zur Übernahme der Prolegomena der spätantiken griechischen Kommentare in der arabischen Tradition siehe Ferrari, Der Kategorienkommentar von Abū l-Faraǧ Ibn aṭ-Ṭayyib, S. 45–49. So thematisiert in seinem Werk Erreichen der Glückseligkeit (Taḥṣīl as-saʿāda).
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Einzelne Denker und Werke
3. Das philosophische Werk von Abū Naṣr al-Fārābī. Ein Überblick. 3.1 Propädeutik
Besonders klare Belege dafür, dass sich al-Fārābī zu der beschriebenen Lehrtradition gehörend verstand, sind seine Werke zur Propädeutik, in denen er direkten Bezug auf die spätantiken Einleitungen zur Philosophie und zu einzelnen philosophischen Werken nimmt. Zum antiken Curriculum gehörte auch die Mathematik und folgerichtig verfasste auch al-Fārābī Abhandlungen mit mathematischen Themen. Ein besonderes Tätigkeitsgebiet war die Musik als Teil der höfischen Kultur, und zwar sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Perspektive. Al-Fārābī ist der Autor eines Großen Buches über die Musik (Kitāb al-mūsīqī al-kabīr). Die direkte Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie und ihren beiden zentralen Vertretern Platon und Aristoteles hat zum einen al-Fārābīs Beschreibung der Lehren von Platon und von Aristoteles mit dem Titel Das Erreichen der Glückseligkeit (Taḥṣīl assaʿāda) zur Folge, zum anderen ist von ihm auch ein Werk überliefert, das Platon und Aristoteles miteinander zu harmonisieren versucht, Die Harmonie zwischen Platon und Aristoteles (Kitāb al-ǧamʿ bayna raʾyay al-ḥakīmayn).9 Aus der historischen Situation al-Fārābīs heraus ist seine Darstellung der Wissenschaften und ihrer Beziehung zueinander zu verstehen, nämlich die sogenannte Aufzählung der Wissenschaften (Iḥṣāʾ al-ʿulūm): Zu al-Fārābīs Zeit kamen die Gelehrten, wie angedeutet, mit einer großen Anzahl an Texten antiken griechischen Ursprungs in Berührung. Schwierigkeiten ergaben sich nun durch die Gegenüberstellung des durch die Rezeption neu erlangten Wissens mit den in der islamischen Gesellschaft als verbindlich anerkannten Inhalten. Aus dem Bedürfnis heraus, die verschiedenen Disziplinen in ein Verhältnis zueinander zu stellen und nicht einfach als Fremdkörper nebeneinander stehen zu lassen, entstand al-Fārābīs Werk, in dem es keine Unterscheidung von „arabischer“ und „fremder“ Wissenschaft gibt. Die Disziplinen, die für die islamische Gesellschaft zu jener Zeit die maßgeblichen Erkenntnisse lieferten, waren Sprachwissenschaft, Rechtswissenschaft und Theologie. Alle drei waren geboren aus der Notwendigkeit, die durch den Propheten aufgefasste und im Koran niedergelegte göttliche Offenbarung und die aus ihr abzuleitenden Regeln für die menschliche Lebensführung in eine verbindliche Form zu bringen. Das Ziel dieser Wissenseinteilung und -erfassung ist die Darstellung des gesamten philosophischen Programms, das zur Erreichung des höchsten Ziels des menschlichen Lebens dient: der Erkenntnis des Schöpfers. Die Tätigkeit des Philosophen ist die Annäherung an den Schöpfer, deren letztes Ziel in der Verähnlichung mit dem Schöpfer besteht. In der Aufzählung der Wissenschaften teilt al-Fārābī der unter einem besonderen Legitimationszwang stehenden Philosophie den wichtigsten Platz in der Hierarchie der Wissenschaften zu, indem er das universal gültige Wissen über das partikulare Wissen stellt. Denn nach al-Fārābīs Verständnis macht die Philosophie, und nur sie, universal gültiges Wissen beweisbar. So geht es im ersten Kapitel, das von der Grammatik handelt, nicht um die arabische Grammatik, sondern um die allgemeinen Strukturen von Sprache. Deswegen richtet al-Fārābī dabei das Augenmerk auf die Logik der Sprache. Er bezieht sich in diesem Kapitel seiner Abhandlung nicht auf die spezifisch arabische Grammatik, sondern auf eine 9
Zur Harmonie zwischen Platon und Aristoteles siehe weiter unten S. 221.
Al-Fārābī und der arabische Aristotelismus
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universale Grammatik. Logik ist für ihn eine Universalgrammatik. Sie stellt die Denkregeln zur Disposition und steht daher über der Sprache. Auf diese Weise wird die Grammatik zu einer Unterart der Philosophie. In der gleichen Weise verfährt al-Fārābī auch mit den anderen Disziplinen, die er in diesem Werk beschreibt. In der Aufzählung der Wissenschaften nimmt also die Philosophie den höchsten Rang unter allen Disziplinen ein. Diese dominante Stellung bekommt die Philosophie bei den Arabern zum ersten Mal bei al-Fārābī. Bei den Bagdader Medizinern ist die Philosophie lediglich ein untergeordneter Teil des Curriculums der Medizinstudenten. Die Medizin selbst gehört jedoch bei al-Fārābī nicht in den Kanon der Wissenschaften. Denn diese haben das Ziel, die Ursache der Dinge zu erforschen, aber die Medizin als Heilkunde erfüllt diese Vorgaben nicht. Daher ist die Medizin eine Kunst (ṣināʿa), aber keine Wissenschaft. Al-Fārābīs System ist hierarchisch aufgebaut. Es umfasst die Sprachwissenschaft, Logik und Mathematik, ebenso alle Naturwissenschaften und die Musik. Dann folgen Metaphysik, Islamisches Recht, Politik und Islamische Theologie. Das Werk hatte, dank der Übersetzung von Gerhard von Cremona im 12. Jahrhundert, auch eine große Nachwirkung im lateinischen Mittelalter.10 Die Echtheit des Werkes mit dem Titel Die Harmonie zwischen Platon und Aristoteles ist von mancher Seite aus inhaltlichen Gründen angezweifelt worden, jedoch ohne einen letzten Beweis für ihre Unechtheit erbringen zu können.11 Es tauchen in der Abhandlung von al-Fārābī Argumente auf, die nicht recht zu seinen anderen Schriften zu passen scheinen, zum Beispiel, dass al-Fārābī in diesem Werk den iǧmāʿ (Konsens) als Kriterium für die Wahrheit zulässt. Andererseits besteht terminologisch und argumentativ eine große Nähe zu den übrigen Werken al-Fārābīs, sodass zumindest angenommen werden muss, dass die Schrift in seinem nahen Umfeld entstanden ist.12 Den Versuch, die Lehren von Platon und Aristoteles miteinander zu harmonisieren, wagten schon spätantike Autoren. So gibt es Belege dafür, dass Porphyrios eine allerdings nicht erhaltene Schrift verfasst hat mit dem Titel Darüber, dass die Ansicht von Platon und von Aristoteles eine einzige ist.13 Auch sein Lehrer Plotin wies darauf hin, dass die Substanzlehre des Aristoteles nur mithilfe der Ideenlehre von Platon ihre Berechtigung haben kann.14 Al-Fārābī erklärt zu Beginn, was sein Ziel ist: „Als ich sah, dass zahlreiche unserer Zeitgenossen untereinander über die Schöpfung der Welt und ihre Ewigkeit disputieren und streiten (tanāzaʿū) und der Meinung sind, dass zwischen den beiden ersten und wichtigsten Weisen Uneinigkeit herrscht über den ersten Schöpfer und die ersten Ursachen, sowie über die Frage der Seele und des Intellekts und über die Unterscheidung der guten und der schlechten Taten, aber auch über zahlreiche andere Fragen, der Politik, der Ethik und der Logik, wollte ich in dieser meiner Abhandlung anfangen, die Harmonie aufzuzeigen, die zwischen den beiden Ansichten herrscht. Ich wollte die Erklärung dessen liefern, was ausgesagt wird in ihren Ansichten, damit die Übereinstimmung zwischen ihren Überzeugungen klar aufscheine, und damit der Zweifel und die Unsicherheit aus den Herzen derer schwinden, die ihre Bücher studieren, sodass die 10
11 12 13 14
Das Werk ist im Lateinischen überliefert unter dem Titel De scientiis, siehe dazu al-Fārābī, Über die Wissenschaften, De scientiis. Besonders zur Nachwirkung im lateinischen Westen vgl. Fidora, Aristotelische Wissenschaft als Netzwerk von Wissenschaften. Dazu siehe Lameer, Al-Fārābī and Aristotelian Syllogistics; Rashed, On the Autorship of the Treatise on the Harmonization of the Opinions of the Two Sages Attributed to Al-Fārābī. Siehe hierzu Endress, Prefazione, S. 11ff. sowie 28f. Siehe D’Ancona, The Topic of the “Harmony Between Plato and Aristotle”. Siehe Plotin, Enneaden VI.1–3: vgl. Endress, Prefazione, S. 5, sowie Chiaradonna, Sostanza, movimento, analogia. Plotino critico di Aristotele.
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Einzelne Denker und Werke
verdächtigen Stellen, die Zweifel aufkommen lassen in ihren Abhandlungen, klar werden. Denn dies ist das Wichtigste, das hier geklärt wird, und es ist das Nützlichste, das kommentiert und erklärt wird.“15 [Übersetzung von C. F.]
Die Widersprüche in den Lehren von Platon und Aristoteles kann indes auch al-Fārābī nicht auflösen. In seiner Darstellung ist aber das Ziel der beiden ein einziges, identisches, nämlich die eine Philosophie. Für al-Fārābī ist Platon ein Vorgänger auf dem Weg zu diesem Ziel, Aristoteles ist aber dessen universaler Vollender, weil seine Philosophie auf der Wissenschaft vom Beweis beruht.16 Über den starken aristotelischen Einfluss ist jedoch nicht zu vergessen, dass al-Fārābī auch von anderen philosophischen Strömungen geprägt worden ist. In besonderem Maße gilt dies für den Neuplatonismus, der im Prozess der Rezeption aristotelischer Schriften, vermittelt durch den Platonismus der alexandrinischen Aristoteles-Kommentatoren und der Überlieferung der Neuplatoniker unter Aristoteles’ Namen, so prägend war, dass Aristoteles für al-Fārābī zum Träger neuplatonischer kosmologischer Modelle wurde.17 Da für das erhaltene Werk al-Fārābīs aufgrund der Faktenlage eine chronologische Reihung nur unter Schwierigkeiten möglich ist, gliedert man die überlieferten Schriften zumeist nach inhaltlichen Gesichtspunkten. So kann man zum Beispiel annehmen, dass die kleinen isagogischen Schriften, die sich sehr eng an die alexandrinischen Prolegomena anschließen, früh sein dürften, und erst danach die von eigenen Ansätzen geprägten Schriften hinzugekommen sind.18 Allerdings hat eine derartige Einteilung den Nachteil, dass sie, sich letztlich an der aristotelischen Einteilung der Philosophie orientierend, der inhaltlichen Vielfalt von al-Fārābīs Perspektiven nicht gerecht wird. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Werk Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt (Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila), das einerseits eine Darstellung der dies- und jenseitigen Welt bietet, andererseits aber den idealen Aufbau einer Gemeinschaft aufzeigt (siehe unten). Aufgrund dieses Modells der idealen Gemeinschaft wird das Werk gerne als ein Beitrag zur „Politischen Philosophie“ abgehandelt, was aber dem darin behandelten Themenspektrum nicht gerecht wird. Ähnlich verhält es sich mit anderen Werken al-Fārābīs (zum Beispiel im Falle des Buchs der Partikeln (K. al-ḥurūf) auch hierzu siehe unten). Die dominierende Stellung der Logik seit der spätantiken alexandrinischen Schule blieb in der Lehrtradition erhalten bis weit in die arabische Überlieferung hinein. Für die rationale Erkenntnis und damit für alle Wissenschaften war die Logik fundamental, weil sie das „Werkzeug“ (organon) war, mittels dessen die Unterscheidung von wahr und falsch ermöglicht wurde. Dieser Ansatz, dass der Beweis das Werkzeug rationaler Wissenschaft ist, zeichnet sich auch in al-Fārābīs Verständnis der Metaphysik ab. Er schreibt in seinem Buch Über die Ziele des Buches der Metaphysik (Maqāla fī aġrāḍ kitāb mā baʿd aṭ-ṭabīʿa), dass der Gegenstand der Metaphysik die Universalien seien, die Metaphysik sei die Wissenschaft vom Allgemeinen. In dem Buch sei nicht Metaphysik und die Einheit Gottes ein und dasselbe, wie 15 16 17 18
al-Fārābī, al-Ǧamʿ bayna raʾyay al-ḥakīmayn [Die Harmonie zwischen den beiden Weisen], S. 36.5–37.2. Siehe Endress, La «Concordance entre Platon et Aristote», l’Aristote arabe et l’émancipation de la philosophie en Islam médiéval. Siehe Endress, L’ Aristote arabe. Réception, autorité et transformation du Premier Maître. Diese sind Kitāb al-alfāẓ, Kitāb al-ḥurūf (darin die erste Analyse der religiösen Sprache), dann Iḥṣāʾ al-ʿulūm, Kitāb al-milla (darin die Begrifflichkeit der politischen Philosophie, und zwar politisch insofern als sie das Verhältnis der universalen Philosophie zur einzelnen Religionsgemeinschaft betrifft). Von den Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt weiß man, dass sie spät entstanden sind.
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behauptet würde, sondern die theologische Wissenschaft gehöre der Metaphysik an, weil und insofern sie die Prinzipien des Seienden angibt. Auf diese Weise werden auch die Theologie und die Offenbarung zum Objekt der rationalen Erfassbarkeit.19 Dass al-Fārābī sich als ein Fortsetzer dieser Tradition verstand ist auch daraus ersichtlich, dass er sich in eigenen Werken Gedanken um die Organisation, die Einteilung und die Studien der Wissenschaften machte, besonders im Hinblick darauf, welche Stellung dabei die Philosophie unter den Wissenschaften einnimmt und wie das Verhältnis der theoretischen, auf Beweise gegründeten Wissenschaften zu den hermeneutischen Disziplinen der Schriftauslegung und der Religionslehre aus ihren logischen Methoden charakterisiert wird. In der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie entstand auch sein Buch Über den Intellekt (Fī l-ʿaql). Hierin nimmt er Bezug auf die von Aristoteles in De anima III.4–8 entworfene Intellektlehre. Seit al-Kindī hat die Diskussion dieser Theorie auch in die arabische Philosophie Eingang gefunden (siehe unten). Die Noetik hat für al-Fārābī besonders für seine Theorie der Prophetie eine große Bedeutung – und damit für einen zentralen Punkt seines Schaffens.20 3.2 Logik
Ein wichtiger Teil des logischen Werkes al-Fārābīs ist die Sprachanalyse. Er hat es unternommen, die Differenz zwischen populärer Umgangssprache und spezifischer Fachsprache, die in der Philosophie verwendet wird, zu studieren. Diese Untersuchung verfolgt zwei Zwecke. Zum einen hat sie das Ziel, das Verhältnis der Logik zur Grammatik zu klären. Logik und Grammatik stehen sich gemäß al-Fārābīs Ansicht nicht konträr gegenüber, sondern sind letztlich aufeinander angewiesen. Während die Logik eine Art Universalgrammatik des Denkens ist, ist die Grammatik unabdingbar für die Konventionen der Verständigung. Zum zweiten bestand das Ziel der Untersuchungen al-Fārābīs darin, die in einer fremden Sprache formulierten Gedanken zur Logik mit einer neuen Terminologie dem Arabischen zu eigen zu machen und damit die falsafa, die einst ererbte Philosophie, zur arabischen Philosophie zu machen. Zwei Gebiete der Logik wurden von al-Fārābī in besonderem Maße berücksichtigt: Es ist dies zum einen die linguistische Seite der Logik, zum anderen ist es die formale Logik. Meistens handelt es sich bei den diesbezüglichen Schriften um Kommentare, Paraphrasen und eigene Abhandlungen zur aristotelischen Logik. Al-Fārābī kommentierte das gesamte Organon in Form von Zusammenfassungen (Epitome, muḫtaṣar). Dazu gehören auch die Isagoge von Porphyrios sowie Aristoteles’ Poetik und Rhetorik. Die Epitome ist in diesem Falle jedoch nicht einfach eine verkürzte Wiedergabe des aristotelischen Textes, sondern der Autor nimmt den Aristoteles-Text als Grundlage für die Entwicklung seiner eigenen Gedanken. Ein großer Teil von al-Fārābīs Ausführungen behandelt die Verbindung von griechischer Logik und arabischer Sprache. Mit dieser Fragestellung leistete er wichtige Beiträge zur damals anhaltenden Diskussion über das Problem der „sprachfremden“ Logik, die auf die Vermittlung der eigenen, arabischen Sprache angewiesen ist. Mehrere Zeugnisse des 19
20
Siehe Endress, Der erste Lehrer. Der arabische Aristoteles und das Konzept der Philosophie im Islam. Das Buch al-Fārābīs wurde, gemäß dem Bericht in seiner Autobiographie, sehr wichtig für Avicenna, fand dieser doch erst durch die Lektüre des Traktats den ersehnten Zugang zur aristotelischen Metaphysik. Siehe oben in diesem Band den Beitrag: Die Übersetzung philosophischer Texte aus dem Griechischen ins Arabische, S. 115. Siehe hierzu weiter unten, im Abschnitt über die Prinzipien der Ansichten, S. 229.
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Streites zwischen den Logikern und den Grammatikern über den Zweck der (griechischen) Logik sind uns erhalten, darunter der Bericht über eine öffentliche Diskussion, die im Jahre 938 in Bagdad stattgefunden haben soll.21 Gerade im Hinblick auf diese Problematik ist für al-Fārābī die Notwendigkeit der Logik unbestritten, weil sie eine Art Universalgrammatik ist. Die Logik stellt nach seiner Ansicht die Regeln für das Denken zur Verfügung und steht damit über der Sprache: „Die Kunst der Logik verhält sich zum Verstande und den Verstandesdingen wie die Kunst der Grammatik zur Sprache [lisān, arabisch auch „Zunge“] und den Sprachlauten (alfāẓ). Alles, was uns die Grammatik an Gesetzen über die Sprachlaute gibt, das gibt uns die Wissenschaft der Logik entsprechend über die Verstandesdinge.“22
Aus diesem Grund ist die Logik letztlich nicht abhängig von einer bestimmten Sprache und behält ihre Gültigkeit auch in der Übertragung in jede andere Sprache. In seiner Einführung in die Logik nimmt al-Fārābī dagegen eine Einteilung der deduktiven (qiyāsī) und der nichtdeduktiven Wissenschaften vor.23 Zu den deduktiven Disziplinen gehören diejenigen, bei deren Ausübung der Syllogismus verwendet wird, also Philosophie selbst, Dialektik, Sophistik, Rhetorik und Poetik. Zu den nichtanalytischen gehören diejenigen Disziplinen, bei deren Ausübung der Syllogismus nicht zur Anwendung kommt. Das sind praktische Wissenschaften wie beispielsweise die Medizin, Landwirtschaft und Architektur. Nach al-Fārābī zeichnen sich die Wissenschaften durch den unterschiedlichen Wahrheitsgehalt der Prämissen der Syllogismen aus. Zum Beispiel kommen der Rhetorik „überzeugende“ Aussagen und Syllogismen zu, der Poetik hingegen „vorstellungsevozierende“.24 Nach al-Fārābī gibt es dementsprechend fünf Arten des Diskurses (muḫāṭaba): Der beweisende (burhānī) Diskurs ist derjenige, der in der Philosophie zur Anwendung kommt. Der dialektische (ǧadalī), sophistische (sūfisṭāʾī), rhetorische (ḫiṭābī) und poetische (šiʿrī) Diskurs dagegen wird in jeweils verschiedenen Situationen des Gesprächs angewendet.25 Al-Fārābī hat seine Ansichten über die rhetorischen und poetischen Aussagen und Schlüsse in Bezug auf die Theologie (kalām) und Jurisprudenz (fiqh) ausgearbeitet, denn nach ihm lassen sich die Argumente der Theologen und Juristen in syllogistischen Strukturen nachzeichnen. Im Buch der Partikeln (Kitāb al-ḥurūf)26 legt al-Fārābī nämlich dar, dass die spezifische Unterweisung ausschließlich mit den demonstrativen Methoden geschieht, während die allgemeine Unterweisung mit dialektischer, rhetorischer und poetischer Methode erfolgt; wobei Rhetorik und Poetik geeigneter sind, die Menschen, die keine Philosophen sind, zu unterrichten. Da es, wie oben gesehen, den Philosophen vorbehalten ist, die demonstrative Methode anzuwenden und zu verstehen und damit zu apodeiktischen Beweisen der Wahrheit zu gelangen, arbeitet besonders die Poetik mit anderen Methoden, sie bedient sich nämlich der Vorstellungsevokation und der Nachahmung, um die Menschen zu unterweisen. 21 22 23
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Der bei at-Tawḥīdī überlieferte Bericht wurde übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Endress, Grammatik und Logik. Arabische Philologie und griechische Philosophie im Widerstreit. Siehe al-Fārābī, Iḥṣāʾ al-ʿulūm, S. 68.4–7. Ebenso in al-Fārābī, Introductory Risālah on Logic (Ed. Dunlop), S. 225.6–10. Der Text wurde herausgegeben und übersetzt von D.M. Dunlop, Al-Fārābī’s Introductory Risālah on Logic, und auch von R. al-ʿAǧam, al-Manṭiq ʿinda al-Fārābī. Zum ganzen Bereich des Syllogismus und seiner Anwendung siehe Lameer, Al-Fārābī and Aristotelian Syllogistics, besonders S. 40ff. Dieselbe Einteilung wird gemacht in al-Fārābī, Kitāb al-alfāẓ, S. 98.14ff. Siehe Al-Fārābī’s Introductory Risālah on Logic (Ed. Dunlop), S. 226.9ff.; in der Edition von R. al-ʿAǧam S. 57.2ff. Dies besonders im 2. Kapitel: al-Fārābī, K. al-ḥurūf, S. 131f.
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Auch in seiner Paraphrase zu den Analytica posteriora (Kitāb al-burhān) geht al-Fārābī auf die verschiedenen Arten des beweisenden Diskurses ein und untersucht dabei auch die Regeln der Definition und ihren Unterschied zum Beweis.27 Für al-Fārābī ist die in den Analytica posteriora entworfene Wissenschaftslehre der Apodeixis, also die Lehre vom Beweis, von grundlegender Bedeutung, da er darin den Weg sieht, auf dem die rationale Erkenntnis gewonnen werden kann.28 Der Beweis (burhān) gilt in seiner Theorie als dasjenige Werkzeug, das die rationale Wissenschaft möglich macht. Damit gewinnt die Philosophie, die sich dieses Mittels bedient, eine wichtige Stellung, weil sie demnach fähig ist, die universale Wahrheit zu beweisen. Die Analytica posteriora sind dem demonstrativen Syllogismus zugeordnet. Nach al-Fārābī sind die Philosophen in der Lage, ihn zu verstehen und anzuwenden. Die Theologen beschränken sich dagegen auf dialektische Schlüsse (Topik), während die religiöse Offenbarung die Mittel der Überzeugung (Rhetorik) und der Vorstellungsevokation (Poetik) einsetzt. Diese Theorie hat für die Logik die Folge, dass sie nicht mehr nur das „Instrument“ darstellt, sondern ein zentrales erkenntnistheoretisches Mittel ist, durch das jede Form von Rationalität erfasst und analysiert wird. In der Einführung in die Logik werden die Begriffe Aussage (zusammengesetzt oder einfach), Substanz, Differenz (faṣl) und Eigenschaft (ḫāṣṣa) diskutiert. In diesem Text folgt al-Fārābī der Eisagoge von Porphyrios, zu welcher er auch eine Paraphrase (al-Madḫal) verfasst hat.29 Darin nimmt er neben den Ausführungen von Porphyrios auch einen Teil über „das universale Zusammengesetzte“ auf, was auch die Erklärung von Definition (ḥadd) und Beschreibung (rasm) einschließt. Wie in der Paraphrase zu den Analytica posteriora geht al-Fārābī auch in der Einführung in die Logik auf den Unterschied zwischen Definition und Beschreibung ein. Definition ist nämlich nach ihm ein aus Genus und Differentia zusammengesetztes Universales, das auf die Substanz zielt. Al-Fārābī nennt dazu folgendes Beispiel: Der Mensch ist ein rationales Lebewesen. Die Beschreibung dagegen ist eine Aussage anhand einer akzidentellen Differentia, nicht einer substanziellen, was er an diesem Beispiel erklärt: Der Mensch ist ein Lebewesen, das lachen kann.30 Neben den kleineren Traktaten und Paraphrasen ist auch al-Fārābīs großer Kommentar (šarḥ) zu De Interpretatione erhalten (Kitāb al-ʿibāra). In diesem Kommentar zeigt sich ebenfalls deutlich, dass al-Fārābīs Studien auf der griechischen Tradition aufbauen. Die Fragestellungen entsprechen teilweise denjenigen der griechischen Kommentartradition, so zum Beispiel diejenige nach dem Ziel von De Interpretatione. Mit der Formel, dass die Logik „von den signifikanten Aussagen“ (sêmantikai phônai) handle, wird auf den Unterschied zwischen Form und Inhalt der Aussagen verwiesen. An dieser Unterscheidung arbeitet al-Fārābī auch in seinem Buch über die Sprachlaute der Logik (Kitāb al-alfāẓ almustaʿmala fī l-manṭiq), wo es heißt: „Die Dinge, die man wissen muß, müssen für alle einheitlich sein, die signifikanten Aussagen sind aber nicht von sich aus einheitlich für alle. Es ist also deutlich, dass die Dinge, die man wissen will, nicht den über sie ausgesagten signifikanten Aussagen entsprechen.“31 Diese Aussage ist entstanden vor dem Hintergrund des Gedankens, dass die Sprachen variieren, die Dinge aber immer gleich bleiben. 27 28 29 30 31
Siehe al-Fārābī, Kitāb al-burhān, S. 43ff. Vgl. Endress, Die wissenschaftliche Literatur, S. 34f. Ediert wurde dieser Text von Dunlop, Al-Fārābīs Eisagoge. Zu dieser Passage siehe ebd. S. 127; in der Edition von R. al-ʿAǧam S. 86. Siehe Al-Fārābī’s Introductory Risālah on Logic (Ed. Dunlop), S. 229.11ff.; in der Edition von R. al-ʿAǧam S. 61.12. Siehe al-Fārābī, Kitāb al-alfāẓ, S. 101.6–8.
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Dies setzt natürlich den Wert der an eine Sprache gebundenen Grammatik herab, weil diese national begrenzt und nicht universal gleich ist. Nach Ansicht von al-Fārābī behandelt De Interpretatione nicht den Inhalt (mādda) der Aussagen, sondern ihre Zusammensetzung (taʾlīf). Sowohl die Frage nach dem Ziel des Buches gehört zum Katalog der alexandrinischen Kommentatoren, als auch die Unterscheidung von Form und Inhalt der Aussagen. Sie wird von den griechischen Kommentatoren im Zusammenhang mit der Kommentierung der Kategorien diskutiert.32 Letztlich geht es al-Fārābī darum, das Gebiet der Logik von demjenigen der Grammatik zu unterscheiden. Und damit geht es auch darum, den Zweck und das Ziel der Logik umreißen zu können. Nach der Ansicht al-Fārābīs behandelt die Logik nicht den Inhalt, sondern nur die Form der Aussagen, die nicht dasselbe sei wie ihre sprachliche Form.33 Der Hintergrund dieser Gedanken ist zu Beginn von Aristoteles’ De Interpretatione zu finden.34 Aristoteles schreibt hier über die Zusammenhänge von Ding, Gedanke, Wort und Geschriebenem. Dinge und Gedanken gelten überall gleich, Wort und Geschriebenes nicht. Gedanken haben Ähnlichkeit mit den Dingen, Wort und Geschriebenes nicht. Geschriebenes ist Zeichen für Wörter, Wörter sind Zeichen erstens für Gedanken und zweitens für Dinge. Al-Fārābī baut mit seinen Ausführungen insofern auf die griechischen Kommentatoren auf, als diese sich schon in ihren Kommentaren zu den Kategorien zu der Frage äußern und feststellen, dass die Logik nicht die Wörter selbst, sondern die Wörter als Ausdruck der Gedanken behandle.35 Neben der traditionellen Einführungsliteratur in die Logik und deren formaler Seite verfasste al-Fārābī auch eigene Werke vorwiegend logischen und sprachphilosophischen Inhalts. Diese sind das Buch der Partikeln (Kitāb al-ḥurūf) und das Buch über die Sprachlaute der Logik (Kitāb al-alfāẓ al-mustaʿmala fī l-manṭiq). Im letzteren werden Termini untersucht, die nach al-Fārābī für das Studium der Logik wichtig sind. Dazu gehören unter anderen das Pronomen, der bestimmte Artikel und die Kopula. Aus der Aufgabe des Logikers, die darin besteht, die Existenz, Qualität und Quantität einer Sache oder Aktion festzustellen, ergibt sich die Notwendigkeit, das dazu notwendige Vokabular bei den Grammatikern zu suchen. Es liegt daher nahe, nach der Beziehung von Grammatik und Logik zu fragen. Die Aufgabe des Logikers wäre es demnach, die Beziehung der Begriffsbestimmung (maʿnā) zur Aussage (ḥaml) festzustellen. Im Zuge der Reflexionen über die Aussage macht al-Fārābī auch Untersuchungen zu den verschiedenen Arten des logischen Diskurses, nämlich Deduktion (qiyās), Demonstration (burhān), Sophistik (muġālaṭa) und Dialektik (ǧadal). Dem Werk voran stellt al-Fārābī das Einführungsschema der „Prolegomena“, das seit den alexandrinischen Aristoteles-Kommentatoren zur Schultradition gehörte – dasjenige Fragenschema also, das aus sechs bis acht Punkten besteht und gemäß der Tradition vor jedem philosophischen Werk studiert werden sollte. Diese sechs Fragen sind diejenigen nach dem Ziel, dem Nutzen, dem Titel, der Einordnung und der Echtheit der Schrift, dann die Frage nach der Disziplin, zu der sie gehört, und die Frage, wo der Platz dieser Schrift innerhalb des Werkes des Aristoteles ist.36
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Zum Beispiel bei Olympiodor, Logicae prolegomena, S. 18.30ff. In seiner Einführung zu al-Fārābīs Kommentar zu De Interpretatione widmet F.W. Zimmermann dieser Frage einen größeren Abschnitt, siehe Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De Interpretatione, S. xli ff. Siehe Aristoteles, De Interpretatione, 16a3–8. Diese Diskussion findet ihren Platz in den „Prolegomena“ bei der Behandlung des Zieles (skopos), siehe zum Beispiel Olympiodor, Logicae prolegomena, S. 18.30ff. Siehe al-Fārābī, Kitāb al-alfāẓ, S. 94f.
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Auch die Hintergründe des wissenschaftlichen Denkens hat al-Fārābī auszuleuchten versucht und dafür die Zusammenhänge zwischen Denken und Sprechen erforscht. Dargestellt hat er dies in seinem Buch der Partikeln (Kitāb al-ḥurūf).37 In diesem Werk werden in einem ersten Teil die Begriffe im Hinblick auf ihre Beziehung zu den aristotelischen Kategorien untersucht. Als ein wichtiger Begriff nimmt die Substanz (ǧawhar) viel Raum ein, aber auch das „Seiende“ (mawǧūd), das „Selbst“ (ḏāt) und beispielsweise das „Ding“ (šayʾ) werden ausführlich behandelt. Da das Sein über alle zehn Kategorien ausgesagt wird, ist es ein zentraler Begriff. Folgende Bedeutungen von Sein zählt al-Fārābī auf: Das Sein als Prädikat aller Kategorien, als Synonym des Wahren, als Bezeichnung von all jenem, das außerhalb der Seele existiert, und als Sein im Sinne der Kopula (griechisch estin).38Al-Fārābī zeigt in den Passagen über das „Seiende“ auch, dass es sich dabei um einen Begriff der Relation handelt.39 Für die Substanz zählt al-Fārābī drei Bedeutungen auf: erstens ist Substanz Bezeichnung des Individuums, das nicht im Zugrundeliegenden ist, zweitens ist sie dasjenige Prädikat, das dieses Individuum bestimmt, und drittens ist sie zweite Substanz. Weiterhin werden Fragepartikel wie beispielsweise „Was?“, „Wo?“, „Wie?“, „Wieviel?“ und „Wann?“ untersucht.40 Teilweise gehören diese Fragepronomina zu den aristotelischen Kategorien von Ort, Zeitpunkt, Qualität und Quantität. Aber es werden auch Fragen behandelt, die eher in den Bereich der Analytica posteriora gehören, wie die Fragen nach dem „Was“, nach dem Existierenden überhaupt, ebenso wie die Fragen „Warum?“ und „Was?“ in Bezug auf die Definition. Im zweiten Teil des Buches folgt eine Darstellung des Ursprungs der Sprache, der Geschichte der Philosophie und es wird auch das Verhältnis von Philosophie und Religion behandelt.41 Dabei geht es darum, die Sprache und ihren Gebrauch in ihrem historischen Gewachsensein als Fundament von Philosophie und Religion zu erklären. Für al-Fārābī spielt, wie bereits gesehen, die Verbindung zwischen Religion und Philosophie eine fundamentale Rolle. Die Religion versucht durch Imitation, Gleichnisse, Bilder und rhetorische Überzeugung die philosophische Wahrheit zu vermitteln. Sie ist daher für die Mehrheit der Menschen geeignet, die nicht die Fähigkeiten der Philosophen haben, die Wahrheit mittels apodeiktischer Beweise einzusehen. Im letzten Teil des Buches der Wörter dagegen geht es wieder um Fragepartikel und ihre Verwendung in verschiedenen Arten der philosophischen Untersuchung, mit dem Ziel, eine Methodologie der rationalen Wissenschaft zu skizzieren. Mit der Untersuchung der verschiedenen Frageformen, in deren Darstellung sich al-Fārābī an den aristotelischen vier wissenschaftlichen Fragen aus den Analytica posteriora orientiert, entwickelt er eine Theorie des Fragens und des begrifflichen Denkens.
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Siehe auch dazu oben in diesem Band den Beitrag von Matthias Perkams zur Bedeutung der arabisch-islamischen Philosophie, S. 16f., 20. Siehe al-Fārābī, Kitāb al-ḥurūf, S. 111; dargestellt auch in Fakhry, Al-Fārābī. Founder of Islamic Neoplatonism. Ein Beispiel dafür ist, dass X der Vater von Y ist. Die Relation ist dann so, dass Y der Sohn von X ist. Vgl. dazu Zimmermann, Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De Interpretatione, S. xxxvi. Siehe auch al-Fārābī, Kitāb al-ḥurūf, S. 85f. Siehe al-Fārābī, Kitāb al-ḥurūf, S. 204f. Dazu siehe Lameer, Al-Fārābī and Aristotelian Syllogistics, S. 282ff.
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3.3 Politische Philosophie
Nicht nur für die Rezeption und Verbreitung der Logik ist das Werk al-Fārābīs von großer Bedeutung, weil es von seinen Nachfolgern Ibn Sīnā (Avicenna) und Ibn Bāǧǧa studiert wurde, sondern auch für die politische Philosophie. Vor al-Fārābī ist kaum ein Interesse an politischer Philosophie stricto sensu auszumachen. Die Neuplatoniker interessieren sich für Platon hauptsächlich hinsichtlich der metaphysischen Weltordnung, der Kosmologie, nicht jedoch für die politische Dimension im Diesseits.42 Dass al-Fārābī ein großes Interesse daran hatte, für die Fundamente der menschlichen Gesellschaft eine bestimmte Ordnung zu schaffen, hatte vielleicht mit den politischen Umständen seiner Zeit zu tun. Denn al-Fārābī lebte in einer Epoche des Zerfalls: Der ʿabbāsidische Staat verlor an Macht, und unter Einzelherrschern und sich bekämpfenden Gruppen wurde das Leben mit einer großen Unsicherheit belastet.43 Al-Fārābī orientiert sich in seinen Abhandlungen an den Werken Platons und Aristoteles’, vor allem an der Politeia und den Nomoi. Dabei konzentriert er sich hauptsächlich auf folgende Themen: Welches ist die Verfassung entsprechend der theoretischen Wahrheitsund der praktischen Werterkenntnis des Gemeinwesens, in dem das vollkommene Glück zu erreichen ist? Wie muss die vollkommene Regierung aussehen? Wer ist der ideale Herrscher, unter dessen Staatsleitung die Menschen die Glückseligkeit (entsprechend der antiken eudaimonia) erreichen können? Die Glückseligkeit, die es zu erreichen gilt und die gleichzeitig die Vervollkommnung des Menschen bedeutet, ist die Erkenntnis der Ersten Ursache. Erreichen lässt sich diese Erkenntnis allerdings nur durch einen bestimmten Lebensstil, da die Seele nur zur Erkenntnis gelangen kann, wenn sie frei ist vom Ballast der irdischen Triebe. Eines der für sein Schaffen wichtigsten Werke al-Fārābīs trägt den Titel Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt (Mabādīʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila).44 Darin will al-Fārābī darstellen, welche Grundprinzipien und Ansichten die Einwohner eines gelungenen und daher vortrefflichen Gemeinwesens haben sollten. Das Fundament der Ausführungen al-Fārābīs bildet Platons Politeia. In welcher Form dieser Text al-Fārābī als Vorlage dienen konnte, ist aber nach wie vor Gegenstand der Forschung.45 Fārābī schafft in diesem Werk eine Kosmologie nach neuplatonischem Vorbild. Jede Sphäre, jedes Wesen hat seinen Platz in einer göttlichen Hierarchie. Diese Ordnung existiert auch im irdischen Bereich, ja sogar in den Körpern der Lebewesen, da ihre Organe und deren Funktionen nach bestimmten Gesichtspunkten der Hierarchie gegliedert sind. Der Autor geht also in diesem Werk mit seiner Perspektive auf die Metaphysik über die Thematik der „Politischen Philosophie“ hinaus. In der menschlichen Gemeinschaft hat, ebenso wie im Kosmos, jedes Mitglied seinen bestimmten Platz und seine bestimmte Aufgabe. Jedem einzelnen aber ist es anheimgegeben, auf dem Weg der Erkenntnis möglichst weit vorzustoßen, um durch die Erkenntnis der Wahrheit sowohl das eigene Leben als auch die Gemeinschaft zu vervollkommnen. Ein gelungenes Leben außerhalb des sozialen Regelwerks ist nicht möglich. Für sein Überleben ist jedes Individuum auf die anderen angewiesen.
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Dazu siehe Mahdi, Alfarabi and the Foundation of Islamic Political Philosophy. Zu den politischen Umständen siehe Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, S. 31. Herausgegeben wurde dieses Werk von Walzer, Al-Fārābī. On the Perfect State. Eine moderne deutsche Übersetzung liegt vor: Ferrari, Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt. Zur Überlieferung von Platons Politeia siehe: Gutas, Galen’s Synopsis of Plato’s Laws and Fārābī’s Talḫīṣ; Harvey, Did Fārābī read Plato’s Laws?
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Die Grundlage und gleichzeitig das Ziel des besten Gemeinwesens ist die Realisierung des Guten im Menschen. Der Mensch soll zum Glück geführt werden. Das kann nur geschehen, wenn sowohl die Regierung des Gemeinwesens als auch das gelungene Leben des einzelnen Menschen auf der Einsicht in die göttlichen und menschlichen Dinge beruht, in die universale Seinsordnung, also auf der wahren Philosophie. Da es nur den Philosophen gegeben ist, die universalen Begriffe zu verstehen, muss der Gesetzgeber ein Philosoph sein. Gleichzeitig besteht jedoch der Bedarf an Vermittlung der Normen und Gesetze an alle Menschen. Die Einsicht in die universale Wahrheit und deren Vermittlung an alle Menschen, die Offenbarung der wahren Religion, kann aber nur der Prophet erfüllen. Dies geschieht dadurch, dass er die Fähigkeit hat, die vom aktiven Intellekt vermittelte Wahrheit zu begreifen, durch die Vorstellungskraft zu erfassen und schließlich durch „Nachahmung“ in Symbolen an alle zu vermitteln. Es ist dann im Folgenden die Aufgabe von Theologie (kalām) und Jurisprudenz (fiqh) durch Auslegung und Anwendung dessen, was durch den Propheten offenbart worden ist, den Weg zum wahren Glück für jedermann zu weisen. Der Schnittpunkt der Erkenntnisformen von Religion und Philosophie ist für al-Fārābī in der politischen Philosophie (al-ʿilm al-madanī), der Wissenschaft vom Gemeinwesen, zu finden.46 Dass diese Thematik im Zentrum von al-Fārābīs Denken stand, lässt sich auch an der Tatsache ablesen, dass er noch weitere Werke dazu geschaffen hat, wie die Staatsführung (Kitāb as-siyāsa) und Das Erreichen der Glückseligkeit (Taḥṣīl as-saʿāda), in denen das Ideal eines vollkommenen, gerecht geführten Staates beschrieben wird, der seinen Bewohnern das Erreichen der Glückseligkeit durch Wahrheitserkenntnis ermöglicht. Zwei zentrale Aspekte von al-Fārābīs Schaffen werden an diesem Punkt zusammengeführt. Zum einen ist dies seine Intellektlehre, die auf der aristotelischen Intellektlehre aus De anima basiert, und zum anderen ist es seine Vorstellung davon, wodurch Religion und Philosophie sich auszeichnen und wodurch sie sich unterscheiden. Die Wahrheit wird, nach seiner Ansicht, in Philosophie und Religion verschiedenen Sprachformen zugeordnet. Was in der Philosophie durch universale, apodeiktische Beweise erkannt wird, wird in der Religion durch bildliche Vorstellungen, durch Gleichnisse und Ähnliches ausgedrückt. Da sich die wissenschaftliche Erkenntnis nur bei wenigen Menschen findet und die Mehrheit die Wahrheit nur in symbolisch-bildlicher Form erfassen kann, bietet sich für die Mehrheit die Religion als Vermittlerin der Wahrheit an. 3.4 Intellektlehre
Dem Problem, wie der Verstand des Menschen die von den Sinnesorganen aufgenommenen Informationen verarbeitet, widmete al-Fārābī eine Abhandlung mit dem Titel Über den Intellekt (Risāla fī l-ʿaql). Auch hier unterscheidet al-Fārābī zwischen einem potentiellen, einem aktuellen, einem erworbenen und einem aktiven Intellekt, wobei der erworbene Intellekt als Mittler fungiert. Diese vier Arten sind gleichzeitig vier Potenzen der Erkenntnis. Jede der Intellektarten hat ihre bestimmte Rolle im Prozess der Verstandesarbeit. Beeinflusst in seiner Darstellung ist al-Fārābī dabei von der Schrift Über die Seele von Alexander von Aphrodisias.47 46
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Vgl. Lameer, Al-Fārābī and Aristotelian Syllogistics, S. 264: Nach Lameer speist sich al-Fārābīs Theorie der Religion als Imitation der Philosophie aus zwei platonischen Themen: Einerseits aus dem Unterschied von epistêmê und doxa, andererseits aus der platonischen Ansicht, dass die Herrschaft des Gesetzes eine unvollkommene Kopie der idealen Konstitution sein muss. Siehe Geoffroy, La tradition arabe du Peri Nou, besonders S. 196.
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Mit dieser Abhandlung setzten sich in der Folge nicht nur arabische Denker wie Avicenna, Averroes, Gazali und Maimonides auseinander, sondern auch die westlichen Denker wie Domenico Gundissalinus, Roger Bacon, Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Die Abhandlung selbst beleuchtet die terminologischen Färbungen, die die Begriffe annehmen, je nachdem, in welchem Kontext sie angewendet werden, sei es in der Theologie, sei es in der Ethik oder in anderen Zusammenhängen. Mit seiner Theorie des Intellekts entwickelt al-Fārābī einerseits eine Darstellung der menschlichen Erkenntnis, andererseits zeigt er damit einen Weg auf, wie der Mensch schon im Diesseits das Glück erlangen kann, da der aktive Intellekt die erste Emanationsstufe darstellt.
4. Zusammenfassung Orientierten sich seine Vorgänger noch vornehmlich an der Rezeption des antiken Erbes, das mit den islamischen Wissenschaften weitgehend ohne Berührung blieb, so unternahm es al-Fārābī, der den Beinamen „der zweite Lehrer“ (nach Aristoteles) verliehen bekam, antike Philosophie und islamische Wissenschaft in Übereinstimmung miteinander zu bringen. Eine Neuformulierung der Philosophie in arabischer Sprache sollte einen Kontext möglich machen zwischen dem antiken Erbe und der arabisch-islamischen Sprachgemeinschaft. Dazu bot al-Fārābī neue Kommentare und Kompendien zum aristotelischen Organon dar, ging aber einen gewichtigen Schritt weiter, weil er die aus den aristotelischen Schriften gewonnenen Erkenntnisse auch auf andere Wissenszweige anzuwenden bereit war. Mit dieser Entwicklung erhob al-Fārābī die Philosophie aber auch über alle anderen Wissensdisziplinen, weil sie allein fähig sei, die universale Wahrheit zu beweisen. Mit der Hilfe der auf diese Weise neu verstandenen Wissenschaft sollte es auch möglich werden, nicht nur das individuelle Glück, die unsterbliche Seele zu erlangen, wie es schon in der Antike angestrebt worden war, sondern sie sollte es auch ermöglichen, das menschliche Gemeinwesen zu regeln. Auf dieser Grundlage schuf al-Fārābī eine politische Wissenschaft. Aber alle einzelnen Zweige der Philosophie sind beteiligt am Projekt der universalen Wahrheitsfindung.
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Einzelne Denker und Werke
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7. Die Philosophen in der Tradition al-Kindīs Al-ʿĀmirī, al-Isfizārī, Miskawayh, as-Siǧistānī und at-Tawḥīdī Elvira Wakelnig (Wien) Im 10. Jahrhundert erlebt die islamische Welt eine kulturelle und intellektuelle Hochblüte. Als Emire übernehmen die persischen Būyiden die politische Macht im Reich des ʿAbbāsidenkalifen und fördern zum Zeichen und zur Demonstration ihrer herausragenden Position und Stärke Kultur und Wissenschaft. In den kleineren und größeren Machtzentren des Reiches und vor allem in der Hauptstadt Baġdād versammeln sich Gelehrte am Herrscherhof, bilden Zirkel und tauschen sich in regelmäßigen Zusammenkünften (maǧālis) aus. Auf der Suche nach Mäzenen und Förderern zeigen sie beeindruckende Reisetätigkeit. Von vielen dieser Gelehrten bleibt nicht mehr als ein Name, dokumentiert in Berichten und Zeugnissen aus der damaligen Zeit, beispielsweise in den Werken von Abū Ḥayyān ʿAlī b. Muḥammad b. ʿAbbās at-Tawḥīdī (um 925 bis 1023). Von anderen hat sich zumindest ein kleiner Ausschnitt ihres oft umfangreichen literarischen Schaffens erhalten. Zu letzteren zählen die vier Philosophen, die im Folgenden vorgestellt werden: Abū Sulaymān Muḥammad b. Ṭāhir b. Bahrām as-Siǧistānī al-Manṭiqī (um 912 bis 985), Abū l-Ḥasan Muḥammad b. Yūsuf al-ʿĀmirī (um 912 bis 992), Abū ʿAlī Aḥmad b. Muḥammad b. Yaʿqūb Miskawayh (um 935 bis 1030) und Abū Ḥāmid Aḥmad b. Abī Isḥāq al-Isfizārī (10. Jahrhundert). Sie alle stammen aus dem persischen Osten des Reiches und dürften einander persönlich gekannt haben. Ihre philosophischen Ansichten sind zum Großteil ein und derselben Tradition verpflichtet, nämlich derjenigen, die die aristotelische Philosophie mit neuplatonischer Gedankenwelt zusammenbringt und deren Anfänge sich bis auf al-Kindī zurückverfolgen lassen.1 Al-Kindī hatte zwei Schüler aus Ḫurāsān, Aḥmad b. aṭ-Ṭayyib as-Saraḫsī (um 835 bis 899) und Abū Zayd al-Balḫī (um 850 bis 934).2 Letzterer kehrte nach einem achtjährigen Baġdādaufenthalt in seine Heimat zurück und lehrte gegen Ende seines Lebens den damals noch sehr jungen al-ʿĀmirī, sodass eine direkte Verbindung zwischen al-Kindī und den Philosophen aus dem persischen Raum hergestellt werden kann. In einer Klage über die Überschätzung der Gelehrten seiner Zeit, denen allzu schnell „Weisheit“ (ḥikma) zugesprochen würde, führt al-ʿĀmirī sowohl al-Balḫī als auch al-Kindī als Beispiele mittlerweile verlorengegangener Bescheidenheit an: „Wenn unserem Meister Abū Zayd Aḥmad b. Sahl al-Balḫī mit seinem ausgedehnten Wissen in den verschiedensten Bereichen und seiner korrekten Methodik in religiösen Fragen einer seiner Anhänger Weisheit zuschrieb, verabscheute er das und sagte: ‚O wie ich die Zeit bedauere, in der einem Unvollkommenen wie mir die Würde der Weisheit zugeschrieben wird, als ob Gottes Wort ‚Er gibt die Weisheit, wem Er will. Und wer die Weisheit erhält, erhält [damit] viel Gutes. Aber nur diejenigen, die Verstand haben, lassen sich mahnen.‘ nicht gehört worden wäre. Ebenso verhielt sich dessen Lehrer Yaʿqūb b. Isḥāq al- Kindī.“3
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Siehe dazu allgemein Biesterfeldt/Endress/Ferrari/Wakelnig, Anfänge muslimischen Philosophierens in der Tradition des Kindī, S. 148ff.; und Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, besonders S. 1–102. Zur Kindī-Tradition siehe Adamson, The Kindian Tradition. Die wenigen erhaltenen Informationen über as-Saraḫsī sind zusammengestellt in Rosenthal, Aḥmad b. aṭ-Ṭayyib as-Saraḫsī. Siehe auch Biesterfeldt, Ahmad ibn aṭ-Ṭaiyib as-Saraḫsī und Abū Zaid al-Balḫī, S. 148–167. Al-ʿĀmirī, Kitāb al-Amad ʿalā al-abad S. 76. Die Übersetzung des Koranverses Sure 2.269 stammt von Rudi Paret.
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Einzelne Denker und Werke
Die Wertschätzung al-Kindīs durch as-Siǧistānī und seinen Kreis kommt in einem Bericht über eine abendliche Unterhaltung am Hof in Siǧistān zum Ausdruck, der sich in der Auswahl aus dem Hort der Weisheit (Muntaḫab ṣiwān al-ḥikma, dazu siehe unten) erhalten hat: Als der Ṣaffāridenherrscher Abū Ǧaʿfar al-Babūya (923–963) behauptet, er habe unter den Philosophen des Islam keinen gefunden hat, der es mit Sokrates, Platon oder Aristoteles aufnehmen könne, wird er sofort gefragt: „Nicht einmal al-Kindī?“4 Al-Isfizārī wiederum wird in einem ganz anderen Zusammenhang in die Nähe al-Kindīs gerückt, nämlich in der Kritik eines ḥanafitischen Autors des 11. Jahrhunderts, alBazdawī, an philosophischen Werken über die „Einheit Gottes“ (tawḥīd): „Ich habe verschiedene Werke [über den tawḥīd] gefunden, die von Philosophen wie al-Kindī, alIsfizārī und anderen verfasst wurden. Sie alle verlassen den rechten Weg und führen von der richtigen Religion weg. Man darf diese Werke nicht studieren, denn das führt ins Verderben, da sie unter dem Namen des tawḥīd mit Polytheismus (širk) und Heuchelei angefüllt sind.“5
Die Nennung al-Isfizārīs in einem Atemzug mit al-Kindī deutet darauf hin, dass die Philosophie der beiden als ähnlich empfunden wurde. Dass al-Isfizārī überhaupt erwähnt wird, lässt den Schluss zu, dass er sich im Umfeld al-Bazdawīs in Ḫurāsān und Transoxanien gewisser Bekanntheit erfreute. Das ist insofern bemerkenswert, als Nachrichten über ihn oder auch nur Erwähnungen seines Namens in anderen Quellen äußerst selten sind. Nicht nur die Tradition al-Kindīs, in der die hier behandelten Philosophen stehen, eint sie, sondern auch die Ablehnung, die ihnen Avicenna entgegengebracht hat. Al-ʿĀmirī bezeichnete er in seinem Kitāb an-naǧāt (Buch der Rettung) als dumm, gegenüber Miskawayh verhielt er sich, laut al-Bayhaqī, anmaßend, und al-Isfizārī wirft er Selbstüberschätzung vor.6
1. Berichte über die Philosophen 1.1 Die Texte der Ṣiwān al-ḥikma-Tradition
Der Hort der Weisheit (Ṣiwān al-ḥikma) versammelt eine große Anzahl an Einträgen griechischer und arabisch-persischer Philosophen und Gelehrter. Auf eine oft äußerst knapp gehaltene biographische Darstellung folgt jeweils eine Auswahl von Aussprüchen und philosophischen Exzerpten, manchmal auch von Episoden aus dem Leben der behandelten Personen. Das Original des Hort der Weisheit gilt heute als verloren. Erhalten sind jedoch zwei voneinander unabhängige Auszüge, die ein gutes Bild des ursprünglichen Textes vermitteln dürften: Muntaḫab ṣiwān al-ḥikma (Auswahl aus dem Hort der Weisheit) und Muḫtaṣar ṣiwān al-ḥikma (Kurzfassung des Hort der Weisheit).7 Im 12. Jahrhundert vervoll4 5 6 7
Die Anekdote wird überliefert in der Auswahl aus dem Hort der Weisheit; siehe hierzu die englische Übersetzung in Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 21; zu Abū Ǧaʿfar siehe ebd. S. 8–24. Al-Bazdawī, Uṣūl ad-dīn [Wurzeln der Religion] S. 1.3–2.12. Siehe dazu Gimaret, Sur un passage énigmatique du « Tabyīn » d’Ibn Asākir, besonders S. 153–160. Rowson, A Muslim Philosopher on the Soul and its Fate:, S. 28; Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, S. 223; Reisman, An Obscure Neoplatonist of the Fourth/Tenth Century and the Putative Philoponus Source, besonders S. 241–242. Der arabische Text des Muntaḫab wurde ediert sowohl von D. M. Dunlop (Den Haag u. a. 1979) als auch von ʿA. Badawī (in: Ṣiwān al-ḥikma wa-ṯalāṯ rasāʾil); jener des Muḫtaṣar wurde ediert von R. M. Kartanegara (in: The “Mukhtaṣar Ṣiwān al-ḥikma” of ʿUmar b. Sahlān al-Sāwī). Eine weitere auf dem Ṣiwān al-ḥikma basierende Sammlung umfasst lediglich Einträge zu Pythagoras, Sokrates, Platon und Aristoteles und wurde von D. Gutas ediert (in: Greek Wisdom Literature in Arabic Translation). Darüber hinaus erwähnt Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 65 und 120 einen handschriftlich erhaltenen Auszug aus dem Ṣiwān al-ḥikma.
Die Philosophen in der Tradition al-Kindīs
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ständigte Ẓāhir ad-Dīn ʿAlī b. Zayd al-Bayhaqī das Ṣiwān mit seinem Tatimmat Ṣiwān alḥikma (Ergänzung des Hort der Weisheit); der anonyme Kompilator des Muntaḫab verfasste ein weiteres Supplement unter dem Titel Itmām Tatimmat Ṣiwān al-ḥikma (Supplement der Ergänzung des Hort der Weisheit).8 Als Autor des ursprünglichen Hort der Weisheit nennt alBayhaqī zwar Abū Sulaymān as-Siǧistānī, jedoch dürfte dessen Autorenschaft aufgrund einiger Charakteristika des Textes, wie etwa ein eigener Eintrag zu as-Siǧistānī und der Verwendung von Werken at-Tawḥīdīs, Miskawayhs und al-ʿĀmirīs, unwahrscheinlich sein. In Frage käme jedoch ein Schüler Abū Sulaymāns oder auch al-ʿĀmirīs.9 1.2 Abū Ḥayyān ʿAlī b. Muḥammad b. ʿAbbās at-Tawḥīdī (um 925 bis 1023)
Neben den Texten der Ṣiwān al-ḥikma-Tradition sind die Werke von Abū Ḥayyān at-Tawḥīdī eine weitere wichtige Quelle für das Leben der vier hier behandelten Philosophen, und im Fall von as-Siǧistānī auch für dessen Lehre. Weder at-Tawḥīdīs genauer Geburtsort noch -tag sind bekannt, aber plausible Annahmen sind Šīrāz und ein Datum zwischen 920 und 930.10 Seine Ausbildung erhielt Abū Ḥayyān at-Tawḥīdī jedenfalls in Baġdād, wo er arabische Philologie, Grammatik, Recht und Philosophie studierte, letztere bei dem FārābīSchüler und bekannten Aristoteliker Yaḥyā b. ʿAdī und bei as-Siǧistānī. Dennoch zeichnet sich at-Tawḥīdī nicht so sehr durch eigenständiges philosophisches Denken aus, sondern vielmehr als Chronist der gelehrten Zirkel und Salons seiner Zeit, was ihm die Charakterisierung als „Philosoph der Literaten und Literat der Philosophen“ eingetragen hat.11 Seine Berichte zeugen von einer regen Reisetätigkeit, Lebensmittelpunkte waren Baġdād, Rayy und Šīrāz, wohin er sich im Alter als Sufi zurückzog. Nachrichten über as-Siǧistānī, Miskawayh und al-ʿĀmirī finden sich vor allem in seinen Werken Exempel und Schätze (alBaṣāʾir wa-ḏ-ḏaḫāʾir), Der Charakter der beiden Wesire (Aḫlāq al-wazīrayn, eine Schmähschrift gegen die Wesire aṣ-Ṣāḥib Ibn ʿAbbād und Ibn al-ʿAmīd), Buch der Anleihen (Kitāb alMuqābasāt; hier werden 48 philosophische Gespräche aus Baġdād, vor allem aus dem Umkreis von Yaḥyā b. ʿAdī und as-Siǧistānī, aufgezeichnet) und Buch des Zuspruchs und des vertrauten Umgangs (Kitāb al-Imtāʿ wa-l-muʾānasa; hierin werden 55 nächtliche Unterhaltungen at-Tawḥīdīs mit dem Wesir Ibn Saʿdān al-ʿĀriḍ über das intellektuelle Leben Baġdāds festgehalten). Das Werk Streunende Weidetiere und umfangende Gehege (al-Hawāmil wa-š-Šawāmil; mit dem Untertitel: Das sind aufs Geratewohl aufgeworfene Fragen und erschöpfende Antworten) umfasst 175 Fragen, die Abū Ḥayyān at-Tawhīḍī an Miskawayh richtet, und seine offenbar in dessen eigener Formulierung erhaltenen Antworten. So erkundigt sich at-Tawhīḍī beispielsweise nach dem Wert der Alchemie, obwohl er sich an anderer Stelle über Miskawayhs Interesse daran lustig macht. In seiner Antwort verweist Miskawayh auch auf ein bekanntes Buch al-Kindīs zu diesem Thema.12
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Zu den Texten siehe Gutas, The Ṣiwān al-Ḥikma Cycle of Texts, besonders S. 646f. und Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 119–129. Letzterer erstellt auf S. 128 eine Liste derjenigen Personen, die sowohl in Muntaḫab und/oder Muḫtaṣar als auch in al-Bayhaqīs Tatimma einen Eintrag erhalten. Zur Problematik der Autorenschaft siehe besonders Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 122f. und alQāḍī, Kitāb Ṣiwān al-ḥikma: Structure, Composition, Authorship and Sources. Diese bespricht auf S. 106ff. jene Bücher at-Tawḥīdīs, Miskawayhs und al-ʿĀmirīs, die als Quellen des Ṣiwāns betrachtet werden können. Ausführliche Darstellungen von at-Tawḥīdīs Leben und Werk gibt Endress, Die Integration philosophischer Traditionen, und Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, besonders S. 212–222. Die Bezeichnung findet sich in Yāqūt ar-Rūmī, Iršād al-arīb ilā maʿrifat al-adīb [Anleitung des Gewandten zum Wissen des Gebildeten], Band 5, S. 380; siehe dazu auch Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, S. 220. Es handelt sich um Frage 151: at-Tawḥīdī, al-Hawāmil wa-š-Šawāmil [Streunende Weidetiere und umfangende Gehege], S. 324f. Siehe dazu auch Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 208.
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Einzelne Denker und Werke
2. Die Philosophen 2.1 Abū Sulaymān Muḥammad b. Ṭāhir b. Bahrām as-Siǧistānī al-Manṭiqī (um 912 bis 985)
Einige Hinweise zu Abū Sulaymān as-Siǧistānīs Biographie und Schaffen finden sich zwar in den standardbiobibliographischen Werken von Autoren wie Ibn an-Nadīm, al-Qifṭī oder Ibn Abī Uṣaybiʿa. Der Großteil der nicht reichlich erhaltenen Informationen verdankt sich jedoch at-Tawḥīdī und dem Hort der Weisheit. Die genauen Lebensdaten sind nicht überliefert. Es ist jedoch bekannt, dass sich Abū Sulaymān als junger Mann am Hof Abū Ǧaʿfars in Siǧistān aufhielt und ab spätestens 939 in Baġdād lebte, wo er um 985 starb.13 Dort studierte er, wie auch at-Tawḥīdī, bei Yaḥyā b. ʿAdī, der zu jener Zeit die führende Persönlichkeit der Baġdāder Aristoteliker war. Aus dieser Affiliation resultiert wahrscheinlich auch Abū Sulaymāns Beiname al-Manṭiqī (der Logiker). Abū Sulaymān asSiǧistānī wurde zunächst vom Būyidenemir ʿAḍud ad-Dawla gefördert, zu dessen Lob und Preis er die Abhandlung Über die spezifische Vollkommenheit der menschlichen Spezies (Fī l-kamāl al-ḫāṣṣ bi-nawʿ al-insān) verfasste. Nach dessen Tod 983 erhielt er Unterstützung vom Wesir Ibn Saʿdān, da sich sein Schüler und Vertrauter at-Tawḥīdī bei jenem für ihn verwendet hatte. Diesen Umstand berichtet at-Tawḥīdī in seinem Buch des Zuspruchs und des vertrauten Umgangs,14 und im Anschluss daran schildert er, wie der Wesir ihn bat, den Grad von Abū Sulaymān as-Siǧistānīs Wissen und Weisheit mit dem der anderen in Baġdād lebenden Philosophen wie Yaḥyā b. ʿAdī oder Miskawayh zu vergleichen. At-Tawḥīdī erklärt ihn zwar zum Hervorragendsten unter den Genannten, erwähnt aber auch weniger positive Charakteristika, wie seine abgehackte Redensweise und fehlerhaftes Arabisch. Miskawayh beschreibt er noch weniger schmeichelhaft als „Armen unter Reichen und Stammler unter Beredeten“. Aus as-Siǧistānīs Feder haben sich lediglich folgende drei kurze Abhandlungen erhalten: Darüber, dass die himmlischen Körper Vernunftseelen besitzen (Fī anna al-aǧrām al-ʿulwīya ḏawāt anfus nāṭiqa), Über den ersten Beweger (Fī l-muḥarrik al-awwal) und Über die spezifische Vollkommenheit der menschlichen Spezies (Fī l-kamāl al-ḫāṣṣ bi-nawʿ al-insān). Von nicht gesicherter Autorschaft ist die Abhandlung über die Prinzipien der seienden Dinge und die Rangstufen ihrer Potenzen (Kalām fī mabādiʾ al-mawǧūdāt wamarātib quwāhā), worin die neuplatonische Seinshierarchie Erste Ursache – Intellekt – Seele – Natur dargelegt und christlicher Interpretation, höchstwahrscheinlich jener von as-Siǧistānīs Lehrer Yaḥyā b. ʿAdī, gegenübergestellt wird. Einen Großteil von Abū Sulaymān as-Siǧistānīs philosophischem Erbe hat at-Tawḥīdī aufgezeichnet, oftmals indem er, wie er selbst erklärt, dessen Diktat niederschreibt. Daher dürfte die Verlässlichkeit seiner Berichte im Fall von as-Siǧistānīs Lehre ungleich höher sein als in vielen anderen Fällen, in denen seine Glaubwürdigkeit häufig in Zweifel steht.15 As-Siǧistānīs Philosophie umfasst die Unaussprechlichkeit und Unbeschreiblichkeit Gottes, das neuplatonische Weltbild, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele nach ihrer Trennung vom Körper, aristotelische Epistemologie in der Tradition von De anima und eine asketisch inspirierte Ethik. 13 14 15
Zu as-Siǧistānī siehe Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam und Endress, Die Integration philosophischer Traditionen, S. 198–209. Vgl. die Edition von A. Amīn und A. az-Zayn, Band 1, S. 31–35; und die Diskussion der Stellen bei Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 27f. und Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, S. 227. Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam rekonstruiert die Lehre Abū Sulaymāns unter Berücksichtigung aller Berichte at-Tawḥīdīs. Zur Problematik der Glaubwürdigkeit letzteren siehe ebd. S. 44f.
Die Philosophen in der Tradition al-Kindīs
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2.2 Abū l-Ḥasan Muḥammad b. Yūsuf al-ʿĀmirī (um 912 bis 992)
Auch über al-ʿĀmirī weiß der Hort der Weisheit in einem, wenn auch nicht sehr aussagekräftigen, Eintrag zu berichten, während sich die standardbiobibliographischen Werke über ihn ausschweigen. Zusätzliche Informationen über sein Leben finden sich in den Werken at-Tawḥīdīs, bei Miskawayh und in den erhaltenen Schriften des Autors selbst. Al-ʿĀmirī muss um 912 geboren worden sein, da er nach eigenen Angaben bei dem 934 verstorbenen al-Kindī-Schüler al-Balḫī studierte. Über sein Eintreffen am Hofe Ibn alʿAmīds, des Wesirs des Būyidenemirs Rukn ad-Dawla, um das Jahr 965 berichten sowohl at-Tawḥīdī als auch Miskawayh, wenn auch in abweichender Form. Abū Ḥayyān atTawḥīdī illustriert in seinem Charakter der beiden Wesire damit die mangelnde Freigiebigkeit Ibn al-ʿĀmīds: Al-ʿĀmirī sei an dessen Hof gekommen und habe vorgegeben, eigens aus Ḫurāsān zu kommen, um beim Wesir Mechanik zu studieren. Ibn al-ʿAmīd habe dem Philosophen entgegnet, vielmehr müsse er bei al-ʿĀmirī studieren, nämlich Metaphysik, und habe ihn mit einem äußerst geringen Geldgeschenk bedacht. Hämisch merkt atTawḥīdī an, dass keiner der beiden Männer auch nur die geringste Ahnung von einer der genannten Disziplinen gehabt habe, was zumindest im Fall al-ʿĀmirīs nicht seiner tatsächlichen Meinung entsprochen haben dürfte, sondern um der Pointe willen gesagt wird. Miskawayhs Schilderung derselben Begebenheit in seinem Geschichtswerk Erfahrungen der Völker (Taǧārib al-umam) gleicht jener at-Tawḥīdīs nur insofern, als sich auch darin der Topos des Philosophen, der bei dem weisen Herrscher studiert, findet. Laut Miskawayh habe nämlich al-ʿĀmirī die unermessliche Weisheit Ibn al-ʿAmīds erkannt und daraufhin bei diesem sein Studium philosophischer Bücher wieder aufgenommen. Diese Darstellung zielt offenkundig auf die Verherrlichung des Wesirs ab und ist wohl ebenso unglaubwürdig wie jene at-Tawḥīdīs.16 Nach fünfjährigem Aufenthalt am Hofe Ibn al-ʿAmīds nahm al-ʿĀmirī, von Reisen nach Baġdād abgesehen, in Rayy, Nīšāpūr und Buḫārā am gesellschaftlichen Leben teil. Zeitweise scheint er sich jedoch davon zurückgezogen zu haben und als wandernder Sufi unterwegs gewesen zu sein. Sein Todesdatum ist nur deswegen überliefert, weil er am selben Tag wie ein bekannter muslimischer Gelehrter gestorben ist. Von jenem wird berichtet, er sei einem seiner Schüler nach seinem Tod erschienen und habe auf dessen Frage nach seinem Ergehen im Jenseits geantwortet: „Gott – groß und erhaben ist Er – hat den Philosophen Abū l-Ḥasan al-ʿĀmirī mir gegenüber aufgestellt und zu mir gesagt: ‚Dieser ist Deine Auslösung aus dem Feuer.‘“ Dies bezieht sich auf einen Prophetenausspruch, laut dem Gott am jüngsten Tag jedem Gläubigen einen Ungläubigen gegenüberstellt, der ersteren aus der Hölle auslöst.17 Unter den wenigen überlieferten Werken al-ʿĀmirīs finden sich zwei Schriften über die Willensfreiheit, von denen die erste, Die Befreiung der Menschheit von [der Frage nach] der göttlichen Allmacht und der menschlichen Vollmacht (Inqāḏ al-bašar min al-ǧabr wa-l-qadar) am Anfang seines philosophischen Schaffens, und die andere, Feststellung der Aspekte der Vorherbestimmung (at-Taqrīr li-awǧuh at-taqdīr), gegen dessen Ende entstanden sein dürfte. Des Weiteren erhalten sind Das Leben zur Ewigkeit (alAmad ʿalā al-abad), Das Sehen und das Sichtbare (al-Ibṣār wa-l-mubṣar), Bekanntmachung der Vorzüge des Islam (al-Iʿlām bi-manāqib al-islām) und Kapitel über die göttlichen Wissensgegenstände (al-Fuṣūl fī l-maʿālim al-ilāhīya), in welchem Proklos’ Elementatio theologica bezie-
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Siehe at-Tawḥīdī, Aḫlāq al-wazīrayn [Der Charakter der beiden Wesire], S. 344f.; Miskawayh, The Eclipse of the ʿAbbasid Caliphate: The Experience of the Nations [Taǧārib al-umam], Band 2, S. 277; und Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch, S. 11–16. Siehe Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch, S. 33–34.
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Einzelne Denker und Werke
hungsweise deren arabische Version in der Form des Liber de causis paraphrasiert werden. In al-ʿĀmirīs Philosophie, vor allem in der Metaphysik, verbinden sich neuplatonische Ansätze mit islamischen Konzepten. Zur Erklärung der Abläufe in der sublunaren Welt und im Bereich der Ethik bewahrt die aristotelische Lehre zum überwiegenden Teil ihre Gültigkeit. Der Mensch wird verstanden als eine Einheit aus zwei voneinander unabhängigen Substanzen, von denen eine irdischen Ursprungs ist, nämlich der Körper, und die andere himmlischen Ursprungs, das heißt die Seele. Die Seele erhält durch ihre zeitweise Verbindung mit dem Körper die Möglichkeit, Gut und Böse unmittelbar zu erfahren und zwischen den beiden zu wählen, was den Engeln nicht möglich ist.18 2.3 Abū ʿAlī Aḥmad b. Muḥammad b. Yaʿqūb Miskawayh (um 935 bis 1030)
Miskawayh wurde um 935 in Rayy geboren und starb 1030 angeblich hundertjährig in Iṣfahān. Er war als Sekretär, Bibliothekar und Höfling im Dienste der Wesire al-Muhallabī, Abū l-Faḍl b. al-ʿAmīd und dessen Sohn Abū l-Fatḥ Ḏū l-Kifāyatayn, sowie des Būyidenemirs ʿAḍud ad-Dawla. Für letzteren schrieb er sein umfassendes Geschichtswerk Erfahrungen der Völker und ihm widmete er, wie as-Siǧistānī, einige seiner Abhandlungen. Im Zuge der bereits erwähnten, wenig schmeichelhaften Charakterisierung Miskawayhs berichtet atTawḥīdī auch davon, dass Miskawayh wiederholt sowohl mit Abū Sulaymān as-Siǧistānī als auch mit al-ʿĀmirī zusammengetroffen sei, jedoch nie die Zeit gehabt habe, von ihnen zu lernen, weil er damals seine geringe Freizeit ausschließlich der Beschäftigung mit der Alchemie gewidmet habe.19 Trotz dieser Aussagen muss at-Tawḥīdī Miskawayhs Wissen zu schätzen gewusst haben, denn er stellte Miskawayh nicht nur die unter dem Titel Streunende Weidetiere und umfangende Gehege (siehe oben) erhaltenen Fragen zu philosophischen und anderen Themen, sondern veranlasste ihn auch dazu, eine erhaltene Epistel über das Wesen der Gerechtigkeit (Risāla fī māhīyat al-ʿadl) zu schreiben. Ethische Themen wie dieses nehmen in Miskawayhs überliefertem Schaffen einen breiten Raum ein. Seine Läuterung der Gesittungen und Reinigung der Naturanlagen (Tahḏīb al-aḫlāq wa-taṯīr al-aʿrāq) behandelt in sechs Abschnitten die Grundlagen der Ethik, die Vollendung des Charakters, das Gute, die Gerechtigkeit, Liebe und Freundschaft, und die Heilung der Seele; und in Einteilung der Glückseligkeit und Stufen des Wissen (Tartīb as-saʿādāt wa-manāzil al-ʿulūm) wird in Anlehnung an Aristoteles die Weisheit zum höchsten menschlichen Glück erklärt, welches um seiner selbst willen erstrebt wird. Der Weg dahin führt über die Wissensgebiete, deren Einteilung mit der Einteilung der Bücher des Aristoteles, die Miskawayh einzeln vorstellt, korrespondieren. Metaphysischen Themen, nämlich der Existenz Gottes, den Zuständen der Seele und der Prophetie, wendet sich Miskawayh in Die kleinere Schrift über das Glück (al-Fawz al-aṣġar) in deutlich neuplatonischer Tradition zu.20 An philosophischen Werken erhalten sind darüber hinaus eine Reihe kürzerer Abhandlungen, Auszüge aus solchen und eine Sammlung von Weisheitsliteratur der Perser, Inder, Araber, Griechen und islamischer Autoren der jüngeren Zeit, unter denen auch al-ʿĀmirī mit einen langen Abschnitt vertreten ist.
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Eine ausführlichere Darstellung der Lehre al-ʿĀmirīs in Wakelnig, Abū l-Ḥasan al-ʿĀmirī, S. 174–185. Zu Miskawayhs Leben siehe auch die ausführlichen Darstellungen in Endress, Antike Ethik-Traditionen, S. 210–238, und Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, S. 222–233. Zu den zwei Versionen des Fawz siehe Wakelnig, A New Version of Miskawayh’s Book of Triumph: An Alternative Recension of al-Fawz al-aṣghar or the Lost Fawz al-akbar?
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2.4 Abū Ḥāmid Aḥmad b. Abī Isḥāq al-Isfizārī (10. Jahrhundert)
Über al-Isfizārī ist kaum etwas bekannt. Selbst die genaue Verortung seines Heimatortes Isfizār irgendwo im Gebiet von Siǧistān und Harāt ist umstritten.21 In der Auswahl aus dem Hort der Weisheit taucht sein Name, wie der as-Siǧistānīs, unter den Anwesenden bei einem abendlichen Gespräch mit dem Herrscher Abū Ǧaʿfar in Siǧistān auf.22 Einen eigenen, wenn auch sehr kurzen und wenig informativen Eintrag bekommt al-Isfizārī aber lediglich in al-Bayhaqīs Ergänzung zum Hort der Weisheit. Von seinen Werken haben sich die 28 Fragen über metaphysische Dinge (Kitāb fī masāʾil al-umūr al-ilāhīya wa-hiya ṯamāniya wa-ʿišrūn masʾala) erhalten, worin folgende Themen behandelt werden: Die menschliche Erkenntnisfähigkeit und die Philosophie (Frage 1–5); der teilweise mit direktem Rückgriff auf Aristoteles über die Bewegung geführte Gottesbeweis (6–17); die Schöpfung (18–21); die menschlichen Möglichkeiten der Gotteserkenntnis und –beschreibung (22–28).23
3. Die philosophischen Quellen Da sich as-Siǧistānī, al-ʿĀmirī, Miskawayh und al-Isfizārī an denselben Höfen und in denselben intellektuellen Kreisen bewegten und sich auch teilweise persönlich kannten, ist es nicht verwunderlich, dass in ihren Werken der Einfluss derselben Quellentexte spürbar wird. So war beispielsweise der Wesir Ibn al-ʿAmīd für seine umfangreiche Bibliothek bekannt, in der Miskawayh sieben Jahre als Bibliothekar tätig war und die al-ʿĀmirī im Zuge seines Aufenthaltes am Hof sicher nutzte. Nach den erhaltenen Werken zu schließen ist Miskawayh derjenige, der seine Quellen am genauesten, oft unter Angabe von Autor und Buchtitel, belegt und stellenweise auch lange wortwörtliche Exzerpte herausschreibt. As-Siǧistānī und al-Isfizārī verweisen zumeist auf Autoren und erwähnen nur gelegentlich Titel. Al-ʿĀmirī nennt seine Quellen überhaupt nicht und referiert philosophische Meinungen seiner Vorgänger oft im Namen „der Weisen“ oder Ähnlichem. Die Fülle an philosophischen Texten, die bekannt gewesen sein dürfte, ist in jedem Fall beachtlich. Die Überlieferung Platons ins Arabische muss, nach heutigem Kenntnisstand, zum Großteil indirekt gewesen sein, da sich kaum Spuren platonischer Dialoge finden, sondern vielmehr platonische Ideen, von denen nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, in welcher Form sie den islamischen Kulturkreis erreicht haben. Eine Ausnahme bilden ausgerechnet al-Isfizārīs 28 Fragen über metaphysische Dinge, in denen sich, in Frage 22, ein langes und äußerst genaues Zitat in Dialogform aus dem Staat, 506d3–509b10 findet.24 Dieses kann nicht als schlüssiger Beweis für die vormalige Existenz einer arabischen Gesamtübersetzung des Dialogs gewertet werden, sondern entstammt wahrscheinlich eher einer philosophischen Textsammlung. Al-ʿĀmirīs Das Leben zur Ewigkeit ist zwar zumin-
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22 23 24
Die wenigen Informationen über al-Isfizārī und die Schwierigkeit, dessen Heimatort genau zu lokalisieren, besprechen Gimaret, Un traité théologique du philosophe musulman Abū Ḥāmid al-Isfizārī (IVe/Xe s.), S. 209f., und Reisman, An Obscure Neoplatonist of the Fourth/Tenth Century and the Putative Philoponus Source, S. 239–244 sowie Reisman, Plato’s Republic in Arabic, besonders S. 271–275. Eine englische Übersetzung der Passage gibt Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 17. Zu weiteren möglicherweise erhaltenen Werken siehe Reisman, An Obscure Neoplatonist of the Fourth/Tenth Century and the Putative Philoponus Source, S. 243. Siehe Reisman, Plato’s Republic in Arabic, der den Forschungsstand zur Überlieferung Platons ins Arabische skizziert und den Text der 22. Frage ediert und ins Englische übersetzt hat. Darüber hinaus stellt Reisman, An Obscure Neoplatonist of the Fourth/Tenth Century and the Putative Philoponus Source, S. 244–248 die Quellen al-Isfizārīs dar.
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dest teilweise nach dem Vorbild des Phaidon entworfen; welche Textgrundlage dem Autor zur Verfügung stand, ist aber ungewiss.25 Dasselbe gilt für die Gesetze und den Timaios, die sowohl Miskawayh in Die kleinere Schrift über das Glück als auch al-ʿĀmirī in seinem kurzen Abriss der griechischen Philosophiegeschichte in Das Leben zur Ewigkeit erwähnen. Letzterer nennt an selber Stelle außerdem den Politikos. Anders als im Falle der platonischen Dialoge steht die Existenz arabischer Gesamtübersetzungen des größten Teils des aristotelischen Œuvres fest. Fraglich ist hingegen in einigen Fällen, welche Übersetzung oder Version einer bestimmten Aristotelesschrift benutzt wurde, da nicht selten mehrere arabische Übersetzungen ein und desselben Werkes angefertigt und auch späthellenistische Paraphrasen der aristotelischen Texte übertragen wurden. As-Siǧistānī und al-Isfizārī erwähnen namentlich die Physik, Metaphysik und De caelo; Miskawayh ebenfalls die Physik, die Kategorien, De anima und die Nikomachische Ethik, wobei er von letzteren beiden möglicherweise nicht die Originaltexte kannte.26 AlʿĀmirī wiederum bekundet in seinem Das Sehen und das Sichtbare die Absicht, einen Kommentar zu De anima zu schreiben und folgt im ersten Teil des Ibṣārs offenkundig dieser Quelle. At-Tawḥīdī berichtet, dass er dieses aristotelische Werk mit as-Siǧistānī studiert habe und jener ihm zum besseren Verständnis der Tugend- oder Lasterhaftigkeit der Seele Abū Zayd al-Balḫīs Wahl der Verhaltensweise (Iḫtiyār as-sīra) empfohlen habe.27 Miskawayh exzerpiert in seiner Läuterung der Gesittungen und Reinigung der Naturanlagen vier Seiten einer angeblichen Schrift des Aristoteles mit dem Titel Die Tugenden der Seele (Faḍāʾil an-nafs) und nennt sogar deren arabischen Übersetzer, Abū ʿUṯmān ad-Dimašqī. Dabei könnte es sich um eine neuplatonische Überarbeitung von genuin aristotelischem Material handeln.28 Überhaupt ist ein starker Einfluss des Neuplatonismus auf die vier Philosophen bemerkbar. Plotins Enneaden waren ihnen sicher zum Teil bekannt, auch wenn nicht gänzlich geklärt ist, in welcher Form. Die Theologie des Aristoteles wird namentlich in keinem der erhaltenen Werke zitiert, jedoch präsentieren Miskawayh in seiner Spruchsammlung sowie auch der Hort der Weisheit plotinisches Material unter dem Namen des „Griechischen Weisen“.29 Auch Werke des Proklos erfreuten sich großer Beliebtheit. Al-ʿĀmirīs Kapitel über die göttlichen Wissensgegenstände sind beispielsweise eine sehr freie Paraphrase der Elementatio theologica, worauf der Autor jedoch mit keinem Wort eingeht, und in alIsfizārīs Masāʾil finden sich einige wenige, aber deutliche Anklänge an das proklische Werk. Jedoch ist auch in diesen beiden Fällen die Textvorlage, die den Philosophen vorlag, ungewiss. Darüber hinaus erinnert sowohl die Ausdrucksweise Miskawayhs als auch jene as-Siǧistānīs teilweise stark an die arabischen Procliana. Al-Isfizārī bringt zudem das erste Argument aus Proklos’ De aeternitate mundi und dessen Widerlegung durch Philoponos, wobei er Letzterem zwar in dessen Ablehnung der Ewigkeit der Welt zustimmt, nicht aber in der Art der Widerlegung des Proklos, da jener dem Neuplatoniker unterstelle, was dieser nicht behauptet habe. Ob al-Isfizārī das proklische Werk oder lediglich dessen Widerlegung durch Philoponos bekannt war, lässt sich nicht beurteilen. Miskawayh wiede25 26
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Siehe Rowson, A Muslim Philosopher on the Soul and its Fate, S. 29–42. Ebd. (S. 42–49) bespricht Rowson noch weitere Quellen von al-ʿĀmirīs Kitāb al-Amad ʿalā al-abad. Möglich wäre, dass er die De Anima in Form der von R. Arnzen editieren Paraphrase (vgl. Arnzen, Aristoteles’ De anima) und die Nikomachische Ethik in Form der Summa Alexandrinorum kannte. Für Letzteres siehe Harvey, The Greek Library of the Medieval Jewish Philosophers, S. 499–501. At-Tawḥīdī, Kitāb al-Muqābasāt, S. 241; dazu Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 269. Das Exzerpt findet sich in Miskawayh, Tahḏīb al-aḫlāq, S. 86–91 und in Zurayks englischer Übersetzung The Refinement of Character, S. 77–81. Eine Analyse des Textes gibt Pines, Un texte inconnu d’Aristote en version arabe. Zur Theologie des Aristoteles siehe das Kapitel von Rotraud Hansberger in diesem Band.
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rum benützt in Die kleinere Schrift über das Glück Proklos’ im Griechischen verlorene Schrift zu den drei platonischen Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele. Zudem verweist er seine Leser für eine Behandlung des Guten und Bösen auf ein proklisches Werk, dessen Titel er bedauernswerter Weise nicht nennt, bei dem es sich aber um De malorum subsistentia handeln könnte.30 Neben den Neuplatonikern waren auch die Aristoteles-Kommentatoren eine wichtige Quelle. So zeigt sich der Einfluss Alexanders von Aphrodisias auf as-Siǧistānī und alIsfizārī deutlich, vor allem der Einfluß seiner Schrift Über die Prinzipien des Universums (Fī Mabādiʾ al-kull). As-Siǧīstānī und Miskawayh beziehen sich namentlich auf ihn, um ihre Ansicht der Beseeltheit der Sphäre beziehungsweise der Möglichkeit des spontanen Entstehens kontingenter Dinge zu stützen.31 In Die kleinere Schrift über das Glück (II.3) lobt Miskawayh Themistios für dessen höchst verständliche Darstellung der Art und Weise, in der die rationale Seele wahrnimmt, die Themistios in seiner De anima-Schrift gibt. Philosophische Ansätze des Philoponos sind in al-ʿĀmirīs Das Leben zur Ewigkeit und al-Isfizārīs 28 Fragen über metaphysische Dinge bemerkbar. Das große Interesse, das in der arabisch-islamischen Welt an den Werken Galens bestand, dokumentiert Ḥunayn b. Isḥāq in seinem Sendschreiben über die seines Wissens übersetzten Bücher Galens und einige der nicht übersetzten (Risāla fī ḏikr mā turǧima min kutub Jālīnūs bi-ʿilmihī wa-baʿḍ mā lam yutarǧam) eindrücklich. So ist es wenig verwunderlich, dass Miskawayh vier galenische Schriften namentlich erwähnt. In seiner Läuterung der Gesittungen und Reinigung der Naturanlagen erwähnt er die ethischen Schriften Wie der Mensch seine Sünden und Fehler erkennt (Kayfa yataʿarrafu alinsān ḏunūbahū wa-ʿuyūbahū), Über die Charaktere (Fī l-aḫlāq) und Darüber, dass die besten Menschen von ihren Feinden Nutzen haben können (Fī anna al-aḫyār min an-nās qad yantafiʿūna bi-aʿdāʾihim). In Einteilung der Glückseligkeit und Stufen des Wissen erwähnt Miskawayh das Kitāb fī manāfiʿ al-aʿḍāʾ (De usu partium), welches auch at-Tawḥīdī in seinem Buch der Anleihen preist, und al-Isfizārī wiederum verweist auf Galens logische Methodik.32 Von seinen Arabisch schreibenden Vorgängern erwähnt Miskwayh namentlich alKindī und den Ibn ʿĀdī-Schüler Ibn al-Ḫammār. Al-Isfizārī nennt Ṯābit b. Qurra, während al-ʿĀmirī in seinem Das Sehen und das Sichtbare deutliche Anleihen bei Ḥunayn b. Isḥāqs Zehn Abhandlungen über das Auge (Kitāb al-ʿašr maqālāt fī l-ʿayn) in der Tradition Galens nimmt. Das Bild, das sich dadurch von den Quellen der vier Philosophen ergeben hat, stimmt gut mit den Texten überein, die sich in einer philosophischen Textsammlung exzerpiert finden, die aus demselben Umfeld, höchstwahrscheinlich aus dem Schülerkreis Miskawayhs stammen muss. Da die Sammlung bisher in lediglich einer einzigen, defekten Handschrift bekannt ist, haben sich weder Angaben zum Autor noch zum Titel erhalten. Inhaltlich werden die Themen Gott, Seele, menschlicher Körper und Ethik behandelt, indem wörtliche Zitate griechischer und arabischer Autoren aneinandergereiht werden. Unter den zitierten Werken finden sich: Alexander von Aphrodisias’ De intellectu, die Pa30
31 32
Diese Vermutung wird dadurch bestärkt, dass auch Abū l-Ḥasan aṭ-Ṭabarī – ein Arzt, von dem at-Tawḥīdī erwähnt, er hätte sich für al-ʿĀmirīs Werke interessiert - in seinen al-Muʿālaǧāt al-Buqrāṭīya [Hippokratische Behandlungsweisen] auf dieselbe proklische Schrift verweist und ein kurzes Zitat aus ihr anführt. Interessanterweise kennt auch Abū l-Ḥasan aṭ-Ṭabarī den griechischen Weisen. Siehe dazu Wakelnig, Ṭabarī & Ṭabarī: Philosophical Introductions to Medical Compendia. Siehe Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 290 und Miskawayh, al-Fawz al-aṣġar, S. 58. Das Sendschreiben Ḥunayns mit deutscher Übersetzung hat G. Bergsträsser ediert (in: Bergsträsser, Ḥunain ibn Isḥāq über die syrischen und arabischen Galen-Übersetzungen). Die von Miskawayh erwähnten Titel finden sich darin als Nr. 118, 119, 121 und 49. At-Tawḥīdīs Erwähnung von De usu partium in Kitāb al-Muqābasāt (at-Tawḥīdī, Kitāb al-Muqābasāt, S. 436) und eine Darstellung des Kontextes bei Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam, S. 122f.
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raphrase von Aristoteles’ De anima und die Summa Alexandrinorum seiner Nikomachischen Ethik; die pseudoaristotelischen Physiognomonica und Über die allgemeine Leitung (Risālat as-Siyāsa al-ʿāmmīya), Galens De usu partium und De propriis placitis; Nemesios’ De natura hominis; Plotins Enneaden in der Version des Griechischen Weisen; die Goldenen Verse des Pythagoras und ein Kommentar zu diesen; und Themistios’ Paraphrase des Buches Lambda der aristotelischen Metaphysik. Darüber hinaus begegnen Exzerpte aus derzeit nicht näher bestimmbaren Aristoteles-, Hippokrates- und Platon-Quellen. Die zitierten arabischen Autoren sind: ʿAlī b. Rabbān aṭ-Ṭabarī mit seinem Paradies der Weisheit (Firdaws al-ḥikma); al-ʿĀmirī mit Exzerpten, die möglicherweise aus seiner verlorenen Die Vollendung der Tugenden des Menschengeschlechtes (Kitāb al-itmām li-faḍāʾil al-anām) stammen; alFārābī mit einem Kommentar zu Alexanders De intellectu; Ḥunayn b. Isḥāq mit seinen Fragen über die Medizin für Lernende (Masāʾil fī ṭ-ṭibb li-l-mutaʿallimīn); die Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ mit ihrer Enzyklopädie; Miskawayh mit seiner Kleineren Schrift über das Glück, seiner Läuterung der Gesittungen und Reinigung der Naturanlagen und Einteilung der Glückseligkeit und Stufen des Wissen; und Qusṭā b. Lūqā mit seiner Abhandlung Über den Unterschied zwischen dem Lebensgeist und der Seele (Risāla fī l-farq bayna ar-rūḥ wa-n-nafs).33
4. Philosophische Textbeispiele Miskawayh, al-ʿĀmirī, as-Siǧistānī, al-Isfizārī und at-Tawḥīdī dürften also nicht nur in persönlichem Kontakt gestanden, sondern auch dieselben Quellentexte studiert haben. Daher nimmt es nicht wunder, dass sich die Themen, die sie behandeln, und die Art und Weise, wie sie es tun, teilweise überschneiden. Dies soll anhand einiger Beispiele veranschaulicht werden. So führen etwa Miskawayh und al-Isfizārī den Gottesbeweis über die Bewegung und weisen damit die Existenz eines ersten unbewegten Bewegers als – in der Diktion Miskawayhs – notwendiges Sein (wāǧib al-wuǧūd) nach. Miskawayh und al-ʿĀmirī wiederum besprechen die Art des göttlichen Wirkens in gleicher Weise. Auch die neuplatonische Hierarchie des Seins – Gott, Intellekt, Seele, Natur – findet sich mit geringfügigen Abweichungen bei drei der Philosophen, nämlich bei al-ʿĀmirī, Miskawayh und asSiǧistānī. Diese drei haben auch ein ähnliches Verständnis des Verhältnisses zwischen Philosophie und Religion. 4.1 Gott als unbewegter Beweger
Vergleicht man den Aufbau des ersten Teils von Miskawayhs Kleinerer Schrift über das Glück, in dem es in den ersten zehn Kapiteln um den Beweis der Existenz Gottes geht, mit einzelnen Abschnitten aus al-Isfizārīs 28 Fragen über metaphysische Dinge, zeigen sich auffällige Ähnlichkeiten. Am Beginn der Kleineren Schrift über das Glück überlegt Miskawayh, warum die Suche nach dem Gottesbeweis einerseits sehr schwierig, andererseits einfach ist. Ähnliche Überlegungen stellt auch al-Isfizārī an, nämlich einmal in seiner zweiten Frage nach unserer Erkenntnisfähigkeit des sinnlich und des intellektuell Wahrnehmbaren, dann auch in der dritten Frage, warum das Wissen um das Göttliche schwieriger sei als alle anderen Wissensgebiete, wenn es doch einfach sein müsste, da Gott Ursache von 33
Eine Edition, englische Übersetzung und Kommentar dieser Textsammlung erscheint demnächst von der Autorin dieses Kapitels unter dem Titel A Philosophy Reader from the Circle of Miskawayh bei Cambridge University Press. Die darin zitierte Version von Miskawayhs Kleinerer Schrift über das Glück ist nicht die Standardversion, siehe Wakelnig, A New Version of Miskawayh’s Book of Triumph: An Alternative Recension of al-Fawz al-aṣghar or the Lost Fawz al-akbar?
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allem ist, und schließlich in der fünften Frage, warum das Wissen um Gottes Einheit die letzte und höchste Stufe der Philosophie sei. In der Tradition der aristotelischen Metaphysik vergleichen beide Philosophen den menschlichen Intellekt bei seinen Versuchen, das rein Intelligible wahrzunehmen, mit der Fledermaus, die unfähig ist, das Sonnenlicht wahrzunehmen. Sie sprechen von den „materiellen Umhüllungen“ (al-lubūsāt alhayūlānīya) des Menschen, die seinen Intellekt zunächst davon abhalten, Immaterielles zu erkennen, und betonen die Wichtigkeit von allmählichem Voranschreiten und Übung (tadarruǧ wa-rtiyāḍ).34 Zur weiteren Veranschaulichung greifen Miskawayh und al-Isfizārī auf den Anfang von Aristoteles’ Physik zurück – ersterer unter Quellenangabe, letzterer ohne – und führen aus, dass Dinge, die ihrer Natur nach Priorität haben, für uns erst als letzte erkennbar sind, während das, was wir zuerst erkennen, seiner Natur nach später ist. Warum der Gottesbeweis über die Bewegung der deutlichste ist, behandelt Miskawayh in seinem dritten Kapitel und al-Isfizārī als sechste Frage seiner 28 Fragen über metaphysische Dinge. Anschließend an das bisher Gesagte legt ersterer dar, dass es, da wir physische Körper haben, für uns am einfachsten ist, aufgrund von anderen Körpern zu argumentieren, die wir entsprechend mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen. Nun hat jeder Körper eine ihm eigene Natur, die ihn – als Prinzip seiner Bewegung – auf seine Vollkommenheit zubewegt. So bewegt sich alles Bewegte strebend auf die ihm eigene Bestimmung zu. Das, was erstrebt, ist von dem verursacht, was es erstrebt, und diese Ursache muss dem von ihr Verursachten vorrangig sein. Alles Physische bewegt sich also und wird durch seine Ursache, beziehungsweise das eigene Streben nach dieser, bewegt, und dies zeigt am klarsten und deutlichsten die Notwendigkeit der Existenz Gottes, nach dem alles strebt.35 Al-Isfizārīs Antwort auf dieselbe Frage ist kürzer und weniger überzeugend, was aber möglicherweise an der mangelhaften Textüberlieferung seines Werkes liegen mag: Wenn uns klar ist, dass alles Bewegte einen Beweger haben muss, dann muss der erste Beweger selbst unbewegt sein und Ursache des Seins alles Existierenden. Im Zuge seiner eingehenden Diskussion der Himmelsbewegung kommt jedoch auch al-Isfizārī darauf zu sprechen, dass der unbewegte Beweger bewegt, indem er das vom Bewegten erstrebte Objekt ist. Anders als Miskawayh, der nicht näher auf die Himmelsbewegung eingeht, hält al-Isfizārī sie für jene Bewegung, die von allen existierenden Bewegungen am eindeutigsten auf den unbewegten Beweger und dessen Einheit (tawḥīd) verweist, wie er in den Fragen 7–8 erläutert. Sie ist nämlich die einzige Bewegung, die allein durch den Schöpfer verursacht wird, während die anderen Bewegungen noch weitere Ursachen haben, die jedoch in ihrer Gesamtheit wiederum auf die erste Ursache, den Schöpfer, den Verursacher aller Ursachen zurückgehen. Dem Aufweis der Unbewegtheit des ersten Bewegers widmet Miskawayh sein viertes Kapitel und al-Isfizārī seine zwölfte Frage: Ersterer widerlegt in Anlehnung an Aristoteles’ Physik VIII.4 das Konzept eines durch sich selbst Bewegten und zeigt, dass auch das scheinbar durch sich selbst Bewegte von etwas anderem bewegt wird. Wenn sich beispielsweise die Elemente ihrer Natur nach immer zu dem ihnen entsprechenden Ort bewegen, das heißt nach oben oder unten, dann sind sie nur scheinbar selbst bewegt. In Wahrheit streben sie danach, an den ihnen entsprechenden Ort zu gelangen, also bewegt sie dieser Ort. Wird daher alles Bewegte durch anderes bewegt, muss es einen unbewegten Beweger geben, der der erste Beweger ist, wenn man einen unendlichen Regress ver34 35
Siehe Aristoteles, Metaphysik, II.1.993b9–11; Miskawayh, al-Fawz al-aṣġar, S. 35f. und al-Isfizārī, Kitāb fī masāʾil alumūr al-ilāhīya, S. 217f. Miskawayhs Argumentation folgt Aristoteles, Metaphysik XII.4–7.1070a–1072b.
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meiden will. Miskawayh führt noch einen zweiten Beweis, dass alles Bewegte von anderem bewegt wird: Alles Bewegte bewegt sich entweder natürlich oder naturwidrig. Ersteres wird durch seine Natur bewegt, die sich, wie Aristoteles in der Physik erkläre, von dem unterscheide, was bewegt wird. Was sich naturwidrig bewegt, ist entweder willentlich oder gezwungenermaßen bewegt. Im ersten Fall ist das Gewollte das Bewegende, im zweiten Fall das, das den Zwang auf das Bewegte ausübt. Solange aber diese aufgewiesenen Beweger selbst bewegt sind, stellt sich die Frage nach deren Beweger, bis ein unbewegter Beweger erreicht ist. Ähnlich argumentiert al-Isfizārī: Wenn man von einem Beweger für alles Bewegte ausgeht, und Unendlichkeit unmöglich ist, dann kann es keinen unendlichen Regress geben. Er führt zudem ein weiteres Argument an, das seinen Ausgangspunkt von dem Bewegten nimmt, das selbst nichts anderes mehr bewegt. Da dieses existiert, müsse auch das ihm Entgegengesetzte existieren, nämlich das, das bewegt, ohne selbst bewegt zu werden. Dann zeigen Miskawayh im fünften Kapitel und al-Isfizārī in den Fragen 15 und 16 die Einfachheit und Einzigkeit Gottes auf, wobei sich der Aufbau ihrer Argumentationsgänge geringfügig voneinander unterscheidet. Miskawayh stellt fest, dass, wenn es mehr als einen Wirkenden (fāʿil) gäbe, sich die mehreren Wirkenden darin glichen, dass sie wirkten, sich aber in ihren Wesen unterscheiden müssten. Um sich voneinander zu unterscheiden, müssten sie aus einer Substanz und einer spezifischen Differenz zusammengesetzt sein. Alles Zusammengesetzte aber ist bewirkt, und alle Wirkung ist Bewegung. So hätten die Wirkenden selbst wieder sie Bewirkende, und es ergäbe sich ein unendlicher Regress an Wirkenden. Daher kann es nur einen einzigen letzten Wirkenden geben. Al-Isfizārī zerlegt den Argumentationsgang in zwei Schritte und greift zuerst auf die schon erwiesene Tatsache zurück, dass der unbewegte Beweger nicht bewegt sein kann. Er argumentiert, dass alles Zusammengesetzte bewegt ist, weil Zusammensetzung Bewegung ist. Da es nur Zusammengesetztes und Einfaches gäbe, müsse der erste Beweger einfach sein. Die Einzigkeit des ersten Bewegers erweist al-Isfizārī dadurch, dass sich mehrere erste Beweger entweder als Individuen oder in ihrer Art unterscheiden müssten. Individuation fände aber nur in der Materie statt, und der erste Beweger habe keine Materie, da er nicht zusammengesetzt und körperlos sei.36 Unterschieden sich die hypothetisch angenommenen mehreren ersten Beweger aber der Art nach, dann wären sie aus Gattung und spezifischer Differenz zusammengesetzt. Der erste Beweger muss aber einfach sein und kann nicht zusammengesetzt sein. Dass der erste Beweger körperlos und ewig ist, zeigen Miskawayh in Kapitel 6 und 7 sowie al-Isfizārī in Frage 13 und 14 über logische Schlüsse aus den bisher gefundenen Erkenntnissen. Zum Beispiel: „Jeder Körper ist bewegt“ und „Nichts von den Bewegten ist der erste Beweger“ ergibt: „Kein Körper ist der erste Beweger.“ Und daher: „Der erste Beweger ist kein Körper.“ Der gemeinsame Beweisgang für die Ewigkeit lautet: Der erste Beweger ist nicht bewegt, aber alles Geschaffene und Hervorgebrachte muss bewegt sein, weil Schaffung und Hervorbringung Bewegung sind. Der erste unbewegte Beweger ist also weder geschaffen noch hervorgebracht und daher ewig.
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Al-Isfizārī hat die Körperlosigkeit des ersten Bewegers schon davor (in Frage 13) erwiesen, während Miskawayh dies erst im Folgenden (in Kapitel 6) tut.
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Auch in der Darlegung, warum Gotteserkenntnis nur durch Negation, nicht aber durch Affirmation möglich ist, stimmen Miskawayh und al-Isfizārī überein:37 Um etwas positiv zu erweisen, braucht es affirmative Prämissen, die für das zu Erweisende wesentlich und ihm vorangehend sind. Da Gott das Erste aller Existierenden und deren Anfang ist, kann es solche Prämissen in Bezug auf Ihn nicht geben. Daher bleibt nur die Möglichkeit negativer Aussagen, wie etwa zu sagen, dass Er kein Körper, nicht bewegt und nicht mehr als Einer ist. All unsere Bezeichnungen beruhen außerdem auf dem, was wir in der Welt finden, während Gott doch die Ursache dieser ist. Daher können wir Ausdrücke wie „Er ist wissend“ nur mit der Einschränkung „aber nicht wie die Wissenden“ auf Ihn anwenden. Demselben Thema, jedoch mit entgegengesetzter Auffassung, widmet sich auch as-Siǧistānī in seiner kurzen Abhandlung Über den ersten Beweger. Er erklärt gleich zu Anfang, dass er mit der Bezeichnung „erster Beweger“ keinen bestimmten Beweger meint und mit dem „von ihm Bewegten“ kein bestimmtes Bewegtes. Das könnten nämlich manche denken, die auch Aristoteles’ achtes Buch der Physik dahingehend verstünden, dass jener darin den ersten Beweger im Sinne der Ersten Ursache und das erste Bewegte im Sinne der äußersten Himmelssphäre (falak al-kull) aufzeige. Aber der erste Beweger, der das erste Bewegte bewegt, ist vom Ersten Beweger im Sinne der letzten Ursache zu unterscheiden. Der erste Beweger, der das erste Bewegte bewegt, ist, so argumentiert asSiǧistānī, in diesem als dessen natürliche Form und bewirkt, dass das erste Bewegte wesentlich bewegt ist. Denn wenn etwas wesentlich bewegt ist, trägt es das Prinzip seiner Bewegung in sich. Dadurch ist dieses bewegende Prinzip aber akzidentell bewegt – nämlich in seinem Vorhandensein in dem, was es bewegt –, während der Erste Beweger, im Sinne der ersten Ursache, völlig unbewegt sein muss. Mit Rückgriff auf seine ebenfalls erhaltene Abhandlung Darüber, dass die himmlischen Körper Vernunftseelen besitzen (siehe oben) erklärt as-Siǧistānī die Seele zum bewegten ersten Beweger. Denn die Seele bewegt etwas dazu, über sich selbst hinauszuwachsen und besser zu werden. Somit bewegt sie durch Streben. Der erste unbewegte Beweger hingegen bewegt, „indem Er den von Ihm Verursachten Sein Wesen gibt und sie zu ihrer höchsten Stufe überführt, denn Er ist die bloße Freigiebigkeit und das reine Gute, in ewigem Ausfließen über alle Existierenden. Alles erhält von Dessen Gutem und Dessen Freigiebigkeit gemäß seiner Würdigkeit und Aufnahmefähigkeit.“38 Hier verschmilzt die aristotelische mit der neuplatonischen Gottesvorstellung. Der erste unbewegte Beweger bewegt die Sphäre, indem er das Objekt ihres Streben ist, während der erste bewegte Beweger sie streben lässt. Die Auffassung, die in as-Siǧistānīs Abhandlung zum Ausdruck kommt, mag Miskawayh veranlasst haben, in Die kleinere Schrift über das Glück nicht explizit auf die Sphärenbewegung einzugehen. Ihm kann somit bestenfalls eine ungenaue Trennung der beiden Arten von erstem Beweger vorgeworfen werden, während sich al-Isfizārī der von as-Siǧistānī angeprangerten Vermischung eindeutig schuldig macht. In den erhaltenen Werken von al-ʿĀmirī finden sich keine Überlegungen zum unbewegten Beweger. Es ist aber denkbar, dass er sich in seinem Werk Interesse und Kenntnis
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Miskawayh, al-Fawz al-aṣġar, I, Kap. 8 und al-Isfizārī, Kitāb fī masāʾil al-umūr al-ilāhīya, Frage 24 gleichen sich in ihren Formulierungen in einem Ausmaß, das entweder durch eine gemeinsamen Quelle oder die Abhängigkeit des einen Textes vom anderen erklärt werden muss. Die vorliegende Übersetzung folgt dem arabischen Text in der Edition von Badawī: as-Siǧistānī, Ṣiwān al-ḥikma waṯalāṯ rasāʾil, S. 375.3–5. Für eine englische Übersetzung des gesamten Traktates siehe Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 285–292.
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(al-ʿInāya wa-d-dirāya), das laut Rowson ein umfassendes Werk zur aristotelischen Metaphysik gewesen sein soll, diesem Thema gewidmet hat.39 4.2 Das Wirken Gottes
Ob al-ʿĀmirī in einem seiner verlorenen Werke einen Gottesbeweis – über die Bewegung oder anders – aufgestellt hat, muss also ungewiss bleiben. Gewiss ist jedoch, dass er Überlegungen zur Art und Weise des göttlichen Wirkens angestellt hat. Diese finden sich in seiner frühen Schrift über die Willensfreiheit, Die Befreiung der Menschheit von [der Frage nach] der göttlichen Allmacht und der menschlichen Vollmacht (siehe oben) und decken sich weitgehend mit Miskawayhs Aussagen in Die kleinere Schrift über das Glück, wo im Zug der Diskussion der göttlichen Einheit (I.5) der Frage nachgegangen wird, wie von einem einfachen Wirkenden mehrere unterschiedliche, oftmals einander entgegengesetzte Wirkungen hervorgehen können.40 Ein Einfaches könne doch nur eine einzige, einfache Wirkung verursachen. Sowohl Miskawayh als auch al-ʿĀmirī halten dieser Ansicht vier Arten entgegen, auf welche ein einziger Wirkender viele verschiedene Wirkungen hervorbringen kann: Er kann mit unterschiedlichen Kräften in seinem Wesen wirken, mittels verschiedener Hilfsmittel, auf verschiedene Materialien oder indem er etwas aus etwas Anderem hervorgehen lässt. Die letzte Wirkungsweise beschreibt Miskawayh deutlicher als alʿĀmirī, wenn er feststellt, dass die verschiedenen Wirkungen nicht direkt aus dem Wesen des einen Wirkenden hervorgehen, sondern durch Vermittlung (bi-tawassuṭ) anderer Dinge. Dieses Konzept der Hervorbringung durch Vermittlung findet sich in der Theologie des Aristoteles, in den Passagen im Namen des Griechischen Weisen in der oben besprochenen philosophischen Textsammlung aus dem Umfeld Miskawayhs, und im Liber de causis auf Gott angewendet. Es handelt sich dabei um eine Besonderheit der arabischen Plotiniana und Procliana, die in den griechischen Originaltexten nicht zu finden ist,41 und es scheint, als ob al-ʿĀmirī dieses Konzept absichtlich vermeidet. Die Konsequenz, dass Gott nur durch Vermittlung des Intellektes schafft, schien ihm wahrscheinlich doch zu gewagt. Die zur Veranschaulichung der vier Arten des Wirkens gebrachten Beispiele stimmen bei al-ʿĀmirī und Miskawayh zum Großteil überein: Ein Wirkender, der durch unterschiedliche Kräfte in seinem Wesen wirkt, ist etwa der Mensch, dessen Handlungen durch Begierde, Zorn oder Vernunft geleitet sein können. Der Mensch kann ebenso durch verschiedene Hilfsmittel wirken, beispielsweise ein Tischler, der das Holz mit einem Beil spaltet, aber es mit anderen Werkzeugen, wie einem Bohrer, weiterbearbeitet. Auf unterschiedliche Materialien wirkt etwa das Feuer ein und bringt Wachs oder Eisen zum Schmelzen, während es Lehm hart macht. Kälte wiederum kann mit Hilfe anderer Wirkender Wärme hervorbringen: Sie bewirkt, dass sich die Haut zusammenzieht, sich dadurch die Poren verschließen und so Wärme entsteht. Da der Schöpfer einfach und in keiner Weise zusammengesetzt ist, kann Er, so sind sich al-ʿĀmirī und Miskawayh einig, nicht durch verschiedene Kräfte in Seinem Wesen wirken. Da Er der erste Wirkende ist, gibt es vor Seinem Wirken weder Hilfsmittel noch Materialien, auf die Er einwirken könnte. So bleibt für Ihn lediglich das Hervorbringen verschiedener Wirkungen, indem Er etwas – nämlich den Intellekt, den beide Autoren an anderer Stelle als erstes Geschaffe39 40 41
Siehe Rowson, A Muslim Philosopher on the Soul and its Fate, S. 11. Für diese Passage aus Inqāḏ al-bašar min al-ǧabr wa-l-qadar vgl. al-ʿAmirī, Rasāʾil Abī l-Ḥasan al-ʿĀmirī wa-šaḏarātuhū al-falsafīya, S. 257f. sowie Miskawayh, al-Fawz al-aṣġar, S. 48–50. Zum Konzept tawassuṭ im arabischen Plotin siehe D’Ancona, Pseudo-Theology of Aristotle, Chapter I: Structure and Composition, besonders S. 101–109.
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nes aufzeigen – unmittelbar, anderes mittelbar, das heißt mittels des unmittelbar Hervorgebrachten, hervorbringt. Auch al-Isfizārī behandelt in seinen 28 Fragen über metaphysische Dinge in Frage 16 die eine einzige und einfache Wirkung, die der unbewegte Beweger hervorbringt. Diese ist bei ihm das Bewegen der Sphäre, und für sie dürfen weder unterschiedliche Hilfsmittel noch zusammengesetzte Kräfte noch ein Bewegen von einem Ort zu einem anderen angenommen werden. Wie ein Herrscher seine Handlungen an Untertanen delegiert, so bewirkt Gott Seine verschiedenen Wirkungen durch Sein Bewegen der Himmelssphäre. Er ist die erste Ursache aller Dinge und der Verursacher aller Ursachen. Neuplatonischer Motive bedient sich al-Isfizārī, wenn er davon spricht, dass jede von den Substanzen in Abhängigkeit ihrer Nähe zu oder Entfernung von Gott göttlichen Anteil, das heißt Sein aufnimmt und ihr ein ihr entsprechendes Wirken zugeteilt wird. 4.3 Die Hierarchie des Seins
Das Ergebnis des göttlichen Wirkens präsentiert Miskawayh in seiner Kleineren Schrift über das Glück (I.9) in der Form der neuplatonischen, vor allem plotinischen Hierarchie des Seins: „Wir haben erklärt, dass das Sein in allen Dingen akzidentell ist und dass es dem Schöpfer – gepriesen sei Gott, der Erhabene – wesentlich zukommt, und daher positiv entschieden, dass Er ewig ist und dass die Dinge das Sein von Ihm erhalten. Sie sind weniger vollkommen als Er, denn das Verursachte kann unmöglich der Ursache gleichen. Wir haben erwähnt, dass einige Dinge das Sein unmittelbar von Ihm und andere durch Vermittlung (bi-tawassuṭ) erhalten, und jetzt sagen wir: Das erste Sein, das aus Ihm hervorgeht, kommt dem ersten Intellekt, der aktiver Intellekt genannt wird, zu. Daher ist er vollkommen im Sein, ewig bestehend, in einem Zustand feststehend und unveränderlich, denn die Emanation ist ihm ewig verbunden aufgrund der Ewigkeit von Dessen Ausfließen und des Überflusses von Dessen Freigiebigkeit. So ist der Intellekt folglich ewig und vollkommen im Sein im Vergleich zu den übrigen Dingen unter sich, aber im Vergleich zu Dem, Der über ihn das Sein ausfließen lässt, ist er notwendigerweise weniger vollkommen, wie wir gesagt haben. Da das Sein der Seele durch die Vermittlung des Intellektes zustande kommt, ist sie im Vergleich zum Intellekt weniger vollkommen im Sein. So bedarf sie der Bewegung im Streben nach dessen Vollkommenheit und ihm zu gleichen. Im Vergleich zu den natürlichen Körpern ist sie jedoch vollkommen. Da die Sphäre durch die Vermittlung der Seele existiert, ist sie im Vergleich zu dieser weniger vollkommen im Sein und bedarf daher der Bewegung, deren der Körper fähig ist, das heißt die Ortsbewegung. So kommt es zu ihrer Kreisbewegung, und diese vervollkommnet für [die Sphäre] das ewige Sein, das Gott, der Erhabene ihr bestimmt hat. Da das Sein bei unseren Körpern zu einem Ende kommt, ist es durch die Vermittlung der Sphäre, ihrer Körper und ihrer Sterne und ist so sehr schwach.“42
Al-ʿĀmirī stellt die Hierarchie des Seins im zweiten Kapitel seiner Kapitel über die göttlichen Wissensgegenstände vor, wobei er jedoch, im Gegensatz zu Miskawayh, für jede Seinsstufe einen eigenen Terminus für Schöpfung einführt und damit den Eindruck vermittelt, dass jedes Seiende von Gott geschaffen wird. Diese Vorgangsweise stimmt gut mit der Vermeidung des von Miskawayh angewendeten Konzeptes der Vermittlung (bi-tawassuṭ) bei der Hervorbringung der Seienden überein. Außerdem nützt al-ʿĀmirī die aus dem Koran bekannte Begrifflichkeit von Feder (qalam), Befehl (amr), Thron (ʿarš) und Tafel (lawḥ), um die philosophischen Termini „Universaler Intellekt“, „Formen“, „Seele“ und „Sphäre“ einzuführen: 42
Ich folge dem arabischen Text des al-Fawz al-aṣġar in der Edition von ʿUḍayma, übernehme jedoch den Text seiner Fußnote 308 aus der älteren Edition (Kairo 1907), siehe Miskawayh, al-Fawz al-aṣġar, S. 54–56.
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„Die Rangstufen der Dinge in der Wirklichkeit des Seins gliedern sich in fünf verschiedene: (1) Seiendes durch das Wesen: es ist über der Ewigkeit und vor ihr; (2) Seiendes durch Erschaffung aus dem Nichts (ibdāʿ): es ist mit der Ewigkeit und ihr verbunden; (3) Seiendes durch Schöpfung (ḫalq): es ist nach der Ewigkeit und vor der Zeit; (4) Seiendes durch Schaffung zum Zwecke der Indienststellung (tasḫīr): es ist mit der Zeit und ihr verbunden; (5) Seiendes durch Hervorbringung (tawlīd): es ist nach der Zeit und ihr folgend. Wir erklären ‚Schaffung zum Zwecke der Indienststellung‘ durch den Ausdruck ‚Prägung‘ (tabʿ) und ‚Hervorbringung‘ durch den Ausdruck ‚Bildung‘ (takwīn). (1) Das durch das Wesen Seiende ist der Schöpfer – erhaben ist die Nennung Seines Namens; (2) das durch Erschaffung aus dem Nichts Seiende sind Feder und Befehl; (3) das durch Schöpfung Seiende sind Thron und Tafel; (4) das durch Schaffung zum Zwecke der Indienststellung Seiende sind die sich im Kreis drehenden Himmelssphären und die ursprünglichen Körper; (5) und das durch Hervorbringung Seiende ist alles, was aus den vier Elementen gebildet wird. Die Philosophen erklären Feder durch den Ausdruck ‚Universaler Intellekt‘, Befehl durch ‚Universale Formen‘, Tafel durch ‚Universale Seele‘ und Thron durch Sphaera recta und ‚Sphäre der Sphären‘.“43
Im elften Kapitel der Kapitel über die göttlichen Wissensgegenstände zeigt sich, dass al-ʿĀmirī nicht nur das Konzept der Vermittlung vermeidet, sondern auch die neuplatonische Idee der Mitverursachung der unteren Seinsstufen durch die oberen nur äußerst vorsichtig formuliert übernimmt: „Er ist durch Sein Wesen das reine Gute, das die ganze Welt mit dem Ausgießen von Gutem erfüllt. Nur nimmt jedes einzelne von den Dingen, die in der Welt existieren, von jener Ausgießung entsprechend seiner Kraft auf. Folglich ist Er wahrhaftig Wirkender und wahrhaftig Leitender. Ich meine, Er wirkt die allerbeste Geordnetheit, über die hinaus es keine bessere Geordnetheit gibt und keine Perfektion. Er leitet Sein Wirken in äußerst effizienter Weise, in der kein Unterschied und kein Gespaltensein vorkommen. Der Unterschied in den Wirkungen und Leitungen ergibt sich nur nach Maßgabe der Rangstufen der Hervorgebrachten im Sein. Ich meine damit, dass das Wesen eines Erschaffenen (mubdaʿ) nur durch das reine Wesen des Erschaffers Bestand hat. Das Wesen eines Geschaffenen (maḫlūq) besteht, wenn es besteht, durch den Erschaffer, und es hat einen Anteil an der Naturanlage jenes Erschaffenen, dem der Erschaffer vor ihm Sein gegeben hat. Ein zum Zwecke der Indienststellung Geschaffenes (musaḫḫar) besteht, wenn es besteht, auch durch den Erschaffer, und es hat einen Anteil an der Naturanlage jener zwei Seienden vor ihm, ich meine das Erschaffene und das Geschaffene. Ein Hervorgebrachtes (muwallad) hat einen Anteil an der Naturanlage jener drei Seienden vor ihm, ich meine das Erschaffene, das Geschaffene und das zum Zwecke der Indienststellung Geschaffene. Wenn die Rangstufe des Erschaffenen im Sein Vorrang vor der Rangstufe des Geschaffenen hat, so übertrifft auch sein Aufnehmen von dem, was der Erste an Besonderheit des Guten ausgießt – das heißt die Würde des Wesens durch Erhabenheit und Dauer –, das Aufnehmen dessen, was ihm in der Rangordnung nachfolgt. Gleich verhält es sich mit den übrigen Stufen, bis man schließlich zum letzten gelangt, das existiert. Das ist das letzte Akzidens, das durch das eigene Wesen überhaupt keinen Bestand hat.“44
As-Siǧistānī führt in einer Diskussion über die Bedeutung der Einheit, die at-Tawḥīdī in seinem Buch der Anleihen aufgezeichnet hat, Intellekt und Seele als die beiden ersten Bewirkten an, wobei die Seele ihr Sein von der ersten Wesenheit, ihre Form jedoch von der zweiten Wesenheit, also dem Intellekt erhält. In der Abhandlung über die Prinzipien der seienden Dinge (Kalām fī mabādiʾ al-mawǧūdāt), die ihm nicht mit Sicherheit zugeschrieben werden kann, treten im Rahmen des Emanationsprozesses nacheinander Erste Ursache, Intellekt, Seele und Natur auf.45 43 44 45
Die Übersetzung ist mit leichten Änderungen aus Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch, S. 85–87 entnommen. Die Übersetzung ist mit leichten Änderungen aus Wakelnig, Feder, Tafel, Mensch, S. 101–103 entnommen. Siehe Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 219 und 307f.
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4.4 Das Verhältnis von Philosophie und Religion
Das Verhältnis zwischen Philosophie und Religion ist bei Miskawayh ein deutlich ausgewogenes. Bei as-Siǧistānī und al-ʿĀmirī kommt der Religion etwas mehr Gewicht zu, da die Philosophie durch die Grenzen des menschlichen Intellektes beschränkt ist und sich letztendlich der Religion unterordnen muss. Miskawayh gibt an, dass die Propheten für die Seelen der Menschen dieselbe Rolle haben, wie die Ärzte für deren Körper.46 Er stellt darüber hinaus fest, dass sich Philosophen und Propheten gegenseitig bestätigen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestehe darin, dass erstere von unten nach oben fortschreiten, während die zweiten von oben herabsteigen.47 As-Siǧistānī sagt, nach dem Bericht at-Tawḥīdīs im Buch des Zuspruchs und des vertrauten Umgangs, dass sowohl Philosophie als auch religiöses Gesetz wahr (ḥaqq) seien, beide jedoch nichts miteinander zu tun hätten.48 Al-ʿĀmirī drückt dies indirekt in seinem Leben zur Ewigkeit aus, wenn er erklärt, dass selbst wenn die Seele das Licht des Intellektes erlange, sie durch dieses doch nur dann die obere Welt zu erstreben vermag, wenn ihr das Licht der Religion (milla) und das Licht der Philosophie (ḥikma) zu Hilfe kommen.49 Ebenda erklärt er auch, dass ein göttliches Regelwerk (al-amr al-ilāhī) nicht notwendig wäre, gäbe es nicht die wesentliche Opposition von Seele und Körper im Wesen des Menschen. So aber ist der Mensch von Natur aus religiös, um mittels der göttlichen Regeln von der tierischen Natur zur Weisheit aufsteigen zu können.50 Der menschliche Intellekt kann das Gesetz Gottes nur zum Teil erfassen, weshalb es der Offenbarung bedarf, um genaue Anweisungen und Vorschriften zu übermitteln. Daher ist zwar jeder Prophet ein Philosoph, aber nicht jeder Philosoph ein Prophet.51 As-Siǧistānī drückt sich, laut at-Tawḥīdīs Buch des Zuspruchs und des vertrauten Umgangs, ähnlich aus, wenn er sagt, dass der Prophet über dem Philosophen ist, der Philosoph aber unter dem Propheten, und dass der Philosoph dem Propheten folgen muss, aber nicht umgekehrt, denn der Prophet ist gesandt, während zum Philosoph gesandt wird. Der Intellekt, der ein Geschenk Gottes ist, ist dadurch beschränkt, dass ihm zwar das, was unter ihm ist, nicht verborgen ist, er aber das, was über ihm ist, nicht begreifen kann.52
5. Hinweise auf weiterführende Literatur – Eine Zusammenstellung allen über as-Siǧistānī verfügbaren Materials – einschließlich englischer Übersetzung der vier erhaltenen Abhandlungen – mit Kommentar in Kraemer, Joel K., Philosophy in the Renaissance of Islam. Abū Sulaymān al-Sijistānī and his circle. Leiden 1986. Arabische Edition: Ṣiwān al-ḥikma wa-ṯalāṯ rasāʾil, taʾlīf Abū Sulaymān al-Manṭiqī as-Siǧistānī [Hort der Weisheit und drei Abhandlungen verfasst von as-Siǧistānī]. Ed. A. Badawī. Teheran 1974. – Eine umfassende Darstellung zu al-ʿĀmirī mit Edition und englischer Übersetzung des Amad in Rowson, Everett K.: A Muslim Philosopher on the Soul and its Fate: Al-ʿĀmirī’s 46 47 48 49 50 51 52
Siehe Miskawayh, al-Fawz al-aṣġar, I.2, S. 41. Siehe ebd., III.4, S. 128. Siehe Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 235. Siehe al-ʿĀmirī, Kitāb al-Amad ʿalā al-abad, S. 140. Siehe ebd., S. 102 und 96. Siehe al-ʿĀmirī, Kitāb al-iʿlām bi-manāqib al-islām, S. 101–104 und 84; für die englische Übersetzung der ersten Passage siehe Rowson, A Muslim Philosopher on the Soul and its Fate, S. 316f. und 320f. Siehe Kraemer, Philosophy in the Renaissance of Islam, S. 233.
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Einzelne Denker und Werke
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8. Avicennas Metaphysik Nadja Germann (Freiburg im Breisgau)
1. Was ist Metaphysik? Die Metaphysik gehört neben der Intellektlehre und der Logik zu den Bereichen der Philosophie, in denen Avicenna neue Maßstäbe gesetzt hat.1 Ein wichtiges Beispiel hierfür stellen seine Überlegungen zu Gegenstand und Struktur der Metaphysik dar, die er in den Eingangskapiteln seines metaphysischen Meisterwerkes, den Ilāhīyāt (wörtlich: „Von den göttlichen Dingen“) des Buches der Heilung (Kitāb aš-šifāʾ), anstellt.2 Während er die jeweiligen Gegenstände der übrigen philosophischen Disziplinen in den vorausgehenden Sektionen des Buches der Heilung klar identifiziert habe, so Avicenna, ergebe sich mit Blick auf die Metaphysik eine Schwierigkeit: bei manchen Autoren heiße es, sie untersuche die separaten Substanzen, bei anderen hingegen die ersten Ursachen und Prinzipien – und in diesem Zusammenhang dann auch Gott, die Erste Ursache und das Erste Prinzip aller Ursachen und Prinzipien. In Wirklichkeit aber sei ihr Gegenstand das Seiende insofern es Seiendes ist, al-mawǧūd bi-mā huwa mawǧūd. Infolgedessen beschäftige sie sich zwangsläufig auch mit den beiden zuvor genannten Alternativen, aber nur insofern diese unter diejenigen Dinge fielen, nach denen die Metaphysik „suche“, ašyāʾ hiya al-maṭlūba.3 Was ist der Hintergrund dieser Erwägungen? Zum einen ein Problem, das die Philosophie in Gestalt der unter dem Titel Metaphysik versammelten, ursprünglich aber gar nicht zusammengehörenden aristotelischen Schriften geerbt hatte.4 Bereits in diesem Werk finden sich alle drei genannten Kandidaten, die an je unterschiedlichen Stellen von Aristoteles als Gegenstand der Metaphysik vorgestellt werden.5 Da Aristoteles selbst jedoch nur vage Andeutungen darüber macht, wie diese drei Gegenstände seiner Meinung nach zusammenhängen, standen seine Nachfolger vor der Herausforderung, selbst eine Lösung finden zu müssen. Die zweite Besonderheit, die den Hintergrund für Avicennas Überlegungen bildet, besteht in der historischen Situation, in der er sich befand, als er seine Metaphysikkonzeption entwarf. Diese Situation ist entscheidend geprägt durch den Rezeptionsverlauf der antiken Philosophie in der noch jungen arabisch-islamischen Kultur. Mit Blick auf die Metaphysik bedeutet dies, dass der Rezeption des Aristoteles die 1 2
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Zur Intellektlehre siehe das folgende Kapitel. Zur Logik in der arabischen Philosophie allgemein siehe: Street, Logic, dort zu Avicenna 259–261, mit weiterführenden Literaturhinweisen in Anm. 37 (S. 264–265). Die gängige Edition ist Ibn Sīnā, Kitāb aš-šifāʾ. al-Ilāhīyāt [Buch der Heilung. Metaphysik]. Die derzeit umfassendste Studie ist Bertolacci, The Reception of Aristotle’s Metaphysics in Avicenna’s Kitāb al-Shifāʾ. A Milestone of Western Metaphysical Thought. Appendix A (S. 483–558) enthält eine ausführliche Liste mit Korrekturen der Kairiner Edition. Diese Edition ist weitgehend die Basis von Avicenna, The Metaphysics of The Healing. Trans. Marmura. Marmura hat den Text weiter unterteilt in durchnummerierte Paragraphen. Aufgrund dieser handlichen Verweismöglichkeit wurde im vorliegenden Beitrag durchgängig diese Textversion verwendet. Die dem Titel (The Metaphysics of the Healing) folgende römische Ziffer bezieht sich dabei auf das entsprechende Buch, die arabische Zahl auf das Kapitel, die in Klammern gesetzte Nummer auf den Paragraphen. Zeilenzahlen sind den Seitenangaben ggf. durch einen Punkt getrennt angefügt. Zu diesen Überlegungen siehe Avicenna, The Metaphysics of the Healing, I.1, S. 1–6. Zur Überlieferung der Metaphysik siehe beispielsweise Flashar, Aristoteles, S. 238–240. Vgl. Aristoteles, Metaphysik VI.1, 1026a10–30 zu den separaten Substanzen; II.1, 981b28–29 und II.2, 982b8 zu den ersten Ursachen und Prinzipien; IV.1, 1003a21–25 zu Seiendem qua Seiendem. – Zu den drei (oder sogar vier) alternativen Gegenständen in der Metaphysik des Aristoteles beispielsweise Barnes, Metaphysics, hier besonders S. 66– 69; zum möglichen vierten Gegenstand, der Substanz (VII.1, 1028b2–4), ebd. S. 68.
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Integration der Neuplatoniana vorausging und Aristoteles’ Metaphysik nur schrittweise zugänglich wurde: zunächst die Bücher α (II) und Λ (XII), und erst mit zeitlichem Abstand die übrigen Bücher.6 Für das Metaphysikverständnis der direkten Vorgänger Avicennas hatte dies zur Folge, dass sie diese in erster Linie unter neuplatonischer Perspektive aufnahmen und dies heißt, im Sinne einer Kosmologie und Ursachenlehre. In zweiter Instanz wurde diese Auffassung ergänzt und modifiziert durch Aristoteles’ Lehre vom unbewegten Beweger und den separaten Substanzen, in einem dritten Schritt schließlich durch die vor allem in Buch Г (IV) entwickelte Theorie des Seienden als Seienden.7 Mit seiner eindeutigen Festlegung auf Seiendes-als-Seiendes als Gegenstand der Metaphysik, seinen Überlegungen zum Verhältnis zwischen diesem Gegenstand und seinen beiden früheren „Konkurrenten“, den Ursachen und den separaten Substanzen, und der sorgfältig hierauf abgestimmten Struktur seiner Ilāhīyāt hat Avicenna nicht nur Position in der Debatte bezogen, wie Aristoteles zu interpretieren sei, sondern vielmehr der Disziplin eine bis dahin beispiellose Einheit und Kohärenz gegeben. Als Maßstab für seine Vorgehensweise diente ihm dabei durchgängig die Wissenschaftskonzeption der Zweiten Analytiken des Aristoteles, sowohl hinsichtlich der Anordnung und Klassifizierung des Materials als auch bezüglich der Argumentationsweise, der demonstrativen Methode.8 Den Grundstein für diese Systematisierung der Metaphysik legte Avicenna bei der Bestimmung ihres Gegenstandes. Seiendes-als-Seiendes ist seiner Auffassung zufolge deshalb am besten hierfür geeignet, weil es der universalste Begriff sei und sich zugleich beweisen lasse, dass weder Gott noch die ersten Ursachen als Gegenstand in Frage kommen. Der Hauptgrund, den er in den beiden letztgenannten Fällen anführt, besteht darin, dass deren Existenz nicht vorausgesetzt werden könne, sondern vielmehr genau in der Metaphysik (und keiner anderen Disziplin) bewiesen werden müsse.9 Da eine Wissenschaft gemäß den Zweiten Analytiken jedoch nicht die Existenz ihres eigenen Gegenstandes beweise – dies liefe auf eine petitio principii hinaus –, schieden Gott und die ersten Ursachen als mögliche Kandidaten aus; sie seien vielmehr unter diejenigen Dinge zu rechnen, nach denen die Metaphysik suche (ašyāʾ hiya al-maṭlūba). Ausgehend von dieser ersten Klärung kann Avicenna seine weiteren wissenschaftstheoretischen Prinzipien zur Anwendung bringen. So untersucht ihm zufolge eine Wissenschaft näherhin die dem Gegenstand eigentümlichen Akzidentien, seine Arten (anwāʿ) sowie die Prinzipien des Seienden. Gott und die ersten Ursachen nun seien die Prinzipien von Seiendem, genauer: von verursachtem Seienden, und fielen folglich unter die Rubrik „Prinzipien“. Da es sich bei ihnen außerdem um separate Substanzen handele und sie zugleich den erhabendsten (da göttlichen) Teilbereich und das Hauptziel (ġaraḍ) der Metaphysik bildeten, trüge diese zu Recht den Namen einer „Wissenschaft von den göttlichen Dingen“ (ilāhīyāt). Zu klären bleibt nun noch, was Avicenna unter den „eigentümlichen Akzidentien“ und den „Arten“ versteht. Wie sich ebenfalls den Einleitungskapiteln seiner Ilāhīyāt entnehmen lässt, fasst er unter den „eigentümlichen Akzidentien“ Attri6 7 8
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Zur Forschungslage bezüglich der Metaphysik des Aristoteles in der arabisch-islamischen Welt siehe Martini Bonadeo, La Métaphysique. Tradition syriaque et arabe, hier besonders S. 261–264. Diesen Prozess und seine Bedeutung für das Metaphysikkonzept Avicennas hat Amos Bertolacci minutiös herausgearbeitet, siehe Bertolacci, The Reception of Aristotle’s Metaphysics, S. 5–35. Hervorzuheben ist, dass diese konsequente Orientierung am Wissenschaftsprogramm der Zweiten Analytiken nicht nur für die Ilāhīyāt, sondern für Avicennas Philosophie insgesamt kennzeichnend ist. Siehe hierzu Koutzarova, Das Transzendentale bei Ibn Sīnā. Zur Metaphysik als Wissenschaft erster Begriffs- und Urteilsprinzipien, S. 41–49, besonders Anm. 18 auf S. 48. Diese Position wird später einen der Hauptkritikpunkte des Averroes bilden, der im Unterschied zu Avicenna behauptet, dass Gottes Existenz bereits in der Physik bewiesen werde.
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bute von Seiendem zusammen wie Einheit und Vielheit, Potentialität und Aktualität, Universalität und Partikularität. Diese Liste schwankt jedoch ähnlich wie die der „Arten“ des Seienden, die laut Avicenna einerseits die Gegenstände der philosophischen Teildisziplinen (Naturphilosophie, mathematische Wissenschaften und so weiter) einschließen, andererseits die Kategorien, also Substanz, Quantität und eine wechselnde Auswahl der übrigen Kategorien.10 Diese Unterteilung der Metaphysik spiegelt sich im konkreten Aufbau der Ilāhīyāt wider: Auf den ersten Abschnitt, der die soeben thematisierten Prolegomena bietet (I.1–4), folgt eine Klärung der primären (metaphysischen) Konzepte des Gegenstandes der Metaphysik – über das Seiende selbst hinaus sind dies das Nicht-Seiende, Ding, Notwendige, Mögliche und Unmögliche –, sowie der primären (logischen) Konzepte und Prinzipien wie Wahrheit und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (I.5–8). Hieran schließt sich mit den Büchern II und III die Besprechung der Kategorien, IV bis VII der eigentümlichen Akzidentien (unter die mit Buch V die Universalien fallen) und VIII bis X der theologischen Prinzipienlehre (die auch den Aspekt der „Rückkehr“ der Seele zu ihrem Ursprung sowie grundlegende Punkte der praktischen Philosophie umfasst). Entlang dieser Metaphysikkonzeption soll im Folgenden eine Auswahl jener Lehrstücke Avicennas vorgestellt werden, die in der jüngeren Vergangenheit vermehrte Aufmerksamkeit gefunden haben und somit versprechen, einen dem gegenwärtigen Stand der Forschung entsprechenden Einblick in Avicennas Metaphysikverständnis zu gewähren.11
2. Die primären Konzepte der Metaphysik des Seienden 2.1 Existenz – Essenz – Ding
„Die Konzepte (maʿānī) ‚Seiendes‘, ‚Ding‘ und ‚Notwendiges‘“, so Avicenna, „sind der Seele in einer vorgängigen Weise eingeschrieben.“ Diese Charakterisierung, die er an anderen Stellen noch auf weitere Konzepte wie „Einheit“ anwendet, legt den Grundstein für eine Diskussion, die im lateinischen Mittelalter zur vollen Entfaltung kam und als Transzendentalienproblematik in die Geschichte einging.12 Obwohl Avicennas Diskussion dieser Transzendentalbegriffe sowie die hiermit zusammenhängende Unterscheidung zwischen Existenz und Essenz von Aristoteles inspiriert sind und entlang aristotelischer Denkkategorien entwickelt werden, besteht ein wesentlicher Anlass für seine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Konzepten in einer außerphilosophischen Debatte. Wie ThérèseAnne Druart und Robert Wisnovsky gezeigt haben, lässt sich Avicennas für die philosophische Tradition ungewöhnliche Aufmerksamkeit für das Konzept des Dinges
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Eine tabellarische Übersicht über Avicennas leicht variierende Angaben zu den verschiedenen Teilbereichen, die in der Metaphysik untersucht werden, bietet Bertolacci, The Reception of Aristotle’s Metaphysics, S. 156–157; eine Diskussion dieser Einteilung, ihrer Begründung und ihres Verhältnisses zu den epistemologischen Vorgaben der Zweiten Analytiken, ebd. S. 111–147. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich dabei ganz auf die Metaphysik des Kitāb aš-šifāʾ, die bislang das größte Forschungsinteresse auf sich gezogen hat. Auf Entwicklungen innerhalb von Avicennas Gesamtwerk kann aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Grundlegend hierzu Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas; Garcia, The Transcendentals in the Middle Ages; siehe auch Aertsen/Pickavé, Die Logik des Transzendentalen. Festschrift für Jan A. Aertsen zum 65. Geburtstag; Umfassend zur Transzendentalienproblematik bei Avicenna siehe Koutzarova, Das Transzendentale bei Ibn Sīnā. – Das Zitat bei Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.5 (1), S. 22.11–12.
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(šayʾ) auf eine prominente theologische Kontroverse zurückführen, die um diesen Begriff und das Problem der Existenz beziehungsweise Nichtexistenz kreiste.13 Den Ausgangspunkt dieser Diskussion bilden die koranischen Aussagen über Gottes Schöpfungstätigkeit. Demzufolge brachte Gott die Dinge ins Sein, indem er sie dazu aufforderte zu sein. Die Frage, die sich angesichts dieser Darstellung aber sofort stellt, ist, wen oder was Gott eigentlich ansprach, als er die Dinge aufforderte zu sein. Denn da die Dinge erst durch die Schöpfung ins Sein kamen, existierten sie vorher noch nicht und waren folglich auch nicht ansprechbar. Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma bot die These, dass den Dingen immer schon eine bestimmte Form von Existenz zukam, die lediglich einen anderen Seinsmodus darstellte als die „physikalische“ Form von Existenz, die die Dinge annahmen, als sie von Gott dazu aufgefordert wurden zu sein. Bei aller Einfachheit hat diese Erklärung jedoch eine unliebsame Kehrseite: Sie impliziert, dass die Dinge in dieser besonderen Existenzform genauso ewig sind wie Gott selbst. Dies aber steht in Konflikt mit Gottes Einheit und Einfachheit und würde somit gegen das höchste Dogma des Islam verstoßen, die absolute Einheit Gottes (tawḥīd). Um dieser Gefahr zu begegnen, wurde als Gegenposition vorgeschlagen, dass die Dinge, bevor Gott sie schuf, nicht existierten, also gewissermaßen pure „Washeiten“ waren, die erst durch Gottes Wort von der Nichtexistenz in die Existenz gebracht wurden. Ontologisch betrachtet behauptete diese Position also, dass es zwischen existierenden Dingen und Nichts auch nichtexistierende Dinge gebe, also eine Art von „existenzlosem Sein“.14 Mit seiner Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz und ihrer Anwendung auf den Begriff des Dinges ist es Avicenna gelungen, eine in ihrer Analyse starke und zugleich mit dem aristotelischen Begriffsapparat kompatible Position in dieser Streitfrage zu entwickeln.15 Gleich zu Beginn seiner Untersuchung betont Avicenna, dass zwischen dem Konzept von Existenz und jenem von Ding zu unterscheiden sei, dass die beiden also nicht dieselbe Intension besitzen. Zur Begründung führt er den Sprachgebrauch an: „Ding“ und seine Synonyme würden üblicherweise verwendet, um auf ein bestimmtes Konzept (maʿnā āḫar) hinzuweisen, nämlich die „eigentümliche Existenz“ (al-wuǧūd al-ḫāṣṣ) oder „wahre Natur“ (ḥaqīqa) oder „Quiddität“ (māhīya) einer Sache. Es ist genau dieser Begriff der „Quiddität“ oder „Washeit“, der in den lateinischen Übersetzungen in aller Regel mit essentia wiedergegeben wurde und unserer heutigen Begrifflichkeit bei der Unterscheidung von Essenz und Existenz zugrunde liegt. Diese „eigentümliche Existenz“ ist sorgfältig zu unterscheiden von der „affirmativen Existenz“ (al-wuǧūd al-iṯbātī). „Existenz“ ist nämlich ein äquivoker Begriff, der, wie Avicenna beobachtet, entweder „eigentümliche“ oder „affirmative Existenz“ bedeutet. In
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Druart, Shayʾ or Res as Concomitant of “Being” in Avicenna; Wisnovsky, Avicenna’s Metaphysics in Context, besonders S. 145–180; einen knappen Überblick bietet erneut Ders., Avicenna and the Avicennian Tradition, hier S. 105–113. Obwohl die genannten Autoren zurecht auf die Bedeutung des theologischen Kontextes für Avicennas Denken hingewiesen haben (eine Bedeutung, die in manchen Zweigen der Forschung eher vernachlässigt wird), ist zu berücksichtigen, dass auch al-Fārābī, mit dessen Schriften Avicenna ja wohlvertraut war, die fraglichen Begriffe ausführlich bespricht; siehe hierzu die Analyse von Koutzarova, Das Transzendentale bei Ibn Sīnā, besonders S. 204– 210. Einen Überblick über diese im Detail sehr viel nuancierteren Positionen, die sich quer über die verschiedenen religiösen Lager erstreckten, bieten Wisnovsky, Avicenna’s Metaphysics in Context, besonders S. 145–160, sowie ders., Avicenna and the Avicennian Tradition, besonders S. 105–107. Die relevante Diskussion findet sich in Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.5.
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diesem letztgenannten Sinne verwendet Avicenna selbst zumeist den Begriff der Existenz, und zwar um zum Ausdruck zu bringen, dass etwas ist, und nicht, was es ist (Essenz):16 „Lass uns zum Ausgangspunkt zurückkehren und festhalten: Es ist offensichtlich, dass jedes Ding eine eigentümliche Natur (ḥaqīqa ḫāṣṣa) besitzt, nämlich seine Quiddität (māhīyatuhū). Außerdem ist bekannt, dass die jedem Ding eigentümliche Natur von jener Existenz (wuǧūd) verschieden ist, die dem entspricht, was affirmiert wird (al-iṯbāt).“17
Ontologisch betrachtet besitzt somit jedes Ding eine Essenz und eine (affirmative) Existenz, die nicht identisch sind. Auf der semantischen Ebene aber steht der sprachliche Ausdruck „Ding“ für etwas, dient also als Referent für Essenzen (nicht für Existenz). Auf der Grundlage dieser Analyse wendet sich Avicenna in einem nächsten Schritt dem Problem von (affirmativer) Existenz und Nichtexistenz zu. Erneut diskutiert Avicenna zunächst den allgemeinen Sprachgebrauch, bevor er untersucht, welche ontologischen Festlegungen damit verbunden sind. Er setzt ein bei der gängigen Auffassung, das Ding sei das, „über das etwas prädiziert werde“.18 Während dies ohne Weiteres zutreffe, so Avicenna, müsse die folgende Aussage (Prädikation) indes genauer betrachtet werden: „Das Ding kann absolut nicht-existent sein“.19 Herauszufinden sei hier, was unter „Nichtexistenz“ verstanden werde. „Existenz“ könne sich nämlich zum einen auf extramentale, physische Existenz beziehen, zum anderen auf intramentale, „denn es ist möglich, dass ein Ding, das nicht in der extramentalen Wirklichkeit existiert, intramental existiert“.20 Beziehe sich die obige Aussage nun auf die extramentale Realität, so könne sie durchaus wahr sein; reklamiere sie aber irgendetwas darüber hinaus – zum Beispiel intramentale Nichtexistenz –, sei sie falsch. Denke man dieses Ding nicht, könne man nämlich gar nichts über es prädizieren. Sofern man willens ist, mit Avicenna die Seinsweise von Konzepten unter den Begriff der Existenz zu subsummieren, ist dieser Gedankengang stringent. Zwar lässt sich dann zu Recht behaupten, dass manche Dinge nicht existieren, doch kann sich diese Existenzaussage ausschließlich auf die extramentale Wirklichkeit beziehen. Als Konzept, also in Avicennas Worten: intramental, existieren diese Gegenstände sehr wohl, da sie andernfalls a fortiori überhaupt nicht Subjekte von Prädikationen werden könnten. Damit stellt sich aber als nächstes die Frage, in welchem Verhältnis denn die Dinge, die Gegenstand des Denkens sind, zu ihren Gegenstücken in der extramentalen Wirklichkeit stehen, und was sich über deren Existenz oder Nichtexistenz feststellen lässt. Avicenna unterstreicht mit Nachdruck, dass sich jede Kenntnis über ein nichtexistierendes Ding strikt auf dieses bezieht, insofern es intramental, also ein Gegenstand des Denkens ist. 16
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An dieser Stelle ist anzumerken, dass Avicenna zwar üblicherweise Essenz und Existenz in dieser Weise sprachlich voneinander abhebt, aber eben nicht immer. Gelegentlich verwendet er „Existenz“ in einem umfassenderen Sinne (Essenz mit einschließend), gelegentlich in einem engeren Sinne, auf extramentale (affirmative) Existenz beschränkt (siehe hierzu den folgenden Abschnitt), gelegentlich mit einer ganz besonderen Konnotation, die vielleicht am besten mit ‚Individualität‘ wiederzugeben ist. Ferner ist auf die Nähe von „affirmativer Existenz“ und „Dassheit“ (annīya/innīya) hinzuweisen. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.5 (10), S. 24.14–15. Aš-šayʾ huwa allaḏī yuḫbaru ʿanhū, Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.5 (12), S. 25.8. Aš-šayʾ qad yakūnu maʿdūman ʿalā al-iṭlāq, Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.5 (12), S. 25.9. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.5 (12), S. 25.10–11; diese beiden (affirmativen) Existenzweisen (extramental – intramental) hatte Avicenna bereits in der Isagoge (Madḫal) seines Buches der Heilung eingeführt (Ibn Sīnā, Aš-Šifāʾ. Al-Manṭiq. Al-Madḫal [Buch der Heilung. Logik. Isagoge], hier [Kapitel] ii, S. 15.1): „Die Quidditäten der Dinge können entweder in der extramentalen Wirklichkeit (fī aʿyān al-ašyāʾ) oder im Denken (fī t-taṣawwur) existieren.“ Mit dieser Auffassung weicht er klar von al-Fārābī ab, der im Buch der Partikeln (Kitāb al-ḥurūf) betont hatte (in der Übersetzung Koutzarova, Das Transzendentale bei Ibn Sīnā, S. 205): „‚Seiendes‘ (mawǧūd) hingegen bezeichnet nur ‚das, was eine Washeit außerhalb der Seele hat‘, nicht jedoch eine Washeit, die ausschließlich [in der Seele] erfaßt ist.“
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Entscheidend ist ihm zufolge nämlich, dass im Falle von Aussagen über Nichtexistenz keine Beziehung zwischen dem intramentalen Ding und etwas Extramentalem hergestellt wird. Das Urteil (taṣdīq, w.: Zustimmung), das sich aus den beiden je intramentalen Bestandteilen der Aussage (Subjekt–Prädikat) zusammensetzt, beschränkt sich auf das Anerkennen, dass die Natur dieses Denkgegenstandes es zulässt, eine Verbindung zwischen ihm und der extramentalen Wirklichkeit herzustellen, wenngleich eine solche Beziehung derzeit nicht besteht. Unsere Urteile machen hierüber schlicht keine Aussage, da sie sich ausschließlich auf unser Denkobjekt beziehen. Sie ließen sich aber auf die extramentale Wirklichkeit anwenden und anhand dieser überprüfen, sobald ein entsprechender extramentaler Gegenstand entdeckt würde.21 Mit Blick auf seine Ausgangsfragestellung kann Avicenna nun zusammenfassen, dass der Begriff des Dinges nicht nur, wie zu Beginn seiner Argumentation schon gezeigt, von dem der Essenz zu unterscheiden ist, sondern auch von dem des Seienden. Nichtsdestotrotz, so seine eindringliche Mahnung, seien beide, das Ding und das Seiende, „notwendige gegenseitige Begleiter“ (mutalāzimān). Obwohl er selbst diesen Zusammenhang nur beiläufig andeutet, hat Avicenna damit Stellung in der oben vorgestellten Kontroverse der mutakallimūn, der Theologen, bezogen: Ihm zufolge gibt es keine nichtexistierenden Dinge. Zwar existieren manche Dinge nicht in der extramentalen Wirklichkeit, doch auch diese existieren zwingend intramental, sofern über sie nachgedacht und prädiziert wird. Da Gott, wie weiter unten noch ausführlicher dargelegt wird, reiner Intellekt ist und das gesamte Universum gleichsam punktartig verdichtet von Ewigkeit her denkt, existieren alle Dinge „jederzeit“ als Konzepte in seinem Denken.22 Mit der Schöpfung verlieh ihnen Gott somit nur noch zusätzlich extramentale Existenz. Voraussetzung für diese Lösung ist neben Avicennas Unterscheidung von intramentaler und extramentaler Existenz sein Begriff der Essenz; denn nur unter der Annahme, dass Dinge (in einem formalen, nicht realen Sinne) „Komposita“ aus Essenz und Existenz sind, lässt sich die Position verteidigen, dass diese Dinge als solche (im Sinne von was sie sind, also ihrer Essenz) unterschiedslos im Denken oder in der Wirklichkeit oder in beidem existieren. 2.2 Notwendig versus möglich Seiendes
Das Notwendige (al-wāǧib), das Mögliche (al-mumkin), aber auch das Unmögliche (almumtaniʿ) sind Avicenna zufolge Begriffe, die – ähnlich wie Existenz, Essenz und Ding – jeder Definition vorausliegen. Bereits zu Beginn des fünften Kapitels des ersten Buches der Ilāhīyāt hatte er auf diese Besonderheit mit Bezug auf das Notwendige hingewiesen, am Ende dieses Kapitels dann auch mit Blick auf das Mögliche und das Unmögliche. Allerdings besitzt das Notwendige laut Avicenna den höchsten Anspruch darauf, zuerst konzipiert zu werden (an yutaṣawwara awwalan).23 Diese Überlegungen stellen die Überleitung zum sechsten Kapitel dar, das der Diskussion von notwendig versus möglich Seiendem gewidmet ist. Anders als die zuvor erörterten Konzepte (Existenz, Essenz, Ding), die sich umfassend auf alles Seiende beziehen, wie auch immer dieses existiert (intra- oder extramental) und betrachtet wird (in seiner Washeit oder Dassheit), stehen die hier fraglichen Konzepte in einem disjunktiven Verhältnis zueinander und setzen die Unterscheidung 21 22 23
Für diese Diskussion siehe besonders Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.5 (16), S. 26 sowie (18), S. 26–27. Siehe hierzu unten, Abschnitt 4.2. Avicennas Kosmologie des vorliegenden Kapitels. Zum transkategorialen Charakter der drei Begriffe siehe Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.5 (22), S. 27–28; zur Vorrangigkeit von „Notwendigem“, ebd. (24), S. 28.16; die Begründung für diese postulierte Vorgängigkeit findet sich gleich im Anschluss, Z. 16–18.
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von Essenz und Existenz voraus. Ferner liegen sie in den meisten seiner Schriften Avicennas Gottesbeweis zugrunde – anders als im Buch der Heilung, das, wie Amos Bertolacci kürzlich argumentiert hat, auf ein Kausalitätsargument zurückgreift.24 Jedes existierende Ding, so führt Avicenna seine Anwendung der Modalitäten auf den Existenzbegriff ein, lässt sich von der Vernunft (fī l-ʿaql) hinsichtlich seiner Existenzweise einordnen: Entweder seine Existenz ist im Hinblick auf sein Wesen nicht notwendig. In diesem Falle ist sie aber auch nicht unmöglich, denn andernfalls würde dieses Ding ja nicht existieren. Sie fiele somit in den Bereich der Möglichkeit. Oder, so Avicennas Alternative, die Existenz des betreffenden Dinges ist, wenn man es in der genannten Weise betrachtet, notwendig. Was nun dieses zuletzt genannte „notwendig Seiende“ angehe, besitzt dieses keine Ursache – anders als dasjenige, das seinem Wesen nach betrachtet nur möglich ist. Der Grund hierfür liegt laut Avicenna auf der Hand: wäre das „notwendig Seiende“ nämlich verursacht, würde es seine Existenz dieser Ursache verdanken. Was aber seine Existenz einem anderen Ding (einer externen Ursache) verdankt, existiert, wenn man es für sich, unabhängig von diesem anderen Ding betrachtet, nicht notwendigerweise. Andererseits ergibt sich die Existenzmöglichkeit des „möglich Seienden“ gerade daraus, dass es zwar Existenz gewinnen kann, aber eben nicht notwendigerweise muss. Dies bedeutet freilich zugleich, dass dieses Ding, um Existenz zu erlangen, einer zusätzlichen Ursache bedarf. Auf dieser Grundlage präzisiert Avicenna, dass somit jedes „möglich Seiende“, sobald es existiert, „notwendig aufgrund eines anderen ist“ (wāǧib al-wuǧūd biġayrihī) – im eklatanten Gegensatz zum „notwendig Seienden“, das „notwendig aufgrund seiner selbst ist“ (wāǧib al-wuǧūd bi-ḏātihī).25 Mehrere Bemerkungen sind hier angebracht. Gleich an erster Stelle ist Avicennas Verknüpfung von Modalität und Existenz beachtlich. Die Modalitäten, wie Avicenna sie in der gerade vorgestellten Passage einführt, gewinnen eine ungewöhnlich ontologische Dimension. Gelten die Attribute „notwendig“, „möglich“ und „unmöglich“ üblicherweise als Modalitäten von (logischen) Urteilen, fasst Avicenna sie hier als Modi auf, die fundamental verschiedenen Arten von Seiendem wesensmäßig zukommen.26 Nachdem dieser Schritt von einer logischen Betrachtungsweise hin zu einer ontologischen einmal gesetzt ist, lässt sich die getroffene Einteilung in essentiell „möglich“ und „notwendig Seiendes“ problemlos mit Überlegungen zu den Wirkursachen dieser Dinge verbinden. Die Frage, „warum existiert dieses Ding“, kann nun durch einen Blick auf dessen Wesen (ḏāt) beantwortet werden: Ist dieses Ding wesensmäßig mit Existenz ausgestattet, dann existiert es aus sich selbst heraus und bedarf keiner externen Ursache; es ist ein „notwendig Seiendes“. Ist das Wesen dieses Dinges hingegen so, dass dieses Ding existieren kann, kurz: Handelt es sich um ein kontingentes Seiendes, so benötigt es eine zusätzliche externe Ursache, derentwegen es entweder tatsächlich existiert oder nicht existiert. Sein eigenes Wesen ist diesbezüglich unbestimmt und somit zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die tatsächliche Existenz oder Nichtexistenz dieses Dinges. Anders verhält sich dies schließlich beim „unmöglich Seienden“, dessen Nichtexistenz genauso
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Bertolacci Avicenna and Averroes on the Proof of God’s Existence and the Subject-Matter of Metaphysics, besonders S. 63, 78–80, 83. Demnach findet sich der Gottesbeweis im Buch der Heilung in Ilāhīyāt VIII.1–3. Mehr hierzu unten, Abschnitt 4.1: Die göttlichen Attribute: das notwendig Seiende und sein Wissen in diesem Kapitel. Bis hierher Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.6 (1)–(4), S. 29–31; die beiden zitierten Termini ebd. 30.4 und 16. Hierzu ausführlich Koutzarova, Das Transzendentale bei Ibn Sīnā, S. 362–382.
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fest in seinem Wesen verankert ist wie umgekehrt die Existenz des „notwendig Seienden“ in dessen Wesen.27 Auf dieser Verbindung der ontologisch gefassten Modalitäten mit der Kausalitätsthematik beruht außerdem Avicennas Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Notwendigkeitstypen. Die spezifische Differenz zwischen diesen beiden Formen besteht darin, dass die eine Art „notwendig Seiendes“ ihre Existenz und folglich ihre Notwendigkeit sich selbst verdankt: Sie ist bi-ḏātihī („durch sich selbst“). Die andere hingegen besitzt ihre Existenz und somit ihre Notwendigkeit einer externen Ursache wegen: Sie ist biġayrihī („durch ein anderes“). Wie sich im Lichte der obigen Ausführungen erkennen lässt, existiert damit alles, was existiert, mit Notwendigkeit, sei es bi-ḏātihī oder bi-ġayrihī – was auf den ersten Blick Avicennas Einteilung in notwendig und möglich Seiendes zu widersprechen scheint. Auf den zweiten Blick hingegen wird deutlich, dass diese Unterscheidung auf einer anderen Ebene angesiedelt ist. Während die im oben besprochenen Sinne ontologisch umgedeuteten Modalitäten in den Essenzen der jeweiligen Dinge „enthalten“ sind, bezieht sich die hier fragliche Unterscheidung auf die tatsächliche Existenz und stellt eine besondere Anwendung des aristotelischen Notwendigkeitsbegriffes (im Zusammenhang mit physischen, also kontingenten Dingen) dar.28 Die „essentielle“ Modalität eines Dinges ist dabei der Faktor, der darüber bestimmt, unter welchen Notwendigkeitstyp (bi-ḏātihī oder bi-ġayrihī) dieses Ding fällt, wenn es existiert beziehungsweise Existenz erlangt. Aus der „essentiellen“ Interpretation der Modalitäten ergibt sich schließlich noch eine weitere Konsequenz, und zwar in Bezug auf dasjenige Seiende, das in und durch sich selbst notwendig ist. Über dieses hatte Avicenna gesagt, dass es nicht fremdverursacht sein könne, da seine Existenz andernfalls, also ohne Berücksichtigung dieser Ursache, nicht notwendig sei (reductio ad absurdum). Das „möglich Seiende“ hingegen benötigt genau diese Fremdursache, da sich andernfalls die Annahme des einen (Existenz) oder anderen (Nichtexistenz) Zustandes nicht erklären lässt. Für Avicennas Begriffe der absoluten versus bedingten Notwendigkeit bedeutet dies, dass jede Veränderung, die ein Ding erfährt, einer zusätzlichen Ursache bedarf. Umgekehrt formuliert: Sofern es so etwas wie ein in und durch sich selbst notwendig Existierendes gibt, kann dieses in Bezug auf seine Existenz keinen Veränderungen unterliegen. Genauer gesagt muss es – da es „notwendig Seiendes“ im Unterschied zum „unmöglich Seienden“ ist – immer existieren und bereits seit jeher existiert haben. Es kann nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt Existenz erlangen und diese zu einem anderen wieder verlieren. Hierfür wäre eine zusätzliche, außerhalb seiner Essenz liegende Ursache erforderlich, die diese Veränderung (jetzt Existenz, später Nichtexistenz) bewirkte. Dies aber stünde im eklatanten Widerspruch zu seinem Wesen (der bi-ḏātihī-Notwendigkeit), das ja gerade die autonome Notwendigkeit der eigenen tatsächlichen Existenz besagt. Neben der Ewigkeit leitet Avicenna in diesem sechsten Kapitel noch weitere Attribute des „notwendig Seienden“ ab, die ihm ebenfalls zwingend zukommen müssen. Hierunter
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Eine weitgespannte Diskussion der Unterscheidung von notwendig und möglich Seiendem mit den hier angedeuteten Aspekten der bi-ḏātihī- gegenüber der bi-ġayrihī-Notwendigkeit sowie der Kausalität bietet Wisnovsky, Avicenna’s Metaphysics in Context, S. 197–263. Über die absolute Notwendigkeit hinaus kennt Aristoteles eine Form „bedingter“ Notwendigkeit, die dann vorliegt, wenn ein Ding, da es ist (und so ist, wie es ist), notwendig ist (und so ist, wie es ist), siehe hierzu besonders De interpretatione 9, 19a24–27.
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fällt seine absolute Einheit und Einzigkeit,29 der zufolge das „notwendig Seiende“ weder ein Kompositum sein, noch als eines unter mehreren „notwendig Seienden“ existieren kann. Gegen die Zusammensetzung führt Avicenna an, dass jedes Kompositum eine ihm vorgängige Ursache benötigt, eben den Grund für seine Zusammensetzung. Dann aber ist seine Existenz nicht mehr absolut notwendig, da die Komposition und folglich die Existenz des Kompositums von eben dieser externen Ursache abhingen. Avicennas Argumentation gegen die Vielzahl an „notwendig Seienden“ ist erheblich unübersichtlicher, läuft aber ebenfalls darauf hinaus, dass eine solche Vielzahl eine externe Ursache voraussetzt.30 Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass sich das „notwendig Seiende“ durch seine Einheit, Einzigkeit und Ewigkeit gegenüber jedem anderen Seienden auszeichnet; alle übrigen Seienden hingegen sind zwingend „möglich Seiende“ ihrem Wesen nach (bi-ḏātihī), existieren beziehungsweise nichtexistieren aber notwendigerweise, wenngleich durch ein Anderes (bi-ġayrihī), also aufgrund einer externen Ursache.31
3. Ein „eigentümliches Akzidens“ des Seienden: Universaliät „Es ist nun an der Zeit, über das Universale und Partikuläre zu sprechen [...], die zu den eigentümlichen Akzidentien (al-aʿrāḍ al-ḫāṣṣa) der Existenz zählen“,32 so leitet Avicenna seine berühmte Diskussion der Universalienproblematik ein. Diese Thematik fällt somit, im Lichte seines Metaphysikkonzeptes betrachtet, unter die „eigentümlichen Akzidentien“ des generellen Gegenstandes. In der Forschung wird sie häufig in direktem Zusammenhang mit den soeben besprochenen Abschnitten der Ilāhīyāt (insbesondere I.5) erörtert, da sie eng an die dort eingeführte Unterscheidung von Essenz und Existenz anknüpft.33 Wie so oft nimmt Avicennas Erörterung ihren Ausgang vom Sprachgebrauch, dem zufolge, so unser Autor, vom Universalen in drei Hinsichten gesprochen werde.34 Diese ließen sich aber zusammenfassen, sodass das Universale als dasjenige beschreiben werden könne, dessen Konzept (taṣawwur) es nicht ausschließe, von Vielem ausgesagt zu werden.35 Dies, so fügt er hinzu, sei das Universale, wie es in der Logik verwendet werde.
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Zwar spricht Avicenna hier nicht ausdrücklich vom tawḥīd, der oben erwähnten islamischen Vorstellung von der absoluten Einheit (und Einzigkeit) Gottes, doch handelt es sich beim hier entwickelten Begriff des ‚notwendig Seienden‘ tatsächlich um Avicennas Gottesbegriff, siehe hierzu unten, Abschnitt 4.: Die Theologie der Ilāhīyāt in diesem Kapitel. Für Avicennas Argumentation siehe Avicenna, The Metaphysics of The Healing, I.6 (7)–(13), S. 32–34, besonders (12)– (13), S. 33.21–34.13. Siehe ferner die Ausführungen im siebten Kapitel, in dem Avicenna darlegt, dass das „notwendig Seiende“ eines sein muss (dass also beispielsweise „notwendige Existenz“ kein Akzidens ist, das dem entsprechenden Ding gleichsam äußerlich zukommt). Das achte Kapitel des ersten Buches ist den Begriffen der Wahrheit (al-ḥaqq) und Richtigkeit (aṣ-ṣidq) gewidmet und bildet damit das logische Gegenstück zu den metaphysischen Prinzipien. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, V.1 (1), S. 148.6–7. In aller Regel konzentriert sich die Forschung auf die Kapitel 1 und 2 des fünften Buches; exemplarisch siehe Libera, L’Art des généralités. Théories de l’abstraction; zuvor bereits ders., La querelle des universaux. De Platon à la fin du Moyen Age, besonders S. 177–206; siehe auch Marmura, Quiddity and Universality in Avicenna. Inna al-kullī qad yuqālu ʿalā wuǧūh ṯalāṯa; Avicenna, The Metaphysics of The Healing, V.1 (2), S. 148.8. Diese drei Hinsichten haben in der Forschung großes Interesse auf sich gezogen, insbesondere die Beispiele, die Avicenna zu ihrer Erläuterung anführt. Zu diesen Beispielen, ihren (historischen) Hintergründen und Vorläufern sowie Interpretationsvorschlägen ihre Auswahl betreffend, siehe beispielsweise Black, Avicenna on the Ontological and Epistemic Status of Fictional Beings; Druart, Shayʾ or Res as Concomitant of Being, S. 136–138; de Libera, L’art des généralités, S. 509– 514. Hāḏā al-kullī huwa allaḏī lā yamnaʿu nafs taṣawwurihī ʿan an yuqāla ʿalā kaṯīrīn, Avicenna, The Metaphysics of The Healing, V.1 (3), S. 149.3–4.
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Dieser Zusatz ist wichtig, denn er macht deutlich, dass das Universale in dieser Weise betrachtet gar kein Untersuchungsgegenstand der Metaphysik ist. Das Universale in diesem Sinne ist sorgfältig zu unterscheiden vom metaphysischen Universalen. Dieses aber ist die reine Essenz eines Dinges, wie Avicennas berühmtes Beispiel der Pferdheit zeigt. So betont er, dass die Definition von Pferdheit eine andere ist als die von Universalität und die Definition von Universalität nicht in der Definition von Pferdheit enthalten ist. Universalität kommt der Pferdheit vielmehr akzidentell zu, diese selbst indes ist reine Pferdheit (farasīya faqaṭ).36 Damit wie auch im Weiteren unterstreicht Avicenna nachdrücklich, dass alle zusätzlichen Bestimmungen wie Universalität–Partikularität, Einzahl–Vielzahl, aber auch intramentale–extramentale Existenz nicht in der Definition von Pferdheit enthalten sind und der reinen Pferdheit bloß akzidentell zukommen.37 Wenn die Metaphysik Universalien thematisiert, untersucht sie somit solche Konzepte (taṣawwurāt), die von Universalnamen bezeichnet, aber unter Absehung ihrer spezifischen Akzidentien studiert werden. Was bedeutet dies nun für die Existenzweise dieser reinen Konzepte?38 Was den Begriff des Tieres betrifft, so zeigen Avicennas Überlegungen, bezeichnet dieser üblicherweise ein Tier und somit ein Ding (šayʾ), nicht aber reine Tierheit. Vielmehr ist die Tierheit gleichsam integraler Bestandteil, aber eben nur ein Teil dieses Dinges.39 Vor dem Hintergrund seiner Erörterung von Existenz, Essenz und Ding im fünften Kapitel des ersten Buches lässt sich diese Erklärung folgendermaßen reformulieren: Jedes Ding, wie wir sahen, hat eine Essenz und existiert („affirmative Existenz“). Das metaphysische Universale entspricht der reinen Washeit, also der Essenz des fraglichen Dinges. Tiere aber, wie sie in der extramentalen Wirklichkeit vorkommen, besitzen über ihre reine Essenz hinaus eine Vielzahl weiterer Attribute; nicht nur kommt ihnen „affirmative Existenz“ zu, sondern – in Abhängigkeit hiervon – ihre besondere Existenz als einzelne, raumzeitliche, wild oder domestiziert lebende Dinge.40 In diesem Sinne ist die reine Essenz als ein (formaler, nicht realer) Teil des Ganzen zu begreifen, das nur als Kompositum („affirmativ“) existiert. Und trotzdem, beharrt Avicenna, lässt sich „Tier“ im Hinblick auf sein Wesen betrachten (al-iʿtibār bi-ḏātihī ǧāʾiz), denn obwohl es mit etwas anderem zusammen existiere, sei seine Essenz immer noch seine Essenz. „Tier“ aber sei „in dieser [Art der] Existenz [bihāḏā al-wuǧūd] weder Gattung noch Art, weder individuell, noch eines, noch vieles; vielmehr [sei es] in dieser [Art der] Existenz [bi-hāḏā al-wuǧūd] reines Tier [ḥayawān faqaṭ]“.41 Gibt es also über die extra- und intramentalen Existenzweisen hinaus eine dritte, die der reinen Essenzen? Am deutlichsten zeigt sich Avicennas Auffassung zu dieser Problematik in seiner Auseinandersetzung mit philosophischen Gegenpositionen und namentlich mit
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An dieser Stelle führt Avicenna zum ersten Mal in den Ilāhīyāt den Begriff der „reinen Pferdheit“ ein, der insbesondere in der lateinischen Rezeption (equinitas tantum) eine zentrale Rolle spielen und in die Diskussionen um das esse essentiae münden sollte, siehe hierzu beispielsweise de Libera, L’Art des généralités. Théories de l’abstraction, S. 577–580. Je nachdem welche Attribute diesen „reinen Wesenheiten“ hinzugefügt werden, wechseln diese dann natürlich auch ihren systematischen Ort, werden also – im gerade angeführten Beispiel – zum Gegenstand der Physik; oder – wenn der Pferdheit zugeschrieben wird, per definitionem einer Vielzahl an Dingen zu korrespondieren, der Pferdheit also Allgemeinheit zugesprochen wird – zum Gegenstand der Logik. Zu dieser Problematik siehe besonders Rashed, Ibn ʿAdī et Avicenne: sur les types d’existants, S. 142–159. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, V.1 (17), S. 153. Ähnlich kämen ihnen im Falle intramentaler Existenz verschiedene hiervon abhängige Attribute zu wie Universalität oder Partikularität, Zugehörigkeit zu bestimmten zoologischen Gattungen und dergleichen mehr. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, V.1 (18), S. 153.10–11.
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der platonischen Ideenlehre.42 In diesem Zusammenhang spricht er sich entschieden gegen die („affirmative“) Existenz von separaten Ideen aus, um auf dieser Grundlage zu untermauern, dass reine Essenzen (also das Tier sofern es Tier ist) nicht getrennt, das heißt ohne weitere Akzidentien existieren können.43 Völlig abstrahiert existiert Tierheit nur im Denken (hierzu gleich mehr), denn obzwar „Tier“ auch in der extramentalen Wirklichkeit existiert, ist es dort stets von Akzidentien umgeben.44 In einem ersten Schritt wiederholt diese Erklärung lediglich, was Avicenna bereits über die extramentale Existenzweise gesagt hatte: Dinge sind, und Dinge sind, was sie sind, stellen also ontologisch gesehen Komposita aus Essenz und Existenz dar. In einem zweiten Schritt aber offenbart die Erklärung, dass die intramentalen Verhältnisse komplizierter sind. Wenn nämlich Avicenna behauptet, dass völlig abstrahierte Dinge, also reine Essenzen, nur im Denken existieren, bleibt bei dieser Auskunft ein wesentlicher Aspekt inexplizit. Im strikten Sinne von „existieren“ nämlich sind die Essenzen auch im Denken, also in ihrer intramentalen Existenzweise von Akzidentien „umgeben“ – eines davon wäre unter einem metaphysischen Blickwinkel ja gerade ihre intramentale Existenz. Wenn Avicenna also davon spricht, dass reine Essenzen nur intramental „existieren“, heißt dies vor dem Hintergrund unserer bisherigen Untersuchungen, dass sie als solche nur Gegenstand des Denkens sein können. Umgekehrt formuliert: Aufgrund einer bestimmten Operation des Denkens – Dinge nur in ihrer Dingheit und losgelöst von allen weiteren Bestimmungen zu betrachten – werden reine Essenzen „hervorgebracht“. Diese Operation besteht aber lediglich in einer bestimmten Betrachtungsweise;45 ontologisch gesehen sind und bleiben die Essenzen (zum Beispiel „Tier“) Dinge, also Komposita aus Essenz (hier Tierheit) und Existenz (in diesem Fall zwingend der intramentalen). Dieser Unterschied zwischen Betrachtungsweise und ontologischem Status in Bezug auf ein und dasselbe Konzept (taṣawwur) lässt sich wohl am besten als die Differenz zwischen der inhaltlichen Ebene eines Begriffes (hier „Tier“) und seiner ontologischen Dimension (dem mentalen Akt, durch den das gedachte Ding intramentale Existenz gewinnt) beschreiben.46 Den finalen Schritt bei der Verhältnisbestimmung von extramentaler Wirklichkeit und ihren intramentalen Gegenstücken setzt Avicenna schließlich im letzten Abschnitt des
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Zu den (historischen) Positionen, die Avicenna hierbei wahrscheinlich vor Augen hatte, Rashed, Ibn ʿAdī et Avicenne: sur les types d’existants, S. 116–142. Wie Avicenna in Anlehnung an den aristotelischen Hylemorphismus und in Übereinstimmung mit den eben angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Essenzen und der extramentalen Wirklichkeit unmissverständlich zu verstehen gibt, existiert die Essenz „Tierheit“ nicht autonom in einem wie auch immer zu interpretierenden „Reich der Ideen“, sondern aktuell in jedem individuellen Tier (als dessen Form): „Die Tatsache, dass das Tier, das individuell existiert, ein bestimmtes Tier ist, hindert das Tier insofern es Tier ist [i.e. die Essenz] [...] nicht daran, in ihm zu existieren. [...]. Folglich existiert das ‚Tier‘, das Teil eines bestimmten Tieres ist [...].“ Avicenna, The Metaphysics of The Healing, V.1 (20), S. 153.32–34. „[...] Tier jedoch, ohne dass etwas anderes vorausgesetzt wird (bi-sharṭ lā šayʾ aḫar), existiert nur im Denken [...]. Vielmehr existiert [das Ding] selbst, ohne weitere [hiervon abhängige] Bestimmungen betrachtet, in der Wirklichkeit, allerdings äußerlich umschlossen von Bestimmungen und Dispositionen.“ Avicenna, The Metaphysics of The Healing, V,1 (26–27), S. 155.14–19. Rashed, Ibn ʿAdī et Avicenne: sur les types d’existants, S. 156 prägt in diesem Zusammenhang (am Beispiel der Diskussion um das Konzept des Unendlichen) den Begriff der „existence [...] épistémique”, der – angewandt auf die reinen Essenzen – griffig deren besonderen noetischen Charakter zum Ausdruck zu bringen vermag. Die Existenzweise der reinen Essenzen war wiederholt Gegenstand philosophischer Spekulationen (siehe hierzu insbesondere die beiden oben in Anm. 33 dieses Beitrags zitierten monumentalen Studien Alain de Liberas sowie Rashed, Ibn ʿAdī et Avicenne: sur les types d’existants). Eine hervorragende Diskussion dieser Problematik bietet außerdem Porro, Universaux et esse essentiae. Avicenne, Henri de Gand et le «Troisième Reich». Porro arbeitet nicht nur sorgfältig das délicat équilibre conceptuel Avicennas heraus, mit dem dieser zwischen der Betrachtungsweise (reine Essenzen) und der Existenzweise (nie als reine Essenzen) unterscheidet, sondern liefert auch eine differenzierte Analyse der Rezeption dieses Lehrstückes im lateinischen Westen, namentlich bei Heinrich von Gent.
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ersten Kapitels. Bezüglich der extramentalen Dinge ruft er nochmals in Erinnerung, dass unter dem Ausdruck „Tier“ üblicherweise das physische Ding verstanden werde. Was dabei als wesentlich erfasst werde (al-maʾḫūḏ bi-ḏātihī), sei genau seine Natur (Essenz). Wie nun das Tier in der extramentalen Wirklichkeit zusätzliche Bestimmungen besitzt, so auch im Denken. Zum einen existiert es dort als mentaler Akt, zum anderen aber als ein Begriff, insofern dieser als eine (gemeinsame) Definition einer Vielzahl an Individuen in der extramentalen Wirklichkeit korrespondiert. „In dieser Hinsicht“, so Avicenna, „ist es ein Universales, also ein Konzept (maʿnā) im Denken, das sich unterschiedslos auf jedes beliebige Tier bezieht.“47 Obwohl dieses Konzept somit ein einzelner der vielen Begriffe im Denken sei und idiosynkratisch in Bezug auf die Vielzahl individueller Denker, sei es doch universal im Verhältnis zu den Einzeldingen, die unter diesen Begriff fielen.48 Mit dieser Auffassung gilt Avicenna in der heutigen Forschung in aller Regel als Vertreter der so genannten Indifferenzthese, der zufolge das Universale mit Blick auf seine inhaltliche Ebene allgemein und eines ist und sich auf eine Vielzahl an Individuen bezieht, mit Blick auf seinen Status als mentaler Akt aber partikulär und eine Vielzahl, entsprechend der Anzahl derer, die es denken.49
4. Die Theologie der Ilāhīyāt 4.1 Die göttlichen Attribute: das notwendig Seiende und sein Wissen „Das erste, was wir [an dieser Stelle unseres Buches angelangt] [...] tun müssen, ist zu zeigen, dass die Ursachen in allen Hinsichten endlich sind, dass jede Ursachenart ein erstes Prinzip besitzt und dass dies ein einziges Prinzip für alle ist; ferner, dass sich dieses von allen Seienden unterscheidet, als einziges notwendig in Hinblick auf seine Existenz ist und jedes [andere] Seiende in ihm den Ausgangspunkt seiner Existenz hat.“50
Mit diesen Worten stellt Avicenna das Programm vor, das er im achten Buch der Ilāhīyāt verfolgen wird. Der erste Schritt besteht dabei aus einem Existenzbeweis des ersten Prinzips und dem Aufweis seiner Einheit und Einzigheit.51 Voraussetzungen für den Existenzbeweis in den Kapiteln 1 bis 3 des achten Buches sind der Begriff des notwendig Seienden (und die im ersten Buch vorgenommenen Begriffsklärungen) sowie Avicennas Kausalitätstheorie. Von besonderer Bedeutung ist hierbei seine Überzeugung, dass die Ursache
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Avicenna, The Metaphysics of The Healing, V.1 (28), S. 156.23–24. Zum Prozess der Abstraktion siehe Kapitel 9, Psychologie und Ethik bei Avicenna. Entwicklungsgeschichtliche Aspekte in diesem Buch. Die letzten Ausführungen in Avicenna V.1 (29), S. 157. Zur Indifferenzthese siehe vor allem de Libera, L’art des généralités. Théories de l’abstraction, S. 505–543, hier besonders S. 515–527. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.1 (2), S. 257.10–12. Avicennas Formulierung dieser Besonderheit ist „lā šarīka lahū“ („es [sc. das erste Prinzip] besitzt keinen Partner/ Begleiter“, Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.1 (1), S. 257.7), eine Formulierung, die auf einen religiösen Kontext anspielt: širk (das Verbalnomen der Wurzel š-r-k) ist der terminus technicus für Polytheismus. Nach islamischer Auffassung grenzen selbst „innergöttliche“ Distinktionen wie die trinitarischen Spekulationen des Christentums an Polytheismus. Dies spiegelt sich z. B. im Konzept des tawḥīd wider, das neben der Einzigkeit die absolute (immanente) Einheit Gottes betont. Allgemein hierzu siehe Gimaret, Shirk.
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für die Existenz eines Dinges (Wirkursache) mit diesem Ding koexistiert.52 Unter dieser Prämisse wendet Avicenna das bereits aus dem kalām bekannte Argument der Unmöglichkeit einer infiniten Kette von Ursachen an: „Wenn wir eine Wirkung annehmen und für diese eine Ursache und für diese Ursache eine weitere Ursache, so ist es unmöglich, dass jeder Ursache eine andere Ursache ad infinitum vorausgeht.“53 Vielmehr müsse es zwingend einen Startpunkt dieser Kausalkette geben, und zwar eine einzige Ursache – nicht etwa eine Mehrzahl einander gegenseitig verursachender Ursachen.54 Unter Anwendung der Koexistenz-Prämisse kann Avicenna somit logisch korrekt schließen, dass angesichts der Existenz der physischen Wirklichkeit, die ja in sich nur möglich ist, nicht nur eine ursprüngliche Wirkursache anzunehmen, sondern auch von deren fortwährender Existenz auszugehen ist. Damit hat er sowohl die Existenz einer ersten Ursache als auch ihre Singularität und inhärente Notwendigkeit bewiesen.55 Auf dieser Grundlage kann er sich nun den Attributen des ersten Prinzips zuwenden. Hier betont Avicenna, dass diese Attribute notwendige Begleiter der Essenz des ersten Prinzips und durch diese verursacht sind. Sie folgten somit der Existenz seiner Essenz nach und trügen weder zu ihrer Subsistenz bei, noch seien sie Teile von ihr. Wie gezeigt sei diese vielmehr absolut eine, und zwar, wie Avicenna nun hinzufügt, in dem Sinne, dass die Essenz (māhīya) des ersten Prinzips identisch mit seiner Existenz (innīya) ist.56 Andernfalls wäre auch das erste Prinzip als ein (metaphysisches) Kompositum aus Essenz und Existenz zu begreifen, ganz in der Weise, in der Dingen eine bestimmte Essenz (zum Beispiel „Mensch“) sowie eine bestimmte Existenzweise (etwa bedingt notwendige extramentale Existenz) zugesprochen werde. Damit macht Avicenna auf einen Kardinalunterschied zwischen beliebigem Seiendem und dem einzigartigen notwendig Seienden aufmerksam: Während Dinge, wie wir sahen, unter metaphysischem Blickwinkel Komposita aus Essenz und Existenz sind, denen in dieser Betrachtungsweise Existenz akzidentell zugesprochen werden kann, verhält sich dies beim notwendig Seienden anders: Bei ihm sind Essenz und Existenz auch in metaphysischer Hinsicht identisch. Beide Begriffe erweisen sich im Falle des notwendig Seienden also als intensional deckungsgleich – im markanten Unterschied zum übrigen Seienden. Zwar sind auch beim übrigen Seienden Essenz und Existenz aufs engste, nämlich komplementär miteinander verbunden (mutalāzimān), doch stehen sie hier für zwei verschiedene, begrifflich klar trennbare Kon-
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Avicenna selbst weist zu Beginn von Kapitel 1, Buch VIII auf diese Auffassung hin (Avicenna, The Metaphysics of The Healing, S. 257.13); entwickelt hat er diese Position im zweiten Kapitel des sechsten Buches. Verschiedene Aspekte der Kausalitätstheorie Avicennas behandeln beispielsweise: Bertolacci, The Doctrine of Material and Formal Causality in the Ilāhiyyāt of Avicenna’s Kitāb al-Šifāʾ; Wisnovsky, Towards a History of Avicenna’s Distinction Between Immanent and Transcendent Causes. Ders., Final and Efficient Causality in Avicenna’s Cosmology and Theology. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.1 (4), S. 258.1–2. – Zum kalām-Argument siehe beispielsweise Craig, The Kalām Cosmological Argument, der eine rege Debatte über diese Thematik entfacht hat. Die Argumentation für diese Einzigheit in Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.1 (4)–(6), S. 258–259. Avicenna entwickelt ähnliche Beweise mit Bezug auf die Material-, Form- und Finalursache und weist auf, dass diese letztlich einem einzigen Prinzip entspringen, eben dem notwendig Seienden. Siehe hierzu den Rest des ersten Kapitels sowie das dritte Kapitel (das zweite ist einer Diskussion möglicher Einwände gewidmet). Die genaue Rekonstruktion des Gottesbeweises in den Ilāhīyāt und sein Verhältnis zu den Gottesbeweisen in den übrigen Schriften Avicennas ist Gegenstand lebhafter Forschungskontroversen, siehe beispielsweise Davidson, Proofs for Eternity, Creation, and the Existence of God in Medieval Islamic and Jewish Philosophy, zu Avicenna S. 281–310; Bertolacci, Avicenna and Averroes on the Proof of God’s Existence and the Subject Matter of Metaphiysics, besonders S. 78–84, mit einem prägnanten Überblick über die verschiedenen Positionen in der Forschung in den Anmerkungen 37 bis 39 (S. 78–79). Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.4 (1)–(3), S. 273–274; mit der Transliteration „innīya“ (statt der Alternative annīya, siehe oben Anm. 16 in diesem Beitrag) folge ich der Hamzasetzung des gedruckten arabischen Textes, S. 274.4.
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zepte, das „Dass“ sowie das „Was“ eines Dinges. Das notwendig Seiende hingegen ist seine notwendige Existenz.57 Auf diesen Vorüberlegungen fußen Avicennas Ausführungen zu den göttlichen Attributen Überperfektion (fawqa al-tāmm), Güte (al-ḫayr), Geber [von Existenz] (mufīd kull šayʾ baʿdahū), Wahrheit (al-ḥaqq) sowie reiner Intellekt (al-ʿaql al-maḥḍ), der alle Dinge denkt (yaʿqilu kull šayʾ).58 Besonderes Forscherinteresse hat dabei seine Position bezüglich des letztgenannten Punktes auf sich gezogen, der die Frage nach dem göttlichen Wissen einschließt. Das notwendig Seiende, ruft Avicenna ins Gedächtnis, ist frei von Materie und folglich gleichermaßen Intellekt und intelligibel.59 Aufgrund dieser Besonderheit ist das notwendig Seiende Denkobjekt seiner selbst und somit zugleich Intellekt (ʿaql), Denkendes (ʿāqil) und Gedachtes (maʿqūl) und erinnert somit in seiner „Binnenstruktur“ an den ersten Intellekt aus Aristoteles’ Metaphysik Λ (XII).60 Für das Denken und folglich das Wissen des notwendig Seienden bedeutet dies in erster Linie, dass es jederzeit aktuell seine eigene Essenz denkt beziehungsweise kennt. Damit scheint sich Avicenna indes in ein Dilemma zu verstricken: Hält er am Postulat fest, dass das notwendig Seiende im oben besprochenen Sinne eines (wāḥid) und notwendig (im Sinne von bi-ḏātihī) ist, also weder Komplexität aufweist noch in seiner Existenz von externen Dingen abhängt, stellt sich im ersten Fall (Einheit) die Frage, inwieweit es überhaupt etwas anderes als seine eigene Essenz, also Dinge jenseits seines Wesens denken kann, würde dies doch eine Pluralität an Denkobjekten implizieren. Der zweite Fall (Notwendigkeit) hingegen mündet in das Problem, dass die Aktualität und somit die Existenz des notwendig Seienden als Intellekt von der Existenz der von ihm gedachten externen Dinge abhingen und es sich somit als ein bedingt notwendig Seiendes (bi-ġayrihī) erwiese. In beiden Fällen scheint der einzige Ausweg, einen Selbstwiderspruch zu vermeiden, darin zu bestehen, jede Beziehung zwischen dem notwendig Seienden und den übrigen Dingen zu negieren. Dies aber widerspräche früher gewonnenen Einsichten über das notwendig Seiende, wie zum Beispiel der Erkenntnis, dass es zwingend die Erstursache aller übrigen Dinge sein muss. Wie Avicennas weitere Ausführungen erkennen lassen, ist er sich dieser Problematik wohlbewusst, einer Problematik, die zum Teil ja schon der philosophischen Tradition, in
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Avicenna bringt dies unmissverständlich auf den Punkt, etwa in Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.4 (9), S. 276.1–2: „Das notwendig Seiende hat nur eine Essenz: die notwendige Existenz; und diese ist die Dassheit (fa-lā māhīya li-wāǧib al-wuǧūd ġayr annahū wāǧib al-wuǧūd; wa-hāḏihī hiya al-innīya). Siehe hierzu Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.6; die Liste ebd. S. 283.3–4. Avicennas Argumentation zufolge besitzt jede Essenz, die frei von Materie und materiellen Zusätzen ist, „formale Existenz“ (al-wuǧūd al-ṣūrī), existiert also als Form und somit in einem Modus, der sie intellektuell (be-)greifbar macht, vgl. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.6 (6), S. 284–285. Siehe Aristoteles, Metaphysik XII.7, 1072b 18–23, und 9, 1074b 15–35. Der Begriff „Binnenstruktur“ wird hier natürlich nur im uneigentlichen Sinne verwendet, da – wie Avicenna selbst betont – Gedanke, Denken und Gedachtes im notwendig Seienden ein und dasselbe sind (lā anna hunāka ašyāʾ mutakaṯṯira). Dies lässt eine Inspiration durch die plotinische Noetik klar erkennen, vgl. hierzu besonders Plotin, Enneade V.3, Kap. 5, mit den Kommentaren von Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V.3. Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterung, S. 108–113 sowie 195–199; Avicennas Erläuterungen in Avicenna, The Metaphysics of The Healing,VIII.6 (7–8), S. 285, das Zitat Z. 6–7. Im darauf folgenden Abschnitt führt er den Beweis, dass im Falle von Erkenntnis – anders als bei Bewegung, bei der in der aristotelischen Tradition Beweger und Bewegtes immer verschieden sein müssen – dasjenige, das erkennt, tatsächlich identisch sein kann mit demjenigen, das erkannt wird (ebd. [9–11], S. 185– 286). Diese Überlegungen hatte er bereits ausführlicher im Rahmen seiner Intellektlehre (Psychologie) angestellt, siehe hierzu das folgende Kapitel in diesem Band.
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der er sich bewegt, innewohnt.61 Um dem skizzierten Dilemma zu entgehen, lässt er sich einmal mehr von seinem neuplatonischen Erbe inspirieren. Das notwendig Seiende, das ja wie gesehen reiner Intellekt ist, denkt nämlich in einer besonderen Weise: Es erfasst die Dinge nicht von den Dingen her.62 Da es deren Prinzip ist, denkt es die Dinge vielmehr von seiner eigenen Essenz her als etwas, dessen Prinzip es ist. Sein Denken richtet sich dabei zunächst auf die Arten (anwāʿ) und dann mittels dieser auf die Individuen.63 Im Lichte der hierauf folgenden Erläuterungen, inwiefern es unmöglich sei, dass das notwendig Seiende die Dinge von den Dingen her denke,64 wird vollends deutlich, worauf Avicenna abzielt: Er kehrt resolut die Denkrichtung um. Denken und Erkennen im Falle des notwendig Seienden lassen sich demnach nicht wie etwa beim Menschen als ein „Rezipieren“ oder das Verstehen eines Vorgegebenen beschreiben; vielmehr besteht das Denken des notwendig Seienden in dessen kreativem Hervorbringen des Gedachten. Auf diese Weise hat Avicenna zugleich die Notwendigkeits- wie die Einheitsproblematik gelöst. Die essentielle Notwendigkeit des notwendig Seienden bleibt gewahrt, da sein Wissen nicht von den externen Dingen abhängt, sondern umgekehrt diese überhaupt erst hervorbringt. Dass es sich hierbei aber nicht um einen komplexen, also eine Vielzahl an Denkakten implizierenden Vorgang handelt, glaubt Avicenna durch die Erklärung sichergestellt zu haben, das notwendig Seiende denke nur sich selbst, seine eigene Essenz. Denn wie Avicenna erläutert, gehört es zum Wesen des notwendig Seienden, das Prinzip aller Dinge zu sein. Insofern es sich selbst denkt, reflektiert es also zugleich alles, dessen Prinzip es ist.65 Insbesondere dieser zuletzt genannte Prozess, der Denkvorgang des notwendig Seienden, hat rege Diskussionen in der Forschung provoziert. Zwar sind die Bewegung des Denkvorgangs vom Wesen des notwendig Seienden zu den Einzeldingen sowie das Problem, das Avicenna mit dieser Theorie zu lösen sucht, leicht nachvollziehbar; doch stellt sich nun die Frage, was das notwendig Seiende denn tatsächlich denkt, was man sich also als den Inhalt dieses Aktes vorzustellen habe, oder, schärfer zugespitzt, was das notwendig Seiende eigentlich von den Einzeldingen weiß. Im weiteren Verlauf des hier relevanten Kapitels finden sich einige, wenn auch relativ allgemeine, Hinweise darauf, wie Avicenna die Erkenntnis des notwendig Seienden konzipierte. So weist er unter anderem darauf hin, dass Dinge, die der Veränderung unterliegen, von ihren raumzeitlichen Be61
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Ein plastisches Beispiel für das Ringen darum, die Wirklichkeit aus einem Prinzip heraus zu erklären und zugleich sicherzustellen, dass dieses völlig einfach und einzig ist, stellt die Metaphysik des Neuplatonismus dar. So waren etwa Denker wie Plotin oder Proklos der Auffassung, dass diese Erstursache (oder das Eine) dem ersten Intellekt (dem nous aus Aristoteles’ Metaphysik Λ) noch vorausgehen müsse, da die „Binnenstruktur“ dieses letzteren eben keine absolute Einfachkeit widerspiegele. Eine gute Einführung zu den verschiedenen metaphysischen Postulaten, die neuplatonische Denker zu vereinbaren suchten, sowie zentralen Lehrstücken einiger Hauptvertreter bietet Remes, Neoplatonism, zur hier relevanten Problemlage vor allem S. 35–75. Wa-laysa yaǧūzu an yakūna wāǧib al-wuǧūd yaʿqilu al-ašyāʾ min al-ašyāʾ, Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.6 (13), S. 287.3. Würde das notwendig Seiende die Dinge von den Dingen her denken, ergäben sich genau die genannten Schwierigkeiten, dass es entweder seine Existenz diesen Dingen verdanke oder nur akzidentell denke und somit ein Kompositum sei, ebd. (13), S. 287. Bei den Dingen, deren Prinzip das notwendig Seiende ist, unterscheidet Avicenna zwischen den „vollkommenen Seienden“ (al-mawǧūdāt at-tāmma) und den „Werden und Vergehen unterworfenen Seienden“ (al-mawǧūdāt alkāʾina wa-l-fāsida) – eine Anspielung auf die supralunaren separaten Substanzen (siehe hierzu den Abschnitt 4.2: Avicennas Kosmologie des vorliegenden Kapitels) gegenüber den sublunaren, der Veränderung unterliegenden Dingen. Die hier relevante Passage ist Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.6 (13), S. 287.7–9. Siehe hierzu die Paragraphen (14–15), S. 287–288. Siehe in diesem Zusammenhang auch seine Erläuterungen in Paragraph (16), S. 288.5–6: „Was das ‚Wie‘ dieses [Vorgangs] betrifft, so erkennt [das notwendig Seiende], wenn es sein Wesen denkt, dass es [selbst] das Prinzip alles Seienden ist, und begreift die aus ihm hervorgehenden Prinzipien der Seienden wie auch das, was diese hervorbringen“.
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stimmungen wie Materie, Zeit, individuellen Charakteristika entkleidet erfasst werden.66 „Vielmehr denkt das notwendig Seiende alle Dinge auf eine universelle Weise (ʿalā naḥw kullī)“, unterstreicht Avicenna.67 Und dennoch, so glaubt er, entgehe nicht ein einziges Ding seiner Kenntnis.68 Wie diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Aussagen zusammenpassen sollen, erklärt unser Autor im nächsten Abschnitt. Wenn das notwendig Seiende sich selbst denkt und dabei sich als das Prinzip aller Dinge begreift, denkt es zugleich – gemeint ist wohl: implizit – die Prinzipien der Seienden, die aus ihm hervorgehen, und das, was diese hervorbringen.69 Nichts in den Reihen der Seienden, so fügt er hinzu, sei nicht in irgendeiner Weise durch es hervorgebracht, wie er ja mit Blick auf die Existenz einer ersten Ursache gezeigt habe. Das Zusammentreffen dieser verschiedenen, letztlich auf das notwendig Seiende zurückführbaren Ursachen begründe die Existenz der Einzeldinge. „Das erste [Prinzip] kennt die Ursachen und ihre Korrelationen und weiß somit notwendigerweise, was zu ihnen führt, welche zeitlichen Abstände zwischen ihnen liegen und wann sie wieder auftreten.“70 In diesem Sinne will Avicenna die universelle Erkenntnis der Einzeldinge durch das notwendig Seiende verstanden wissen. Es kennt ihm zufolge zwingend alle Prinzipien (die ja in seiner eigenen Essenz impliziert sind), auch die „Zeitformel“ (wohlgemerkt: nicht die individuellen Zeitpunkte), mittels derer sich das (wiederholte) Auftreten dieser intermediären Prinzipien ermitteln lässt, und verfügt ferner über ein Wissen von den Attributarten, die – allerdings in individualisierter Form – die Merkmale der Einzeldinge ausmachen. Was es jedoch nicht kennt, sind die einzelnen Dinge selbst in ihrer jeweiligen Individualität. Doch, so muss man fragen, warum sollte es auch? Zur Diskussion steht im vorliegenden Kapitel der Ilāhīyāt das Wissen des notwendig Seienden. „Wissen“ in der aristotelischen Tradition aber bedeutet die Kenntnis der Ursachen und bezieht sich strikt auf das Allgemeine. Und genau diese Art des Wissens reklamiert Avicenna für das notwendig Seiende und nicht etwa „Wahrnehmung“ (durch die äußeren Sinne) oder „Vorstellung“ (durch die inneren Sinne).71 Unabhängig davon, ob man diese Lösung aus moderner Sicht als befriedigend erachtet oder nicht, im Rahmen der avicennischen Philosophie besitzt sie große Plausibilität. Allerdings tut sich an dieser Stelle ein weiteres Problem auf, das sich durch Avicennas Verknüpfung von Denken (und Wissen) des notwendig Seienden und Verursachen der übrigen Dinge ergibt. Wie seine Ausführungen erkennen ließen, verursacht das Denken des notwendig Seienden die Existenz beziehungsweise das Werden der intermediären Prinzipien und schließlich der Dinge selbst. Neben der Frage, wie dieses „Entstehen“ näherhin
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Andernfalls würden sie nicht intellektuell begriffen, sondern sinnlich wahrgenommen oder imaginativ vorgestellt werden. In diesem Zusammenhang verweist Avicenna auf seine Seelenlehre, in der er die Unterscheidung zwischen äußeren Sinnen, inneren Sinnen und Intellekt eingeführt hatte; zu diesen Lehrstücken siehe das folgende Kapitel in diesem Band. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.6 (15), S. 288.2. Avicenna formuliert diesen Nachsatz in klarer Anlehnung an den Koran (10:61), dem zufolge nicht einmal das Gewicht eines einzigen Atoms, sei es im Himmel oder auf der Erde, Gott entgehe. Siehe hierzu das Zitat oben in Anm. 65 dieses Beitrags. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.6 (16), S. 288.8–9. Obwohl Avicennas Ausführungen mit Blick auf ein aristotelisches Wissenschaftsverständnis zufriedenstellend sein mögen, lassen sie verschiedenen Forschungsmeinungen zufolge insbesondere angesichts seines kulturellen Umfeldes unangenehme Lücken. So bleibe beispielsweise offen, wie sich mit den gerade besprochenen Erläuterungen Avicennas vorherige Beteuerung vereinbaren lässt, dem notwendig Seienden (also Gott) entgehe nicht einmal das Gewicht eines Atoms (siehe oben Anm. 68 in diesem Beitrag). Von den zahlreichen Forschungsbeiträgen seien exemplarisch erwähnt: Marmura, Some Aspects of Avicenna’s Theory of God’s Knowledge of Particulars; Zghal, La connaissance des singuliers chez Avicenne; Adamson, On Knowledge of Particulars.
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zu interpretieren ist, stellt sich somit die Schwierigkeit, ob dieser Zusammenhang zur Folge hat, dass alle kontingenten Dinge und Ereignisse aufgrund der perfekten Prinzipienkenntnis des notwendig Seienden vollständig prädeterminiert sind. Diese Fragen leiten über zum neunten Buch der Ilāhīyāt, in dem Avicenna näher auf den Vorgang des Entstehens eingeht. 4.2 Avicennas Kosmologie
Wie sich im vorausgehenden Abschnitt zeigte, sind im Fall des notwendig Seienden Erkennen und Hervorbringen zwei Seiten ein und derselben Medaille. Der Denkakt, dessen Gegenstand eine intelligible Form bildet, ist zugleich der Akt, der die korrespondierende existentielle Form (ṣūrat al-mawǧūdāt) bewirkt.72 Mit seiner Vorstellung davon, wie die physische Wirklichkeit aus dem notwendig Seienden hervorging, steht Avicenna neuplatonischen Theorien besonders nahe: Die strukturelle Verwandtschaft mit der Emanationslehre ist unverkennbar. Wie im ersten Abschnitt des vorliegenden Kapitels erwähnt wurde, gehörten die Neuplatoniana zu den ersten philosophischen Texten der griechischen Antike, die ins Arabische übersetzt wurden. Auch die schrittweise Integration der aristotelischen Metaphysik, beginnend mit den Büchern α (II) und Λ (XII) trug maßgeblich dazu bei, das bereits spätantike Projekt einer Harmonisierung des Aristoteles mit Platon (und darüber hinaus der platonischen Tradition) fortzuschreiben. Das beste Vorbild hierfür im arabischsprachigen Raum dürfte Avicenna in al-Fārābī gefunden haben, der ja auch in anderen Bereichen einen erheblichen Einfluss auf ihn ausübte. Gerade in der Kosmologie ist die Nähe der Entwürfe beider Philosophen besonders offensichtlich.73 Der Prozess des Werdens nimmt seinen Ausgang vom notwendig Seienden, das die Erstursache alles Seienden ist.74 Da dieses jedoch vollständig eines und einfach ist, kann aus seinem Denkakt keine Vielzahl an Objekten hervortreten. Es ist somit auszuschließen, dass die vielfältige Wirklichkeit das immediate Resultat der intellektuellen Tätigkeit des notwendig Seienden ist. Um die postulierte Einfachheit zu gewährleisten, muss Avicenna vielmehr Zwischenschritte annehmen: Demnach kann das Erste, das durch das Denken des notwendig Seienden Existenz gewinnt, ebenfalls nur ein einzelnes sein, laut Avicenna der erste separate Intellekt, der genau wie seine Ursache keinerlei materielle Beimischung aufweist. Auch dieser Intellekt bringt die sublunare Wirklichkeit nicht direkt hervor, vielmehr nimmt Avicenna wie schon sein Vorgänger al-Fārābī eine ganze Reihe von supralunaren Entitäten an, die in Existenz treten, noch bevor die sublunare Wirklichkeit, die Erde und ihre direkte Umgebung (Atmosphäre), entsteht. Verursacht werden dabei die jeweils folgenden „Etappen“ durch Denkaktivitäten, die sich allerdings durch Komplexität, nämlich eine Mehrzahl an Denkobjekten, sowie durch abnehmende Perfektion, bestimmt durch die wachsende Ferne zum ersten Prinzip, auszeichnen.75 Anders als das notwendig Seiende übt der erste separate Intellekt drei Denkakte aus. Erstens kontempliert er das notwendig Seiende und bringt durch diese Aktivität einen 72
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Siehe hierzu auch das siebte Kapitel des achten Buches, in dem Avicenna weitere Anläufe unternimmt, seine Konzeption klar herauszustellen. Dabei geht er unter anderem ausführlich darauf ein, wie Selbsterkenntnis und die Verursachung von Seiendem seiner Auffassung nach identisch sein können, vgl. Avicenna, The Metaphysics of The Healing, VIII.7 (1–10), S. 291–295. Zu al-Fārābī siehe das Kapitel Al-Fārābī und der arabische Aristotelismus in diesem Buch. Einführend zu seiner Kosmologie, Reisman, Al-Fārābī and the Philosophical Curriculum, hier S. 56–60. Allgemein zur Kosmologie Avicennas siehe Davidson, Alfarabi, Avicenna, and Averroes on Intellect: Their Cosmologies, Theories of the Active Intellect, and Theories of Human Intellect, besonders S. 74–83. Bis hierher Avicenna, The Metaphysics of The Healing, IX.4 (1–6), S. 326–328.
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zweiten separaten Intellekt hervor. Zweitens denkt er sich selbst als möglich und bewirkt so das Entstehen der äußersten Himmelssphäre in ihrer körperlichen Dimension. Drittens erfasst er sich selbst als notwendig, wodurch er die Form sowie die Perfektion dieser Himmelssphäre hervorbringt, also deren Seele, die erste in einer Reihe supralunarer Seelen, deren Tätigkeit im Bewegen der jeweiligen Himmelssphäre besteht.76 Dieser Vorgang wiederholt sich nun mehrfach: Der zweite separate Intellekt denkt das erste Prinzip (Hervorgang des dritten separaten Intellekts), sich selbst als potentiell (materielles Entstehen der zweiten Himmelssphäre, des Fixsternhimmels) und sich selbst als notwendig (Auftreten der Form der zweiten Himmelssphäre und damit der zweiten supralunaren Seele).77 Laut Avicenna setzt sich diese Reihe fort bis zum zehnten separaten Intellekt, der zugleich mit der Mondsphäre entsteht und dessen Effekte von denen seiner „Vorgänger“ deutlich verschieden sind. Wie Avicenna selbst betont, lasse sich nicht per se ein Grund dafür angeben, weshalb der bisherige Entstehungsprozess an dieser Stelle sein Ende finde, doch gebe es eben nur neun Himmelssphären und entsprechend viele Beweger (Seelen). Dieser letzte separate Intellekt nun „regiert uns“ (yudabbiru anfusanā), was sich in mindestens zwei Aspekten äußert. Zum einen spielt dieser Intellekt eine wichtige Rolle beim Hervorbringen der sublunaren Wirklichkeit, also der Erde und ihrer Bewohner; zum anderen besitzt er eine zentrale Funktion im Erkenntnisprozess des Menschen. Die sublunare Wirklichkeit ist Avicennas Konzeption zufolge ein Produkt des zehnten separaten Intellektes und der Himmelsbewegungen. Infolge dieser Tätigkeiten emanieren die Formen der Dinge aus dem zehnten Intellekt und verbinden sich mit Materie, wodurch sie zu Einzeldingen individuiert werden.78 Der Einfluss der Himmelskörper richtet sich dabei auf die körperliche Seite der Dinge und äußert sich im Rahmen ihrer materiellen Eigenschaften. Während die Himmelskörper mit ihren Bewegungen die Elementarmaterie in eine bestimmte Disposition bringen, sodass diese das Potential gewinnt, um zu einem bestimmten Ding aktualisiert zu werden, betätigt sich der zehnte Intellekt als „Formengeber“ (wāhib al-ṣuwar).79 Dieselben Einflüsse der Himmelskörper auf die sublunare Wirklichkeit dauern nach Avicennas Überzeugung auch nach deren Entstehen fort. Genau diese kontinuierliche Verbindung ist die Voraussetzung, dass für den Menschen Divination und Prophetie überhaupt möglich sind. Dabei erstrecken sich die Wechselwirkungen mit den Himmelskörpern auf die materieverhaftete Seite des Menschen (die ja die inneren Sinne und somit das Vorstellungsvermögen mit einschließt), 76
77 78 79
Avicenna, The Metaphysics of The Healing, IX.4 (11–12), S. 330–331. – Die Begriffe der Möglichkeit und Notwendigkeit werden von Avicenna im oben eingeführten Sinne verwendet. Wie sich somit auch mit Blick auf die separaten Substanzen ergibt, sind diese jeweils möglich bi-ḏātihī und notwendig bi-ġayrihī. – Wie sich Avicennas weiteren Ausführungen entnehmen lässt, betrachtet er die Seelen der Himmelssphären zugleich als deren jeweilige Form, siehe beispielsweise Avicenna, The Metaphysics of The Healing, IX.4 (13), S. 331.18–19: „Der Grund hierfür ist, dass – wie wir zeigten – jede Seele einer jeden Sphäre deren Perfektion und Form ist, dass es sich also [bei den Seelen] nicht um separate Substanzen handelt.“ Diese ‚Formen‘ sind indes nicht zu verwechseln mit den Formen der Himmelskörper, durch welche diese das sind, was sie sind, nämlich Himmelskörper: „[...] diese Sphären besitzen nichtkörperliche Prinzipien, die verschieden sind von den Formen der [Himmels-] Körper“, ebd. (17), S. 333.3. Allgemein zu den antiken kosmologischen Vorstellungen Wright, Cosmology in Antiquity. Der arabische Ausdruck für diese „Individualisierung“ ist hier taḫṣīṣ, „Spezifizierung“, Avicenna, The Metaphysics of The Healing, IX.5 (3), S. 335.9. An dieser Stelle muss betont werden, dass Avicenna recht unbestimmt bleibt bei seiner Beschreibung der Tätigkeit der Himmelskörper und deren Effekte. Deutlich wird nur, dass sie einen Einfluss auf die elementaren Mischungsverhältnisse der entstehenden Körper besitzen, während die verschiedenen Formen (Avicenna ist Anhänger einer Vielzahl an Formen) auf die separaten Substanzen und hier in erster Linie den zehnten Intellekt zurückzuführen sind. Außerdem ist anzumerken, dass der berühmte Ausdruck „Geber der Formen“ von Avicenna selbst kaum verwendet wird (siehe etwa hier Paragraph (10), S. 337.16). Obwohl die Stelle vermuten lässt, dass er dabei an den zehnten Intellekt dachte, stellt er selbst diese Verbindung nicht ausdrücklich her.
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während der zehnte Intellekt, der jederzeit alle intelligiblen Formen denkt, Einblick in anderweitig nicht oder kaum zugängliches universales Wissen gewähren kann.80 Vor diesem Hintergrund ist nun auf die am Ende des letzten Abschnittes angesprochene Determinationsproblematik zurückzukehren. Wie sich mit Blick auf den geschilderten Entstehungsprozess zeigt, ist dieser trotz der vielen Zwischenstufen letztursächlich auf das notwendig Seiende zurückzuführen. Dieses besitzt implizite Kenntnis aller Einzeldinge, soweit diese in universaler Weise – also auf der Ebene ihrer Arten – fassbar sind. Hinsichtlich der Reihe an separaten Intellekten bedeutet dies, dass das notwendig Seiende alles bis einschließlich des zehnten Intellektes intellektuell umfasst und folglich auch dessen stets aktuell gedachte universale Formen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die beschriebenen Vorgänge aufgrund der besonderen Natur des notwendig Seienden notwendig sind. Die Frage, die sich somit stellt ist, inwiefern die auf den Hervorgang des zehnten Intellekts folgenden Prozesse – also die Entstehung der sublunaren Welt und alle in ihr stattfindenden Abläufe – ebenfalls bis ins Detail hinein notwendig und somit prädeterminiert sind. Die Forschungsmeinungen gehen über diesen Punkt weit auseinander. Während einerseits die Auffassung vertreten wird, dass aufgrund der kausalen Verknüpfung des sublunaren mit dem supralunaren Bereich, sowie des oben erwähnten Wissens des notwendig Seienden, nicht nur von den den Dingen zugrunde liegenden Arten, sondern auch von der „Zeitformel“ von Ereignissen zwingend jedes Einzelding und Ereignis restlos determiniert ist (wenngleich das notwendig Seiende es nicht „persönlich“ kennt), behaupten andere, dass mit dem Hervorgang des zehnten Intellektes und der Mondsphäre die vollständige Determiniertheit endet. Demnach wären zwar alle sublunaren Vorgänge verursacht, aber nur im Sinne der schon von Aristoteles verfochtenen bedingten Kausalität, die Raum für unvorhergesehene Ereignisse lässt.81 Es ist im Rahmen einer Überblicksdarstellung wie der vorliegenden nicht möglich, diese Forschungskontroverse zu lösen. Avicenna selbst äußert sich zu dieser Problematik leider nicht ausdrücklich. Zu bedenken ist jedoch das Ausmaß, in dem eine vollständige Determiniertheit jedes Einzeldings und jedes individuellen Ereignisses einer Vielzahl an Lehren widerspräche, die Avicenna im Laufe nicht nur der Ilāhīyāt, sondern auch anderer philosophischer Schriften vertritt und weiterentwickelt. Exemplarisch sei seine Lehre vom menschlichen Wissenserwerb angeführt, zu deren Charakteristika ja gerade der Grad an persönlichem Wissensgewinn gehört, sofern dieser ausschlaggebend dafür ist, welches Dasein die jeweilige Seele nach dem Tod fristen wird. Wäre Avicennas Auffassung zufolge jeder Wissenszuwachs gänzlich unabhängig vom persönlichen Einsatz, würde es wenig Sinn machen, diese Problematik wiederholt derart ausführlich zu erörtern. Dies ist selbstverständlich nur ein Plausibilitätsargument, gegen dessen Gültigkeit immer noch die generelle Möglichkeit steht, dass Avicennas Philosophie tatsächlich erhebliche Inkohärenzen aufweist oder wir ihre Kohärenz noch nicht entdeckt haben. 80
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An dieser Stelle findet sich der Zusammenhang mit der oben thematisierten Problematik wieder, wie die Dinge „existierten“, als Gott sie aufforderte zu sein: Es ist dieser zehnte separate Intellekt der stets aktuell die universalen Formen denkt, wodurch diese in mentaler Existenzweise zwingend ewig existieren, selbst wenn es zu bestimmten Zeitpunkten keine konkrete Verwirklichung von ihnen gibt – sei diese nun extramental oder im menschlichen Denken. Zu dieser Thematik und zur Frage nach dem Grad der durch Avicennas Theorie implizierten Determination Ivry, Destiny Revisited. Avicenna’s Concept of Determinism. – Zu Aristoteles’ „bedingter Kausalität“ siehe Physik II.4–6, wo er die Existenz von Zufall diskutiert: Bestimmte Ereignisse vermitteln den Eindruck der Zufälligkeit deswegen, weil ihre Gründe nicht offensichtlich sind. Aristoteles illustriert dies am Beispiel eines Mannes, der scheinbar zufällig seinen Schuldner auf dem Marktplatz antrifft.
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Mit Blick auf Avicennas Metaphysik bleibt abschließend festzuhalten, dass sich diese gegenüber derjenigen des Aristoteles, Avicennas Hauptvorlage, dadurch auszeichnet, mit ihren klaren Aussagen zu Gegenstand, Themen und Methode der Disziplin ein scharf konturiertes Profil verliehen zu haben.82 Es überrascht daher kaum, dass sie nicht nur in ihrem direkten, dem arabisch-islamischen Umfeld, sondern sogar im lateinischen Westen einen beachtlichen Einfluss gewann.83 Bei alledem darf freilich nicht übersehen werden, dass Avicenna mit einigen Positionen auch auf harsche Ablehnung stieß. Diese traf in erster Linie seine Kosmologie, und namentlich seine Lehre vom notwendigen Hervorgang der supra- sowie sublunaren Welt aus dem notwendig Seienden. So steht diese Theorie in eklatantem Widerspruch sowohl zur koranischen als auch zur biblischen Position, der zufolge Gott die kreatürliche Welt selbst und aus freiem Willen geschaffen hat. Außerdem widerspricht diese Lehre der im Islam (wie auch dem Juden- und Christentum) vorherrschenden Überzeugung von der Einmaligkeit der Schöpfung und der Endlichkeit der Welt. Avicennas Ausführungen zufolge stellt das Werden einen ewigen Prozess dar, genauso wie die Welt unendlich fortdauern wird. Während seine Kosmologie daher generell nur geringe Beachtung fand, ist unter dem Strich festzuhalten, dass seine Metaphysik mit ihrer Interpretation der aristotelischen Metaphysik als einer Ontologie und ihrem subtilen Gespür für die Bedeutung der Transzendentalien bis weit in die Neuzeit hinein das Gesicht der Metaphysik als Disziplin mitbestimmte.
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82 83
Siehe hierzu besonders die im ersten Abschnitt dieses Kapitels angestellten Überlegungen zu Aufbau und Methode der Ilāhīyāt. Mit Blick auf den lateinischen Westen siehe besonders die Interpretation der Metaphysik als einer Wissenschaft vom Seienden als Seiendem; die Debatten über Essenz und Existenz; die Diskussionen über das primum cognitum, um nur einige Beispiele zu nennen. – Was Avicennas konkretes Fortleben in der arabisch-islamischen Welt betrifft sind die genauen Rezeptions- und Modifikationswege indes noch weitgehend zu erforschen. Eine Studie zum Umgang mit Avicennas Metaphysik (besonders durch die mutakallimūn) ist Eichner, Dissolving the Unity of Metaphysics: From Fakhr al-Dīn al-Rāzī to Mullā Ṣadrā al-Shīrāzī; ausführlicher hierzu Eichners Habilitationsschrift The Post-Avicennian Philosophical Tradition and Islamic Orthodoxy.
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9. Psychologie und Noetik bei Avicenna Einige entwicklungsgeschichtliche Aspekte Heidrun Eichner (Tübingen) Die Erforschung der Epistemologie Avicennas (wie auch die von anderen arabischen Autoren) hat einerseits sehr stark von der intensiven Rezeption im lateinischen Mittelalter profitiert. Andererseits birgt dieser forschungsgeschichtliche Hintergrund die Gefahr in sich, dass Avicennas eigenes philosophisches System zu stark im Lichte dieser Rezeptionsgeschichte interpretiert wird, insbesondere da diese Rezeption ja nur auf dem kleinen Ausschnitt seiner Werke beruht, die ins Lateinische übersetzt wurden. Die Nachzeichnung verschiedener Entwicklungsstufen seines Denkens wird unter diesen Umständen oft vernachlässigt, leicht abweichende Positionen in den einzelnen Schriften werden in den Darstellungen der Sekundärliteratur dementsprechend nivelliert. Dieser Beitrag versucht, in entgegengesetzter Weise vorzugehen und gerade Veränderungen und Entwicklungslinien herauszuheben. Die Problematik einer entwickungsgeschichtlichen Perspektive betrifft das gesamte Schaffen Avicennas. Themen der Epistemologie sind hiervon besonders stark betroffen, denn mit ihnen hat sich Avicenna praktisch während seiner gesamten philosophischen Laufbahn auseinandergesetzt und er hat sein System wiederholt modifiziert und verbessert. Gerade in „technischen“ Details der Terminologie lässt sich in diesem Bereich die Ausarbeitung seines philosophischen Denkens quer durch die Vielzahl seiner systematischen Schriften sehr gut nachverfolgen. Dabei ist es insbesondere von Bedeutung, dass Themen der Epistemologie auch in etlichen seiner nichtsystematischen und teilweise in ihrer Bewertung recht problematischen kürzeren Traktate behandelt werden.1 Eine grundlegende Einführung in die Chronologie der Werke Ibn Sīnās bietet Dimitri Gutas’ Avicenna and the Aristotelian Tradition. Diese Studie konnte eindrucksvoll vor Augen führen, wie anhand der Entwicklung einzelner Details auch für das Gesamtsystem Avicennischer Philosophie größere Transformationsprozesse belegt werden können. Folgende Datierungen lassen sich dementsprechend für einige der wichtigsten systematischen Darstellungen ansetzen: In die „Frühzeit“ (early period, ca. vor 1013) sind unter anderem das Kompendium über die Seele (al-Muḫtaṣar fī n-nafs) und die Philosophie für den Metriker (al-Ḥikma al-ʿarūḍīya) zu setzen. Nach einer Übergangszeit (transition period) entstehen in der „mittleren Schaffensperiode“ (middle period, ca. 1023–27) Werke wie das Buch der Rechtleitung (K. al-hidāya), das umfangreiche Hauptwerk Ibn Sīnās, das Buch der Heilung (K. aš-šifāʾ), sowie das Buch der Rettung (K. an-naǧāt). Mit der Entstehungzeit der Östlichen Philosophie (al-Ḥikma al-mašriqīya) (period of eastern philosophy, ca. 1027–1030) setzt Gutas eine eigene, von der Spätphase unterschiedene Stufe an. Für die Spätphase (late period,
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Mein Beitrag wird immer wieder kurze Ausblicke auf entwicklungsgeschichtliche Aspekte geben. Besonders möchte ich darauf hinweisen, wie problematisch es sein kann, auf der Basis mehrerer avicennischer Schriften ein einheitliches System konstruieren zu wollen. Dabei spielt eine Rolle, dass Avicenna immer wieder ältere Schriften wiederverwertet hat. Manchmal hat er dabei die einzelnen Passagen sehr sorgfältig überarbeitet, in anderen Fällen jedoch ist er sehr hastig verfahren. Gerade im Falle von Avicennas umfangreichsten philosophisches Hauptwerk, dem Buch der Heilung, kann eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise daher helfen, Spuren von redaktionellen Inkonsistenzen besser einordnen zu können.
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ca. 1030–1037) ist vor allem das Werk Hinweise und Denkzettel (al-Išārāt wa-t-tanbīhāt) zu nennen.2 Die hochkomplexen Innovationen, die Avicenna im Bereich der Ontologie und Metaphysik entwickelt hat, stehen in engem Zusammenhang und Verflechtung mit dem hier behandelten Gebiet der Noetik und Psychologie. In einigen Bereichen, insbesondere für die kosmologischen Implikationen von Avicennas Intellektlehre, lassen sich ontologischmetaphysische Kontexte systematisch kaum hiervon abtrennen. In anderen Gebieten, zum Beispiel im Hinblick auf die Entwicklung seiner Theorie der „inneren Sinne“, bestehen zwar durchaus auch solche Zusammenhänge, aber Dynamiken anderer Kontexte entfalten ebenfalls eine erhebliche Wirkkraft (z. B. die Problematik quasi rationaler Instinkthandlungen von nicht vernunftbegabten Lebewesen, d. h. Tieren). Als weitere zentrale Themen, durch die insbesondere die Seelenschrift (K. fī n-nafs) des umfangreichen Buchs der Heilung (K. aš-šifāʾ) großen Einfluss auch auf die spätere Entwicklung pyschologischer Theorien im lateinischen Mittelalter gewonnen hat, sind zu nennen das unter dem Namen flying man bekannte Gedankenexperiment, Avicennas Überlegungen zur Theorie des Sehvorganges sowie seine Theorie der Prophetie. Hier seien zunächst zwei dieser wichtigen Themenbereiche summarisch vorgestellt.
1. flying man und Prophetie 1.1 Der „fliegende Mensch“ (flying man)
Avicenna entwickelt in mehreren seiner Werke leicht divergierende Versionen des Gedankenexperiments einer Person, die in einem völlig reizfreien Raum schwebt und keinerlei Sinneseindrücke hat: Sie sieht nichts, die Körperglieder berühren einander nicht, so dass auch der Tastsinn nichts fühlt. Die fliegende beziehungsweise schwebende Person fühlt weder ihre äußeren noch ihre inneren Organe. Dennoch bekräftigt sie die Existenz ihres eigenen Wesens (wuǧūd ḏātihī).3 Hieraus lässt sich schließen, dass dieses vom Körperlichen verschieden ist.4 Ähnlichkeiten des flying man mit Descartes’ cogito ergo sum wurden wiederholt beobachtet, ein direkter oder indirekter Einfluss lässt sich aber nicht konkret nachvollziehen.5 In der unmittelbaren Rezeption im lateinischen Mittelalter wurde dieses Gedankenexperiment im Kontext verschiedener Fragestellungen diskutiert und interpretiert, vor allem mit Blick auf die Unabhängigkeit der Seele vom Körper, die Existenz der Seele, das Bewusstsein des eigenen Selbst, und die Substanz der Seele.6 1.2 Prophetie
Prophetie – ein zentrales Problemfeld des islamischen Denkens – und verwandte Phänomene sind in Avicennas Seelenlehre systematisch sehr kohärent verankert. Propheten verfügen im Vergleich zu anderen Menschen über einen zusätzlichen höheren Seelenteil, 2 3 4 5 6
Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, S. 145. Die Formulierungen variieren in den Versionen der verschiedenen Schriften Avicennas, für eine Zusammenstellung vgl. Hasse, Avicenna’s De anima, S. 81–85. Für eine einführende Zusammenfassung vgl. Hasse, Avicenna’s De Anima, S. 80–81. Zur Rezeption innerhalb der arabischen Tradition vgl. Mühlethaler, Ibn Kammūna on the Argument of the flying Man. Für eine Zusammenstellung relevanter Literatur hierzu vgl. Hasse, Avicenna’s De Anima, S. 80. Vgl. ebd., S. 81 sowie allgemein ebd., S. 87–92.
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insgesamt ist ihre Seele wirkmächtiger als die anderer Menschen. Diese „heilige Kraft“ (al-qūwa al-qudsīya) tritt bei Propheten zu den üblichen drei Seelenteilen (vegetative Seele, Tierseele, rationale Seele) der übrigen Menschen hinzu, die Avicenna der aristotelischen Tradition entlehnt. Prophetische Inspiration wird dabei in zwei Zusammenhängen situiert: Propheten nutzen zum einen ihre Imagination deutlich intensiver als andere Menschen, und so können ihre Visionen erklärt werden; zum anderen verfügen sie über eine besonders gut ausgeprägte Intuition (ḥads), sodass komplizierte Denkvorgänge bei ihnen durch schnelle Eingebungen ersetzt werden können.7 In diesen beiden Zusammenhängen nutzt Avicenna seine Theorie der Verarbeitung von Sinneseindrücken durch die sogenannten „inneren Sinne“.8 Dieses System der inneren Sinne ist (genau wie auch die äußeren Sinne) auf der Ebene der „Tierseele“ angesiedelt – das heißt, alle Wesen, die mit einer solchen Seele ausgestattet sind (wie Tiere, „gewöhnliche“ rationale Menschen, Propheten) können hierauf zurückgreifen, nicht aber Pflanzen, die lediglich eine vegetative Seele haben. Als dritte Erklärungsdimension werden Prophetenwunder in Avicennas System in einen Zusammenhang mit ähnlichen Aktivitäten gewöhnlicher, nichtprophetischer Seelen gestellt: Schwächere Ausprägungen des Phänomens prophetischer Mirakel kommen auch weniger starken Seelen als der prophetischen Seele zu. Hierbei handelt es sich zunächst um das wohlbekannte Einwirken der Seele auf den eigenen Körper, wenn zum Beispiel Emotionen zu körperlichen Begleiterscheinungen führen, oder aber auch der „böse Blick“, bei dem die Seele auf einen externen Körper einwirkt. Ganz analog kann die besonders starke prophetische Seele ihren Einfluss auf beliebige externe Materie ausdehnen, und so kann sie Wunder wirken, wie zum Beispiel Heilungen bewirken oder Regen herbeiführen.9
2. Intellektlehre Wie bereits im Beitrag zur Metaphysik in diesem Handbuch ausgeführt, übernimmt Avicenna Grundzüge seines emanativen kosmologischen Systems von al-Fārābī.10 Den einzelnen Planetensphären werden dabei Intellekte zugeordnet, die zum einen als Entelechie ihrer Sphäre dienen, zum anderen durch ihre intellektuelle Aktivität eine weitere niederrangigere Sphärentrias entstehen lassen. Avicenna wendet dabei seine Unterscheidung zwischen essentieller Kontingenz und extern bedingter Notwendigkeit auf die Analyse der Aktivität der einzelnen Intellekte beziehungsweise Intellektstufen an. Wir können beobachten, dass er hierzu während seiner gesamten philosophischen Karriere immer wieder neue Lösungsversuche unternimmt und die Wirkweise dieser Prozesse leicht unterschiedlich beschreibt. Wie auch al-Fārābī entscheidet sich Avicenna, dem letzten, also dem der Mondsphäre zugeordneten, Intellekt eine wichtige Rolle für den rationalen Erkenntnisprozess beziehungsweise das menschliche Denken zuzuerkennen. Er identifiziert ihn – zumindest in 7 8 9 10
Für eine umfassende Diskussion von ḥads vgl. Gutas, Intuition and Thinking. Vgl. Hasse, Avicenna’s De Anima, S. 154–156. Vgl. ebd., S. 155. Für alle drei hier behandelten Aspekte von Prophetie bietet Hasse eine sehr knappe Paraphrase. Dort werden Einzelnachweise im Text des Avicenna identifiziert. Eine grundlegende (in einigen Details etwas veraltete) Einführung in die Intellektlehre bei verschiedenen arabischsprachigen Philosophen sowie in die Zusammenhänge mit der spätantiken Tradition bietet Davidson, Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect.
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Einzelne Denker und Werke
seinen späteren Schriften – mit dem „aktiven Intellekt“ (al-ʿaql al-faʿʿāl), dem Aktualisierungsziel der rationalen Erkenntnis. Anders als al-Fārābī, der das Verhältnis der verschiedenen Aktualisierungsstufen des Intellektes zueinander mit dem von Substrat und Form vergleicht,11 geht Avicennas Theorie davon aus, dass bezüglich der einzelnen Erkenntnisinhalte ein Individuum zwischen den verschiedenen Aktualisierungsgraden wechselt. Avicennas Terminologie für die verschiedenen Aktualisierungsgrade ist (entsprechend typischen Standarddarstellungen) recht komplex – um nicht zu sagen: verwirrend. Er unterscheidet drei Stufen innerhalb des „potentiellen Intellekts“ (deren höchste „aktueller Intellekt“ heißt), hinzu kommt der „erworbene Intellekt“ als Stadium des bewussten Denkaktes sowie der „aktive Intellekt“ als externes Akualisierungsprinzip.12 Besondere Wichtigkeit kommt Avicennas Intellekttheorie insofern zu, als sie „Bewusstsein“ als Moment des Erkenntnisakts thematisiert und so integrieren kann. Außerhalb des unmittelbaren Kontexts der Intellektlehre kann man hierin auch Verbindungslinien zum Gedankenexperiment des flying man ziehen. Am Beispiel der Aktualisierungsstufen lässt sich sehr gut nachverfolgen, wie grundlegend sich Avicennas Theorie der Aktualisierung von Intellektion im Laufe seines Schaffens verändert hat. Ein Teil der terminologischen Komplexität ist hierauf zurückzuführen. Wir besitzen hierzu in Gestalt des Kompendiums über die Seele ein sehr frühes Zeugnis, das es uns erlaubt zu erkennen, dass einige Elemente seines späteren Systems hier bereits embryonal angelegt sind, später aber radikal uminterpretiert werden.13 In diesem frühen Stadium äußert sich Avicenna zu den Grundlagen der Aktualisierung intellektueller Erkenntnis wie folgt: „Die Spezies des animal rationale unterscheidet sich von den anderen durch eine Fähigkeit, aufgrund derer sie die intelligiblen Objekte konzeptualisieren kann. Diese wird ‚rationale Seele‘ genannt, und üblicherweise auch ‚materieller Intellekt‘, das heißt der ‚potentielle Intellekt‘, wobei man ihn mit Materie vergleicht. Diese Fähigkeit ist in der gesamten menschlichen Spezies vorhanden. Sie hat in sich selbst keine intelligiblen Formen, sondern sie erhält diese auf zwei Wegen: (1) durch göttliche Inspiration ohne Belehrung und Sinneswahrnehmung, zum Beispiel im Falle der intuitiven Intelligibilien (z. B. unsere Überzeugung, dass das Ganze größer als der Teil ist) […] oder (2) durch Erwerb durch Schlussfolgerung und durch demonstrative Untersuchung […]“14
Hier werden drei verschiedene Bezeichnungen für den materiellen Intellekt erwähnt (dabei wird dieser direkt mit der rationalen Seele identifiziert, nicht wie später als eine ihrer Kräfte, d. h. als die „theoretische Kraft“ (qūwa naẓarīya) vs. die „praktische Kraft“‘). Die höheren (potentiellen) Stadien der Aktualisierung bleiben aber völlig unbestimmt, es werden lediglich zwei Methoden des Erwerbs von intellektuellen Erkenntnisinhalten differenziert. Eine deutlich ausgefeiltere Konzeption von „Potentialität“ begegnet uns hingegen im (späten) Buch der Rettung. Dort führt Avicenna am Beispiel der Schreibkunst aus, dass der Begriff „potentiell“ auf drei verschiedene Arten verstanden werden kann: (1) wie ein kleines Kind, das das Schreiben noch nicht erlernt hat; (2) wie ein Junge, der mit den Grundlagen des Schreibens vertraut ist; (3) wie jemand, der die Schreibkunst perfekt beherrscht,
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13 14
Vgl. ebd., S. 53 f. Für eine standardisierte Darstellung von Avicennas Theorie vgl. ebd., S. 74–126. Für einige Beispiele, wie gravierende Abweichungen und Entwicklungen u. a. in den ontologischen Implikationen der Intellektlehre im Frühwerk Avicennas zu kontextualisieren sind, vgl. Eichner, The Categories in Avicenna. Zur Datierung vgl. Gutas, Avicenna, S. 83–84. Textnachweise Ibn Sīnā, Muḫtaṣar, S. 361.6–15.
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Psychologie und Noetik bei Avicenna
aber gerade nicht schreibt.15 Avicenna stellt im Buch der Rettung zwei verschiedene Terminologien vor, wie diese drei Arten/Stadien von Potentialität zu benennen sind. In der ansonsten sehr weitgehend wörtlich identischen Diskussion des (etwas früheren) Buchs der Heilung wird jedoch nur eine einzige Terminologie eingeführt, die den Terminus „Habitus“ vermeidet. Dieser Terminus ist in den beiden im Buch der Rettung referierten Terminologien doppeldeutig und bezeichnet entweder das zweite oder das dritte Stadium der Aktualisierung: 16 1
2
3
Buch der Rettung (K. an-naǧāt) Terminologie 1
qūwa muṭlaqa wa-hayūlānīya absolute und materielle Pot.
qūwa mumkina
Buch der Rettung (K. an-naǧāt) Terminologie 2
qūwa muṭlaqa wa-hayūlānīya absolute und materielle Pot.
malaka Habitus
kamāl al-qūwa [+ bi-l-fiʿl] Perfektion der Pot. [+ aktuell]
Buch der Heilung (K. aš-šifāʾ)
qūwa muṭlaqa wa-hayūlānīya absolute und materielle Pot.
qūwa mumkina
kamāl al-qūwa [+ bi-l-fiʿl] Perfektion der Pot. [+ aktuell]
Philosophie für den Metriker (Ḥikma ʿarūḍīya)
hayūlānī materiell
bi-l-malaka in habitu
mögliche Pot.
mögliche Pot.
malaka [+ bi-l-fiʿl] Habitus [+ aktuell]
bi-l-fiʿl aktuell
Wichtig ist, dass Avicenna im Buch der Heilung und im Buch der Rettung alle diese drei Stadien als „potentiell“ qualifiziert, wie das von ihm gewählte Beispiel der Schreibkunst ja auch sehr anschaulich illustriert. Anhand des Beispiels der Schreibkunst wird auch gut deutlich, wie die drei Stufen der Potentialität aufeinander aufbauen. Es irritiert allerdings, dass Avicenna im Weiteren insistiert, dass der Terminus „aktueller Intellekt“, al-ʿaql bi-l-fiʿl, das dritte Stadium von Potentialität bezeichnet – Avicenna windet sich hier etwas und erklärt, dass „aktuell“ und „potentiell“ ja auch relativ mit Bezug auf niedrigere oder höhere Stadien zu verstehen seien.17 Wir wollen dies zum Anlass nehmen, diesen Terminus des „aktuellen Intellekt“, al-ʿaql bi-l-fiʿl, durch verschiedene Schriften zu verfolgen. Dabei stößt man auf ganz massive Veränderungen. Im Kompendium über die Seele begegnet dieser Begriff nur einmal, und Avicenna verwendet ihn dabei noch sehr ähnlich wie al-Fārābī in seiner Schrift Risāla fī l-ʿaql:
15 16 17
Siehe hierzu Ibn Sīnā, K. an-naǧāt, S. 333.9–20. Vgl. ebd., S. 334.1–3. Die Verwendung des Begriffes qūwa mit seinen möglichen Implikationen wird sehr ausführlich erörtert, vgl. Ibn Sīnā, K. an-naǧāt, S. 334.8–336.5.
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Einzelne Denker und Werke
„Der aktuelle Intellekt ist nichts anderes als die Formen der Intelligibilien, wenn sie im Wesen des potentiellen Intellekt bereitgestellt sind. Dadurch leiten sie [die Formen] ihn zur Aktualität. Deshalb ist der aktuelle Intellekt zugleich intelligierend und intelligiert.“18
In diesem Stadium der Ausarbeitung von Avicennas System dient der „aktuelle Intellekt“ als Aktualisierungsprinzip, das als bereitsgestellte Formen innerhalb des potentiellen Intellekts lokalisiert wird. In der späteren „Standardtheorie“ ist dies für Avicenna nicht mehr akzeptabel: Aktualisierungsprinzip ist der „aktive Intellekt“ (al-ʿaql al-faʿʿāl) – eben jener externe Intellekt, der mit dem Geber der Formen, dem Intellekt der Mondsphäre gleichzusetzen ist. Der spätere „aktive Intellekt“ (dieser Terminus begegnet im Kompendium über die Seele noch nicht) übernimmt Funktionen, die im Kompendium über die Seele noch drei verschiedenen Instanzen zugeschrieben werden. Außer dem „aktuellen Intellekt“ (al-ʿaql bi-l-fiʿl) als Aktualisierungsprinzip ist hier für das Kompendium über die Seele der universale Intellekt (al-ʿaql al-kullī) als kosmologisches Prinzip und die göttliche Emanation (al-fayḍ al-ilāhī) als Verströmer von Erkenntnisinhalten zu nennen.19 In einer weiteren sehr frühen Schrift, der Philosophie für den Metriker (al-Ḥikma al-ʿarūḍīya), begegnen wir zum ersten Mal einem System, das im Vergleich zum Kompendium über die Seele zwei charakteristische Merkmale von Avicennas späterem Standardsystem aufweist: eben den „aktiven Intellekt“‘ (als vom „aktuellen Intellekt“ verschiedenes Prinzip) und den „erworbenen Intellekt“ (al-ʿaql al-mustafād): „(1) Zu Beginn ist der theoretische Intellekt ein ‚materieller Intellekt‘, in dem sich keine intellektuelle Form befindet. Es liegt in seiner Natur, aktuell zu werden. (2) Wenn er bestehen bleibt und kein Akzidens hinzukommt, dann gelangen die primären Intelligibilien in ihn, so dass dann, wenn er überlegt und denkt (rawwā wa-fakkara), sich die sekundären Intelligibilien in ihm befinden. Dann wird er ‚Intellekt in habitu‘ genannt. (3) Wenn die intelligiblen Formen in ihm gespeichert sind, wird er ‚aktueller Intellekt‘ genannt. (4) Wenn er eine oder mehrere Formen in seiner Essenz manifestiert (aẓhara), wird er ‚erworbener Intellekt‘ genannt. Notwendigerweise muss das, was die Prinzipien gibt, ein Intellekt sein. (5) Das Verhältnis zum Intellekt ist dasjenige der primären [Intelligibilien] zu ihm. Das Vorhandensein der primären [Intelligibilien], nachdem sie [vorher] nicht vorhanden gewesen waren, geht auf den Intellekt zurück, ebenso die sekundären [Intelligibilien]. So ist der materielle Intellekt verbunden mit dem Intellekt, der auf ihn wirkt (al-ʿaql al-faʿʿāl lahū), welcher ‚aktiver Intellekt‘ (al-ʿaql alfaʿʿāl) genannt wird. Sein Verhältnis zu jenem ist wie das Verhältnis von Licht zum Gesehenen.“20
Im Text der Philosophie für den Metriker können wir erkennen, dass Avicenna sich bemüht, den Namen des externen Prinzips zu begründen: Er „wirkt“ auf den Intellekt (faʿʿāl lahū), deswegen heißt er al-faʿʿāl. Zwei verschiedene Stufen werden den Formen im Intellekt zuge-
18 19
20
Ibn Sīnā, al-Muḫtaṣar, S. 364.4–6. Vgl. al-Fārābī’s Risāla fī l-ʿaql (Ed. Dieterici), S. 43.10–18. Aussagen zu den kosmologischen Implikationen der menschlichen Intellekttätigkeit finden Erwähnung v.a. im Abschnitt 8 Über die menschliche Seele von der Stufe ihres Beginnens hin zur Stufe ihrer Vollendung (fī ḏikr an-nafs alinsānīya min martabat badʾihā ilā martabat kamālihā) sowie im Abschnitt 10: Nachweis einer intellektuellen Substanz, getrennt von den Körpern, die für die Seele den Rang von Licht beim Sehen und einer Quelle einnimmt, sowie Nachweis, dass die Seelen sich bei der Trennung von den Körpern damit vereinigen (fī iṯbāt ǧawhar ʿaqlī mufāraq li-l-aǧsām yaqūmu li-nnafs al-bašarīya maqām aḍ-ḍawʾ li-l-baṣar wa-maqām al-yanbūʿ wa-iṯbāt anna n-nufūs iḏā fāraqat al-aǧsām ittaḥadat bihī). Vgl. S. 362.9 die Erwähnung der universalen Seele (nafs kullī) im Rahmen des kosmologischen Systems; S. 363.8 wird dargestellt, wie der universelle Intellekt (al-ʿaql al-kullī) die Seelenkräfte bei der Erkundung der intellektuellen Formen unterstützt (istinbāṭ aṣ-ṣuwar al-ʿaqlīya); S. 371.1–5 wird die Wirkung der göttlichen Emanation (al-fayḍ al-ilāhī) in ihrer Verbindung mit der rationalen Seele erklärt (mit Rückgriff auf frühere Ausführungen); S. 371.19 wird dann diese „noble Substanz“ mit dem universellen Intellekt identifiziert, in der religiösen Terminologie (ʿinda arbāb aš-šarāʾiʿ) werde dies „göttliches Wissen“ (ʿilm ilāhī) genannt. Ibn Sīnā, al-Ḥikma al-ʿarūḍīya, S. 157.24–158.10.
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ordnet: „Aktuell“ ist der Intellekt, wenn er die intelligiblen Formen in sich speichert, „erworben“ ist er, wenn er eine oder mehrere Formen in seiner Essenz manifestiert. Hier setzt sich Avicenna also damit auseinander, wie die Präsenz der Formen im Intellekt zu konzeptualisieren ist. Er unterscheidet dabei zwei Stadien: „Speicherung“ und „Manifestierung“. Die Rolle eines internen Speicherorgans für intelligible Formen, das er (nur an dieser einen Stelle in der Philosophie für den Metriker) dem aktuellen Intellekt zuspricht, wird Avicenna ansonsten zurückweisen, denn intelligible Formen sind extern im aktiven Intellekt gespeichert. Mit diesem verbindet sich die rationale Seele im Zustand des bewussten Denkens. Im Konzept des „Manifestierens“ begegnen wir einer noch nicht vollständig entwickelten Theorie des „‚erworbenen Intellekts“ als Funktion des bewussten Denkens, des „Wissens und Wissens, dass man weiß“. Aus der Argumentation wird deutlich, wie sich Avicenna bemüht, die Terminologie auch konzeptionell zu füllen. Das Motiv des „Erwerbens“ nutzt er dabei zentral als Argument für die Existenz eines externen Prinzips. Der „aktuelle Intellekt“ (der ja im Kompendium über die Seele noch die aktive Rolle eines Aktualisierungsprinzips gespielt hatte) ist nun in der Philosophie für den Metriker in eine vollständig passive Rolle als „Speicher“ geraten. Aber dem „erworbenen“ Intellekt wird in Gestalt des „Manifestierens“ eine – konzeptionell allerdings überhaupt nicht ausgeführte – Aktivität zugewiesen, die von derjenigen des „aktiven Intellekts“ als Aktualisierungsprinzip verschieden ist. In späteren Werken verliert der „aktuelle Intellekt“ praktisch jegliche eigenständige Funktion und sinkt zur bloßen terminologischen Alternative hinab (siehe oben), während der „erworbene Intellekt“ als Bewusstseinsakt an Bedeutung gewinnt. So heißt es im Buch der Heilung: „Wenn wir sagen, jemand ‚weiß‘ die Intelligiblen, bedeutet das, dass er in einem Zustand ist, in dem er sich, immer wenn er es will, ihre Form in seinem Geist vergegenwärtigen kann. Dies bedeutet, dass er immer, wenn er es will, sich mit dem aktiven Intellekt verbinden kann, so dass diese Intelligibilie in ihm geformt wird. Dies bedeutet nicht, dass die Intelligibilie in seinem Geist immer gegenwärtig ist und immer in seinem Intellekt in Aktualität geformt wird. Aber sie ist auch nicht so, wie sie vor dem Lernen war, und bevor diese Art von ‚aktuellem Intellekt‘ vorhanden war, welche eine Kraft der Seele ist, aufgrund derer die Seele, was sie will, intellektiv erkennen kann. Wenn sie [d. h.: die Seele] also will, dann verbindet sie sich, und die intelligiblen Formen emanieren auf sie. Tatsächlich ist diese Form der ‚erworbene Intellekt‘, und diese Kraft ist der ‚aktuelle Intellekt‘ in uns, insofern er intellektiv erkennen kann. Der ‚erworbene Intellekt‘ ist der ‚aktuelle Intellekt‘ [d. h.: er wird auch so genannt], insofern er eine Perfektion ist. Die Formung von Inhalten der Imagination erfolgt, indem sich die Seele zu den Speicherorten der Sensibilia zurückwendet (ruǧūʿ ilā al-ḫazāʾin li-l-maḥsūsāt), während ersterer [Prozess, d. h. die Formung von Intelligiblen] ein ‚Aufwärtschauen‘ ist. Wenn sie [die Seele] losgelöst vom Körper und körperlichen Akzidenzien ist, dann kann sie sich perfekt mit dem aktiven Intellekt verbinden.21
21
Ibn Sīnā, K. aš-šifāʾ (an-nafs), S. 244.1–11.
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3. Die Sinneswahrnehmung: Die Tierseele In der soeben zitierten Passage können wir eine weitere wichtige Thematik in der Erkenntnistheorie Ibn Sīnās erkennen, nämlich sein Interesse am Verhältnis materieller und immaterieller Elemente im Erkenntnisprozess. Die bisher beschriebenen Theorien zu Prozessen intellektiver Aktivität als Voraussetzung rationaler Erkenntnis entsprechen funktional sehr weitgehend dem, was wir heute als „Denken“ bezeichnen – allerdings besteht ein gravierender Unterschied: Rationale Erkenntnis als „intellektives Erkennen“ ist ein immaterieller Vorgang. Materielles – und insbesondere das menschliche Gehirn – hat hier keinen Platz. Diese Grundüberzeugung teilt Aristoteles mit der (neu-)platonischen Tradition, und sie prägt auch die arabische Rezeption antiker Philosophie. Der einzige in der arabischen Tradition wirkmächtige Gegenentwurf stammt aus der medizinischen Tradition; dort war natürlich schon lange bekannt, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit durch Kopf- beziehungsweise Hirnverletzungen beschädigt wird. Im arabischen Raum war sie vor allem durch die Werke des spätantiken Arztes Galen bekannt. Sein System der drei Teile des hēgemonikon (die Terminologie der arabischen Rezeption ist hier mutaḫayyila – mutafakkira – mutaḏakkira o.ä.) bietet den Ausgangspunkt für die Ausarbeitung von Avicennas System der „inneren Sinne“ (al-ḥawāss al-bāṭina) – fünf Sinne, die als Ergänzung zu den fünf äußeren Sinnen in den drei Ventrikeln des menschlichen Gehirns angeordnet sind.22 Dabei folgt Avicennas Seelenmodell einer aristotelischen Aufteilung in drei Schichten: die vegetative Seele als niedrigste Stufe, der zum Beispiel Funktionen wie Ernährung und Wachstum zugeordnet sind; die Tierseele als mittlere Stufe, der Funktionen wie Sinneswahrnehmung und Wehrhaftigkeit zugeordnet sind; und schließlich die rationale Seele, durch deren rationale intellektverbundene Erkenntnisfähigkeit sich der Mensch von allen anderen Lebewesen unterscheidet.23 Avicennas System der fünf inneren Sinne ist – genau wie auch die äußeren Sinne – auf der Ebene der Tierseele angesiedelt, wie oben schon erwähnt wurde. So kann die Tierseele das Gehirn als materielles Substrat nutzen und die Sinneswahrnehmungen so prozessieren, dass schließlich immaterielle Formen der höher stehenden Fakultät, der rationalen Seele, zur Verfügung gestellt werden. Die materiellen Prozesse im Gehirn spielen dabei eine ganz analoge Rolle wie auch sonstige materielle Prozesse: Bei geeigneter materieller Disposition emanieren entsprechende (in diesem Fall: intelligible) Formen vom Geber der Formen, dem aktiven Intellekt. Avicennas komplexes System der inneren Sinne erfüllt jenseits des Kontextes des menschlichen Erkenntnisprozesses noch eine andere Funktion: Es berücksichtigt, dass auch Tiere über durchaus hochentwickelte kognitive Fähigkeiten verfügen, und dies, obwohl sie nicht auf die intellektuellen Leistungen der rationalen Seele zurückgreifen können. Auch für die Frage, wie sich die verschiedenen Seelenteile zueinander verhalten, gilt, dass in manchen Schriften Avicennas Spuren darauf hinweisen, dass er im Laufe der Entwicklung seines philosophischen Denkens verschiedene Lösungsansätze angedacht hat, die im deutlichen Widerspruch zum späteren Standardsystem stehen: Im Traktat Über das Wesen des rituellen Gebets wird der Mensch als von einer Dichotomie zwischen 22 23
Für einige Aspekte von Avicennas Theorien zur Gehirnfunktion in ihrem Verhältnis zu Galen vgl. Hall, Intellect, Soul and Body in Ibn Sīnā. Im K. an-naǧāt werden beispielsweise die drei Seelentypen Pflanzenseele – Tierseele - menschliche Seele zunächst kurz überblicksweise eingeführt. Anschließend werden ihre diversen Kräfte/Fakultäten (quwā) erörtert, Ibn Sīnā, an-naǧāt, S. 318–320 und ff.
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spirituellen und körperlichen Aspekten beherrscht geschildert, interne und äußere Rede stehen einander gegenüber, und das rituelle Gebet ist somit ein körperlicher Gegenpart zum intelligiblen inneren Gebet. Die Tierseele als Ursprung der Sinneswahrnehmungen ist dabei dem Herzen zugeordnet, die rationale Seele wird im Gehirn lokalisiert, der sensus communis (ḥiss muštarak) vermittelt zwischen beiden Bereichen. In dieser Schrift werden Fähigkeiten der rationalen Seele (konkret: Denken (fikr), Gedächtnis (ḥifẓ), und Erinnerung (ḏikr)) explizit im Gehirn lokalisiert – also dort, wo im späteren Standardsystem die Sinneswahrnehmung der Tierseele angesiedelt ist. 24 In dem Traktat Erweis der Prophetie (eine Schrift, in der ähnlich wie in den spät zu datierenden Hinweise und Denkzettel [al-Išārāt wa-t-tanbīhāt] der koranische Lichtvers (24:35) als Allegorie der inneren Sinne interpretiert wird) wird von der Tierseele ausgesagt, sie bestehe nach dem Tode fort und werde dort für die bösen Taten bestraft.25
3. Die Sinneswahrnehmung: Das System der inneren Sinne Avicennas System der inneren Sinne wird ebenfalls des Öfteren anhand eines „Standardsystems“ beschrieben (im Wesentlichen basierend auf dem Buch der Rettung und dem Buch der Heilung) – doch bleibt auch dieses in vielen Einzelheiten seiner Terminologie und Funktionsweise widersprüchlich. Auch hier zeigt ein Querschnitt durch verschiedene Werke Avicennas, dass er seine Theorie kontinuierlich überarbeitet und verfeinert hat. Beispielsweise präsentiert er nahezu in jedem seiner Werke etwas anders ausgearbeitete Vorschläge, wo genau die einzelnen Sinnesfakultäten im Gehirn zu lokalisieren seien. Das „Standardsystem“, das vor allem auch die lateinische Rezeption bestimmt hat, unterscheidet zwei Typen von verarbeiteten Objekten: „Formen“ (ṣuwar) und „Bedeutungsmomente“ (maʿānī, dies wird im Lateinischen wiedergegeben mit intentio, die präzise Konzeptionalisierung ist umstritten26). Es gibt dabei jeweils für jeden Objekttyp einen Sinn, der für die Wahrnehmung (idrāk), und einen, der für die Speicherung zuständig ist. Des Weiteren gibt es einen Sinn, der vor allem mit der Neukombination und Zuordnung der Formen und maʿānī beschäftigt ist. Im vorderen Gehirnventrikel befindet sich al-ḥiss al-muštarak („Gemeinsinn“, Funktion ist die Wahrnehmung der Formen) und ḫayāl („Phantasie“, Speicherung der Formen). Im mittleren Ventrikel befindet sich (al-qūwa) al-mutaḫayyila, beim Menschen auch genannt [al-qūwa] al-mutafakkira („phantasierende Kraft“ bzw. „denkende Kraft“; diese Fakultät kombiniert) sowie wahm („Vorstellung“, im Lateinischen wiedergegeben mit aestimatio; Funktion dieser Fakultät ist die Wahrnehmung von maʿānī). Im hintersten Hirnventrikel ist nur eine Fakultät lokalisiert, ḥifẓ oder ḏikr genannt („Bewahrung“ oder „Erinnerung“, hier werden die maʿānī gespeichert). Avicennas Theorie der inneren Sinne möchte ich hier aus einer ungewohnten Perspektive angehen – nämlich nicht primär aus derjenigen seiner systematischen philosophischen Schriften. Die inneren Sinne werden auch in Avicennas bekannter Schrift Ḥayy b. 24 25
26
Vgl. hierzu Eichner, Ibn Sina’s Epistle on the Essence of Prayer. Die Schrift Über den Erweis der Prophetie wird von M. Marmura, der sie herausgegeben hat, als spätes Werk Avicennas beschrieben. Die zahlreichen Besonderheiten dieser Schrift, insbesondere eine so eklatante Abweichung von Avicennas später ausgereiftem noetischen System wie die hier erwähnte Rolle der Tierseele (Ibn Sīnā, Iṯbāt annubūwa, S. 59), machen hingegen – möchte man ihre Authentizität überhaupt annehmen – eine sehr frühe Datierung notwendig. Zur Diskussion um die Wiedergabe von maʿnā vgl. Hasse, Avicenna’s De Anima, S. 127–140 sowie (besonders mit Bezug auf Averroes) Wirmer, Der Begriff der Intention.
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Yaqẓān (etwa: Lebendiger, Sohn des Wachenden) behandelt (an deren Titel sich später Ibn Ṭufayl anschloss) – eine allegorische Erzählung, die verschiedene Stadien des Erkenntnisprozesses darstellt.27 Dies kann in einen weiteren Kontext allegorischer Behandlungen von Erkenntnisprozessen gestellt werden. Hier möchte ich mir zunächst einen Blick auf die Sendschreiben der lauteren Brüder erlauben. Diese haben – das ist schon lange bekannt – ein System von fünf „spirituellen Sinnen“ entwickelt, das eine gewisse Nähe zu Avicennas Ansatz aufweist.28 Nun möchte ich aber eine Allegorie einführen, die die Sendschreiben der lauteren Brüder nutzen, um die drei Fakultäten des Galenischen hēgemonikon zu verdeutlichen: „Alle Sinneseindrücke werden in der imaginativen Kraft gesammelt, wie die Briefe von Informanten beim Leiter des Postbüros (ṣāḥib al-ḫarīṭa). Dieser gibt die Briefe an den König weiter. Der König liest diese dann und versteht ihre Bedeutung (yafham maʿāniyahā). Dann übergibt er sie dem Wärter der Schatzkammer (ḫāzin), damit dieser sie aufbewahrt.“29
Diese sehr anschauliche Allegorie des Galenischen Systems hat aus der Sicht der philosophischen Tradition den gravierenden Fehler, dass das „Denken“ mitten im Gehirn angesiedelt ist: Der König „liest“ und „versteht“ – d. h. er extrahiert völlig eigenständig die in Form von Schrift kodierten Bedeutungen, und dies setzt keinerlei externes intellektuelles Prinzip voraus. Vergleichen wir dies nun mit der Allegorie der „inneren Sinne“ die Avicenna im Kompendium über die Seele gibt: „In einem nicht-rationalen Tier ist die Bewegungskraft wie ein Emir, dem man gehorcht, und die fünf Sinne wie ausgesandte Spione. Die formende Fakultät (al-qūwa al-muṣawwira) ist wie der Leiter des Postbüros des Emirs (ṣāḥib barīd al-amīr). Die Spione kommen zu ihm. Die imaginative Fakultät (alqūwa al-mutaḫayyila) ist wie ein Kurier, der zwischen dem Wezir (die Edition hat: al-barīd) und dem Leiter des Postbüros herumläuft. Die ästimative Fakultät ist wie ein Wezir, und die Gedächtnisfakultät wie eine Schatzkammer für Geheimnisse.“30
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Allegorien ist sofort erkennbar. Avicenna betont allerdings, dass sich dieser Vergleich nur auf nichtrationale Lebewesen beziehen kann (also Lebewesen, die keinen Kontakt zu einem externen intellektuellen Prinzip haben). Anstelle des Königs sitzt nun ein Wesir in der Mitte des Gehirns – ob er die Briefe lesen und verstehen kann oder nicht, wird aus der Allegorie nicht klar. Dem Wesir ist die Bewegungskraft (eine Fähigkeit der Tierseele) als Befehlshaber (amīr) übergeordnet – ob hierüber noch ein König (z. B. die rationale Seele/Intellekt) steht, wird nicht angedeutet. Außer dem Emir gibt es noch ein weiteres zusätzliches Element, den Kurier. Dieser läuft herum – aber welche Funktion dies hat, wird nicht klar. In der Edition ist hier sogar auch noch eine Textkorruptel eingetreten: Laut dem edierten Text läuft er zwischen dem Leiter des Postbüros und dem (zuvor überhaupt nicht erwähnten) Postbüro selbst (barīd) hin und her – „Wezir“ (so die Hs. Teheran Maǧlis 3747, f. 20a) oder evtl. auch „Emir“ sind aber gleichfalls graphisch durchaus leicht erklärbare Varianten, die vielleicht anstelle von barīd eingesetzt werden sollten. In jedem Fall ist erkennbar, dass Avicenna offenbar als Ausgangsbasis eine Allegorie verwendet, die derjenigen der Sendschreiben der lauteren Brüder sehr nahe steht. Aller27
28 29 30
Sehr einflussreich für die Interpretation und Rezeption hiervon war H. Corbins Werk Avicenne et le récit visionnaire. Auf dieses weniger von wissenschaftlichem Quellenstudium als von visionärer Schau geprägte Werk gehe ich hier nicht weiter ein. Eine Überblicksdarstellung bietet Wolfson, Internal Senses in Arabic, Hebrew, and Latin philosophic Texts. Rasāʾil Iḫwān aṣ-Ṣafāʿ, Bd. 2, S. 411.7–14. Ibn Sīnā, al-Muḫtaṣar, S. 353.10–16.
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dings modifiziert er die Allegorie, um sie den Erfordernissen seines philosophischen Systems anzupassen. Darunter leidet ihre Anschaulichkeit jedoch stark. Auch noch in einer anderen frühen Schrift, dem Sendschreiben über das Gebet gibt es eine relevante vergleichbare Beschreibung: „Dann ordnete er [= Gott] die menschliche rationale Seele im Gehirn ein und setzte es an den höchsten Platz und auf die allerangemessenste Stufe. Er schmückte es [das Gehirn] mit Denken (fikr), Gedächtnis (ḥifẓ) und Wiedererinnerung (ḏikr). Er gab der intellektuellen Substanz Gewalt hierüber, so dass sie der Emir ist. Die [physischen?] Kräfte sind die Soldaten, und der Gemeinsinn (al-ḥiss almuštarik) ist die Post (barīd). Er [der Gemeinsinn] vermittelt zwischen den Sinnen und ihm [dem Gehirn?]. Die Spione [d. h.: die fünf äußeren Sinne] sind an den Türen angeordnet. Sie reisen […] und greifen die Gestalten (aškāl) und Kreaturen (maḫālīq) auf, die ihnen in die Hände fallen. Dann geben sie diese an die besondere Post (al-barīd al-ḫāṣṣ), so dass sie gesiegelt und verhüllt der rationalen Fakultät präsentiert werden. Diese unterscheidet und wählt womit sie einverstanden ist und weist zurück, was sie ablehnt.“31
Anders als im Kompendium über die Seele wird hier versucht, auch das Zusammenspiel von Gehirn und Intellekt zu thematisieren. Der Gemeinsinn dient als Vermittler zwischen den Sinnen und den intelligiblen Prozessen, er scheint nicht im Gehirn angesiedelt zu sein. Im Vergleich zum Galenischen System ist die Verteilung auf die Gehirnventrikel anscheinend verschoben (sofern eine solche überhaupt angedacht ist). Die sonst im hinteren Ventrikel angesiedelte und bei Avicenna mit zwei Namen (ḥāfiẓa ḏākira) ausgestattete Fähigkeit bekäme hier dann auch den zentralen mittleren Platz zugesprochen. Avicenna insistiert, dass der Inhalt der „Sonderpost“ (also Informationen, die für die intellektuelle Substanz bestimmt sind und von dieser dekodiert werden) versiegelt weitergeleitet wird, die Sinne haben keinen Zugang zum Inhalt. Das Verständnis der hier ausgeführten Analogie leidet vor allem darunter, dass die Rolle des „Gemeinsinns“ unklar bleibt, insbesondere das Verhältnis von Post und imperialer „Sonderpost“. Die beiden hier ausgeführten Allegorien befinden sich in zwei sehr frühen Schriften Avicennas, deren Epistemologie in vielen sehr grundsätzlichen Aspekten von seinem bekannten Standardsystem abweicht. Das Buch der Heilung und das Buch der Rettung verzichten auf solche Allegorien, und man könnte annehmen, dass Avicenna diesen Darstellungsmodus zu dem Zeitpunkt, als er das „Standardsystem“ dieser beiden Schriften entwickelt hatte, bereits aufgegeben hatte. Dies trifft aber nicht zu, und die späte Allegorie des Ḥayy b. Yaqẓān illustriert ein System, das dem „Standardsystem“ in einigen Elementen nahe steht. Dort heißt es: „Es gibt fünf Postwege, die er gleichfalls zum Wohle des Königreichs eingerichtet hat. Dort fängt man diejenigen Einwohner der Welt ein, von denen er es wünscht, und man nimmt die Nachrichten auf, die von dort ankommen. Diejenigen, von denen er es wünscht, händigt man dem Aufseher der fünf Wachposten am Eingang des Landes aus. Sie tragen mit sich Schriftstücke, die in einem Umschlag und versiegelt sind. Der Aufseher hat keinen Zugang hierzu, vielmehr ist es seine Pflicht (und er ist zu mehr auch gar nicht befähigt), dass er all dies einem Kämmerer zur Speicherung übergibt. Die Gefangenen übergibt er einem Kämmerer, ihre Ausrüstung einem anderen Kämmerer, um sie aufzubewahren. Solange er verschiedene Leute und Lebewesen als Gefangene nimmt, produzieren diese Nachwuchs entsprechend ihrer Form, gemischt aus ihnen als etwas, das von ihnen hervorgebracht wird.“32
31 32
Ibn Sīnā, Risāla fī māhīyat aṣ-ṣalāt, S. 31.1–4. Ibn Sīnā, Ḥayy b. Yaqẓān.
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Einzelne Denker und Werke
Ein völlig neues Element in dieser späten Allegorie ist, dass sehr deutlich zwischen den Gefangenen und den von ihnen mitgeführten Schriftstücken unterschieden wird – ein Element, das zum Beispiel im Sendschreiben über das Gebet noch fehlt. Wie dort wird aber auch in des Ḥayy b. Yaqẓān darauf verwiesen, dass der weitergereichte Inhalt „versiegelt“ ist. Der Unterscheidung zwischen den Gefangenen und den von ihnen mitgeführten Gegenständen entsprechen zwei verschiedene Speicherorte. Im Speicherort für die Gefangenen entfalten diese ein gewisses Eigenleben und produzieren weitere, bunt gemischte Nachkommenschaft. Avicenna selbst identifiziert im Ḥayy b. Yaqẓān die einzelnen Fähigkeiten nicht, aber wir können diese gut rekonstruieren: Die Gefangenen sind die Formen (ṣuwar), an ihrem Speicherort (im ḫayāl des Standardsystems) können sie sich vermischen und selbständig neue Formen erzeugen, die von ihnen mitgeführte Ausrüstung/Briefe sind die maʿānī, ihr Speicherort ist das Gedächtnis (ḥifẓ, ḏikr).
4. Das Problem der „Kleinen Schriften“ in der Psychologie Ibn Sīnās Gerade der Fall der hier vorgestellten allegorischen Darstellung der inneren Sinne kann gut illustrieren, wie wichtig es ist, die verschiedenen Stadien in der Entwicklung von Avicennas Theorien genau zu analysieren. Nicht nur die systematisch-enzyklopädischen philosophischen Schriften können hier zu einem besseren Verständnis beitragen, sondern auch die kleineren Traktate. Die Auswertung dieser kleineren Traktate Avicennas ist aber nicht unproblematisch, denn oft ist ihre Authentizität nicht geklärt. Es stellt sich sehr grundlegend die Frage, wie sich diese ihrem Charakter nach völlig anders gearteten Schriften zum System der weiterverbreiteten systematischen Werke verhalten. Ein Teil dieser kleineren Traktate wird – ob nun zu Recht oder Unrecht – mit „mystischen“ Aspekten in Avicennas Denken in Verbindung gebracht.33 Eine Gleichsetzung von mystischen Elementen und einer esoterischen Lehre kann hierdurch aber nicht begründet werden. Sehr treffend erscheint mir die folgende Beschreibung: „Avicennas philosophisches System, das in der Aristotelischen Tradition gründet, ist durch und durch rationalistisch […]. Es ist konsistent und einheitlich und hat daher keinen mystischen oder esoterischen Aspekt – wie auch immer man diese Termini verstehen möchte –, der eine andere Wissensform oder einen anderen Wissenskanon repräsentieren würde und eine Dichotomie des Systems nach sich ziehen würde. Avicenna hielt den Sufismus für eine gültige Manifestation islamischer Religiosität. Wie auch diese anderen Manifestationen, interpretierte er den Sufismus jedoch auf der Grundlage seines eigenen Systems.“34
Diese Darstellung von Dimitri Gutas ist stark auf den Begriff des von ihm grundlegend untersuchten Terminus ḥads, „Intuition“, zentriert. Andere psychologische Theorien, die durchaus Relevanz für die Bewertung der kleineren Schriften Avicennas haben, treten dabei in den Hintergrund. Gutas fährt fort: „taṣawwuf ist keine wirklich geeignete Klassifikationskategorie für diese Traktate, denn sie behandeln den Sufismus nicht als solchen. Vielmehr behandeln sie die Aktivitäten der rationalen Seele in Avicennas philosophischen System mit Bezug auf den ‚aktiven Intellekt‘ und den Einfluss, den dieser auf sie ausübt, und dessen Resultate (Prophetie, Wunder etc.). ‚Metaphysik der rationalen Seele‘ wäre
33
34
Forschungsgeschichtliche Aspekte (v.a. die Bedeutung der frühen Editionen von August Mehren) werden erläutert in Gutas, Avicenna’s Eastern Philosophy. Für einige Aspekte der Analyse einer stark religiös orientierten Schrift im Lichte von Avicennas systematischen Denken vgl. auch Eichner, Ibn Sina’s Epistle on the Essence of Prayer. Gutas, Avicenna.
Psychologie und Noetik bei Avicenna
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eine zutreffendere Kategorie, denn in seinen philosophischen Summen behandelte Avicenna ebendiese Themen in dem Abschnitt über Metaphysik gleich nach der Theologie.“
Gutas hebt hervor, dass die Allegorien keineswegs eine esoterische Lehre beinhalten, sondern auf ein spezifisches Publikum ausgerichtet sind. Die von mir vorgestellten Allegorien zeigen, dass neben solchen rezipientenspezifischen Aspekten wohl auch der allgemein didaktische und sehr anschauliche Charakter der Allegorien und der ausgeführten Allegorien eine Rolle spielt. Gerade im Kontext der Noetik und Psychologie sind Allegorien und Analogien auch durchaus in eher systematisch angelegten Werken Avicennas vertreten. Hier bestehen Kontinuitäten zwischen den vergleichsweise gut erforschten systematischen Schriften und den kürzeren (oft relativ früh verfassten) Traktaten. Diese erlauben es uns, Einblicke in frühere Entwicklungsstufen von Avicennas Denken zu erhalten und hierin auch die Auswirkungen des spezifischen literarischen Stils der kürzeren Schriften zu integrieren. In jedem Fall zeigt eine umfassende Auswertung und eine konsequent entwicklungsgeschichtliche Perspektive auf die Vielfalt der Schriften Avicennas die Wichtigkeit einer intensiven Erforschung seines gesamten Œuvres.
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Einzelne Denker und Werke
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10. Al-Ġazālī als Kritiker Frank Griffel (Yale University) Liest man ältere Darstellungen der Philosophie im Islam, wie zum Beispiel die von Tjitze de Boer oder von Ignaz Goldziher zu Anfang des 20. Jahrhunderts, die die Sicht auf diese Tradition für lange Zeit geprägt haben, dann begegnet einem al-Ġazālī als ein Zerstörer der Philosophie im Islam.1 Sein bedeutendstes philosophisches Werk Die Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa) wurde vor allem im Kontext der Erwiderung gelesen, die der unter europäischen Autoren hoch angesehene muslimische Philosoph Averroes (Ibn Rušd, gestorben 1198) verfasst hat.2 Erst in den letzten Jahrzehnten hat man im Westen begonnen, Die Inkohärenz der Philosophen außerhalb des Kontextes von Averroes zu studieren. Nun wurde deutlich, dass die „Erwiderung“ oder auch die „Widerlegung“ (radd) der falāsifa, die al-Ġazālī da geschrieben hat, keine Zurückweisung ihrer Lehren im herkömmlichen Sinne ist. Es geht al-Ġazālī nicht darum, die Wahrheit aller philosophischen Thesen, die er in diesem Buch diskutiert, zu widerlegen. Vielmehr geht es um einen bestimmten Erkenntnisanspruch, den die falāsifa vorbringen, und den al-Ġazālī heftig zurückweist. Das Wort falāsifa wird häufig mit „Philosophen“ übersetzt, doch das ist ungenau und etwas verwirrend, denn es suggeriert, dass allein auf einer Seite des Disputes, der sich in der Inkohärenz manifestiert, Philosophie betrieben wird. Der Autor der Inkohärenz ist natürlich selbst auch ein Philosoph und – wie sich zeigen wird – ein sehr guter. Das Wort falsafa ist im Arabischen eine Lehnübersetzung des Griechischen philosophía und bezeichnet eine bestimmte Art von Philosophie, nämlich die von neuplatonischen Lehrinhalten beinflusste Tradition der Kommentare und Deutungen von Aristoteles’ Werken. Wir werden sehen, dass al-Ġazālī das Wort falāsifa als Bezeichnung für eine bestimmte intellektuelle Bewegung benutzt, ähnlich wie man heute zum Beispiel die Wörter „Marxisten“ oder „Kantianer“ gebrauchen würde. Die falāsifa sind eine Gruppe von Denkern, die sich zuallererst über eine gemeinsame Methode identifizieren lassen und darüber hinaus einige Lehren als bindend anerkennen. Obwohl al-Ġazālī die alten griechischen Philosophen als den Ursprung der gemeinsamen Methode und der gemeinsamen Lehren anerkennt, sind es doch die ‚jüngeren unter den falāsifa‘ (al-mutaʾaḫḫirūn), denen er seine Hauptaufmerksamkeit widmet.3 Dies sind vor allem die muslimischen falāsifa al-Fārābī (gestorben 950) und mehr noch Avicenna (Ibn Sīnā, gestorben 1038). In der großen Mehrzahl aller Fälle meint al-Ġazālī mit dem Wort falāsifa Avicenna und seine Schüler und Anhänger. Al-Ġazālīs Erwiderung der falāsifa in der Inkohärenz ließ ihm – wie wir sehen werden – durchaus Raum, einige der dort kritisierten Positionen selbst in seine eigenen Lehren zu übernehmen. Tatsächlich finden wir in al-Ġazālīs eigener Theologie eine weitreichende Aneignung von Lehren Avicennas, vor allem in der Kosmologie und der Seelenlehre. Dieses Kapitel ist aber al-Ġazālī als Kritiker gewidmet und lässt den Prozess der sogenannten
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De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam und Goldziher, Die islamische und die jüdische Philosophie des Mittelalters. Edition des arabischen Textes in: Ibn Rušd, Averroès Tahafot at-Tahafot (L’Incohérence de l’incohérence); englische Übersetzung von Simon van den Bergh: Averroes’ Tahafut al-Tahafut (The Incoherence of the Incoherence). Al-Ġazālī ist einer der ersten, der den in späteren arabischen philosophischen Werken immer wieder auftretenden Gegensatz von „alten falāsifa“ (al-mutaqaddimūn) und „neueren“ (al-mutaʾaḫḫirūn) verwendet; vgl. Griffel, MS London, British Library Or. 3126: An Unknown Work by al-Ghazālī on Metaphysics and Philosophical Theology, hier S. 17. Siehe auch al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 12.2 und S. 107.9.
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„Naturalisierung“ von Avicennas Lehren in den theologischen Werken al-Ġazālīs, also die Einbindung avicennistischer Lehren in die Theologie al-Ġazālīs, weitgehend aus.4
1. Al-Ġazālīs Leben Abū Ḥāmid Muḥammad ibn Muḥammad al-Ġazālī wurde um das Jahr 1055 in der Kleinstadt Ṭābarān im Distrikt Ṭūs im Nordosten des heutigen Irans geboren.5 Damals gehörte Ṭūs zu Ḫurāsān, einer persischsprachigen Region, die sich über den heutigen Ostiran und den Westen Afghanistans erstreckt. Ḫurāsān war eine Kernprovinz des islamischen Kalifenreiches. Viele Araber hatten sich hier nach der Eroberung im 7. Jahrhundert niedergelassen, und die Städte Ḫurāsāns waren Hochburgen islamischer Gelehrtenkultur. Im 11. Jahrhundert wurde Nishapur, die Hauptstadt von Ḫurasān, das Zentrum der muslimischen Theologenschule der Ašʿariten. Gegründet von dem vom Muʿtazilitentum abgefallenen al-Ašʿarī (gestorben 935–36) im 10. Jahrhundert in Baġdād, wurde die bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts kleine und recht unbedeutende theologische Tradition der Ašʿariten nach etwa 1070 sehr bedeutsam, da sie von den höchsten staatlichen Stellen gefördert wurde. Ihr Förderer war der Großwesir Niẓām al-Mulk (Regierungszeit 1063–1092), der wie al-Ġazālī aus der Region von Ṭūs stammte und wie er ein šāfiʿitischer Gelehrter war. Ja, bald nach al-Ġazālīs Geburt wurden die Šāfiʿiten von Ṭūs zu einer einflussreichen Gruppe im Staat, die viele hohe Ämter innehatte. Al-Ġazālīs erstaunliche Karriere vom einfachen Kleinstadtkind zum Inhaber des höchsten Lehramtes in Baġdād hatte sicher auch damit zu tun, dass es von Beginn an eine Verbindung zu Niẓām al-Mulk und seiner Familie gab.6 1.1 Die Religionspolitik Niẓām al-mulks
Der Staat, das war zu dieser Zeit die Herrschaft der Großseldschuken. Die būyidischen Kleinstaaten, die noch zu Zeiten von Avicenna die politische Landschaft im Iran bestimmt hatten, waren zur Mitte des 11. Jahrhunderts von den Seldschuken militärisch besiegt und abgeschafft worden. Die Seldschuken waren türksprachige Nomaden, die seit 1025 aus den Steppen Zentralasiens nach Ḫurāsān gekommen waren. Durch ihre überlegene militärische Schlagkraft gelang es ihnen, in dieser alten Kulturregion Fuß zu fassen und einen Staat zu gründen, der sich am Ende des 11. Jahrhunderts von Kleinasien nach Afghanistan erstreckte. Militärisch und politisch wurde dieser Staat von der Dynastie der Seldschuken geführt, einer weit verzweigten Familie, die sich auf den Ahnherren Seldšuk zurückführt, der im 10. Jahrhundert noch in Zentralasien zum Islam konvertiert ist. In ihrer Administration und auch ihrer Religionspolitik übernahmen die Seldschuken jene Struktur und Politik, die sie in Ḫurasān zur Mitte des 11. Jahrhunderts vorfanden. Dies war, was die Administration angeht, eine persischsprachige Gruppe von sunnitischen Rechtsgelehrten, und, was die Religionspolitik angeht, die Anerkennung der religiösen Leitung durch den abbasidischen Kalifen in Baġdād. Der hatte zu Beginn des 11. Jahrhunderts eine aktive Politik pro-sunnitischer und pro-traditionalistischer Prägung einge4
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Siehe dazu Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology. Über den Prozess der Naturalisierung griechischen Denkens in der arabischen Tradition siehe Sabra, The Appropriation and Subsequent Naturalization of Greek Sciences in Medieval Islam: A Preliminary Statement. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 23–25. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 27.
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schlagen, die sich vor allem gegen Schiiten aber auch gegen nicht-sunnitische, rationalistische Gruppen im Islam wie die Muʿtaziliten oder auch die Bewegung der falāsifa richtete. Die pro-rationalistische und pro-schiitische Religionspolitik unter den Būyiden, von der auch Muʿtaziliten wie der Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār (gestorben 1025) oder falāsifa wie Avicenna profitierten, war nun einer mehr konservativen pro-sunnitischen Politik im Iran und Irak gewichen. Dreh- und Angelpunkt der seldschukischen Religionspolitik war der Großwesir Niẓām al-Mulk, der fast dreißig Jahre lang diese Politik bestimmte und die Administration leitete.7 In den wichtigsten Städten des Reiches gründete er sogenannte Niẓāmīya madrasas, also Seminare der höheren Berufsausbildung in der islamischen Rechtswissenschaft aber auch in anderen Fächern, wie der Theologie.8 Einige der bedeutendsten Lehrämter an diesen Niẓāmīya madrasas gingen an ašʿaritische Theologen, und so trug die Religionspolitik der Großseldschuken ganz wesentlich zur Verbreitung der ašʿaritischen Theologie im 11. und 12. Jahrhundert bei. 1.2 Al-Ġazālīs frühe Karriere und seine Lehrzeit in Baġdād
Al-Ġazālī profitierte ganz wesentlich von der Religionspolitik Niẓām al-Mulks und von seiner Förderung. Nach einer frühen religiösen Ausbildung in seiner Geburtsstadt Ṭābarān ging er als Teenager nach Nīšāpūr, wo er an der dortigen Niẓāmīya madrasa bei dem berühmten Theologen und Rechtsgelehrten al-Ǧuwaynī (gestorben 1085) studierte. Über den familiären Hintergrund al-Ġazālīs lässt sich wenig Verlässliches sagen. Spätere Biographen meinen, er käme aus einer armen Familie und sei als Waise oder Halbwaise aufgewachsen. Das mag durchaus wahr sein, doch wissen wir auch, dass es sich um eine Gelehrtenfamilie gehandelt haben muss, da sie schon in der Generation von al-Ġazālīs Großvater einen bedeutenden Šāfiʿiten hervorgebracht hat.9 Unter al-Ǧuwaynī wuchs al-Ġazālī zu einem Meisterstudenten heran, der bald in der Lehre half und schon in seinen frühen Zwanzigern Lehrbücher für Kurse seines Meisters verfasste.10 Al-Ǧuwaynī war seinem Meisterschüler gegenüber nicht nur positiv gestimmt und bemängelte vor allem seine Selbstsucht und sein Überlegenheitsgefühl.11 Dieser eitle Hochmut resultierte, wie ein Zeitgenosse und Studienkollege schrieb, „aus der Leichtigkeit, die Gott ihm im Umgang mit Wörtern, Ideen und Ausdrücken gegeben hat“.12 Gleichzeitig soll der junge al-Ġazālī sowohl weltlichem Ruhm wie auch Reichtum zugetan gewesen sein. Über die Dekade, die zwischen al-Ġazālīs Studienzeit bei al-Ǧuwaynī und seiner Ernennung zum Professor in Baġdād liegt, wird uns nur gesagt, er sei von Niẓām al-Mulk an seinen Hof im mobilen Heerlager (muʿaskar) der Seldschuken berufen worden. Die Seldschuken hatten zu dieser Zeit Isfahan zu ihrer Hauptstadt gemacht, und al-Ġazālī hat diese Jahre wahrscheinlich hier in der Nähe von Niẓām al-Mulk verbracht. Während dieser Zeit muss er die Grundlage zu seinen einflussreichen Widerlegungen der ismāʿīlitischen Schiiten und der falāsifa gelegt haben, die dann in kurzer Folge 1094 und 1095 nacheinan7 8 9 10 11 12
Über die Religionspolitik der frühen Großseldschuken und Niẓām al-Mulks siehe die aufschlussreiche Studie von Glassen, Der mittlere Weg. Studien zur Religionspolitik und Religiösität der späten Abbasiden-Zeit. Für das deutsche Wort „Theologie“ gibt es im Arabischen kein Äquivalent. Was in den Disziplinen uṣūl ad-ḍin, ḫilāf und kalām studiert wurde, entspricht allerdings dem, was wir Theologie nennen. Griffel, Al-Ghazālī or al-Ghazzālī? On a Lively Debate Among Ayyūbid and Mamlūk Historians in Damascus, hier S. 107– 111. Al-Ġazālī, al-Manḫūl min taʿlīqāt al-uṣūl. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 34. So ʿAbdalġāfir al-Fārisī (gestorben 1134), zitiert in as-Subkī, Ṭabaqāt aš-šāfiʿīya al-kubrā, Bd. 6, S. 208.
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der veröffentlicht wurden. Möglicherweise hat die erfolgreiche Arbeit an diesen beiden Projekten Niẓām al-Mulk bewogen, ihn 1091 auf ein Lehramt an der Niẓāmīya madrasa in Baġdād zu berufen. Als al-Ġazālī im Juli 1091 in Baġdād ankam, galt er als hochtalentierter Zögling der Seldschukendynastie. Seine Lehren machten von Beginn an großen Eindruck unter den Gelehrten Baġdāds. Er ging im Kalifenpalast ein und aus, vermittelte zwischen dem Seldschukenhof und dem Kalifen, und wurde vom letzteren mit heiklen diplomatischen Missionen betraut.13 Seine Schülerzahl, so berichtet al-Ġazālī später, ging in die hunderte.14 Al-Ġazālī war während dieser Zeit der bedeutendste public intellectual in Baġdād, wenn nicht der ganzen islamischen Welt. Unter den vielen Büchern, die er während seiner Lehrzeit an der Niẓāmīya in Baġdād veröffentlichte, stehen vor allem seine Widerlegung der ismāʿīlitischen Schiiten, von den Sunniten wegen ihrer Bevorzugung eines inneren Sinns (bāṭin) in den Offenbarungsschriften polemisch Bāṭiniten genannt, und die der falāsifa hervor.15 Während seiner vier Jahre dauernden Lehrzeit in Baġdād wandte sich al-Ġazālī auch dem mystischen Schrifttum im Islam zu und vollzog eine graduelle Wandlung weg von dem pompösen und hochmütigen Lebensstil, den Zeitgenossen bei seiner Ankunft in Baġdād bemerkten, hin zu den asketischen Idealen der Sufis. In seiner Autobiographie Der Erretter aus dem Irrtum (al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl) schildert al-Ġazālī diese Hinwendung als abrupte und dramatische Wandlung im Stil eines reuigen Bekehrungserlebnisses (tawba).16 In Wirklichkeit nahm der Prozess wohl Jahre in Anspruch und abrupt war allein der letzte Schritt, nämlich der Bruch mit den Seldschuken und ihrer Administration.17 Dieser geschah im November 1095, als al-Ġazālī vorgab, die Pilgerfahrt nach Mekka zu machen – ein Unternehmen, das ihm seine Förderer in und um die Niẓāmīya madrasa kaum verwehren konnten. In Wirklichkeit reiste er aber nach Damaskus, um dort mit dem asketischen Sufi Abū l-Fatḥ Naṣr al-Maqdisī (gestorben 1096) zu leben und in seiner privaten Schule (zāwiya) zu lehren. 1.3 Die „Wanderjahre“ und das Leben in „Zurückgezogenheit“
Über al-Ġazālīs Motive, die Niẓāmīya und Baġdād zu verlassen, ist viel gerätselt worden. Auch ist die Bedeutung dieses Schrittes auf al-Ġazālīs Lebenswandel und auf seine Lehre häufig überschätzt worden. Zwar wurde al-Ġazālī von einem Tag auf den nächsten vom offiziellen Cheftheologen der Seldschukendynastie zu einem populären Wandergelehrten, der die moralische Korruption dieser Dynastie wortreich kritisierte, doch hörte er nicht auf zu lehren und zog sich auch – trotz vieler anderer Darstellungen – nie aus dem öffentlichen Leben zurück. Im Gegenteil, in Damaskus und den anderen Stationen seiner zwei Wanderjahre, also Jerusalem, Mekka, Medina und Baġdād, gab er bereitwillig öffentliche Vorlesungen und erreichte so eine viel größere Anzahl der Gläubigen als zuvor. Seine Entscheidung, die Niẓāmīya madrasa in Baġdād zu verlassen, steht in einem engen Zusammenhang mit drei Gelübden, die er im Herbst 1096, auf der Durchreise an Abra13 14 15
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Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 37–40. Al-Ġazālī, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl, erschienen unter dem Titel al-Munqiḏ min aḍalāl (Erreur et délivrance), Ed. Jabre, S. 18; deutsche Übersetzung von ʿAbd-Elṣamad ʿA. Elschazlī: Der Erretter aus dem Irrtum, S. 16. Al-Ġazālīs Widerlegung der Ismāʿīliten ist Faḍāʾiḥ al-Bāṭinīya wa-faḍāʾil al-Mustaẓhirīya, Hg. von ʿA. Badawī; unvollständige englische Übersetzung in: Deliverance from Error. Five Key Texts Including His Spriritual Autobiography, alMunqidh min al-Dalal, übers. v. Richard J. McCarthy; deutsche Paraphrase in Goldziher, Streitschrift des Ġazālī gegen die Bāṭinijja-Sekte. Die Widerlegung der falāsifa ist Die Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa). Al-Ġazālī, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl, S. 35–38; dt. Übers. S. 40–45. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 42 sowie 67f.
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hams Grab in Hebron geleistet hat. Hier versprach er, nie wieder „zu einem Herrscher zu gehen, Geld von ihm zu akzeptieren, oder an einer von ihm einberufenen öffentlichen Disputation teilzunehmen“.18 Al-Ġazālīs Hinwendung zu den asketischen Idealen des Sufismus führte zu einem moralischen Konflikt mit seinen politischen Arbeitgebern, denen er sich auf diese Weise entzog. Eine starke politische Herrschaft, so wird al-Ġazālī nun lehren, sei zwar notwendig, sie dürfe aber nicht in eine Ausbeutung der Steuerzahler und die Unterdrückung der bäuerlichen Landbevölkerung ausarten, wie sie seiner Meinung nach von den türkischen Seldschuken und ihrer Administration betrieben wurde. Abgesehen von hohen ethischen Ansprüchen, die nun auf das Handeln des Individuums angewandt werden und an denen al-Ġazālī auch sein eigenes Handeln misst, findet kaum eine andere weit reichende Veränderung in seinen Lehren statt.19 Zwar treten neue Themen in al-Ġazālīs Werk auf, nämlich die Verfechtung einer aristotelisch geprägten Tugendethik;20 was aber die philosophischen und theologischen Grundlagen von alĠazālīs Denken angeht, so wurden sie schon in der Inkohärenz der Philosophen gelegt und werden in den späteren Werken nur weiter ausgebaut, aber nie wirklich verändert. Eine ehemals angenommene Wandlung vom ašʿaritischen kalām-Gelehrten (mutakallim) zum neuplatonisch geprägten Mystiker entbehrt jeder Grundlage. Einzig in der Seelenlehre, so berichtet al-Ġazālī in seiner Autobiographie – die ansonsten viel zu diesem Missverständnis beigetragen hat – habe er sich nach langem Zweifel um 1106 Lehren angeschlossen, die ganz deutlich aus den Werken Avicennas kommen.21 Diese Lehren hat al-Ġazālī aber auch schon 1097 in Baġdād vertreten,22 was die Darstellung seiner intellektuellen Entwicklung in seiner Autobiographie einmal mehr in Zweifel zieht. Nachdem er 1095 nach Damaskus reiste, zog es al-Ġazālī ein halbes Jahr später weiter nach Jerusalem und auf die Pilgerfahrt nach Mekka und Medina. Über Damaskus kehrte er nach Baġdād zurück, wo er den Sommer 1097 verbrachte. Hier las er aus seinem populären Handbuch zur Alltagsethik, der Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften (Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn).23 Im Herbst des gleichen Jahres finden wir al-Ġazālī wieder in seiner Geburtstadt Ṭābarān an. Hier gründete er eine kleine, private madrasa (eine so genannte zāwiya) und ein Konvent (ḫānqāh), in dem Sufis umsonst leben konnten, sofern sie alĠazālīs Verhaltensregeln akzeptierten. In seiner Autobiographie und in seinen Briefen schildert er diesen Lebensstil als Zurückgezogenheit (ʿuzla), was bei seinen Biographen den Eindruck erweckt hat, er habe sich jeglicher öffentlicher oder auch intellektueller Tätigkeit entzogen. Jedoch lehrte al-Ġazālī nach wie vor und arbeitete weiter an seiner Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften wie auch an ihrem persischen Äquivalent, dem Elixier der Glückseligkeit (Kīmyā-yi saʿādat), mit dem er sich an die von ihm so heftig 18 19 20
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Makātīb-yi fārisī-yi Ġazzālī be-nām-i Fażāʾil al-anām min rasāʾil Ḥuǧǧat al-Islām; deutsche Übersetzung in Krawulsky, Briefe und Reden des Abū Hāmid Muhammad al-Ġazzālī, S. 66 und 135. Frank, Al-Ghazālī and the Ashʿarite School, S. 4, 29, 87 und 91 sowie Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 8 und 275f. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 91–93. Diese Ethik ersetzt bei al-Ġazālī aber nicht die voluntaristische ethische Theorie der Ašʿariten, an der er auch festhält, siehe Hourani, Reason and Revelation in Islamic Ethics, S. 135– 166. Al-Ġazālī, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl, S. 45f.; dt. Übers. S. 55f. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 66–69. Das Werk liegt in vielen arabischen Drucken vor, die alle im Wesentlichen den gleichen Text reproduzieren. Es ist in 40 einzelne Bücher eingeteilt. Einige dieser Bücher wurden zu Anfang des 20. Jahrhunderts von Hans Bauer und Hans Wehr ins Deutsche übersetzt. Eine Anzahl wichtiger Bücher wurde von Richard Gramlich übersetzt: Muḥammad al-Ġazzālīs Lehre von den Stufen der Gottesliebe. Die Bücher 31–36 seines Hauptwerkes eingeleitet, übersetzt und kommentiert. Eine detaillierte Wiedergabe des Inhalts findet sich bei Bousquet, Ih’ya ʿouloûm ad-dîn ou vivication des sciences de la foi. Analyse et index.
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kritisierten Beamten des Seldschukenstaates wandte.24 „Zurückgezogenheit“ meint nur, dass sich al-Ġazālī dem Kontakt mit Herrschenden und der Lehre an staatlichen madrasas wie den Niẓāmīyas entzogen hat. Diese Haltung musste er 1106 aufgeben, als er von dem lokalen Seldschukenherrscher Sanǧar (gestorben 1157) und seinem Wesir, einem Sohn Niẓām al-Mulks, gezwungen wurde, erneut ein Lehramt an einer Niẓāmīya madrasa anzunehmen; diesmal das Amt an der Niẓāmīya in Nishapur, das schon sein Meister al-Ǧuwaynī innehatte.25 Der erzwungene Bruch seines Gelübdes in Hebron bewegte al-Ġazālī dazu, seine viel gelesene Autobiographie Der Erretter aus dem Irrtum als Apologie zu verfassen.26 Diplomatisch weist er darin auf den Zwang hin, dem er sich beugen musste, macht aber auch deutlich, dass sich eine intellektuelle Korruption im Islam breit gemacht habe, die seine Lehrtätigkeit an prominenterer Stelle erfordert als an seiner zāwiya in der Provinz. Al-Ġazālī verstand sich als einer der vom Propheten vorhergesagten Erneuerer (muḥyī) der Religion, die jeweils zu Beginn eines Jahrhunderts der muslimischen Zeitrechnung – das 6. Jahrhundert hatte gerade im September 1106 begonnen – auftreten würden. Einige der von ihm nun an der Niẓāmīya vertretenen Lehren führten in Nishapur zu Opposition unter den Gelehrten, die sich in öffentlichem Aufruhr und Beschwerden bei dem Seldschukenherrscher Sanǧar äußerte.27 Zwar konnte sich al-Ġazālī einer Verurteilung entziehen, aber er fühlte sich nun gänzlich isoliert – selbst von den Mitgliedern seiner eigenen Theologenschule der Ašʿariten28 – und zog sich erneut nach Ṭābarān zurück.29 Dort starb er am 18. Dezember 1111. Er wurde in einem Mausoleum begraben, das heute noch in den Ruinen von Ṭābarān steht.30
2. Al-Ġazālīs Darstellungen der Lehren der falāsifa Die Inkohärenz der Philosophen wurde im Januar 1095 veröffentlicht, etwas mehr als drei Jahre nachdem al-Ġazālī das Lehramt an der Niẓāmīya in Baġdād übernommen hatte.31 In seiner Autobiographie schreibt al-Ġazālī, er hätte drei Jahre an diesem Projekt gearbeitet: zwei Jahre, um die Lehren der falāsifa zu verstehen, und eines, um sie zu widerlegen.32 Al-Ġazālī hat sich sehr gründlich auf diese Widerlegung vorbereitet und mehrere Zusammenfassungen von den Lehren der falāsifa verfasst. Eine davon fand unter dem Titel Die 24 25 26 27 28
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Al-Ġazālī, Kīmyā-yi saʿādat; engl. Übersetzung von Jay R. Crook: Alchemy of Happiness (Great Books of the Islamic World). Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 53f. Al-Ġazālī, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl. Die Gelübde in Hebron werden darin nur andeutungsweise und sehr vage erwähnt (S. 50, dt. Übers. S. 61), wohl weil sie unter den Lesern, die al-Ġazālī erreichen wollte, bekannt waren. Garden, Al-Māzarī al-Dhakī: al-Ghazālī’s Maghribi Adversary in Nishapur. Frank, Al-Ghazālī and the Ashʿarite School, S. 76–85. Aus dieser Phase stammt al-Ġazālīs Werk Fayṣal at-tafriqa bayna al-Islām wa-z-zandaqa; deutsche Übersetzung von Frank Griffel: Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz. Eine Übersetzung der Schrift Das Kriterium in der Unterscheidung zwischen Islam und Gottlosigkeit (Fayṣal at-tafriqa bayn alIslām wa-z-zandaqa). Wann er sein Lehramt in Nischapur aufgab (und unter welchen Umständen) ist leider nicht bekannt. Mehrmals hatte al-Ġazālī offenbar um seine Entlassung gebeten, was ihm jeweils verwehrt wurde (al-Ġazālī, Makātīb-i fārisī, S. 10f.; dt. Übers. S. 75f.). Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 58f. Das Mausoleum wird fälschlich mit dem des Kalifen Hārūn ar-Rašīd in Verbindung gebracht, der 809 auch in der Region Ṭūs starb, aber an einem anderen Ort begraben wurde, nämlich im damaligen Sanābāḏ, im heutigen Meschhed. Bouyges, Essai de chronologie des œuvres de al-Ghazali (Algazel), S. 23; Hourani, A Revised Chronology of Ghazālī’s Writings, S. 289–302, hier 292f. Al-Ġazālī, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl, S. 18; dt. Übers. S. 16.
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Lehren der Philosophen (Maqāṣid al-falāsifa) unter den Gelehrten des Islam Verbreitung und wurde ins Hebräische und Lateinische übersetzt.33 Besonders die lateinischen und hebräischen Übersetzungen wurden als gekonnte Darstellungen der Philosophie Avicennas im Mittelalter viel benutzt.34 Bei manchem jüdischen Gelehrten und mehr noch bei den Lateinern war al-Ġazālī vor allem als Kompilator der Lehren Avicennas bekannt und galt deshalb auch als einer seiner Anhänger.35 Die mehreren Versionen, in denen al-Ġazālī die Lehren der falāsifa zusammenfasst – darunter auch ein kürzlich entdecktes Kompendium philosophischer Metaphysik –, werfen einige ungeklärte Fragen auf.36 Die hergebrachte Meinung, Die Lehren der Philosophen sei in den zwei Jahren 1093–94 entstanden, in denen al-Ġazālī laut eigener Auskunft in seiner Autobiographie die Bücher der falāsifa studiert habe, ist sicherlich falsch. Die verschiedenen Werke dieser Art – im Fall der Lehren der Philosophen handelt es sich um eine arabische Überarbeitung eines persischen Lehrbuchs der Philosophie von Avicenna37 – lassen eher darauf schließen, dass al-Ġazālī sich über mehrere Jahrzehnte mit den Lehren Avicennas auseinander gesetzt hat. Ja, es gibt sogar Hinweise, dass er sich in seinen Jugendjahren sehr zu diesen Lehren hingezogen fühlte.38 Die Darstellung in seiner Autobiographie sollte hingegen den Eindruck bestärken, dass al-Ġazālī die Werke der falāsifa erst gelesen habe, nachdem er ein angesehener Religionsgelehrter war. In Wirklichkeit mag er sie schon unter al-Ǧuwaynī kennengelernt haben.
3. Al-Ġazālīs „Erwiderung“ (radd) auf die falāsifa Al-Ġazālī hat seine Inkohärenz der Philosophen als „Erwiderung“ oder auch „Widerlegung“ (radd) der Bewegung der falāsifa verstanden, also ein Buch, das der ganzen intellektuellen Richtung, die sich falsafa nannte, den Garaus machen würde. Um al-Ġazālī richtig zu verstehen, ist es jedoch wichtig, zwischen dieser Bewegung und ihren Ideen zu unterscheiden. Al-Ġazālī empfand die Bewegung der falāsifa missgeleitet und sogar gefährlich, während er durchaus bereit war, einige ihrer Ideen als die seinigen zu akzeptieren. Allerdings hat al-Ġazālī die „guten“ Ideen, die die falāsifa lehrten, nie als „Ideen der falāsifa“ verstanden. Die Widerlegung der falāsifa in der Inkohärenz setzt sich aus zwei Schritten zusammen: Im ersten Schritt bezweifelt al-Ġazālī den Erkenntnisanspruch der falāsifa. Dies ist der 33 34
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Al-Ġazālī, Maqāṣid al-falāsifa. Der erste Teil der lateinischen Übersetzung ist ediert in Lohr, Logica Algazelis: Introduction and Critical Text. Die letzten beiden Teile über Metaphysik und die Naturwissenschaften in: Algazels’s Metaphysics: A Medieval Translation, Hg. J. T. Muckle. Die lateinische Übersetzung wurde von Dominicus Gundisalvi wahrscheinlich in Zusammenarbeit mit dem jüdischen Gelehrten Abraham ibn Daud (gestorben ca. 1180) im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts in Toledo angefertigt. Sie wurde wahrscheinlich im 13. Jahrhundert überarbeitet (Lohr, Logica Algazelis, S. 229). Die Einleitung zum arabischen Maqāṣid, in der sich al-Ġazālī von den Lehren der falāsifa distanziert, lag zwar in einer lateinischen Übersetzung vor, wurde den Manuskripten des Buches aber nicht beigegeben (Salman, Algazel et les latins). Eine erste hebräische Übersetzung (Deʾôt ha-fîlôsôfîm) wurde 1292 von Isaac Albalag angefertigt, zwei weitere (nun Kavvânôt ha-fîlôsôfîm) entstanden im Verlauf der nächsten fünfzig Jahre. Während die Lateiner nur dies eine Buch alĠazālīs zur Verfügung hatten, lagen im Hebräischen auch andere Werke al-Ġazālīs vor, darunter Tahāfut al-falāsifa und Mīzān al-ʿamal; siehe Eran, Ghazālī, Abū Ḥāmid. Zum „neuen“ Maqāṣid siehe Griffel, MS London, British Library Or. 3126. Einige dieser Fragen werden von Afifi al-Akiti diskutiert: The Good, the Bad, and the Ugly of Falsafa: Al-Ghazālī’s Maḍnūn, Tahāfut, and Maqāṣid, with Particular Attention to their Falsafi Treatments of God’s Knowledge of Temporal Events, hier S. 53–59. Janssens, Le Dânesh-Nâmeh d’Ibn Sînâ: Un text à revoir? Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 30f.
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philosophische Schritt der Widerlegung. In einem zweiten Schritt geht es ihm darum festzustellen, dass drei Lehren der falāsifa so fehlleitend und gefährlich sind, dass sie im Islam nicht geduldet werden dürfen. Dieser zweite Schritt nimmt nur sehr wenig Raum im Buch ein, ist für die weitere Geschichte der Philosophie jedoch sehr bedeutend. Es ist der erste Schritt, der al-Ġazālī als herausragenden Philosophen qualifiziert. Er soll zuerst dargestellt werden. 3.1 Al-Ġazālīs philosophische Widerlegung Avicennas
Die Inkohärenz der Philosophen teilt sich in zwanzig sogenannte „Einzelfragen“ (Singular masʾala), in denen al-Ġazālī jeweils einen Lehrsatz der falāsifa isoliert und die dafür vorgebrachten Argumente kritisch hinterfragt. Die einzelnen Diskussionen dieser zwanzig Fragen sind unterschiedlich lang, manche nur wenige Absätze, andere bis zu 25 Seiten. Vielfach können sie einzeln studiert und für sich gelesen werden. Abgeschlossen wird die Diskussion dieser zwanzig Fragen von einem Schlusswort (ḫāṭima), das die religionsrechtliche Bedeutung des Buches hervorhebt und später behandelt werden soll. Das Buch beginnt jedoch mit fünf einzelnen „Einleitungen“ (Singular muqaddima), in denen al-Ġazālī seine Motivation für das Schreiben der Inkohärenz und die Schlagrichtung seines Hauptarguments erklärt. Angeregt wurde seine Beschäftigung mit der Bewegung der falāsifa dadurch, so al-Ġazālī ganz am Anfang des Buches, dass es da eine Gruppe (ṭāʾifa) gäbe, die weder die Regeln des islamischen Religionsgesetzes befolgen, noch die Riten des Islam, wie zum Beispiel das fünfmalige tägliche Beten, einhalten würde. Diese Gruppe meine, dass all diese Regeln für sie nicht gelten würden. Religion, so meinten sie, sei nur für die einfachen Menschen; sie selber hätten jedoch mit der Methode der Apodiktik, die man aus den Werken des Aristoteles lernen könne, einen bevorzugten Zugang zur Wahrheit und zur diesseitigen wie jenseitigen Glückseligkeit.39 Al-Ġazālī referiert hier überspitzt und etwas sarkastisch die Religionsphilosophie al-Fārābīs, die ein Kernelement der Weltanschauung der falāsifa wurde. Philosophie und Offenbarungsreligion, so al-Fārābī, verfolgen das gleiche Ziel, nämlich die Erlangung dies- und jenseitiger Glückseligkeit, auf zwei verschiedene Arten. Während die Philosophie dies Ziel durch das Mittel der Apodiktik (burhān) erreicht, also dadurch, dass sie ein Erkenntnisgebäude erstellt, in dem unzweifelhafte Prämissen mit korrekten Schlussfiguren verknüpft werden und so unzweifelhafte Konklusionen ergeben, die im nächsten Schritt wieder die Prämissen eines Arguments sind, erreicht die Religion dies durch weniger vollkommene Mittel, die die Philosophie im Grunde nur nachahmen. Beide, Religion und Philosophie, führen zu tugendhaften Verhalten. Die Philosophie tut dies aber nur bei jenen, die in der Lage sind, sie zu verstehen, was für die Mehrheit (ǧumhūr) der Menschen nicht gilt. Sie können aufgrund ihrer intellektuellen Mängel nur auf die Religion zurückgreifen, die ihnen zwar sagt, was tugendhaftes Verhalten ist, sie aber nicht über das „Warum“ aufklärt. Al-Ġazālī betrachtet diese Lehre der falāsifa – oft auch als ihre „politische Philosophie“ bezeichnet – als eine alternative Religion zum Islam.40 Wie die Religionen der Juden und Christen gründet sie in einem Missverständnis darüber, was Gott ist und wie man jenseitige Glückseligkeit erlangen kann. Und wie die Religionen der Juden und Christen wird die Religion der falāsifa von einer Generation zur nächsten übertragen, indem man wäh39 40
Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 1f. Ghayr dīn al-Islām; al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 2.4.
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rend der Ausbildung ihre Lehrsätze und „Glaubensüberzeugungen“ (iʿtiqād) übernimmt, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Im Falle der Religion der falāsifa betrifft dies besonders die apodeiktische Methode. Durch „unkritische Nachahmung“ (taqlīd) tragen die falāsifa Lehrsätze von Generation zu Generation, von denen sie meinen, dass sie apodeiktisch, das heißt unzweifelhaft, begründet sind. Ihr „Glaube“ an die apodeiktische Methode führte sie nicht nur dahin, den Islam als Religion abzulegen, sondern auch einen Hochmut gegenüber den Religionsgelehrten des Islam anzunehmen, die die apodeiktische Methode nicht kennen: „Die Ursache ihres Unglaubens (kufr) ist allein, dass sie so hochtrabende Namen gehört haben wie Sokrates, Hippokrates, Platon, Aristoteles und dergleichen und die Übertreibungen einiger Gruppen unter ihren Anhängern, die fehlgeleitet sind, wenn sie die Intelligenz dieser Männer, ihre hervorragenden Prinzipien und ihre Genauigkeit in den Wissenschaften der Geometrie, der Logik, den Naturwissenschaften und der Metaphysik beschreiben.“41
Das Übel liegt also nicht bei den Philosophen selber, sondern bei „einigen Gruppen unter ihren Anhängern“ (ṭawāʾif min muttabiʿīhim), die ihre Lehren quasi zu einer Religion erheben. Sie glauben, so al-Ġazālī weiter, dass unter allen Menschen nur diese Philosophen – allein aufgrund ihrer Intelligenz und ihres Scharfsinns – in der Lage seien, das Wissen, das es in diesen Wissenschaften gibt, zu ermitteln. Indem sie dies behaupten, negieren sie die Errungenschaften der Propheten. Für al-Ġazālī sind nicht Platon und Aristoteles die Autoritäten, die die Wissenschaften geschaffen haben und denen man blind folgen könnte, sondern es sind Moses, Abraham und die restlichen Propheten. Das Wissen um die himmlischen Sphären zum Beispiel, das heißt ihre Anzahl und wie sie sich ineinander drehen, haben die Menschen nicht von den Philosophen. Diese haben es nur aufgeschrieben. Es stammt auch nicht von Beobachtungen, denn manche Himmelsereignisse sind so selten, so führt al-Ġazālī aus, dass sie nur in hunderten von Jahren einmal vorkommen. Es handelt sich dabei um offenbartes Wissen, das die Menschheit auf dem Wege der Prophetie empfangen hat, oder Wissen, das Mystiker auf dem Weg der Inspiration (ilhām) empfangen haben, ein Vorgang, der demjenigen der Offenbarung ähnelt, ohne dabei aber einen Text zu produzieren. Die Gesetze der Logik, so al-Ġazālī, haben die falāsifa aus den ihnen vorliegenden Offenbarungsschriften extrahiert (istaḫraǧa); ihre ethischen Lehren haben sie von den Mystikern übernommen, die es auch schon in den Religionen vor dem Islam gab.42 In vielen der zwanzig Diskussionen der Inkohärenz lässt al-Ġazālī sich auf eine Polemik über den Ursprung der Wissenschaften und des menschlichen Wissens ein. Ihm geht es darum zu zeigen, dass Rationalität allein nicht zu dem Wissen führen kann, dass die falāsifa für sich in Anspruch nehmen, sondern dass viele ihrer Lehrsätze auf göttliche Offenbarung zurückgehen, ohne dass dies von ihnen selber verstanden wird. Im Rahmen der „Widerlegung“ der falāsifa ist dies aber nur ein Nebenaspekt, der erklärt, warum al-Ġazālī in seinen eigenen Lehren Dinge übernehmen kann, die er als Probleme in der Inkohärenz identifiziert. Wenn ein Lehrsatz der falāsifa in der Inkohärenz als „Frage“ (masʾala) diskutiert wird, heißt das nicht, dass er falsch sein muss, sondern einfach, dass er nicht rational bewiesen werden kann, was für al-Ġazālī seinen Ursprung in einer der vorkoranischen Offenbarungen oder in der Inspiration eines der „Freunde Gottes“ (walī, Plural awliyāʾ) deutlich macht.
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Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 2.9–13. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 100f.
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Wichtiger ist für al-Ġazālī jedoch, die Grundlage zu zerstören, auf der „einige Gruppen unter den Anhängern der Philosophen“ ihre Alternativreligion und ihren Hochmut gegenüber den Religionsgelehrten gegründet haben. Kann man nämlich zeigen, dass wichtige Lehrsätze der großen Philosophen, die die Vorbilder dieser Gruppen sind, nicht apodeiktisch bewiesen sind, sondern Raum für Zweifel und argumentative Gegenentwürfe erlauben, dann fällt ihr Kartenhaus zusammen. Dies ist der tahāfut, das „In-sich-zusammen-stürzen“, das al-Ġazālī anstrebt. Gelingt es, den apodeiktischen Erkenntnisanspruch zu erschüttern, dann sind die großen Philosophen weder den Religionsgelehrten überlegen noch stehen sie auf einer Stufe mit den großen Propheten. Dann wird gezeigt, was sie wirklich sind, nämlich Nachahmer (Singular muqallid) der großen Propheten – wie alle anderen Menschen auch. Dies ist das Hauptziel der Inkohärenz, das al-Ġazālī in der vierten und letzten Einleitung deutlich ausdrückt. Al-Ġazālī will aufzeigen, dass die Argumente der falāsifa in der Metaphysik nicht ihren eigenen hohen Ansprüchen nach Apodiktik genügen. Er verweist hier auf die einzelnen Bücher des aristotelischen Lehrkanons der Logik und der Wissenschaftstheorie, das heißt des Organons, in denen die Bedingungen für Apodiktik dargelegt werden: „Wir werden deutlich zeigen, dass [die falāsifa] in ihren metaphysischen Wissenschaften (fī ʿulūmihim al-ilāhīya) weder ihre Forderungen erfüllen können, die sie in der Analytica posteriora der Logik über die Begründbarkeit der Prämisse eines Syllogimus aufgestellt haben, noch ihre Forderungen über die Schlussfigur eines Syllogismus, die sie in der Analytica priora vertreten, noch die Postulate, die sie in der Isagoge und in den Categoriae dargelegt haben. Alles dies sind Teile der Logik sowie ihre Einleitung.“43
Beide Ziele, das der Polemik über den Ursprung der philosophischen Lehren und das des In-Sich-Zusammenstürzens der Religion der falāsifa und ihres Hochmuts, machen die detaillierte philosophische Diskussion von Lehren notwendig. In diesen Diskussionen kann Offenbarung keine Rolle spielen. Es geht allein darum, ob ein Lehrsatz der falāsifa apodeiktisch, das heißt in diesem Fall: vollständig rational begründbar ist oder nicht. Ob ein solcher Lehrsatz darüber hinaus auch mit den Glaubensüberzeugungen des Islam in Konflikt gerät, ist auf dieser Stufe noch nicht relevant. Diese Frage wird auf einer zweiten Ebene im Schlusswort des Buches behandelt. Die ersten drei Fragen, die al-Ġazālī diskutiert, betreffen Argumente für die Ewigkeit der Welt. Schon Aristoteles hatte in seinem Buch Über den Himmel (De caelo) argumentiert, dass zum Beispiel die Himmelssphären von Ewigkeit an existieren. Johannes Philoponos – unter den Arabern als Yaḥyā an-Naḥwī (Johannes der Grammatiker) bekannt –, ein christlicher Theologe, der im 6. Jahrhundert in Alexandria tätig war, hatte in zwei Widerlegungsschriften gegen Aristoteles und den Neuplatoniker Proklos (gestorben 485) etliche Argumente formuliert, die zeigen sollten, dass dies unmöglich sei. Wenn die Himmelssphären tatsächlich von Ewigkeit existierten, dann würden sie sich auch von Ewigkeit drehen. Die Anzahl der vollzogenen Rotationen jeder Himmelssphäre wäre dann unendlich, was für Johannes Philoponus unmöglich ist. Die Anzahl dieser Rotationen muss entweder eine gerade oder eine ungerade Zahl sein, unendlich ist hingegen keines der beiden. Ein weiteres Problem liegt in der Tatsache, dass in der Zeitspanne, in der Jupiter eine Umdrehung vollzieht, die Sonne schon dreißig vollzogen hat. Die Anzahl der Umdrehungen der Sonne muss also ein Vielfaches von denen von Jupiter sein. Wie kann das aber sein, da gemäß der Anhänger Aristoteles’ beide Him43
Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 9. Gemeint sind die arabischen Kommentare zu diesen Büchern des Organons.
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melskörper eine unendliche Anzahl von Umdrehungen hinter sich haben – also die gleiche Anzahl?44 Diese Argumente waren in der philosophischen Tradition bekannt und tauchen bei al-Ġazālī in der Diskussion der ersten Frage in der Inkohärenz auf.45 Al-Ġazālī ist jedes Argument recht, das Zweifel in die Lehre von der Ewigkeit der Welt sät. Sagen die falāsifa nicht selber, Platon habe Aristoteles in dieser Frage widersprochen und Galen habe sich einer Entscheidung enthalten? Und deutet dies nicht darauf hin, dass diese Frage nicht apodeiktisch beantwortet werden kann, wo doch die Meister der Apodiktik sich darüber uneinig sind?46 Philosophisch interessant ist al-Ġazālīs Inkohärenz aber vor allem, weil hier zwei unterschiedliche Konzepte über die Grenzen menschlicher Rationalität aufeinanderstoßen. Das aristotelische Konzept der falāsifa geht davon aus, dass die ganze Welt rational erfahrbar ist und dass wir auch gewisse Aussagen über Gott, sein Wesen und seine Attribute machen können, selbst wenn ein ultimatives Verständnis von Gottes Wesen niemals erreicht werden kann. Das Kernargument der arabischen falāsifa für die Ewigkeit der Welt beruht auf einer rationalen Reflexion über das Prinzip der göttlichen Einheit. Avicenna und schon andere Philosophen vor ihm hatten gelehrt, dass die absolute Einheit Gottes keine Veränderung in Gottes Wesen oder in seinen Handlungen zulässt. Was gänzlich Eins ist kann sich nicht verändern, denn Veränderung hieße ein Vorund ein Nachher, die verschieden voneinander sind. Was sollte diese Veränderung in Gott auch bewirken, wo doch nicht ein Element in ihm gegen ein anderes existieren kann. Gibt es keine Veränderung, dann kann sich Gott auch nicht vom Nichtschöpfer zu einem Schöpfer verändern. Da Gott heute ein Schöpfer ist (dies wissen wir apodeiktisch), muss er gemäß dieser Reflexion über die göttliche Einheit auch in der Vergangenheit immer ein Schöpfer gewesen sein, quod erat demonstrandum.47 Al-Ġazālīs Einspruch gegen dieses Argument ist in dem Einwand gegründet, dass menschliche Rationalität nichts über Gottes Wesen aussagen kann. Hier zeigt sich sein Hintergrund als ašʿaritischer kalām-Theologe (mutakallim). Die Ašʿariten hatten über viele Jahrzehnte hinweg ähnliche Argumente gegen die Attributenlehre der Muʿtaziliten hervorgebracht: Wie immer wir ein Attribut Gottes, wie zum Beispiel Gottes Leben, seine Macht oder seine Gerechtigkeit, verstehen, sagt nichts über das wirkliche Dasein dieses Attributs in Gott aus.48 Ein Hauptargument der Ašʿariten gegen die ethischen Theorien der Muʿtaziliten war, dass Gottes Gerechtigkeit von der menschlichen verschieden ist. Gemäß unseres menschlichen Verständnisses von Gerechtigkeit ist es nicht gerecht, dass Gott den Sünder einen Sünder sein lässt, wo er doch ein Vorwissen darüber hat, dass der sein Leben verwirken wird, und ihn deshalb auch als unmündiges Kind abberufen könnte, um ihm so das Höllenfeuer zu ersparen. Für die Ašʿariten mag dies nicht dem menschlichen intuitiven Verständnis von Gerechtigkeit entsprechen, und doch handelt Gott ge44
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Siehe die englische Übersetzung von C. Wildberg der Fragmente von Johannes Philoponus’ De aeternitate mundi contra Aristotelem: Philoponus, Against Aristole, On the Eternity of the World sowie die englische Übersetzung von M. Share und J. Wilberding seines De aeterninate mundi contra Proclum: Against Proclus on the Eternity of the World. Einen guten Überblick bietet Richard Sorabji in dem von ihm herausgegeben Band Philoponus and the Rejection of Aristotelian Science, S. 1–40. Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 18. Ebd., S. 12. Apodiktik impliziert, dass keine Zweifel am Ergebnis möglich sind. Schon Aristoteles lehrte in seiner Topik, 104b, dass Uneinigkeit unter Experten auf den dialektischen, das heißt nichtapodeiktischen Charakter eines Problems hindeutet und nennt die Ewigkeit der Welt als Beispiel für eine solche Frage. Ebd., S. 13f. Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 23: „Wenn ihr unseren [menschlichen] Willen als Vergleichsobjekt [zum göttlichen] nehmt, dann ist das [ebenso] falsch, wie wenn man das [göttliche] Wissen [mit dem menschlichen] vergleicht. Wir haben schon erklärt auf welche Weise Gottes Wissen anders ist als unser Wissen.“
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recht, wenn er den Sünder seine Sünden tun lässt – ja, für die Ašʿariten „tut“ Gott selber diese Sünden – auf eine Art und Weise, die die menschliche Verständniskraft übersteigt. „Gottes Einheit“ ist dann auch anders zu verstehen als die Einheit, die zum Beispiel innerhalb einer statischen Wasserkugel herrscht, in der sich auch nichts verändert. AlĠazālī verneint nicht, dass Gott absolute Einheit ist; „Gottes Ein- und Einzigkeit“ (tawḥīd allāh) ist einer der Glaubenssätze des Islam. Für den Ašʿariten al-Ġazālī lässt Gottes Einheit aber durchaus die Veränderung vom Nichtschöpfer zum Schöpfer zu. Die Richtschnur für das, was wir über Gott wissen, kann nicht die menschliche Rationalität sein. Gott ist jenseits dieses Standards und damit nicht rational erfassbar, nicht einmal, wie die falāsifa behaupten, im Ansatz. Rationalität kann nur sehr begrenzte Erkenntnisse über Gott hervorbringen – zum Beispiel dass es nur einen einzigen Gott gibt, und dass er kein Körper ist –, alles darüber hinaus Gehende können Menschen nur aus der Offenbarung lernen. In der Inkohärenz treffen verschiedene Konzepte über die Grenzen menschlicher Rationalität aufeinander: ein philosophischer Erkenntnisanspruch, wonach weitreichende rationale Überlegungen über Gott Gültigkeit haben, und ein letztlich ašʿaritisch-theologischer Einspruch, dass Gottes Transzendenz hier eine ganz tiefe Grenze setzt. Die Leistung von al-Ġazālī besteht darin, dass er diesem ašʿaritisch-theologischen Einspruch eine philosophische Sprache gibt: Bis ins kleinste Detail wird jedes Argument untersucht und jeder Einspruch mit einem Gegeneinspruch – der von beiden Seiten kommen kann – beantwortet. Al-Ġazālīs Inkohärenz erfüllt allerhöchste Ansprüche selbst moderner philosophischer Literatur, denn ihr Autor ist trotz seines polemischen Ansatzes niemals unfair gegen eine Seite, stets genau und aufrichtig in seiner Wiedergabe der Positionen und an einem ehrlichen Austausch von Argumenten, mithin an echter Erkenntnis interessiert. 3.2 Vernunftwissen und Offenbarungswissen in der Inkoheränz
Obwohl al-Ġazālī die zwanzig einzelnen Diskussionen der Inkohärenz in die Felder der Metaphysik und der Naturwissenschaften einteilt (sechzehn im ersten Teil, vier im letzten), sind auch die Fragen, die in den letzten vier behandelt werden, erkenntnistheoretischer und metaphysischer Natur. Die Naturwissenschaften der Aristoteliker werden von alĠazālī nicht wirklich kritisiert. In den zwanzig Fragen geht es darum, wie rationale Erkenntnis begründet werden kann, nicht was in den Naturwissenschaften im Einzelnen herausgefunden wurde. In seinen eigenen Schriften zur Methodik der Wissenschaften wird al-Ġazālī innovative Wege finden, die Naturwissenschaften der Aristoteliker zu untermauern statt zu unterminieren.49 Das erkenntnistheoretischen Systems al-Ġazālīs hat zwei Säulen: Offenbarung (waḥy und ilhām) und Rationalität (ʿaql). Diese beiden können gemäß al-Ġazālī nicht miteinander in Konflikt treten. Aus diesem Grundsatz entwickelt er eine Regel, die er in späteren Werken „das Gesetz der Interpretation“ (qānūn al-taʾwīl) genannt hat. Gemeint ist die allegorische Interpretation der Offenbarung. Dies Gesetz besagt, dass der Leser so lange dem äußeren Wortlaut der Offenbarung folgen muss, bis dieser durch das Ergebnis eines apodeiktischen Beweises (burhān) falsifiziert wird.50 Berichtet der Koran zum Beispiel davon, dass Joseph von seinen Brüdern in einen Brunnen geworfen wurde und daraus gerettet wird (Q 12.15–19), so widerspricht hier nichts dem Ergebnis eines apodeiktischen Beweises und der Leser muss diesen Bericht als wahr anerkennen. Was aber, wenn der Koran 49 50
Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 201–213. Ebd., S. 111–113.
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erzählt, der Stab in Moses Hand habe sich in eine Schlange verwandelt (Q 7.104–109, 26.30–35) oder Jesus habe einen Toten auferweckt (Q 3.39, 5.110)? Wird die Möglichkeit solcher Ereignisse nicht durch apodeiktische Beweise in den Naturwissenschaften falsifiziert? Al-Ġazālīs Herangehensweise macht deutlich, dass er den apodeiktischen Beweis als Kronweg der Erkenntnis, so wie ihn die falāsifa verstehen, durchaus anerkennt. Menschliche Rationalität äußert sich in ihrer reinsten Art und Weise in den Methoden, die die aristotelische Logik lehrt.51 Al-Ġazālīs Disput mit den falāsifa geht darum, welche Ergebnisse diese Logik hervorbringt und wie diese Ergebnisse in der Metaphysik angewandt werden. Das Resultat eines gültigen apodeiktischen Beweises muss als wahr anerkannt werden. Wenn es dem äußeren Wortlaut der Offenbarungsschrift widerspricht, so muss der Text allegorisch interpretiert werden, in einer Weise, die das Primat des rationalen Beweises anerkennt.52 Ein Beispiel wäre der Koranvers 48.10: „Gottes Hand ist über ihrer Hand.“ Hier wird der Wortlaut, gemäß al-Ġazālī, durch einen gültigen apodeiktischen Beweis widerlegt, wonach Gott keine Gliedmaßen haben kann. Die Formulierung „Gottes Hand“ darf hier nicht wörtlich verstanden werden, vielmehr muss sie allegorisch als Metapher gelesen werden, nämlich zum Beispiel für Gottes Fähigkeit, Wohltaten zu geben und sie zurück zu halten.53 Im Gegenzug impliziert das Gesetz der Interpretation aber auch, dass der Wortlaut der Offenbarung nicht allegorisch interpretiert werden darf, wenn man nur eine Vermutung oder ein methodisch unbefriedigendes Argument gegen dessen Gültigkeit vorbringen kann. Dies führt dazu, dass die Argumente, die die falāsifa für ihre Lehren vorbringen, abermals auf den Prüfstand kommen. Avicenna lehrt nämlich, dass die ausführlichen Passagen im Koran, in denen das Schicksal der Menschen nach dem Tod und ihre Belohnung und Bestrafung im Jenseits beschrieben werden, nicht wörtlich wahr sind. Der Koran beschreibt Lohn und Strafe im Jenseits als körperliche Freuden oder Schmerzen. Avicenna lehrt, dass nur die Seele des Menschen fortleben kann, der Körper nach dem Tod aber vergeht und als Materie in den Kreislauf des organischen Lebens eingeht, um unter anderem die Materie für einen neuen menschlichen Körper zu stellen. Diese Zirkularität der Materie ist notwendig in einer Welt, die seit Ewigkeit existiert, also unendlich viele Menschen hervorgebracht hat, in der Materie jedoch endlich ist. Avicenna lehrt, dass die Beschreibungen des Korans nicht wirklich falsch sind. Zwar haben wir nach dem Tod keine Körper mehr, aber unsere Seelen empfinden die Freunden und den Schmerz so, als seien sie körperlich. Die menschliche Imaginationskraft, die eine Fakultät der Seele ist, bekommt den Eindruck als wäre da ein Körper.54 Das war nicht gut genug für al-Ġazālī, denn er sah darin eine deutliche Leugnung der körperlichen Auferstehung und der Versammlung der Körper beim Jüngsten Gericht (ḥašr wa-našr). Er bestritt auch, dass die falāsifa ihre Deutung des Lebens nach dem Tod durch einen apodiktschen Beweis untermauern konnten. In der 20. Diskussion der Inkohärenz über das Problem der körperlichen Auferstehung im Jenseits macht al-Ġazālī die Konsequenz aus all diesen Überlegungen deutlich:
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Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 116. Al-Ġazālī, al-Qānūn al-kullī fī t-taʾwīl, Ed. Muḥammad Z. al-Kawṯarī, unter dem Titel Qānūn al-taʾwīl, hier S. 48–50. Die Passage ist ins Englische übersetzt in Heer, Abū Ḥāmid al-Ghazālī’s Esoteric Exegesis of the Koran, S. 244–246. Al-Ġazālī, Fayṣal at-tafriqa, S. 181f.; dt. Übers. S. 65. Michot, La Destinée de l’homme selon Avicenne: le retour à Dieu (maʿād) et l’imagination, S. 14–103.
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„Was als Beschreibung des Paradieses und der Hölle einschließlich der Details dieser Zustände offenbart wurde, erreicht ein Maß [an Deutlichkeit], das keine allegorische Interpretation (taʾwīl) zulässt.55 [...] Wenn dann behauptet wird: Rationale Argumente belegen die Unmöglichkeit der körperlichen Auferstehung genauso wie sie die Unmöglichkeit belegen, Gott mit [anthropomorphen] Attributen zu beschreiben, so fordern wir sie auf dies deutlich zu machen.“56
Was folgt, sind mehr als zehn Seiten detaillierter Auseinandersetzung darüber, ob die falāsifa die Unmöglichkeit körperlicher Auferstehung im Jenseits apodeiktisch beweisen können. In diesen Diskussionen über die Wahrheit gewisser philosophischer Lehrsätze spielt Modallogik eine große Rolle. Hier geht es darum, ob körperliche Auferstehung im Jenseits möglich ist. In den ersten drei Diskussionen geht es darum, ob eine Schöpfung der Welt in der Zeit möglich ist. Genau gesagt geht es darum, ob die körperliche Auferstehung oder die Schöpfung der Welt in der Zeit kontingente Ereignisse sind, also Ereignisse, die weder unmöglich noch notwendig sind.57 Dies wird von den falāsifa verneint, denn sie lehren, dass die Ewigkeit der Welt notwendig ist, genauso wie es notwendig ist, dass nur die Seelen ohne die Körper nach dem Tod fortleben und auch nicht wieder mit Körpern vereint werden können. Die Art und Weise, wie al-Ġazālī die einzelnen Diskussionen in der Inkohärenz ansetzt, macht es ihm einfach, den Widerstreit mit den falāsifa zu gewinnen: Er muss die Leser nur davon überzeugen, dass seine Position rational möglich ist und nicht, dass sie auch rational wahr ist.58 Das tut er zum Beispiel, indem er ein rational nachvollziehbares Szenario entwirft, wie die Seelen der Menschen nach dem Tod ohne ihre Körper fortleben, und wie diese Seelen dann am Tage des Jüngsten Gerichts von Gott einen neuen Körper bekommen.59 Al-Ġazālī braucht nicht auf die Wahrheit dieser Interpretation des Jenseits zu insistieren, einzig der Nachweis ihrer Möglichkeit macht – im Angesicht der Autorität der Offenbarung – die Position der falāsifa zunichte.60 Durch diesen Zusammenhang wird die Inkohärenz der Philosophen zu einem Buch über das, was möglich ist, dass es geschieht, oder über die Möglichkeit alternativer Welten.61 In dieser Frage kommen alle zwanzig Einwände al-Ġazālīs gegen die Lehren Avicennas zusammen. Avicenna lehrt nämlich, dass es eine Alternative zu der existierenden Welt nicht geben kann. Alles was ist, ist notwendig, denn es ist die notwendige kausale Folge von Gottes schöpferischer Tätigkeit. So weit folgt al-Ġazālī seinem Widersacher. Avicenna lehrt aber auch, dass Gottes schöpferische Tätigkeit „für sich selbst“ (bi-ḏātihī) notwendig sei. Dies lässt keinen Raum für eine freie Entscheidung Gottes darüber, was er schaffen
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Das arabische Wort taʾwīl bezeichnet die Praxis, eine bestimmte Wendung oder eine Passage in einem Text auf eine Art zu verstehen, die vom äußeren Wortlaut abweicht. Hier ist das Wort taʾwīl mit „allegorischer Interpretation“ übersetzt, um deutlich zu machen, dass beim arabischen Wort immer ein gewisses Verwerfen des äußeren Wortlautes mit ausgedrückt wird. Das deutsche Wort „Interpretation“ allein enthält diesen Bedeutungsaspekt nicht. Wer taʾwīl betreibt, geht quasi vom Sinn des äußeren Wortlautes zu einem inneren über und läßt den äußeren Wortlaut damit hinter sich. Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 214f. Siehe auch eine weitgehend parallele Passage dazu in al-Ġazālī, Fayṣal at-tafriqa, S. 192; dt. Übers. S. 74. Wenn al-Ġazālī das Wort „möglich“ (mumkin) benutzt, meint er „kontingent“, das heißt weder unmöglich noch notwendig. Griffel, Taqlīd of the Philosophers. Al-Ghazālī’s Initial Accusation In the Tahāfut, S. 293. Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 219. Siehe dazu auch al-Ġazālīs eigenen Kommentar zur 20. Diskussion in der Inkohärenz in seinem Buch al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād, S. 274: „Wir haben diese Frage (masʾala) schon mehr als zu genüge in unserem Buch Die Inkohärenz behandelt. Um ihre (das heißt der falāsifa) Position zu widerlegen (…) haben wir dort argumentiert, dass die [Seele] in den Körper zurückkehren kann, sei es derselbe Körper des Menschen oder ein anderer. Dies ist eine Notwendigkeit, die sich nicht [aus der Position] ergibt, von der wir wirklich überzeugt sind. Denn jenes Buch wurde zur Widerlegung ihrer Lehren verfasst, und nicht um die wahre Lehre zu begründen.“ Kukkonen, Possible Worlds in the Tahâfut al-Falâsifa. Al-Ghazâlî on Creation and Contingency.
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und was er nicht schaffen will. Gottes Wille wird auf seine Natur reduziert. Für Avicenna ist diese Welt eine kausale Folge aus Gottes Natur, das heißt der Art und Weise, wie Gott konstituiert ist. Darüber hinaus versteht Avicenna Möglichkeit und Notwendigkeit gemäß dem Verständnis des Aristoteles als temporäre oder auch statistische Modalitäten: Notwendig ist, was immer eintritt; möglich ist, was manchmal eintritt und manchmal nicht. Al-Ġazālī konfrontiert seine Leser mit einem anderen Verständnis von Möglichkeit, das in der ašʿaritischen Theologie entwickelt wurde und eher unserem modernen Verständnis von Möglichkeit als synchroner Alternative entspricht. Möglich ist, was wir als kongruente Alternative im Geist entwerfen können. Während das aristotelische und avicennistische Verständnis von Möglichkeit die Realisierung des Möglichen zu irgendeinem Zeitpunkt zwingend vorsieht, gilt bei den Ašʿariten und mithin bei al-Ġazālī in seiner Inkohärenz: Möglich ist, was wir uns als alternativen Zustand vorstellen können. Wir können uns vorstellen, dass die Seelen der Menschen nach dem Tod des Körpers fortbestehen und dass sie am Tage des Jüngsten Gerichts einen neuen, wie auch immer gestalteten Körper erhalten. Für al-Ġazālī ist dies ein mögliches, weil denkbares Szenario; für Avicenna nicht, weil das Eingeständnis der Möglichkeit dieses Szenarios für ihn bedeutet, dass es beim Jüngsten Gerichts tatsächlich so sein wird.62 Dies alles läuft bei al-Ġazālī zu einem einzigen großen Einwand gegen Avicennas Philosophie zusammen: Gott ist nicht reine Notwendigkeit, sondern er hat sich für die Schöpfung dieser Welt in einem Akt freier Urteilsfindung (liberum arbitrium, Arabisch iḫtiyār) entschieden, indem er diese Welt ausgewählt und damit alle anderen alternativen Welten verworfen hat. Es ist durchaus möglich, dass Gott gar keine Welt geschaffen hätte, oder dass er eine andere Welt geschaffen hätte. Diese Möglichkeit wird von Avicenna bestritten. Für ihn ist Gott das Prinzip, dass nur eine Welt hervorbringen kann, nämlich die beste aller möglichen Welten, die von Ewigkeit an besteht. Aus dem pseudoaristotelischen Corpus übernimmt Avicenna die neuplatonische Lehre, dass Gott pure Güte (al-ḫayr al-maḥḍ) ist und deshalb nur die beste aller Welten schaffen kann.63 Er hat also keine freie Wahl im Sinne einer Entscheidung zwischen alternativen Welten. Dieses Verständnis von Gott ist für den Ašʿariten al-Ġazālī zu unpersönlich. Zu deutlich sind für ihn die Textbelege in der Offenbarung, die von einem echten Willen Gottes ausgehen und ihm eine aktive Entscheidung im Sinne einer Wahl zwischen Alternativen zusprechen, darüber, was in dieser Welt geschieht. 3.3 Die religionsrechtliche Verurteilung dreier Lehren der falāsifa
Kurz sei an dieser Stelle auf einen Aspekt der Inkohärenz eingegangen, der mit der eigentlichen argumentativen Auseinandersetzung mit den falāsifa nur am Rande zu tun hat, dennoch aber die Stellung dieses Buches in der arabisch-islamischen Philosophiegeschichte ganz deutlich geprägt hat. Auf die Diskussion der zwanzig „Einzelfragen“ lässt 62
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Über die unterschiedlichen Konzepte von Möglichkeit und Notwendigkeit bei Avicenna und al-Ġazālī siehe Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 167–172 und Kukkonen, Possible Worlds in the Tahâfut al-Falâsifa. Das Beispiel illustriert die Problematik singulärer Ereignisse im System der avicennistischen Modallehre. Ihre Möglichkeit muss verneint werden, denn wenn ein Ereignis nur ein einziges Mal im Verlauf des unendlichen Weltlaufs vorkommt, wie es die Offenbarung mit den Jüngsten Gericht vorsieht, dann ist die Art und Weise wie es abläuft notwendig für sich selbst. Konsequenterweise existiert das Jüngste Gericht für Avicenna nicht als singuläres Ereignis realiter, sondern unendliche Male in der sinnlichen Imaginationskraft der unendlich vielen individuellen Seelen. Ibn Sīnā, The Metaphysics of The Healing, S. 339–347. Siehe auch Steel, Avicenna and Thomas Aquinas on Evil, hier S. 173–186.
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al-Ġazālī am Ende seines Buches, im sogenannten „Schlusswort“ (ḫātima), eine religionsrechtliche fatwā folgen, in der ein literarisches Gegenüber al-Ġazālī die folgende Frage stellt: „Nun, da ihr die Lehren jener [falāsifa] erklärt habt, fällt ihr auch eine klare Entscheidung über ihren Unglauben (kufr) und darüber, ob man jene, die an den Überzeugungen der falāsifa festhalten, töten muss?“64
Wenn ein Muslim zum Ungläubigen (kāfir) wird dadurch, dass er Meinungen vertritt, die von den muslimischen Autoritäten als Unglaube (kufr) eingestuft werden, so handelt es sich dabei, gemäß al-Ġazālī, um einen Fall verheimlichender Apostasie (zandaqa), was die Todesstrafe nach sich zieht. Es muss erwähnt werden, dass viele muslimische Juristen dies anders gesehen haben und auch heute noch anders sehen. Für fast alle Juristen vor al-Ġazālī und viele nach ihm – besonders in der ḥanafitischen Rechtsschule – kann Heterodoxie oder doktrinäre Abweichung nicht zu einer religionsrechlichen Strafe führen. Al-Ġazālī sah das anders und wirft in seiner Behandlung von Apostasieurteilen (irtidād) einige Durchführungbestimmmungen über den Haufen, die jahrhundertelang gegolten haben und die Angeschuldigten gegen eine dogmatische Willkür, wie sie al-Ġazālī hier letztlich ausdrückt, beschützen sollten.65 Al-Ġazālī, der an dieser Stelle in die Rolle des geachteten Rechtsgelehrten schlüpft, beantwortet die Frage ganz deutlich: Während die meisten Probleme, die in der Inkohärenz diskutiert wurden, religionsrechtlich nicht relevant sind und nur einfach hetorodoxe Meinung (bidʿa), Fehler (ḫaṭāʾ) oder Irrtum (ḍalāl) darstellen, die von den Autoritäten des Islam geduldet werden sollten, sind die Abweichungen in drei Fragen jedoch so gravierend, dass sie als Unglaube eingestuft werden müssen und damit das Todesurteil legitimieren. Diese drei Fragen sind (1) die Behauptung, die Welt sei ewig, (2) die Beschränkung von Gottes Wissen auf die Allgemeinbegriffe und die Leugnung, dass Gott Einzeldinge kennen würde, und (3) die Interpretation des Jenseits als reine Wahrnehmung der Seelen und die Leugnung körperlicher Auferstehung. Diesen drei Lehren „passen in keinster Weise zum Islam“, so al-Ġazālī, „und keine der (verschiedenen) Richtungen im Islam glaubt daran.“66 Al-Ġazālī fällt hier kein Pauschalurteil gegen die falāsifa, sondern ein sehr qualifiziertes gegen drei ihrer Lehren. Die falāsifa, so die implizite Aussage, können durchaus eine der legitimen Richtungen im Islam sein, solange sie diese drei Lehren vermeiden.67 Vertreten oder verbreiten sie aber öffentlich eine dieser drei Lehren, so sind sie gemäß der Rechtsempfehlung (fatwā) alĠazālīs des Todes.68
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Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 226. Griffel, Apostasie und Toleranz im Islam. Die Entwicklung zu al-Ġazālīs Urteil gegen die Philosophie und die Reaktionen der Philosophen, S. 282–291. Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 226. Über al-Ġazālīs Auswahl dieser drei Lehren und den Zusammenhang zweier davon mit der Einhaltung des Religionsgesetzes (šarīʿa) sowie darüber, wie er dies Urteil in späteren Schriften begründet, siehe Griffel, Apostasie und Toleranz im Islam, S. 266–281 und 292–303 und Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 101–103, 105–109 und 116–120. Griffel, Apostasie und Toleranz im Islam, S. 288–291.
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4. Notwendigkeit und Kausalität in der Inkohärenz Wenn es ein philosophisches Hauptargument in der Inkohärenz der Philosophen gibt, dann ist es neben dem Nachweis, dass die falāsifa ihre Lehren nicht apodeiktisch begründen können, die Zurückweisung der avicennistischen Position, dass diese Welt notwendig ist, weil sie eine kausale Folge aus der Für-Sich-Selbst-Notwendigen-Existenz (wāǧib al-wuǧūd bi-ḏātihī), also Gott ist. Nichts in dieser Welt ist notwendig, sagt al-Ġazālī, alles ist die Folge einer kontingenten Entscheidung Gottes zwischen Alternativen. Diese letzte Position, dass nichts in dieser Welt notwendig ist, ist häufig als Negierung des Prinzips notwendiger kausaler Verknüpfung, also von Kausalgesetzen missverstanden worden. Dies wird besonders deutlich im Anfangssatz der 17. Diskussion in der Inkohärenz über das Problem kausaler Verknüpfungen. Hier schreibt al-Ġazālī: „Nach unserer Meinung ist die Verknüpfung (iqtirān) zwischen dem, was man gewöhnlich (fī l-ʿāda) für eine Ursache hält, und dem, was man für eine Wirkung hält, nicht notwendig (ḍarūrī). Man kann vielmehr von zwei Dingen, die nicht miteinander identisch sind und sich nicht implizieren, niemals behaupten, dass die Existenz bzw. die Nichtexistenz des einen mit Notwendigkeit (ḍarūra) aus der Existenz bzw. Nichtexistenz des anderen folgt. [...] Ihre Verknüpfung kommt zustande, weil Gott sie aufgrund seiner vorherigen Bestimmung nacheinander (ʿalā at-tasāwuq) erschafft, nicht deswegen, weil sie aus sich heraus notwendig und unauflößlich wäre (li-kawnihī ḍarūrīyan fī nafsihī ġayra qābilin li-l-farq). Vielmehr steht es in [Gottes] Macht, die Sattheit ohne das Essen zu schaffen, den Eintritt des Todes ohne einen tiefen Schnitt im Nacken zu erschaffen und das Leben [eines Menschen] trotz dieses tiefen Schnitts andauern zu lassen; das gilt für sämtliche Dinge, die miteinander verknüpft sind. Die falāsifa verneinen diese Möglichkeit und behaupten, dies sei unmöglich.“69
Dieser einschneidende Satz ist häufig als radikale Kritik am Prinzip der Kausalität verstanden worden. Liest man genau, so stellt man aber fest, dass al-Ġazālī nicht die Existenz von Verknüpfungen verneint, sondern allein deren notwendigen Charakter. Notwendig heißt für ihn, es gibt keine Alternative zu den vorhandenen Verknüpfungen, die wir aufgrund von Erfahrung (taǧriba) in Kausalgesetzen formulieren. Zu Recht schreibt er diese Position den falāsifa, also Avicenna zu. Zwar gehen die Kausalgesetze bei Avicenna auf das erste Prinzip, also Gott zurück, doch da dieses „in jedem Aspekt notwendig seiend ist“,70 sind auch alle Folgen von dieser Ursache notwendig, oder, wie al-Ġazālī paraphrasiert, „aus sich heraus notwendig und unauflöslich“. Al-Ġazālī hält Avicenna entgegen, dass die vorhandenen Verknüpfungen – also die Kausalgesetze – nicht alternativlos und notwendig sind. Wir können uns eine Welt vorstellen, in der Sattheit und Essen nicht miteinander kausal verknüpft sind, oder in der ein tiefer Schnitt im Nacken nicht kausal zum Tod der Person führen wird. Solche Welten würden wahrscheinlich radikal von der verschieden sein, in der wir leben, aber sie sind denkbar und deshalb möglich. Gott könnte sie schaffen, wenn er nur wollte, oder er könnte unsere Welt von einem Moment zum anderen radikal verändern.71 Al-Ġazālī geht nicht davon aus, dass Gott dies jemals will. Er deutet die Koranverse 33.62 und 48.23 („Du wirst am Verfahren Gottes keine Abänderung feststellen können.“) als eine Versicherung und ein Versprechen Gottes, die bestehenden Verknüpfungen, also die bestehenden Kausalgesetze, niemals zu verändern oder auch nur zu suspendieren.
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Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 166; dt. Übersetzung leicht angepasst von Ulrich Rudolph in: Perler/ Rudolph, Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-islamischen und im europäischen Denken. Wāǧib al-wuǧūd min ǧamīʿ ǧihātihī; Ibn Sīnā, Kitāb an-naǧāt, S. 553. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 172f.
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Gott suspendiert diese Gesetze nicht, so al-Ġazālī, nicht einmal zur Schaffung eines Prophetenwunders, und diese Konstanz der Kausalgesetze erst erlaubt uns Menschen, Wissen in den Naturwissenschaften zu erlangen.72 Wenn dies die korrekte Lesung al-Ġazālīs Lehre ist, wonach die Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung nicht notwendig (ḍarūrī) ist, dann handelt es sich hier nicht um eine radikale Kritik des Kausalprinzips, sondern nur um eine Kritik des avicennistischen Nezessianismus. Kausalität selbst sah al-Ġazālī nicht als Problem an, solange davon ausgegangen wird, dass alle Kausalketten in Gott ihren Anfang haben. Gott hat als allmächtiger Schöpfer dieser Welt Kontrolle über jedes Wesen und jedes Ereignis, indem er es durch die Vermittlung anderer Geschöpfe – nämlich der Ursachen – in die Existenz bringt. Von Avicenna übernimmt al-Ġazālī die Lehre, dass in einer Kette von Ursachen und Wirkungen allein das erste Glied dieser Kette die „Wirkursache“ (fāʿil) genannt werden kann.73 Avicenna versteht unter Wirkursache „eine Ursache, die etwas Existenz gibt, was es nicht selber ist“.74 Somit ist also in Avicennas System der sogenannten sekundären Kausalität Gott die Wirkursache und der Existenzgeber für alle Elemente in den unzählbaren Kausalketten, die sich in seiner Schöpfung entfalten. Dem Ašʿariten al-Ġazālī fiel es nicht schwer, diese Lehre, wonach Gott die einzige Wirkursache (fāʿil) – oder, in einem mehr theologischen Verständnis des gleichen arabischen Wortes: der einzige Handelnde – in der Welt sei, anzuerkennen. In seinen späteren Werken wird er diesen radikalen Monotheismus, dessen philosophische Deutung er von Avicenna übernimmt, sogar noch weiter treiben und zu einem Monismus ausbauen, wonach Gott das einzig Existierende in der Welt sei.75 Als vollkommen fehlgeleitet – ja an einer Stelle sogar als Unglaube – bezeichnet al-Ġazālī jegliches Verständnis von Kausalität, wonach die unmittelbare Ursache ihre Wirkung vollkommen aus eigener Kraft hervorbringen könne.76 Al-Ġazālī war sich aber bewusst, dass Avicenna und al-Fārābī eine solche Position ebenso ablehnten. Die Lehre von der Eigenständigkeit der Ursachen sah er vielmehr von einigen Naturwissenschaftlern und von den Muʿtaziliten vertreten.77 Letztere lehrten, dass vor allem die schlechten Handlungen der Menschen nicht auf Gott zurückgehen könnten und von den Menschen selbst – ohne jede Hilfe Gottes – hervorgebracht würden. Dies war für den Ašʿariten al-Ġazālī zwar nicht Unglaube, aber schon eine fehlgeleitete, doch letztlich tolerierte Häresie (bidʿa).78 Da al-Ġazālī Avicennas Lehre der Sekundärursachen, die von Gott als intermediäre Ursachen eingesetzt werden, um neue Wirkungen hervorzubringen, anerkennt, warum besteht er dann im Anfangssatz der 17. Diskussion darauf, dass man anerkenne, Gott erschaffe Ursache und Wirkung „aufgrund seiner [nämlich Gottes] vorherigen Bestimmung (mā sabaqa min at-taqdīr) nacheinander (ʿalā at-tasāwuq)“? Das Wort „nacheinander“ ist häufig als deutlicher Hinweis dafür gelesen worden, dass al-Ġazālī die Kosmologie der falāsifa ablehnt und sich für das alternative Modell ausspricht, das von vorherigen ašʿaritischen Theologen erarbeitet wurde. Dieses alternative Modell zur Erklärung physikalischer Prozesse in der Welt wird Okkasionalismus genannt. Es wurde zu Anfang des 72 73 74 75 76 77 78
Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 194–208. Ibn Sīnā, The Metaphysics of The Healing, S. 257–259; Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 144f. Ibn Sīnā, The Metaphysics of The Healing, S. 194.12. Siehe Marmura, The Metaphysics of Efficient Causality in Avicenna (Ibn Sīnā). Treiger, Monism and Monotheism in al-Ghazālī’s Mishkāt al anwār. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 146, 150–153, 244. Ebd., S. 173. Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 226f.
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10. Jahrhunderts von al-Ašʿarī entwickelt, der etliche Elemente früherer muʿtazilitischer Theorien kombinierte. Der Okkasionalismus al-Ašʿarīs kennt als Grundelement der Welt einzig Atome. Diese sind alle von gleicher Art und – anders als in der heute dominierenden Atomtheorie – passive Träger von Eigenschaften, den sogenannten Akzidentien (Singular ʿaraḍ). Gleichzeitig wird Zeit als eine schnelle Aufeinanderfolge von Momenten (Singular waqt) verstanden. In der Ontologie der klassischen Ašʿariten gestaltet Gott in jedem Moment die Welt neu, indem er die Atome, die einzig die physikalische Gestalt der Dinge bestimmen, und die Akzidentien, die alle anderen Eigenschaften wie Gewicht, Farbe, Dichte oder auch die Gedanken der Menschen ausmachen, neu arrangiert. Im Okkasionalismus ist jedes Ereignis dieser Welt unmittelbar von Gott geschaffen. Dieses Modell sieht keine intermediären Ursachen vor, sondern ist ein Ausdruck des theologischen Bestrebens, Gottes Allmacht über seine Schöpfung zu bewahren. Kausale Verknüpfungen werden im Okkasionalismus als Gewohnheit Gottes (ʿādat Allāh) verstanden, gemäß der er zum Beispiel auf das Essen eines Brots das Gefühl der Sättigung als Akzidenz im Körper des Menschen kreiert. Diese Gewohnheiten, das heißt die Kausalgesetze, kann Gott jedoch brechen, behaupteten die frühen Ašʿariten, und er tat das zum Beispiel, als Moses seinen Stock auf den Boden fallen ließ und Gott ihm im nächsten Moment als Schlange kreierte. Koran (7.107, 20.69, 26.32 und 26.45) und Bibel (Exodus 7.8–13) erwähnen dieses Wunder, mit dem Moses’ Prophetie beglaubigt wurde. Für die frühen Ašʿariten ist das Prophetenwunder, also das „Aussetzen der Gewohnheit Gottes“ (ḫarq ʿādat Allāh), das einzige Mittel, um einen Propheten von einem Scharlatan zu unterscheiden. Es hat deshalb eine zentrale Position in ihrem theologischen Gebäude, denn die Autorität der Offenbarung stützt sich auf dieses Wunder.79 Für al-Ġazālī spielt das Prophetenwunder keine theologische Rolle mehr. Er rät seinen Anhängern, einen wahren Propheten von jemandem zu unterscheiden, der fälschlicherweise vorgibt, Prophet zu sein, indem sie in sich selber schauen und entscheiden, ob die Offenbarung eines der beiden als Heilung der Unzulänglichkeiten ihrer Seelen empfunden wird. Nur die Offenbarung des wahren Propheten vermag solche Besserung der Seelen zu vollbringen.80 Al-Ġazālīs Kriterium gründet Prophetie auf religiöse Erfahrung (taǧriba) und ist aus dem Sufitum, also dem mystischen Islam, entlehnt. Ist einmal die theologische Notwendigkeit des Prophetenwunders hinter sich gebracht, so kann al-Ġazālī auch auf die Erklärung des Prophetenwunders als „Aussetzen der Gewohnheit Gottes“ und damit auch auf das okkasionalistische Gebäude, physikalische Prozesse zu erklären, verzichten. In der 17. Diskussion der Inkohärenz stellt al-Ġazālī zwei verschiedene kosmologische Modelle nebeneinander: Okkasionalismus und die Sekundärkausalität der falāsifa.81 Dass beide Kosmologien, die der klassischen Ašʿariten und der falāsifa, gleichbefriedigende Erklärungen von physikalischen Prozessen geben, macht al-Ġazālī in der 20. Diskussion der Inkohärenz deutlich, wo er bemerkt: „Wir halten diese beiden [Erklärungen] beide für möglich (kilāhumā mumkinān ʿindanā) [...] [In der Behandlung der 17. Frage haben wir festgestellt], dass die Verbindung von Dingen, die in der Existenz miteinander [kausal] verbunden sind, nicht auf notwendige Art und Weise geschieht, sondern durch
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Griffel, Al-Ġazālī’s Concept of Prophecy: The Introduction of Avicennan Psychology into Ašʿarite Theology. Al-Ġazālī, al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl, S. 41–44; dt. Übers. S. 49–54; vgl. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 194– 201. Und zwar im „ersten Weg“ (al-maslak al-awwal), der dem Okkasionalismus gewidmet ist, in: al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 169–171 und im „zweiten Weg“ (al-maslak aṯ-ṯānī) über Sekundärkausalität, ebd. S. 171– 174. Vgl. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 153–157.
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Gewohnheiten, die gebrochen werden können.82 Also kommen diese Dinge durch die Allmacht Gottes (qudrat Allāh) zustande ohne die Existenz von (Sekundär-)Ursachen (asbāb). Die zweite [Erklärung] ist, dass wir sagen, dies geschieht durch (Sekundär-)Ursachen (asbāb).“83
Al-Ġazālī hat sich, was die Erklärung von kausalen Verknüpfungen angeht, zeitlebens einer Entscheidung entzogen und hielt beide ihm vorliegenden Erklärungsmodelle für befriedigende Erklärungen dessen, was wir mit den Sinnen wahrnehmen.84 Hier in der Inkohärenz, die als frühes Dokument seiner theologischen und philosophischen Überlegungen bewertet werden muss, und noch in einer seiner letzten Schriften äußert sich al-Ġazālī unentschieden über diese Frage.85 Diese Unentschiedenheit ist eine Konsequenz seiner epistemologischen Regel zum Verhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung.86 Da weder die falāsifa noch die ašʿaritischen kalām-Gelehrten einen apodeiktischen Beweis für die Gültigkeit ihres Erklärungsmodells vorlegen können und da auch die Offenbarungsschrift keinen klaren Hinweis gibt, welche zu bevorzugen ist, muss diese Frage unentschieden bleiben. Es ist klar, dass Gott nur auf eine der beiden Weisen auf seine Schöpfung Macht ausübt, entweder durch direkte Neuschöpfung jedes einzelnen Moments im Sinne der Okkasionalisten oder durch die Vermittlung von intermediären Ursachen, die er selbst geschaffen hat, wie im Modell der falāsifa. Welche dieser beiden Kosmologien aber der Fall ist, das hat Gott uns weder in seiner Offenbarung zu lehren gegeben noch durch das Mittel der Vernunft zugänglich gemacht. Offenbar wünscht Gott nicht, dass dieses Thema Wichtigkeit erlangt, weshalb al-Ġazālī die Beschäftigung damit nach seiner Inkohärenz auch bald aufgegeben hat.
5. Nominalismus in al-Ġazālīs Kritik der falāsifa Mit seiner Inkohärenz der Philosophen hat al-Ġazālī ein Buch geschrieben, das das theologische Gedankengebäude, das unter den vorhergehenden Generationen von Ašʿariten erarbeitet wurde, in eine Kritik des neuplatonischen Aristotelismus avicennischer Prägung übersetzt. Formal ist die Inkohärenz ein Werk der kalām-Literatur, denn es benutzt ganz bewusst den dialogischen Stil des „wenn man sagt... so antworten wir darauf...“-Austausches (in qīla ... fa-naqūlu...), der im kalām entwickelt wurde. Der Stil trägt ganz entschieden zur Lebendigkeit des Werkes bei. Die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit, mit der alĠazālī diesen Austausch betreibt – nicht gänzlich frei von Polemik und doch nicht so, dass diese aufdringlich wirkt – macht die Qualität des Werkes aus. Hier wird die aristotelische Tradition mit rationalen Argumenten konfrontiert, die das gesamte Gedankengebäude der Schule an ihrem Fundament attackiert. Anders als der spätere Kritiker Ibn Taymīya (gestorben 1328) geht al-Ġazālī aber nicht so weit, Apodiktik und die demonstrative Methode in Frage zu stellen, und erkennt an, dass Mathematik, Geometrie, Astronomie und selbst die Naturwissenschaften Disziplinen sind, die als demonstrative Wissenschaften im
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„Gewohnheiten“ hier im Plural (ʿādāt), weil al-Ġazālī in seiner Anwendung des ašʿaritischen Okkasionalismus nicht mehr von einer „Gewohnheit Gottes“ ausgeht, sondern diese „Gewohnheiten“ in den Dingen lokalisiert, was das aristotelische Konzept der „Naturen“ (ṭabāʾiʿ) der Dinge widerspiegelt; siehe Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 198. Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 222. Vgl. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 178f. Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 183–186, 258 und 277–279. Ebd., S. 264–274. Siehe oben S. 301f.
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Sinne von Aristoteles’ Analytica posteriora betrieben werden können.87 In der Metaphysik, das heißt in der philosophischen Theologie, sind apodeiktische Beweise aber selten. Eine Vielzahl von Lehren der falāsifa in diesem Feld, wie die Ewigkeit der Welt, Gott als Schöpfer dieser Welt, Gottes Einheit, Gottes Unkenntnis der Individuen, Gottes Kenntnis seiner selbst oder die Existenz von Himmelssphären, hält al-Ġazālī einfach für unbewiesen und versucht, dies in den einzelnen Diskussionen dieser „Fragen“ in der Inkohärenz nachzuweisen. Unbewiesenheit heißt aber nicht auch gleichzeitig Falschheit. Während al-Ġazālī einige der Lehren in dieser Liste für falsch hält (zum Beispiel die Ewigkeit der Welt oder Gottes Unkenntnis der Individuen), hält er andere für wahr (Gottes Kenntnis seiner selbst oder die Existenz der Himmelssphären), er bestreitet aber, dass die falāsifa dies selbst qua Vernunftbeweis herausgefunden haben und meint vielmehr, sie hätten diese Lehren von früheren Offenbarungen übernommen. In der Inkohärenz trägt al-Ġazālī die ašʿaritische Art zu Denken ganz nahe an den Diskurs des Avicennismus heran. Philosophisch ist diese Konfrontation deshalb interessant weil hier – in der Sprache des Universalienstreits der westlichen Philosophiegeschichte des 13. und 14. Jahrhunderts – der Begriffsrealismus Avicennas auf eine nominalistische Kritik trifft, die von den Ašʿariten im kalām ausgearbeitet wurde. Begriffsrealismus und Nominalismus sind Worte, die im arabischen Diskurs natürlich nicht vorkommen. Sie sollten deshalb auch nur mit einer gewissen Vorsicht gebraucht werden, vor allem, was den Begriff des Nominalismus angeht. Einen Nominalismus im eigentlichen Sinn, wie ihn etwa William von Ockham (gestorben 1347) vertreten hat, also eine Position, die bewusst angetreten ist, eine Alternative zum Begriffsrealismus der aristotelischen Tradition zu entwerfen, gab es in der arabischen Tradition nämlich nicht. Aber es gab eine Auseinandersetzung über Begriffsrealismus. Begriffsrealismus meint die unter anderem von Avicenna deutlich vertretene Position, dass die Dinge der Außenwelt wie auch unser Wissen davon auf dem gleichen formalen Fundament ruhen, nämlich einem Arsenal von real existierenden begrifflichen Archetypen (zum Beispiel „Pferd,“ „Baum“, „Mensch“), die jeweils die wesenhaften Eigenschaften dieser Dinge in sich vereinen und damit sowohl bewirken, dass jedes einzelne Pferd zum Beispiel vier Beine hat, wie auch unser Wissen bestimmen, wonach jedes Pferd vier Beine haben muss, um als Pferd bezeichnet zu werden. In der Denktradition des kalām, besonders des ašʿaritischen, wurde die Existenz solcher begrifflicher Archetypen vehement bestritten. Die Ašʿariten hatten eine okkasionalistische Ontologie entwickelt, in der es keine „Naturen“ (ṭabāʾiʿ) gibt und in der die Dinge keine in ihnen inhärierenden Potentialitäten haben. Wenn Gott wollte, so ein implizites Argument al-Ġazālīs, so könnte er ein Pferd ganz ohne Beine schaffen und uns das Wissen geben, dies sei ein Pferd mit vier Beinen.88 Während für die Ašʿariten wahres Wissen mit seinem Objekt, nämlich der Außenwelt übereinstimmt, so sind diese beiden Dinge nicht notwendig miteinander verbunden wie bei den falāsifa. Gott schafft diese Kongruenz willentlich, indem er wahres Wissen in uns kreiert. Wie er das macht, entweder direkt und unmittelbar oder als kausale Folge der Wahrnehmung der Welt, bleibt für al-Ġazālī – siehe die Diskussion oben – aber offen. Dieser fundamentale Unterschied zwischen der Ontologie Avicennas und derjenigen der Ašʿariten führt dazu, dass al-Ġazālī eine Fülle von nominalistischen Einwänden gegen das philosophische System von Avicenna zur Verfügung stehen, Einwände, die viele der zwanzig Diskussionen in der Inkohärenz prägen, ohne 87 88
Über Ibn Taymīyas radikalere Kritik der falāsifa siehe von Kügelgen, Ibn Taymīyas Kritik an der aristotelischen Logik und sein Gegenentwurf. Al-Ġazālī, The Incoherence of the Philosophers, S. 170f. Siehe Perler/Rudolph, Occasionalismus, S. 86–88.
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Einzelne Denker und Werke
doch selber al-Ġazālīs Position in diesen einzelnen Fragen zu bestimmen. Al-Ġazālīs Nominalimus zeigt sich auch in seiner „Lösung“ des kosmologischen Konflikts zwischen Okkasionalismus und sekundärer Kausalität. Für ihn gibt es hier kein menschliches Wissen, das die gleiche formelle Grundlage wie die Welt hat. Dies ist Avicennas Position, weshalb er sich für eine der beiden Alternativen entscheiden muss. Nicht so al-Ġazālī, für den beide Erklärungen mit gleicher Plausibilität möglich sind. Al-Ġazālī wägt zwei verschiedene Beschreibungen der Welt ab, ohne sich am Ende auf eine der beiden festzulegen. Hier zeigt sich, dass al-Ġazālī als Kritiker ein Nominalist war, der nach der angemessenen Beschreibung (dem nomen) suchte und dem Begriffsrealismus Avicennas kritisch gegenüber stand, ohne ihn aber gänzlich zu verwerfen.89
Weiterführende Literatur: Al-Ġazālīs Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa) liegt leider nicht in deutscher Übersetzung vor, so dass man auf die von Michael E. Marmura übersetzte zweisprachige Ausgabe Arabisch-Englisch zurückgreifen muss. Sie ist allerdings von herausragender Qualität, so dass sich der Aufwand lohnt, die Inkohärenz in englischer Übersetzung zu lesen, sofern man nicht auf das Arabische zurückgreifen kann oder möchte. Der Text von al-Ġazālīs Inkohärenz wird zwar fast vollständig in Averroes’ Die Inkohärenz [des Buches von] der Inkohärenz (Tahāfut at-tahāfut) wiedergegeben, doch geht dort die Struktur von al-Ġazālīs Argumentation häufig verloren, was das Verständnis behindert. Averroes’ Inkohärenz wurde zuerst 1328 und dann noch einmal in der Renaissance (1526) via des Hebräischen ins Lateinische übersetzt. Das Buch wurde in die relativ zahlreichen Aristotelescum-Averroes-Ausgaben aufgenommen, die im 16. Jahrhundert in Norditalien entstanden und damit auch al-Ġazālīs Argumente in Europa verbreiteten (Averroes’ Destructio destructionum philosophiae Algazelis in the Latin Version of Calo Calonymos. Ed. B. Zedler, Milwaukee 1961). In seiner Autobiographie Der Erretter aus dem Irrtum (al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl) fasst al-Ġazālī seine Kritik an den Philosophen zusammen und weist auch darauf hin, dass Schaden (āfa) entsteht, wenn man die Philosophie gänzlich zurückweist. In seiner Schrift Das Kriterium in der Unterscheidung zwischen Islam und verheimlichender Apostasie (Fayṣal attafriqa bayna al-Islām wa-z-zandaqa) begründet al-Ġazālī das Rechsturteil (fatwā) auf der letzten Seite der Inkohärenz. Einige Lehren der Philosophen, wie zum Beispiel die von der Religion als nützliche Nachahmung der Philosophie für das einfache Volk, werden nicht in der Inkohärenz, sondern in al-Ġazālīs Widerlegung der ismāʿīlitischen Schiiten diskutiert (siehe dazu Griffel, Apostasie und Toleranz im Islam. Die Entwicklung zu al-Ġazālīs Urteil gegen die Philosophie und die Reaktionen der Philosophen, S. 292–297). Ergänzend zu den im Literaturverzeichnis zitierten Werken von Richard M. Frank (Al-Ghazālī and the Ashʿarite School), Ulrich Rudolph (in Perler und Rudolph) und Frank Griffel sind die in einem Sammelband zusammengefassten Artikel von Michael E. Marmura über al-Ġazālī wertvoll: Probing in Islamic Philosophy. Studies in the Philosophies of Ibn Sina, al-Ghazali and Other Major Muslim Thinkers, Binghampton (New York) 2005. Über al-Ġazālīs Einbindung avicennistischer Lehren in sein eigenes Denkgebäude siehe auch die bahnbrechende Studie von Richard M. Frank, Creation and the Cosmic System: Al-Ghazâlî & Avicenna. Heidelberg 1992. 89
Griffel, Al-Ghazālī’s Philosophical Theology, S. 176f.
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11. Ibn Rušds (Averroes’)1 Auffassung von Philosophie und ihre Kontexte David Wirmer (Köln) Wie soll man „die Philosophie“ Ibn Rušds darstellen? Es geht dabei selbstverständlich darum, diese Philosophie in ihrem Zusammenhang zu erfassen, in ihren großen Linien und vor allem in der Kohärenz, die sie als begründete Erklärung der Welt anstrebt. Sie tritt in diesem Kontext aber ebenso selbstverständlich neben „die Philosophie“ Ibn Sīnās und so fort, wird also historisiert und individualisiert. Diese Spannung zwischen universeller Wahrheit und individueller Geschichte braucht jedoch kein Widerspruch zu bleiben, wenn man die Geschichte der Philosophie begreift als „Abfolge von Versuchen, Perspektiven auf das Ganze zu gewinnen“.2 Um wenigstens annähernd sowohl dem Anspruch der Perspektive als auch ihrer Perspektivität gerecht zu werden, soll hier von einem Text ausgegangen werden, in dem Ibn Rušd selbst seinen Begriff der Philosophie in den Zusammenhang der Geschichte der Philosophie stellt. Auf Anregung der Herausgeber wird dabei der Stoff auf zwei Beiträge verteilt, von denen der erste Ibn Rušd und seinem Philosophiebegriff vor dem Hintergrund seines historischen und philosophischen Kontextes gewidmet ist, während sich der zweite mit den im engeren Sinne philosophischen Sachproblemen befasst. Der Text, der beiden zugrunde liegt, bürgt für die Einheit beider Perspektiven. Am Leitfaden dieses Textes sollen in diesem ersten Beitrag der historische Kontext (Abschnitt 1), Ibn Rušds Philosophiebegriff (Abschnitt 2) und seine philosophische Praxis (Abschnitt 3) beleuchtet werden. Kernelement des Textes ist jedoch Ibn Rušds Versuch, diese Idee und Gestalt der Philosophie als die höchste Verwirklichung des Religionsgesetzes zu begreifen und sie in den Horizont des göttlichen Wissens zu stellen, das er als Ursache und Inbegriff allen Seins versteht. Daher soll anschließend Ibn Rušds religiös-politische Einordnung der Philosophie dargestellt werden (Abschnitt 4), welche die Basis für die im folgenden Kapitel zu erläuternden philosophischen Ideen abgibt. Der Ausgangstext ist also ein kleiner Exkurs in Ibn Rušds Großem Kommentar zur Metaphysik (Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa). Den Anlass dazu gibt eine von Aristoteles’ methodologischen Vorbemerkungen in Buch α.3 Aristoteles, der im ersten Satz „die Betrachtung der Wahrheit“ (an-naẓar fī l-ḥaqq) als Ziel der Wissenschaft benannt hat, gibt nämlich zu bedenken, dass wir bei der Suche nach der Wahrheit ebenso wie in anderen Künsten nicht nur denen Dank schulden, deren Lehren wir teilen können, sondern auch den übrigen, einmal weil wir an ihnen unsere Fähigkeit schulen, und zum anderen, weil es ohne diese schwächeren Vorgänger auch diejenigen nicht gegeben hätte, deren Erkenntnisse wir uns zu eigen machen.4 Ibn Rušd lässt sich von dieser Überlegung zu einer programmatischen Erklärung anregen: 1 2 3
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Der lateinische Name Averroes ist eine Verformung des Sippennamens Ibn Rušd; vgl. dazu Cruz Hernández, Abū-l-Walīd Muḥammad Ibn Rušd (Averroes), S. 355–358. Wieland, Das Ende der Neuscholastik und die Gegenwart der mittelalterlichen Philosophie, S. 217–220. Dieses Buch steht in der arabischen Tradition am Anfang der Metaphysik, so dass der Ausgangstext tatsächlich an sehr herausgehobener Stelle platziert ist. Zur arabischen Überlieferung der Metaphysik vgl. Martin, La Métaphysique sowie Martini Bonadeo, La Métaphysique. Aristoteles, Metaphysik II.1, 993a30 und 993b11–19. Für den arabischen Text siehe Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 3 und 8f.
Ibn Rušds (Averroes’) Auffassung von Philosophie und ihre Kontexte
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„Das, was er erwähnt, ist zwangsläufig so hinsichtlich des Verhältnisses der Neueren zu den Vorgängern. Und zwar weil die Alten in Bezug auf die Neueren die Stelle der Väter gegenüber den Söhnen einnehmen. Nur ist ihre Zeugung edler als die Zeugung der Väter, denn die Väter haben unsere Körper gezeugt, die Gelehrten dagegen unsere Seelen. Die Dankbarkeit ihnen gegenüber ist größer als gegenüber den Vätern, die Ehrerbietung verpflichtender, die Liebe zu ihnen stärker, und ihnen nachzueifern ist berechtigter. Er sagt zur Bekräftigung dieser Absicht, dass wir unsere Dankbarkeit nicht auf diejenigen unserer Vorfahren beschränken dürfen, die uns wahre Ansichten gelehrt haben, nämlich diejenigen, deren Ansichten den unseren gleichen, sondern auch denjenigen [danken müssen], deren Ansicht nicht die unsere ist, denn auch sie haben durch das, was sie über die Untersuchung der Dinge gesagt haben, unsere Intellekte gefördert und uns dadurch ein Vermögen verschafft, die Wahrheit zu erfassen. Wenn nun Aristoteles dazu verpflichtet war trotz der Geringfügigkeit dessen, was seine Vorgänger an Erkenntnis der Wahrheit besaßen, und der Größe dessen, was er nach ihnen an Wahrheit gebracht hat und was er allein besitzt – so dass er derjenige ist, bei dem sich die Wahrheit vollendet hat –, wie viel mehr muss dann derjenige, der nach ihm kommt, die Dankbarkeit, zu der [Aristoteles schon] verpflichtet war, ihm entgegenbringen und seine Wahrheit erkennen? Die ihm gemäßeste Dankbarkeit aber besteht darin, seine Darlegungen sorgfältig zu studieren, sie zu kommentieren und sie allen Menschen klar zu machen, denn das spezielle Religionsgesetz (šarīʿa) der Weisen fordert die Untersuchung aller Seienden. Man kann nämlich dem Schöpfer in keiner edleren Weise dienen als durch die Erkenntnis seiner Werke, die zur wahrheitsgemäßen Erkenntnis seines Wesens – gepriesen sei er – führt, welches bei ihm die edelste Tätigkeit ist und die größte Gunst bei ihm findet. Möge Gott uns und Euch zu jenen gehören lassen, die diesen Gottesdienst üben, welcher der edelste Gottesdienst ist, und die diesen Gehorsam pflegen, welches der erhabenste Gehorsam ist.“5
1. „Die Väter haben unsere Körper gezeugt, die Gelehrten dagegen unsere Seelen“ – Herkunft und Kontext Die persönliche Herkunft, die individuelle Geschichte, darauf weist uns Ibn Rušd hin, ist für die Genese unserer Erkenntnis unbedeutend, denn die leiblichen Väter zeugen eben nur unsere Körper. Es kommt alles auf die geistigen Väter an, die sozusagen unsere Seelen zeugen; und tatsächlich geht Ibn Rušd – wie man am Ende dieses Überblicks sehen wird – davon aus, dass die Philosophie gleichsam als Teil der Naturordnung in mehr als nur poetisch-metaphorischem Sinne durch eine Art intellektueller Fortpflanzung gezeugt und erhalten wird.6 Bezeichnenderweise zeugt das Motiv der Vaterschaft, das Ibn Rušd in die Interpretation des Aristotelestextes einbringt, von seiner eigenen geistigen Herkunft, nimmt es doch wörtlich Bezug auf die Einleitung der unter dem Titel Abschiedsbrief (Risālat al-wadāʿ) bekannten Schrift des ersten großen andalusischen Aristotelikers, Ibn Bāǧǧa. Ibn Bāǧǧa erläutert hier einem Schüler, der offenbar den Wunsch geäußert hatte, ihn wiederzutreffen, dass entscheidender als das persönliche Treffen die Begegnung mit allen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Brüdern im Geiste sei, zu welchem er durch seine Schrift anleiten will.7 Sie eben haben gemeinsame Vorfahren, „die unsere Seelen gezeugt haben“. Und zwar könne dieses Treffen „durch das Studium der theoretischen Wissenschaft“ erreicht werden – ein Treffen also durch und in der allen gemeinsamen wahren Erkenntnis.
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Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 9.6–10.16. Siehe das Zitat auf S. 357. Ibn Bāǧǧa, La conduite de l‘isolé et deux autres épîtres; vgl. hierzu und zum Folgenden S. 90.3–16 und S. 119.5– 11. Es ist zu beachten, dass auch diese jüngste Edition der Schrift noch keinen sicheren Text liefert.
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Einzelne Denker und Werke
Als Ibn Bāǧǧa 1139 in Fes starb,8 war der 1126 in Córdoba geborene Abū l-Walīd Muḥammad Ibn Aḥmad Ibn Rušd gerade erst 13 Jahre alt, und da über ein ausgesprochenes Schüler-Lehrer-Verhältnis, das sicher berichtet worden wäre, nichts bekannt ist, so kann man mit einiger Sicherheit sagen, dass die Verbindung zwischen beiden Denkern rein literarischer Natur ist. Unter den unmittelbaren Lehrern Ibn Rušds, von denen wir eine ganze Reihe kennen, ist nur einer, bei dem er wohl neben Mathematik und Medizin auch Philosophie studiert hat: Abū Ǧaʿfar Ibn Hārūn aṭ-Ṭurǧālī aus Sevilla.9 Von Abū Ǧaʿfar, der sonst nicht weiter bekannt ist, wird überliefert, dass er „sich mit den Büchern des Aristoteles befasste“.10 Für Ibn Rušd scheint sein Lehrer darin eine bloß übermittelnde Rolle gespielt zu haben, denn er wird in dessen Schriften nirgends erwähnt. Die Philosophie, die Ibn Rušd hier kennenlernte, muss der Aristotelismus alfarabischer Prägung gewesen sein, den Ibn Bāǧǧa in seinen Kommentaren zu diversen Schriften des aristotelischen Corpus entfaltet; denn diese Kommentare waren die einzigen aktuellen Annäherungen an das Werk des Aristoteles, die in der Jugend Ibn Rušds in al-Andalus zur Verfügung standen. Tatsächlich lässt sich aus einem bisher wenig beachteten Selbstzeugnis schließen, dass er mit den Schriften Ibn Sīnās erst in Berührung gekommen ist, als er bereits eine gefestigte philosophische Ausbildung besaß. Diese Begegnung ist in die Jahre vor 1147 zu datieren, so dass Ibn Rušd seine erste Ausbildung offenbar recht früh erhalten hat.11 Der prägende Einfluss Ibn Bāǧǧas auf seine frühen Schriften ist mehrfach festgestellt worden,12 aber die kritischen, doch respektvollen Bezugnahmen in späteren Texten beweisen diesen Einfluss nicht minder.13 Das soziale Milieu, in dem Ibn Rušd in die Philosophie eintritt, entspricht noch wesentlich dem, das zur Zeit Ibn Bāǧǧas den Nährboden für philosophische Beschäftigungen bildete, nämlich dem Hofkontext, in dem sich Literaten und insbesondere auch Ärzten die Chance auf gesellschaftliche Anerkennung und Förderung bot.14 Abū Ǧaʿfar diente als Arzt bei dem Almohaden Abū Yaʿqūb Yūsuf,15 vermutlich als dieser Gouverneur von Sevilla war und bereits in den Jahren zuvor (ca. 1153–1163).16 In der Gestalt von Abū Marwān Ibn Zuhr (Avenzoar, gestorben 1162) stand Ibn Rušd noch mit einem anderen 8 9 10 11
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Zur Biographie Ibn Bāǧǧas vgl. Dunlop, Philosophical Predecessors and Contemporaries of Ibn Bajjah, S. 100– 116 sowie Dunlop, Remarks on the Life and Works of Ibn Bājjah (Avempace). Siehe hierzu und zu folgenden Darstellungen von Biographie und Hintergrund Puig, Materials on Averroes’s Circle sowie Urvoy, Averroès und Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 287–297. Vgl. Puig, Materials on Averroes’s Circle, S. 246. Vgl. Guldentops und Steel, An Unknown Treatise of Averroes against the Avicennians on the First Cause, hier S. 96–98. Aus Ibn Rušds Vorwort zu dieser Abhandlung lassen sich drei Phasen der Begegnung mit Avicenna ablesen: (1) Et quando pervenerunt ad nos libri Abolay ben Cine, invenimus illum hominem quod usus est in libris alia via accepta […]. (2) Sed nos quando frequenter inspeximus in istis viis in quibus incessit ben Cine, invenimus defectus suos […]. (3) Et quando fuit motus visus in terra barbarorum, e[r]go obviavi cuidam qui studuit in libris huius viri, et erat famatum quod studeat in eis […], et vidi quod in hoc orta est opinio feda in scientia quam noviter inveniebat […]. Die Revolution im Land der Berber, auf die Ibn Rušd die letzte Phase datiert, scheint der Machtwechsel von Almoraviden zu Almohaden zu sein, für die die Besetzung von Marrakesch und Sevilla 1147 das entscheidende Datum ist. Vgl. etwa Lettinck, Aristotle’s Physics and its Reception in the Arabic World, S. 91–96 und öfter; Elamrani-Jamal, Averroès, de l’Epitomé au Commentaire Moyen du De anima, Questions de méthode, S. 128, Anm. 19. Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, IV. c. 71, zitiert nach: Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Venedig 1562 [Nachdruck Frankfurt am Main 1962], Bd. 4, f. 161vM: Avempace igitur fecit dubitare in hoc sermone in duobus locis. […] Et nullus pervenit ante istum ad istas quaestiones et ideo profundus erat iste super alios. Zum geschichtlichen Kontext von Ibn Bāǧǧas Philosophie siehe Forcada, Ibn Bājja and the Classification of the Sciences in al-Andalus; jetzt auch Forcada, Ética e ideología de la Ciencia. Eine detaillierte Analyse gebe ich in meiner Dissertation, die unter dem Titel Vom Denken der Natur zur Natur des Denkens. Ibn Bāǧǧas Theorie der Potenz als Grundlegung der Psychologie in der Reihe Scientia Graeco-Arabica bei de Gruyter erscheinen wird. Eine kurze Zusammenfassung einiger Ergebnisse in Wirmer, Das natürliche Begehren des einsamen Philosophen, S. 210–213. Ibn Abī Uṣaibiʿa, ʿUyūn al-anbāʾ fī ṭabaqāt al-aṭibbāʾ, Bd. 2, S. 75. Vgl. Huici Miranda, Abū Yaʿḳūb Yūsuf.
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berühmten Arzt aus Sevilla in Kontakt, der die Protektion der Herrscher genoss. Dessen therapeutisches Hauptwerk, Taysīr, so behauptet es zumindest Ibn Rušd selbst, habe er sich erbeten, abgeschrieben und so verbreitet.17 Schließlich erfuhr Ibn Rušd selbst Förderung durch den späteren Leibarzt Abū Yaʿqūb Yūsufs, den Philosophen Ibn Ṭufayl, den er 1182 in dieser Funktion ablöste.18 Auch die Prologe von Ibn Rušds beiden großen medizinischen Werken, dem Colliget (al-Kullīyāt fī ṭ-ṭibb) und dem Kommentar zu Ibn Sīnās medizinischem Lehrgedicht (verfasst 1180), zeigen mit ihren Widmungen, dass Ibn Rušd in diesem Hofmilieu vor allem als Arzt auftrat und gefördert wurde.19 Der Historiker al-Marrākušī überliefert den Bericht eines Schülers, der angeblich in Ibn Rušds eigenen Worten erzählt, wie dieser von Ibn Ṭufayl dem almohadischen Herrscher präsentiert wurde, mit Überraschen dessen philosophisches Interesse und gar philosophische Bildung feststellte und später, wiederum durch Ibn Ṭufayl, den Auftrag vermittelt bekam, Aristoteles’ Werke zu kommentieren.20 Die beiden chronologisch kaum sicher zu fixierenden Ereignisse sollten, auch angesichts der weiteren Informationen, die wir über Ibn Rušds öffentliches Wirken haben, nicht so gedeutet werden, dass seine philosophischen Schriften oder auch nur ein Teil von ihnen im offiziellen Auftrag und für ein größeres Publikum entstanden sind, sondern höchstens im Sinne des angesprochenen Hofmilieus, dass man seine Tätigkeit wohlwollend zur Kenntnis nahm. Bedeutender ist, dass sich in der Person Ibn Rušds zugleich das zunehmende Eindringen der Philosophie in ein anderes soziales Milieu manifestiert, nämlich das der Rechtsgelehrten. Zu den späteren philosophischen Gesprächspartnern Ibn Rušds gehörten nicht wenige Richter,21 während er selbst diesen Trend nicht nur durch Herkunft, Ausbildung und Amt verkörpert, sondern indem er ganz bewusst Philosophie und islamisches Recht in Verbindung bringt. In diesem Zusammenhang darf nun dennoch von seinen leiblichen Vorfahren die Rede sein, denn Ibn Rušd entstammt einer Familie von muslimischen Rechtsgelehrten und Richtern. Sein gleichnamiger Großvater Abū l-Walīd Muḥammad (1058–1126) verfasste zwei umfangreiche und einflussreiche juristische Werke und bekleidete zeitweise das Amt des obersten Richters von Córdoba, der als oberste juristische und religiöse Autorität in Andalusien galt. Dessen Sohn Abū l-Qāsim Aḥmad (1094–1168), der Vater des Ibn Rušd, hatte zumindest zu einem Zeitpunkt während der Jugend des Philosophen das gleiche Amt inne. Er war der erste Lehrer seines Sohnes im religiösen Recht, der dann weiter von anderen bedeutenden Juristen der Zeit ausgebildet wurde. Ibn Rušd selbst bekleidete im Lauf seiner Karriere mehrere Richterämter, zunächst in Sevilla, ab 1180 dann das Amt des obersten Richters in seiner Heimatstadt Córdoba.22 Der neue politische Kontext dieser Tätigkeit war bedeutend für Ibn Rušds Verknüpfung von Recht und Philosophie. Zum Zeitpunkt von Ibn Rušds Geburt herrschte in al-Andalus noch die nordafrikanische Dynastie der Almoraviden, welche die Halbinsel in der zweiten Hälfte des vorhergehenden Jahrhunderts erobert und lokale Kleinkönige verdrängt hat17
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Vgl. Ibn Rušd, Kitāb al-kullīyāt fī ṭ-ṭibb, S. 518; französische Übersetzung bei Urvoy, Averroès, S. 106. Siehe dort (S. 103–106) auch zur Frage der Verbindung zwischen beiden, wobei allerdings der Widerspruch zwischen Ibn Zuhrs Behauptung im Prolog, das Werk sei auf Bestellung des Kalifen entstanden, und derjenigen Ibn Rušds nicht wirklich aufgelöst wird. Vgl. Puig, Materials on Averroes’s Circle, S. 247, Anm. 37. Vgl. Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Venedig 1562 [Nachdruck Frankfurt am Main 1962], Bd. 10, f. 1rB sowie Ibn Rušd, Avicennae Cantica, S. 44. ʿAbd al-Wāḥid al-Marrākušī, al-Muʿǧib fī talḫīṣ aḫbār al-maġrib, S. 174f. Zu den Problemen der Einordnung dieses Berichts vgl. Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 298–300. Für ein Beispiel siehe neben Puig, Materials on Averroes’s Circle, S. 246–250 auch Puig, Abû ʿAbd ar-Raḥmân Ibn Ṭâhir. Vgl. Puig, Materials on Averroes’s Circle, S. 242f. und 255; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 291.
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te.23 Als Richter und Vertreter der im Maghreb und in al-Andalus vorherrschenden malikitischen Rechtsschule waren Vater und Großvater des Ibn Rušd Stützen der almoravidischen Herrschaft. Im Jahr 1147 jedoch wurden die Almoraviden zu Fall gebracht durch die Bewegung der Almohaden (al-muwaḥḥidūn, d. h. „Leute der Einheit“), eine religiöse Erneuerungsbewegung, gestützt auf den Berberstamm der Maṣmūda und ihren spirituellen und militärischen Anführer Ibn Tūmart. Unter dem Nachfolger Ibn Tūmarts, ʿAbd alMuʾmin, gelang der Bewegung die Unterwerfung des gesamten Maghreb und von al-Andalus. Sohn und Enkel ʿAbd al-Muʾmins, der bereits erwähnte Abū Yaʿqūb Yūsuf (herrschte 1163–1184) und Abū Yūsuf Yaʿqūb al-Manṣūr (herrschte 1184–1199), waren die Herrscher, denen Ibn Rušd in seinen Funktionen als Richter und als Arzt gedient hat. Die religiöse Lehre und der politische Impetus der Almohaden können als „fundamentalistisch“ beschrieben werden.24 Der Koran und die Tradition des Propheten gelten als einzig legitime Rechtsquellen, während etwa die für die malikitische Rechtsschule typische Fortschreibung von Entscheiden früherer Autoritäten abgelehnt wird. Die Almohaden wenden sich andererseits auch gegen den Literalismus dieser Schule, der etwa dazu führte, dass die anthropomorphen Beschreibungen Gottes im Koran als solche stehen blieben, und betonten dagegen eben die Einheit Gottes (tawḥīd), der die Bewegung ihren Namen verdankt. Insbesondere versteht die Lehre Ibn Tūmarts den Koran so, dass dieser zur Erkenntnis von Gottes Existenz und Einheit aus der Schöpfung heraus aufruft, und sie geht davon aus, dass diese Erkenntnis sich auf eine rein rationelle Notwendigkeit gründen kann. Dieses theoretische Gerüst verbindet sich mit einem strengen Moralismus und einer missionarischen Einstellung. Die Schriften religiös-juristischen und dogmatischen Inhalts, die Ibn Rušd im Laufe seines Lebens verfasst, zeugen alle davon, dass er, allerdings in deutlich eigenständiger Weise, ein Parteigänger des almohadischen Regimes war. Er macht sich in mehrerer Hinsicht dessen Haltung zu Eigen, die mit seinen philosophischen und systematischen Interessen übereinstimmt oder von ihm doch so gedeutet wird. Seine erste datierte Schrift überhaupt ist ein Kompendium zu al-Ġazālīs juristischem Werk Das Buch des Abgeklärten aus der Wissenschaft der Grundlagen [des Rechts] (Kitāb al-mustaṣfā min ʿilm al-uṣūl), das er unter dem Titel Das Notwendige in den Prinzipien des Rechts (aḍ-Ḍarūrī fī uṣūl al-fiqh) im Jahre 1157 schreibt. Bereits die Wahl des kommentierten Textes zeigt die Entfernung von der malikitischen Tradition, die sich eher mit den Details und Anwendungen (furūʿ) und weniger mit den Rechtsprinzipien (uṣūl) beschäftigte; auf diesem Gebiete war das Werk al-Ġazālīs das Beste, was zur Verfügung stand. Allerdings ist in Ibn Rušds Terminologie und in seinen Überlegungen zu Struktur und Grundlagen des Rechts auch der philosophische Hintergrund sichtbar, was ihn ebenso von al-Ġazālī entfernt wie die Tatsache, dass er der allegorischen Interpretation des Korans dort, wo es die Vernunft zu verlangen schein,t ein viel weiteres Feld lässt.25 Um das Jahr 1168 verfasst Ibn Rušd dann ein größeres juristisches Werk. Auch hier findet sein rationalisierender Ansatz Ausdruck, insofern es ihm darum geht, das verläss23
24 25
Zu der folgenden Übersicht und für weiterführende Literatur vgl. die Artikel al-Murābiṭūn, al-Muwaḥḥidūn, Abū Yaʿqūb Yūsuf und Abū Yūsuf Yaʿqūb al-Manṣūr in EI2 sowie Makki, The Political History of al-Andalus (92/711–897/1492). Zu Averroes: Urvoy, Averroès, S. 30–60 und 119–123. Vgl. dazu Geoffroy, L’Almohadisme théologique d’Averroès (Ibn Rušd), hier vor allem S. 13–16; Urvoy, Averroès, S. 48–52. Für eine genauere Analyse siehe Urvoy, La pensée d’ Ibn Tūmart; Puig, Ibn Rušd and the Almohad Context. Vgl. Urvoy, Averroès, S. 91–96; Griffel, The Relationship between Averroes and al-Ghazālī, hier S. 57–60. Trotz einer stark harmonisierenden Tendenz in Griffels Aufsatz sind die fundamentalen Unterschiede zwischen al-Ġazālī und Ibn Rušd gut zu erkennen. Ibn Rušds Schrift wurde ediert von Ǧamāl ad-Dīn al-ʿAlawī, Beirut 1994.
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liche Material für rechtliche Entscheide zusammenzutragen, das derjenige zur Grundlage nehmen kann, der sich eigenständig um die Erkenntnis und Befolgung des Gesetzes bemüht (muǧtahid), statt sich auf die Befolgung durch andere vorgegebener Regeln zu beschränken (muqtaṣid). Daraus erklärt sich auch der Titel des Werkes: Beginn für denjenigen, der sich bemüht, und Ende für denjenigen, der sich beschränkt (Bidāyat al-muǧtahid wa-nihāyat al-muqtaṣid).26 Dahinter steht aber auch eine philosophische Idee von der Rolle des religiösen Gesetzes: Der wahre Jurist soll nicht nur die Vorschrift des Gesetzes feststellen, sondern sich nach den Gründen des Gesetzes fragen – etwas, das nicht nur für die Traditionalisten, sondern auch für al-Ġazālī völlig undenkbar ist –, und zwar nicht nur nach der rituellen Funktion des Gesetzes, sondern nach seinem Nutzen für das Individuum und die Gesellschaft; das Gesetz als Ganzes dient dann der Etablierung und Aufrechterhaltung der moralischen Tugenden.27 Um das Jahr 1179 verfasst Ibn Rušd zwei Schriften, die sich mit philosophisch-religiösen Grenzfragen befassen – die Entscheidende Abhandlung (Faṣl al-maqāl) und das Buch der Enthüllung der Beweismethoden für die Dogmen der Religion (Kitāb al-kašf ʿan manāhiǧ al-adilla fī ʿaqāʾid al-milla) – und die ganz deutlich ein religiös-politisches Reformprogramm verfolgen. Dieses Programm, das sich, wie gezeigt worden ist, in wichtigen Punkten mit den Intentionen der almohadischen Doktrin deckt,28 besteht in dem Versuch, den wissenschaftlich Gebildeten nicht nur einen Freiraum für die Ausübung der Philosophie zu eröffnen, sondern die islamische Gesellschaft auf eine philosophische Elite zu gründen und durch einen neuen „philosophischen Kalām“ die Glaubensüberzeugungen der Masse zu prägen.29 Allerdings weicht Ibn Rušd mit seinem „philosophischen Kalām“ in einigen wichtigen Punkten auch vom Almohadismus ab, sodass er, wahrscheinlich auf den Druck der Herrschenden hin, in einer revidierten Fassung des Buchs der Enthüllung sein Vorgehen verteidigt und einige Thesen zurücknimmt. Seinem Reformprogramm war kein Erfolg beschieden.30 Gegen Ende seines Lebens fiel Ibn Rušd für einige Zeit in Ungnade und wurde nach Lucena verbannt, während seine philosophischen Bücher verboten wurden. Der genaue Hergang und die wirklichen Motive dieser Ereignisse sind bisher nicht überzeugend rekonstruiert worden. Sicher aber ist, dass Ibn Rušds Versuch, Politik und religiöses Recht in den Dienst der Philosophie zu nehmen, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eher eine Ablehnung der Philosophie gegenüberstand. Nach seiner Rehabilitierung durch Abū Yūsuf Yaʿqūb al-Manṣūr ist Ibn Rušd am 9. Ṣafar 595, am 10. oder 11. Dezember 1198, in Marrakesch gestorben.
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Vgl. Urvoy, Averroès, S. 110–116. Eine englische Übersetzung liegt vor mit Ibn Rushd, The Distinguished Jurist’s Primer. Vgl. Griffel, The Relationship between Averroes and al-Ghazālī, S. 60–62. Geoffroy, L’Almohadisme théologique d’Averroès (Ibn Rušd); vgl. auch die hervorragende knappe Darstellung bei Geoffroy, Averroè, hier S. 734–749. Die folgende Darstellung orientiert sich ganz wesentlich an diesen Arbeiten. Vgl. Geoffroy, Averroè, S. 746–748; ausführlicher dazu unten S. 332–334. Geoffroy, Ibn Rušd et la théologie almohadiste; Geoffroy, Averroè, S. 746.
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2 „So dass er derjenige ist, bei dem sich die Wahrheit vollendet hat“ – Ibn Rušds Aristotelesbild Nachdem Ibn Rušd in unserem Ausgangstext Aristoteles’ Ermahnung, den Beitrag der Vorgänger zur Erkenntnis zu würdigen, bereits in eine gleichsam ahistorische geistige Vaterschaft übersetzt hat, vollendet er diese Bewegung in einem nächsten Schritt, indem er daraus nun eine Maxime für den Umgang mit Aristoteles selbst ableitet. Ibn Rušd bestimmt hier ganz offenbar seine eigene Position als Erkennender in der Nachfolge des Aristoteles, und zwar quasi in unmittelbarer Nachfolge, denn alle nacharistotelischen griechischen und arabischen Denker werden stillschweigend übersprungen. Aristoteles, so plädiert Ibn Rušd, hat das Wahre in den Auffassungen seiner Vorgänger anerkannt, obgleich sie noch kaum etwas in diesem Bereich geleistet hatten. Er dagegen hat nicht nur ihren Erkenntnissen Neues hinzugefügt, sondern er hat „die Wahrheit vollendet“. Dem Zeitgenossen kann es jetzt nur noch obliegen, „seine Wahrheit [zu] erkennen“. Ibn Rušds Haltung zu Aristoteles kann als Kulminationspunkt einer Entwicklung innerhalb der arabischen Philosophie gelten, die spätestens bei al-Fārābī beginnt und in der sich Aristoteles’ überragende Autorität vor allem auf seine Urheberschaft der wissenschaftlichen (logisch-demonstrativen) Methode gründet – niedergelegt in den Schriften des sogenannten Organons und insbesondere in dessen wissenschaftstheoretischem Teil, den Zweiten Analytiken.31 Über diesen methodischen Gesichtspunkt hinaus schließt Ibn Rušd sich einer inhaltlichen Bewertung an, die er zu Recht auf Alexander von Aphrodisias (2. Jahrhundert) zurückführt32 und die zunächst eine ganz nüchterne wissenschaftsgeschichtliche Feststellung ausdrückt, nämlich dass gegenwärtig keine besseren Erklärungen als die des Aristoteles verfügbar sind, weder von älteren noch von neueren Autoren; Aristoteles repräsentiert den aktuellsten Forschungsstand und bildet damit zugleich das Paradigma für die zeitgenössische Wissenschaft.33 Ibn Rušd geht jedoch zugleich sichtbar über die traditionelle Wertschätzung des mit Aristoteles erreichten Erkenntnisstandes hinaus, indem er Aristoteles’ Erkenntnis mit der Natur des Menschen verbindet, also einen Wesenszusammenhang zwischen beiden herstellt: Sie ist unübertrefflich, weil sie das Vermögen menschlicher Erkenntnis vollständig realisiert hat. In diesem Sinne endet die philosophiehistorisch zu betrachtende Entwicklung der Erkenntnis mit deren Abschluss auf einer Ebene, die nicht mehr geschichtlich, sondern nur noch ontologisch zu verstehen ist. Dieser Perspektivwechsel kommt im Prolog von Ibn Rušds Großem Kommentar zur Physik prominent und anschaulich zum Ausdruck. Dort erklärt Ibn Rušd, Aristoteles habe die drei Disziplinen Logik, Physik und Metaphysik hervorgebracht und vollendet. Dass er sie hervorgebracht habe, sei deutlich, wenn man seine Werke mit den wenigen erhaltenen Texten seiner Vorgänger ver31 32
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Vgl. dazu Endress, L’Aristote arabe. Vgl. das Zitat in der folgenden Anmerkung. Endress, “If God Will Grant me Life”, S. 247, Anm. 75. Endress gibt eine Stelle aus Alexanders Mabādiʾ al-kull an. Besser noch treffen Alexanders Worte zu Beginn seiner Schrift über die Seele: Alexandri Aphrodisiensis praeter commentaria scripta minora, De anima liber cum mantissa, S. 2.4–9. Vgl. Ibn Rušd, De Substantia Orbis, S. 14.22–26 (hebr.); S. 44 (engl.): „Der Ausgangspunkt der Betrachtung darüber ist das, was wir von Aristoteles über jene Dinge aufgenommen haben, denn es ist von den Alten keine Ansicht über die Seienden auf uns gekommen, die wahrer wäre als seine, keine, die weniger Zweifel enthält, und keine, die besser geordnet wäre. Daher ist seine Ansicht die der Natur nach menschliche Ansicht, die das Weitreichendste darstellt, was der Mensch als Mensch durch seine Erkenntnis und seinen Intellekt erreichen kann. Daher ist er, wie Alexander sagt, derjenige, auf den man sich in den Wissenschaften stützt.“ Vgl. auch Endress, “If God will Grant me Life”, S. 246f.; allerdings datiert, anders als dort angegeben, nicht diese sondern eine andere der unter dem Titel De substantia orbis zusammengefassten Abhandlungen aus dem Jahr 1179.
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gleiche. Ibn Rušd beruft sich auf das Zeugnis der Überlieferung: Von den voraristotelischen Schriften sei deshalb nur wenig erhalten, weil die Menschen, die Überlegenheit der aristotelischen Philosophie erkennend, sie vernachlässigt hätten. Er fährt dann fort: „Dass er sie vollendet hat, ergibt sich daraus, dass niemand von denen, die nach ihm gekommen sind bis zu unserer Zeit – und das sind nahezu fünfzehnhundert Jahre – dem, was er gesagt hat, etwas hat hinzufügen können, was der Aufmerksamkeit wert wäre. Die Existenz dessen bei einem einzigen Menschen ist in höchstem Maße außerordentlich und wunderbar. Wenn sich diese Dinge bei irgendeinem Menschen finden, dann muss man sie eher der göttlichen Existenz zuschreiben als der menschlichen Existenz, und deshalb nannten die Alten ihn ‚den Göttlichen‘.“34
Die zahlreichen Stellen in Ibn Rušds Werk, in denen sich diese Auffassung ausdrückt und die Aristoteles eine über das gemeinmenschliche Maß hinausgehende, gleichsam göttliche Vollendung zusprechen, haben nicht erst in der frühen Neuzeit und bei heutigen Wissenschaftshistorikern, sondern bereits bei vielen mittelalterlichen Lesern Verwunderung und Spott ausgelöst.35 Um ein angemessenes Verständnis der Philosophie Ibn Rušds zu erreichen, sollte man sich jedoch die funktionale Bedeutung dieser Stellung des Aristoteles vor Augen führen. Dies lässt sich anhand eines anderen vielzitierten Aristoteleslobs deutlich machen: In seinem Großen Kommentar zu De anima bemüht sich Ibn Rušd um die richtige Konzeption des menschlichen Erkenntnisvermögens, indem er intensiven Gebrauch von den Schriften der „Peripatetiker“, nämlich der griechischen Aristoteleskommentatoren und ihrer arabischen Nachfolger macht, deren Lösungen er zugleich anhand der Sachfrage und anhand des aristotelischen Textes bewertet. So kommt er zu einem Ergebnis, von dem er ausdrücklich feststellt, man müsse es selbst dann für wahr halten, wenn es nicht die Ansicht des Aristoteles gewesen wäre. Nun habe er aber zweifelsfrei gezeigt, dass das erzielte Ergebnis die Position des Aristoteles sei, ja mehr noch, es handele sich um eine so schwierige Erkenntnis, dass es nahezu unmöglich sei, ohne die Darlegung des Aristoteles – oder irgendeines anderen von seiner Art – darauf zu kommen. „Ich glaube nämlich, dass dieser Mann eine Regel in der Natur und ein Urbild gewesen ist, das die Natur erfunden hat, um die höchste menschliche Vollendung in der Materie zu zeigen.“36 Ibn Rušds buchstäbliche Vergötterung des Aristoteles ist daher keine blinde Autoritätshörigkeit, sondern vielmehr die Verortung des natürlichen Ziels aller Erkenntnis in dem Text beziehungsweise den Texten, die zu seiner Zeit das unangefochtene Paradigma jeder wissenschaftlichen Erkenntnis ausmachten. Die Vollendung der aristotelischen Wissenschaft ist gleichsam die notwendige Prämisse für eine Philosophie, die im Modus des Kommentars betrieben wird. Die Frage nach der sachlichen Richtigkeit ist hier nicht etwa aufgegeben, sie ist nur in die Frage nach der richtigen Interpretation der Worte des Aristoteles übersetzt. Ibn Rušds Selbstverständnis als Kommentator ist mithin das Spiegelbild seiner Auffassung von der Rolle und Leistung des Aristoteles, den er kommentiert,
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Harvey, The Hebrew Translation of Averroes’ Prooemium to his Long Commentary on Aristotle’s Physics, hier S. 70.17–22 für den hebräischen Text und S. 83 für die englische Übersetzung. Vgl. Renan, Averroès et l’averroïsme, S. 51–56; Sabra, The Andalusian Revolt against Ptolemaic Astronomy, S. 143f.; Endress, Le projet d’Averroès, S. 23–25. Ibn Rušd, Averrois Cordubensis Commentarium magnum in Aristotelis de anima libros, S. 432.135–433.145: Et si istud non esset opinio Aristotelis, oporteret opinari eam esse opinionem veram. Sed propter hoc quod dico nullus debet dubitare quin ista opinio sit Aristotelis. Omnes enim hoc opinantes non credunt nisi propter hoc quod dixit Aristoteles; quoniam ita est difficile hoc adeo quod, si sermo Aristotelis non inveniretur in eo, tunc valde esset difficile cadere super ipsum, aut forte impossibile, nisi inveniretur aliquis talis ut Aristoteles. Credo enim quod iste homo fuit regula in Natura, et exemplar quod Natura invenit ad demonstrandum ultimam perfectionem humanam in materiis.
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denn für ihn fällt die Untersuchung der Sachfragen mit der Klärung von Aristoteles’ Aussagen zusammen. Das wird beispielhaft deutlich an einer wie nebenbei und selbstverständlich gemachten methodologischen Bemerkung, die sich in einer 1195, wenige Jahre vor seinem Tod, verfassten Abhandlung findet: „Das beste in diesem Fall ist, dass wir in diesem Kapitel den Wortlaut des Aristoteles selbst angeben und ihn untersuchen entsprechend dem, was aus seinen Worten deutlich hervorgeht, und entsprechend der Sache selbst.“37 Die Philosophie ist identisch mit dem Text des Aristoteles. Bei seinen nächsten Vorgängern, Ibn Bāǧǧa und Ibn Sīnā, sieht Ibn Rušd daher zwei geradezu komplementäre methodische Fehler: „Was aber jenen Mann [= Ibn Bāǧǧa] hat irren lassen und auch uns lange Zeit, ist, dass die Neueren die Bücher des Aristoteles beiseitelassen und [nur] die Bücher der Kommentatoren betrachten, und zwar am meisten in De anima, weil sie glauben, dass dieses Buch unmöglich zu verstehen sei. Und das ist wegen Ibn Sīnā, der nicht Aristoteles gefolgt ist, außer in der Dialektik, aber in den anderen [Wissenschaften] irrte er und am meisten in der Metaphysik, und zwar weil er gleichsam von ganz allein begonnen hat.“38
Das eine zu vermeidende Extrem ist also eine unkritische Übernahme der aristotelischen Tradition, die nicht mehr am Aristotelestext und damit an der Sache selbst orientiert ist, sondern sich mit den Fragen nur noch aus zweiter Hand und als exegetische Streitfälle befasst. Das andere Extrem ist die Verabsolutierung des eigenen unabhängigen Urteils, welches den zuvor bereits erreichten Kenntnisstand einfach ignoriert. Ibn Sīnās Kardinalfehler besteht darin, dass er – geleitet von einem übersteigerten Vertrauen in sein eigenes Genie39 – statt von Aristoteles von sich selbst ausgeht. Indem Ibn Rušd Aristoteles in dieser Weise aus der Geschichte herausnimmt und in die Struktur der menschlichen Erkenntnis überhaupt einschreibt, sichert er sich selbst als Interpret und Philosoph eine Autonomie und einen unmittelbaren Zugang zur Erkenntnis der Wahrheit, was Aristoteles’ Aussage, welche er im Ausgangstext kommentiert, geradezu entgegenläuft. Welche Bedeutung können Vorgänger, können andere Philosophen für Ibn Rušd noch haben? Im scheinbaren Widerspruch zum soeben Festgestellten ist Ibn Rušd beständig auf der Suche nach zuverlässigen Kommentatoren, die ihm das Verständnis des Aristotelestextes aufschließen,40 und oft vermerkt er das Fehlen von Kommentaren als Hindernis seiner Arbeit.41 Dass diese Spannung zwischen Abgrenzung von und Anlehnung an die älteren Aristoteleskommentatoren in den Augen Ibn Rušds kein Fehler seiner Konzeption der Philosophiegeschichte ist, sondern vielmehr in der Natur der Sache liegt, zeigt sich erneut sehr treffend in der bereits oben zitierten Abhandlung aus dem Jahre 1195. Nach intensiver Auseinandersetzung mit verschiedenen Lehrmeinungen bemerkt Ibn Rušd hier:
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Ǧamāl ad-Dīn al-ʿAlawī, Maqālāt fī l-manṭiq wa-l-ʿilm aṭ-ṭabīʿī li-ʾAbī l-Walīd Ibn Rušd, S. 157.7f.; für die Datierung S. 175. Ibn Rušd, Averrois Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 470.41–48. Vgl. Ibn Rušd, Averrois Cordubensis commentum magnum super libro De celo et mundo Aristotelis, S. 635.137–139: paucitas vero exercitationis istius viri in naturalibus et bona confidentia in proprio ingenio induxit ipsum ad istos errores. Hinweis bei Bertolacci, The “Andalusian Revolt against Avicennian Metaphysics”. Vgl. Aouad/Rashed, Commentateurs satisfaisants et non satisfaisants de la Rhétorique selon Averroès. Vgl. etwa den Kommentar zu De animalibus (von 1169), zitiert bei Endress, “If God Will Grant me Life”, S. 240: nullumque expositorum vidimus hunc librum exposuisse; Kommentar zur Sophistik, zitiert bei Endress, “If God Will Grant me Life”, S. 245; Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1393.4–S. 1394.2.
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„Zum Merkwürdigsten in Bezug auf diese Frage gehört, wie das allen Peripatetikern, deren Darlegung über diese Prämissen uns erreicht hat, entgehen konnte, obwohl doch die Sache aus den Worten des Aristoteles so klar ist, so dass sie [sogar] zur Ursache dafür wurden, dass uns das verborgen blieb und dass es jedem schwer wurde. In dieser Weise kann es manchmal sein, dass der Frühere für den Späteren Ursache der Verwirrung wird, statt ihm eine Hilfe und Ursache für seine Rechtleitung zu sein. Jedoch geschieht das nur akzidentell, das wesentliche Verhältnis des Früheren zum Späteren ist dagegen, dass er Ursache für das Herausbringen und Erkennen der Wahrheit ist.“42
Die eigentliche Funktion des Vorgängers ist es, den Nachfolger zur Erkenntnis der Wahrheit anzuleiten, deren Inbegriff Aristoteles ist, und die daher im aristotelischen Text immer schon gegeben, wenn auch nicht immer schon durchschaut ist. Die ambivalente Rolle der früheren Philosophen resultiert daraus, dass ihnen eine relative, kontingente Funktion bei der Erreichung der Wahrheit zukommt, Aristoteles dagegen eine absolute. Insofern sie in der Ökonomie der menschlichen Erkenntnis die Position eines unentbehrlichen, aber nicht fehlerfreien Werkzeugs haben, sind sie im Regelfall hilfreich, können jedoch zuweilen oder wenn sie falsch gebraucht werden ein Hindernis darstellen. Es greifen daher für Ibn Rušd in der Geschichte der Wissenschaft zwei Mechanismen ineinander: Eine historische Perspektive, in der es richtig ist, dass jede Erkenntnis ihre konkreten geschichtlichen Voraussetzungen hat und Erkenntnis überhaupt nur durch menschliche Zusammenarbeit über eine lange Zeit hinweg entsteht, sowie eine ontologische Perspektive, welche als Voraussetzung für das Erzielen wissenschaftlicher Erkenntnis die ahistorische Permanenz eines vollkommenen Erkenntnisprinzips entdeckt, das dann etwa „Aristoteles“ heißt.43 Bei der Analyse von Ibn Rušds Erkenntnistheorie wird deutlich werden, dass dort entsprechende kontingente und absolute Faktoren in jedem einzelnen Erkenntnisakt wirksam sind.
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al-ʿAlawī, Maqālāt fī l-manṭiq wa-l-ʿilm aṭ-ṭabīʿī li-Abī l-Walīd Ibn Rušd, S. 160.16–20. In der Fortsetzung des Ausgangstextes (Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 10.17–19) kommt das ebenso zum Ausdruck wie in der Entscheidenden Abhandlung, vgl. Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl, Hg. G. F. Hourani (wie allgemein üblich gebe ich hier die auch in Houranis Edition angegebene Seiten- und Zeilenzählung nach der ersten Ausgabe durch Müller [1859] an), S. 4.11–17; Ibn Rušd, Die entscheidende Abhandlung (übs. Patric O. Schaerer), S. 16 (am Ende leicht modifiziert): „Und es ist ebenfalls klar, dass uns dieses Vorhaben nur dann gelingt, wenn bei der Untersuchung der seienden Dinge beständig einer den anderen ablöst und der Spätere jeweils beim Früheren anknüpft […]. Wenn wir nämlich annehmen würden, dass es in unserer Zeit weder die Geometrie noch die Astronomie gäbe und ein einzelner Mensch versuchen würde, von sich aus die Ausmaße der Himmelskörper, ihre Formen und ihre Entfernung voneinander zu fassen […], dann würde ihm das nicht gelingen, auch wenn er von Natur über den größten Scharfsinn verfügte, es sei denn durch Offenbarung oder etwas, das der Offenbarung gleicht.“ Genau in diese Nähe göttlicher Offenbarung rückt Ibn Rušd jedoch Aristoteles; vgl. dazu das Zitat aus seinem Kommentar zu De animalibus, übersetzt bei Munk, Mélanges de philosophie juive et arabe, S. 441 mit Anm. 1, wo Ibn Rušd den Koranvers 62.4 „Das ist die Huld Gottes. Er läßt sie zukommen, wem er will“ auf Aristoteles anwendet. Man muss das zusammenlesen mit Q 62.2 „Er ist es, der unter den Ungelehrten einen Gesandten aus ihrer Mitte hat erstehen lassen, der ihnen seine Zeichen verliest, sie erläutert und sie das Buch und die Weisheit (ḥikma) lehrt […].“ (Übersetzung: Adel Theodor Khoury)
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3. „Seine Darlegungen sorgfältig zu studieren, sie zu kommentieren und sie allen Menschen klar zu machen“ – Die philosophische Praxis des Kommentators Der angemessene Umgang mit der von Aristoteles aufgedeckten Wahrheit, so erklärt Ibn Rušd im Ausgangstext nun ganz explizit, besteht in dreierlei, nämlich dem Studium, der Kommentierung und der Vermittlung des Erkannten an alle Menschen – „denn (fa-inna) das spezielle Religionsgesetz der Weisen fordert die Untersuchung aller Seienden“. Ausdrücklich setzt Ibn Rušd also seine Tätigkeit der Kommentierung der aristotelischen Schriften mit der philosophischen Aktivität der „Untersuchung aller Seienden“ gleich. Die drei genannten Aspekte dieser Aktivität, die das eigene Verständnis, dessen schriftliche Fixierung in Form von Kommentaren und schließlich die breite Vermittlung umfassen, können als Plan seiner eigenen Tätigkeit gelesen werden. Der dritte Aspekt mit seinem universellen Anspruch, alle Menschen zu erreichen, zerfällt für Ibn Rušd – auf Grund der Unterschiede zwischen verschiedenen Klassen von Menschen – in mehrere Unteraspekte. Wie oben bereits angedeutet, verfolgt er ein politisch-religiöses Reformprogramm, das in der Übertragung der philosophischen Erkenntnis in andere Diskursformen besteht und dessen philosophischer Hintergrund in den zwei folgenden Abschnitten entfaltet werden soll. Damit stellt sich notwendig aber auch die Frage nach der Vermittlung innerhalb des philosophischen Diskurses selbst, also nach der intendierten und tatsächlichen zeitgenössischen Leserschaft von Ibn Rušds Kommentaren. Es ist oben schon darauf hingewiesen worden, dass Ibn Rušd als sicherlich herausragendste Figur einem andalusischen Milieu von philosophisch interessierten Ärzten und Juristen zuzurechnen ist. Aber über den Austausch mit denen, die Ibn Rušd zuweilen als seine Gefährten (aṣḥāb) erwähnt,44 sowie über den Adressatenkreis und die Verbreitung seiner Kommentare herrscht noch weitgehend Unklarheit.45 Es sei hier deshalb das Augenmerk auf die ersten beiden Aspekte gerichtet – Ibn Rušds eigene Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Text und deren Verschriftlichung in Form von Kommentaren und Abhandlungen: Obgleich offensichtlich ein direkter Zusammenhang zwischen Ibn Rušds fortschreitendem Studium des aristotelischen Corpus und seinen Schriften besteht, kann man beide Bewegungen nicht unmittelbar gleichsetzen. Vielmehr hat sich oben gezeigt, dass Ibn Rušd bereits vor 1147, also in sehr jungen Jahren, eine gewisse Gesamtsicht auf die philosophischen Disziplinen besaß. Auch seine erste 1157, also vor allen philosophischen Werken verfasste religionsrechtliche Schrift lässt schon erkennen, dass er durch die aristotelische Tradition geprägt ist und ihre methodischen Standards souverän auf das islamische Recht anwendet.46
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Siehe etwa die Glosse am Ende des Kapitels über das rationale Vermögen seines Kompendiums zum Buch der Seele in: Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 112. Das zeigt sich etwa an den Seiten, die Urvoy, Averroès, S. 163–173 den „Schülern“ Ibn Rušds widmet; sie wiederholen im wesentlichen Anekdoten aus der arabischen bibliographischen Literatur, ebenso Puig, Materials on Averroes’s Circle, S. 255–258. Dagegen werden die philosophischen Schriften überhaupt nicht als Teil eines realen wissenschaftlichen Diskurses aufgefasst. Es sei mir deshalb erlaubt, auf eine eigene, noch nicht publizierte Studie zu verweisen: “Whom Was Averroes Writing for?”, erscheint 2013 in Miscellanea Mediaevalia 38, in den Akten der Tagung From Cordoba to Cologne. Transformation and Translation, Transmission and Edition of Averroes’s Works (Köln, 25.–28. Oktober 2011). Vgl. etwa Griffel, The Relationship between Averroes and al-Ghazālī, S. 57; zur Übertragung des alexandrinischen Einleitungsschemas in dieses Genre vgl. Harvey, The Author’s Introduction as a Key to Understanding Trends in Islamic Philosophy, S. 31, Anm. 49.
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Was sich jedoch aus den Kommentaren und Abhandlungen ablesen lässt, ist eine kontinuierliche Arbeit an bestimmten Problemen und die bewusst vorangetriebene immer textnähere Auseinandersetzung mit den Schriften des Aristoteles. Es wurde oben schon ein Beispiel dafür gegeben, wie Ibn Rušd sich am aristotelischen Text und an den verfügbaren Deutungen der Kommentatoren abarbeitet, um zu einer zufriedenstellenden Interpretation zu kommen. Häufig vermerkt er, dass er „lange Zeit“ einer falschen Deutung angehangen oder eine Passage nicht verstanden, sie nun aber durchdrungen habe.47 Die traditionelle und vornehmlich formale Einteilung von Ibn Rušds philosophischen Schriften in (1) Kurze Kommentare oder Epitomai, (2) Mittlere Kommentare oder Paraphrasen und (3) Große Kommentare, verfasst in dieser Reihenfolge, orientiert sich an den Renaissanceeditionen der Werke des Aristoteles, begleitet von Ibn Rušds Kommentaren, und ist für die moderne philosophiegeschichtliche Forschung zunächst durch Ernest Renans Essay Averroès et l’averroïsme (1852) und schließlich durch das von H. A. Wolfson eingeleitete Editionsprojekt als universelle Rezeptionsmaske festgelegt worden.48 Diese Einteilung drängt sich besonders dadurch auf, dass Ibn Rušd zu fünf aristotelischen Schriften, nämlich Zweite Analytiken, Physik, De caelo, De anima und Metaphysik, je drei Kommentare verfasst hat. Durch die Arbeiten Ǧamāl ad-Dīn al-ʿAlawīs, insbesondere sein Buch Der Text Ibn Rušds (al-Matn ar-rušdī, 1986), ist jedoch vermehrt die größere Vielfalt in den Genres von Ibn Rušds Schriften ins Bewusstsein gerückt worden.49 Im Einzelnen ist der Versuch al-ʿAlawīs, eine entwicklungsgeschichtliche Lektüre der Philosophie Ibn Rušds mit auch chronologisch deutlich unterschiedenen „Projekten“ zu etablieren, in dieser Form aber wohl nicht tragfähig.50 Weite Verbreitung hat al-ʿAlawīs Unterscheidung der Epitomai (ǧawāmiʿ) von den angeblich früher anzusetzenden Kompendien (muḫtaṣarāt) erlangt. Hier hat sich jedoch ebenfalls herausgestellt, dass allenfalls ein gewisser methodischer Unterschied besteht, sofern Ibn Rušd in einigen seiner frühen, wohl bis 1162 entstandenen Schriften einzelne aristotelische Werke zur Vorlage nimmt; so in den 1159 beendeten vier Kompendien zur Naturphilosophie (Physik, De caelo, De generatione et corruptione, Meteorologie). Andere zur selben Zeit entstandene Texte, wie das bereits erwähnte religionsrechtliche Kompendium, ein auf Ptolemaios Almagest aufbauendes Kompendium der Astronomie und ein Kompendium der Logik, fassen eher eine ganze Disziplin als einen bestimmten Text zusammen.51 Generell können die verschiedenen Kommentartypen wohl nicht terminologisch fixiert werden, etwa, wie noch weithin üblich, zur Trennung von Paraphrase (talḫīṣ) und Literalkommentar (šarḥ, tafsīr).52 Gerhard Endress hat in der Nachfolge al-ʿAlawīs eine kontinuierlichere Version der entwicklungsgeschichtlichen Lektüre präsentiert, die zu Recht vor allem die Bedeutung der historischen Umstände für Ibn Rušds Methodenwechsel hervorgehoben hat, nämlich dass er in der soeben bezeichneten frühesten Periode darum bemüht ist, angesichts der durch die labilen Machtverhältnisse im Gefolge der almohadischen Eroberung in al-Andalus entstandenen Notlage das „Notwendige“ (ḍarūrī) in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu sichern. Danach sieht Endress mit al-ʿAlawī eine erst zögerli47 48 49 50 51 52
Vgl. etwa Ibn Rušd, Averrois commentum magnum super libro De caelo, S. 61. 66f. (I c. 32); Ibn Rušd, Šarḥ al-burhān wa-talḫīṣ al-burhān, S. 246.4–15. Vgl. Renan, Averroès et l’averroïsme, S. 59; Wolfson, Plan for the Publication of a Corpus Commentariorum Averrois in Aristotelem und Wolfson, Revised Plan for the Publication of a Corpus Commentariorum Averrois in Aristotelem. Al-ʿAlawī, al-Matn ar-Rušdī. Siehe dazu schon die Rezension von Abdelali Elamrani-Jamal. Vgl. Lay, L’Abrégé de l’Almageste : Abrégé d’astronomie ou épitomé de l’Almageste? Vgl. Gutas, Aspects of Literary Form and Genre in Arabic Logical Works, hier S. 31–43.
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che, dann immer bewusstere Zuwendung zu Aristoteles.53 Man kann dagegen aber auch zahlreiche noch stärkere Kontinuitäten in Ibn Rušds Beschäftigung mit den aristotelischen Schriften sehen,54 während auf der anderen Seite immer mehr hervortritt, dass selbst innerhalb ein und derselben der traditionell abgegrenzten Gattungen beträchtliche Unterschiede in Methode und Zielsetzung bestehen.55 Aus einer jüngst von Ruth Glasner entdeckten Bemerkung Ibn Rušds selbst lässt sich dreierlei ableiten: Erstens, dass er grundsätzlich nur zwei Kommentartypen unterscheidet, nämlich solche ad sensum (šarḥ ʿalā al-maʿnā) und solche ad litteram (šarḥ ʿalā al-lafẓ). Zweitens, dass er sie tatsächlich in dieser Reihenfolge verfasst hat. Und drittens, dass er in der Tat die Absicht hatte, alle Schriften des Aristoteles mit einem „Großen“ oder Literalkommentar zu versehen.56 Der Übergang von den Kompendien zu den Mittleren Kommentaren, die so beide unter die Kategorie des šarḥ ʿalā l-maʿnā fallen, hat sich in den Jahren von 1162 bis 1170 abgespielt. Es war dies eine Zeit, in der Ibn Rušd erneut die einzelnen Schriften des Organons – im Unterschied zum oben erwähnten Kompendium der gesamten Logik – kommentiert und so die Serie der Mittleren Kommentare eröffnet hat. Andererseits hat er in dieser Zeit zum ersten Mal Aristoteles’ Schriften De partibus animalium, De generatione animalium und die Parva naturalia kommentiert, über deren Zuordnung zu den Epitomai oder Mittleren Kommentaren man sich folglich auch niemals hat einigen können. Die weiteren sogenannten Mittleren Kommentare zur Naturphilosophie, zur Metaphysik und zur Ethik entstanden dann in den Jahren 1170 bis 1177.57 Die Literalkommentare, von denen keiner sicher datierbar ist, sind anschließend verfasst worden,58 so dass sich also die traditionelle Chronologie, wenn auch nicht ihre essentialistische Unterscheidung der Kommentartypen, insgesamt bewahrheitet hat.59 Vielmehr geht aus Ibn Rušds eigenen Äußerungen hervor, dass sowohl der Übergang von den Kompendien zu den Mittleren wie von diesen zu den Literalkommentaren vornehmlich durch das Bemühen bestimmt war, eine „vollkommene“ (arab. tāmm, heb. šalem) Auslegung zu erreichen, das heißt eine, in der alle Fragen zweifelsfrei geklärt sind.60 Hervorstechendstes Merkmal der Kompendien ist dabei in seinen eigenen Augen, dass sie
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Ausführlich dargestellt in Endress, Le projet d’Averroès und Endress, “If God Will Grant me Life”. Siehe dazu meine Argumentation in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 303–313. Vgl. etwa Puig, Averroes’ Commentaries on Aristotle: To Explain and to Interpret; Harvey, Similarities and Differences among Averroes’ Three Commentaries on Aristotle’s Physics. Glasner, [Rezension von:] Averroës: Middle Commentary on Aristotle’s De Anima. A Critical Edition of the Arabic Text with English Translation, Notes, and Introduction by Alfred L. Ivry, hier S. 58f.; Glasner, Averroes’ Physics, S. 19–21; vgl. auch die von Endress, “If God Will Grant me Life”, S. 240 und 244 zitierten Texte. Nachweise dieser Datierungen in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 301. Zur möglichen Umkehrung der Reihenfolge zwischen Mittlerem und Großem De anima Kommentar siehe Glasner, Averroes’ Physics und Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 344–351, dort auch über weitere Probleme der Chronologie der Literalkommentare. Den Irrtum, der zur fast universell akzeptierten Datierung des Großen Kommentars zur Physik auf das Jahr 1186 geführt hat, hat Harvey, Similarities and Differences among Averroes’ Three Commentaries on Aristotle’s Physics, S. 86f., Anm. 15 aufgedeckt. Vgl. Steinschneider, Die Hebraeischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, S. 52f. Vgl. die Bemerkung im Mittleren Kommentar zur Physik (1170) zitiert bei Harvey, Similarities and Differences among Averroes’ Three Commentaries on Aristotle’s Physics, S. 87, Anm. 16: „Ich habe bereits einen bei der Masse [verbreiteten] Kommentar, den ich in meiner Jugend gemacht habe, und der kurz ist, so dass ich es jetzt für angebracht hielt, diesen vollkommeneren [yoter šalem] Kommentar zu machen.“ Ebenso der Grund für den Wunsch, einen Literalkommentar zu den Ersten Analytiken zu verfassen, Ed. Ǧihāmī, S. 214.2–4 (größerer Auszug übersetzt bei Endress, “If God Will Grant me Life”, S. 244): „Wenn Gott mir weitere Lebenszeit gewährt, so werde ich diese Stelle seiner Darlegung ad litteram kommentieren, denn diese Stelle hat bis jetzt, wie ich meine, keinen vollkommenen [tāmm] Kommentar erhalten.“
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„kurz“ sind,61 eben weil sie ursprünglich nur das absolut „Notwendige“ zur Beherrschung einer Wissenschaft zusammentrugen. Im Zusammenhang seines fortgesetzten Ringens um das vollkommene Verständnis des aristotelischen Textes hat Ibn Rušd auch immer wieder seine Auffassung substantiell geändert und in diesen Fällen oft seine bereits abgeschlossenen Kommentare überarbeitet oder doch zumindest mit aktualisierten Anmerkungen versehen. Man hat inzwischen festgestellt, dass solche nachträglichen Änderungen in kaum einem seiner Kommentare fehlen.62 Die Vielzahl von Abhandlungen Ibn Rušds zur Logik und Naturphilosophie, insbesondere zur Kosmologie und zur Psychologie, die meist ebenfalls direkt an einen aristotelischen Text anknüpfen, stellen häufig Momentaufnahmen dar in diesem Prozeß des Ringens mit den Schwierigkeiten, welche sich aus dem Text und der dahinter stehenden Sachfrage ergeben.63
4. Philosophie und Religion 4.1 „Der edelste Gottesdienst“
Ibn Rušd spricht in unserem Ausgangstext von einem speziellen Religionsgesetz, einer speziellen šarīʿa der „Weisen“ (ḥukamāʾ), das heißt der Philosophen. Der von ihnen geforderte Gottesdienst, die edelste Form des Gottesdienstes, besteht in der Untersuchung der Seienden, die zu verstehen ist als eine Erkenntnis der Werke (maṣnūʿāt) Gottes, welche letztlich zur Erkenntnis von Gottes Wesen führt. Was Ibn Rušd hier vorträgt, ist nichts anderes als die Kernthese der Entscheidenden Abhandlung (Faṣl al-maqāl), seiner berühmten, „vom religionsgesetzlichen Standpunkt“ (ʿalā ǧihat an-naẓar aš-šarʿī) ausgehenden Beantwortung der Frage, ob die philosophische Betrachtung und die Logik vom islamischen Religionsgesetz verboten, erlaubt oder entweder empfehlend oder gar verpflichtend geboten sind.64 Dieses Rechtsgutachten des Kadi Ibn Rušd verteidigt die Philosophie65 gegen die Anmaßung der antiphilosophischen Vertreter der traditionellen religiösen Wissenschaften – Gelehrte des religiösen Rechts (fiqh), der Prophetenüberlieferungen (ḥadīṯ) oder der Theologie (kalām).66 Diese Anmaßung kommt laut Ibn Rušd gerade darin zum Vorschein, dass sie zum Schaden der Religion selbst die religiöse Perspektive der Philosophie ignorieren. Mit der Übersetzung von „Philosoph“ als „Liebhaber 61
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Vgl. dazu auch die Terminologie der Charakterisierung seines eigenen Kompendiums zur Logik im revidierten Vorwort des Kompendiums zur Physik (Averroes, Epitome in Physicorum libros, S. 8.9f.): al-muḫtaṣar aṣ-ṣaġīr, und seines Kompendiums zur Naturphilosophie im Mittleren Kommentar zur Meteorologie, S. 116.16f.: al-ǧawāmiʿ aṣṣiġār. Hier seien nur zwei besonders gut dokumentierte Beispiele genannt: die Kommentare zur Physik (vgl. Glasner, Averroes’ Physics, S. 28–40) und das Kompendium der Metaphysik (vgl. Arnzen, Averroes on Aristotle’s “Metaphysics“, S. 8–11, siehe insbesondere Anm. 16, 18–20 und 23). Beispielhaft sei hier auf die Abhandlungen zur Intellektlehre verwiesen, die in ihren vielfältigen Beziehungen mit den drei Kommentaren zu De anima in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 325–364 besprochen sind. Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 1.7–9. Die Entscheidende Abhandlung richtet sich, wie Ibn Rušd 1179 rückschauend im vermutlich direkt anschließend verfassten Buch der Enthüllung (S. 72f., Ed. Müller) schreibt, gegen die „Ansicht, die über die Philosophie (ḥikma) besteht, nämlich dass sie dem Religionsgesetz (šarīʿa) widerspreche“. Hierzu und zum Folgenden siehe seine Bemerkung von 1192 (vgl. Ibn Rušd, Commentaria Averrois in Galenum, S. 94.7–11, und für das Datum S. 94.1–2): „Die Bedeutung von ‚Philosoph‘ ist ‚Liebhaber der Wissenschaften der Wahrheit‘, und die Interpretation dieses Namens befreit denjenigen, der sie hört und der billig im Urteilen ist, von dem Unglimpf, der dieser Bezeichnung in dieser unserer Zeit anhängt, von Seiten von Leuten, die sich der Wissenschaft von der Offenbarung anschließen und die entblößt sind von dem, was alle wissen.“ Meine Übersetzung habe ich gegenüber dem Zitat in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 288 geringfügig verändert.
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der Wissenschaften der Wahrheit“ (muḥibb fī ʿulūm al-ḥaqq) gibt Ibn Rušd der traditionellen Deutung eine geschickte Wendung, denn an die Stelle der auch den arabischen Lexikographen bekannten Etymologie des griechischen Wortes – „Liebhaber der Weisheit“ (muḥibb al-ḥikma)67 – setzt Ibn Rušd einen scheinbar synonymen Ausdruck, der jedoch den eher vagen Begriff der Weisheit in bedeutungsvoller Weise auflöst. Zuerst einmal verdeutlicht er, dass das Weisheitswissen die Form von „Wissenschaften“ besitzt, und zum anderen gibt er mit „der Wahrheit“ (al-ḥaqq) den Gegenstand und das Ziel dieses Wissens in einer Weise an, die doppelt lesbar ist, denn einerseits ist al-ḥaqq einer der koranischen Namen Gottes,68 und andererseits kann es eben auch im philosophischen Sinne das bezeichnen, was wirkliches, gesichertes Wissen ausmacht. Wir sind wieder bei Aristoteles’ in Metaphysik α gegebener Definition der Philosophie als „Wissenschaft von der Wahrheit“ (ʿilm al-ḥaqq), auf die sich Ibn Rušd im Ausgangstext bezieht.69 Die These von der Philosophie als wahrer Religion, als höchster Form der Gottesverehrung, ist gleichzeitig provokativ und traditionell; und in beiderlei Hinsicht bedarf Ibn Rušds Verwendung und Ausgestaltung dieser These der Erläuterung. Unannehmbar ist die Gleichsetzung von Philosophie und wahrer Religion nämlich nicht nur für diejenigen, die die Philosophie vollständig ablehnen, sondern sie bliebe es, wie wir noch sehen werden, nach Ibn Rušds eigener Einschätzung für die Mehrheit selbst in einer religiös-gesellschaftlichen Ordnung, die nach seiner Lehre geordnet wäre.70 Die genauen Modalitäten der „Bestimmung über die Verbindung von Philosophie und Religionsgesetz“ (taqrīr mā bayna aš-šarīʿa wa-l-ḥikma min al-ittiṣāl) – wie der Untertitel der Entscheidenden Abhandlung lautet – bedürfen daher der Erklärung (Abschnitt 4.2). Traditionell ist das Konzept einer philosophischen Religion hingegen in der Philosophie selbst, wo es seit Platon und Aristoteles, besonders aber seit der Spätantike und dann bis weit in die Neuzeit hinein – mit Ausnahme nur gerade des lateinischen Mittelalters – zum Standardrepertoire gehört.71 Jedoch hängt bei solch einem Grundmotiv eben alles davon ab, wie es jeweils gefüllt wird. Um nur ein besonders deutliches Beispiel zu nennen, sei auf Ibn Ṭufayl verwiesen, der im Ḥayy Ibn Yaqẓān (etwa: Lebendiger, Sohn des Wachenden) gegen die Verstandesjünger (al-ʿuqalāʾ) polemisiert, zu denen er mit Sicherheit Ibn Bāǧǧa, vermutlich aber auch Ibn Rušd zählt, welche die intellektuelle Mystik der Versenkung in Gott als überschwänglichen Gebrauch der Vernunft ablehnen, während für Ibn Ṭufayl mit der Überschreitung des diskursiven rationalen Vermögens erst die eigentliche Vollendung der natürlichen Vernunft erreicht wird.72 Aufzuklären, welche Theorie genau Ibn Rušd mit der These vom „edelsten Gottesdienst“ verbindet, führt daher ins Herz seiner Philosophie.
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Vgl. Goldziher, Faylasūf. In: EI2. Vgl. D. B. Macdonald, Ḥaḳḳ. In: EI2. Aristoteles, Metaphysik, II.1, 993b19f; Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 11.2–3 und Anm. 1. Zu den beiden alternativen Übersetzungen ʿilm al-ḥaqq und maʿrifat al-ḥaqq vgl. auch Roccaro, Conoscenza e scienza nel Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa di Ibn Rušd, S. 63–76. Der von Ibn Rušd in der vorliegenden Passage benutzte Ausdruck ʿulūm al-ḥaqq fällt auch dort, Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 13.9. In Michael Scotus’ lateinischer Übersetzung unseres Ausgangstextes sind sämtliche Passagen, die Ibn Rušds eigene Konzeption darlegen, ausgespart. Hasse, Latin Averroes Translations of the First Half of the Thirteenth Century, S. 35f. hat gezeigt, dass Michael Scotus häufig Textpassagen auslässt, die Besonderheiten der islamischen Kultur betreffen. Diese Stelle allerdings hat nichts spezifisch Islamisches, „fremd“ an ihr ist das Konzept einer philosophischen Religion. Vgl. Fraenkel, On the Concept and History of Philosophical Religions; zur Abwesenheit des Konzepts im lateinischen Mittelalter siehe S. 53. Vgl. Gauthier, Hayy ben Yaqdhān, S. 125f. und zu Ibn Bāǧǧa, S. 5–10.
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4.2 „Denn das spezielle Religionsgesetz der Weisen fordert die Untersuchung aller Seienden“
Die erste der beiden hier aufgeworfenen Fragen lässt sich am Gedanken eines besonderen Religionsgesetzes für die Philosophen festmachen. Die von ihm aufgeworfene Frage nach dem rechtlichen Status der Philosophie und der Logik beantwortet Ibn Rušd in der Entscheidenden Abhandlung mit der – im weiteren Verlauf erläuterten und auch eingeschränkten – These, die Philosophie sei entweder empfohlen oder verpflichtend. Das erste, grundlegende, in einen Satz zusammengedrängte Argument hat es in sich und verdient, näher beleuchtet zu werden. „Wenn die Tätigkeit der Philosophie in nichts anderem besteht als der Betrachtung der Seienden und dem Nachdenken über sie, insofern sie auf den Hersteller hinweisen (dalāla), ich meine insofern sie hergestellt sind – denn die Seienden weisen nur durch Erkenntnis ihres Herstellungscharakters auf den Hersteller hin, und je vollkommener die Erkenntnis ihres Herstellungscharakters ist, desto vollkommener ist die Erkenntnis des Herstellers –, und wenn das Religionsgesetz das Nachdenken über die Seienden empfiehlt und dazu anspornt, dann ist klar, dass das, was dieser Name bezeichnet, durch das Religionsgesetz entweder verpflichtend gemacht ist oder empfohlen wird.“73
Es gibt in dieser Argumentation zwei gegenläufige Bewegungen. Die erste, eine Aufstiegsbewegung, stellt einen klassischen und von den Almohaden favorisierten Aufruf zur Erkenntnis des Schöpfers aus der Schöpfung dar.74 Die Belegstellen aus dem Koran, die Ibn Rušd im Anschluss anführt, legen dem Gläubigen in der Tat eine solche Einsicht ans Herz, besagen in ihrem ursprünglichen Sinne aber wohl nicht mehr als dass die „Wunder der Schöpfung“ einen „Hinweis“ auf die Existenz und Erhabenheit des Schöpfers geben. Auch die Analogie zwischen Gott und Künstler ist gängige Münze.75 In diese traditionelle Struktur nistet sich bei Ibn Rušd ein philosophischer Sinn ein, denn er interpretiert in der Folge den Erkenntnisweg von den Geschöpfen zu Gott als einen strikt wissenschaftlichen, was sich hier bereits darin äußert, dass er die Geschöpfe mit philosophischem Vokabular als „Seiende“ bestimmt. Außerdem ruft er mit dem Stichwort des „Hinweises“ einen präzisen wissenschaftstheoretischen Kontext auf: Im Ensemble der aristotelischen Wissenschaften verläuft die Erkenntnis über sogenannte „Zeichenbeweise“ (dalāʾil) vom Verursachten und sinnlich Gegebenen zu den nichtsinnlichen Ursachen, von den Seienden zur ersten Ursache als Prinzip alles Seienden.76 Dieser Aufstiegsbewegung läuft in der Parenthese eine Abwärtsbewegung entgegen, die das in der ersten enthaltene Moment einer religiösen Zweckbeschränkung allen Wissens neutralisiert. Denn während der erste Schritt suggeriert, dass Wissen über die Dinge dieser Welt nur insofern erstrebenswert ist, als es zu Wissen über Gott führt, erklärt Ibn Rušd hier, dass das Wissen über Gott desto vollkommener wird, je mehr man in die Erkenntnis des Seienden selbst eindringt, und er legitimiert damit ein detailliertes Studium der Natur, das zwar teleologisch eingebunden bleibt, aber in diesem Rahmen durchaus selbständig wird. Die hier vorgenommene Schwerpunktverlagerung wird auch in späteren Formulierungen deutlich, in denen die Seienden als quasi gleichberechtigte Erkennt-
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Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 1.9–14. Vgl. Geoffroy, L’Almohadisme théologique d’Averroès (Ibn Rušd), S. 23f. Zu Ibn Rušds philosophischer Verwendung dieser Analogie vgl. Ibn Rušd, Le livre du discours décisif (Ed. Geoffroy), S. 176f. Zur zentralen Funktion des dalīl bei Ibn Rušd vgl. Elamrani-Jamal, La démonstration du signe (burhān al-dalīl) selon Ibn Rushd (Averroès), S. 113–131.
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nisgegenstände neben Gott genannt werden, etwa so: „wer Gott (er ist gepriesen und erhaben) und die übrigen Seienden durch Beweis erkennen will“.77 Ein interessanter Vergleichspunkt für diese Argumentation findet sich in Ibn Rušds Kommentar zu Aristoteles’ biologischen Schriften. Aristoteles ermuntert hier zum Studium der vergänglichen Lebewesen, die zwar im Vergleich mit dem Bereich des Ewigen und Göttlichen einen geringeren Wert haben, dafür jedoch mit größerer Gewissheit erkannt werden können und denen auf Grund ihrer inneren Zweckmäßigkeit gleichfalls etwas Göttliches innewohnt.78 Ibn Rušd nimmt diese Ausführungen paraphrasierend auf, indem er, über Aristoteles hinausgehend, die Verbindungen der beiden Bereiche betont. Einerseits erklärt er nämlich, dass unsere Erkenntnisse über die ewigen Dinge auf deren Ähnlichkeiten insbesondere zu den beseelten Wesen gründen und damit also auf naturphilosophischen Prämissen. Zum anderen treibt er die hier auch bei Aristoteles präsente Analogie von Gott und Kunst weiter und schließt, dass sich der Wert des Künstlers am minderwertigen, widerständigen Stoff beinahe deutlicher zeige als am edlen; er fährt dann fort: „Überhaupt sollten wir uns befleißigen, die Naturen der Lebewesen zu untersuchen, seien sie minderwertig oder wertvoll, unter dem Aspekt der göttlichen Natur, von der sich zeigt, dass sie damit vermischt ist, und nicht unter dem Aspekt, dass das Lebewesen minderwertig oder wertvoll wäre.“79
Wie in der Entscheidenden Abhandlung findet hier, nun aber von einem philosophischen Ausgangspunkt her, ein subtiler Legitimationsaustausch statt: Die Natur kann deshalb Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung werden, weil sie am Göttlichen teilhat und das Göttliche nur von ihr aus erfasst werden kann. Dieses Argument impliziert jedoch, dass der Natur der vergänglichen Dinge selbst ein göttliches Moment zugestanden wird. Damit ist dann das Göttliche im emphatischen Sinne nicht mehr ein transzendenter Zielpunkt, auf den die Natur bloß hinweist, sondern selbst Teil – wenn auch der höchste – der Naturordnung. Zurück zum Text der Entscheidenden Abhandlung und seinen wichtigsten Argumentationslinien:80 Nachdem Ibn Rušd die Behauptung aufgestellt hat, der Koran gebiete das Studium der Philosophie, weist er nach, dass das koranische Gebot nicht eine beliebige Form des Nachdenkens über die Schöpfung meint, sondern genau die Form, welche der griechischen Logik und Wissenschaft entspricht.81 Um das zu erreichen, bedient er sich eines islamischen Präzedenzfalles, und zwar der Legitimierung des Analogieschlusses (qiyās) als Mittel der Rechtsfindung im religiösen Recht (fiqh).82 Diente der Koranvers „Denkt darüber nach, ihr, die ihr Einsicht habt“ (59.2) traditionell der Verankerung dieser fast universell akzeptierten Praxis im heiligen Text, so reklamiert ihn Ibn Rušd über den juridischen Schluss (qiyās šarʿī oder qiyās fiqhī) hinaus nun auch für den intellektuellen Schluss (qiyās ʿaqlī). Das heißt, er setzt in seiner Argumentation beständig auf eine Analogie zwischen den Methoden und Zielen der Juristen und Philosophen und bringt damit 77 78 79
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Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 2.13f. Aristoteles, De partibus animalium, I.5, 644b22–645a36. In meiner Übersetzung folge ich der hebräischen Übersetzung des verlorenen arabischen Originals anhand der Handschrift Oxford, Bodleian Library, Hunt 79, f. 182v. Am leichtesten zugänglich ist der (leicht abweichende) Text gegenwärtig in der hebräisch-lateinischen Übersetzung: Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Venedig 1562 (Nachdruck Frankfurt am Main 1962), Bd. 6 (pars prima), f. 127rA. Nützliche Hinweise zur Struktur der Entscheidenden Abhandlung finden sich in: Butterworth, The Source That Nourishes, insbesondere S. 99, Anm. 8. Dies entspricht der Textportion Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 1.15–6.14. Vgl. Bernand, Ḳiyās. In: EI2.
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selbst einen juridischen Analogieschluss zur Anwendung.83 Im Sprachgebrauch der griechisch-arabischen Übersetzungen wissenschaftlicher Texte steht qiyās nun aber für den (aristotelischen) Syllogismus. Indem also Ibn Rušd den Intellekt (ʿaql) als dasjenige Vermögen identifiziert, dem „die Betrachtung der Seienden und das Nachdenken über sie“ obliegt, kann er im weiteren aus dem koranischen Auftrag Folgen ziehen, die nicht mehr direkt im heiligen Text oder in der religiösen Tradition begründet sind, sondern die sich allein aus den immanenten Anforderungen des rationalen Denkens ergeben, etwa dass die vollkommenste Art des Schließens der Beweis (burhān) ist,84 also die in den Zweiten Analytiken (Kitāb al-burhān) gelehrte wissenschaftliche Methode. Ibn Rušds nächster Schritt besteht darin zu zeigen, dass die Methoden der Erkenntnis aus den Schriften „der Alten vor der Religion des Islam“ zu lernen sind.85 Es sei für den einzelnen Menschen unmöglich, alles mit dem intellektuellen Schluss Zusammenhängende selbständig zu erkennen, und man müsse daher das studieren, was vor unserer Zeit darüber geschrieben worden sei, genauso wie das für den juridischen Schluss der Fall sei. Dabei sei es unerheblich, ob dieses „Werkzeug“ von einem Religionsgenossen oder jemand anderem stamme, solange es die für dieses Werkzeug vorgeschriebenen Bedingungen erfülle; der intellektuelle Schluss sei aber von den Alten in der vollendetsten Weise behandelt worden.86 Hat man sich nun diese geistigen Werkzeuge angeeignet, so Ibn Rušd weiter, dann geht man zur beabsichtigten Untersuchung der Seienden über, und zwar indem man die Ordnung und Methode anwendet, welche man vorher bezüglich der beweisenden Syllogismen gelernt hat.87 Mit anderen Worten, die koranische Aufforderung zur Erkenntnis entfaltet sich nach Regeln, die allein immanente Regeln der Vernunft sind; die Vernunft ist nicht ein dem Ziel untergeordnetes Mittel, sondern sie liefert selbst erst die definitive Bestimmung des Ziels und der Methode. Damit kann Ibn Rušd den ersten Teil seines Beweisganges abschließen mit der Folgerung, dass das Religionsgesetz das Studium der Schriften der vorislamischen Philosophen vorschreibt, weil deren Ziel mit dem vom Koran gebotenen Ziel (Erkenntnis Gottes) übereinstimmt.88 Es ist daher nicht gerechtfertigt, das Studium der philosophischen Schriften jemandem zu verbieten, der die Voraussetzungen für dieses Studium erfüllt.89 Ausgehend von diesem Ergebnis beschäftigt sich Ibn Rušd im Rest der Entscheidenden Abhandlung mit der Frage, wie die scheinbaren Widersprüche zwischen Philosophie und Gesetz zu erklären sind und wie mit ihnen umzugehen ist. Als Ursprung dieser Widersprüche und zugleich als Kern der Lösung präsentiert Ibn Rušd die Spannung zwischen der Einheit der Wahrheit und der Verschiedenheit der Menschen.90 Die Einheit der Wahrheit gründet sich dabei auf eine theologische und eine philosophische Prämisse: Die theologische Prämisse lautet, dass das geoffenbarte Gesetz (šarīʿa) wahr ist. Da nun die bisherige juridische Diskussion ergeben hat, dass es zur demonstrativen Erkenntnis der Wahrheit aufruft, so kann das Resultat dieser Erkenntnis dem Gesetz nicht widersprechen, denn – und hier kommt die verborgene philosophische Prämisse ins 83 84 85 86 87 88 89 90
Vgl. insbesondere Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 3.1–7. Ebd., S. 2. 8–13. Vgl. ebd., S. 4.3: al-qudamāʾ qabla millat al-islām. Ebd., S. 3.12–4.6. Ebd., S. 4.7–11. Ebd., S. 4. 11–5.13. Ebd., S. 5.14–6.14. Vgl. zum folgenden ebd., S. 6.14–7.9.
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Spiel, die Ibn Rušd durch ein unausdrückliches Zitat aus den Ersten Analytiken belegt – „Die Wahrheit kann der Wahrheit nicht widersprechen, sondern sie stimmt mit ihr überein und zeugt für sie.“91 Darin steckt implizit, dass nur die angemessene, nämlich die demonstrative Methode der Wahrheitsfindung festlegen kann, was wahr ist. Diesem universellen Anspruch steht nun die evidente Verschiedenheit der menschlichen Naturen und Fähigkeiten gegenüber, die verschiedene Weisen haben, einer Erkenntnis zuzustimmen (taṣdīq), nämlich entweder auf Grund eines Beweises (burhān) oder auf Grund eines dialektischen (ǧadalī) oder rhetorischen (ḫiṭābī) Arguments. Ibn Rušds Einteilung speist sich aus der politischen Philosophie wie sie aus dem griechischen Neuplatonismus übernommenen und durch al-Fārābī vermittelt wurde: Die verschiedenen Diskursformen, die Aristoteles in den Schriften des Organons – Zweite Analytiken, Topik, Rhetorik und Poetik – untersucht, und denen unterschiedlich sichere Prämissen und verschiedene syllogistische Formen entsprechen, werden abgebildet auf unterschiedliche Gesellschaftsklassen, die entlang ihrer höheren oder geringeren geistigen Fähigkeiten eingeteilt werden.92 Ibn Rušd besteht nun darauf, dass sich das Gesetz an alle Menschen richtet, und er lässt daher ein geschickt gewähltes Koranzitat dafür sprechen, dass alle drei unterschiedlichen Diskursformen im Koran anwesend sind.93 Damit ist eine Auflösung der scheinbaren Widersprüche angebahnt, deren drei Hauptmomente sich als Konsequenzen aus der soeben beschrieben Annahme ergeben. Erstens nämlich besteht nicht einfach nur eine hierarchische Anordnung der drei Niveaus, sondern die Erkenntnisse, die nicht durch alle drei Methoden, sondern nur durch die höchste, nämlich den Beweis, erreicht werden können, finden sich in dialektischer oder rhetorischer Form als Gleichnisse (amṯāl) der demonstrativen Wahrheit. Es gibt also nicht drei unabhängige Wege zur Erkenntnis der Wahrheit, sondern nur einen, den philosophischen Weg, der auch in minder gewisser oder gleichnishafter Form ausgedrückt werden kann.94 Daraus ergibt sich zweitens, dass das Gesetz einen äußeren oder „exoterischen“ (ẓāhir), allen zugänglichen, und einen inneren oder „esoterischen“ (bāṭin), nur den „Leuten der Demonstration“ (ahl al-burhān) verständlichen Sinn hat. Aus dieser Grundkonstellation folgt drittens, dass die Teile des heiligen Textes, deren äußerer Sinn nicht mit den Resultaten der demonstrativen Erkenntnis übereinstimmt, der Interpretation (taʾwīl) bedürfen.95 Ibn Rušd kann sich hier auf ein durchaus traditionelles Verfahren und insbesondere seine Anwendung im religiösen Recht stützen.96 Ibn Rušd nutzt dies nicht nur, um das philosophische Wissen als diesen inneren Sinn des Korans darzustellen, sondern auch, um die mögliche Kritik an einer traditionalistischen Beschränkung der rationalistischen Methode und des taʾwīl abzuweisen: Weil es zu jeder Zeit in der Geschichte des Islam Gelehrte gegeben hat, die der Auffassung waren, dass über bestimmte „theoretische“ Fragen (naẓarīya) oder Glaubensfragen, im Gegensatz zu Fragen der religiösen Praxis (ʿamalīyāt), nicht jeder Gläubige unterrichtet werden darf, deshalb kann in diesem Be91 92
93 94 95 96
Ebd., S. 7.8f.; zum Aristoteleszitat (Erste Analytiken, I.32.47a8f) und zu den Hintergründen vgl. Taylor, “Truth Does Not Contradict Truth“. Vgl. Black, Logic and Aristotle’s Rhetoric and Poetics in Medieval Arabic Philosophy, S. 94–101; Fraenkel, Philosophy and Exegesis in Al-Fārābī, Averroes, and Maimonides, S. 105–125. Die explizite Einteilung der Menschen in drei Klassen nimmt Ibn Rušd in der Entscheidenden Abhandlung später vor: Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 21.3–8. Vgl. dazu auch Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 19.9–20.1. Hierzu und zum folgenden ebd., S. 14.18–15.15. Hierzu und zum folgenden ebd., S. 7.12–8.12. Die Figur eines esoterischen, wenigen vorbehaltenen Wissens ist auch in der islamischen Tradition verwurzelt; vgl. Poonawala, al-Ẓāhir wa-l-Bāṭin.
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reich die allegorische Interpretation nicht durch die Bedingung des Konsenses (iǧmāʿ) der islamischen Gemeinschaft eingeschränkt werden, so wie das für die Praxis gilt.97 Um diese Legitimierung der Philosophie abzusichern, setzt sich Ibn Rušd mit al-Ġazālīs Zusammenbruch der Philosophen (Tahāfut al-falāsifa) auseinander, und zwar mit jenen drei Thesen, in Bezug auf die al-Ġazālī die Philosophen des Unglaubens (kufr) geziehen hatte: die Annahme der Ewigkeit der Welt, die Auffassung, dass Gott kein Wissen von Einzeldingen habe, und die allegorische Interpretation der Auferstehung.98 Wichtiger als Ibn Rušds Antworten auf die inhaltlichen Vorwürfe, denen er auch gesonderte Abhandlungen gewidmet hat99 und die er später ausführlich in seinem als Literalkommentar zu al-Ġazālīs Schrift angelegten Zusammenbruch des Zusammenbruchs (Tahāfut at-tahāfut) entwickelt, ist in der Entscheidenden Abhandlung aber Ibn Rušds methodologische Replik. Denn aus den unterschiedlichen Begabungen der Menschen folgen für Ibn Rušd auch unterschiedliche religiöse Pflichten: Die Elite (al-ḫawāṣṣ), die Menschen, die des beweisförmigen Denkens fähig sind, müssen dementsprechend bloß gleichnishafte Schriftstellen interpretieren, während die Masse (al-ǧumhūr) der einfachen Gläubigen es nicht darf.100 Philosophie ist nicht ohne Interpretation und Interpretation nicht ohne Philosophie denkbar, denn nur die wissenschaftliche Methode erlaubt eben, hinter dem einfachen Wortlaut den wahren Gehalt zu erkennen.101 Auf dieser Grundlage tritt Ibn Rušd für eine strikte Trennung der drei Diskurse ein. Die allegorischen Interpretationen der religiösen Lehren und damit auch die philosophischen Theorien, auf denen sie beruhen, sind zwar verpflichtend für die Philosophen, dürfen aber von ihnen der Masse nicht mitgeteilt werden, weil man diese sonst zum Unglauben führt.102 Ibn Rušd diagnostiziert dementsprechend einen folgenschweren Fehler im religiösen Diskurs seiner Zeit, der ihm gleichzeitig einen Gegenangriff auf al-Ġazālī erlaubt: Die philosophischen Beweise dürfen nur in philosophischen Schriften behandelt werden, wo sie auf Grund von deren Schwierigkeit von der Menge gar nicht wahrgenommen werden, während al-Ġazālī sie gerade in exoterischen Büchern thematisiert und damit dem einfachen Glauben Schaden zugefügt hat. Denn der einfache Gläubige nimmt nur wahr, dass der Wortlaut der Schrift mit Zweifeln behaftet ist, kann aber der Etablierung des wahren Sinnes nicht folgen.103 Er selbst, so erklärt Ibn Rušd, hat sich überhaupt nur erlaubt, das Thema aufzunehmen, weil die Frage nach dem Verhältnis von Religionsgesetz und Philo-
Hierzu Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 8.15–9.17. Zum iǧmāʿ vgl. Bernand, Idjmāʿ in: EI2. Ibn Rušd beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf al-Ġazālī, wobei er diesen missversteht beziehungsweise, wahrscheinlicher noch, gegen seine eigene Intention instrumentalisiert; vgl. dazu Griffel, Apostasie und Toleranz im Islam, S. 429–433. 98 Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 9.17–10.1; seine Antwort zur Ewigkeit der Welt S. 11.14–13.17; zum göttlichen Wissen S. 10.17–11.14; zur Unsterblichkeit S. 16.19–17.14; vgl. dazu Taylor, Personal Immortality in Averroes’ Mature Philosophical Psychology, insbesondere S. 87–90. 99 Nämlich die in der Entscheidenden Abhandlung (Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 11.6f.) selbst erwähnte Schrift über das Wissen Gottes, bekannt als Ḍamīma (Ed. Müller, S. 128–131; Übersetzung in Ibn Rušd, Die entscheidende Abhandlung, S. 53–58), und die Abhandlung Maqāla fī l-ǧamʿ bayna iʿtiqād al-maššāʾīn wa-l-mutakallimīn min ʿulamāʾ al-islām [fī] kayfīyat wuǧūd al-ʿālam fī l-qudūm wa-l-ḥudūṯ, ediert in Worms, Die Lehre von der Anfangslosigkeit der Welt, S. 63–70; Übersetzung und Kommentar in: Kogan, Eternity and Origination: Averroes’ Discourse on the Manner of the World‘s Existence. 100 Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 2–4. Für die Bezeichnungen der beiden Menschenklassen vgl. die folgende Anmerkung. 101 Vgl. ebd., S. 20.14–17. 102 Ebd., S. 17.11–14. 103 Vgl. ebd., S. 17.14–20 und 21.11–16. 97
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sophie schon in der Öffentlichkeit diskutiert wird, wo sie aber eigentlich gar nicht hingehört.104 Die öffentliche Auseinandersetzung über die richtige Interpretation des Korans trägt laut Ibn Rušd die Schuld daran, dass Parteiungen den Islam spalten. Die religiöse Reform, die er zur Abhilfe anstrebt und im anschließend verfassten Buch der Enthüllung selbst in Angriff nimmt, besteht darin, die angemaßte Autorität des Kalāms, dem als bloß dialektischer Theologie die Mittel zur wahren Erkenntnis fehlen, zu beseitigen und ihn durch Darlegungen zu ersetzen, die mit den bloßen rhetorischen Mitteln des Korans das Gesetz erklären und gleichzeitig die Elite auf die wahre Interpretation hinweisen.105 Auf diese Weise gedenkt Ibn Rušd sicherzustellen, was das Ziel des Gesetzes ist, nämlich „die wahre Erkenntnis und das wahre Handeln“ (al-ʿilm ḥaqq wa-l-ʿamal al-ḥaqq). Das Letztere fällt in den Bereich des Rechts (fiqh), das Erstere in den Bereich der Philosophie.106
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ebd., S. 18.14–19. ebd., S. 23.8–26.14. Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl (Ed. Hourani), S. 18.19–19.4.
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Ibn Rušds (Averroes’) Auffassung von Philosophie und ihre Kontexte
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12. Metaphysik und Intellektlehre Philosophische Hauptthemen des Ibn Rušd (Averroes) David Wirmer (Köln) Während die Entscheidende Abhandlung (Faṣl al-maqāl) die Hinordnung der philosophischen Erkenntnis des Seienden auf die Gotteserkenntnis grundsätzlich feststellt, bleibt die nähere Bestimmung dieses Zusammenhangs den im engeren Sinne philosophischen Schriften Ibn Rušds vorbehalten. Dabei sollen die Einheit und Gestalt von Ibn Rušds philosophischem Denken aufgewiesen werden, indem von seiner eigentümlichen Lektüre der aristotelischen Ontologie (Abschnitt 1) ausgegangen wird. Sie gibt ein Wirklichkeitsmodell an die Hand, das als Muster für Ibn Rušds Beantwortung zentraler philosophischer Fragen dienen kann. Das soll an zwei Themen exemplarisch vorgeführt werden, nämlich der Interpretation des aristotelischen Beweises des unbewegten Bewegers (Abschnitt 2) und der Frage nach Natur und Reichweite des menschlichen Intellekts (Abschnitt 3).
1. „Welches bei ihm die edelste Tätigkeit ist“ – Die Metaphysik: Erkenntnis Gottes und Struktur des Seins In der Folge des Textes im Großen Kommentar zur Metaphysik (Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa), der schon dem vorhergehenden Beitrag zugrundegelegt wurde, baut Ibn Rušd weiter auf den Doppelsinn von „Wahrheit“, den er als Ausdruck des wesentlichen Zusammenhangs von Gott und demonstrativer Wissenschaft versteht. Er macht nämlich deutlich, dass die vorliegende Wissenschaft, also die Metaphysik, eine der „Wissenschaften der Wahrheit“ ist,1 und zwar diejenige, deren Ziel „die Betrachtung der absoluten Wahrheit“ (an-naẓar fī l-ḥaqq al-muṭlaq) ist.2 In dieser Bestimmung der Metaphysik greift Ibn Rušd mehrere Aspekte des hier kommentierten aristotelischen Textes (993b19–31) auf und interpretiert sie im Sinne der traditionellen spätantiken Deutung der aristotelischen Metaphysik,3 allerdings nicht ohne bedeutende eigene Akzente zu setzen. Ein erstes Moment ist Aristoteles’ Gleichsetzung von Wahrheit und Sein, die durch eine sprachliche Besonderheit der arabischen Übersetzung nicht unwesentlich gestützt wird, macht diese doch die Wahrheit, al-ḥaqq, zur Ursache der „Wirklichkeit“, ḥaqīqa, der Dinge.4 Im zweiten, von Aristoteles gleichfalls hervorgehobenen Moment der Verursachung sieht Ibn Rušd denn auch den Grund für die Identität von Wahrheit und Sein. Aristoteles’ Hinweis, dass die Wahrheit nur durch die Erkenntnis der Ursachen erfasst werden könne, bezieht Ibn Rušd zurück auf die Lehre der Zweiten Analytiken5 und hat dabei offenbar nicht nur die Gleichsetzung des demonstrativen, also des wissenschaftlichen Wissens mit der Ursachenerkenntnis, sondern auch deren ultimative Gleichsetzung mit der Wesenserkenntnis 1 2 3 4 5
Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 13.9. Ebd., S. 11.8. Zu dieser vgl. Owens, The Doctrine of Being in the Aristotelian “Metaphysics”, S.42–49. Vgl. Aristoteles, Metaphysik II.1.993b24f mit Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 13.1–3 (textus) und S. 14.15–18, wo Ibn Rušd ḥaqīqa mit wuǧūd (Sein) glossiert. Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 13.11–13.
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im Auge.6 Es ist also gerade der Grundsatz wissenschaftlicher Erkenntnis, dass sie die Ursachen erfasst, durch die das Erkannte als das, was es ist, existiert. In einer Abhandlung zu den Zweiten Analytiken arbeitet Ibn Rušd diesen Zusammenhang in besonders deutlicher Weise heraus.7 Er kritisiert hier al-Fārābī, der auch gemischte Syllogismen, die wesentliche und akzidentelle Prämissen enthalten, zu den demonstrativen Syllogismen gerechnet habe. Ibn Rušd vertritt demgegenüber die Auffassung, dass nur Beweise aus wesentlichen Prämissen als demonstrativ gelten können, und er argumentiert dafür, indem er das Wirken der Natur mit dem einer herstellenden Kunst vergleicht: So wie die Kenntnis akzidenteller Eigenschaften nichts zur Herstellung eines Werkstückes beiträgt, so trägt sie auch zur Erfassung des Seienden nichts bei. Die theoretische Wissenschaft erfasst nämlich die Seienden „in der Weise einer Wissenschaft, die mit dem Werk der Natur selbst verbunden ist“ (secundum modum scientiae coniunctae operi ipsius naturae),8 genauso wie die herstellende Kunst, auch wenn diese der Natur implizierte „Wissenschaft“ direkt und nicht über den Umweg bewussten Wissens wirkt (nisi quod illa, hoc est ars, scit et facit ea simul, haec autem, idest natura, facit ea). Die Naturwissenschaft muss daher eine wirkende „Wissenschaft“ zum Gegenstand haben und ist deshalb genau dann wahr, wenn sie die Dinge erfasst, „insofern sie sind“ (scientia naturalis oporteat quod sit circa scientiam operantem, ex quo videtur quod scientia vera sit quae notificat rem secundum quod est). Die Seinsursachen sind also gleichzeitig auch die Ursachen wahrer Erkenntnis. In der genannten logischen Abhandlung verfolgt Ibn Rušd diesen Zusammenhang bis in seine anthropologischen, nämlich erkenntnispsychologischen und ethischen Konsequenzen hinein. Und zwar verweist er darauf, dass der Mensch durch demonstratives Wissen „substantiviert wird“ (substantificatur) und die Glückseligkeit erlangt, während Wissen, das nicht um seiner selbst willen (per se) gesucht wird, nichts zu dieser Vollendung beitragen kann, da ja auch sein Fehlen der Vollendung nicht abträglich ist. Die Gleichung von Wahrheit und Sein betrifft also nicht nur das Erkenntnisobjekt, sondern auch das Erkenntnissubjekt, den Menschen, der nur durch das beschriebene Wissen das seiner substantiellen Form angemessene Sein erreicht. Diese letzte Vollendung, so erklärt Ibn Rušd, erreichen wir durch „eine Wissenschaft, durch die der Mensch dem erhabenen und gepriesenen Gott ähnlich wird, soweit es in seiner Natur liegt, ihm ähnlich zu werden, und [durch die] dessen Wissen über die Seienden [auf ihn] übertragen wird“ (scientia qua homo fit similis excelso et benedicto deo secundum quantitatem qua eius nature est quod illi fiat similis et transferatur eius scientia de entibus). Der höchste Identitätsgrund für die Wahrheit und das Sein der Natur ist mithin das göttliche Wissen, das der Mensch sich durch die demonstrative Wissenschaft in einer geminderten, seiner Natur angemessenen Weise zu Eigen macht. Doch zurück zu Ibn Rušds Auslegung von Metaphysik α und zu einem dritten Hauptmoment des aristotelischen Textes, das die ontologische Abstufung des Wahren betrifft. Aristoteles erklärt, dass, ähnlich wie Feuer als das Wärmste Ursache der Wärme in allen Dingen ist, auch das Wahrste Ursache der Wahrheit für alles andere sein muss und daher 6 7
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Aristoteles, Zweite Analytiken, I.2.71b9–12 und II.2. Opera, Bd. I.2bff. 103v–111v, hier ff. 109vM–110vL. Diese Abhandlung, die, ihrem Inhalt nach zu urteilen, im Arabischen den bibliographisch überlieferten Titel Kitāb fī mā ḫālafa Abū Naṣr li-Arisṭū fī kitāb al-burhān min tartībihī waqawānīn al-barāhīn wa-l-ḥudūd [Schrift über Abū Naṣrs Abweichungen von Aristoteles im Buch des Beweises in Bezug auf seine Anordnung und die Regeln der Beweise und Definitionen] trug, ist nur in der noch nicht edierten hebräischen Übersetzung des Šemuʾel ben Yehudah ben Mešullam (München, Bayerische Staatsbibliothek, hebr. S. 353ff. 21v– 31v) und der hier zitierten hebräisch-lateinischen Übersetzung durch Abraham de Balmes erhalten. So auch in Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, II. c. 22, zitiert nach: Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Venedig 1562 [Nachdruck Frankfurt am Main 1962], f. 56vI–K.
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Einzelne Denker und Werke
das ewig Seiende, welches einerseits unveränderlich und somit immer wahr ist und andererseits Ursache für das Sein alles Übrigen ist, das Wahrste sein muss.9 Das hier postulierte Prinzip, dass das Ursächliche das verursachte Merkmal im höchsten Grade besitzen muss, bezeichnet Ibn Rušd schon in seiner Epitome der Metaphysik als einen besonders wichtigen und häufig eingesetzten Grundsatz der metaphysischen Wissenschaft.10 Seiner Analyse im Großen Kommentar zufolge zeigt Aristoteles damit hier, dass dasjenige, was „erste Ursache für alle Seienden“ ist, „der Wahrheit und dem Sein würdiger ist als die übrigen Seienden“ und den „höchsten Grad der Wahrheit und des Seins“ einnimmt. Es ist dabei von einiger Bedeutung, wie Ibn Rušd die Erstheit dieser Ursache versteht: So wie er den genannten Grundsatz einführt, gilt dieser nämlich für das jeweils erste in einer Gattung, das Ursache jener Merkmale ist, die allen Gliedern dieser Gattung „in namentlicher und intentionaler Übereinstimmung“ (muttafiqa al-ism wa-l-maʿnā) zukommen. Der letztgenannte Ausdruck ist dabei derjenige, mit dem die arabische Aristotelesübersetzung das Wort synônymon (univok) wiedergibt, während die Rede vom „ersten“ überhaupt ein Zusatz der arabischen Übersetzung zum aristotelischen Text ist, der viel unbestimmter von dem „jeweiligen“ spricht. Es scheint als kristallisiere sich bereits in dieser Übersetzung die Interpretation heraus, die Ibn Rušd mit Alexander von Aphrodisias teilt.11 Dieser erklärt nämlich, dass die synonyme oder übereinstimmende Eigenschaft nicht nur dem Verursachten, sondern auch der Ursache zukommen müsse, da Wärme etwa auch durch Reiben erzeugt werden könne, auf welches der Grundsatz offenbar nicht zutreffe. Erfüllt wird die Bedingung jedoch durch „das erste Sobeschaffene“. Ibn Rušd schließt entsprechend, dass dieses das Erste in der jeweiligen Gattung sein muss. Dabei spielt offenbar auch eine Rolle, dass die arabische Übersetzung von synônymon als muttafiqa im Lichte der philosophischen Terminologie, wie sie spätestens bei al-Fārābī ausgebildet ist, gerade nicht auf ein univokes Merkmal verweist, sondern vielmehr auf ein zwischen Univozität und Äquivozität anzusiedelndes „amphibolisches“, wozu insbesondere die pros hen, also mit Bezug auf ein Erstes ausgesagten Merkmale gehören.12 Genau zu diesen zählt Aristoteles aber – und mit ihm Ibn Rušd – den Begriff des Seienden, der von den Kategorien pros hen mit Bezug auf die Substanz ausgesagt wird.13 Der arabische Text ebenso wie seine Interpretation durch Alexander legen also nahe, dass dasselbe „analogische“ Verhältnis,14 welches zwischen den Kategorien mit Bezug auf die Substanz besteht, auch innerhalb der Kategorie der Substanz zwischen den verschiedenen Seienden vorliegt. Ibn Rušd unterstreicht daher an dieser Stelle, dass er über die erste Ursache des Seienden spricht, und er fügt hinzu, dass diese erste Ursache in der Physik bewiesen
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Aristoteles, Metaphysik, II.1.993b24–31; zu Ibn Rušds im Folgenden analysierter Interpretation dieser Stelle siehe Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 13.14–15.18. Arnzen, Averroes on Aristotle’s “Metaphysics”, S. 104; vgl. dort die Anmerkungen 386–388 zum logischen Status dieses Grundsatzes. Vgl. zum Folgenden: Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria, S. 147; Übersetzung: On Aristotle Metaphysics 2 & 3, S. 22–24. Eine direkte Kenntnis von Alexanders Kommentar zu Metaphysik α konnte Ibn Rušd allerdings nicht besitzen, da von Alexanders Kommentar nur Buch Λ in arabischer Übersetzung vorlag; vgl. Bertolacci, On the Arabic Translations of Aristotle’s Metaphysics. Vgl. Hilal, Fārābī et le problème de l’homonymie accidentelle und die klassische Studie Wolfson, The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy and Maimonides. Aristoteles, Metaphysik, IV.2.1003a33–b18; vgl. Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 300.13f (textus) und S. 302.9–303.3 (commentum). Zu Averroes’ Rolle bei der Herausbildung der Theorie von der analogia entis vgl. de Libera, Les sources grécoarabes de la théorie de l’analogie de l’être.
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worden sei,15 denn diese Erstheit muss hier vorausgesetzt werden, damit auf den höchsten Grad von Wahrheit und Sein geschlossen werden kann. Ibn Rušd geht jedoch noch einen Schritt weiter, denn er sagt nicht nur, wie es der Aristotelestext nahelegt, dass „die Prinzipien der ewig Seienden“ (993b28) am meisten seiend sind, sondern dass die erste Ursache „das allein seinem Wesen nach Seiende und seinem Wesen nach Wahre“ ist.16 Damit behauptet er über die erste Ursache genau das, was Aristoteles von der Substanz als Inbegriff des Seienden als Seienden sagt.17 Mit anderen Worten, der innerste Sinn der „Brennpunktbedeutung“ von „seiend“ ist die in der Physik aufgezeigte erste Ursache.18 In erneuter Übereinstimmung mit Alexander deutet Ibn Rušd „die Prinzipien der ewig Seienden“ als die Prinzipien der Himmelskörper,19 sodass er also einen direkten Bezug zwischen der Ontologie – der Betrachtung des Seienden als Seienden – und der Kosmologie aus Physik VIII und Metaphysik XII – also der Theologik – herstellt. In gewissem Sinne setzt Ibn Rušd damit nur die in der gesamten Spätantike herrschende Deutung des Gegenstandes und der Einheit der aristotelischen Metaphysik fort. Diese Deutung geht übereinstimmend davon aus, dass die Wissenschaft vom göttlichen Seienden in der Tat die Wissenschaft vom Seienden als Seienden ist, als die die gesuchte erste Wissenschaft bestimmt wird, und zwar eben weil sie das primäre Seiende behandelt, das Ursache des Seins für alles andere ist.20 Jedoch macht Ibn Rušd einen Schritt, den diese Tradition nicht getan hat, da etwa Alexander die erste Philosophie ausdrücklich nur im Sinne der Priorität, nicht aber im Sinne der Umfassendheit als allgemein beschreibt.21 Ibn Rušd dagegen spricht hier von „der Wahrheit, welche diese allgemeine Kunst (ṣināʿa ʿāmma) betrachtet, nämlich diejenige, die die letzten Prinzipien betrachtet“.22 Und er meint hier, wie der Vergleich mit anderen Stellen des Großen Kommentars zeigt, durchaus eine umfassende Allgemeinheit. So erläutert er zu Beginn des zweiten Buchs, des Aporienbuchs, den Zusammenhang zwischen Dialektik und demonstrativer Wissenschaft und verweist darauf, dass „diese Wissenschaft“, also die Metaphysik, mit der Dialektik „die Allgemeinheit der Betrachtung“ (ʿumūm an-naẓar) teilt, ja dass beide Wissenschaften ein und dasselbe Subjekt haben, nämlich das „absolute Seiende“ (al-mawǧūd al-muṭlaq).23 Ibn Rušd wendet damit ein traditionelles spätantikes Modell über das Verhältnis der fünf syllogistischen Disziplinen – demonstrativer Beweis, Dialektik, Sophistik, Rhetorik, Poetik – an, das von Ibn Bāǧǧa in einer einführenden logischen Abhandlung pointiert dargestellt wird: Die Philosophie ist demnach die Disziplin, „welche die Seienden umfasst, insofern sie mit gewissem Wissen gewusst werden. Ihre Teile entsprechen den Teilen der
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Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 14.18–15.1. Zu Bedeutung und Hintergrund dieses Zusammenhanges bei Ibn Rušd vgl. Bertolacci, Avicenna and Averroes on the Proof of God’s Existence and the Subject-Matter of Metaphysics. Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 15.3f. Vgl. erneut Metaphysik, IV.2.1003a33–b18. Dieselbe Einschätzung bei Druart, Metaphysics, S. 346. Der Einwand von Bertolacci, Avicenna and Averroes on the Proof of God’s Existence and the Subject-Matter of Metaphysics, S. 96, Anm. 68 gegen Druart, dies sei von Averroes niemals ausdrücklich gesagt, kann angesichts der hier vorgestellten Passagen sicher nicht aufrechterhalten werden. Zur „Brennpunktbedeutung“ vgl. Corcilius, pros hen. Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 15.14; vgl. Alexander von Aphrodisias, On Aristotle Metaphysics, S. 23, Anm. 40. Vgl. Anm. 3. Vgl. Owens, The Doctrine of Being, S. 45f. mit Zitat aus Alexanders Kommentar zu Metaphysik Γ, Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria, S. 245.29–246.13. Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 15.15f. Ebd., S. 167.10–13.
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Seienden.“24 Ihre Methode ist der Beweis. „Die Dialektik dagegen ist die Kunst, welche die Seienden umfasst, insofern sie auf sie die Bestätigung und Widerlegung durch allgemein anerkannte Methoden anwendet […];“ „die Sophistik ist die Kunst, welche die Seienden umfasst, insofern man sie falsch darstellt und über sie täuscht […]“, und so fort.25 Ibn Rušd setzt also die Metaphysik an der Stelle ein, an der die vorhergehende Tradition die gesamte Philosophie als Summe ihrer Teildisziplinen gesehen hatte, nämlich als demonstrative Wissenschaft vom „absoluten Seienden“, das heißt vom Seienden schlechthin, vom Seienden als solchen. Wie schon angedeutet und gleich noch genauer zu sehen, begreift Ibn Rušd die erste Ursache, Gott, als dasjenige, was „selbst“ – oder „ihrem Wesen nach“ – „das Seiende als absolut Seiendes“ ist.26 Er identifiziert also ganz bewusst und ganz ausdrücklich den umfassenden und den primären Sinn der Metaphysik. Eine Passage seines Kommentars zu Buch Λ, in der Ibn Rušd sein kosmologisches Modell der Emanationstheorie al-Fārābīs und Ibn Sīnās gegenüberstellt, erläutert diese Perspektive, indem sie eine Parallele zwischen den Erkenntnisverhältnissen der Sphärenintellekte und den Begründungsverhältnissen der Wissenschaften herstellt, wobei er der menschlichen wissenschaftlichen Erkenntnis gleichzeitig einen eigenen Ort innerhalb dieser kosmologischen Ordnung anweist. „[Hier, bei den abgetrennten Prinzipien, gibt es] also nur Intellekt und Intelligibles, Vollendendes und durch es Vollendetes, so wie die Künste einander vollenden, indem die einen ihre Prinzipien von den anderen beziehen und alle in Bezug auf dasjenige davon, womit sie sich befassen, darauf zurückgehen, dass sie all ihre Prinzipien von der universellen Kunst beziehen, die sie umfasst (aṣ-ṣināʿa alkullīya al-muḥīṭa bihā). Darum sehen wir, dass das Wissen, das dem Ersten – Er sei gepriesen –, am meisten eigentümlich ist, das ist, was die erste Philosophie umfasst. Das Wissen, das den Prinzipien unter ihm eigentümlich ist, ähnelt den partikulären Wissenschaften, die unter der ersten Philosophie stehen. Das ist etwas, das schon Nikolaos der Peripatetiker in seinem Buch über die Metaphysik klar ausgesprochen hat.27 Darum sehen wir, dass der Mensch durch Erreichen dieser Wissenschaft in seiner vollendetsten Weise existiert und dass dies die beste seiner Tätigkeiten ist, weil es die Tätigkeit ist, in der er sich dem besten der Seienden zugesellt.“28
Ibn Rušd jedenfalls vergleicht das Wissen Gottes mit der Metaphysik, ja er suggeriert, dass die Metaphysik gleichsam das göttliche Wissen enthält. Aus diesem Grunde kann er am Ende der zitierten Passage wieder das bereits in der oben angeführten logischen Abhandlung angeschlagene Thema aufgreifen und den Menschen, der die Metaphysik vollständig erworben hat, als Teilhaber an der Tätigkeit Gottes begreifen, die eben Erkenntnis ist. Und zwar, wie nun aus dem Ausgangstext zu ersehen ist, die „Erkenntnis seines Wesens“. Von dieser Erkenntnis hieß es dort, dass sie „bei ihm die edelste Tätigkeit ist“, und es zeigt sich jetzt, dass dies im Doppelsinn von der Erkenntnis des göttlichen Wesens sowohl durch Gott selbst als auch durch den Menschen gilt.
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Vgl. Ibn Bāǧǧa, Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, S. 27.10f. Ibn Bāǧǧa, Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, S. 28.19–21 und 29.1f. Für eine englische Übersetzung der gesamten Textpassage siehe Forcada, Ibn Bājja and the Classification of the Sciences in al-Andalus. Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1708.2 und unten, Anm. 31. Welche These Ibn Rušd hier Nikolaos’ von Damaskus (ca. 64–nach 4 v. Chr.) Kompendium der Aristotelischen Philosophie zuschreibt, verdient in anderem Rahmen ausführlicher untersucht zu werden. Gewarnt sei an dieser Stelle vor dem Missverständnis in Genequand, Ibn Rushd’s Metaphysics, S. 174 und S. 6, Anm. 6, wo der Ausdruck al-ʿilm al-aḫaṣṣ bi-l-awwal („das Wissen, das dem Ersten am meisten eigentümlich ist“) als science concerned with the First übersetzt wird. Damit wäre hier nicht mehr von der Erkenntnisweise der Sphärenintellekte, sondern nur noch von der von ihnen handelnden Wissenschaft die Rede. Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1652.10–1653.3.
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Um Ibn Rušds intellektkosmologische Vergleichsebene für das Verhältnis der Wissenschaften besser zu verstehen, muss man sich verdeutlichen, dass nur der Erste, Gott, reine Selbsterkenntnis ist, während die „Prinzipien unter ihm“, also die übrigen Sphärenintellekte, ihre je eigene intellektuelle Anschauung (taṣawwur) vom Ersten haben, durch welche, anstelle einer abgestuften Emanation, Ibn Rušd die Unterschiede zwischen diesen Intellekten und zwischen den von ihnen (als Begehrungsobjekten) ausgelösten Bewegungen erklärt.29 Wenn diese verminderte Erkenntnis des göttlichen Intellekts mit den partikulären Wissenschaften verglichen wird, so kann das offenbar nur in dem Sinne geschehen, dass diese Wissenschaften von dem Gegenstand der „umfassenden“ Wissenschaft, nämlich derjenigen vom Seienden als Seienden, jeweils nur einen Ausschnitt – ein besonderes Seiendes („dasjenige davon, womit sie sich befassen“) – betrachten, während allein die Metaphysik, vergleichbar mit der Selbsterkenntnis Gottes, das Seiende als Seiendes in seinem vollen Umfang begreift. Die „Vollendung“ der übrigen Disziplinen durch die Metaphysik und die Annahme, dass diese „all ihre Prinzipien von der universellen Kunst beziehen, die sie umfasst“, ist dabei nicht etwa so zu verstehen, dass die Metaphysik als Einheitswissenschaft die Prinzipien der übrigen Wissenschaften ableitet. Dies lehnt Ibn Rušd ausdrücklich ab, und zwar selbst gegen den offenbaren Wortlaut von Alexanders Kommentar.30 Was die Metaphysik vielmehr leistet ist, dass sie die immateriellen Seinsprinzipien der Gegenstände der Einzelwissenschaften behandelt und so Einsicht in die letzten Gründe aller Arten des Seienden gibt. Sie tut dies jedoch deshalb nicht bloß als spezielle Wissenschaft vom Göttlichen, sondern als „universelle“ und „umfassende“, weil das Seiende als Seiendes, welches sie analysiert, sowohl begrifflich wie existentiell vom an sich Seienden abhängt, welches als einziges aktual nichts anderes als Seiendes als Seiendes ist. Denn während für alle anderen Seienden die Betrachtung als Seiende nur eine von der metaphysischen Wissenschaft eingenommene Hinsicht darstellt, ist einzig das göttliche Seiende nichts anderes als seiend. Gottes Sein, das seinem Wesen nach Erkenntnis oder Intelligibilität ist, ist daher zugleich Inbegriff und Ursache alles Seins, aller Erkennbarkeit und aller Erkenntnis, während die menschliche Wissenschaft sich diesem Punkt umgekehrt durch die Erkenntnis der einzelnen Seienden nähert. Diese vorstehend erreichten Ergebnisse fasst eine weitere Passage aus Ibn Rušds Großem Kommentar zu Buch Λ der Metaphysik zusammen, die sich dadurch auszeichnet, dass sie die dort behandelte Wesensanalyse des Göttlichen direkt mit der relationalen Ontologie, der pros hen Struktur – sichtbar vertreten durch das Wärmegleichnis aus Buch α –, verbindet. Der philosophisch stärkste und zugleich innovativste Aspekt von Ibn Rušds Metaphysikentwurf kommt hier präzise zum Ausdruck: Insofern Gott reine Erkenntnis, nämlich ein ausschließlich sich selbst denkender Intellekt ist, ist er das, was alles übrige Seiende nur teilweise ist, nämlich intelligibel und seiend; und daher muss die Metaphysik, die vom Seienden handelt, insofern es ist, sich stets auf ihn als auf das beziehen, was Inbegriff des Seins und der Intelligibilität, Horizont der Möglichkeit alles Seins und aller Erkenntnis ist. „Die Wahrheit ist, dass er die seienden Dinge erkennt kraft der Tatsache, dass er nur sich selbst erkennt – vermittels des Seins, welches Ursache für deren jeweiliges Sein ist: ähnlich jenem, der nur die Wärme des Feuers kennt, von dem man [aber doch] nicht sagt, er habe kein Wissen um die Natur der 29 30
Vgl. insbesondere das commentum XII. c. 44 im Großen Kommentar zur Metaphysik, in: Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1646–1653, und die in Anm. 31 genannte Interpretation von XII. c. 51 durch Rosemann. Vgl. dazu Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1433–1436.
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Einzelne Denker und Werke
Wärme, die in den warmen Dingen vorhanden ist; vielmehr ist er derjenige, der die Natur der Wärme erkennt, insofern sie Wärme ist. Und genauso erkennt der Erste – er sei gepriesen – die Natur des Seienden insofern, als es absolut Seiendes ist – was er selber ist. Daher wird die Bezeichnung ‚Wissen‘ von seinem Wissen – er sei gepriesen – und von unserem Wissen äquivok ausgesagt; das heißt, sein Wissen ist Ursache des Seienden, während das Seiende Ursache für unser Wissen ist.“31
Man könnte nun erwarten, dass Ibn Rušd, angesichts dieser Ursächlichkeit des „transzendenten“ reinen Seins für alles andere Seiende,32 Gott als einheitliche und einzige Quelle auch zur alleinigen Ursache des Seins für jedes einzelne Seiende macht, so wie Ibn Sīnā alles außer Gott als bloß Möglichseiendes, das Möglichseiende aber als nichtseiend (beziehungsweise ontologisch indifferent) begreift. Ibn Rušd kritisiert jedoch Ibn Sīnās Unterscheidung des an sich indifferenten Wesens (māhīya, essentia) vom ihm als ein Akzidenz zukommenden Sein (wuǧūd, existentia) aufs heftigste.33 Für Ibn Rušd ist das Sein stets eine Funktion des Wesens, sodass die Art und der Grad des Seins durch das jeweilige Wesen nicht nur eingrenzend festgelegt, sondern auch verursacht sind. Jedem Seienden kommt daher eine ungleich höhere Selbständigkeit zu. Es bleibt zwar bezogen auf – und in totaler Perspektive abhängig von – dem Seienden, für das Wesen und Sein identisch sind, aber es ist eben nicht ein bloßer Effekt, sondern ist selbst Substanz.34 Gott ist demnach für Ibn Rušd nicht – wie für Avicenna – Ausgangspunkt aller Kausalketten, sondern vielmehr nur der Bezugspunkt, auf den hin alle natürlichen Dinge und Vorgänge letztlich – und gerade nicht erstlich – angelegt sind. Dieses wahrhaft aristotelische Verständnis der pros hen Ontologie kommt besonders in Ibn Rušds Auseinandersetzung mit der Emanationslehre seiner arabischen Vorgänger im Tahāfut zum Vorschein.35 Ibn Rušd setzt auch hier wieder das Wärmegleichnis ein, und zwar um zu erläutern, wie die in sich völlig einfache und einheitliche erste Ursache gleichzeitig Ursache von Vielem und doch auch von dessen Einheit sein kann. Damit setzt er dem wichtigsten Grundsatz der Emanationstheorie, dass von einem Wirkenden nur jeweils eines ausgehen kann, die Überlegung entgegen, dass alle Einheiten, das heißt alle geordneten Strukturen, zu einer ersten Einheit als zu ihrem Ziel und Zweck aufsteigen müssen.36 „Die Antwort darauf entsprechend der Lehre des Weisen [d.i. Aristoteles] lautet, dass alles, dessen Sein nur durch eine Verbindung von Teilen zustande kommt wie etwa die Verbindung von Form und Materie oder die Verbindung der einfachen Teile der Welt [d. h. der Elemente], sein Sein auf Grund ihrer Verbindung erhält. Wenn das so ist, dann ist derjenige, der die Verbindung gibt, derjenige, der das Sein gibt. Da nun alles Verbundene nur durch eine einheitliche Intention in ihm verbunden ist und da das Eine, durch das es verbunden ist, von etwas Einem abhängen muss, das zugleich mit ihm und an sich besteht, so muss es notwendig etwas separates Eines geben, das an sich besteht, und dieses Eine muss notwendig durch sein Wesen eine einheitliche Intention geben. Diese Einheit spezifiziert sich in den Seienden entsprechend ihren Naturen, und von jener in jedem einzelnen Seienden gegebenen
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Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1707.8–1708.4; Übersetzung mit zahlreichen Anpassungen aus Rosemann, Νόησις νοήσεως und taʿaqqul at-taʿaqqul, S. 556; vgl. zur Einordnung auch S. 556–559. Zur Transzendenz vgl. auch die Ausführung des Wärmegleichnisses in Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1705. Sehr treffend zu dieser Debatte zwischen Avicenna und Ibn Rušd ist Leaman, Averroes and His Philosophy, S. 104–116. Für eine rezente Studie mit Hinweisen auf weitere Forschungsliteratur siehe Belo, Essence and Existence in Avicenna and Averroes. Vgl. dazu auch unten, Anm. 96. Vgl. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, S. 175–182. Zur Gegenüberstellung von „ausgehen“ und „aufsteigen“ als Kennzeichen für Ibn Rušds Umkehrung des Emanationsmodells bei gleichzeitiger Beibehaltung des Emanationsvokabulars (insbesondere ṣadara, „ausgehen“) siehe Kogan, Averroës and the Theory of Emanation, S. 397–401. Zum Grundsatz der Emanationstheorie vgl. Hyman, From What is One and Simple only What is One and Simple Can Come.
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Einheit rührt das Sein dieses Seienden her, und sie alle steigen auf zur ersten Einheit, so wie Wärme, die in allen warmen Seienden besteht, vom ersten Warmen herrührt, das Feuer ist, und zu ihm aufsteigt. So verbindet Aristoteles das wahrnehmbare Sein mit dem intelligiblen Sein, indem er sagt, dass die Welt eine ist und von einem ausgeht, wobei das Eine einerseits Ursache der Einheit und andererseits Ursache der Vielheit ist.“37
Die Einheit, die Struktur oder „Intention“, und mit ihr das Sein, ist den natürlichen Seienden also nicht durch einen transzendenten Akt von außen eingegossen, sondern es ist ihr eigener Akt, der das absolute Eine lediglich zu seinem notwendigen Horizont hat. Ibn Rušd erklärt entsprechend, dass die erste Ursache nicht direkt, sondern nur über ihre Rolle als Form- und Zielursache und damit nur im uneigentlichen Sinne auch als Wirkursache aufgefasst werden kann.38 Einziges Merkmal der Wirkursache ist es nämlich, den Übergang von der Potenz zum Akt zu bewirken, während die Sphärenintellekte als primärer Einsatzbereich der Emanationstheorie gerade keiner Aktualisierung bedürfen.39 Es findet hier überhaupt keine Bewirkung (fiʿl) statt, sondern die Verursachung beschränkt sich auf die bereits oben beschriebenen Verhältnisse der Vollendung durch das Erkannte, die es ermöglicht, dass das Eine Ursache vieler Erkenntnisakte zugleich ist.40 Ebenso schreibt Ibn Rušd in Bezug auf das vergängliche Seiende bereits in seiner frühen Epitome zu De generatione et corruptione, dass Aristoteles den ersten Beweger nicht als fāʿil bezeichnet habe, weil nur dasjenige, was eine Wirkung oder Qualität im Bewegten hervorbringt, ein solches sei.41 Als Wirkursache (des Entstehens und Vergehens) werden hier vielmehr die Himmelskörper dargestellt. Der übertragene Sinn, in dem das Erste dennoch als Wirkursache begriffen werden kann, wird im Tahāfut gerade aus der Absetzung von dem gewonnen, was Wirkursächlichkeit in der Natur und damit in der Materie bedeutet.42 Gilt dort in der Tat, dass eine Ursache nur eine Wirkung haben kann, so deshalb, weil das Wirkende dort „beschränkt“, nämlich auf ein bestimmtes, seiner Wirkung unterliegendes Objekt eingeschränkt ist, während das erste Wirkende ein „absolutes Wirkendes“ ist, welches sich dadurch auszeichnet, dass es einen „absoluten Akt“ (fiʿl muṭlaq) hervorbringt, „der keinem Bewirkten eigentümlich ist“. Das Erste ist daher nur deshalb Quasi-Wirkursache von allem, weil es die Wirkursache von keinem im Besonderen ist. Die vergänglichen Seienden sind hier vielmehr autonom, insofern sie einander wechselseitig bewirken. Ihre Prinzipien sind Materie und Form, und das aus diesen Zusammengesetzte übernimmt für einander wechselseitig die Rolle der Wirkursache.43 Die Verbindung des wahrnehmbaren mit dem intelligiblen Sein, von der Ibn Rušd im obigen Zitat spricht, setzt daher zunächst einmal die deutliche Trennung der beiden Be37 38
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Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, S. 180.12–181.10. Arnzen, Averroes on Aristotle’s “Metaphysics”, S. 168; so auch bezeugt in den Fragmenten der verlorenen Abhandlung über den ersten Beweger, vgl. Wolfson, Averroes’ Lost Treatise on the Prime Mover, S. 683-710, hier S. 702–705. Ich kann der von Arnzen in Anm. 640 und 642 gegen Davidson entwickelten Auffassung nicht folgen, diese Passage widerspreche nicht der gesamten Emanationstheorie und dürfe nicht als Ausdruck der später im Großen Kommentar zur Metaphysik und im Tahāfut vertretenen Position gelesen werden. Dagegen spricht übrigens schon Arnzens eigene Einschätzung S. 325f., in dieser Passage werde auf den Tahāfut verwiesen. Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1652. Ebd., S. 1649. Ibn Rušd, Epítome del libro Sobre la generación y la corrupción, S. 46f. und für den weiteren Zusammenhang S. 45–53; wenn man dem kritischen Apparat Puigs glauben kann, findet sich die genannte Äußerung auch in der Kairiner Handschrift, die durchweg die älteste Version von Ibn Rušds Kompendien bewahrt. Dies steht im Gegensatz zu den Aussagen der also möglicherweise früheren Epitome der Metaphysik, Arnzen, Averroes on Aristotle’s “Metaphysics”, S. 23f. und vgl. auch S. 152. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, S. 180.3–8 und 230.10–16. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, S. 175.13f.
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reiche voraus, die nicht durch eine einheitliche Kette der Verursachung verbunden sind, sondern zwischen denen lediglich das Phänomen der Bewegung vermittelt: Die abgetrennten Seienden ordnen sich nach den nun schon mehrfach genannten internen Gesetzen der Erkenntnis auf das Erste als Form-, Ziel- und Wirkursache hin und ziehen dabei die Differenzen und Verhältnisse der ewigen Himmelskörper lediglich akzidentell nach sich, denen sie die Formen geben. Demgegenüber gehorchen die sublunaren vergänglichen Seienden den Prinzipien Form und Materie und erhalten ihre Formen „von den Himmelskörpern und von einander“.44 Dies darf man nun nicht etwa so verstehen, dass die Himmelskörper oder vielmehr ihre Bewegungen konkurrierende oder kooperierende Wirkursachen des Vergänglichen wären, die die innerweltliche Wechselwirkung der vergänglichen Körper untereinander ergänzten, sondern sie sind vielmehr die ferne Ursache für das interaktive Aufeinandertreffen dieser Naturkörper im Sinne von De generatione et corruptione II.10.45 Die Natur hat daher eine beachtliche Autonomie, wie Ibn Rušd bei Gelegenheit hervorhebt, denn die Himmelsbewegung ist eben nur eine Wirkursache und nicht etwa Ursache von Materie, Form oder Ziel, „denn jeder natürliche Körper besitzt eine bestimmte Materie, eine bestimmte Form und ein bestimmtes Ziel“.46 Zudem haben die vorstehenden Überlegungen gezeigt, dass das erste Prinzip überhaupt nur in vermittelter Weise Ursache der Naturvorgänge ist, sodass sein „absoluter Akt“ gleichsam als ihr transzendentaler Grund betrachtet werden kann, der stets in empirischen Wechselwirkungen verkörpert ist. Das angemessene Modell für die Ordnung des Kosmos ist daher der Organismus, wie Ibn Rušd im commentum 52 seines Großen Kommentars zu Buch Λ der Metaphysik andeutet, wo er Aristoteles’ Charakterisierung der doppelten, immanenten und transzendenten Ordnung des Kosmos kommentiert.47 Dabei übernimmt Ibn Rušd zwar hier ebenso wie im Tahāfut das aristotelische Gleichnis vom Heer,48 welches sein Gut sowohl in der immanenten Ordnung seiner Teile, mehr noch aber im Feldherrn hat, durch den diese Ordnung besteht, indem er der darin impliziten Idee schärferen Ausdruck verleiht, dass das mit dem Feldherrn verglichene erste Prinzip der Welt dessen Finalursache ist. Wie dieser Zweck Ursache der Ordnung der Teile ist, bringt Ibn Rušd jedoch zuvor in einem eigenen Vergleich noch treffender auf den Punkt: „Die Teile existieren einer um des anderen willen und alle um des ersten willen so wie die Glieder des Menschen in Bezug auf das erste Prinzip, durch das er ein Mensch wird.“49 Die Struktur des Kosmos ist also eine organische: Die Teile organisieren sich selbständig durch horizontale Wechselwirkung zu einem organischen Ganzen, in dem jeder Teil gleichzeitig Begründender und Begründeter ist, ohne direkte Einwirkung von außen. Dennoch steht das, was diese organische Einheit stiftet, also die substantielle Form, jenseits und über den Teilen; denn diese bilden nur durch die gemeinsame Form und den gemeinsamen Zweck ein eines Ganzes. Gott als der erste und einfachste Sphärenintellekt
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Vgl. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, S. 175.8–176.3 und 178.6–179.5, Zitat S. 179.1f. Vgl. Arnzen, Averroes on Aristotle’s “Metaphysics”, S. 170. Hercz, Drei Abhandlungen über die Conjunction des separaten Intellects, S. 3.8–15, Zitat 3.14f.; französische Übersetzung in Geoffroy/Steel, Averroès, La béatitude de l’âme, S. 200. Aristoteles, Metaphysik, XII.10, 1075a12–24; Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1710.7–1712.8. Vgl. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, S. 176f., 185–187 und 191f. Ibn Rušd, Tafsīr mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, S. 1710.3–5. Dies ist dort zwar eigentlich im Modus der Frage formuliert, folgt darin aber nur der Rhetorik des aristotelischen Textes; es ist die Auffassung, die Averroes in der Folge verteidigt.
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ist daher die Form der Welt, er ist damit – wie sich bei der Untersuchung der Entscheidenden Abhandlung schon angedeutet hatte – gleichzeitig transzendent und immanent. Das Zusammenspiel dieser beiden verschiedenen und doch nicht getrennten Ebenen, der Wechselwirkungen der Teile einerseits und der formalen und finalen Bestimmung andererseits, lässt sich als Grundstruktur in vielen Theorien auffinden, die als besondere Positionen Ibn Rušds gelten und in denen er – oft genug nach mehreren Positionswechseln – gegen Vorgängermeinungen zu einer eigenen Lösung findet. Zwei herausragende Fragen sollen in den beiden folgenden Abschnitten vorgestellt werden.
2. Der Beweis des unbewegten Bewegers und die Frage der Kontingenz Die genannte Verbindung von lokaler Autonomie und globaler Dependenz tritt auch in Ibn Rušds origineller Deutung des aristotelischen Beweises eines ersten unbewegten Bewegers hervor, die ein besonderes Verständnis der Beziehung zwischen ewiger supralunarer und veränderlicher sublunarer Welt beinhaltet. Das Ziel des achten Buches der Physik und damit das Ziel des gesamten Werkes ist laut Ibn Rušd der Beweis des ersten Bewegers.50 Über die Methode und den Inhalt dieses Beweises hat er jedoch seine ursprüngliche Auffassung grundsätzlich revidiert.51 War er zunächst mit der Kommentatorentradition – er nennt al-Fārābī, Ibn Sīnā und Ibn Bāǧǧa52 – davon ausgegangen, dass Aristoteles seinen Beweis auf der Definition der Bewegung aufbaut, indem er aus ihr ableitet, dass jeder Bewegung die Potenz zu dieser Bewegung zeitlich vorausgehen müsse, also auch eine frühere Bewegung, die die Potenz bewirkt hat; und dass mithin zur Vermeidung eines unendlichen Regresses eine erste ewige Bewegung notwendig sei; so nimmt er später an, dass Aristoteles in Buch VIII nicht von der gesamten Gattung der Bewegung spreche, sondern lediglich von der Himmelsbewegung. Den Aufbau der aristotelischen Argumentation versteht er nun so, dass bereits in Buch VII gezeigt worden sei, dass alle Ortsbewegungen auf eine erste Ortsbewegung, nämlich die Himmelsbewegung, zurückgehen. In Buch VIII werde bewiesen, dass dieses erste Bewegte, der Himmel, eine ewige Bewegung besitze und also einen ewigen ersten unbewegten Beweger haben müsse.53 Genauer gefasst wurde im ersten Schritt gezeigt, dass die Ortsbewegung auf etwas zurückgeht, was ein unkörperliches Bewegungsprinzip in sich hat, so dass nun in Buch VIII diese erste Bewegung daraufhin untersucht wird, ob sie entstanden oder ewig ist. Der Beweis für ihre Ewigkeit wird so geführt, dass mit Rückgriff auf die Definition der Bewegung festgestellt wird, dass die erste Bewegung die in diesem vorliegende Vollendung eines ersten beweglichen Körpers und eines ersten (unbeweglichen) Bewegers sein muss. Die Ewigkeit des beweglichen Körpers – welche ihrerseits die Ewigkeit seiner Bewegung und seines Bewegers impliziert – ergibt sich daraus, dass bei gegenteiliger Annahme eine Entstehungsbewegung vor der vorausgesetzten ersten Bewegung stattgefunden haben müsste. Der gleiche Widerspruch ergäbe sich, wenn seine Bewegung
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Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, VIII. c. 1, f. 338rF. Für eine Rekonstruktion des Positionswechsels siehe Glasner, Averroes’ Physics, Kapitel 6. Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, VIII c. 1, f. 339rA. So dargestellt in Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, VIII. c. 21, f. 356vH–K. Die auszugsweise Übersetzung bei Glasner, Averroes’ Physics, S. 97, Anm. 190, stimmt nicht mit dem angegebenen lateinischen Text überein.
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nicht kontinuierlich, sondern unterbrochen wäre.54 Ibn Rušd operiert also auch hier wieder mit der Unmöglichkeit eines infiniten Regresses, wendet dieses Argument jedoch nur auf die erste Bewegung, nicht auf die Bewegung schlechthin an. Systematisch interessant sind die Gründe, die Ibn Rušd nun gegen die von ihm ursprünglich geteilte und vom Wortlaut des aristotelischen Textes her näherliegende Interpretation anführt.55 Er behauptet nämlich nun,56 die jetzt al-Fārābī zugeschriebene Deutung begünstige die theologisch motivierte Kritik des Kalām an der aristotelischen Lehre von der Ewigkeit der Welt – als deren philosophierender Urheber und Repräsentant Philoponos namentlich genannt wird –, statt sie, wie beabsichtigt, zu widerlegen. Denn Ibn Rušd zeigt nun, dass die erste Bewegung nur dann erste und ewige Bewegung sein kann, wenn sie keine zeitliche, sondern nur natürliche Priorität vor den anderen Bewegungen hat (mutaqaddima bi-z-zamān – bi-ṭ-ṭabʿ).57 Besäße sie nämlich zeitliche Priorität, dann müsste sie selbst dem Zeitindex und damit der Veränderlichkeit unterliegen, so dass frühere Bewegungen anzunehmen wären und sie nicht mehr die erste wäre. AlFārābī und seine Nachfolger gehen so dem Argument des Philoponos in die Falle, das Aristoteles’ These, jeder Bewegung gehe eine andere voraus, für ein wesentliches Merkmal der Bewegung nimmt und ihm entgegenhält, dass die hiermit vorausgesetzte unendliche Kette der Bewegungen nach Aristoteles’ eigenen Grundsätzen nicht durchquert werden könne.58 Denn wenn es keine erste Bewegung gäbe, bei der der Prozess beginnt, so käme man auch nie bei der letzten, der beobachteten, an. Al-Fārābī leistet durch seine Fehldeutung der aristotelischen Beweisführung dieser Kritik Vorschub, indem er in seiner Schrift Über die veränderlichen Seienden (Fī l-mawǧūdāt al-mutaġayyira) darauf beharrt, zu zeigen, dass in der angemessenen Betrachtungsweise sehr wohl jeder Bewegung eine andere Bewegung vorhergehen müsse. Es ist aber laut Ibn Rušd keineswegs ein wesentliches Merkmal aller Bewegung, sondern nur ein akzidentelles Merkmal der sublunaren Bewegung, dass ihr stets eine Bewegung vorausgeht. Auf die Himmelsbewegung als erste und ewige kann es, wie bereits gesagt, gar nicht zutreffen, ohne dass sie aufhörte, erste zu sein. Und eine unendliche Verkettung von sublunaren Bewegungen gibt es nur, weil die Himmelsbewegung, auf die diese – nicht zeitlich, sondern der Natur nach – zurückgehen, ewig ist.59 Es gibt hier also, anders als in al-Fārābīs Modell, zwei Ordnungen und nicht einen kontinuierlichen Kosmos, in dem jede temporale Bewegung per se auf die ewige Himmelsbewegung verweist und von ihr abhängig ist. Vielmehr steht jede Bewegung in einem doppelten Zusammenhang, nämlich einerseits in horizontalen zeitlichen Wirkzusammenhängen und andererseits in vertikalen ontologischen Wirkzusammenhängen. Die Ursachenverkettung in dieser zweiten Perspektive ist wesentlich und endlich und führt
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Vgl. die Abhandlung Taʿlīq al-maqāla as-sābiʿa wa-ṯ-ṯāmina min as-samāʿ aṭ-ṭabīʿī [Anmerkungen zum siebten und achten Buch der Physik] in: al-ʿAlawī, Maqālāt fī l-manṭiq wa-l-ʿilm aṭ-ṭabīʿī li-Abī l-Walīd Ibn Rušd [Abhandlungen zur Logik und Naturwissenschaft von Ibn Rušd], S. 229f.; englische Übersetzung (aus dem Hebräischen) in: Tunik-Goldstein, Averroes’ Questions in Physics, S. 17f. Vgl. Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, VIII. c. 9, f. 339rA: haec expositio […] quae intelligitur primo aspectu. Siehe zum folgenden die gedrängte Darstellung in Ibn Rušds revidierter Fassung des Kompendiums der Physik: Ibn Rušd, Epitome in Physicorum libros, S. 130–135 (oberer Text). Vgl. auch Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, VIII c. 7, f. 342v–343r; laut Glasner, Averroes’ Physics, S. 104 ist dieses gesamte commentum im lateinischen Text eine Neufassung gegenüber der ursprünglichen, im Hebräischen erhaltenen Fassung. Vgl. auch Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, VIII. c. 4, f. 341vI–L und VIII c. 15, f. 350rD–F. Vgl. auch Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, V. c. 13, insbesondere f. 218vI–K.
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zurück zur Himmelsbewegung und zum ersten unbewegten Beweger; die Ursachenverkettung in der ersten, horizontalen, Perspektive dagegen ist unendlich, aber akzidentell. Es ist wichtig, genau zu verstehen, in welchem Sinne die Verknüpfung auf der horizontalen Ebene akzidentell ist. Man hat überzeugend gezeigt,60 dass sich Ibn Rušd bei seiner Neudeutung von Physik VIII auf eine bereits von Ibn Bāǧǧa und wohl auch schon von alFārābī gemachte Unterscheidung stützt, die gegen Philoponos’ Vorwurf des infiniten Regresses eine harmlose von einer vitiösen unendlichen Wirkkette abhebt. Philoponos verwies auf die unendliche Reihe von Vätern und Söhnen, die sich bei Annahme der Ewigkeit der Welt ergibt, eben um zu zeigen, dass eine solche Reihe nach Aristoteles’ eigener Maßgabe in Physik V.2 nicht zu durchlaufen ist. Denn wenn für die Zeugung des Sohnes die Zeugung des Vaters, Großvaters und so weiter vorausgesetzt werden muss, dann kann es zur Zeugung niemals kommen und diese Unendlichkeit müsste daher genauso unmöglich sein wie die von Aristoteles an der besagten Stelle für unmöglich erklärte „Bewegung der Bewegung“. Dem hält nun Ibn Rušd, seinen arabischen Vorgängern folgend, entgegen, dass eine solche unendliche Verkettung unbedenklich ist, weil sie keine wesentliche Voraussetzung für die Zeugung des Sohnes darstellt. In der überarbeiteten Fassung seines Kompendiums der Physik erklärt er, dass die Bewegung zur Vorgängerbewegung nicht dasselbe wesentliche Verhältnis hat wie die angezielte Vollendung zu derjenigen Bewegung, die sie bewirkt, weil die Vollendung etwas aktuell Seiendes ist, das mithin teilbar ist und durch einen prozessualen Übergang von der Potenz zum Akt bewirkt werden muss. Der Prozess oder die Bewegung selbst dagegen ist nichts aktuell Seiendes und kann und braucht daher nicht seinerseits noch einmal bewirkt zu werden. Dass jeder Bewegung de facto eine andere Bewegung vorhergeht, ist deshalb akzidentell.61 Diese Feststellung hat bei einigen Interpreten zu verhängnisvollen Missverständnissen geführt. Denn es ist zwar richtig, dass Ibn Rušd die Kontinuität sublunarer Bewegung nicht horizontal aus dieser selbst, sondern vertikal aus der Ewigkeit der Himmelsbewegung ableitet,62 falsch aber ist, dass Ibn Rušd den sublunaren Bewegern gar keine wesentliche, sondern überhaupt nur eine akzidentelle Beteiligung an Entstehen, Veränderung und Bewegung der vergänglichen sublunaren Seienden zugesteht – auch wenn einige seiner eigenen Formulierungen diesen Eindruck erwecken könnten.63 So ist behauptet worden, bei Ibn Rušd sei der Vater nur akzidentelle Ursache des Sohnes.64 Tatsächlich bezeichnet Ibn Rušd jedoch nicht den Vater als akzidentelle Ursache, sondern das Gezeugtsein des Vaters.65 Nicht der Beitrag des Vaters zur Entstehung des Sohnes ist akzidentell, sondern nur der Beitrag des Großvaters, denn, so gibt Ibn Rušd zu bedenken: „Plato zeugt nicht Cicero, weil er selbst von Sokrates gezeugt wurde, sondern weil er es will, nämlich weil er seinen Samen in jene Frau ergießen will.“66 Wenn, wie es dort auch heißt, der 60 61 62 63
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Glasner, Averroes’ Physics, S. 72f. et passim; sowie S. 75, Anm. 74 zu Davidsons Rekonstruktion von al-Fārābīs Argument. Ibn Rušd, Epitome in Physicorum libros, S. 75.12–77.3. So richtig Glasner, Averroes’ Physics, S. 79–83. Vgl. etwa Ibn Rušd, Epitome in Physicorum libros, S. 42.2–4: „Wir sagen: Bei meinem Leben, wenn es sich so verhielte, dann wären bei jenen entstehenden Dingen die einen dem Wesen nach Ursachen für die anderen, aber so ist es nicht, vielmehr kommt das Unendliche in ihnen nur wegen des ewigen Bewegers vor, der nicht aufhört zu bewegen.“ Eine ähnlich extreme Formulierung findet sich in einer Passage des Mittleren Kommentars zur Physik, zitiert bei Glasner, Averroes’ Physics, S. 82, Anm. 120. Belo, Chance and Determinism in Avicenna and Averroes, S. 204, Anm. 53; Lettinck, Aristotle’s Physics and its Reception in Arabic World, S. 432 und 659. Ibn Rušd, Tahāfut at-tahāfut, S. 59f.; das ist genau die Stelle, auf die sich Belo bezieht (vgl. Anm. 64). Ibn Rušd, Großer Kommentar zur Physik, VIII. c. 47, f. 388r–389v, Zitat f. 388vK.
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Mensch bei der Zeugung nur das Werkzeug liefert, die Himmelskörper dagegen die Rolle des Handwerkers innehaben, dann bedeutet das eben nicht, dass die Leistung der physischen unmittelbaren Ursache nicht wesentlich ist, sondern nur, dass es sinnlos ist, in dieser Richtung nach weiteren Ursachen zu suchen. Die entscheidende Ursachenkette ist also vertikal, nicht horizontal, das heißt, die Frage „… und was ist die Ursache des Vaters?“ darf nicht als Wiederholung der bereits geklärten Frage nach dem Entstehen des Sohns verstanden werden, sondern muss auf einer höheren kausalen Ebene beantwortet werden. So bezeichnet Ibn Rušd im Tahāfut Gott zwar als „wesentlichen Beweger“, aber nicht als wesentlichen Erzeuger, vielmehr auffälligerweise nur als Bedingung (šarṭ) für die Existenz des Menschen. Das besagt aber: Gott ist zwar die notwendige Bedingung für die Existenz des Menschen, weil er die Himmelsbewegung verursacht, ohne die die sublunaren Entstehungsprozesse nicht ablaufen würden, aber die Existenz des einzelnen Menschen folgt nicht mit Notwendigkeit aus Gott, sondern aus dem kontingenten Verhalten seiner Eltern. Mit der Feststellung, dass sublunare Bewegungen nicht an sich schon wesentlich miteinander verknüpft sind, sondern nur durch die ewige Himmelsbewegung zu einer nicht abreißenden Folge von Ruhe und Bewegung, Potenz und Akt verkettet werden, macht Ibn Rušd in der Tat, wie Ruth Glasner dargelegt hat,67 die sublunare Welt zu einer indeterminierten Sphäre, ohne sie aus der notwendigen Struktur des Kosmos insgesamt herauszunehmen. Zwar scheint das, wie Christina Cerami zurecht bemerkt hat, nicht die primäre Absicht von Ibn Rušds Umdeutung der aristotelischen Argumentation in Physik VIII gewesen zu sein,68 es fügt sich aber nahtlos in die oben analysierte ontologische Grundkonstellation ein: Die partikulären sublunaren Bewegungen werden, insofern sie zeitgebundene, kontingente Prozesse darstellen, durch horizontale Wechselwirkungen erklärt. Die Himmelsbewegung, über die die ewige Struktur vermittelt wird, besitzt nur natürliche, nicht aber zeitliche Priorität, wirkt also in diesen sublunaren Prozessen nicht als direkter Akteur, sondern nur mittelbar und als Ermöglichungsgrund, der sie, ohne ihre Kontingenz aufzuheben, in einen globalen und (nicht individuell, aber spezifisch) konstanten Zusammenhang bringt. Damit steuert Ibn Rušd, dessen Position auffällige, aber meines Wissens bisher noch nicht untersuchte Ähnlichkeiten zu Ibn Sīnās Unterscheidung endlicher (natürlicher, wesentlicher) und unendlicher (zeitlicher, akzidenteller) Wirkketten zeigt, insgesamt doch auf eine ganz andere Pointe zu. Ibn Sīnā nämlich behauptet in der Tat, dass die Bewegursachen nur vorbereitende Funktion haben und konkret, dass der Vater nicht die eigentliche Ursache des Sohnes ist.69 Er lässt vielmehr den Formgeber, „die Ursache, die die Form gewährt“,70 die wesentliche Wirkursache in jeder sublunaren Veränderung sein und 67 68 69
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Glasner, Averroes’ Physics, Kap. 6. Cerami, Corps et continuité, S. 311f. Siehe hierzu und zum Folgenden: Ibn Sīnā, Kitāb aš-šifāʾ. al-Ilāhīyat, VI.2, S. 264–266; englische Übersetzung: Avicenna, The Metaphysics of the Healing, S. 201–203; weiterhin vgl. VIII.1, S. 331.6–8; engl. S. 261 no. 17; sowie VIII.3, S. 342.18–343.6; engl. S. 272f. no. 8. Auf Ibn Rušds sich wandelnde Auffassung vom Entstehen sublunarer Formen, insbesondere der Formen sich fortpflanzender oder durch Spontanzeugung entstehender Lebewesen, kann hier nicht eingegangen werden; siehe dazu etwa Hasse, Spontaneous Generation and the Ontology of Forms in Greek, Arabic, and Medieval Latin Sources; Freudenthal, The Medieval Astrologization of Aristotle’s Biology. Wobei die Art des Zusammenwirkens von Erzeuger und Himmelsbewegung (Sonne) meines Erachtens noch nicht hinlänglich geklärt ist. Es sei nur auf das für Ibn Rušds spätere, mit der hier analysierten Position harmonierende, Auffassung entscheidende Diktum (Arnzen, Averroes on Aristotle’s “Metaphysics”, S. 66 [rechte Spalte]) hingewiesen, dass „der Akt, welcher das Ziel der Veränderung ist, nur durch den Bewirker der Veränderung erreicht wird, und dass es nicht möglich ist, dass der Bewirker der Veränderung eines ist und der Bewirker des Endes der Veränderung etwas anderes“.
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nimmt, da er Verursachung als Notwendigmachen (wuǧūb) begreift, die unendliche Kette innerweltlicher Beweger in den Dienst dieser vom Notwendig-Seienden ausgehenden Verursachung. Damit ist erstens die Kontingenz sublunarer Veränderungen aufgehoben und zweitens überhaupt die Autonomie der Natur zugunsten einer aus der ersten Ursache nahtlos ableitbaren Welt aufgegeben. Vor dieser Folie wird die Besonderheit von Ibn Rušds Entwurf deutlich: Der erste unbewegte Beweger ergibt sich aus der Analyse der natürlichen Welt nur als höchstes Prinzip einer kohärenten Gesamtordnung, nicht aber als absolute Ursache jedes einzelnen Geschehens. Vielmehr ist Gott, wie wir bereits gesehen haben, „absoluter Akt“ gerade deshalb, weil er die Wirkursache von nichts im Besonderen ist.71
3. Vergängliches Erkennen, ewige Erkenntnis – das Problem des Intellekts Die Fragen, die Ibn Rušd offenbar am meisten Kopfzerbrechen bereitet haben und durch deren Beantwortung er in der Philosophiegeschichte am tiefsten gewirkt hat, beziehen sich auf die Beschaffenheit des menschlichen, des sogenannten „materiellen“ Intellekts (ʿaql hayūlānī) und dessen Vollendung, nämlich die in der arabischen Philosophie breit diskutierte Möglichkeit seiner „Konjunktion“ oder Verbindung (ittiṣāl) mit dem aktiven Intellekt. Beide Probleme sind äußerst vielschichtig, und dies sowie die zahlreichen Positionswechsel, die Ibn Rušd in seinen drei Kommentaren zu De anima, deren mehrfachen Überarbeitungen und in nicht weniger als fünf Traktaten zum Thema durchlaufen hat, sorgen dafür, dass eine wirklich angemessene Analyse aus einer einzigen Perspektive nicht möglich ist. Die folgende Darstellung soll daher nur eine Linie herausgreifen, an der sich zeigt, wie beide Fragen für Ibn Rušd zusammenhängen und wie sich seine endgültige Lösung rund um die berühmte These von der Existenz eines einzigen und abgetrennten Intellekts für alle Menschen in die hier rekonstruierte Ontologie einfügt.72 3.1 Die Natur des Intellekts
In den spätesten uns überlieferten Schriften versteht Ibn Rušd den materiellen Intellekt als „artmäßige Möglichkeit“,73 das heißt als die der gesamten menschlichen Spezies und nicht etwa einem einzelnen Individuum zugeordnete Aufnahmebereitschaft für intelligible Formen. Dazu führt er explizit eine „vierte Seinsgattung“ ein, die in Analogie zur Materie im Bereich des wahrnehmbaren Seins im Bereich des Intelligiblen als aufnehmendes Subjekt dient.74 Diese Rolle übernimmt der materielle Intellekt, der also getreu der Intuition Alexanders von Aphrodisias eine bloße Aufnahmebereitschaft und nicht, 71 72
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Siehe oben bei Anm. 43. Vgl. mit Ibn Sīnās Konzeption des Notwendig-Seienden als erstem Wirkprinzip, das ipso facto erstes absolutes Prinzip ist; Ibn Sīnā, Kitāb aš-šifāʾ. al-Ilāhīyāt, VIII.3, S. 242.1–5; engl. S. 271 no. 5. Für eine ausführliche, wenn auch sicher nicht vollständige Diskussion der Intellektproblematik siehe das Nachwort in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 313–409; zusätzlich zu der dort genannten Sekundärliteratur sind hinzugekommen: Taylor, Intellect as Intrinsic Formal Cause in the Soul According to Aquinas and Averroes und Taylor, Themistius and the Development of Averroes’ Noetics; Brenet, S‘unir à l‘intellect, voir Dieu. Averroès et la doctrine de la jonction au cœur du Thomisme. So im Kommentar zu Alexanders De intellectu, Auszug übersetzt in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 363f., hier S. 364. Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis de anima, S. 409.654–661 und zuvor S. 388.45–56; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 221–223 und 163.
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wie Themistios meinte, eine Aufnahmebereitschaft an einem Intellekt als ewigem Subjekt ist, wobei diese Aufnahmebereitschaft jedoch selbst den Status einer ewigen, abgetrennten Substanz vom Typ des Intellekts erhält und mithin, entgegen der Auffassung Alexanders und der arabischen Vorgänger al-Fārābī und Ibn Bāǧǧa, kein entstandenes, im Individuum verankertes Vermögen ist. Dieses Modell trägt Ibn Rušds gewandeltem Verständnis der Intelligibilia Rechnung, nämlich dass sie wesentlich formhaft sind75 – eine Haltung, die sich spätestens im Mittleren Kommentar durchgesetzt hat und Ibn Rušd dort zu der Argumentation gegen Alexander führt: „Die Sache, die zur Aufnahme des Intelligibile bereit ist, muss Intellekt sein.“76 Die Intelligibilia sind wesentlich ewig und nur akzidentell; nämlich sofern sie von einzelnen menschlichen Individuen gedacht werden, entstehen und vergehen sie.77 Wie das aber zusammengehen kann, wirft zwei zentrale epistemologische Fragen auf, die Ibn Rušd in seinem Großen Kommentar ausführlich diskutiert und anhand derer er sein Modell in größerem Detail entwickelt.78 Das erste Problem ist genau die Frage, wie die Intelligibilia überhaupt noch entstehen können – was sie doch offenbar tun; denn Ibn Rušd folgt der aristotelischen Grundannahme, dass die Erkenntnis von den Sinnen ausgeht und dass die Intelligibilia von den Formen oder „Intentionen“ im Vorstellungsvermögen bewirkt werden, sodass man scheinbar nur um den Preis eines Verstoßes gegen den Grundsatz, dass das von Natur Vergängliche nicht ewig werden kann, annehmen dürfte, „dieselben Intentionen“ seien als Vorstellungen vergänglich, als Intelligibilia dagegen ewig. Außerdem ist unklar, wie die Intelligibilia, die durch die Wirkung des aktiven Intellekts aus den Vorstellungen herausgelöst werden und von einem ewigen materiellen Intellekt aufgenommen werden, selbst vergänglich sein sollen. Ibn Rušds Lösung beruht auf der Annahme, dass die aktuellen Intelligibilia zwei Subjekte haben, nämlich einerseits den materiellen Intellekt, der ihnen das ihnen eigentümliche, nämlich intelligible Sein verleiht, und andererseits die Formen im Vorstellungsvermögen, welche das Subjekt bilden, „durch das sie wahr sind“. Nur durch dieses zweite Subjekt entstehen und vergehen sie. Mit Hilfe dieses Modells löst Ibn Rušd auch die zweite erkenntnistheoretische Fragestellung,79 nämlich wie es bei Annahme der Einheit und Ewigkeit des materiellen Intellekts zu erklären sei, dass die von dieser Erkenntnisfähigkeit als Wesensform des Menschen gebildete erste Vollendung nur eine, und zwar allen Menschen gemeinsame sei, während die zweite Vollendung, nämlich der theoretische Intellekt, der im Besitz tatsächlicher Erkenntnisse – also aktueller Intelligibilia – besteht, vielfach sei, das heißt bei jedem Menschen individuell verschieden. Wäre das nicht so, müssten ja alle die gleichen 75
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Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 388; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 161– 163: „Und daraus wird offenbar, dass diese Natur nichts Konkretes ist […] und auf diese Weise könnte sie die Natur der Formen, insofern sie Formen sind, nicht unterscheiden […].“ Vgl. auch S. 193 und das Nachwort S. 391. Ibn Rušd, Middle Commentary on Aristotle’s De anima, S. 110 no. 281; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 119–121. Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 363. Averroes diskutiert in Buch III, commentum 5 nicht zwei, sondern drei Probleme (Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis de anima, S. 399; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 193–195), wobei das dritte jedoch das ontologische Problem der Natur des materiellen Intellekts ist, welches mit der „vierten Seinsgattung“ beantwortet wird, während die beiden anderen, epistemologischen Probleme eine deutlich andere Stellung haben und auch gemeinsam als Schwierigkeiten aus der Interpretation des Themistios abgeleitet werden. Siehe im Folgenden für das erste der beiden Probleme, dessen Lösung in Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis de anima, S. 399– 401/Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 195–201 diskutiert wird, die Vorstellung von S. 391–392/S. 171–173. Siehe dazu Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 392–394, 401–409 und 411–413; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 175–177, 201–221 und 225–231.
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Kenntnisse besitzen. Die Antwort auf diese Frage kann allerdings nicht einfach lauten, dass die Intelligibilia durch ihr Gestütztsein auf jeweils andere Vorstellungsbilder vielfach sind, denn es hat sich ja schon angedeutet, dass sie nicht schlechthin vielfach sein können. Warum das so ist, wird von Ibn Rušd sowohl in epistemologischer wie in ontologischer Hinsicht formuliert, wobei diese zweite Perspektive aber letztlich auch wieder epistemologische Gründe hat. Erstens nun scheint die Einheit auch der Intelligibilia für alle Menschen dadurch gefordert, dass nur so die Übereinstimmung mehrerer Erkennender, das heißt die von wahrer Erkenntnis geforderte Allgemeingültigkeit und „Objektivität“, erreicht werden kann. Wären die Intelligibilia individuiert, dann bräuchte man übergeordnete Formen, die sie zusammenfassen, was in einen unendlichen Regress führen würde.80 Zweitens erzwingt ontologisch die Beschaffenheit des materiellen Intellekts die Einheit der Intelligibilia verschiedener Erkennender, denn dieser ist eben ein aufnehmendes Subjekt vom Typ des Intellekts, nicht vom Typ der körperlichen Materie, die alleine das Individuationsprinzip darstellt. Wo es keine Materie gibt, so Ibn Rušd mit Verweis auf die Himmelsphysik, dort gibt es nur artspezifische, jedoch keine individuellen Unterschiede.81 Zur Annahme dieser Natur des materiellen Intellekts hatte sich Ibn Rušd jedoch, wie bereits gesehen, durch die erkenntnistheoretische Überlegung gezwungen gesehen, dass jede materielle Gebundenheit des menschlichen Intellekts den eigentümlich intelligiblen Charakter der Intelligibilia beeinträchtigen würde. Ibn Rušd bemüht sich daher zu zeigen, dass die Intelligibilia und der theoretische Intellekt, das heißt der durch die Aufnahme von Intelligibilia aktualisierte materielle Intellekt, sowohl einzig und ewig als auch vielfach und vergänglich sind. Und zwar geht er davon aus, dass die Intelligibilia mit dem Individuum nicht über das „Vermögen“ des ja einzigen materiellen Intellekts verbunden sind, sondern über die Intentionen (maʿānī), die ihren Sachgehalt ausmachen und von denen er voraussetzt, dass sie mit den vorgestellten Intentionen identisch sind.82 Anders und mit Bezug auf das zuvor erläuterte Modell der zwei Subjekte ausgedrückt kann Ibn Rušd nun sagen, die Intelligibilia seien einzig und ewig hinsichtlich des Subjekts, durch das sie Seiende sind – also den materiellen Intellekt –, und vielfach und vergänglich hinsichtlich des Subjekts, durch das sie wahr sind – also die Vorstellungsformen. Fehlen diese dem einzelnen Menschen, so erkennt er nicht mehr. Die Intelligibilia sind also nur für das Individuum vergänglich, schlechthin (simpliciter < * bi-l-iṭlāq) dagegen ewig.83 Damit sind folgende Instanzen an der Erkenntnis beteiligt: (1) der eine und ewige materielle Intellekt, der die Intelligibilia aufnimmt; (2) der eine und ewige aktive Intellekt, der die Intentionen aus den Vorstellungen herauslöst, damit sie den materiellen Intellekt 80 81
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Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 411.707–412.728; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 225–227. Vgl. Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 403.473–404.492; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 205–207. Vgl. dazu etwa Ibn Rušd, Averrois Cordubensis commentum magnum super libro De celo et mundo, S. 369 (II. c. 49): et si [stelle] essent eadem genere, plura essent specie composita ex materia et forma diversa, et si ita essent, generabilia et corruptibilia essent. Vgl. Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 404f.; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 207–209. Hier liegt ein entscheidender Schwachpunkt der Theorie, denn Ibn Rušd muss die Identität annehmen, um eine Verbindung zum Individuum herzustellen, während diese Identität andererseits systematisch widersprüchlich ist. Siehe zu dieser Problematik auch Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 376–384. Zu den „Intentionen“ vgl. Wirmer, Der Begriff der Intention und seine erkenntnistheoretische Funktion in den De anima-Kommentaren des Averroes. Vgl. Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 407.584–604; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 213–215.
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aktuell affizieren („bewegen“) können. (3) Daraus resultiert nun der theoretische Intellekt, der in einer Hinsicht, nämlich für das Individuum, entstanden ist, in anderer Hinsicht, nämlich an sich, dagegen ewig ist.84 (4) Die im menschlichen Vorstellungsvermögen bestehende Bereitschaft, den materiellen Intellekt zu bewegen, muss dann als Potenz zur Erkenntnis bedingt mit zur Sphäre des Intellekts gerechnet werden.85 Ibn Rušd bezieht jetzt Aristoteles’ gelegentliche Erwähnung eines „passiven Intellekts“, der für die Vergänglichkeit unserer Erkenntnis verantwortlich sein soll (De anima 430a23–25), nicht mehr wie noch im Mittleren Kommentar auf den materiellen Intellekt,86 sondern auf das Vorstellungsvermögen; und er wertet diesen Aspekt so auf, dass er ihn ausdrücklich als vierten unter die Bedeutungen von „Intellekt“ aufnimmt und auch außerhalb des Kommentars zu dieser Stelle verwendet.87 Gleichzeitig bemüht er sich, näher zu bestimmen, was nun genau das menschliche Vorstellungsvermögen zu dieser Leistung befähigt und es vom tierischen unterscheidet.88 Klar erkennbar ist der Versuch, im Bereich der Vorstellung die Leistung eines eigenen „kogitativen Vermögens“ herauszustellen, welches als passiver Intellekt die Intentionen für die Einwirkung des aktiven und die Aufnahme durch den materiellen Intellekt vorbereitet. Ebenso deutlich ist jedoch auch, dass diese Überlegungen in den uns erhaltenen Texten noch zu keinem definitiven und kohärenten Erklärungsmodell ausgearbeitet sind.89 Bei näherem Hinsehen zeigt sich nun jedoch, dass in dieser Rekonstruktion der intellektuellen Erkenntnis eine Abhängigkeit der doch ewigen Intelligibilia von vergänglichen Erkenntnisakten einzelner Menschen impliziert ist, die Ibn Rušd auch tatsächlich eigens bedenkt – womit man nunmehr genau an dem Punkt angelangt ist, an dem die bereits bekannte Zwei-Ebenen-Struktur wieder hervortritt. Ibn Rušd bemerkt nämlich sowohl in seinem Großen Kommentar zu De anima als auch in einem kurzen, vermutlich etwa zeitgleich entstandenen Kommentar zu Alexanders De intellectu, dass die Ewigkeit der Intelligibilia von einer Zusatzvoraussetzung abhängt, und zwar der Ewigkeit des Menschengeschlechts.90 Wenn nämlich die Intentionen, die ja immerhin die Form der Intelligibilia ausmachen, nur durch die zugrundeliegenden Vorstellungen der tatsächlich aktuell erkennenden Menschen beigesteuert werden, dann wird es Intelligibilia nur solange geben, wie sie mindestens von einem Menschen gedacht werden. Die Ewigkeit des Menschengeschlechts gehört, ebenso wie die aller anderen Spezies, allerdings zu den aristotelischen Grundannahmen, die Ibn Rušd – ganz wie die meisten falāsifa – teilt und für beweisbar 84 85
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Vgl. Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 406.556–574; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 211–213. Vgl. Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 405.528–406.548; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 209–211; zur Unterscheidung von den Tieren siehe III c. 20, Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis de anima, S. 454.315–320. Ibn Rušd, Middle Commentary on Aristotle’s De anima, S. 116f. no. 298; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 135. Vgl. Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 451.236–452.256 und 409.640f.; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 219. Vgl. III c. 20, Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 449.173–450.188 und 453.301– 454.320. Siehe dazu Wirmer, Der Begriff der Intention, S. 63–65; für eine andere Einschätzung siehe Taylor, Cogitatio, cogitativus and cogitare. Vgl. hierzu und zum folgenden Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 406–408; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 213–217 (insbesondere auch die Anmerkung 113) und den auf S. 363f. übersetzten Auszug aus dem Kommentar zu Alexander. Dort ist nominell zwar über den materiellen Intellekt das gesagt, was im Großen Kommentar vom theoretischen Intellekt und den Intelligibilia behauptet wird, es ist jedoch durchaus klar, dass der aktualisierte materielle Intellekt gemeint ist. Es gibt daher, meiner Auffassung nach, keinen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Texten.
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hält. Doch ist er sich bewusst, dass damit Gewissheit nur über die Ewigkeit der „primären Urteile und einfachen Begriffe“, also die dem einfachen, unausgebildeten Verstand gleichsam von Natur aus zuwachsenden Erkenntnisse, zu erlangen ist. Was die „letzte Vollendung“, also den vollständig aktualisierten theoretischen Intellekt angeht, der die Gesamtheit des wissenschaftlichen Wissens umfasst, so lassen sich für seine Ewigkeit nur Plausibilitätsgründe angeben. Ebenso nämlich wie die verschiedenen handwerklichen Kunstfertigkeiten zu den Beschäftigungen zu gehören scheinen, denen sich zu allen Zeiten irgendeine Klasse von Menschen widmet, so sollte man das auch für die Philosophie annehmen dürfen. Die Philosophie kann damit an der Ewigkeit der Spezies partizipieren und wird gleichsam ein Teil der Naturordnung: „Vielleicht also existiert die Philosophie im größten Teil des Subjekts zu jeder Zeit, wie der Mensch durch den Menschen existiert und das Pferd durch das Pferd. Der theoretische Intellekt ist daher in dieser Weise weder entstehend noch vergänglich.“91
Damit wird nicht nur deutlich, dass die Verortung des theoretischen Intellekts auf der Ebene der Spezies seine Ewigkeit impliziert, sondern zugleich auch, dass diese auf der kontingenten „Fortpflanzung“ der Philosophie, also ihrer Kultivierung durch eine ununterbrochene Traditionskette beruht. Die Intelligibilia bilden daher, wie Ibn Rušd mehrfach schreibt, ein Mittelding zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen, sie sind ewig nach dem Muster der Arten, nicht nach dem Muster der separaten Formen.92 Wenn gilt was oben zum Verhältnis der himmlischen und der sublunaren Welt gesagt wurde, dann bedeutet das, dass die wissenschaftliche Erkenntnis als fester Bestandteil der kosmologischen Ordnung gleichzeitig durch einzelne, kontingente Erkenntnisakte und durch den ewigen Intellekt als Einheit und Intelligibilität gebende Form konstituiert wird. Es bedeutet aber auch, dass die Ewigkeit der Wissenschaft als menschliches Unternehmen akzidentell ist und vielmehr erst von der ontologisch höheren Ebene des einen und ewigen Intellekts her verursacht wird. Doch Ibn Rušd behauptet vom Intellekt mehr als er von den Arten behauptet, eben weil die Erkenntnis primär dem Bereich des Intellekts und nicht der Materie angehört: Während die Art aktuell nur in den Individuen vorliegt und als Allgemeines nur potentiell besteht, ist es beim Intellekt gerade umgekehrt; der Intellekt und die von ihm aufgenommenen Formen sind aktuell und liegen in den Individuen nur potentiell vor.93 3.2 Die Konjunktion mit dem Intellekt als Vollendung des Menschen
Wie entscheidend trotz dieser Ewigkeit und Allgemeinheit der Erkenntnis dennoch bei Ibn Rušd die Individualität des Erkennens bleibt, das zeigt sich an der Lösung, die er im Großen Kommentar für die Frage nach der Möglichkeit der Konjunktion entwickelt und die sich von seinen bisherigen Antworten fundamental unterscheidet. Im Hintergrund steht dabei wie schon in früheren Schriften das Bemühen, einem äußerst schlagkräftigen Argument zu begegnen, das al-Fārābī in seinem heute verlorenen Kommentar zur Nikomachi-
91 92 93
Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 408.620–623; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 217. Vgl. hierzu den Kommentar zu Alexander in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 363. Vgl. erneut den Kommentar zu Alexander in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 363.
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schen Ethik am Konzept der Konjunktion geübt haben soll.94 Laut Ibn Rušds Darstellung hatte al-Fārābī dort die Verbindung des vergänglichen menschlichen Intellekts mit dem ewigen aktiven Intellekt als „Ammenmärchen“ bezeichnet und in Erinnerung gerufen, dass es widersprüchlich sei, anzunehmen, etwas Entstandenes könne ewig werden,95 – also anzunehmen, der menschliche Intellekt könne bloß dadurch, dass er den ewigen Intellekt erkennt, aufgrund der im intelligiblen Bereich geltenden Identität von Erkenntnis und Erkanntem mit diesem Intellekt eins und selbst ewig werden. Dieser Einwand – etwas Entstandenes könne nicht ewig werden – muss Ibn Rušd umso mehr und härter getroffen haben, als sie seiner eigenen Kritik an der Metaphysik Ibn Sīnās entspricht. Dessen Konzeption alles Verursachten, also aller Dinge außer dem Notwendig–Seienden (Gott), als An-sich-Möglichen, welches durch ein anderes notwendig wird, hält Ibn Rušd nämlich immer wieder die Feststellung entgegen, das Mögliche könne nicht notwendig und ewig werden.96 Al-Fārābīs Kritik an der Konjunktion rückt diese in die Nähe der Idee eines kontinuierlichen, aus der ersten Ursache vollständig determinierten Universums, die Ibn Rušd selbst verwirft und an Ibn Sīnā so unplausibel findet, weil sie die Autonomie der Natur als der Welt der Möglichkeit aufhebt.97 Al-Fārābīs Einwand machte Ibn Rušd also in bedrohlicher Weise klar, dass sich die Konjunktion nur rechtfertigen lässt, wenn sie keine Umwandlung der Natur des Menschen voraussetzt und dieser ihre Kontingenz belässt. Al-Fārābīs Kritik an der Konjunktion impliziert nach Ibn Rušds Analyse, dass der aktive Intellekt keinerlei herausgehobene Beziehung zum Menschen unterhält, sondern wie für die übrige sublunare Natur nur als Wirkursache agiert,98 wohl weil er zwar die Intelligibilia bewirkt, selbst aber nicht zu einem Intelligibile für den Menschen und damit zu seiner Form werden kann.99 Ibn Rušds Lösung gegen al-Fārābīs Zweifel lautet daher, der aktive Intellekt müsse die Form des Menschen sein.100 Während sein Bemühen daher zunächst darin bestand zu zeigen, dass der materielle Intellekt sich sehr wohl dadurch vollenden kann und sogar muss, dass er sich mit dem aktiven Intellekt als erkannter Form Über die Aussage von al-Fārābīs Kommentar, die hauptsächlich aus Ibn Rušds kritischen Bemerkungen und einer Ibn Bāǧǧa zugeschriebenen Schrift unsicherer Provenienz bekannt ist, besteht in der Forschung keine Einigkeit. Für eine klassische, knappe Darstellung siehe Davidson, Alfarabi, Avicenna, and Averroes, on Intellect, S. 70– 73; für einen rezenten Rekonstruktionsversuch siehe Vallat, Farabi et l’école d’Alexandrie; vgl. meine Rezension dazu S. 445, Anm. 2. 95 Vgl. etwa Hercz, Drei Abhandlungen über die Conjunction des separaten Intellects, S. 11.12–16; Geoffroy, La béatitude, S. 224 no. 7. Im Großen Kommentar: Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 433.153–165, 485.180–184 und 502.655–660. In der Abhandlung über die Verbindung des abgetrennten Intellekts mit dem Menschen bildet dies Thema gar das Leitmotiv. Zur Kritik an al-Fārābī in dieser Abhandlung siehe die Textabschnitte: Geoffroy, La béatitude, S. 212 nos. 21f., S. 216 nos. 30f. und S. 220f., no. 40. Ausführlicher zu diesem Text siehe dort S. 68–71 und Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 351–356. 96 Tunik-Goldstein, Averroes’ Questions in Physics, S. 33–36 (Question IX), insbesondere S. 33 no. 3 und S. 35 nos. 7f; Ibn Rušd, Kitāb al-kašf, in: Die entscheidende Abhandlung, Übs. Schaerer S. 80f.; Philosophie und Theologie, Ed. Müller, S. 39.7-17. 97 Ibn Rušds Kritik an Avicennas Einteilung des Seienden verdient eine nähere Untersuchung, hier sei nur auf einige Stellen im Tahāfut hingewiesen, an denen sich diese Kritik kristallisiert: Ibn Rušd, Tahāfut at-Tahāfut, S. 111, 199, 246, 395, 417f. Wichtig ist insbesondere der Gedanke (S. 395), dass nicht dieselbe Natur möglich und notwendig sein könne, weil „wirkliche Möglichkeit“ (Kontingenz) der Notwendigkeit entgegengesetzt ist. Eine durch ein anderes notwendig gemachte Natur würde daher deren Wesen aufheben. Was Ibn Rušd mit Blick auf die Himmelskörper zulässt, ist, an einem Seienden verschiedene Naturen zu unterscheiden, denn die Himmelskörper sind seiner Theorie entsprechend der Substanz nach notwendig, ihrer Bewegung nach jedoch möglich. Siehe auch oben Anm. 33. 98 Diese von Ibn Rušd zunächst geteilte Ansicht über die Funktion des aktiven Intellekts in der Natur hat er später aufgegeben (siehe oben Anm. 70). Ob er ihr hier noch zustimmt oder sich nur auf die Philosophie al-Fārābīs bezieht, kann nicht entschieden werden. 99 Vgl. die in Anm. 95 genannten Textstellen. 100 Vgl. dazu auch Taylor, The Agent Intellect as ,form for us‘ and Averroes’s Critique of al-Fārābī. 94
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verbindet, so wendet er sich schließlich im Großen Kommentar zu De anima ganz gegen diese Auffassung der Konjunktion und deutet diese vielmehr so, dass sie in der Vollendung durch den aktiven Intellekt als Wesensform besteht. Das in früheren Schriften im Gefolge Ibn Bāǧǧas in immer neuen Variationen vorgetragene Argument,101 das, wie Ibn Rušd selbst enthüllt, letztlich auf Alexanders von Aphrodisias Schrift De intellectu zurückgeht,102 weist er nun in einer Kritik der Konjunktionstheorie Ibn Bāǧǧas ausführlich zurück.103 Aus Alexanders Schrift über die Seele rekonstruiert er nun seine neue Konzeption der Konjunktion, während er sie zugleich von Alexanders Verständnis des materiellen Intellekts als bloße Aufnahmebereitschaft abkoppelt: Die Konjunktion mit dem aktiven Intellekt ist nicht die Folge der Erkenntnis einer abgetrennten Form, so dass es sich um eine neuentstandene Erkenntnis handelte, sondern die Konjunktion bildet umgekehrt die Ursache, warum wir solche Formen begreifen können.104 Nur auf diesem Wege, nämlich unter der Voraussetzung, dass zuerst der aktive Intellekt sich mit dem „habituellen“ – also dem aktualisierten individuellen – Intellekt als dessen Form verbinde, könne der aktive Intellekt überhaupt unsere Form werden, andernfalls verstoße man notwendig gegen al-Fārābīs Diktum.105 Das bedeutet, dass Ibn Rušd nun davon ausgeht, dass der Intellekt im Gegensatz zu allen anderen Erkenntnisvermögen sich nicht dadurch vollendet, dass er die ihm korrespondierende Form – in diesem Fall den aktiven Intellekt – erkennend aufnimmt. Warum? Eine Antwort ergibt sich aus der irreduziblen (wenn auch akzidentellen) Vergänglichkeit der theoretischen Intelligibilia und infolgedessen des habituellen Intellekts.106 Denn (1) Alexanders Argument in De intellectu, der Intellekt, der Intelligibilia erkennen könne, müsse spätestens bei seiner Vollendung in der Lage sein, den an sich intelligiblen Intellekt zu erkennen, ist nicht schlüssig, weil man höchstens folgern darf, ein solcher Intellekt sei in der Lage, die Intelligibilia vollkommen zu erkennen. Solange jedoch das Erkennen der separaten Formen für diesen Intellekt eine neu entstandene Fähigkeit sei, impliziere dies, dass etwas Entstandenes ewig werde.107 (2) Diese Überlegung trifft allerdings auch das Konkurrenzmodell aus Alexanders Über die Seele, dem Ibn Rušd zu folgen sich anschickt, denn Alexander geht hier– nach Ibn Rušds Rekonstruktion – davon aus, 101 Im
Kompendium: Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 104–110; siehe auch S. 395–401; in der Abhandlung über die Möglichkeit der Konjunktion: Bland, The Epistle on the Possibility of Conjunction with the Active Intellect by Averroes, S. 108–110 (hebr.); teilweise sind andere als die von Bland in den Haupttext aufgenommenen Varianten zu bevorzugen. 102 Geoffroy, La béatitude, S. 214f. no. 28. Eine deutsche Übersetzung der Kernpassage aus De intellectu, die Ibn Rušd hier ebenso wie im Großen Kommentar zitiert (Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 483) und paraphrasiert (S. 488f.), findet sich in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 241, Anm. 17. Zu Ibn Rušds differenzierter Position zu Alexander im Großen Kommentar vgl. auch Geoffroys Ausführungen in Geoffroy, La béatitude, S. 263, Anm. 46, denen sich ein Teil der folgenden Bemerkungen verdankt. 103 Vgl. Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 490–495; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 255–269. 104 So das gegen Ibn Bāǧǧa formulierte Ergebnis: Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 501.623–629; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 281–283. 105 Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 502; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 285. 106 Vgl. dazu Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 499.559–561: Nos autem cum posuerimus intellectum materialem esse eternum et intellecta speculativa esse generabilia et corruptibilia eo modo quo diximus […]; Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 489; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 253: „Außerdem, wie kann man die Tätigkeit, die dem aktiven Intellekt eigentümlich ist und die im Machen von Intelligibilia besteht, einem entstehenden und vergänglichen Intellekt zuschreiben, nämlich dem habituellen? Es sei denn man nimmt an, […] dass die letzte Form für uns, mit der wir die Intelligibilia abstrahieren und erkennen, aus dem habituellen Intellekt und dem wirkenden Intellekt zusammengesetzt ist, […] wie wir glauben, dass es auch aus der Darlegung des Aristoteles hervorgeht.“ 107 Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 489f; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 253– 255.
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dass weder der (vergängliche) materielle noch der habituelle Intellekt den aktiven erkennt, sondern vielmehr der aktive Intellekt sich selbst. Dieser stellt sich nämlich als „erworbener Intellekt“ dann in uns ein, wenn sich unser materieller Intellekt im habituellen vollendet hat. Wie Ibn Rušd bemerkt, zieht dieses Modell jedoch die gleiche Schwierigkeit nach sich, nämlich dass man begründen muss, warum der habituelle Intellekt den aktiven Intellekt nun aufnehmen kann, nachdem er es zuvor nicht konnte. Man käme also nicht umhin, hier eine entstandene Bereitschaft vorauszusetzen, die wiederum unzulässigerweise ewig würde.108 (3) Umgekehrt stellt sich das Problem dar, wenn man annimmt, dass der materielle Intellekt immateriell und ewig ist. Dann folgt zwar zwingend, dass er, wenn er in der Lage ist, die Intelligibilia zu erkennen, auch den an sich intelligiblen Intellekt erkennen können müsste, doch müsste er ihn dann immer erkennen und es bleibt unverständlich, warum wir den aktiven Intellekt nicht sofort erkennen können, sobald wir uns mit dem materiellen Intellekt verbinden.109 So scheidet auch für den ewigen materiellen Intellekt, wie Ibn Rušd ihn im Großen Kommentar nun annimmt, das frühere Verständnis der Konjunktion als einer Vollendung durch die erkannte Form aus. Dagegen adaptiert Ibn Rušd für diesen Fall nun (4) das Modell, das die Konjunktion als Vollendung durch den aktiven Intellekt als Wesensform versteht: Die vorangegangenen Überlegungen über die Natur des materiellen Intellekts hatten ja ergeben, dass die menschlichen Individuen sich nur über die Vorstellungsformen mit ihm verbinden. Man kann also ruhig annehmen, dass der materielle Intellekt den aktiven Intellekt immer erkennt, weil unsere Verbindung mit dem materiellen Intellekt nicht vom gleichen Typ ist, wie sie die beiden ewigen Intellekte untereinander haben.110 Die Verbindung, die menschliche Individuen mit dem aktiven Intellekt herstellen, so überlegt Ibn Rušd, ist nur mittelbarer Art, nämlich sofern der materielle Intellekt sowohl die intelligiblen Formen materieller Dinge aufnimmt, welche auf individuellen Vorstellungen basieren, als auch den aktiven Intellekt.111 Als Modell hierfür dient das durchsichtige Medium, das sowohl das Licht als auch die (weniger lichtvollen) Farben aufnimmt, wobei die Anwesenheit des Lichts zuallererst die tatsächliche Durchsichtigkeit bewirkt und die Farben aktualisiert. Ebenso stellt sich das Verhältnis der Intelligibilia und des aktiven Intellekts im materiellen dar: Der aktive ist im materiellen als dessen Form anwesend und bewirkt gleichzeitig die Abstraktion der Intelligibilia aus den Vorstellungsformen. Aktiver und materieller Intellekt bilden eine Form-Materie-Einheit, die die Intelligibilia gleichzeitig bewirkt und aufnimmt, ebenso wie Feuer Anderes in Brand steckt und sich gleichzeitig davon nährt.112 Nun verbinden sich einzelne Menschen, wie oben gesehen, ja nicht mit dem materiellen Intellekt selbst, sondern nur mit den Intelligibilia, die dieser aufnimmt. Es ist also noch zu zeigen, dass das Form-Materie-Verhältnis auch für die Beziehung des aktiven Intellekts zu den Intelligibilia beziehungsweise zum habituellen Intellekt gilt. Ibn Rušd argumentiert dafür, dass dies im ursprünglichen Sinne von Form und Materie nicht mög108 Vgl.
Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 481–485; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 237–245. Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 488; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 251. 110 Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 486; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 247. 111 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 498f.; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 277, und Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 410f; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 223–225. 112 Vgl. Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 450.213–451.230, übersetzt in Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 343. Meine Interpretation dort suggeriert fälschlich (!) eine zeitliche Reihenfolge zwischen Aufnahme der Intelligibilia und des aktiven Intellekts im materiellen. 109 Ibn
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lich ist, weil sich sonst Ewiges mit Vergänglichem verbinden müsste.113 Jedoch besteht ein solches Verhältnis zwischen habituellem und aktivem Intellekt in dem Sinne, das der letztere in vollendeter Weise das ist, was der erstere in geringerem Maße ist, wobei beide zugleich dasselbe Subjekt (den materiellen Intellekt) haben: „Denn bei allen zwei [Dingen], deren Subjekt eines ist und von denen eines vollkommener ist als das andere, muss sich das Vollkommenere so zum Unvollkommeneren verhalten wie die Form zur Materie.“114
Hier zeigt sich also ein weiteres Mal die pros hen Ontologie und das unauflösbare Zusammenwirken der partikulären, vergänglichen mit der allgemeinen, ewigen Ebene, die sich vielleicht als Siegel der besonderen averroischen Lektüre des aristotelischen Kanons begreifen lassen. Die schrittweise Vollendung des individuellen Intellekts lässt sich nun bei Ibn Rušd als eine zunehmende Verbindung mit dem aktiven Intellekt verstehen: Je mehr theoretische Intelligibilia jemand erworben hat, desto enger ist er mit dem aktiven Intellekt verbunden, der deren Form ist.115 Durch die primären Intelligibilia, die wir aus der Wirkung des aktiven Intellekts erwerben, bringen wir, indem wir sie in den theoretischen Wissenschaften als Prämissen einsetzen, mit der Wirkung des aktiven Intellekts weitere „erworbene“ Intelligibilia hervor.116 Die Erkenntnis des aktiven Intellekts ergibt sich daher, schreibt Ibn Rušd, als Resultat der vollständigen wissenschaftlichen Erkenntnis, nicht etwa als Gegenstand solcher Erkenntnis.117 „Es ist nun offensichtlich, dass sofort wenn diese Bewegung vollendet ist, dieser Intellekt in jeder Hinsicht mit uns verbunden ist. Dann ist auch offensichtlich, dass er sich in jenem Zustand so zu uns verhält, wie sich der habituelle Intellekt zu uns verhält. Und wenn das so ist, dann ist es notwendig, dass der Mensch durch den ihm eigentümlichen Intellekt alle Seienden erkennt und eine ihm eigentümliche Tätigkeit auf alle Seienden ausübt, so wie er durch den habituellen Intellekt, wenn er mit den Vorstellungsformen verbunden ist, alle Seienden in einem eigentümlichen Akt des Begreifens erkennt. Der Mensch gleicht daher, wie Themistios sagt, in dieser Weise Gott darin, dass er in gewisser Weise alle Seienden ist und in gewisser Weise sie [alle] erkennt, denn die Seienden sind nichts anderes als seine Erkenntnis, und die Ursache der Seienden ist nichts anderes als seine Erkenntnis.“118
Der vollkommene Philosoph hat also, so will es Ibn Rušd, tatsächlich am Wissen Gottes teil. Ebenso wie das göttliche Wissen Inbegriff des Seins ist, so ist auch die vollendete menschliche Erkenntnis Wissen „in der Weise einer Wissenschaft, die mit dem Werk der Natur selbst verbunden ist“.119 Der Mensch erreicht in der Konjunktion die „Erkenntnis seines Wesens“, nämlich eben des göttlichen Wesens, von dem der Ausgangstext sprach.
113 Vgl.
Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 495–498; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 271–277. 114 Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 499.571–574; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 279. 115 Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 500; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 279. 116 Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 496f.; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 273. Für die Unterscheidung beider Typen von Intelligibilia siehe auch oben S. 357. 117 Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 501f.; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 283. Das bleibt problematisch, denn es bleibt eine Spannung zwischen der Wissenschaft (menschliche Vollendung) und der Erkenntnis separater Substanzen („göttliche“ Vollendung). Vgl. dazu Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 21– 25. 118 Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis De anima, S. 500.607–501.621; Wirmer, Averroes, Über den Intellekt, S. 281. 119 Siehe oben S. 341.
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13. Ibn Ḫaldūn Rocío Daga Portillo (München) Es mag überraschen, dass ein überblickshaftes Handbuch der islamischen Philosophie des Mittelalters Ibn Ḫaldūn (1332–1406) einen eigenen Absatz widmet. In Europa genießt er seit dem 18. Jahrhundert vor allem als einer der Begründer einer systematischen Geschichtsschreibung und Soziologie große Achtung,1 hat aber vor allem auch das arabische Denken seit gut 150 Jahren stark beeinflusst. „Über ihn wurden mehr arabische Bücher verfasst als über irgendeinen anderen mittelalterlichen Denker.“2 Ibn Ḫaldūns geistesgeschichtliche Bedeutung ist daher so außerordentlich, dass sein Leben und Werk auch in einer Darstellung der mittelalterlichen islamischen Geistesgeschichte aus philosophischer Sicht nicht fehlen sollte, zumal ein genauerer Blick schnell enthüllt, dass er zahlreiche Einsichten der falāsifa in kritischer Rezeption zur wissenschaftlichen Erschließung neuartiger Themengebiete genutzt hat.
1. Leben und Werke3 Aus Ibn Ḫaldūns wechselvollem Leben sind ungewöhnlich viele Daten vorhanden, da er eine Autobiographie verfasste.4 Er wurde am 27. Mai 1332 in Tunesien als Kind einer bedeutenden arabischen Familie aus Sevilla geboren. Wegen der Reconquista hatte die Familie al-Andalus verlassen müssen und sich erst in Ceuta und später in Tunesien angesiedelt. Für das Verständnis von Ibn Ḫaldūns Werk ist dieser historische Kontext wichtig: Denn nach dem Niedergang der Almohaden (1147–1269) herrschten in Nordafrika drei sich ständig bekriegende Dynastien, die Meriniden (1196–1464) im heutigen Marokko, die ʿAbd al-Wadiden (1236–1556) in Westalgerien, sowie in Ostalgerien, Tunesien und Libyen die Ḥafsiden (1228–1574). Ibn Ḫaldūns Familie war den Ḥafṣiden verbunden, doch widmete sich schon sein Vater der Wissenschaft und wurde Rechtsgelehrter. Ibn Ḫaldūn erhielt eine klassische Ausbildung in Koran, Sunna und Jurisprudenz (fiqh), hatte aber auch die Möglichkeit, Philosophie zu studieren, besonders die Werke von Ibn Sīnā (Avicenna), Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī und Ibn Rušd (Averroes). Aber er blieb kein Theoretiker, sondern engagierte sich in der Politik. Dabei zog er von einem Hof zum anderen, von Fez bis Granada, dann nach Kairo, wo er die Chance sah, eine Herrschaft zu finden, die der arabisch-islamischen Zivilisation wieder Einheit und Kraft verleihen könnte. Er war als Rechtsgelehrter an der al-Azhar-Universität und als Richter in Kairo tätig. In Kairo starb er am 16. Mai 1406. Sein für die Rezeptionsgeschichte bedeutendstes Werk Die Einleitung (al-Muqaddima) begann Ibn Ḫaldūn vor der Reise nach Kairo in der Burg Ibn Salāma nahe Oran, wo er die vier Jahre von 1375–1379 verbrachte, und setzte es dann in Tunis und Kairo fort. Im Lichte 1
2 3 4
1697 wurde al-Muqaddima durch Barthélemy d’Herbelot ins Französische, erst 1749 teilweise ins Türkische übersetzt. Die gesamte Universalgeschichte wurde erstmals 1867–1868 in Kairo auf Arabisch gedruckt, nachdem M. de Slane 1847–1851 ein Extrakt davon auf Französisch mit dem Titel Histoire des Berberes et des dynasties musulmanes de l’Afrique septentrionale veröffentlicht hatte. Vgl. H. Saab, Ibn Khaldūn, Encyclopedia of Philosophy, S. 547–549. Für diesen Überblick vgl. Talbi, Ibn Khaldūn. Diese Autobiographie ist enthalten in at-Tanǧī, Taʿrīf.
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Einzelne Denker und Werke
seines Ziels, die Kooperation zwischen Maghreb und Orient zu fördern – sicher als Weg für den Wiederaufbau der Zivilisation des Islam – kann man alle seine politischen Unternehmungen ebenso wie sein Hauptwerk al-Muqaddima betrachten. Diese Einleitung gehört zu seinem Werk Buch der Beispiele (Kitāb al-ʿibar). Dieses Buch der Beispiele ist eine Universalgeschichte mit Schwerpunkt auf der Geschichte Nordafrikas. In der Einleitung stellt Ibn Ḫaldūns Ideen zur richtigen Vorgehensweise in den historischen Wissenschaften dar, auch in Auseinandersetzung mit der Philosophie, und die Einleitung kann in diesem Sinne als eigenes Werk gelesen werden. Das gesamte Buch der Beispiele besteht aus sieben Bänden, wobei die anderen sechs, neben der Einleitung, eine Geschichte der Araber, Perser und Berber enthalten. Weitere wichtige Werke Ibn Ḫaldūns sind die schon erwähnte Autobiographie und ein – möglicherweise pseudonymes – Werk über Mystik, Die Heilung des Suchenden (Šifāʾ assāʾil).
2. Struktur und Ziele der Einleitung 2.1 Die neue Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie
Die Einleitung ist insbesondere durch die hier enthaltene Theorie der Geschichtsschreibung bemerkenswert, die Ibn Ḫaldūn als eine neue Wissenschaft – im Sinne des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs – etablieren möchte. Ihm geht es darum, eine Philosophie der Geschichte beziehungsweise eine Wissenschaft der Zivilisation (ʿumrān) zu schaffen, die Ursache und Wirkung der Entstehung und des Verfalls von Zivilisationen erforscht. Dies ist eine neue Art, die Geschichte zu betrachten, die bis zu dieser Zeit auch im arabisch-islamischen Raum meist in Chroniken niedergelegt wurde. Die neue Wissenschaft verlangt eine neue Methodik, zu deren Begründung Ibn Ḫaldūn auf zahlreiche philosophische Ideen zurückgriff. Die Geschichte ist für Ibn Ḫaldūn nämlich durchaus noch in der Philosophie (ḥikma) als deren Teildisziplin verwurzelt. Die Philosophie ist die gemeinsame Sprache aller Menschen, weil der Mensch ein vernünftiges Wesen ist. Das offenbarte Gesetz dagegen ist nicht allen Menschen gemeinsam, sondern spezifisch für die jeweilige Gemeinschaft. Die Philosophie ist nicht exklusiv für eine bestimmte Gemeinschaft, sondern alle verstehen ihre Prinzipien und Fragen. Aber das Ziel der Philosophie ist reine Theorie, sie verlangt keine Aktion. Es handelt sich dann um eine theoretische Vernunft, die gerade als solche zum Rahmen für die historische Wissenschaft werden kann.5 Konkret begründet Ibn Ḫaldūn seine Methode für die neue Wissenschaft anhand der Philosophie des Aristoteles, die er durch Averroes’ Epitomai kennengelernt hatte. Die Logik, die empirische Beobachtung und die Frage nach Ursache und Wirkung6 im historischen Geschehen führen ihn zu seiner Theorie der zyklischen Entwicklung der Geschichte sowie der Behauptung der Existenz von grundlegenden Gesetzen in der politisch-sozialen Entwicklung der Völker. Diese Gesetze kann und muss man durch die Vernunft entdecken.7
5 6 7
Vgl. Mahdi, Ibn Khaldun’s Philosophy of History, S. 76–83. Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 1, S. 15–16. Von Sivers, Khalifat, Königtum und Verfall.
Ibn Ḫaldūn
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Der Mensch muss hierzu die Ursachen, Gründe und Bedingungen der historischen Abläufe wahrnehmen, da auch dieser Bereich der Wirklichkeit kausal geordnet ist. Aber nicht alle haben hierzu die gleiche Fähigkeit. Zwar ist der Mensch, wie die Philosophen sagen, politisch per naturam.8 Trotzdem sind Denker schon deswegen nur eingeschränkt zur Auffassung der politischen Wirklichkeit in der Lage, weil sie keine Politiker sind, da sie eher denken und nicht handeln.9 Andererseits bezieht sich „politisch“ auf Polis, was in der philosophischen Terminologie nichts anderes bedeutet als Sozialorganisation, wie Ibn Ḫaldūn behauptet. Der Mensch muss daher per naturam in Gesellschaft leben, da er die Kooperation mit den anderen braucht, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Trotz dieser positiven Aufnahme einiger philosophischer Modelle weicht Ibn Ḫaldūn in wichtigen Punkten von der Philosophie ab. Zwar ist auch für ihn, wie schon für die falāsifa seit al-Fārābī und für deren Kritiker al-Ġazālī, die Logik die beste Methode zur Lösung wissenschaftlicher Probleme. Sie hilft, durch Ordnung der Beweise und Argumente die Vernunft zu schärfen und ermöglicht es, das Denken und die Lehren anderer Völker der Welt kennenzulernen. Es gibt jedoch keine unfehlbare Entsprechung zwischen Denken und Wirklichkeit. Der Gegenstand der höchsten philosophischen Disziplin, der Metaphysik, darf kein Objekt philosophisch-logischer Argumentation sein, weil hierin auf rationalem Wege keine Gewissheit erreicht werden kann. Die Vernunft muss daher in diesen Fragen die Autorität des offenbarten Gesetzes bejahen, und die vom Propheten überlieferte Weisheit hat mehr Gewicht als die rationale Erkenntnis. Zudem kann die Logik, insbesondere wenn sie dem offenbarten Gesetz widerspricht, viel Schaden anrichten. Im Gegensatz zur Philosophie beschränkt sich die Theologie laut Ibn Ḫaldūn darauf, die Einheit Gottes zu untersuchen.10 Wer den Ursprung der Dinge wissenschaftlich erforschen will, ist ungläubig, denn die Art und Weise, wie der Ursprung alle Dinge beeinflusst und wie er auf die Wirklichkeit einwirkt, ist unbekannt. Die Einheit Gottes anzuerkennen bedeutet daher auch eine Anerkennung der Unfähigkeit, das Ursprung-Wirkung-Prinzip zu verstehen. „Die Unfähigkeit zur Erkenntnis ist Erkenntnis“, zitiert Ibn Ḫaldūn aus alĠazāli und Ibn al-ʿArabī. 2.3 Offenbarung, Prophetie und Sozialordnung
Trotz dieser Grenzen der Philosophie kann Ibn Ḫaldūn bei seiner Neubegründung der Geschichtswissenschaft in vielerlei Weise auf diese zurückgreifen: Dass der Mensch ein zôon politikon ist übernimmt er, wie gesagt, von Aristoteles11 und schließt daraus, dass ein geordnetes soziales Zusammenleben für den Menschen essentiell ist. Menschliche Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken lassen sich nur durch die Ordnung und Entstehung einer Gemeinschaft und Sozialordnung erfüllen. Nur durch Arbeitsteilung und gegenseitige Kooperation lässt sich der Plan Gottes verwirklichen: die Vervollkommnung der Menschheit. Ibn Ḫaldūn12 vergleicht die Welt mit einem Garten, dessen Zaun die herrschende Dynastie ist, die den Untertanen Frieden gewährt. Aber um den Frieden zu garantieren, braucht sie Söldner, die wiederum Geld kosten, Geld, das die Untertanen bezahlen, um in 8 9 10 11 12
Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 2, S. 417–418. Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 3, S. 308. Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 3, S. 34–54. Aristoteles, Politica I.2.1253a2f. Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 1, S. 81.
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Einzelne Denker und Werke
Gerechtigkeit leben zu können. Trotzdem kann so die Gerechtigkeit erhalten werden. Mit einem anderen Zitat eines zoroastrischen Priesters13 sagt Ibn Ḫaldūn, dass die politische Herrschaft nur durch das religiöse Gesetz die Gerechtigkeit hervorbringen kann, weil es den Gehorsam Gott gegenüber voraussetzt. Aber das religiöse Gesetz bedarf der Unterstützung durch die politische Herrschaft. Hier wird verdeutlicht, wie der Islam aus der persischen Tradition die Idee übernommen hat, dass der Staat (dawla) und die Religion (dīn) beziehungsweise das religiöse Gesetz, Zwillinge sind.14 Die Gesellschaft kann nur geschützt und beherrscht werden, wenn der mächtigste und am besten qualifizierte Mann die Herrschaft übernimmt und die politische Herrschaft (mulk) und den Staat (dawla) konstituiert. Die politische Herrschaft ist von Natur aus notwendig15, weil die Gesellschaft auch eine Notwendigkeit ist, die ohne Herrschaft nicht existieren kann. Die Philosophen, sagt Ibn Ḫaldūn, haben versucht zu beweisen, dass die Prophetie notwendig ist und zur Natur des Menschen gehört. Aber die Notwendigkeit der Prophetie lässt sich seiner Ansicht nach nicht durch die Vernunft beweisen. Die Philosophen versteigen sich zu einem Extrem, wenn sie behaupten, die Menschen bräuchten keine äußerlich abgrenzende Macht (ḥukm al-wāḍiʿ), weil nur Gottes Gesetz notwendig sei. Wenn dieses gelehrt und angenommen werde, brauche man keine äußerlich abgrenzende Macht. Für Ibn Ḫaldūn beruht die Notwendigkeit der Prophetie und des Kalifats auf dem offenbarten Gesetz, der Scharia, und betrifft daher nur die Muslime.16 Daher gibt es seiner Meinung nach durchaus Leben und Existenz ohne Prophetie, aber kein Leben ohne Gemeinschaft und Regierung. Dies gilt auch für die Geltung des religiösen Gesetzes. Während der Zeit Muḥammads und der ersten vier Kalifen herrschte zwar auch nach Ibn Ḫaldūns Ansicht vollkommene Einheit zwischen Prophetie und politischer Macht in der Geschichte der Menschheit, aber im Gegensatz zu anderen Muslimen glaubte er nicht, dass diese Zeit zu wiederholen ist. Vielmehr sind Gruppensolidarität (ʿaṣabīya) und faktische politische Macht erforderlich, um die Religion zu schützen, die insofern den allgemeinen Gesetzen menschlichen Zusammenlebens gehorcht. 2.4 Gruppensolidarität (ʿaṣabīya)
Damit sind wir beim vielleicht charakteristischsten Kernbegriff von Ibn Ḫaldūns Theorie angelangt, der ʿaṣabīya.17 Das Wort wird als Gruppensolidarität, esprit du corps oder group feelings übersetzt. Es handelt sich laut Ibn Ḫaldūn um ein Phänomen in der Naturanlage des Menschen, das einer Gesellschaft Kraft und Macht verleiht. Vielleicht kann man eine gewisse Verwandtschaft mit dem aristotelischen Begriff der Freundschaft (philia) feststellen, wenn man deren universale soziale Bedeutung mit berücksichtigt.18 Ibn Ḫaldūns Begriff der ʿaṣabīya ist bereits vorislamischen Ursprungs und bedeutete dort „die Solidarität innerhalb des Stammes“, making common cause with one’s agnates.19 So liegt nach Ibn Ḫaldūn der Ursprung der Gruppensolidarität der muslimischen Gesellschaft in der Stammesorganisation, weil die Blutsbande, die in der Natur verankert sind, deren stärksten 13 14 15 16 17 18 19
Ebd. Bd. 1, S. 80. Vgl. Lambton, State and Government in Medieval Islam, S. 108. Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 1, S. 291. Ebd., S. 93. Arabischer Text: S. 32. Ebd., S. 264–267 und 289. Aristoteles, Ethica Nicomachea VIII–IX. Rabi, The political Theory, S. 48.
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Faktor darstellen. Die Funktion der ʿaṣabīya ist gegenseitige Hilfe und Schutz, Durchsetzungsmöglichkeit des Gruppeninteresses und Macht gegenüber dem Feind, was die Bereitschaft füreinander zu kämpfen und zu sterben verlangt. Die politische Macht hat deswegen ihre Grundlage in der ʿaṣabīya, weil die stärkste ʿaṣabīya20 die Überlegenheit gegenüber anderen Gruppen gewährleistet. ʿaṣabīya führt daher notwendigerweise zur politischen Herrschaft (mulk). Es gibt drei Formen der Gruppensolidarität in ursprünglichen Gesellschaften, sagt Ibn Ḫaldūn: Blutsbande (ṣilat ar-raḥim), Bündnis (ḥilf) und Klientel (walāʾ).21 Die erste ist die stärkste aller Bindungen, alle anderen Bindungen versehen die Menschen hingegen nicht mit gleichen Rechten und Pflichten. Wenn das Stadium der zivilisierten Gesellschaft erreicht wird, wird die Grundlage für die Gruppensolidarität die Religion, da die Blutsbande durch die Schwächung der Stammgesellschaft nicht mehr die ‘aṣabīya verleihen können. Die Religion ist fähig, eine höhere Gruppensolidarität zu etablieren, weil durch sie Eifersucht und Ehrgeiz überwunden werden.22 Da der Islam die einzige Religion ist, die eine Mission hat, sind beide, Religion und Politik, vereint, sagt Ibn Ḫaldūn. Die Zivilisierung der Gesellschaft und die Verschmelzung mit anderen Völkern23 wie Arabern, Persern und anderen aufgrund von Eroberung haben allerdings die Gruppensolidarität des arabischen Islam und des Kalifen geschwächt und dadurch die Zivilisation zum Verfall geführt, sagt Ibn Ḫaldūn als Zeuge seiner Zeit. Bei dieser Schwächung sieht Ibn Ḫaldūn allgemeine historische Gesetzmäßigkeiten am Werk: Dabei ist davon auszugehen, dass er zwei Typen von Kulturen unterscheidet,24 die primitive der Beduinen (badawī) und die zivilisierte der Stadt (ḥaḍarī). Die Beduinengesellschaft ist Basis und Voraussetzung für die Entstehung der Stadt. Die Beduinen leben unter harten Bedingungen. Sie sind an Verzicht und Opfer gewohnt und bereit, füreinander zu sterben. Die ʿaṣabīya ist bei ihnen stärker als in anderen Kulturen. Die Beduinen sind im Allgemeinen bessere Menschen als die in der Stadt. Ihre Seele empfängt in natürlichem Zustand das Gute auf natürliche Art. Die Menschen in der Stadt dagegen sorgen sich nur um Genuss des Lebens, Erfolg in dieser Welt und ihren Lustgewinn. Sie sind in Faulheit und Luxus25 versunken, handeln gegen ihre eigene Natur, haben keine Selbstbeherrschung, tragen keine Waffen, können sich sowie ihre Frauen und Kinder nicht verteidigen. Letztlich bildet der Luxus den Grund für den Verlust der ʿaṣabīya bei der wohlhabenden Gesellschaft der Stadt, denn er schwächt den Menschen, da er den Wohlstand und Status als etwas Selbstverständliches betrachtet und die notwendige Anstrengung vergisst, die seine Vorfahren geleistet haben, um all das zu erreichen. Wenn dieses Stadium erreicht ist, kommt es zum Verfall der Gesellschaft, und die Macht wird monopolisiert durch eine säkulare Staatsgewalt (mulk), die in diesem Fall das einzige ist, was die Gesellschaft noch vor der Anarchie retten kann. Die materielle Not ist also ein Antriebsmotor der Geschichte: Unter harten Bedingungen steigt die Gruppensolidarität wie bei den Beduinen, während eine günstige Lebenssituation zu deren Schwächung führt. Sowohl die zivilisierte Gesellschaft der Stadt als auch die politische Macht haben demnach ein inhärentes Prinzip der Autodestruktion. Das ist 20 21 22 23 24 25
Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 1, S. 269 und 284–286. Rabi, The political Theory, S. 49. Ebd., S. 50; Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 1, S. 305. Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 1, S. 267. Ebd., S. 252–255, 257 und 286f. Ibn Ḫaldūn widmet der bösartigen Wirkung des Luxus einige Zeilen: Er korrumpiere den Charakter, die Seele lasse das Böse in sich hinein (Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima. Trans. Rosenthal. Bd. 1, S. 340f.).
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die Ursache der sozialen und politischen Evolution in der Geschichte. So kann man eine Abfolge von Dynastien beobachten; aber solange eine Gesellschaft ihre Gruppensolidarität aufrechterhält, dauert auch ihre Überlegenheit an, selbst wenn die politische Macht von einer Dynastie zur anderen weitergegeben wird. Ibn Ḫaldūn sieht fünf Zyklen oder Generationen auf dem Weg von der Entstehung bis zum Verfall einer Dynastie.26 Die erste Generation übernimmt die Macht. Sie kämpft für die Ehre der Familie und besitzt die Tugend der Askese, da sie an die Härte der Wüste gewöhnt ist. Die zweite führt den Kampf um die Macht und grenzt sich ab gegen diejenigen, die ihr geholfen haben. Die dritte Generation etabliert die Macht. Sie kultiviert die Kunst und baut Gebäude. Sie kennt die Eigenschaften des asketischen Lebens durch Studium, Erzählung und Kontakt mit der ersten Generation, aber nicht aus eigener Erfahrung. Insofern ist sie weniger solidarisch und stark als diese. Die vierte kann nur die Vorfahren nachahmen, mangels eigener Erfahrung und unabhängigen Urteils. Die fünfte Generation hat alle Ehre und alles Prestige verloren. Sie verschwendet die Ressourcen des Staates. Die Dynastien dieser Generation meinen, die Staatsgebäude würden ohne Mühe und Tugend erbaut, und glauben, ihnen als Nachkommenschaft stehe alles zu. Selber halten sie sich für überlegen und verlangen Gehorsam von ihren Untertanen. Dies führt mangels Kenntnis der entsprechenden Führungstugenden wie Bescheidenheit und Respekt gegenüber den Untertanen und deren Gruppensolidarität (ʿaṣabīya) zur Rebellion und zum Verfall der Dynastie. Die Herrscher müssen sich von Söldnern helfen lassen, da ihre eigenen Leute ihnen gegenüber nicht mehr loyal sind. Hat einmal eine Gruppe eine Niederlage erlitten, wird sie sich an die Unterwerfung gegenüber dem Feinde gewöhnen und die Gruppensolidarität wird geschwächt. Dann muss man warten, bis eine neue Generation entsteht, die die Erniedrigung der Niederlage nicht erfahren hat, und die Gruppensolidarität wieder aufbaut. Da die Seele in dem Sieger eine Vollkommenheit erkennt, die sie nicht besitzt, fühlt sie sich untergeordnet. Apathie beherrscht die Leute, die die Kontrolle über ihre eigenen Angelegenheiten verloren haben. Sie ahmen daher andere überlegene Nationen nach. Ein Beispiel ist das Verhältnis des muslimischen al-Andalus zu den Christen im Norden Spaniens: Sie haben sich deren Kleidung zu Eigen gemacht und sogar die gleichen Bilder wie die Christen in ihren Häusern aufgehängt. Das gleiche Prinzip findet sogar in Bezug auf die Religion Anwendung: the common people follow the religion of the ruler.27 2.5 Politische Theorie: Kalifat, mulk und šarī ʿa
Ibn Ḫaldūn stellt freilich nicht nur allgemeine historisch-soziologische Überlegungen an, sondern geht besonders auf die Geschichte des Islam und seiner Institutionen ein. Insbesondere der Sinn des Kalifats war dabei ein Thema, das zu seiner Zeit debattiert wurde.28 Seit dem 10. Jahrhundert findet man drei Kalifen: in Baġdād, Kairo und Cordoba. Zum Gegenstand der intellektuellen Diskussion war freilich vor allem das Verhältnis der religiös legitimierten Kalifen zu den rein weltlichen Sultanen geworden. Im 11. Jahrhundert musste al-Māwardī (gestorben 1058) die Tatsache der Existenz von Sultanen durch die Scharia rechtfertigen und so gesetzlich festlegen, dass eine formale Anerkennung des Sultans durch den Kalifen, dem nur eine repräsentative Rolle zustand,
26 27 28
Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 1, S. 353. Ebd., S. 299–300. Lambton, State and Government in Medieval Islam, S. 83–177.
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ausreichte, um die Legitimität der Sultane zu gewähren. Für al-Māwardī war das Kalifat eine Notwendigkeit, deren Ursprung sich in der Offenbarung (šarīʿa) und nicht in der Vernunft fand. Die Anerkennung der de facto-Macht der Sultane, sagt er, liegt in den grundlegenden Prinzipien Notwendigkeit (ḍarūra) und öffentliches Wohl (maṣlaḥa). Ibn Ḫaldūn geht hier noch weiter: Er verteidigt positiv die Rolle der säkularen, faktischen Macht, die er als mulk bezeichnet. Für ihn repräsentiert sie die von der ʿaṣabīya oder Gruppensolidarität erzeugte faktische Macht und kann die Herrschaft (mulk) übernehmen und garantieren. Sie ist keine ewige Macht, sondern Teil eines historischen Zyklus. So wird immer ein Volk kommen, das mit seiner starken ʿaṣabīya die Macht übernimmt. Dies wird durch einen geschichtlichen Überblick weiter verdeutlicht: Die ersten vier Kalifen haben mit einem religiösen Ziel vor Augen nach der šarīʿa gehandelt, weil ihnen die ʿaṣabīya der Religion genügte. Mit der Dynastie der Umayyaden begann die Zeit der weltlichen Herrschaft (mulk), aber immer noch so, dass die Verbindung mit der Scharia gewahrt blieb. Die Scharia als Quelle aller Tugend ist notwendig zur Aufrechterhaltung gerechter Machtausübung,29 obwohl faktische Herrschaft stets den weltlichen Gesetzen unterworfen ist. Insgesamt unterscheidet Ibn Ḫaldūn drei verschiedene Arten von Herrschaft:30 1. Der Herr regiert nach eigenen Normen und Wünschen beziehungsweise Willkür; dies ist Tyrannei. 2. Politische Herrschaft nach der Vernunft. 3. Kalifat. Dies bedeutet eine Herrschaft unter Beachtung der Verwurzelung des Diesseits im Jenseits. Das Kalifat ist die Institution, die Religion und politische Herrschaft in der Welt ausübt. 31 Letztlich kann die Scharia als einzige akzeptable Grundlage des Zusammenlebens in der islamischen Welt nur durch Gruppensolidarität und Schutz der politischen Macht ihre Geltung bewahren. Deswegen muss man jede politische Macht anerkennen, und zwar auch dann, wenn es keinen Kalifen gibt. Die Scharia verurteilt nur die Tyrannei, ansonsten sind viele Formen von Herrschaft akzeptabel.
3. Schlussfolgerung Ibn Ḫaldūns historische Leistung besteht wesentlich darin, auf der Grundlage des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs nach den Ursachen und Wirkungen des historischen Geschehens und der Entstehung der Sozialordnung und des Staates im Kontext seiner eigenen Zivilisation gefragt zu haben. Er übernimmt die Idee des Menschen als zôon politikon von Aristoteles, die al-Fārābī, Ibn Sīnā und Ibn Rušd im islamischen Kulturraum weiterentwickelt hatten. Sie ist eine wichtige Grundlage für die politische Theorie des Ibn Ḫaldūn, die aber – auch aufgrund ihres islamischen Kontexts – einen ganz eigenen Weg geht. Die politische Macht ist nach Ibn Ḫaldūn notwendig. Sie gewährt durch die Anwendung (religiösen) Gesetzes Ordnung und Frieden unter den Menschen. Es gibt keine politische Macht ohne Gruppensolidarität 29 30 31
Ibn Ḫaldūn, al-Muqqaddima (trans. Rosenthal), Bd. 1, S. 292–293; 387. Er bringt hier eine Abhandlung der Tugend, eine Art Spiegel der Fürsten. Ebd., S. 387–388. Ebd., S. 389–390.
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(ʿaṣabīya). Sie ist der Antriebsmotor für politische Veränderung in der Gesellschaft und in der Geschichte. Die Religion ist der Hauptfaktor der Gruppensolidarität in zivilisierten Gesellschaften, aber sie braucht den Schutz der politischen Macht. Ibn Ḫaldūn wahrt auf diese Art die Autonomie der politischen Macht der Religion gegenüber. Aber in einer vollkommenen Gesellschaft müssten sich beide vereinigen, wie es am Anfang des Islam geschah. Ibn Ḫaldūns Leben und Werk sind damit ein bedeutendes Zeugnis des Versuchs, die Kontinuität der arabisch-islamischen Kultur zu bewahren. Die Vereinigung von Politik, Prophetie und Gesetz, die für eine vollkommene Gesellschaft erforderlich ist, beschreibt die Rolle von Religion und religiösem Gesetz in ihrer politischen Bedeutung, als Kohäsionsfaktor und Ergänzung. Obwohl Ibn Ḫaldūn von einer prädestinierten Geschichte ausgeht, kann er die rationalen und empirischen Faktoren im geschichtlichen Geschehen analysieren und mit einer rationalen Methodik erläutern. Er stellt durch Beobachtungen und Analyse fest, dass die Wirkung von materiellen Umständen wie klimatischem Einfluss, wirtschaftlichen Faktoren, Lebensart, Armut oder Luxus, Beziehungen der sozialen Schichten, Machtverhältnissen, psychologischen Bedingungen und Nachahmung der Mächtigen die Gesellschaft determiniert. Damit greift er der modernen Geschichts- und Sozialwissenschaft in vielen Punkten voraus. Jedoch ist Ibn Ḫaldūns Gedankengut in vielen Punkten spezifisch islamisch geprägt. Grundsätzlich hat sich Ibn Ḫaldūn als islamischer Rechtsgelehrter geäußert und eine Apologie der politischen Macht geliefert, um die Krise seiner Zeit zu überwinden. Die Offenbarung und das Gesetz haben ihren Ursprung in der Authentizität und Wahrheit der Prophetie. Die Vernunft und die Philosophie sollen und können der konkreten Anwendung des offenbarten Gesetzes dienen, aber sie werden nicht helfen, die Offenbarung an sich zu verstehen. Philosophie behält aber als Methode für die wissenschaftliche Erforschung der sozialen und politischen Faktoren der Wirklichkeit eine erhebliche Bedeutung.
Ausgaben und Übersetzungen: Eine weitverbreitete arabische Fassung der Einleitung (al-Muqqadima) ist 1968 in Beirut erschienen. Diese Ausgabe ist freilich von den Standards einer kritischen Edition weit entfernt. Oft wird auch heute noch die Edition von E. Quatremère (Paris 1858, diverse Nachdrucke) zitiert. Die anerkannteste moderne Übersetzung der Einleitung stammt von Franz Rosenthal, The Muqaddima. An Introduction to History, Princeton 21967. Die neueste vollständige Übersetzung ist A. Cheddadi, Le Livre des Exemples, Paris 2002. Eine deutsche Auswahlübersetzung der Muqaddima wurde von Mathias Pätzold vorgelegt (Leipzig 1992).
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Bibliographie: Al-Azmeh, Aziz: Ibn Khaldun in Modern Scholarship. A Study in Orientalism. London 1981. Aristoteles: Ethica Nicomachea. Ed. I. Bywater. Oxford 1894. –: Politica. Ed. A. Dreizehnter. München 1970. [EI2 =] The Encyclopaedia of Islam. 2. Auflage. 13 Bände. Leiden 1960–2009. Gabrieli, Francesco: Il concetto della asabiyya nel pensiero storico di Ibn Haldun. In: Atti della Reale Accademia delle Scienze di Torino 65 (1930), S. 473–512. Gibb, Hamilton. A. R.: The Islamic Background of Ibn Khaldun’s Political Theory. In: J. Shaw und W. R. Polk, Studies on the Civilization of Islam, S. 164–175. Ibn Ḫaldūn, Walī ad-Dīn ʿAbd-ar-Raḥmān: al-Muqqadima. Beirut 1968. –: al-Muqqadima. Ed. E. Quatremère. 3 Bände. Paris 1858. –: (al-Muqaddima, frz.)– Le Livre des Exemples. Trans. A. Cheddadi. Paris 2002. –: (al-Muqaddima, engl.) – The Muqaddimah. An introduction to History. Trans. F. Rosenthal, 3 Bände. Princeton 21967. –: (al-Muqqadima, Auswahl, dt.) – Ibn Ḫaldūn, Buch der Beispiele. Die Einführung al-Muqaddima. Übs. M. Pätzold. Leipzig 1992. Rabi, Muhammad Mahmoud: The political Theory of Ibn Khaldun. Leiden 1967. Lambton, Ann K. S.: State and Government in Medieval Islam. London 1981. Lawrence, Berhard: Ibn Khaldun and Islamic Ideology. Leiden1984. Mahdi, Muhsin: Ibn Khaldun’s Philosophy of History. London 1957. Rosenthal, Franz: Ibn Khaldun’s Attitude to the Falasifa. In: al-Andalus 20 (1955), S. 75–89. –: Ibn Khalduns Gedanken über den Staat. In: Historische Zeitschrift, Beiheft 25. München 1932. –: Political Thought in Medieval Islam. Cambridge 1958. –: Politisches Denken im Islam. Die Entwicklung von Averroes bis Ibn Khaldun. In: Saeculum 23 (1972), S. 295–318. –: The Muqaddima. An Introduction to History. Princeton 1980. Saab, H.: Ibn Khaldūn, Encyclopedia of Philosophy. Detroit 22006. Shaw, Stanford J. und Polk, William R. (Ed.): Studies on the Civilization of Islam. London 1962. Talbi, Muḥammad: Ibn Khaldūn. In: EI2. von Sivers, Peter: Khalifat, Königtum und Verfall. München 1968. at-Tanǧī, Muhammad ibn Tāwīt: at-Taʿrīf bi-Ibn Ḫaldūn wa-riḥlatihī ġarban wa-šarqan. Kairo 1951. Zaid, Ahmad: The Epistemology of Ibn Khaldun. London 2003.
III. Die Rezeption der arabischen Philosophie im Westen
Die Überlieferung arabischer Philosophie im lateinischen Westen Dag Nikolaus Hasse (Würzburg) Ab dem 11. Jahrhundert wurden in mehreren großen Übersetzungswellen zahlreiche Werke der arabischen Philosophie ins Lateinische übertragen. Die Übersetzungen begannen in Italien, erreichten einen Höhepunkt im 12. Jahrhundert in Spanien und fanden in Süditalien im 13. Jahrhundert ihre Fortsetzung. In der Renaissance kam es zu einer erneuten Übersetzungswelle. Der Einfluss der arabischen auf die abendländische Philosophie war besonders intensiv in der Hochscholastik des 13. Jahrhunderts, erstreckte sich aber bis ins 16. Jahrhundert. Beim Beurteilen dieses Einflusses gilt es, historisches Augenmaß zu bewahren. Einerseits darf man ihn nicht unterschätzen. Fast alle Teilgebiete der abendländischen Philosophie wurden durch die Rezeption der arabischen Philosophie dauerhaft verändert. Autoren wie al-Fārābī, Avicenna und Averroes haben die Naturphilosophie, Seelenlehre und Metaphysik der Scholastik entscheidend geprägt. Ihr Einfluss auf Logik und Ethik ist geringer, aber ebenfalls spürbar. Allerdings darf die Wirkung der arabischen Philosophie auch nicht übertrieben dargestellt werden. Das philosophische Denken in der lateinischen Welt entwickelte sich vor ca. 1150, beispielsweise bei Anselm von Canterbury und Peter Abaelard, ohne nennenswerten Kontakt zur arabischen Welt. Auch die späteren Scholastiker diskutierten vor allem in der Logik und Ethik, aber gerade seit dem 14. Jahrhundert auch in anderen Disziplinen Probleme, die von arabischen Autoren nicht behandelt worden waren. Der folgende Überblick ist zweigeteilt. Er schildert zunächst den Ablauf der Übersetzung und Übermittlung und thematisiert dann den inhaltlichen Einfluss der arabischen Philosophie. Dies geschieht exemplarisch anhand bedeutender Personen und Werke. Der erste Teil erzählt die Geschichte der epochemachenden arabisch-lateinischen Übersetzungen anhand von vier wichtigen Vermittlern zwischen der islamischen und der christlichen Welt: Constantinus Africanus, Dominicus Gundisalvi, Gerhard von Cremona und Michael Scotus. Eine vollständige Liste aller philosophischen Texte, die aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt wurden, enthält dieser Artikel nicht; dafür sei auf einen Aufsatz von Charles Burnett verwiesen.1 Der zweite Teil erläutert die Rezeption von sechs klassischen und besonders einflussreichen Werken der arabischen Philosophie: des anonymen Liber de causis, al-Fārābīs De scientiis, Avicennas De anima und Metaphysik und Averroes’ Große Kommentare zu De anima und Physik.
1
Burnett, Arabic into Latin. The Reception of Arabic Philosophy into Western Europe, S. 391–400.
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1. Die lateinische Übersetzung und Überlieferung der arabischen Philosophie Die frühesten erhaltenen Übersetzungen wissenschaftlicher Werke aus dem Arabischen entstanden im späten 10. Jahrhundert auf der iberischen Halbinsel. Es handelt sich um kurze Texte über den Astrolab, das wichtigste astronomische Instrument des Mittelalters.2 Philosophisch relevante Texte wurden erstmals im späten 11. Jahrhundert in Italien übersetzt: durch Constantinus Africanus. 1.1 Constantinus Africanus
Constantinus Africanus stammt aus Nordafrika, vielleicht aus Qayrawān (im heutigen Tunesien). In seinen Übersetzungen aus dem Arabischen benutzt er häufig die Schriften einer Gruppe von Medizinern aus Qayrawān, insbesondere der Autoren Isaak Israeli und Ibn al-Ǧazzār. Constantinus siedelt zu einem uns unbekannten Zeitpunkt von Nordafrika nach Süditalien über und bringt dabei vermutlich auch arabische Handschriften nach Europa. Seine Übersetzungstätigkeit ist mit zwei intellektuellen Zentren der damaligen christlichen Welt verbunden: Salerno, Sitz einer sehr aktiven medizinischen Schule, und Montecassino, dem berühmten Benediktinerkloster. Constantinus tritt ganz offensichtlich in Kontakt mit den griechischsprachigen Gemeinden in Süditalien und insbesondere mit den dort aktiven Übersetzern, denn er widmet eine seiner eigenen Übersetzungen (De stomacho) dem Salernitaner Erzbischof Alfanus (gestorben 1085). Alfanus hatte selbst griechisch-lateinische Übersetzungen angefertigt, darunter das vielgelesene Werk von Nemesius Über die Natur des Menschen, unter dem Titel Premnon physicon (Der Stamm der Physik). Nur wenige Daten aus Constantinus’ Leben können als gesichert gelten:3 Er trifft den Fürsten Robert Guiscard 1077 in Salerno und erhält ein Lehen des Grafen Richard von Aversa, bevor dieser 1078 stirbt. Constantinus tritt später, noch vor dem Tod des Abtes Desiderius 1087, in das Kloster Montecassino ein und stirbt dort in hohem Alter vor 1098/9. In der modernen Literatur ist hin und wieder von einem Empfehlungsschreiben für Constantinus die Rede, das Erzbischof Alfanus an den Abt von Montecassino geschrieben haben soll, doch diese Information beruht auf einem Lesefehler.4 Constantinus übersetzt eine ganze Reihe arabischer Texte in das Lateinische. Es handelt sich vor allem um medizinische Texte, die jedoch viel philosophisches Material transportieren. Ein Beispiel ist Qusṭā ibn Lūqās Traktat De physicis ligaturis, in dem die medizinischen und magischen Eigenschaften von Steinen und Amuletten behandelt werden.5 Am einflussreichsten, zumindest in philosophischer Hinsicht, werden die Pantegni, ein medizinisches Kompendium, das Constantinus aus verschiedenen arabischen Quellen übersetzt. Der erste Teil zur theoretischen Medizin basiert auf dem Vollständigen Buch der Medizinischen Kunst des ʿAlī b. al-ʿAbbās al-Maǧūsī; der zweite Teil zur praktischen Medizin ist eine Kompilation verschiedener Texte, unter anderem von Ibn al-Ǧazzār. Die philosophische Weltsicht und Anthropologie, die Elementen-, Qualitäten- und Humores2 3 4 5
Burnett, King Ptolemy and Alchandreus the Philosopher. The Earliest Texts on the Astrolabe and Arabic Astrology at Fleury, Micy and Chartres. Zur Biographie siehe Newton, Constantine the African and Monte Cassino. New Elements and the Text of the Isagoge, S. 16f., und Veit, Das Buch der Fieber des Isaac Israeli und seine Bedeutung im lateinischen Westen, S. 32–52. Burnett, Encounters with Razi the Philosopher: Constantine the African, Petrus Alfonsi and Ramón Martí, S. 976. Wilcox/Riddle, Qusṭā ibn Lūqā’s Physical Ligatures and the Recognition of the Placebo Effect.
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lehre, die das erste Buch der Pantegni bieten, haben einen großen Einfluss auf die lateinische Naturphilosophie des 12. Jahrhunderts ausgeübt. Zu den Autoren, die die Pantegni direkt oder indirekt rezipieren, gehören Wilhelm von Conches, Hermann von Carinthia, Wilhelm von Saint-Thierry und Bernardus Silvestris. Im 12. Jahrhundert werden diese arabischen Lehrstücke häufig im Kontext der Auslegung von Platons Timaios rezipiert.6 Für Constantinus’ Übersetzungstechnik ist es bezeichnend, dass er die arabische Herkunft seiner Schriften zu verbergen versucht. Er nennt niemals den Autor der von ihm übersetzten arabischen Quellen (mit einer Ausnahme: Isaak Israelis Liber febrium), verändert oft den Titel und gibt darüber hinaus seinen Texten durch die Verwendung griechischer Lehnwörter ein gräzisierendes Aussehen.7 Constantinus war vermutlich der aktivste, aber keinesfalls der einzige und auch nicht der erste arabisch-lateinische Übersetzer in Süditalien. Jüngere Forschungen legen nahe, dass schon vor Constantinus’ Eintreffen in Salerno mehrere naturphilosophische Texte aus dem Arabischen übertragen wurden, auch schon mit gräzisierender Tendenz, beispielsweise das Kapitel De elementis aus Nemesios’ Natur des Menschen und der hippokratische Traktat De aere et aquis.8 1.2 Dominicus Gundisalvi
Die arabisch-lateinische Übersetzungsbewegung in Spanien im 12. Jahrhundert ist von deutlich größerem Ausmaß als ihre italienische Vorgängerin. Erste Übersetzungen arabischer Texte gibt es, wie erwähnt, schon im 10. Jahrhundert, aber die eigentliche Welle setzt erst ab ca. 1120 ein, als Johannes von Sevilla, vornehmlich im Norden Portugals, mehr als ein Dutzend Werke der Astrologie und Astronomie übersetzt.9 Andere Übersetzer folgen noch in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: Hugo von Santalla, Robert von Chester, Hermann von Carinthia, Peter von Toledo und Plato von Tivoli. Bemerkenswerterweise sind es nicht philosophische Texte, die zunächst im Fokus der Übersetzer auf der iberischen Halbinsel stehen. Erst als bereits viele astronomische, astrologische, geheimwissenschaftliche, religiöse und mathematische Texte übersetzt worden sind, wenden sich die Übersetzer gezielt philosophischen und medizinischen Werken zu. Die beiden bedeutendsten Übersetzer dieser späteren Phase sind zwei Kleriker in Toledo: Dominicus Gundisalvi und Gerhard von Cremona. Ihre Aktivität fällt bereits in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts. Den Auftakt dieser zweiten Phase der spanischen Übersetzungsbewegung, die im besonderen Maße auf Toledo konzentriert ist, stellt vermutlich ein Brief dar, den der jüdische Übersetzer Avendauth – sicherlich identisch mit dem Gelehrten Abraham ibn Daud – an Raimundus, den Erzbischof von Toledo (gestorben 1152) schreibt. Um den Erzbischof davon zu überzeugen, dass Avicennas philosophische Summe Die Heilung (aš-Šifāʾ) eine Übersetzung in das Lateinische verdiene, schickt er ihm seine Übersetzung einiger Eingangskapitel von Avicennas Werk. Offenbar konnte Avendauth den Erzbischof überzeugen, denn einige Jahre später, zur Zeit des nächsten Erzbischofs Johannes (gestorben 1166), fertigt Avendauth in Zusammenarbeit mit Dominicus Gundisalvi eine Übersetzung 6 7 8 9
Siehe die Einleitung in: Burnett, Hermann of Carinthia: De essentiis/Über die Wesen. Burnett, Humanism and Orientalism in the Translations from Arabic into Latin in the Middle Ages, S. 22–24. Burnett, Physics before the Physics. Early Translations from Arabic of Texts concerning Nature in MSS British Library, Additional 22719 and Cotton Galba E IV, S. 77–80. Burnett, John of Seville and John of Spain.
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von Avicennas De anima (aus aš-Šifāʾ) an. Gundisalvi übersetzt noch einen weiteren Text zusammen mit Avendauth (De medicinis cordialibus). Auch bei anderen Übersetzungen hat Gundisalvi mit einem Helfer zusammengearbeitet: Die Übersetzungen von Ibn Gabirols Fons vitae und al-Ġazālīs Absichten der Philosophen (Maqāṣid al-falāsifa, Summa theorice philosophie) entstehen in Zusammenarbeit mit einem Magister Johannes beziehungsweise Johannes Hispanus, vermutlich dem Archidiakon Johannes, der ebenfalls Mitglied des Domkapitels war.10 Weitere Übersetzungen von Gundisalvi – ohne Angabe von Helfern – sind Avicennas Metaphysik (aus aš-Šifāʾ), al-Fārābīs De scientiis und Pseudo-Avicennas Liber celi et mundi. Ob weitere, bislang anonyme Übersetzungen Gundisalvi zugeschrieben werden können, beispielsweise al-Kindīs De intellectu, al-Fārābīs De intellectu et intellecto und Isaac Israelis De definitionibus, bedarf noch klarer Evidenzen.11 Wer genau war Dominicus Gundisalvi? Avendauth nennt ihn im Vorwort zur De anima Übersetzung Dominicus Archidiaconus. Aus zwei anderen Übersetzungen erfahren wir, dass sein zweiter Name Gundisalvi lautete und er Archidiakon in Toledo war. Die al-ĠazālīÜbersetzung präzisiert: Dominico archidiacono Segobensi apud Toletum, „Dominicus, Archidiakon von Segovia in Toledo“.12 Die Identifikation dieser Person ist möglich, weil sich die verbreiteten spanischen Namen Domingo und Gonzalbo nur selten kombiniert in klerikalen Dokumenten der Zeit finden. Der Übersetzer Dominicus Gundisalvi ist offensichtlich identisch mit dem Archidiakon Domingo Gonzalbo, der in zwei mozarabischen Urkunden der Jahre 1178 und 1181 genannt wird13 und im Jahr 1190 als Dominicus Gonsalvi eine lateinische Urkunde betreffs einer Kirche in Cuéllar zeichnet, einer Stadt der Diözese Segovia.14 Als „Dominicus Archidiakon von Cuéllar“ zeichnet er die Urkunde von 1178 und eine ganze Reihe von lateinischen Urkunden des Domkapitels von Toledo in den Jahren 1162 bis 1181.15 Dominicus Gundisalvi war also Archidiakon der Region von Cuéllar nördlich von Segovia, lebte jedoch als Kanoniker des Domkapitels in Toledo. Die Namensform Gundissalinus erscheint in den Urkunden nicht, sondern ist eine Veränderung des Namens Gundisalvi (für Gonzálvez) beziehungsweise Gundisalvus (für Gonzalbo), die in der späteren Handschriftentradition vorgenommen wurde.16 Gundisalvi hat eine Reihe von eigenen Werken verfasst, in denen er die neu übersetzten Texte ausgiebig benutzt. Sein Liber de anima rezipiert vor allem Avicennas Seelenlehre, ist aber auch von den Form- und Materie-Lehren aus Ibn Gabirols Fons vitae beeinflusst. Gundisalvi richtet seinen Liber de anima an die christlichen Gläubigen in der Absicht, dass sie die Seele „nicht nur mit dem Glauben, sondern auch mit der Vernunft verstehen“ (non iam fide tantum sed etiam ratione comprehendant).17 Gundisalvis neuplatonische Metaphysik der Traktate De processione mundi und De unitate et uno ist wiederum
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13 14 15 16 17
Burnett, John of Seville and John of Spain, S. 63f.; Burnett, Magister Iohannes Hispanus. Towards the Identity of a Toledan Translator. Siehe die Zuordnungsversuche von Alonso, Traducciones del arcediano Domingo Gundisalvo. Die Zuschreibungen der Übersetzungen in den Handschriften lauten „Dominicus Gundisalvi archidiaconus Toleti“ (Avicenna, Metaphysik), „Do. Gundisalvo archidiacono Toletano“ (Pseudo-Avicenna), „Dominico archidiacono Segobensi apud Toletum“ (al-Ġazālī), „Dominico Archidiacono“ (Avicenna, De anima). Alonso, Notas sobre los traductores Domingo Gundisalvo y Juan Hispano, S. 158 und 162. Mansilla, La Documentación pontificia del archivo de la Catedral de Burgos, S. 161. Hernández, Los Cartularios de Toledo. Catalogo documental, S. 129–177. Fidora/Soto Bruna, Gundisalvus o Dominicus Gundisalvi? Algunas observaciones sobre un reciente articulo de Adeline Rucquoi, S. 471. Dominicus Gundisalvi, Liber de anima/Buch über die Seele, S. 31.
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stark von Ibn Gabirol, aber auch von Hermann von Carinthia und Avicenna beeinflusst. Seine Wissenschaftslehre in De divisione philosophiae basiert auf al-Fārābīs De scientiis.18 Gundisalvi hat auf diese Weise eine doppelte Vermittlungsarbeit geleistet: als Übersetzer und Rezipient arabischer Philosophie. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies mit Zustimmung des Erzbischofs von Toledo geschah. In Avendauths Vorwort zur Übersetzung von Avicennas De anima wird die offene Unterstützung von Erzbischof Johannes angesprochen. Vielleicht war diese frühe Toledaner Übersetzung eine Art Startsignal für die Toledaner Übersetzungen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts.19 Es ist auffällig, dass Gundisalvi – im Unterschied zum Beispiel zu Gerhard von Cremona – primär an arabischer Philosophie interessiert ist und nicht an griechischen Autoren, die auf Arabisch überliefert sind. Er übersetzt keine Werke von Aristoteles, stattdessen aber Texte arabischer Autoren: Avicenna,20 al-Fārābī, al-Ġazālī und Ibn Gabirol. Vermutlich geht diese Textauswahl auf Anregungen von jüdischen Gelehrten wie Avendauth zurück. Avendauth selbst benutzt diese arabischen Autoren in seinen eigenen Werken.21 Arabischsprachige Autoren der iberischen Halbinsel scheinen Avicenna weniger intensiv rezipiert zu haben.22 1.3 Gerhard von Cremona
Der bedeutendste aller arabisch-lateinischen Übersetzer ist Gerhard von Cremona, schon aufgrund seiner ungeheuren Produktivität: Mindestens 70 Übersetzungen stammen von ihm, aus den Bereichen Philosophie, Astronomie, Mathematik, Medizin, Alchemie und Weissagung. Über seine Person und seine Übersetzungen sind wir besonders gut informiert, da seine Schüler oder Kollegen (socii) nach seinem Tod im Jahr 1178 eine Liste seiner Übersetzungen einschließlich einer Vita und eines Lobgedichts anfertigen, um seine Leistungen vor dem Vergessen zu bewahren. Gerhard wird 1114 in Cremona geboren, zieht aber später dauerhaft nach Toledo, vielleicht in den späten 1130er Jahren. Der Bericht seiner socii nennt die Motivation: „Aus Liebe zum Almagest [das heißt zu Ptolemäus’ astronomischem Hauptwerk], den er bei den Lateinern nirgends fand, zog er nach Toledo, wo er [...], um übersetzen zu können, die arabische Sprache lernte.“23 Gerhard von Cremona übersetzt in Toledo tatsächlich den Almagest in das Lateinische – mithilfe eines Mozarabers namens Galippus. Gerhards Name wird in drei Urkunden des Domkapitels aus den Jahren 1157, 1174 und 1176 erwähnt.24 Die erste Urkunde bezeugt ausdrücklich, dass er zu den Kanonikern der Kathedrale gehört. Zweimal erhält sein Name den Zusatz dictus magister („der Magister genannt wird“), vermutlich in Anerkennung seiner großen Gelehrsamkeit und nicht als Dozent, denn ein höheres lateinisches Studium gab es im vorwiegend romanisch- und arabischsprachigen Toledo dieser Zeit noch nicht. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass 18 19 20 21 22 23
24
Siehe die Einleitung in: Fidora/Werner, Dominicus Gundissalinus: De divisione philosophiae/Über die Einteilung der Philosophie, S. 11–12. Hasse, The Social Conditions of the Arabic-(Hebrew-)Latin Translation Movements in Medieval Spain and in the Renaissance, S. 81–82. Zu den Avicenna-Übersetzungen siehe Bertolacci, A Community of Translators. The Latin Medieval Versions of Avicenna’s Kitāb al-Shifāʾ (Book of the Cure). Fontaine, In Defence of Judaism. Abraham Ibn Daud. Sources and Structures of ha-Emunah ha-Ramah. Akasoy, Ibn Sīnā in the Arab West. The Testimony of an Andalusian Sufi. Burnett, The Coherence of the Arabic-Latin Translation Program in Toledo in the Twelfth Century, S. 249–288, hier S. 275–276: „Amore tamen Almagesti, quem apud Latinos minime reperit, Toletum perrexit, ubi [...] amore transferendi linguam edidicit Arabicam.“ Hernández, Los Cartularios de Toledo, S. 117, 160 und 168.
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die Unterstützung des Erzbischofs, die Gundisalvi und Gerhard von Cremona für ihre Übersetzungsaktivität erfahren haben, auch darauf abzielte, die lateinische Kultur im christlichen Spanien zu stärken.25 Das eigentliche Zielpublikum der Übersetzungen auf der iberischen Halbinsel befand sich allerdings an den französischen und italienischen Schulen, wie die handschriftliche Überlieferung zeigt. So findet sich auch die früheste Sammlung von Gerhard-Übersetzungen in einer italienischen Handschrift des späten 12. Jahrhunderts.26 Gerhards intellektuelles Profil unterscheidet sich merklich von dem Gundisalvis. Er übersetzt viele Werke griechischer Autoren, die auf Arabisch überliefert sind, unter anderem Aristoteles, Euklid, Archimedes, Ptolemäus und Galen, und sein inhaltliches Interesse geht über den Bereich der Philosophie weit hinaus. Die Liste der socii ordnet seine Übersetzungen in sieben Bereiche: Logik, Mathematik, Astronomie, Philosophie, Medizin, Alchemie und Geomantie. Das Programm für diese geradezu enzyklopädische Übersetzungsleistung ist offenbar von al-Fārābīs Traktat De scientiis angeregt, den Gerhard übersetzt.27 Die westliche Mathematik, Astronomie und Medizin werden durch Gerhards Übersetzungen entscheidend und auf Jahrhunderte hin geprägt. Im Bereich der Philosophie bemüht sich Gerhard besonders um die Übersetzung aristotelischer Schriften: Analytica posteriora, Physik, De caelo, De generatione et corruptione und (in einer Paraphrase des Ibn al-Biṭrīq) Meteora I–III.28 Zu diesen Schriften fügt Gerhard seine Übersetzung des pseudoaristotelischen Liber de causis hinzu, einer neuplatonischen Schrift, die vor allem auf den Elementen der Theologie des Proklos beruht. Gerhard hat diese Schrift offenbar für genuin aristotelisch gehalten (siehe unten Abschnitt 2.1). Das von Gerhard übersetzte arabisch-lateinische Corpus aristotelischer Schriften wurde von Alfred von Shareshill ergänzt, der um 1200 in Toledo ein Buch über Mineralien und eines über Pflanzen übersetzte: Avicennas De congelatione et conglutinatione lapidum (ein Teil von aš-Šifāʾ) und Nikolaus Damascenus’ De plantis. Im Unterschied zu den anderen genannten Schriften, vor allem dem vielgelesenen Liber de causis und Aristoteles’ De caelo und Meteora I–III, fanden Gerhards Übersetzungen der Analytica posteriora, Physik und De generatione et corruptione kaum handschriftliche Verbreitung,29 da sie sehr bald durch Übersetzungen aus dem Griechischen ersetzt wurden. Denn parallel zur arabisch-lateinischen Übersetzungsbewegung in Spanien wurden in Italien im 12. Jahrhundert zahlreiche aristotelische Schriften aus dem Griechischen übersetzt, der Großteil von ihnen durch Jakob von Venedig. Mitte des 13. Jahrhunderts folgten dann die einflussreichen griechisch-lateinischen Aristotelesübersetzungen des Wilhelm von Moerbeke. Gerhard von Cremona übersetzt aber nicht nur Aristoteles, sondern auch griechische Aristoteleskommentatoren wie Alexander von Aphrodisias und Themistios sowie eine Reihe von Texten arabischer Autoren: al-Kindīs De quinque essentiis, De somno und De ratione, al-Fārābīs De scientiis und Distinctio super librum Aristotilis De naturali auditu, einen nicht erhaltenen Traktat al-Fārābīs über den Syllogismus, sowie Isaak Israelis De elementis und De definitionibus. Diese Übersetzungen arabischer Autoren sind auch deshalb bedeutend, weil Gerhard Werke von al-Kindī überträgt, die in der islamischen Welt über viele
25 26 27 28 29
Hasse, The Social Conditions, S. 79–84. Burnett, The Coherence of the Arabic-Latin Translation Program, S. 253–254. So die These von Burnett, The Coherence of the Arabic-Latin Translation Program. Burnett, The Arabo-Latin Aristotle. Vgl. die Übersicht in: Dods, Aristoteles Latinus, S. 74–79.
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Jahrhunderte hinweg kaum Leser fanden, bis sich persische Gelehrte des 17. Jahrhunderts wieder für sie interessierten.30 Dass Gerhard von Cremona, im Unterschied zu Gundisalvi, keinen einzigen Text von Avicenna übersetzt (jedenfalls nach gegenwärtigem Wissensstand), kann auf Absprachen zwischen den beiden Übersetzern zurückzuführen sein. Gemeinsam haben sie jedenfalls die Basis dafür gelegt, dass die arabische Philosophie selbst – und nicht nur auf Arabisch überlieferte griechische Philosophie – auf die Scholastik einen großen Einfluss ausübte. Da beide Übersetzer, anders als Constantinus Africanus, die arabische Herkunft der Texte nicht verschleierten und sich um eine wortgetreue Übersetzung bemühten, wurden die arabischen Philosophen auch tatsächlich als arabische Gesprächspartner der lateinischen Scholastiker erkannt und geschätzt. 1.4 Michael Scotus
Auch im 13. Jahrhundert bricht die Übersetzertätigkeit auf der iberischen Halbinsel nicht ab: Alfred von Shareshill, Mark von Toledo, Michael Scotus, Hermannus Alemannus und Juan Gonzalves de Burgos führen die Tradition des 12. Jahrhunderts fort. Gleichzeitig entsteht aber ein neues Zentrum arabisch-lateinischer Übersetzungen im Herrschaftsgebiet der Hohenstaufen in Sizilien und Süditalien. Dafür gibt es zwei wichtige Gründe: Zum einen zieht der Toledaner Übersetzer Michael Scotus spätestens im Jahr 1220 von Spanien nach Italien und setzt dort seine Übersetzungstätigkeit fort; zum anderen kommen am Hof des wissenschaftlich gebildeten Kaisers Friedrichs II. von Hohenstaufen zahlreiche Gelehrte verschiedener Sprachen und Kulturen zusammen, die sich unter anderem auch um Übersetzungen bemühen, wie beispielsweise Theodor von Antiochien und Jakob Anatoli. Michael Scotus – Kanoniker von Toledo, Hofastrologe Friedrichs II., Magier in spätmittelalterlichen Legenden – ist eine faszinierende Gestalt und einer der bedeutendsten Übersetzer des Mittelalters. Allerdings gelingt es der Forschung erst nach und nach, die offenen Fragen zu Leben und Werk zu klären.31 Michael Scotus stammt offensichtlich aus einer schottischen Familie, doch die ersten bekannten Spuren finden sich in Toledo. Vielleicht verbirgt sich Michael Scotus hinter dem Kürzel M. magister scholarum einer Toledaner Urkunde des Jahres 1208. Fest steht jedenfalls, dass er als Kanoniker den Erzbischof Rodrigo von Toledo im Jahr 1215 zum Laterankonzil nach Rom begleitet. Noch in Spanien vollendet Michael Scotus die Übersetzung von al-Bitrūǧīs De motibus celorum (im Jahr 1217) und der 19 Bücher von Aristoteles’ De animalibus. Im Oktober 1220 ist er in Bologna nachgewiesen, einer Stadt, in der er sich vermutlich häufiger aufgehalten hat; sein Sprachstil jedenfalls ist norditalienisch geprägt. Michael unterhält Beziehungen zum päpstlichen Hof und bekommt in den Jahren 1224 bis 1228 von Papst Honorius II. und Papst Gregor IX. mehrere Pfründen in England und Schottland zugesprochen.32 Die Übersetzung von Averroes’ Großem Kommentar zu De caelo widmet er dem französischen Kleriker Étienne de Provins. Es ist wichtig zu betonen, dass Michael Scotus in Italien offensichtlich in ganz verschiedenen Kontexten arbeitete und keinesfalls nur für Friedrich II. von Hohenstaufen übersetzte. 30 31
32
Vgl. Endress, Al-Kindī: Über die Wiedererinnerung der Seele, S. 175. Zuletzt Burnett, Michael Scot and the Transmission of Scientific Culture from Toledo to Bologna via the Court of Frederick II Hohenstaufen, Hasse, Latin Averroes Translations of the First Half of the Thirteenth Century und Ackermann, Sternstunden am Kaiserhof. Michael Scotus und sein Buch von den Bildern und Zeichen des Himmels, S. 13–61. Burnett, Michael Scot and the Transmission, S. 116.
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Dass Michael allerdings – zumindest zeitweise – zum gelehrten Zirkel um Friedrich II. gehörte, ist unumstritten. Er widmet Friedrich seine Übersetzung von Avicennas Abbreviatio de animalibus (vor 1232) und verfasst mehrere eigene Werke auf Wunsch Kaiser Friedrichs (ad preces domini Frederici Rome imperatoris): das dritte Buch seines Liber introductorius über Physiognomie und den Kommentar zum Tractatus de sphaera des Johannes von Sacrobosco. Er beschreibt sich selbst als astrologus Kaiser Friedrichs II. und erwähnt im Liber introductorius eine Reihe von Vorhersagen, die er für den Kaiser vorgenommen hat. Sein Todesdatum muss vor das Jahr 1236 fallen, da sich Heinrich von Avranches in diesem Jahr in einem Gedicht auf Scotus als Verstorbenen bezieht. Michael Scotus ist also selbst Übersetzer und Verfasser wissenschaftlicher Schriften, ähnlich wie Dominicus Gundisalvi. Sein Hauptwerk Liber introductorius ad astrologiam verwendet erstmals umfassend arabische Theorien der Astrologie, enthält jedoch auch viele nichtastrologische Teile, die sich Fragen der Naturphilosophie, Kosmologie, Musik und Geheimwissenschaften widmen. Bemerkenswerterweise lässt sich bislang nicht nachweisen, dass Michael Scotus im Liber introductorius seine eigenen Übersetzungen benutzt hat – wie dies Gundisalvi getan hatte. Überhaupt ist unklar, welche Teile des komplex überlieferten Liber introductorius Michael Scotus tatsächlich als Autor zugeschrieben werden können.33 Michael Scotus hat nicht nur die vier schon genannten Übersetzungen angefertigt – al-Bitrūǧī, die zoologischen Werke von Aristoteles und Avicenna sowie Averroes’ Großer Kommentar zu De caelo – sondern auch eine Reihe weiterer Aristoteles-Kommentare des Averroes übertragen, wie eine statistische Analyse seines Partikelgebrauchs zeigt.34 Sicher zugeschrieben werden können ihm der Große Kommentar zur Physik, der Große Kommentar zu De anima, der Große Kommentar zur Metaphysik, der Mittlere Kommentar zu De generatione, das Kompendium zu den Parva naturalia und der Traktat De substantia orbis. Vermutlich ebenfalls von Michael Scotus stammt eine Teilübersetzung des Mittleren Kommentars zu De animalibus. Hingegen wurde der Mittlere Kommentar zur Meteorologie, Buch IV, von einem anonymen Übersetzer mit ganz anderem Stil übertragen. Das intellektuelle Profil von Verfasser und Übersetzer passt gut zueinander. Der Übersetzer Michael Scotus war in erster Linie an Naturphilosophie, Kosmologie und Astronomie interessiert (logische und ethische Schriften beispielsweise gehören nicht zu seinen Übersetzungen), genauso wie der Verfasser des Liber introductorius und des Sphaera-Kommentars. Bereits im Laufe der 1220er Jahre werden einige der Averroes-Übersetzungen von Michael Scotus erstmals an der Universität Paris zitiert35 – der Beginn einer sehr erfolgreichen Rezeptionsgeschichte. Schon wenige Jahrzehnte später ist Averroes zum commentator schlechthin avanciert, zum höchst einflussreichen Hilfsmittel bei der Interpretation aristotelischer Schriften und bei der Lösung philosophischer Probleme der peripatetischen Tradition. So hat Michael Scotus’ Übersetzungstätigkeit wesentlich zum Siegeszug von Aristoteles und Averroes an den spätmittelalterlichen Universitäten beigetragen.
33 34 35
Ebd., S. 119; Ackermann, Habent sua fata libelli. Michael Scot and the Transmission of Knowledge between the Courts of Europe. Hasse, Latin Averroes Translations. Gauthier, Notes sur les débuts (1225–1240) du premier ‚Averroisme‘.
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1.5 Nach Michael Scotus
Michael Scotus war sicherlich der bedeutendste, aber nicht der einzige Averroesübersetzer. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts übersetzt Wilhelm von Luna im Umfeld der Hohenstaufen fünf Averroeskommentare zur Logik des Aristoteles, während Hermannus Alemannus in Toledo Averroes’ Kommentare zur Nikomachischen Ethik, Rhetorik und Poetik ins Lateinische überträgt.36 Mit Ausnahme des Poetik-Kommentars haben diese Averroestexte allerdings eine viel geringere Verbreitung als die von Michael Scotus übersetzten. Um etwa 1300 kommt die arabisch-lateinische Übersetzungsbewegung zu einem fast vollständigen Stillstand, der bis ca. 1480 reicht. In den Jahrzehnten um 1500 werden zahlreiche Werke arabischer Philosophie aus dem Hebräischen ins Lateinische übersetzt,37 hauptsächlich von jüdischen Gelehrten in Italien, unter denen Jakob Mantino (gestorben 1549) in Hinblick auf Menge und Qualität der Übersetzungen herausragt. Ein Sonderfall ist Andrea Alpago, der sich lange im Orient aufhält und dort direkt aus dem Arabischen übersetzt. Während Alpago ein besonderes Interesse an Werken Avicennas hat, wird in Italien vor allem Averroes übersetzt. Die Nachfrage nach Averroes-Übersetzungen erklärt sich daraus, dass Averroes um 1500 den Höhepunkt seines Einflusses an den italienischen Universitäten und insbesondere in Padua erreicht. Einige Übersetzungen werden von italienischen Adligen finanziert, die in Padua studiert haben: Giovanni Pico della Mirandola, Domenico Grimani und Ercole Gonzaga.38 Möglich waren diese Übersetzungen auch deshalb, weil im Mittelalter zahlreiche Averroes-Kommentare aus dem Arabischen in das Hebräische übertragen worden waren und jüdische Gelehrte, vor allem Mediziner, wichtige Funktionen in der italienischen Gesellschaft der Renaissance innehatten. Der Einfluss dieser neuen Renaissanceübersetzungen aus dem Arabischen ist noch kaum erforscht. Nachgewiesen werden konnte immerhin, dass die Paduaner Philosophen Pietro Pomponazzi und Agostino Nifo den neu übersetzten De animalibus-Kommentar des Averroes benutzten39 und dass der Große Kommentar zu den Zweiten Analytiken von italienischen Logikern des 16. Jahrhunderts rezipiert wurde.40 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nahm das Interesse an arabischer Philosophie merklich ab. Der letzte Averroes-Druck datiert vom Jahr 1578. Gleichzeitig entwickelt sich das neue akademische Fach der Arabischstudien in Europa, und es kommt zur Gründung der ersten Lehrstühle für Arabistik an den Universitäten von Paris, Leiden, Cambridge und Oxford.41 Die Übersetzungen, die Philologen in den folgenden Jahrhunderten anfertigen, geschehen in der Regel nicht mehr aus inhaltlichem, sondern aus historisch-philologischem Interesse.
36 37
38 39 40 41
Auch diese Zuschreibungen beruhen zum Teil auf statistischen Analysen des Partikelgebrauchs; siehe Hasse, Latin Averroes Translations. Eine Liste der in der Renaissance übersetzten Werke arabischer Philosophie und Wissenschaft findet sich in: Hasse, The Social Conditions, S. 84–86. Zu dieser Übersetzungsbewegung siehe außerdem: Tamani, Traduzioni ebraico-latine di opere filosofiche e scientifiche; Burnett, The Second Revelation of Arabic Philosophy and Science 1492–1575. Hasse, The Social Conditions, S. 75–79. Perfetti, Aristotle’s Zoology and Its Renaissance Commentators (1521–1601), S. 106–109, und Perfetti, Pietro Pomponazzi: Expositio super primo et secundo De partibus animalium, S. XVIIf. Burnett, Revisiting the 1552–1550 and 1562 Aristotle-Averroes Edition. Bobzin, Geschichte der arabischen Philologie in Europa bis zum Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts.
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Die Rezeption der arabischen Philosophie im Westen
2. Die inhaltliche Rezeption der arabischen Philosophie Die folgende Übersicht macht exemplarisch mit der lateinischen Rezeption von sechs besonders einflussreichen Werken der arabischen Philosophie bekannt. Ein solcher Überblick weist notgedrungen Lücken auf. Mancher Leser wird beispielsweise Avicennas Logik und Physik, Averroes’ De substantia orbis und die Großen Kommentare zu De caelo und Metaphysik oder Qusṭā ibn Lūqās De differentia spiritus et anima vermissen. Dieser Nachteil wird dadurch ausgeglichen, dass auf die hier ausgewählten Texte genauer eingegangen werden kann. Für eine nach philosophischen Themen geordnete Darstellung des Einflusses der arabischen Philosophie sei auf den Artikel des Verfassers in der Stanford Encyclopedia of Philosophy verwiesen (auf dem der folgende Überblick teilweise beruht).42 2.1 Liber de causis
Der Liber de causis ist in mindestens 237 lateinischen Handschriften erhalten43 und damit das am weitesten verbreitete Werk arabischer Philosophie in Europa. Es ist das Werk eines anonymen arabischen Philosophen vermutlich des 9. Jahrhunderts, der Ausschnitte der Elemente der Theologie des Neuplatonikers Proklos zu einem eigenen Text zusammenstellt, mit Theorien des Aristoteles, Alexander von Aphrodisias und Plotin verbindet und unter eine monotheistische und kreationistische Perspektive bringt. Im lateinischen Westen wurde der Liber de causis lange Zeit für ein authentisches Werk des Aristoteles gehalten, das im Anschluss an Buch Lambda der Metaphysik ausführlich die separaten Substanzen behandelt. Manche lateinischen Kommentatoren, zum Beispiel Roger Bacon, vermuteten, dass die Eingangsthesen der Kapitel jeweils von Aristoteles, die erläuternden Langtexte von al-Fārābī stammten. Als Wilhelm von Moerbeke im Jahr 1268 Proklos’ Elemente der Theologie aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzte, konnte Thomas von Aquin Proklos als die Hauptquelle des Liber de causis identifizieren und das Werk einem anonymen arabischen Philosophen zuschreiben.44 Der erfolgreichen Rezeption tat diese Entdeckung jedoch keinen Abbruch. Insgesamt entstanden zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert mindestens 27 Liber de causis-Kommentare. Eine erste Phase der Rezeption findet bereits in Toledo kurz nach der Übersetzung durch Gerhard von Cremona statt. Dominicus Gundisalvi gehört zu den ersten Rezipienten des Werkes. In Gundisalvis metaphysischem Traktat De processione mundi wird bereits die Lehre von der creatio mediante intelligentia („Schöpfung vermittels einer Intelligenz“) zitiert: Die menschliche Seele sei nach Ansicht der Philosophen nicht direkt von der ersten Ursache, sondern vermittels von Intelligenzen geschaffen.45 Gundisalvi und auch andere Autoren, wie der anonyme Verfasser der Peregrinatio animae,46 nehmen der Theorie die Schärfe, indem sie die Intelligenzen mit Engeln identifizieren.
42 43 44
45 46
Hasse, Influence of Arabic and Islamic Philosophy on the Latin West. Taylor, The Liber de Causis. A Preliminary List of Extant mss. Thomas von Aquin, Super Librum de Causis Expositio/Darlegung über das Buch über die Ursachen, S. 3: „Et in Graeco quidem invenitur sic traditus liber Procli Platonici, continens CCXI propositiones, qui intitulatur elementatio theologica; in Arabico vero invenitur hic liber qui apud Latinos de causis dicitur, quem constat de Arabico esse translatum et in Graeco penitus non haberi: unde videtur ab aliquo philosophorum Arabum ex praedicto libro Procli excerptus, praesertim quia omnia quae in hoc libro continentur, multo plenius et diffusius continentur in illo.“ Dominicus Gundisalvi, De processione mundi, S. 51: „Ministerio enim angelorum dicunt philosophi ex materia et forma novas cotidie creari animas, caelos etiam moveri.“ Anonymus, Peregrinationes, S. 239–299.
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In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird der Liber de causis immer wieder zitiert. Besonders groß ist das Interesse an der Kausalitätsthematik. Der Traktat erhält nun den Namen Liber de causis; zuvor hatte er unter dem Titel Liber de pura bonitate (nach Arabisch Kitāb fī maḥḍ al-ḫayr) zirkuliert. Ein neues Kapitel der Rezeptionsgeschichte beginnt ab 1240, als in Paris die ersten Kommentare zum Liber de causis geschrieben werden: von Roger Bacon, Pseudo-Heinrich von Gent und Pseudo-Adam von Buckfield. Bemerkenswert an diesen Texten ist der Versuch, die vermittelnde Rolle der Intelligenzen im Schöpfungsvorgang zu reduzieren. Die aristotelisierende Rezeption des Liber de causis zeigt sich unter anderem darin, dass Pseudo-Adam die erste Ursache mit dem unbewegten Beweger des Aristoteles identifiziert.47 Im Jahr 1255 wird der Liber de causis als kanonischer Lehrstoff in die Statuten der Pariser Artistenfakultät aufgenommen.48 Hierin liegt der Hauptgrund für die enorme handschriftliche Verbreitung des Textes. Spätere Liber de causis-Kommentare stammen unter anderem von Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Siger von Brabant und Aegidius Romanus. Als Ergänzung zur Metaphysik des Aristoteles bleibt der Liber de causis ein zentraler Quellentext der Scholastik für die Lehre von der ersten Ursache und den separaten Substanzen, auch wenn die Idee einer vermittelten Schöpfung weiterhin auf viel Ablehnung stößt.49 Die Verurteilung philosophischer Thesen durch den Pariser Bischof im Jahr 1277 listet mehrere anstößige Thesen zu den separaten Substanzen, die vom Liber de causis beeinflusst sind, unter anderem „dass die Intelligenz ihr Sein von Gott durch vermittelnde Intelligenzen erhält“ (Nr. 84: Quod intelligentia recipit esse a deo per intelligentias medias).50 2.2 al-Fārābīs De scientiis
Al-Fārābīs Traktat Über die Aufzählung der Wissenschaften (Iḥṣāʾ al-ʿulūm) wurde zweimal ins Lateinische übersetzt: von Dominicus Gundisalvi in einer abgekürzten Version und von Gerhard von Cremona in einer wörtlichen Fassung. Es ist oben schon gesagt worden, dass al-Fārābīs Traktat höchstwahrscheinlich als eine Art Programmschrift für die Toledaner Übersetzungen von Gundisalvi bis Hermannus Alemannus diente. Sein Traktat war aber auch in anderen Hinsichten einflussreich: Er fungierte als Informationsquelle zu einzelnen Wissenschaften wie der Logik oder der Musik und veränderte die Wissenschaftseinteilungen im Abendland nachhaltig. Al-Fārābī beeinflusst die Diskussion vor allem indirekt durch die umfangreichen Zitate und Entlehnungen, die Dominicus Gundisalvi in seinen eigenen Traktat De divisione philosophiae aufnimmt.51 Dieser Traktat wird von den Verfassern der Einführungsliteratur für die Artes-Studenten des 13. Jahrhunderts viel genutzt; manchmal wird Gundisalvi hier auch unter dem Namen Alpharabius zitiert.52 Ein Beispiel für den Fārābī-Einfluss durch die Vermittlung von Gundisalvi stellt die Wissenschaftseinteilung von Michael Scotus dar. Scotus übernimmt viel Material zu den Einzelwissenschaften aus Gundisalvis Traktat, fügt es aber zu einem neuen Wissenschaftssystem zusammen.53
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Siehe D’Ancona, Recherches sur le Liber de causis, S. 219–221. Denifle/Chatelain, Chartularium Universitatis Parisiensis, Tomus I, S. 277–279 (Nr. 246). Zur Rezeption des Liber de causis siehe D’Ancona, Recherches sur le Liber de causis, S. 195–258, und Fidora/Niederberger, Von Bagdad nach Toledo. Das „Buch der Ursachen“ und seine Rezeption im Mittelalter, S. 205–247. Piché, La condamnation parisienne de 1277, S. 104. Fidora/Werner, Dominicus Gundissalinus: De divisione philosophiae. Über die Einteilung der Philosophie. Lafleur, Quatre introductions à la philosophie au XIIIe siècle, S. 341. Burnett, Vincent of Beauvais, Michael Scot and the ”New Aristotle”.
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Der Einfluss al-Fārābīs auf Gundisalvi zeigt sich unter anderem darin, dass Gundisalvi jede Wissenschaft in theoretischer und praktischer Hinsicht behandelt. Außerdem übernimmt er von al-Fārābī eine ganze Reihe von Theoriestücken, die auch von den erwähnten Studienführern rezipiert werden: die sieben Teile der Grammatik, die acht Teile der Naturphilosophie gemäß der Ordnung der aristotelischen Schriften, und die sieben Teile der Mathematik (Arithmetik, Musik, Geometrie, Optik, Astrologie, Astronomie, Gewichte, technische Instrumente).54 Im Bereich der Logik übernimmt Gundisalvi die Unterteilung in acht Teildisziplinen ausdrücklich von al-Fārābī und folgt damit der arabischen Tradition, die Aristoteles’ Poetik und die Rhetorik zur Logik zählt. Die acht Teile der Logik werden unter anderem von Roger Bacon und in der Divisio scientiarum des Arnulfus Provincialis zitiert. Arnulf fügt die Bemerkung an, dass weder Aristoteles noch der communis usus die Zuordnung der Poetik und Rhetorik zur Logik kennen.55 Gundisalvi unterscheidet wie al-Fārābī zwischen fünf Arten des syllogistischen Schließens; die höchste Form ist die demonstratio, der wissenschaftliche Syllogismus. Auf diese Weise gelangt al-Fārābīs epochemachende Heraushebung der demonstratio als einziges Mittel sicherer Erkenntnis in den lateinischen Westen.56 Insgesamt gesehen wurde die scholastische Welt durch al-Fārābī und Gundisalvi mit einer systematischen Einteilung der Wissenschaften bekannt, die auf dem vollständigen Corpus der aristotelischen Schriften beruhte und eine ganze Reihe von Wissenschaften enthielt, die das Abendland noch nicht kannte. 2.3 Avicennas De anima
Die Toledaner Übersetzer haben Teile von Avicennas großer philosophischer Summe Die Heilung (aš-Šifāʾ) ins Lateinische übersetzt. Besonders weite Verbreitung, nämlich in über 130 Handschriften, fand ein kurzer mineralogischer Abschnitt mit dem lateinischen Titel De congelatione et conglutinatione lapidum, weil er an vielen Universitäten zum Lehrstoff gehörte. Für die Geschichte der Philosophie viel bedeutsamer aber waren Gundisalvis Übersetzungen der großen De anima- und Metaphysik-Abschnitte von aš-Šifāʾ, welche die Seelenlehre und Metaphysik der Hochscholastik nachhaltig prägten. Avicennas Philosophie der Seele verbindet aristotelische, neuplatonische und galenische Traditionen, nämlich einen neuplatonischen Begriff der Seele als einer im Prinzip vom Körper abtrennbaren Substanz mit einer aristotelischen Hierarchie der Seelenvermögen und den gängigen Lehren der Medizin über Hirnventrikel, Nerven und Spiritus. Nach einer frühen Phase der Rezeption von Avicennas De anima unter anderem bei Gundisalvi und Michael Scotus57 dominiert die Schrift von etwa 1220 an die Lehre von den Seelenvermögen an den neugegründeten Universitäten. Selbst Aristoteles’ eigene Schrift De anima, die zeitgleich aus dem Griechischen übersetzt worden war, kann sich zunächst nicht gegen Avicennas Werk durchsetzen. Die Hierarchie der avicennischen Seelenkräfte – drei vegetative Vermögen, fünf äußere und fünf innere Sinne, Bewegungsvermögen, praktischer und theoretischer Intellekt – gibt in der Folgezeit die thematische Struktur vieler lateinischer De anima-Traktate vor, sowohl an der Artisten- wie an der theologischen Fakultät. In vielen Summen und Sentenzenkommentaren der ersten Hälfte des 54 55
56 57
Siehe die Tabellen in Bouyges, VII. Sur le De scientiis d’Alfarabi, S. 65–69. Lafleur, Quatre introductions à la philosophie au XIIIe siècle, S. 342. Siehe auch die Einleitung von Fidora/ Werner, Dominicus Gundissalinus: De divisione philosophiae. Über die Einteilung der Philosophie und Fidora, Politik, Religion und Philosophie in den Wissenschaftseinteilungen der Artisten im 13. Jahrhundert. Fidora/Werner, Dominicus Gundissalinus: De divisione philosophiae. Über die Einteilung der Philosophie, S. 154f. Hasse, Avicenna’s De Anima in the Latin West, S. 13–34.
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13. Jahrhunderts finden sich Kapitel zur divisio potentiarum animae, die stark von Avicenna beeinflusst sind.58 Im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts lässt der Einfluss von Avicennas De anima auf die scholastische Seelenlehre nach. Handbücher und Enzyklopädien jedoch transportieren seine Vermögenspsychologie bis ins 16. Jahrhundert. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf zwei besonders einflussreiche avicennische Theorien: die Lehre von der Urteilskraft (wahm, aestimatio) und die Intellektlehre. Avicennas Theorie der aestimatio, einer Seelenkraft, die sogenannte Intentionen (maʿānī, intentiones) wie Feindseligkeit oder Freundlichkeit in einem begegnenden Objekt wahrnimmt, wird in zahllosen psychologischen Schriften des Mittelalters zitiert.59 Avicenna illustriert seine Theorie mit dem Beispiel des Schafs, das die Intention der Feindseligkeit im Objekt Wolf wahrnimmt and daraufhin urteilt, dass es vor dem Wolf fliehen muss (De anima I.5 und IV.3). Die scholastischen Rezipienten des Lehrstücks sind sich darüber uneinig, in welchen Lebewesen die aestimatio vorhanden ist. Während Avicenna und Albertus Magnus (De anima III.1.2) die aestimatio sowohl den Tieren als auch den Menschen zuschreiben, argumentiert Thomas von Aquin, dass die Menschen anders als die Tiere kein Vermögen der aestimatio, sondern stattdessen eine virtus cogitativa besitzen, die keine instinktive Fähigkeit ist, sondern ein vom Intellekt geleitetes Vermögen (Summa theol. Ia 81.3c). Ein zweites von den Scholastikern diskutiertes Problem betrifft den ontologischen Status der Intentionen. Manche Autoren vertreten im Anschluss an Avicenna die Ansicht, dass die Intentionen im Objekt wahrgenommen werden, so beispielsweise John Blund (Tractatus de anima, Kapitel 19), andere argumentieren im Anschluss an Averroes, dass die Intentionen aus den Wahrnehmungsbildern abstrahiert werden, so zum Beispiel Albertus Magnus (De anima II.4.7) oder Johannes Buridan (Quaest. de anima, II.22). Schließlich wird auch diskutiert, ob das Schaf im genannten Beispiel ein Urteil über den Wolf fällt oder ob der Begriff „Urteil“ auf geistige und sprachlich verfasste Urteile beschränkt werden sollte.60 Avicennas Intellekttheorie war in vielerlei Hinsicht einflussreich in der Scholastik. Seine Unterscheidung zwischen vier verschiedenen menschlichen Intellekten, die verschiedene Potentialitäts- und Aktualitätsstufen im Hinblick auf die Erkenntnis von geistigen Formen darstellen (De anima I.5), prägt die scholastische Intellektterminologie nachhaltig.61 Avicenna versteht, wie al-Fārābī vor ihm und Averroes nach ihm, den aktiven Intellekt der griechischen De anima-Tradition als eine vom Menschen getrennte, kosmologische Instanz: die niedrigste in der Hierarchie der himmlischen Intelligenzen. Die meisten scholastischen Autoren vertreten die Ansicht, dass der aktive wie der potentielle Intellekt Teile der Seele sind, aber einige wenige Autoren, wie Dominicus Gundisalvi und Petrus Hispanus, übernehmen die Idee eines getrennten aktiven Intellekts. Eine Reihe von Scholastikern identifiziert den aktiven Intellekt mit Gott und beruft sich für diese Position auf die Autoritäten Augustinus und Avicenna. Seit den Studien von Étienne Gilson wird diese Position „augustinisme avicennisant“ genannt.62 Adam von Buckfield, Bonaventura und Thomas von Aquin lehnen diese Lehre, die sie ungenannten zeitgenössischen Theologen zuschreiben, mit scharfen Worten ab. Mit philologischen Mitteln lässt sich nachweisen, dass diese Kritik der Identifizierung von aktivem Intellekt und Gott auf eine Gruppe um Jean de la Rochelle (Summa de anima Kapitel 116), die anonymen Verfas58 59 60 61 62
Hasse, Der mutmaßliche arabische Einfluss auf die literarische Form der Universitätsliteratur des 13. Jahrhunderts. Siehe hierzu Hasse, Avicenna’s De Anima in the Latin West, S. 127–153 und Black, Imagination and Estimation. Perler, Intentionality and Action. Medieval Discussions on the Cognitive Capacities of Animals. Hasse, Das Lehrstück von den vier Intellekten in der Scholastik. Von den arabischen Quellen bis zu Albertus Magnus. Gilson, Pourquoi saint Thomas a critiqué saint Augustin, S. 102.
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ser der Summa fratris Alexandri und Vincent von Beauvais zielt.63 Spätere Vertreter des „augustinisme avicennisant“ sind Roger Bacon, John Pecham, Roger Marston und Vital du Four. Andere einflussreiche avicennische Theorien betreffen die philosophische Prophetielehre, die Optik, Tast- und Geruchssinn sowie die Definition der Seele als abgetrennte Substanz, die Avicenna mit dem Beispiel des „Fliegenden Mannes“ erläutert.64 2.4 Avicennas Metaphysik
Viele Jahrhunderte nach der Entstehung von Aristoteles’ Metaphysik verfasst Avicenna das erste metaphysische Werk der peripatetischen Tradition von vergleichbarer Größe und Bedeutung: die Metaphysik (Ilāhīyāt), den vierten Teil von aš-Šifāʾ. Es wird von Dominicus Gundisalvi ins Lateinische übersetzt und noch im 12. Jahrhundert in Gundisalvis eigenen Werken, wenig später dann vom anonymen Liber de causis primis et secundis und Wilhelm von Auvergne rezipiert.65 Der Höhepunkt der Rezeption fällt in die Zeit von Albertus Magnus bis Johannes Duns Scotus, also von circa 1240 bis 1310. Die Handschriftentradition dünnt erst nach 1400 aus: 15 Handschriften sind aus dem 13. Jahrhundert, sieben aus dem 14., drei aus dem 15. erhalten.66 Aber auch in der Renaissancezeit werden avicennische Theorien, beispielsweise zum Gegenstand der Metaphysik und zur Unterscheidung zwischen Sein und Wesen, diskutiert, etwa bei den jesuitischen Autoren Benedictus Pereira, Pedro da Fonseca und Francisco Suárez.67 Die Rezeptionsgeschichte von Avicennas Werk ist komplex und nur in Teilen erforscht, aber es ist immerhin deutlich, dass einige Theorien besonders intensiv rezipiert wurden: die These, dass Gott nicht spezifischer Gegenstand, sondern nur „zu Erforschendes“ (maṭlūb, quaesitum) der Metaphysik sei (Metaph. I.1–2); die Lehre vom Ersterkannten; die Unterscheidung zwischen Sein und Wesen sowie die Lehre von der ersten Ursache als „Notwendig-Seiendes an sich“. Die scholastische Diskussion des Gegenstandes der Metaphysik wird davon beeinflusst, dass Averroes Avicenna widersprochen hatte: Im Großen Kommentar zur Physik (I.83) argumentiert Averroes, dass der spezifische Gegenstand der Metaphysik die separaten Substanzen seien, zu denen Gott gehört.68 Albertus Magnus (Metaph. I.2) und Thomas von Aquin (In Metaph. prooem.) nehmen in der Kontroverse weitgehend die Position Avicennas ein: Gott ist nicht spezifischer Gegenstand, sondern quaesitum, da er Ursache des eigentlichen Gegenstandes der Metaphysik ist, nämlich des Seienden schlechthin. Allerdings argumentiert Thomas von Aquin, im Unterschied zu Avicenna, dass Gott der spezifische Gegenstand einer anderen Wissenschaft sei, nämlich der Theologie (Summa theol. Ia q.1). Die Gegenposition, dass Gott Teil des Gegenstandes der Metaphysik ist, nimmt Heinrich von Gent ein, der die nachfolgende Diskussion stark beeinflusst.69
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Hasse, Avicenna’s De Anima in the Latin West, S. 203–223. Zu diesen Theorien siehe Hasse, Avicenna’s De Anima in the Latin West, S. 80–127 und 154–174. Bertolacci, On the Latin Reception of Avicenna’s Metaphysics before Albertus Magnus. Avicenna, Liber de philosophia prima sive Scientia divina, I–IV, S. 127*. Leinsle, Das Ding und die Methode. Methodische Konstitution und Gegenstand der frühen protestantischen Metaphysik, Kap. II. Allerdings weist Averroes in anderen Werken diese Rolle dem Seienden als Seienden zu; siehe Bertolacci, Avicenna and Averroes on the Proof of God’s Existence and the Subject-Matter of Metaphysics. Pickavé, Heinrich von Gent über Metaphysik als erste Wissenschaft. Studien zu einem Metaphysikentwurf aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts.
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Aus Avicennas Metaphysik übernehmen die Scholastiker auch die Idee des primum cognitum, des ersten Gegenstandes der Erkenntnis.70 Avicenna argumentiert, dass es nicht nur erste, fundamentale Sätze wie das Widerspruchsprinzip, sondern auch erste, fundamentale, selbstevidente Begriffe geben müsse: „das Seiende“, „das Ding“ und „das Notwendige“ (Metaph. I.5). Diese Lehre – die auch die Entwicklung der sogenannten Transzendentalienlehre der Scholastik beeinflusst – wird in ganz verschiedene Richtungen weiterentwickelt. Thomas von Aquin, dessen Ontologie der avicennischen sehr viel verdankt, nicht nur im frühen De ente et essentia-Traktat, übernimmt die Idee eines Erstbegriffes mit der Begründung, dass es nicht nur bei den Sätzen und Beweisen, sondern auch bei den Begriffen und Definitionen keinen endlosen Regress geben dürfe. Thomas von Aquin (In Metaph. IV.6)71 und Johannes Duns Scotus identifizieren den Erstbegriff mit dem Seienden (ens), Guibert von Tournai, Bonaventura und Heinrich von Gent hingegen mit Gott.72 Die Unterscheidung zwischen Seiendem (wuǧūd, ens) und Wesen (māhīya, essentia) ist ein Kernstück von Avicennas Philosophie (Metaph. I.5 und V.1–2), das in ganz unterschiedlichen Sprachen und Kontexten aufgegriffen wurde: von Philosophen und Theologen in den arabischen, hebräischen und lateinischen Kulturen des Mittelalters.73 Avicenna arbeitet mit dieser Unterscheidung in mehreren Bereichen seiner Metaphysik: im Hinblick auf die Erstbegriffe, die erste Ursache und die Universalien. Aus der umfangreichen lateinischen Rezeption dieser Theoriestücke sei hier nur auf die Universaliendebatte eingegangen. Avicennas Grundidee ist es, zwei Komponenten in den Universalien zu unterscheiden: Wesen und Universalität. Das Wesen der „Pferdheit“, um Avicennas Beispiel zu verwenden (Metaph. V.1), ist an sich weder universal noch partikulär. Erst das Sein, das an sich vom Wesen getrennt ist, fügt Universalität oder Partikularität hinzu, je nachdem, ob die „Pferdheit“ im Geist, also universal, oder in der Außenwelt, also partikulär, existiert. Bei vielen Scholastikern fällt diese Idee auf fruchtbaren Boden. Thomas von Aquin übernimmt sie in De ente et essentia (Kapitel IV) unter der Formulierung, dass Universalität und Partikularität nur Akzidenzien des Wesens seien. Auch andere Autoren wie Aegidius Romanus vertreten die reale Unterscheidung von Sein und Wesen. Sie sehen sich aber einer alternativen Position gegenüber, die nur eine mentale Differenz akzeptiert. Heinrich von Gent (Quodlibet I.9 und III.9) entwickelt Avicennas Position weiter, indem er dem Wesen selbst, unabhängig von seiner mentalen oder extra-mentalen Existenz, eine eigene Existenzform zuschreibt, das esse essentiae („wesenhaftes Sein“). Avicennas Begriff von der ersten Ursache, dem einzig Notwendig-Seienden an sich (wāǧib al-wuǧūd, necesse esse), dessen Wesen sein eigenes Sein ist (Metaph. VIII.4), findet sich ebenfalls in vielen Kontexten rezipiert, nicht nur in der lateinischen Welt. So übernehmen eine ganze Reihe von Autoren den Begriff des necesse esse für die erste Ursache, und damit für Gott, so Dominicus Gundisalvi,74 Wilhelm von Auvergne75 und Thomas von Aquin (Summa contra gentiles I.22). Außerdem übernehmen viele Autoren, darunter Tho-
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Aertsen, Avicenna’s Doctrine of the Primary Notions and Its Impact on Medieval Philosophy. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas, S. 146–151. Goris, Die Anfänge der Auseinandersetzung um das Ersterkannte im 13. Jahrhundert. Guibert von Tournai, Bonaventura und Thomas von Aquin. Hasse/Bertolacci, The Arabic, Hebrew and Latin Reception of Avicenna’s Metaphysics. Zur lateinischenTradition siehe Wippel, Essence and Existence. Jolivet, The Arabic Inheritance, S. 138–140. Teske, William of Auvergne’s Debt to Avicenna.
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mas von Aquin (Summa theol. Ia q.2 a.3), Heinrich von Gent und Duns Scotus,76 einen metaphysischen Gottesbeweis, den Moses Maimonides in engem Anschluss an Avicenna im Führer der Unschlüssigen formuliert (Kapitel II.1). Die avicennische Emanationstheorie wird in den ersten Jahrzehnten nach der Übersetzung mit Abänderungen, aber insgesamt zustimmend rezipiert, häufig in Kombination mit Lehren des Liber de causis, zum Beispiel in Gundisalvis De processione mundi und im anonymen Liber de causis primis et secundis (Kapitel 4 und 6). Allerdings sieht die Mehrheit der späteren scholastischen Autoren die Emanationslehre kritisch: Anders als Avicenna behaupte, sei die Erschaffung der Welt durch die erste Ursache kein notwendiger Prozess und werde nicht durch vermittelnde Intelligenzen ausgeführt, argumentiert Thomas von Aquin (Summa contra gentiles II.42). Siger von Brabant ist eine Ausnahme: Er übernimmt in seiner Schrift De necessitate et contingentia causarum zentrale Positionen Avicennas, wenn er aus Gott nur ein einziges Seiendes hervorgehen lässt, nämlich die erste immaterielle Substanz, aus der die anderen Intelligenzen emanieren. Dieser Emanationsvorgang ist, wie bei Avicenna, ewig und notwendig. Doch Siger revidiert seine Position später.77 Dass man in Avicennas Emanationslehre einen unzulässigen Determinismus sah, wird auch in der Verurteilung von 1277 deutlich: Eine ganze Reihe von verurteilten Sätzen betreffen die Emanationslehre und die Vorstellung einer vermittelten Schöpfung (zum Beispiel die Artikel 30, 53, 58, 59, 123). Avicennas Emanationslehre war den Scholastikern wohlbekannt, aber sie wurde sehr kritisch gesehen. 2.5 Averroes’ Großer Kommentar zu De anima
Averroes’ Kommentare zu aristotelischen Werken, besonders die Großen Kommentare zu De anima, Physik, De caelo und Metaphysik, hatten einen enormen Einfluss auf die mittelalterliche Universitätskultur des 13. bis 16. Jahrhunderts. Als das aristotelische Corpus im Jahr 1255 verpflichtende Lektüre für die Pariser Studenten der Artistenfakultät wird – das Startsignal für den Aristotelismus an den europäischen Universitäten –, avancieren auch Averroes’ Kommentare zur universitären Sekundärliteratur schlechthin. Der Einfluss dieser Kommentare erstreckt sich nicht nur auf die Aristoteles-Kommentierung. Averroes wird auch als eigenständiger Philosoph gelesen und zitiert. Die Forschung hat bislang nur die Rezeption des De anima-Kommentars ausführlich untersucht, und auch hier vornehmlich bezogen auf die Intellekttheorie; die Rezeption von Averroes’ Theorien zu den niederen Seelenvermögen ist noch unzureichend erforscht. In der lateinischen Welt ist Averroes in erster Linie wegen seiner These berühmt geworden, dass es nur einen einzigen Intellekt für alle Menschen gebe (Comm. magnum De anima III.5). Die Einheitsthese gehört zu den philosophischen Doktrinen, die in den Jahren 1270 und 1277 in Paris (Artikel 32) und 1489 in Padua von den jeweiligen Bischöfen verurteilt werden. Problematisch ist die These aus theologischer Sicht, weil sie individuelle Belohnung und Bestrafung im Jenseits auszuschließen scheint. Denn nach dem Tod des Körpers sind alle geistigen Seelen eins. Das wichtigste philosophische Argument gegen die Einzigkeitstheorie hatte Averroes selbst vorgebracht: Sie könne nicht erklären, dass die Menschen individuell denken78 – oder in Thomas von Aquins bekannten Worten: hic
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Druart, Avicenna’s Influence on Duns Scotus’ Proof for the Existence of God in the Lectura; Pickavé, Heinrich von Gent über Metaphysik als erste Wissenschaft. Kap. 6. Van Steenberghen, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, S. 360–364. Averroes, Commentarium magnum in Aristotelis De anima libros, S. 393.
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homo singularis intelligit („dieser einzelne Mensch denkt“).79 Averroes und seine Anhänger antworten auf diesen Einwand, dass das individuelle Denken dadurch gesichert sei, dass die geistigen Formen vermittels individueller Vorstellungsformen mit dem einzelnen Menschen verbunden sind. Averroes selbst hat die Einheitsthese nicht in allen seinen psychologischen Werken vertreten. Im Kompendium und im Mittleren Kommentar zu De anima findet sich die These noch nicht. Das hat zur Folge, dass die hebräischen Philosophen des Mittelalters, die hauptsächlich den Mittleren Kommentar rezipieren, ein ganz anderes und insgesamt deutlich positiveres Bild von Averroes’ Philosophie entwickeln.80 Averroes’ Einheitsthese im Großen Kommentar ist doppelt motiviert, epistemologisch und ontologisch. Einerseits möchte Averroes eine Intellekttheorie entwickeln, die wahres Wissen von Allgemeinbegriffen erklären kann, und andererseits Aristoteles’ Forderung gerecht werden (De anima III.4.429a22–25), dass der Intellekt reine Potentialität und nicht mit dem Körper vermischt ist. Dass die Universalität der Erkenntnis und die Immaterialität des Intellekts durch Averroes’ Theorie garantiert wird, macht die philosophische Attraktivität der Einheitsthese auch für die lateinischen Anhänger des Averroes aus. Die Einheitsthese ist die Spitzenthese der Strömung des „Averroismus“, wie die Forschung spätestens seit Ernest Renan sagt, beziehungsweise der secta Averroica, wie es in der Renaissancezeit hieß. Aber auch andere Thesen wurden den Averroistae zugeschrieben: zur Ewigkeit der Welt, zum Begriff der materia prima und zur Glückslehre. Der lateinische Terminus Averroista („Averroist“) wurde bereits im 13. Jahrhundert verwendet, allerdings nur selten. Die älteste bislang bekannte Belegstelle findet sich in Thomas von Aquins Trakat De unitate intellectus, seiner Replik auf die Einheitsthese. Den Titelzusatz contra Averroistas („gegen die Averroisten“) hat dieser Traktat allerdings erst in der späteren Handschriftentradition erhalten. Am häufigsten wird der Ausdruck Averroista in der Hochrenaissance gebraucht.81 In der Forschung ist noch umstritten, wie bedeutend die Strömung des Averroismus im 13. Jahrhundert war.82 Es ist aber offensichtlich, dass sich mindestens vier Gruppen von Denkern ausmachen lassen, die die Einheitsthese in einer ihrer Schriften vertreten: Siger von Brabant und vermutlich einige andere Artes-Magister in Paris in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts; eine zweite Pariser Gruppe im frühen 14. Jahrhundert um Thomas Wilton, Johannes von Jandun und John Baconthorpe; eine Reihe von Magistern der Artes-Fakultät in Bologna im 14. Jahrhundert; und schließlich eine große Gruppe von italienischen Autoren in den Jahrzehnten vor und nach 1500, vor allem in Padua. Siger von Brabant (gestorben vor 1284) und Johannes von Jandun (gestorben 1328) waren, zumindest in den Augen der Renaissancephilosophen, die bekanntesten und einflussreichsten Averroisten des Mittelalters. Siger argumentiert in seinem ersten, sehr averroistischen Werk über die Seele, dass der abgetrennte und ewige Intellekt mit dem Körper nur im Tätigsein verbunden sei und dass die wahre Form des Körpers die wahrnehmende Seele sei (Quaest. in tertium de anima, bes. Qu. 3 und 9). Unter dem Einfluss von Thomas von Aquin und Anderen hat Siger diese These später wieder revidiert. Für Johannes von Jandun ist die intellektive Seele, die an sich einzig und abgetrennt ist, im Körper tätig und mit dem Körper vermittels der Vorstellungsformen verbunden.83 Spätere Au79 80 81 82 83
Thomas von Aquin, De unitate intellectus, Kap. III.61, S. 134. Siehe Einleitung und Nachwort (David Wirmer) in Ibn Rušd (Averroes), Über den Intellekt. Zum Gebrauch des Wortes Averroista siehe Hasse, Averroica secta. Notes on the Formation of Averroist Movements in Fourteenth-Century Bologna and Renaissance Italy. Imbach, L’avorroïsme latin au XIIIe siècle. Brenet, Transferts du sujet. La noétique d’Averroès selon Jean de Jandun.
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toren haben Siger von Brabant und Johannes von Jandun so interpretiert, dass sie konträre Positionen vertraten: In Sigers Theorie könne der einzige Intellekt mit dem Körper als Form vereinigt werden, in Johannes von Janduns Theorie sei das unmöglich. Ein weiterer einflussreicher Averroist – für einige sogar der princeps Averroistarum – ist John Baconthorpe (gestorben um 1348). Er entwickelt die Theorie der sogenannten „doppelten Verbindung“ (copulatio bifaria) zwischen dem Intellekt und der körperlichen Vorstellungsform, nämlich einer epistemologischen und einer ontologischen. Die ontologische Verbindung setzt voraus, dass sich der einzige Intellekt mit dem Menschen so verbindet, dass der Intellekt zu einem menschlichen Seelenvermögen wird.84 Besonders selbstbewusste und bekennende Averroisten der Renaissancezeit waren Nicoletto Vernia (gestorben 1499) und Luca Prassicio (gestorben 1533).85 In der Zeit um 1500 erreicht der Averrroismus als Strömung, soweit wir ihn als Historiker fassen können, seinen Höhepunkt. Dafür gibt es mehrere Anhaltspunkte: die häufige Verwendung des Ausdrucks Averroista; die große Zahl an Autoren, die in einem ihrer Werke die Einheitsthese vertreten; die Entstehung von Superkommentaren zu Averroes’ Kommentaren und schließlich die Tatsache, dass die Auslegung von Averroes’ philosophischer Position selbst zum Gegenstand von Kontroversen wird (z. B. zwischen Nifo, Trombetta, Zimara, Pomponazzi und Prassicio).86 Im Laufe des 16. Jahrhunderts verschwindet die Einheitsthese nach und nach aus der philosophischen Diskussion. Einer der letzten Vertreter ist Antonio Bernardi im Jahr 1562. Die These wird durch andere Erklärungen der menschlichen Erkenntnis von Allgemeinbegriffen abgelöst, die innerhalb der Gesamtströmung des Aristotelismus populär werden (zum Beispiel bei den Aristotelikern Philipp Melanchthon, Jacopo Zabarella und Francisco Suarez).87 2.6 Averroes’ Großer Kommentar zur Physik
Averroes’ Großer Kommentar zur Physik des Aristoteles ist der längste unter den im 13. Jahrhundert übersetzten Aristoteles-Kommentaren. Er hat nicht nur die Auslegung der Physik, sondern auch die naturphilosophische und naturwissenschaftliche Diskussion des späten Mittelalters nachhaltig beeinflusst und geprägt – allerdings ist der AverroesEinfluss bislang nur in Ansätzen erforscht. Ohne Zweifel gehen auf Averroes viele Problemstellungen der scholastischen Physik zurück, selbst dann, wenn seine eigene Position nicht übernommen wird. Auf vier Themen sei etwas genauer eingegangen: die Projektionsbewegung, den ontologischen Status der Zeit, den Ort der Himmelssphäre und die Ewigkeit der Welt. „Projektionsbewegung“ meint eine Form der gewaltsamen Bewegung, bei der das Bewegte vom Bewegenden getrennt wird, wie zum Beispiel bei einem geworfenen Stein oder einem fliegenden Pfeil. Da Aristoteles nur Berührungskausalität anerkennt, argumentiert er, dass der unmittelbare Beweger des geworfenen Steins das Medium, also die Luft ist. Im 6. Jahrhundert schlägt Johannes Philoponos vor, dass die Bewegungskraft nicht dem Medium, sondern dem geworfenen Körper mitgeteilt wird, und begründet damit die Tradition der später so genannten „Impetustheorie“. Averroes bietet im Großen 84 85 86 87
Etzwiler, Baconthorp and the Latin Averroism. The Doctrine of the Unique Intellect, S. 266–269. Hasse, The Attraction of Averroism in the Renaissance: Vernia, Achillini, Prassicio. Hasse, Averroica secta; Martin, Rethinking Renaissance Averroism; Akasoy/Giglioni, Renaissance Averroism and its Aftermath: Arabic Philosophy in Early Modern Europe. Hasse, Aufstieg und Niedergang des Averroismus in der Renaissance: Niccolò Tignosi, Agostino Nifo, Francesco Vimercato.
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Kommentar zur Physik (VIII.10 und VIII.82) eine Erklärung der Projektionsbewegung, die auf der besonderen Natur der Media basiert. Die flüssigen Media, also Luft und Wasser, sind von einer solchen Flexibilität, dass sie sich nicht als Ganze bewegen, sondern sukzessiv in ihren Teilen. Die Bewegung eines solchen Mediums gleicht der einer Welle, sodass das Wurfgeschoss wie ein Boot auf einer Welle fortbewegt wird. Albertus Magnus und Thomas von Aquin übernehmen zentrale Teile von Averroes’ Theorie. Andere, wie Franciscus de Marchia, setzen sich ausführlich mit Averroes auseinander, lehnen seine Theorie aber ab und favorisieren eine Form der Impetustheorie.88 Im 15. und 16. Jahrhundert setzt sich die Impetustheorie schließlich durch.89 Aristoteles hatte die Zeit definiert als die Zahl der sukzessiven Bewegung (Physik 219b1–2) und argumentiert, dass es keine Zeit gebe ohne eine des Zählens fähige Seele. Averroes knüpft an diese Theorie an und bestimmt den ontologischen Status der Zeit genauer: Bewegung existiert in der extramentalen Welt, Zeit hingegen nur innerhalb der Seele, da die Zeit durch das Zählen des Früher und Später der Bewegung in der Seele entsteht. Zeit und Bewegung unterscheiden sich daher nicht real, sondern nur im Hinblick auf die zählende Seele (Comm. magnum Phys. IV.109 und IV.131). Diese reduktionistische Position wird beispielsweise von Wilhelm von Ockham im Physik-Kommentar übernommen (Expositio in Phys. IV.27.4). Averroes’ Position erfährt in der Scholastik allerdings auch häufig Kritik. Viele Physik-Kommentatoren des 13. Jahrhunderts, unter ihnen Roger Bacon und Albertus Magnus, vertreten die reale Unterscheidung von Zeit und Bewegung in der extramentalen Welt.90 Ein vieldiskutiertes Problem der peripatetischen Physik-Tradition betrifft den Ort der Himmelssphäre. Aristoteles definiert „Ort“ als die unbewegliche innerste Grenze dessen, was einen Körper umfasst (Physik 212a20–21). Die äußerste Himmelssphäre aber ist selbst beweglich und wird von nichts umgeben – hat sie dann überhaupt einen Ort? Averroes’ Großer Kommentar zur Physik widmet diesem Problem eine eigene digressio (IV.43 und 45), in der Averroes nicht nur seine eigene Lösung, sondern auch die vieler anderer Philosophen vorstellt: Alexander von Aphrodisias, Themistios, Johannes Philoponos, al-Fārābī, Avicenna und Avempace. Diese Darstellung des Problems prägt die scholastische Diskussion nachhaltig.91 Averroes selbst argumentiert, dass die Himmelssphäre auf akzidentelle Weise an einem festen Ort ist, nämlich insofern sie um ein Zentrum kreist, das essentiell an einem festen Ort ist: die Erde. Averroes’ Lösung wurde von vielen Scholastikern übernommen, beispielsweise von Albertus Magnus, Johannes von Jandun und Wilhelm von Ockham. Widerstand gegen diese populäre Lösung der Frage kam unter anderem von einer Reihe englischer Physik-Kommentatoren, die kritisierten, dass Averroes’ Lösung die ontologische Priorität der Erde vor dem Himmel impliziere.92 Die Ewigkeit der Welt ist eine spezifisch griechische Theorie, die eine prominente Stelle in der Philosophie des Aristoteles einnimmt und für die christlichen Denker des Mittelalters eine besondere Herausforderung darstellte. Die Ewigkeit der Welt und verwandte Thesen wurden 1270 und 1277 in Paris als unvereinbar mit der Schöpfungslehre 88 89 90 91 92
Wood, The Influence of Arabic Aristotelianism on Scholastic Natural Philosophy. Projectile Motion, the Place of the Universe, and Elemental Composition, S. 248–255. Zur mittelalterlichen Diskussion der Impetustheorie siehe die grundlegende Studie Maier, Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturwissenschaft. Das Problem der intensiven Größe. Die Impetustheorie. Trifogli, Change, Time and Place, S. 272–275. Dazu siehe Trifogli, Oxford Physics in the Thirteenth Century (ca. 1250–1270). Motion, Infinity, Place and Time, S. 186–202, und Wood, The Influence of Arabic Aristotelianism on Scholastic Natural Philosophy, S. 255–259. Trifogli, Oxford Physics in the Thirteenth Century (ca. 1250–1270), S. 196–197.
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verurteilt (Artikel 87, 90, 99, 184 der Verurteilung von 1277). Averroes übernimmt Aristoteles’ Ewigkeitsthese und verbindet sie mit der Idee eines Gottes als unbewegtem Beweger, dessen Existenz in der Disziplin der Physik bewiesen wird. Für die Scholastiker wird Averroes dadurch zum Hauptvertreter der Ewigkeitsposition. Aegidius Romanus attackiert in seinem Traktat Errores philosophorum Averroes sogar dafür, dass er „noch hartnäckiger und ausfälliger als der Philosoph [das heißt Aristoteles] diejenigen angreift, die sagen, dass die Welt einen Anfang habe“.93 Der Große Kommentar zur Physik ist für die Diskussion eine wichtige Quelle, weil er viele Argumente für die Ewigkeitsposition liefert. Ein gutes Beispiel für diese Art der Rezeption ist Thomas von Aquins Sentenzenkommentar (II, d.1 q.1 a.5). Thomas von Aquin zitiert Averroes’ Argumente: dass es immer einen anderen Augenblick vor einem Augenblick gebe; dass nur Bewegung der Grund eines Wechsels von Ruhe zu Bewegung sein könne; dass der Wille Gottes veränderlich wäre, wenn die Entscheidung zur Schöpfung von Gott neu gefasst würde (Comm. magnum Phys. VIII.8–9, 11,15). Siger von Brabant (De aeternitate mundi; Quaest. in tertium De anima q. 2) und Boethius von Dacien (De aeternitate mundi) kommen Averroes’ Position besonders nahe. Sie argumentieren, dass der Naturphilosoph die Ewigkeitsthese für bewiesen halten muss, dass der Metaphysiker aber die Frage nicht argumentativ entscheiden kann. Die Argumente für diese Positionen beziehen Siger und Boethius hauptsächlich aus Averroes’ Kommentaren. Auch in dieser für das Selbstverständnis des Abendlandes so zentralen Frage spielen die arabischen Quellen eine entscheidende Rolle.94
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93 94
Aegidius Romanus, Errores philosophorum/Irrtümer der Philosophen, S. 15f.: „Cum maiori pertinacia et magis ironice locutus est contra ponentes mundum incepisse quam Philosophus fexerit.“ Für Ratschläge und Kritik danke ich Katrin Fischer.
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as Handbuch »Islamische Philosophie im Mittelalter« präsentiert in einer umfassenden Gesamtdarstellung eine der faszinierendsten Epochen der Geschichte des Denkens. Renommierte internationale Fachleute führen sowohl in die Theorien und Argumente der bedeutendsten islamischen Philosophen als auch in ihre Biographien ein. Überblicksartikel behandeln die Geschichte der islamischen Philosophie, ihre historischen Rahmenbedingungen und die Geschichte ihrer Rezeption im Westen. Dabei treten nicht zuletzt auch die philosophisch-rationalen Wurzeln deutlich hervor, die die arabische Kultur mit der europäischen bis heute verbinden. »Gut lesbar und höchst kenntnisreich werden einzelne Denker und ihre Werke vorgestellt. ... ein absolutes Muss für jede Bibliothek, ein Standardwerk auf dem Weg zu einem Verständnis unserer globalen Welt.« kunstundbuecher.at
Prof. Dr. Heidrun Eichner ist Inhaberin des Lehrstuhls Islamwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Prof. Dr. Matthias Perkams ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Antike und mittelalterliche Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Christian Schäfer ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie I an der Universität Bamberg.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26885-6
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Islamische Philosophie im Mittelalter
21.09.2017
Eichner/Perkams/ Schäfer (Hrsg.)
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Heidrun Eichner/Matthias Perkams/Christian Schäfer (Hrsg.)
Islamische Philosophie im Mittelalter Ein Handbuch