Leben im Mittelalter: Ein Lexikon 389678336X, 9783896783363

Von Aberglaube bis Zunft: Mit diesem Lexikon bietet Roland Pauler einen strukturierten Zugang zum Alltag im Mittelalter.

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German Pages 224 [226] Year 2007

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Table of contents :
Cover
Vorwort
A
Aberglaube
Abfall
Abgaben
Ablass
Acht
Adel
Allmende
Amulett
B
Badehaus
Bader
Bankenwesen
Bann
Bauern
Begräbnis
Beherbergung
Beichtbriefe
Bergbau
Bettler
Bier
Bildung und Wissen
Buße
Büttel
D
Dämon
Dorf
E
Ehe
Ehre
Eid / Schwur / Gelübde
Ernährung
Exkommunikation
Exorzismus
F
Fachwerk
Familie
Fasten
Fehde
Femegerichte
Feuerschutz
Folter
Freizeit und Vergnügen
Friedhof
Frischluft
G
Garnherstellung / Spinnen
Garten
Gastrecht
Gebetsverbrüderung
Geburtshilfe
Geißler
Geldkapitalzins
Gesandte
Geschenk
Gesellschaft und Stand
Gewaltbereitschaft
Gewürze
Gift
Gilde
Glas
Gottesurteil
Grausamkeit
Greisenalter
Grundherrschaft
H
Haare
Heilige
Heilkunde und Medizin
Hexerei
Hofämter
Hospital
Hunger
I
Interdikt
Investitur
J
Jenseitsvorstellungen
Juden
K
Kartografie und Weltbild
Ketzer
Kinder
Kleidung
Körperpflege
L
Landsknecht
Landwirtschaft
Lehen
M
Markt
Maßeinheiten
Mensch und Tier
Ministeriale
Minne
Mönch und Mönchtum
Musik / Musikinstrumente
N
Nachrichtenübermittlung
Notar
Notar
Notzucht
O
Öffentlichkeit
P
Papier
Pest
Post
Prostitution
R
Randgruppen
Recht und Rechtspflege
Regal
Reisekönigtum
Reisen
Religion und Glauben
Reliquie
Ritter
S
Schamgefühl
Schmerz
Schule
Schwarzarbeit
Seelsorge
Seife
Sexualität und Moral
Sieben Freie Künste
Siegel
Spielleute
Stadt
T
Tischsitten
Tod
Turnier
U
Unfreiheit
Universität
V
Verkehrswege
Verlagssystem
Versicherungen
Vorratshaltung
W
Wald
Wappen
Wasserversorgung
Wechselbrief
Wein
Wergeld
Wirtschaft und Handel
Wunder
Z
Zahlungsmittel
Zahnpflege
Zehnt
Zeit
Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus
Zunft
Bibliografie
Abkürzungsverzeichnis
Sachregister
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Leben im Mittelalter: Ein Lexikon
 389678336X, 9783896783363

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Leben im Mittelalter

Roland Pauler

Leben im Mittelalter Ein Lexikon

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2007 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandmotiv: Einzug der Isabeau de Bavière in Paris, französische Buchmalerei um 1400. Aus: J. Froissart, Chroniques d’Angleterre. Ms. Harley 4379, fol. 3 Foto: akg-images Redaktion: Leonie Treber, Darmstadt Gestaltung und Satz: Johannes Steil – www.brotschrift.de Printed in Germany www.primusverlag.de isbn: 978-3-89678-336-3

Vorwort Als mich die Anfrage des Primus Verlages erreichte, ob ich nicht Lust hätte, ein Mittelalterlexikon für interessierte Nicht-Fachleute zu schreiben, das sich von den derzeit auf dem Markt befindlichen grundlegend unterscheide, rannte die Verlagslektorin, Frau Gamm, bei mir offene Türen ein, denn in den letzten Jahren hatte ich für mich die Freuden der Alltagsgeschichte entdeckt und festgestellt, dass ich damit Menschen aller Altersgruppen und jeden Bildungsstandes in Bann ziehen konnte. Die Beschäftigung mit mittelalterlicher Alltagsgeschichte ist nämlich vergleichbar mit einer Reise in ferne, exotische Länder, in denen alles ganz anders ist, aber doch irgendwie an die Gegenwart bzw. Heimat erinnert, deren Sosein man nach einer derartigen ‚Reise‘ ebenso wie das eigene Ich bewusster wahrnimmt. Ganz ähnlich hat übrigens schon Culuccio Salutati, der Florentiner Staatskanzler, um die Wende zum 15. Jh. gedacht, wie man im Essay Bildung und Wissen nachlesen kann. Während eines Seminars, in dem die Studenten unter meiner Anleitung Stoff für einen (immer noch nicht abgeschlossenen) historischen Roman sammelten, wurde hin und wieder der Wunsch nach einem handlichen Lexikon zur mittelalterlichen Alltagsgeschichte laut. Ein solches gab es tatsächlich noch nicht, obwohl die letzten Jahrzehnte uns eine ganze Reihe von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Büchern und Aufsätzen zur Alltagsgeschichte beschert haben. Schon damals empfand ich ein solches Lexikon als Desiderat, doch auf die Idee, es selbst zu schreiben, hat mich erst Frau Gamm gebracht, die den Fortgang des Buches mit kritischem Interesse und gar mancher Aufmunterung begleitet hat, wofür ich ihr von Herzen danke. Ebenso gilt mein Dank Frau Leonie Treber, für das sorgfältige Korrigieren des Textes. Sie hat gar manche sprachliche Verirrung bereinigt und mich auf diverse Gedankensprünge hingewiesen, die zu Missverständnissen hätten führen können. Ein Unterschied zu einem herkömmlichen Lexikon besteht darin, dass ich größere Themenkomplexe in Form von Essays abhandle, um die sich einschlägige Artikel gruppieren: Bildung und Wissen, Freizeit und Vergnügen, Gesellschaft und Stand, Heilkunde und Medizin, Mensch und Tier, Recht und Rechtspflege, Religion und Glaube, Sexualität und Moral, Wirtschaft und Handel, Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus. Aus diesem thematischen Rahmen fällt das Mönchtum heraus, dem ich einen Essay ge-

VORWORT

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VORWORT

6 widmet habe, weil es das Mittelalter auf vielfältigste Weise geprägt hat. Das Ineinandergreifen von Artikeln und Essays soll das Buch kurzweiliger machen und das Verständnis für mittelalterliches Alltagsleben befördern. Der Kurzweil dienen auch die zeitgenössische Quellen, die ich immer wieder in den Text eingestreut habe, denn wer könnte besser den Zeitgeist widerspiegeln als die Zeitgenossen selbst. Bleibt noch die Frage nach dem Zeitrahmen, die beim Thema Alltag gar nicht so leicht zu beantworten ist, denn gar manche Gewohnheiten, Einrichtungen und Denkschemata haben sich aus dem Mittelalter (MA) bis weit in die Neuzeit (NZ), ja bis in die Gegenwart hinein erhalten, man denke nur an das Plumpsklo und den Badezuber für das Samstagsbad der gesamten Familie, die auf dem Lande noch in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s verbreitet waren. Ich übernehme den landläufigen Begriff von MA, der als abschätzige Epochenbezeichnung schon von den Humanisten als Bezeichnung für die Zwischenzeit zwischen Antike und NZ geschaffen wurde. Verbreitung fand er durch die „Historia tripartita“ (dreigeteilte Geschichte) des Schulmeisters Christoph Cellarius (†1707). Es sind zahlreiche Eckdaten für den Beginn dieser Epoche genannt worden, angefangen mit dem Toleranzedikt Kaiser Konstantins d. Gr. 313 bis zur Landung der Araber in Spanien 711, und ebenso viele für ihr Ende, darunter Erfindung des Buchdrucks um 1440 durch Gutenberg, die Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus 1492 oder Luthers Thesenanschlag in Wittenberg von 1517. Ausschlaggebend für die Wahl war stets ein besonderes Interesse des jeweiligen Historikers für einen ‚Entwicklungsstrang‘ der Geschichte, also Veränderungen in der Wirtschaft, des religiösen Umfelds, der Technik etc. In vielen Bereichen, z. B. in der Wirtschaft, waren Italien und Frankreich Deutschland weit voraus. Hat deswegen dort die NZ früher begonnen? Mittlerweile verzichtet man auf solche Epochendaten und nimmt ganz pragmatisch das Jahrtausend von 500 bis 1500 für das MA in Anspruch, wohl wissend, dass dies ebenso eine Hilfskonstruktion ist wie die Unterteilung in Frühmittelalter (bis ca. 1000), Hochmittelalter (bis Mitte 13. Jh.) und Spätmittelalter (bis ins 16. Jh.), zumal den Gedanken der ‚Zwischenzeit‘ Francesco Petrarca im 14. Jahrhundert aufgebracht hat (Bildung und Wissen).

Technischer Hinweis: Kursiv gesetzte Wörter verweisen auf einen eigenen Eintrag.

7 Aberglaube A. ist der Glaube an Kräfte, die Geschehnisse hervorrufen, welche den gewohnten Erfahrungen und bekannten Naturgesetzen widersprechen. Der Begriffsinhalt ist nicht genau festgelegt, sondern stets durch den religiösen oder wissenschaftlichen Standpunkt der Person bestimmt, die eine von der eigenen Position abweichende als A. beurteilt. Das Phänomen des A.ns ist derart weit verbreitet, dass allein schon das 1927– 1942 zusammengestellte Lexikon des deutschen A.ns zehn Bände mit insgesamt rund 17.000 Spalten umfasst, doch findet sich A. weltweit in allen ‚primitiven‘ Kulturen. Er entspringt der menschlichen Urangst vor Bedrohung durch Götter und Dämonen sowie der Hoffnung auf Rettung durch überirdische Mächte, die man sich durch rituelle Handlungen gewogen machen kann. Mittelalterliche Theologen haben nicht mit Kritik am überbordenden A.n gegeizt. Thomas von Aquin († 1274) definierte A. als die ausschweifende Verkehrung der Tugend der Gottesverehrung, des Kultes, Glaubens, Gehorsams und der Ehrerbietung durch Götzendienst. Trotz des Bewusstseins der Überlegenheit der wahren Religion gegenüber heidnischem A.n hat die Christianisierung kaum dazu beigetragen, diesen einzuschränken, vielmehr hat die christliche Lehre ihn mit neuen Inhalten ‚bereichert‘ und ist selbst durch abergläubisches Denken verändert worden:

Aberglaube Auch die wahrste Religion wird nun mal nicht von einem rational denkenden Gott, sondern vom Menschen gemäß seinen Bedürfnissen gestaltet. Erst die Fähigkeit des Menschen, natürliches Geschehen rational zu erklären, dämmte den A.n ein, denn nicht mehr der zürnende oder schimpfende Gott wird verantwortlich gemacht für Sintfluten oder Tornados, sondern menschliche Umweltsünden. Abfall Ein Dauerproblem der Städte war schon im MA der A., zumal die Bürger jegliches Verantwortungsbewusstsein für die Reinlichkeit der eigenen Stadt schmerzlich vermissen ließen. Sie entsorgten ihren A. einschließlich des Nachttopfinhalts bedenkenlos auf der Straße vor dem Haus, wo er sich mit den Fäkalien der Pferde, streunenden Hunde, Schweine, Hühner und sonstigen Haustiere zu einem höchst anrüchigen Amalgam vermischte, das allenfalls anlässlich hoher Besuche abgetragen wurde, denn die Sauberkeit gehörte ebenso zu Ehre und Ruhm einer Stadt wie repräsentative Gebäude. So schaufelten z. B. zwölf Stadtknechte und etliche „Mistdirnen“ drei Tage lang den Marktplatz frei, als sich 1451 der berühmte Prediger Johannes Kapistran in Dresden angekündigt hatte. Dabei ist zu bedenken, dass das Ortszentrum noch am reinlichsten war, weil dort die vornehmeren Bürger und der hohe Klerus

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Abgaben wohnten. In den ‚Slums‘ am Stadtrand waren die Verhältnisse noch viel schauerlicher. Insbesondere bei Regen wären die Straßen für Fußgänger kaum passierbar gewesen, hätten findige Stadtverwalter nicht Bretterstege oder in Schrittlänge aufgestellte Steine verlegen lassen. Die Leute schnallten sich zur Schonung ihrer Schuhe Holzgestelle unter die Schuhe, die so genannten „Trippen“, die an der Sohle zwei absatzartige Erhöhungen aufwiesen, so dass man trockenen und sauberen Schuhs durch den Schlamm ‚trippeln‘ konnte. Kam es zu Säuberungsaktionen, kippte man den Unrat meist in den nächstgelegenen Bach oder Fluss, vor die Stadtmauer oder auch auf den Friedhof. Eine höchst originelle Entsorgungsmethode fanden 1333 die Straßburger: Sie füllten Fässer mit Unrat und katapultierten die stinkende Brühe mit Wurfmaschinen in eine von der Stadt belagerte Burg, deren Insassen daran fast ‚erstanken‘. Flüsse und Bäche wurden zur letzten ‚Ruhestätte‘ für die Abfälle der Handwerksbetriebe – Färbereien eröffneten allen Verboten zum Trotz die unselige Tradition der Einleitung von ‚Giftmüll‘. Zahlreich sind die Verbote der Wasserverschmutzung und ebenso zahlreich ihre nutzlosen Wiederholungen.Gesundheitsgefährdende Folgen dieses nachlässigen Umgangs mit Abfällen waren durchaus bekannt, wurden aber billigend in Kauf genommen. Im Jahr 1498 verbot die Ulmer Stadtre-

8 gierung, dass Abwässer aus den Düngergruben in die Gassen geleitet wurden. Erst im 16. Jh. liegen die Anfänge einer planmäßigen Kanalisation der Abwässer. Oftmalige Verbote, Mist und Unrat auf die Straße zu kippen, zeugen von der Erfolglosigkeit der Magistrate, diese durchzusetzen. In einigen Städten wurde schließlich die Haltung von Schweinen, Kühen, Ziegen und Schafen überhaupt verboten, weil der Mist früher oder später doch auf der Straße landete und der Gestank unerträglich wurde. Die ursprüngliche Bürgerpflicht zur Beseitigung des Unrats wurde seit dem späten 14. Jh. mancherorts durch die Verantwortlichkeit des Rates ergänzt, der Maßnahmen zur Reinhaltung der Straßen ergriff. So wurden in Köln schon 1353 des Nachts Unrat und Mist mit „Schaiffelkarren“ von den Straßen weggeschafft und in bestimmten Teilen des Stadtgrabens abgeladen, während in Nürnberg noch 1490 ein einzelner Knecht verendete Tiere von der Straße einsammelte und im Fluss entsorgte. Abgaben Das MA kannte im Gegensatz zum modernen Staat keine normierten A. für jedermann nach seinem Einkommen. Das Abgabenwesen kann deshalb nur ausschnittsweise vorgestellt werden. Auf dem Lande schuldeten Bauern ihrem Grundherrn einerseits Grundzins für die Überlassung des Bodens, der teils

9 in Geld, teils zu festgelegten Zeiten in Naturalien gezahlt wurde. Andererseits schuldeten sie ihm einen Leibzins, der wegen der persönlichen Hörigkeit gezahlt wurde, und einen Kopfzins, eine Heiratsabgabe und eine Todfallabgabe in Form des besten Stücks Vieh (Besthaupt) oder des besten Kleides (Bestkleid) und in einer frühen Phase aller beweglichen Güter des Verstorbenen. Dazu kamen später Dienstgelder zur Ablösung von Frondiensten und zur Abtretung von Bannrechten auf Wald und Weide, Mühle und Backhaus. Der Kirche war der Zehnt zu entrichten, der vor allem in Naturalien an die Pfarrei zu zahlen war. Vogtei- und Gerichtsabgaben standen in sehr unterschiedlicher Höhe dem Gerichtsherrn als dem Träger der Gerichtsgewalt zu. Die seit dem 12. Jh. erhobene landesherrliche Besteuerung war regional unterschiedlich und wurde bald wieder aufgegeben, da es an einem entsprechenden Verwaltungsapparat fehlte. Die Höhe der prozentualen Belastung variierte von Grundherrschaft zu Grundherrschaft und konnte mehr als die Hälfte des sowieso nicht üppigen Ertrages ausmachen. Hunger war vorprogrammiert. Natürlich veränderte sich die Abgabenbelastung im Laufe des MA und war abhängig von der jeweiligen Rechtsposition des Bauern gegenüber seinem Herrn. In Städten, die ihrerseits als Gesamtschuldner aller Bürger dem Landesherrn zur Steuerzahlung verpflichtet

Abgaben waren, zahlten die Bürger eine geringe Kopfsteuer als Entgelt für den Genuss der städtischen Freiheit und des Schutzes, Vermögenssteuer und eine ganze Reihe von Verbrauchssteuern wie Biersteuer oder Salzsteuer. Daneben waren noch Marktgeld, Stapelgeld, Wachgeld und Gebühren für Verwaltungsakte zu entrichten. Da das Finanzamt noch unbekannt war, hatten die Bürger einen Steuereid abzulegen und sich selbst zu veranlagen. Für zu geringe Veranlagung sahen die meisten Stadtrechte schwere Strafen bis zur Stadtverweisung vor. Die Steuereintreiber hatten das Steuergeheimnis streng zu wahren. Zusätzlich verlangten die Landesherrn zu ihrer Finanzierung A. in Form von Gerichtsabgaben, Zöllen und seit dem 13. Jh. eine außerordentliche Steuer mit dem Rechtsgrund „Landesnot“, also eine Kriegssteuer. Der Kg. erwirtschaftete seinen Unterhalt aus den A. seiner eigenen Domänen, in denen er Landesherr war, aus den Steuern der Reichsstädte, Jahresgeschenken der Großen und Leistungen der Kirchen – das ursprüngliche Reichsgut war durch die zahlreichen Schenkungen vor allem an Kirchen immer weiter zusammengeschmolzen. Im Spätmittelalter war die Finanzsituation des römischen Kg.s derart prekär, dass er schon für kleinere Investitionen oder militärische Unternehmungen Reichsstädte und Königsrechte ohne Aussicht auf Rückerwerb verpfänden musste.

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Ablass Ablass Es handelt sich dabei um einen Nachlass zeitlicher Sündenstrafen, die nach bereits vergebener Schuld auf Erden oder im Fegefeuer, noch abzubüßen sind. Im MA jedoch wurde häufig „Nachlass der Sünden“ versprochen und der A. in doppeltem Sinn aufgefasst. Sündenvergebung war stets mit Buße verbunden, die seit dem 11. Jh. durch Spenden abgelöst werden konnte. Erste Ablässe von 20 oder 40 Tagen gewährten Bischöfe im 11. Jh. für Almosen und Spenden für bedürftige Kirchen. Den ersten vollkommenen A., der sämtliche Sündenstrafen tilgte, verkündete Papst Urban II. 1095 auf der Synode von Clermont für alle Teilnehmer am Kreuzzug ins Heilige Land. Die erlassenen Bußstrafen ‚beglich‘ die Kirche bis ins 13. Jh. durch die Kraft des Gebetes und der Fürbitten. Theologen der Scholastik, darunter vor allem Thomas von Aquin († 1274), entwickelten schließlich die Lehre, die vergebenen Strafzeiten würden aus dem unausschöpfbaren Kirchen- bzw. Gnadenschatz entnommen, den Christus und die Märtyrer durch ihr Leiden im Himmel angehäuft hatten. Im 13. Jh. drängten die Päpste die bischöfliche Ablasskompetenz zurück, beanspruchten die Verteilung der Gnadenmittel für sich allein, da Christus nur Petrus die Gewalt über die Himmelsschlüssel verliehen hatte, und setzten sie segensreich ein. Gegen Geldzahlungen privilegierten sie Kirchen mit dem

10 Recht, reuigen Sündern zeitlich begrenzte Ablässe zu gewähren. 1300 rief Papst Bonifaz VIII. das erste Jubeljahr in Rom aus, in welchem man durch den Besuch der römischen Hauptkirchen einen vollkommenen A. im Sinne einer Vergebung aller Sünden und Sündenstrafen erlangen konnte – dem ‚Unternehmen‘ war nicht nur ein großartiger seelsorgerischer Erfolg beschieden, es klingelte auch in den päpstlichen Kassen. Clemens VI., durch Kriege im Kirchenstaat unter argem Finanzdruck, verkürzte den ursprünglich geplanten hundertjährigen Rhythmus auf 50 Jahre, damit es angesichts der Kürze des menschlichen Lebens mehr Christen möglich sei, in den Genuss eines vollkommenen A.es „von Strafe und Schuld“ zu kommen. In der Folgezeit war es der Kommerzialisierung des A.es äußerst zuträglich, dass sich die Auffassung verbreitete, ein erworbener A. tilge die Sündenschuld ohne Bußsakrament. Gedruckte Ablassbriefe wurden zum Verkaufsschlager: Prediger boten sie marktschreierisch zum Kauf an und füllten mit dem Erlös die Kassen der römischen Kurie und die eigenen Taschen. Diese Entwürdigung des Bußsakraments wurde zu einem der Auslöser der Reformation. Acht Die Strafe der A. stand bereits im Frühmittelalter auf bestimmte „Meintaten“, die eine verwerfliche Gesinnung

11 verrieten, z. B. Mord und Totschlag, Notzucht, widernatürliche Unzucht, Hausfriedensbruch, Treubruch gegenüber dem Lehnsherrn, später auch der Bruch des Königsfriedens und Ladungsungehorsam (Weigerung zu einem Gerichtstermin zu erscheinen). Durch die Verhängung der A. wurde der Täter zum Feind des Kg.s und der Gemeinschaft erklärt und deshalb aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen; er konnte, ja sollte von jedermann straffrei getötet werden. Niemand durfte ihn aufnehmen oder speisen. Er war ehr- und rechtlos, vermögensunfähig, durfte keinen Eid schwören oder vor Gericht verklagen. Auch wenn der Täter schon durch die von ihm begangene Tat selbst als friedlos galt, wurde zusätzlich die A. nach einem Prozess per Ächtungsformel öffentlich verkündet. Diesen Vorgang bezeichnete man auch als bannen. Die A. wegen Ladungsungehorsams wurde zunächst auf Jahr und Tag begrenzt, damit sich der Geächtete selbst stellen konnte. Ließ dieser die Frist ungenutzt verstreichen, wurde über ihn die Aberacht verhängt, durch welche er auf Dauer friedlos wurde. Adel An der Spitze der mittelalterlichen Gesellschaft stand der A., dessen Wurzeln weit in die germanische Vorzeit zurückreichen und kaum mehr zu rekonstruieren, ja in der Forschung heftig umstritten sind. Stellung und Rang be-

Adel ruhten auf Besitz und der damit verbundenen Herrschaft über Abhängige, auf Durchsetzungsvermögen, Verwandtschaftsbeziehungen (vor allem wenn sie zum Königshaus bestanden) und dem Familienbewusstsein. Vor allem königliche Häuser zählten Gottheiten zu ihren Stammvätern und in fast allen Adelsfamilien lassen sich heilige Vorfahren finden. Selbst den Trojanern fühlten sich einige verwandtschaftlich verbunden. So sollen der Sage nach sowohl die Franken als auch die Römer von diesen abstammen. Aus dem A. gingen die weltlichen und geistlichen Hoheitsträger aller europäischen Reiche hervor. Bereits im Frühmittelalter spielten Adelige als aufwendig gepanzerte Reiter eine immer bedeutendere Rolle, es begann sich das Rittertum zu entwickeln, das derart eng mit dem A. verknüpft war, dass seit dem ausgehenden 11. Jh. auch schwer gewappnete Reiter aus dem unfreien Ministerialenstand in den niederen A. aufsteigen konnten. Der A. war also eine inhomogene Gesellschaftsschicht, die vom Kg. bis zum armen Ritter reichte, der am Ende der Lehensspyramide stand und sich nicht den Glanz leisten konnte, mit dem sich der reiche A. zur Präsentation seiner Macht und seines Ansehens umgab. Adelig sein, bedeutete großzügig, ja verschwenderisch zu sein. So wie im 12. Jh. der Reichsfürstenstand abgeschlossen war, schloss sich der Geburtsstand der Ritter im 14. Jh. derart, dass nur der Kg.

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Allmende den Zugang zu diesem Stand gewähren konnte, der sich das bezahlen ließ. Im 14. Jh. kreierten die Ks. Ludwig der Bayer und Karl IV. den so genannten Briefadel, indem sie durch Adels- und Wappenbriefe reichen Bürgern Zugang zur Adelsschicht gewährten. In der Folgezeit konnten auch die Hofpfalzgrafen solche Adelsbriefe erteilen. Allmende Die A. stand den Nutzeigentümern eines Dorfes zur gemeinsamen Nutzung zu. Es handelte sich hauptsächlich um Wald und Weide. Seit dem Hochmittelalter erhoben die Grund-, Gerichts- und Landesherrn Eigentumsansprüche, die sich insbesondere auf das Jagdrecht in Wäldern bezogen, die das Königtum als Wildbann für sich beanspruchte und an seine Vasallen weiterverlieh. Die bislang nutzungsberechtigten Bauern wurden von der Jagd ausgeschlossen. Eine ähnliche Entwicklung nahmen die Fischereirechte in Gewässern der A. Amulett Ein A. ist ein kleiner Gegenstand mit großer magischer Kraft. Es kann böse Geister oder Einflüsse abwehren, die Kraft des Trägers oder auch eines göttlichen Wesens verstärken sowie Analogiezauber hervorrufen, d. h. es wird das bewirkt, was durch das A. in Wort oder Bild dargestellt ist, oder was es symbolisiert. So hängte man z. B. mancherorts einem Säugling den einer

12 lebenden Maus abgebissenen Kopf an, um ihm das Zahnen zu erleichtern. Wirksamkeit entfaltet das A. nicht nur durch das Tragen am Körper, sondern auch, wenn man es küsst oder in Wasser taucht, das man dann trinkt. Das Vertrauen auf ein A. ist an ein Weltbild gebunden, das magische Kräfte als Realität ansieht, weshalb jede Naturreligion zahllose Arten und Formen von A.en kannte und kennt. Doch wie dachte die Kirche, die die mittelalterliche Mentalität geprägt hat, über sie? Sie hat diesen heidnischen Glauben natürlich abgelehnt, aber sofort Ersatz geschaffen: Reliquien, Heiligenbilder und sonstige geweihte Gegenstände wurden schon früh als Ersatz für A.e eingesetzt. Auch geschriebene Stellen aus dem AT und NT waren in Amulettfunktion in Gebrauch. So sorgten in die Zipfel eines Brautbettes eingenähte geweihte Gegenstände für Fruchtbarkeit und Eheglück, am Körper von Schwangeren erleichterten sie die Geburt. Die Grenze zwischen heidnischem Zauber und christlichem Brauch waren fließend und konnten ohne weiteres fehlinterpretiert werden. Mit A.en beschäftigte sich sogar die Wissenschaft: Der auch als Alchimist berühmte Arzt und Laientheologe Arnald von Villanova († 1311) und der Jurist, Mediziner, Theologe und Philosoph Agrippa von Nettersheim (†1535) haben detaillierte Anweisungen für Anfertigung und Verwendung von A.en zusammengestellt.

13 Badehaus Eine derart hochentwickelte Badekultur wie das kaiserzeitliche Rom kannte das MA nicht, wenngleich schon in den bayerischen und alemannischen Stammesrechten Badehäuser erwähnt wurden. Es handelte sich dabei vermutlich um öffentliche Häuser, in denen man ein Wannenbad in kaltem oder warmem Wasser oder auch ein Schwitzbad nehmen konnte. Wie schon in der Antike verordneten Ärzte auch im MA Schwitzkuren und Bäder gegen vielerlei Beschwerden. Warmbädern z. B. schrieb man gemäß dem Grundsatz: „Krankheiten mit Gegensätzlichem heilen“, die Wirkung zu, Verstopfungen im Gehirn durch die dort befindliche kalte Materie zu beseitigen. Karl d. Gr. bekämpfte derartige Verstopfungen und andere Gebrechen durch die wohltuenden Dämpfe der heißen Quellen zu Aachen, machte den Ort in seinen letzten Jahren zu seiner Hauptresidenz und ließ das dortige römische Bad wieder instand setzen, in welchem er bisweilen mit über 100 Personen gleichzeitig badete. Er meinte es gut mit seinen Familienmitgliedern und Getreuen und seine Geisteshaltung scheint geradezu beispielhaft in die spätere Zeit gewirkt zu haben, denn immer wieder stifteten Wohltäter Armen und Kranken einen Besuch im B., das so genannte Seelbad. Auf gar mancher Burg gab es Badestuben, doch war deren Nutzung wegen der Heizkosten ein Luxus. Der Tann-

Badehaus häuser z. B. klagte im 13. Jh., dass ihn das Baden um sein Vermögen bringe; der ‚Verschwender‘ leistete sich dieses teure Vergnügen allerdings gleich zweimal die Woche. Angesichts der Kosten entwickelte sich die mittelalterliche Badekultur in der Stadt zu ihrer höchsten Blüte, da dort die Räumlichkeiten für ein zahlreiches und vor allem zahlendes Publikum geheizt wurden, die Kosten sich also verteilten. Aus Gründen der Rentabilität waren öffentliche Badehäuser nicht täglich, ja bisweilen sogar nur einmal oder zweimal die Woche geöffnet. Sie gehörten seit dem 12. Jh. zur städtischen und dörflichen Kultur des MA, ihre Zahl richtete sich nach der Einwohnerzahl und bei jeder Stadterweiterung kamen neue hinzu. Vielfach handelte es sich um Anlagen, in denen man erst nach einem Dampf- bzw. Schwitzbad das Wannenbad nahm, bei dem man sich gesellig unterhalten und sogar tafeln konnte. Leicht bekleidete Badedirnen halfen bei der Körperpflege und massierten bei Bedarf. Der Bader ließ die Besucher zur Ader oder schröpfte sie, schnitt bei Bedarf die Haare und rasierte seine Kunden. Der Betreiber eines B.es hatte die Pflicht, Aussätzigen und zwielichtigen Gestalten den Zutritt zu verwehren und über die Moral zu wachen. Allenfalls in Klöstern waren die Badehäuser nach Geschlechtern getrennt, denn für den Rest der Bevölkerung war Nacktheit etwas ganz Natürliches und gewiss auch

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Bader Reizvolles. Wenn tatsächlich einmal zwischen Männer- und Frauenbad eine Bretterwand eingezogen war, dann war sie so niedrig, dass der Blick kaum gestört wurde, ja Durchreichen ein gemeinsames Speisen und sogar Berührungen gestatteten. Allzu sittenstreng ging es in den Badehäusern zumindest des ausgehenden MA nicht zu, bisweilen waren sie gar als Bordelle verschrien. Einige Besucher vermieden wenigstens das bekrittelte Entkleiden im Vorraum. Sie kamen gleich nackt ins B., was den unschätzbaren Vorteil hatte, dass ihnen die Kleidung nicht abhanden kam. Aus mehreren Städten sind entsprechende Erlasse gegen diese Unsitte bekannt. Über den natürlichen Umgang mit Nacktheit im B. berichtete 1417 der Humanist Poggio Bracciolini, ein Teilnehmer des Konstanzer Konzils, einem Freund Folgendes aus Baden im Aargau (Schweiz): „So siehst du unzählige schöne Frauen ohne Männer, ohne Verwandte, mit zwei Dienerinnen und einem Knecht oder einer alten Angehörigen, die leichter zu täuschen als zu ernähren ist. Einige gehen, soweit sie es vermögen, mit Kleidern, Gold, Silber und Edelsteinen geschmückt, dass man glauben könnte, sie seien nicht zu den Bädern, sondern zu den herrlichsten Hochzeiten gekommen. […] Da leben Äbte, Mönche, Brüder und Priester in größerer Freiheit als die Anderen, baden zuweilen gemeinsam mit den Frauen und schmücken die Haare mit Kränzen,

14 alle Religion beiseite lassend. Alle sind eines Sinnes, die Traurigkeit zu fliehen, die Heiterkeit aufzusuchen, nichts zu denken, als wie sie fröhlich leben, die Freuden genießen. […] Es sehen Männer, dass ihre Frauen berührt werden; sie sehen, dass sie mit ganz Fremden, und zwar allein verkehren; dadurch werden sie nicht erregt, sie staunen über nichts, meinen, dass alles im guten, ehrbaren Sinne geschehe.“ Derartigem Treiben setzten in der frühen NZ erst bürgerliche Prüderie und dann die Syphilis ein Ende, die sich epidemieartig in Europa ausbreitete. Bader Seit dem 12./13. Jh. war in allen Städten ein B. als Betreiber eines Badehauses ansässig, wobei es in größeren Städten auch mehrere Badehäuser gab, in Regensburg z. B. in der ersten Hälfte des 14. Jh.s acht für schätzungsweise 15.000 Einwohner. B. boten ihren Kunden nicht nur Schwitz- und Wannenbäder an, sondern auch Haareschneiden, Bartscheren und medizinisch therapeutische Dienstleistungen wie Aderlassen, Ansetzen von Blutegeln, Schröpfen, Wundbehandlungen, Massage, Klistier und sogar das Zähneziehen fielen in ihr Ressort – letzteres wegen der Schmerzensschreie wohl nicht während des Badebetriebs. Mancherorts fungierten B. auch als Leichenwäscher und bei Gerichtsverhandlungen über Mord oder Totschlag als Leichenschauer.

15 In vielen Badestuben wurde angesichts der dort sowieso schon vorhandenen Annehmlichkeiten für das körperliche Wohlbefinden und der freizügigen Bekleidung Kuppelei und Prostitution betrieben, ja sie galten als Bordelle und brachten dem Gewerbe den Ruf der Unehrlichkeit ein. Vermutlich aufgrund der daraus resultierenden sozialen Randposition waren die B. vielerorts nicht organisiert, doch gab es in manchen Städten Bruderschaften, in manchen sogar Zünfte der B. wie in Hamburg oder Lübeck. Zwar geben die Bruderschaftsoder Zunftordnungen vor allem Auskunft über das gesellige Leben, doch kann man ihnen wie auch städtischen Verordnungen einige Informationen über die Tätigkeit der B. entnehmen: Nicht nur Männer, sondern auch Frauen konnten den Beruf ergreifen, doch sollten sie Bürger werden bevor sie sich in einer Stadt fest niederließen. Badestube, Geräte, Tücher und Wasser waren peinlich sauber zu halten, die Zahl der Badetage pro Woche wurde festgelegt, an Sonn- und Feiertagen sollten die Stuben kalt bleiben. Männer und Frauen sollten mancherorts nur zu getrennten Zeiten bzw. an verschiedenen Tagen baden. Oftmals wurde Aussätzigen und Vaganten der Zutritt verboten und Juden mussten in separaten Stuben baden. Der Beruf des B.s war kein Lehrberuf im herkömmlichen Sinn, es hat den Anschein, als ob so mancher B. zuvor in einem andern Beruf oder auch im Studi-

Bankenwesen um gescheitert war. Es wäre auch keiner Tochter aus ehrbarem Hause je eingefallen, B. oder gar Bademagd zu werden, zumal diese vielfach als Dirnen angesehen und behandelt wurden, gleich ob bei der jeweiligen Person diese Einschätzung zutraf oder nur den Wunschvorstellungen der Urteilenden entsprach. Bankenwesen Ein B., das den Geldverkehr abwickelt, Kredite vermittelt und Sparern verzinste Einlagen ermöglicht, entwickelte sich erst zu Beginn des 13. Jh.s. in den größeren Handelsstädten Italiens und Frankreichs. Vorläufer waren die Münzwechsler, die sich schon im 12. Jh. in Korporationen organisierten. Vermutlich haben sie bereits als Vermittler des Wechselhandels (= bargeldloser Zahlungsverkehr) fungiert und Einzahlungen und Geldeinziehungen ihrer Kunden mit einfachen Übertragungen (giri) in ihren Registerbüchern vom Konto eines Kunden zu dem eines anderen vorgenommen. Aus Genueser Notariatsregistern des 12. Jh.s erfahren wir z. B., dass ausschließlich den Wechslern der Titel „bancherius“ vorbehalten war, weil die bei der Abwicklung ihrer Geldgeschäfte auf einer Bank hinter einem Tisch saßen. Diese ‚Bänker‘ waren schon um 1200 mit ihren Transaktionen in den Bereich des eigentlichen B.s vorgedrungen. Angesichts der großen Vielfalt der im Umlauf befindlichen Zahlungsmittel, der Schwankungen des Geldwertes und

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Bankenwesen der ganz Europa, Kleinasien und Nordafrika umspannenden Handelsbeziehungen der Handelsunternehmen war ein gut funktionierendes B. unabdingbar, um die Geldüberweisungen und Zahlungen an Ort und Stelle zu vereinfachen. Überweisungen wurden durch das Wechselgeschäft und Barzahlungen durch das System des Giroverkehrs vereinfacht. Der gezogene Wechselbrief („Tratte“) setzte sich im internationalen Handel als wichtigster ‚Geldersatz‘ durch und bald überwog diese Form des ‚Notenumlaufs‘ den tatsächlichen Geldumlauf bei weitem. Derartiger Geldverkehr hatte natürlich zur Voraussetzung, dass nicht nur die Handelsunternehmen, sondern auch die Banken international vertreten waren bzw. Geschäftsbeziehungen zueinander unterhielten. Schon im 13. Jh. stiegen größere Handelsunternehmen, die ihre Finanztransaktionen über Wechselbriefe erledigten, ins Bankgeschäft ein, so dass es zu engen Verflechtungen zwischen Banken und Handel kam. Einfacher noch war es, wenn sowohl Käufer als auch Verkäufer ihr Konto bei ein und derselben Bank hatten. In diesem Fall musste das Geld nur von einem auf den anderen Kunden überschrieben werden. Im 13./14. Jh. wurden an fast allen größeren Handelsplätzen der Welt Geschäfte bargeldlos abgewickelt. Es entstand eine Art Bankgeld als Rechenwährung, das nicht im Umlauf war, sondern nur in Geschäftsbüchern erschien und sich an den gän-

16 gigsten Gold- und Silberwährungen orientierte. Kreditgeschäfte wurden zumeist nicht von Wechslerbankiers getätigt, sondern von Kaufleuten, die den Kredithandel als eine Art Ergänzung ihrer eigentlichen Tätigkeit betrieben. Führend in dieser Art von Geschäften wurden die Juden, Caorsinen (Kawertschen, Geschäftsleute von Cahors) und die Lombarden bzw. Italiener, die sich in Frankreich, den Niederlanden, England und den Gebieten am Rhein das Monopol für Kreditgeschäfte sicherten und das Privileg erhielten, Banken zu eröffnen oder Tische für Leihgeschäfte aufzustellen. Für diese Kredite nahmen sie (häufig in versteckter Form) genauso wie die als Wucherer verschrienen Juden Geldkapitalzinsen, deren Höhe vor allem von den gebotenen Sicherheiten abhing. Der Zinssatz konnte durchaus bis zu 25 % betragen, was in Anbetracht des Gewinns, den das verliehene Geld durch eine erfolgreiche Handelsfahrt bringen konnte, nicht übermäßig hoch war. Außerdem hatte der Geldverleiher ja ein hohes Risiko zu tragen. Die Zahlungsunfähigkeit des englischen Kg.s Edward III. z. B., der den Florentiner Bankhäusern der Bardi und Peruzzi fast 1.400.000 Florenen schuldete, trieb die beiden Bankhäuser in den Bankrott. Florentiner Bankhäuser waren im 14. Jh. sogar mit der Finanzverwaltung der Kurie betraut. In Deutschland entwickelte sich das B. mit einiger Verspätung gegen Ende des MA.

17 Bann Unter B. versteht man: 1. Die Macht der Herrschaftsträger des Reiches, unter Strafandrohung Gebote und Verbote zu erlassen. Banngewalt jedweder Amtsperson des Reiches war Ausfluss der königlichen Autorität (z. B. Friedens-, Gerichts- oder Heerbann) Der Kg. belehnte seine Kronvasallen mit den entsprechenden Herrschaftsrechten, die den von ihnen eingesetzten ‚Funktionären‘ durch die Bannleihe die Rechte weiterverliehen. 2. Die Ausübung monopolartiger Zwangsrechte im Bereich der Grundherrschaft, z. B. Bierbann und Mühlenbann des Grundherrn, die bewirkten, dass im Wirkungskreis des Bannrechts Bier nur beim Bannherrn gebraut und Getreide nur in dessen Mühle gemahlen werden durfte, damit sich die dafür getätigten Investitionen lohnten. Solche Bannrechte wurden z. T. durch Geldzahlungen abgelöst. 3. Die kirchliche Exkommunikation. Bauern Das Wort Bauer, mittelhochdeutsch „gebure“ bezeichnete ursprünglich den Angehörigen eines Siedlungsverbandes und erst gegen Ende des Frühmittelalters denjenigen, der das Land bebaute, ohne Rücksicht darauf, ob er frei oder unfrei war. Im Frühmittelalter hatten sich viele von der Landwirtschaft lebende Freie aufgrund von Armut und Bedrückung durch den Adel unter die

Bauern Herrschaft eines Grundherrn begeben, verloren dadurch ihre Freiheit, Rechtsund Waffenfähigkeit (Unfreiheit). Der Bauernstand mit eigenem Recht entwickelte sich erst seit dem 10./11. Jh., als in den Rechtsquellen häufiger zwischen „milites“ (= Ritter) und „rustici“ (= Bauern) unterschieden wurde, während die Differenzierung zwischen Knechten und Freien zurücktrat. Im Rahmen der dörflichen Gemeinschaft verwischten sich im Laufe der Zeit die Unterschiede zwischen freien und unfreien B., die ihrem Grundherrn zwar noch Abgaben schuldeten, aber von den ursprünglich zu leistenden Frondiensten durch Zinszahlung allmählich befreit wurden. Gehörte im Frühmittelalter der Freie noch zum Heeresaufgebot und nahm an Volksversammlungen teil, so verloren die B. im Hochmittelalter jegliche überregionale politische Bedeutung. Landfriedensbündnisse zwischen regionalen oder überregionalen Mächten gewährten ihnen zwar besonderen Schutz, doch verboten sie ihnen gleichzeitig das Tragen von Waffen und nahmen ihnen somit ein Symbol der Freiheit. ‚Politische Bedeutung‘ erlangten B. nur noch im Rahmen der Verwaltung ihres Dorfes. Der Alltag war für die meisten B. ein Kampf ums Überleben, gekennzeichnet durch Mangel und Not. Das galt zunächst einmal für die Wohnverhältnisse in den Einzimmerhäusern, die Gerätschaften und auch für die einfache Ernährung, die standesübliche Limits

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Begräbnis nicht überschreiten durfte (Gesellschaft und Stand). Verständlich, dass Menschen in einem derart von Mangel geprägten Alltag an Festtagen alle Sorgen über Bord warfen, sich an ihren Vorräten vergriffen und das Morgen vergaßen. Feste wurden mit Musik, Tanz und Völlerei gefeiert. Zentrale Bedeutung erlangte in den Dörfern natürlich das Erntedankfest, vor allem, wenn die Ernte das weitere Überleben sicherte (Freizeit und Vergnügen). Begräbnis In der christlichen Religion beendete der Tod nur die Phase des ‚Wandelns auf Erden‘, nicht aber das Leben. Für den Tag der Auferstehung brauchten Tote ihren Körper, weshalb die Christen die bei den Römern häufig aus praktischen Gründen geübte Feuerbestattung ablehnten. Jeder in der Kirchengemeinschaft lebende Mensch hatte das Recht, mit kirchlichen Zeremonien begraben zu werden, doch das Wie unterschied sich gewaltig. Die Beerdigung in einem Sarg war nur bei Vornehmeren und Reicheren üblich, die anderen wurden auf einem Brett liegend in ein Tuch eingehüllt und verschnürt begraben. Auf Grabbeigaben konnten Christen angesichts ihrer Jenseitsvorstellungen getrost verzichten, diese heidnische Tradition klang mit fortschreitender Verchristlichung der Vorstellungswelt seit dem Frühmittelalter aus. Die Sorge um einen guten Tod und

18 das B. bilden eine Einheit: In Antike und Frühmittelalter trug man nach den im Sterbehaus vollzogenen Riten (Empfang der Kommunion, Empfehlung des Sterbenden in die Hand Gottes und Waschung unter Psalmengesang) den Toten in die Kirche,wo für ihn bis zum B. Totenwache und -messe abgehalten wurden. Bei der Überführung in den Friedhof wurden die österliche Antifon: „Öffnet mir die Tore der Gerechtigkeit“ und Psalmen heilsgeschichtlichen Charakters gesungen. Im 9. Jh. traten Änderungen ein: Die Begräbnisfeier begann mit der Übertragung des Körpers in die Kirche, wo Totenoffizium und -messe gehalten wurden. Daran schlossen sich die Erteilung der Absolution durch Besprengen mit Weihwasser, Anzünden von Kerzen und Gebete um Nachlass der Sündenstrafen an. Überführung auf den Friedhof und Bestattung wurden reichhaltiger gestaltet, bei den Gesängen und Gebeten überwogen die Bußpsalmen. Insgesamt wurde der Akzent mehr auf die Buße als auf die Auferstehungshoffnung gelegt, ein deutliches Zeichen für das Überwiegen der Furcht vor dem Jenseits. Bei den Zeremonien vor dem Grabe entwickelten sich lokale Sonderriten wie der dreimalige Erdwurf oder die Segnung des Grabes. Das B. endete mit dem Leichenschmaus. Beherbergung In der Völkerwanderungszeit ging das hoch entwickelte antike Herbergs-

19 wesen an Fernstraßen und Heiligtümern, in Städten und großen Villenkomplexen auf dem Lande bis auf wenige Tavernen, Xenodochien oder Gästehäuser von Klöstern zugrunde. Durch Stiftungen der Herrscher und Großen des Reiches nahm deren Zahl allmählich wieder zu, doch spielte noch bis ins 12. Jh. die kostenlose Gewährung von Unterkunft im Rahmen des Gastrechts eine bedeutende Rolle für die B. der Reisenden. Seit dem 11. Jh. wurden in Städten, an Pilgerwegen, Handelsstraßen und Pässen zahlreiche kirchliche Hospize geschaffen und die Zahl der Tavernen nahm beträchtlich zu. Bei diesen konnte man Nahrungsmittel kaufen, aber auch übernachten. Durchreisende Kaufleute boten dort sogar ihre Waren feil, wodurch Tavernen kurzzeitig zu regelrechten Märkten wurden. An Messeplätzen wurden nach Nationen getrennt Zwangsunterkünfte für Kaufleute geschaffen, in denen diese wohnten und ihre Waren lagerten, um eine bessere Kontrolle über sie und ihre Geschäfte zu haben – die bekannteste ist wohl der Fondaco dei Tedeschi in Venedig. Gasthäuser nach unseren Vorstellungen finden wir seit der zweiten Hälfte des 13. Jh.s in Italien, Spanien und Südfrankreich und seit dem 14. Jh. in Mitteleuropa. Es handelte sich um Bürger- oder Bauernhäuser. Die Palette der Gasthäuser reichte vom Einzimmerhaus, in welchem Wirt, Gäste und Vieh in einem Raum weilten bis zu mehrstö-

Beichtbriefe ckigen Häusern mit zahlreichen Gästezimmern und Stallungen für Reit- oder Zugtiere. Gasthäuser mussten durch ein Schild kenntlich gemacht sein und die Betreiber hatten das Recht, ja sogar die Pflicht, Fremde gegen Bezahlung bis zur Grenze des Fassungsvermögens zu beherbergen. Die Tradition der Gasthausschilder geht zurück auf die Tavernenschilder, geriet dann aber unter den Einfluss der Hauswappen und -namen, die im 12. Jh. in den Städten aufkamen. Als Motive für sie wurden die Wappen der Grund-, Stadt- oder Landesherrn, Zeichen des Marktfriedens, Heilige, Fabelwesen oder Tiere gewählt. Nur ein Haus mit einem solchen Schild galt als Gasthaus. Die ersten Gasthäuser entstanden in Städten, in denen Rat und Zünfte die bis dahin vorherrschende private und damit unkontrollierte B. aus steuerlichen Gründen bekämpften. Die von Kaufleuten mitgeführten Waren mussten an getrennten Orten aufbewahrt werden, damit sie der städtische Fiskus leichter kontrollieren und einen steuerfreien Schwarzmarkt verhindern konnte. Außerdem waren Gasthäuser eine zusätzliche städtische Steuerquelle, da ihre Betreiber Abgaben zahlen mussten. Beichtbriefe B. waren Schriftstücke, die den Inhaber privilegierten, sich einen Beichtvater zu erwählen, von dem er sich einmal im Leben und in der Todesstunde von allen Sünden nach reumütiger

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Bergbau Beichte freisprechen lassen konnte. Verbunden damit war ein vollkommener Ablass, weshalb die B. auch Ablassbriefe genannt wurden. Im Spätmittelalter wurde schwunghafter Handel mit ihnen getrieben. Bergbau Durch B. wurden im MA Eisenerz, Edel- und Buntmetalle sowie Salz gefördert. Das Ausschmelzen des Metalls aus Erz war eine bereits seit der Eisenzeit bekannte Technik, die an den jeweiligen Fundorten von den Grundherren in eigener Regie angewandt wurde. Zunächst wurden die Erze in Oberflächenwannen gewonnen, doch als die Nachfrage nach Roheisen, das in Form von Stäben verkauft wurde, stieg, wurden Stollen in die Erde getrieben, die Erzförderung und -verarbeitung wurde Sache von Fachleuten. Führend unter diesen waren Bürgerfamilien der Bergbaustädte. Es bildeten sich Bergbaugebiete heraus: für Eisenerz die Oberpfalz, Steiermark, Kärnten und im ausgehenden MA Siegerland und Sauerland; für Silber der Rammelsberg bei Goslar, seit dem 12. Jh. die Gegend um Freiberg und Kuttenberg in Sachsen, das Lavanttal in Kärnten; für Buntmetalle und Blei Oberschlesien, das böhmische Erzgebirge, Villach in Kärnten, das Mansfelder Revier in Mitteldeutschland und schließlich der Schneeberg und Annaberg im sächsischen Erzgebirge. Seit dem 15. Jh. waren die Gruben bei Schwaz in Tirol

20 die wichtigsten Kupfer- und Silberlieferanten. Zunächst unterstand der Abbau von Eisenerz nicht dem Regalienrecht, doch erhob schon in ottonischer Zeit, also seit dem 10. Jh., der Kg. im Rahmen seines Münzregals Ansprüche auf die Silbergewinnung, woraus sich im 12. Jh. das „Bergregal“ entwickelte. Beim Eisenerz erhob der Landesherr im Spätmittelalter einen Bergzehnt und gab auch die Erlaubnis zum Erzabbau, wenn ein Finder darum ersuchte. Das für die Ernährung unentbehrliche Salz wurde im Bergbauverfahren gewonnen. Man leitete Wasser in Salzstöcke ein, wodurch eine flüssige Salzlösung, die Sole, entstand, die über hölzerne Rohrleitungen bis zur Salzhütte (Saline) geführt wurde, wo ihr in metallenen Eisenpfannen das Wasser durch Verdampfen entzogen wurde. Die eigentlichen Produktionsstätten waren also die Sudpfannen, die durch Verleihung oder Kauf geistlichen oder weltlichen Grundherren gehörten. Diese setzten Sudmeister ein, die allein oder in genossenschaftlichen Zusammenschlüssen das Salz herstellten und vertrieben. Zentren der norddeutschen Salzgewinnung waren Lüneburg und Halle, im Süden Reichenhall, Hallein, Aussee und Hall in Tirol. Die Salinen waren zunächst dem königlichen, später dem landesfürstlichen Regalienwesen unterworfen, denn Salz war ein geschätztes Handelsprodukt, es war ‚weißes Gold‘.

21 Bettler Das ‚soziale Netz‘ des MA bestand aus Kleinstverbänden – der Familie, religiösen Gemeinschaften oder Zünften. Erstere fütterten ihre kranken, arbeitsunfähigen Mitglieder bis zum Lebensende durch, Zünfte und Gilden unterstützten in Not geratene Mitglieder finanziell. Viele Alleinstehende fielen durch dieses Netz. Ein Teil von ihnen kam im günstigsten Fall eine Zeit lang in von Kirchen oder der Stadt unterhaltenen Hospitälern unter, andere mussten betteln. B. gehörten zum Bild einer jeden Stadt, Betteln war eine anerkannte Lebensform. Gewährung von Almosen war Christenpflicht, außerdem versprachen B. oftmals für den Spender zu beten. In einer Nürnberger Bettlerordnung von 1478 wurde für die Erlangung der Erlaubnis zu betteln sogar vorausgesetzt, dass die B. das Vater Unser, Ave Maria, Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote kannten. Angesichts der übergroßen Zahl des Bettelvolkes suchten die Stadtregierungen das Betteln auf bestimmte Personenkreise zu beschränken.Vorreiter hierbei war Nürnberg, wo schon 1370 eine Bettelordnung erlassen wurde, welche die Erlaubnis zum Betteln für Einheimische vom Tragen eines Zeichens abhängig machte, welches allein der erhielt, der durch zwei oder drei glaubwürdige Zeugen darlegen konnte, dass er auf Almosen angewiesen war. Arbeitsfähige erhielten keine Lizenz, sie galten als faul,

Bettler Fremde durften nur drei Tage in der Stadt betteln und mussten ihr danach ein Jahr lang fern bleiben. Ähnliche Verordnungen erließen die Stadtregierungen anderer Städte, wobei einige zum Wohl der heimischen B. Fremden das Betteln nur noch am Gründonnerstag erlaubten. Bisweilen privilegierten Klöster und Hospize Arme mit besonderen Bettelbriefen, die sie berechtigten, Almosen zu heischen. Trotz einer Flut von Verordnungen blieben B. ein Problem für die Städte. Sie wurden oft genug der Stadt verwiesen oder bei Wasser und Brot eingesperrt, weil sie sich nicht an die Regeln hielten. Zahlreiche Verbote und Androhung harter Geldstrafen konnten Wirte in den übel beleumundeten Ghettos, der Heimat sozialer Randgruppen wie Tagelöhner, Huren, Zuhälter, Kloakenreiniger, Henker oder Totengräber, nicht davon abhalten, B.n immer wieder Unterkunft zu gewähren, denn sie kassierten die Miete pro Tag und erzielten für ihr ‚Mietobjekt‘, z. B. einen Schlafplatz unter der Treppe, Einnahmen in einer Höhe, die bei regulärer Vermietung mit monatlicher oder jährlicher Zahlung nie zu erreichen gewesen wären. In Basel verdiente sogar der Reichsvogt an B.n: Er gewährte eine dreitätige Bettelerlaubnis und kassierte dafür einen Anteil des Erbettelten und im Todesfall die Hinterlassenschaft. Todesfälle unter B.n waren gar nicht so selten, denn in diesem Milieu war man gewaltbereit, neigte zu

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Bier Raub und Totschlag – die ‚Karriere‘ so manchen B.s endete am Galgen. Betteln musste angesichts der Konkurrenz zu einer Kunst entwickelt werden. In städtischen Akten finden sich immer wieder angebliche Pilger oder ‚scheinschwangere‘ Frauen. Mancherorts wurde das zur Schau Stellen von ekelerregenden Wunden und Krankheiten sowie das Betteln in den Kirchen während des Gottesdienstes verboten, denn bei letzterem ging es bisweilen nicht ohne unflätige Schimpferei und Prügeleien ab. Bier Etwa 10.000 Jahre alt sind die ältesten Spuren von B., die im Sudan entdeckt wurden. In Europa reicht die Brautradition ebenfalls in graue Vorzeit zurück. B. wurde aus Getreide, hierzulande vor allem aus Gerste, Weizen oder Hafer gebraut. Das Korn weichte man in Wasser ein, brachte es zum Keimen, wodurch die Stärke zu Zucker wurde. Nach wenigen Tagen wurde die Masse getrocknet, es entstand Malz. Dieses wurde zerquetscht und ergab, vermischt mit Rohfrucht und Wasser, die Maische, von der die Würze abgepresst wurde, aus der unter Zugabe diverser Gewürze und Wasser B. entstand. Aus 1 Liter Malz gewann man je nach Sorte 1 bis 2 1/2 Liter B. Seit wann man den im 8. Jh. bereits bekannten Hopfen zum Brauen verwendete, steht nicht fest. Durchgesetzt hat er sich jedenfalls erst im Spätmittel-

22 alter u. a. gegen den Widerstand der Inhaber des Grutrechts. Dieses war ein vom Kg. verliehenes regionales Monopol für die Lieferung des Gruts, der für das Bierbrauen üblichen Gewürzmischung. Vor allem Klöster, aber auch andere kirchliche und weltliche Großgrundbesitzer verfügten über Brauhäuser, in denen spezialisierte Braumeister dienten. Sie machten mit ihrem Know how B. zu dem, was wir heute trinken. 1516 erließ Hzg. Wilhelm IV. für Bayern das in ganz Deutschland noch immer gültige Reinheitsgebot, nach welchem B. nur aus Hopfen, Malz und Wasser gebraut werden darf. Älter noch (1434) ist das Reinheitsgebot des thüringischen Ortes Weißensee. Der St. Galler Klosterplan (um 820) vermittelt eine Vorstellung von einer ‚modernen‘ Brauerei des 9. Jh.s. Sie bestandauseinemVorratsraum,einemSudraum, in dessen Mitte ein eiserner Braukessel über vier kleinen Feuerungen stand, und einem Kühlraum mit ausgehöhltenBaumstämmen,den‚Kühlschiffchen‘ und Gärbottichen. Daneben lagen der Raum für die Lagerung und Aufbereitung von Braugetreide sowie die Darre zum Trocknen des Malzes mit einem steinernen Rauchofen und ein Raum für die Malzquetschen, die vermutlich von einem Wasserrad angetrieben wurden. Im 10. Jh. erwachte wirtschaftliches Interesse am B. Grundherren ließen ihre Brauerei auf der Grundlage ihres Bannrechts gegen Entgelt nutzen. Das Wachs-

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tum der Städte brachte Schwung in den Markt: Brauen wurde rentabel, auch wenn viele Bürger noch für den Hausbedarf brauten und die dazu nötigen Gerätschaften mieteten oder einen Brauer mit der Herstellung betrauten. Gewerblich wurde in erster Linie für den lokalen Absatz gebraut, wobei viele Städte in ihrem Umkreis Brauerei und Bierverkauf verboten, es sei denn, sie hatten einen Schankwirt mit dem Recht privilegiert, städtisches B. zu verkaufen. Um Einbußen bei der Biersteuer zu vermeiden, war es Bürgern sogar untersagt, sich auf dem Lande mit B. einzudecken, das dort allein schon wegen der niedrigeren Produktionskosten billiger war. Verbrauchssteuern wie Bierpfennig, Bierzoll, Bierakzise, Malzpfennig etc. ver-

teuerten das städtische B. noch zusätzlich. Dennoch gehörte es zu den Grundnahrungsmitteln des MA; ein durchschnittlicher Verbrauch von drei bis vier Hektolitern pro Person und Jahr war durchaus üblich, wobei der alltägliche Gerstensaft allerdings weniger Alkohol als heute enthielt. Es gab aber auch hochprozentigere Biersorten, z. B. das klösterliche Fastenbier. Seit B. durch die Verwendung von Hopfen haltbarer wurde, entwickelte sich das B. norddeutscher Küstenstädte zu einem wahren Exportschlager, da es ohne allzu hohe Transportkosten übers Meer in alle Welt versandt werden konnte. Weiter Landtransport hingegen erhöhte den Preis u. a. wegen der Zölle um über 60% je 100 km.

Bildung und Wissen Die Eroberung der Westhälfte des Römischen Reiches durch germanische Barbaren hat trotz aller Verwüstungen die römische Hochkultur, die längst im Niedergang begriffen war, nicht ganz zerstört. Freilich fehlten den Germanen abgesehen von den Runen die Schriftlichkeit und die damit verbundenen Errungenschaften, angefangen vom Urkundenwesen bis hin zur Niederschrift philosophischer, naturwissenschaftlicher oder technischer Erkenntnisse und Theorien, doch haben sie vielerorts Respekt vor der höheren Kultur bewiesen, deren Errungenschaften bestaunt und genutzt, sich in vieler Hinsicht gelehrig gezeigt und die Bewahrer der antiken Kultur und Wissenschaft gefördert. Bildungsträger Mönchtum Hauptträger der europäischen Kultur wurde seit dem 5./6. Jh. das Mönchtum. In ihren Klöstern lasen und kopierten Mönche fleißig Texte und be-

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Bildung und Wissen wahrten dadurch Gedankengut und Wissen für die Nachwelt. Sie gingen zunächst kritiklos mit dem Überlieferten um, lernten für sie Wichtiges auswendig, vor allem wenn es aus der Feder kirchlicher Autoritäten stammte, weil sie sich als Lernende, nicht als Neuerer verstanden. Daneben studierten sie begierig Werke heidnischer Gelehrter, gleich ob es sich nun um philosophische oder naturwissenschaftliche Texte oder um Traktate zur Medizin, Technik oder Landwirtschaft handelte und fügten sie in ihr aus der Hl. Schrift und den Werken der Kirchenväter stammendes ‚Wissen‘ über Gott und die Welt ein. Alkuin († 804), der Leiter der Hofakademie und ‚Privatlehrer‘ Karls d. Gr., bezeichnete Aachen, des Ks.s Lieblingsresidenz, als neues Athen, betonte aber stolz die ungleich größere Bedeutung der neuen Bildungsmetropole, da in ihr zu der Weisheit der griechischen Philosophen noch die des wahren Glaubens hinzugekommen sei. Karl d. Gr. gehörte zweifellos zu den großartigsten Förderern von Bildung und Wissenschaft. Er hat die bedeutendsten Geistesgrößen seiner Zeit in seiner Hofkapelle bzw. -akademie versammelt und, von diesen beraten, Bildung zum Gegenstand seiner Politik gemacht. Zur Hebung des Bildungsstands des gesamten Klerus hat er darüber hinaus in seinem Reich eine Reihe von Gesetzen erlassen. Es ging ihm dabei gewiss nicht allein um die Verbesserung der Seelsorge, sondern auch um die der Verwaltung seines Reiches: Eine Durchsetzung seiner in jeder Hinsicht ambitionierten Politik war ohne Verschriftlichung der Verwaltung unmöglich. Da seine Erlasse ja nicht nur bei Hofe geschrieben, sondern von den Empfängern auch verstanden werden mussten, galt es, den Bildungsstand des Klerus auf breiterer Basis zu heben, denn dem kriegerischen Adel konnte Karl keinesfalls zumuten, die Schulbank zu drücken, wusste er doch selbst gut genug, wie schwer es einer nur das Schwert gewohnten Hand fiel, mit Feder oder Griffel umzugehen. Einhard, sein Biograf, behauptet jedenfalls, Karl d. Gr. habe sich in Latein wie in seiner Muttersprache unterhalten, Griechisch besser verstanden als gesprochen, habe sich in allen Wissenschaften unterrichten lassen, doch seine Versuche zu schreiben, seien eher kläglich gewesen, obwohl er pflegte, „Tafel und Büchlein im Bett unter dem Kopfkissen bei sich zu führen, um in müßigen Stunden seine Hand an das Nachmachen von Buchstaben zu gewöhnen“. Ähnlich wie der Ks. mag ein Teil des höheren Adels zu einem gewissen Bildungsstand gelangt sein, indem er seine Freizeit damit verbrachte, den Worten eines Hofgelehrten zu lauschen. In langer und mühseliger Kleinarbeit das Lesen und Schreiben zu lernen muteten sich allerdings die wenigsten zu.

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Bildung und Wissen Die Hofkapelle jedenfalls, auch wenn sie nie mehr wie zu Zeiten Karls d. Gr. als ‚Zentralakademie der Wissenschaften‘ geglänzt hat, ist doch das gesamte MA hindurch der Verwaltungsmittelpunkt des Reiches geblieben – aus ihr ging eine Vielzahl von Bischöfen hervor, die ihrerseits wieder größten politischen Einfluss bei Hofe hatten. Bildung sollte neben vornehmer Geburt zum Garant für eine Karriere bei Hofe oder auch bei den Großen des Reiches werden, die sich bisweilen als Förderer begabter Männer aus dem Volke hervortaten. Unter der Regie von Karl d. Gr. entwickelte sich durch zahlreiche Klostergründungen ein eng geknüpftes Netz benediktinischer Klosterschulen, in denen Oblaten für ihr künftiges Dasein als Mönche oder auch Bischöfe ausgebildet wurden. Dieses Bildungsstreben hatte einen regen Austausch von Handschriften aus allen Fachgebieten zur Folge, die den Mönchen und anderen gebildeten Klerikern einen enormen Wissensvorsprung gegenüber dem Rest der Gesellschaft verschaffte, der sich keineswegs nur auf die Theologie, Philosophie, Astronomie oder Geschichte beschränkte, sondern ebenso auf Landwirtschaft, Medizin oder Technik. Der Abt eines jeden Klosters entschied, welche Bücher einzeln oder gemeinsam gelesen, welche ausgeliehen und kopiert wurden. Bücher wurden aus Ehrfurcht vor ihrem Inhalt mit kostbarer Buchmalerei und prachtvollen, mit Gold, Elfenbein oder Edelsteinen verzierten Buchdeckeln ausgestattet und gehörten zu den Schätzen nicht nur geistlicher Einrichtungen, sondern auch von Herrschern und anderen weltlichen Großen. Diese Ehrfurcht übertrug sich auf die Bildungsträger der Zeit, die Geistlichen, die aus der Reichsverwaltung nicht wegzudenken waren, denn der politisch und militärisch führende weltliche Adel blieb noch für lange Zeit ungebildet. Das Mönchtum wurde zu einem Motor des Fortschritts in der Gesellschaft. Gegenstand der Wissenschaft waren zunächst die Sieben Freien Künste, die zusammen mit der Theologie die christliche Gelehrsamkeit bildeten. Es entstand ein allgemein anerkannter Wissenshorizont monastischer Gelehrsamkeit, stets offen für neue Überlieferungen auf der Grundlage der bewährten christlichen Tradition. Auf diese Weise wurde das Wissen langsam aber stetig vermehrt bis im 12. Jh. eine Basis gegeben war, die kritisches Nachdenken über Widersprüche des Tradierten dringend notwendig machte. Mit einem von konservativen bzw. traditionalistischen Mönchsgelehrten bekämpften Bewusstsein, die Erkenntnis durch eigenständiges Denken bereichern und berichtigen zu können, haben führende Köpfe wie Abaelard

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Bildung und Wissen († 1142) begonnen, die kritiklos übernommene Überlieferung mit Methode zu hinterfragen und damit die ‚Denkepoche‘ der Scholastik eingeleitet, die im 12. Jh. begann und erst im 16. Jh. ausklang. Scholastik Der namengebende Begriff, der sich in zeitgenössischen Texten extrem selten findet, bezeichnet eigentlich eine methodische Denkweise, den schulmäßigen Umgang mit Problemen (aus dem Griechischen „scholastikos“). In ihrem Zentrum stand eine neue Art, mit autoritativen Texten umzugehen: Die Leser erleichterten deren Verständnis durch Glossen und Paraphrasen zwischen oder neben den Zeilen. Es ging ihnen nun nicht mehr um das Auswendiglernen von Texten, sondern um die Klärung von Sachfragen durch deren Auswertung, wobei sie das Für und Wider unterschiedlicher Theorien zu gleichen Problemen in Form eines dialektischen ‚Frage- und Antwortspiels‘ diskutierten. Es ist die Zeit, in der sich eine neue und zugleich uralte Vorstellung von Wissen und Wissenschaft entwickelte. War das Begehren des Menschen nach Wissen bislang in erster Linie auf das bessere Erkennen Gottes hin ausgerichtet, entwickelte sich jetzt ein Wissensbegriff, der nicht mehr allein auf die Vertiefung des Glaubens durch Erkenntnis fixiert war. Es setzte sich die Auffassung des Aristoteles († 322 v. Chr.) durch, dass das höchste Glück des Menschen in der Nutzung des Intellekts für die Erkenntnis des Erkennbaren bestehe. Der Mensch strebt demnach aufgrund seiner Natur nach der Erkenntnis des Wahren. Befreit von der Ausrichtung auf den Glauben, verselbstständigten sich die einzelnen Fachgebiete und entwickelten ihre eigene Methodik. Im Mittelpunkt der wissenschaftstheoretischen Diskussionen des 13. und 14. Jh.s standen die Fragen nach dem Gegenstand und der Einheit der Wissenschaften. Gemeinhin war man der Auffassung, eine Wissenschaft werde durch den Gegenstand bestimmt, der sie charakterisiert und von anderen unterscheidet – für uns eine Selbstverständlichkeit, keinesfalls aber für eine Zeit, in der Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft engstens miteinander verquickt waren. Kein Wunder, dass just in dieser Zeit des ungeheuren Rationalisierungsschubs die Universitäten entstanden, die die Wissenschaften in gewissen Grenzen dem Einfluss lokaler geistlicher Gewalten entzogen. Aristoteles war von den Gelehrten der Scholastik derart als Autorität anerkannt, dass man sich meist mit den Worten: „der Philosoph sagt“, auf ihn bezog. Trotzdem wurde im 14. Jh. die Lektüre einiger seiner Schriften z. B.

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Bildung und Wissen an der theologisch ausgerichteten Universität von Paris kirchlicherseits verboten. Die Gelehrten nahmen sich jedoch die Freiheit, über solche Verbote hinwegzusehen, ein Teil der Professoren und Studenten wechselte an die Universität von Toulouse, um das Verbot zu umgehen, und wenige Jahre später hatten sich die vormals ketzerischen naturphilosophischen Schriften des Aristoteles durchgesetzt. In der Theologie trat an die Stelle der unmittelbaren Bibelorientierung die lehrbuchartige Aufbereitung theologischer Themen unter kritischer Berücksichtigung der einschlägigen Thesen der wichtigsten Autoren. Es entstanden die so genannten Sentenzensammlungen, die neben den hl. Schriften Basistexte des Unterrichts an Universitäten wurden. Mit akribischer Gründlichkeit wurde unterschieden zwischen Glauben und Wissen sowie zwischen menschlicher und göttlicher Autorität. Aristoteles konnte irren, Gott nicht, Offenbarungen Gottes waren von sich aus wahr. Man erkannte jedoch, dass sich der Glaube jeder Form rationaler Legitimation entzog, weshalb er eigentlich ganz und gar nicht zu einer Mentalität passte, die alles durch den Gebrauch des Verstandes zu beweisen suchte. Streit mit traditionellen Theologen war vorprogrammiert. Gefördert wurden die Bemühungen um Erkenntnis in der Theologie durch die Schriften arabischer und damit muslimischer Philosophen, durch die auch bislang unbekannte Texte des Aristoteles und anderer griechischer Philosophen bekannt und kommentiert wurden. Diese Schriften wurden vor allem an der Schule von Toledo übersetzt, aber ebenso auf Sizilien im Umkreis des höchst gebildeten und interessierten Ks.s Friedrich II., der Herrscher über das zum Teil muslimisch geprägte Sizilien war. Die Kommentare aus dem muslimischen Kulturraum wurden von katholischen Theologen mit einer Selbstverständlichkeit benutzt und zitiert, die auf ein hohes Maß von geistiger Freiheit und Unvoreingenommenheit, aber auch auf ein gesundes wissenschaftliches Selbstbewusstsein schließen lassen: Die Gelehrten maßten sich die Entscheidungskompetenz über die Verwertbarkeit der Schriften Angehöriger einer fremden Religion für das Verständnis der eigenen an. Trotz aller Eigenständigkeit des Denkens galt aber doch noch die demütige Vorstellung von der eigenen wissenschaftlichen Leistung, die Bernhard, der erste Lehrer der später berühmten Schule von Chartres folgendermaßen formulierte: „Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Wir können weiter sehen als unsere Ahnen und in dem Maß ist unser Wissen größer als das ihrige und doch wären wir nichts, würde uns die Summe ihres Wissens nicht den Weg weisen.“

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Bildung und Wissen Es würde zu weit führen, auch nur einen knappen Überblick über das vielfältige Schrifttum der Scholastik zu geben, angefangen von theologischen und naturwissenschaftlichen Traktaten bis hin zu den staatstheoretischen Schriften, doch soll kurz auf die zahlreichen umfassenden Enzyklopädien hingewiesen werden, die in dieser Zeit in ganz Europa verfasst wurden. Scholastische Enzyklopädisten wie Vinzenz von Beauvais (†1264), der Verfasser des „Speculum maius“ (= größerer Spiegel), standen in der Tradition der 20 Bücher Etymologien des 636 verstorbenen Bf.s Isidor von Sevilla, der ein im MA geradezu allgegenwärtiges Handbuch des gesamten Wissens seiner Zeit geschaffen hatte. Man darf sich so eine Enzyklopädie nicht als einfaches Nachschlagewerk nach Art unserer Lexika vorstellen, sondern als ein Werk mit dem Anspruch, eine Ordnung in das Wissen der eigenen Zeit zu bringen. Humanismus Die Scholastik hatte ihre Blütezeit von 1250 bis 1350 und wurde von so bedeutenden Männern vertreten wie dem Kölner Gelehrten Albertus Magnus († 1280), seinem Schüler, dem Süditaliener Thomas von Aquin († 1274), dem „Doctor angelicus“ oder dessen Schüler, dem Römer Aegidius Romanus († 1316), dem „Doctor fundatissimus“. Just in diese Zeit fallen aber auch die Anfänge der geistesgeschichtlichen Epoche des Humanismus bzw. der Renaissance, einer kulturellen Strömung, die nicht allein die Wissenschaft sondern ebenso die Kunst, Literatur und alle übrigen kulturellen Bereiche erfasste. Im Hinblick auf die Wissenschaft lässt man diese Epoche mit dem äußerst vielseitigen Florentiner Petrarca († 1374) beginnen, der sich in Philosophie und Literatur gleichermaßen einen Namen gemacht hatte und dabei von der Florentiner Regierung wegen seiner diplomatischen Fähigkeiten besonders geschätzt war. Petrarca und seine Gesinnungsgenossen handelten im Bewusstsein, eine neue Epoche einzuleiten, indem sie die seit dem Niedergang Roms begrabene Literatur und Kunst zu neuem Leben erweckten. Schon für Petrarca galt die Zeit zwischen Antike und seiner Gegenwart als MA, als ‚Zwischenzeit‘, die auf kulturellem Gebiet nichts Nennenswertes hervorgebracht hatte. Diese Auffassung erklärt sich daraus, dass er in einer Krisenzeit lebte, in welcher Frankreich durch den 100-jährigen Krieg verwüstet war und Italien von plündernden Söldnerheeren durchzogen wurde, die vom Papst oder kriegerischen Stadtherren und -regierungen für ihre andauernden Kriege gegeneinander in Sold genommen wurden. Ob mit oder

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Bildung und Wissen ohne Engagement brachten diese Heere Verwüstung und unsägliches Leid über Italien. Keine Ordnung, Elend vor allem auf dem Lande, aber sogar in den reichen Städten, dazu noch die Pest. Wer sehnte sich da nicht nach einer Zeit, in der eine starke Ordnungsmacht für Frieden sorgt, der Basis für das Gedeihen von Kunst und Wissenschaft? Petrarca leitete eine Wissenschaft gegen die bestehende Zeitströmung ein, polemisierte gegen die scholastische Dialektik, Rechts- und Naturwissenschaft, fühlte sich von Ciceros Schriften und den ,Bekenntnissen‘ des Augustinus angesprochen, die ihm einen existenziellen Sinn vermittelten. Sein Bildungserlebnis machte Schule und der Florentiner Staatskanzler Coluccio Salutati († 1406) verhalf der neuen Denkweise zum Durchbruch. Er legte den Grundstein für die historisch-philologische Textkritik und die gemeinschaftliche Erörterung wissenschaftlicher Fragen in gelehrten Zirkeln, aus denen im 15. Jh. Akademien wurden, und holte 1397 Manuel Chrysoloras († 1415) als Lehrer nach Florenz. Dieser, ein Vertrauter des byzantinischen Ks.s, leitete das Studium, die Übersetzung und systematische Sammlung griechischer Autoren ein, die durch ihn noch vor der Eroberung von Konstantinopel (1453) in Italien heimisch wurden. Gar mancher mag sich fragen: Wo liegen denn die Unterschiede zwischen Scholastik und Humanismus, da sich doch beide mit den antiken Philosophen auseinander setzen? Salutati, der mit seinen Briefen und Schriften die theoretischen Grundlagen für den Humanismus gelegt und seine über 800 Bände umfassende Bibliothek den Gelehrten zugänglich gemacht hat, griff den von Cicero geprägten Begriff „humanistische Studien“ wieder auf und erklärte ihren Nutzen dahingehend, dass der Mensch durch die Auseinandersetzung mit sprachlich geformter fremder „humanitas“ zu einem sprachlich mündigen und moralisch verantwortlichen Menschen geformt werde. Die naheliegende Übersetzung von „humanitas“ mit dem üblichen Wortgebrauch von „Menschlichkeit“ reicht bei weitem nicht aus, um den Wortsinn zu erfassen, sondern das Wort beinhaltet all das, was den Menschen als Verstandeswesen ausmacht. Der Mensch formt sich als solches durch die intensive Beschäftigung mit der Andersartigkeit, die mit der Sprache nur beginnt, aber mit ihr längst nicht abgeschlossen ist. Ziel der Studien war die „Perfektion“ des menschlichen Individuums, die Schaffung eines Geistesadels, der den Schwertadel verfeinern und zusammen mit den akademisch geschulten Intelektuellen sowie den Handels- und Bankherren eine gesellschaftliche Elite bilden soll-

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Bildung und Wissen te. Man entwickelte Schulprogramme für eine umfassende Persönlichkeitsbildung mit einer universalen Sprache, Musik, Mathematik und Sport, die sogar erfolgreich verwirklicht wurden. Im Humanismus stand der Mensch als Individuum im Vordergrund, im MA dagegen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einem Stand. Während die Scholastik die traditionelle Wissenschaft selbstbewusst weiterentwickelte, stellte der Humanismus durch den unmittelbaren Rückgriff auf die der Individualität verbundenen antiken Traditionen einen Neuanfang dar. Forschung diente den Humanisten nicht allein der Vermehrung des gemeinschaftlichen Wissens, sondern der Komplettierung des Individuums. Analoges spielte sich noch vor Petrarca in der bildenden Kunst und Literatur ab. Betrachtet man mittelalterliche Personendarstellungen aus der Zeit vor 1300, so werden die Personen nicht durch ihre individuellen Gesichtszüge erkenntlich, sondern durch ihre Standessymbole. Erst um die Wende zum 14. Jh. fanden Maler, allen voran Giotto di Bondone, aber auch Nicola Pisano oder Arnolfo di Cambio den Weg zur realistischen, zur individuellen Darstellung von Personen und Landschaften. Ebenfalls die Literatur tendierte zur realistischen Personendarstellung, man denke nur an Dante Alighieris († 1321) realistische Schilderungen einiger Zeitgenossen in seiner „Göttlichen Kommödie“, an Albertino Mussatos († 1329) Beschreibung des Aussehens Ks. Heinrichs VII. oder an Matteo Villanis († 1363) Schilderung einer Audienz 1355 bei Ks. Karl IV., der die Bittsteller wie unbeteiligt anhörte, an einem Holzstöckchen schnitzte und dann kurz entschlossen entschied, ohne sich zuvor lange mit seinen Ratgebern beraten zu haben. Auch in der Architektur verabscheuten italienische Humanisten die barbarische Gotik und bauten im Stile der Römer, sahen in ihrer Zeit die Wiedergeburt antiker Größe in jeder Hinsicht. Während die Gotik gen Himmel strebte, blieb die Renaissancearchitektur nach antikem Vorbild erdverbunden. Träger des Humanismus waren europaweit vor allem die akademisch gebildeten städtischen, fürstlichen und päpstlichen Beamten, Notare, Buchhändler, Ordensleute, Kirchenfürsten, ja sogar Söldnerführer, Bankiers und Großkaufleute. Das Beherrschen der griechischen Sprache sollte bald für einen Humanisten zur Selbstverständlichkeit werden. Der Humanismus entstand außerhalb der Universität, doch wurde das Bildungsideal in die Universität hineingetragen, indem einflussreiche Humanisten dafür sorgten, dass humanistische Studien als besondere Fächer angeboten wurden oder Humanisten zum Lehrpersonal gehörten – sie wurden häufig wesent-

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Büttel lich besser bezahlt als ihre in traditioneller Manier unterrichtenden Kollegen. Durch ihre politischen und wirtschaftlichen Verbindungen nach dem von den Türken bedrohten Byzanz gelang es, die dort gehüteten Schriften zahlreicher antiker Philosophen und Naturwissenschaftler im Original oder in Abschrift zu erwerben. Von der unglaublichen Sammeltätigkeit zeugen noch heute Bestände alter Bibliotheken vor allem Italiens. Wenngleich der Rückgriff auf die Antike bisweilen sogar die Erneuerung heidnischer Gedanken und Riten zur Folge hatte, hielt er doch mit Macht Einzug in die Kurie. Ein Großteil der Päpste und Kardinäle des 15. und 16. Jh.s waren Humanisten, unterhielten oder förderten humanistische Akademien und orientierten sich vielleicht etwas zu sehr an ihren antiken Vorbildern, den Ks.n, lebten selbstbewusst in Prunk und Laster. Das war gewiss nichts Neues, doch den Stil hatte das neue Denken sehr verfeinert.

Buße B. ist im kirchlichen Sinn die Voraussetzung für die Vergebung von Sünden. Die B. legte der Beichtvater nach Maßgabe von Bußbüchern fest, die bereits seit dem Frühmittelalter ausgehend von Irland in ganz Europa kursierten. Als Bußübungen wurden je nach Schwere der Sünden Gebet, Fasten, Wallfahrten, Almosen oder auch die Teilnahme an einem Kreuzzug auferlegt. B.n konnten seit dem späteren MA durch Geldzahlungen oder den Erwerb eines Ablasses abgelöst werden. Im weltlichen Bereich versteht man darunter die Geldzahlung, die als Ausgleich für eine begangene Straftat zusätzlich zum Wertersatz an die Geschädigten und den Richter gezahlt werden musste (Recht und Rechtspflege). Bis ins 11. Jh. umfasste die Hohe Gerichtsbarkeit schwere Rechtsbrüche, die mit hohen

Geldbußen belegt waren. Dies führte zu einer Fiskalisierung der Rechtspflege, die allerdings kaum abschreckende Wirkung zeitigte. Im Zusammenhang mit der Landfriedensbewegung wurde die Blutgerichtsbarkeit(Gerichtsbarkeit,die Körperstrafen verhängen konnte) eingeführt, Geldbußen blieben auf leichtere Fälle von Beleidigung oder Körperverletzung beschränkt. Büttel Der B. war ein mit regional und zeitlich unterschiedlichen Befugnissen ausgestatteter Gerichtsdiener, der auch für die Gemeinde als Bote, Ausrufer, Verkünder und Einzieher von Steuern, Lader zum Waffendienst und verschiedenen anderen Diensten tätig werden konnte. In der Hauptsache jedoch war er den ‚Gerichtsbehörden‘, dem Vogt oder Schultheiß unterstellt und hatte für

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Büttel den ordnungsgemäßen Ablauf der Gerichtsverhandlungen zu sorgen. Dazu gehörte: Vorladung der streitenden Parteien, Vorführung Beklagter, gegebenenfalls mit Gewalt, Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Gericht, Vorstellung der Zeugen und Eidhelfer und Vollstreckung des Urteils, wobei Körperstrafen oder Todesurteile in den meisten Orten in die Kompetenz eines Scharfrichters oder anderer ‚Fachleute‘ fiel, die Amputationen oder Blendung (= gewaltsame Herbeiführung einer Erblindung) ausführen konnten, ohne dass der Verurteilte gleich starb. Ihm oblagen Verhaftung von Straftätern und deren Verwahrung in der Büttelei, die vielfach nicht nur sein Amtssitz, sondern ebenso

32 auch Gefängnis und Wohnort für ihn und seine gesamte Familie war. Aus der Weisungsgebundenheit des B.s ergab sich vor allem an kleineren Orten bisweilen eine Stellvertreterfunktion des Richters mit dem Recht, das Urteil in niederen Rechtsangelegenheiten zu sprechen. In größeren Städten wurden angesichts der Vielfalt der Aufgaben mehrere B. eingestellt. War der B. ursprünglich aufgrund seiner verantwortungsvollen Aufgaben und der Nähe zum Gerichtsherrn recht angesehen, galt er im ausgehenden MA als niederes Dienstpersonal und wurde dementsprechend gering geschätzt, zumal ihn sein beruflicher Umgang mit Straftätern suspekt machte.

33 Dämon Der Glaube an die Existenz von D.en und Teufeln war tief in der Volksfrömmigkeit des MA verankert. Nach christlichem Glauben handelte es sich um gefallene Engel, die ihre von Gott verliehene übermenschliche Macht nutzten, um Menschen zum Bösen zu verführen und ihnen zu schaden. Die göttliche Vorsehung hatte in weiser Voraussicht dafür gesorgt, dass D.en unsichtbar waren, denn sichtbar hätten sie entweder die Menschen durch ihren Anblick allzu leicht zu Tode erschrecken oder aber leichter mit ihnen gemeinsame Sache machen können. Als unsichtbare Geister dringen sie unbemerkt durch Körperöffnungen wie Augen, Mund, Nasenlöcher etc. in den Menschen ein, der dadurch zum Besessenen wird. Wie raffiniert sie dabei vorgehen, hat uns Vinzenz von Beauvais († ca. 1274) in seinem Spiegel der Natur (Speculum naturale) erklärt: „Der Teufel verbindet sich mit den Blutströmen, d. h. mit den Säften. Denn die Vorstellungskraft ist voller Säfte. Der Teufel beliefert die menschliche Vorstellungskraft mit Bildern ergötzlicher Dinge, aus denen schlechte Gedanken erwachsen, wenn sich die Seele mit ihnen abgibt.“ Schutz davor bietet nur ein streng am christlichen Glauben orientierter Lebenswandel und das Gebet. Austreiben kann einen D. nur der Exorzist. Nach dem Tode eines Menschen streiten sich Engel und Teufel um dessen

Dorf Seele: Von Ks. Heinrich II. wissen wir z. B. dank einer Vision, dass nur die Gründung des Bistums Bamberg, die im allerletzten Augenblick auf die Waagschale gelegt wurde, den Ausschlag für die Aufnahme in den Himmel gegeben haben soll. Der Vorstellung nach traten beim Jüngsten Gericht die D.en mit dem Buch der bösen Taten in Wettstreit mit den Engeln und versuchten möglichst viele Sünder zu sich in die Hölle zu holen, um sie dort nach Herzenslust zu quälen (Jenseitsvorstellungen). Dorf Das D. ist ein ländlicher Siedlungsund Wirtschaftsverband mit herrschaftlichen und genossenschaftlichen Ursprüngen. Es hat sich im Hoch- und Spätmittelalter in Wechselbeziehungen zu den grundlegenden Wandlungen der Siedlungs- und Rechtsstruktur des Reiches herausgebildet. Im rechtlich-organisatorischen Bereich führen mehrere Verbindungslinien vom grundherrschaftlichen Fronhofverband zum späteren D. So war das Dorfgericht vielerorts aus dem Fronhofsgericht hervorgegangen und das Amt des Gemeindevorstehers, des Dorfschulzen, knüpfte an Verwaltungsaufgaben des Meiers einer Grundherrschaft an. Eine zweite Wurzel sind die nachbarlichen Sozialformen der germanischen Zeit. Die Nachbarschaft bildete ein Hauptelement des bäuerlichen Lebens. In Frühformen ländlicher Siedlungen äußerten sich ge-

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Dorf nossenschaftliche Züge z. B. in der Einschränkung individuellen Handelns des Einzelnen bei der Bewirtschaftung der Äcker und der gemeinsamen Nutzung der Allmende. Die Siedlungsverdichtung intensivierte die nachbarlichen Beziehungen und Bindungen, die im dichtbevölkerten D. des Hoch- und Spätmittelalters zur vollen Entfaltung gelangten. Prägend für den Charakter der Dörfer war die Zugehörigkeit der Bauern zu einer oder mehreren Grundherrschaften, aus der sich ein Sammelsurium von Dorfbewohnern mit verschiedener Rechtsstellung ergeben konnte. Im Zuge der Auflösung der Fronhofsverfassung lockerte sich die Bindung der hörigen Bauern zu ihren Grundherren, wobei diesen allerdings Bannrechte erhalten blieben, z. B. Gerichts-, Mühlen-

34 oder Braubann. An die Stelle der Zugehörigkeit zu mehreren Hofverbänden trat allmählich die Gemeinschaft aller Dorfbewohner. Die rechtlichen Unterschiede zwischen Unfreien, Halbfreien und Freien (Unfreiheit) verloren an Bedeutung, die bäuerliche Bevölkerung war nicht mehr nach rechtlichen, sondern nach sozialen und wirtschaftlichen Kriterien gegliedert. Es bildete sich allmählich ein eigenständiger Bauernstand heraus. Eine Anhäufung von Bauernhöfen allein machte längst noch kein D. aus, dazu gehörten auch gemeinschaftliche Einrichtungen wie Versammlungsplätze, Wege, Brunnen, Kirche, Friedhof und meist auch ein Wirts- und Badehaus, in denen ein arbeitsreicher Tag mit ein wenig Freude ausklingen konnte.

35 Ehe Gilt heute eine Heirat aus Liebe als Idealfall, so ging man im MA davon aus, dass sich die Gefühle füreinander erst durch die Heirat einstellen. Das verwundert nicht, bedenkt man, dass ursprünglich eine E. zwischen zwei Sippen ausgehandelt wurde. Mit der Trauung ging die Braut aus der Munt (= Schutzherrschaft) des Vaters in die des Ehemannes über. Bewegung in die archaische Verheiratungspraxis brachte das Eindringen christlicher Ehevorstellungen: Bestimmungen des Kirchenrechts forderten einerseits die Beschränkung auf eine E. und andererseits die Einwilligung der Braut – sie sollte nicht mehr wie eine willenlose Ware verschachert werden. Von da war der Schritt zur Auffassung nicht mehr weit, dass eine E. nicht zwischen Sippen sondern zwischen Braut und Bräutigam geschlossen werden müsse. Papst Nikolaus I. erklärte 866 unter Berufung auf das römische Recht, für die Eheschließung sei allein der Konsens der Partner maßgeblich, ohne den alle sonstigen Formalitäten wirkungslos seien. Diese revolutionäre Entwicklung hin zur Persönlichkeit mit individuellem Willen änderte wenig daran, dass bis weit in die NZ zwischen Familienoberhäuptern bald nach der Geburt eines Kindes (ja sogar schon für den Eventualfall der Geburt von Kindern) Eheabsprachen getroffen wurden. Das kanonische Mindestalter zur Ver-

Ehe ehelichung betrug für die Frau 12 und für den Mann 14 Jahre, doch wurden auch Kinderehen geschlossen – der spätere Ks. Karl IV. wurde mit sieben Jahren mit der gleichaltrigen Blanca von Valois verheiratet. Das übliche Heiratsalter dürfte bei der Frau zwischen 14 und 16 Jahren gelegen haben, beim Mann zwischen 20 und 24. Als Ehehindernisse galten neben dem noch nicht erreichten Alter Impotenz (Sexualität und Moral), Geisteskrankheit, geleistetes Klostergelübde, Verwandtschaft bis zum 7. Grad und Schwägerschaft. Abhilfe konnte in den letzten Fällen päpstliche Dispens schaffen. Diese ließen sich die Päpste von den Großen dieser Welt gut bezahlen, sei es in barer Münze oder in politischen Zugeständnissen. Der Hochzeit ging die Brautwerbung voraus, welcher die Verlobung folgte, die bindenden Charakter hatte und viele Jahre währen konnte, wenn Kleinkinder einander versprochen worden waren. Diese wurden dann oftmals gemeinsam erzogen. Vor der Hochzeit zahlte der Bräutigam die Brautgabe („dos“) an die Braut (in früher Zeit an deren Sippe), die als Witwenversorgung in ihrem ausschließlichen Besitz blieb. Die feierliche Trauung fand vor Zeugen statt, entscheidendes Element war das Jawort. Danach folgte die ‚Heimführung‘ der Braut in das Haus des Mannes und die ‚Beschreitung‘ des Ehebetts in Anwesenheit der Verwandten. Nach der

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Ehe Hochzeitsnacht erhielt die Frau die Morgengabe, die im Laufe der Zeit mit der Brautgabe verschmolz und ebenfalls der Versorgung der Witwe diente. Am folgenden Tag segnete der Priester die E. und verkündete sie öffentlich in oder vor der Kirche. Erst seit dem Tridentiner Konzil im frühen 16. Jh. gilt die E. kirchenrechtlich als Sakrament. In einer patriarchalischen Gesellschaft war natürlich der Mann Herr im Haus, da er ja die Schutzherrschaft über seine Frau innehatte. Geschützt haben Männer ihre Frauen in erster Linie vor anderen, aber nicht vor sich selbst. Sogar ein Held der Sage wie Siegfried prügelte seine Frau grün und blau, ohne dafür in den Augen der Hörer oder Leser an Glanz und Sympathie zu verlieren. Im ehelichen Alltag mag es zwar zu manchem Ehekrach verbunden mit Prügelei gekommen sein, doch dürften Exzesse vermieden worden sein, da sich das Leben im öffentlichen Rahmen des Dorfes oder der Stadt abspielte und dem Grundsatz folgte: Die Frau ist die Genossin, nicht die Magd des Mannes. In den Städten des Spätmittelalters wurde Misshandlung der Ehefrau bestraft, vor allem wenn die Männer grundlos züchtigten. Ehescheidung war nicht möglich, wohl aber eine Auflösung, wenn die E. nicht durch Geschlechtsverkehr vollzogen worden war oder wenn sie trotz oder in Unkenntnis der genannten Ehehindernisse geschlossen worden war. Selbst Ehebruch war kein Scheidungs-

36 grund. Auch wenn der Mann seine Frau deshalb verstoßen konnte, blieb er verheiratet und durfte sich zu Lebzeiten seiner Ehefrau nicht wieder verheiraten. In der kirchlichen Tradition war Ehebruch eine Kapitalsünde, die der strengen kirchlichen Buße unterworfen, ja zeitweilig sogar von der Vergebung ausgeschlossen war. Im vom Christentum noch nicht beeinflussten fränkischen Recht wurde er hingegen nicht als sittliches Fehlverhalten angesehen, denn einerseits wurde nur die ehebrüchige Frau bestraft, andererseits stellte der Hausherr seine Frau ohne weiteres einem Gast zur ‚Verfügung‘, und selbst die Geistlichen lebten, wenn sie es sich leisten konnten, polygam. Als Muntherr durfte der Mann seine ehebrüchige Frau töten oder verstoßen und einen auf frischer Tat ertappten Ehebrecher erschlagen – wurde dieser erst später überführt, drohten ihm Verknechtung oder Bußzahlung. Als strafwürdig galten also in erster Linie die Verletzung von Recht und Ehre des Hausherrn und der Verstoß gegen die Ordnung des Erben- und Geschlechterverbandes. Erst das Eindringen der kirchlichen Anschauungen veränderte allmählich die Rechtslage, da nach kirchlichen Normen Geschlechtsverkehr allein der E. vorbehalten war. Das von Männern gesetzte weltliche Recht adaptierte verständlicherweise die daraus notwendig folgende Bestrafung des Mannes für Ehebruch äußerst widerstrebend, ver-

37 gleichsweise milde Strafbestimmungen für dieses ‚Kavaliersdelikt‘ finden sich erst in städtischen Bestimmungen des Spätmittelalters. Die „Peinliche Halsgerichtsordnung“ von 1532 stellte den Ehebruch von Frauen und Männern schließlich gleich. Ehre Der Begriff E. wurde im MA sehr vielseitig benutzt. Der Theologe Thomas von Aquin definierte ihn in seiner „Summa theologica“ als innere, nach außen kundgetane Wertschätzung, die auf der Güte der menschlichen und göttlichen Person beruhe. Die einem Menschen erwiesene E. mache der Öffentlichkeit Vorzüge und Tugenden einer Person bekannt. Sie hat ihren Ursprung in Gott, der dem Menschen Anteil an seiner Güte gegeben hat. Ganz anders der alltägliche Gebrauch: E. („honor“) wurde im Sinne von Recht gebraucht, das eine Person aufgrund ihres Standes (Gesellschaft und Stand) beanspruchen durfte, ja musste. Am deutlichsten lässt sich der Begriff durch Ehrverletzungen beschreiben, für die bereits in den frühmittelalterlichen Stammesrechten Bußen vorgesehen waren. So musste nach der „Lex Salica“, dem ‚Gesetz‘ der Franken, ein freier Mann, der den Arm einer freien Frau berührte, vor Gericht Schmach genannt, 15 Goldstücke, für das Drücken des Arms schon 30 Goldstücke Buße zahlen. Eine Frau eine Hure zu

Eid / Schwur / Gelübde nennen, ohne es nachweisen zu können, kostete 45 Goldstücke, eine Vergewaltigung 62,5. In all diesen Fällen handelte es sich um eine Ehrverletzung des Hausherrn. Ehrverletzung konnte oder musste sogar zur blutigen Fehde führen, wollte nicht der Beleidigte selbst seine E. verlieren. Aufgrund eines Mangels an E. durften Bauern oder Bürger keine Fehde führen, erst der Ritter war ehrbar genug. Die E. bestimmte Sitzordnungen, um die selbst hohe Geistliche innerhalb einer Kirche mit Waffen stritten oder streiten ließen. Um den „honor“ des Reiches ging es Friedrich Barbarossa, als er Papst Hadrian IV. 1155 vor Sutri den Marschall- und Stratordienst verweigerte, da dieser seinen und des Reiches „honor“ auf das Niveau eines Vasallen abgesenkt hätte. Erst nachdem der Papst klargestellt hatte, es handle sich nur um eine Ehrerbietung gegenüber Petrus, hat der Kg. eingelenkt. Eine Minderung der E. des Reiches und seines Amtes hätte er nicht zugelassen. Eid / Schwur / Gelübde Trotz biblischen Eidverbotes hatte der E. als Anrufung Gottes zum Zeugen der Wahrheit oder der guten, reinen Absicht größte Bedeutung für das Funktionieren der Gesellschaftsordnung. Vor Gericht wurde bis ins 12. Jh. der Reinigungseid geleistet, wenn ein Beklagter einen Klagevorwurf zurückwies, sich also von ihm ‚reinigte‘. Unterstützt wurde er von Eidhelfern, die ihrerseits

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Ernährung eidlich bekräftigten, dass der Beklagte angesichts seiner Persönlichkeit gar nicht als Rechtsbrecher in Frage komme. Der häufige Missbrauch führte zu sehr restriktiver Zulassung zum Reinigungseid, dafür trat bei der Schuldfrage nach und nach der Zeugeneid in den Vordergrund. Lehensleute waren dem Lehensherrn durch einen Treueid verbunden, Amtsleute leisteten einen Amts- oder Diensteid, und Kg.e einen E. über die Ausübung ihres Herrscheramtes. Schwurgemeinschaften hielten die Bürger der Städte zusammen und waren somit überhaupt die Grundlage für die Stadtkommune. Jegliche Art von Verträgen wurde beeidigt, seien es nun Kauf-, Heirats- oder Friedensverträge, Gottesfrieden oder Landfrieden und vieles mehr. Die von Mönchen und anderen Klerikern abgelegten Gelübde wurden ebenso bei Gott beschworen wie das Versprechen, am Kreuzzug teilzunehmen. In heidnischer Zeit garantierte der Schwörende die Reinheit des E.es durch „bedingte Selbstverfluchung“, d. h., er forderte in feierlicher Art eine Gottheit oder Naturgewalt oder auch das eigene Schwert auf, einen Meineid entsprechend zu rächen. Insbesondere der Schwur auf das eigene Schwert als Symbol der Kriegerehre war sehr beliebt und hielt sich noch bis in Zeiten, da Mentalität und Denken längst vom Christentum dominiert wurden, als man schon

38 längst bei Gott und seinen Heiligen schwor und dabei feierlich seine Hand auf ein Kreuz, die Bibel oder eine Reliquie legte, um dadurch Gott selbst und den Heiligen, dessen Reliquie man berührte, zum Zeugen für die Wahrheit des Behaupteten anzurufen. Wurde jemand des Meineides überführt, wartete man keineswegs auf die Rache des beleidigten Gottes und seiner Heiligen, sondern hackte dem Schuldigen direkt die Schwurhand ab, einerseits damit er keinen weiteren Meineid leisten konnte, andererseits aus Gründen der Abschreckung. Ernährung Die Speisekultur der von der klassischen Antike geprägten alten Mittelmeerwelt war von einer städtischen Zivilisation bestimmt, die auf einer durch die Sklavenarbeit recht leistungsfähigen Landwirtschaft aufbaute. Deren Produkte bildeten die Hauptgrundlage der E.: Olivenöl, Wein, Getreide, Obst und Gemüse. Im Rahmen dieser vornehmlich pflanzlichen E. spielten Fleisch, Geflügel, Fisch und sonstige tierische Produkte eine zwar wichtige, aber nicht die dominierende Rolle. Als wertvollste, wohlschmeckendste und edelste Getreideart erfreute sich der Weizen vor allem bei der Oberschicht großer Beliebtheit, er lieferte den Grundstoff für das weiße Brot der hohen Esskultur. Die dünn besiedelten Räume jenseits des Limes mit ihren großen Wäl-

39 dern, Mooren, Heiden begünstigten hingegen Viehhaltung und dadurch eine Ernährungsweise auf tierischer Grundlage. Fleisch, Speck, Schmalz, Milch, Butter und Käse wurden zu Grundnahrungsmitteln. Auf den Flächen, die dem Wald durch Brandrodung abgerungen wurden, wurde neben Kohl, Kraut und Rüben auch Getreide angebaut, doch waren die Felder und Gärten nach wenigen Jahren ausgelaugt, so dass die Wohnsiedlungen und kleinen Dörfer in relativ kurzen Zeitabständen verlegt wurden. Das zu Brei, Mus, Grütze oder aber zu Brot bzw. in Asche gebackenen Fladen verarbeitete Getreide hatte an der E. noch keinen beherrschenden Anteil. Die Ausbeutung der Wälder und des Ödlandes spielte eine gewichtige Rolle. Die Honiggewinnung durch „Bienenjagd“ und Zeidlerei, einfachen Vorformen der späteren geregelten Bienenhaltung, versüßte das Leben, Fischfang und Jagd ergänzten den Speiseplan, wobei letztere bereits unter den Karolingern des 9. Jh.s mehr und mehr zum Privileg des Adels wurde. Als die Franken das von römischer Kultur geprägte Gallien erobert hatten, übernahm die adlige Oberschicht zunächst die Religion des überlegenen Kulturvolkes und dann passten sie auch ihre Essgewohnheiten der gehobenen Kultur an. Durch den Nachvollzug des zentralen christlichen Geschehens des Letzten Abendmahles wurden Brot und Wein, durch die Salbung das hl. Öl zu

Ernährung Grundpfeilern nicht nur der christlichen Liturgie, sondern auch der Nahrungsgewohnheiten. Diese beeinflussten die Landwirtschaft maßgeblich: Es wurden verstärkt Getreide und Wein angebaut, auch in Landstrichen, die eigentlich aus klimatischen Gründen nicht dafür geeignet gewesen wären. Der Prozess der Vergetreidung ließ Europa zum Kontinent des Brotes werden. Gegenüber dem Brot und anderen Getreidespeisen wie Fladen, Brei etc. war die sonstige Nahrung, also Fleisch, Käse, Fisch, Gewürze, Erbsen, Bohnen oder Kraut zur Beilage degradiert. Die wichtigsten Brotgetreidearten waren der anspruchsvolle Weizen, nach wie vor die Herrenspeise, und der weitverbreitete, genügsamere Roggen, der den einfachen Leuten das dunkle Brot lieferte. Hinzu kamen Spelt und Dinkel. Gersten- und Haferbrote taugten nach weitverbreiteter Meinung nur für Habenichtse, spielten allerdings für die Breinahrung, die Bierbrauerei und beim Viehfutter eine große Rolle. Dennoch blieben bei denen, die es sich leisten konnten, die alten Vorlieben erhalten: In Mittel- und Nordeuropa beruhte der Nahrungsmythos auf anderen als den mediterranen Grundlagen. Die adlige Führungsschicht präsentierte ihre Macht nicht nur durch prachtvolles Gehabe, sondern auch durch den Verzehr großer Fleischmengen, was ihr nach ihrer Vorstellung physische und moralische Kraft, Körper- und Zeu-

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Ernährung gungskraft und damit soziales Ansehen verlieh. Wie verwurzelt der Genuss von Fleisch und alkoholischen Getränken als Merkmal sozialen Ansehens im Bewusstsein war, zeigen Strafbestimmungen der Karolingerzeit: Einem Übeltäter wurde der Fleischgenuss, oft auch der Weinkonsum als Teil seiner Strafe verboten. Dieser Grundsatz lebte und lebt noch in Vorstellungen von Gefängniskost fort – im Kerker bei Wasser und Brot. Skelettuntersuchungen, die Anthropologen an Funden mittelalterlicher Friedhöfe durchgeführt haben, legen die Annahme nahe, dass hochrangige Bestattete zu Lebzeiten weit mehr tierisches Eiweiß zu sich genommen haben als niederrangige und dass Männer relativ viel Fleisch zu essen bekamen, Frauen weniger oder gar keines. Dazu passt, dass die Statuten der Kölner Zunftessen des 15. Jh.s die Fleischmenge der Gäste nach Rang und Würden bemaßen: zwei Enten für den Bürgermeister, eine für die Ratsherren, eine halbe für die Meister der Zunft. Bei der machtlosen Unterschicht war den größten Teil des Jahres Schmalhans Küchenmeister, man aß seinen Getreidebrei, Brot, Milch, Kraut und Rüben. Fleisch oder Fisch kamen nur selten auf den Tisch, Obst je nach Jahreszeit und natürlich das, was man im Wald an Pilzen, Beeren oder Kräutern fand. Gewürze kannte diese Bevölkerungsschicht, abgesehen vielleicht vom Salz, bestenfalls vom Hörensagen. Häufiger

40 Gast bei Tische war der Hunger. Nach Art der Tiere schlug man sich den Bauch voll, wenn es etwas zu essen gab, um kräftig genug für die nächste Hungerszeit zu sein. Gab es einmal Fleisch, wurde es meist gekocht, weil das die einfachste Art der Zubereitung war und das Kochwasser als Suppe Verwendung fand, in der vielfach Getreide weichgekocht wurde. Noch heute gilt Graupensuppe als bäuerliche Spezialität. In den Küchen des Adels und der Patrizier hingegen wurde die Kochkunst durch die Verwendung der verschiedensten Gewürze ebenso verfeinert wie die Tischsitten, wobei für unseren Geschmack so manches damalige Luxusgericht als völlig verwürzt gelten dürfte. Eine Hochkultur des guten Geschmacks mit subtilem und passendem Einsatz von Gewürzen hat sich erst am päpstlichen Hof in der Renaissance entwickelt. Kardinal Ludovico Trevisan hatte um 1475 den außergewöhnlich talentierten Martino de’ Rossi für seine Küche engagiert. Der am Hof der Sforza in Mailand ausgebildete Meister wandte sich als Erster von der pompösen Küche des MA ab, die eigentlich nur aus dem inflationären Gebrauch von Gewürzen bestand. Er hob (wie Paul Bocuse im 20. Jh.) den Eigengeschmack der Speisen hervor, reduzierte den Einsatz von Gewürzen und bediente sich heimischer Aromalieferanten wie Zwiebeln, Knoblauch, Petersilie, Sellerie und Möhren. Damit machte er aus einer Not eine

41 köstliche Tugend, denn seit die Osmanen 1453 Konstantinopel erobert hatten, kosteten Gewürze aus dem Orient ein Vermögen. Seine Rezeptsammlung „Buch über die Kochkunst“ lieferte die Grundlage für das erste gedruckte Kochbuch. Exkommunikation E. (= Kirchenbann) wurde schon in frühchristlicher Zeit als Mittel der Sühne über Christen verhängt, die schwere Schuld auf sich geladen hatten oder vom rechten Glauben abgefallen waren. Es handelte sich zunächst um den Ausschluss aus der Kirche, seit dem 5. Jh. jedoch nur noch um Entzug kirchlicher Rechte, da sich die Auffassung herausgebildet hatte, dass die Kraft der Taufe einen Ausschluss aus der Kirche unmöglich mache. Unterschieden wurde zwischen der kleinen und großen E., dem Anathem, doch waren Abstufungen und unterschiedliche Wirkungen nicht eindeutig definiert. Kein Exkommunizierter durfte am Gottesdienst teilnehmen oder Sakramente empfangen, er war aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen, denen bei Strafe der E. jeglicher Kontakt mit Exkommunizierten verboten war. Seit dem ausgehenden 11. Jh. waren davon allerdings die engsten Familienangehörigen und Bediensteten und diejenigen ausgenommen, die den Gebannten zur Reue und Sühne bewegen und dadurch in den Schoß der Kirche zurückführen woll-

Exorzismus ten. Analog zur Acht musste die E. seit dem Hochmittelalter nicht mehr verkündet werden, sondern folgte dem Begehen einer entsprechenden Tat von selbst auf den Fuß. In einer christlichen Welt hatte die E. angesichts solcher Bestimmungen schwerste Auswirkungen auf den außerkirchlichen Alltag, aber erst Ks. Friedrich II. bestimmte 1220, dass auf die Verhängung der E. automatisch die Reichsacht folgen sollte. Dieses nur allzu konsequente Zugeständnis an das Zusammenwirken von kirchlicher und weltlicher Macht verhinderte nicht, dass er selbst 1250 als aus machtpolitischen Gründen Exkommunizierter verstarb. Sein politisches Schicksal war nur der Auftakt zu einer Entwicklung, in welcher Päpste die E. derart inflationär als politische Waffe einsetzten, dass sie bereits im 14. Jh. zu einem stumpfen Machtinstrument verkam, weil der allzu offensichtliche Missbrauch die päpstliche Autorität aufs schwerste schädigte. Exorzismus E. ist als Vertreibung böser Geister durch Anrufung mächtigerer Gottheiten in allen Religionen verbreitet: Er ist die Reaktion auf die Urangst vor feindlichen, übersinnlichen Mächten, die (analog zum sichtbaren Feind) durch eine überlegene Macht besiegt werden können. Nach christlichem Glauben nimmt der Teufel Einfluss auf die Welt, insbesondere hat er Macht über Ungetaufte. Wegen der Erbsünde kamen nach mit-

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Exorzismus telalterlicher Anschauung selbst Totgeburten, die noch gar keine persönliche Schuld auf sich hatten laden können, an einen dunklen Ort zwischen Himmel und Hölle, wo sie Gott nie schauen konnten. Noch heute geht deshalb im traditionellen katholischen Ritual die Taufe, die bei Todesgefahr auch am lebenden Ungeborenen im Mutterleib wirksam vollzogen werden kann, einher mit einem E., in welchem der Täufling bzw. dessen Pate für diesen dem Teufel entsagt. Trotz Taufe und Segnungen gelingt es Satan oder einem seiner Komplizen nur allzu oft, aus einem Menschen, einer Sache oder einem Ort sein „Gefäß“, sein „Haus“ zu machen. Als Symptome für Besessenheit galten im MA u. a. körperliche und psychische Krankheiten, Laster, Unglück, ja sogar Misserfolg. Möglichkeit und Vollmacht zum E. wurden damals wie heute u. a. aus Jesu Auftrag an die Apostel abgeleitet: „[…] treibt Dämonen aus!“ (Matth. 10,8) Spätestens Ende des 3. Jh.s wurde die ursprünglich von charismatisch begabten Christen vorge-

42 nommene Teufelsaustreibung zu einer Handlung, für die man einer kirchlichen Weihe bedurfte – das Exorzistat war die dritte Weihestufe der niederen Weihen (abgeschafft 1972 vom II. Vatikanischen Konzil). Die Vertreibung hartnäckiger Dämonen blieb allerdings schon im MA dem Priester oder Bf. vorbehalten. Sie konnte trotzdem bisweilen Monate dauern und erfordern, dass jeder Körperteil einzeln exorzistisch behandelt, d. h. gesegnet, mit Weihwasser bespritzt, mit speziellen Gebeten, den Exorzismen, besprochen, ja sogar mit dem Stock geprügelt werden musste. Im MA galt der Kampf gegen den Teufel als vorrangige Seelsorgeraufgabe. Priester sollten nach einem Gesetz Karls d. Gr. stets das „Buch der Exorzismen“ mit sich tragen oder die Beschwörungsformeln auswendig hersagen können. Heute wird E. nur noch selten vorgenommen, doch soll auf Anordnung Papst Benedikts XVI. in jeder Diözese ein Exorzist wirken, und die vatikanische Universität, die Gregoriana, bot 2006 eine spezielle Ausbildung für E. an.

43 Fachwerk Es handelt sich um eine Holzskelettbauweise aus senkrechten, waagerechten und schrägen Balken, deren Zwischenräume (Gefache) durch verschiedene Baustoffe, z. B. Flechtwerk mit Lehmbewurf, Strohlehm, Bruchsteine o. Ä. geschlossen sind. Es war bis weit in die NZ die vielerorts übliche Bauweise für Bauern- oder einfache Bürgerhäuser, findet sich aber auch bei Burgen und vornehmen Patrizierhäusern, man denke nur an die Alte Hofhaltung am Bamberger Domberg, der Residenz des Bamberger Bf.s im MA. Familie Erste Belege für den Gebrauch des Wortes F. im heutigen Wortsinn für eine Gemeinschaft, die sich allein aus Eltern und Kindern zusammensetzt, finden sich im 16. Jh., und erst im 19. Jh. setzte er sich durch. Im MA bezog sich das Wort soziologisch gesehen auf den kleinsten, den untersten ‚Herrschaftsverband‘, aus dem sich die Gesellschaft zusammensetzte. Das Wort bezeichnete vielfältige Personengruppen, doch zumeist in antiker Tradition den unter der Gewalt (Munt) des Hausherrn stehenden Personenkreis, d. h. Ehefrau, eheliche und uneheliche Kinder, im Hause lebende Seitenverwandte, Hörige oder Gesellen, ja sogar Gäste. Reiche Grundherren, z. B. Adelige oder Kirchen, hatten oft eine vielköpfige F., weil auch die Hörigen dazugehörten,

Fasten die nicht im Herrenhof sondern in separaten, oft weit entfernten Höfen lebten. „Familia“ nannte man aber auch Verwandtschaftsverbände (Sippen) mit Blutsverwandten und Verschwägerten, Mönchskonvente samt den dem Kloster hörigen Laien in nah und fern, Bruderschaften oder gar die F. der Kg.e mit dem Ks. an der Spitze. Fasten Zur Vorbereitung seines öffentlichen Wirkens fastete Jesus 40 Tage. Er sah im F., das in allen großen Weltreligionen eine bedeutende religiös-sittliche Rolle spielt, die wirkungsvollste Waffe im Kampf gegen Satans Versuchungen und empfahl es auch seinen Jüngern. In der frühchristlichen Kirche bereitete man sich durch F. auf die Taufe vor, mit strengstem F. war die Buße verbunden, allgemein fastete man am Freitag und Mittwoch, wobei der Mittwoch durch den Samstag verdrängt wurde, mancherorts aber als dritter Fasttag bestehen blieb. Im 4. Jh. bürgerte sich das 40-tägige F. vor Ostern in Form eines ‚Halbfastens‘ ein, es durfte nur einmal am Tag gegessen werden, Fleisch und Milchprodukte waren zu meiden. Im Laufe des MA wurden zusätzliche Fastenzeiten vor den größeren Festen eingeführt, z. B. die Adventszeit vor Weihnachten. Als Fastenspeisen galten Mehlspeisen, Trockenfrüchte, Fisch und Geflügel, denn als Fleisch galt nur das der warmblütigen Tiere. Der Genuss von Fischen,

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Fehde Krebsen, Muscheln und erstaunlicherweise Geflügel war erlaubt. Ebenfalls erlaubt war das in Klöstern gebraute besonders kalorienhaltige Fastenbier. In Ausnahmefällen, z. B. für Schwerstarbeiter oder wegen festlicher Anlässe, konnte die Fastenverpflichtung für einzelne Personen, ganze Orte oder Landstriche aufgehoben oder erleichtert werden. Befreiung vom Verbot von Milchprodukten erhielt man durch die so genannten Butterbriefe, die recht häufig beim Pfarrer oder Bf. beantragt wurden; zum Ausgleich spendete der Begünstigte für die Kirche oder Arme. Selten war die Dispens vom Verbot des Fleischverzehres, und für die Karwoche wurden kaum Erleichterungen gewährt. F. spielte in der Heilkunde eine beachtliche Rolle, denn man meinte, durch Vermeidung bestimmter Speisen könne das Gleichgewicht der Säfte und damit die Gesundheit wiederhergestellt werden. Übermäßiges F. schien den Medizinern gefährlich, da es die Säfte des Körpers in Aufruhr bringen und diesen zugrunde richten könne. Fehde Schon in den ältesten Sagas der germanischen Stämme galt die Rache als Pflicht eines freien Mannes, wenn Ehre, Besitz oder Leben seiner Sippe verletzt worden waren. Unter der Bezeichnung F. war derartige Rache vom frühesten MA bis in die NZ hinein ein rechtlich anerkanntes Mittel, Ehre und Recht wie-

44 derherzustellen, auch wenn Herrscher seit den frühmittelalterlichen Stammesrechten immer wieder versuchten, Blutrache und Sippenfehde durch Sühnezahlungen zu ersetzen (Wergeld). Die zum großen Teil vergeblichen Bemühungen sind verständlich, denn durch den erbarmungslosen Kampf verfeindeter Familienverbände, der nicht einmal vor Kindern halt machte, wurde so manche Familie buchstäblich ausgerottet, die Ländereien des Gegners verwüstet und die abhängigen Bauern nach Kräften geschädigt. Ein anderer Versuch F.n einzudämmen, waren im Hochmittelalter durch königliche Macht erzwungene Abschlüsse regionaler Sonderfrieden oder bestimmter Friedenszeiten, die z. T. durch die Kirche sanktioniert wurden. Der so genannte Gottesfriede galt für Feste wie Weihnachten oder Ostern und sollte bestimmte Personengruppen, vor allem Frauen, Kleriker und Bauern, vor Angriffen im Rahmen einer F. schützen. Zwar waren die Gottesfrieden wenig effektiv, doch wurden sie zu Vorläufern der Landesfrieden. Diese, abgeschlossen von Städten, dem Adel und Fürsten, bisweilen sogar dem Kg., sorgten in bestimmten Regionen wirksam für Frieden und Recht. Seit dem Hochmittelalter unterlag die Fehdeführung bestimmten Regeln. Eine rechtmäßige F. durfte nur von einem Ritter, nicht aber von Bauern, Bürgern, Klerikern, Juden oder Frauen geführt werden. Bauern und Bürger waren

45 nur zur Blutrache bzw. Totschlagsfehde berechtigt. Städte hingegen konnten Adelige oder sogar den Landesherrn befehden, wenn er diese geschädigt hatte. In jedem Fall musste eine F. drei Tage vor ihrem Beginn in der genau festgelegten schriftlichen Form eines Fehdebriefs erfolgen, in dem der Fehdegrund genannt und Bewahrung der Ehre des Fehdeführenden geltend gemacht werden mussten, damit die Fehdehandlungen nicht Wiedergutmachungsforderungen des Gegners nach sich ziehen konnten. Für eine rechte F. bedurfte es zudem der schriftlichen Erklärung von Fehdehelfern, die außer den Freunden, Verwandten, Lehnsleuten und Abhängigen die Fehdeführung als rechtens anerkannten und unterstützten. Zu einem offenen Krieg kam es eher selten, vielmehr schädigten die Fehdeführenden die Ländereien des Gegners nach Kräften, plünderten die Dörfer, raubten den Bauern Hausrat und Vorräte und führten sie als Gefangene fort. Bürger befehdeter Städte wurden ausgeplündert und gefangen genommen bis der Rat der Stadt sie wieder auslöste. Unterlag eine Partei im offenen Kampf, so musste sie dem Sieger Urfehde schwören, d. h. auf jegliche Feindseligkeiten in Zukunft verzichten und die Bedingungen des Siegers erfüllen. Vielfach endeten die Feindseligkeiten durch Vermittlung höhergestellter Dritter mit einem Frieden und einer Sühne, in der die Feindschaft beendet wurde, ohne dass einzelne Feh-

Feuerschutz dehandlungen und Schädigungen gesühnt werden mussten. Femegerichte F. gewannen im 15. Jh. als besondere Form der Hohen Gerichtsbarkeit im ganzen Deutschen Reich an Bedeutung, obwohl sie nur in Westfalen amtierten. Gerichtsherr war der Ebf. von Köln als Hzg. von Westfalen, der den Freigrafen den Gerichtsbann übertrug. Ursprünglich tagten die Gerichte dieser Gf.en öffentlich, später waren nurmehr die aus dem gesamten Reichsgebiet stammenden Freischöffen zugelassen, die das Urteil fällten. Diese Abkapselung in einer an Öffentlichkeit der Justiz gewohnten Gesellschaft brachte die F. in den Geruch des Geheimnisvollen. Die F. waren für alle Kriminalfälle zuständig, auf die Todesstrafe stand. Sie nahmen Klagen aus dem gesamten Reichsgebiet sowie Fälle von Rechtsverweigerung durch andere Gerichte an. Seit Mitte des 15. Jh.s versuchten territoriale Gerichtsherren erfolgreich die Wirksamkeit der F. einzuschränken, indem sie Untertanen verboten, vor diesen Klage zu führen oder sich ihnen als Beklagte zu stellen. Seit der Einrichtung des Reichskammergerichtes 1495 verloren die F. ihre Bedeutung außerhalb der Grenzen Westfalens. Feuerschutz Mittelalterliche Häuser waren großenteils aus Holz gebaut, mit Holz oder

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Folter gar Stroh gedeckt und wurden mit offenem Feuer beheizt. Blitzableiter waren unbekannt und Blitzamulette, Hauswurz, Zaubersprüche oder kirchliche Segnung halfen nicht gegen jeden Blitz. Kein Wunder, dass häufig Dörfer und Städte teilweise oder sogar ganz ein Raub der Flammen wurden. Brandbekämpfung war deshalb schon seit der Antike vor allem in dichter bebauten Großsiedlungen Sache der gesamten Einwohnerschaft und wurde zumeist gemeinschaftlich organisiert, denn ein Brand, der nicht wirkungsvoll bekämpft wurde, machte vor der eigenen Haustür nicht Halt. Rechtliche Grundlage für eine umfassende Brandbekämpfung waren vielerorts die seit dem 13. Jh. erlassenen landesherrlichen Feuerordnungen zur Brandbekämpfung und Brandverhütung mit entsprechenden Bauverordnungen, die durch lokale Bestimmungen ergänzt wurden. Bürgerschaftlich organisierte Feuerwehren waren zumeist in Nachbarschaften oder Stadtviertel untergliedert, die Bürger waren zur Anschaffung und Instandhaltung von Feuerpatschen und Ledereimern verpflichtet. In verschiedenen Städten mussten Neubürger bei der Leistung des Bürgerschaftseides die geforderten Utensilien zur Brandbekämpfung vorweisen, doch ließ die Einhaltung der Vorschriften oft zu wünschen übrig. Zünfte verfügten hier und da sogar über tragbare oder fahrbare Feuerspritzen. Das Löschwasser lieferten Flüsse, Stadtbäche oder ei-

46 gens angelegte Löschteiche und in späteren Zeiten die Wasserleitungen. Angesichts solch ineffektiver Feuerwehren, musste gar manche Stadt mehrfach neu aufgebaut werden, weil eine Eindämmung des Feuers misslungen war. Folter Im römischen Recht konnte F., also die behördlich angeordnete Zufügung von Schmerzen, einerseits als Strafverschärfung, andererseits als Mittel im Beweisverfahren zur Erlangung einer Aussage eingesetzt werden. Die Germanen nahmen die F. nur gegenüber Sklaven als Beweismittel in ihre Volksrechte auf, während die Kirche sie ursprünglich als göttlichem Gesetz völlig fremd ablehnte. Papst Gregor I. († 604) wies auf die Unzuverlässigkeit von unter F. gemachter Aussagen hin, die Synode von Auxerre (585) verbot dem Klerus die bloße Anwesenheit bei F., die schließlich aus der Praxis weltlicher Gerichte verschwand. Eine Renaissance erlebte sie im 13. Jh., als sich die Rechtspflege aufgrund einschneidender Veränderungen der Gesellschaft und Mentalität, vor allem aber aufgrund einer von der Kirche eingeleiteten Verwissenschaftlichung und Professionalisierung des Gerichtsprozesses grundlegend wandelte, wodurch der Reinigungseid und der Eidhelfer an Bedeutung im Rechtsleben verloren (Recht und Rechtspflege). In den Stadtrechten der oberitalienischen Kommunen wurde im Kampf gegen

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Räuber, Mörder und Verräter auf die römischrechtlichen Vorschriften über die Verfolgung des Majestätsverbrechens und damit auf die F. zurückgegriffen. 1231 erlaubte Ks. Friedrich II. die Anwendung der F. gegenüber Personen niederer Herkunft, die eines Kapitalverbrechens verdächtig waren („Constitutiones Augustales“). In deutschen Landen griff man um diese Zeit bereits zu Zwangsmitteln gegen landschädliches Gesindel, das man auf bloßen Verdacht hin schlug, hungern ließ, inhaftierte und an den Pranger stellte. Hatte die Kirche im Frühmittelalter die F. generell abgelehnt, so griff jetzt das kanonische Recht auf sie zurück, wenn es darum ging, Ketzer dingfest zu machen, die die universale göttliche Ordnung störten. Es genügte schon eine Beschuldigung oder ein vager Verdacht, um die Inquisitionsmaschinerie in Bewegung zu setzen, die mit F. Geständnisse und weitere Beschuldigungen erpresste. Die F. bestand in einer

ersten Phase ‚nur‘ in Fasten und Kerker, konnte aber schmerzhafte Verschärfungen erfahren, z. B. durch die Streckbank, auf der der Verdächtigte mit Winden in die Länge gezogen wurde, durch glühende Kohlen oder den Wippgalgen, mit dessen Hilfe der vermeintliche Ketzer ins Wasser getaucht wurde. Reuige Ketzer wurden nur zu Bußwerken verurteilt, so dass F. gar manchem den Tod durch Verbrennen bei lebendigem Leibe ersparte. Foltermethoden und -werkzeuge wurden im Laufe der Jh.e mit einem Erfindungsgeist, der sich an den grausamsten Höllenvorstellungen orientierte, für die weltliche und geistliche Gerichtsbarkeit perfektioniert. Eine Sammlung der Ergebnisse solcher Fantasien zeigt u. a. das „Mittelalterliche Foltermuseum“ in Rüdesheim am Rhein, doch auch in so mancher Burg kann man noch einen Folterkeller mit den entsprechenden grausamen Werkzeugen ‚bewundern‘.

Freizeit und Vergnügen Der Begriff Freizeit in seiner heutigen Bedeutung kam erst im 18. Jh. auf, doch existierte das Phänomen natürlich schon im MA, war allerdings ein rares Gut für den, der sein täglich Brot mit seiner Hände Arbeit verdienen musste. Jung und Alt, Reich und Arm freuten sich auf den Tag des Herrn und die Festtage, an denen die Arbeit zu ruhen hatte. Doch das Vieh im Stall wusste nichts von Sonntagsruhe und die Ernte musste bei gutem Wetter auch sonn- und feiertags eingebracht werden, sonst drohte im Winter Hunger. Bauern konnten das kirchlich verordnete Arbeitsverbot unmöglich streng einhalten, womit der weitaus größte Teil der Bevölkerung (im

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Freizeit und Vergnügen Frühmittelalter über 80 %) in seiner Freizeitgestaltung je nach saisonalen Gegebenheiten stark eingeschränkt war. Den verbleibenden Rest aber nutzten und genossen auch die Bauern intensiv auf verschiedene Weise. Spiel Das Spielen war neben der sexuellen Betätigung eines der wichtigsten Ventile für den Druck, unter dem die Menschen in ihrem Überlebenskampf beständig standen. Glücksspiele waren angesichts ihrer Unberechenbarkeit ein Gegenpol zur göttlichen Weltordnung, der man beständig unterworfen war. Wie der allgegenwärtige Tod machte das Glück alle gleich, achtete nicht auf Rang und Beruf, das Glücksrad war zumindest mit erlaubten Mitteln nicht zu beeinflussen. Vom Bettler bis zum Kg. spielten (nach Ständen getrennt) alle gern. Da Glücksspiel mit Gottes Heilsplan nichts zu tun hatte, erließ die Kirche immer wieder Verordnungen dagegen und auch die weltliche Obrigkeit unterwarf es vielerlei Beschränkungen, denn die Spielleidenschaft machte bisweilen vor dem letzten Hemd nicht halt – gar mancher Hausherr hat seine Familie in Armut gestürzt. Weistümer (Aufzeichnungen bäuerlichen Rechts) verboten mancherorts jegliches Karten-, Würfel- oder Kugelspiel, andere beschränkten es auf die Zeit des Jahrmarkts, setzten eine niedrige Verlust- oder auch eine Zeitgrenze, z. B. nicht länger als eine Kerze zum Herabbrennen braucht. Gar manches Spiel, bei dem reichlich genossener Alkohol die Sinne benebelte, endete in einer wüsten Schlägerei, zumal nicht alle Spieler dem Zufall freien Lauf ließen, sondern ihn zu ihren Gunsten beeinflussten. Vagabundierende Spieler-Profis, wie wir sie aus zahlreichen Wildwest-Filmen kennen, durchzogen schon das mittelalterliche Europa. Nicht nur in Schenken, in denen der Wirt bisweilen eine Art Leihbank betrieb, wurde gespielt, sondern ebenso auf Friedhöfen oder anderen zentralen Plätzen der Stadt. Während sich Bauern oder Bürger am Würfeln, am Kegeln oder dem „Truckspiel“ (ähnlich dem Billard) erfreuten, rückte der vornehme Adel lieber Schachfiguren, maß im Spiel sein taktisches Geschick und seinen Weitblick. Kegeln war vermutlich schon im 12. Jh. bekannt. In Xanten sind zum Jahr 1265 ausdrücklich die „fratres kegelorum“, eine Art Kegelbruderschaft oder -gilde, belegt, der man gegen eine Aufnahmegebühr beitreten konnte. Anscheinend lag die Kegelbahn unmittelbar neben dem Dom. Die Regeln variierten nach Ort und Zeit, gemeinsam war allen Keglern, dass es ihnen wohl weniger um sportlichen Erfolg sondern um das Geld ging, um das ge-

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Freizeit und Vergnügen kegelt wurde. Spätmittelalterliche Kupferstiche zeigen Prügeleien und Messerstechereien auf der Kegelbahn, die vermutlich auch früher schon an der Tagesordnung gewesen sein dürften, weshalb die Stadtregierung von Braunschweig den Aufenthalt von „Räubern und Keglern“ in der Stadt auf die Zeit beschränkte, die sie zur Durchreise brauchten. In Frankreich und England wurde das Kegeln überhaupt verboten, weil man fürchtete, die Männer würden wegen dieses Zeitvertreibs das Armbrustschießen vernachlässigen. Mitte des 14. Jh.s dürfte das Kartenspiel aus dem Orient nach Europa ‚eingeschleppt‘ worden sein, das sich anfangs zaghaft, doch bereits im 15. Jh. geradezu seuchenartig über ganz Europa verbreitete. Die erste gesicherte Nachricht stammt aus Florenz, wo der Magistrat ein Kartenspiel namens „naibbe“ verbot. Aus demselben Jahr stammt die erste ausführlichere Beschreibung des Dominikanermönchs Johannes aus Rheinfelden bei Basel: „Anno Domini 1374 kam ein Spiel zu uns, das Kartenspiel genannt wird und in wunderbarer Weise den Zustand dieser Welt beschreibt. Doch woher es stammt, wer es erfunden hat und was damit tut, entzieht sich meiner Kenntnis.“ Er beschreibt ein Vierfarbenspiel mit jeweils 10 Zahlenkarten, Kg.en und anderen Hofkarten. Der Siegeszug des von kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten oftmals verbotenen Kartenspiels ging Hand in Hand mit der Einführung des Holzschnitts, der Ende des 14. Jh.s aus bereits lange geübten Handwerkstechniken entwickelt wurde, denn durch das Druckverfahren (seit 1450 auch per Kupferstich) konnten Spielkarten vergleichsweise schnell in größerer Menge hergestellt werden. In Italien wurden dem üblichen Vierfarbspiel die Tarocchi zugeordnet, eine eigene Trumpfreihe von 22 Karten. Fast komplett erhalten sind die um 1430 entstandenen Karten des Tarockspiels der Stadtherren von Mailand. Welchen Aufbau die Trumpfkarten hatten, wissen wir nicht. Sie tragen weder Namen noch Ziffern. Die heutige Reihenfolge der Trumpfkarten findet sich erstmals in einem Tarockspiel aus Lyon von Catelin Geofroy aus dem Jahr 1557. Die Trümpfe brachten mehr Spannung und Variationsmöglichkeiten ins Spiel und bald hallte in Wirtshäusern oder auf Friedhöfen das Geschrei der Tarock- oder Karnöffelspieler. Das nach dem höchsten Trumpf, dem ,Unter‘ mit dem Bild eines Landsknechts, Karnöffel (= mittelhochdeutsch grober, gewalttätiger Mensch und Hodenbruch) benannte Spiel, das 1426 in Nördlingen erstmals belegt ist, hatte einen sozialkritischen Hintergrund wie Johann Geiler von Keysersberg 1496 bemerkt: „Da stechen die under

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Freizeit und Vergnügen die obern.“ Der Karnöffel stach alle, unter ihm stand die Trumpfsieben, der Teufel, darunter die Sechs, der Papst, darunter die Zwei und dann kam erst der Ks., nach welchem das Spiel mancherorts Kaiserspiel genannt wurde. Sport Zur Kurzweil wurde auch Sport betrieben, allerdings nicht um verbissen durch Jogging oder Spinning Pfunde abzutrainieren, sondern als spielerisches Messen der Kräfte und Geschicklichkeit beim Fechten mit Degen oder langen Holzstangen, Kurzstrecken- oder Dauerlauf, Weitsprung und Kugel- oder Ballspiele. Wie beim Kegeln oder Würfeln erhöhten die Wettkämpfer die Spannung durch finanzielle Anreize. Im Winter lief man mit Schlittschuhen aus Knochen oder Holz auf dem Eis, oder fuhr Schlitten, dies aber nicht nur aus sportlichen Gründen. Der Prediger Johannes von Capestrano verkündete 1452 von der Kanzel des Stephansdomes in Wien, Fahrten im Pferdeschlitten zu zweit seien eine „höchst unmoralische Sache“, weil Mann und Frau viel zu eng beieinander säßen. Zudem verdammte er den ‚Vergnügensrausch‘ in den man durch die hohe Geschwindigkeit geraten könne, mit der die Schlitten gezogen würden. Insgesamt 72 Bauern verbrannten daraufhin spontan ihre klobigen ‚Lustgefährte‘, die reichen Kauf- und Edelleute aber protzten weiter mit ihren durch Schnitzereien und Edelmetall verzierten Prunk-, Sport- oder Turnierschlitten, wie man sie z. B. in der Feste Coburg bewundern kann. Im Sommer wird so mancher Abkühlung im Wasser gesucht haben. Einhard, der am Hofe lebende, gut informierte Biograf Karls d. Gr., berichtet über den Ks.: „Er übte sich fleißig im Schwimmen und verstand das so trefflich, dass man ihm keinen darin vorziehen konnte. […] Und er lud nicht nur seine Söhne, sondern auch die Vornehmen und seine Freunde, nicht selten auch sein Gefolge und seine Leibwächter zum Bade, so dass bisweilen hundert und mehr Menschen mit ihm badeten.“ Natürlich kam es auch im MA schon zu Badeunfällen: Friedrich Barbarossa ist 1190 beim Schwimmen im Flusse Saleph ertrunken. Für die Reichen wurden in einigen Städten Ballhäuser für eine Ballsportart erbaut, bei der man auf einem zweigeteilten, rechteckigen Spielfeld in weißer Kleidung mit der Handfläche und seit Ende 15. Jh.s mit einem saitenbespannten Schläger einen Ball aus Kork oder Leder von einer Seite auf die andere schlug. Jeder Fehler kostete 15 Sous, woraus sich im 13./14. Jh. folgende Zählweise für ein Spiel entwickelte: 0, 15, 30, 45. Die ersten Nachrichten

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Freizeit und Vergnügen über dieses Spiel stammen aus Klöstern. Von der Obrigkeit aus nahe liegenden Gründen besonders gefördert wurde das Bogen- oder Armbrustschießen. Es wurden Schützenhäuser erbaut und Schützenfeste gefeiert. Der Adel betrieb als Sport die Übung in den ritterlichen Waffen, das Reiten und die Jagd, wobei nach Meinung des Gelehrten Johann von Salisbury, Bf. von Chratres († 1180), die Frauen die Männer in der Falknerei übertrafen. Die Jagd mit Hunden auf Wildschweine, Bären, Wölfe oder Rotwild war hingegen Domäne der Männer und wurde in einer Art Wettbewerb betrieben, so dass eigens dazu angelegte Wildgehege nach einer Treibjagd oftmals leergefegt waren (Mensch und Tier). Feste Feste gleich welcher Art wurden im MA ausgiebig und mit oft ruinösem Aufwand gefeiert. Berichte haben wir allenfalls über Festlichkeiten des hohen Adels, über Dorffeste informieren uns die Bauernbilder Pieter Bruegels aus den sechziger Jahren des 16. Jh.s, die auch die Art des Feierns früherer Jh.e widerspiegeln. Der Dorfplatz oder die Durchgangsstraße wurde zum Tanzplatz, die Bauern stellten ihre Tische und Hocker ins Freie. Einige lärmten mit Dudelsack, Flöte, Fiedel oder irgendwelchen anderen Instrumenten, andere sprangen dazu im Festtagsgewand den Reigen, je höher, desto besser – erst im 13. Jh. kam der Paartanz in Mode. Und wenn man wie der Meier Helmbrecht eine Schellenkappe aufhatte, dann klang es den Frauen in den Ohren, wie Wernher der Gartenære süffisant schreibt, der sehr gut wusste, dass Tanz die Annäherung der Geschlechter förderte und der reichlich genossene Alkohol die Hemmschwellen für einen Kuss oder mehr stark herabsetzte. Gezecht und getafelt wurde bei solchen Festen, dass sich die Tischplatten bogen. Die dörflich-bäuerliche Art zu musizieren und zu tanzen verhielt sich zu der der High Society wie heutiger ‚Freestyle Pop‘ zum Wiener Walzer. Bei Hofe und in Stadtpalästen tanzte man (im Idealfall) sittsam vornehme Reigentänze bei denen man sich bei gesetzter Musik an den Händen fasste und sich gemessenen Schrittes bewegte. Höfische Musik, die seit dem 12. Jh. zur Blüte gelangte, folgte eigenen Regeln. Schon Alkuin, der Leiter der Hofschule Ks. Karls d. Gr., beklagte um die Wende vom 8. zum 9. Jh. die Anwesenheit von Possenreißern und Zitherspielern bei den Mahlzeiten von Bischöfen und Äbten und mahnte, die Schriften der Kirchenväter höher zu schätzen als die Heldenlieder der Germanen. Wie beliebt Tafelmusik an adligen Höfen und bei der hohen Geistlichkeit auch im

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Freizeit und Vergnügen 15. Jh. noch war, berichtet der Italiener Santonio in seinem Reistagebuch durch die deutschen Lande. Gründe für Feiern waren Familienfeste wie Hochzeiten oder Taufen, die kirchlichen Feste ohne persönlichen Bezug, von denen noch bis heute neben Weihnachten, Ostern und Pfingsten vor allem die Kirchweih und das Erntedankfest im ländlichen Bereich gefeiert werden. Hochzeitsfeste wurden bei Bauern und Bürgern mit einem Aufwand gefeiert, dass sich die Eltern bis zum Bankerott verschuldeten, was die Obrigkeiten zum Anlass nahmen, die unvernünftigsten Auswüchse einzudämmen. So wurde in der österreichischen Herrschaft Mollenberg Mitte des 15. Jh.s bei Strafe von 10 Pfund vorgeschrieben, dass bei Hochzeiten nicht mehr als drei Tische aufgestellt werden sollten, einer für die Frauen, einer für die Männer und einer für den Truchsess (= Vorsteher der Hofverwaltung). Ähnliche Bestimmungen, in denen auch der Aufwand für die Speisen limitiert wurde, kennen wir aus zahlreichen anderen Herrschaften und Städten. In Regensburg wurde 1484 sogar die Zahl der Gäste auf zwei Männer und zwei Frauen beschränkt, die ein Brautpaar nach der Hochzeitsfeier ins öffentliche Bad mitnehmen durfte. Am Kirchgang durften immerhin 100 bis 150 Personen teilnehmen, während das anschließende Hochzeitsmahl auf höchstens vier Tische zu 12 oder 13 Personen beschränkt wurde. Leute geringeren Standes mussten sich mit noch weniger Gästen bescheiden. Bei Hochzeiten des Hochadels kannte man hingegen keine derartigen Beschränkungen. Hunderte geladener Gäste wurden mit auserlesenen Speisen verköstigt und beschenkt. Bei solchen Festen wurde auch dem ‚gemeinen Volk‘ einiges geboten, um die Pracht, Macht und Freigiebigkeit des eigenen Hauses aller Welt zur Schau zu stellen: Spielleute vollführten ihre Künste, musizierten, zauberten, jonglierten, führten lustiges Stehgreiftheater oder dressierte Tiere vor. Es wurde getanzt, gezecht und gespielt. Zahlreiche Ritter fanden sich zum Turnier ein und wagten im Kampf ihr Leben zum Vergnügen der Zuschauer und zur Mehrung des eigenen Ruhms. Wettbewerbe im Bogen- oder Armbrustschießen mit lukrativen Preisen wurden für das Volk abgehalten. Eine Fürstenhochzeit konnte so zum Volksfest werden. Beispiel hierfür ist die Landshuter Hochzeit: 1475 hatte Herzog Georg der Reiche aus dem Landshuter Zweig der Wittelsbacher die polnische Königstochter Hedwig geheiratet. Das Fest mit Turnier, Umzügen, Darbietungen von Schaustellern etc. dauerte acht Tage. Verzehrt wurden damals mindestens 320 Ochsen, 1.750 Schafe, 1.520 Lämmer, 500 Kälber und 40.000 Hüh-

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Friedhof ner. Gewiss besaß ein derartiges Fest schon damals große Anziehungskraft auf Besucher aus der Ferne. Wer es sich leisten konnte legte für ein derartiges Spektakel gerne einen weiten Weg zurück. Ähnliche Anziehungskraft auf das nähere Umland hatten die Jahrmärkte, bei denen nicht nur Waren feilgeboten wurden, sondern Spielleute ihre Künste zeigten, bisweilen kleinere Turniere und andere Wettkämpfe abgehalten und stets getanzt, gezecht und gespielt wurde. Ebenfalls das Kirchweihfest wird bis in die Gegenwart hinein mit viel Klamauk gefeiert. Kulturgenuss Insbesondere in vornehmen Adels- oder Bürgerkreisen vertrieb man sich die Freizeit mit Kultur, wobei die Frauen mehr Interesse und Engagement zeigten und das nicht nur, weil das Interesse der Minnesänger hauptsächlich den Frauen galt. Zu deren Liedrepertoire gehörten nicht nur Liebeslieder, sondern auch Heldensagen und brandneue Nachrichten aus aller Welt. Solche brachten auch Spielleute mit, die, waren sie erfolgreich, ihr Programm auf die höfischen Bedürfnisse abstimmen konnten. Die Frauen des Adels lasen, konnten tanzen, singen, Gedichte oder Erzählungen vortragen, beschäftigten sich mit kunstvoller Stickerei oder gar Buchmalerei, waren in puncto Kultur ihren kriegerischen Männern überlegen. Auch als Verfasser religiöser Schriften, Romane, Gedichte und Lieder haben sich Frauen hervorgetan, ja sogar auf weibliche Troubadoure stößt man immer wieder. Insgesamt gesehen hat sich die Art der Freizeitgestaltung kaum gewandelt: Spiel, Sport, Festlichkeiten und Kulturgenuss. Die lebensgefährlichen Ritterturniere sind durch Auto- oder Motorradrennen, Bungee-Jumping, Freeclimbing oder andere Risikosportarten ersetzt, die Spielleute durch Zirkus, Theater oder Konzerte. Beim Würfeln oder Kartenspiel um Geld wird noch immer oft und heftig gestritten, kaum ein bedeutendes Volksfest geht ohne Schlägerei und ,Bierleichen‘ zu Ende.

Friedhof In der Antike wurden Tote außerhalb der Siedlungen begraben, da man die Gemeinschaft mit ihnen scheute. Das änderte sich durch die christliche Interpretation des Todes als Übergang

ins ewige Leben und vor allem durch die Bedeutung der Heiligen als Fürsprecher bei Gott und als Kirchenpatrone. Bereits in frühchristlicher Zeit, als die Toten noch in Katakomben an den Ausfallsstraßen begraben wurden, waren

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Frischluft Gläubige bewusst möglichst nahe an einem Märtyrer bestattet worden. Ks. Konstantin d. Gr. († 337) ließ über erstrangigen Märtyrergräbern Basiliken errichten und der hl. Ambrosius († 397) wollte die Leiber der Märtyrer in Analogie zu ihrem Verweilen am Fuße des himmlischen Altares (Offenbarung 6,9) unter den Altären begraben sehen. Da die Seelen im Himmel mit ihrem Leib in Verbindung blieben, waren Gräber Stätten, an denen man mit den Heiligen in Kontakt treten konnte. Das ist die geistige Grundlage der bis heute erhaltenen Tradition, dass ein Altar stets die Reliquie des Heiligen bergen muss, dem er geweiht ist. Was hätte näher gelegen, als sich in der Nähe der Heiligen beerdigen zu lassen, die man zu Lebzeiten schon als Fürbitter angerufen hatte? Wer angesehen genug war, versuchte, in der Kirche selbst seine letzte Ruhe zu finden, auch wenn die karolingische Gesetzgebung ein rigoroses Verbot der Kirchenbestattung erließ. Ausnahmen wurden zugelassen, alle karolingischen Herrscher und ihre Nachfolger in Frankreich und Deutschland fanden ein Kirchengrab, ebenso die meisten hohen Geistlichen und bisweilen auch weltliche Adelige. Grundbesitzer errichteten Kirchen, in oder bei denen sie begraben werden wollten. Vornehme Adelsgeschlechter gründeten zu demselben Zweck Hausklöster, was den zusätzlichen Vorteil hatte, dass die mit Gütern ausgestattete Mönchsgemeinschaft verpflichtet war,

54 für die Gründerfamilie zu beten. Anders als in der Antike wurden deshalb Friedhöfe spätestens seit dem 8. Jh. um die Kirche herum angelegt. Der F. war jedoch keineswegs wie heute ein Ort der Ruhe und Besinnlichkeit, an dem nur Bestattungen vorgenommen wurden, sondern im Verein mit der Kirche bis ins 17. Jh. Brennpunkt des sozialen Lebens. Für diese Doppelfunktion ist ebenfalls der Schutzheilige verantwortlich, der nicht nur den Toten, sondern auch den Lebenden seinen Schutz gewährte. Auf dem F. genoss man wie in der Kirche selbst Asylrecht, was dazu führen konnte, dass sich Asylsuchende heimisch niederließen. Sie blieben selten allein, denn der F. war die geräuschvollste, turbulenteste und geschäftigste Gegend in Stadt und Land, diente als Forum, als Hauptund Spielplatz, auf dem sich die Leute trafen, um geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen, spazieren zu gehen und sich in jedweder Art und Weise zu vergnügen. Frischluft Mit dem Begriff Umweltbewusstsein hätte der mittelalterliche Mensch vermutlich herzlich wenig anfangen können, ihm war klar, dass er sich die Erde nach Gottes Weisung untertan machen sollte und handelte danach. Flüsse und Seen wurden zur Müllkippe (Abfall), waren keine in der Nähe, dann vertraute man den Müll Gottes freier Natur

55 an. Allein um die Qualität der Luft war man besorgt, denn Gestank verminderte die Lebensqualität und außerdem war durch die Heilkunde längst bekannt, dass schlechte Luft die Gesundheit, die Psyche und den Charakter beeinträchtige. Der Humanist Conrad Celtis (†1508) nannte beispielsweise als Grund für die geistige Beweglichkeit und den Erfindungsgeist der Nürnberger die dortige trockne Luft und führte als Gegenbeispiel die Bewohner der Donauniederung an. Aus Sorge um die Gesundheit verbannte Ks. Friedrich II. in seinen für sein sizilianisches Königreich erlassenen Konstitutionen von Melfi 1231 alle Gewerbe, die üble Gerüche erzeugten, aus den Wohngebieten. Nach dem in mehrere Sprachen übersetzten Fürstenspiegel („De regimine principum“) des Aegidius Romanus (1277/1279) hatten Stadträte u. a. für gute Luft zu sorgen und taten es auch. Zahlreich sind euro-

Frischluft paweit die Bestimmungen, die Gerber, Kürschner, Seifensieder oder Färber wegen der Geruchsbelästigung dazu zwangen, sich am Stadtrand anzusiedeln. Was blieb war schlimm genug: Rauch der Feuerstellen, Abfall und Fäkalien, die auf die Straße gekippt wurden. In den vergleichsweise kleinen deutschen Städten – Köln hatte als größte Stadt Anfang des 14. Jh.s nur etwa 20.000 Einwohner – war die Luftverschmutzung gewiss erträglicher als in Paris, Mailand oder London, wo zu dieser Zeit etwa 100.000 Menschen lebten. Die Londoner Luft war durch das Verfeuern der billigen Steinkohle stickig und rauchgeschwängert, obwohl schon 1285 eine Kommission die Schädlichkeit der Steinkohlefeuerung für die Luft festgestellt und der Kg. diverse Verbote ausgesprochen hatte. Mit der Luftverschmutzung in den heutigen Städten konnte das damalige London allerdings noch längst nicht mithalten.

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Garnherstellung / Spinnen Garnherstellung / Spinnen Zwar hatte die Textilindustrie in Antike und Hochmittelalter so manche Neuerung erlebt, doch die Methode des S.s von Fäden aus Wolle oder Pflanzenfasern hatte sich seit der Jungsteinzeit kaum verändert: Die Spinnerinnen wickelten ein Faserdepot um die Spitze des Spinnrockens und befestigten einen Faden an der Spindel, einem längeren, dünnen Holzstab, an dessen unterem Ende die Spinnwirtel, ein Schwunggewicht aus Ton, angebracht war. Nun setzten sie die Spindel in eine Drehbewegung, hielten den Spinnrocken mit der einen Hand hoch und zogen mit Daumen und Zeigefinger der anderen immer neue Fasern aus dem Depot zum Faden und verliehen ihnen dabei Linksoder Rechtsdrall. Die Rotation der Spindel drehte aus den Fasern den Faden, der immer länger wurde, bis die Spindel den Boden erreichte. Der Faden wurde nun auf die Spindel gewickelt, und dieselbe Prozedur wiederholt. Obwohl in Indien, das seit der Antike Handelsbeziehungen zu Europa unterhielt, schon im 5. Jh. v. Chr. das Spinnrad in Gebrauch war, wurde es in Europa erst im 13. Jh. bekannt und eingesetzt. Beim Handspinnrad wurde das Garn auf ein Rad gespult, welches über die zur Spindel verlängerte Achse ohne größeren Aufwand auch für das S. genutzt werden konnte. Die Arbeitsgeschwindigkeit wurde dadurch verdoppelt, wenngleich das S. bis zur Erfindung

56 des Flügelspinnrades Ende des 15. Jh.s noch wegen des Aufspulens unterbrochen werden musste. Man möchte meinen, diese ‚Erfindung‘ habe die Textilproduzenten zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Weit gefehlt! Man hatte Bedenken wegen der Qualität: In Paris wurde 1268 die Nutzung des mit dem Spinnrad hergestellten Garns überhaupt untersagt, in Speyer erlaubte die Textilzunft um 1280 dessen Einsatz allein für den Schuss (in Querrichtung laufender Faden), während der Zettel in traditioneller Weise gesponnen sein musste. Aus Italien mit seinen Zentren für die Herstellung wertvoller Tuche sind solche Bedenken nicht bekannt. Die Ablehnung scheint eine gewichtige soziale bzw. gesellschaftliche Komponente gehabt zu haben. Die Spinnerinnen betrieben ihre Arbeit nämlich häufig nebenbei oder gar zum Zeitvertreib. Darstellungen aus dem MA zeigen, dass vielfach im Zusammenhang mit anderen Tätigkeiten, z. B. beim Stillen, beim Hüten von Tieren und sogar beim Reiten gesponnen wurde. Der Einsatz des Spinnrades veränderte diese Arbeitsform radikal, denn die neue Technik erforderte erhöhte Aufmerksamkeit sowie Bewegungskoordination. Außerdem band das unhandliche Rad das S. an einen festen Ort, machte es zur Werkstatt- und Stubenarbeit, wodurch es im Laufe der Zeit eine industriellen Bedürfnissen angepasste Arbeit zur Sicherung des Lebensunterhalts wurde.

57 Garten Früheste Nachrichten über am Hause gelegene Gärten im Frankenreich finden wir in der „Lex Salica“, dem Gesetzbuch der Salfranken. In ihnen wurde Gemüse, Kraut, Kohl und Obst angebaut. Die raren Urkunden nennen als Kulturpflanzen auch Kolben- und Fenchelhirse oder Flachs, wobei eine saubere Trennung zwischen G. und Feldanbau nicht erkennbar ist. Aus Karls d. Gr. „Capitulare de villis“ (Gesetz über die Königshöfe, letztes Jahrzehnt 8. Jh.) und wenigen anderen einschlägigen Schriften des Frühmittelalters geht hervor, dass die im G. und auf dem Feld kultivierten Pflanzen der Garten- und Feldkultur des spätantiken Mittelmeerraums entsprachen. Daran änderte sich bis zur Entdeckung der Neuen Welt nichts. In diesen Schriften kamen die Erkenntnisse zur Geltung, die Mönche beim Kopieren von einschlägigem antiken Schriftgut gewonnen und in ihren Klöstern praktisch erprobt hatten. Der St. Galler Klosterplan (um 820) bietet sowohl ein recht reales Abbild als auch ein Vorbild für Klostergärten: Vorgesehen war ein Gemüsegarten mit Pflanzen für die Küche, ein Kräutergarten mit Heilpflanzen und ein Baumgarten mit Obstbäumen. Diese Gliederung ist im dörflichen Bereich bis ins 17. Jh. weitgehend unverändert geblieben. Ähnlich dürften zunächst auch die Gärten in Burgen und Städten ausgesehen haben, die zumindest in größeren Burgen und in vorneh-

Gastrecht men Bürgerpalästen mit der Zeit zu repräsentativen Lustgärten mit schattenspendenden Bäumen, Blumen und Rasenflächen mit einem Gehege für besondere einheimische oder auch exotische Tiere umgestaltet wurden (Mensch und Tier). Bindeglied zwischen frühmittelalterlichen Beschreibungen von klösterlichen Nutz- und Lustgärten der höfischen Gesellschaft ist die Schrift des Albertus Magnus (1193–1280) „De vegetabilibus“ (über das Pflanzenreich), das ein Kapitel über die Anlage eines Lustgartens enthält. Die entsprechenden Anweisungen verbinden verschiedene Gartentypen, Rasen- und Baumgärten sowie Blumen- und Kräutergärten. Solche Lustgärten spielen in der Literatur eine bedeutende Rolle, da sie immer wieder zu Schauplätzen des Geschehens werden, vor allem wenn es um Liebe und geistige Erbauung geht, man denke nur an die Gesellschaft junger Leute in Boccaccios „Decamerone“. Gastrecht Eine allgemeine Pflicht, Fremde aufzunehmen bestand im Frankenreich und seinen Nachfolgereichen nicht, doch war es üblich, bis zu drei Tagen Gastfreundschaft zu gewähren, wobei darunter allein Beherbergung ohne Verpflegung zu verstehen ist. Diese haben Adelige ihren Standesgenossen oftmals in verschwenderischem Maße gewährt, dazu noch Geschenke und eine ‚Frau für gewisse Stunden‘, damit der Ruf ihres Reichtums

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Gebetsverbrüderung und ihrer Großzügigkeit durch die Lande eile. Die Aufnahme eines Fremden in sein Haus verpflichtete den Hausherrn, diesen zu schützen und sein Handeln gegenüber der Gerichtsgemeinde zu verantworten. Der Gastgeber hatte die Pflicht der Blutrache für den Gast und das Erbrecht an seinem Gut. Mit der Zunahme der Fremdenbeherbergung in Gasthäusern seit dem 12. Jh. löste sich diese Form des G.s allmählich auf. Unter G. versteht man auch das Recht von Fremden in einer Stadt. Sie galten als Gäste und wurden anders behandelt als die Bürger und sonstigen Einwohner, durften z. B. keine Liegenschaften erwerben und ihr Aufenthaltsrecht konnte zeitlichen Beschränkungen unterliegen. Gebetsverbrüderung G.en sind charakteristisch für die von Religiosität und Jenseitsfurcht geprägte mittelalterliche Mentalität. Es handelte sich um oft großräumige Zusammenschlüsse auf der Basis des Verbrüderungs- und liturgischen Gedenkwesens, die insbesondere vom Mönchtum getragen wurden. Aus einigen Klöstern sind uns noch Gedenk- oder Verbrüderungsbücher erhalten, in welche die Mitglieder einer G. eingetragen sind – anders als heutzutage wurden Verstorbene nicht aus ‚Mitgliederlisten‘ gestrichen. Im Rahmen von Messfeiern und im Chorgebet wurde lebender und toter Mitbrüder gedacht, seien sie nun

58 Mönche, Kleriker oder Laien. Bei dieser Gelegenheit waren genau festgelegte liturgische und karitative Leistungen zu erbringen. Die Verbrüderung zwischen Personen oder Personengruppen begründete als vertragliche Vereinbarung ein Rechtsverhältnis. Die sich bereits im frühen MA ausbreitenden G.en wurden zur gegenseitigen Unterstützung abgeschlossen und erlangten eine derartige Beliebtheit, dass man von Verbrüderungsbewegungen sprechen kann, die schließlich zu regelrechten Gebetsverbänden führten, weil Einzelpersonen oder geistliche Institute Mitglieder mehrerer G.en sein konnten. G.en konnten durch Verbrüderungen von weit verzweigten Adelshäusern untereinander und mit Klöstern oder anderen kirchlichen Instituten durchaus überregionale politische Wirksamkeit entfalten, die über den Schutz und die Bereicherung für Klöster im Diesseits und die wirksame Hilfe durch das Gebet für die Laien im Jenseits weit hinausging. Geburtshilfe G. galt im MA als Angelegenheit kundiger Frauen, seien es nun Verwandte, Nachbarinnen oder professionelle Hebammen – in medizinischen Lehrbüchern finden sich nur sehr allgemeine Notizen zur Geburt. Seit dem Spätmittelalter jedoch erschienen in verschiedenen Volkssprachen eine Reihe spezieller Werke über Frauenleiden und G. Diese „Ratgeber“ sollten es Hebammen er-

59 möglichen, auch schwierige Geburten zu einem guten Ende zu bringen. In ihnen finden sich Anweisungen zur Drehung des Kindes in die richtige Lage, zum Einölen der Vagina und des Muttermundes, zur Dehnung des Muttermundes, Rezepte für Kräuterdampfbäder und anderes mehr. War das Kind klar erkennbar im Mutterleib gestorben, wurde versucht, es durch Einleitung von Flüssigkeiten oder Dämpfen in den Unterleib auszutreiben. Genügten diese Maßnahmen nicht, musste die Hebamme den Körper ganz oder zerstückelt mit einem Haken aus der Gebärmutter ziehen. Schmerzstillende Mittel, um die Qualen wenigstens zu lindern, gab es zwar (Schmerz), doch waren sie selten vorrätig und schwer dosierbar. Nach Eintritt des Todes der Gebärenden war die Hebamme verpflichtet, das Kind mittels Kaiserschnitt zu retten. Dieser wurde bereits seit der Antike durchgeführt, allerdings nicht bei lebendigem Leibe. Die Sterblichkeit von Mutter und Kind bei der Geburt oder in den Tagen / Wochen danach war angesichts solcher Verhältnisse sehr hoch. In Florenz starben im Jahr 1424 etwa 20% aller verheirateten Frauen im Kindbett, in Frankreich überstanden im 18. Jahrhundert etwa 28% der Kinder nicht das erste Lebensjahr – im MA war die Säuglingssterblichkeit eher noch höher. Nicht verwunderlich ist es angesichts der Gefahren für Mutter und Kind, dass die Eltern, Verwandten und

Geißler Hebammen durch Gebete, Wallfahrten oder fromme Stiftungen Hilfe bei Gott und den ihn umgebenden Heiligen suchten. Votivbilder zeugen von deren Hilfsbereitschaft. Gar mancher Mönch verdankte seinen Eintritt ins Kloster einem bei seiner Geburt abgelegten Gelübde. Zaubermittel und Beschwörungsformeln waren weit verbreitet, Talismane wie Gebetsgürtel oder Edelsteine, die eine sanfte Geburt herbeiführen sollten, wurden in Familien über Generationen hinweg vererbt. Die Kehrseite der Medaille war jedoch, dass manche Hebamme aufgrund ihrer Erfahrungen mit Kräutern und Zauberformeln in den Geruch der Hexerei kam. Geißler G. (Flagellanten / Flegler) waren Anhänger einer religiösen Bewegung, die 1260 von Perugia ausging. Dort ordnete die Stadtregierung am 4. März auf Anraten des Franziskanereremiten Raniero Fasani eine vierwöchige allgemeine Bußzeit an, in der die Arbeit ruhen sollte. Raniero predigte öffentliche Geißelung als Buße für die Sünden der Welt und gründete die erste Bruderschaft der G. In kürzester Zeit wurde dieses Phänomen einer kollektiven Bußgesinnung europaweit zu einer Bewegung, wie sie nur die leichte Entflammbarkeit von Gemütern hervorbringen kann, die Angst um ihr Seelenheil haben und ihre ganze Hoffnung auf das Außergewöhnliche legen, das sie in Verbindung mit

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Geldkapitalzins dem Heil, hier konkret mit dem gegeißelten Erlöser bringt. Diese ‚Massenhysterie‘ hatte einen breitgefächerten soziokulturellen Hintergrund: Den Menschen wurde plötzlich bewusst, dass ihr allein auf die irdischen Güter ausgerichteter Alltagstrott weit von einer Lebensweise entfernt war, die ewiges Heil versprach, und dass die von der verweltlichten Kirche angebotenen ‚Heilmittel für die Seele‘ keine Sicherheit in der Frage aller Fragen boten: ewige Glückseligkeit oder Verdammnis. Die G. zogen, begleitet von Klerikern mit Kreuzen oder Prozessionsfahnen, durch die Lande und in die Kirchen, wo sie mit Bußgesängen Gottes Erbarmen herabflehten und sich geißelten bis sie aus zahllosen Wunden bluteten. 1261 verbot Papst Alexander IV. das Geißeln in der Öffentlichkeit. In den Zeiten der Pest (ab Mitte des 14. Jh.s), des göttlichen Bußgerichts, durchzogen wieder europaweit Geißlerzüge die Lande, mahnten zur Buße und Umkehr und geißelten sich auf zentralen Plätzen in den Städten. Nach einer niederländischen Ordnung mussten Teilnehmer an Geißlerzügen einerseits gebeichtet, andererseits die Teilnahmeerlaubnis der Ehefrau haben und ausreichend Geld mitbringen; es bestand Keuschheits- und Friedensgebot sowie Bettelverbot. Die Leitung des Zuges lag bei vier Meistern, denen unbedingter Gehorsam geleistet werden musste. Die G. sollten lange, weiße Kapuzenmäntel

60 mit roten Kreuzen auf Brust und Rücken und einen Hut mit aufgenähten Kreuzen tragen. An den Enden der Geißeln, sollten Eisenstücke hängen, damit beim Geißeln des nackten Oberkörpers der gewünschte Effekt der leichten, aber schmerzhaften und blutenden Verletzungen eintrete. Ein Geißlerzug dauerte in Analogie zu den Lebensjahren Jesu 33,5 Tage. Im Jahr 1417 wurden die G. auf dem Konzil von Konstanz als Ketzer verurteilt, ihre Züge fanden daraufhin ein rasches Ende. Geldkapitalzins Kirchliche Verbote prägen die Geschichte des G.es im MA. Sie setzten die Tradition der Verurteilung von Zinsnahme durch die jüdisch-biblische Religion und die griechische und römische Moralphilosophie fort. Im 4. Jh. betraf das Verbot nur Kleriker, im 5. Jh. bereits Laien. Als erster weltlicher Gesetzgeber verbot Karl d. Gr. die Forderung von Zins für verliehenes Geld und damit den Wucher. Seit dem 12. Jh. wurden die Strafen durch Konzilsbeschlüsse (Lateran, Lyon, Vienne) verschärft, Wucher galt nun als Häresie. Nur Juden durften ungestraft Zinsen nehmen, taten das aber nur bei Geschäften mit Andersgläubigen, denn untereinander war es ihnen durch die alttestamentarischen Vorschriften ebenfalls verboten und sie hielten sich wohl strenger daran als die Christen. Da nämlich Zinsnahme für einen funktionierenden Handel unab-

61 dingbar war, entwickelten die christlichen Geschäftsleute eine ganze Reihe von Strategien, mit denen sie das Verbot umgehen konnten. Eine sehr beliebte war der Wechselbrief, durch welchen der Kreditgeber aufgrund von Kursgewinnen ca. 12–14% Zins einnahm, ohne dass ausdrücklich ein Zinssatz vereinbart worden wäre. Geldgeber wurden an Handelsgeschäften beteiligt, erhielten für ihr eingezahltes Geld keinen Zins sondern Handelsgewinn, auch wenn es sich eigentlich um fest verzinste Einlagen handelte. Ebenfalls der Rentenkauf, vergleichbar der Beleihung von Hypotheken, brachte Einnahmen, die so wenig mit Zins in Verbindung gebracht wurden, dass sich auch die Kirche daran beteiligte, obwohl er im 14. Jh. kurzzeitig in den Verdacht des Wuchers geriet. Bei der Anleihe gegen Pfand konnte man durch die Nutzung des Pfandes Einnahmen erzielen, die keine Zinsen waren. Bisweilen umging man das Zinsverbot einfach dadurch, dass man von vornherein eine Höhe der Rückzahlung vereinbarte, die über der geliehenen Summe lag. Trotz der Gefahr für ihr Seelenheil nahmen christliche Wechsler für Kreditgeschäfte Zins, der als solcher deklariert war. Er konnte bis zu 25% oder mehr betragen, war abhängig von den geleisteten Sicherheiten und den persönlichen oder geschäftlichen Beziehungen. In Kaufmannsbüchern und Statuten italienischer Städte des 13. Jh.s wurden häufig

Gesandte Zinssätze erwähnt, die den kirchlichen Bestrebungen, den Wucher einzudämmen, insofern entgegenkamen, als sie einen Höchstsatz von 10–15 % vorschrieben. Im 14. und 15. Jh. sank die Zinshöhe bei Geschäften aller Art meist unter 10 %, was eher mit der wirtschaftlichen Situation als mit Furcht vor Höllenstrafen zu erklären sein dürfte, denn dagegen baute man mit frommen Stiftungen zugunsten Armer oder durch die Finanzierung von Kapellen oder Spenden an Kirchen oder gar den Kauf von Ablassbriefen vor. Gesandte Der diplomatische Verkehr im MA vollzog sich durch G., die durch Empfehlungs- oder Beglaubigungsschreiben des Absenders beim Empfänger akkreditiert wurden. Insbesondere die römische Kurie war damals wie heute ein ‚Global-Player‘ in Sachen Gesandtschaften. Als G. gekrönter Häupter fungierten je nach Bedeutung der Angelegenheit und des Adressaten alle Chargen vom Dienstboten bis zu kirchlichen und weltlichen Fürsten. Eine vornehmere Gesandtschaft bestand zumeist aus mehreren G.n, wobei bis ins Spätmittelalter Geistliche überwogen. Vielfach setzte sie sich sowohl aus geistlichen als auch weltlichen Teilnehmern zusammen, im Spätmittelalter kamen sehr häufig Juristen hinzu, insbesondere wenn Verträge ausgehandelt oder geschlossen werden sollten. Selbstver-

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Geschenk ständlich reisten zumindest vornehmere G. unter Begleitschutz und mit Geleitschreiben, die allerdings nicht immer ausreichend vor Überfällen schützten. Im Normalfall wurden G. ehrenvoll aufgenommen und beschenkt, womit von vornherein ein Vertrauensverhältnis geschaffen werden sollte, auch wenn sich eventuelle Verhandlungen, zu denen die G.n gegebenenfalls Spezialvollmachten (Prokuratorien) vorlegen mussten, schwierig gestalteten, was oft genug vorkam. Immer wieder finden sich vor allem im Spätmittelalter G., die im Dienste verschiedener Herren standen, also von Berufs wegen gegen Bezahlung reisten. Im Spätmittelalter richteten Herrscher, Fürsten und sogar Städte an der päpstlichen Kurie und an Herrscherhöfen nach und nach beständige Gesandtschaften ein. Geschenk Auch in der heutigen Gesellschaft gilt noch der Grundsatz: ‚Kleine G.e erhalten die Freundschaft‘. Die mittelalterliche Geschenkkultur vollzog sich in

einem Dreischritt: Geben, Annehmen und Erwidern. Alle Schritte hatten streng verpflichtenden Charakter, ein Zuwiderhandeln zog unweigerlich Prestigeverlust nach sich. G.e trugen unbedingte Verpflichtungen in sich, wirkten bündnis- und friedensstiftend. Daher war Vorsicht bei der Annahme einer Gabe geboten, denn sie galt als Freundschaftspfand mit weit reichenden Konsequenzen. Wie noch heute spielten G.e in Politik und Diplomatie eine überaus wichtige Rolle. Leistete nämlich ein Beschenkter keine Gegengabe, dann war seine Ehre befleckt und das G. galt als gestohlenes Gut. Dieses ‚System‘ der verpflichtenden Gegengabe konnte eine derartige Dynamik im gegenseitigen Überbieten annehmen, dass sich gar mancher Mann aus ‚verpflichtender Großzügigkeit‘ ruiniert hat. G.e mussten nicht nur dinglicher Natur sein, es konnte sich ebenso um Dienste, Festessen oder sonstige Vergnügungen handeln. Selbst Verträge und vor allem Eheschließungen wurden durch G.e und ein Festessen bekräftigt.

Gesellschaft und Stand Die mittelalterliche Gesellschaft hat einen dem modernen Europäer fremden, ja bisweilen sogar unglaublich erscheinenden Charakter, insbesondere im Hinblick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Rolle von Religion und Kirche. Doch werden wir in den letzten Jahren immer wieder mit den Verhaltensweisen der islamischen Staaten konfrontiert, die den mittelalterlichen Verhältnissen gar nicht so fern sind. Außerdem werden wir

Gesellschaft und Stand feststellen, dass sich so manches gesellschaftliche Denkschema bis in unser modernes Europa gerettet hat. Das Grundkonzept der mittelalterlichen Gesellschaft hat Wernher der Gärtenære, ein Dichter des 13. Jh.s, dem Bauern Helmbrecht in den Mund gelegt, der seinen Sohn davon abbringen wollte, sein Glück bei Hofe zu suchen: „Nur selten hat derjenige Erfolg gehabt, der gegen seine Standesordnung aufbegehrt. Deine Ordnung ist der Pflug!“ Dieser lässt sich nicht beschwatzen, bricht aus seiner Standesordnung aus, benimmt sich in grotesker Art ‚vornehm‘ und endet als Raubritter, aufgeknüpft von den Nachbarn seines Vaters. Knapp, aber prägnant vermitteln diese Worte die Vorstellung der Menschen von ihrer Gesellschaft, die keineswegs so offen war wie heute. Wenngleich es soziale Mobilität gegeben hat, hatten steile Karrieren Seltenheitswert. Immerhin ist es Ministerialen gelungen, als Ritter in den niederen Adel aufzusteigen und sogar Bf. zu werden. Die Grenzen zwischen reichem Bauern und armem Ritter waren fließend. Dennoch: Der Ordo-Gedanke, das Bewusstsein des Menschen, in einer gottgewollten Ordnung zu leben und von Gott an seinen Platz in dieser Ordnung gestellt worden zu sein, ist im MA nie preisgegeben worden. Selbst in den Städten, in denen sich die Bürger ihre Freiheit gegen feudale Stadtherrn erkämpft hatten, sanktionierte man das geheiligte Schema der untereinander abgestuften Stände. Die Stände des MA Stände lassen sich definieren als gesellschaftliche Verbände innerhalb eines hierarchisch gegliederten sozialen Gefüges, die aufgrund rechtlich-sozialer und/oder verfassungsrechtlich-politischer Merkmale voneinander abgegrenzt waren. Stand und Rang wurden durch zahlreiche lateinische und volkssprachliche Begriffsfelder zum Ausdruck gebracht, die sich übersetzen lassen mit: Würde, Ehre, Grad, Recht, Dienst, Stand, Ordnung. Sie entsprechen der Vielzahl von Kriterien, die Ausschlag für die Einordnung der gesellschaftlichen Position eines Menschen gaben: Geburtsstand, Beruf, Teilhabe an politischer Herrschaft, Stellung im Lehnsverband. In Standeslehren finden sich zudem immer wieder Differenzierungen nach der persönlichen Lebenssituation: verheiratet, unverheiratet, verwitwet, reich, arm, jung oder alt. Gemeinsam ist allen Kriterien, dass ein einziges die soziale Realität nicht ausreichend wiedergibt, ja dass zwei, die auf ein- und

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Gesellschaft und Stand dieselbe Person zutrafen, sich widersprechen können, man denke nur an persönlich besitzlose und zum Gehorsam verpflichtete Mönche wie Drogo und Hugo, illegitime Söhne Ks. Karls d. Gr. Die vielleicht grundsätzlichste Unterscheidung im Bewusstsein der Zeitgenossen war die in mächtig und mittellos. Mächtig war nebst dem Kg. der Adel, in den man hineingeboren wurde. Dieser Stand war keineswegs homogen, denn die Stellung eines jeden Adeligen wurde sehr differenziert beurteilt: Nähe zum Königshaus, Amt und Würde, Stellung innerhalb der Heerschildordnung, wie sie im Sachsenspiegel aus dem 13. Jh. dargestellt wurde. Es handelt sich dabei um die siebenstufige Lehenspyramide, den mittelalterlichen ‚Staatsaufbau‘, an deren Spitze der Kg. stand. Die zweite Stufe waren die geistlichen Fürsten (Bischöfe und Äbte von Reichsabteien), die dritte die weltlichen Reichsfürsten, die vierte die freien Herren, die fünfte die Königsfreien und Lehnsleute der freien Herrn, die sechste deren Vasallen. Welche Personengruppe dem siebten Heerschild zuzuordnen ist und ob diese überhaupt noch lehensfähig war, verschweigt der Autor. Zur Würde eines jeden Angehörigen eines Heerschildes gehörte, dass er kein Lehen von einem Angehörigen eines niedrigeren Heerschildes empfangen konnte, ohne seine eigene Stellung zu mindern. Diese Lehre des Sachsenspiegels, der kein Gesetzbuch, sondern ein Abbild bestehenden Rechts war, wurde von anderen Rechtsspiegeln übernommen, war also spätestens im 13. Jh. Gewohnheitsrecht. Dieser ‚Staatsaufbau‘ wurde in der Forschung Personenverbandsstaat genannt, womit ausgedrückt werden sollte, dass es im MA keinen zentralen Staat im modernen Sinn mit Legislative und Exekutive gab, sondern der innere Zusammenhalt des Reiches durch Lehensverbände gewährleistet war, an deren Spitze der Kg. als Reichsoberhaupt stand. Selbst innerhalb der einzelnen Heerschilde kam es zu Streit um den Vorrang. So schlugen sich am Pfingstfest des Jahres 1063 in der Kirche von Goslar die Krieger des Bf.s von Hildesheim und des Abtes von Fulda die Schädel ein, weil sich der Bf. wegen der Aufstellung seines Stuhls gegenüber dem Abt zurückgesetzt gefühlt hatte. Die kunstvoll hergestellten Faltstühle waren im Hochmittelalter ein Vorrecht der Ks., Kg.e, Bischöfe und Äbte und gehörten üblicherweise zum Reisegepäck. Die Sitzordnung aber war ein Spiegel der Würde des jeweiligen Stuhlinhabers. Knapp 300 Jahre später regelte Ks. Karl IV. (1355) in seiner Goldenen Bulle u. a. die Sitzordnung der Kurfürsten anlässlich eines Hoftages oder einer Königswahl, um die ewigen Streitigkeiten darüber ein für allemal zu beenden.

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Gesellschaft und Stand Kampf um verletzte Ehre führte auch in den niedrigeren Etagen der Lehenspyramide häufig zu blutigem Streit, und bisweilen gehörte die Wahrung des Friedens im eigenen Heer zu den schwierigsten Aufgaben des Kg.s bei einem Heereszug. Sogar die Beziehungen zwischen Kg.en untereinander und mit dem Papst wurden oft genug durch Rangstreitigkeiten getrübt, wobei symbolische Handlungen politische Krisen heraufbeschwören konnten, man denke nur an das bereits erwähnte Treffen zwischen Friedrich Barbarossa und Papst Hadrian IV. 1155 in Sutri (Ehre). Mit diesem Beispiel sind wir bereits bei der zweiten wichtigen Unterscheidung angekommen, nämlich der zwischen Klerus und Laien. Wegen ihrer Nähe zu Gott, ihrer Weihe und ihrer Stellung als Mittler zwischen Gott und der Welt kam Klerikern prinzipiell höhere Würde zu als Laien, weshalb die geistlichen Fürsten in der Lehenspyramide unmittelbar unter dem Kg. standen. Dieser Vorrang wurde bei Klerikern niederen Ranges durch die Realität der Macht und des Reichtums nur allzu rasch aufgefangen. Insbesondere in der Zeit bis zum Investiturstreit im 11./12. Jh. blühte das Eigenkirchenrecht, nach welchem der Gründer/Stifter einer Kirche die volle Gewalt über diese innehatte und mit bischöflichem Segen einen Kleriker seiner Wahl für den Gottesdienst anstellen konnte, bei dem es sich in der Frühzeit oft genug um einen Knecht gehandelt hat, dessen Hauptbeschäftigung im Ausmisten des grundherrlichen Stalls bestand. Lässt man dieses Extrem beiseite, bleibt dennoch, dass die Würde eines Klerikers in erster Linie von seiner Stellung in der geistlichen Hierarchie abhängig war, die ihrerseits in der weltlichen verankert war. Der Abt eines Klosters war eben nicht nur der Leiter einer Mönchsgemeinschaft, sondern in seiner Funktion als Vertreter des Klosters auch Lehensmann mit weltlichem Rang. Dieser war wiederum abhängig von der Würde des Lehensherrn. Zeitgenossen zur Gesellschaftsordnung Schon in Schriften des Frühmittelalters findet sich ein dreiteiliges Modell der Gesellschaft anhand beruflicher Kriterien, die Einteilung in: „Beter, Krieger, Arbeiter“. An dieser Dreiteilung hielt man im Prinzip trotz der Veränderungen durch die wesentlich differenziertere städtische Wirklichkeit fest. Handwerker, Händler, Tagelöhner wurden unter die Arbeitenden subsumiert – mit Bettlern und Huren beschäftigte sich die Theorie nicht, die standen außerhalb der Gesellschaft. Weil Bilder die Vorstellungskraft anregen, schuf man solche auch für die Er-

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Gesellschaft und Stand scheinungsformen und das Zusammenspiel der gesellschaftlichen Ordnung. Ideal für diesen Zweck war das seit dem 11. Jh. in Deutschland bezeugte Schachspiel (schachzabel), ein orientalischer Import. Der oberitalienische Dominikaner Jacobus de Cessolis begründete Ende des 13. Jh.s mit seinem „Büchlein über die Sitten und Aufgaben der Edlen anhand des Schachspiels“ eine neue, auch in Deutschland sehr beliebte Literaturgattung. Das Schachspiel eignete sich ganz besonders gut für einen Gesellschaftsspiegel, da analog zum realen Leben der Platz einer jeden Figur vorgegeben war und diese sich nur gemäß vorgegebener Regeln bewegen durfte. Die Identifizierung von Kg. und Kgn. stand fest, die der anderen Figuren wurden in darstellerischer Freiheit vergeben. Aus dem „pedinus“, dem Marschierer wurde je nach Bedarf der Fußkrieger, Bauer, Handwerker oder Kaufmann, aus dem Springer oftmals der Ritter als Symbol für den Adel, der Turm, der stets geradlinig gehen muss, wurde gern mit dem Richter identifiziert, der Läufer mit dem Bf. Die Autoren verknüpften die jeweiligen Stände mit bestimmten Rechten, Pflichten, Arbeits- und Verhaltensweisen und führten so dem Leser ein buntes Abbild der Gesellschaft vor Augen. Natürlich hatten solche Erklärungen Rückwirkung auf die Spielfiguren, die keineswegs so eintönig daherkamen wie die modernen. Auch andere staatstheoretische Schriften, z. B. Fürstenspiegel, beschrieben das Idealbild einer Gesellschaft, die sich nur dann in der von Gott gewollten Ordnung befand, wenn die dazugehörigen Menschen die Erfordernisse ihres Standes anerkannten und einsichtig ihre von Gott gestellten Aufgaben getreu und pflichtbewusst erfüllten. Standesbewusstsein im Alltag Um die Auswirkungen des Standesdenkens für den Alltag zu veranschaulichen, kehren wir zu Wernher dem Gartenære und seinem Helmbrecht zurück. Das Werk aus dem 13. Jh. liest sich wie eine köstliche Satire über einen Bauernlümmel, der seinem Stand entfliehen wollte, was gar manchem tatsächlich gelungen ist. Bei Helmbrecht kam aber alles ganz anders: Das Unglück nahm seinen Lauf, als der Tölpel sich zum Ritterstand berufen fühlte, weil er lange seidige Haare und darauf eine mit Motiven aus Heldenepen bestickte Haube trug, die ebenso wie seine bunte Kleidung aus feinstem Stoff nicht zum Bauernstand passen wollten. Seine unstandesgemäße Kleidung verwirrte ihm derart den Kopf, dass er sich für etwas Besseres hielt. Gartenæres Aussage ist klar: Für jeden Stand gibt es eine standesgemäße Art die

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Gesellschaft und Stand Haare zu tragen und sich zu kleiden. Kleider machen Leute: Wer sich nicht standesgemäß kleidete, verletzte die Ordnung. Gleiches Denken finden wir bei den Obrigkeiten von Städten, die ihren zu Reichtum gelangten Bürgern das Tragen besonders luxuriöser Kleidung verbaten, denn Kleidung war das sichere erste Erkennungsmerkmal für die Standeszugehörigkeit. Bestimmte Stoffe, Farben und Pelze waren als Träger von Standessymbolik einem auserwählten Personenkreis vorbehalten, dem sie aufgrund seiner Würde zukamen. Die Trachten, die heutzutage mehr und mehr in Vergessenheit geraten, sind ein Relikt jener Kleiderordnung. Eine Standesordnung gab es auch für die Ernährung. Helmbrecht senior riet: „Lieber Sohn, trink Wasser, bevor du mit geraubtem Gut dir Wein kaufst […] Deine Mutter kann guten Brei kochen. Den sollst du essen, statt ein geraubtes Pferd für einen Gänsebraten zu geben.“ Der Sohn jedoch strebte nach Wein, wollte gesottenes Huhn und Weizenbrot essen, während für den Vater, den Bauern, Haferbrei gut genug war. Weißbrot kannten fast ausschließlich die Angehörigen der Oberschicht, während das Schwarzbrot als Speise des niederen Volkes galt. Fleisch kam bei den Armen nur ganz selten auf den Tisch, ihnen blieben Kraut und Rüben. Wenn die oberen Schichten solches aßen, war es gewiss mit Speck und Gewürzen veredelt. Mit Gewürzen wie Pfeffer, Ingwer, Safran etc. Zubereitetes war wegen der hohen Kosten eine Prestigeangelegenheit, die sich nur die Vornehmen und Reichen leisten konnten und damit bei Einladungen gehörig angaben. Mit dem eigenen Reichtum und Stand wollte man keineswegs hinter dem Berg halten. Wild und besonders edle Fischsorten waren nur dem Tisch der Vornehmen vorbehalten. Auch die Speisenfolge war eine Sache des Standes. In vielen Städten war sogar die Anzahl der Gänge für Festessen ständisch begrenzt. Bei Festessen des niederen Adels gab es acht bis zwölf Gänge, beim Bürgertum oftmals nur die Hälfte. Vermutlich eine Folge der Standesordnung, denn mit dem Reichtum des niederen Adels konnten reichere Bürger problemlos mithalten. Mit Geiz hatte das Verhalten gewiss ebenfalls nichts zu tun, denn den eigenen Reichtum und die Generosität stellte man nur allzu gern zur Schau. Vornehm sein hieß großzügig sein und verschwenden. Auch bei der Wahl des Ehepartners sollten die Standesgrenzen selbstverständlich nicht überschritten werden. Mochte eine Geliebte niederen Standes sein, so sollte die Ehefrau doch ebenbürtig sein. Allerdings ließ hier die Liebe so manches Mal Standesschranken überwinden. Das vielleicht geläufigste Beispiel ist das des bayerischen Herzogs Albrecht III., der 1432

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Gesellschaft und Stand heimlich die schöne Tochter eines Augsburger Baders, Agnes Bernauer, heiratete. Sein Vater ließ sie kurzerhand ertränken, damit die Ordnung wieder hergestellt war. In anderen Fällen mag es ein ‚happy end‘ gegeben haben, vor allem, wenn es im späteren MA um Verbindungen des niederen Adels zum reichen Bürgertum ging. Die Frankenkönige aus merowingischem Haus setzten sich bedenkenlos über Standesschranken hinweg und heirateten Frauen aus der Unterschicht, ja sogar Leibeigene aus ihrem eigenen Besitz. Grundsätzlich sah das fränkische Recht zwar vor, dass ein Freier, der eine Unfreie heiratete, selbst unfrei wurde, doch waren Mägde oder Sklavinnen nicht so teuer, als dass ein vornehmer Freier sie nicht vor der Hochzeit hätte freikaufen können. Insgesamt gesehen, achtete der Adel aber spätestens seit dem 8. Jh. darauf, sich standesgemäß zu verehelichen, schon allein aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen. Heiraten zwischen Standesgenossen bekräftigten Bündnisse, besiegelten das Ende von Streitigkeiten, ließen im bürgerlichen Bereich Wirtschaftsunternehmen zusammenwachsen oder begründeten Kooperationen. Gar mancher reiche Bürger mag für sich eine verarmte Adelige erkoren haben, um das eigene Ansehen oder zumindest das der Kinder aufzupolieren, und gar mancher Adelige nahm mit Blick auf den Geldbeutel des Vaters eine bürgerliche Frau. Wurde bei einer Hochzeit oder bei anderer Gelegenheit Musik gespielt, so unterschied sich diese je nach Stand ganz gewaltig. Mönche und Geistliche erfreuten sich am geordneten Gregorianischen Kirchengesang, Adelige an Minnesängern und Spielleuten, während sich das gemeine Volk an Gedudel und Gefiedel erfreute, je lauter und schräger desto besser. Standesdenken machte selbst vor Bestrafung, Buße und dem Tod nicht halt. Während ein Bauer bei einer Vergewaltigung mit einer Geldstrafe davonkam, musste ein Adeliger mit schwersten Strafen rechnen, denn eine solche Tat beschmutzte seine Standesehre. Selbst bei der Todesstrafe blieb die Würde gewahrt: Das Gerüst, auf welchem der Connetable von Saint Pol hingerichtet wurde, war mit Lilien geschmückt, karmesinrot waren Betkissen und Augentuch und des Henkers Hand war noch ‚jungfräulich‘, hatte noch nie zuvor eine Hinrichtung vollzogen. Kann es mehr Rücksicht auf den Stand geben? Stand als Teil des Selbstbewusstseins Heute trägt das Standesbewusstsein ganz andere Züge als im MA, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es noch immer – vielleicht unbewusst – Zwän-

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Gewürze ge ausübt, dass es Teil unserer Identität ist. Im MA, in dem die Individualität bei weitem nicht so ausgeprägt war wie heute, hat man bewusst identitätsstiftende Gemeinschaft gesucht, sich bewusst von anderen abgegrenzt. Um Exklusivität zu erlangen, wurden Ritterorden gegründet, deren Mitglieder einem ganz auserwählten Kreis angehörten. Die städtische Oberschicht reservierte für sich exklusive Trinkstuben und Festveranstaltungen. In Zunftstuben entwickelten sich aus dem Bedürfnis der Abgrenzung gegenüber anderen Riten im Umgang der Zunftgenossen untereinander, die von Außenstehenden überhaupt nicht verstanden wurden, aber innerhalb der Zunft das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Stolz auf den eigenen Stand stärkten. Die Menschen entwickelten ihr Selbstbewusstsein und den Stolz auf ihr eigenes Ich allein im Rahmen der sie umgebenden Gemeinschaften, im Rahmen ihres Standes. Spricht nicht Stolz aus den Worten des Bauern Helmbrecht auf seinen eigenen, niedrigen Stand gegenüber dem ach so edlen der Höflinge, wenn er seinem Sohn jene als Räuber vorstellt?

Gewaltbereitschaft Das mittelalterliche Recht hat sich mit nicht allzu großem Erfolg bemüht, das in der archaischen Mentalität verankerte Recht zur gewaltsamen Selbsthilfe einzuschränken. Dennoch tobten leidenschaftlich Fehden zwischen Adelsfamilien oder Städten, wobei verletzte Ehre, verletzter Stolz weit häufiger eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben als wirtschaftliche Gründe. Beim Spiel flogen allzu schnell die Fäuste, wurden allzu schnell Messer gezückt, vor allem wenn es um Geld ging. In so mancher Ehe endeten Streitigkeit mit Schlägen. Ja selbst der Klerus schreckte nicht vor Gewalt zurück: Am Pfingstfest des Jahres 1063 z. B. kam es in der Kirche von Goslar zu einem Handgemenge zwi-

schen den Kriegern des Bf.s von Hildesheim und des Abtes von Fulda, weil sich der Bf. wegen der Aufstellung seines Stuhls gegenüber dem Abt zurückgesetzt gefühlt hatte. In der Literatur wurden Gewalttaten zu bewundernswerten Heldentaten umgedichtet. Es fehlte allerorten ein Bewusstsein der Ächtung von Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung und Konfliktlösung. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten begeisterten sich stattdessen für die Spektakel der öffentlich durchgeführten körperliche Strafen, die an Grausamkeit kaum zu überbieten waren. Gewürze Unter G. n im engeren Sinn versteht man aromatisch duftende Pflanzen oder

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Gift Pflanzenteile, die frisch oder getrocknet wegen ihres Gehaltes an ätherischen Ölen, Bitterstoffen etc. einer Speise pikanten oder aromatischen Geschmack verleihen, den Appetit anregen und die Verdauung fördern. Zahlreiche G. wurden aufgrund ihrer Wirkung auch als Medikament verwandt. Unter G. fallen die in Europa beheimateten Würz- und Küchenkräuter und die im MA in den Küchen der Vornehmen und Reichen besonders geschätzten Spezereien aus dem Orient. Am bekanntesten und am meisten gebraucht war der Pfeffer aus Indien, welchem die Kaufleute den Schimpfnamen ‚Pfeffersäcke‘ verdankten. Er gab nicht nur dem Essen seine Schärfe, sondern wurde als verdauungsförderndes und harntreibendes Mittel gegen Husten, Asthma, Fieber und Augenwässern eingesetzt. Neben dem Pfeffer wurden vor allem Safran, Ingwer, Zimt, Gewürznelken, Muskat und Kardamom eingeführt, die neben der Koch- und Heilkunst auch der Konservierung dienten und so manchem Wein zu angenehmem Geschmack verhalfen – noch heute werden ja Glühwein Zimt und Nelken zugesetzt. Die Verbindung zum gewürzreichen Orient, Ceylon, Ostindien, Madagaskar oder den Molukken stellten die Levante und die östlichen Mittelmeerstädte von Byzanz bis Alexandria her, von wo aus die Ware zu den Hauptumschlagsplätzen für Europa, Venedig und Genua, gebracht wurden. Von dort aus

70 wurden sie dann von ‚Pfeffersäcken‘ an die jeweiligen Märkte und Messen gebracht. Es handelte sich also um wirkliche Kostbarkeiten, die sich nur die Reichen leisten konnten, die ihren Reichtum gern durch übermäßigen Gebrauch dieser Luxusgüter zur Schau stellten. Bei der berühmten Landshuter Hochzeit Hzg. Georgs des Reichen von Bayern mit der polnischen Königstochter Hedwig 1475 wurden 386 Pfund Pfeffer, 286 Ingwer, 207 Safran, 205 Zimt, 105 Gewürznelken und 85 Muskat verbraucht. Gegen Ende des 15. Jh.s lehrte der begnadete Koch Martino de’ Rossi mit seinem „Buch über die Kochkunst“ den inflationären Gebrauch von G.n einzudämmen (Ernährung). Das war auch insofern recht praktisch, als seit der Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen 1453 G. aus dem Orient noch teurer geworden waren. Gift Von gar manchem weltlichen oder geistlichen Machthaber munkelten die Zeitgenossen, er sei einem Giftanschlag zum Opfer gefallen. Viele dieser Gerüchte fallen unter die Rubrik erfundene Schauermärchen, doch manches dürfte einen realen Hintergrund gehabt haben – insbesondere Päpste waren bisweilen auffällig kurzlebig. Wie Johannes von St. Amand († vor 1313) unterschieden mittelalterliche Heilkundige zwischen den eigentlichen, den „Großen Giften“, die den Körper von sich aus radikal zer-

71 störten (Steppenraute, Tollkirsche, Quecksilber, Giftpilze, Geifer und Galle von Gifttieren) und den Betäubungsmitteln (Bilsenkraut, Alraune, Opium, Giftlattich, Mohn), die als Heil- und vor allem Schmerzmittel dienten, aber bei zu hoher Dosis tödlich wirkten. Wie bei Medizinen unterschied man zwischen einfachen, aus einem Grundstoff bestehenden und zusammengesetzten G.en, wobei die Art der Zubereitung ebenso Auswirkungen auf deren Wirksamkeit haben konnte wie Alter und persönliche Konstitution des ‚Patienten-Opfers‘, Jahreszeit, Wetter und Stand der Gestirne. G.en wie Seifenwurzel, Eisenhut oder Viperngalle schrieb man die schnellste Wirkung zu, da sie das Blut mit Gewalt verflüssigten und austreten ließen. An der medizinischen Schule von Salerno sah man schwere Vergiftungen als unheilbar an, während andere Heilkundige vermutlich mit mäßigem Erfolg die seit dem 3. Jh. v. Chr. bekannten Gegengifte (Antidote) und Theriak, ein Allheilmittel, verabreichten. Natürlich darf der Teufel im Zusammenhang mit G. nicht unerwähnt bleiben. Schon Hildegard von Bingen († 1179) erklärte die toxische Wirkung von Nachtschattengewächsen mit diabolischen Einflüssen. Im 13. Jh. wurde Giftmord mit Schadenszauber in Verbindung gebracht und zu einem beliebten, ja bald regelmäßig verwandten Anklagepunkt in Hexenprozessen. Giftmörder galten, auch wenn sie vielleicht

Glas nicht ‚nachweislich‘ am Hexensabbat teilgenommen hatten, in jedem Fall als geheime Verbündete des Teufels. Gilde Der älteste Beleg für das Wort G. ist das Kapitular von Heristal von 779. Nach diesem Rechtstext sind G.n freie Einungen von Personengruppen, die durch Übereinkunft, Vertrag und Eid entstehen. Als Zweck der Gildenbildung nennt der Text gegenseitige Hilfe bei Verarmung, Schiffbruch und Brand. In anderen Texten werden G.n auch als Bruderschaft, Freundschaftsbund, Gemeinschaft oder Schwurbund bezeichnet, wobei stets die gegenseitige Hilfeleistung im Vordergrund steht. Im norddeutschen Raum wurden damit vor allem Zusammenschlüsse von Kaufleuten, gelegentlich aber auch von Handwerkern bezeichnet, deren Einungen in der Geschichtswissenschaft Zunft genannt werden. Die Satzungen einer G. betrafen bald nicht mehr nur Angelegenheiten der Handelsreisen, sondern mehr und mehr auch rechtliche, wirtschaftliche und religiöse an ihren Niederlassungen. Auf diese Weise sind Bestimmungen des Gilderechts vielerorts Grundlage des Stadtrechts geworden und Verwaltungsorgane der G.n wurden Vorstufen städtischer Ämter (Stadt). Glas Mittelalterliches G. bestand – abgesehen von färbenden Bestandteilen – aus

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Gottesurteil einem Teil Quarzsand und zwei Teilen natürlicher Soda oder Asche, wobei Soda die Herstellung von reinerem G. ermöglichte. Verunreinigungen durch Soda / Asche wurden durch einen Schmelzprozess bei ca. 700° (Sintern bzw. Fritten) beseitigt. Das Fritten bewirkte die Verbindung von Flussmittel und Glasbildner (Fritte), während sich die verunreinigenden Elemente als Schaum ablagerten und manuell von der Fritte getrennt wurden. Sodann wurde das G. in einem Schmelzofen bei ca. 1150° geschmolzen, um danach bei ca. 900° verarbeitet zu werden. Glashütten, in denen sowohl Flach- als auch Hohlglas hergestellt wurden, errichtete man in der Nähe der Rohstoffe und Handelswege. Solange die aus dem Vorderen Orient importierte natürliche Soda zur Verfügung stand, war die Nähe zu einem geeigneten Sandlager ausschlaggebend. Als im 10. Jh. der Sodahandel abbrach, erbaute man sie wegen des Brennmaterials und der Asche in holzreichen Gebieten wie dem Fichtelgebirge oder Bayerischen Wald. Mit wenigen Ausnahmen wurden Glashütten nach einigen Jahren verlegt, wenn die umliegenden Wälder kahl geschlagen waren. Flach- und Hohlgläser wurden durch Glasbläserei hergestellt. Dabei wurde mit der Glasmacherpfeife, einem bis zu 90 cm langen Metallrohr, das geschmolzene G. aus dem „Hafen“ des Schmelzofens entnommen und zu einem „Kölbel“ aufgeblasen, der für Flachglas Zylinderform,

72 für Hohlglas Kugelform hatte. Der zylindrische „Kölbel“ wurde aufgetrennt und zu einer ca. 35 ✕ 50 cm großen Tafel aufgerollt, der kugelige wurde wie noch heute üblich durch Blasen und Bewegung des Rohres in eine individuelle Form gebracht und verziert. Abschließend musste das G. in einem Kühlofen „getempert“ werden. Seit dem 14. Jh. wurde das Flachglas durch Mondglas und Butze verdrängt. Zu deren Herstellung wurde der „Kölbel“ geöffnet und durch schnelles Drehen zu einer flachen Scheibe geweitet. Butzen wurden bis zur Größe von 12 cm gefertigt und als ganze Scheibe zu Butzenfenstern verarbeitet. Das Mondglas hingegen hatte einen Durchmesser von 40 bis 100 cm und wurde in einzelne Segmente zerteilt. Glasfenster kamen allerdings recht spät in Gebrauch. Vorbildfunktion hatten die bemalten Kirchenfenster der Gotik, doch wurden bis weit in die NZ hinein neben Kirchen nur öffentliche Gebäude und Häuser reicher Privatleute mit Glasfenstern ausgestattet. Gottesurteil Bis ins 13. Jh. sah das Recht für Fälle, die mit herkömmlichen Mitteln nicht gelöst werden konnten, das G. vor, das die Vorstellung voraussetzt, Gott greife in die Welt ein und verhelfe der gerechten Sache durch ein Wunder zum Sieg. Neben dem häufigen gerichtlichen Zweikampf gab es eine ganze Reihe weiterer Proben: Die so genannte Abend-

73 mahlsprobe beruhte auf dem Gedanken, dass die Einnahme der geweihten Hostie durch Unwürdige deren Verdammnis nach sich ziehe. Schwieriger war die Brotprobe: Der Beschuldigte musste trockenes Gerstenbrot und trockenen Ziegenkäse essen. Blieb ihm der ,Bissen‘ im Halse stecken, galt er als überführt. Besonders beliebt waren Wasser- und Feuerprobe. Der Proband musste beispielsweise nach einem Exorzismus, einer Messe, bei der er den Leib des Herrn empfangen hatte, und weiterem Zeremoniell, mit seiner Hand einen Stein aus einem Kessel holen, in dem geweihtes Wasser kochte. Bei der Feuerprobe musste der Proband z. B. glühendes Eisen mit bloßer Hand vom Taufstein zum Altar tragen oder wie die hl. Kunigunde über glühende Pflugscharen gehen. Im Anschluss wurde die Hand (die Füße) sorgfältig verbunden und am dritten Tag zur Begutachtung ausgepackt. Heilten eventuelle Wunden problemlos war der Beweis der Unschuld erbracht. Der Fantasie der Richter waren bei der Wahl der Proben kaum Grenzen gesetzt. Hatten anfangs bei den G.en Geistliche an vorderster Front mitgewirkt, so verbot das IV. Laterankonzil unter Papst Innozenz III. dem Klerus die Beteiligung an der Durchführung von G.en, die angesichts der liturgischen Zeremonien damit kaum mehr durchführbar waren. Dennoch hielten sie sich noch eine Zeit lang bis sich im weltlichen Prozesswesen der von Innozenz

Grausamkeit III. auf dem genannten Konzil zur Ketzerbestrafung eingeführte Inquisitionsprozess mit seinen kanonistisch-römischrechtlichen Beweisregeln allmählich durchgesetzt hatte. Grausamkeit Das MA ist ein Zeitalter kaum vorstellbarer G.en, die nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in aller Öffentlichkeit zelebriert wurden. Eine auch nur kleine, äußerst unvollständige Liste der Strafen, mit denen angebliche oder tatsächliche Straftäter geschunden oder ins Jenseits befördert wurden, lässt einen erschauern: Abgehackte Hände, abgeschnittene Augenlider, Nasen oder Ohren, ausgestochene Augen, kastrierte Männer, Erhängte, Geköpfte oder Gevierteilte. Wann immer möglich weidete sich die johlende Menge am Anblick der Geschundenen. Das Gaudium, sich am Schmerz der gequälten Kreatur zu ergötzen, beschränkte sich keineswegs nur auf gepeinigte Menschen. In Paris gehörte es im 16. Jh. zur Festfreude des Johannistags, zahlreiche Katzen lebendig zu verbrennen. Zu diesem Spektakel versammelte sich das Volk, Musikanten spielten auf bis jemand den Sack mit den zappelnden Katzen an einem Gerüst über dem Scheiterhaufen aufhängte. Dieser fing allmählich an zu glimmen, brannte schließlich und die angesengten, vor Angst und Schmerz schreienden Tiere purzelten ins Feuer und verbrannten ebenso jämmerlich wie Hexen. An

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Greisenalter diesem grausamen Schauspiel delektierten sich nicht nur die Pariser Bürger, sondern auch der Kg. und sein Hofstaat. Es kursierten wahre oder in sadistischem Geist erfundene Geschichten über G.en, die z. B. ein Ritter um die Wende des 13. Jh.s begangen haben soll, der in einem einzigen Kloster 150 Männer und Frauen verstümmelt haben soll. Dessen Frau soll ihm bei seinen Exekutionen mit mindestens gleicher G. geholfen und befohlen haben, Frauen ihre Brüste abzuhacken und die Nägel auszureißen. Es ist schwer, Erklärungen für derartig abartige G. zu finden, vor allem aber dafür, dass die Kirche Christi, des Verkünders der Nächstenliebe, mit Folter und Hexenverbrennung kräftig mitgemischt hat und dadurch Brutalität gerechtfertigt und gefördert hat. Mord, Vergewaltigung oder Verstümmelung gehörten zum Alltag der vielen Fehden und Kriege, auch wenn sie wie die Kreuzzüge im Namen des Herrn geführt wurden – ‚Kollateralschäden‘ für einen guten Zweck oder ‚ungezügelte Menschlichkeit‘? Greisenalter Die Lebenserwartung im MA war nicht allzu hoch und abhängig vom Stand. Am langlebigsten waren laut Statistik die ‚Intellektuellen‘ mit einem Durchschnittsalter von etwa 37 Jahren, doch scheinen Zweifel am Sinn solcher Zahlenspiele angebracht, da die niedrige Lebenserwartung zu einem guten Teil

74 mit der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit zusammenhängt, die in diesen Statistiken keinen Platz finden. Womit die Statistiker sicher Recht haben, ist das Faktum, dass Menschen der Unterschicht angesichts der harten körperlichen Arbeit, verbunden mit unzulänglicher Ernährung und Behausung, im Durchschnitt wesentlich früher gestorben sind, als die der Oberschicht, vor allem der Bevölkerungsgruppen, die nicht in Kriege verwickelt waren. Nur wenige Kinder der Unterschicht dürften ihre Großeltern kennen gelernt haben, die viel gepriesene DreiGenerationen-Familie war eine Seltenheit. Durchaus keine Seltenheit war es, dass die Kinder vor den Eltern starben und diese im Alter auf sich allein gestellt waren. Wohlhabende konnten sich in einem solchen Fall in ein Hospital einkaufen und bis zum Lebensende pflegen lassen. Arme fanden oft ebenfalls Zuflucht in Hospitälern, aber wesentlich weniger luxuriös. Auch Nachbarschaftshilfe mag bei der Versorgung älterer Menschen eine gewisse Rolle gespielt haben. Gar manche vornehme Witwe zog sich ins Kloster zurück, um dort in aller Stille durch Gebet und Werke der Nächstenliebe für sich und die Ihren einen Platz im Himmel zu erwirken. Etwas besser Bescheid wissen wir über die Altersstruktur der Oberschicht: Die deutschen Kg.e von Heinrich I. († 936) bis zu Heinrich VI. († 1197) sind durchschnittlich knapp 50 Jahre alt ge-

75 worden. Fürsten und der höhere Klerus dürften eine ähnliche Lebenserwartung gehabt haben. Immer wieder treffen wir auf Greise in der ‚High Society‘, man denke nur an Oda, die Großmutter Ottos d. G., die mit 107 Jahren verstarb oder an Papst Johannes XXII., der 1316 mit ca. 72 Jahren zum Papst gewählt wurde und noch bis 1334 gelebt hat, also etwa 90 Jahre alt geworden ist. Diese Zeit hat er trefflich genutzt, um Erde und Himmel durcheinander zu wirbeln: Er hat den römischen Kg., Ludwig den Bayern, und viele andere politisch unliebsame Zeitgenossen exkommuniziert und die unerhörte These aufgebracht, Heilige bekämen Gott erst beim Jüngsten Gericht von Angesicht zu Angesicht zu sehen. In Deutschland hatten Menschen, die in hohes Alter gekommen waren, also mindestens 60 Lenze zählten, die Möglichkeit, sich freiwillig unter Vormundschaft zu begeben, wodurch sie rechtsunfähig und aller Pflichten ledig waren (Eike von Repgow, „Sachsenspiegel“, frühes 13. Jh.). Eine solche wertmindernde Einschätzung hohen Alters hinderte einen aktiven Mann wie Friedrich Barbarossa († 1190) keineswegs, mit über 60 Jahren noch zum Kreuzzug aufzubrechen und zum Ausgleich für einen strapazenreichen Reisetag bei sengender Hitze ein wenig im reißenden Fluss Saleph zu schwimmen, um sich zu erfrischen. In vollster Aktivität riss der Tod den anscheinend Unverwüstlichen aus dem Leben. Die meisten der Wenigen

Greisenalter seines Alters plagten längst Gicht und andere Krankheiten. Karl d. Gr. z. B. soll in den letzten vier Jahren seines Lebens unter häufigen Fieberanfällen gelitten und mit einem Fuß gehinkt haben. Im Jahr 810, als diese Symptome nach Einhards Biografie begonnen haben sollen, war der Ks. immerhin schon 63 Jahre alt. Der Umstand, dass er gegen den Rat seiner Ärzte auf Braten nicht verzichten wollte, spricht dafür, dass sein Gebiss noch einigermaßen intakt war, was bei seinen Altersgenossen angesichts der katastrophalen Zahnpflege wohl eher selten gewesen sein dürfte. Hieronymus Bosch hat bei seinen schonungslosen Darstellungen der Gesichter alter Leute die Realität wohl sehr genau getroffen: Ein paar vereinzelte Zahnruinen künden von der ehemaligen Pracht. Selbstmord, als letzter Ausweg, sich seiner körperlichen Gebrechen zu entledigen, war problematisch, denn er führte auf direktem Weg in die ewige Verdammnis (Tod ). Kg. Johann von Böhmen († 1346) hat daher eine sehr eigenwillige Lösung gefunden: Er wollte schon mit 50 Jahren sein Leben als Blinder würdig beenden und ließ sich, angekettet an Getreue, in die Schlacht von Crecy führen, um im Kampf zu sterben, was ihm gelungen ist. Jahre zuvor war ihm sein Gebrechen noch Grund zur Heiterkeit gewesen, als er nach einer Unterredung mit dem gleichaltrigen Habsburger, Hzg. Albrecht II., dem Lahmen, den Raum verlassen wollte, aber die Tür

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Grundherrschaft nicht sehen konnte. Albrecht hätte ihn zwar gern zur Tür geführt, doch war er lahm. Angesichts dieser komischen Situation sollen beide in schallendes Gelächter ausgebrochen sein. Grundherrschaft Unter G. versteht man die Herrschaft über Menschen, die von einem Grundbesitzer Land zur selbstständigen Bewirtschaftung geliehen hatten und aus diesem Grund von dessen Herrschaft erfasst wurden. Für die Nutzung des geliehenen Landes schuldeten die Hörigen (Holden) dem Grundherrn Leistungen im Form von Abgaben und Diensten. Zwar verpflichtete das grundherrlichbäuerliche Verhältnis zu wechselseitigem Schutz und Hilfe, doch stand der Grundherr abhängigen Bauern gegenüber; die zu seiner Familie gehörten und unter seiner Muntgewalt standen, ihren Gerichtsstand vor seinem Hofgericht hatten und in Angelegenheiten, die über die G. hinausgingen von ihm vertreten wurden. Die G. war ein Kernelement der mittelalterlichen Agrarverfassung, deren Entwicklung sich nicht in allen Gebieten nach gleichem Muster und in gleichem Tempo vollzog. Es gab keine vom Kg. verordnete Richtlinie, kein einheitliches Recht. Die Ausgestaltung grundherrlicher Beziehungen richtete sich nach den regional verschiedenen Gegebenheiten, den Bedürfnissen und dem Charakter der Grundherren. Im Laufe ihrer Entwicklung erfasste sie die große Masse

76 der bäuerlichen Bevölkerung, denn bis ins 19. Jh. war der überwiegende Teil des landwirtschaftlich bewirtschafteten Bodens grundherrlich gebunden. Der Begriff G. erscheint zwar erst im 15. Jh., doch findet sich das Phänomen schon in frühmittelalterlichen Quellen unter Bezeichnungen wie „potestas“ (Macht) oder „dominium“ (Herrschaft). Häufig stoßen wir auf den Fronhof („villa“ oder „curtis“) mit Salland (vom Herrn bebautes Land) und die zu diesem gehörenden Hufen („mansi“ bzw. „huobe“) der abhängigen Bauern. Auch die verschiedenen Gruppen der Hofgenossenschaft („familia“) und grundherrliche Institutionen wie Hofrecht und Hofgericht sind verschiedentlich in Quellen erwähnt. Die G. trat im Frühmittelalter in drei Grundtypen auf, nämlich: 1. Als von Sklaven bewirtschaftete Gutsbetriebe, bei denen nur wenige Knechte über vom Gutshof getrennte Hofstellen verfügten. 2. Als Güterkomplexe aus mehreren zinspflichtigen Bauernhöfen. 3. Als ein vom Grundherrn bewirtschafteter Fronhof, umgeben von abhängigen Bauernhöfen (Villikation). Diese letzte entwickelte sich zur klassischen G., in welcher die Bauern außer Abgaben noch Frondienste zur Bewirtschaftung des Sallandes erbringen mussten. Das Villikationssystem war auf die unmittelbare Versorgung des herrschaftlichen Haushaltes mit Gütern des

77 alltäglichen Bedarfs ausgerichtet und verfügte daher neben der Landwirtschaft über eine differenzierte handwerkliche Produktion mit Back- und Brauhaus, Weberei usw. Fronhöfe, die der Grundherr nicht selbst bewohnte, bewirtschafteten Fronhofverwalter, die Meier („villici“, „maiores“). Ausgedehnte G.en verfügten in der Regel über ein mehrstufiges Villikationssystem, d. h. dass von Meiern verwaltete Oberhöfe an der Spitze von Haupt- und Nebenhöfen standen. Vor allem der Grundbesitz kirchlicher Institutionen konnte über ganz Deutschland, ja sogar Europa verstreut liegen und hatte deshalb eine effektive Verwaltung dringend nötig. Der enorme Bevölkerungsanstieg, verbunden mit zahlreichen Stadtgründungen sowie die Ausweitung von Handel und Geldwirtschaft führte zwischen dem 11. und 14. Jh. zur weitgehenden Beseitigung des Villikationssystems. Bisweilen blieb der ehemalige Fronhof Sammelstelle für die Abgaben der abhängigen Bauern und Sitz der grundherrlichen Hofgerichte, die ihre Zuständigkeit nicht verloren, wenngleich sich

Grundherrschaft die persönlichen Bindungen der Hörigen an ihren Grundherrn lockerten. Die grundherrliche Eigenwirtschaft wurde nur noch mit Mägden und Knechten und Saisonarbeitern fortgeführt, die z. B. in Erntezeiten Gras oder Korn schnitten, wenn die Grundherren nicht ihr Eigentum überhaupt in zinspflichtige Bauerngüter unterteilten oder zur Ausstattung ihrer Lehensleute oder Ministerialen verwandten. Frondienste wurden meist in regelmäßige Geldzahlungen (Geldrenten) umgewandelt. Das Nutzungsrecht der Güter besaßen die Hörigen ursprünglich auf Zeit, es musste eneuert werden, wenn die Naturalabgaben (häufig ein Drittel des Ertrags) geliefert wurden. Mit der Zeit wurde das Nutzungsrecht auf Lebenszeit vergeben bis es schließlich erblich wurde. Bei der Leihe nach Erbrecht wurden meist die Abgaben genau fixiert, womit das Risiko einer Missernte allein den Bauern traf. Trotz dieses Nachteils hat sich durch die freie Erbleihe natürlich die Stellung des Bauern verbessert, der seinen Hof mit Einschränkungen als eigen ansehen konnte.

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Haare Haare Den H.n hat man das ganze MA hindurch besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Es ging nicht nur darum, sie sauber und frei von Ungeziefer zu halten, denn bevor sie im ausgehenden MA bei Frauen und Männern unter diversen Kopfbedeckungen verschwanden (Kleidung), wurden sie offen und zumindest von angeseheneren Freien lang getragen. Die Haartracht und ihre bewusste Gestaltung kennzeichneten von den frühesten Zeiten an Würde, Stand oder zumindest doch Selbsteinschätzung. In den H.n lag das magische Königsheil der merowingischen Königsfamilie, deren Mitglieder geschoren wurden, wenn man sie absetzte oder von der Thronfolge ausschloss und in Klosterhaft steckte – regierungsfähig wurden sie erst wieder, wenn die Haarpracht nachgewachsen war. Bei einer Adoption schor der Adoptivvater als Zeichen der Aufnahme in die Familie seinem Adoptivsohn die H. Radikale Kürzung des H.s symbolisierte eingeschränkte persönliche Freiheit, Untertänigkeit oder freiwillige Unterwerfung wie bei der Adoption oder dem Eintritt in ein Kloster. Kurze Haarschnitte beim Adel waren wie das Bleichen oder Färben nur kurzeitige Modeerscheinungen. Das Kennzeichen der Ehefrau war die Verschleierung des H.s, während die Jungfrau es lang und unbedeckt und bisweilen zum Zopf geflochten trug. Durch Kämme und Haarnadeln wurden die H. von modebewussten

78 Frauen zu kunstvollen Frisuren gesteckt. Ja sogar Haarteile und Perücken benutzte man schon. Zur Festigung männlicher Frisuren verwendete man Eiweiß, Quecksilber, Wein und diverse Spezereien. Besonders beliebt war bei Mann und Frau gelocktes Haar. Die Lockenschere war damals als Kräuseleisen schon bekannt. Wichtigstes Utensil der Haarpflege war der Kamm, denn, auch wenn man sich nicht täglich gewaschen hat, gekämmt hat man sich mindestens einmal am Tag, allein schon um das Ungeziefer nicht Überhand nehmen zu lassen. Die im MA verbreitetste Form des Kammes war der Doppelkamm, der auf der einen Seite feinere, auf der anderen gröbere Zahnung aufwies. Im späten MA kamen auch schon die ersten Bürsten aus Igelstacheln oder Schweineborsten zum Einsatz. Zur Haarwäsche benutzte man seit dem späteren MA in höheren Kreisen parfümierte Seife. Heilige In frühchristlicher Zeit wurden nur Märtyrer als H. verehrt, erst im 5. Jh. auch Menschen aufgrund ihres Lebenswandels. Verehrung erfahren H. heute noch wegen ihrer übernatürlichen, von Gott verliehenen Gnadenvorzüge. Sie werden im Gegensatz zu Gott nicht angebetet, ihre Verehrung beschränkt sich auf Feste und Errichtung von Kirchen und Altären zu ihren Ehren. H. galten im MA als Rechtspersonen im juristischen Sinn: Man schwor auf Reliquien,

79 um den H.n als Zeugen anzurufen und fromme Menschen beschenkten nicht eine Kirche sondern den H.n, dem diese geweiht war. Entfremdete also jemand Kirchengüter, beraubte er einen H.n, der sich im Jenseits rächte. Aus zahlreichen Berichten über Jenseitsvisionen erfahren wir über die Qualen, welche Kirchenräuber im Fegefeuer erdulden mussten, da half es nichts, wenn man wie Karl Martell († 741) das Vordringen der Sarazenen ins Frankenreich (732) zu Lebzeiten verhindert hatte. Die H.n bildeten den Beraterstab Gottes, weshalb sich Bedrängte mit ihren flehentlichen Bitten an sie wandten, damit sie ihren Einfluss vor Gott geltend machten – an den Kg. durften sich Bittsteller ja ebenfalls nicht in eigener Person wenden, wollten sie Aussicht auf Erfolg haben. Mit dem ‚Jammertal‘ verbunden waren H. über ihre Gebeine, die als Reliquien verehrt wurden. Insbesondere als die missionierten Germanen auf ihre heidnischen Götter verzichten mussten, boomte der Handel mit Reliquien, denen man übernatürliche Kräfte zuschrieb. Jeder Altar musste eine Reliquie des H.n bergen, dem er geweiht war. Anfangs genügte für die kleinen Missionskirchen ein Altar, doch als sich das Christentum im großfränkischen Reich durchgesetzt hatte und die Kirchen größer und geräumiger wurden, blieben sie zwar einem Hauptheiligen geweiht, doch wurden auch anderen H.n Altäre errichtet.

Heilige Den Beistand der H.n hatten angesichts der vielfältigen Bedrohung des irdischen und jenseitigen Lebens alle vom Kg. bis zum Bettler bitter nötig. Was lag also näher, als H. zu beschenken, denn Geschenke verpflichteten deren Empfänger zu einer Gegenleistung. Außerdem gewannen H. durch ihren Reichtum und ihre Macht auf Erden an Ansehen im Himmel und damit an Einfluss auf Gott. Seit dem 5. Jh. mussten H. nicht mehr nur aus den römischen Katakomben ins Frankenreich importiert werden, weil einerseits missionsunwillige Heiden dafür sorgten, dass das Land selbst Märtyrer hervorbrachte und andererseits das Volk diejenigen, die in den Ruf der Heiligkeit gekommen waren, ohne größere Umstände nach ihrem Tod als H. verehrten, wenn nur Bf. und Partikularsynoden dies genehmigten. Da so ein H.r in vieler Hinsicht lukrativ war und Adelsfamilien mit Stolz auf einen H.n in ihrer Ahnenreihe verwiesen, wurden Heiligsprechungen oftmals ohne genauere Prüfung vorgenommen. Vermutlich nicht nur aus diesem Grund setzten die Päpste im 13. Jh. ihre alleinige Zuständigkeit für die Kanonisation durch. Aber es sollte noch schlimmer für die Gläubigen kommen: Man stelle sich die Empörung vor, als Papst Johannes XXII. 1331/32 in mehreren Predigten verkündete, den Seelen der H.n werde die Anschauung Gottes erst beim Jüngsten Gericht zuteil. Seiner Verurteilung als Ketzer entging der 90-jährige 1334 durch

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Heilkunde und Medizin seinen Tod. Kaum auszudenken, wenn all die um Hilfe und Schutz angeflehten H.n keinen Einfluss bei Gott gehabt hät-

ten. Dann wären ja Heiligenverehrung, Prozessionen, Wallfahrten und Geschenke nutzlos gewesen.

Heilkunde und Medizin Heilkunde wurde im MA zwar in antiker Tradition als Medizin mit theoretischem Hintergrund betrieben, doch in der landaus landein geübten Praxis handelte es sich meist um eine Art Heilzauber, zu dem man sich bisweilen gewisser Kräuter bediente, deren Wirkkraft auch heute vor allem von Heilpraktikern, aber auch Ärzten noch geschätzt wird. Grundlagen der ‚wissenschaftlichen‘ Medizin Die ‚wissenschaftliche‘ Heilkunde beruhte großenteils auf den Theorien und Erkenntnissen antiker griechischer und römischer Mediziner und war in drei Teilbereiche eingeteilt: 1. Gesundheitslehre (Physiologie) 2. Lehre von den Krankheiten (Pathologie) 3. Lehre vom Heilen (Therapeutik), gegliedert in Diätetik, Arzneimittellehre und Chirurgie. Eine heute immer häufiger an die ärztliche Versorgung gestellte Forderung erfüllte mittelalterliche Medizin: Sie hatte ganzheitlichen Charakter und beschäftigte sich eingehend mit der Prophylaxe. Ihr Ziel war, das Gesunde zu bewahren und das Kranke und „Neutrale“ durch Diätetik zu heilen. Diätetik bezog sich nicht allein auf die Ernährung, sondern auf die gesamte Lebensweise. Sechs Bedingungen gesunder Lebensführung waren bekannt: 1. Richtiger Umgang mit Licht, Luft, Wasser, Wärme, Boden und Klima 2. Adäquate Zusammenstellung der Lebensmittel 3. Rhythmisierung des Alltags durch Wechsel von Bewegung und Ruhe 4. Kultivierung von Schlafen und Wachen im Rhythmus von Tag und Nacht 5. Beachtung von Ausscheidungen und Absonderungen im Rahmen von Badekultur und Sexualhygiene 6. Beherrschung der Affekte und Emotionen Gesunde Ernährung, Bewegung, Frischluft und psychisches Wohlbefinden spielen auch in der gegenwärtigen Gesundheitsvorsorge eine zentrale Rolle.

Heilkunde und Medizin Das Zeitalter der Klostermedizin Im Früh- und Hochmittelalter wurde Medizin hauptsächlich in Klöstern betrieben. Schon die Väter des Mönchtums zählten die Pflege von Kranken und Bedürftigen zu den Aufgaben gottgefälligen Lebens. Nächstenliebe und Wissensdurst Der Eremit Antonius († ca. 356) wies die Mitbrüder an, aus Nächstenliebe für die Kranken der Eremitenkolonie zu sorgen, der Kirchenvater Basilios († 379) hat seiner Gemeinschaft ein Xenodochium zur Kranken- und Armenfürsorge angegliedert, der Kirchenvater Augustinus († 430) nahm die Versorgung Kranker und Bedürftiger als gottgewollte Aufgabe in seine Ordensregel auf, und Kapitel 36 der Regel Benedikts von Nursia († 560) stellte fest: „Die Sorge für die Kranken muss vor und über allem stehen: Man soll ihnen so dienen, als seien sie Christus; hat er doch gesagt: Ich war krank und ihr habt mich besucht, und: Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ Das galt nicht nur für Mitbrüder, sondern auch für die Aufnahme Armer und Fremder, „denn in ihnen“, so lautet der Text, „wird Christus selbst aufgenommen.“ Zu dieser karitativen Grundhaltung gesellte sich das wissenschaftliche Interesse der Mönche. Durch Abschriften der medizinischen Werke des Hippokrates (in lateinischer Übersetzung), Galens und anderer, retteten Mönche antikes Wissens über Krankheiten und Behandlungsmethoden ins MA. Ihre von Nächstenliebe und Neugier geprägte Haltung zur Heilkunde blieb in Kirchenkreisen nicht unkritisiert, da der Mensch durch das Studium des Körpers und die Behandlung von Krankheiten ja möglicherweise dem göttlichen Heilsplan zuwiderhandelte. Krankheit galt christlichen ‚Fundamentalisten‘ im Gegensatz zur heidnischen Antike nicht als rational erklärbares Phänomen, sondern als gottgewollter Zustand. Eine beide Positionen in Einklang bringende Rechtfertigung der Heilkunde bietet das um 795 abgefasste Lorscher Arzneibuch: „Denn aus drei Ursachen wird der Leib von Krankheit befallen: aus einer Sünde, aus einer Bewährungsprobe und aus einer Leidensanfälligkeit. Nur letztere vermag menschliche Kunst heilen, jene aber einzig und allein die Liebe der göttlichen Barmherzigkeit.“ Diese Feststellung ist charakteristisch für mittelalterlichen Pragmatismus: Die ‚wahre Lehre‘ von der Krankheit als ‚Gesandter Gottes‘ wird zwar nicht angetastet, doch welcher Arzt könnte schon entscheiden, welche Krankheit gottgewollt ist?

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Heilkunde und Medizin Klosterärzte wirkten nicht allein hinter Klostermauern im „Infirmarium“ („infirmus“ = krank) für ihre Brüder und Gäste, sondern auch an den Höfen der Mächtigen und in den Hütten der Machtlosen. Der als „Infirmarius“ tätige Mönch wurde durch einen Laienbruder, den „Famulus“, unterstützt. Die Behandlung erfolgte nach den Regeln der Diätetik, damit das Gleichgewicht der Körpersäfte und damit die Gesundheit wiederhergestellt werde. Humoralpathologie Bis in die NZ wurde Krankheit mit dem Ungleichgewicht der Körpersäfte erklärt. Grundlage der dem Hippokrates (5./4. Jh. v. Chr.) zugeschriebenen Lehre von den vier Säften waren philosophische Feststellungen: Den Grundelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde ordnete Zenon von Elea (5. Jh. v. Chr.) die vier Primärqualitäten (heiß/kalt, feucht/trocken) zu. Der Arzt Polybos begrenzte Ende des 5. Jh.s v. Chr. die Zahl der Körpersäfte auf vier und verband jeden einzelnen mit zwei Primärqualitäten: Blut galt als feucht und heiß, gelbe Galle als trocken und heiß, schwarze Galle (von der man nicht weiß, um was es sich handelt) als kalt und trocken und Schleim als kalt und feucht. Aristoteles († 322 v. Chr.) schließlich stellte jedem Element einen Körpersaft zur Seite: Luft zu Blut, Wasser zu Schleim, Feuer zu gelber Galle und Erde zu schwarzer Galle. Ausgehend von diesen Zuordnungen stellte der berühmte römische Arzt Galen im beginnenden 2. Jh. n. Chr. die Gleichwertigkeit von Elementen und Lebenssäften als Bausteine des Makro- bzw. Mikrokosmos dar. Sein Modell der Humoralpathologie wurde für das MA maßgebend. Krankheiten beruhten demnach auf „Dyskrasien“, d. h. Fehlmischungen der Säfte, die krankhafte Verhältnisse von heiß und kalt sowie feucht und trocken hervorriefen. Auf der Grundlage des „Corpus hippocraticum“ entwickelte er ein System der Zuordnungen von Farben, Organen, Jahreszeiten, Lebensaltern zu den vier Elementen bzw. den Säften und den von diesen ausgedrückten Primärqualitäten, so dass man für jede Jahreszeit und jedes Alter die richtige Therapie finden konnte. Galen gilt auch als Begründer der Temperamentenlehre, nach welcher das Überwiegen eines Saftes im Körper Äußeres, Charakter und Krankheitsdisposition des Individuums bestimmt. Die gern zur Charakterisierung verwandten Termini Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker sind in diesen Theorien zwar angelegt, finden sich aber erst seit dem 12. Jh. Die Erkenntnis, dass Erkrankungen durch falsche Mischung der Körpersäfte entstehen, legte als wirksame

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Heilkunde und Medizin Behandlungsmethoden nahe: Aderlass und Schröpfen sowie Veränderung der Ernährung. Auf diese Weise kam so mancher kranke Mönch in der Fastenzeit zu Fleischgenuss, denn nach der Säftelehre vermehrte dieses das als heiß und feucht geltende Blut. Pharmazeutik – Chirurgie – Diagnostik Erfahrung lehrte die Mönche, wirksame Medikamente aus Heilkräutern zu komponieren, die zu einem guten Teil in den Klostergärten angebaut wurden – noch heute berühmt für ihre Rezepte ist die Äbtissin Hildegard von Bingen, Autorin zahlreicher heil- und naturkundlicher Schriften. Erfahrung beherrschte auch das Wirken auf den Gebieten der Wundversorgung und Chirurgie. Im Rahmen einer archäologischen Ausgrabung des Friedhofs des dänischen Zisterzienserklosters Øm, wurden Skelette ans Licht gefördert, die deutliche Spuren ärztlichen Wirkens aufweisen. Neben verheilten Knochenbrüchen zeugt bei einem Skelett eine vermutlich durch einen Schwerthieb verursachte 58 mm lange Öffnung im Schädel von ärztlicher Kunst. Der Verletzte hat überlebt, obwohl Knochensplitter aus der Wunde zu entfernen gewesen waren und eine Meißelung zu therapeutischen Zwecken stattgefunden hatte. Ks. Karl III. hat eine Öffnung des Schädels überlebt, die Ärzte zur Linderung seiner Kopfschmerzen vorgenommen hatten – die so genannte Trepanation wurde seit dem Neolithikum in verschiedenen Kulturen vermutlich zur Herabsetzung des Drucks im Kopf vorgenommen. Ein zentrales Diagnoseverfahren war das ganze MA hindurch die Harnschau, bei welcher der Arzt das Harnglas vor einen hellen Hintergrund hob, um dann aus der Farbe, Sedimenten, dem Geruch und Geschmack Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand eines Menschen zu ziehen. Erste Lehrbücher für die Harnschau im Abendland entstammen dem 7. Jh. Nicht aus der Fassung bringen ließ sich der Arzt Notker, als ihm Hzg. Heinrich I. von Bayern Urin einer schwangeren Hofdame als seinen eigenen präsentierte, damit er daraus eine Diagnose seines Gesundheitszustandes erstelle. Notker pries die Allmacht Gottes und prophezeite dem Herzog, er werde innerhalb der nächsten 30 Tage ein Kind zur Welt bringen. Im Rahmen der therapeutischen Fächer etablierte sich im Verlauf des hohen MA die Chirurgie als eigene Disziplin, zu der Frauenheilkunde und Geburtshilfe gehörten, wenngleich dabei hauptsächlich Hebammen tätig waren. Zahlreiche Handschriften über die Chirurgie führen Instrumentenlis-

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Heilkunde und Medizin ten: Neben Messern, Nadeln, Sonden und Nahtmaterialien sowie verschiedenen Formen von Brenneisen zur Kauterisation, d. h. zur Blutstillung und Tumorbehandlung, werden noch erwähnt: Wundhaken, Skalpelle, Sägen, Aderlassmesser, Schädelbohrer sowie Bruchbänder. Bei Brüchen legte man Arm- oder Beinladen an. Erstarrende Verbände zum Festhalten der Extremitäten in einer bestimmten Stellung, stellte man mit Hilfe von Eiweiß oder Harzen her. Man fertigte auch Prothesen, z. B. Holzbeine oder Eiserne Hände. Medizin als Universitätsstudium und ärztliche Approbation Im 12./13. Jh. verbaten diverse Konzilsbeschlüsse Mönchen das Medizinstudium und die Ausübung ärztlicher Tätigkeiten. Zum Ausgleich begann im 13. Jh. Medizin in ganz Europa Gegenstand des Universitätsstudiums zu werden. Eine Vorreiterrolle spielte die medizinische Schule von Salerno. Schon vor der Jahrtausendwende hatten dort Benediktiner aus dem nahen Montecassino als Lehrer und Ärzte gewirkt. Als Hüterin antiken Heilwissens mit einer umfassenden Sammlung medizinischer Schriften zog die Schule Gelehrte aus dem gesamten Mittelmeerraum an, zumal Süditalien aufgrund seiner wechselhaften Geschichte ein kultureller Schmelztiegel war. Alle, die dieses ‚Zentralinstitut‘ aufsuchten, um zu lehren und zu lernen, brachten Wissen aus ihrer Heimat mit. So verschmolzen dort frühzeitig griechisches, syrisches, ägyptisches und jüdisches Heilwissen zu einer theoretischen und praktischen Grundlage der Heilkunde im christlichen Abendland. Diese Vorreiterposition baute die Salernitaner Schule bis ins 12. Jh. weiter aus. Im 11. Jh. bearbeitete Constantinus Africanus (†1087), der 40 Jahre lang als Kräuterhändler die Mittelmeerländer bereist hatte, Schriften berühmter arabischer Gelehrter zum Gebrauch für die Schule von Salerno und wurde zum Vermittler griechischen und arabischen Wissens für das gesamte Abendland. Etwa zeitgleich wirkte in Salerno der Arzt Alphanus († 1083), seit 1058 Ebf. von Salerno, dessen Werk über die vier Säfte im menschlichen Körper in der gesamten europäischen Literatur des MA einen wegweisenden Platz einnahm. Auch eine heilkundige Frau namens Trotula arbeitete dort und hinterließ an der Wende zum 12. Jh. zwei Werke, die sich größter Beliebtheit erfreuten: „Über die Leiden der Frauen oder die Heilmittel für Frauen“, war ein gynäkologisches Lehrbuch, das andere behandelte die Zusammensetzung von Arzneien. Trotula war beileibe nicht die einzige Ärztin in Salerno. Einige von ihnen dürften wie Rebecca Guarna ei-

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Heilkunde und Medizin ner der „Ärztedynastien“ angehört haben, die ihre Sprösslinge zum Studium nach Salerno schickten. Wie weit die Gelehrtenrepublik, die „Civitas Hippocratica“, ihrer Zeit voraus war, verdeutlicht der Umstand, dass das Medizinstudium erst im 13. Jh. Einzug in die europäischen Universitäten hielt. Papst Honorius III. bestätigte 1219 die Gründung einer medizinischen Fakultät in Bologna, weitere erfolgten 1220 in Montpellier etc. Auf ‚deutschem‘ Boden gründete Karl IV. in seiner Residenzstadt Prag die erste Universität 1347. Um diese Zeit gab es in Süditalien längst die erste Medizinalgesetzgebung. Im Jahr 1140 erließ der normannische Kg. Roger II. von Sizilien nach arabischem Vorbild Vorschriften über die Ausübung der Heilkunde. Um die Behandlung seiner Untertanen durch unerfahrene Ärzte zu verhindern, bestimmte er für alle, die den Arztberuf ausüben wollten, dass ihr Wissen von einem kundigen königlichen Gremium überprüft werden müsse. Jegliche ärztliche Betätigung ohne diese Approbation sollte mit Kerkerhaft und dem Verlust des Vermögens geahndet werden. Ks. Friedrich II., Kg. von Neapel und Sizilien, erließ im „Liber Augustalis“ eine Art Studienordnung für das Medizinstudium, die vorsah, dass ein Mediziner nach Abschluss seiner fünfjährigen theoretischen und praktischen Ausbildung ein volles Jahr nur unter der Anleitung eines erfahrenen Arztes den Heilberuf ausüben durfte. Ein Chirurg sollte nur dann die Bestallung zur Berufsausübung erhalten, wenn er schriftliche Zeugnisse von an der medizinischen Fakultät lesenden Magistern beibringen konnte, dass er wenigstens ein Jahr lang die Fächer Chirurgie und Anatomie studiert hatte. Es dauerte Jh.e, bis sich der Inhalt dieser Gesetzgebung im deutschsprachigen Reichsgebiet durchgesetzt hatte. In zahlreichen deutschen Städten war noch in der frühen NZ das Medizinalwesen völlig ungeordnet, vor allem arbeiteten Ärzte größtenteils noch als Apotheker, was Friedrich II. ebenfalls verboten hatte. Unter dem Einfluss der Schule von Salerno verselbstständigten sich Anatomie und Chirurgie zu eigenen Disziplinen, ebenso Hygiene und Diätetik. Die zuvor stets mit der Medizin verbundene Pharmazie formierte sich zu einem eigenen Fachgebiet. Erkenntnisse der Anatomie beruhten auf Beobachtungen, die im 3. Jh. vor Christus bei Sektionen von Leichen in Alexandria und späteren Tiersektionen Galens niedergeschrieben worden waren, weil die Sektion von Menschen aus religiösen Gründen nicht vorgenommen wurde, auch wenn sie nicht generell verboten war. Allein die Öffnung

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Heilkunde und Medizin von Leichen weltlicher und geistlicher Fürsten zum Zwecke der Einbalsamierung (die Eingeweide wurden gesondert begraben) und im Rahmen des medizinischen Unterrichts erfolgte Tiersektionen bereicherten das Wissen. Im Jahr 1286 wurde erstmals in Cremona eine pathologisch-anatomische Sektion vorgenommen. Erste Lehrsektionen an der menschlichen Leiche folgten an der Universität Bologna um 1300, wobei die Lehren Galens und arabischer Gelehrter vorgelesen und an der Leiche demonstriert wurden. Die erste Lehrsektion neuen Stils ohne Verlesen des autoritativen Lehrbuchs führte Andreas Vesal, der Begründer der modernen Anatomie, 1541 in Padua durch: ein Befreiungsschlag für diese Wissenschaft. Die Pharmazie basierte ebenfalls auf antiken Kräuter- und Rezeptbüchern, die in Salerno weiterentwickelt wurden. Um das Jahr 1100 entstand dort das „Antidotarius magnus“, eine Sammlung von mehr als 1.000 Rezepturen. Um die Mitte des 12. Jh.s verfasste Nicolaus von Salerno das nach ihm benannte „Antidotarium Nicolai“, das zum pharmazeutischen Standardwerk des MA werden sollte. Dort findet man u. a. die wichtigen Betäubungsmittel für Operationen, die auf so genannte Schlafschwämme geträufelt wurden. Nicolaus schlug in seinem Werk ein einheitliches Gewichtssystem zur Portionierung von Arzneimittelbestandteilen vor. Eine exakte Dosierung ließ allerdings noch bis weit in die NZ auf sich warten, weshalb Chirurgen die Gefahren der medikamentösen Betäubung wenn irgend möglich mieden und schmerzstillende oder alkoholische Getränke verabreichten. Medizinische Versorgung Von einer adäquaten medizinischen Versorgung der Bevölkerung kann im MA keine Rede sein. Ausnahmeerscheinungen waren die Häuser des um 1070 in Frankreich gegründeten Antoniterordens, eines Hospitalordens, der sich mit Erfolg auf die Behandlung des Mutterkornbrandes spezialisiert hatte, der deshalb auch Antoniusfeuer genannt wurde. Grundlage ihrer Heilbehandlungen war das Zusammenspiel zwischen dem Glauben an die Kraft des hl. Antonius und therapeutischen Maßnahmen. Unmittelbar nach ihrer Aufnahme erhielten die Kranken Brot (frei vom Gift des Mutterkornpilzes) und dann den so genannten Antoniuswein, der nicht nur mit Heilkräutern versetzt, sondern auch mit einer Reliquie des Heiligen in Berührung gebracht worden war und dadurch gleichsam als Kontaktreliquie wirkte. Vor der eigentlichen Behandlung wurde den Kranken die Beichte abgenommen, was nicht nur bei den Antonitern Usus war, sondern z. B.

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Heilkunde und Medizin auch den künftigen Ärzten in der Schule von Salerno empfohlen wurde. Die effektive Behandlung des Mutterkornbrandes erfolgte mit vier auch nach heutigem Verständnis sinnvoll zusammengestellten Gruppen von Kräutern: Die erste wirkte harntreibend, abführend und damit entgiftend, die zweite hatte gefäßerweiternde, die dritte schmerzstillende, und die vierte (für den Fall einer notwendig werdenden Amputation) blutstillende und wundenverschließende Wirkung. Abgesehen von solchen Zentren war es insbesondere in Deutschland um die medizinische Versorgung sehr schlecht bestellt. Einigen, aber bei weitem nicht allen Städten gelang es, einen oder mehrere Ärzte bzw. Wundärzte anzustellen. Aderlass, Schröpfen und die Versorgung kleinerer Wunden übernahm der Bader. Für Leprakranke gab es meist vor der Stadt – jedenfalls streng getrennt von den Gesunden – die so genannten Leprosorien. Geisteskranke wurden, falls sie eine Gefahr für die Bevölkerung darstellten, in einen der Stadttürme oder gar in Kästen vor der Stadt gesperrt. Im Jahr 1462 stiftete in Köln ein Bürger das erste Hospital zur Versorgung Geisteskranker. Für gewöhnlich interpretierte man Wahnsinn als Besessenheit und verwies den Kranken an einen Exorzisten. Angesichts dieser dürftigen medizinischen Versorgung und der Behandlungsmethoden wundert es nicht, dass sich die Kranken in ihrer Not zu allererst vertrauensvoll mit Gebeten, Wallfahrten und Geschenken an die für ihre Beschwerden zuständigen Heiligen wandten. Einer der berühmtesten Dichter und Philosophen des 14. Jh.s, Francesco Petrarca, berichtet aus der päpstlichen Residenzstadt Avignon, die mit den besten Ärzten wohl versorgt war, folgendes über ein Fieber, das ihn niedergeworfen hatte: „Im Handumdrehen liefen die Ärzte an meinem Bett zusammen und erklärten, nachdem sie auf die übliche Weise ausführlich diskutiert und gestritten hatten, dass ich um Mitternacht sterben würde. Sie verordneten als einziges Mittel, das mir das Leben um ein Kurzes verlängern könnte, mich mit Schnüren zu umwickeln, um zu verhindern, dass ich einschliefe; so bestünde die Hoffnung dass sie mich bis zur Morgenröte am Leben erhalten könnten. Aber niemand befolgte ihre Vorschriften, denn ich hatte stets meine Freunde gebeten und meinen Dienern befohlen, dass niemals etwas an meiner Person ausgeführt werden solle, was Ärzte verschrieben, und dass, falls man unbedingt etwas tun müsse, es immer genau das Gegenteil von dem sein solle, was sie sagten. So verbrachte ich also diese ganze Nacht in tiefem, seligen Schlaf […] Überzeugt, dass ich um Mitternacht den letzten Atem-

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Hexerei zug getan hätte, suchten mich die Ärzte am Morgen auf, dachten wohl, an meinem Begräbnis teilzunehmen, und fanden mich emsig am Schreiben.“ Angesichts solcher Verhältnisse florierten Quacksalberei und Zauberheilung, die sich nur am Beispiel darstellen lassen. Gut informiert sind wir über die Krankheiten von Francesco Datini, einem Kaufmann aus Prato, und seiner Frau Margherita zu Ende des 14./Anfang des 15. Jh.s. Vor allem wurde ihr Kinderwunsch nicht erfüllt. Nachdem ärztliche Verordnungen nichts genutzt hatten, schickte ihr eine Verwandte (vergeblich) einen beschrifteten Gürtel als neues Wundermittel, den ihr ein unberührter Knabe auf der nackten Haut anlegen solle, nachdem sie zuvor drei Pater noster und drei Ave Maria zu Ehren Gottes, der Heiligen Dreieinigkeit und der Heiligen Katharina gebetet habe. Wie sehr auch approbierte Ärzte Gebet und Heilige in ihre Therapien eingebaut haben, zeigt die Verordnung des Domenico di Cambio, der stolz von sich verkündet hatte, schon über 200 Kranke geheilt zu haben, als er die am Malariafieber erkrankte Margherita behandelte: „Wenn sie geschwind gesund werden soll, lasst drei Salbeiblätter in aller Frühe, bevor die Sonne aufgeht pflücken. Und der- oder diejenige, die sie pflücken, sollen auf nackten Knien sein und drei Pater noster und drei Ave Maria zu Ehren Gottes und der Heiligen Dreifaltigkeit hersagen. Dann schicke die drei Blätter in einem Brief hierher, und ich werde auf jedes ein paar Worte schreiben. Und jedes Mal wenn das Fieber steigt, soll sie ein Pater noster und ein Ave Maria zu Ehren der Heiligen Dreifaltigkeit sagen und darauf ein Blatt vom Salbei essen; und so soll sie es mit allen Dreien tun. Wenn sie alle aufgegessen sind wird sie sogleich gesund sein. Aber sie muss auch wirklich daran glauben, denn wenn sie nicht daran glaubt, werden sie ihr keinen Nutzen bringen.“ Margherita hat überlebt. Das mag vielleicht am Placebo-Effekt gelegen haben, dem in der modernen Medizin immer größere Bedeutung für den Heilungsprozess zugeschrieben wird.

Hexerei Die Bezeichnung H. als Sammelbegriff vereinte seit dem 15. Jh. ein weites, schon in der Antike existierendes Spektrum unterschiedlicher ‚Zaubereien‘. Schädlicher Zauber, schwarze Magie,

wurde bereits in der Antike verfolgt und mit Verbrennen bei lebendigem Leibe bestraft. Weiße Magie (Wahrsagen, Heilkünste, Astrologie etc.) wurde hingegen geduldet, da sie anderen Menschen nicht zum Nachteil gereichte.

89 Doch schon unter Ks. Konstantin d. Gr. († 337) wurde das Wahrsagen verboten und Kirchenväter entwickelten die Vorstellung von einem Pakt mit dem Teufel, der einen Magier befähige seine Werke zu tun. Die Stammesrechte der Germanen (Recht und Rechtspflege) belegten schädliche Zauberei mit Bußen. Ganz anders Karl d. Gr., dem Teufelspakt und H. äußerst suspekt waren. In seinem Kapitular für die Sachsen bezeichnete er die Hexenvorstellung als reines Teufelsblendwerk und setzte fest: „Wer, vom Teufel getäuscht, nach Heidenart glaubt, ein Mann oder eine Frau sei eine Hexe […] soll enthauptet werden.“ Die Kirche hielt allerdings am Teufelsbündnis fest und sprach dafür Kirchenstrafen aus. Neuen Schwung in die Diskussion brachten Theologen der Scholastik (Bildung und Wissen), indem sie die Verbindung zwischen Magie und Teufel dramatisch veranschaulichten: So schloss der Teufel den Vertrag mittels Blutunterschrift und Beischlaf, übergab dabei die Mittel zum Schadenszauber und befähigte seine Vertragspartner zum nächtlichen Ritt durch die Lüfte und zum gemeinsamen Teufelstanz. Angesichts solcher Umtriebe musste der weltliche Gesetzgeber tätig werden: Kg. Heinrich (VII.) bestimmte im Landfrieden von 1224, der „Treuga Heinrici“: „Ketzer, Hexen, Bösewichte […] sollen nach Entscheid des Richters mit der gebührenden Strafe bestraft werden.“ Mit ‚gebührender Strafe‘ für diese Delikte

Hofämter war nach dem etwa zeitgleichen Sachsenspiegel der Feuertod gemeint. Dennoch blieben Hexenprozesse vorerst eine Rarität, der Tatbestand war noch in den Gesamtkomplex der Häresie integriert, insofern die Inquisitoren bei Ketzerprozessen versuchten, den Häresieverdacht durch den Nachweis von Praktiken der schwarzen Magie zu untermauern. Die so Verurteilten wurden nicht als Hexen sondern als Ketzer verbrannt. Erst als im 15. Jh. die sektenartige Verbindung zwischen Zauberern und Teufelsbündnern aufgedeckt wurde, begann die Inquisition die H. selbst als Häresie zu verfolgen. So kamen die Hexenprozesse, deren Form um 1440 voll ausgebildet war, in Gang. Der berühmtberüchtigte Hexenhammer der Inquisitoren Heinrich Institoris und Jakob Sprenger von 1487, ein Machwerk kranker, extrem frauenfeindlicher Fantasie, entfaltete im 16. Jh. seine volle Wirkung. Dass der Hexenwahn nicht nur dumme und verblendete Kreaturen erfasste, zeigt, dass sogar ein kritischer Geist wie Martin Luther dazu aufforderte, Zauberinnen zu töten – 1540 wurden in Wittenberg Hexen verbrannt. Der letzte Aufsehen erregende Hexenprozess endete 1782 im schweizerischen Glarus mit der Hinrichtung der Beklagten durch das Schwert. Hofämter Die H. an Königs- und Fürstenhöfen, wie wir sie aus dem Hoch- und

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Hospital Spätmittelalter kennen, gehen auf germanische und römische Wurzeln zurück. Zur Hofverwaltung der fränkischen Merowingerkönige (5.–8. Jh.) gehörten abgesehen von unbedeutenderen Amtsträgern der Kämmerer (Schatzmeister), Mundschenk (Kellermeister), Marschall (Stallmeister für Pferde) und Seneschall (verantwortlich für die Verpflegung). Über diesen standen als Vorsteher des Hausgesindes die Hausmeier. Ihnen war ein derartiger Aufstieg beschieden, dass sie mächtiger wurden als der Kg. selbst, bis sich der Hausmeier Pippin 751 sogar zum Kg. erheben ließ. Er und seine Nachfolger, die Karolinger, verzichteten auf Hausmeier, doch blieb das Meieramt als solches im Bereich der Grundherrschaft bestehen. Bischof Hinkmar von Reims († 882) hat in seiner Schrift „De ordine palatii“ (Über die Hofordnung) neben den geistlichen Hofbeamten der Hofkapelle, die weltlichen H. des Karolingerhofes vorgestellt: Seneschall, Mundschenk Marschall, Pfalzgraf, Quartiermeister, einige Oberjäger und der Kämmerer, der zusammen mit der Kgn. für die Haushaltsführung verantwortlich war. Neben diesen gab es noch eine Vielzahl anderer Hofbeamter, die mit ihren Helfern den Haupthofbeamten zugeordnet waren. Aus diesen entwickelten sich als Ehrenämter seit der Ottonenzeit die vier Erzämter des Erztruchsess, Erzmarschall, Erzmundschenk und Erzkämmerer, die zusammen mit den Erzbischöfen von Mainz,

90 Köln und Trier als Erzkanzler von Deutschland, Italien und Burgund zu den sieben Kurfürsten wurden, die seit dem 13. Jh. den Kg. zu wählen hatten. Eine ähnliche Entwicklung nahmen die H. an den Fürstenhöfen, und auch mächtigere Adelige kamen ohne effektive Hofverwaltung nicht aus, an deren Spitze vielfach der Truchess stand, der in etwa die Kompetenzen eines Meiers oder Seneschalls hatte – die Titel waren austauschbar und wurden regional unterschiedlich gebraucht. Hospital Das Wort H. ist vom lateinischen „hospes“ mit dem Adjektiv „hospitalis“ (Gast, gastlich) abgeleitet und erscheint im 4. Jh. in Verbindung H. „der Armen und Pilger“ und seit karolingischer Zeit (8. Jh.) ohne Zusatz. Es handelte sich um der Nächstenliebe und Barmherzigkeit verpflichtete Institutionen, deren Ausgestaltung sich den jeweiligen Bedürfnissen und religiösen Strömungen anpasste. Hospitäler, die zunächst vor allem von Klöstern (Mönche und Mönchtum) und seit dem 9. Jh. von Domkapiteln (den Klerikergemeinschaften der Bischofskirchen) unterhalten wurden, standen allen Bedürftigen offen, seien es nun Pilger, Arme, Kranke oder Alte. Vor allem in Klöstern mit ihren kundigen Mönchsärzten konnten Kranke medizinisch versorgt werden bis Konzilsbeschlüsse des 12. und 13. Jh.s Mönchen das Medizinstudium und die Ausübung

91 ärztlicher Tätigkeiten verboten (Heilkunde und Medizin). In den werdenden Städten entstanden spätestens im 11. Jh. neue, bruderschaftlich organisierte Hospitäler, die sehr häufig dem Hl. Geist geweiht waren. In ihnen lebten arme und alte Leute, Witwen und Waisen, durchziehende Pilger und Kranke gemeinschaftlich nach einer einfachen Hausordnung zusammen. Anders als heute praktizierten in Hospitälern keine Ärzte, die Krankenpflege beschränkte sich auf die Zusammenstellung eines diätetischen Speiseplans. Reichere Bürger kauften sich in Hospitäler ein, um ihren Lebensabend dort als Pfründner zu verbringen, d. h. für den Rest ihres Lebens angemessen versorgt zu werden. Gegründet wurden Hospitäler als Stiftungen entweder durch die Stadtgemeinde selbst oder durch betuchte Bürger oder Adelige, die etwas für ihr Seelenheil tun wollten, denn Sorge für die Armen und Kranken gehörte zu den Kardinaltugenden und brachte ‚Pluspunkte‘ für das Leben im Jenseits (Religion und Glauben). Durch Spenden und Erbschaften verstorbener Insassen sammelten Hospitäler mit der Zeit beträchtliche eigene Vermögen an Geld und Grundbesitz an und zogen in prachtvolle Bauten um, die vom ‚Reichtum der Armen‘ zeugten. Während kleine Hospitäler allein von einem Geistlichen oder angesehenen Bürgern geführt wurden, musste in großen eine effiziente Verwaltung mit verschiedenen Aufgabenbereichen eingerichtet werden.

Hospital Ein Großteil der Hospitalstiftungen wurde im 13. Jh. zu Klostergemeinschaften umgewandelt, die gemäß einer auf der Lateransynode von 1215 erlassenen Vorschrift die Augustinerregel übernahmen. Das führte zu diversen Konflikten mit der Stadtverwaltung, so dass auf dem Konzil von Vienne 1311 bestimmt wurde, dass alle in Städten liegenden, aber unter geistlicher Leitung stehenden Hospitäler einen städtischen Pfleger in den Vorstand nehmen mussten, damit die Interessen der Bürger gewährleistet würden. Der Rat drängte in vielen Städten immer nachhaltiger darauf, dass die Hospitäler möglichst ganz ihrer Kontrolle unterworfen wurden oder die Leiter wenigstens unmittelbar vor dem Rat Rechenschaft über ihre Amtsführung ablegen mussten. Je nach den innerstädtischen Kräfteverhältnissen kam es zur Bildung von ‚Aufsichtsräten‘, die paritätisch von Rat und Pfarrei besetzt wurden. Vielerorts entstand ein eigenes städtisches Amt für die Spitalaufsicht und vor allem für die Kontrolle der Vermögensverwaltung, damit der an die Hospitäler gestiftete bürgerliche Grundbesitz der Stadt nicht entzogen würde. Ganz andere Zielsetzungen als die städtischen Hospitäler hatten die der Hospitalorden. Im Jahr 1120 gründete in Jerusalem Raimond de Puy ein großes H. und zusammen mit diesem den Johanniterorden, dessen Mitglieder Krankenpflege gelobten, doch haben weder

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Hunger die Johanniter noch der 1198/99 im Hl. Land gegründete Deutsche Orden, der aus einer Hospitalgründung vor Akkon entstanden ist, Hospitäler in Europa unterhalten. Als Pflegeorden wurde um 1070 der Antoniterorden gegründet, der sich auf die Behandlung von Mutterkornbrand spezialisiert hatte (Heilkunde und Medizin). Hunger Dem größten Teil der Bevölkerung drohten im MA zumindest zeitweise Not und Verelendung. Schlimmer noch als die übermäßige Schatzung und Bedrückung durch einen rücksichtslosen, ausbeuterischen Grundherrn trafen Missernten durch Dürrekatastrophen und sintflutartige Regenfälle sowie die vielen Fehden die Bevölkerung – Kriegführung bestand zum großen Teil in der Verwüstung der Ländereien und Ernte des Gegners und seiner Gefolgsleute. Meist dauerten Hungersnöte mehrere Jahre, weil ein Teil des Saatgutes verzehrt werden musste, um zu überleben. Die Ärmsten der Armen hatten in solchen Zeiten kaum Überlebenschancen, zumal ausgezehrte Menschen weniger resistent gegen Krankheiten sind. Chronisten berichten immer wieder über Kannibalismus, Morde aus H. und

92 über Wucherpreise für Nahrungsmittel. Bußprediger warnten unermüdlich, aber oft vergeblich vor Habgier und empfahlen Nächstenliebe. Hungersnöten größeren Ausmaßes war die von Klöstern und Kirchen, Fürsten und städtischen Magistraten organisierte christliche Mildtätigkeit, das Almosen- und Hospitalwesen meist nicht gewachsen. Kaum etwas ist bekannt über ein politisches Eingreifen der weltlichen Gewalt, das erkennbar über Almosenvergabe hinausreichte. Sozialpolitik im neuzeitlichen Sinn war für mittelalterliche Obrigkeiten kein Thema. Eine bemerkenswerte Ausnahme machte Gf. Karl der Gute von Flandern. Er bekämpfte 1125 die Hungersnot, indem er in seiner Pfalz zu Brügge täglich 100 Hungernde speiste und modern wirkende Verordnungen erließ. Seine Untertanen mussten als Sofortmaßnahme schnell wachsende Feldfrüchte anpflanzen und durften keine Gerste mehr zum Bierbrauen verwenden, damit genug Saatkorn übrig bleibe. Vor allem schritt der Gf. energisch gegen Kornspekulanten ein, darunter auch gegen mächtige Leute aus seiner engsten Umgebung. Seine kompromisslose Haltung bekam ihm schlecht: Die eigenen Ratgeber und Höflinge ermordeten ihn in der Stiftskirche von Brügge.

93 Interdikt Es handelt sich um eine Kirchenstrafe, die sich auf Einzelpersonen, Personengruppen (Personalinterdikt) und Gebiete (Lokalinterdikt) beziehen kann. Es beinhaltet die Verweigerung der Sakramente und Einstellung jeglicher gottesdienstlicher Handlungen in unter I. stehenden Kirchen, Kapellen oder Territorien, angefangen von Pfarreien bis hin zu ganzen Reichen. Eine besondere Verschärfung des Personalinterdikts stellte das I. „(de)ambulatorium“ (oder „mixtum“) dar, bei dem der Aufenthaltsort einer unter I. stehenden Person automatisch dem Lokalinterdikt verfiel. Seit dem 12. Jh. wurde das I. von Bischöfen und Päpsten verstärkt als Kampfinstrument gegen weltliche Hoheitsträger angewandt und war als solches wirkungsvoller als die Exkommunikation, da von seiner Wirkung die um ihr Seelenheil besorgten unschuldigen ‚Untertanen‘ ebenso betroffen waren wie die bekämpften Machthaber. Da Gottesdienst und Sakramente eine zentrale Rolle im Leben des Volkes spielten (Religion und Glauben), mag so mancher angesichts der bedrückenden, ja lähmenden Stille in der Treue zu seinem Herrn wankend geworden sein. Ein Herrscher wie Ks. Ludwig IV. ließ sich durch das I. allerdings nicht beirren und

Investitur befahl dem Klerus „zu singen“. Zahlreich sind die päpstl. Privilegien, mit denen Personen oder Personengruppen, z. B. Orden, Erleichterungen gewährt wurden, z. B. Sakramentenspende oder Gottesdienst bei verschlossener Tür oder Mitführung eines Altars, an dem auch in unter I. stehenden Orten die Messe für einen ausgewählten Personenkreis gefeiert werden durfte. Auch hier hat in gar manchem Fall politisches Kalkül eine Rolle gespielt. Im 14. Jh. schürte mancherorts die geradezu inflationäre Verhängung des I.s die Wut der Bevölkerung. Im umbrischen Amelia, zum Kirchenstaat gehörig, wurde 1327 einer Strohpuppe, der man eine Mitra aufgesetzt und den Namen Papst Johannes gegeben hatte verbrannt und die Leute schrien: „Es verbrenne und sterbe dieser Patarener, Häretiker und Arschficker!“ Investitur I. nennt man die Übertragung von Eigentum oder Rechten in einem rituellen Akt mit symbolträchtigen Gegenständen im weltlichen (z. B. durch die Fahnenlanze) und geistlichen Bereich (Lehen). Die I. von Bischöfen durch den Kg. als Laien mit den geistlichen Symbolen Ring und Stab hat dem Investiturstreit seinen Namen gegeben.

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Jenseitsvorstellungen Jenseitsvorstellungen Die J. des christlichen MA sind durch die Bibel vorgezeichnet. Wie in anderen Religionen versprechen AT und NT ein Weiterleben nach dem irdischen Tod, in welchem die Guten im Himmel belohnt und die Schlechten in der Hölle bestraft werden. Das NT fügte dem bisher Bekannten allerdings noch den Tag des Jüngsten Gerichtes hinzu, an welchem Gott den Guten ihren Platz zu seiner Rechten anweist, die Schlechten aber auf ewig in die Hölle verdammt. Diese unmittelbar auf Jesu Worte zurückgehende Lehre brachte schon die Kirchenväter in Erklärungsnotstand, weil sie in der Tradition anderer Religionen daran festhielten, dass nach Gottes weisem Ratschluss die Verstorbenen gleich nach ihrem Tod in Himmel, Hölle oder Fegefeuer eingehen. Ganz besonders das Fegefeuer, das Gott nach allgemeiner Vorstellung zur Läuterung der Sünder geschaffen hatte, war problematisch. Origenes († ca. 254) ließ das geistig verstandene Feuer zur Strafe und zur Reinigung auch an Todsündern wirksam werden und deutete damit die Läuterung aller Sünder an, womit er aber wenig Gefolgschaft fand, denn wen hätte Gott am Tage des Jüngsten Gerichts noch verdammen sollen? Das fragte sich unter anderen der Kirchenlehrer Johannes I. Chrysostomos († 407) und fand damit großen Anklang. Papst Gregor d. Gr. († 604) beschränkte die reinigende Wirkung des Fegfeuers auf die lässlichen

94 Sünden und fasste damit die abendländischen Vorstellungen zusammen. Im Laufe der Jh.e verwischte sich die Unterscheidung von Fegefeuer und Hölle. Der berühmte Philosoph und Theologe Thomas von Aquin († 1274) lokalisierte das Fegefeuer unmittelbar bei der Hölle und unterstrich die Gleichheit der Feuerstrafen. Dem göttlichen Strafenkatalog bemächtigte sich die menschliche Fantasie, bloßes Verbranntwerden war anscheinend eines strafenden Gottes unwürdig. Genaue Kenntnisse über die Zustände im Jenseits vermittelten zahlreiche Visionen, die wiederum bildende Künstler beflügelten, durch Fresken oder Plastiken nach dem Willen ihres Auftraggebers den Gläubigen die Hölle in ihren grausamsten Details vor Augen zu führen und daneben die Herrlichkeit des Himmels in all ihrer Pracht zu setzen. Deren Betrachtung lässt uns die Gefühle und den inneren Bußzwang erahnen, die solche Darstellungen oder auch feurig gehaltene Predigten auslösten. Die Wanderung des Tnugdal durchs Jenseits, die vom Bruder Marcus 1149 im Regensburger Schottenkloster aufgezeichnet wurde, vermittelt uns einen Eindruck darüber, was Bösewichte in Schrecken versetzte und die Frommen noch frömmer werden ließ: In der Hölle sahen sie ein grässliches Untier. „Diese Bestie saß über einem Sumpf aus gefrorenem Eis und verschlang alle Seelen, die sie nur immer finden konnte. Nachdem

95 diese in ihrem Bauch unter Martern vernichtet worden waren, gebar sie diese zu neuen Qualen in den Sumpf aus Eis.“ Im Vergleich dazu fällt die Schilderung des Daseins der Seligen im Himmel geradezu langweilig aus: Ein Idyll der Ruhe und Ausgeglichenheit, erfüllt von geistlicher Musik, perfektionierten gregorianischen Chorälen, die nach dem Kirchenvater Augustinus die Stille hörbar machen. Alle Attribute des angenehmen Lebens der Reichen fanden sich in den Schilderungen in Überfülle. Die auf mit Baldachinen überwölbten Thronen sitzenden Seelen erfreuten sich der Gegenwart der Heiligen Dreifaltigkeit, „und wenn einer einmal zu ihnen eingetreten ist, will er alles Vergangene vergessend nie mehr von der Gemeinschaft der Heiligen getrennt sein“. Juden Eine dauerhafte Ansiedlung von Judengemeinden im Frankenreich und seinen Nachfolgereichen ist erst seit dem 9. Jh. in den politischen und wirtschaftlichen Ballungszentren auszumachen. Bis zum ausgehenden 11. Jh. etablierten sich in Deutschland im Umfeld einiger herausragender jüdischer Großkaufleute und Gelehrtenfamilien jüdische Gemeinden im Rheinland, an der Elbe und in Regensburg. Trotz schrecklicher Judenpogrome die dem ersten Kreuzzug 1096 (und auch späteren) vorausgingen, weiteten sich die Siedlungen in Westund Mitteleuropa aus. Im 13. und 14. Jh.

Juden wuchs die jüdische Bevölkerung in Deutschland beträchtlich an, da in Frankreich und England der Druck der Obrigkeiten auf sie zunahm und blutige Verfolgungen sie vertrieben. Aus England wurden sie 1290 ausgewiesen, aus Frankreich in mehreren Schüben seit 1306 und endgültig 1394/95. Seitdem blieben ihnen nördlich der Alpen nur noch Deutschland mit Mähren, Böhmen und Österreich als Bleibe übrig, doch auch hier waren regionale Judenverfolgungen an der Tagesordnung, obwohl die J. dem Schutz des Kg.s und der Landesherren unterstanden. Wie unsicher dieser war, zeigt das Beispiel der Reichsstadt Nürnberg: Ks. Karl IV. überließ 1349 in einer politisch heiklen Situation, in der er Verbündete und Geldgeber brauchte, die Häuser der J., „die demnächst erschlagen würden“, der Stadtgemeinde, die sich ihrerseits verpflichtete, dort eine Marienkirche zu errichten. Der Nürnberger Rat ließ nach dem nächsten Pogrom das Ghetto abreißen, an dessen Stelle die Frauenkirche mit dem berühmten Männleinlaufen im Giebel (die sieben Kurfürsten um Ks. Karl IV.) erbauen, legte einen heute noch existierenden Markt an und errichtete (1385–1396) den Schönen Brunnen, den u. a. Statuen Ks. Karls und der Kurfürsten schmücken. Die häufigen Verfolgungen des 14. Jh.s führten einerseits zur Binnenwanderung in Orte wie Regensburg, in denen J. noch einigermaßen sicher waren, andererseits zur Abwan-

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Juden derung vor allem nach Italien und Osteuropa, aber auch ins Hl. Land. In Regensburg kam es dank der Intervention der Stadtregierung und entschlossener Bürger erst gegen Ende des 15. Jh.s zu größeren Verfolgungen, bis schließlich 1519 auch dort alle J. vertrieben wurden. Hatte bis zum Ausgang des 11. Jh.s das Nebeneinander von J. und Christen ganz gut funktioniert, wurde es durch die mit der Kirchenreform eingeleitete Spiritualisierung des Denkens und vor allem Fühlens und der damit verbundenen Fanatisierung der gesamten Bevölkerung schwer gestört, so dass es zu den erwähnten Massenmorden und Plünderungen unter dem Kreuzzugsmotto „Gott will es!“ im Vorfeld des ersten Kreuzzuges kommen konnte, bei dem die ‚Kreuzfahrer‘ ihre Reisekasse füllten und unliebsame Schuldner umbrachten. Nicht allein das: Um 1100 setzte eine Entwicklung ein, die J. vom landwirtschaftlich nutzbaren Grundbesitz und der handwerklichen Produktion ausschloss. Einzige Verdienstmöglichkeit blieben Handel und Kreditvergabe gegen Zins (Geldkapitalzins). Der Geldverleih brachte J. den Ruf von Wucherern ein. Noch Shakespeare zeichnete in seinem „Kaufmann von Venedig“ das Zerrbild eines auf Geld versessenen J., dem die Liebe zum Mammon sogar über die zu seiner Tochter geht. Dazu kamen noch Verleumdungen wie die als Hostienschänder, Brunnenvergifter oder Ritualmörder, die vielfach als Vorwand für

96 Judenverfolgungen herhalten mussten. Wie weit fanatischer Hass, gepaart mit kranker Fantasie die Verirrungen von Christen aus allen Bevölkerungsschichten treiben konnte, zeigen nicht allein die brutalen Verfolgungen sondern auch die Karikatur der „Judensau“, auf die man immer wieder nicht nur in gezeichneter Form, sondern auch in Reliefs an exponierter Stellung in Städten trifft, z. B. an den Bischofskirchen von Regensburg, Erfurt, Magdeburg oder Köln: An den Eutern einer Sau mit Hauern wie ein Eber laben sich J., einer leckt der Sau den After etc. Zusätzlich entwürdigend waren diese Darstellungen, weil das Schwein nach jüdischer Anschauung ein unreines Tier war. Der mit dem Christusmord begründete Antisemitismus traf die jüdischen Gemeinden allerorten hart, ihre existenzielle Bedrohung verlangte nach einer Neuordnung des Judenschutzes. In den Landfrieden erlangten sie besonderen Königsschutz (erstmals 1103 in Heinrichs IV. Landfrieden). Dies wiederum führte zur Kennzeichnungspflicht, die 1215 durch kirchliche Vorschriften normiert wurde: J. hatten den trichterförmigen Judenhut und gelbe Abzeichen auf der Kleidung zu tragen und büßten das Recht ein, Waffen zu tragen. Dadurch verloren sie einen Teil der vollen Rechts- und Handlungsfähigkeit, wurden in der weltlichen Rechtsordnung von den Christen getrennt. Für den Königsschutz hatten sie Abgaben an die

97 königliche Kammer zu leisten, Ks. Friedrich II. erklärte sie ausdrücklich zu Kammerknechten. Im Laufe des 13. Jh.s ging die Ausübung des Königsschutzes auf die Landesherren über, weshalb es in der Folgezeit keine das gesamte Reichsgebiet umfassende Haltung der christlichen Obrigkeiten gegenüber J. gegeben hat. Viele von ihnen sind durch Christen zu Märtyrern geworden, weil sie den Tod dem Glaubenswechsel vorzogen. Unterwarfen sie sich der Zwangschristianisierung, verbesserte sich ihre Lebenssituation keineswegs, denn von den Christen wurden sie nicht als vollwertige Christen anerkannt, von ihren ehemaligen Glaubensgenossen aber verachtet. In Süditalien und Spanien wurden Neuchristen „Marrani“ bzw. „Marranos“ genannt. Das Wort bedeutete auch „Schwein“ und zeugt vom Ansehen der Konvertiten, die im Verdacht standen, heimlich ihrem alten Glauben anzuhängen, obwohl sie anlässlich ihres Übertritts in aller Öffentlichkeit hatten Schweinefleisch essen müssen – Grund genug, auch sie zu verfolgen. Die Judengemeinden, die in äußerst effizient organisierten Gettos mit Syna-

Juden goge lebten, hatten selten mehr als 1.000 Mitglieder aus allen Schichten, vom Großkaufmann und Geldverleiher bis hin zum Knecht oder Hauslehrer. An Institutionen kennen wir aus nichtjüdischen Quellen den Judenbischof und den Judenrat. Hebräische Quellen nennen zusätzlich Armen- und Gästehäuser, Versorgung von Witwen und Waisen und die Organisation der Gelehrsamkeit in der Akademie, die zugleich als Gerichtshof diente, denn über Streitigkeiten der J. untereinander wurde nach jüdischem Recht von jüdischen Richtern gerichtet. Die Lehrer, Rabbiner, wirkten meist nur lokal, doch erwarben sich einige länderübergreifenden Ruf als hervorragende Gelehrte, die sich im 12. und 13. Jh. in Frankreich und den Rheinlanden zu Rabbinersynoden trafen. Die Gelehrsamkeit bezog sich keineswegs nur auf die Bibelauslegung. Da J. aufgrund ihrer Sprachkenntnisse mit der arabischen Gelehrsamkeit vertraut waren, waren sie in vielen Bereichen ihren abendländischen Kollegen überlegen. Insbesondere jüdische Ärzte waren gefragt und standen in Diensten von Kg.en, Fürsten, ja sogar Päpsten.

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Kartografie und Weltbild Kartografie und Weltbild Eines stand für den mittelalterlichen Menschen unverrückbar fest: Die Erde war der unbewegliche Mittelpunkt des Universums. Als ebenso falsch erwiesen hat sich die lange Zeit vorherrschende Forschungsmeinung, man habe im MA die Welt für eine Scheibe gehalten – die antike Vorstellung von der Welt als Kugel war zumindest in gebildeten Kreisen weit verbreitet. Nicht mehr geglaubt hat man jedoch, dass es auf der anderen Seite der Erdkugel Antipoden, d. h. Gegenfüßler gebe, wie es Platon im 4. Jh. v. Chr. gelehrt hatte. Die mittelalterliche Argumentation dagegen war einleuchtend: Zu den jenseits des großen Meeres lebenden Gegenfüßlern kann entgegen dem Heilsversprechen Gottes dessen heilbringendes Wort nicht gelangen. Konnte es einen schlagenderen Beweis für die Nichtexistenz der Gegenfüßler geben? Nach der Entdeckung Amerikas hat man sofort dafür gesorgt, dass sich Gottes Wort erfülle. Ebenfalls sicher war man sich, dass am höchsten Punkt der Welt Jerusalem liege, das Abbild der himmlischen, zwölftorigen Gottesstadt, bei der die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika zusammenstießen. Jerusalem war angesichts dieser exponierten Lage Zentrum des gesamten Universums. Auf hochmittelalterlichen, handgezeichneten Karten, die meist das ganze Universum zeigen, sind die drei Kontinente von einem Kreis umschlossen. Inner-

98 halb des Kreises sind die Erdteile T-förmig angeordnet: die gesamte obere Hälfte ist Asien, das rechte untere Kreisviertel ist Afrika, das linke Europa, denn der heilige, Augustinus († 430) hatte gelehrt, Afrika und Europa seien zusammen so groß wie Asien. Man stattete diese Karten mit Malereien von typischen Tieren, Fabelwesen oder auch mythologischen Gestalten, Völkern und Geschehnissen aus, die aus Bibel, Sagen und Historiografie bekannt waren. Praktischen Nutzen für die Orientierung hatten solche Karten nicht. Aus diesem Grund sind sie nicht etwa in geografischen oder astronomischen Werken zu finden, sondern in theologischen oder historiografischen, wenn sie nicht überhaupt ohne schriftlichen Zusammenhang stehen. Neben diesen Weltkarten finden sich aber auch schon solche, die auf Landvermessung basierten. Das waren die so genannten Ptolemäuskarten, die häufig in Verbindung mit dem ersten Kartentyp vorkamen. Der hellenistische Astronom Ptolemeus hatte um 100 n. Chr. in seinem Werk „Kosmografie“ das Gradnetz und Projektionsmethoden als Grundlage der K. erläutert und gefordert, die geografische Länge und Breite von Orten solle mit von ihm angegebenen astronomischen Messmethoden bestimmt werden. Seine Karten zeigen drastische Verzerrungen, da ihm zur Vermessung natürlich nicht die entsprechenden Geräte zur Verfügung standen

99 – ein tragischer Fall von Vordenkertum, doch verdanken wir seiner Idee, die in der NZ weiterentwickelt wurde, die Einteilung der Welt in Längen- und Breitengrade. Im westlichen Mittelmeerraum entstanden im 13. Jh. Küstenkarten, die Portulane, die Mittelmeer, Schwarzes Meer und später auch die Küstengebiete von Frankreich, England und der Nordsee umfassten. Diese Karten waren natürlich ungenau, konnten jedoch Seeleuten bereits eine gewisse Hilfestellung bieten. Wenn man bedenkt, dass trotz des Mangels an tauglichen Landkarten die Menschen des MA äußerst mobil waren und Handelskarawanen, wandernde Pilger, Handwerksgesellen oder auch Schiffe ihr Ziel fanden, kann man sich vorstellen, dass es ausreichenden Ersatz für Karten gegeben haben muss. Aus dem späteren MA sind Reiseberichte und Reiseführer für Pilger erhalten, in denen sehr genau der Verlauf des Weges mit entsprechenden Herbergen angegeben ist. Für wandernde Gesellen und Handelsreisende dürfte es ebenfalls Wegbeschreibungen oder Aufstellungen von Etappenzielen gegeben haben, zu denen man sich immerhin durchfragen konnte. Ketzer Menschen, die vom rechten Glauben abgefallen sind, wurden schon im frühen Christentum als K. (= Häretiker)

Ketzer verfolgt. Gemäß den Schriften der Kirchenväter Augustinus und Hieronymus galt vor allem die eigensinnige Auslegung der Hl. Schrift in einem anderen als dem vom Hl. Geist inspirierten Sinne als Häresie. K. war, wer daraus entstandene Irrtümer hartnäckig verteidigte. Im MA wurde diese grundlegende Definition immer wieder den Verhältnissen angepasst. In einer Gesellschaft, in der weltliche Macht und Kirche gemeinsam für das geistliche Wohl der Menschen sorgten und verantwortlich waren, wurden K. mit Feuer und Schwert bekämpft, zumal sie nicht einfach nur als Abtrünnige angesehen wurden, sondern als Vertreter der Welt Satans. K. gab es zu allen Zeiten, doch die Katharer und Waldenser des 12./13. Jh.s entfachten erstmals Massenbewegungen. Die Katherer, von denen sich das Wort K. ableitet, traten zuerst in Köln in Erscheinung, breiteten sich dann rasch in Deutschland, Südfrankreich (Albigenser) und Oberitalien (Patarener) aus und konnten sich schon in den 1170er Jahren als Kirche mit Diözesangliederung etablieren. Gegen die Albigenser rief Papst Innozenz III. († 1216), der den Inquisitionsprozess gegen K. eingeführt hatte, zum Kreuzzug auf, ein wahrhafter Vernichtungskrieg (1209–1229), der vom französischen Kg. umso härter geführt wurde, als er ihm politische und finanzielle Vorteile brachte. Gemäß den Ketzergesetzen Ks. Friedrichs II. von 1220 wurden im Römischen Reich kirchliche

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Kinder Verurteilungen von K.n vom weltlichen Arm automatisch in Todesurteile umgewandelt und vollstreckt. Mitte des 14. Jh.s waren die Katharer weitestgehend ausgerottet, letzte Katharerverbrennungen wurden 1412 bei Turin vorgenommen. Die Waldenser, obwohl ebenfalls grausam verfolgt, haben sich als einzige Anhänger eines mittelalterlichen Irrglaubens in unsere Gegenwart gerettet, während die Hussiten in zahlreichen Kriegen vernichtet wurden. Hus hatte wie zahlreiche K. vor ihm, den Reichtum der Kirche angegriffen, nur die Bibel als verbindlich in Glaubensfragen angesehen und die Autorität des Papstes zurückgewiesen. 1415 wurde er vom Konstanzer Konzil, obwohl es ihm freies Geleit gewährt hatte, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Als K. verfolgten zahlreiche Päpste auch ihre Konkurrenten um die weltliche Macht. So erklärte Papst Johannes XXII. († 1334) die oberitalienischen Gibellinen, die sich seinen machtpolitischen Interessen widersetzten zu K.n und predigte gegen sie den Kreuzzug. Diese Art von Ketzerei konnte allerdings durch politische Zugeständnisse in Verbindung mit Geldzahlungen schnell in Wohlwollen umgewandelt werden, vor allem wenn der Feind militärisch kaum zu überwinden war. Kinder Die Kindheit war im MA ein kurz bemessener Zeitraum und das nicht nur

100 wegen der hohen Kindersterblichkeit, sondern weil K. verglichen mit unseren Verhältnissen sehr früh durch Arbeit zum Lebensunterhalt beitragen mussten, viel früher aus dem Haus geschickt und bereits mit 14 bis 18 Jahren in die Volljährigkeit entlassen wurden. Kinderarbeit gab es nicht nur auf dem Lande, wo K. noch im 20. Jh. halfen, die Ernte einzubringen, sondern auch in der Stadt im Bereich der Handwerks- und Handelsberufe. In Anlehnung an antike Tradition unterschied bereits Isidor von Sevilla († 636) in seiner Enzyklopädie „20 Bücher der Etymologien“, dem Standardwerk des MA, drei Phasen der Kindheit: Die „infantia“ erstreckte sich demnach von der Geburt bis zum siebten Lebensjahr und war dadurch gekennzeichnet, dass es dem Kind an sprachlicher Ausdrucksfähigkeit mangelte. Darauf folgte die „pueritia“ bis zum Alter von 14 Jahren, in der die Zeugungsfähigkeit noch fehlte. Abgeschlossen war der Prozess mit der daran anschließenden „adolescencia“. Säuglinge des höheren Adels und der städtischen Oberschicht wurden meist von Ammen gestillt und aufgezogen, in den anderen Bevölkerungsschichten von der Mutter selbst. Vor dem Füttern mit Tiermilch warnten Autoren didaktischer Werke, weil sie der Meinung waren, dass Milch die Persönlichkeit des Kindes ebenso präge wie das Sperma. Die Amme zog entweder ins

101 Haus der Eltern oder der Säugling wurde in die Familie der Amme gebracht. In der Periode des Stillens sollte sich die Amme jeglichen Geschlechtsverkehrs enthalten, da man meinte, im Falle einer Schwangerschaft diene das gute Blut für die Ernährung des Fötus, weshalb für die Milchproduktion nur das schlechte bleibe. Gestillt wurde bis das Kind alle Zähne bekommen hatte, die ersten Wörter sprach und die ersten Schritte machte, also bis ins zweite Lebensjahr. Zum Abstillen sollte die Stillende ihre Brüste mit etwas unangenehm Bitterem einreiben, damit das Kind das Verlangen nach ihnen verliere. In allen Handbüchern wurde empfohlen, die Säuglinge zwei bis dreimal am Tag vor den Mahlzeiten in lauwarmem oder heißem Wasser zu baden und dann einzuölen. Windeln sollten sofort gewechselt werden, wenn sie schmutzig waren. Meist hatten Säuglinge nicht nur Windeln an, sondern der ganze Körper war mit Binden umwickelt, so dass nur der Kopf herausschaute. Auf diese Weise sollte ihnen der Übergang vom Mutterleib in die Außenwelt erleichtert werden, denn die ‚Ganzkörperwindeln‘ schützen vor Kälte und Verletzungen und sollten ein harmonisches Wachstum ermöglichen. Bei den unteren Bevölkerungsschichten ging es bei weitem nicht so reinlich zu, was zur Folge hatte, dass Säuglinge häufig unter wunden Stellen und Entzündungen litten. In ihrem Be-

Kinder mühen zu sitzen, gehen und sprechen sollten die Kleinen unterstützt und ermutigt werden, wenn sie selbst den Drang dazu verspürten. Spätestens seit dem 13. Jh. waren in begüterten Familien schon drei- oder vierrädrige Laufhilfen in Gebrauch. An Spielzeug standen für die Säuglinge vor allem Beißringe und Rasseln zur Verfügung. Das Alter zwischen zwei und sieben Jahren war nach den zahlreichen pädagogischen Schriften die Zeit, in der die K. liebevoll behütet und spielend ihre Umgebung entdecken und lernen sollten, den Verstand zu gebrauchen. „Kinder sollen spielen dürfen, da es die Natur verlangt“, schrieb Philipp von Novara († ca. 1270) in seinem Werk: „Die vier Alter des Menschen“. Gemeint war nicht nur das vom Kindermädchen oder der Mutter beaufsichtigte Spielen, sondern auch das mit Gleichaltrigen. Mit der Erziehung zur Moral und Wissenschaft sollte erst nach dem siebten Lebensjahr begonnen werden, da die K. zuvor kaum in der Lage seien, den Verstand zu gebrauchen. Als Kinderspielzeug dieser Phase sind durch archäologische Funde oder Bilder u. a. Windrädchen, Kreisel, Reifen, Bälle, Steckenpferde, Musikinstrumente wie Flöten oder Trommeln und geschlechtsspezifisch Puppen und Kindergeschirr oder Ritterfiguren mit zugehöriger Bewaffnung belegt . Meist wurde das Spielzeug daheim hergestellt, doch gab es z. B. schon professionelle Puppenmacher.

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Kinder Ihre Fantasie ließ die K. gewiss in der freien Natur zahlreiche Spielsachen finden, angefangen von Ästen über Muschelschalen bis zu Regenwürmern, Käfern oder anderem Getier. Selbstverständlich bezogen sie auch Haustiere, z. B. Hunde, Katzen oder Vögel in ihr Spiel ein. In den unteren Gesellschaftsschichten waren die Eltern viel zu sehr mit dem Broterwerb beschäftigt, als dass sie die Erziehung nach den ihnen sowieso unbekannten Empfehlungen der pädagogischen Schriften hätten ausrichten können, die zumeist von Mönchen verfasst worden waren, die selbst nie in die Verlegenheit gekommen waren, sich um ein Kleinkind kümmern zu müssen. Mönche machten allenfalls in der Phase ab dem siebten Lebensjahr praktische Erfahrungen in der Erziehung, wenn sie wie der berühmte Gelehrte Aegidius Romanus, der Erzieher Kg. Philipps IV., des Schönen, von Frankreich, K. des hohen Adels betreuten. In der zweiten Entwicklungsstufe brachte man den K.n, wenn man es sich leisten konnte und interessiert daran war, das Lesen und Schreiben bei, wobei das AT und NT sowie mancherlei Rechtsbücher als Lesestoff dienten. Über diese elementaren Kenntnisse verfügten längst nicht alle Adeligen, doch nahm deren Bedeutung ab dem 11. Jh. immer mehr zu. Die Mädchen und Jungen wurden in dieser Zeit meist einem Priester anvertraut, der ihnen das elementare Wissen und auch die Grundla-

102 gen der Religion beibrachte. Hin und wieder wurden K. bereits im Alter von sieben Jahren fern vom Elternhaus in Klöstern oder an Adelshöfen unterwiesen. In Städten existierten teilweise schon Schulen, an denen Lesen, Schreiben und Rechnen, ja manchmal sogar Latein gelehrt wurde. Wenngleich sich schulische Unterweisung in erster Linie auf die Oberschicht beschränkte, finden sich doch zuweilen auch Nachrichten über K. der Unterschicht, die, ergriffen von Lernwut, von zu Hause ausgerissen sind, nur um lesen zu lernen. Die dritte Phase, in welcher das Kind für seine spätere berufliche und gesellschaftliche Rolle ausgebildet wurde, setzte je nach Reifegrad zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr ein. Künftige Handwerker erhielten ihre elementare Ausbildung und wurden dann als Gesellen zu anderen Meistern sogar bis nach Frankreich, Spanien oder Italien geschickt, um ihre Handwerkskunst zu verfeinern und Innovationen nach Hause zu bringen. Künftige Gelehrte begannen mit dem Studium der Sieben Freien Künste an ‚weiterführenden Schulen‘ oder Universitäten. Künftige Ritter zog es an den Hof eines mächtigen, angesehenen Herrn, um dort die höfischen Umgangsformen und den Umgang mit Waffen zu erlernen. Die Mädchen bereiteten sich in diesem Alter im Gegensatz dazu auf das Eheleben vor, das für sie oftmals schon mit 14 Jahren begann.

103 Kleidung Die Kleidermode hat im MA eine rasante Entwicklung genommen, die einhergeht mit dem Aufstieg der Städte zu ökonomischen Zentren eines weiteren Umlandes und der damit verbundenen Internationalisierung von Handel und Handwerk. Im frühen MA, als die K. noch vom Garn bis zum Schnitt auf dem grundherrlichen Hof gefertigt wurde, war sie zwar noch einfach und überschaubar, aber doch schon nach dem sozialen Stand differenziert. Im Jahr 808 setzte Karl d. Gr. den Stoffaufwand für Rock und Hose eines Bauern fest – die Tracht des Edelmanns musste von der des Bauern durch die Qualität des Stoffes, die Farbigkeit und mancherlei Zierrat zu unterscheiden sein. Kleiderluxus wurde in dieser frühen Zeit hauptsächlich aus Byzanz eingeführt. Die nächsten Kleiderordnungen stammen europaweit erst aus dem 13. Jh. und wurden nicht mehr von einem Herrscher, sondern von Stadtregierungen erlassen. In die fränkische Tracht waren germanische und römische Elemente eingeflossen: Unter einem kurzen, tunikaartig geschnittenen Rock trug man eine Hose aus Wolle, Leinen oder Leder, die mit Binden umwunden war. Über der Schulter hing ein kurzer, mit einer Fibel zusammengehaltener Mantel aus naturfarbenem Wollstoff, Lindenbast, Gras oder Stroh. Zur Herstellung von Schuhen gebrauchte man Leder, Holz oder Bast. Die K. der Frauen bestand

Kleidung aus zwei übereinander getragenen weiten Tuniken und einem Mantel. Im 11./12. Jh. kam allmählich Schwung in die Mode, denn Stoffe und K. für die Oberschicht wurden immer häufiger von Fachleuten in den Städten hergestellt – 1156 erteilte Heinrich der Löwe, der Herzog von Sachsen und Bayern, das erste Gildeprivileg für Schneider. Durch den intensiven Handel mit Byzanz und dem Orient gelangten vermehrt Seiden- und Brokatstoffe nach Europa. Die K. einer vornehmen Frau des 12./13. Jh.s bestand zwar weiterhin aus Unter- und Obergewand sowie einem Mantel, doch wurden diese körperbetont geschneidert. Neben dem Mantel konnte noch ein Sukot getragen werden, weiter geschnitten, ohne Ärmel und oft mit Pelz gefüttert. Wichtiges Beiwerk wurden verzierte Gürtel, abnehmbare Schmuckärmel, die wie der Rock mit einer Schleppe geschmückt sein konnten. Als Kopfbedeckung diente neben diversen Schleiern das Schapel oder Gebende, ein vielfältig geschmücktes Krönchen oder Kranz. Bald schon erregten die ersten Frauen Ärgernis, weil sie die K. oberhalb der Taille hauteng trugen. Sittenstrenge Geistliche warfen ihnen vor, sie würden durch die K. ihren Körper eher anregend entblößen als verhüllen, um den Liebhabern zu zeigen, was an ihnen begehrenswert sei. Das störte die Frauen in keinster Weise, durch immer neue Finessen wurde die K. immer extravaganter und weniger sittenstreng. Die

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Körperpflege Männer wollten nicht hinter den Frauen zurückstehen und kleideten sich ebenfalls körperbetont und mit allem möglichen Schnickschnack, um Reichtum, Rang und Schönheit gebührend zur Geltung zu bringen. Neuerung folgte auf Neuerung, manche blieb regional begrenzt, manche hat sich über ganz Mitteleuropa ausgebreitet wie die „böhmische Kogel“ (Gugel), eine Kopfbedeckung vornehmlich für Männer, die zu Ende des 14. Jh.s in Böhmen entstand. Es handelte sich um eine Kapuzenhaube mit Zipfel und Kragen, der einen Teil der Schulter bedeckte. Zunächst wurde sie nur vom einfachen Volk getragen und war aus Wollstoff oder Loden, später hielt sie in verfeinerter Form auch bei den vornehmen Ständen Einzug. Im 15. Jh. kam in Frankreich das Wort „Mode“ auf, just in einer Zeit, in der Veränderungen am Schnitt der K. ein rasantes Tempo annahmen. Die Arbeitskleidung der Landbevölkerung allerdings blieb stets einfach und bequem, wurde bei weitem nicht von Modetollheiten dirigiert. Dazu fehlte es allein schon am Geld. Prächtige Gewänder und Schmuck kosteten damals wie heute ein Vermögen und manch ein Bürger hätte sich ohne Kleiderverordnungen finanziell ruiniert. Körperpflege Im Jahr 973 schrieb der Gesandte des Kalifen al-Hakam II. von Cordoba aus dem Frankenland: „Du siehst nichts

104 schmutzigeres als sie! Sie reinigen und waschen sich nur ein- oder zweimal im Jahr mit kaltem Wasser. Ihre Kleider aber waschen sie nicht, nachdem sie sie angezogen haben, bis dass sie in Lumpen zerfallen.“ Dieser Bericht eines gläubigen Muslims, der sich täglich vor jeder der fünf Gebetszeiten wusch, mag für Bauern gegolten haben, denn der Adel hat zumindest die Kleidung häufiger gewechselt und sich hin und wieder gebadet, wenn auch nicht fünfmal am Tag. Bäderbauten sind bereits in den germanischen Stammesrechten erwähnt und zumindest Karl d. Gr. war ein großer Freund des gemeinschaftlichen Badens und Schwimmens – bisweilen badeten nach Einhard, seinem zeitgenössischer Biografen, in seinem Aachener ‚Swimmingpool‘ über 100 Leute mit ihm. Er hatte noch keine Ahnung von den Thesen einiger Historiker des 20. Jh.s, nach denen man im MA nicht gebadet habe, um nicht zu verweichlichen, sich nicht zu vergiften oder den Körper nackt zu zeigen – letztere Scheu zeigten allenfalls fromme Mönche und die von ihnen beschriebenen Heiligen. Sehr genau bekannt war dem Ks. hingegen Seife, die er sich von den königlichen Gütern liefern ließ. Der Auftrag zur Lieferung entstammt der vor 800 erlassenen Landgüterverordnung, in welcher er die Bediensteten seiner Güter an anderer Stelle ermahnte, bei der Herstellung der Speisen peinliche Sauberkeit walten zu lassen. Zumindest in der Oberschicht gab

105 es demnach ein Bewusstsein von Reinlichkeit und der Notwendigkeit der K., denn zur Sauberkeit bei der Speisenherstellung gehörten mindestens gewaschene Hände. Sicher förderten die Kontakte zum Orient durch Handelsbeziehungen und Kreuzzüge das Bedürfnis nach Sauberkeit und K. Vor allem in der mittelalterlichen Literatur werden immer wieder Bäder und Badewannen genannt: Parzival z. B. wurde eine Badewanne ans Bett gebracht, in deren Wasser Rosen schwammen. Auf Burgen lassen sich Badestuben nachweisen. In Städten und sogar Dörfern gab es Badehäuser, in denen ein- oder zweimal in der Woche gebadet werden konnte. Santonio berichtet von seiner Deutschlandreise im 15. Jh., er habe am späten Nachmittag auf Burg Prießenegg ein Wasserbad in einer Kufe

Körperpflege genommen. Zunächst bediente ihn die junge Gemahlin des Burgherren, dann dieser selbst. Sie massierten dem Badenden den Oberkörper durch lockere Abreibungen und wuschen ihm dann das Haar bis es völlig sauber war. Das Bad beschloss eine Reinigung der Glieder vom Kopf bis zu den Füßen unter häufigem Begießen mit Wasser. Außerdem vermerkte er, seine Reisegesellschaft habe wann immer möglich die Gelegenheit zu einem Bade genutzt, was dafür spricht, dass ihnen ein verschwitzter, schmutziger Körper unangenehm war. Die Badekultur in den Städten des späteren MA und der Umstand, dass Gesellen und Lohnarbeitern, ja sogar Bettlern Badegeld gegeben wurde, spricht eindeutig für einen Trend zur Sauberkeit im MA, der in der NZ anscheinend zunächst stark nachgelassen hat.

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Landsknecht Landsknecht Seit dem 14. Jh. verdrängte die Kriegstechnik der Fußkämpfer durch ihre Effektivität allmählich in ganz Europa die Kampfesweise der Ritter. In der zweiten Hälfte des 15. Jh.s kam für den Fußsöldner in Deutschland der Begriff L. auf. Kg. Maximilian I. († 1519) hat eine Verbindung zwischen Soldrittern und zu Fuß kämpfenden L.en hergestellt, indem er die Landsknechtshaufen von Rittern organisieren und kriegstechnisch ausbilden ließ. Ausgerüstet waren die L.e mit langen Spießen, Piken oder Lanzen, woher die Umdeutung des Wortes in „Lanzknecht“ rührt, die sich im 16. Jh. findet. Gegen einen Kreis von L.en mit eingelegten Spießen war jedes in traditioneller Manier kämpfende Ritterheer machtlos. Schon im 15. Jh. waren in Landsknechtsheeren Feuerwaffen in Gebrauch, selbst wenn die meisten L.e zusätzlich zu ihren Piken nur Hieb- und Stichwaffen trugen. In ein Landsknechtsheer konnten auch Männer der Unterschicht aufgenommen werden, wodurch gar mancher dem Hunger entkam. Die Zeit des Kampfes nach ritterlichen Regeln war damit vorbei, ebenso die „Vornehmheit“ der Sitten und adelige Zurückhaltung, die zumindest das ritterliche Verhalten in und außerhalb des Kampfes nach Darstellung von Ritterromanen zierte. Plünderung, Vergewaltigung, Morden um des Mordens willen wurden zur Regel. Das berühmteste Beispiel für den

106 Vandalismus der L.e war der „Sacco di Roma“, als die Truppen Kaiser Karls V. nach der Eroberung Roms am 6. Mai 1527 die Ewige Stadt tagelang plünderten. Die Beute betrug nach Schätzungen sieben bis elf Millionen Golddukaten, die sonstigen Schäden erheblich mehr. Im Januar des Jahres 1528 soll Rom nur noch halb so viele Einwohner wie vor der Plünderung gehabt haben. Landwirtschaft Die Erforschung der L., in der bis ins 19. Jh. der überwiegende Teil der Bevölkerung (im Frühmittelalter über 80 %) beschäftigt war, gestaltet sich angesichts des Mangels an schriftlichen Quellen recht kompliziert. Der Historiker ist u. a. auf die Erkenntnisse fachfremder Wissenschaften wie Klimaforschung, Botanik, Zoologie, oder historischer Volkskunde angewiesen. Angesichts primitiver Anbaumethoden hing der Erfolg des Bauern, also der Ernteertrag, in erster Linie von der Witterung und Bodenqualität ab. Die Klimaforschung hat aus Pflanzenrückständen in den jeweiligen Schichten des Erdreichs verbunden mit einem Studium der Veränderungen der Alpengletscher die langfristige Temperaturentwicklung erschlossen: Auf eine kältere Phase Anfang des 5. bis Mitte des 8. Jh.s folgte eine wärmere und gleichzeitig trockenere bis Mitte des 12.Jh.s, in die bezeichnenderweise ein deutlich erkennbares wirtschaftliches Wachstum

107 fällt, auch wenn die Temperaturzunahme vermutlich nur ca. 1 °C betragen hat. Seit dem 11. Jh. erlebte Europa eine Periode wirtschaftlichen Aufschwungs, die erst im 14./15. Jh. durch Pest und Kriege beendet wurde. Die Bevölkerung wuchs um das Zwei- bis Dreifache, was intensiven Landesausbau zur Folge hatte. Das Bild der mitteleuropäischen Kulturlandschaft wandelte sich in einem solchen Ausmaß, wie danach nur noch in der Epoche der Industrialisierung im 19. und 20. Jh. Insbesondere veränderten zahlreiche Stadtgründungen und die Notwendigkeit, die städtische Bevölkerung aus der agrarischen Überschussproduktion zu ernähren, die landwirtschaftliche Produktion. In den Marschgebieten der Küstenzonen wurden Deiche errichtet und Sümpfe trockengelegt, in waldigen Mittelgebirgszonen Wälder gerodet. Entlang der großen Flüsse entwässerte man die Sumpf- und Moorgebiete und in den Alpen begann man, die Hochflächen als Weiden zu erschließen. Dort entstand die Kultur der Alphirten mit ihrem halbnomadischen Leben. Die Hauptlast der Rodungsarbeit trugen die Bauern. Im Gegenzug überließen ihnen die Grundherren Freiheiten und Vergünstigungen, z. B. niedrige Abgaben und Übertragung des Bodens zu Erbrecht (Grundherrschaft). Aus Gründen der Ertragssteigerung breitete sich die Dreifelderwirtschaft allmählich aus. In regelmäßigem Wechsel wurde ein Drittel des Ackergrunds

Landwirtschaft mit Winterfrucht, ein Drittel mit Sommerfrucht bestellt, während der Rest als Brache liegen blieb, auf der das Vieh weidete. Mancherorts betrieb man Zweifelderwirtschaft, und in den Gebieten Nordwestdeutschlands war die Einfeldwirtschaft in der Gestalt des „ewigen Roggenbaus“ weit verbreitet. Den Nährstoffverlust des Bodens durch die Monokultur glichen die Bauern dadurch aus, dass sie Stalldung zusammen mit ausgestochenen Heide- und Grasstücken (= Plaggen) einpflügten. Die Ausbreitung intensiverer Bodennutzungsformen ging mit der „Vergetreidung“ einher. Es bildeten sich für einzelne Getreidesorten besondere Anbauzonen heraus. Neben Hafer und Gerste wurden in den Gebieten Norddeutschlands hauptsächlich Roggen, in Süddeutschland Dinkel angebaut. Westlich des Rheins, in klimatisch begünstigten Landschaften dominierte der Weizen. Trotz des hohen Arbeitsaufwandes betrug der Ernteertrag in normalen Jahren nur etwa das Dreifache des Saatgutes. Die Ausweitung des Ackerbaus engte das Weideland und damit die Viehwirtschaft ein; es bildeten sich besondere Zonen der Viehhaltung heraus. Von dort wurden die Tiere über sehr lange Strecken zu den Märkten getrieben (Mensch und Tier). Zur Intensivierung der L. trug die Verbesserung und allgemeinere Nutzung von Geräten bei, revolutionäre Neuerungen gab es allerdings nicht. Im

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Lehen 11. Jh. setzte sich der Beetpflug mit Rädern und Schollen wendender Schar durch und drängte den Hakenpflug zurück, der den Boden nur oberflächlich aufritzte. Gezogen wurde er hauptsächlich von Ochsen. Der Einsatz des Pferdes lohnte sich erst, als seit dem Hochmittelalter Hufeisen und Kummet (= Geschirr zum Ziehen eines Pfluges) dem Pferd das Schleppen schwerer Lasten ermöglichten. Lehen Das Lehenswesen gehört zu den prägenden Grundelementen der mittelalterlichen Gesellschaft. Im Prinzip bestand es darin, dass sich ein freier Mann unter die Schutzherrschaft eines Mächtigeren begab. Durch die Kommendation, in welcher er symbolisch seine Hände in die seines Lehensherrn (Handgang) legte, wurde er dessen Vasall und war ihm zu Treue, Dienst und Gehorsam verpflichtet. Auch wenn es sich eigentlich symbolisch um einen Verknechtungsritus handelte, blieb der Vasall frei, sein Herr war ihm gegenüber ebenfalls zur Treue verpflichtet. Für seine Dienste erhielt er ein Landgut, das „Benefizium“ bzw. L., nach dem Recht der Landleihe (Investitur). Treuer Dienst und L. wurden kausal miteinander verknüpft, früher für das geliehene

108 Gut geleistete Abgaben wurden mit der Zeit erlassen. Das ursprünglich nur auf die belehnte Person bezogene L., das bei dessen Tod an den Lehensherrn zurückfiel wurde im Laufe der Zeit erblich, konnte aber bei Untreue des Lehensmanns (Felonie) wieder eingezogen werden. Streitigkeiten in Lehensangelegenheiten wurden in den seit dem 11. Jh. belegten Lehensgerichten unter dem Vorsitz des Lehensherrn von Mitgliedern des Lehenshofes entschieden. Schon in karolingischer Zeit, also im 8./9. Jh. wurden Rechtsnormen für Leiheverträge entwickelt und damit die Basis für das gesamte mittelalterliche Lehenswesen geschaffen, Selbst die mit Hoheitsrechten verbundenen Grafschaften, Herzogtümer, ja sogar die weltlichen Besitzungen und Rechte von Kirchen (Regalien) wurden zu L. Die Rechte an weltliche Würdenträger übertrug der Kg. meist per Fahnenlanze, die Regalieninvestitur der Bischöfe und Äbte per Zepter. Ähnlich symbolhafte Formen fanden die Kronvasallen für die Belehnung ihrer Vasallen, die z. T. ebenfalls Amtsfunktionen in Herrschaftsgebieten ihrer Lehensherren übernahmen. Es entwickelte sich im Laufe der Jh.e die so genannte Heerschildordnung, bekannt auch als Lehenspyramide (Gesellschaft und Stand).

109 Markt Märkte waren Handelszentren, an denen sich zu festgesetzten Zeiten Kaufleute, Warenproduzenten und Verbraucher einfanden, um zu kaufen und zu verkaufen. Angesichts der an einem solchen Ort zusammenkommenden Warenwerte und der großen Zahl von Menschen bestand ein Sicherheitsbedürfnis, dem die Herrscher durch die Verleihung des Marktfriedens nachkamen, der Kaufleute unter besonderen Schutz stellte, in dessen Bereich bestimmte Delikte besonders schwer bestraft wurden. Seit Mitte des 10. Jh.s verliehen zunächst die ottonischen, dann auch die salischen Kg.e und Ks. geistlichen und weltlichen Grundherren das Recht, Märkte abzuhalten und übertrugen ihnen damit die Pflicht der Friedens- und Rechtsgarantie für den ordnungsgemäßen und sicheren Ablauf des Handels. Dafür durften sie Marktzölle von den Besuchern erheben. Ein spezielles Marktrecht entwickelte sich mit örtlichen Varianten aus dem Kaufmannsrecht heraus und war vielerorts Ausgangspunkt für die Ausbildung von Stadtrechten. Eine Stadt ohne M. gab es nicht. Die in größeren Zeitabständen stattfindenden Jahrmärkte, mit denen die Kg.e Marktorte und deren Herren gesondert privilegierten, dienten in erster Linie dem Handel mit Luxusgütern wie Gewürzen, Stoffen oder Schmuck, während auf den seit dem 11. Jh. häufiger erwähnten Wochenmärkten Waren des

Maßeinheiten täglichen Bedarfs angeboten wurden. Märkte, die in erster Linie von Wiederverkäufern aufgesucht wurden, waren die Messen. Am berühmtesten waren die seit der 2. Hälfte des 11. Jh.s abgehaltenen Champagnemessen, auf denen sich Händler und Großhändler aus ganz Europa mit Waren jeglicher Art vom Pfeffer bis zum Streitross eindeckten. Maßeinheiten Der die Menschen Tag für Tag umgebende Raum war im MA nach einem göttlichen Plan aufgeteilt. Die Maße des Alltags bezogen sich auf den Menschen als Ebenbild Gottes: Elle, Fuß, Schritt, Tagesreise als Entfernungsangaben, die Pflügerleistung von Tagwerk, Joch und Morgen als Flächenangaben. Vom Menschen und seinem Tun losgelöste mathematische Maße, etwa den Meter, kannte man nicht. Da aber nicht alle Menschen gleich sind, variierten die Maße von Ort zu Ort. Die für einen Marktort gültigen Maße waren an öffentlicher Stelle aufgestellt und konnten in Zweifelsfällen zur Überprüfung herangezogen werden – man findet sie immer wieder in Heimatmuseen. Bei entsprechenden Verträgen wurde bei der Angabe der Quantität stets der Ort angegeben, auf den sich ein Maß bezog. Das Reich kannte weder Urmaße, noch verfügte es über eine Eichbehörde oder Instrumente zur Festsetzung von Maßen aus eigenem Recht. Erst nach 1806/7 wurden in Deutschland metrische Einheiten einge-

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Mensch und Tier führt, die sich erst allmählich durchsetzten. Findige italienische Kaufleute, die in der ganzen bekannten Welt und bis nach Indien und China Handel trieben, haben komplizierte Umrechnungstabellen für die verschiedenen Maße erstellt. Ebenfalls Gewichtsmaße (Mark und Pfund) und Hohlmaße (Eimer, Scheffel, Fuder etc.) waren örtlich verschieden bemessen. Die karolingische Gewichts-

mark (217,728g) und die Münzmark (204,120g) wurden bald durch zahlreiche lokale Marken verdrängt. Man liest dann in Urkunden hin und wieder, dass so und so viele Mark Silber Kölner oder Mainzer oder Regensburger Gewichtes zu zahlen sind. So waren überregionale Geschäfte in jeder Hinsicht mit großer Rechnerei und bisweilen mit handfestem Streit verbunden.

Mensch und Tier Das Verhältnis der Menschen zum Tier war im MA ähnlich wie heute höchst pragmatisch, im Vordergrund standen Nützlichkeitserwägungen, sei es dass man seiner Arbeitskraft und seines Fleisches etc. bedurfte oder seiner Gesellschaft zum Vergnügen. Auf die Idee, Tierschutz gesetzlich zu verankern ist man nicht gekommen, obwohl man die Persönlichkeit der Tiere derart hoch einschätzte, dass man sie sogar vor Gericht zitierte und für diverse Delikte in aller Öffentlichkeit bestrafte. Wertschätzung des Tieres Im fränkischen Stammesrecht, der „Lex Salica“, finden sich zahlreiche höchst differenzierte Paragrafen über Tierdiebstahl, aus denen drei Arten der Nutzung von Tieren (Nahrungsmittel, Jagd, Arbeit) und deren hohe Wertschätzung ersichtlich werden. Außer Wertersatz war an Buße in Goldsolidi beispielsweise zu zahlen: Eber oder Mutterschwein 17,5, Habicht unter Verschluss 45, Zugpferd und Deckhengst 45, Ochse oder Jungkuh 35, Aalreuse 45. Bedenkt man, dass Diebstahl oder Tötung eines Knechtes oder einer Magd mit nur 30 Goldsolidi veranschlagt war, wird klar: Besitz von Tieren diente einerseits der Nahrungssicherung, war aber andererseits ein Statussymbol wie die Bewertung des Habichts zeigt, der zur Beizjagd, dem beliebten adligen Freizeitvergnügen gehalten wurde. Äußerte sich diese Wertschätzung auch in besonderer Tierliebe? Tierliebe gab es nur in sehr seltenen Fällen, sie war der durch AT und NT geprägten mittelalterlichen Mentalität fremd. Die Vorgaben des AT lauteten: Einige Tiere wie Frösche,

Mensch und Tier Heuschrecken oder Mücken hat Gott zur Plage der Menschen geschaffen, Schlangen sind Gesandte des Teufels, Tauben und Lämmer Opfertiere, Hunde und Schweine unrein, so dass sie nicht verzehrt werden dürfen. Letzteres war längst überholt, als das Christentum die Germanen erreichte, doch in der Bibel überlieferte Monstren wie Einhorn, Basilisken und besonders Drachen, bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg ins MA. Die Schöpfungsgeschichte des AT belegte die völlige Unterordnung jeglicher Kreatur unter den Menschen und rechtfertigte die schrankenlose Ausbeutung der Tiere. Daran hat auch die christliche Lehre nichts geändert, denn Jesus hat bei seinen Teufelsaustreibungen die bösen Geister in Schweine gebannt, die sich dann zu Tode stürzten, hat die der Hölle geweihten Sünder mit Böcken verglichen. Deshalb kommt der Teufel in Darstellungen bocksbeinig und mit Hörnern daher, selbst wenn er sich in Gestalt einer schönen Frau zu präsentieren versucht. Die Grundeinstellung des mittelalterlichen Menschen zum Tier und überhaupt zur Umwelt findet sich theologisch begründet bei dem Pariser Magister Petrus Lombardus († ca. 1160) dessen Lehren ein Basisprogramm theologischer Ausbildung waren: „Wie der Mensch geschaffen wurde, um Gott zu dienen, so die Welt, um dem Menschen zu dienen.“ Zwar sprach ein Großteil der Theologen den Tieren nicht generell eine Seele ab, doch war diese nicht unsterblich, weil eben nur der Mensch nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen war. Im Paradies gibt es keine Tiere, weil der Mensch ja keine Nahrung mehr benötigt. Tiere als Nahrungsmittel und ‚Rohstofflieferanten‘ Hauptsächlicher ‚Fleischlieferant‘ des MA war das Schwein, das als Allesfresser relativ problemlos sogar in der Stadt gehalten wurde. Es war einem Wildschwein ähnlicher als einem heutigen Hausschwein, wovon diverse Darstellungen und Bestimmungen über das Entfernen der Hauer zeugen. Da Schweine häufig zur Eichelmast in den Wald getrieben wurden, mag die genetische Nähe zum Wildschwein immer wieder aufgefrischt worden sein. Geschlachtet wurde vor allem im Herbst, damit möglichst wenige Tiere durch den Winter gefüttert werden mussten. Das Fleisch hat man durch Räuchern und Pökeln haltbar gemacht. Rinder waren im MA wesentlich kleiner als heute und Kühe gaben allenfalls ein Zehntel der Milch einer heutigen Hochleistungskuh. Für die Rinderzucht bildeten sich schon im Früh- und Hochmittelalter vor allem in den Marschgebieten des Nordens und in den Alpen Zentren heraus. Von dort

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Mensch und Tier aus wurden die Tiere dann zu den weit entfernten, Gewinn versprechenden Märkten der Städte getrieben, in denen immerhin auch einige Bürger ein paar Rinder hielten. Eine Verordnung aus Köln von 1492 erwähnt Tiere aus Ungarn, Polen, Russland, Dänemark, Friesland und Schleswig, die zum städtischen Rindermarkt getrieben werden sollten – ‚grenzüberschreitender‘ Tiertransport hat also Tradition. Proteste dagegen gab es schon damals, denn es wurden Herden bis zu 800 Stück bis zu 3.000 km weit durchs Land getrieben. Das hungrige Vieh fraß Wiesen und vielleicht sogar Felder kahl und die gewiss nicht allzu zartbesaiteten ‚Cowboys‘ gerieten dadurch ganz zwangsläufig mit den ansässigen Bauern in Streit. Friedlich wurde mit Milchprodukten wie Butter und Käse und Tierhäuten europaweit Handel getrieben, vor allem wenn dies per Schiff möglich war. Weit verbreitet war die Schafzucht sowohl des Fleisches als auch der Wolle wegen, wobei es regional große Qualitäts- und Preisunterschiede gab. Die Haut von Schafen wurde darüber hinaus zur Pergamentherstellung benutzt. Für eine Bibelhandschrift brauchte man wenigstens die Haut von 170 Kälbern oder 500 Schafen. Kein Wunder, dass so ein Buch ein Wertgegenstand war – erst seit dem 13. Jh. war Papier als Beschreibstoff auf dem Vormarsch. Geflügel (Hühner, Enten, Gänse, Tauben und im Spätmittelalter auch Perlhuhn und Pute) hielt man in erster Linie der Eier und des Fleisches wegen, doch fanden auch die Federn Verwendung, sei es als Füllungen von Kissen und Decken oder als Schreibfedern. Karpfen und Forellen züchtete man vor allem in Klöstern als Fastenspeise. Auch das Kaninchen verdankt seine Wertschätzung in der Küche den Mönchen. Bisweilen kamen aber auch Hunde und Katzen, deren Fell sehr geschätzt wurde, auf den Tisch. Selbst der ‚aufgeblasene Pfau‘ und ‚stolze Schwan‘ beendeten ihr Leben in einer höfischen Küche und so mancher hat sich sogar einen Storch gebraten. Kurz: Gegessen wurde alle Art von Fleisch, nur Pferd und Mensch waren tabu. Doch wen stört schon ein Tabubruch, wenn der Hunger quält? Welcher brave Bauer, dessen Felder und Ernte anlässlich einer Schlacht verwüstet worden waren, hätte nicht, den Hungertod vor Augen, für sich und seine Familie einen leckeren Braten frisch vom Schlachtfeld geholt und für einen Vorrat an Räucher- oder Pökelfleisch gesorgt? Jagd und Fischfang Bisweilen kam auch Wild auf den Tisch, doch seit dem Hochmittelalter nur noch auf den des Adels, der hohen Geistlichkeit und einiger wagemutiger

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Mensch und Tier Wilderer, die selbst von Bischöfen für Wildfrevel mit Verstümmelung oder im Wiederholungsfall sogar dem Tod bestraft wurden. Fisch war nicht nur eine beliebte Fastenspeise für den Klerus, sondern auch Adel, wohlhabendere Bürger und Bauern schätzten ihn, man denke nur an die hohe Buße für den Diebstahl von Aalreusen. Die Jagd avancierte zum Freizeitsport des Adels und hohen Klerus, man frönte ihr ohne Rücksicht auf die Unversehrtheit der Felder. Bauern, die Wild töteten, das ihre Felder verwüstete, wurden schwerstens bestraft. Straffrei gejagt werden durften nur Wölfe, die 1421 aus Hunger sogar in Paris und anderen Städten auf Beutezug gingen. Wenn es gegen Wildschweine oder Bären ging, wurde die Jagd lebensgefährlich, doch darf man sich nicht vorstellen, dass der edle Recke im Normalfall mit seinem Speer dem Wild Mann gegen Tier gegenübertrat: War z. B. ein Hirsch nach langer Hetze endlich gestellt, schlich sich hinterrücks ein Jäger an, zerschnitt ihm die Sehnen der Knie und überließ ihn den wütenden Hunden. Wildbret für die Küche fiel eher als Nebenprodukt ab, denn aus sportlichem Ehrgeiz fegte man bisweilen einen ganzen Wald leer. Zu den gejagten Tieren gehörten damals noch Auerochse und Wisent. Der Auerochse war bereits in merowingischer Zeit derart selten, dass seine Jagd dem Kg. reserviert blieb – Kg. Childebert ließ 590 seinen Kämmerer steinigen weil er einen erlegt hatte. Um jederzeit genug Wild zur Verfügung zu haben, legten bereits die Karolinger in der Pfalz Nimwegen einen großen Hirschpark an. Als vornehmste Art der Jagd galt die mit abgerichteten Vögeln. Ks. Friedrich II. war so begeistert von der Falknerei, dass er selbst ein Buch darüber verfasst hat und bei der Belagerung von Parma seine Kriegskasse samt Krone, Zepter und Siegel verlor, weil er sich der Beizjagd hingab, anstatt seine Truppen zu beaufsichtigen. Das Tier als ‚Arbeitgeber‘ Es würde zu weit führen, all die Arbeiten aufzuführen, die mit Tierzucht, Jagd und Weiterverarbeitung in Verbindung standen, angefangen beim Bauern, Viehhirten und -treiber über den Metzger, Leder- und Pergamentmacher bis hin zum Hundezüchter und Hundeschläger, der in Städten streunende Hunde erschlug. Der Fantasie kann man, was die Tierverwertung angeht, gar nicht zu weite Grenzen stecken. Es sei an dieser Stelle nur noch die Elfenbeinschnitzerei oder die Herstellung von Spielzeug aus Knochen erwähnt.

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Mensch und Tier Das Tier als Arbeitskraft und im ‚Militärdienst‘ Vor allem in Landwirtschaft und Transportwesen brauchte man Rinder und Pferde als Zugtiere. Beide waren wesentlich kleiner als heute und so mussten bis zu acht Tiere zusammengespannt werden, um Wagen und Pflüge zu ziehen. Im Früh- und Hochmittelalter waren hauptsächlich Ochsen als Zugtiere in Gebrauch, während Pferde allenfalls die Egge zogen. Erst als sich im Hochmittelalter allmählich der Gebrauch des aus dem Osten eingeführten Kummets durchsetzte, stieg in Landwirtschaft und Transportwesen der Einsatz von Pferden nördlich der Alpen – südlich blieb es beim Ochsengespann, weil die Böden dort weniger für den Anbau von Hafer geeignet waren, den man zur Ernährung des Pferdes braucht. Das Kummet ruhte auf den Schultern und erlaubte eine bessere Ausnützung der Arbeitskraft im Vergleich zu den vorher gebrauchten Brust- und Halsgurten, welche die Tiere bisweilen sogar erdrosselten. Hunde kamen nicht nur bei der Jagd, als Wachhunde oder Hirtenhunde zum Einsatz, sondern auch im Bergbau. Grubenhunden band man Säcke mit Erz auf den Rücken, den sie dann zum Ausgang transportierten. Katzen und Frettchen ,arbeiteten‘ in Stadt und Land an der Eindämmung der Mäuse- und Rattenplage. Selbst im Strafrecht waren Tiere als Helfer des Menschen im Einsatz. So wurde bei der Strafe des Säckens der Verurteilte zusammen mit einem Tier, meist Hund, Kater oder Hahn in einen Sack eingenäht und ertränkt. Beim Vierteilen wurden Hände und Füße des Verurteilten an vier Pferde gebunden, die in verschiedenen Richtungen auseinander getrieben wurden. Verurteilte Juden wurden oft neben einem oder zwei Hunden aufgehängt, diebische Knechte nackt mit Honig eingeschmiert und in die Sonne gesetzt. Im militärischen Bereich wurden in erster Linie Pferde als Reittiere verwandt (Ritter). Die Streitrösser waren das Ergebnis einer sorgfältigen Zucht und Dressur. Sie hatten etwa die Größe von Haflinger Ponys (140–150 cm Stockmaß) und mussten im Rechtsgalopp laufen, damit der Ritter die rechts geführte Lanze zum Einsatz bringen konnte. Außerhalb des Kampfes ritt der Ritter auf einem Marschpferd, ein ‚Klepper‘ trug die Rüstung und ein weiteres Pferd den Knappen mit Schild und Lanze. Bei einer Schlacht diente das Streitross nicht nur als Reittier, sondern als Waffe, indem man Fußkämpfer einfach niederritt. Häufig war das Pferd erstes Angriffsziel, denn mit dem Ross fiel auch der Reiter. Da nützte auch die Panzerung wenig, die im 12. Jh. für das Streitross aufkam, denn Bauch und Beine blieben unge-

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Mensch und Tier schützt. In Turnieren war das nicht viel anders. Ein französischer Autor des 14. Jh.s berichtete: „Für ein Pferd, das entkommt, sterben derer drei.“ Das Haustier zum Vergnügen Das Verhältnis von Tier und Mensch war im MA nicht allein von einer Kosten-Nutzen-Rechnung geprägt, der Mensch hielt sie auch zum Vergnügen. Zahlreich sind die Berichte über Einsiedler, die sich ein Tier als Gefährten hielten, etwa der über einen Eremiten, der traurig wurde, als er erfuhr, dass er in den Himmel komme, aber seine Katze nicht mitnehmen könne. Im höfischen und städtischen Bereich wurden kleine Schoßhündchen gezüchtet, die der Dame des Hauses als süßes Kuscheltier die Zeit vertrieben. Besonders Kinder erfreuten sich der Tiere gern als Spielzeug. Einen kleinen Vogel konnten sie z. B. immer wieder zu ihrem Ergötzen fliegen lassen, um ihn dann an einer Schnur herunterzureißen. Erzählt wird über sprechende Stare oder Papageien, über mit oder ohne göttliches Wunder gezähmte wilde Tiere. Auf Jahrmärkten traten immer wieder Bärenführer mit ihren Tanzbären auf. Ein Gaukler ließ sich vor Ks. Heinrich II. (1004–1024) ganz mit Honig bestreichen und dann von seinem Bären abschlecken. Mit dressierten Tieren ließ sich allerorten ein wenig Geld verdienen. Zu ihrem Plaisir und aus Gründen der Repräsentation unterhielt gar mancher Kg. und hoher Adelige einen Tierpark. Karls d. Gr. „Capitulare de villis“ erwähnt die Haltung von Enten, Pfauen, Fasanen und Tauben zur Schaustellung. Für die Löwen des Hzg.s von Geldern wurden Ende des 14. Jh.s 300 Schafe jährlich geschlachtet. Die Florentiner schenkten 1354 dem Hzg. Rudolf von Habsburg einen Löwen, um von ihm wertvolle ‚Insiderinformationen‘ zu erhalten. Der Kalif von Bagdad, Harun al Raschid, hat Karl d. Gr. als Ehrbezeugung einen Elefanten geschickt. Als Ks. Friedrich II. 1235 gegen seinen aufständischen Sohn, Heinrich (VII.), nach Deutschland kam, brachte er anstelle eines Heeres in seinem Gefolge außer Äthiopiern und Sarazenen auch Kamele, Leoparden und Affen aus seinem berühmten Tierpark mit. Dieser exotische Aufzug erzeugte derartiges Erstaunen und gab Zeugnis von seiner überlegenen Macht, dass die Rebellion ohne Blutvergießen in sich zusammenbrach. Tiere in der Religion Die heidnischen Germanen hatten ihren Göttern Tier- und Menschenopfer gebracht. Insbesondere wurden Pferde nach rituellem Schlachten gemein-

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Mensch und Tier sam verzehrt, weshalb Pferdefleisch tabuisiert wurde, nachdem sich das Christentum durchgesetzt hatte. Doch auch in christlicher Zeit wurde das Tier nicht aus der Religion verbannt. Den Hl. Geist symbolisiert die Taube, Jesus das Lamm oder der Pelikan, drei der Evangelisten haben Tiersymbole. Viele Heilige werden mit einem Tier als Symbol gezeigt, weil Gott ihnen durch das Tier seinen Willen gezeigt hatte. So soll z. B. ein Bär der hl. Richarda den Ort der Gründung des Klosters Andlau gezeigt haben. Zahllos sind die Schutzpatrone für Tiere. Ja Tiere standen schon im NT Gott sehr nahe, man denke nur an die Weihnachtskrippe oder den Esel, auf dem Jesus in Jerusalem eingeritten ist. Natürlich waren (und sind noch bis heute) Tiere im Aberglauben verankert, Unheil verkündende schwarze Katzen, die Zukunft voraussagende Vögel, Hunde die stellvertretend für den Teufel in den Tod gehetzt wurden usw. Allerdings konnten alle Tiere sowohl positive als auch negative Bedeutungsträger sein. In Predigt und Literatur verpackte man religiöse Belehrungen gerne in Tierallegorien. Ebenfalls in der darstellenden Kunst wurden derartige religiöse Tiermotive zur Ausstattung der Kapitelle oder der Tympana verwandt, angefangen vom Greif über den Löwen, den Pelikan als Symbol für Christus oder Jonas mit dem Walfisch als Symbol für die Auferstehung. Löwen und Adler wurden als Symbole der Macht natürlich auch zur Ausgestaltung von Burgen und Palästen verwandt. Sie sind auch sehr häufig zu Wappentieren geworden, doch machen ihnen andere Tiere, vor allem Bär, Stier oder Eber Konkurrenz. Tiere vor Gericht Das enge Zusammenleben von Tier und Mensch hat nicht selten zu sexuellen Kontakten geführt, die streng bestraft wurden. In der Frühzeit kamen die ‚Liebenden‘ meist glimpflich davon: Irische Bußbücher bestraften Sodomie wie Masturbation, kontinentale eher wie Homosexualität, die vielfach überhaupt Sodomie genannt wurde (Sexualität und Moral ). Mensch und Tier kamen mit dem Leben davon, was sich im Laufe des MA allerdings ändern sollte. Fehlende Distanz zum Tier legten in etwas anderer Weise als die Sodomisten die Juristen an den Tag, wenn sie Tiere vor Gericht zitierten und z. B. wegen Körperverletzung anklagten. Tierprozesse hat man unter Beachtung aller juristischen Formalia und allen Ernstes bis ins 19. Jh. durchgeführt. Es

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Mensch und Tier sind einschlägige Rechnungen erhalten, in denen z. B. der Kerkermeister eines Gefängnisses bestätigt, die vom 21. Juni bis 13. Juli 1408 angefallenen Kosten für Ernährung und Fesselungsstrick eines in Untersuchungshaft genommenen Schweines bekommen zu haben. Meist wurde über die Tiere die Todesstrafe verhängt, doch nicht Tod durch Schlachten und Verwursten, sondern durch den Galgen oder Begraben bei lebendigem Leibe. Selbst Kirchenrechtler verkündeten ihr Urteil den vor Gericht zitierten Mäusen, Heuschrecken oder Engerlingen, verwiesen sie im Namen Gottes und seiner Heiligen der Felder und Scheunen und forderten sie auf, dorthin zu gehen, wo sie niemandem schadeten. Gar mancher Theologe meldete hinsichtlich dieser Praxis Bedenken an, dass die Tiere die menschlichen Worte doch nicht verstünden, unvernünftig und nicht Herr ihrer Handlungen seien. Ihnen hielten die Juristen im Brustton der Überzeugung entgegen, die Heiligen Simon und Judas hätten mit durchschlagendem Erfolg Drachen beschworen, sich in die Wüste zurückzuziehen, außerdem könnten hinter den Handlungen der Tiere Gottes oder auch des Teufels Wille stehen, weshalb eine Beschwörung durchaus sinnvoll sei. Tier, Medizin und Magie Da die Heilkunde im MA bisweilen der Magie sehr nahe stand, spielten Tiere auch für sie eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es seien nur einige Beispiele genannt: Zahnschmerzen beseitigte man, indem man in das Maul eines Frosches spuckte und ihn aufforderte, den Schmerz mit sich zu nehmen. Gegen Rachenschmerzen sollte eine ungerade Zahl von Schwalbenjungen lebend zu einem Pulver verbrannt werden, das man einnehmen musste. Von Mundgeruch wurde geheilt, wer die Nüstern eines Maulesels küsste. 1329 wurde ein Karmeliter verurteilt, der mittels Krötenblut und Schmetterlingsopfer Frauen magisch zu verführen suchte und behauptete, damit Erfolg gehabt zu haben. Die wenigen Streiflichter zeigen, wie sehr doch das Verhältnis zwischen Mensch und Tier im MA geprägt war durch Glauben und Aberglauben, durch die soziale Hierarchie, in der man auch die Tierwelt geordnet sah, mit Löwe und Adler an der Spitze, den ‚adligen Raubtieren‘, den untergeordneten und sich unterordnenden Nutztieren und natürlich dem Opferlamm. Den ‚vornehmen und starken‘ Tieren fühlte sich der vornehme Mensch derart verbunden, dass er diese als Wappentiere und auch für die Namengebung ‚adoptierte‘.

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Ministeriale Ministeriale Der noch in der Karolingerzeit unspezifisch gebrauchte Begriff „ministerialis“ nahm seit dem 10. Jh. zuerst im Rahmen der Grundherrschaften der Reichskirche die Bedeutung des unfreien, hofrechtlich gebundenen Dienstmannes an. Die M.n bildeten schon bei ihrem ersten Auftreten in den Hofrechten des 11. Jh.s einen engeren, im Laufe der Zeit immer privilegierteren Personenkreis innerhalb der Familie eines Grundherrn, die aufgrund ihrer Fähigkeiten zu besonderen Diensten herangezogen und mit besonderen Ämtern – Kämmerer, Truchsess, Mundschenk, Marschall – betraut wurden. In den unruhigen Zeiten des Investiturstreits kam zu den übrigen Aufgaben der Kriegsdienst hinzu. Von vornherein leisteten M. ritterlichen Kriegsdienst wie die höher gestellten Vasallen, Freien und Adeligen, rangierten aber über den weniger anspruchsvoll gerüsteten, aber freien Bauernkriegern. Aus M.en wurden Ritter. Im Reichsdienst gelang ihnen vor allem unter den Staufern der Aufstieg in den niederen Adel und zu hohen Kirchenämtern bis hin zum Bf., zumal sie zumindest anfangs die Interessen ihres Herrn zuverlässiger vertraten, als die allzu selbstständig gewordenen adligen Vasallen. Mit der Zeit wurden ihre Dienstgüter zu erblichen Lehen und es setzte eine ähnliche Entwicklung der Verselbstständigung ein wie zuvor bei den Vasallen.

118 Minne Das mittelhochdeutsche Wort „minne“ wird seit dem 19. Jh. in der Rechtsgeschichte für die gütliche Einigung anstelle eines gerichtlichen Urteils gebraucht. Wesentlich geläufiger ist es uns jedoch als literaturgeschichtlicher Terminus für die in Prosa und Dichtung in verschiedenster Weise thematisierte Liebe. Im MA bezeichnete das Wort eine positive, emotionale Zuwendung der Menschen zueinander und zu Gott und seinen Heiligen. Im Spätmittelalter verengte sich der Begriff mehr und mehr auf den erotischen und sexuellen Bereich (Sexualität und Moral). Seit etwa 1170 wurde die M. zu einem zentralen Thema der Lyrik und Epik, also nicht nur des Minnegesangs, sondern auch in allen Formen der erzählenden Literatur vom Artusroman bis zur religiösen Mystik, in der sowohl Jesus als auch Maria geradezu erotisch anmutende Verehrung entgegengebracht wurde. Gar manche Mystikerin betrachtete sich wie Christina von Markyate (ca. 1097–1161) als Braut Jesu und knüpfte in Visionen höchst emotionale Beziehungen zu ihm: „Dabei umfasste die Jungfrau ihn [Jesus] mit ihren Händen, drückte ihn an ihren Busen und mit unermesslicher Lust hielt sie ihn an ihre jungfräulichen Brüste, im nächsten Augenblick fühlte sie, wie seine Gegenwart selbst die Grenzen ihres Fleisches durchdrang.“ Die M. als literarisches Sujet wurde getragen von einer Veränderung der

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Mönch und Mönchtum

Mentalität: Persönlichkeit und persönliches Empfinden traten mehr und mehr in den Vordergrund. M. wurde zu einer lebensbestimmenden Kraft, die dem Menschen ein neues Selbstwertgefühl als einmalige Existenz gab, dessen Zuwendung einem nicht austauschbaren Du gehörte. Durch dieses neue Gefühl erfuhr die höfische Frau eine Aufwertung

fern aller Realität mit Zügen der Marienverehrung, die in verschiedenen Heldenromanen in den Entwurf der Liebesehe mündete. Wenngleich natürlich die Literatur nicht unmittelbar auf die Realität einwirkt, verändert sie doch das Bewusstsein des Menschen auf die Dauer, schafft Idealvorstellungen, die schließlich die Realität verändern können.

Mönch und Mönchtum Die Wurzeln des Mönchtums liegen im Ideal des asketischen Lebens, das man vergeblich in den Schriften des NT sucht. Jesus selbst war zwar nicht verheiratet, verzichtete aber auf die Sicherung seines persönlichen Lebensunterhaltes durch Arbeit oder Besitz und hat Armut als besonderen Wert verkündet, doch war er gerne bei reichen Gönnerinnen und Gönnern zu Gast und hat sogar Wasser in qualitativ sehr hochwertigen Wein verwandelt. Dieses Wunder hätten die Therapeuten, eine asketische Gemeinschaft des jüdischen Kulturkreises, verabscheut. Philon von Alexandrien († nach 40 n. Chr.) schrieb über deren Lebensführung: „Die Tafel bleibe rein vom Fleisch, biete stattdessen Brot als Nahrung, als Zukost Salz, dem bisweilen Hyssop als Gewürz beigegeben wird, um den Feinschmeckern zu genügen. Die Vernunft rät, in Nüchternheit zu leben. Wein ist nämlich ein Gift, das Tollheit erzeugt, Leckerbissen aber reizen das unersättliche Geschöpf zur Begierde.“ Eine ähnliche Einstellung zu den Lebensgenüssen verkündeten verschiedene philosophische Schulen des hellenistischen Kulturkreises. In der Konkurrenz mit diesen geistigen Strömungen steckt der Motor für die Entfaltung christlicher Askese. Christliche Askese und Mönchtum in Nordafrika Zwei Wege standen für diese Art menschlicher Vervollkommnung offen: das Leben als Eremit oder als Zönobit. Aus der namenlosen Schar der Wüsteneremiten ragt Antonius (†ca. 356) heraus. Urform der Wüstenaskese war die Eremitenkolonie mit einer Autoritätsperson im Zentrum. Geschriebene Regeln für das Zusammenleben gab es nicht. Vater des Zönobitentums war

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Mönch und Mönchtum Pachomius († 347). Er scharte Männer um sich, die den Anforderungen des Einsiedlerlebens nicht gewachsen waren und schuf für sie im Kloster einen bergenden Raum und eine Regel. Fern von den Versuchungen der Welt konnten sie gemeinschaftlich ihr Seelenheil erwirken. Zum Klosterleben gehörten der nach außen abgeschlossene Wohnraum, einheitliche Lebensweise in Nahrung, Kleidung und Arbeit, gemeinsamer Gottesdienst und die alles ordnende und für alle Mönche verbindliche Lebensordnung unter der Autorität des Leiters, dem unbedingter Gehorsam geschuldet wurde. Der Zönobit lebte ohne persönlichen Besitz – das Kloster verfügte als Gemeinschaft über die weltlichen Güter und ließ dem Einzelnen das Notwendige zukommen. Fiktiver Eigentümer des Klosterbesitzes war Christus selbst. Was Pachomius über Keuschheit, Gehorsam und Armut festgelegt hat, ist Gemeingut aller Klosterregeln geworden. War einmal das Kloster als ideale Lebensform gefunden, ließen sich in ihrem Rahmen andere Ziele im Dienst an Gott und dem Nächsten verwirklichen. Basilius d. Gr. († 379) gliederte seinem Kloster ein Xenodochium an, in welchem Kranke, Schwache und Bedürftige gepflegt wurden und legte damit den Grundstein für die klösterliche Tradition der Krankenpflege (Heilkunde und Medizin). Philosophische Ausrichtung hatte die asketische Gemeinschaft des nordafrikanischen Kirchenvaters Augustinus († 430). Nach seiner Erhebung zum Bf. von Hippo (396) drängte er den Klerus seiner Kirche zur klösterlichen Lebensweise. Seine Regel hat einerseits andere Ordensregeln beeinflusst, andererseits ist sie Basis für die noch heute existierenden Orden der Augustiner-Eremiten, der Augustiner-Chorherren und der Augustinerinnen. Christliche Askese und Mönchtum im Abendland Im Abendland verbreitete sich das Mönchtum, ausgehend von Rom, in der zweiten Hälfte des 4. Jh.s über das gesamte weströmische Reich. Klostergründer waren Männer und Frauen der Aristokratie, die ihrem Leben tieferen Sinn geben wollten – einige zogen sich zur gemeinschaftlichen Askese aufs Land zurück, andere verwandelten ihren Palast in ein Kloster und bahnten damit dem Stadtkloster seinen Weg in die Geschichte. Die Erwartungshaltung der ‚Weltflüchtigen‘ spiegelt die Werbung des Kirchenvaters Ambrosius (374–397 Bf. von Mailand) für Eremitensiedlungen auf den Italien vorgelagerten Inseln: „So ist das Meer ein stilles Heim der Enthaltsamkeit, eine Schule der Entsagung, ein Asyl des Lebens […], denn mit dem

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Mönch und Mönchtum Rauschen der Wogen, die sanft ans Ufer schlagen, wetteifert der Gesang der Psalmenbeter, die Inseln […] hallen wider von Lobgesängen der Heiligen.“ Durch die Initiative bedeutender Bischöfe wurde im Abendland das Mönchtum an die „Amtskirche“ gebunden, während es sich im Morgenland eher zu einer isolierten Sonderform des Christentums entwickelte. So verband in Vercelli Bf. Eusebius († 371) den priesterlichen Dienst mit mönchischer Lebensart und kreierte das erste Klerikerkloster des Westens, den Vorläufer des Domkapitels – normalerweise waren Mönche Laien. Der hl. Martin († 397) führte als Bf. von Tours in seiner Gründung Marmoutier sein asketisches Klosterleben fort. Aus dem Kloster, das ein bedeutendes Zentrum kulturellen Schaffens wurde, gingen mehrere einflussreiche Bischöfe hervor. Schenkungen und Verleihungen von Gütern und Rechten machten die Klöster reich und mächtig, was bald zum Niedergang der Klosterzucht führte. Erste Reformer kamen aus Irland, wo die großen Klöster Zentren des kirchlichen Lebens waren, da es keine Bistümer gab. Die monastischen Pioniergestalten, Ninian († 432) und Patrick († ca. 461), hatten das Klosterleben aus Gallien mitgebracht. Die strenge Askese der irischen Gemeinschaften machte Irland zur „Insel der Heiligen“ und deren Gelehrsamkeit zur „Insel der Gelehrten“. Ihr asketisches Ideal der Heimatlosigkeit, die „Wanderschaft um Christi Willen“ drängte sie zum Verlassen der Heimat. Im späten 6. Jh. zog Columban mit 12 Gefährten nach Gallien und läutete dort eine Epoche des abendländischen Mönchtums ein, die von irischen und angelsächsischen Reformern geprägt war. Um 590 gründete er in den Vogesen Kloster Luxeuil, das durch die enge Verbindung mit dem Königshaus der Merowinger und den Eintritt von Mitgliedern der bedeutendsten fränkischen Adelshäuser zu einem monastischen Zentrum Galliens mit größtem politischem Einfluss wurde, aus dem zahlreiche Bischöfe hervorgingen. Zu dieser Zeit beeinflusste schon die Regel Benedikts von Nursia die in Gallien bestehenden Mönchsregeln. Die iroschottischen Mönche, Willibrord († 739) und Bonifatius († 754), führten die mit der Regel Columbans verschmolzene Benediktregel in ihren Klöstern ein und verhalfen ihr dank ihrer engen Verbindungen zu den karolingischen Hausmeiern zum Durchbruch. Das Benediktinische Mönchtum Als Vater des abendländischen Mönchtums gilt Benedikt von Nursia († 560), weil seine Regel für Jh.e wegweisend geworden ist. Er hat sie um 540

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Mönch und Mönchtum in Montecassino verfasst, nachdem er lange Jahre Erfahrung als Leiter einer Eremitengemeinschaft in Subiaco gesammelt hatte. Zwar kennt man nicht einmal mehr deren ursprünglichen Text, doch gilt bis heute Benedikts Grundgedanke, ein jedes Kloster solle ein Abbild einer wahrhaft christlichen Familie sein. Das Alltagsleben prägte die Verbindung von gemeinsamem Gebet mit gemeinsamer Arbeit, die Ausdruck findet in dem Motto: „Bete und arbeite!“ Kapitel 48 liefert dafür die Begründung: „Müßiggang ist ein Feind der Seele; darum müssen sich die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeiten beschäftigen und wiederum zu bestimmten Zeiten mit heiliger Lektüre […]“ Die Arbeit der Benediktiner bestand anfangs aus körperlicher und geistiger Tätigkeit, wobei Feldarbeit außerhalb der Klostermauern wegen der sündhaften Verlockungen gemieden wurde. Erst als die Klöster zu Kulturzentren geworden waren, beschränkten sich die Mönche auf Studium und Kopierarbeiten. Der Tagesablauf in einem Kloster erfolgte in einem streng geregelten und den Jahreszeiten angepassten Wechsel von Arbeit, Gebet und Ruhepausen, der überhaupt erst das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Zeitmessung geschaffen hat. In Klöstern und vergleichbaren kirchlichen Einrichtungen finden sich daher die ersten Räderuhren, und das Läuten der Kirchenglocken gab bis weit in die NZ in Stadt und Land den Lebensrhythmus der Bevölkerung an. Charakteristisch sind die drei Gelübde: Ortsgebundenheit, Sittenstrenge und Gehorsam. Die Mönche verpflichteten sich, ihr Leben lang arm und enthaltsam in dem Kloster zu bleiben, in das sie eingetreten waren und dem Abt unbedingten Gehorsam zu leisten, dessen Strafgewalt körperliche Züchtigung einschloss. Aufgenommen wurden in ein Kloster Erwachsene (Konversen) und Kinder (Oblaten), Freie und Sklaven. Die Neulinge (Novizen) hatten ein Probejahr zu überstehen, das ihnen die raue Seite des Mönchslebens vor Augen führte. Erst danach wurde das Gelübde (die Profess) abgelegt. Einen besonderen Akzent setzte Benedikt bei der Aufnahme von Kindern: Die Opferung durch die Eltern band sie lebenslänglich ans Kloster. Im Unterschied zu anderen nahm Benedikt Priester auf, wodurch sein Kloster zu einer selbstständigen Eucharistie-Gemeinde wurde. Der auf Lebenszeit amtierende Abt wurde von der Gemeinschaft gewählt, wobei nicht die Mehrheit ausschlaggebend war, sondern die Würdigeren („sanior pars“). Dieses Prinzip, das bis ins späte MA generell bei kirchlichen, aber auch weltlichen Wahlen befolgt wurde, beschwor Konflikte herauf, da

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Mönch und Mönchtum man über Würde trefflich streiten kann. Den Erwählten stellte die Gemeinschaft dem Bf. vor, der durch seinen Segen die Autorität des Abtes begründete. Der Abt seinerseits ernannte Helfer, die ihn bis auf Widerruf in der Verwaltung unterstützten: Sein Stellvertreter war der Prior, Dekane bzw. Senioren beaufsichtigten die ihnen zugewiesenen Zehnergruppen. Verwalter der zeitlichen Güter war der Cellarius, dem auch die Sorge für das leibliche Wohl der Mönche oblag. Die Novizen betreute der Novizenmeister, wenn nicht der Cantor seine Aufgabe übernahm, der (neben seinen Pflichten als liturgischer Gestalter der Gottesdienste) die Novizen und sonstigen Klosterschüler unterrichtete. Für die Beherbergung und Bewirtung von Gästen (außerhalb der Klausur), die Klosterpforte und die Kranken trug ebenfalls je ein Mönch die Verantwortung. Durch enge Verbindung zu Adel und Königtum hielt in den Benediktinerklöstern der Reichtum Einzug, der nicht ausschließlich Folge der Schenkungen war, sondern ebenso der überlegenen Bewirtschaftung der Güter. Klöster und deren Verwalter waren über das ganze MA hinweg führend und wegweisend in der Landwirtschaft. Einerseits trieben Mönche seit dem Frühmittelalter, als sie noch die Einsamkeit suchten, um Gott besser dienen zu können, die Erschließung des Landes durch Rodung von Wäldern und Trockenlegung von Sümpfen voran, andererseits veredelten sie Weinreben und Obstbäume, legten Kräutergärten für Gewürze und Medizin sowie Teiche zur Fischzucht an, bauten Kanäle, Stollen, Aquädukte, nützten Wasser- und Windkraft für Mühlen, und konstruierten Anlagen zur Salzgewinnung. Von ihrem auf antikem Schriftgut basierenden Know how profitierte letztlich die gesamte Gesellschaft. Aus dem frühen 9. Jh. stammt der St. Galler Klosterplan, ein einzigartiger Beleg für die Vorstellungen von einem perfekten Kloster. Die zentrale Idee war weitgehende Autarkie von der Außenwelt. Es gab in diesem Idealkloster neben der Klausur und den für den Gottesdienst bestimmten Räumen sämtliche Einrichtungen zur Befriedigung der täglichen Bedürfnisse, angefangen von der Bäckerei und Brauerei bis zum Aderlass-Haus, vom Baderaum bis zum „Infirmarium“, dem ‚Krankenhaus‘ des Klosters. Benediktinische Mönche waren als Bewahrer der antiken medizinischen Tradition erfahren in der Heilkunde, die sie auch außerhalb des Klosters mit großem Erfolg ausübten. Die einzelnen Tätigkeiten legten Abt und Cellarius in die Hände von ‚Spezialisten‘ und trugen dadurch die Spezialisierung der einzelnen Handwerksbereiche in die noch sehr undifferenzierte Welt der früh-

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Mönch und Mönchtum mittelalterlichen Wirtschaft, die weitgehend auf Selbstversorgung ausgerichtet war. Neue Akzente setzte Hzg. Wilhelm von Aquitanien († 918), der 909 Kloster Cluny gegründet und mit reichen Besitzungen ausgestattet hat: Er unterstellte es unmittelbar dem Papst und befreite es damit sogar aus der eigenen und der königlichen Abhängigkeit. In wirtschaftliche und personelle Angelegenheiten des Klosters durfte sich nicht einmal der Papst einmischen. Von Cluny aus wurden weitere Klöster reformiert, und schließlich entstand unter der Herrschaft des Abtes ein Klosterverband, dem in der zweiten Hälfte des 11. Jh.s europaweit etwa 1.200 Klöster angehörten – die Tochterklöster wurden von einem Prior geleitet. Cluny war maßgeblich am Entstehen der Reformbewegung beteiligt, die in den so genannten Investiturstreit münden sollte. Reformorden Die Kirchenreform, an deren Entstehen Cluny maßgeblichen Anteil gehabt hatte, führte zu einer Spiritualisierung der Gesellschaft. Alte Ideale von einem Gott geweihten Leben in Waldeseinsamkeit und Armut, die längst der Vergangenheit angehörten, feierten im 12. Jh. ,Auferstehung‘ und führten zur Gründung einer Reihe neuer Orden. Zisterzienser Im Jahr 1098 gründete Robert von Molesme († 1111) in bewusster Abkehr vom Prunk Clunys in der Waldeseinsamkeit von Citeaux ein Kloster, in welchem er mit seinen Gefährten nach der streng ausgelegten Regel Benedikts Gott dienen wollte. Der berühmteste Spross von Citeaux, Bernhard von Clairvaux († 1153), kritisierte Cluny und seine Priorate als ‚Verkörperung verachtenswürdiger monastischer Dekadenz, wo Demut vor Gott und ehrfürchtiger Glaube weltlichem Gebaren der Äbte, architektonischer Prachtentfaltung und erstarrten Gebetsformeln gewichen seien, wo man nicht die vollendete göttliche Schöpfung, sondern Produkte der ausschweifenden Phantasie der Steinmetze und Bildhauer bewundere.‘ Bernhard, eine der großen charismatischen Gestalten der katholischen Kirche, hatte zwar ‚nur‘ 164 Klöster unter seiner geistlichen Leitung, aber dennoch großen politischen Einfluss: Papst Innozenz II. konnte sich nur dank seiner Unterstützung gegen den Gegenpapst Anaklet II. durchsetzen, seine Predigten brachten die aufständischen Römer unter den Gehorsam gegenüber den

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Mönch und Mönchtum Päpsten Lucius II. und Eugen III. und entfachten eine Kreuzzugbegeisterung, die Kg. Konrad III. trotz innenpolitischer Schwierigkeiten ins Heilige Land aufbrechen ließ. Wenig später waren die Klöster der Zisterzienser durch fromme Schenkungen zu weitläufigem Landbesitz gekommen, organisierten ihre landwirtschaftlichen Güter, die Grangien, effizient, wurden reich und reformbedürftig. Zwar blieb die Form der Kirchen schlicht, doch verhinderte das nicht, dass sie und die klösterlichen Wohn- und Wirtschaftsgebäude zu wahren Palästen wurden. Nicht mehr die Waldeseinsamkeit wurde zur spirituellen Begegnung mit Gott in Einfachheit, Armut und Demut gesucht. Die Aufbruchstimmung der Väter des Ordens war verloren gegangen, der Orden war etabliert und unterschied sich in seiner Hinwendung zur Welt bald kaum mehr von den Benediktinern. Zwar ließ sich der 1250 verstorbene Kaiser Friedrich II. als Exkommunizierter im Habit der Zisterzienser begraben, um ein letztes Mal seine Gläubigkeit und sein Faible für eine Kirche zu demonstrieren, die nicht nach Reichtum und Macht strebte, doch war damals der Orden längst auf dem Weg, sein ursprüngliches Ideal vom Rückzug aus dem Trubel der Welt zu vergessen. Kartäuser Bruno von Köln, ein hoch gebildeter Mann, zog sich 1084 mit sechs Gefährten in die Einsamkeit von Chartreuse bei Grenoble zurück, um dort als Einsiedler zu leben. Sein Orden, die Kartäuser, untergliederten sich in „Väter“ und Laienbrüder. Jeder „Vater“ lebte in einer gesonderten Zelle mit Strohbett, einem Kissen, einer wollenen Decke, Werkzeug für Handarbeiten und Schreibzeug. Nur an Feiertagen oder zu den Begräbnissen eines Ordensbruders verließ er sie. Neben den längeren, von allen eingehaltenen Fastenzeiten wurde dreimal wöchentlich bei Brot, Wasser und Salz gefastet, der Genuss von Fleisch und ungemischtem Wein war generell verboten. Abgesehen von seltenen Gelegenheiten war grundsätzlich Schweigen geboten. Um 1229 wurde in Salette an der Rhône der Orden der Kartäusernonnen mit denselben Regeln gegründet. Die Prämonstratenser Norbert von Xanten hätte angesichts seiner ‚Blitzkarriere‘ als Kleriker in dem für die hohe Geistlichkeit üblichen Luxus leben können, doch führte er 1115 einen spektakulären Bruch mit dem reformunwilligen Xantener

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Mönch und Mönchtum Stift St. Victor herbei, lebte danach als Eremit und zog seit 1118 mit päpstlicher Genehmigung als Wanderprediger durch Deutschland und Frankreich. Im Jahr 1120 errichtete er in Prémontré in der Diözese Laon das Mutterkloster der Prämonstratenser nach der Regel des Augustinus. Es folgten weitere Gründungen, die sich Norbert zur Kontrolle in der Art von Eigenklöstern übertragen ließ. Nach seiner Erhebung zum Ebf. von Magdeburg 1126 setzte er sein Reformwerk fort, bald verbreitete sich der Orden europaweit. Die Konvente setzten sich aus Priestern und Laienbrüdern zusammen. Bis 1140 bestanden Doppelklöster für Männer und Frauen, die aus Gründen der Disziplin abgeschafft wurden. Organisatorisch war der Orden in regionale Klosterverbände gegliedert, die der Leitung von Generalabt und Generalkapitel unterstanden. Die Bettelorden Im 13. Jh., der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, in der die Städte und ihre Bürger großes wirtschaftliches und politisches Gewicht gewannen, entstanden die Bettelorden. Das Zusammenleben von Arm und Reich auf engem Raum hatte auch in der Kirche zu sozialen Spannungen geführt: Bischöfe, Äbte und sonstige Prälaten gehörten mit wenigen Ausnahmen zu den Reichen, von denen Jesus gesagt hatte: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich.“ Massive Kritik an der Amtskirche durch das immer selbstbewusster werdende Bürgertum blieb nicht aus. Es entstanden und verbreiteten sich mannigfache Häresien, denen häufig Idealvorstellungen der frühen, noch nicht durch Reichtum und Macht verdorbenen Kirche zugrunde lagen. Franziskaner In diese Zeit wurde 1181/82 in Assisi Giovanni Bernardone als Sohn eines angesehenen Geschäftsmannes geboren, der wegen seines Faibles für die Franzosen Francesco genannt wurde. Er hatte in seiner Jugend das sorglose Leben der Reichen geführt, war dann im Krieg gegen Perugia in Gefangenschaft geraten und veränderte nach einigen Visionen im Kerker sein Leben grundlegend: Er gab jeglichen Besitz auf, verzichtete auf das väterliche Erbe, zerstritt sich deshalb mit seinem Vater, zog einfachste Kleidung an und stellte sich ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit in den Dienst der Ärmsten und Kranken, pflegte Aussätzige und erbettelte seinen Lebensunterhalt. Schon bald folgte ihm eine immer größer werdende Schar Gleichgesinnter.

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Mönch und Mönchtum Das machte die Regulierung der Lebensweise und Einbindung in den Schoß der Kirche notwendig. 1209/10 gewährte Papst Innozenz III. die mündliche Anerkennung der gemeinschaftlichen Lebensweise in Demut nach dem Vorbild Christi. Mit Klara von Assisi gründete er 1212 die denselben Idealen verpflichtete Klarissengemeinschaft. 1221 legte Franziskus, der Verwaltung und Organisation müde, die Leitung des Ordens nieder und zog sich in die Einsamkeit zurück. 1223 bestätigte Papst Honorius III. den Minderbrüdern (Minoriten) ihre Regel. Gleich der erste von zwölf Artikeln betonte die beiden Grundpfeiler des Ordens: ein Leben in der Nachfolge Christi, wie es die Evangelien beschreiben, und Gehorsam gegenüber der römischen Kirche und ihrem Papst. Geregelt wurde die Aufnahme in den Orden, die Rolle von Gottesdienst, Gebet und Kontemplation sowie die Annahme von Geschenken – selbst für geleistete Arbeit durften Franziskaner nur Naturalien annehmen. Von geradezu revolutionärem Verständnis für menschliche Schwächen zeugt die Aufforderung an die Priester des Ordens, ihren Brüdern die Beichte abzunehmen, wann immer diese es wollten, wobei betont wurde, dass jeder für sein Tun verantwortlich sei und sich keiner ein Urteil über die Verfehlungen des anderen anmaßen solle. Selbst die Oberen und Priester des Ordens seien nicht dazu da, zu strafen, sondern in Liebe auf den rechten Weg zurückzuführen. Mit kleinen Veränderungen noch heute gültig ist die in der Regel festgelegte straffe hierarchische Ordnung: An der Spitze steht der von der Versammlung der Provinzialminister und Kustoden auf sechs Jahre gewählte Ordensgeneral, dem alle Brüder absoluten Gehorsam schulden. Provinzialminister und Kustoden stehen jeweils einer Provinz oder mehreren Häusern vor, Leiter eines einzelnen Hauses ist der Guardian. Ausdrücklich gestattet ist die Abwahl unfähiger Amtsinhaber. Der einzelne Franziskaner ist nicht an ein spezielles Haus, sondern an den Orden als solchen gebunden. Über die Aufnahme in den Orden und die Aufgaben des Einzelnen entscheiden der Ordensgeneral oder die Provinzialminister. Garant für die unmittelbare Abhängigkeit vom päpstlichen Stuhl ist der Kardinalprotektor, dessen Einsetzung noch Franziskus (in Person des Kardinalbischofs von Ostia, Hugolin) erwirkt hatte. Aufgaben des Ordens waren vor allem Predigt, Abnahme der Beichte und karitative Tätigkeiten. Durch Spenden und Stiftungen sowie die Errichtung von eigenen Kirchen und Häusern verankerte sich der neue Orden architektonisch gut sichtbar im Stadtbild. Neben den Konventen standen die für

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Mönch und Mönchtum Bettelorden typischen Kirchen mit den großen Hallen für die Gläubigen und dem kleinen Dachreiter, der sie im Vergleich zu anderen Kirchen unscheinbar machen sollte. Durch Spenden etc. wurde das Armutsideal des heiligen Franziskus bald in Frage gestellt. Ob der Ordensgründer wohl die zu seinen Ehren Ende des 13. Jh.s in Assisi erbaute dreistöckige Kirche mit Cimabues und Giottos wundervollen Fresken als sein Denkmal akzeptiert hätte? Franziskus, wiewohl selbst gebildet, hatte Herzensbildung gegenüber der intellektuellen Bildung in den Vordergrund gestellt, doch gingen bereits sehr früh aus seinem Orden große Gelehrte hervor. Franziskaner wurden als Inquisitoren gegen Häretiker tätig und der Orden gewann an Macht. Die Mehrheit der Brüder machte diese Entwicklung mit, doch ein Teil fühlte sich den Idealen des Gründers weiterhin verpflichtet. Bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s schwelte der Armutsstreit, der zur Spaltung des Ordens in die Konventualen und die Spiritualen führte. Unter Papst Johannes XXII. verfielen die Spiritualen als Häretiker der Inquisition. Sie haben jenen Papst und seinen Bannfluch überlebt, den Papst Martin V. im 15. Jh. widerrufen hat. 1516 erfolgte die endgültige Trennung von Konventualen und Spiritualen, damals schon Observanten genannt. Dominikaner Den zweiten Bettelorden gründete der spanische Adelige Doménico Guzmán 1215 in Toulouse als Gemeinschaft von Predigern. Er hatte sich die Bekämpfung der Katharer zur Aufgabe gemacht, die in Südfrankreich seit Mitte des 12. Jh.s wegen ihrer Lehre und ihrem politischen Rückhalt im Adel großen Zulauf hatten. Dominikus erkannte den Zusammenhang zwischen dem prachtvollen Auftreten der offiziellen Vertreter der Kirche und dem Widerstand der Ketzergemeinden und griff das Ideal des Wanderapostolats in urkirchlicher Armut auf. Die Rechtmäßigkeit des gemeinschaftlich geführten Lebens, das im Großen und Ganzen der Augustinerregel folgte, bestätigte 1216 Papst Honorius III. Überzeugungsarbeit für die katholische Kirche sollte durch Predigt geleistet werden, woher die offizielle Bezeichnung als „Ordo fratrum Praedicatorum“ (Predigerorden) rührt. Die Ordensbrüder mussten in Grammatik, Rhetorik, Dialektik und Didaktik bestens geschult sein. Erste Ordenshäuser wurden 1217 in Mailand, Bologna, Rom und Paris eröffnet. Die hierarchische Struktur ähnelte der der Franziskaner. Mit der zunehmenden Integration in die Städte lockerte sich auch bei den Dominikanern das Armutsideal. Ein weiblicher Zweig, die Dominika-

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Musik / Musikinstrumente nerinnen, wurde erst 1259 eingerichtet und hatte gewisse Schwierigkeiten, sich gleich dem Männerorden zu verbreiten, was an dem Gedanken des Wanderapostolats gelegen habe könnte, das der typisch weiblichen Lebensweise grundsätzlich widersprach. Die Dominikanerinnen führten denn auch ein kontemplatives Leben im Kloster. Viele Mysterikerinnen entstammten diesem Orden. Der kurze Überblick über das Mönchtum mag einen kleinen Eindruck von seiner Bedeutung für die Gesellschaft vermittelt haben. Aus dem ursprünglichen Ideal der ‚Selbstheiligung‘ durch gemeinschaftliche Askese hat es sich durch eine gewandelte Interpretation des göttlichen Willens zu einem aktiv in die Gesellschaft eingreifenden Phänomen entwickelt. Je mehr Liebe zu Gott mit Nächstenliebe identifiziert wurde, desto sozialer wurde die Zielsetzung der Orden. Vor allem dem franziskanischen Mönchtum verdanken wir ein Bewusstsein dafür, dass Menschenwürde selbst dem Ärmsten zusteht, der den Erfordernissen der Leistungsgesellschaft nicht genügt.

Musik / Musikinstrumente Musik bereicherte im MA in allen Bevölkerungsschichten die Gestaltung festlicher Ereignisse, sei es nun der Chor der Mönche, der nach strengen Regeln zum Lobpreis des Herrn sang oder aber die Dorfmusikanten, die ungestört von einem strengen Reglement mit lustig improvisierten Melodien zum Tanz aufspielten. Die theoretisch betriebene Musik gehörte zu den vier mathematischnaturwissenschaftlichen Fächern der Sieben Freien Künste, deren Beherrschung die höhere Bildung des MA ausmachte. Sie war zunächst eine Domäne der Geistlichkeit, bemüht, die göttlichen Gesetze der Musik ausfindig zu machen und in die Praxis umzusetzen. In jedem Kloster wirkte ein Kantor, der für die liturgische und musikalische Gestaltung

des Gottesdienstes zuständig war und die Novizen im Chorgesang unterrichtete. Typisches Instrument für die Kirchen war schon im MA die Orgel, die um 250 v. Chr. Ktesibios aus Alexandria erfunden haben soll. Im Frankenreich begann die Tradition der Orgel und des Orgelbaus unter Karl d. Gr., dem der byzantinische Ks. 812 eine Orgel geschenkt hatte. Beim Aufbau durch byzantinische Fachleute waren fränkische Handwerker zugegen, die sich bei dieser Gelegenheit die Kunst des Orgelbaus aneigneten. Gänzlich unbefleckt von solcher Theorie waren die Dorfmusikanten, die mit verschiedenartigen Blasinstrumenten, vor allem dem beliebten Dudelsack, Fiedeln und Trommeln mittelalterlichen ‚Freestyle Pop‘ aufspielten. Die weltliche Musik gelangte seit dem 12. Jh. zu

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Musik / Musikinstrumente hoher Blüte. In Frankreich wurde die hoch entwickelte Kunst der Troubadours sowohl durch Angehörige des hohen Adels als auch durch Spielleute gepflegt und ging über nach Deutschland, wo die adeligen Minnesänger mit ihrem Liedrepertoire, das keineswegs nur Liebeslieder umfasste, durch die Lande und von Hof zu Hof zogen. An den Adelshöfen musizierten Spielleute, denn Musik wurde als wirksames Mittel zur Erhöhung des Genusses von Speis und Trank angesehen und verlieh dem geselligen Zusammensein eine besonders würdige oder heitere Note, je nach Bedarf. Neben dem Gesang kamen die verschiedensten Instrumente zum Einsatz, begonnen mit Flöten über Fiedeln, Leier, Harfe Laute bis hin zu den unterschiedlichsten Rhythmusinstrumenten. Ks., Kg.e, Fürsten und Stadtregierungen

130 hatten ihre Trompeter und Pfeifer, die ihrem Auftreten in Stadt und Land eine festliche Note verliehen. Turniere, Jahrmärkte und sonstige Festlichkeiten wären ohne Musik unvorstellbar gewesen. Und selbst die Hausmusik hielt bereits Einzug in die Häuser der vornehmeren Bürger, nicht nur mit Gesang sondern auch mit Instrumenten wie Laute, Handharfe, Clavichord, Hausorgel, Fiedel oder Flöten. In Schulen wurde das Musizieren gelehrt und gar mancher Lehrer besserte sein kärgliches Gehalt durch das Singen vor Trauerhäusern und Gräbern auf. Selbst bei der Errichtung von Gemeinde- oder Wehrbauten zogen Musikanten auf, von denen die meisten aus der Bevölkerungsschicht der Arbeiter und Taglöhner stammten. Musik gehörte allerorten zur Gestaltung des Alltagslebens.

131 Nachrichtenübermittlung In unserem Kommunikationszeitalter kann man sich kaum mehr vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten die N. im MA verbunden war. Damals schrieb man noch eifrig Briefe, deren Beförderung mit diversen Schwierigkeiten und hohen Kosten verbunden war und vor allem lange dauerte. Die römische ‚Staatspost‘ mit ihren Stationen für Übernachtung und Pferdewechsel, die sowohl Frachtgut als auch Personen beförderte und staatlichen Zwecken vorbehalten war, hatte im Westreich im 6. Jh. ihren Dienst eingestellt. Mancherorts hatten sich Reste eines Botenwesens zur N. erhalten, doch zur ‚Neugründung‘ von Organisationen zur Beförderung von Briefen, Paketen und Reisenden im großen Stil kam es erst seit dem ausgehenden MA (Post). Doch schon zuvor verschickten Päpste, Kg.e und Fürsten Briefe über tausende von Kilometern per Boten zu den jeweiligen Adressaten, wobei durchaus hohe geistliche und weltliche Würdenträger zu den Briefüberbringern gehörten, die allerdings zumeist noch mündliche Mitteilungen zu machen hatten. Die Überbringer wurden von den Empfängern feierlich aufgenommen und beschenkt, die Briefe vor einem ausgewählten Publikum verlesen und wenn nötig simultan übersetzt. Gar mancher Brief hat seinen Empfänger allerdings nie erreicht, weil die Boten beraubt wurden oder in die Hände eines Feindes ge-

Notar fallen waren. Aus diesem Grund schickte Papst Paul I. 758 eine Gesandtschaft an Kg. Pippin mit zwei Briefen los, einem an den Kg. und einem zweiten, den die Boten aushändigen sollten, falls sie von Leuten des Langobardenkönigs Desiderius gefangen genommen würden. Inhaltlich widersprachen sich die Briefe ganz grundsätzlich. Trotz all dieser Schwierigkeiten füllen die aufbewahrten mittelalterlichen Briefe und Briefregister der römischen Kurie einige Kilometer in den Aktenschränken. Abgesehen von den Großen dieser Welt, führten vor allem Kaufleute regen Schriftverkehr. Größere Handelshäuser konnten selbstverständlich eigene Boten für Eilbriefe unterhalten, doch der größte Teil der Post dürfte wohl im Rahmen des regen Warenaustausches seinen Adressaten gefunden haben. Auf diesem Wege wurde meist auch die Post von Stadtregierungen befördert. Notar N.e waren zunächst in der königlichen Kanzlei und seit dem 12. Jh. auch in Fürstenkanzleien tätig. Sie entwarfen die Texte von Urkunden und Briefen, die sie dann an die Schreiber weitergaben, wenn sie diese nicht, wie es in kleineren Kanzleien häufig vorkam, selbst schrieben. In fortschrittlichen Kanzleien registrierten sie auch die Schreiben. Seit der Karolingerzeit war mit der Anfertigung der Schriftstücke der Klerus der Hofkapelle beschäftigt – N.e waren

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Notdurft Kleriker. Die Fähigkeiten, die N.e für ihr Amt prädestinierten, erlangten sie durch die Praxis in der Kanzlei, in der sie zumeist schon als Schreiber tätig gewesen waren. Das Notariat war ein gutes Sprungbrett für eine geistliche Karriere, gar mancher Bf. oder Erzbischof kam aus der königlichen Kanzlei. Erst seit dem 14. Jh. wuchs die Zahl weltlicher N.e in der königlichen Kanzlei. In den Städten Italiens war die antike Tradition des öffentlichen Notariats nie abgebrochen, die N. e wurden von den lateranensischen Pfalzgrafen als Träger kaiserlicher Macht legitimiert und erhielten bei ihrer Bestallung eine individuell gestaltete, nicht zu verändernde Sigle, mit der sie künftig zu unterzeichnen hatten. Trotz der vielfältigen engen Beziehungen zu Italien vollzog sich die Entstehung des öffentlichen Notariats in Deutschland nur zögernd und nach neuesten Forschungen ohne direkte oder indirekte Einflüsse aus Italien. Es drang seit Mitte des 13. Jh.s von Frankreich und den west- oder südwestdeutschen Bistümern kommend ganz allmählich in den Norden und Osten Deutschlands vor und wurde zaghaft als eigenständiges, von kirchlichem Einfluss unabhängiges Rechtsinstitut anerkannt. Allerdings hat es nie die anderen siegelführenden weltlichen Beurkundungsstellen (Kanzleien von Amtsträgern) verdrängen können. Im 15. Jh. waren N.e häufig Hilfsorgane der weltlichen Gerichte.

132 Notdurft Im Hinblick auf die N. hat sich seit dem MA biologisch ganz und gar nichts verändert, wohl aber kulturell seit der Erfindung des Klopapiers und der Wiederentdeckung der den Römern bereits bekannten und selbst in öffentlichen Latrinen genutzten Wasserspülung. Das wertvolle und wohl für diese Zwecke kaum geeignete Papier durfte nicht im „Sprachhaus“ verschwendet werden. Zum Abputzen benutzte man Gras und in gehobenen Haushalten speziell angefertigte Mooszöpfe. N. war im MA nicht nur ein privates Problem der guten Verdauung, sondern vor allem in den Städten auch eines der Entsorgung, denn in einer Stadt von ca. 15.000 Einwohnern wie sie damals z. B. Braunschweig hatte, wurden alljährlich etwa 6.000 bis 7.000 Tonnen menschliche Fäkalien produziert. Im schlechtesten Fall verrichteten die Leute ihre N. unmittelbar auf der Straße und entleerten vor ihrem Haus den Inhalt ihres Nachthafens, weshalb man in Braunschweig an verschiedenen Orten der Stadt „Pisskammern“ aufstellte, damit niemand „Kirchen, Plätze, Straßen und Häuser verunreinige“. Im günstigsten Fall wanderten die Fäkalien in Latrinen, die wiederum im günstigsten Fall an einem Bach oder Fluss lagen, so dass der Kot gleich in diesen entsorgt wurde, was aber angesichts der Menge und bei langsam fließenden Gewässern zu einer beträchtlichen Minderung der

133 Wasserqualität und dementsprechenden Verboten führte. War diese Entsorgung nicht oder nicht mehr möglich, dann setzte man die „Scheißhäuser“ über tiefe (bis zu 12 m), mit Bruchsteinen aufgemauerte Schächte, so dass es Jahre dauerte bis sie gefüllt waren. Wenn die Schächte jedoch voll waren, begannen die Probleme, welche 1469 die Nürnberger Dominikaner in Eigenarbeit zu lösen versuchten, indem sie einen Ausgang der Abortgrube in die Pegnitz graben wollten. Erst als ein Bruder und ein Steinmetz durch den Gestank ums Leben gekommen waren, wandten sie sich an die Fachleute, die „Scheißhausfeger“, die das Problem durch Ausschöpfen für einen Gulden lösten, denn ihnen „schadet kain gestank“. Diese Experten nannte man auch „Heimlichkeitsfeger“, „Pappenheimer“ oder oftmals „Nachtmeister“, denn sie durften ihre Arbeit wegen des üblen Gestanks nur nachts ausüben. Weil das auch die Arbeitszeit der Diebe war, wurden sie vom Rat vereidigt. Außerdem musste ausnahmsweise für sie ein Stadttor nachts geöffnet werden, denn für ihre Ladung fand sich kein Platz innerhalb der Mauern.

Notzucht Notzucht Die N. galt als ein gegen die Ehre der Frau und ihrer Familie gerichtetes Gewaltdelikt. Geschützt war durch das Recht aber nur die unbescholtene Jungoder Ehefrau, nicht die Hure (Prostitution), wobei unter diesem Begriff im ‚Volksmund‘ nicht nur käufliche Frauen gemeint waren, sondern alle, die häufiger den Liebhaber wechselten. Zur Anerkennung eines sexuellen Übergriffs als N. gehörte, dass die Frau geschrien haben musste, andernfalls wurde freier Wille angenommen. Eine Klage war nur bei frischer Tat oder nach einem kurzen Zeitraum möglich. Die Strafen fielen von Ort zu Ort und Fall zu Fall unterschiedlich aus, vielfach wurde die Todesstrafe verhängt. So mancher Vergewaltiger zog ‚lebenslängliche Haft‘ vor, indem er sein Opfer heiratete, das wohl den Bund der Ehe mit sehr gemischten Gefühlen aus der Not des Ehrverlustes eingegangen ist. Vergewaltigung einer Ehefrau durch ihren Ehemann gab es als Tatbestand nicht, sie dürfte wohl unter die Rubrik des übermäßigen Verlangens als lässliche Sünde eingestuft worden sein (Sexualität und Moral ).

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Öffentlichkeit Öffentlichkeit In vielen Bereichen des mittelalterlichen Alltags war die Vorstellung verbreitet, dass bestimmte Dinge in aller Ö. zu geschehen hätten. Gerichtssitzungen fanden ursprünglich im Freien statt, und als man diese im späteren MA in ein Gebäude verlagert hatte, bestand das Gebot,Türen und Fenster offen zu halten. Die Strafvollstreckung fand öffentlich im Freien statt und zog zahlreiche Zuschauer an, je grausamer und spektakulärer, desto mehr. Privilegien wurden in aller Ö. verkündet. In den Städten wurden Bürgereide, neue Verordnungen usw. von der Treppe des Rathauses oder einer Kanzel herunter verkündet. Grenzbegehungen und Grenzsteinsetzungen fanden ebenso öffentlich statt wie Versöhnungen oder Friedensschlüsse. Prediger suchten die Ö. ebenso wie die Geißler. Exkommunikation und Interdikt mussten öffentlich verkündet werden. Der Einzug des Kg.s oder anderer hochgestellter Persönlichkeiten wurde vor aller Augen mit großem Prunk und ausgeklügelter Zeremonie

134 gefeiert. Es fanden zur Demonstration der königlichen Macht glanzvolle Festkrönungen vor großem Publikum statt. Seit dem Investiturstreit (11./12. Jh.) begann man politische Auseinandersetzungen in die Ö. vor allem der Städte und Fürstenhöfe hineinzutragen – die Bürger gewannen in dieser Zeit zunehmend an politischem Gewicht. Die Anhänger Heinrichs IV. beklagten sich über die päpstliche Propaganda, doch gleichzeitig kursierten Schreiben der kaiserlichen Seite im Reich, die geeignet waren, das Ansehen Papst Gregors VII. zu schädigen. ‚Propagandaschlachten‘ kennzeichneten auch die Auseinandersetzungen Ks. Friedrichs II., des „Antichristen“, und Ludwigs IV. „des Bayern, der sich Ks. nennt“ mit den Päpsten ihrer Zeit. In der Zeit des großen Schismas von 1378 bis 1417 bekämpften sich zwei bis manchmal sogar drei Päpste propagandistisch und verleumdeten ihre Gegenspieler in aller nur erdenklichen Art und Weise. Damit fügten sie dem Ansehen des Papsttums ungeheuren Schaden zu.

135 Papier P. wurde im 1. oder 2. Jh. v. Chr. in China erfunden. Es kam im 8. Jh. über die Araber, die es seit Ende des Jh.s selbst herstellen, in den Westen, konnte sich allerdings zunächst nicht gegen Pergament durchsetzen. Es ist nicht bekannt, wann erstmals in Europa P. hergestellt wurde, doch war es im 13. Jh. im arabisch beeinflussten Süditalien schon derart häufig in Gebrauch, dass Kaiser Friedrich II. 1231 die Benutzung von Papier für wichtige Dokumente verbot. In Deutschland eröffnete der in engem Wirtschaftskontakt zu Italien stehende Nürnberger Kaufmann Ulman Stromer 1390 die erste Papiermühle, die von Pächtern im Verlagssystem betrieben wurde. Es folgten weitere, so dass in Deutschland 1450 zehn und 1500 schon 60 Werke Papier produzierten. Dieses wurde aus einem wässrigen und fasrigen Lumpenbrei (Stofflumpen aus Leinen oder Wolle) hergestellt, der als dünne Schicht auf ein feines Metallsieb geschöpft wurde, damit das Wasser abtropfen und der Brei, der mit einer Presse auf das Sieb gepresst wurde, trocknen konnte. Die Presse drückte auch das Wasserzeichen auf, das in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s in Italien (vermutlich Fabriano) als Markenzeichen entwickelt worden war. Die Stofflumpen, in früheren Zeiten per Mörser zerkleinert, wurden nun mit der Kraft einer Wassermühle durch ein mechanisches Lumpenstampfwerk zermahlen. Die Papierherstellung entwi-

Pest ckelte sich dank der gestiegenen Schriftlichkeit in der Verwaltung und des Buchdrucks zu einer enormen Wachstumsbranche, denn einerseits war Papier dank der industriellen Herstellungsweise viel billiger, andererseits geeigneter für den Buchdruck. Venedig erließ 1366 ein erstes Ausfuhrverbot von Stofflumpen zugunsten der Papiermühlen von Treviso; es sollte europaweit nicht das letzte bleiben. Pest Von der Mitte des 14. bis Mitte des 15. Jh.s überrollten mehrere Pestwellen Europa und rafften etwa die Hälfte der Bevölkerung dahin. Nichts hat die Welt in so kurzer Zeit so sehr verändert. Die größte und schlimmste Pestepidemie ereignete sich von 1347–1352. Sie war aus Mittelasien nach Italien eingeschleppt worden und verbreitete sich angesichts der ‚globalisierten Wirtschaft‘ in Windeseile über ganz Europa. Gar manches Handelsschiff irrte damals mit toter Mannschaft durch die Meere. Im Jahr 1353 klang die P. in Russland allmählich ab; rund 25 Millionen Menschen, etwa ein Drittel der Bevölkerung Europas, hatte sie das Leben gekostet. Wenngleich sich während der Pestwellen des 14. bis 16. Jh.s erstmals Ärzte und Gelehrte ernsthaft um medizinische Erklärungen der Krankheit bemühten und ihre Merkmale beschrieben, stand man der Krankheit rat- und hilflos gegenüber. Den Begriff P. verwandte man

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Pest landläufig für alle epidemischen Krankheiten, die man zumeist dem Zorn Gottes über die sündige Welt zuschrieb – häufig wurde die P. deshalb in Form von Blitzen oder Pfeilen dargestellt, welche die Menschen vom Himmel herab durchbohrten. Vielerorts glaubten die Leute, Juden hätten die Brunnen vergiftet, und vertrieben und ermordeten sie deshalb grausam. Die Gelehrten machten die verseuchte Luft verantwortlich, weshalb man einerseits Vorschriften für die Beseitigung der Leichen und Tierkadaver in Massengräbern erließ, andererseits die Häuser mit Wacholderzweigen ausräucherte. Ärzte und Bader versuchten durch Ableiten des Inhalts der Pestbeulen der Krankheit Herr zu werden. Dazu setzten sie heiße Schröpfköpfe, die wie kleine Glocken aussahen, auf die Beule, wodurch sich diese öffnete und die Flüssigkeit austreten ließ oder sie schnitten sie einfach auf. Angesichts solcher Behandlungsmethoden nahm der Großteil der Bevölkerung zur eigenen Rettung lieber Zuflucht zum Gebet und versuchte durch Votivbilder, Prozessionen, Stiftungen, Kapellenbau etc. für sich und die Seinen den Schutz der Mutter Gottes und spezieller Pestheiliger wie Sebastian oder Rochus zu gewinnen. Eine extreme Form der Buße, nämlich das Geißeln mit biegsamen Schlaginstrumenten, in die häufig Spitzen eingesetzt waren, war an der Tagesordnung. Vielköpfige Geißler-

136 züge durchzogen ganz Europa, riefen zur Abkehr vom sündigen Leben auf und geißelten sich an öffentlichen Plätzen für die eigenen und fremde Sünden bis aufs Blut, oft umringt von großen Zuschauermengen. Andere genossen unter Einsatz ihrer gesamten Habe ihr bedrohtes Leben ausschweifend. Wie man sich die Zeit trotz P. recht angenehm vertreiben konnte, schilderte 1348 Giovanni Boccaccio in seinem berühmten, auch heute noch viel gelesenem „Decamerone“. Aus Angst vor Ansteckung zerbrachen familiäre Bindungen, Sterbende wurden allein gelassen. Das rief wiederum Bruderschaften auf den Plan, die sich die Pflege der Kranken zur Aufgabe machten. Dabei nahmen sie das große Ansteckungsrisiko um ihres Seelenheils willen in Kauf. Erst 1894 hat die moderne Medizin eine Bakterie als Auslöser der Krankheit ausgemacht, der man den Namen „Yersinia pestis“ gegeben hat. Sie kommt im Magen des Flohs Xenopsilla vor, eines weniger als ein Millimeter großen Lebewesens, das sich im Fell der Ratten einnistet. Der Floh lebt vom Blut der Ratte und sucht sich nach deren Tod einen neuen Wirt, mit Vorliebe ein anderes Nagetier, aber auch Menschen, die er mit seinem Stich ansteckt. Anfangssymptome sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Gliederschmerzen und allgemeines Unwohlsein. In der zweiten Phase geht alles ganz schnell: Bei der häufigsten Art, der Beulenpest, schwellen in der

137 Leistenbeuge oder in den Achselhöhlen und am Hals die Lymphknoten bis zur Größe eines Hühnereies an und schmerzen, Schüttelfrost und Fieber über 40 °C. erfassen den Kranken, Atmung und Puls werden schneller, Erschöpfung und Teilnahmslosigkeit treten ein. Nach vier Tagen stirbt der Erkrankte, wenn er nicht Antibiotika erhält. Aufgrund von Atemnot nehmen die Erkrankten angesichts des Todes eine dunkelrote, fast schwarze Farbe an, weshalb man seit 1347 vom Schwarzen Tod spricht. Hinsichtlich der Zahl der Opfer gab es große regionale Unterschiede. Mancherorts starben nur wenige, andernorts wurden ganze Landstriche entvölkert. Die P. traf alle Bevölkerungsschichten, am meisten aber die Armen, die unter unvorstellbaren hygienischen Verhältnissen auf engstem Raum zusammenlebten. Auf diese Pandemie folgten in kurzen Abständen weitere, so dass Mitte des 15. Jahrhunderts im Vergleich zu 1347 in Europa nurmehr etwa die Hälfte der Menschen lebte. Der enorme Bevölkerungsverlust führte zu großem Mangel an Arbeitskräften, die Löhne stiegen, Handwerker, Tagelöhner und Bettler fanden endlich gut bezahlte Arbeit. Die höheren Löhne trieben die Preise in die Höhe. In ganz Europa hatte das erstmals eine Arbeitsgesetzgebung zur Folge. Sie wandte sich gegen jedwede Vergeudung von Arbeitskraft und versuchte, Preise und Löhne wieder auf den Stand aus der Zeit

Post vor der P. zu bringen. Viele Landbewohner wurden von den Verdienstmöglichkeiten in den Städten angelockt und verließen ihre Felder. Ganze Landstriche wurden wieder Wildnis und blieben es bis weit in die NZ hinein. Post Die gut funktionierende römische Staatspost mit ihren Poststationen zum Ausruhen, Übernachten oder Pferdewechsel war im Westreich durch die Wirren der Völkerwanderung in Verfall geraten. Briefübermittlung erfolgte seitdem durch Boten (Gesandte, Nachrichtenübermittlung), die teils eigens zur Beförderung eines einzigen oder mehrerer Briefe reisten oder Briefe und Päckchen im Rahmen einer Handelsreise mitnahmen. Solchen Kaufmannszügen mögen sich bisweilen Reisende angeschlossen haben, um sicher ihr Ziel zu erreichen. Kg.e und Fürsten unterhielten spätestens seit dem 15. Jh. Botenketten zur schnellen Nachrichtenübermittlung. Pferde und gegebenenfalls auch die Boten wurden alle 20 bis 40 km an eigens zu diesem Zweck eingerichteten Stationen gewechselt, wodurch sich die Laufzeit von Sendungen auf etwa ein Drittel der Zeit verringerte. Ein einzelner Bote schaffte normalerweise 30 bis 50 km, bei Eilbriefen sogar bis zu 70 km pro Tag, die Botenketten legten 130 bis 150 km zurück, in ganz besonderen Fällen sogar bis zu 300 km. Die Botenkette, welche Ks. Maxi-

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Prostitution milian I. durch Janetto de Taxis, dessen Familie seit 1474 im päpstlichen Botendienst erfahren war, errichten ließ, um seine nördlichen Besitzungen mit der 1489/90 übernommenen Grafschaft Tirol zu verbinden, diente ursprünglich allein staatlichen Zwecken. Die erste Botenkette zwischen Innsbruck und Mechelen (1490) ließ er angesichts der Ausweitung der habsburgischen Einfluss- und Machtsphäre zunächst um die Strecken nach Mailand und zum spanischen und französischen Königshof, etwas später noch nach Rom und Neapel erweitern. Die Taxis ihrerseits weiteten sie zunächst durch die Beförderung privater Sendungen aus, seit 1515 auch durch die Vermietung von Pferden für Reisende. Damit schuf sich die Familie ein zweites wirtschaftliches ‚Standbein‘ und gründete die Vorläuferorganisation der deutschen P. 1596/97 wurde die P. zu einem der Familie verliehenen Regal. Prostitution Als Hure oder Dirne („meretrix“) galt nach dem „Codex iuris civilis“ die Frau, die ihren Körper gegen Bezahlung zur sexuellen Betätigung feilbot, sei es innerhalb oder außerhalb eines Bordells. Im täglichen Gebrauch wurden die Begriffe aber ebenso auf weibliche Spielleute und Frauen mit häufig wechselnden Liebhabern angewandt. Ihre gesellschaftliche Rolle wurde in Theorie und Praxis höchst ambivalent gesehen. Der Kirchenvater Augustinus († 430) er-

138 kannte in ihnen ein Bollwerk gegen die verwirrende Kraft der Fleischeslust und Thomas von Aquin († 1274) verteidigte ihre Existenz als das notwendige kleinere Übel gegenüber der sexuellen Belästigung ehrbarer Mädchen und Frauen durch ,geile‘ Männer. Andere Theologen hingegen plädierten für eine Abschaffung der P. Kirchliche Angebote zur Resozialisierung, z. B. die Erlaubnis ehrbare Männer zu heiraten oder dem Orden der Magdalenerinnen beizutreten, scheiterten, weil die Frauen ihren Beruf und die damit verbundenen Freiheiten offensichtlich mehr schätzten als ein konventionelles Leben oder gar eines im Konvent, auch wenn ihr Leben am Rande der Gesellschaft seine Schattenseiten hatte. Erst seit dem 13. Jh. sind sesshafte Huren belegt. Im 14. und 15. Jh. richteten die Obrigkeiten in allen großen und vielen kleineren Städten Bordelle ein, die nach den Frauenhausordnungen der Oberhoheit des Rates und/oder des Landesherrn unterstanden und von einer Frauenwirtin oder einem Frauenwirt verwaltet wurden. Gedacht waren die Frauenhäuser für Junggesellen; Ehemännern, Juden und Klerikern war der Besuch strengstens untersagt. Die Frauen arbeiteten für Kost und Logie, Kleidung, Lohn und genossen Arbeitsschutz bei Menstruation, Schwangerschaft und Krankheit. Nicht nur der Besuch der Messe war ihnen erlaubt, sie nahmen auch am gesellschaftlichen Leben teil, bereicherten durch ihre Anwesenheit

139 jegliche Art von Festen, selbst Hochzeiten, tanzten zum Vergnügen des Rates und angesehener auswärtiger Gäste. Neben den städtischen ‚Bedürfnisanstalten‘ florierte die P. weiterhin im privaten, weniger reglementierten Bereich, so dass auch die Ehemänner zu ihrem ,Freizeitvergnügen‘ kamen, denen es nicht gelang die Verbote des öffentlichen Hauses zu umgehen. Trotz ihres Wirkens als Ventil für die männliche Wollust in den Städten, blieb Dirnen das Bürgerrecht verwehrt und sie durften sich keinen Geliebten oder Ehemann frei wählen. Vergewaltigung, Ausbeutung und Körperverletzung durch Kunden, Frauenhändler, Zuhälter und Frauenwirte wurden rechtlich kaum verfolgt. In diversen Rechtstexten wurde sogar festgestellt, Dirnen könnten gar nicht vergewaltigt werden, weil sie doch durch ihre Berufswahl allen Männern ihr Einverständnis zum Geschlechtsverkehr gegeben hätten. Kleiderordnungen bestimmten, dass Huren Bänder, Schuhe und Schleier in den Schandfarben rot, gelb und grün tragen mussten, damit sie sofort als solche zu erkennen waren, was für den Alltag u. a. deshalb wichtig war, weil sie gleich Aussätzigen keine zum

Prostitution Verkauf stehenden Lebensmittel berühren durften. Medizinern und Naturwissenschaftlern haben die Prostituierten ein Rätsel aufgegeben: Warum wurden sie vergleichsweise selten schwanger, obwohl sie permanent Geschlechtsverkehr hatten? Man war um Erklärungen nicht verlegen: Der allzu häufige Geschlechtsverkehr, so meinten die einen, verschlösse die Gebärmutter, die anderen vermuteten, dass zu viel männlicher Same die Gebärmutter derart glitschig mache, dass diese nichts festhalten könne. Auf die Idee, dass sie ihre Kunden oral, anal oder manuell befriedigt haben könnten, kamen die Wissenschaftler nicht, denn das wäre ja eine Sünde wider die Natur gewesen (Sexualität und Moral ). Und immerhin standen den Frauen ja auch Tampone und Pessare zur Verfügung. Oder lag es vielleicht daran, dass viele Prostituierte wegen wiederholter Geschlechtskrankheiten unfruchtbar geworden waren, wie die Medizin des 20. Jh.s entdeckt hat? Längst bevor Christoph Kolumbus und seine Mannschaft (1493) die Syphilis nach Europa einschleppten, hatte sich der schon im AT erwähnte Tripper breit gemacht.

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Randgruppen Randgruppen Der Forschungsbegriff R. umfasst jene Personenkreise, die eingeschränkt oder vollständig als recht- und/oder ehrlos galten und deshalb verachtet am Rande der Gesellschaft lebten. Sie hatten kein Wahlrecht, keinen Zugang zu Gilden und Zünften, kein Recht der freien Partnerwahl und keinen freien Zutritt zu Trinkstuben. Zu ihnen gehörten: Soziale Unterschichten wie Bettler, Tage-

löhner, Kriminelle; Aussätzige, Geisteskranke, Behinderte, Homosexuelle; Juden und Ketzer; Berufsgruppen, wie Huren, Henker, Scheißhausfeger, Bader und viele mehr; Fahrendes Volk wie Spielleute oder reisende Heilkünstler. Einige der genannten R. unterlagen der Kennzeichnungspflicht. So mussten beispielsweise Juden ihren Judenhut und Huren (Prostitution) Schandfarben tragen.

Recht und Rechtspflege Das mittelalterliche Deutschland war kein Staatswesen im modernen Sinne mit einer Zentralgewalt und staatlichem Gewaltmonopol. Gesetzgebung und Rechtsprechung orientierten sich an einem im Bewusstsein verankerten, mündlich tradierten Recht, nicht an Edikten, wie sie die römischen Ks. erlassen und zur Verwendung niedergeschrieben hatten. Allein die Kirche bewahrte mit dem kanonischen Recht die hochentwickelte römische Rechtstradition, von der die Wiederbelebung der Rechtswissenschaft ausging, die auch das weltliche, das römische Recht umfasste, das erstmals Ks. Justinian (482–565) im „Corpus iuris civilis“ hatte zusammenfassen lassen. Der rechtliche Rahmen mittelalterlichen Lebens Prägend und bezeichnend für das mittelalterliche Rechtsverständnis war die Vorstellung vom Recht als einer vorgegebenen Ordnung, das für den Einzelfall von rechtskundigen Männern gefunden und gewiesen werden musste. Diese Haltung machte Recht in vieler Hinsicht situationsbedingt wandelbar. Eine entsprechende Anpassungen an neue Verhältnisse wurden in den Quellen häufig als „Rechtsbesserung“ im Sinne einer verbesserten Rechtsweisung bezeichnet. Diese ergingen häufig in Form von Urteilen über hypothetische Rechtsfälle, die dann auf eine grenzenlose Anzahl ähnlich gelagerter realer Fälle Anwendung finden konnten. Schon den frühmittelalterlichen Stammesrechten lag die Idee des Weistums (im ursprünglichen Wortsinn als gewiesenes Recht) zugrunde und die Herrscher bedien-

Recht und Rechtspflege ten sich dieser Form der Rechtsfindung zur Fixierung grundsätzlicher Fragen der Reichsverfassung. Man hat in der Forschung die mittelalterliche Verfassung und Gesetzgebung mit gutem Recht als eine Summe von Rechtsweisungen angesehen. Die gemäß germanischer Rechtskultur mündlich tradierten Rechtsgewohnheiten wurden während des MA in verschiedener Weise niedergeschrieben und den sich verändernden Gegebenheiten angepasst, allerdings vergleichsweise unsystematisch, wie ein Streifzug durch die mittelalterlichen deutschen Rechtsquellen verdeutlicht. Rechtssammlungen Beginnen wir mit den germanischen Stammesrechten, den „Leges barbarorum“, die zwischen dem 5. und 9. Jh. abgesehen von einzelnen volkssprachlich bezeichneten Tatbeständen in lateinischer Sprache aufgezeichnet worden waren. Der Umstand, dass diese Stammesrechte in Latein überliefert sind, muss zunächst verwundern, denn welcher Germane konnte schon Latein? Des Rätsels Lösung ist, dass diejenigen Stämme, welche die Römer zum Grenzschutz in den Randgebieten des Imperiums als Konföderaten angesiedelt hatten, mit der römischen Gesetzgebung als Organisationsinstrument vertraut geworden waren, wenngleich sie weiterhin nach ihrem eigenen Recht gelebt hatten. Als sie nun darangingen, innerhalb des Imperiums ihre Reiche zu gründen, ahmten sie das römische Staats- und Rechtswesen nach und die jeweiligen Kg.e ließen als ‚Gesetzgeber‘ die Rechtstraditionen ihres Stammes schriftlich fixieren – als erster (459–461) der Westgotenkönig Theoderich II. (453–466) für das Tolosanische Reich. Benutzt wurden ihre Gesetzbücher für die Rechtsprechung nicht. Aussagekräftig sind sie jedoch allemal für Wertevorstellungen und Rechtsbewusstsein: Was lernen wir z. B. daraus, dass in der „Lex Salica“, dem fränkischen Stammesrecht, der Diebstahl eines Falken mit einem wesentlich höheren Bußgeld bestraft wurde als die Tötung eines Unfreien? Ist es nicht ein Zeugnis für die tiefe Verwurzelung der Vorstellung, jedermann solle nach den Rechtstraditionen seines Stammes leben, wenn Ks. Karl d. Gr. die Stammesrechte der Sachsen, Thüringer und Friesen zu einem Zeitpunkt niederschreiben ließ, zu dem er deren Gebiete längst dem Frankenreich einverleibt hatte? Inhaltlich zielte die Rechtsprechung (oft genug vergeblich) darauf ab, die Fehde durch ein System materieller Sühneleistungen zu ersetzen. In Streitfällen kam es zu Ausgleichsverhandlungen zwischen verfeindeten Gruppen oder Familien bei denen man sich erfahrener Streitschlichter, z. B. Rechen-

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Recht und Rechtspflege bürgen („rachineburgii“) bediente, welche die Buße berechneten, die dann in Jagdtieren, Vieh oder Land abgeglichen wurde. Um die Rechtmäßigkeit von Ansprüchen oder Klagen zu beweisen; suchte man nicht nach rationalen Gründen, nach Fakten oder Indizien, nein, Basis für ein Urteil war bis ins 12. Jh. der Reinigungseid, durch welchen sich der Beklagte durch Schwur vom Klagevorwurf reinigte. Unterstützt wurde er dabei von den Eidhelfern, deren Zahl und ‚gesellschaftliche Qualität‘ je nach Stand variierte. Diese bestätigten, dass der Beklagte aufgrund seiner Persönlichkeit gar nicht als Täter in Frage komme – polizeiliche Nachforschungen waren unbekannt. An Sicherheit gewann das Verfahren allein durch die sakrale Bedeutung des Eides schon in heidnischer Zeit. Meineid wurde üblicherweise mit Abhacken der Schwurhand bestraft. Dem Missbrauch durch ‚Hartgesottene‘ war Tür und Tor geöffnet, so dass im Laufe der Strafrechtsentwicklung und vor allem seit dem Aufkommen der Landfrieden im ausgehenden 11. Jh. als regionalen Rechtsordnungen der Reinigungseid nach und nach durch den Zeugeneid ersetzt wurde, durch welchen Sachkundige die Wahrheit von Tatsachen unter Eid bezeugten. Wenngleich geschriebene Gesetze noch keinen Einfluss auf das alltägliche Rechtsleben gehabt hatten, erließen Karl d. Gr. und seine Nachfolger gemäß römischer Kaisertradition auf Hoftagen im Beisein und mit Zustimmung geistlicher und weltlicher Großer Anordnungen gesetzgeberischer, administrativer und sogar religiöser Art, die Kapitularien, die darauf abzielten, im Reich eine christliche Lebensordnung zu verwirklichen. Kirche und Reichsoberhaupt arbeiteten derart symbiotisch zusammen, dass der Kg. in kirchliche Belange eingriff und Geistliche größten Einfluss auf Gesetzgebung und Politik der Herrscher nahmen, sich deren Autorität bedienten, um ihre Ziele durchzusetzen. Der Klerus am Königshof, die so genannte Hofkapelle, wurde mehr und mehr zentrales Verwaltungsorgan der Königsherrschaft. Diese geistlich-weltliche Symbiose ist dem modernen Menschen kaum mehr vermittelbar, doch Karl d. Gr. und seine Nachfolger waren noch durchdrungen von dem Gedanken einer göttlichen Weltordnung, zu deren Durchsetzung Gott sie höchstpersönlich ausgewählt hatte, daher „von Gottes Gnaden Kg. (bzw. Ks.)“. In der Zeit des Niedergangs des Karolingerhauses (Mitte 9. Jh.) riss die Kapitulariengesetzgebung ab, Rechtsaufzeichnungen beschränkten sich zumindest im ostfränkisch-deutschen Reich zunächst auf wenige Herrscherurkunden. Im 11. Jh. begann geschriebenes Recht an Bedeutung zu ge-

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Recht und Rechtspflege winnen, allerdings nicht in Form eines vom Kg. gesetzten Rechts: Es entstanden die ersten Dienst- bzw. Hofrechte, in denen Grundherren Rechte und Pflichten ihrer Hörigen festlegten. Im 12. Jh. setzen die Stadtrechtsverleihungen ein, durch welche die Bürger immer mehr Freiheiten gegenüber ihren Stadtherrn gewannen, bis sie schließlich je nach Stadt zu verschiedenen Zeitpunkten die Selbstverwaltung erhielten und sich das Recht, nach welchem sie lebten, selbst setzten. Ersatz für ein staatliches Gewaltmonopol, das geeignet gewesen wäre, Recht und Frieden durchzusetzen, wurden die seit dem 12. Jh. beschworenen Friedenseinungen (Gottesfrieden und Landfrieden), die das Fehderecht zeitlich begrenzten und durch strenge Strafbestimmungen für diverse Delikte (Fehde) überhaupt unnötig machen sollten. Die vom Ks. veranlassten Reichsfrieden orientierten sich dabei bisweilen am römischen Recht, hatten die Form von Gesetzen und zeugen von einem neuen Selbstverständnis des Ks.s als Gesetzgeber in römischrechtlicher Tradition. Die Landfrieden wurden von sämtlichen Teilnehmern beschworen, die mit Zwangsmitteln gemeinsam den Frieden sicherten. Im 13. Jh. beginnt die Zeit der Rechtsspiegel mit dem Sachsenspiegel des Eike von Repgow (1220–1230) und dem als Schwabenspiegel bekannten Kaiserrecht (ca. 1270). Rechtsspiegel waren keine Gesetzbücher, sondern private Aufzeichnungen des bestehenden, mündlich tradierten Rechts, normative Geltung erwuchs ihnen erst, als sie im Rahmen von Prozessen durch studierte Juristen Verwendung fanden. Aus dem Spätmittelalter sind uns eine Fülle von Weistümern erhalten, die sich in erster Linie auf die wechselweise wirkenden Rechte und Pflichten der Herrschaft und Genossenschaft bezogen und nur für einen abgegrenzten Bezirk Gültigkeit hatten. Der Vorgang der Rechtsweisung wurde vorwiegend von der Herrschaft in Auftrag gegeben, während die Weisung selbst durch rechtskundige Männer aus der Gerichtsgemeinde und damit dem Kreis der Bauern erfolgte. Gerichtsbarkeit Schon durch Tacitus erfahren wir über Frühformen der öffentlichen Streitbeilegung bei den Germanen in der Stammesversammlung. In frühfränkischer Zeit hat man sich um die Beilegung von Feindlichkeiten und die Festsetzung von Bußen auf Thingversammlungen bemüht, da diese als Opferversammlungen unter göttlichem Friedensschutz standen und ein Zusammentreffen verfeindeter Gruppen ermöglichte, ohne dass gleich Mord und

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Recht und Rechtspflege Totschlag zu befürchten waren. Die im germanischen Recht ursprünglich angestrebte Eigenentscheidung der Parteien im Rechtsstreit wurde im Laufe des Frühmittelalters nach römischem Vorbild durch eine vom Richter gebotene Drittentscheidung, den Spruch der Urteiler, abgelöst. Charakteristisch für das deutsch-rechtliche Gericht war eine bereits in den Ursprüngen angelegte Funktionsteilung: Vorsitz, Prozessleitung und Urteilsverkündung standen dem Richter zu, während das Urteil bei der Gerichtsgemeinde bzw. ihren Repräsentanten, den Urteilern, lag. Das Gericht fand öffentlich statt, von Professionalisierung und Bürokratisierung konnte ebenso keine Rede sein, wie von einer Verfestigung von Rollen innerhalb des urteilenden Gremiums. Die Parteien gehörten zu den Dinggenossen und nahmen mit ihren Eidhelfern an der Urteilsfindung teil. Dem Thing (Ding) standen keinerlei Zwangsmittel gegen den Missetäter zu Gebote, der Einfluss beschränkte sich auf den Versuch, die streitenden Parteien zu versöhnen, an der Wiedergutmachung mitzuwirken und die Aussöhnung öffentlich zu verkünden (Wehrgeld). Die Entwicklung von einer derartigen Sühnevermittlung hin zu einer Sühne erzwingenden, institutionalisierten Gerichtsbarkeit geht Hand in Hand mit der ‚staatlichen‘ Entwicklung. Karl d. Gr. hat zum Schutz der ärmeren Freien die Pflicht am Thing teilzunehmen auf drei Termine pro Jahr beschränkt und das Amt der Schöffen eingeführt, um zu erreichen, dass trotz dieser Beschränkung stets genügend Rechtskundige bei den Gerichtssitzungen anwesend waren. Die Königsboten wählten für jedes Grafengericht sieben oder zwölf Männer aus dem Kreis der Angeseheneren, die einen Amtseid leisten mussten und im Grafengericht das Urteil zu finden hatten. Die Institution der Schöffen ist zunächst über den fränkischen und sächsischen Bereich kaum hinausgedrungen, erlebte aber im hohen und späten MA neue Blüte und Verbreitung. Die Neuorganisation war eine Folge des Bestrebens, die Rechtsprechung der königliche Autorität zu unterwerfen, auch wenn der Kg. und seine Repräsentanten, die Gf.en oder Königsboten, keine Befugnis zur Mitentscheidung des Rechtsstreits hatten, sondern auf Vorsitz, Verfahrensleitung und Handhabung der Zwangsgewalt beschränkt waren. Die Urteilsfindung blieb den Schöffen vorbehalten. Dennoch entwickelte sich gar manches Königsgericht der Karolingerzeit gegen einen ‚Staatsfeind‘ zu einem regelrechten Schauprozess, in welchem Macht und Milde des Herrschers inszeniert wurden. In mehreren Fällen wurde über Aufständische das Todesurteil verhängt, das die jeweiligen Kg.e

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Recht und Rechtspflege zwar als rechtmäßig anerkannten, aber aus königlicher Milde in Klosterhaft bzw. Blendung umwandelten. Auf Karl d. G. geht die Trennung von Hoher und Niederer Gerichtsbarkeit sowie die Einteilung des Reiches in Gerichtssprengel zurück, die das gesamte Gerichtswesen überschaubarer und effektiver machen sollte. Alle Angehörigen des Reiches sollten sich durch einen Eid der kgl. Jurisdiktion unterstellen und Richter künftig kraft Delegation die kgl. Gerichtsbarkeit mit Gebot und Gerichtszwang ausüben. Dieses zentralistische, an die Verhältnisse im römischen Kaiserreich erinnernde Modell einer das gesamte Reich erfassenden Gerichtsbarkeit wurde allenfalls in Ansätzen verwirklicht, denn es widersetzten sich geistliche und weltliche Immunitätsherren, die den königlichen Amtsträgern ihre Grenzen aufzeigten. Zwar blieb nach dem Niedergang der Karolinger im ostfränkisch-deutschen Reich der Kg. oberster Gerichtsherr, der seine Gerichtsgewalt großzügig an seine Vasallen weiterverlieh, doch bewahrte der mitregierende Adel als Inhaber eigenständiger Gerichtsbarkeit große Unabhängigkeit vom königlichen Gebot. Die Ottonen verzichteten im 10. Jh. auf Schauprozesse nach Art der Karolinger und befehdeten ihre Widersacher, die sich ihrerseits zur Friedensvermittlung an Vertraute des Kg.s wandten. Diesem unterwarfen sie sich nach einer Einigung zwar fußfällig und leisteten dadurch Genugtuung, aber zum Ausgleich erhielten sie Verzeihung und wurden zumeist wieder in ihre alten Rechte eingesetzt. Diese Veränderung war bedingt durch ein gewandeltes Selbstverständnis von Herrscher und Hochadel, denn aus dessen Reihen war Heinrich I., der erste ottonische Kg., durch Wahl gleichsam zum Ersten unter Gleichgestellten („princeps inter pares“) erhoben worden – Disziplinierung durch Blendung oder Klosterhaft wäre nicht akzeptiert worden. Die salischen Kg.e haben allerdings im 11./12. Jh. wieder versucht, in neuer Weise das Instrument des Königsgerichts in Auseinandersetzungen mit dem Adel zu ihren Gunsten zu nutzen, stießen dabei aber ebenso wie später die Staufer auf massiven Widerstand des Adels. Bis ins 12. Jh. blieb höchst umstritten, ob es Adeligen überhaupt zuzumuten sei, sich vor dem Königsgericht zu verantworten. Fast alle Betroffenen nahmen lieber eine Verurteilung wegen Nichterscheinens in Kauf, als sich der aus ihrer Sicht entehrenden Prozedur der Gerichtsverhandlung zu unterwerfen. Die von der königlichen Autorität abhängige gräfliche Gerichtsbarkeit erfasste nur einen Teil der Bevölkerung des hohen und späten MA. Unter der

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Recht und Rechtspflege Ebene des Königsgerichts beschleunigte sich die Zersplitterungstendenz, die das deutsche Königtum im Gegensatz zum französischen oder englischen selbst in Perioden hoher Machtentfaltung nicht mehr umkehren konnte. Neben den unabhängigen geistlichen Gerichten etablierte sich die Gerichtsbarkeit der adligen Grundherren über alle zu den Haus- und Hofverbänden gehörigen Leute, die dem Hofrecht ihres Herrn unterworfen waren. Sie richteten nicht nur über Streitigkeiten ihrer Hörigen untereinander, sondern auch über Straftaten ihrer Grundholden. Vielfach hatten sie gleichzeitig den Gerichtsbann über ganze Dörfer, wobei besonders im Südwesten Deutschlands das Dorfgericht genossenschaftlich abgehalten wurde. Für zahlreiche große Besitzkomplexe hatten Kg.e kirchlichen und adligen Grundherren die Immunität gegenüber der gräflichen Gerichtsbarkeit gewährt. Solche Immunitäten bildeten eine wichtige Grundlage für die allmähliche Entwicklung der Territorien, die erst im Spätmittelalter zu einem gewissen Abschluss kam. Lehensstreitigkeiten kamen vor ein eigenes Lehensgericht und in den Städten hielt sich neben der städtischen Gerichtsbarkeit oft noch die der geistlichen, bisweilen auch weltlichen Immunitäten, dazu noch geburts- und berufsständische Sondergerichte mit teilweise sich überschneidenden Kompetenzen. Grundsätzlich konnte die unterlegene Partei „Urteilsschelte“ vorbringen, indem sie dem Gericht vorwarf, Rechtsbeugung vorgenommen zu haben. Aus der Möglichkeit, bei einem Gericht höheren Ansehens eine Urteilskorrektur zu erwirken, entwickelte sich im Spätmittelalter das Verfahren der Appellation. Ein Versuch Ks. Friedrichs II., diesen ‚Gerichtswirrwarr‘ zu beseitigen, indem er nach dem Muster seines sizilianischen Erbreiches die kaiserliche Gerichtshoheit durch Einrichtung eines Reichshofgerichts zur Geltung bringen wollte, scheiterte. Erst den Territorialherren gelang allmählich eine Vereinheitlichung, da sie im Rahmen des langdauernden Territorialisierungsprozesses mehr und mehr Gerichtsrechte an sich zogen. Die Schuldfrage Die Klärung der Schuldfrage stand bis ins 12. Jh. in sehr engem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Stand der streitenden Parteien, wenn ein Täter nicht auf frischer Tat ertappt worden war. Man brachte nämlich dem Reinigungseid und den Eidhelfern größtes Vertrauen entgegen bis im 12. Jh. der Missbrauch derart evident und eklatant wurde, dass die Zulassung zum Reinigungseid stark eingeschränkt wurde. Probates Mittel, die Schuldfrage

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Recht und Rechtspflege zu lösen, war bis ins 13. Jh. das Gottesurteil in Form des Zweikampfes oder auch der Feuerprobe, bei der Beschuldigte barfuß über glühende Kohlen oder glühendes Eisen gehen mussten. Prominenteste Siegerin dieser Prozedur war die hl. Kunigunde, deren Ehemann, Ks. Heinrich II. († 1024) sie über glühende Pflugscharen laufen ließ, um ihre Jungfräulichkeit und damit gleichzeitig die eheliche Treue auf die Probe zu stellen. Ebenso durchdacht war die Urteilsprobe für Hexen: Der Scharfrichter brachte die verdächtige Person zur Fluss- oder Seemitte und warf sie nackt und gefesselt ins Wasser. Ging die Beschuldigte unter, war sie unschuldig, schwamm sie jedoch „wie eine Gans“, war ihr Pakt mit dem Teufel offensichtlich, denn man glaubte, dass Wasser seit der Taufe Jesu im Jordan Sünder abstoße. Durch das segensreiche Vorbild der kirchlichen Rechtspflege und den von Papst Innozenz III. Ende des 12. Jh.s geschaffenen Inquisitionsprozess, bei dem nach Beweisen für Taten gesucht wurde und den Beschuldigten Verteidigungsmöglichkeiten offen blieben, wurden die Gerichtsverhandlungen immer mehr rationalisiert und professionalisiert. Es sollte allerdings noch bis in die NZ dauern, bis in Deutschland Prozesse grundsätzlich Sache ausgebildeter und examinierter Juristen wurden. Da nach dem Verfahrensrecht Verurteilung nur bei vollem Beweis, also nach Geständnis oder wenigstens zwei übereinstimmenden Zeugenaussagen möglich war, griff man auf die im römischen Recht verankerte Folter zurück, um Schwerstverdächtigen bei Kapitalverbrechen wie Aufruhr, Verrat oder Ketzerei ein Geständnis zu entlocken. Drakonische Strafen Im 12. Jh. wurde der im Frühmittelalter stets angestrebte Vergleich durch Geldzahlungen allmählich durch Blutstrafen abgelöst, die mit drakonischer Härte ausgesprochen und vollstreckt wurden. Bereits aus karolingischer Zeit sind Strafen wie Blendung (= gewalttätige Herbeiführung einer Erblindung), abgerissene Augenlider, abgeschnittene Nasen, Kastration, abgehackte Hände und Füße, Vierteilen, Rädern und vieles mehr bekannt. Diese brutalen Strafen wurden in aller Öffentlichkeit vor einer johlenden Menge vollstreckt, für die das eine höchst willkommene Abwechslung im sonst so langweiligen Alltag war (Grausamkeit).

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Regal Regal R.ien sind vielfältige Reichsrechte, die besondere Abgaben einbrachten und dem Kg. als Reichsoberhaupt zustanden. Die Kg.e haben diese Rechte im Laufe der Jh.e zwar weiterverliehen, doch änderte das nichts an ihrer Rechtsstellung. Zu den R.ien gehörten insbesondere die weltlichen Herrschaftsrechte der Kirchen, Gerichtsrechte, Münzregal, Marktregal, Straßen- und Flussregal, Geleitregal, aber auch kleinere, wirtschaftlich aber nicht unbedeutende Rechte wie Bierregal, Forst- und Jagdregal oder das Recht zum Abbau von Erzen. Reisekönigtum Die fränkischen und später die deutschen Kg.e übten ihre Herrschaft im Umherreisen aus, wobei sie sich vornehmlich in Königspfalzen, Klöstern, Reichs- und Bischofsstädten einquartierten und verköstigen ließen. Dass Deutschland im MA im Gegensatz zu England oder Frankreich keine Hauptstadt hatte, hängt in erster Linie mit der Herrschaftsstruktur des Reiches zusammen, welche die Präsenz des Kg.s in den verschiedenen Regionen für die Anerkennung der Herrschaft notwendig machte. So machten sich die fränkischen und Deutschland beherrschenden römischen Kg.e nach ihrer Thronerhebung auf den Königsumritt durch ihr Reich, um sich von den Großen und dem gesamten Volk huldigen zu lassen. Vor allem die

148 nördlichen Gebiete haben sie seit dem 12. Jh. kaum noch aufgesucht, weshalb diese als königsfern in einer eher lockeren Bindung zu Reich und Kg. standen. Reisen Unpünktlichkeit der Bahn und lange Wartezeiten wegen verpasster Anschlüsse, verstopfte Autobahnen, Unbequemlichkeiten aller Art verleiden manchem heutzutage die Reiselust. Im MA gab es solche Probleme nicht, man ging zu Fuß wenn man kein Reit- oder Zugtier mit Wagen hatte, brauchte sich nicht über unerwartet auftauchende Schlaglöcher zu ärgern, denn Wege und Straßen waren nicht einmal gepflastert wie seinerzeit die Hauptverkehrsstraßen im antiken Römischen Reich. Im frühen MA führte der Weg oder Pfad durch dichte, unendliche Wälder, in denen Bären, Wölfe und andere Raubtiere beständig auf der Jagd nach Fressbarem waren. Im späteren MA, als die Holzbestände schon knapp zu werden drohten, hatte sich die Situation zwar bedeutend verbessert, doch lauerten hier und dort Räuber, und die Kartografie lieferte noch auf lange Zeit keine reisetaugliche Land- und Straßenkarten. Man musste sich durchfragen, wenn man nicht gerade eine Beschreibung zur Hand hatte, die den Weg nach markanten Orientierungspunkten beschrieb, denn Wegweiser kannte man nicht. Pech hatte, wer zu einem Zeitpunkt reiste, zu dem ein markanter Baum Opfer der Flammen oder

149 Axt geworden war, Glück, wer per Schiff oder Floß auf dem Wasserwege reisen konnte, denn das ging am schnellsten und war einigermaßen sicher, wenn man nicht gerade auf dem Meer unterwegs war. Herbergen waren im frühen MA eine Seltenheit, man klopfte, wollte man nicht im Freien nächtigen, an die nächste Haustür und bat um Unterschlupf. Doch was den Reisenden dort erwartete, war Glückssache. Nicht umsonst handeln deshalb viele Märchen von Menschenfressern oder Hexen, deren Hütten irgendwo im Walde standen. Die Situation der Beherbergung Reisender verbesserte sich im Laufe der Jh.e beträchtlich, doch ‚rosige Zeiten‘ brachen längst noch nicht an. Glück hatte allemal der, welcher im Hospiz, einer kirchlichen Einrichtung oder einer Burg unterkam, Pech, wer bei Regen reiste: Regenschirm und wasserundurchlässige Kleidung gab es ja noch nicht und dann kein Unterschlupf in Sicht. Hat man angesichts solch katastrophaler Verhältnisse das R. nicht gemieden wie die Pest? Keineswegs! Doch zum reinen Vergnügen waren die wenigsten der Millionen von Menschen unterwegs, die aus den verschiedensten Gründen ferne Orte aufsuchen wollten oder mussten. Kaufleute unternahmen Handelsreisen über hunderte von Kilometern, Ritter suchten in der Fremde wenn schon nicht den Gral, so doch zumindest Ruhm aufgrund ihrer Tapfer-

Reisen keit, die römischen Kg.e durchzogen Deutschland, um ihre Herrschaftsrechte geltend zu machen und sich und ihr zahlreiches Gefolge angemessen zu ernähren (Reisekönigtum). Heerzüge waren stets nicht nur für die Kämpfer und ihre Herrn mit R. verbunden, sondern auch für den Tross, die Köche, Handwerker und Huren. Gesandtschaften durchzogen die Lande (Gesandte), Handwerksgesellen durchquerten Europa, um nach ihrer Lehrzeit andernorts weiter ausgebildet zu werden und dabei neue Techniken kennenzulernen. Bildungshungrige scheuten weder Kosten noch Mühen und Zeit, um sich bei den berühmtesten Gelehrten ihrer Zeit ausbilden zu lassen. Zeit brauchte man fürs R., denn mehr als 50, allerhöchsten 70 km legte selbst der schnellste Bote im MA nicht zurück, mehr als 30 selbst bei günstigen Reisebedingungen kaum ein Kaufmannszug, dem sich so mancher Handwerker oder Pilger gerne angeschlossen haben mag, um nicht allein zu reisen und sich vielleicht zu verirren. Der berühmte Thomas von Aquin († 1274) aus der Gegend nördlich von Neapel war Schüler des Albertus Magnus († 1280) in Köln, lehrte später in Paris, wo er wie sein Lehrer Zulauf aus ganz Europa hatte. Pilger bereisten die heiligen Stätten bis ins Hl. Land, um Vergebung für ihre Sünden zu erlangen, Kranke besuchten berühmte Ärzte oder auch Heiligtümer, wenn sie Hoffnung auf Genesung versprachen. Spielleute

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Religion und Glauben suchten in der Fremde lukrative Engagements, Spieler Glück, Prediger zu errettende Seelen, Bettler Mildtätige, Tagelöhner Arbeit. Ja selbst R. zum Zwecke der Erforschung fremder, ja sogar völlig unbekannter Länder wurden un-

ternommen und die Berichte über sie sowie die Schilderung fremder Völker und ihrer Sitten eifrig gelesen, man denke nur an Marco Polo († 1324), der bis China vordrang und Christoph Columbus († 1506), der Amerika entdeckte.

Religion und Glauben Die Bibel lehrt gläubige Juden, Christen und Moslems: „Gott schuf den Menschen nach seinem Abbild“ (Genesis I,27). Im Gegensatz zu diesem mittlerweile umstrittenen Glaubenssatz kann kaum ernsthaft bezweifelt werden, dass der Mensch sich Gott nach seinem Bild und Gleichnis, seinen Bedürfnissen und Idealvorstellungen von Allmacht geschaffen hat. So war die Götterwelt der Heiden voll von schreckenerregenden Naturgottheiten und Dämonen, die wie mächtige Menschen zürnen, vergeben oder helfen konnten und vor allem Furcht verbreiteten. Der heidnische Himmel ähnelte einem modernen Beamtenstaat, an der Spitze der Göttervater, sei es nun Zeus, Jupiter, Thor oder Wotan, darunter die eigenständig agierenden ‚Ressortchefs‘ mit ihren speziellen Zuständigkeiten, allesamt durch Opfergaben bestechlich und untereinander zerstritten, da furchtbar neidisch, eifer- und rachsüchtig. Der Schlachtengott Als der Frankenkönig Chlodwig († 511) um die Wende zum 6. Jh. mit vielen seiner Gefolgsleute zum katholischen Glauben übertrat, war die Lehre, die Christus den Menschen geschenkt hatte, schon längst nach den Vorstellungen und Bedürfnissen der jüdischen und hellenistischen Kultur überformt. Nicht mehr die Nächstenliebe, die Jesus immer wieder mit Gottesliebe gleichgesetzt hatte, stand im Zentrum der Lehre, sondern die korrekte Auslegung des Gotteswortes, um die man sich schon im 3. Jh. mit großer Spitzfindigkeit stritt, obwohl Jesus doch den Schriftgelehrten und Pharisäern immer wieder demonstriert hatte, wie fremd ihre gelehrte ‚Korinthenkackerei‘ dem göttlichen Willen war. Besonders die Frage nach der göttlichen oder menschlichen Natur Jesu und die Auslegung der Dreifaltigkeit riefen beständig neuen Streit und Exkommunikationen hervor. Die Kirche

Religion und Glauben hatte sich bereits in der Zeit der Christenverfolgung durch die Ks. auf den Weg gemacht, von der um Christi willen Verfolgten zur Verfolgerin um Christi willen zu werden, von Nächstenliebe und Toleranz in den ‚Leitungsgremien‘ kaum mehr ein Hauch. Der väterlich liebende Gott des NT war im Bewusstsein der Menschen zum mächtigen Schlachtengott geworden, der zuerst Ks. Konstantin d. Gr. († 337) und dann Kg. Chlodwig den Sieg in einer Schlacht verliehen hatte, weil die sich in auswegloser Situation flehentlich an ihn gewandt und ihm versprochen hatten, ihn als einzigen und wahren Gott anzuerkennen. Er war ein aktiv in die Welt eingreifender Gott geworden, dessen Ratschluss nur noch autorisierte Männer der Kirche durchschauten, dessen Gerechtigkeit und Zorn am Tag des Jüngsten Gerichts Angst und Schrecken verbreitete. Das waren die prägenden Grundpositionen für eine Religiosität, die vom Bildungsstand und dem Wissen über das Wort Gottes und seine verschiedenen Auslegungen abhing. Der mächtigere Gott Man darf sich nicht vorstellen, die neue Religion habe sich im Frankenreich nach Chlodwigs Taufe problemlos und unverändert durchgesetzt, handelte es sich doch um eine von antiker Philosophie überformte ‚Buchreligion‘, welche die intellektuellen Fähigkeiten der Franken erheblich überstieg. Diese waren eine Naturreligion mit allzu menschlichen Göttern, Dämonen und Zauberritualen zu deren Beschwörung gewohnt. Die Missionare mussten zudem die Glaubenslehren aus dem Lateinischen, der Sprache der Gelehrten, in die jeweilige Volkssprache übersetzen und passten sie bei dieser Gelegenheit dem Vorstellungsvermögen der zu Bekehrenden an. Das Ergebnis ihrer Bemühungen spiegelt eindrucksvoll die um die Mitte des 9. Jh.s entstandene volkssprachliche Lebensgeschichte Jesu in 6.000 Stabreimen („Heliand“), die Jesus zum Gefolgsherrn und die Apostel zu seinen ‚Kriegern‘ machte. Das Beispiel zeigt, dass die Christianisierung allenfalls eine oberflächliche Veränderungen der Mentalität einleitete, doch deren Basis, die alltäglichen Lebensverhältnisse, konnte sie nicht verändern: Die Menschen blieben in völliger Abhängigkeit von der Natur, die sie weiterhin durch magisch-religiöse Praktiken zu beeinflussen suchten. Der heilige Bonifatius († 754) berichtete immer wieder über das Fortleben heidnischer Bräuche und Rituale nach Rom. Eine Religion, die nicht fähig war, die Natur positiv zu beeinflussen, hätte keine Chance gehabt, sich bei den Germanen durchzusetzen. Damit die Einfältigen den komplizierten dreifaltigen

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Religion und Glauben Gott aufgrund seiner Nützlichkeit für das alltägliche Leben akzeptierten, mussten die Missionare Ersatz schaffen für die Götter, welche die Menschen bei Krankheiten und anderen Nöten um Hilfe gerufen hatten, die sie beschwören konnten, reiche Ernte oder Jagderfolg zu schenken. Die Erfüllung dieses Bedürfnisses sollte bis heute die Domäne wundertätiger Heiliger werden, die durch ihre enge Verbindung mit Gott Wunderkraft und Heiligkeit erlangt hatten. Magie und Dämonen Trotz der vielen Heiligen, die sich um das Wohlergehen der frommen Christen kümmerten, retteten sich magische Bräuche, Riten und Aberglaube bis weit in die NZ, ja sogar bis in die gegenwärtige Esoterik. Man kann verschiedene Arten naturmagischer Praxis unterscheiden, z. B. die abergläubische Beachtung heiliger Orte, Bäume, Gewässer oder Steine und Berge, heiliger Zeiten und magischer Zeichen, insbesondere der am Himmel sichtbaren. Diese heidnischen Traditionen wurden in Theorie und Praxis der christlichen Religion eingebaut. So fällte Bonifatius die Donareiche von Fritzlar als Beweis für die Machtlosigkeit Donars und erbaute aus deren Holz eine christliche Kapelle, womit er einerseits den Sieg seiner Religion demonstrierte, andererseits ein Objekt der heidnischen Religion in das neue Gotteshaus integrierte. Christliche Kirchen wurden häufig am Ort heidnischer Heiligtümer erbaut. Mit heiligen Zeiten hat die Kirche nicht gegeizt und so mancher Heilige hat Heilquellen sprudeln lassen. Selbst rituelle Trinkgelage zu Ehren der Götter haben in der Form des Minnetranks Eingang in den christlichen Alltag als Trinkgelage zu Ehren von Toten gefunden. Das Minnetrinken stand unmittelbar unter dem Schutz der Heiligen, wie das Beispiel eines gewissen Waltgar zeigt, der, aufgefordert die Minne des hl. Ulrich von Augsburg zu trinken, freventlich sprach: „Was nützt mir die Minne des Bf.s; der kann doch nicht mehr Wunder tun als ein Hund!“ In diesem Augenblick wurde er dem Teufel überlassen, verlor die menschliche Sprache, begann nach Art eines Hundes wütend zu kläffen und beendete alsbald bellend sein Leben. Was die magischen Zeichen am Himmel angeht, so findet man selbst im „Liber Pontificalis“, der ‚amtlichen‘ Papstgeschichte immer wieder Hinweise auf Zeichen am Himmel, die mit Ereignissen in Verbindung gebracht wurden. In kaum einem größeren Geschichtswerk sucht man vergebens nach Berichten über von Gott gesandte Zeichen am Himmel oder in der Natur.

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Religion und Glauben Vogelschau, Wahrsagerei, Losorakel wurden von der Kirche ebenso bekämpft wie Zauberei, Amulette oder Traumdeutung. Natürlich konnte all dies nicht ganz abgeschafft werden, sondern blieb eine Art magische Subkultur, die im christlichen Gewand weiterlebte. So hat Papst Gregor VII. († 1085) in seinem Kampf gegen Heinrich IV. den Tod des falschen Kg.s binnen eines bestimmten Zeitraums geweissagt. Wie triumphierten doch Heinrich und seine Anhänger, als der vom Papst favorisierte Gegenkönig Rudolf von Rheinfelden in einer Schlacht gegen Heinrich fiel und dabei seine Schwurhand verlor. Zu früh gefreut, denn Bonizo von Sutri, ein Anhänger Gregors, stellte klar, dass Heinrich zwar nicht den irdischen Tod erlitten habe, aber vor Gottes Augen aufgrund seiner Untaten tot sei. Traumdeutung, die im Verborgenen weiterhin blühte, war offiziell eine Domäne der Geistlichen geworden, denn nur sie waren imstande, zu entscheiden, ob ein Traum von Gott oder dem Teufel gesandt oder bedeutungslos war. Amulette wurden mit christlichen Symbolen oder gar Reliquien ‚umgerüstet‘ genauso wie magische Kräfte und heiliger Zauber, die insbesondere in der Heilkunst weiterhin zum Einsatz kamen, christlich aufgeladen wurden. Der heidnische Glaube an Dämonen musste gar nicht erst in die Religion integriert werden, denn Jesus hatte sie nur allzu oft aus Besessenen ausgetrieben. Männer und Frauen Gottes standen als Exorzisten in einem beständigen Kampf gegen sie. Die Welt als Jammertal Die christlichen ‚Schriftgelehrten‘ waren einerseits davon überzeugt, dass Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis als „Krone der Schöpfung“ vollkommen geschaffen habe, andererseits davon, dass er durch den Sündenfall im Paradies mit der Erbsünde auf die Welt gekommen sei, die ihn an einem vollkommen gottgefälligen Leben hinderte und deshalb sein Dasein bejammernswert machte. Es gab zahlreiche Literatur in Prosa und Dichtung, die das Elend des menschlichen Daseins beklagte und die Verachtung predigte, die man der Welt um des ewigen Heils willen entgegenbringen müsse. Bf. Theodulf von Orléans († 821) schrieb in einer der frühesten und am weitesten verbreiteten Predigtanweisungen, das Kirchenvolk solle den ganzen Tag über seine Sünden bekennen und unter Klagen und Tränen Bußpsalme beten. Nicht nur Predigten kündeten von den Schrecken des Jenseits, die die Sünder zu erwarten hätten, in Kirchen zeigten Fresken oder Reliefs, welche Qualen den Sündern im Jenseits bevor-

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Religion und Glauben standen. Seelennöte begleiteten den Menschen sein ganzes Leben lang. Kaum war ein Kind geboren, musste es rechtzeitig getauft werde, denn ungetauft kam es laut kirchlicher Lehre nach dem Tod in den Limbus, an einen Ort zwischen Himmel und Hölle an dem man Gott nie schauen kann. Bei der Taufe musste ein Exorzist durch festgelegte Rituale bewirken, dass Dämonen sie nicht unwirksam machten. Des Menschen Seelenheil war beständig sichtbar oder unsichtbar bedroht. Waren z. B. Sakramente wirksam, wenn sie von unwürdigen Geistlichen gespendet wurden? Das war im so genannten Investiturstreit ein äußerst vertracktes Problem, denn die Bischöfe des Römischen Reiches hatten in alter Tradition dem Kg. für die Belehnung mit den Rechten ihrer Kirche Geld und Geschenke gegeben. Sie hatten damit ihr Amt durch Simonie (= Kauf oder Verkauf eines kirchlichen Amtes) erlangt, hatten ihre geistliche Würde erkauft und amtierten deshalb nicht aufgrund göttlicher Autorität. Schon die Apostel Petrus und Johannes hatten das Angebot des Simon Magus empört zurückgewiesen, ihm für Geld die Fähigkeit zu verleihen, den Heiligen Geist auf die Menschen herabzurufen. Nach diesem Vorbild erklärte Papst Gregor VII. († 1085) von Simonisten gespendete Sakramente für ungültig, weshalb Gott weder die von simonistischen Bischöfen geweihten Priester als solche anerkannte, noch die von jenen gespendete Sakramente – Taufe, Beichte, letzte Ölung, alles unwirksam, keine Rettung vor der Hölle. Wenn man bedenkt, dass unter dieser Voraussetzung kein einziger Priester im Römischen Reich, vielleicht sogar in ganz Europa rechtmäßig Sakramente spenden konnte, wird klar, welche religiösen und psychischen Dimensionen dieser Streit für die westliche Christenheit annehmen musste, wenn sie nur entsprechend informiert war. Oder was geschah, wenn man ohne es zu wissen Umgang mit Exkommunizierten hatte, war man dann automatisch ebenfalls exkommuniziert, wie es rigorose Theologen verkündeten? Was wenn man nun mit Exkommunizierten beisammen war, die gar nicht wussten, dass sie exkommuniziert waren? Schützte Unwissenheit vor Gottes Zorn? Solche Kirchenstrafen konnten theoretisch derart epidemische Ausmaße annehmen, dass die Pest im Vergleich dazu nur ein ‚Klacks‘ war, vor allem weil sie ja ‚nur‘ das irdische Leben bedrohte. Hoffnung und Trost brachten in diesem Jammertal Heilige und das Gebet. Letzteres spielte nicht nur eine ganz wichtige Rolle für das persönliche Heil, sondern auch für das politische Geschehen. Im Jahr 774 errang z. B.

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Religion und Glauben Karl d. Gr. zahlreiche große Siege, die Papst Hadrian auf unermüdliches Gebet zurückführte, denn schließlich hatten sämtliche Priester, alle Mönche und das gesamte Volk von Rom in allen Kirchen der Stadt täglich 300 „Kyrie eleison“ mit lauter Stimme für den Kg. gen Himmel gesandt. Als ‚Historischer Beleg‘ für den militärischen Nutzen von Gebeten galten Moses und der Feldherr Josua. Moses kämpfte durch das Gebet, das allein Josua siegen ließ. Zu Gebeten im ganzen Reich für erfolgreiche Kriegszüge haben Päpste öfters aufgerufen, vor allem wenn es um Heilige Kriege gegen Heiden oder Ketzer oder um die Befreiung des Heiligen Landes ging. Im französischen Kloster Cluny wurde bei Tag und Nacht für Tote gebetet. Über die Erfolge des ‚Gebetsmarathons‘ wissen wir durch eine ganze Reihe von Visionen, die ,zuverlässig‘ davon künden, dass bestimmte Leute durch das Gebet der Mönche aus dem Fegefeuer ins Himmelreich aufgenommen wurden. Cluny gehörte aufgrund dieser Verdienste zu den reichsten Grundbesitzern Frankreichs im 11./12. Jh. Macht der geistlichen Autorität Die Furcht vor einem bösen Ende im Jenseits verlieh den Vertretern der Kirche Macht über die weltlichen Herrscher, die vor allem Päpste geschickt für ihre politischen Interessen zu nutzen verstanden. Denken wir bloß an Gregor VII. († 1085), der Heinrich IV. († 1106) gebannt und dadurch mitten im kalten Winter zum Gang nach Canossa gezwungen hatte. Auch die Ks. Friedrich II. († 1250) und Ludwig IV. († 1346) hatten ihre liebe Not mit den Päpsten ihrer Zeit und verstarben exkommuniziert. Aber nicht nur mächtige Päpste hatten im Bewusstsein ihrer spirituellen Macht den Mut, Herrscher in ihre Schranken zu weisen, wie eine in Byzanz spielende Episode aus dem Jahre 531 drastisch vor Augen führt: Der Glaubensheld war der Einsiedlermönch Mãr der Einsame († 552), den Ks. Justinian d. Gr. († 565) und seine Frau Theodora († 548) gemeinsam in Privataudienz empfingen. Mãr war ein wahrer „Athlet Gottes“, von dem sein Biograf berichtet, er sei „stärker als zehn Räuber“ gewesen. Zu seiner körperlichen Überlegenheit gesellte sich noch sein ,überirdischer Duft‘, denn sowohl seine zerlumpte Kleidung als auch seinen Körper hatte in den letzten Jahren nur der Regen in der Wüste gewaschen. Anlässlich der Audienz änderte er sein ‚Outfit‘ nicht, denn den an die Leere der Einsiedelei in der Wüste gewohnten Eremiten beeindruckten Hofzeremoniell, Purpur und Krone nicht. Er klagte das Herrscherpaar wegen seiner Religionspolitik an.

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Religion und Glauben Der Tadel allein genügte ihm nicht, er wurde derart beleidigend, dass sich die Feder des Biografen sträubte, wörtlich zu berichten. Jeder würde meinen, das Herrscherpaar, durch dessen intrigantes Wirken zehntausende von Rebellen im Hippodrom von Konstantinopel erschlagen worden waren, habe kurzen Prozess mit ihm gemacht, doch weit gefehlt: Theodora befahl dem Schatzmeister Mãr 100 Pfund Gold als Geschenk zu überreichen. Der jedoch akzeptierte nicht, sondern schleuderte das Geschenk der Ksn. entgegen und schrie: „Das Geld soll zusammen mit dir verrecken!“ Das Herrscherpaar schickte daraufhin dem Asketen Gesandte mit der Nachricht, man habe nicht vorgehabt, sein Wohlwollen zu erkaufen, sondern habe ihm das Geld nur als Unterstützung für die Gründung eines Klosters geben wollen. Als ähnlich mutig erwies sich der hl. Columban († 615) im Frankenreich der Merowinger: Er schlug der mordlustigen Kgn. Brunichilde († 613) die Bitte ab, ihre Urenkel zu segnen und prophezeite ihr, dass diese „Nachkommen aus dem Bordell“ nie Kg.e werden würden. Wesentlich weniger spektakulär, aber sehr effektiv war der Einfluss Geistlicher auf Herrscher in ganz Europa bis weit in die NZ hinein. Nächstenliebe: ‚Rettungsanker‘ und religiöses Bedürfnis Wenn ich oben geschrieben habe: „Von Nächstenliebe kaum mehr ein Hauch“, so war das im Hinblick auf die gesamte religiöse Entwicklung seit Jesus’ Auftreten natürlich überzeichnet. Er hat den Blick auf die Nächstenliebe gelenkt und sie zum festen Bestandteil des religiösen Denkens gemacht, das zuvor fast ausschließlich auf Gott fokussiert war. Durch Werke der Nächstenliebe konnte man seine Chancen auf ein jenseitiges Leben im Himmel erhöhen, und diese Möglichkeit haben viele Menschen durch fromme Stiftungen oder Armenspeisung berechnend genutzt, doch hat diese Berechnung letztlich das Wertebewusstsein der Menschen verändert. Wie anders wäre es zu erklären, dass der hl. Franz von Assisi, der einem Leben in Reichtum entsagt und es den Armen gewidmet hatte, in kürzester Zeit so großen Zulauf gehabt hat, dass er sich gezwungen sah, einen Orden zu gründen, der bald europaweit zahllose Menschen aus allen Bevölkerungsschichten angezogen hat? Überhaupt spielte das Mönchtum für die Entwicklung der Idee, dass man Gott über Hilfeleistungen an seinem Nächsten dient, eine Vorreiterrolle, so degeneriert die klösterlichen Ideale im realen Leben zeitweise auch gewesen sein mögen. Zu allen Zeiten versuchten einige Menschen zu den Idealen der

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Reliquie ursprünglichen Kirche zurückzukehren, selbst wenn sie dafür als Ketzer verfolgt wurden. Insgesamt war die mittelalterliche Religiosität in einem Ausmaß jenseitsorientiert und von Ängsten getragen, wie wir es uns heute kaum mehr vorstellen können. Dabei handelte es sich zum einen Teil um Urängste, die anscheinend dem Gros der Menschen von Natur aus innewohnen oder über Generationen hinweg unbewusst weitergegeben wurden, zum anderen aber um bewusst hervorgerufene Ängste zur Disziplinierung der Gläubigen und bisweilen auch zur Bereicherung der Kirche(n). In ihrer Not suchten die Menschen Hilfe bei den Mächten des Jenseits, wobei man selbst in Zeiten, in denen ganz Europa längst christianisiert war, auf heidnische Beschwörungsriten und Magie zurückgriff, selbst wenn das angesichts einer allmächtigen und gegenüber magischen Praktiken eifersüchtigen Kirche äußerst gefährlich war. Der im MA allerorten ausufernde Aberglaube mit seinen großenteils ebenfalls heidnischen Wurzeln hat sich ‚in Ausläufern‘ bis heute zumindest im Unterbewusstsein gehalten und lässt so manchen einen Knopf an seiner Kleidung suchen, wenn er einem Schornsteinfeger begegnet.

Reliquie Als R.n galten und gelten nicht nur die beliebig teilbaren Gebeine eines Heiligen, mit denen dessen Seele im Himmel stets in Verbindung bleibt, sondern alles, was mit diesem je in Kontakt gekommen ist. In der Kirche des hl. Antonius in Padua z. B. kann man neben der Zunge und einem Teil des Kiefers den Stein bewundern, der dem Heiligen als Kopfkissen gedient hatte. Wundertätig ist Antonius noch heute, er bringt Verlorenes zurück und seine oft erprobte Heilkraft erstreckt sich mittlerweile auch auf gescheiterte Ehen, wie aus einem der vielen Dankesbriefe zu erfahren ist, die an seinem Schrein in Padua angebracht sind. Die Präsenz des Heili-

gen in der R. ist der Grund für ihre Wunder- und Heilkraft und dafür, dass ein Altar stets eine R. des Heiligen bergen muss, dem er geweiht ist, und dass man im MA bei der Leistung eines Eides die Hand auf eine R. legte, um den Heiligen als Zeugen anzurufen. Besonders gefragt waren R.n prominenter Heiliger. Den Streit um den Leichnam des hl. Martin von Tours († 397) zwischen den Städten Tours und Poitiers entschied nach Gregor von Tours († 594) Gott höchstpersönlich durch ein Wunder, indem er die Leute von Poitiers, die Anspruch auf die sterblichen Überreste erhoben, in Tiefschlaf verfallen ließ, so dass die von Tours den Leichnam entwenden konnten. Dies war

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Ritter beileibe nicht der einzige Raub einer R. aus frommen Motiven, doch meist erstand man sie für Geld. Das Verlangen nach R.n beschränkte sich nicht auf solche bereits offiziell heilig Gesprochener: Eine wahre Massenhysterie lösten die Heilkräfte des Pariser Predigers Fulco von Neuilly († nach 1201) aus. Viele kranke Menschen rissen ihm seinen Mantel in Fetzen vom Körper, um nur eine R. von ihm zu haben, so dass er sich endlich wehrte, sie mit einem Stock vertrieb und dabei einige verletzte, die dann ihr eigenes Blut küssten, hoffend, es sei durch die Berührung mit Fulcos Stab heilkräftig geworden. Groteskes berichtet Caesarius von Heisterbach, ein Zisterziensermönch († nach 1240), über die Geschehnisse am Totenlager der aufgebahrten Elisabeth von Ungarn, der Witwe Landgraf Ludwigs IV. von Thüringen: „Aus Frömmigkeit und um von ihr Reliquien zu haben, lösten oder rissen sehr viele Leute Teilchen von den Tüchern, schnitten ihr Haupthaar und Nägel ab, einige stutzten ihr die Ohren, andere schnitten ihr die Brustwarzen ab.“ Dass nicht nur das ‚dumme Volk‘ R.n verehrte, lehrt das Beispiel des ansonsten sehr bedachten Ks. Karl IV., der sich auf Burg Karlstein ein ‚Reliquienzimmer‘ einrichtete und drei Tage vor seiner Kaiserkrönung (1355) incognito Rom durchstreifte, wobei er sich an den Hauptkirchen deren R. zeigen ließ, darunter namentlich die Ketten Petri, die Treppe, auf der Pilatus das Urteil über

158 Jesus gesprochen hatte und die bei der Beschneidung abgeschnittene Vorhaut (Präputium) Jesu, die auf wahrhaft wunderbare Weise in den Heiltumsschatz des Laterans gelangt war, in welchem u. a. auch Jesu Nabelschnur aufbewahrt wurde. Die Vorhaut soll einst ein Engel Karl d. Gr. in Jerusalem (das der nie bereist hat) übergeben haben. Der brachte sie nach Aachen, von wo sie irgendwie in den Heiltumsschatz kam. Beim Sacco di Roma, der Plünderung Roms durch deutsche Söldner 1528, ging sie verloren und tauchte erst 1557 in Calcata bei Nepi (nördlich Rom) wieder auf, wo sie bis 1902 verehrt wurde, obwohl schon Papst Innozenz III. († 1216) Bedenken gegen die Echtheit der R. geäußert hatte, in deren Besitz sich damals immerhin mindestens 13 Kirchen wähnten. Dieser Umstand muss angesichts der göttlichen Allmacht nicht unbedingt gegen die ,Echtheit‘ all dieser Vorhäute sprechen, zumal Jesus der heiligen Katharina von Siena († 1380) während einer ihrer Ekstasen seine Vorhaut als Verlobungsring geschenkt hat, den allerdings nur sie allein sehen konnte – er ziert noch immer den Fingerknochen der Heiligen, der in S. Domenico zu Siena verehrt wird und ist noch immer unsichtbar, was für seine ‚Echtheit‘ spricht. Ritter R. bezeichnet den berittenen Kämpfer, der seit dem frühen MA durch Ausstattung und Wehrkraft aus der Schar der

159 zu Fuß kämpfenden Krieger herausragte. Das Rittertum entwickelte sich im Laufe der Jh.e zu einem Stand (Gesellschaft und Stand) mit eigenem Standesethos und Selbstbewusstsein sowie spezifischen Verhaltensweisen, die für Jh.e in der vornehmen Gesellschaft vorbildhaft werden sollten. Den Grundstein dafür legte die Heeresreform Ks. Karls d. Gr., der 807/808 Grundherren ab einer bestimmten Hofgröße nicht nur zum Reiterdienst, sondern auch zum Tragen einer Brünne, einem knielangen aus zahlreichen ringartigen Maschen zusammengesetzten Panzerhemd, verpflichtete, das ihren Träger deutlich aus der Masse der übrigen Krieger heraushob. Ende des 11. Jh.s stellte ein Streitross den Gegenwert von 5–10 Ochsen dar, ein Kettenhemd das Vier- bis Zehnfache. Ein Streitross allein genügte nicht für einen Feldzug, denn nach längerem Anmarsch mit R. auf dem Rücken war es zu müde für den Kampf (Mensch und Tier). Deshalb trug ein zudem wesentlich angenehmer gehendes Marschpferd den R., ein ‚Klepper‘ die Rüstung und ein weiteres Pferd seinen Knappen, der Schild und Lanze trug. Meist gehörte noch ein Knecht zur Grundausstattung der ‚Kampfeinheit R.‘, die seit dem 14. Jh. nach der Hauptangriffswaffe Lanze bzw. Gleve benannt wurde. Um standesgemäß leben zu können, musste ein R. über eine Herrschaft von mindestens 150 Hektar verfügen, weshalb der Kg. oder andere Mächtige ihren Kämpfern entsprechende Ritter-

Ritter güter zu Lehen gaben. Als Lehensmänner fanden die R. Eingang in die Adelsgesellschaft. Seit den Rebellionen gegen Ks. Heinrich IV. (zweite Hälfte 11. Jh.) wurden aufgrund des Bedarfs an Streitern auch Ministeriale zu R.n geschlagen. Im Kampf saß der R. in einem schweren, kastenartigen Sattel, die Füße steckten in Steigbügeln, die im Abendland erst im 9./10. Jh. aufgekommen waren. Der Steigbügel bedeutete eine Revolution, denn er gab dem R. den nötigen Halt, um im Galopp mit eingelegter Lanze gegen seinen Gegner anzureiten. Unter einem bis zu den Knien reichenden Waffenrock trug der R. die Brünne (seit dem 12. Jh. auch Harnisch genannt) und über dieser seit dem späten 13. Jh. einen Plattenpanzer. Meist wurde seit dem Hochmittelalter nur der rechte Arm durch eine Armschiene geschützt, da der linke den Schild trug. Beinschienen kamen im Abendland erst Mitte des 13. Jh.s auf. Den Kopf schützte ein Helm, der im Laufe der Jh.e eine Wandlung vom einfachen Helm mit Nasenschutz zum Topfhelm mit Sehschlitz, Atemlöchern, Visier und zierendem Aufsatz durchmachte, der vielfach Bestandteil des adligen Wappens wurde. Im 11. Jh. erreichte der spitz nach unten zulaufende, mit Leder überzogene und Metall beschlagene Holzschild noch Mannsgröße, wurde allmählich verkürzt, bis er im 14. Jh. von der kleineren oval oder rechteckig geformte Tartsche abgelöst wurde. Seit dem 12. Jh. war auch das Pferd (Mensch

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Ritter und Tier) gepanzert, doch nutzte das nicht allzu viel, denn Unterleib und Beine blieben ungeschützt. Oft genug galt der gegnerische Angriff nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch beim Turnier dem Pferd. Wenn es auch nicht edler Kampfesweise entsprach, war es doch eine höchst effektive Art, den Gegner vom Pferd zu holen, die gnadenlos genutzt wurde, auch wenn eine teure Beute verloren ging. Die Waffen des R.s, der unehrenhafte Fernwaffen, also Pfeil und Bogen und Armbrust, verschmähte, waren Schwert, Speer, Stoßlanze, Streitaxt, Streitkolben und Morgenstern. Kampf und Schlacht folgten festen Spielregeln, denn allein schon das Anlegen der Rüstung erforderte so viel Zeit, dass Ort und Zeit einer Schlacht zumeist vereinbart werden mussten. Einen Hinterhalt zu legen, galt als unsittlich. Zu Rüstungsaufwand und kostspieligem Lebensstil kamen die Kosten für die Burg (Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus). Aus der Zahl der Burgen, die von der Mitte des 11. Jh.s bis gegen 1300 entstanden sind, hat man errechnet, dass die in ritterlicher Art lebende Gesellschaftsschicht knapp 1 % der Gesamtbevölkerung ausgemacht hat. Das Verhältnis der alten Adelsfamilien zu den aufgestiegenen Ministerialenfamilien dürfte im 12. Jh. etwa 1:100 betragen haben. R. wurde zu einem Sammelbegriff, der nach Sozialund Rechtsstand unterschiedliche Gruppen umschloss.

160 Verbunden war dieser inhomogene Stand durch das Ideal des „miles christianus“ (christlicher Krieger), eine Kreation der Kirche. Es entwickelte sich europaweit zum Leitbild des Rittertums, prägte sich diesem als richtungweisendes, zu hohem Dienst verpflichtendes Wesensmerkmal ein und hob es über das reine Kriegertum hinaus. Das Ideal beinhaltete Schutz und Verteidigung von Glaube, Kirche, Christenheit, Witwen und Waisen und überhaupt aller Schutzbedürftigen sowie die Tugenden der Zucht und Selbstdisziplin, die wiederum zu spezifisch ritterlichen Verhaltensweisen gemäß einem Ehrenkodex führten. Das ritterliche Ideal überlebte den R., dessen militärische Bedeutung schon zu schwinden begann, bevor dieses überhaupt seine höchste kulturelle Blüte erlangt hatte. Die Vorbereitung auf das Leben als R. begann bereits in der Kindheit. Dazu wurde der ritterbürtige Knabe als Knappe an einen fürstlichen Hof geschickt, wo er nicht nur im Waffenhandwerk, sondern auch in ritterlichen Umgangsformen und Tugenden ausgebildet wurde, in deren Mittelpunkt die Werte Treue, Maß und Ehre standen. Ohne diese Ausbildung, die mit der feierlichen Schwertleite (Ritterschlag) abgeschlossen wurde, wären ritterliche Kultur und Minnesang kaum vorstellbar. Allerdings stand die Realität bisweilen mit der Ideologie des edlen R.s aus Epik, Lyrik und Spruchdichtung in einem sehr ge-

161 spannten Verhältnis und dies nicht nur im Hinblick auf die gelegentlich sehr rüden Beziehungen jener Herren zu ihren viel besungenen Damen. Gewiss gab es einige, die sich das ritterliche Ideal zum Leitstern erkoren hatten und gemäß dem Ehrenkodex lebten, das Gros jedoch hatte vor allem den eigenen Nutzen im Auge. Verletzung des Ehrenkodex konnte allerdings sehr schwer bestraft werden. So ließ Gf. Balduin VII. von Flandern (1093–1119) einen R. in voller Rüstung, dem Symbol des Rittertums, in einem Kessel zu Tode kochen, weil er einer armen Frau zwei Kühe geraubt und dadurch die Ehre des Rittertums beschmutzt hatte. Der militärische Wert des R.s nahm seit dem ausgehenden 13. Jh. ab. Seine schwerfällige Ausrüstung ließ ihn hilflos werden, wenn er vom Pferde fiel oder der Gegner die Regeln des Kampfes nicht achtete. Das allzu feste Vertrauen auf die Unübertrefflichkeit ritterlicher Kampfesweise führte zu katastrophalen Niederlagen, z. B. des französischen Heeres Philipps des Schönen 1302 bei Kortrijk im Kampf gegen die Milizen

Ritter der flandrischen Städte oder der habsburgischen R. gegen die Schweizer Waldstädte bei Morgarten 1315. Dennoch büßten sie nichts an Ansehen ein: So gründete Kg. Edward zur Erinnerung an den Sieg in der Schlacht bei Crécy 1346 den Hosenbandorden für besonders verdiente R., obwohl ihn die englischen Bogenschützen über das zahlenmäßig weit überlegene französische Ritterheer errungen hatten. Auch als der R. als ‚Kriegswaffe‘ ausgedient hatte, wurde das Turnier gegen den Widerstand und Verbote der Kirche weiter gepflegt. Durch die Turnierordnungen des 15. Jh.s, die die Teilnahme an Turnieren auf seit Generationen Ritterbürtige beschränkte, entwickelte sich der so genannte Turnieradel mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Das gefährliche Spiel forderte zahlreiche Opfer, auch unter dem Hochadel. Im Jahr 1559 kam der französische Kg. Heinrich II. durch den Kapitän seiner Leibgarde zu Tode. Nicht zuletzt dieser Unfall mit seinen weit reichenden politischen Folgen verdarb die Freude am Ritterturnier endgültig.

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Schamgefühl Schamgefühl S. gehörte zu den Tugenden der Geistlichkeit, insbesondere der Nonnen, aber auch der Damen der besseren Gesellschaft. Es bezog sich einerseits auf Körper (der nackte Mensch galt als der Schande preisgegeben) und Sexualität, andererseits auf ein mit einem Ehrenkodex verbundenes Tugendsystem. Handelte z. B. ein Ritter gegen die Ritterehre, hätte sich sein S. regen müssen. Scham konnte aber auch derjenige auslösen, der den anderen in seiner Ehre kränkte, so dass S. ohne weiteres Auslöser einer Fehde werden konnte, vor allem wenn die Kränkung öffentlich erfolgte. Schmerz S. galt im MA wie schon in der Antike als eine Selbstwahrnehmung der Seele aufgrund einer Einwirkung des Körpers oder der Seele selbst. Der christliche Glaube verband ihn zusätzlich mit der Erbsünde, denn in Gottes Schöpfungsplan war S. ursprünglich nicht vorgesehen gewesen, Gott strafte und heilte mit ihm den menschlichen Ungehorsam. Aus seiner Heilsamkeit wurde die pädagogische Wirkung des S.es abgeleitet, was einerseits zur schmerzhaften Bestrafung führte, andererseits zur Auffassung, dass ein leidender Mensch den S. für irgendeine Sünde verdient habe. Vorbild für diesen Gedanken war Christus, der in Gestalt des Schmerzensmanns für die Sündenschuld der gesamten Menschheit gebüßt hat.

162 Neben der Theologie beschäftigte sich die Heilkunde intensiv mit S. und ganz pragmatisch mit Möglichkeiten seiner Linderung. Als Ursache wurde vor allem eine Veränderung des Gleichgewichts der vier Körpersäfte, deren Verderbnis oder auch die Auflösung ihres naturgegebenen Zusammenhangs angesehen. Man kannte zahlreiche schmerzstillende Mittel, vor allem gegen Kopf-, Magen-, Nieren-, Brust- oder Zahnschmerz. Von den 142 Präparaten, welche das erste abendländische Arzneimittelbuch, das „Antidotarium Nicolai“ (Mitte 12. Jh.), enthält, bezogen sich mehr als die Hälfte auf S.en. 13% der Arzneien enthielten Opium, 9% Bilsenkraut und 6% Mandragora (Alraune), in 6% waren alle drei narkotischen Drogen verarbeitet. Weiterhin wurden als Betäubungs- und Schlafmittel Nachtschattengewächse, Mohn, Lattich, Seerose oder Schierling verwandt, die wegen ihrer halluzinogenen Nebenwirkungen um 1600, der Zeit der großen Hexenverfolgungen, außer Gebrauch kamen. Gereicht wurden diese Arzneien als Pulver, Salben oder in flüssiger Form. Schule Das hoch entwickelte römische Schulwesen war im Westreich durch die ‚Machtübernahme‘ der Barbaren weitgehend zugrunde gegangen. In kirchlichen Einrichtungen entstanden jedoch bald S.n für Grammatik, Zeitberechnung und liturgischen Gesang. Führend

163 wurden Klosterschulen, in denen Oblaten unterrichtet wurden, Kinder, die ihre Eltern für das Klosterleben bestimmt hatten. Der vom Schulleiter, dem Scholaster oder Kantor, in allen Fächern erteilte Unterricht fand in Latein statt, das neben Hebräisch und Griechisch als heilige Sprache galt, da in ihr die Hl. Schrift überliefert war. In Klosterschulen achtete man auf strenge Disziplin und scheute sich nicht, die Zöglinge zu züchtigen. An pädagogischen Hilfsmitteln kannte man hauptsächlich Merkverse und hin und wieder bildliche Gedächtnishilfen. Einmal im Jahr, am Schülertag, wurde im Kloster verkehrte Welt gespielt, die Schüler kommentierten in gewissen Grenzen ihren Alltag durch Spiele mit satirischer Note. Ihren Höhepunkt erlebten Klosterschulen in der Karolingerzeit, da Karl der Gr. und einige seiner Nachfolger eine ‚Bildungsoffensive‘ gestartet hatten, damit einerseits der Klerus die heiligen Handlungen korrekt durchführen konnte, andererseits, weil sie erkannt hatten, dass ein Reich ohne Schriftlichkeit nicht den Erfordernissen entsprechend verwaltet werden konnte. Schon in ottonischer Zeit erfolgte durch die geopolitische Schwerpunktverlagerung aus dem Rheinland in den Nordosten des Reiches eine grundlegende Veränderung in der Schullandschaft. Führend wurden jetzt die Domschulen der neu errichteten Bistümer Magdeburg, Merseburg, Halberstadt

Schule und Hildesheim, auch wenn sich Klosterschulen weiterhin eines guten Rufes erfreuten. Grund dafür war die enge politische Verflechtung der Bischöfe mit dem Reich, denn aus Hofkapelle und Domstiften rekrutierte der Herrscher seine Reichsbischöfe. Die in Domschulen gebotene Ausbildung nahm auf die verwaltungstechnischen Erfordernisse des Bischofsamtes, ‚Praxisnähe‘ und neue wissenschaftliche Einflüsse Rücksicht. Die S.n an Dom- und Kollegiatsstiften waren an die jeweilige Kongregation angeschlossen, deren Mitglieder im Gegensatz zu den Mönchen über feste Pfründen verfügten, also eigenes Einkommen hatten – selbst Schüler hatten Pfründen, wenn sie Angehörige des Stifts waren. Dom- und Stiftsschulen nahmen auch bildungshungrige Laien aus Adel und Bürgertum auf, die Schulgeld bezahlten. Ja sogar arme Kinder wurden unterrichtet und leisteten als Entgelt Dienste verschiedenster Art. Eine gute Ausbildung sicherte ihren sozialen Aufstieg. Die Schulleitung war mit einer bestimmten Pfründe verbunden und wurde aufgrund von Qualifikation vergeben. Der Ruf von S.n mit hohem Niveau zog Schüler aus der Ferne an und führte zu einem bisweilen sogar internationalen ‚Bildungstourismus‘. So zog das Wirken des Albertus Magnus († 1280) an der Kölner Domschule Schüler wie ein Magnet an, darunter Thomas von Aquin aus Süditalien. Bildungshungrige scheuten

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Schwarzarbeit keine Mühen und Entfernungen, um vom Allerbesten unterrichtet zu werden. Oftmals allerdings genoss der Scholaster nur noch seine Pfründe, delegierte aber den Unterricht an weniger qualifizierte Lehrer, weil er andernorts residierte – Kanoniker hatten häufig an mehreren Kirchen Pfründen und ließen sich vertreten. Traditioneller Gegenstand des Unterrichts waren die Sieben Freien Künste, wobei allerdings oftmals der Unterricht nicht weit über die Grammatik und vielleicht praktische Musik hinausging; Dialektik und Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik wurden nur selten adäquat unterrichtet. Die Aufnahme von Bürgersöhnen hatte in vielen Stiftsschulen eine grundsätzliche Neuerung zur Folge: Es wurde in der Volkssprache unterrichtet und der Unterricht orientierte sich an den Bedürfnissen der Bürgerkinder, die einer gewissen elementaren Grundbildung (volkssprachliches Lesen und Schreiben sowie Rechnen) als Handwerker oder Kaufleute dringend bedurften. Bereits seit dem 13. Jh. bemühten sich allerdings vielerorts Bürgerschaften mit Erfolg, S.n in eigener Regie zu betreiben. Dabei ging es gar nicht um neue Lehrprogramme, sondern um Interessenskonflikte im Rahmen der Stadtherrschaft, denn vielerorts waren dem Stadtrat diverse kirchliche Vorrechte, vor allem Steuerfreiheit des Klerus, ein Dorn im Auge und man wollte nicht wegen des kirchlichen Schulmonopols erpressbar werden.

164 Um einen gewissen Mindeststandard zu wahren, erhielten der Bf. und in seiner Vertretung der Domscholaster die Aufsicht über sämtliche S.n ihrer Diözese. Sie sprachen nach entsprechender Prüfung eine auf ihre Diözese beschränkte Lehrbefähigung für jeden aus, der unterrichten wollte. Wechselte der Lehrer in die S. einer anderen Diözese, musste er dort eine neue Lehrbefugnis erwirken. Ohne sie durfte niemand lehren. Der Domscholaster oder sein Vertreter kontrollierten in den S.n Lehrstoff und Methode und hielten ‚Lehrzielkontrollen‘ ab. Schwarzarbeit Auch das MA kannte das, was wir heute als S. bezeichnen. „Pfuscher“, „Störer“, „Stümpler“, „Bönhasen“ oder juristisch exakt „Unbefugte“ nannte man im 16. Jh. diejenigen, die gegen Entlohnung handwerkliche Arbeiten ausführten, ohne einer Zunft anzugehören und Abgaben zu zahlen oder die als „Freimeister“ ihre Arbeitskompetenzen überschritten. Der Sache nach gab es diese Form von S. allerdings schon vorher. Die Zünfte hatten das Recht, Personen und deren Wohnsitz zu kontrollieren, die im Verdacht standen, unbefugt zu arbeiten. Solche Kontrollen wurden regelmäßig durchgeführt, man nannte sie „Visitation“ oder in Mittel- und Norddeutschland „Bönhasenjagd“. Dabei konnte es gelegentlich derart ‚heiß hergehen‘, dass wie in Lübeck ein Büttel

165 teilnehmen musste. Vielfach kamen die Schwarzarbeiter vom Lande und fanden entweder beim Arbeitgeber oder in billigen Herbergen Unterschlupf. Auch wandernde oder stellungslose Gesellen dürften sich gegen Entgelt, das auch in freier Kost und Logie bestehen konnte, den Lebensunterhalt oder die Weiterreise finanziert haben. Seelsorge Ursprünglich lag die S. bei den Bischöfen, jede Stadt („Civitas“) des Römischen Reiches war ein Bistum. In größeren Städten entstanden schon im 3. Jh. neben der Bischofskirche von dieser abhängige Titularkirchen, an denen Priester („Presbyter“) dienten. Erst gegen Ende des 4. Jh. gründete Bf. Martin von Tours († 397) erste Seelsorgestationen auf dem Lande. Die Missionierung der Gebiete jenseits des Limes machte S. und Sakramentenspende in den germanischen ,Urwaldsiedlungen‘ nötig. Die wenigen Missionsbistümer, die bis ins 10. Jh. gegründet wurden, reichten bei weitem nicht aus, die Christianisierung wirksam voranzutreiben und den Glauben zu festigen. Deshalb wurden Landgemeinden mit Taufkirchen gegründet, in denen auch die Messfeier abgehalten wurde, deren sonntäglicher Besuch im 7. Jh. zur Pflicht wurde. Die ersten Landkirchen muss man sich als größere Hütten mit primitiver sakraler Ausstattung vorstellen. Errichtet wurden sie häufig als Genossenschaftskirchen in

Seelsorge der Mitte eines aus mehreren Siedlungen bestehenden Verbandes, oft just an dem Ort, an dem sich die heidnischen Kultstätten mit der Versammlungs- und Gerichtsstätte befunden hatten. Aus diesen Taufkirchen entwickelten sich die Urpfarreien mit Tauf-, Begräbnis- und Zehntrecht. Daneben entstanden je nach Bedarf von diesen abhängige Filialkirchen, die „Presbyterien“, an deren Spitze ein „Archipresbyter“ stand, und Eigenkirchen, die Grundherren aus Frömmigkeit und Gewinnstreben gestiftet hatten. Auch sie erlangten mit steigendem Seelsorgebedarf Pfarrrechte, wenngleich das Taufrecht vorerst bei den Urpfarreien blieb. Das Aachener Kirchenkapitular von 818/819 sicherte auch den Eigenkirchen das Zehntrecht zu, wodurch eine Abgrenzung der Zehntsprengel notwendig wurde. Es entstanden auf diese Weise Pfarrsprengel, die bisweilen nur ein einziges Dorf umfassten. Im 12. Jh. war die Pfarrorganisation im wesentlichen abgeschlossen. Der Zehnt, der von den Erträgen erhoben wurde, sollte zu je einem Viertel dem Bf., dem Ortsklerus, dem Kirchengebäude und den Armen zukommen. Trotz dieser Regelung lebten die meisten Landpfarrer vor allem von eigener Landwirtschaft, hatten ihre Pfarrhufe mit Haus und Hof und waren auf diese Weise sehr eng mit ihren Pfarrkindern verbunden. Handelte es sich um eine Eigenkirche, war der Geistliche oftmals noch als Knecht des Eigenkirchenherrn

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Seelsorge tätig, der die Gesamteinkünfte verwaltete – von klerikaler Bildung keine Spur. Karl d. Gr. bestimmte in mehreren Kapitularien, dass Kleriker wenigstens lesen und schreiben sowie die wichtigsten Gebete kennen sollten, was keineswegs selbstverständlich war. Erst Ks. Ludwig d. Fromme († 840), legte fest, dass der Eigenkirchenherr dem Bf. den Anwärter für das geistliche Amt zur Weihe präsentieren und dem Priester eine lastenfreie Hufe (= Bauernhof, von dessen Ertrag man leben konnte) zur Verfügung stellen müsse, damit er hinsichtlich des Lebensunterhalts von seinem Herrn unabhängig sei. Die Klagen verstummten nicht, dass die Eigenkirchenherren die Geistlichen ihrer Kirche nach Belieben ein- und absetzten und ihnen niedrige Arbeiten übertrugen. So eine Eigenkirche war eine äußerst lukrative Investition, denn der Eigenkirchenherr erhielt die überschüssigen Einkünfte, konnte die Kirche nach Belieben verkaufen, vererben oder aufteilen. Priester unterstanden in geistlicher Hinsicht dem Bf. Am Gründonnerstag hatten sie das bei der Taufe verwendete Chrisma bei ihm zu holen und mussten sich bei dieser Gelegenheit einer Überprüfung ihrer Lebens- und Amtsführung stellen. Eigentlich hätten sie enthaltsam leben sollen, doch waren die meisten verheiratet, wobei ihnen ihre Bischöfe durchaus als Vorbild dienen konnten, die, glaubt man Berichten des hl. Bonifatius († 754) an den Papst, oft-

166 mals polygam lebten. Erst die Reformbewegung des 11. und 12. Jh.s, deren berühmtester Vertreter, Papst Gregor VII. († 1085), jeglichen Einfluss weltlicher Mächte auf kirchliche Angelegenheiten energisch bekämpfte, brachte Veränderungen. Der Einfluss der Laien auf die S. wurde erheblich eingeschränkt. Eigenkirchen gingen vielfach in den Besitz von Klöstern über, das Bildungsniveau der Seelsorger unterlag strengerer Prüfung und der Zölibat wurde durchgesetzt. Insgesamt waren allerdings Kirche und weltliche Herrschaft schon derart miteinander verwoben, dass eine Verselbstständigung kaum mehr möglich war. Bezeichnend dafür ist, dass 1111 ein Projekt des Papstes Paschalis II. († 1118) am tumultuarischen Widerstand der Reichsbischöfe scheiterte. Dieses sah vor, für die Freiheit vom Reichsdienst alle Rechte und Besitzungen zurückzuerstatten, welche die Herrscher den Kirchen verliehen hatten. Die Bischöfe wollten auf ihre weltlichen Rechte und den ehrenvollen Reichsdienst keinesfalls verzichten, waren sie doch Abkömmlinge hoher Adelsgeschlechter, die von den Gütern ihrer Kirche standesgemäß lebten und freudig am Jagdvergnügen und an Kriegszügen teilnahmen, auch wenn das kirchenrechtlich verboten war. Auch Pfarreien konnten wegen ihrer Zehnteinnahmen und den eigentlich verbotenen Stolgebühren, die man Gläubigen für geistliche Dienste abverlangte, lukrativ werden. Zehnteinnahmen wur-

167 den als Pfründe häufig an Geistliche vergeben, die ihr Amt von einem Vikar verwalten ließen, der seinen Lebensunterhalt hauptsächlich aus den Stolgebühren bestritt. In der Hand eines vornehmen Geistlichen vereinten sich oft mehrere Pfründe, ohne dass dieser je das entsprechende Amt versehen hätte. Im Spätmittelalter zog das Papsttum die Pfründenvergabe an sich und verdiente gut daran, denn, Simonie (= Kauf oder Verkauf eines kirchlichen Amtes) hin oder her, ganz ohne Handsalben kam man nicht an eine der heißbegehrten Pfründen. Aus finanziellen Gründen kam es vielerorts zum Streit zwischen Pfarreien und Klöstern, insofern die Klöster den Pfarrzwang unterminierten, nach welchem der Pfarrer das ausschließliche Recht hatte, seine Pfarrkinder seelsorgerisch zu betreuen und diese wiederum verpflichtet waren, sich in dieser Hinsicht an ihren Pfarrer zu wenden. Davon waren allerdings Klöster ausgenommen, die in der Seelsorge vom anfänglichen Helfer zur Konkurrenz wurden. Seife Die älteste Anleitung zum Seifesieden hat sich auf 4500 Jahre alten Steintafeln der Sumerer erhalten. Man verkochte Holzasche mit Pflanzenölen. Den Ägyptern, Griechen und Römern war die Kunst, aus Holzasche und Öl eine seifen-ähnliche, schmierige Substanz mit erstaunlich reinigender Wirkung herzustellen, ebenfalls bekannt, doch

Seife benutzte man den Luxusartikel hauptsächlich als Kosmetik und Heilmittel für Hautleiden. Die Germanen und Gallier entdeckten aus Ziegen-, Rinder- oder Hirschtalg hergestellte S. als Bleichmittel für ihre Haare oder frisierten sich mit einer Art Seifen-Pomade. Die Römer übernahmen das als Modegag und importierten eigens S. aus Gallien. Als Mittel zur Körperreinigung verwendeten sie die S. trotz ihrer hoch entwickelten Badekultur erst seit dem 2. Jh. Wegweisend sollte die Seifensiederkunst der Araber werden, die als erste gebrannten Kalk einsetzten und damit feste S.n herstellten. Nach der Eroberung von Tyrus auf dem ersten Kreuzzug (1124) lernten die Venezianer die duftenden Seifenkugeln von Damaskus kennen, bauten nach 1200 eine eigene Seifenproduktion auf und bekamen bald europäische Konkurrenz. Führend in der Seifenproduktion waren Spanien, Frankreich sowie Italien. Seit dem 14. Jh.wurden die Seifentafeln je nach ihrem Duftstoff mit verschiedenen Warenzeichen gekennzeichnet. In Deutschland lernte man derartige S. erst gegen Ende des 13. Jh.s kennen. Produktionszentren wurden Augsburg, Wien und Prag. In der zweiten Hälfte des 15. Jh.s wurden parfümierte S.n speziell zur Haarwäsche und zum Rasieren entwickelt. Wohlriechendes Haar und Gesicht wurden ebenso zu einem Statussymbol der Vornehmen wie saubere Wäsche, die ebenfalls mit S. gewaschen wurde.

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Sexualität und Moral Das MA hat im Hinblick auf Sexualität ein Janusgesicht. Unvereinbar gegenüber stehen sich die Schriften der Kirchenlehrer, die jegliche Wollust verdammen und völlige Enthaltsamkeit zum Ideal erheben auf der einen Seite und die lustvollen Lieder der Minnesänger und vor allem Vaganten, in denen sexuelle Ausschweifungen als Ziel der Wünsche besungen werden, auf der anderen. Diese Gegensätze manifestierten sich nicht nur in der Theorie, sondern finden sich auch im Alltag wieder. Blickwinkel der Kirchenlehrer Der Begriff Sexualität in seiner umfassenden Komplexität war dem MA unbekannt, die Theologen beschäftigten sich in dieser Hinsicht einzig mit den Begierden und ihrer Zügelung. Zum Ideal für den Christenmenschen erhoben sie die Jungfräulichkeit, verstanden als vollständige Vermeidung sexueller Handlungen. Fleischeslust galt als Folge des Verlustes der paradiesischen Unschuld und des biblischen Zeugungsgebotes: „Seid fruchtbar und vermehret euch!“ Allein unter diesem Aspekt betrachteten die Theologen den Geschlechtsverkehr, er musste der Zeugung dienen, jegliche andere sexuelle Betätigung war wider die Natur. Verboten war natürlich auch außerehelicher Verkehr, ja der eheliche Geschlechtsverkehr galt geradezu als Hilfsmittel gegen die Triebhaftigkeit und zählte deshalb zu den ehelichen Pflichten, denn wer seine Begierden innerhalb der Ehe auslebt, hat Ehebruch nicht nötig, meinten jedenfalls die Theologen. Deshalb wurde Impotenz als trennendes Ehehindernis angesehen, während Zeugungs- und Gebärunfähigkeit oft als Ausdruck gottgewollten Schicksals angesehen wurde, wenn nicht eine Hexe als Schuldige ausgemacht werden konnte. Hatte man endlich den Bund der Ehe geschlossen, war das längst noch kein ‚Freibrief‘ für ein erfülltes Sexualleben, denn die Kirche hatte den geheiligten Stand der Ehe mit einem dichten Netz von Ausschlussfristen für Geschlechtsverkehr versehen, das so recht von der prinzipiellen Sündhaftigkeit der fleischlichen Begierde zeugt. Enthaltsamkeit war geboten während der Schwangerschaft und Menstruation, in Fastenzeiten, an Sonn-, Feier- und bestimmten Heiligentagen sowie am Vorabend des Eucharistieempfangs. Insgesamt blieben weniger als die Hälfte der Tage eines Jahres für den ehelichen Beischlaf. Die Übertretung dieser Normen wurde aber ebenso wie das übermäßige Verlangen des Mannes, unzüchtige Fantasie und unkeusche Berührungen als

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Sexualität und Moral lässliche Sünde eingestuft. Gratian hat in seinem kirchenrechtlichen Lehrbuch, dem „Decretum Gratiani“, um 1140 die verschiedenen Formen von Unzucht in ein nach Sündhaftigkeit abgestuftes Schema eingeteilt: Der einfachen Unzucht, z. B. einem Bordellbesuch, folgte der Ehebruch, diesem die Blutschande und die Sünde wider die Natur, unter der er Selbstbefriedigung, Zoophilie (= Liebe zu und mit Tieren), Homosexualität und ungehörigen Verkehr in der Ehe, z. B. Anal- oder Oralverkehr verstand. Aber selbst ein Ehemann, der „allzu sehr in Liebe zu seiner Ehefrau entbrennt, ist ein Ehebrecher“, denn er zieht die Ehefrau dadurch auf den Stand einer Dirne herab. Wie detailliert die Strafbestimmungen waren, zeigen einschlägige Kapitel des Bußbuches des Abtes Regino von Prüm aus dem beginnenden 10. Jh.: C. 248: „Wenn ein Heranwachsender mit seiner Schwester verkehrt, soll er fünf Jahre lang büßen, falls mit seiner Mutter, sieben Jahre, und solange er lebt, sei er enthaltsam.“ C. 250: „Wer mit einer Frau während ihrer Periode verkehrt, soll 40 Tage büßen. Wer mit seiner Frau rücklings verkehrt, soll 40 Tage büßen. Wenn er Analverkehr hat, büße er 3 Jahre, weil das das Vergehen der Sodomie ist. Männer, die zwischen den Oberschenkeln Unzucht treiben, sollen ein Jahr büßen. Wenn anal, sollen sie 3 Jahre büßen. Falls es noch Knaben sind, zwei Jahre.“ C. 251: „Eine Frau, die intensiv mit sich selbst oder einer anderen Unzucht treibt, soll drei Jahre büßen. Wenn eine Nonne mit einer anderen Nonne mit Hilfe irgendeines Gegenstandes Unzucht treibt, soll sie 7 Jahr büßen.“ C. 253: „Ein Kleriker, der seinen Samen vergießt, ohne sich zu berühren, soll 7 Tage büßen; berührt er sich mit der Hand, so büße er 20 Tage; wenn er ein Diakon ist, 30 Tage, ist er Priester 4 Wochen. Wenn ein Priester sich in Gedanken vorstellt, seinen Samen zu vergießen, so büße er 7 Tage, ebenso ein Mönch. Wer seinen Samen vorsätzlich in der Kirche vergießt, büße, wenn er Kleriker ist, 14 Tage, ist er Mönch oder Diakon, 30 Tage, ist er Priester, 40, ist er Bischof, 50 Tage.“ Man sieht, ein Teil, vermutlich der größere der mittelalterlichen Geistlichkeit, war nicht vor Anfechtungen gefeit. Der hl. Bonifatius († 754) meldete entsetzt dem Papst, fränkische Kleriker und Bischöfe hätten gleich mehrere Frauen und würden sich nicht scheuen, unmittelbar vor der Messe Geschlechtsverkehr zu haben. Papst Johannes XII. († 964) soll von einem gehörnten Ehemann erschlagen worden sein, und Enea Silvio Piccolomini,

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Sexualität und Moral der spätere Papst Pius II. († 1464), schwärmte in einer Satire davon, wie gut es doch die Kleriker hätten, weil sie nicht an eine Frau gebunden seien und täglich neue Hochzeiten feiern dürften. Dennoch blieb die absolute Enthaltsamkeit das Ideal und wurde zumindest von einigen eingehalten. Medizinische Aspekte Die Heilkunde beschäftigte sich, obwohl bis ins Hochmittelalter weitgehend von Mönchen betrieben, in erstaunlich offener Weise mit den Geschlechtsorganen, deren Funktionen und den Geheimnissen der Empfängnis. Geschlechtsverkehr in maßvollem Umfang galt den gelehrten Medizinern als gesundheitsfördernd und vor allem hilfreich gegen Traurigkeit. Ungleich problematischer und heftig diskutiert war dagegen die Frage der Bedeutung des „weiblichen Samens“ für die Empfängnis: Die vorherrschende Lehrmeinung bei den universitären Medizinern vom 13. bis 15. Jh. hatte der arabische Arzt und Philosoph Avicenna (um 980 bis 1037) entwickelt. Danach stieß die Frau einen Samen aus, der zwar nicht dem des Mannes gleichkam, wie noch im 12. Jh. gelehrt wurde, aber doch einen Beitrag zur Empfängnis leistete. Im 13. Jh. wurden diese Theorien zeitweise durch die zuvor der Wissenschaft unzugängliche Schrift des Aristoteles († 322 v. Chr.) über die Zeugung der Lebewesen massiv erschüttert, denn der hatte behauptet, allein der Same des Mannes sei bestimmend für die Form des Embryos, während die Frau nur mittels des Menstruationsblutes die Materie beisteuere. Nachdem also im allgemeinen der durch Wollust erzeugte Samenausstoß bei Mann und Frau als unabdingbar zur Zeugung angesehen wurde, stand natürlich die Erzeugung der Wollust als ‚Forschungsproblem‘ im Raum. Einige medizinische Handbücher rieten zum erotischen Vorspiel und zur Reizung der Klitoris, doch als sicher galt allen, dass vor allem die Freisetzung männlichen Samens in der Vagina das Lustgefühlgefühl der Frau steigere. Avicenna hatte gelehrt: „Frauen erfahren Lust durch den Samenfluss in ihnen, wenn der Samen des Mannes in den Muttermund spritzt und in die Gebärmutter fließt.“ Zur Erklärung der Entsehung sexuellen Verlangens hatte die Medizin ebenfalls einleuchtende und überzeugende Erklärungen parat: Es werde durch den Blick erzeugt, der das begehrte Objekt als Bild festhielt. Dieses wanderte dann in den Sehnerv und über diesen in das Vorstellungsvermögen, wo die Seelenkraft den drei Elementen Bahn brach, welche die Durchführung der sexuellen Handlung ermöglichten: der Hitze, der Feuchtigkeit und dem

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Sexualität und Moral Hauch („spiritus“), der das Sperma fließen ließ. Das in einer Hinterkammer des Gehirns angesiedelte Gedächtnis spielte dabei ebenfalls eine entscheidende Rolle, da es Erinnerungen an vergangene Lust wachhielt, die zu neuen Freuden trieben. Diese enge Verbindung zwischen Vorstellung und Durchführung des Geschlechtsverkehrs erklärte zudem einleuchtend, weshalb ein im Ehebruch gezeugtes Kind unter Umständen dem legitimen Ehemann der Frau und nicht dem leiblichen Vater ähneln konnte: Im Augenblick der sexuellen Vereinigung konnte es nämlich vorkommen, dass die Frau, erschrocken über ihr schändliches Tun, sich das Bild des Ehemanns ins Gedächtnis rief und diese Vorstellung die formgebende Kraft des männlichen Samens verwandelte. Angesichts der Bedeutung von Hitze und Feuchtigkeit gaben Mediziner einem jungen Mann von „heißer und feuchter Leibesbeschaffenheit“ (Heilkunde und Medizin) keinerlei Chancen, enthaltsam leben zu können. Bei Frauen hielten sie sexuelle Abstinenz mitunter sogar für lebensgefährlich, weil der Rückstau des weiblichen Samens als Ursache der hysterischen Krankheit galt. Heilung versprachen sie sich von der zärtlichen Berührung der erogenen Zonen. Dass Abstinenz auch für Männer lebensgefährlich werden konnte, zeigt das Beispiel Ks. Heinrichs VII., dem seine Keuschheit den Tod (1313) brachte, denn sein Same war im Leib verfault – Basis der Diagnose, über die ein Pisaner Chronist knapp 50 Jahre später berichtete, waren dunkelgrüne Ausscheidungen gewesen. Blick ins Ehebett Über die Häufigkeit des ehelichen Verkehrs lässt sich wenig sagen, denn die Missachtung all der oben erwähnten zeitlichen Einschränkungen brachte ja nur geringfügige Sündenlast, vergleichbar vielleicht der Verweigerung des dem Ehepartner geschuldeten Beischlafs. Die äußeren Umstände der sexuellen Begegnung waren zumindest bei den unteren Volksschichten bar jeglicher Romantik. Man teilte das Bett (so vorhanden) mit den Kindern, vielleicht auch dem Gesinde und Gästen, die Begegnung fand im Dunkeln und zumindest in den kalten Jahreszeiten auch unter der Zudecke statt, da es an Lichtquellen und Ofenwärme mangelte. Verwechslungen, über die so manches Vagantenlied berichtet, mögen hin und wieder gewollt oder ungewollt vorgekommen sein. Die literarisch berühmteste kann man in Tristan und Isolde nachlesen. Isoldes Zofe Brangain nimmt in der Hochzeitsnacht die Stelle ihrer Herrin ein, damit Kg. Marke nicht bemerkt, dass sie keine Jung-

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Sexualität und Moral frau mehr ist. In Adelshäusern schlief die Dienerschaft ebenfalls im Schlafzimmer der Herrschaft doch da konnte ein Himmelbett mit seinen Vorhängen ein wenig Intimität im Dunkel gestatten. Zu Bett ging man nackt, auch wenn das in Bußbüchern missbilligt wurde, denn eigentlich hätten sich Mann und Frau gleich Adam und Eva nach dem Sündenfall ihrer Nacktheit schämen sollen. In welchen Stellungen sich die Ehepaare verlustierten, kann man am besten kirchlichen Verboten entnehmen. Als kirchlich akzeptierte Norm galt die obere Stellung des Mannes, andere Positionen galten als unnatürlich oder tierisch. In einem Schwank beobachtet ein Mann seine Frau heimlich beim Ehebruch und sieht dabei ihr Hinterteil obwohl der Priester auf ihr liegt, woraus man schließen kann, dass die Rückenlage der Frau in der ‚Normposition‘ nicht unbedingt nötig war, auch wenn sie der sündhaften Begattung „nach Art der Hunde“ nicht unähnlich war. Für diese hatte Bf. Burchard von Worms (965–1025) in seinem Bußbuch zehn Tage Fasten vorgesehen, genauso viel, wie wenn der Mann seine Frau während der Menstruation oder nach Schwangerschaftsbeginn beglückte. Doppelt so hoch war die Strafe für den ehelichen Verkehr, wenn sich der Fötus schon bewegte, denn man befürchtete dessen Schädigung. Ein wirksames Mittel dagegen wusste eine Pariser Hure namens Margot, wie François Villon in der Ballade „Villon et de la grosse Margot“ berichtet: „Und beim Erwachen, wenn der Leib ihr brennt, Steigt sie auf mich, damit sie ihre Frucht nicht schädigt.“ War wie in diesem Fall verbotenerweise die Frau oben, konnte das ebenso gut damit zusammenhängen, dass sie eine Empfängnis vermeiden wollte, denn in dieser Position galt sie als weniger wahrscheinlich. Darüber, welche Praktiken sonst noch angewandt wurden, um in den Fleischesgenuss ohne Schwangerschaftsrisiko zu gelangen, geben wiederum kirchliche Verbote Auskunft, wobei strittig war, ob Empfängnisverhütung nicht überhaupt Mord gleichzusetzen war, denn nach Aristoteles war im männlichen Samen der gesamte Mensch im potenziellen Zustand erhalten. Als widernatürlich verboten waren oraler und analer Verkehr, Coitus interruptus und gegenseitige Masturbation. Aus griechischen und arabischen Traktaten waren westlichen Ärzten empfängnisverhütende Mittel bekannt. Sie empfahlen die Anwendung von Tampons, Pessaren und Arzneien, wenn eine Schwangerschaft oder Entbindung die Frau in Lebensgefahr brachte – das war allerdings bei keiner Schwangerschaft auszuschließen (Geburtshilfe). Eine

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Sexualität und Moral Abgrenzung zwischen lusthemmenden, abtreibenden oder empfängnisverhütenden Mitteln wurde nicht vorgenommen, was an der nicht exakt einschätzbaren Wirkung der Mittel gelegen haben könnte. Gar manche Frau zog deshalb ein Amulett zur Empfängnisverhütung vor. Außereheliche Lust Trotz der kirchlichen Verbote florierte der außereheliche Sex allerorten, in Badestuben, Bordellen, auf Burgen und in Bürgerhäusern in besonders ausgelassener Weise. Minnesänger besangen nicht nur ihre angebeteten Frauen, sondern fanden oft genug Erfüllung ihrer Wünsche selbst bei Verheirateten, auch wenn das mit gewissen Risiken verbunden war. So hatte Guillaume de Cabestan der Frau des mächtigen Raimon de Castel Rossilhon den Hof gemacht, worauf der eifersüchtige Gatte seiner Frau das Herz des Troubadours als Mahlzeit vorgesetzt haben soll. Mag sein, dass Guillaumes Biograf ein Sagenmotiv verarbeitet hat, doch wird so mancher Liebhaber Opfer seiner Leidenschaft geworden sein. Den Abaelard, der Heloise geschwängert hatte, ließ deren Onkel kastrieren, der das geistreiche Mädchen dem berühmten Theologen als Schülerin anvertraut hatte. Gar mancher Edle mag sich deshalb die leichter zugängliche Schönheit einer Magd oder Bauersfrau auserkoren haben, die vielleicht erfreut über ein Geschenkchen und die hohe Ehre war. Die Mutter des jungen Helmbrecht (in Werner der Gartenære, „Meier Helmbrecht“) führte die hohe Art ihres Knaben darauf zurück, dass sie während der Schwangerschaft mit einem Mann vom Hofe Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Während im Adel und vornehmen Bürgertum die Jungfräulichkeit und damit die Ehre der Töchter wegen lukrativer Eheverbindungen ängstlich behütet wurde, war man in den unteren Volksschichten toleranter im Hinblick auf vorehelichen oder außerehelichen Geschlechtsverkehr, wobei ein freudvoll lebendes Weib leicht in den Geruch der Hure kommen konnte, auch wenn sie sich nicht für ihre Liebesdienste bezahlen ließ. Wenig bekannt ist das Phänomen der weiblichen Troubadoure, der „Trobairitz“. In ihren Liedern besingen die Frauen ihre Hoffnung und Freude, zu lieben und geliebt zu werden, ihre Trauer darüber, verlassen oder betrogen worden zu sein. Ihre Lieder kündigen eine neue Rolle der Frau in der Liebe an: Der Geliebte muss all seine Wünsche von der Gnade seiner Geliebten erflehen, die verpflichtet ist, ihm alles zu gewähren, wenn der Geliebte nur den rechten Zeitpunkt abwartet. Die Damen wollen ihren Ge-

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Sexualität und Moral liebten ehren wie einen Freund, nicht wie einen Herrn, sie wollen in der Liebe gleichberechtigt sein. Der Minnesang ist die hohe Form der Liebeslyrik, geschaffen für die Welt des Adels und der Ritter mit ihren Idealen und ihrem hohen Sinn, die sich in gewisser Weise mit der religiösen Mystik berühren. Bertran de Born (1159–1195) besingt seine Verliebtheit: „Denn ich liebe und begehre sie so sehr Dass, wenn ich mit dem Tod bedroht würde Ich Gott nicht so innig bitten würde Mich dort oben in seinem Paradies Zu empfangen Als mich Eine Nacht mit ihr schlafen zu lassen.“ Ebenso inbrünstig und sehnsuchtsvoll ist das auf Gott bezogene Lied der Mystikerin Mechthild von Magdeburg (†1282): „O du gießender Gott in deiner Gabe! O du fließender Gott in deiner Minne! O du brennender Gott in deiner Sehnsucht! O du schmelzender Gott in der Einung mit deinem Lieb! O du ruhender Gott an meinen Brüsten! Ohne dich kann ich nicht mehr sein.“ Ganz anders geartet, ausschweifend, komisch, ja ordinär sind die Vagantenlieder und Schwänke, Spiegel der sexuellen Fantasien des ‚gemeinen Volkes‘, verfasst von fahrenden Studenten oder Klerikern, deren Namen unbekannt geblieben sind. Vermutlich wurden die Schwänke bei Festen, auf Marktplätzen und bei Gastmählern in den Häusern wohlhabender Leute, vielleicht sogar auf Burgen vorgetragen, denn die Herrn Ritter und ihre Frauen mochten sich zwar für etwas Besseres halten, aber Sinn für zotigen Humor und handfesten Sex hatten sie allemal. Gar mancher von ihnen hat für die Vermehrung seines ‚Dienstpersonals‘ durch die Mägde selbst gesorgt und die Schwangere um des häuslichen Friedens willen verheiratet. Die Schwänke greifen mitten hinein ins pralle Leben. Fernab jeder prüden Zensur durch jenseitsorientierte Theologen erzählen sie von lüsternen Priestern, nymphomanen Witwen, gehörnten Ehemännern und handfester Erotik. Konnte denn das verwerflich sein, woran Priester und sogar Mönche höchstes Wohlgefallen fanden, worin sie gar manchem Laien einiges an Erfahrung voraus hatten? Man gewinnt aus dieser Art von Literatur, den

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Sieben Freie Künste Eindruck, die kirchlichen Verbote hätten die sexuellen Fantasien der Menschen eher angeregt als beeinträchtigt. Keine Rede von der erlaubten Einheitsstellung, man scheute die Sünde wider die Natur nicht, wenn sie nur Sinneslust bereitete: „Beim Herzen Gottes. Ich komme vom Vögeln Und weißt du wen? Die Tochter des Wirts Ich habe sie von allen Seiten genossen Ich habe ihr Fass gut angestochen.“ Zeichnen nicht diese Dichter, Vaganten ohne Moral, ein allzu kühnes Bild der sexuellen Freiheit? In jeder Stadt fanden sich Bordelle und freie Prostitution, Badehäuser genossen spätestens seit dem 15. Jh. einen sehr zweifelhaften Ruf, was die Wahrung der Moral anging. Man ging allein oder mit Ehefrau hinein und fand sich umgeben von vielen nackten Menschen, konnte dort essen und trinken und sich vergnügen. Anstelle des heute üblichen Polterabends luden Paare ihre Hochzeitsgäste ins Badehaus ein, wo in fröhlicher Runde zumindest gegessen und getrunken wurde. Es bestanden also genügend Möglichkeiten, seine Fantasien daheim und vor allem außer Hauses hemmungslos auszuleben. Erst die rasche Verbreitung der Syphilis und die Verschärfung der Moralvorschriften im Zeitalter der Glaubenskämpfe (16. Jh.) haben dem bunten Treiben in Stadt und Land ein Ende gesetzt.

Sieben Freie Künste Ihr Name rührt daher, dass das Studium der dazugehörigen Fächer in der Antike nur den Freien vorbehalten war. Im MA bildeten sie den traditionellen Lehrkanon der ‚höheren Schulen‘. Sie setzen sich zusammen aus dem „Trivium“ (Dreiweg), den sprachlichen Disziplinen Grammatik, Dialektik, Rhetorik und dem „Quadrivium“ (Vierweg), den mathematischen Fächern Arithmetik, Astronomie, Geometrie und Musik. Grundlegendes und zu Beginn gelehrtes Fach war die Grammatik, mit deren Er-

lernung die Schüler an den meisten Schulen derart beschäftigt waren, dass für die anderen Komponenten kaum mehr Zeit blieb. Dialektik, die im späteren MA oft als Logik bezeichnet wurde, war die Lehre von den Ordnungen der sprachlichen Argumentation und Voraussetzung zur Erlernung der Rhetorik, der Redekunst. Die Fächer des „Quadriviums“ waren als Teile der Mathematik rein theoretische Disziplinen. Sie behandelten die Harmonien und Proportionen der Zahlenverhältnisse, Raumgrößen, des Laufs der Gestirne

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Siegel und der Klänge, in welchen sich die göttliche Vollkommenheit ausdrückte. Das „Quadrivium“ war anders als das „Trivium“ nicht auf die unmittelbare Anwendung bezogen sondern ausschließliches Bildungswissen. Ein Lehrer der theoretischen Musik z. B. konnte zwar die Klangwelten der himmlischen Sphärenmusik erklären und nach deren Regeln komponieren, doch fehlte ihm oft die Verbindung zur praktischen Musik, sei sie nun geistlich oder weltlich. Ihnen gegenüber standen die „artes mechanicae“, die praktischen Künste, das Handwerk, die als geringere Künste angesehen, deshalb auch „artes minores“ genannt wurden. Sie erfuhren in der Zeit des Humanismus eine deutliche Aufwertung. Siegel Im Frühmittelalter wurden die meisten Rechtsgeschäfte vor Zeugen durch einen rechtssymbolischen Akt, z. B. das Überreichen ein Stabes oder einer Erdscholle, vollzogen. Urkunden, die in der römischen Antike gang und gäbe waren, setzten sich erst im Laufe der Jh.e durch, wobei bis zum ausgehenden 9. Jh. fast nur Königsurkunden überliefert sind. Von diesen nahm seit dem 11. Jh. das Urkundenwesen und der „Siegeszug“ des S.s als Beglaubigungsmittel seinen Ausgang. Ein S. war ein mit einem Siegelstempel („Typar“) in Wachs oder Metall geprägtes persönliches Zeichen der ein Schriftstück beglaubigen-

176 den Person. Die in Metall geprägten S. bezeichnet man als Bullen, die normalerweise aus Blei, in besonders feierlichen Urkunden aus Gold bestanden. Ks. Karls IV. ‚Grundgesetz‘ des Römischen Reiches von 1356 wird z. B. nach diesem feierlichen S. „Goldene Bulle“ benannt. Der Siegelkörper wurde am Ende des Urkundentextes entweder auf das Schriftstück aufgedrückt oder mit Fäden angehängt und war in diesem Fall beidseitig geprägt, was bei Bullen und seit dem 13. Jh. zunehmend auch bei Wachssiegeln stets der Fall war. Ein S. symbolisierte die Verfügungsgewalt des Urkundenden und bestätigte den Inhalt des Dokuments. Die Identität des Siegelinhabers wurde auf dem S. durch eine Kombination von Bild und Text kenntlich gemacht. Die ikonografische Gestaltung des Siegelbildes ordnete diesen in seiner gesellschaftlichen Rolle als Träger eines Amtes oder als Mitglied einer Familie ein. Erst die Umschrift machte die individuelle Person namentlich benannt. Längst nicht jeder durfte ein S. führen. Nichtadelige bedurften im Früh- und Hochmittelalter eines so genannten „sigillum authenticum“, eines „Mächtigen Siegels“ , um eigene Urkunden besiegeln zu können. Solche S. hatten nur weltliche Adelige oder kirchliche Institutionen und Würdenträger. Hier hat es vor allem durch den Aufstieg des Bürgertums einen Umschwung gegeben, denn in Handel und Handwerk gehörten Urkunden zum Geschäftsalltag. Die sich

177 verbessernde Rechtsstellung der Frauen ist bezeugt durch das Aufkommen von Frauensiegeln im 13. Jh. Neben den S.n gab es noch andere Möglichkeiten, Urkunden zu beglaubigen. In Norddeutschland und Flandern war das Chirograph weit verbreitet, bei dem zwei untereinander geschriebene identische Urkunden auf unregelmäßige Weise oder mitten durch ein Wort zerschnitten wurden und sowohl Aussteller als auch Empfänger ein Teil ausgehändigt wurde. Sicherer und einfacher war die Aufbewahrung einer Urkunde an öffentlicher Stelle, die allerdings eine geordnete Verwaltung voraussetzte, wie sie sich in Deutschland erst im ausgehenden MA herausbildete. In dieser Zeit ließ man Urkunden auch schon von öffentlich beglaubigten Notaren in so genannten Notariatsinstrumenten ausfertigen und hatte damit die Beglaubigungsart gefunden, die noch heute in Zusammenhang mit dem S. üblich ist. Spielleute S. waren die wohl facettenreichsten Personen des MA, einerseits als Fahrendes Volk eine gesellschaftlich verachtete Randgruppe, andererseits bei Festlichkeiten jeglicher Art gesucht und bejubelt. Sie reisten von Stadt zu Stadt und Burg zu Burg, um dort ihre Kunst publikumswirksam und auf die Zuschauer abgestimmt vorzuführen. Als Zauberer, Jongleure, Artisten und Tierdresseure waren sie Vorläufer des Zirkus, ihre mu-

Spielleute sikalischen Einlagen glichen Konzerten und die mehr oder weniger vorbereiteten aufgeführten Stehgreifstücke sollten in die Theaterkunst münden. Die ganze Breite des Berufsspektrums höfischer S. wird in dem 1250 verfassten höfischen Roman „Flamenca“ (um 1250) anlässlich der Schilderung einer prächtigen Hochzeit zu Bourbon ersichtlich. In diesem wird berichtet, wie sich nach dem Essen die S. erhoben, von denen die einen mit Gesang, Harfe, Drehleier, Flöte, Pfeife und verschiedenen anderen Instrumenten das Ohr der Gäste erfreuten, während andere Marionetten vorführten und wieder andere ihre Kunst im Messerwerfen und allerlei Akrobatik zeigten. Gute S., die bei Hofe Erfolg haben wollten, mussten profunde Kenntnisse der klassischen, der germanischen und mittelalterlichen Sagen besitzen, mehrere Instrumente beherrschen und vor allem Improvisationstalent haben, um das Programm der Lust und Laune der erlesenen Zuhörerschaft anzupassen. Dieses hohe Bildungsniveau hatte so mancher Spielmann an geistlichen Schulen, vielleicht sogar an Universitäten erlangt, der weitaus größere Teil wurde in dieses Metier geboren und wuchs in diesen Beruf hinein. Nur selten gelang es S. trotz ihrer bewunderten Fähigkeiten sesshaft und in die Gesellschaft integriert zu werden. Nach dem Sachsenspiegel aus der ersten Hälfte des 13. Jh.s waren S. rechtlos. Gesetze und Verordnungen

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Stadt verwehrten ihnen bis Mitte des 18. Jh.s die Aufnahme in Handwerk und Gewerbe sowie in jegliche Gemeinschaft in Stadt und Land. Stadt Auf dem Gebiet des heutigen Deutschland hatten sich westlich und südlich des Limes römische Städte und Kastelle bzw. Befestigungsanlagen erhalten, deren Bevölkerung wegen der fränkischen Landnahme (um 500) zu einem großen Teil geflohen war. Diese verkamen zunächst, weil sie nicht den Lebensgewohnheiten der Germanen entsprachen. Ein großer Teil von ihnen blieb aber trotzdem besiedelt und wirkte beispielgebend für die weitere Entwicklung, denn ihre Funktion als Herrschafts-, Kultur- und Wirtschaftszentrum wurde von den Großen des Reiches bald erkannt. Die Stadtentwicklung ist die einschneidendste Veränderung im gesamten MA und der Prozess der Verstädterung hat das Bild Deutschlands bis heute am nachhaltigsten geprägt. Gegenden, in denen bis Ende des 13. Jh.s keine größeren Städte existierten, sind in der Regel noch heute stadtarme Gebiete. Im 10. Jh. erfuhr die Stadtentwicklung als Folge eines enormen Aufschwungs der Wirtschaft einen mächtigen Schub, es setzte eine regelrechte Gründungswelle ein. In ottonischer und frühsalischer Zeit (10./11. Jh.) wurden über 100 Märkte gegründet, welche die Kg.e mit dem Marktfrieden

178 privilegierten. Kaufleute, die diese Märkte aufsuchten, waren zumeist in Gilden organisiert, wählten einen Marktort als Heimatstandort, waren aber einen Großteil des Jahres auf Geschäftsreise. An welchen Markt sie auch kamen, lebten sie nach dem Recht ihrer Gilde, das mit der Zeit zum Recht der Marktorte wurde und auf andere Orte übertragen werden konnte – Otto III. z. B. verlieh den Kaufleuten von Gandersheim das Recht der Dortmunder. Die wirtschaftliche Komponente bei der Ausbildung des Markt- bzw. Stadtrechts ist unübersehbar. Alle Gründungen vollzogen sich im rechtlichen Rahmen der Grundherrschaft und sei es der des Kg.s selbst. Die Dienstmannen des Grundherrn wurden zu Marktrichtern, Marktvögten, Zolleinnehmern, Münzern, Mühlherren etc. Mit der Zeit beteiligten sie sich an Wirtschaftsunternehmen der Kaufleute und Handwerker, traten in ihre Bruderschaften und damit auch in ihr Rechtsleben ein und verschmolzen mit ihnen zur führenden Oberschicht. Während des Investiturstreits (11./12. Jh.) und den gleichzeitigen und darauf folgenden Auseinandersetzungen zwischen Herrschern und Großen des Reiches erlangten viele bürgerliche Gemeinwesen Freiheiten, sei es dass sie der jeweilige Herrscher oder der Stadtherr für ihre Parteinahme privilegierte. Ein Beispiel für ein solches Privileg ist das des Bf.s von Halberstadt von 1088 für die Bürger

179 seines Ortes. Er privilegierte sie mit den längst schon unverbrieft geübten Rechten der Überprüfung von Qualität und Maß bei Kauf und Verkauf von Fleischwaren, dem Recht zur Gemeindeversammlung, der Sorge für gleiches Maß und Gewicht, der Schlichtung von Streitigkeiten und Ahndung unrechtmäßiger Geschäfte. In solchen Privilegien lag nicht selten der Kern eines Stadtrechts, das von der Bürgergemeinde auf der Basis gilderechtlicher Bestimmungen entwickelt worden war. Die Bürgergemeinschaft erhielt früher oder später das Recht, Satzungen zu erlassen und schuf sich ein bisweilen umfangreiches Gewohnheitsrecht, das Probleme praktischer Natur regelte. Satzungen waren durch die Autorität der Bürgervertreter legitimiert. Eine zentrale Steuerung der Stadtentwicklung durch das Reichsoberhaupt gab es nicht, jede S. entwickelte sich in eigener Weise. Vielfach erweiterten die Bürger ihre Rechte gegenüber ihrem Stadtherrn durch offene Rebellion und blutige Kämpfe. Bei der Erlangung der Selbstverwaltung spielten einige Bürgerschaften eine Vorreiterrolle, andere folgten deren Beispiel in kurzem oder längerem Abstand, mancher Bürgerschaft vor allem der Landstädte gelang die Emanzipation vom Stadtherrn gar nicht. Jede S. nahm eine individuelle Entwicklung die von den unterschiedlichsten Faktoren, z. B. politischen Situationen oder der Wirtschaftskraft der Bürger abhängig war.

Stadt Die wichtigsten Institutionen einer S. waren üblicherweise Rat und Bürgermeister – bisweilen gab es neben dem großen Rat weitere Ratsgremien. Der Rat, ein kollegiales Organ gleichberechtigter Mitglieder, wählte aus seiner Mitte den auf Zeit – meist ein Jahr – amtierenden Bürgermeister. Zugang zum Rat hatte allein die städtische Oberschicht. Nachdem die Bürgerschaft von den Stadtherren größere Unabhängigkeit erlangt hatte, amtierten die Ratsherren, die ursprünglich nur auf ein Jahr gewählt waren, oft auf Lebenszeit und ergänzten sich selbst, wenn Lücken entstanden. Rat und Bürgermeister bestellten wiederum die städtischen Dienstleute für Kämmerei, Kanzlei, Bauamt, Feuerschutz etc. Die Bürger waren durch das Bürgerrecht, das man durch Bürgereid und Eintrittsgeld erwarb, von den Landbewohnern und Nichtbürgern, Einwohnern ohne Bürgerrecht, rechtlich abgegrenzt. Wer einen bestimmten Zeitraum, meist Jahr und Tag, als Bürger in einer S. wohnte, verlor eine herrschaftliche Abhängigkeit, die ihm von einem früheren Wohnsitz her anhaftete. Von dieser Rechtssituation her rührt der Ausspruch: „Stadtluft macht frei“. Ein großer Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Verfassungsverhältnissen war die zumindest theoretische Gleichheit aller Bürger vor Gericht. Allerdings gab es in vielen Städten bis in die NZ (meist kirchliche) Immu-

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Stadt nitätsbezirke, deren Bewohner der städtischen Gerichtshoheit entzogen waren und dem Immunitätsherrn, nicht der S., zu Abgaben verpflichtet waren. Allmählich setzte sich jedoch überall die Tendenz der städtischen Integration durch, die allen das gleiche Recht bescherte. Im 12. und 13. Jh. erlebte Deutschland eine Gründungswelle, durch die sich innerhalb von knapp 200 Jahren die Anzahl der Städte verzehnfachte. Fürsten gewährten hierbei ihren Neugründungen die Rechte, welche ältere Städte in langem Kampf ihren Stadtherren abgerungen hatten. Dazu gehörte ein günstigeres Besitzrecht mit niedrigem Zins, verbesserte Erblichkeit bis hin zur völligen Preisgabe des Bodens an Bürger. Seit dem 12. Jh. verkündete nicht mehr nur der Kg. Marktfrieden und vergab Zoll- und Gerichtsrechte, sondern auch bedeutendere Grundherren. Deren Motive für die Gründung von Städten sind kaum in finanziellen Vorteilen zu suchen, denn sie verzichteten auf die meisten Abgaben. Hauptgrund dürfte

180 die Aufwertung ihrer Herrschaft durch den Besitz von Städten gewesen sein, die u. a. als Residenzen eine hervorragende Rolle spielten, denn im Spätmittelalter zog es den Adel von seinen einsamen Burgen in die Städte. Das Aussehen der Städte spiegelte deren wirtschaftliche Vormacht im Reiche. Nicht nur die Kirchen überragten als prächtige Steinbauten die einfachen Häuser der Bürger aus der Unter- und Mittelschicht, sondern auch das Rathaus, die Zunft- und Gildenhäuser und so manches Haus eines reichen Handelsherrn (Zuhause in Burg, Bürgerhaus, Bauernhaus). Erst im 15. Jh. begann man in den ersten Städten mit der Pflasterung der wichtigsten Plätze und Straßen, die den Bürgern nicht nur in ihrer eigentlichen Funktion gute Dienste leisteten, sondern gleichzeitig als Deponie für ihren Abfall, der einfach vor die Tür gekippt wurde. Schmutz und Gestank (Frischluft) ließen keineswegs die Romantik aufkommen, die Orte wie Rothenburg oder Dinkelsbühl heute ausstrahlen.

181 Tischsitten Das ganze MA hindurch wurde darum gekämpft, den menschlichen Verrichtungen, darunter dem Essen, das Animalische zu nehmen und sie zu regelementieren. Mönche, der vornehme geistliche und weltliche Adel sowie die auf ihren wirtschaftlichen Erfolg stolzen Bürger spielten dabei die Vorreiterrolle. Aber es dauerte lang, den freudvollen Allesfressern beizubringen, sich bei Tisch zu benehmen. Als Esswerkzeuge standen nur Messer und Löffel zur Verfügung. Die Gabel wurde seit dem 11. Jh. in vornehmen Kreisen als Vorlegegabel benutzt und erst seit dem ausgehenden 17. Jh. allmählich in der heute üblichen Weise. Trinkgläser und Tischtücher kannten nur reiche Patrizier oder finanziell gut gestellte Adelige. Das Messer mit Metallschneide hatte in bäuerlichen Kreisen der Esser selbst mitzubringen, denn es war ein Wertgegenstand und so manche Familie musste mit dem Messer des Hausherrn auskommen, wenn der überhaupt eins hatte. Das war nicht weiter tragisch, denn bei solchen Familien reichte meist sowieso der Löffel für den Alltagsbrei. Kam ausnahmsweise einmal Fleisch auf den Tisch, konnte man es problemlos mit einem Holzmesser zerteilen oder ganz einfach abbeißen, falls man noch Zähne hatte. Die ältesten Löffel waren aus Holz gefertigt und ärmere Bauern hatten bis weit in die NZ hinein nichts anderes, während sich die Reiche-

Tod ren zunächst Löffel aus Horn und dann aus Metall leisteten. Eine drastische, sehr ausführliche Schilderung schlechter T. bietet Sebastian Brandt in seinem 1494 erschienen Narrenschiff (Narretei 110a). Vor allem geißelte er mit seinem Spott die Gier und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen, die Sucht, das Beste für sich selbst zu reservieren und sich damit den „Rüssel“ vollzustopfen, mit vollem oder auch fettigem Mund zu trinken, zu schlürfen, schmatzen, rülpsen und furzen. Natürlich darf bei seiner Kritik nicht fehlen, dass sich Leute mit ungewaschenen Händen zu Tisch setzten, mit diesen in Schüsseln wühlten und sich gleich einer Kuh den Ranzen füllten. Seine Schilderung dürfte so etwa das treffen, was man sich zu Beginn des MA als T. sogar an Adelshöfen vorstellen darf, während an dessen Ende vornehme Zurückhaltung die feine Art zu tafeln kennzeichnete. Der Vornehme schlug sich nicht den Bauch voll, wies unerwünschte Speisen artig zurück, nahm in Maßen von dem, was ihm mundete und achtete auf Reinlichkeit. So hat sich im Laufe des MA auch eine Entwicklung vom Gourmand zum Gourmet vollzogen. Tod Hohe Kindersterblichkeit, Hilflosigkeit selbst bei harmlosen Krankheiten, Fehden, Hungerkatastrophen, Epidemien: Der T. war allgegenwärtig, am schlimmsten natürlich in den Zeiten der

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Tod Pest im 14. und 15. Jh., als die sterblichen Überreste der reichsten und angesehensten Stadtbürger in Massengräbern neben den Kadavern der Bettler verscharrt wurden. Nicht von ungefähr entstanden just in dieser Zeit die teilweise dramatisch anmutenden Darstellungen des Todestanzes: Der T. führt Arm und Reich, Jung und Alt, Kg.e, Bischöfe oder Narren zum Tanze, zu dem er mit der Fiedel lustig Musik macht. Man kannte den T. im MA nur allzu gut und personifizierte ihn in zahllosen Gemälden oder Plastiken als apokalyptischen Reiter oder Sensenmann, der wahllos Menschen niedermäht. Zahllos sind die Darstellungen des Jenseits, vor allem die Horrorvisionen der Hölle (Jenseitsvorstellungen). Das Wandeln im Jammertal war nicht mehr als eine kurze Episode, in der die Weichen für das ewige Leben in beständiger Freude oder Qual gestellt wurden. Gar mancher zog in Erwartung des T.es wie der exkommunizierte Ks. Friedrich II. († 1250) reumütig die Mönchskutte an (Zisterzienserhabit), um ein letztes Mal auf Erden seine wahre Gesinnung zu zeigen. Die Vorstellung vom Weiterleben im Jenseits hatte sogar juristische Konsequenzen: Die Toten waren Personen im rechtlichen Sinn, wie sich insbesondere an den Heiligen als Empfängern von Geschenken oder Rechten zeigt, die den ihnen geweihten Kirchen zugute kamen. Wie schon für das mittelalterliche Recht galt, dass die Nennung des Namens der körperlichen Anwesenheit

182 gleichgesetzt wurde. Insofern machte die Nennung in der kirchlichen Liturgie, die sich großenteils bis heute erhalten hat, einen Verstorbenen präsent. In literarischen Werken des MA wird das Sterben bisweilen geradezu als Idylle dargestellt: Der Todgeweihte sieht sein Ende voraus, versammelt seine Lieben um sich, tröstet sie und verkündet ihnen seinen letzten Willen, um dann freudig und mutig, gestärkt durch die Sterbesakramente ins Jenseits einzugehen. Der im Kampf gefallene Held denkt noch ein letztes Mal an seinen Kg., seine Ahnen, Ländereien und die Familie und haucht voll Stolz, ein Gebet auf den Lippen, seine ritterliche Seele aus. Kein Wort von fehlender medizinischer Betreuung und Mangel an Arzneien, welche die Qualen lindern. Die Kunst des Sterbens bildete eine eigene Gattung geistlichen Schrifttums, gedacht für den pastoralen und monastischen Bereich, aber ebenso von Laien geschätzt und deshalb häufig in Volkssprachen übersetzt und frühzeitig gedruckt. Ein trügerisches Bild: Diesem idealisierten Sterben entgegengesetzt war der unerwartete, der schlimme T. ohne Sterbesakramente: eine Katastrophe für das jenseitige Leben selbst des braven Mannes. Zeugen für das Heulen und Zähneknirschen aus Angst im Diesseits sind der schwunghafte Handel mit teuren Ablassbriefen im ausgehenden MA und die weitverbreitete Verehrung des hl. Christophorus, der vor einem

183 plötzlichen T. schützt. Schlimmer noch, wenn der Sensenmann heimlich ohne Zeugen vielleicht gar mittels Blitz oder Mörder zuschlug. Ein solcher T. war mit einem Fluch belegt. Zwar durfte nach dem Rechtsgelehrten Gulielmus Durandus, Bf. von Mende († 1296), ein plötzlich Verstorbener nicht als Verdammter gelten und musste aufgrund ‚Mangels an Beweisen‘ christlich begraben werden, doch zeugt dieser Rechtssatz vom tiefen Misstrauen des gläubigen Volkes. Nach Durandus konnte sogar jemand, der bei einem der üblichen Spiele wie Ball oder Kugel verstorben war, auf dem Friedhof bestattet werden, andere Kirchenrechtler schränkten ein, er solle zumindest ohne Gesang von Psalmen und den anderen üblichen Zeremonien bestattet werden, weil er in der Todesstunde mit Zerstreuungen dieser Welt befasst gewesen sei. Kaum auszudenken, wie hart es den traf, der durch Hexerei starb. Durandus stellte ihn mit jenen gleich, die bei Ehebruch, Diebstahl oder einem heidnischen Spiel verschieden: Die Hölle war ihnen sicher, Begräbnis allenfalls ohne Priester in ungeweihter Erde. Opfer eines Mordes galten dem Volke als verdammt, doch verweigerten die Kirchen ihnen die Bestattung nicht, erhoben aber bisweilen einen Bußobolus, denn den Ermordeten hatte der Allmächtige gezüchtigt. Hinter alldem steckte der Gedanke, dass Gott den Menschen den aufgrund ihrer Lebensführung verdienten T. zuteil werden

Turnier lässt. Allein der plötzliche T. im ritterlichen Kampf galt als ehrenvoll, ja der Gefallene konnte sogar durch diesen geheiligt werden, wenn die Gründe für den Kampf gerecht waren. Wer sein Leben auf einem Kreuzzug ließ, dem stand das Himmelstor weit offen. Im Gegensatz dazu waren zum T.e Verurteilte im Diesseits und Jenseits verdammt, die Sterbesakramente und ein kirchliches Begräbnis blieben ihnen versagt. Turnier Kampfspiele hat es zu allen Zeiten gegeben, aber das typisch mittelalterliche T. ist irgendwo in Nordfrankreich im ausgehenden 11. Jh. entstanden: Die häufig zahlreichen Kämpfer zweier Parteien galoppierten wie in einer Schlacht mit eingelegter Lanze aufeinander los und bekämpften sich mit den Schwertern, wenn die Lanzen gebrochen waren. Die drehenden Bewegungen (lat. „torneamentum“, franz. „tournoi“), die beim Kampf mit dem Pferd durchgeführt werden mussten, haben diesem gefährlichen Sport seinen Namen gegeben. Seit Ende des 13. Jh.s fanden auch Einzelkämpfe („Tjost“) zwischen Rittern statt. Die ausgeschriebenen Preise waren von recht unterschiedlichem Wert, meist war das, was der Besiegte seinem Überwinder überlassen musste, kostbarer. Je nach der Turnierregel, zu deren Anerkennung sich die Streiter durch Eid verpflichteten, handelte es sich um das Streitross, um Lösegeld oder auch die

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Turnier teure Rüstung. Im Jahr 1130 untersagte das Konzil von Clermont „die Abhaltung jener abscheulichen Märkte oder Jahrmärkte, auf denen die Ritter sich nach ihrer Gewohnheit zusammenfinden, um ihre Kräfte und ihre Kühnheit zu messen, was oft zum Tode von Männern und zu großer Gefahr für die Seelen führt“. Ferner wurde festgelegt, dass ein bei einem T. tödlich verwundeter Ritter zwar die Tröstungen der Religion, nicht aber ein Begräbnis an geweihter Stelle empfangen sollte. Genutzt haben die Verbote nichts und wurden 1316 von Papst Johannes XXII. aufgehoben, dem anscheinend T.e als Vorbereitung zu einem Kreuzzug nützlich erschienen. Noch lange nachdem die Ritter als ‚Kriegswaffe‘ ausgedient hatten, wurde das T. gegen den Widerstand der Kirche weiter gepflegt. Das gefährliche Spiel forderte zahlreiche Opfer, auch unter dem Hochadel. Der französischen Kg. Heinrich II. kam 1559 durch den Kapi-

184 tän seiner Leibgarde zu Tode. Nicht zuletzt dieser Unfall mit seinen weit reichenden politischen Folgen verdarb die Freude am Ritterturnier endgültig. T.e waren meist eingebettet in Feste aus anderem Anlass, z. B. Hochzeiten, Schwertleiten (= Ritterpromotionen) oder Hoftage, ja bisweilen waren sie sogar deren Kernstück. Wie bei jedem Kampfspiel feuerten die Zuschauer ihre Partei frenetisch an und feierten die tapferen Sieger als Helden. Glaubt man der höfischen Literatur, so kämpften zahlreiche Ritter für die Ehre ihrer Liebsten oder um überhaupt die Liebe einer begehrenswerten Frau durch erprobte Tapferkeit zu gewinnen. Andere zogen durch die Lande, um bei T.en Kriegsruhm und teilweise auch den Lebensunterhalt zu erwerben. Gar mancher siegreiche aber mittellose Kämpfer dürfte durch seine Turnierauftritte einen Lehens- oder Dienstherrn gefunden haben.

185 Unfreiheit Im MA hat man den Begriff der persönlichen Freiheit mit ganz anderem Inhalt gefüllt als heute. Er bedeutete damals allenfalls in theologischen oder philosophischen Traktaten persönliche Handlungsfreiheit, im Alltagsleben jedoch hing der Grad der Freiheit eines Menschen von seiner Rechtsstellung ab. Diese war in den Stammesrechten grundgelegt, in denen das germanische Gewohnheitsrecht kodifiziert worden war (Recht und Rechtspflege). Werfen wir also einen Blick auf zwei aussagekräftige Artikel der „Lex Salica“ zur Rechtsstellung von Unfreien: „Wenn jemand einen Knecht oder eine Magd, ein Pferd oder eine Stute stiehlt […] werde er zu […] 30 solidi außer Wertersatz verurteilt.“ Über die Tötung eines Unfreien war festgelegt: „Wenn jemand einen Hörigen, eine Magd oder Dienerin oder einen Eisenschmied oder Goldschmied oder Schweinehirten oder Weinbergarbeiter oder Stallknecht stiehlt oder tötet, werde er zu 30 solidi Diebstahlsbuße verurteilt.“ Die beiden Artikel zeigen, dass Unfreie einerseits Tieren gleichgestellt waren, andererseits Tötung und Diebstahl gleich geahndet wurden. Es interessierte allein der materielle Schaden des Eigentümers, nicht die Tötung eines Menschen. Der Mord an einem Unfreien kostete ein Drittel weniger als der Diebstahl eines gezähmten Jagdfalken oder das Beschimpfen einer freien Frau als Hure. Die Beziehung zwischen

Unfreiheit dem Herrn und seinem Unfreien war nicht nach Personen-, sondern nach Sachenrecht geregelt. In der gesamten „Lex Salica“ gibt es keinen einzigen Artikel, in dem Unrechtstaten wie Verstümmelung oder Mord des Herrn gegen seine Hörigen behandelt werden – kein Wunder, die Hörigen wurden von ihrem Herrn vor Gericht vertreten, der seinerseits für diesen haftbar war, weil der Hörige als Mitglied seiner Familie unter seiner Munt stand. Es war das ‚gute‘ Rechte eines Herrn, seine Hörigen zu züchtigen, zu vergewaltigen, zu verheiraten, zu verkaufen und sogar zu töten. Wurde z. B. ein Gut verkauft, gingen meist auch die Hörigen als Zubehör in den Besitz des neuen Herrn über. Die Kirche hat sich bemüht, die Stellung der Unfreien zu verbessern. So untersagte ein Konzilsbeschluss von Orléans 511 Geistlichen, Unfreie zu verkaufen. Zwar haben christliche Vordenker so etwas wie eine Vorstellung von Menschenwürde entwickelt, doch galt diese nur sehr eingeschränkt für Unfreie. Im 6. Jh. waren Unfreie nicht Mensch genug, um Taufpaten werden zu können. Auf dem Konzil von Macon 585 und in einem Dekret Kg. Childerichs III. von 592 wurden Unfreie immerhin in das sonntägliche Arbeitsverbot einbezogen. Im Kirchen- und sogar Reichsrecht galt das Asylrecht in Kirchen auch für Hörige, doch wurde es wohl oftmals gebrochen, wie man Wunderberichten entnehmen kann, welche die Bestrafung solchen

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Universität Frevels zum Gegenstand haben. Den Rechtsstatus vererbten die Eltern ihren Kindern, wobei diese auch dann dem Herrn zufielen, wenn ein Ehepartner frei war. Hörige konnten aus ihrer U. nur durch ihren Besitzer entlassen werden, blieben aber minderfrei. Soweit die Gesetzesbasis – die Stellung der Unfreien im Alltag war sehr viel facettenreicher. Nur einige der Unfreien einer größeren Grundherrschaft mussten im Herrenhaus als Mägde und Knechte dem Grundherrn bei Tag und Nacht alle erdenklichen Dienste leisten, angefangen vom Füttern der Hühner bis hin zum Auftragsmord. Andere arbeiteten als Handwerker in den Werkstätten, wieder andere bewirtschafteten einen zur Grundherrschaft gehörenden Hof und leisteten dafür Zahlungen und Dienste oder (vor allem im späteren MA) nur Zahlungen. Sie gehörten zu den Minder- bzw. Halbfreien, hatten einen höheren Wert im ‚Bußgeldkatalog‘ und genossen aufgrund der räumlichen Trennung größere Freizügigkeit. Im Laufe der Jh.e verschmolzen letztere mit den freien Bauern und bildeten den Bauernstand. Die je nach Position in der Familie unterschiedlichen rechtlichen Beziehungen zwischen Grundherr und Hörigen war in den Hofrechten (Recht und Rechtspflege) festgelegt. Zwar stammt das älteste schriftlich erhaltene erst aus dem 11. Jh., doch waren sie der Sache nach mit Sicherheit älteres Gewohnheitsrecht. Unfrei waren auch die

186 Ministerialen, die in einer Grundherrschaft besondere Dienste leisteten. Handelte es sich dabei um Kriegsdienst als berittener Kämpfer, so konnte der Hörige eines mächtigeren Herrn durchaus in den niederen Adel aufsteigen (Gesellschaft und Stand, Ritter). Universität Das 12. Jh. war eine Zeit des Umbruchs in vielerlei Hinsicht. Das Bürgertum gewann zusehends an Bedeutung und zumindest in Frankreich und Italien hatte die Kirche das Bildungsmonopol verloren, die städtischen Schulen gelangten in diesen Ländern zu einer Blüte, die in Deutschland noch lange auf sich warten ließ. Die Gelehrsamkeit sich in einer Aufbruchsphase, der Umgang mit den aus christlicher und heidnischer Antike überlieferten Texten hatte sich grundsätzlich verändert, das ‚geballte Wissen‘ welches in ihnen steckte, wurde nicht mehr nur wissensvermehrend auswendig gelernt, sondern man suchte durch selbstbewusstes methodisches bzw. scholastisches Hinterfragen neue Erkenntnisse über Gott und die Welt zu erlangen, die einzelnen Fächer hatten sich verselbstständigt (Bildung und Wissen). Um die Wende des 12./13. Jh.s entstanden als Antwort auf die Herausforderungen der Zeit die U.en, beginnend mit denen von Bologna und Paris vor 1200, auf die zu Beginn des 13. Jh.s die in Oxford, Cambridge und Montpellier folgten. Die Initiative zur

187 Gründung kam von den beteiligten Magistern und Scholaren selbst, während die Bischöfe und kommunalen Autoritäten diese Zusammenschlüssen eher ablehnten, fürchtete man doch eine Schwächung der eigenen Machtposition. Der Papst und die Kg.e von Frankreich, Kastilien und England jedoch erkannten schnell die Bedeutung einer wissenschaftlich gebildeten Elite und unterstützten die universitäre Bewegung – in Deutschland hinkte man hinterher, Karl IV. gründete 1348 in Prag die erste ‚deutsche‘ U., der 1365 Wien und 1385 Heidelberg folgten. Da die Gegebenheiten völlig unterschiedlich waren, verliefen die Gründungen nicht nach dem gleichen Schema: Paris, Oxford und Montpellier entstanden aus Zusammenschlüssen verschiedener Schulen, deren Magister sich zur Gründung einer „universitas“ der Magister und Scholaren zusammenfanden, während sich andernorts (z. B. in Bologna, Padua oder Salamanca) Schüler zu einer Korporation zusammenschlossen und Lehrer für den Unterricht engagierten. Diese standen nur in vertraglicher Bindung zur U., gehörten ihr aber nicht als Mitglieder im eigentlichen Sinne an. Zwar waren die einzelnen U.en unterschiedlich verfasst, doch verbanden sie grundsätzliche Gemeinsamkeiten: Die Schulen der einzelnen Fächer bildeten innerhalb der U. eigene Fakultäten, denen jeweils ein Dekan vorstand. Allerdings waren U.en, mit allen vier

Universität Fakultäten, nämlich Artes (die Sieben Freien Künste als Grundstudium Voraussetzung für die höheren Studien), Recht, Medizin und Theologie vor dem 15. Jh. eine Seltenheit. Bei international besuchten U.en wie Paris oder Bologna waren die Studenten nach ihrer Herkunft in Nationen landsmannschaftlich zusammengeschlossen. Daneben entstanden als Gruppierungen recht früh die Kollegien, die insbesondere ärmere oder ordensgebundene Studenten beherbergten und bisweilen Unterricht sowie Zugang zu einer Bibliothek boten. Hinsichtlich der Lehre hatte jede U. ihren eigenen Charakter. Kirchlich geprägt waren z. B. Paris oder Oxford, die Eliteuniversitäten für Philosophie und Theologie, während die U.en des Mittelmeerraums durch das Studium der Rechte (Römisches und Kanonistisches Recht) eher bürgerlich geprägt waren, allen voran Bologna, ebenso die Eliteuniversitäten für Medizin, Salerno und Montpellier. Um die Mitte des 13. Jh.s schufen Juristen für U.en, die neben den Sieben Freien Künsten ein weiteres Fach anboten, das Konzept des „studium generale“, und damit eine Bildungsinstitution, die sich durch Autonomie auszeichnete. Die U. wurde dadurch eine juristische Person, ausgestattet mit Freiheiten und Privilegien. Die häufig erneuerten päpstlichen, aber auch fürstlichen Privilegien gestatteten der U. eine weitgehende Selbstverwaltung, darunter die freie

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Universität Rekrutierung von Studenten und Lehrern (Magistern, Doktoren, Professoren), die freie Wahl der Amtsträger (Rektor, Dekane und Prokuratoren) und das Recht Statuten zu erlassen. Die Mitglieder waren durch einen Treueid an die U. gebunden. Ebenfalls die innere Organisation – Gestaltung der Lehre und Prüfungen, Ferien, Verleihung von Graden usw. – regelte jede U. in eigener Regie. Die üblichen Studienabschlüsse waren das Bacclaureat (Bachelor) für das absolvierte Studium der Sieben Freien Künste, der Magister- und Doktorgrad für die höheren Studien. Die Privilegien betrafen nicht nur das Kollektiv insgesamt, sondern jedes einzelne Mitglied. Lehrer, Studenten und Dienstpersonal genossen rechtliche und wirtschaftliche Vorrechte, waren weitgehend der gerichtlichen, administrativen und steuerlichen Autorität der betreffenden Stadtgemeinde entzogen und unterstanden weitgehend der Kontrolle inneruniversitärer Amtsträger

188 oder der Zentralgewalten wie Papst, Kg. oder Landesherr bzw. der von diesen eingesetzten Vertreter. Letztere begrenzten die Autonomie der U.en, völlige Denk- und Meinungsfreiheit und institutionelle Unabhängigkeit waren damals wie heute Utopie. Diejenigen, welche die Privilegien gewährt hatten, überprüften deren Vollzug und schalteten sich bei Missbräuchen ein. Zudem überwachten Bischöfe und Inquisition die Rechtgläubigkeit der vertretenen Lehrmeinungen. Den Päpsten gelang es durch geschickte Privilegienpolitik und die Ausweitung des Prinzips der päpstlichen Lehrerlaubnis als Voraussetzung für die Aufnahme einer Lehrtätigkeit an U.en, ihren Einfluss auf die vormals weltlich dominierten U.en auszudehnen und geradezu allgegenwärtig zu werden. Im Gegensatz zur Anerkennung der Lehrbefähigung für Schulen, die allein für die Diözese galt, in welcher sie ausgestellt worden war, galt die für die U. europaweit.

189 Verkehrswege Trotz der Gefahren der Seefahrt war der Transport auf dem Wasserweg bis weit ins 20. Jh. wesentlich zeitsparender und billiger als auf dem Landweg. Im Römischen Reich gab es ein erstaunlich gut ausgebautes Straßennetz, das allerdings im Frühmittelalter verfiel, denn zu dessen Erhalt hätte es der Pflege und damit staatlicher Organisation bedurft, an der es jenseits des Limes fehlte. Bei Heereszügen war es allerdings üblich, Wege zum freien Durchmarsch wieder herzurichten, lokale Gewalten hielten sie auf ihrem Grund gemäß ihren Bedürfnissen instand, Rodungsgebiete wurden durch Wege erschlossen. All dies erfolgte aber weitgehend unsystematisch und allzu selten in einer ,konzertierten Aktion‘. Erst seit dem Beginn der ,industriellen Revolution‘ des MA genügten Trampelpfade und Furten durch Flüsse nicht mehr. Im 11. Jh. begann sich das Transportwesen in Deutschland tiefgreifend zu verändern. Hatten Kaufleute bisher, wenn Schiffstransport nicht möglich war, Güter auf dem Rücken von Lasttieren befördert, so benutzten sie vor allem für sperrigere und schwere Güter immer häufiger vierrädrige Wagen, für die adäquate Straßen und Brücken gebaut und instand gehalten werden mussten. In dieser Zeit erhielten erstmals die Gebiete, die nicht von den Römern besetzt gewesen waren feste Flussübergänge: Die Mainbrücke bei Würzburg (vor 1133), die große Donau-

Verkehrswege brücke von Regensburg, die von 1135 bis 1146 mit 300 m Gesamtlänge auf 16 tonnengewölbten Bögen errichtet wurde, und die Innbrücke bei Passau (1143) haben als große Werke an Fernstraßen sicher von Erfahrungen profitiert, die Baumeister und Architekten anderswo an kleineren Bauten gewonnen hatte. Von diesen erfährt man nur zufällig, etwa wenn berichtet wird, dass auf der Nagold-Brücke ein Gelähmter sich an Krücken Abt Wilhelm von Hirsau entgegenschleppte, der den Kranken durch ein Wunder heilte. Dem Wagentransport kam die Verlagerung der Fernverbindungen von den Höhen in die Täler entgegen. Im Frühmittelalter waren Flussniederungen für die unbefestigten V. gemieden worden, da sie zeitweise verschlammt und dadurch unpassierbar waren. Seit dem 11. Jh. wurden Talwege bevorzugt, denn Fürsten und Adlige hatten bald erkannt, dass es ihren Finanzen zugute kam, wenn sie Straßen ausbauen und pflegen ließen und dafür von den Benutzern Zölle erhoben. Der hochmittelalterliche Ausbau hat das Verkehrssystem in den deutschen Landschaften trotz aller späteren Verbesserungen in seinen Grundzügen bis in das Industriezeitalter hinein geprägt. Trotz der Modernisierung blieb natürlich der Schiffsverkehr schneller und rentabler, zumal man auf den Flüssen treidelte, d. h. die Schiffe wurden durch am Ufer laufende Ochsen oder später auch Pferde gezogen, wozu

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Verlagssystem die so genannten Leinpfade am Ufer angelegt wurden. Große Bedeutung erlangte auch die Flößerei zum Holz-, Waren- und Personentransport. Schon um 1450 gab es auf der Isar ab Mittenwald Personenfahrten zu Fixpreisen, die bis nach Wien reichten. Flöße wurden entweder aus ganzen Stämmen und/oder Brettern zusammengesetzt, die durch Querhölzer mit Weidenruten beweglich verbunden wurden. Gesteuert wurde mit Rudern am Heck. Verlagssystem Das V., dessen Anfänge im 13. Jh. liegen, ging einerseits einher mit einer erhöhten Produktnachfrage durch Bevölkerungswachstum und Urbanisierung, andererseits mit dem Aufschwung und der Differenzierung von Gewerbe und Fernhandel. Um 1400 hielt es nach italienischem und französischem Vorbild Einzug in Oberdeutschland, vor allem bei der schwäbischen Textilproduktion und dem Nürnberger Metallgewerbe. Der zumeist als Kaufmann tätige Verleger erteilte dem Handwerker Herstellungsaufträge, streckte das Rohmaterial vor (= „verlegte“) und nahm die Produkte zu einem vorher festgesetzten Fixpreis ab. Die im Verlagssystem produzierenden Handwerker erlangten gegenüber den anderen dadurch einen Vorteil, dass sie sich um den Absatz ihrer Produkte keine Sorgen machen mussten. Die Verleger beschäftigten nach Mög-

190 lichkeit Heimarbeiter, die keiner Zunft angehörten, damit diese im Hinblick auf Preis und Qualität nicht durch Zunftbeschränkungen eingeschränkt wurden. Versicherungen Bereits seit dem 11 Jh., einer Zeit des Aufschwungs des internationalen Handels, konnten Kaufleute das Risiko einer Handelsreise dadurch vermindern, dass sie die Waren gegen Verlust versicherten. Es handelte sich bis ca. 1300 um V., die in Form eines fiktiven Kaufs abgeschlossen wurden, durch den die Last eines eventuellen Verlustes der Güter auf mehrere verteilt wurde. Im 14. Jh. kam in den westlichen Mittelmeerländern eine neue Versicherungsart auf, deren Charakterzüge sich bis ins 18. Jh. kaum verändert haben. Versichert wurden jetzt im Seehandel sowohl die Ladung, als auch die Schiffe, nicht aber die Mannschaft, wobei die Höhe der Zahlung an den Versicherer vom Risiko und dem Warenwert abhing. In dem entsprechenden Vertrag garantierten mehrere Partner ausdrücklich, die Werte, die bei möglichen Schadensfällen verloren gehen konnten, vor Verlust zu schützen. Die Waren und ihr jeweiliger Wert waren ausführlich im Kontrakt aufgelistet. Im Schadensfall verpflichtete sich der Versicherer zu einer Entschädigung in Höhe der vertraglich vereinbarten Summen. Damit erwarb der Versicherer die Rechte an den vom Schadensfall betroffenen Gütern. Nur selten wurden solche

191 Versicherungsverträge vor einem Notar geschlossen, meist vermittelte ein Makler zwischen Versicherten und Versicherern. Bis ins 17. Jh. erfolgten Verpflichtungen der Versicherer auf individueller Grundlage und bei weitem nicht jeder Versicherer verpflichtete sich zu denselben Leistungen wie die anderen Versicherer in ein und demselben Versicherungsfall. An vielen Handelsplätzen traten Kaufleute nicht nur als Versicherungsnehmer auf, sondern ebenso als Versicherer, V. hatten bisweilen den Charakter von Solidargemeinschaften. Versicherungsgesellschaften gab es nur ganz vereinzelt, sie waren recht kurzlebig. Das System funktionierte auf der Basis gegenseitigen Vertrauens, was jedoch nicht bedeutete, dass im Schadensfall die vereinbarte Versicherungssumme sofort ausgezahlt wurde. Wo immer möglich und nötig, wurden die Schadensfälle überprüft, bei arglistiger Täuschung wurde die Versicherungssumme einbehalten – Streit war vorprogrammiert. Gegen Ende des MA kamen mancherorts, vor allem in Italien, versicherungsartige Vereinbarungen auf, welche die Lebensdauer bestimmter Persönlichkeiten oder die Wahlchancen be-

Vorratshaltung stimmter Personen zum Gegenstand hatten. Es handelte sich dabei allerdings eher um ein Wettspiel, das auf einen engen Personenkreis beschränkt blieb. Vorratshaltung V. und Konservierung von Lebensmitteln – das Pökeln, Einsäuern, Dörren, Beizen, Räuchern, Einschwefeln und Kandieren – spielten im Alltag der Menschen eine große Rolle, da man ja Vorräte für den Winter und Hungerszeiten brauchte. Problematisch war dabei die Hygiene. Bereits das berühmte „Capitulare de villis“, die Landgüterverordnung Karls des Gr. (vor 800), die sicher ihrer Zeit voraus war, forderte von den Hörigen und Sklaven auf allen Krongütern, sie sollten bei allen mit der bloßen Hand zubereiteten Nahrungsmitteln peinlichste Sauberkeit walten lassen, was immer das in dieser Zeit geheißen haben mag. Die Klage über unsaubere, verdorbene Lebensmittel, muffiges Kraut, saures Bier, fauliges Trinkwasser und Gammelfleisch reißt in den literarischen und medizinisch-fachlichen Quellen, in der Sittenpredigt und in der Satire bis ins 19. Jh. hinein nicht ab.

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Wald Wald Für die Gebiete jenseits des Limes galt, was Tacitus um das Jahr 100 n. Chr. über Germanien geschrieben hat: „Wer würde schon ohne Gefahr Asien, Afrika oder Italien aufgeben, um nach Germanien zu ziehen, in jenes abstoßende Land mit seinem rauhen Klima, seiner unfreundlichen Kultur und Erscheinung!“ Die moderne Siedlungsforschung bestätigt die Klage auch noch für das Frühmittelalter: Urwald wohin das Auge reichte mit eingestreuten Siedlungsinseln. Ein Wunder, dass die Bewohner der verschiedenen Lichtungen miteinander kommunizieren, Verwandtschaftsbeziehungen aufnehmen und ‚Kriege‘ führen konnten. Angesichts derartiger Naturgegebenheiten versteht man, warum es in diesen Gebieten nicht zu einem gut durchorganisierten Staatsgebilde nach Art des Römischen Reiches kommen konnte. Wenngleich insbesondere Mönche, gefolgt von unternehmungslustigen Freien, rodend in das Unland vordrangen, blieb doch der W. bis ins 11. Jh. weitgehend sich selbst überlassen, nicht Grenzgemarkungen trennten Siedlungen voneinander, sondern Wälder und Sümpfe. So feindlich der W. auf den ersten Blick erscheint, so lebensnotwendig war er doch für die Menschen, sei es dass man aus ihm Wild, Beeren, Honig oder Pilze für die heimische Küche nach Hause brachte, die Schweine zur Eichelmast hineintrieb oder auch Holz zum Bau der Häu-

192 ser, Möbel und Zäune, zum Heizen und zur Verhüttung von Salz und Erzen (Bergbau) gewann – Teller, Löffel, Becher, Fässer, Wagen etc. alles war aus Holz. Unheimlich blieb er aber allemal, war er doch Wohnsitz heidnischer Gottheiten, denen man opferte. Noch bis in die NZ umgaben Dichter den W. mit einer geheimnisvollen Aura. Mit der Periode des wirtschaftlichen und demografischen Aufschwungs der bereits im Frühmittelalter eingesetzt hatte, begann der Raubbau, Urwald wurde mehr und mehr zum Nutzwald, über den sich der Adel, Kirchen oder Städte Rechte sicherten, der immer neuen Siedlungen und landwirtschaftlichen Nutzflächen Platz machte. Der Bevölkerungszuwachs, die zahlreichen entstehenden Städte, und nicht zuletzt die so genannte ,industrielle Revolution des Mittelalters‘ waren genau betrachtet eine Evolution zu Lasten des W.es. Schon 1294 erließ z. B. Nürnberg seine älteste Waldordnung, welche die Reichswälder vor den Toren der Stadt konsequent gegen Raubbau schützte. Wappen Das Wort W. ist die niederdeutsche Form für Waffen, gemeint war die wichtigste Verteidigungswaffe, der Schild. Auf diesem wurden vermutlich seit dem späten 11. Jh. farbige Kennzeichen angebracht, durch welche der Ritter, der in Rüstung mit geschlossenem Visier unkenntlich war, identifiziert werden

193 konnte. Insbesondere in den großen Kreuzfahrerheeren, in denen Ritter aus aller Herren Länder reisten, war eine solche Kennzeichnung von Vorteil und fand Verbreitung. Die Zeichen, welche zunächst den Schild schmückten, zierten in der Folgezeit auch Helm, Banner, Waffenrock und Pferdedecke. Als erste Wappenmotive zog man die ,Könige der Tiere‘ heran: den Adler vor allem beim Kg. und seinem Gefolge, den Löwen bei Reichsfürsten des 12. Jh.s. Weitere beliebte Motive waren geometrische Figuren, aber auch Tiere, die in irgendeinen symbolischen Zusammenhang mit Macht und Stärke zu bringen waren. Ursprünglich durften nur Ritter W. führen, Wappenrecht wurde Adelsprivileg, das dann ebenfalls dem städtischen Patriziat zustand. Im 13. Jh. kamen auch für Bischöfe, Äbte, Klöster, und Städte W. auf, mit denen die in deren Auftrag kämpfenden Reiter gekennzeichnet wurden. Seit dem 14. Jh. konnte die Wappenfähigkeit durch königliche oder reichsfürstliche Verleihung erlangt werden. Für die entsprechenden Wappenbriefe, welche die Verleihung des W.s urkundlich bezeugten, musste natürlich ein adäquater Obolus an den ständig unterfinanzierten Kg. bzw. die Fürsten bezahlt werden. Die Zahl der Wappeninhaber nahm entsprechend zu, und die künstlerische Gestaltung erlebte eine Blüte. Nur noch Spezialisten, die Herolde, die beständig im Gefolge des Kg.s und der Fürsten reisten, konnten einen

Wasserversorgung Überblick über die Vielfalt der W. haben und wurden bei Turnieren als Gutachter für die Zulassung von Kämpfern eingesetzt. Als Informationsquelle dienten ihnen Wappenbücher, die schon aus dem 13. Jh. erhalten sind. W. sind die unmittelbaren Vorläufer unserer heutigen Fahnen, der Reichsadler ist immer noch ein deutsches Hoheitssymbol. Wasserversorgung Der Mensch kann ohne Süßwasser nicht leben. Deshalb wurden Siedlungen stets in die unmittelbare Nähe von Quellen, Bächen, Flüssen oder Seen gebaut, so manche Quelle galt als heilig und wurde in heidnischer Zeit kultisch verehrt. Derartige Kulte wurden im Frühmittelalter immer wieder von kirchlichen Autoritäten verboten und waren auch nicht mehr nötig, da christliche Heilige auf wundersame Weise Quellen mit Heilkraft sprudeln ließen. Mit dem Bevölkerungswachstum wuchs der Wasserbedarf. ‚Trinkwasser‘ und seine Qualität wurden als ein derart existenzielles Problem angesehen, dass sich sogar der Theologe und Philosoph Aegidius Romanus († 1316) in seinem schon im MA in mehrere Sprachen übersetzten Fürstenspiegel „Über die Herrschaft der Fürsten“ (1277–1279) bemüßigt fühlte, darauf hinzuweisen, dass riechendes Grundwasser aus ungesunder Erde stamme und deshalb gesundheitsschädigend sei. Der Regensburger Gelehrte Konrad von Megen-

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Wasserversorgung berg lehrte um 1350, dass der töricht handle, der auf Reisen jedes Wasser trinke, denn gar manches sei schädlich, wie an den vielen Menschen mit Kropf in Kärnten zu erkennen sei. Etwa zur gleichen Zeit machte Philip von Leyden in seinem Fürstenspiegel darauf aufmerksam, dass von der Wasserverschmutzung durch Färbereien unübersehbare Gefahren ausgehen könnten. So weit die besorgten Stimmen mittelalterlicher Wissenschaftler, die gewiss nicht unbeachtet verhallt sind: Wasser als Getränk war ganz und gar nicht geschätzt, da zog man schon Wein und Bier vor. Wer es sich leisten konnte, kochte sogar mit Wein, doch Ärmeren stand dazu allein Wasser zur Verfügung. Für den Hausbedarf in den Städten gruben die Bürger, zumal die Qualität des Wassers der Flüsse und Bäche, die ja gleichzeitig als Müllkippe, Abtritt und ‚Waschküchen‘ dienten, sehr fragwürdig war, Brunnen, um an das vermeintlich saubere Grundwasser zu gelangen. Die Schächte wurden mit Holz oder Stein gefasst und darüber eine oftmals überdachte Konstruktion angebracht, mit deren Hilfe das Wasser in einem Eimer hochgezogen werden konnte. Der Ziehbrunnen, dessen älteste Anlagen aus dem 12. Jh. erhalten sind, war das gesamte MA der verbreitetste Brunnentyp. Pumpen, die schon im 14. Jh. bekannt waren, setzten sich erst in der frühen NZ durch. Allerdings grub man vor allem in den Hinterhöfen der Bürgerhäuser in die un-

194 mittelbare Nachbarschaft des Brunnens den Schacht für die Latrine, der mancherorts bis zu zwölf Meter tief war und auch der Misthaufen war nicht weit entfernt. Die Verjauchung des Grundwassers führte zu bisweilen epidemisch auftretendem Typhus und Vergiftungen. Man hat diese Erkrankungen tatsächlich auf vergiftetes Wasser zurückgeführt, aber als Konsequenz nicht Brunnen und Latrinen entsprechend räumlich getrennt, sondern die Juden als Brunnenvergifter verfolgt, was wesentlich einfacher und einträglicher war. Wer den Brunnen nicht traute, konnte Frischwasser zweifelhafter Qualität bei Wasserträgern oder unmittelbar am Schöpfrad des nächstliegenden Flusses kaufen. Auf Höhenburgen bestaunen wir bisweilen die in erstaunliche Tiefen getriebenen Brunnen, doch sind das Ausnahmen. Üblicherweise begnügten sich die Burgherren damit, Regenwasser in Zisternen zu sammeln. Zur Deckung des Wasserbedarfs kleiner Dörfer reichte meist der Dorfbrunnen, der noch in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s mancherorts von der gesamten Dorfgemeinschaft für den Hausbedarf und als Viehtränke genutzt wurde, weil es noch keine Wasserleitungen gab und allenfalls Großbauern einen Brunnen ihr Eigen nannten. Dabei wurden bereits im 13. Jh. erste einfache Wasserleitungen („Wasserkünste“ in zeitgenössischer Diktion) in Breslau und Lübeck in Betrieb genommen. Schon im 15. Jh. ver-

195 fügten mittlere Städte über Wasserleitungen, wenn die Qualität des Grundwassers schlecht war. Deren Ausgangspunkt war ein außerhalb der Stadt gelegener turmartiger Wasserspeicher, der z. B. in Lübeck mittels eines Schöpfrades gefüllt wurde. An den ‚Wasserturm‘ wurden hölzerne Rohrleitungen („Dohlen“ ) angeschlossen, die wie in Lübeck sogar schon unterirdisch verlaufen konnten. Die Baumstämme (bevorzugt Föhren, Eichen oder Erlen) wurden mit speziellen „Deichelbohrern“ ausgehöhlt und mit Blei oder manchmal auch Kupfer vernietet. Durch Schieber konnte der Wasserfluss reguliert werden. Ihre Endpunkte waren Brauereien und der meist am Marktplatz gelegene, repräsentativ gestaltete städtische Brunnen, nicht wie im alten Rom oder heute die einzelnen Haushalte. Dauernd über frisches Wasser zu verfügen, war größter Luxus. Selbst in der reichen Handelsstadt Lübeck füllten erst 1533 Zweigleitungen Wasserbecken in Häusern der vornehmen Innenstadt. In Augsburg konnte man sich seit 1558 für einen Jahreszins von einem Gulden (dem Lohn einer Magd für ein halbes Jahr) Frischwasser ins Haus leiten lassen. Wechselbrief Geldwechsel gehörte bereits in der Antike zum Alltag und war überall dort nötig, wo der Handel den Gültigkeitsbereich einer Währung überschritt. Im MA mit seinen zahllosen Münzpräge-

Wechselbrief stätten wäre Handel ohne gut informierte Wechsler gar nicht möglich gewesen. Zum Instrument des überregionalen und internationalen bargeldlosen Zahlungsverkehrs wurde im MA der W. Seine Vorläufer waren die „lettres des foires“ und die „instrumenta ex causa cambii“, beides notariell beglaubigte, formelle Zahlungsverpflichtungen, die als Finanzierungsinstrumente seit dem 12. Jh. auf den Champagnemessen üblich waren. Durch sie wurde die teure und riskante Versendung von Bargeld vermieden. Als nun die Kaufleute die Messen nicht mehr selbst besuchten sondern Bevollmächtigte schickten, gaben sie diesen einen formlosen Zahlungsauftrag, den informellen W., zur Begleichung ihrer Schulden mit, da durch die bestehenden vielfältigen Geschäftsbeziehungen und die Geschäftsfilialen an den Handelsplätzen die notarielle Beglaubigung unnötig geworden war. Dieser W. vermittelte im 13. und 14. Jh. in der Regel nur innerhalb einer ,Firma‘ Finanztransaktionen und damit Liquidität zwischen den verschiedenen Standorten, doch seit dem 14. Jh. auch schon außerhalb eines Handelshauses. Eine wichtige Rolle spielte der W. vor allem bei Warenkreditgeschäften, bei denen der Exporteur für die an einen Importeur gelieferte Ware einen Wechsel auf letzteren zog und ihn mit diesem anwies, die geschuldete Summe an einen Dritten, den eingetragenen Begünstigten auszuzahlen. Der Exporteur ver-

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Wein kaufte seinen Wechsel an einen Partner vor Ort und erhielt dadurch wieder Liquidität. Dieser schickte den Wechsel an den Begünstigten, mit dem er in Kontokorrentbeziehungen stand und der schrieb das Geld dessen Konto gut und präsentierte den W. dem Importeur, der ihn akzeptierte und seine Schulden beim Exporteur nach der vereinbarten Zeit beglich. Auf diese Weise erhielt der Exporteur sein Geld ohne lange Wartezeit und der Importeur hatte Zeit, seine Waren zu verkaufen, um das Geld zur Rückzahlung zu haben. Diese Art von Warenkreditgeschäft, bei denen Geldumtausch und -transport vermieden wurden, fand in verschiedenen, vielfach etwas einfacheren Variationen statt und vereinfachte sich weiterhin, als das Bankwesen an Effizienz und Internationalität gewann. Die Entlohnung des Begünstigten und Käufers des Wechsels, die häufig ein und dieselbe Person oder ,Firma‘ waren, bestand in der Ausnützung von Kursdifferenzen, die einen durchschnittlichen Zins von 12 bis 14 % einbrachten und nicht unter die Kategorie Geldkapitalzins fiel. Diese Art von über ganz Europa und die Levante verbreiteten Wechselgeschäften war typisch für Handelsbeziehungen, bei denen zumindest einer der Partner aus Italien stammte, wo Handel und Bankwesen eng vernetzt waren. In Deutschland und dem östlichen Mitteleuropa war der W. wegen der fehlenden Bankenstruktur selten und nur dort nachweisbar, wo

196 enge Handelsbeziehungen nach Italien bestanden wie im Rheingebiet und in Oberdeutschland. Wein Bereits im vierten Jahrtausend wurde in Mesopotamien und Ägypten wilder W. veredelt und gekeltert. Den Griechen war er spätestens seit dem zweiten Jahrtausend vertraut. Sie brachten ihn als Siedler nach Italien, von wo aus er seinen Siegeszug um die ganze Welt antrat. W. diente verschiedenen Religionen als Trankopfer oder Stimulanz zu kultischen Zwecken. In besonderer Weise war ihm das Christentum verbunden, wird doch bei der Eucharistie W. in Christi Blut verwandelt. Die christliche Mission trug entscheidend zur Verbreitung des Rebensafts bei den Germanen bei – Weinbau folgte der Bekehrung auf den Fuß. Die Oberschicht schätzte ihn derart, dass er sogar in Norddeutschland und auf den britischen Inseln angepflanzt wurde. Wer es sich leisten konnte, importierte freilich wohlschmeckenden, sonnengereiften und alkoholreicheren W. aus dem Mittelmeerraum, den man in antiker Tradition mit Wasser verdünnt trank. Spitzenweine galten geradezu als Prestigeobjekt, bei repräsentativen Anlässen servierte man gern den Malvasier oder kostspielige Würz- und Likörweine. Die Ärmeren machten mit Honig und allerlei anderen Zutaten einheimischen ‚Rachenputzer‘ genießbar, wobei

197 es auch bei diesem große Qualitätsunterschiede gab. Der beste entstammte dem Traubensaft, der ungepresst die Kelter verließ, die schlechtesten entsprangen zweiter oder gar dritter Pressung. Aufgrund von Problemen mit Lagerung und Haltbarkeit wurde einheimischer W. meist sehr jung getrunken. Für bürgerliche Haushalte im spätmittelalterlichen Deutschland hat man einen durchschnittlichen Verbrauch von 1,3 Litern pro Kopf und Tag errechnet. Mehr trank man in Frankreich: Die Vertrauten des Bf.s von Arles beispielsweise konsumierten 1424 täglich durchschnittlich 2,5 Liter, eine Witwe aus Barjols immerhin 360 Liter pro Jahr. Trunkenheit und Alkoholismus brachten zwar schon im MA Probleme, doch muss man bei den Mengenangaben bedenken, dass der Rebensaft damals wesentlich weniger Alkohol als heute enthielt. W. war darüber hinaus Bestandteil von Heilmitteln und wurde als solches gegen verschiedene Gebrechen getrunken. Fenchelwein z. B. sagte ein Kochbuch des 16. Jh.s heilende Wirkung bei Wassersucht, Aussatz, Husten, Blattern, Menstruationsbeschwerden und Verstopfung von Milz und Leber nach; außerdem soll er „Unkeuschheit geweckt“ haben. Wergeld Als W. bezeichnete man in den frühmittelalterlichen Stammesrechten zunächst die Buße für die Tötung eines

Wergeld Mannes, dann aber auch für andere Delikte. Es wurde eingeführt, um mörderische Fehden zwischen Sippen zu verhindern (Recht und Rechtspflege), die auf entsprechenden Rechtsbruch unweigerlich folgten. „Wer“ ist eine Verballhornung des lateinischen „vir“ (= Mann), weshalb einige Autoren dafür das Wort „Manngeld“ gebrauchten. Das W. war gestaffelt nach sozialer Stellung des Getöteten, Geschlecht und Art der Tat. Für die Tötung Unfreier wurde gar kein W. gezahlt, da sie nicht unter das Personensondern das Sachenrecht fielen. So kostete nach dem Gesetz der Franken, der „Lex Salica“, das Erschlagen eines freien Franken 200 „solidi“ (Goldmünzen), eines Adeligen 400 und eines Gefolgsmanns des Königs 600. Das Entmannen eines Freien kostete genauso viel wie dessen Tötung. Ebenfalls 200 „solidi“ kostete der Raub einer Ehefrau zu Lebzeiten des Gatten und damit genauso viel wie die Tötung einer Frau, die keine Kinder mehr bekommen konnte. War sie noch im gebärfähigen Alter, waren 600 „solidi“ zu entrichten. Die Tötung eines Kindes im Mutterleib oder in den ersten neun Tagen nach der Geburt kostete 100 „solidi“. Wer eine freie, schwangere Frau tötete, musste also logischerweise 700 entrichten. Die Tötung eines freien Mädchens kostete 200, die eines Knaben unter zehn Jahren 600 „solidi“. Man sieht, wie wichtig für die Franken der Aspekt der

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Wirtschaft und Handel Fortpflanzung bei der Straffindung war, denn es galt, die Zukunft der Familie zu sichern. Schuldner des W.s war nicht allein der Täter, sondern auch dessen Sippe, die mit ihm bei Zahlungsverweige-

rung befehdet worden wäre. Geleistet wurde die Buße in Naturalien nach frühem fränkischem Recht an den engeren Familienkreis des Getöteten und an dessen Sippe.

Wirtschaft und Handel Für das Verständnis der Wirtschaftsentwicklung im MA lohnt ein Blick auf die Krisenzeit der Spätantike und Völkerwanderungszeit. Antike Kultur und Wirtschaft lebten trotz der Zerstörungen durch die germanischen Eroberer fort und verschmolzen mit deren Lebensweise zur mittelalterlichen Kultur. Aus dem Chaos der Völkerwanderung stiegen die einstigen römischen Provinzen, die zuvor eine lange Periode schwerer wirtschaftlicher Depression mitgemacht hatten, zu neuer Blüte auf. Grund dafür war, dass den Barbaren ein ausgeklügeltes Steuersystem und ein Geld verschlingender Staatsapparat unbekannt waren. Die Entlastung von drückenden Steuern förderte die Investitionsbereitschaft, machte Arbeit und Produktion wieder lohnend. Es folgte eine Zeit wirtschaftlicher Gesundung, verbunden mit enormem Bevölkerungszuwachs, dem Motor des Wirtschaftswachstums, denn wo mehr Menschen zu versorgen sind, muss mehr produziert werden. Neuorientierung des Handels Losgelöst vom Mittelmeerraum hatten die Franken, die neue ‚Großmacht‘ in Mitteleuropa, längst Handel mit den Friesen, Skandinaviern, den slawischen Völkern und den Hunnen getrieben, wie archäologische Funde von Schmuckstücken dieser Kulturkreise in germanischen Gräbern zeigen. Aus dem Slawengebiet wurden seit dem Frühmittelalter Sklaven ins Frankenreich importiert, die noch lange Zeit fast den einzigen Gegenwert für Einfuhren aus dem Mittelmeerraum darstellten. Der Übergang der Friesen, Angeln, Sachsen und anderer Küstenvölker von planlosen Beutezügen zu planmäßigem Handel mit einheimischen Produkten, leitete deren dauerhafte Öffnung für den ‚Welthandel‘ ein. Eine bedeutende Rolle für den Handel vor allem im gallischen Teil des Frankenreichs spielte das Vordringen der Araber nach Spanien. Einerseits wurden sie Handelspartner, andererseits behinderten arabische Freibeuter den Mittelmeerhandel derart, dass er im

Wirtschaft und Handel 8./9. Jh., fast zum Erliegen kam. Als Fernhändler haben sich vor allem die Juden hervorgetan, die die alten Wege nach dem Morgenland weiter bereisten. Bedarf macht erfinderisch Ungleich bedeutsamer als der Außenhandel war für das Frankenreich zunächst der regionale Handel mit Waren des täglichen Bedarfs. Zur Versorgung der Bürger in den Städten gab es schon vor der Eroberung der römischen Provinzen durch die Franken Märkte und spezialisierte Geschäfte. Ein Teil der Städter besaß landwirtschaftliche Betriebe, von denen Nahrungsmittel zum eigenen Bedarf, aber auch zum Verkauf angeliefert wurden. Ansonsten bedienten die Bauern aus der Umgebung den Markt (Landwirtschaft). Die römischen Kulturzentren in Gallien wurden von den Franken nicht zerschlagen, vielmehr machte man sich die Errungenschaften der romanischen Bevölkerung zunutze. Die mit zahlreichen Stadtgründungen einhergehende Verdoppelung, vielleicht sogar Verdreifachung der Bevölkerung bis zur Mitte des 14. Jh.s führte zwangsläufig zu einer Intensivierung von Landwirtschaft, Handwerk und Handel, zu Kapitalbildung und einer grundlegenden Veränderung der Mentalität. Die Menschen lernten, sich die Erde untertan zu machen, indem sie ihr Handeln nicht mehr allein an den natürlichen Gegebenheiten orientierten, sondern versuchten, die Umwelt ihren Bedürfnissen anzupassen. Sie errichteten z. B. eine Mühle nicht mehr dort, wo sich an einem Wasserlauf zufällig ein günstiger Platz bot, sondern holten das Wasser mit größtem technischem Aufwand dorthin, wo sie die Mühle brauchten. In Salzburg taten sich z. B. die Mönche von St. Peter und das Domkapitel zusammen, um einen etwa 370 m langen, 1 m breiten und 2 m hohen Stollen durch den Mönchsberg zu bauen, durch den ein Bach geleitet wurde, dessen Wasser beide Konvente nutzen konnten. Das Streben nach nutzbringender Verbesserung richtete sich ebenso auf die Erschließung von Baumaterial und Rohstoffen. Wie der Mensch die Natur effektiver auszubeuten begann und dadurch verändernd in das ,Unland‘ vorstieß, wird am Bergbau deutlich. Erze hatte man im Frühmittelalter nur für den Eigenbedarf in Siedlungsnähe abgebaut, im Hochmittelalter drang man in unerschlossene Gebiete vor, schürfte nicht mehr nur in Oberflächenwannen, sondern trieb Stollen ins Erdreich. Verschiedene Quellen bezeugen für das 12. Jh. abgeteufte Schächte, in die Hauer in Körben hinabgelassen wurden. Verhüttet wurde das Erz dort, wo genügend Holz zur

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Wirtschaft und Handel Verfügung stand. Schon damals bildeten sich Zonen der Produktion von Eisen und Eisenwaren heraus, z. B. das Siegerland. Der Abbau von Eisenerz wurde ebenso vom Kg. als Regal beansprucht wie die Gewinnung von Silber- und Buntmetallen. Grundlage für die Um- und Neugestaltung der bewohnten Welt war wachsender Reichtum gepaart mit Investitions- und Risikobereitschaft. Seit dem 11. Jh. beschleunigte sich zusehends der Prozess der Differenzierung der Aufgaben und Funktionen und der Professionalisierung der Tätigkeiten innerhalb der Gesellschaft. Eine rasch fortschreitende Arbeitsteilung und Spezialisierung steigerte in allen Bereichen die Leistung und führte zu erstaunlichen Verbesserungen von Qualität und Ertrag. Gegenseitige Abhängigkeiten wurden größer, Verflechtungen zwischen Stadt und Land vielfältiger. Nach einer groben Schätzung mit vielen Unbekannten war die Ackerflur von mindestens zehn Dörfern notwendig, um eine Stadt von 3.000 Einwohnern mit Getreide zu versorgen. Geliefert wurde vor allem von Grundherren, aber auch von abhängigen Bauern, die auf diese Weise das Geld für den Bedarf verdienten, den ihr Hof nicht decken konnte. Die Zisterzienser, die ihre Güter, die Grangien, von Laienbrüdern (Konversen) und Lohnarbeitern bebauen ließen, richteten gezielt Wirtschaftshöfe in größeren und kleineren Städten ein. Indem sie dort für ihre Eigenleute das Bürgerrecht erwarben, gewannen sie Anteil an den städtischen Marktprivilegien sowohl für den Verkauf ihrer Produkte, als auch für den Einkauf. Ebenfalls das Rohmaterial für die vielerorts aufblühende Wolltuchherstellung, den vielleicht wichtigsten Wirtschaftszweig der Epoche, lieferten meist die ‚Großgrundbesitzer‘. Die landwirtschaftlichen Erträge wurden nicht immer nur auf dem Markt der nächsten Stadt angeboten, sondern oftmals von Händlern, die ferne ‚Großstädte‘ versorgten, vor Ort aufgekauft. Manch kleinere Stadt mit agrarischem Umland ist durch Lebensmittelhandel im 13. Jh. zu Wohlstand gelangt. Die Wirtschaftsmacht der Hansestädte an Ost- und Nordsee beruhte u. a. darauf, dass sie den Export von Getreide und anderen Nahrungsmitteln aus fruchtbaren Ackerbaugebieten Mittelund Osteuropas in den dichter bevölkerten, verstädterten Westen fast monopolisieren konnten. Handwerk und Zünfte Noch rascher und einschneidender griff die Entwicklung des städtischen Handwerks in die Struktur der grundherrlichen Wirtschaft ein. Was die

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Wirtschaft und Handel Herrenschicht für das tägliche Leben brauchte, war bisher oft von Hofhandwerkern in eigenen Werkstätten hergestellt worden, die den Markt mitversorgten. Für die Tuchherstellung hatte es neben der Weberei im bäuerlichen Haushalt manufakturartige Werkstätten gegeben, in welchen hörige Frauen zu Dutzenden am Webstuhl saßen. Im frühen 11. Jh. vermachte Graf Dodiko von Warburg dem Bf. Meinwerk von Paderborn ein derartiges ‚Frauenhaus‘ mit der Auflage, dass die Hörigen künftig nicht mehr zu solcher Arbeit herangezogen werden sollten. Die Zeit dieser Werkstätten ging zu Ende. Immer häufiger nennen die Quellen im 11./12. Jh. Weber in Städten, die für Exportkaufleute Tuche produzierten. Die Weberei differenzierte sich in verschiedene Gewerbe. In Köln z. B. bestanden Mitte des 12. Jh.s schon zunftartige Zusammenschlüsse für mehrere Sparten der Tuchweberei. Ebensolche Vielfalt entwickelte sich in anderen Handwerkssparten. Man muss ein wenig die Fantasie spielen lassen, um sich die Wirkung dieser Entwicklung auf Kleidung, Aussehen und Gehabe der Menschen vorzustellen. Der höfische Prunk, die Differenzierung der Trachten nach Stand und Beruf, die prächtigen, raffiniert geschnittenen Gewänder wurden in dieser Form und Vielfalt erst durch den Wandel in der Struktur des Handwerks möglich. Zwar hatte es bei den Mächtigen und Reichen schon vorher Kleiderluxus gegeben, der das weit übertraf, was der einfache Mann aus dem Volke sich vorstellen konnte, doch nun produzierten heimische Meister solche textilen Wunderwerke. Gesetze und Kleiderordnungen sorgten wenig später dafür, dass überbordender Luxus dennoch dem Adel vorbehalten blieb. Vornehm, wie man es sich zumindest zu Beginn der Salierzeit nicht hätte vorstellen können, begannen die Städter im 12. Jh. zu wohnen. Diese Entwicklung ging mit einer Professionalisierung des Bauens und einer Spezialisierung der beteiligten Handwerke einher. Schriftlich ist hierüber besonders wenig überliefert, doch bauliche Zeugen dafür stehen in vielen Städten heute noch. Zum Setzen großer Quader brauchte man Hebezeug, das in raschem technischem Fortschritt verbessert wurde und erlaubte, die Zahl der benötigten Träger zu reduzieren. Erst als im Laufe des 12. Jh.s Berufsmaurer in größerer Zahl zur Verfügung standen, breitete sich der Backsteinbau dort aus, wo Natursteine fehlten. Die Häufigkeit des Fachwerkbaus, vor allem in Form des mehrstöckigen Hauses, war an die Existenz geschulter Zimmerleute gebunden. Geschick und Findigkeit der Handwerker hoben freilich nicht nur die Lebensqualität, sondern wurden von Anfang an auch in den Dienst der

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Wirtschaft und Handel Kriegsführung genommen. Der Prunk der ritterlichen Ausrüstung wurde ebenso gesteigert wie die Gefährlichkeit der Waffen, vor denen man sich durch noch bessere und schwerere Panzerung zu schützen versuchte. Es wurden Belagerungsmaschinen gebaut, mit denen es gelang, Mauern zu brechen, die als uneinnehmbar galten. An den erhaltenen Bauwerken kann man verfolgen, wie die Wehrhaftigkeit und Festigkeit der Burgen wuchs, die man in der Stauferzeit allerorts unter Beteiligung von Steinmetzen, Maurern, Zimmerleuten und Schmieden errichtete (Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus). Überall wurde das in die Grundherrschaft integrierte oder von wandernden Werkleuten mit vielseitigem Geschick ausgeübte Handwerk durch ein professionelles, hoch spezialisiertes abgelöst, das sich, soweit es nicht an Lagerstätten von Erz oder Ton gebunden war, in der Stadt niederließ. Das Schmiedehandwerk verselbstständigte sich zunächst von der Roheisenproduktion und spaltete sich im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters in eine ganze Reihe spezieller Produktsparten. Die rasche Entfaltung des städtischen Gewerbes bot handwerklich geschickten Hörigen günstige Voraussetzungen, um der Grundherrschaft zu entfliehen. Handel Schon vor den Handwerkern hatten sich die Kaufleute zu Bruderschaften, den Gilden, zusammengeschlossen, um sich gegenseitige Hilfe zu leisten und Interessen zu regeln, die nicht nur Fragen gemeinsam durchgeführter Handelsreisen, sondern auch Angelegenheiten rechtlicher, wirtschaftlicher und religiöser Art betrafen. Kaufleute und ihre Gilden waren vom Kg. mit besonderen Freiheiten ausgestattet worden, die am Anfang der Entwicklung der Stadtrechte standen. Die handwerkliche Produktion der Städte wurde schließlich zur Grundlage des Erfolgs und Reichtums ihrer Kaufmannschaft. Ganz deutlich spiegelt sich das in den Quellen des 13. Jh.s, doch schon im 11. Jh. zeichnete sich die Entwicklung ab, der die Kaufleute ihren sozialen Aufstieg verdankten. Sie konnten an den Jahrmärkten und Umschlagplätzen für den Handel mit Nord- und Osteuropa, Waren anbieten, die sie als Produkte ihrer Heimat günstiger ein- und verkauften als andere Händler. Besondere Qualitäten wurden häufig nach dem Herkunftsort benannt. Warenkenntnis bei Händlern und Kunden bestimmte die Geschäfte. Selbst in Polen wusste man Schleier und Gürtel aus Zürich zu schätzen. In Florenz, dem Zentrum einer eigenen Wolltuchproduktion, kleidete sich

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Wirtschaft und Handel der Stadtadel in das feine scharlachrote Tuch aus Ypern, während sich das Volk dort an die gröbere, grüngefärbte Ware aus Cambrai hielt. Die Fernhändler kauften in der Fremde nicht mehr für feste Auftraggeber, etwa einen Hof oder ein Kloster, ein, sondern hatten den Markt ihrer Stadt im Blick, den sie kannten, auf dem sie als Einheimische Privilegien besaßen. Wenn es deutschen Kauffahrern im Ostseehandel seit Mitte des 12. Jh.s gelang, die Konkurrenten aus Gotland oder Nowgorod zurückzudrängen, so lag das an der Verbindung mit dem Gewerbe und dem Markt ihrer Heimatstadt. Zentrale Bedeutung für den Handel hatten die berühmten Messen der Champagne (nach 1180 bis ca. 1300), bei denen internationaler Warenaustausch zwischen süd- und nordalpinen Geschäftsleuten stattfand. Auch in Italien entstanden mehrere international besuchte Fernhandelsmessen. Die bedeutendsten Warenumschlagsplätze waren Venedig, gefolgt von Genua, die intensiven Handel in den Orient und bis nach China unterhielten. Verbunden mit dem internationalen Warenaustausch war natürlich ein Lernprozess im Hinblick auf Sortiment und Qualität. Eine Art erlaubte ‚Werksspionage‘ betrieben wandernde Handwerksgesellen, die ihr Handwerk bei mehreren Meistern in verschiedenen Städten erlernten und bei ihren Wanderungen das ferne Ausland nicht scheuten. Trotz Verständigungsschwierigkeiten hat es viele Handwerksgesellen insbesondere nach Italien, Frankreich und Spanien gezogen. Transportgewerbe Mit der Intensivierung des Handelsaustausches entwickelte sich ein eigenständiges Transportgewerbe, zumal der Transport von Massengütern zunahm. Nicht nur Transportunternehmer zu Wasser, dem beliebtesten, sichersten und einfachsten Handelsweg, sondern auch Fuhrleute steigerten ihre Effizienz beträchtlich. Als der 1090 verstorbene Abt Wilhelm von Hirsau von einem Wohltäter in Mainz eine große Menge Wein geschenkt bekam, ließ er diesen nicht von seinen Hörigen holen, sondern heuerte Fuhrleute an, die den Transport in eigener Verantwortung organisierten und gemeinsam für den Schaden aufkommen sollten, der nach einem Unfall durch das Auslaufen eines Fasses entstanden war. Welchen Umfang Transportprobleme annehmen konnten, zeigt ein Brief von etwa 1128, den Bf. Otto von Bamberg auf seiner zweiten Missionsreise nach Pommern erhielt. Abt Wignand von Theres berichtete, er habe auftragsgemäß in Goslar Kupferplatten für das Dach des Bamberger Domes gekauft, doch von den ca. 700

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Wunder Zentnern Kupfer seien trotz größter Anstrengungen erst 300 bis in die Gegend von Schmalkalden verfrachtet worden. Zwei, höchstens drei Generationen später wurden solche Transporte von Fuhrunternehmern auf verbesserten Wegen und Wagen wesentlich schneller bewältigt. Wagner, Seiler, Böttcher, Kummetmacher, Sattler und Schmiede stellten her, was Fuhrleute für ihr Metier benötigten. Ihre Zugtiere kauften sie von Grundherren, die nicht mehr nur für den eigenen Bedarf, sondern für den Markt spezialisierte Pferdezucht betrieben. In allen Bereichen der Wirtschaft, auch im Bankwesen, wurde das menschliche Wirken durch neue Erfindungen und Spezialisierung immer effizienter. Hinter dieser Entwicklung stand ein fundamentaler Wandel der Mentalität, geprägt von wachsender Kreativität, Gewinnsucht, Streben nach Aufstieg und Abenteuerlust, der den Weg in die kapitalistische Gesellschaft gewiesen hat.

Wunder Als W. gilt all das, was Scheu oder Staunen hervorruft und rational nicht zu erklären ist. In primitiven Religionen wurden W. dem Wirken von Göttern oder Dämonen zugeschrieben, für griechische Philosophen waren sie das aus Naturgesetzen nicht zu erklärende Übernatürliche. Allein die Menschen der biblischen Religionswelt blieben W.n gegenüber gelassen, war ihnen doch klar, dass sie durch den allmächtigen Gott bewirkt wurden. Für ihn, der in wunderbarer Weise alles geschaffen hat, überall wirkt und seine Größe offenbart, sei es überhaupt nicht ungewöhnlich, dass er hin und wieder mal ein W. tut. Wundertätigkeit war im christlichen MA ein Zeugnis für die göttliche Allmacht, weshalb Geistliche in ihren Predigten nicht mit Wunderberichten geiz-

ten. Doch nicht nur Gottvater und sein Sohn waren in der Lage, W. zu tun, sondern auch die Heiligen, die in Konkurrenz zu heidnischen, aus der Macht des Teufels agierenden Magiern traten, um die Überlegenheit des christlichen Gottes und Glaubens zu beweisen. Die Heiligen wirkten ihre W. ebenso wie die Engel aufgrund ihrer engen Beziehungen zu Gott, weshalb noch heute W. als sichtbares Zeichen von Heiligkeit gelten – die Bestimmungen der katholischen Kirche für die Einleitung eines Heiligsprechungsverfahrens verlangen mindestens zwei gut bezeugte W. des ‚Kandidaten‘, wobei es sich nicht unbedingt um körperlich erfahrbare handeln muss. ‚Sprituelle‘ W. haben eine in frühchristliche Zeit zurückreichende Tradition, wenngleich die ersten wundertätigen Heiligen, schenkt man ihren Lebensbe-

205 schreibungen oder Wunderberichten Glauben, nach dem Vorbild Christi Blinde, Lahme oder Aussätzige geheilt, ja sogar Tote auferweckt haben sollen. Im Rahmen der Mission, aber auch zur Durchsetzung politischer Ziele betrieb man Propaganda mit W.n und Wundertätigkeit: Kritiker warfen z. B. Papst Gregor VII. († 1085) vor, er lasse Gerüchte über von ihm bewirkte W. verbreiten, um in den Geruch der Heiligkeit zu kommen und durch diesen sein schändliches Tun (den Kampf gegen Heinrich IV.) zu rechtfertigen. Ganz unkritisiert blieb blinder Wunderglaube in der Kirche nicht. Bereits Jesus (Matthäus 12, 38–39) hatte die Pharisäer und Schriftgelehrten abgekanzelt, die von ihm ein W. als Zeichen dafür verlangt hatten, dass er Gottes Sohn sei: „Die böse und ehebrecherische Art suchet ein Zeichen, und es wird ihr kein Zeichen gegeben werden.“ Die Kirchenväter Augustinus († 430) und Papst Gregor d. Gr. († 604) gaben zu bedenken, dass das Wirken von W.n allein kein Zeichen von Heiligkeit sei, da ja heidnische Magier im Bunde mit dem Teufel W. vollbringen könnten. Außerdem war es für erfolgreiche Wunderwirksamkeit unerlässlich, dass das umstehende Volk, für welches das W. getan werden sollte, auch wirklich von vornherein gläubig war, denn vor Ungläubigen hatte selbst

Wunder Jesus keine W. vollbringen können (Markus 6, 4–5). Der Vorteil dieser Erkenntnis liegt auf der Hand, denn die Unfähigkeit eines Heiligen, W. zu vollbringen, rührte vom Unglauben des Volkes. Angesichts solcher Skepsis und der Schwierigkeit, W. vor vielen erwartungsvoll gaffenden Zuschauern zu tun, überrascht der Versuch christlicher Vordenker nicht, die Bedeutung „körperlicher W.“ wie Krankenheilungen herunterzuspielen, vollzogen sie sich doch gegen die von Gott geschaffene Natur. Höher bewerteten sie dagegen geistige W., z. B. aufs Äußerste gesteigerte Demut, Freigebigkeit, Askese oder Feindesliebe. Freigebigkeit oder Friedfertigkeit von Mitgliedern ansonsten als raffgierig oder gewalttätig eingestufter Bevölkerungsgruppen wie Kaufleute oder Adelige beeindruckten insbesondere die Armen und ließ sich problemlos werbewirksam und einleuchtend als Nachahmung der göttlichen Liebe erklären. Ein derartiges W. vollbrachte der hl. Franz von Assisi, dessen demütige, der Nächstenliebe und Armut im Herrn verschriebene Lebensweise in kürzester Zeit Tausende aus allen Bevölkerungsschichten und Ländern dazu bewegte, ihm nachzufolgen – auch dies ein W., vielleicht noch größer als die in seiner Lebensbeschreibung geschilderte Stigmatisation (= Auftreten der Wundmale Christi an seinem Körper).

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Zahlungsmittel Zahlungsmittel Im Frühmittelalter dominierte im Gebiet des heutigen Deutschland der Tauschhandel, doch wurde schon mit Geld oder nicht gemünztem Edelmetall bezahlt. Bediente man sich der Münzen, handelte es sich bis ins 6. Jh. um solche des byzantinischen Ks.s oder deren Nachahmungen. Kg. Theudebert I. (534–548), der seinen Namen auf eine Goldmünze setzen ließ, läutete die eigenständige Münzprägung im Frankenreich ein. Neben der königlichen gab es im römisch geprägten Westen des Frankenreichs noch über 800 kirchliche und private Münzstätten. Von zentraler Kontrolle war keine Rede. Die fränkische Leitmünze bzw. Rechnungseinheit war eine Goldmünze, der Solidus. Tatsächlich im Umlauf waren jedoch nur der ungefähr 1,5 g schwere Triens bzw. Drittteil des Solidus und Silberdenare. Im salfränkischen Recht wurden Strafen in Solidi berechnet, wobei 40 Silberdenare einem Solidus gleichgesetzt wurden. Da Gold immer knapper wurde, kursierten bald nur noch Silbermünzen. Die ersten Karolinger machten im 8. Jh. aus der Münzprägung eine königliche Institution und kontrollierten Feingehalt des Metalls, Gewicht und Typus der Münzen. Ein Solidus als Rechnungseinheit entsprach nun 12 Denaren. Karl d. Gr. behielt die Prägung allein Werkstätten in den Kaiserpfalzen vor. Die Münzen trugen sein Bild und seinen Namen mit Titel. Sein Sohn,

206 Ludwig der Fromme, gab die Zentralisierung wieder auf: Das Münzrecht blieb zwar das ganze MA hindurch ein königliches Recht (Regal ), wurde jedoch angesichts des zunehmenden Geldbedarfs an Bischöfe, Klöster, weltliche Große und Städte verliehen. Bis in die Ottonenzeit zeigten die Münzen das Bild des Kg.s. Im Jahr 975 ließ Ebf. Willigis von Mainz erstmals sein eigenes Bild auf eine Münze schlagen und schon Ende des 11. Jh. zeigten Münzen meist Kopf und Namen des prägenden Bf.s oder Abtes. Die Vermehrung der Münzstätten rechts des Rheins stand im Zusammenhang mit dem beginnenden Silberbergbau im Harz und Schwarzwald. Führend in der Münzprägung wurden die Rheinischen Bischofsstädte. Im Westen setzte sich dank der Wirtschaftskraft von Stadt und Ebf. der Kölner Pfennig (1,46 g) vom Niederrhein bis nach Basel als Leitwährung durch, zu dem die anderen Pfennige in eine feste Relation gesetzt wurden. Unter Friedrich Barbarossa nahm 1180 die Schwäbisch-Haller Münzstätte ihre Arbeit auf, in welcher der Heller geschlagen wurde, der bis zur Einführung der Mark in Deutschland (1871–1873) als Z. weit verbreitet war. Angesichts der Vielfalt der Münzen ist es kein Wunder, dass Münzwechsler ausführliche Umrechnungstabellen benötigten. Dazu kam noch, dass die Münzherren bei finanziellen Engpässen einfach den Silbergehalt der Münzen herabsetzten, so

207 dass der Geldwert einem beständigen Wandel unterworfen war. Als Rechnungseinheit für größere Summen gab es Mark und Pfund als von Ort zu Ort unterschiedliche Metall- und Münzgewichte. Die Kölner Mark, nach der zeitweise sogar in der Handelsmetropole Venedig gerechnet wurde, hatte nach heutigem Gewicht 234 g, das waren 144 Kölner Pfennige. Das Pfund, nach dem die Heller berechnet wurden, stand in unterschiedlichen Relationen zur Mark – im Kölner Bereich wurden zwei Mark einem Pfund gleichgesetzt. Unter Ludwig dem Heiligen begann 1262 in Frankreich die Periode der silbernen Großmünzen. Der in Tours geprägte „gros Tournois“, der Tournosengroschen, wurde nach 1301 zur Leitwährung in Deutschland. Die Beherrscher Deutschlands, die römischen Kg.e und Ks., haben zu keinem Zeitpunkt irgendein Interesse gezeigt, für ihr Reich eine einheitliche Währung zu schaffen, um den Handel zu vereinfachen. Spätestens seit dem Italienzug Ks. Heinrichs VII. (1310–1313) hielten wieder Goldmünzen in größerer Zahl Einzug in Deutschland. Leitwährung war der seit 1252 in Florenz geprägte, 3,5 g schwere Floren. Eine Art Währungsreform gelang in Deutschland 1385 mit der Einführung des rheinischen Gulden, der für über anderthalb Jh.e das Geldwesen im Rheingebiet bestimmen sollte. Man muss sich nur einmal vorstellen, mit wie viel Geld oder Edelmetall

Zehnt ein Fernhandelskaufmann seine Maultiere oder Karren beladen musste, um genügend Z. für seinen Wareneinkauf mit sich zu führen. Schon im 12. Jh. begann deshalb europaweit der bargeldlose Zahlungsverkehr per Wechselbrief. Trotzdem führten Kaufleute noch bis weit in die NZ hinein Geld und Edelmetall mit sich. Zahnpflege Bis ins 19. Jh. hinein blieb die Z. ein Stiefkind des Fortschritts. Auf Z. Bedachte spülten morgens den Mund und rieben die Zähne mit einem Lappen, auf den sie Salz oder ein kreideartiges Zahnpulver streuten. Das Pulver enthielt häufig harte Bestandteile, die zwar den Schmutz entfernten, aber auch den Zahnschmelz verletzten und zusammen mit dem Brot, das ebenfalls unzählige kleine Steinpartikelchen enthielt, der Karies Tür und Tor öffneten. Angesichts derartiger Z. hatten vor allem junge Menschen Zahnprobleme, denn die Alten hatten meist keine mehr, die Probleme bereiten konnten. Zehnt Die im alten Testament und in frühkirchlichen Vorschriften verankerte Zahlung des zehnten Teils des Ertrages der landwirtschaftlichen Betriebe an die Pfarrkirche war seit der Karolingerzeit (8. Jh.) durch die Kirche geboten. Der Z. war ein wichtiger Teil des Pfarreinkommens und deshalb Grund für die früh-

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Zeit zeitige Abgrenzung der Pfarrsprengel und die Investition in Eigenkirchen (Seelsorge). Ein Drittel oder Viertel des Z.s diente dem Unterhalt des Pfarrers, der Rest war für den Bischof, die Armen oder gegebenenfalls den Eigenkirchenherrn bestimmt. Zehntpflichtig waren sowohl weltliche als auch kirchliche Grundbesitzer, doch erreichten zahlreiche Klöster die Befreiung vom Z. durch päpstliches Privileg. Im Hochmittelalter gelangten durch Kauf, Tausch oder Verpfändung Zehntrechte an Laien, wodurch sich der Pfarrer das lästige Eintreiben des Z.s auf den Bauernhöfen ersparte. Zeit Die mittelalterliche Vorstellung von Z. richtete sich nach dem göttlichen Plan, der durch Sonnenaufgang und -untergang, durch die Jahreszeiten usw. in seinen Grundlagen gar nicht so schwer erkennbar war. Die Arbeit folgte diesem natürlichen Rhythmus, der für die bäuerliche Gesellschaft wie geschaffen war – in den Jahreszeiten, in denen es mehr Arbeit gibt, ist der Tag länger, im Winter, wenn es daran geht, die kärglichen Vorräte zu verzehren, kürzer. Die Bauern kamen problemlos ohne Uhr zurecht, richteten sich vielleicht nach dem Stand der Sonne, doch das kirchliche und hier vor allem das klösterliche Leben forderte die Beachtung einer präzisen Stundeneinteilung. Im Gebrauch waren Sonnen-, Kerzen- und Wasseruhren sowie astronomi-

208 sche Instrumente zur Zeitbestimmung. Räderuhren, die mit Gewichten arbeiteten, sind erst vom 13. Jh. an nachzuweisen. Die Stundeneinteilung richtete sich nach den sieben Kanonischen Stunden des kirchlichen bzw. mönchischen Lebens – „matutinum“ (= Frühmette), Primzeit, Terzenzeit, „sexta“, „nona“, „vespera“ (= Vesperzeit) und „completa“. Einer der Mönche war stets mit der Überwachung des Stundenrhythmus beauftragt. Wenn er nachts gegen zwei Uhr unserer Z. die Gebetsglocke läutete, hatte er die Z. aus dem Aufgang bestimmter Sterne oder der Wasseruhr zu ersehen. Darauf sang er eine bestimmte Anzahl von Psalmen, bis er das Zeichen zum Aufstehen gab. Die Zahl der Psalmen war in den einzelnen Monaten verschieden, weil man in den Klöstern im Sommer früher aufstand. Der christliche Glaube hat auch die Festsetzung des Jahresanfangs bestimmt, allerdings mit verschiedenen Daten. Der 1. Januar hat sich im abendländischen Kalender erst im 16. Jh. durchgesetzt. Die wichtigsten Neujahrsdaten waren: 25. Dezember – Weihnachtsstil (am weitesten verbreitet); 25. März – Tag der Verkündigung Mariens; 1. Januar – Julianischer Stil (nach Caesar) im MA Circumcisionsstil nach Jesu Beschneidung (= circumcisio); 1. September vor unserem Jahresanfang – byzantinischer Stil nach dem Tag der Erschaffung der Welt; 1. März – altrömischer, vorcaesarianischer Jahresbeginn, der in

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Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus

Venedig bis 1797 amtlich in Gebrauch war; Ostern, das auf 35 verschiedene Tage zwischen dem 22. März und dem 25 April fallen kann, da der Ostertag auf dem Konzil von Nikäa (325) auf den 1. Sonntag nach dem ersten Vollmond nach Frühlingsbeginn festgelegt wurde. Die Tagesdaten richteten sich zumeist nach der römischen Berechnung mit Kalenden, Nonen und Iden, deren Berechnung eine Erklärung verlangt: Die Kalenden waren der erste Tag des Monats, von dem aus zurückgerechnet wurde, wobei Anfangs- und Endtag einbezogen wurden. Deshalb lautete die Formel für die Berechnung: Anzahl der Tage des Vormonats plus 2 minus dem genannten Tag – die fünften Kalenden des Mai liegen also am 27. April, die fünften Kalenden des April am 28 März. Nonen und Iden lagen normalerweise am 5. und 13. eines Monats, im März, Mai, Juli und Oktober aber am 7. bzw. 15. (Merkwort: Momjul). Die Formel zur Berechnung der Tage lautet demzufolge: Nonen- oder Identag plus 1 minus Anzahl des genannten Tages. Vielfach wurden bis weit in die NZ

hinein vor allem im ländlichen Bereich Heiligenfeste zur Datierung verwandt, die damals viel präsenter als heute waren. Allerdings begnügte man sich keineswegs damit, zu wissen in welchem Jahr, Monat und Tag man gerade lebte, sondern man interessierte sich brennend für die jeweilige Mondphase, den Stand der Sterne und vor allem dafür, wann denn die Erde geschaffen wurde, wann sie zu Ende gehen werde, und in welcher Z. man im Augenblick lebe. Der 1420 verstorbene Theologe Pierre d’Ailly hatte das Jahr 1789 als Weltenende errechnet, doch fand in ihm anstelle des Weltuntergangs und Jüngsten Gerichts bekannter Weise die Französische Revolution statt. Der 1494 verstorbene, höchst gelehrte Humanist Pico della Mirandola setzte das Ende der Welt auf 1994 fest, hat damit das Jahr und Jahrzehnt seines Todes vorausberechnet, sich aber im Jh. geirrt. Insbesondere das Jahr 1000 stand zumindest bei einem großen Teil der Gebildeten stark im Verdacht, das allerletzte der Welt zu sein.

Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus Das Zuhause im MA? Wem würden da nicht sofort eine trutzige Burg vor Augen schweben oder ein schmuckes Bürgerhaus aus Stein oder Fachwerk, vielleicht noch ein altes Bauernhaus, wie man es noch in so manchem Freiluftmuseum bewundern kann. Doch spiegeln solche Bauten nur einen kleinen Teil der mittelalterlichen Realität.

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Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus Leben auf Burgen Zumindest mit der Burg verbindet sich ein Hauch von Romantik. Legion sind die Reise- oder Wanderführerautoren, die eine Burg oder Burgruine vom hohen Fels ins Tal grüßen lassen, was nicht verwundert, sind doch allein in Deutschland noch mindestens 6.000 Burgen in einem Zustand, in welchem ihr Gruß ohne Spezialkenntnisse wahrgenommen werden kann – diese braucht man hingegen, um die Reste der über 19.000 erhaltenen historischen Burgdenkmäler als solche zu identifizieren. So manche Überreste frühmittelalterlicher Burgen werden wohl nie entdeckt werden, weil es sich um befestigte Holzbauten gehandelt hat: hin und wieder vielleicht eine Verfärbung des Erdreichs, eine kleine Bodenunebenheit, mehr nicht. Der Holzbau als Burg widerspricht jeder landläufigen Vorstellung von einer ‚richtigen Burg‘, ist aber angesichts der Definition als Verbindung von Wohnbau und Wehrbau durchaus möglich. Die ‚Erfindung‘ der Burg war zumindest im Frankenreich eine Folge des Terrors. Wilde Normannenhorden machten in der zweiten Hälfte des 9. Jh.s auf ihren Schiffen nicht nur die Küsten unsicher, sondern plünderten sogar Paris. Waren zuvor Wohnhäuser und Wehrbauten (Fluchtburgen) getrennt gewesen, wurden angesichts dieser Überfälle Wohnbauten in Verteidigungszustand versetzt. Kg. Heinrich I. ließ zum Zweck der erfolgreichen Verteidigung gegen die Ungarn an der Ostgrenze seines Ostfränkischen (Deutschen) Reiches in der ersten Hälfte des 10. Jh.s geradezu einen Burgengürtel erbauen. Dort verschanzten sich die zur Verteidigung des Reiches Bestimmten und in den Augenblicken der Gefahr konnte sich die Bevölkerung dorthin zurückziehen. Die Burg war ein ‚Erfolgsmodell‘, eine Burgenbauwelle erfasste ganz Europa und erreichte im 12. Jh. ihren Höhepunkt. Der Stauferherzog Friedrich II., der Vater Ks. Friedrich Barbarossas, sicherte seine Herrschaft über das Elsass durch derart viele Burgen ab, dass sein Halbbruder, Bf. Otto von Freising, schreiben konnte: „Hzg. Friedrich zog am Schweif seines Pferdes stets eine Burg hinter sich her.“ Von diesen festen Plätzen aus verwalteten die Ministerialen das Land, zogen Abgaben ein und sicherten die Rechte ihres Herrn. Die Quantität lässt den Schluss zu, dass so manche dieser Burgen unserer idealtypischen Vorstellung wohl nicht entsprochen hat. Es dürfte sich zum Teil um befestigte grundherrliche Bauernhöfe gehandelt haben. Nicht viel anders werden Burgen von Rittern ausgesehen haben, die aus ihrer Stellung als Bauer oder Kriegsknecht eines adligen Herren in den Ritterstand aufgestiegen waren: Schlafraum für die

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Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus gesamte Familie samt Gästen und ‚Wohnküchenempfangsraum‘, mehr darf man nicht erwarten. Zu einer idealtypischen Burg gehören feste Mauern mit Zinnen, Schießscharten und Wehrgang, davor der Burggraben (mit oder ohne Wasser), über den die Zugbrücke zum in die Mauer integrierten Burgtor führte. Da dieses bei Angriffen besonders gefährdet war und dem Besucher einen ersten Eindruck von der Burganlage vermittelte, war es als Zwingertor oder Torburg besonders trutzig und repräsentativ durch eingestellte Säulen oder flankierende Türme gestaltet. Direkt über dem Eingang ragten Pechnasen hervor, durch welche siedendes Wasser oder Pech auf Angreifer gegossen werden konnte. Die Zugbrücke wurde nicht nur bei drohender Gefahr, sondern auch bei Dunkelheit heraufgezogen. Das zweigeteilte Burgtor war aus massivem Holz mit Eisenbeschlägen und einem bisweilen als Tierkopf modellierten Türklopfer verziert und hing in festen, eisernen Türangeln. Dahinter befand sich ein Fallgatter aus festen, unten angespitzten und mit Eisen beschlagenen Balken. Der Bergfried bot den Burgbewohnern möglicherweise die letzte Zuflucht nach der Erstürmung der Mauern. Er war eine Art Wachturm, dessen Mauern bis zu sechs Meter dick sein konnten. Sein Eingang lag in den oberen Stockwerken und war über eine leicht zerstörbare Holzbrücke mit dem Herrenhaus, dem Palas, verbunden oder auch nur mit einer Leiter zu erklimmen, die bei Gefahr hochgezogen werden konnte. In der Forschung ist es umstritten, ob der Burgfried tatsächlich als Rückzugs- und Verteidigungsort diente. Genauso wenig kann es als gesichert gelten, dass der Bergfried im Keller ein Verlies beherbergte. Das Sockelgeschoss kann ebenso gut ein Lagerraum gewesen sein. Einig hingegen ist sich die Forschung darüber, dass der Bergfried eine repräsentative Funktion hatte, die bei ‚Stadtburgen‘ wesentlich deutlicher wird als bei Höhen- oder Wasserburgen. Man muss nicht unbedingt ins toskanische San Gimignano reisen, um die so genannten Geschlechtertürme bewundern zu können, auch Regensburg hat z. B. noch einige zu bieten. Abgeschaut waren diese den Türmen der Adelsburgen, schmückten in den Städten aber die durchaus wehrhaften und festen Häuser der reichen Patrizier. Sie erinnern an Phallussymbole, die in den Himmel ragen, um von der finanziellen und gesellschaftlichen Potenz ihrer Erbauer zu künden. Oft genug kam es zu einem regelrechten Wettbewerb um den höchsten Turm. Das eigentliche Wohngebäude des reichen und mächtigen Herrn war der re-

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Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus präsentativ gestaltete Palas, in dessen erstem Stock das Prunkstück der Burg lag – der große und so prächtig wie nur irgend möglich ausgestattete Saal, in dem der Herr seine illustren Gäste zu bisweilen ausufernden Festen empfing und bewirtete. Der Fußboden war aus Stein, manchmal sogar aus Marmor, die Wände und Stützbalken zierten Skulpturen, Ornamente, bunte Malereien oder sogar Wandteppiche mit Motiven aus nahen oder fernen Sagenkreisen und natürlich das Wappen des Hausherrn. Kahle Wände, wie wir sie heutzutage oft in Burgen finden, widersprachen dem ästhetischen Empfinden der mittelalterlichen Gesellschaft. Auch die Holzdecke, von der Kerzenleuchter herabhingen, war nach Möglichkeit durch Drechselarbeiten oder Malerei verziert. Nicht vornehm gedeckt, sondern krachig bunt war angesagt. Reiche Herren leisteten sich bereits im Hochmittelalter Glasfenster, die bisweilen in Art der Kirchenfenster bemalt, zumindest aber bunt sein konnten. Den Begrüßungstrunk nahmen die Gäste wohl in Art des heutigen Stehempfangs ein, doch konnte man sich auch auf den Fensterbänken niederlassen, die der Einfachheit halber an die Wand gemauert waren. Dick genug waren die Mauern ja, um Platz für Sitznischen zu bieten. Natürlich hockte man nicht auf dem kalten Stein, sondern auf bequemen Polstern. Diese spielten auch die Hauptrolle, wenn man sich zu Tisch setzte. Die Sitzgelegenheiten waren mehr oder weniger verzierte Gestelle, denen Kissen und Decken Wärme und Bequemlichkeit verliehen. Ehrengäste saßen etwas erhöht an der Schmalseite des Zimmers in exponierter Position. Derartige Stühle oder Bänke standen nur während der Mahlzeiten im ansonsten leeren Saal. Der Tisch wurde ebenfalls kurz vor dem Mahl zusammengesetzt. Es handelte sich um Holzböcke, auf welche die Tafel gelegt wurde, damit nach allen Regeln der Kunst mit Händen, Messer und Löffel getafelt werden konnte (Tischsitten). Um die Beseitigung der Reste der Mahlzeit kümmerten sich Hunde, Katzen oder Wiesel, die man als Haustiere hielt. Der engeren Familie diente als Aufenthaltsraum die Kemenate, ein kleinerer heizbarer Wohnraum – in dem Begriff steckt verballhornt der lateinische „caminus“. In größeren und vornehmeren Burgen gab es mehrere ‚Kaminzimmer‘ als Aufenthalts- oder Schlafzimmer. Kemenaten waren weniger repräsentativ, dafür aber wohnlicher ausgestattet. Wie schon im Saal lagen auf dem Estrich- oder Steinboden Teppiche, doch standen beständig Möbel in den Räumen. Das Bett bestand aus einer mehr oder weniger verzierten Pfostenkonstruktion, die mit einem Netz aus Riemen oder Seilen bespannt war. Nun nur noch Decken und Kissen darauf und fertig war die Liege, auf

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Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus der man schlafen, aber auch gemütlich bei Wein oder Bier zusammenhocken konnte. Natürlich fand sich in so manchem Schlafzimmer ein großes Himmelbett oder ein Kistenbett, das von außen stark an eine bemalte Truhe erinnerte. Selbst in Hochadelshäusern schlief die gesamte engere Familie in einem Bett, in dem gegebenenfalls sogar Gäste noch Platz fanden. So war es allen wärmer und man konnte vor dem Einschlafen ein wenig plaudern. Als Sitzgelegenheiten konnten neben einem Stuhl oder einer Bank nach obiger Art vielleicht noch Schemel mit oder ohne Lehne oder die oft durch Schnitzereien, Drechselarbeiten Beschläge oder Malerei aufwendig verzierten Truhen dienen, in denen Kleidung, Wertgegenstände und alles andere Aufbewahrenswerte untergebracht waren. Die frühesten Kleiderschränke stammen aus dem späten 13. Jh. Die Alltagskleidung hängte man über Pflöcke in der Wand oder Stangen. Für die Aufbewahrung von Vorräten und Geschirr gab es schrankähnliche Gestelle, Schränke als Küchenmöbel finden sich erst im 15. Jh. Insgesamt waren Mobiliar und sonstige Ausstattung einer Burg gemessen an unseren heutigen Vorstellungen recht spärlich. Noch kärglicher ging es auf kleinen Burgen armer Ritter zu, die oft nur einen einzigen heizbaren Raum, eine ,Wohnschlafküche‘, hatten und auf Stroh schliefen. Zum Waschen genügte ein einfaches Becken, gebadet wurde im Zuber, den die Dienerschaft bei schönem Wetter im Burghof, ansonsten in einen der Räume stellte. In vornehmeren Burgen gab es natürlich eine eigene gemütliche Badestube oder gar eine Badehaus. Toiletten waren selbst auf noblen Burgen primitive Plumpsklosetts, wie sie hin und wieder noch in den 1960er Jahren auf dem Land üblich waren. Ein zentrales „Scheißhaus“ stand wohl meist etwas abseits im Burghof unweit des Trinkwasserbrunnens, bisweilen findet man aber auch in luftiger Höhe auf der Burgmauer im Wehrgang einen Klosetterker mit einem Sitzbrett, das über die Burgmauer ragt und ein, oftmals zwei Löcher aufweist, durch welche die Exkremente gegebenenfalls in den mit Wasser gefüllten Burggraben platschten – andernfalls wurden sie unten Beute der Fliegen. Die eigentliche Funktion des Burggrabens, über den die Zugbrücke zum Burgtor führte, bestand darin, die Erstürmung der Burg zu erschweren. Wenn es nötig war, wurde daraus wohl auch das Wasser zum Löschen von Bränden geschöpft, die angesichts offener Feuerstellen, brennender Fackeln, Kienspänen oder Kerzen als Lichtquellen bei Dunkelheit, des Fehlens von Blitzableitern und der reichen Verwendung von Holz für den Bau und die Einrichtungsgegenstände keine Sel-

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Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus tenheit waren. Solche Brände waren für die Burg und ihre Bewohner zumeist eine Katastrophe, denn gegen diesen Feind nutzte selbst die beste Ritterrüstung nichts. Neben Bergfried und Palas bargen die Mauern noch eine Kapelle und, da es sich um einen Landwirtschaftsbetrieb handelte, Scheune, Stallungen und Gesindehäuser, die bei reichen Adeligen aus Repräsentationsgründen recht ansehnlich sein konnten, während der arme Ritter, gleich einem Bauern, sein Zimmer mit Knechten Mägden und vielleicht sogar dem Vieh teilte. So romantisch uns Burgen auf einsamer Bergeshöh oder an einem stillen See auch erscheinen mögen, so ging an ihnen doch das eigentlich spannende und einträgliche Leben vorbei. Das fand man seit dem 13./14. Jh. in der Stadt. Dort war das große Geld zu verdienen, dort spielten sich kulturelle Ereignisse ab. Burgen wurden gewiss hin und wieder von Minnesängern oder Spielleuten aufgesucht, die ebenso wie Feste Abwechslung brachten, doch ansonsten musste tagaus tagein der Hausnarr, so überhaupt vorhanden, für Heiterkeit sorgen. Kein Wunder, dass der Adel in die Städte drängte und sich in ihnen oder ihrer Nähe Paläste errichtete, zumal moderne Technik die Uneinnehmbarkeit der Burgen sehr zweifelhaft machte – und nach langer Belagerung eine Burg dem Feind wegen knurrendem Magen übergeben zu müssen, war ja auch nicht gerade angenehm. Als Luther 1529 ein von ihm gedichtetes und komponiertes Kirchenlied mit „Ein feste Burg ist unser Gott“ beginnen ließ, war die große Zeit der Burgen längst vorbei, auch wenn er auf der Wartburg sichere Zuflucht gefunden hatte. Ein Jahrzehnt zuvor hatte der Reichsritter Ulrich von Hutten 1518 dem Nürnberger Patrizier Willibald Pirckheimer sehr eindrucksvoll und bezeichnend seinen Alltag auf der Burg Steckelberg bei Fulda geschildert: „Die Burg selbst, mag sie auf dem Berg oder im Tal liegen, ist nicht gebaut, um schön, sondern um fest zu sein; von Wall und Graben umgeben, innen eng, da sie durch die Stallungen für Vieh und Herden versperrt wird. Daneben liegen die dunklen Kammern, angefüllt mit Geschützen, Pech, Schwefel und dem übrigen Zubehör der Waffen und Kriegswerkzeuge. Überall stinkt es nach Pulver, dazu kommen die Hunde mit ihrem Dreck, eine liebliche Angelegenheit, wie sich denken lässt, und ein feiner Duft! Reiter kommen und gehen, unter ihnen sind Räuber, Diebe und Banditen. Denn fast für alle sind unsere Häuser offen, entweder weil wir nicht wissen können, wer ein jeder ist, oder weil wir nicht danach fragen. Man hört das Blöken der Schafe, das Brüllen der Rinder, das Hundegebell, das Rufen der Arbei-

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Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus ter auf dem Felde, das Knarren und Rattern von Fuhrwerken und Karren; ja wahrhaftig auch das Heulen der Wölfe wird im Haus vernehmbar, da der Wald so nahe ist. Der ganze Tag, vom frühen Morgen an, bringt Sorge und Plage, beständige Unruhe und dauernden Betrieb. Die Äcker müssen gepflügt und gegraben werden; man muss eggen, säen, düngen, mähen und dreschen. Es kommt die Ernte und Weinlese. Wenn es einmal ein schlechtes Jahr gewesen ist, wie bei jener Magerkeit häufig geschieht, so tritt furchtbare Not und Bedrängnis ein, bange Unruhe und tiefe Niedergeschlagenheit ergreift alle. […] Ihr Bürger lebt in den Städten nicht nur angenehm, sondern auch bequem, wenn es euch so gefällt.“ Leben in Bauernhäusern Wenn schon der hochwohlgeborene Reichsritter über sein Leben auf der Burg klagte, um wie viel unzufriedener hätten da die einfachen Bauern in den Dörfern sein müssen? Ihre Häuser waren im Frühmittelalter aus mit Lehm abgedichtetem Flechtwerk errichtet, später aus Holz als Blockhäuser oder als Fachwerkhäuser, Stein wurde allenfalls für das Fundament gebraucht. Zwei grundlegende Typen sind zu unterscheiden: im Norden das sächsische, im Süden das fränkische Bauernhaus. Im Norden vereinte das Dach Wohn- und Wirtschaftsräume in einem dreischiffigen Hallenhaus mit Innengerüst (Zwei-, Drei- oder Vierständerbauten). In den Seitenschiffen befanden sich die Ställe, das Mittelschiff war eine befahrbare Diele, und im hinteren Teil des Hauses befand sich der Wohnteil, ohne deutlich vom Wirtschaftsteil getrennt zu sein. Der Dachraum diente der Lagerung der Ernte. Im Süden waren Wohn- und Wirtschaftsraum getrennt und bildeten einen nach zwei oder drei Seiten abgeschlossenen Hof; daneben gab es regional unterschiedliche ‚Zwischentypen‘. Normalerweise bestand das ganze Wohnhaus nur aus einem Raum mit einem Loch in der Decke als Rauchfang, durch das auch die Wärme abzog. Die Dächer waren je nach Region mit Stroh, Schilf oder Holzschindeln gedeckt, auf die man gerne Hauswurz (= Hauslauch) pflanzte, weil der angeblich gegen Blitzschlag schützte. Die Eingangstür war mit Lederriemen befestigt, Tageslicht fiel durch Luken, die mit Holzbrettern, geölter Leinwand, Leder, Tierblasen und ähnlichem mehr verschlossen wurden. Kerzenleuchter sucht man im mittelalterlichen Bauernhaus vergebens, man ging bei Einbruch der Dunkelheit zu Bett. Spärliches Nachtlicht spendeten Kienspäne oder die Glut der offenen Feuerstelle. Kein Wunder, dass gelegentlich Häu-

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Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus ser und ganze Dörfer abbrannten. Bei Unwetter drohte höchste Gefahr, denn bis in die NZ bewahrte in bäuerlichen Kreisen der altgermanische Grundsatz seine Gültigkeit, dass jeder Hausvater sein eigener Baumeister sein solle. Ein Weistum des 15. Jh.s aus der Rhön informiert uns über die Qualitätsnorm des ‚Technischen Überwachungsdienstes‘ für Holzhäuser: Ein solches ist dann gut gebaut, wenn es von drei Männern mit drei Hacken nicht umgerissen werden kann. Ein westfälisches Weistum legte den Abstand bäuerlicher Gehöfte voneinander auf die Entfernung fest, die eine zahme Feldhenne bei einem Flug zurücklegen kann. Da natürlich nicht alle Feldhennen gleich sportlich sind, lieferte man die Umrechnung gleich mit: 300 Schritte eines Manns. Ähnlich primitiv wie die Bauten war das spärliche Mobiliar. Kisten für die Kleidung, Bänke und Tische, eine Platte auf Böcken, dienten zum Sitzen, Essen, Arbeiten und Schlafen. So überhaupt vorhanden, war das Bett das Hauptmöbel. Essgerät war der hölzerne Löffel und das Messer des Vaters, das dieser als Arbeitsgerät, vielleicht aber auch aus Stolz meist bei sich trug, denn Metallgeräte aller Art waren Kostbarkeiten. Leben in Bürgerhäusern Die städtische Bauweise hatte ihre Ursprünge in der ländlichen. Das Leben in Häusern reicher Patrizier ähnelte dem der Adeligen auf ihren Burgen, war, und hierin wollen wir dem oben erwähnten Schreiben des Reichsritters Ulrich von Hutten gerne glauben, gewiss um einiges angenehmer als in einer einsamen Burg. Im Hinblick auf den Komfort standen sie den Burgen in nichts nach. Sie waren nach den regionalen Gegebenheiten manchmal aus Stein, oft aber zumindest ab dem ersten Stockwerk als Fachwerk repräsentativ erbaut, verfügten über einen großen Saal für rauschende Feste und mindestens eine Kemenate, oftmals den oben erwähnten Turm, der auch ein Wohnturm sein konnte, ein Gärtchen mit Ziehbrunnen und meist ganz in der Nähe die Latrine, die dem Brunnenwasser nicht nur individuellen Geschmack, sondern auch Krankheitskeime bescherte (Wasserversorgung). Im unteren Stockwerk befanden sich bei Handelshäusern die Räume für die Warenlagerung, das Büro und sonstige Geschäftsräume. Natürlich waren Lärm, Gestank und Schmutz in der Stadt angesichts mangelnder Müllabfuhr, Straßenreinigung und frei herumlaufender Hausschweine und sonstiger Haustiere keineswegs geringer als auf einer Burg (Abfall, Frischluft), doch wirklich neidisch werden konnte ein Burgherr wegen der zentralen

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Zuhause in Burg, Bauernhaus und Bürgerhaus Lage eines Patrizierhauses. In der Stadt konnte man leichter mit seinesgleichen zusammenkommen, hatte beständig ein größeres Angebot an Waren des täglichen Bedarfs, Luxusartikeln und Kurzweil, mal Ratssitzungen, mal Spielleute, mal ein Prediger, mal eine Hinrichtung oder sonst ein blutiger Strafvollzug vor aller Augen. Kaum Unterschiede zu Burgen finden sich hinsichtlich der Ausstattung mit Fenstern, Leuchtern und Möbeln, wobei reiche Patrizier, wenn sie nicht durch Luxusverordnungen gebremst wurden, durchaus mit dem Hochadel mithalten konnten. Weniger vornehm ging es in den Häusern der Handwerker zu, obwohl auch die im Laufe der Zeit zu ansehnlichem Wohlstand gekommen waren. So wie die Patrizierhäuser in den feudalen Wohnformen ihren Ursprung hatten, sind die anderen Stadthäuser dem Bauernhaus nachempfunden. Es handelte sich nördlich der Alpen meist um Holzhäuser (Blockhäuser) oder Fachwerkhäuser, während südlich auch für einfache Bauten der Steinbau vorherrschte – ganz im Norden Deutschlands etablierte sich im Laufe des MA der Backsteinbau. Große Ähnlichkeit mit den ländlichen Bauten hatten vor allem die Häuser der Ackerbürger, die zumindest teilweise ihren Lebensunterhalt durch Landwirtschaft verdienten. Die der Handwerker ähnelten eher denen der Patrizier, allerdings in sehr einfacher Ausführung. Im Erdgeschoss waren Werkstatt, Laden und Kontor (= Büro) untergebracht, das Obergeschoss, das vielfach über das Erdeschoss hinausragte und z. T. mit Säulen abgestützt war, war der Wohnbereich, unter dem Dach befand sich der Lagerraum. Im Hof waren andere notwendige Gebäude untergebracht, darunter auch Stallungen für das Vieh, obwohl die Stadtregierung die Viehhaltung so weit wie möglich einzuschränken versuchte, da die Tiere in der Stadt herumstreunten und sich gleich ihren Herren nicht um die Sauberkeit der Straßen scherten. Übermäßiges Vorkragen der Obergeschosse, aufwendige Gestaltung der Erker und den Verkehr behinderndes Vorstehen von Treppen war durch städtische Bauverordnungen verboten. Die Dächer waren wie auf dem Lande mit Schindeln, Schilf oder Stroh gedeckt. Natürlich war die Brandgefahr in den Städten immens hoch, kaum eine Stadt ist nicht mindestens einmal von einem Großfeuer heimgesucht worden, das ganze Straßenzüge oder gar Stadtviertel erfasst hat (Feuerschutz). Schon im MA wurde deshalb die bürgerliche Baufreiheit durch Auflagen eingeschränkt. So sollte z. B. in Nürnberg und Lübeck nur noch in Stein gebaut und die Dächer mit Ziegel oder Schieferstein gedeckt werden.

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Zunft Was wir heute in Städten wie Lübeck, Nürnberg oder Regensburg bewundern können sind Relikte der spätmittelalterlichen Stadt. Schon im MA waren Städte in jeder Hinsicht, vor allem aber im Hinblick auf die bauliche Gestaltung in einem steten Wandel begriffen. Was die Stadt ganz grundsätzlich vom Dorf unterschied, war die Möglichkeit eine Mietwohnung zu finden – auf dem Land bestand meist gar keine Nachfrage. Einerseits wurde der Bedarf in den Städten durch richtige Mietshäuser gedeckt, andererseits fand im Spätmittelalter so mancher Mieter eine Wohnung im Hinterhof von Bürgerhäusern. Angesichts der Ansprüche, die arme Mieter an Wohnqualität stellen konnten, dürfte sich der ,Umbau‘ eines Stalles durchaus rentiert haben – schließlich mussten ja nicht gleich alle Tiere geschlachtet werden.

Zunft Der Begriff Z. wurde im Sinne von Übereinkunft und Ordnung gebraucht, nach welcher eine Gruppe der Gesellschaft lebte, z. B. auch eine Mönchsgemeinschaft. In der Wissenschaftssprache bezeichnet er im Unterschied zur Gilde, dem Zusammenschluss von Kaufleuten, Verbände von Handwerkern oder Gewerbetreibenden, denen die Meister, Gesellen und Lehrlinge eines einzelnen Handwerks oder einer Gruppe verwandter Handwerks- oder Gewerbezweige angehören. Die wichtigsten Impulse für Entstehung und Entwicklung der Zünfte kamen aus der Gesellschaftsordnung. In dieser war das Leben nicht durch individuelles Handeln geprägt, sondern durch die Zugehörigkeit zu einem Personenverband (Gesellschaft und Stand). Da und dort mag es schon früher Bruderschaften von Handwerkern einer Sparte gegeben haben, doch das erste

Zunftrecht verlieh das Kölner Schöffenkolleg 1149 den Kölner Bettlakenwebern. Die nächsten Erwähnungen von Zünften stammen aus Worms, Mainz und Würzburg. Zünfte hatten den Charakter kirchlicher Bruderschaften, sie errichteten Messstiftungen, unterstützten in Not geratene Mitglieder und sorgten sich vergleichbar einer Gebetsbruderschaft durch Gebete und Messen um das Seelenheil ihrer verstorbenen Mitbrüder. Die Sorge für die Lebenden war geradezu allumfassend und berührte auch das, was wir heutzutage als intimes Privatleben bezeichnen. Insbesondere regelten die Zunftstatuten jedoch das wirtschaftliche Leben, angefangen von der Arbeitszeit bis hin zum gerechten Preis für die Produkte, deren Qualität hinsichtlich Rohstoff und Verarbeitung von der Z. kontrolliert wurde. Zunftstatuten regelten die Zulassung zum Handwerk und zur Meisterprüfung, das Ver-

219 hältnis der Meister, Gesellen und Lehrlinge zueinander und den Wettbewerb der Betriebe. Die Zünfte suchten bald schon hoheitliche Bestätigung ihrer Zunftsatzungen durch den Stadtherrn oder sogar den fürstlichen Territorialherrn, je höher desto besser, weil durch sie der Zunftzwang garantiert war, der ihnen für ihr jeweiliges Handwerk eine Monopolstellung in der Stadt und ihrem Umkreis einräumte. Durch diese Privilegien wurde die Konkurrenz eingeschränkt, die Zünfte bestimmten, wer überhaupt zur Ausbildung zugelassen wurde und sorgten auf diese Weise dafür, dass die Handwerksbetriebe in der Hand der alten Familien blieben. Fremden wurde der Zugang zur Z. auf nur jede erdenkliche Art erschwert. Auch gegen Schwarzarbeiter, die Reparaturen billiger als ein zünftiger Handwerker durchführten, hatte man mit solchen Privilegien eine bessere Handhabe. Die Z., die für ihre Angelegenheiten Selbstverwaltungsrechte mit einer auf innere Angelegenheiten beschränkten Jurisdiktion genossen, wurden von frei gewählten Zunftmeistern geleitet. Versammlungsort war das Zunfthaus, in dem auch die Zunftessen und sonstigen

Zunft Feiern stattfanden. Die zünftigen Handwerker stellten einen erheblichen Teil der städtischen Bürgerschaft und nahmen seit der zweiten Hälfte des 13. Jh.s aktiv an der Politik innerhalb der Stadt teil. In einigen Städten schafften es die Zunftmeister zeitweilig in verschiedenen Regierungsgremien vertreten zu sein und die Politik zu beeinflussen. Um 1300 wurden innerstädtische Konflikte in den Zunftkämpfen bisweilen militärisch ausgetragen und mancherorts gelang es neben dem engeren, von Patriziern geleiteten Rat einen äußeren, die Handwerker repräsentierenden zu etablieren, der Kontrollrechte über den inneren Rat ausübte. Die Zunftorganisation konnte die Wirtschaftskrise des Handwerks im 15. Jh. trotz des Versuchs, überregionale Zunftverbände zu schaffen, nicht aufhalten. Es entwickelte sich nach italienischem Vorbild die neue Wirtschaftsform des Verlagssystems, d. h. Kaufleute (Verleger) erteilten Herstellungsaufträge, streckten das Rohmaterial vor und nahmen die fertigen Produkte zu einem zuvor festgesetzten Preis ab. Diese wurden vielfach von Heimarbeitern gefertigt, die keiner Z. angehörten.

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Bibliografie

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Abkürzungsverzeichnis AT d. Gr. Kg. Kgn. Bf. hl. Ks. Ksn. Hzg. Gf. Ebf. Jh. MA NT NZ

Altes Testament der (des, dem, den) Große(n) König Königin Bischof heilig Kaiser Kaiserin Herzog Graf Erzbischof Jahrhundert Mittelalter Neues Testament Neuzeit

ANHANG

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Abkürzungsverzeichnis

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Sachregister

Sachregister Zur Erhöhung der Fundstellenzahl folgt ein Register der Stichwörter, die keinen eigenen Eintrag im Lexikon haben. Aufgenommen wurden alle themenrelevanten Sachwörter, die den Stoff weiter erschließen. Statt der sonst üblichen Seitenzahlen verweist das Register auf die Artikel, in denen das jeweilige Stichwort zu finden ist. Dabei werden nur die wichtigsten Fundstellen angegeben. Aderlass ≥ Bader, Heilkunde Adoption ≥ Haare Alkohol ≥ Bier, Freizeit, Wein Almosen ≥ Ablass, Bettler, Buße, Hunger Altar ≥ Friedhof, Heilige, Seelsorge Anatomie ≥ Heilkunde Angst ≥ Geißler, Religion, Tod Apotheke(r) ≥ Heilkunde Armut ≥ Bauern, Freizeit, Mönch Arznei ≥ Heilkunde, Schmerz, Sexualität Arzt ≥ Badehaus, Heilkunde, Sexualität Askese ≥ Mönch, Wunder Bevölkerungsentwicklung ≥ Grundherrschaft, Landwirtschaft, Pest Brief ≥ Ablass, Adel, Bettler, Fehde, Nachrichtenübermittlung, Post Brot ≥ Ernährung, Gesellschaft Bruderschaft ≥ Bader, Familie, Geißler, Gilde, Pest, Stadt, Wirtschaft, Zunft Brunnen ≥ Wasserversorgung, Zuhause Burg ≥ Abfall, Garten, Ritter, Zuhause Chirurgie ≥ Heilkunde

Eigenkirche ≥ Gesellschaft, Seelsorge Epidemie ≥ Pest, Tod, Wasserversorgung Fest ≥ Freizeit Fischerei ≥ Allmende Frei / Freiheit ≥ Bauern, Dorf, Gesellschaft, Haare, Recht, Stadt, Unfreiheit Friede ≥ Acht, Bann, Eid, Fehde, Markt, Recht, Stadt Fron ≥ Abgaben, Dorf, Grundherrschaft Gast(haus) ≥ Beherbergung, Gastrecht Gebet ≥ Religion Gehorsam ≥ Gesellschaft, Lehen, Mönch Geld ≥ Bankenwesen, Zahlungsmittel Gelehrsamkeit ≥ Bildung, Juden, Mönch, Universität Gelübde ≥ Eid / Schwur / Gelübde Gericht ≥ Recht Geselle ≥ Reisen, Schwarzarbeit, Wirtschaft, Zunft Gesetz ≥ Recht Glaube ≥ Religion Glücksspiel ≥ Freizeit Gnade ≥ Ablass, Heilige Grundbesitz(er) ≥ Adel, Gesellschaft, Grundherrschaft, Hospital Handel ≥ Wirtschaft und Handel Handwerk(er) ≥ Gesellschaft, Grundherrschaft, Juden, Wirtschaft Häresie ≥ Geldkapitalzins, Hexerei, Ketzer, Mönch Henker ≥ Randgruppen Herold ≥ Wappen Hochzeit ≥ Ehe, Freizeit, Gesellschaft Hofgericht ≥ Grundherrschaft

Hofrecht ≥ Grundherrschaft, Ministeriale, Recht, Unfreiheit Homosexuelle ≥ Randgruppen, Sexualität Hörig ≥ Dorf, Familie, Grundherrschaft, Recht, Unfreiheit Hospiz ≥ Beherbergung, Bettler, Reisen Humanismus ≥ Bildung Humoralpathologie ≥ Heilkunde Hure ≥ Ehre, Notzucht, Prostitution, Randgruppen, Sexualität Jagd ≥ Allmende, Ernährung, Freizeit, Mensch, Regal Jammertal ≥ Heilige, Religion, Tod Jurist ≥ Gesandte, Mensch, Recht Kaufleute ≥ Wirtschaft Klerus ≥ Bildung, Gesellschaft, Religion, Seelsorge Kloster ≥ Mönch Krankheit ≥ Heilkunde Krieg ≥ Fehde, Gesellschaft, Hunger, Ketzer, Ministeriale, Ritter Kurfürst ≥ Gesellschaft, Hofämter Landesherr ≥ Abgaben, Allmende, Feuerschutz, Juden, Prostitution Literatur ≥ Bildung, Gesellschaft, Minne Luxus ≥ Ernährung, Kleidung, Markt, Wasserversorgung, Wirtschaft, Zuhause Magie ≥ Hexerei, Religion, Wunder Magistrat ≥ Abfall, Freizeit, Hunger Medizin ≥ Heilkunde und Medizin Mentalität ≥ Bildung, Gewaltbereitschaft, Minne, Religion, Wirtschaft Metall ≥ Bergbau, Wirtschaft Miete ≥ Bettler, Zuhause

Sachregister Moral ≥ Sexualität und Moral Mord ≥ Acht, Grausamkeit, Hunger, Juden, Recht, Tod, Unfreiheit Mühle ≥ Bann, Dorf, Mönch, Wirtschaft Munt ≥ Ehe, Grundherrschaft, Unfreiheit Nächstenliebe ≥ Greisenalter, Heilkunde, Hospital, Hunger, Mönch, Religion Nation ≥ Beherbergung, Universität Not ≥ Bauern, Bettler, Hunger, Religion Pfarrei ≥ Hospital, Seelsorge, Zehnt Pilger ≥ Beherbergung, Bettler, Hospital, Reisen Propaganda ≥ Öffentlichkeit, Wunder Prozession ≥ Geißler, Heilige, Pest Rache ≥ Fehde Rang ≥ Adel, Ernährung, Gesellschaft, Kleidung Rat ≥ Stadt Reinigungseid ≥ Eid, Recht Reisegeschwindigkeit ≥ Post, Reisen Ritual ≥ Exorzismus, Religion Ruhm ≥ Abfall, Freizeit, Reisen, Turnier Sakrament ≥ Exkommunikation, Interdikt, Religion, Seelsorge Salz ≥ Bergbau, Ernährung, Zahnpflege Sauberkeit ≥ Abfall, Körperpflege Schiff ≥ Kartografie, Reisen, Verkehrswege, Versicherungen Schild ≥ Beherbergung, Ritter, Wappen Schlafen ≥ Heilkunde, Sexualität, Zuhause Schmuck ≥ Markt Schöffen ≥ Recht Scholastik ≥ Bildung

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ANHANG

Sachregister Schreiben ≥ Bildung, Schule Schröpfen ≥ Heilkunde, Pest Schuhe ≥ Abfall Schutz ≥ Ehe, Grundherrschaft, Juden, Lehen, Markt, Recht, Religion, Ritter Schwangerschaft ≥ Geburtshilfe, Heilkunde, Kinder, Prostitution, Sexualität Schwimmen ≥ Freizeit, Greisenalter Schwur ≥ Eid / Schwur / Gelübde Selbstbewusstsein ≥ Bildung, Gesellschaft, Ritter Simonie ≥ Religion, Seelsorge Sippe ≥ Ehe, Familie, Fehde Spiel ≥ Freizeit, Kinder Sport ≥ Freizeit Stammesrechte ≥ Ehre, Fehde, Recht Stand ≥ Gesellschaft und Stand Steuer ≥ Abgaben, Wirtschaft Stiftung ≥ Hospital, Religion Stoff ≥ Kleidung, Markt Strafe ≥ Buße, Recht Straße ≥ Abfall, Beherbergung, Regal, Reisen, Verkehrswege Sünde(r) ≥ Ablass, Buße, Geißler, Jenseitsvorstellungen, Religion, Sexualität Tagelöhner ≥ Gesellschaft, Pest Tanz ≥ Freizeit, Musik Taverne ≥ Beherbergung Teufel ≥ Dämon, Exorzismus, Hexerei, Mensch, Religion, Wunder Theater ≥ Freizeit, Spielleute, Theologie ≥ Bildung, Universität Thing ≥ Recht Tiere ≥ Mensch und Tier

Transport ≥ Bier, Verkehrswege, Wirtschaft Traumdeutung ≥ Religion Treue ≥ Eid, Lehen, Ritter Unterricht ≥ Bildung, Heilkunde, Schule, Universität Vergewaltigung ≥ Ehre, Notzucht, Prostitution Vergnügen ≥ Freizeit und Vergnügen Verwaltung ≥ Bildung, Dorf, Gilde, Grundherrschaft, Hospital, Schule, Stadt, Universität Vogtei ≥ Abgaben Wahnsinn ≥ Heilkunde Wahrsagen ≥ Hexerei Wallfahrt ≥ Buße, Geburtshilfe, Heilkunde Weistum ≥ Recht Wissen ≥ Bildung und Wissen Wucher ≥ Bankwesen, Geldkapitalzins, Hunger, Juden Würde ≥ Ernährung, Gesellschaft, Haare, Mönch Zauber(ei/er) ≥ Amulett, Geburtshilfe, Gift, Heilkunde, Hexerei, Religion, Spielleute Zeremonie ≥ Begräbnis, Exorzismus, Gottesurteil, Öffentlichkeit Zins ≥ Abgaben, Geldkapitalzins Zoll ≥ Abgaben, Stadt