Hamburger Ringvorlesung Kritische Psychologie, Wissenschaftskritik, Kategorien, Anwendungsgebiete 3925622357

Gegen die Beliebigkeit psychologischer "Patentrezepte" und gegen eine Psychologie, die das menschliche Subjekt

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German Pages [315] Year 1988

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Table of contents :
Vorwort der Herausgeber 5
Teil I: Wissenschaftskritik
Wolfgang Maiers
Problemgeschichte der Kritischen Psychologie 13
Peter Keiler
Die Anfangsetappe der sowjetischen Psychologie und der kulturhistorische
Ansatz der Wygotski-Schule (mit einer synchronoptischen Übersicht zur
Geschichte der sowjetischen Psychologie) 37
Volker Schurig
Reflextheorie versus Tätigkeitstheorie. Pawlows Blockade
eines Paradigmenwechsels in der sowjetischen Psychologie 82
Peter Keiler
Von der Schwierigkeit, in der Psychologie Marxist zu sein 115
Teil II: Kategoriale Kritik/Weiterentwicklung und
Anwendungsgebiete
Jens Brockmeier
Was bedeutet dem Subjekt die Welt Fragen einer psychologischen
Semantik
Ole Dreier
Der Psychologe als Subjekt therapeutischer Praxis
FriggaHau Subjekt Frau g : Kritische Psychologie der Frauen
141
185
208Klaus Holzkamp
Lernen und Lernwiderstand. Skizzen einer
subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
GätmeleMinz
Leiden an der Unerfüllbarkeit psychoanalytischer Maßstäbe
von Mütterlichkeit
Morus Markard
Probleme und Konzepte subjektwissenschaftlicher
Aktualempirie
Ute Osterkamp
Über die Verfasserinnen und Verfasser
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Hamburger Ringvorlesung Kritische Psychologie, Wissenschaftskritik, Kategorien, Anwendungsgebiete
 3925622357

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Norbert Kruse, Manfred Ramme (Hg.)

Hamburger Ringvorlesung

KRITISCHE PSYCHOLOGIE Wissenschaftskritik Kategorien Anwendungsgebiete

ergebnisseVERLAG

Gegen die Beliebigkeit psychologischer "Patentrezepte" und gegen eine Psychologie, die das menschliche Subjekt nur als statistische Größe erfassen kann, hat sich seit Ende der 60er Jahre eine psychologische Richtung entwickelt, die als "Kritische Psychologie" bezeichnet wird. Sie geht davon aus, das Menschen nur dann angstfrei und genußvoll handeln können, wenn sie auf ihre Lebensbedingungen Einfluß nehmen. Der traditionellen Psychologie macht sie den Vorwurf, dies nicht erkannt zu haben und deshalb an den Belangen der Menschen "vorbeizuforschen". Die Kritische Psychologie will diese Fehlorientierung überwinden, indem sie ihre Begriffe aus empirischem Material der Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte des Psychischen gewinnt. Die so abgeleiteten Begriffe können als wirkliche

"Hilfe zur Selbsthilfe" begriffen werden. Mit ihnen können sich die Individuen selber helfen, indem sie ihre Situation und ihre Handlungsmöglichkeiten in umfassenderen Zusammenhängen begreifen. Die Beiträge wurden gehalten als Ringvorlesung an der Universität Hamburg im Rahmen des Allgemeinen Vorlesungswesens. Diese Form ermöglicht einen Überblick über praktisch alle aktuellen Forschungsgebiete der Kritischen Psychologie. Autorinnen und Autoren

Jens Brockmeier, Ole Dreier, Frigga Haug, Klaus Holzkamp, Ute Holzkamp-Osterkamp, Peter Keiler, Wolfgang Maiers, Morus Markard, Gabi Minz, Volker Schurig. 315 Seiten; 22 DM ISBN 3 - 9 2 5 6 2 2 - 3 5 - 7

"Ein besserer einführender Überblick über den Entwicklungsstand der kritischen Psychologie und die zukünftig von uns zu lösenden Probleme dürfte kaum zu finden sein." Forum Kritische Psychologie, 21 /1988

Norbert Kruse, Manfred Ramme (Hg.)

Hamburger Ring Vorlesung Kritische Psychologie Wissenschaftskritik Kategorien Anwendungsgebiete

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung des AStA der Universität Hamburg ergebnisseVerlag

Über die Herausgeber: Norbert Kruse, Jg. 1954 wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Schulbuchverlag. Arbeitsgebiete: Literaturdidaktik, Grundschulpädagogik. Manfred Ramme, Dr. der Sportwissenschaft, Jg. 1955, Arbeitsgebiete: Lerntheorien, Vereinssport. Buchveröffentlichung: Lernen im Sport Zur kategorialen Begründung und Integration sportwissenschaftlicher Lerntheorien (1988). CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ringvorlesung Kritische Psychologie, Wissenschaftskritik, Kategorien, Anwendungsgebiete : Hamburger Ringvorlesung Kritische Psychologie, Wissenschaftskritik, Kategorien, Anwendungsgebiete / Norbert Kruse; Manfred Ramme (Hg.). - l.Aufl. - Hamburg: Ergebnisse-Verl., 1988 ISBN 3-925622-35-7 NE: Kruse, Norbert [Hrsg.]; Kritische Psychologie; HST

Verlagsadresse: ergebnisseVERLAG, Abendrothsweg 58,2000 Hamburg 20 Telefon: 040 / 480 10 27 Bankverbindung: ergebnisse, Postgiroamt Hamburg 5568 42 - 200 BLZ 200 100 20 Auslieferung: Buchvertrieb Grimmstraße, Grimmstraße 27, 1000 Berlin (West) 61 Telefon: 030 / 693 30 69 ISBN 3-925622-35-7 1. Auflage April 1988 (c) Alle Rechte vorbehalten Satz: Frank Jedamski, Susanne Teichmann

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber

5

Teil I: Wissenschaftskritik Wolfgang Maiers Problemgeschichte der Kritischen Psychologie

13

Peter Keiler Die Anfangsetappe der sowjetischen Psychologie und der kulturhistorische Ansatz der Wygotski-Schule (mit einer synchronoptischen Übersicht zur Geschichte der sowjetischen Psychologie) 37 Volker Schurig Reflextheorie versus Tätigkeitstheorie. Pawlows Blockade eines Paradigmenwechsels in der sowjetischen Psychologie 82 Peter Keiler Von der Schwierigkeit, in der Psychologie Marxist zu sein

115

Teil II: Kategoriale Kritik/Weiterentwicklung und Anwendungsgebiete Jens Brockmeier Was bedeutet dem Subjekt die Welt Fragen einer psychologischen Semantik

141

Ole Dreier Der Psychologe als Subjekt therapeutischer Praxis FriggaHaug Subjekt Frau: Kritische Psychologie der Frauen

185 208

Klaus Holzkamp Lernen und Lernwiderstand. Skizzen einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie GätmeleMinz Leiden an der Unerfüllbarkeit psychoanalytischer Maßstäbe von Mütterlichkeit Morus Maikard Probleme und Konzepte subjektwissenschaftlicher Aktualempirie Ute Osteikamp Verinnerlichte Gewalt als "innere" Freiheit Ober die Verfasserinnen und Verfasser

Vorwort der Herausgeber Im Sommersemester des letzten Jahres fand in Hamburg eine Ringvorlesung mit dem Titel "Subjektivität als Ursprung von Handlungen - Kritische Psychologie in Theorie und Praxis" statt. Im Rahmen des Allgemeinen Vorlesungswesens der Universität Hamburg stellten 11 Referentinnen und Referenten Forschungsresultate aus ihren Arbeitsgebieten vor. Ziel der Ring Vorlesung war es, die Kritische Psychologie und ihre Anwendungsmöglichkeiten einer interessierten Öffentlichkeit, insbesondere Studierenden sozialwissenschaftlicher Fachbereiche und Berufstätigen aus (sozial)pädagogischen und psychologischen Arbeitsfeldern, vorzustellen. Eine Veröffentlichung der Beiträge schien uns deshalb sinnvoll zu sein, weil im Rahmen der Ringvorlesung eine Reihe neuer Forschungsresultate vorgetragen wurden. Bisher existiert keine Sammelpublikation, die den aktuellen Forschungsstand der Kritischen Psychologie in derart unterschiedlichen Arbeits- und Anwendungsgebieten zusammenfaßt und darstellt. Außerdem erreichten uns zahlreiche Anfragen nach Vorlesungsmanuskripten, so daß wir von einem allgemeinen (und überregionalen) Interesse an den Vorträgen ausgehen. Schließlich soll mit der Veröffentlichung auch dokumentiert werden, daß die Hamburger Ringvorlesung ein (sicherlich nicht unproblematisches, aber diskutierenswertes) Modell zur Verbreitung der Kritischen Psychologie an Orten und in Arbeitszusammenhängen darstellt, an bzw. in denen sie bisher unterrepräsentiert ist. Die hier veröffentlichten Beiträge können den Leserinnen und Lesern vielfältige Einblicke in aktuelle Arbeits- und Anwendungsgebiete der Kritischen Psychologie vermitteln, ohne daß sie alle Bereiche kritisch-psychologischer Forschung abdecken oder gar eine systematische Einführung in die Kri-

Norbert Kruse und Manfred Ramme tische Psychologie darstellen. Darüberhinaus enthält dieses Buch u.U. Anregungen für die Suche nach Wegen und Modellen zur Verbreitung der Kritischen Psychologie. Damit dokumentiert es nicht nur die Hamburger Ringvorlesung, sondern hat auch die Funktion eines Arbeitsbuchs zum Kennenlernen aktueller kritisch- psychologischer Arbeitsgebiete. Die Kritische Psychologie hat seit Anfang der siebziger Jahre intensiv an der Ableitung und Begründung psychologischer Grundbegriffe gearbeitet. Ziel dieser Bemühungen war es, eine Diskussion über Relevanz, Geltungsbereich und Gegenstandsbezug psychologischer Theorien zu eröffnen und auf diese Weise das beliebige Nebeneinander konkurrierender Ansätze zu überwinden. Die methodischen Mittel hierzu fand die Kritische Psychologie in den Arbeiten der Kulturhistorischen Schule und insbesondere in denen von A.N. LEONTJEW. Die Rezeption und Weiterentwicklung seines "historischen Herangehens an die Untersuchung der menschlichen Psyche" führten dazu, daß sich die kritisch-psychologischen Arbeiten durch die besondere Art ihres Empiriebezugs vom main-stream der psychologischen Forschung abhoben. Es ging der Kritischen Psychologie zunächst nicht um die Untersuchung aktualempirischer psychischer Phänomene, sondern um die radikale Historisierung ihres Forschungsgegenstands: Die Ableitung eines gegenstandsadäquaten Kategoriensystems für die Psychologie sollte im Zuge der Rekonstruktion der Natur, Gesellschafts- und Individualgeschichte des Psychischen gelingen. Ein vorläufiger Abschluß dieser kategorialen Entwicklungsarbeit wurde mit der "Grundlegung der Psychologie" von KLAUS HOLZKAMP erreicht Den Schwerpunkt des vorliegenden Buches bilden darum nicht mehr Arbeiten, die einen Beitrag zur historisch- empirischen gestützten Kategorienbildung leisten. Vielmehr stehen nun solche Überlegungen im Mittelpunkt, in denen einerseits wissenschaftskritische Fragestellungen diskutiert werden, andererseits Aspekte der kategorialen Kritik oder einzeltheoretischen Forschung dominieren. Die Beiträge lassen sich damit nach zwei übergreifenden Gesichtspunkten zusammenfassen, die der Tatsache Rechnung tragen, daß die Kritische Psychologie den Gegenstand der Psychologie in zweifacher Weise problematisiert: als erkennbares Produkt eines wissenschaftsgeschichtlichen Prozesses (Teil I) und als historisch entstandenes wie auch gegenwärtig beobachtbares Realobjekt Unter der Überschrift "Wissenschaftskritik" entfaltet zunächst WOLFGANG MAIERS die "Problemgeschichte" der Kritischen Psychologie, indem er die Zusammenhänge zwischen dem jeweiligen Grad der "Kritikfähigkeit" der

Vorwort Kritischen Psychologie gegenüber börgerlichen Ansätzen und der positiven Entwicklung ihrer Kategorien und methodologischer Prinzipien nachzeichnet PETER KEILER greift dann mit den Arbeiten der Kulturhistorischen Schule (Wygotski, Leontjew u.a.) einen Entwicklungsstrang der sowjetischen Psychologie auf, der eine entscheidende Grundlage der Kritischen Psychologie darstellt. Er zeigt, daß und wie in historisch- methodologische Überlegungen die wissenschafts- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, in denen sich die Entwicklung der sowjetischen Psychologie vollzieht, einzubeziehen sind. Dies trifft auch für den Beitrag von VOLKER SCHURIG zu, der sich die Frage stellt, welche gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Prozesse die "Pawlowianisierung" der sowjetischen Psychologie beförderten und auch heute noch befördern. Als Zuspitzung einer grundsätzlichen Problematik der Rezeptionsgeschichte marxistischer Begriffe in der Psychologie läßt sich der zweite Beitrag von PETER KEILER lesen. Er macht deutlich, daß der psychologische Gehalt der marx'schen Arbeiten nur ausgeschöpft werden kann, wenn die Texte in ihrem inneren Zusammenhang gelesen werden und der jeweilige historische Kontext Berücksichtigung findet. Teil II, mit der Überschrift "Kategoriale Kritik/Weiterentwicklung und Anwendungsgebiete", enthält einerseits Beiträge, die sich mit der Anwendung kritisch- psychologischer Kategorien in bestimmten Gegenstandsbereichen beschäftigen, andererseits aber auch solche, die sich um die Entwicklung einzeltheoretischer Konzepte und Problemlösungen bemühen. JENS BROCKMEIER untersucht zunächst unter Rückgriff auf die zentrale kritisch-psychologische Kategorie der "Bedeutung" sprachpsychologische Probleme. Er kritisiert die linguistisch formale Betrachtungsweise sprachlicher Erscheinungen, wie sie etwa bei CHOMSKY vorgenommen wird, als realitätsfern und zeigt, wie reale sprachliche Erscheinungen in der Vermitteltheit von objektiv-sozialen und individuell-psychologischen Gegebenheiten begriffen werden können. Diese mit den Kategorien der Kritischen Psychologie subjektwissenschaftlich aufgeschlüsselte gesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz findet in dem Beitrag von OLE DREIER ihre Anwendung auf den Bereich der Therapie. DREIER analysiert "typische Grundproblematiken" in der Arbeitspraxis von Therapeuten. Er zeigt, daß die Therapeuten ihre Handlungsmöglichkeiten durch die Einbeziehung ihrer subjektiven Befindlichkeit und objektiven Lebens- und Arbeitsbedingungen neu begreifen und erweitern können. 7 \

Norbert Kruse und Manfred Ramme FRIGGA HAUG stellt in ihrem Beitrag die Arbeit und Probleme kritisch-psychologischer Frauenforschung dar. Die Spezifik der Methode der Erinnerungsarbeit wir beispielhaft und in Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen (LAGAN) verdeutlicht. Auf diesem Hintergrund macht sie den Vorschlag, die Analyse der "Formen" (MARX), in denen die Individuen handeln, als eigenständige Analyseebene zu thematisieren. KLAUS HOLZKAMP entwickelt Überlegungen einer kritisch- psychologischen Lerntheorie. Durch den Ansatzpunkt am "widerständigen Lernen" wird eine neue, subjektorientierte Sichtweise z.B. des schulischen Lernens eröffnet und durch das Konzepts der "Lernproblematik" weiter entfaltet. GABRIELE MINZ verdeutlicht in ihrem Beitrag die ideologische Funktion psychoanalytischer Mutter-Kind- Theorien, indem sie diese Ansätze als Versuche versteht, die Abhängigkeiten, in denen sich Mütter in dieser Gesellschaft befinden, mit psychologietheoretischen Mitteln festzuschreiben. MORUS MARKARD diskutiert in seinem Beitrag Probleme der subjektwissenschaftlichen Methodenentwicklung. Er erarbeitet auf methodologischer und methodischer Ebene Lösungsvorschläge, zur unreduzierten Erfassung menschliche Subjektivität durch die Psychologie. Schließlich weist UTE OSTERKAMP in ihrem Beitrag traditionellen Persönlichkeitstheorien nach, daß die ihnen immanenten Vorstellungen von "Freiheit" in Wirklichkeit zur Verfestigung von individueller Abhängigkeit und Entfremdung führen. Die aktuelle politische Relevanz solcher einzeltheoretischer Untersuchungen verdeutlicht OSTERKAMP am Beispiel eines Asylbewerberprojekts. Insgesamt stellen die Beiträge der Hamburger Ringvorlesung die kritische und konstruktive Kraft der Kritischen Psychologie auf der philosophischen, gesellschaftstheoretischen, kategorialen und einzeltheoretischen Ebene unter Beweis. Dabei wird deutlich, daß die vorgelegten Analysen auf für andere Fachwissenschaften (Erziehungs-, Sprachwissenschaft usw.) große Bedeutung haben und dazu dienen können, alte Probleme neu zu fassen und zu begreifen (leider konnte der sportwissenschaftliche Vortrag von PETER WEINBERG nicht in diesem Band veröffentlicht werden). Zu bedanken haben wir uns zunächst bei den Referentinnen und Referenten aber auch bei einer Reihe von Personen und Institutionen, ohne deren Unterstützung die Ringvorlesung und diese Publikation nicht realisierbar gewesen wären: Die Veranstaltungsreihe wurde vom AStA der Universität Hamburg, dem Interdisziplinären Zentrum für Hochschuldidaktik (IZHD) und der Arbeitsstelle für wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Hamburg (AWW) in engagierter Weise unterstützt, durch Prof. Dr. Volker Schurig als

Vorwort Koordinator betreut und durch das "Forum Kritische Psychologie Hamburg" initiiert und durchgeführt Unser Dank gilt allen, die vor oder hinter den "Kulissen" zum Gelingen der Ringvorlesung beigetragen haben. Besonders erwähnt sei hier Jens Gerke, der durch seine Mitarbeit in der "RingvorlesungsAG" des Forum Kritische Psychologie Hamburg wesentlichen Anteil an der Planung und Durchführung der Veranstaltungsreihe hatte und damit auch die Voraussetzungen für diese Publikation schuf. Die Herausgabe dieses Buches wäre schließlich ohne die gute Kooperation mit Robert Metzmacher vom Hamburger AStA, Peter von Spreckelsen vom ergebnisse Verlag und Frank Jedamski, der einen großen Teil der Textverarbeitung besorgte, nicht möglich gewesen. Hamburg, im Februar 1988

Norbert Kruse ManfredRamme

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TEIL I: WISSENSCHAFTSKRITIK

Wolf gang Maiers

Problemgeschichte der Kritischen Psychologie l Bei der Erarbeitung meines mit den Veranstaltern lose vereinbarten Themas, zur Einführung eine entwicklungsorientierte Bestandsaufnahme der Kritischen Psychologie zu leisten, stellte sich mir als Problem, daß diese als politisch Partei ergreifende einzelwissenschaftliche Orientierung mit marxistischem Anspruch in ihrem Verhältnis zur traditionellen Psychologie sich unter vielfältigen wissenschaftlichen wie wissenschaftspolitischen Aspekten diskutieren läßt - womit auch mein Thema einer "Problemgeschichte" in verschiedener Weise zu behandeln wäre. Ich will mich auf "wissenschaftsinterne" Aspekte und dabei exemplarisch auf ein Problem beschränken: Wie löst die Kritische Psychologie ihren Anspruch ein, in der Ableitung ihrer Begriffe sowohl gegenüber der bürgerlichen Wissenschaft als auch gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, auf die sie sich bezieht, kritisch zu sein? Ich muß hier die Ursprünge der Kritischen Psychologie aus der Psychologiekritik der Studentenbewegung Ende der 6oer Jahre weitgehend ausklammern, obgleich ein Nachvollzug von deren Entwicklungsgeschichte manche unserer aktuellen Aufgabenstellungen und Sichtweisen verständlicher machen könnte. Dieser Verzicht hat seinen wesentlichen praktischen Grund darin, daß bei einer ernsthaften Analyse zu beachten wäre, daß die Kritische Psychologie nur ein Versuch ist, "linke" Wissenschafts- und Ideologiekritik fachbezogen auf den Punkt zu bringen. Um der Einebnung von Differenzen entgegenzuwirken, müßte die direkte Vorgeschichte der Kritischen Psychologie in den frühesten Anfängen "des Projekts einer "kritisch-emanzipatorischen Psychologie" aufgenommen und dabei gezeigt werden, wie der Anspruch, den "kontrollwissenschaftlichen" Standpunkt der herrschenden Psychologie und damit deren theoretische und praktische Subjektverleugnung in eigenständiger Wissenschaftsentwicklung und fortschrittlicher Berufspraxis aufzuheben, auch in andere Entwicklungen mündete: einer "materialistischen Handlungspsychologie" (STADLER; VOLPERT) oder anderer sich in die Tradition der marxistischen sowjetischen Psychologie stellender Orientierungen (z.B. FEUSER, JANTZEN u.v.a.) einerseits und in die ganz anders gearteten Versuche andererseits, eine gesellschaftswissenschaftlich reflektierte Psychoanalyse als emanzipatorische Alternative zur akademischen Psychologie zu begründen - so in der "Kritischen Theorie des Subjekts" von LORENZER, HORN, bei BRÜCKNER etc). Und es wäre darzulegen, daß diese Optionen einer (i.w.S.) 13

Wolf gang Maiers "kritischen Psychologie" in der politischen Bewegung von Studenten und Wissenschaftlern an den Psychologischen Instituten durchaus heftig umstritten waren (und es in der Sicht mancher Protagonisten von damals noch immer sind).1 Es sei nur in Erinnerung gerufen: Eine Schlösselfunktion bei der gegensätzlichen Bestimmung des Stellenwerts der Psychologie kommt dem im Mai 1969 in Hannover abgehaltenen "Kongreß 'kritischer und oppositioneller Psychologen1" zu: Es war eine Minderheit, die die psychologische Aufhellung psychischer Vermittlungsmechanismen von Herrschaft als eine Orientierungshilfe für die kollektive Emanzipation menschlicher Individualität ansah und darin der - in Methode und Inhalt veränderten - Psychologie eine erkenntnis- und handlungsleitende Funktion för revolutionäre Veränderungsprozesse beimaß. Diese Umfunktionierungsperspektive wurde von der Mehrheit för illusorisch, die Entlarvung und praktische Unterlaufung der Psychologie als eines Herrschaftsinstruments hingegen allein für politisch gehalten. Der Weg aus dieser Spaltung hin zur Kritischen Psychologie wäre zu rekonstruieren. Dabei wären etwa damalige Versuche, in der antiautoritären und kompensatorischen Erziehung in den Kinderläden, in der Schülerkampagne oder der Arbeit mit Randgruppen praktische Gesellschaftskritik und eine alternative Berufspraxis miteinander zu verbinden, in ihren selbstkritischen, zunehmend klassenanalytisch reflektierten, Veränderungen vorzustellen; vor diesem Hintergrund wäre auf den "Schülerladen Rote Freiheit11 einzugehen, der von Angehörigen des Psychologischen Instituts der Freien Universität Berlin getragen wurde. Theoretisch wäre zu verfolgen, wie die Gesellschafts- und Wissenschaftskritik ihre Mittel und Maßstäbe ändert auf dem Weg von der "Kritischen Theorie" der Frankfurter Schule zur direkten Aneignung der philosophischgesellschaftstheoretischen Positionen des wissenschaftlichen Sozialismus, Dieser als "sozialistische Wende" - von manchen auch als "Ende" der Studentenbewegung beschriebene - "Dominanzwechsel" müßte bezogen weiden auf den Erfahrungshintergrund des praktisch-politischen Orientierungsdefizits der Kritischen Theorie angesichts der damaligen Zuspitzung der politischen Kämpfe - der Studenten- wie der der Arbeiterbewegung (Septemberstreiks 1969) usw., usf. In solchen unmittelbaren theoretischen und praktischen Bezügen vollzog sich die Standortbestimmung der Kritischen Psychologie als einer individualwissenschaftlichen Richtung in der doppelten Tradition des dialektischen und historischen Materialismus einerseits, der Fachwissenschaft Psychologie andererseits - und aus dieser Standortbestimmung wäre auch die (unbeschadet der 14

Problemgeschichte der Kritischen Psycholog sonstigen Gemeinsamkeiten bestehende) Differenz zu anderen in der Studentenbewegung entwickelten psychologiekritischen Ansätzen zu explizieren. Dies ist hier nicht zu leisten. 2

Ganz ohne historischen Rückblick wird es indessen nicht abgehen: Unser Ansatz zu einer kritischen psychologischen Begriffsbildung ist nämlich historisch wie systematisch an die Klärung des Zusammenhangs von Wahrheitsanspruch, erkenntnisleitendem Interesse und gesellschaftlicher Funktionalität wissenschaftlicher Forschung gebunden. Diese Klärung wurde in der Studentenbewegung unter dem Motto "Relevanzkrise" bzw. "Herrschafischarakter" der Sozialwissenschaften auf die Tagesordnung gesetzt Die nicht wegzudiskutierenden Belege offenkundiger Vereinnahmungen psychologischen Wissens und Tuns für Interessen politisch-ideologischer, ökonomischer bzw. militärischer / polizeilicher Herrschaftssicherung mochten aus liberaler Sicht, wie sie die meisten Fachvertreter jener (und nicht nur jener) Tage teilten, wohl skandalöse Zustände enthüllen, warfen aber jenseits berufsethischer Fragen kein Problem auf: Im Einklang mit der WertfreiheitsDoktrin der offiziellen Wissenschaftslehre sah man Wissenschaft als mit der Erkenntnis von Sachen, nicht mit der Entscheidung über Werte befasst an; Wissenschaftsergebnisse an sich galten als gegenüber ihrer Verwendung für diese oder jene gesellschaftlichen Zwecke neutral. Allerdings sei der einzelne Wissenschaftler von der Sorge für eine sozialverantwortete Verwertung seiner Ergebnisse nicht freizusprechen. Diese - seinerzeit etwa vom Berliner Psychologie-Ordinarius Hans HÖRMANN auf der Trauerfeier für Benno Ohnesorg vertretene Position einer interessenenthobenen Grundlagenforschung war natürlich geradezu darauf zugeschnitten, die von ADORNO und HABERMAS im sogenannten Positivismusstreit mit POPPER und ALBERT vorgetragenen kritischen Argumente gegen das nomothetisch-analytische Selbstverständnis empirischer Sozialwissenschaften (ADORNO et al. 1969) auf sich zu ziehen. Hier reiht sich denn auch die mit dem 1968/1969 wohl an allen hiesigen PIs zirkulierenden Artikel "Zum Problem der Relevanz psychologischer Forschung für die Praxis" [1972a] eröffnete Serie wissenschaftlicher Beiträge ein, mit der HOLZKAMP aktiven Anschluß an die Wissenschaftskritik der Studentenbewegung fand. Dieser und v.a. die folgenden Beiträge, "Der Rückzug der modernen Wissenschaftslehre" und "Die kritisch-emanzipatorische Wendung des Konstruktivismus" (197o [1972 c]), lösten einen wissenschaftstheoretisch-methodologischen Disput mit Vertretern des kritischen Rationalismus aus. Ich kann 15

Wolf gang Maiers hier auf die dabei gewonnenen rationellen Positionen ebensowenig eingehen wie auf die grundsätzliche Problematik des HOLZKAMPschen Versuchs, die kritisch-theoretische bzw. neomarxistische Auffassung des Zusammenhangs von Wissenschaft und Gesellschaft mit seiner konstruktivistischen Wissenschaftslogik als immanenter Kritik der Forschungspraxis traditioneller Experimenalpsychologie zu einer wissenschaftstheoretischen Fundierung der "kritisch-emanzipatorischen Psychologie" zu verbinden. Ich weise nur darauf hin, daß die damalige Funktionskritik an den weltanschaulichen Implikationen und gesellschaftlichen Verwertungszusammenhängen der traditionellen Psychologie partiell selber - trotz der ideologiekritischen Stoßrichtung etwa von HOLZKAMPs Analyse der "organismischen Anthropologie" der traditionellen Psychologie (1969 [1972 b]) oder ihrer als "Introjektion" gekennzeichneten "Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit menschlicher Verhältnisse" (197o [1972 c]) - die Relevanz von Wissenschaft nur dezisionistisch auslegte: d.h. so auffasste, als hänge diese in erster Linie von einer ins Belieben der Erkenntnissubjekte gestellten Entscheidung für fortschrittlichen oder reaktionären Interessen dienende Erkenntnisthemen bzw. -Verwendungen ab. Diese Begründungsschwäche trug der kritisch-emanzipatorischen Konzeption teilweise zu Recht von Hans ALBERT den Vorwurf des "Instrumentalismus auf ideologischer Grundlage" (1971,22) ein. Ich überspringe diese, wenn man so will, erste Stufe in der kritischen Hinterfragung herrschender Psychologie und stelle fest, daß erst mit dem Studium der MARXschen Kritik der Politischen Ökonomie des Kapitalismus die positivismuskritische Einsicht in den dialektisch aufzulösenden Zirkel: daß der Mensch, wenn er sich erkennend auf die gesellschaftliche Realität bezieht, immer schon Teil dessen ist, was erkannt werden soll, die nötige Schärfe gewann: In MARX,nKapital" ist die bürgerliche Gesellschaft als eine Totalität historisch konkret erklärt, die mit ihren Zusammenhängen antagonistischer sozialer Interessen selber nicht neutral verfaßt ist, so daß auch das Bewußtsein - als bewußtes Sein in den (in letzter Instanz ökonomisch bestimmten) Formen gesellschaftlicher Praxis nicht neutral sein kann, sondern in widersprüchlichen objektiven Gedankenformen strukturiert wird. M.a.W.: Der subjektiven Parteinahme der Erkenntnisakteure ist die objektive Parteilichkeit der von ihnen getragenen Wissenschaft vorgeordnet, die sich nach dem Wahrheitsgehalt der mit ihren Mitteln erzielbaren Erkenntnis des inneren Strukturzusammenhangs und der Bewegungsgesetze ihres jeweiligen Gegenstandes bestimmt. Mangelnde kritische Relevanz sozial- oder humanwissenschaftlicher Forschung ist also Ausdruck ihrer Befangenheit in dem Schein, gesellschaftliche Wirklichkeit sei das den Wissenschaftlern äußerlich Gegenüberstehende, denen sie sich unbetroffen von einem "Standpunkt außerhalb" annähern könnten, ist Folge daraus 16

Problemgeschichte der Kritischen Psycholog entspringender eikenntnismethodischer und begrifflicher Zusammenhangs- und Widerspruchsblindheit (so etwa HOLZKAMP in Kritischer Rationalismus'als blinder Kritizismus" (1971 [1972 d], vgl. auch seinen Rückblick von 1972 [1972 e]). 3 Auf die Psychologie bezogen, lautete die damalige Kritik dann so: Ihre objektivistische Verkennung der Lebenstätigkeit und Subjektivität konkreter Menschen unter historisch bestimmten gesellschaftlichen Lebensbedingungen als Verhalten/Erleben abstrakter Individuen, die einer als naturhaft-ahistorisch mißdeuteten Umwelt äußerlich gegenüberstehen und von dieser determiniert sind, ist ebenso wie deren subjektivistische Umkehrung, Individuen als empirische Letztheiten zu verselbständigen, deren Lebensäußerungen aus ihnen innewohnenden Wesenskräften verständlich zu machen seien, nicht lediglich eine unzulängliche Theorie infolge eines fehlerhaften denkmethodischen Unmittelbarkeitspostulats, das man nur aufgeben müsse. Beide sind vielmehr Ausdruck "notwendig falschen", d.h. den Bewegungsformen der kapitalistischen Produktionsweise spontan entspringenden, von ihnen umfassten und sie verdinglichenden Bewußtseins, das wirkliche "verkehrte" Verhältnisse auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft widerspiegelt: die Privatheit voneinander isolierter Individuen, deren gesellschaftliche Beziehungen sich als naturhafte Beziehungen zwischen Sachen verselbständigt zu haben scheinen. Insoweit die Psychologie in ihrer Gegenstandsbestimmung diese gesellschaftlichen Verkehrungen nicht wissenschaftlich durchdringt, ist sie - nicht anders als die spontane Alltagstheorie, quasi als deren wissenschaftssprachliche Stilisierung - in den Formen der bürgerlichen Ideologie von der Ungesellschaftlichkeit des Menschen und Naturwüchsigkeit / Unveränderbarkeit seiner Lebensverhältnisse befangen und als "bürgerliche Psychologie" zu charakterisieren. Was war mit diesem Befund der konstitutiven "psychologischen Illusion" (WOLF) gewonnen ? Substantiell fügte er der MARXschen Ideologiekritik nichts hinzu, sondern bestätigte stets nur ihr Urteil am konkreten Material fachpsychologischer Denkweisen. Deren Verschiedenartigkeit, d.h. ihre unter der Form solcher allgemeinen Mystifikationen verborgenen spezifischen Beschränkungen, ihre Kritik untereinander und ihre variable gesellschaftliche Funktionalität, ließ sich nicht positiv beurteilen. Der Globalvorwurf, "bürgerliche" Psychologie verfehle systematisch die menschlich-gesellschaftliche Spezifik ihres Gegenstandes, konnte nur dadurch gesichert werden, daß man vom Abstraktum "der" Psychologie "aufstieg" zu deren Wirklichkeit unterschiedlicher Arbeitsrichtungen: sei es des Hauptstroms "nomothetisch17

Wolf gang Maiers funktionalistischer" Psychologie, sei es solcher Randströmungen wie der (hermeneutischen) Psychoanalyse oder der phänomenologischen Orientierung, etc. Es galt, die Kritik an den besonderen Kategorialbestimmungen verschiedenartiger Theoriebildungen und in Auseinandersetzung mit ihrem Anspruch, "empirisch bewährt" zu sein, durchzuführen. Um den entscheidenden Zusammenhang dieser (dritten) Stufe der Psychologiekritik mit der Wende zur Kritischen Psychologie als "positiver Wissenschaft" deutlich werden zu lassen, muß ich der Darstellung der Entwicklung vorgreifen und zunächst aus heutiger Sicht die Situation in der traditionellen Psychologie grob skizzieren. 4 Vorab: Unter "Kategorien" verstehen wir jene Grundbegriffe, aus denen sich der Gegenstandsbezug einer Theorie ergibt, d.h. von denen es abhängt, welche Dimensionen, Aspekte etc überhaupt aus der vorwissenschaftlichen Realität "herausgeschnitten" werden und so als "psychologischer" Gegenstand erforscht werden können - also auch, welche Dimensionen/Aspekte ausgeklammert sind, mithin für die psychologische Forschung, mit welchen spezielleren Theorien und Methoden sie auch arbeite, "unsichtbar" bleiben. Um dies am Beispiel zu verdeutlichen: Eine kategorielle Wahl stellt das schon angesprochene Bedingtheitsmodell dar. Danach wird der Mensch-WeltZusammenhang begrifflich um jene Bestimmungen verkürzt, die über das unmittelbare Erfahrungsgegebene hinaus die objektive Beschaffenheit der individuellen Lebenswelten charakterisieren. Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen etwa als "sozioökonomischer Faktor", als "soziale Verstärkerbedingungen" o.ä., die in ihrer Wirkung auf individuelle Lebensäußerungen untersucht werden sollen. Diese werden dementsprechend als Resultate situativer Bedingungen gefaßt. Die Individuen treten in diesem Modell als Instanzen auf, in denen äußere Einwirkungen, sei es auch durch das Prisma lebensgeschichtlicher Erfahrungen gebrochen (die ja wiederum Wirkungen solcher Einwirkungen sind), gesetzmäßig en Verhaltens- und Erlebensweisen transformiert werden. Die Berücksichtigung des Gesellschaftlichen in der genannten Weise ändert nichts an der Ahistorizität dieser in der jeweiligen Theorie hypothetisch zugrundegelegten universellen Bedingungs-Effekt-Verknüpfung. Diesem kategorialen Schema entspricht das methodologische Prinzip der nomothetisch-funktionalistischen Psychologie, dergleichen Hypothesen als funktionale Zusammenhänge von unabhängigen und abhängigen Variablen vorzugsweise in experimentell-statistischen Bedingungsanalysen empirisch zu prüfen. In diesem forschungslogischen "Variablenschema" ist das behavioristische Postulat "eingefroren", daß nur Reizbedingungen und äußerlich regi18 \

Problemgeschichte der Kritischen Psychologi strierbare Verhaltensweisen intersubjektiv zugänglich seien - was in der praktischen Konsequenz darauf hinausläuft, die unhintergehbare Subjektivität des Gegenstandes selbst als "Hauptstörfaktor" unter Kontrolle zu bringen zu müssen. Allenfalls der Ansatz einer kruden mechanistischen S-R-Psychologie ist diesem Schema adäquat; de facto konnte auch deren Standpunkt zu keinem Zeitpunkt konsequent durchgehalten werden konnte - ohne daß die moderne Mainstream-Psychologie, wie sehr ihre Theorien auch "kognitiv" o.ä. "gewendet" sein mögen, aus dieser historischen Erfahrung schon forschungspraktische Konsequenzen gezogen hätte: Wenn heutzutage Theorien in Termini "reflexiven Handelns" etc. gefaßt, sodann aber variablenanalytisch überprüft werden, wird stillschweigend ein Kategorienfehler begangen, der ebenso stillschweigend bei der Interpretation der so gewonnenen nichtssagenden Befunde wieder aufgehoben wird. Was hieraus für die Objektivität solcher empirischen Theorieprüfung folgert, wäre zu diskutieren. Die Variablenpsychologie wird nun in der Tat von verschiedenen Positionen aus als quasi-behavioristische Eliminierung der Subjektivität und der subjekthaften Qualität menschlichen Handelns kritisiert. Die "Einseitigkeit" und "Unmittelbarkeitsverhaftetheit" der Reduktion des Mensch-Welt-Zusammenhangs auf ein Determinationsmodell bedingten Verhaltens wird indessen nicht durchbrochen, wenn alternativ auf bedeutungsbezogenes und -volles Handeln abgestellt, der Ursprung der Bedeutungen als Handlungsgründen indessen in die Subjekte verlegt wird (sei es auch in der Form, daß die Bedeutungen durch wechselseitige Interpretationen in der "Interaktion" von Subjekten konstituiert werden). Hier handelt es sich um eine Art kategorialer Gegenstandsbestimmung, in deren Varianten Bedeutungen psychologisiert werden und damit zugleich Psychisches, seines objektiven Weltbezugs beraubt, zu bloßer Innerlichkeit privatisiert wird. (Auch beim interpersonalen Konstitutionsmodus nach Art des Symbolischen Interaktionismus bleibt das Privatpsychische letzte Quelle der Bedeutungsstiftung.) Die Ironie liegt, nebenbei bemerkt, darin, daß beide - die Anmahnung einer Subjektpsychologie und die objektivistische Verleugnung der Subjektivität - von der subjektivistischen "privacy"-Konzeption des Bewußtseins ausgehen. Ich halte fest: Es sind solche in spezifischen Theorievarianten sich niederschlagenden psychologischen Kategorisierungen des Mensch-Welt-Zusammenhangs in der Kritik "einzuholen" und auf ihren relativen Erkenntnisgehalt hin differenziert zu beurteilen. Dies ist auch insofern gefordert, als andernfalls der Einwand, es handle sich bei der sog. "bürgerlichen Psychologie" immerhin um ein historisch immer dichter geküpftes Netz von Forschungsprogrammen mit einer wachsenden Fülle gut aufgeklärter Phänomene und ei19

Wolf gang Maiers ner laufend länger werdenden Reihe gut bestätigter Konzeptionen, nicht pariert werden kann. 5 Was also hat es mit der behaupteten Solidität traditionell-psychologischen Wissens auf sich ? Ist unser Fach nicht durch die Situation charakterisiert, daß nach geltenden Standards gleichermaßen empirisch bewährte Theorien nebeneinander existieren, die auf der Basis miteinander unvereinbarer (bzw. in ihrem Verhältnis ungeklärter) Begriffe mit universellem Geltungsanspruch Aussagen über jeweils gleiche Gegenstandsbereiche treffen, ohne daß entschieden werden könnte, welche der Theorien haltbar ist und welche verworfen werden müssen (d.h. eine Situation, wie wenn es in der Physik ein halbes Dutzend dauerhaft konkurrierender Theorien über den freien Fall etc gäbe)? Nimmt sich nicht infolgedessen die Abfolge theoretischer Grundauffassungen im psychologiegeschichtlichen Prozeß wie ein Wechsel von Moden ohne anerkannte Gründe der Präferenz und ohne qualitative Erkenntnisvertiefung aus (wobei inaktuell gewordene Fragestellungen wie Antworten als unerledigte latent gegenwärtig bleiben bzw. wiederkehren) ? Oder konsolidiert sich im Verlaufe der Theorieentwicklung die Grundbegrifflichkeit soweit, daß (wie in der Physik) das Verhältnis der älteren zu neueren Theorien hinsichtlich ihrer Aussagekraft relativ eindeutig beurteilt werden kann, manche älteren Konzepte endgültig überholt sind, andere gültig bleiben, aber in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt werden, wobei spätere Theorien auf diesen aufbauen ? HOLZKAMP sprach 1977, wie andere vor ihm diese Fragen verneinend, von der "wissenschaftlichen Beliebigkeit" herkömmlichen psychologischen Theoretisierens und begründete sein Urteil damit, daß die traditionelle Psychologie weitgehend ihre Kategorien als solche voraussetze und lediglich sekundär, über die Prüfung abgeleiteter Annahmen über empirische Ereigniszusammenhänge, wissenschaftlich ausweise. Hiergegen gab er zu bedenken, daß die Überprüfung empirischer Zusammenhangshypothesen keinen unabhängigen Test für die Realgeltung der zugehörigen Theorie biete, da im Hinblick auf die erfassten Realitätsdimensionen die in den theoretischen Begriffen formuliertem systematischen Annahmen, ihre - voraussetzungsgemäß optimale - Operationaiisierung in empirische Variablen und die danach gewinnbaren Befunde in einer zirkulären Beziehung zueinander stünden. Nicht zirkulär sei lediglich der Bestätigungsgrad der Hypothesen im Rahmen der theoretisch erfassten Dimensionen. M.a.W.: Die empirische Bewährung im herkömmlichen Sinne ist kein hinreichendes Kriterium für den wissenschaftlichen Wert von Theorien - diese mögen sich alle auf gänzlich nebensächliche oder gar künstliche Effekte beziehen. Da andererseits die Prozeduren der 20

Problemgeschichte der Kritischen Psychologi Hypothesenableitung keine Maßstäbe für eine wissenschaftlich ausgewiesene Bildung "relevanter" Begriffe bieten, kommt es zur beschriebenen prekären Situation der "Beliebigkeit". "Theoretische Relevanz" ist unter der Prämisse materialistischer Erkenntnistheorie als Widerspiegelungstheorie so aufzufassen, daß sich in den Begriffen "wesentliche" Grunddimensionen der objektiven Wirklichkeit niederschlagen, d.h. solche, die anderen Dimensionen und der durch sie bedingten Variabilität empirischer Oberflächenerscheinungen in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang zugrundeliegen. In dem Maße wie Theorien relevante Dimensionen begrifflich adäquat spiegeln, gewinnen sie relativ zu anderen, an Eikenntnishaltigkeit, d.h. Integrations- und Erklärungskraft. Die Relevanz psychologischer Theoriebildung zu erhöhen, heißt nach allem Vorstehenden elementar, deren Wissenschaftlichkeit durch methodische und verbindlich überprüfbare Konstituierung eines Begriffssystems sicherzustellen, das den Psychologiegegenstand nach außen gegen andere Erkenntnisgegenstände abgrenzt und in seiner inneren Gliederung aufschließt. Der Erkenntnisgehalt anderer einschlägiger Theoriesysteme müßte so durch Einordnung ihrer Gegenstandsdimensionen in diese Struktur differenziert beurteilt, über theoretische Vorannahmen und Interpretationen müßte anhand intersubjektiver Kriterien entschieden werden können. Es handelt sich um ein empirisches Entscheidungsproblem - wenngleich nicht im Sinne gängiger Forschungspraxis. D.h. hier ist der Anspruch formuliert, das Verfahren der Geltungsbegründung auf einen Prozeß auszudehnen, der in der traditionellen Wissenschaftslehre als bloß faktischer, wissenschaftlich unverbindlicher Entstehungs-bzw Entdeckungsvorgang beim einzelnen Forscher aufgefasst wird. In der Tat sieht die Kritischen Psychologie ihren bisher wichtigsten Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Psychologie in der historisch-empirischen Konstituierung von Kategorien. Sollte dies befremdlich anmuten, so möge man vorab einmal den entscheidenden wissenschaftlichen Fortschritt bedenken, der beispielsweise in der biologischen Taxonomie dadurch erreicht wurde, daß man Organismen nicht mehr nach äußerlichen (morphologischen) Gesichtspunkten klassifizierte, sondern (wie in Haeckels Systematisierung der verschiedenen Tierformen) die begrifflichen Über- und Unterordnungen den phylogenetischen Verwandtschaftsverhältnissen anzumessen versuchte. Was ist dies anderes, als ein empirisch-historisches Verfahren der Begriffsentwicklung und -kritik ? Dem entsprechen weiterhin wesentliche Orientierungen in der zeitgenössischen, auch nicht-marxistischen, Wissenschaftslehre. Ehe ich zur Darlegung unseres Verfahrens psychologischer Kategorialanalyse übergehen kann, bleibt noch nachzutragen, wie es hierzu schließlich gekommen ist. 21

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6 Ich führte aus, daß die materialistische Explikation der begrenzten Rationalität "bürgerlicher Wissenschaft", wohlverstanden, über die Grenzen bloßer Ideologiekritik hinauswies und auf konkrete Revision der Begriffsinhalte in differentieller Erkenntniskritik drängte. Dies setzte indessen schon einen Standort voraus, der eine erweiterte und tiefere Perspektive auf die empirische Subjektivität des Menschen eröffnet und so eine wissenschaftliche Weiterentwicklung der Psychologie gestattet. Eine solcher Übergang von bloßer Psychologiekritik zu Kritischer Psychologie erfolgte programmatisch seit 1971/72. Arbeiten sowjetischer Psychologen wie RUBINSTEINs "Sein und Bewußtsein" (1962), insbesondere laber LEONTJEWs "historisches Herangehen an die Untersuchung des Psychischen" in der inneren Einheit von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte (1971), das die Möglichkeit einer nichtsubjektivistischen Bestimmung des Subjektiven zeigte, erwiesen sich hierbei als wegweisend. j Den philosophisch-erkenntnistheoretischen Hintergrund bildete dabei die positive Rezeption der Naturdialektik, womit die Beziehung zwischen menschlicher Geschichtlichkeit und Natur im Sinne der frühen MARXschen entwicklungstheoretischen Einsicht: "Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Verdens der Natur zum Menschen." (1981,544) neu diskutierbar wurde. Dies! verband sich mit einem neuen Verständnis des logisch-historischen Verfahrens im MARXschen "Kapital" als eines Musters dialektisch-materialistischer Untersuchung historisch-empirischer Sachverhalte, die es für andere Wissenschafts-Gegenstands-Bezüge eigenständig methodisch zu entwickeln gelte. In beidem liegt eine bedeutsame Entwicklungsdifferenz zwischen der Kritischen Psychologie und mancher anderen psychologiekritischen/ kritisch-psychologischen Auffassung. Sie wird überall dort unüberbrückbar, wo aus einem, unseres Erachtens verkürzten, Verständnis des Marxismus als Ideologiekritik die Radikalisierung der Wissenschaftskritik zur "positiven Wissenschaft" im Grundsatz infragegestellt oder wo der Marxismus, reduziert auf bloße Gesellschaftstheorie, als für Fragen der Subjektivität unzuständig und daher der Ergänzung durch eine eigenständige Subjektpsychologie bedürftig erklärt wird bzw. wo, unter der Prämisse derselben Reduktion, Aussagen über Individualität allein mittels Konkretisierung politisch-ökonomischer Analysen für erreichbar gehalten werden. In allen angeführten Versionen wird die einzelwissenschaftliche Souveränität des Marxismus bestritten oder beschnitten, deren Annahme in der Kritischen Psychologie zugrundegelegt ist 22

Problemgeschichte der Kritischen Psycholog Auf dieser Orientierungsgrundlage (vgl. HOLZKAMPs & SCHURIGs Einleitung zur hiesigen LEONTJEW-Ausgabe [1973]) skizzierte Ute HOLZKAMP-OSTERKAMP schon 1971/72 Grundzüge unserer Motivationskonzeption und verfaßte HOLZKAMP 1973 die erste i.e.S. "kritisch-psychologische" Monographie: "Sinnliche Erkenntnis". 7 Ich möchte nun, im zweiten Teil, darstellen, wie sich die geschichtsmaterialistische Sicht in der Methodisierung der Begriffsbildung inhaltlich niederschlägt. Als ein elementares Kriterium läßt sich nach allem Vorstehenden formulieren, menschliche Subjekte nicht so zu konzipieren, daß ihre gesellschaftlich vermittelte Existenz, obgleich schwerlich zu bestreiten, in den psychologischen Grundbegriffen als unmöglich erscheint Dies impliziert, die genetische Untersuchung psychischer Prozesse und Erscheinungen nicht umstandslös auf die Aktualempirie individueller Lebensläufe zufixieren,sondern dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Ontogenese des Verhaltens und Erlebens von einem historischen Prozeß anderer Größenordnung - der gesellschaftlich-historischen Entwicklung - umfaßt ist, der die psychischen Dimensionen und Funktionsaspekte der Individualentwicklung determiniert. Er muß mithin als die individuelle Existenz überschreitende Realität (!) in den psychologischen (!) Blick kommen. Nun wäre es ein fundamentaler Irrtum, die bloße Feststellung, der Mensch sei durch die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, für das Wesen marxistischer Argumentation auszugeben. Tatsächlich handelt es sich hierbei nicht um dialektischen Materialismus, sondern um jene metaphysische Materialismusvariante, als deren Hauptmangel MARX in seiner 1. Feuerbachthese herausstellte, daß von ihr "der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter da* Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird, nicht aber als sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv" (1969, 5). Die Maischen sind einerseits aufgrund der materiellen Notwendigkeiten ihrer Existenzerhaltung in ihrer Tätigkeit und ihrem Bewußtsein durch ihre objektiven Lebensbedingungen, also durch die in kollektiver gegenständlicher Arbeit reproduzierte Natur und die dabei eingegangenen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, andererseits sind sie durch ihre Praxis Ursprung der aktiven Schaffung und bewußten Kontrolle ihrer Daseinsumstände, also Subjekte ihres gesellschaftlichen Lebensprozesses. Jede Reduktion dieser zweiseitigen Beziehung auf die Vorstellung der einsinnigen Determination des Subjekts durch die gesellschaftlichen Verhältnisse verfehlt nicht nur die Menschen in ihrer sinnlichen Wirklichkeit, sondern auch den von ihnen ge23

Wolf gang Maiers tragenen gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß als überhaupt möglich. Objektive Bestimmtheit - Leben unter Bedingungen - und subjektive Bestimmung - Möglichkeit ihrer Veränderung - sind notwendige, miteinander zusammenhängende Grundzüge menschlich-gesellschaftlicher Lebenstätigkeit, die es in ihren psychologischen Aspekten zu erfassen gilt Will man nun die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse nicht als Rahmenbedingungen psychischer Individualentwicklung unhistorisch voraussetzen, so muß die "Trivialität" eine (buchstäblich natürliche) Erklärung finden, daß dem Menschen allein das Vermögen eigen ist, sich in jeweilige konkrethistorische gesellschaftliche Verhältnisse hineinzuentwickeln, um am Prozeß der Schaffung seiner Lebensbedingungen teilhaben zu können. Die historischmaterialistische Analyse der gesellschaftlichen Grundlage psychischer Ontogenesen führt,richtigverstanden, über die Gesellschaftsgeschichte hinaus und in dieser Vertiefung der historischen Perspektive zu einer wissenschaftlichen Konzeptualisierung "menschlicher Natur", die die traditionelle Mystifikation eines Gegensatzes zwischen der Natürlichkeit und der Gesellschaftlichkeit (die Idee des - je nach theoretischem Gusto beklagten oder für zivilisatorisch erachteten - Triebschicksals qua Zwangssozialisation) des Individuums überwindet Daß die kategorialen Bestimmungen dieses Verhältnisses nicht im unvermittelten Ansatz an der Psycho-Ontogenese gewonnen werden können, da hier natürliche Potenzen immer schon in vergesellschafteter Wirklichkeitsform sich manifestieren, hat die - so fruchtlose wie unerledigte - "Anlage-Umwelt"Kontroverse zur Genüge demonstriert. Der Schlüssel zum "Rätsel der Psychogenesis" (W. STERN) liegt (anders, als STERN vermutete) nicht in der Ontogenese. Ebensowenig lassen sie sich durch abstrakten Vergleich mit höchsten rezenten subhumanen Lebewesen gewinnen, da zum einen diese einen eigenen evolutionsgeschichtlichen Weg mit unterschiedlich hoch evoluierten Artmerkmalen repräsentieren, da zum anderen die "artspezifischen" Merkmale des Menschen nicht unterschiedslos als für dessen Spezifik entwicklungsbestimmend angesehen werden dürfen. Um zu differenzieren, welches die spezifisch-bestimmenden im Verhältnis zu spezifischen, aber sekundären sowie zu unspezifischen Merkmalen menschlicher Natur sind (und um damit bürgerlich-psychologischem Biologismus wie der Leerstelle des Soziologismus inhaltliche Aussagen über den natürlichen Aspekt menschlicher Existenz entgegensetzen zu können), muß verfolgt werden, wie im Prozeß der Anthropogenese Anfänge einer "ökonomischen" Reproduktionsweise mit ihrem charakteristischen Wechsel von der organismischen Anpassung an die ArtUmwelt zu deren Anpassung an die Lebensnotwendigkeiten der Menschen durch vergegenständlichende Naturveränderung sich entwickelten-, die unter der 24

Problemgeschichte der Kritischen Psychologi Wirkung der Evolutionsgesetze Selektionsvorteile erbrachten. D.h., sie wirkten auf die genomische Information der Hominiden (Menschenartigen) derart zurück, daß deren psychische Möglichkeiten in Richtung auf eine Disposition zur Beteiligung an der neuen Lebensgewinnungsform verallgemeinerter kooperativ-sozialer Vorsorge transformiert wurden. Dieser Entwicklungszug, der die Antwort auf das scheinbare Paradoxon einer "gesellschaftlichen Natur" liefert, muß bis zum Umschlag von der phylogenetischen Evolution zur Dominanz der Entwicklung gesellschaftlicher Produktionsweisen als eines historischen Prozesses eigener Art verfolgt werden. Andererseits ist, um die Ausgangsbedingungen der Anthropogenese adäquat zu bestimmen, eine Rekonstruktion der ihr vorausliegenden Naturgeschichte insgesamt vorausgesetzt. Sie muß die Entstehung und Differenzierung des Psychischen als für die Erhaltung des biologischen Systemgleichgewichts notwendige und hinreichende stammesgeschichtliche Anpassungen der Organismen - wir sprechen von "funktionalen Widerspiegelungen" - an einschneidende Veränderungen in der artspezifischen Umwelt sparsam erklären. Der Umstand, daß herkömmlicherweise ein solches "funktional-historisches" Erklärungsprinzip keine Anwendung findet, scheint uns der Grund dafür zu sein, daß der gewöhnliche "homo psychologicus" in vielerlei Hinsicht als nicht nur nicht gesellschaftsfähig, sondern als schon biologisch lebensunfähiger Homunculus erscheint. Zusammengefaßt: Gerade wenn man an einer verständigen empirischen Erforschung psychischer Aktualgenesen und deren ontogenetischer Veränderungsreihen interessiert ist, muß die Frage nach der psychischen Beschaffenheit gesellschaftlich existierender Wesen im Grundsatz schon geklärt sein; die kategoriale Bestimmung der menschlich-gesellschaftlichen Spezifik des Bewußtseins wirft ihrerseits das allgemeinere Problem auf, die Entstehung des Psychischen naturhistorisch zu erklären. Das Ausgangsmaterial unserer historisch-empirischen Analyse bilden die vorgefundenen Begrifflichkeiten der wissenschaftlichen sowohl als auch Alltags-Psychologie - deren Beliebigkeiten ja überwunden werden sollen. Wir versuchen, Ursprung und Entwicklung der von den tradierten Begriffen abstrahierbaren inhaltlichen Bestimmungen unter Heranziehung einschlägigen bio- und humanwissenschaftlichen Materials genetisch zu rekonstruieren und so ein System begrifflicher Qualifizierungen herauszuarbeiten, dessen Unterscheidungen und Beziehungen der "Real-Logik" der Entwicklung des Psychischen als besonderer "subjekthaft"-aktiver Widerspiegelung gegenständlicher Realität bis hin zum "Endprodukt" des Bewußtseins als eines reflexiven Weltund Selbstverhältnisses des praktisch engagierten menschlichen Subjekts entsprechen: Elementarste Formen sollen als allgemeinste Bestimmungen, phy25

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Wolf gang Maiers logenetische Differenzierungen als begriffliche Unterscheidungen, "qualitative Sprünge" in der Phylogenese als verschiedene Qualitäten in der psychologischen Grundbegrifflichkeit abbildbar sein. Mit solcher historisch-empirischen Entschlüsselung der im Gegenwärtigen "aufgehobenen" genetischen Verhältnisse des Psychischen läßt sich dann ausmachen, inwieweit die vorfindlichen Grundbegriffe kategorial undifferenziert, schief sind und verschiedene Spezifitätsniveaus einebnen, d.h. läßt sich beurteilen, ob und mit welchen Modifikationen sie zu bewahren sind. (Auf die fünf formellen Verfahrensschritte bei der Rekonstruktion dialektischer Widerspruchssetzungen und aufhebungen in der psychophylogenetischen Entwicklung kann ich gegebenenfalls in der Diskussion näher eingehen.) 8 In diesem Sinne führte die Rekonstruktion des naturgeschichtlichen Materials (1.) zur Heraushebung des qualitativen Umschlags vom vorpsychischen Lebensprozeß zur Genese psychischer Widerspiegelung. Anknüpfend art LEONTJEWs Forschung, erfasst die Kategorie "Psychisches" die Ursprungsform einer von elementaren Prozessen direkter Reizbarkeit abgehobenen Lebensaktivität, die durch Rezeptivität gegenüber Signalen lebensrelevanter Gegenheiten vermittelt ist. Diese Bestimmung der "Sensibilität" als Signalvermitteltheit liefert hypothetisch zugleich die abstrakt-allgemeine Charakterisierung aller folgenden Ausdifferenzierungen in "kognitive Orientierungsleistungen, emotionale" Wertungsprozesse und "sozial-kommunikative" Regulationen. Durch entsprechenden Nachweis im weiteren Analysegang erfolgt die Objektivierung der hypothetischen Grundform, damit die Verifizierung der Ausgangskategorie "Psychisches". Diese miteinander verbundenen Funktionsgrundlagen psychisch regulierter Umweltbeziehungen der Organismen gewinnen (2.) eine neue Qualität mit der Herausbildung ihrer individuell-adaptiven ModifikabilitäL Wir haben die artspezifische Evolution der Lern- und Entwicklungfähigkeit verfolgt und dabei (3.) als letzten qualitativen Sprung innerhalb der Psychophylogenese deren mit der Hominisation verbundene neue Niveaustufe herausgearbeitet: Die Natur des rezenten Menschen wurde bestimmt als (unterschiedliche Spezifitätsnivaus aufweisende) psychophysische Ermöglichungsgrundlage individueller Vergesellschaftung durch Aneignung und Vergegenständlichung immer neuer Kompetenzen und Bedürfnisse im Entwicklungszusammenhang gesellschaftlich-historisch produzierter Handlungsanforderungen und Befriedigungsmöglichkeiten. Ich kann hier die für die neue Qualität menschlicher Lern- und Entwicklungsfähigkeit relevanten Entwicklungszüge der Anthropogenese eben26

Problemgeschichte der Kritischen Psychologi sowenig nachzeichnen wie die Umstrukturierung, die die psychischen Funktionen (gegenüber vormenschlichem Niveau) notwendigerweise erfahren, wenn die Individuen nur in bewußt-vorsorgender Verfügung über individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen im Zusammenschluß mit anderen ihr Leben subjekthaft-aktiv erhalten können. Nur soviel: Nicht nur sind die kognitiven Orientierungsprozesse in ihrer menschlichen Besonderheit nur als individuelle Umsetzung der gesellschaftlich-historisch gewordenen Wahrnehmungsweisen und Sprach- und Denkformen, in denen der genannte Vermittlungszusammenhang erkennbar wird, zureichend zu begreifen; auch der emotional-motivationale Aspekt des Psychischen ist um die subjektive Notwendigkeit der Bedingungsverfügung als Sicherung der individuellen Lebensqualität zentriert. So nimmt die Motivation, die als individuelle Antizipation von künftigen höherwertigen Befriedigungsmöglichkeiten und entsprechende Aktivitätsausrichtung eine im Zuge der Evolution subhumaner Lern- und Entwicklungsfähigkeit relativ spät auftretende Spezifizierung der Emotionalität darstellt, die Qualität einer überindividuellen Antizipation an. Präziser: Sie ist die Antizipation eines individuellen Handlungsziels als Teilaspekt einer übergreifenden Zielkonstellation kollektiven Handelns, dessen Resultat als im individuellen Daseinsinteresse liegend erfasst werden kann (z.B. Treiber-JägerKoordination). Die Isolation von vorhandenen Möglichkeiten der kollektiven Verfügung über seine Lebensumstände und die Ausgeliefertheit an aktuelle Gegebenheitszufälle bedeutet für den Menschen subjektives Leiden, das wir als spezifisch menschliche Angst: vor Handlungsunfähigkeit, spezifiziert haben. Die Kategorie "produktive Bedürfnisse" verweist auf die in der subjektiven Erfahrung beschlossene Notwendigkeit der Vorbeugung / Überwindung solcher Beeinträchtigungen, bezeichnet also quasi die emotionale Seite der Handlungsfähigkeit. Die Befriedigung der sog. "sinnlich-vitalen Bedürfnisse" kann auf menschlichem Niveau nicht allein in der Dynamik unmittelbarindividuellen Lustgewinns oder einfacher Spannungsreduktion erlangt werden, sondern ist an die Erfahrungsgewißheit, über die gesellschaftlichen Quellen der Bedürfnisbefriedung zu verfügen, also an Angstfreiheit geknüpft. "Sinnlichvitale" und "produktive Bedürfnisse" bezeichnen zwei Seiten des einen Zusammenhangs von personaler Handlungsfähigkeit und Befindlichkeit. 9 Die historisch-empirische Aufschlüsselung des Zusammenhangs von gesellschaftlicher Reproduktion und individueller Lebenserhaltung ist allen kritischpsychologischen Gegenstandsanalysen von Beginn an selbstverständlich. Sie ging allerdings nicht ohne Korrekturen ab. 27

Wolf gang Maiers So wurde in HOLZKAMPs Schrift "Sinnliche Erkenntnis" eine dreigestufte "Ableitungslogik" vorgestellt, die die Analyse der "naturgeschichtlichen Gewordenheit biologisch-organismischer Grundcharakteristika" einerseits und die Analyse des "gesellschaftlich-historischen Ursprungs allgemeinster spezifisch menschlicher Charakteristika" des Psychischen andererseits (die dann in einem dritten Schritt auf ihre "Bestimmtheit durch die bürgerliche Gesellschaft" hin zu konkretisieren seien) scharf voneinander trennte. Dieses Mißverständnis (im Hinblick auf die wirklich durchgeführten Analysen eigentlich: Selbstmißverständnis) wurde später ausgeräumt zugunsten einer konsequent naturhistorischen Herleitung des menschlich-gesellschaftlichen Typs psychischer Individualentwicklung, aus dessen Verhältnis zu jeweiligen historischkonkreten gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen die Gesetzmäßigkeiten der Subjektentwicklung erschlossen werden sollten (vgl. zu dieser Änderung des "historischen DraschTia^' HOLZKAMP 1979). Diesem Verständnis entsprach soweit auch meine bisherige Darstellung. In ihm werden nun tendenziell die allgemeingesellschaftlichen Bestimmungen des Psychischen mit den funktional-historisch rekonstruierten psychischen Aspekten der menschlichen Natur gleichgesetzt Dies läßt außer acht, daß die natürlichen Vergesellschaftungspotenzen nach der Dominanz des gesellschaftlich-historischen Prozesses unter Bedingungen ökonomischer Gesellschaftsformationen als selbständiger arbeitsteiliger Erhaltungssysteme entfaltet werden, in denen der einzelne, anders als in den menschheitsgeschichtlichen Früh- und Übergangsformen kooperativ-sozialer Existenzgewinnung mit ihrer unmittelbaren und unmittelbar anschaulichen Wechselseitigkeit von individuellen Beiträgen und gesellschaftlicher Reproduktion in bestimmtem Ausmaße von der Notwendigkeit seiner Partizipation "entlastet" ist. Solche Strukturmerkmale einer "gesamtgesellschaftlichen Vermittlung individueller Existenz" sind im Hinblick auf historisch-allgemeine "menschliche" Züge der psychischen Ontogenese kategorial noch zu berücksichtigen. Bei Unausgeführtheit der abstrakt-allgemeinen Charakteristika gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse "sans phrase" können nicht nur jeweils bestimmte Gesellschaftsverhältnisse und ihre psychischen Implikationen in ihrer Spezifik nicht voll erfasst werden, sondern wird auch in den Begriffen des notwendigen Zusammenhangs von gesellschaftlicher und individueller Reproduktion suggeriert, es sei damit schon der phänomenale Standpunkt der Individuen kategorial getroffen; objektive und subjektive Notwendigkeiten fallen, mit entsprechenden normativen Konsequenzen, begrifflich zusammen.„ Diese Problematik findet sich keineswegs durchgehend in den kritischpsychologischen Arbeiten vor HOLZKAMPs "Grundlegung der Psychologie" (1983): Insbesondere in OSTERKAMPs "Reinterpretation" der FREUDschen 28

Problemgeschichte der Kritischen Psycholog Psychoanalyse (1976) hatten sich subjektwissenschaftliche Konkretisierungen unserer Kategorialbestimmungen auf die empirische Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft ergeben; sie waren indessen durch die explizit ausgearbeiteten Allgemeinbestimmungen und Verfahrensvorschriften nicht voll gedeckt - und dieser Widerspruch drängte auf eine systematische Lösung. Sie konnte, versteht sich, nicht in einer aktualempirischen Subjektorientierung ad hoc gesucht werden, sondern nur in einer Präzisierung der historischen Rekonstruktion der psychischen "Seite" der Menschheitsgeschichte liegen: Die individualwissenschaftliche Kategorialanalyse des Psychischen kann demnach nur dort in 'funktional-historischerWeise realisiert werden, wo sie sich auf Aspekte richtet, die als Resultate eines auf genetischer Basis kontinuierlichprogressiven Evolutionsprozesses aufgefasst werden können. Weitere kategoriale Qualifizierungen der gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Psychischen sind dadurch zu gewinnen, daß durch Wechsel der Analyse auf die gesellschaftstheoretische Bezugsebene konkret-historische, d.h. formations, klassen- und positionsspezifisch bestimmte, Lebenslagen objektiv charakterisiert und sodann auf ihre Widerspiegelung in der psychischen Befindlichkeit bedacht werden. Wie sind nun deren Dimensionen und Aspekte zu charakterisieren? Entscheidend ist, daß die objektiven Bedeutungsstrukturen, die von den Gesellschaftsmitgliedern aufs Ganze besehen, soll der gesellschaftliche Reproduktionsmechanismus nicht zum Erliegen kommen, notwendig auszuführende Handlungen markieren, vom Standort des einzelnen lediglich verallgemeinerte gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten darstellen, zu deren Realisation prinzipiell die Alternative besteht, sie aktuell zurückzuweisen. Die Entscheidung ist keineswegs beliebig, sondern darin begründet, wieweit ich mit meinem Handeln eine Erhöhung bzw Beschränkung meiner Bedingungsverfügung und des Lebensgenusses erwarten kann bzw. muß. Eingeschlossen ist hierbei eine neue Spezifik von Subjektivität als Intersubjektivität: Indem ich mich als Ursprung von Intentionen / Handlungen erlebe, ist eingesehen, daß auch die anderen für mich - im Grundsatz - verständlich aus Gründen der Verfügungserweiterung handeln. Die objektive Möglichkeitsbeziehung und darauf beruhend die wesentliche Qualität menschlicher Subjektivität sich bewußt zur Welt und sich selbst verhalten zu können, beinhalten also, daß menschliches Handeln nicht einfach als "bedingt", sondern als "begründet" aufzufassen ist - d.h. daß die Lebensbedingungen nicht direkt die Handlungen des Individuums determinieren, sondern als objektive Bedeutungen im Sinne von Prämissen innerhalb subjektiver Begründungszusammenhänge wirken. Demgegenüber wird traditionell (wie ich oben andeutete) die Bedingtheit verabsolutiert (damit verbunden zugleich 29

Wolf gang Maiers Subjektivität als solche für nicht objektivierbar erklärt) oder aber beim Anliegen, der Bedeutungshaftigkeit und Begründetheit menschlichen Handelns gerecht zu werden (etwa beim Symbolischen Interaktionismus) die Vermitteltheit der Handlungsgründe mit ihren objektiven Bedingungsvoraussetzungen verfehlt. Im einen wie im anderen Falle geht die Spezifik des Mensch-Welt-Zusammenhangs verloren. Aus der angedeuteten Konzeption des Handlungs-/ Bedeutungszusammenhangs ergibt sich, daß kein Gegensatz zwischen Subjektivität und Gesellschaftlichkeit besteht: die subjekthaft-aktive Charakteristik des Handelns - d.i. der Sachverhalt, daß die Umsetzung verallgemeinerter gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten, die die Dimensionen und Reichweite individuellen Handelns objektiv determinieren, prinzipiell in subjektiv begründeter Weise geschieht - stellt ein notwendiges Moment der Stufe gesamtgesellschaftlicher Systemerhaltung dar. 10

Dergleichen Bestimmungen sind nun freilich sofort zu konkretisieren auf spezifische Lebensverhältnisse - in unserem Falle auf die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Er durchdringt als Widerspruch zwischen reichen materiellen Möglichkeiten individueller Entwicklung und Bedürfnisbefriedigung und ihrer Zurücknahme auf Grund des massenhaften Ausschlusses von selbstbestimmter Verfügung über individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen die unterschiedlichsten Situationen des Alltagslebens - und wird dort zugleich mystifiziert: Die Individuen stehen ja niemals den gesellschaftlichen Verhältnissen in Gänze gegenüber, sondern entfalten ihr Leben in den unmittelbaren Bezügen ihrer alltagspraktischen Lebenswelt. Diese bildet zwar eine objektiv determinierte Teilstruktur der gesamtgesellschaftlichen Struktur, ohne daß dies aber in den Bedeutungs-Begründungs-Zusammenhängen am lebensweltlichen Standort des Subjekts unmittelbar erfahrbar wäre; der Zusammenhang ist hier in durch die bürgerlichen Produktionsverhältnisse historisch formbestimmter widersprüchlicher Weise ebenso enthalten wie verborgen. Wir haben das Widerspruchsverhältnis zwischen "Unmittelbarkeit" und "Vermitteltheit" durch die Differenzierung einer in jeder existentiell relevanten Situation sich stellenden doppelten Möglichkeit aufgenommen - der "restriktiven" oder "verallgemeinerten" Alternative der Individuen, Handlungsfähigkeit im Rahmen vorgefundener bzw. zugestandener Bedingungen zu suchen oder durch Erweiterung dieses Rahmens zu entwickeln. Letzteres birgt, 30

Problemgeschichte der Kritischen Psycholog zumal dort, wo dieser Versuch anfremdgesetzteBarrieren stößt, das Risiko des Scheiterns in sich. Mithilfe des Kategorienpaars "verallgemeinerte" vs. "restriktive Handlungsfähigkeit soll begreifbar werden, inwiefern Individuen sich des gesellschaftlichen Drucks, auf die Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten / Lebensqualität zu verzichten, erwehren können, oder inwiefern das gesellschaftlich Nahegelegte auch subjektiv naheliegt. Für den letzteren, für unsere Lebensverhältnisse charakteristischen, Fall gilt es zu verstehen, inwiefern unter der Prämisse, daß niemand sich bewußt selber zum Feinde wird, es subjektiv begründet ist, sich auf Bedingungen, die einen beschränken, unter denen man leidet, einzulassen - und damit zur Befestigung des restriktiven Rahmens beizutragen. D.h., es ist herauszuarbeiten, welches angesichts tatsächlich oder vermeintlich drohender Sanktionen, die selbst das gegenwärtige Niveau der Handlungsfähigkeit in Frage stellen, die kurzfristigen Vorteile der Konfliktentlästung, der unmittelbaren Bedürfniserfüllung sind: Vorteile, die dafür zu sprechen scheinen, sich mit jeweiligen mächtigen Instanzen zu arrangieren, deren Druck an andere weiterzugeben, andere für eigene Interessen zu instrumentalisieren, auf Kosten von seinesgleichen statt in Verbündung mit anderen Kontrolle über seine Existenzbedingungen anzustreben etc. - und dabei befürchten bzw erfahren zu müssen, daß man sich so, da einem aus gleichartigen Interessenkalkülen der anderen Gleiches zu widerfahren droht, die eigene Lebensbasis und die Aussichten, subjektivem Leid mit Hilfe anderer zu entgehen,, selber schmälert. Generell unterstellt das Begriffspaar keine spezifische Situation, sondern bezieht es sich auf den durchgängigen Entscheidungskonflikt, sich bei der Verfolgung seiner Lebensinteressen mit den Gegebenheiten abzufinden oder einen Schritt zur Verfügungserweiterung zu tun. Das Widerspruchsverhältnis von verallgemeinerter und restriktiver Handlungsfähigkeit wurde an den einzelnen psychischen Funktionsaspekte konkretisiert "Deuten" nennen wir die Denkweise, in der zwischen oberflächlichen Bedingungen pragmatisch Ordnung gestiftet, Beziehungen vereinfacht, personalisiert und Bedrohungen der Handlungsfähigkeit und Lebensqualität als dort entstanden und veränderbar interpretiert werden, wo man sie erfährt: in dei Lebenswelt. "Deuten" ist gewissermaßen ein um die Einsicht in die doppelte Möglichkeit des Handelns verkürztes Denken. "Begreifen" heißt demgegenübet kognitive Überschreitung dieser Unmittelbarkeit, heißt Einsehen des Zusammenhangs, durch aktive Einflußnahme auf die gesellschaftlichen Bedingungen die eigenen Lebensmöglichkeiten subjektiv zu bestimmen. Dem korrespondiert eine emotionale Handlungsbereitschaft, die wir als "verallgemeinerte emotionale Betroffenheit" abheben von der "Innerlichkeit" als scheinhafter Abkoppelung der "Gefühle" vom Denken und Handeln. Fernei 31

Wolf gang Maiers wurde gezeigt, daß Motivation keine beliebig erreichbare psychische Angelegenheit ist. "Motiviertes" Handeln ist wesentlich von der objektiven und kognizierten reellen Möglichkeit abhängig, in den individuellen Zielen gleichzeitig die Realitätsverfügung zu erweitern und die subjektive Lebensqualität zu erhöhen. Im Gegensatzverhältnis dazu steht "innerer Zwang" als eine motivationsförmige Verinnerlichung von Fremdbestimmtheit, wobei der genetische Zusammenhang zum handlungsbestimmenden äußeren Zwang nicht mehr eingesehen wird. Handeln unter innerem Zwang benennt also die subjektive Mystifizierung der Tatsache der Unterdrückung durch die herrschenden Lebensverhältnisse. (OSTERKAMP [1986] hat die Widersprüchlichkeiten der "restriktiven Handlungsfähigkeit", des inneren Zwangs etc. unter dem Aspekt der "Selbstfeindschaft" untersucht und ist dabei zu einer Reinterpretation der psychoanalytischen Auffassungen des "Unbewußten" und der "Abwehrprozesse" gekommen.) Bei diesem Kategorienpaar samt der zugehörigen Funktionsmomente handelt es sich um allgemeine Richtungsbestimmungen (Möglichkeitscharakterisierungen) der Subjektentwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft, nicht um unvermittelte empirische Deskriptionen. Wie die in ihnen gefassten Handlungsalternativen tatsächlich erfahren und realisiert werden, ist eine Frage aktualempirischer Forschung. Was allerdings noch auf kategorialanalytischer Ebene - auf Basis der vorgestellten begrifflichen Unterscheidungen - geleistet werden kann, ist eine reduktive Rekonstruktion der (in Realisierung seiner gesellschaftlichen Natur) notwendigen und möglichen ontogenetischen Entwicklungzüge von der "Mittellosigkeit" des Säuglings zum Prozeßtyp "personaler Handlungsfähigkeit" des erwachsenen Individuums. HOLZKAMP (1983) explizierte den Übergang von einer quasinatürlichen kindlichen Umwelt zu frühesten Möglichkeiten der Umsetzung gesellschaftlicher Bedeutungen als verallgemeinerter Handlungsmöglichkeiten in der kindlichen Lebenspraxis als "entwicklungslogische" Sequenz vom "sozialen Signallernen" über die "Sozialintentionalität" zur "Bedeutungsverallgemeinerung". Als darauf aufbauende Entwicklungssequenz wurde von ihm der Übergang von unmittelbar-kooperativen Formen der Lebensbewältigung im häuslichen Verfügungsrahmen zur "Überschreitung der Unmittelbarkeit" in außerhäusliche Verfügungszentren hinein als Erweiterung kindlicher Handlungsfähigkeit herausgehoben. Beide Entwicklungszüge wurden im Hinblick auf mögliche Frühformen der Alternative "restriktive"/ "verallgemeinerte Handlungsfähigkeit konkretisiert; auf dieser Basis ließ sich das befangene / bewußte Verhältnis zur "eigenen Kindheit" als biographischer Dimension der Handlungsfähigkeit des Erwachsenen herausarbeiten. 32

ProblemgeschichtederKritischen Psychologie

11 Hatten bislang in der Kritischen Psychologie die Klärung grundlegender methodologischer Prinzipien und die Herleitung relevanter Kategorien auf den geschilderten Ebenen im Zentrum der Arbeit gestanden, so kann nun zunehmend dazu übergangen werden, diese historisch-empirisch begründete kategoriale Gegenstandsbestimmung aktualempirisch und einzeltheoretisch zu konkretisieren. Unsere Darlegungen über Begründetheit / Verständlichkeit vom "Standpunkt des Subjekts" als Spezifik des Psychischen auf gesamtgesellschaftlichem Niveau mögen vielleicht dazu verführen, die kritisch-psychologische Aktualempirie umstandslos auf die "hermeneutische" Seite schlagen wollen. Dagegen wäre aber einzuwenden, daß die Rehabilitierung "je meiner Erfahrung" nicht zu verwechseln ist mit der Annahme, das Individuum sei in bloß deutbare subjektive Sinnbezüge eingeschlossen; sie ist unhintergehbar, weil sie die Zugangsweise des Subjekts vom lebensweltlichen Standort aus zu den objektiven gesellschaftlichen Lebensbedingungen bildet, soweit diese als Bedeutungen zu Prämissen meiner Handlungsvorsätze werden. Bei einer notwendigen Verwissenschaftlichung dieses Ansatzes an der "unmittelbaren Erfahrung" kommt es uns darauf an, auf Basis unserer Kategorien die psychischen Vermittlungsebenen zwischen subjektiver Befindlichkeit und objektiven Lebensbedingungen in einer Weise zu erfassen, durch die die subjektive Befindlichkeit als besondere Erscheinungsform gesellschaftlich typischer psychischer Grundsituationen von Individuen begreifbar wird. HOLZKAMP (1983) hat dieses Konzept konkreter Verallgemeinerung in Anlehnung an LEWINs Kritik am Häufigkeitsdenken und seine Konzeption der Verallgemeinerung vom "Einzelfall" auf einen "solchen Fall" als "Geschehenstypus" als "Möglichkeits-" oder "strukturelle Verallgemeinerung" näher bestimmt. Ich kann die Eigenart des subjektwissenschaftlichen Ansatzes mit seiner Verallgemeinerungs- und Gesetzeskonzeption (Auffassung von Einzelfall und Typik) sowie seinen Vorstellungen zur Einheit von Praxis und Erkenntnisgewinn in der empirischen Aktualforschung mit ihrer intersubjektiven Verständigungsbeziehung von Forschern und Betroffenen als (perspektivisch) Mitforschern hier nicht näher kennzeichnen; insbesondere ist der forschungsstrategische Stellenwert der traditionellen empirischen Methodik in einem solchen zu elaborierenden Ansatz noch offen. Soviel aber, und damit komme ich zum Ende und schließe zugleich den Bogen zur Ausgangsfragestellung, läßt sich unzweifelhaft feststellen: Es sind methodologische Konsequenzen hinsichtlich der experimentell-statistischen Prüfbarkeit psychologischer Theorien zu ziehen, sofern diese als Aussagen über Begründungszusammenhänge menschlichen Handelns formuliert oder 33

Wolf gang Maiers intendiert werden. Wie HOLZKAMP jüngst (1986) exemplarisch verdeutlichen konnte, trifft dies in der Tat auch auf den Kernbestand der nomothetischen Sozialpsychologie (wenigstens implizit) zu: Die meisten Theorien sind, sofern nicht strikte behavioristisch, implizite-Theorien über Handlungsgründe. Innerhalb des variablenpsychologischen Prüfschemas sind solche Begründungsmuster hinter Termini bloßer Bedingtheit verborgen. Diese Camouflage nötigt zu einer Interpretation der empirischen Resultate, die man als spekulative Aufklärung der Prämissen individuellen Handelns unter gegebenen Bedingungen bezeichnen könnte. Sie steht in keiner angemessenen Repräsentationsbeziehung zu den operationalisierten Wenn-Dann-Hypothesen; diese prüfen mithin nicht das, was sie zu prüfen behaupten. Der obige Befund der Beliebigkeit spitzt sich noch zu ! Trifft dies zu, so handelt es sich bei der Notwendigkeit einer (neuen) "paradigmatischen" Psychologiegrundlegung um keine Marotte marxistischer Welt- und Wissenschaftsverbesserer angesichts einer von ihnen selbst herbeigeredeten "Krise der Psychologie", sondern sie wäre auch von den nichtmarxistischen Fachvertretern ernsthaft ins Auge zu fassen, soweit ihnen Ansprüche methodischer Strenge und empirisch überprüfbar gehaltener inhaltlich bedeutungsvoller Ergebnisse etwas gelten.

Anmerkungen 1

2 3 4

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Vgl kritische psychologie 1970; verschiedene Stellungnahmen aus dem Umfeld der Zeitschrift Psychologie und Gesellschaftskritik sowie MATTES 1985; ferner STAEUBLE 1985. Vgl. für einen kurzen Abriß MAIERS & MARKARD 1977; MATTES 1985. Vgl. hierzu auch meine Ausführungeq auf dem m. Internationalen Kongreß Kritische Psychologie, Maiburg 1984 [MAIERS 1985]. Vgl. zum Vorstehenden auch HOLZKAMP 1984.

Problemgeschichte der Kritischen Psycholo

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35

Wolf gang Maiers MAIERS, W., 1985: Menschliche Subjektivität und Natur. In: ders., Methodologische Implikationen des LEONTJEWschen Tätigkeitskonzepts. Forum Kritische Psychologie, 15, 114ff. MAIERS, W. & M. MARKARD, 1977: Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft. Sozialistische Politik, 9, 136ff. MARX, K., 1969: Thesen über Feueibach. MEW 3, 5-7. Beiiin/DDR. MARX, K, 1981: ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844. MEW Erg.Bd. 1, 465ff. Berlin/DDR. MATTES, P., 1985: Die Psychologiekritik der Studentenbewegung. In: ASH, M.G. & U. GEUTER (Hg.), Geschichte der deutschen Psychologie im 2o. Jahrhundert, 286ff. Opladen RUBINSTEIN, S.L., 1962: Sein und Bewußtsein. Berlin/DDR. STAEUBLE, I., 1985: Zur Einheit von historischer Eikenntniskritik und Weiterentwicklung - Versuch der Reformulierung einer Aufgabenstellung. In: BRAUN, K.-H. & K. HOLZKAMP (Hg.), 1985, Subjektivität als Problem psychologischer Methodik, 318ff. Frankfurt/M.

36

Peter Keiler

Die Anfangsetappe der sowjetischen Psychologie und der kulturhistorische Ansatz der Wygotski-Schule (mit einer synchronoptischen Übersicht zur Geschichte der sowjetischen Psychologie als Anhang) 1.

Die vorrevolutionäre Periode der russischen Psychologie

Die Anfangsetappe der sowjetischen Psychologie - das sind die ersten Erfahrungen mit der Anwendung marxistischer philosophischer Prinzipien in der psychologischen Theorie; zugleich sind es aber auch die ersten Erfahrungen mit der Weiterentwicklung der psychologischen Wissenschaft unter den Bedingungen einer neuen Gesellschaftsordnung. Zum besseren Verständnis ist es daher notwendig, einen kurzen Blick auf die Verhältnisse in der russischen Psychologie vor der Oktoberrevolution zu werfen, wobei wir davon auszugehen haben, daß das grundlegende Spezifikum der russischen Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auseinandersetzung zwischen der materialistischen Psychologie und dem damals in der Philosophie herrschenden Idealismus ist. Die materialistische Linie innerhalb der vorrevolutionären Psychologie ist eng mit dem Namen und dem Werk des Neurophysiologen SETSCHENOW verbunden. Zwar stand auch SETSCHENOW als Physiologe auf dem Boden der physiologischen Reflexlehre (1863 erschien seine richtungsweisen Abhandlung "Reflexe des Gehirns"), änderte das klassische Reflexschema aber dahingehend ab, daß die reflektorische Tätigkeit des Gehirns über die physiologischen Komponenten hinaus, beginnend bereits bei den elementarsten Niveaus der Empfindsamkeit und endend mit dem menschlichen Denken, auch psychische Komponenten enthält. Dabei stellte SETSCHENOW für alle psychischen Erscheinungen folgende Gemeinsamkeiten heraus: 1. Sie stellen eine Widerspiegelung der Wirklichkeit durch das Gehirn dar; 2. sie vermitteln das Verhalten und regulieren die Handlungen, sind "Leiter der Handlungen". Indem das Psychische mit der Umwelt und mit der Tätigkeit in einen kausalen Zusammenhang gebracht wird (Prinzip der Verhaltensdetermination durch die objektive Welt mittels der Psyche), treten so seine beiden wechselseitig zusammenhängenden Hauptfunktionen in den Vordergrund. Gleichzeitig bedeutet dies aber, daß die psychische Widerspiegelung als Deter minante, d.h. als Wirkmoment des Verlaufs reflektorischer Prozesse, und zwar

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Peter Keiler der Reflexe des Gehirns, eingeführt wird. (Vgl. hierzu ausführlicher BUDILOWA 1975, S.47ff.) Damit vereinte die Reflextheorie SETSCHENOWs das Prinzip der Aktivität des Bewußtseins mit den materialistischen Prinzipien der Widerspiegelung und der gegenständlichen Tätigkeit des Menschen. Allerdings erfolgte diese Vereinigung auf einer Ebene, auf der der Mensch nur unter dem Blickwinkel seiner natürlichen Existenz und nicht unter dem Gesichtspunkt seines gesellschaftlichen Seins betrachtet wird. Das soziale Wesen des Bewußtseins des Menschen blieb SETSCHENOW verborgen; seine psychologische Theorie deckte nicht die sozialhistorische Bedingtheit der Psyche des Menschen auf und konnte dies auch nicht, weil sie in ihren philosophischen Grundlagen immer innerhalb der Grenzen der vormarxistischen materialistischen Philosophie in Rußland verblieb (einer Philosophie, die in ihren politischen Aspekten revolutionär-demokratisch war). Dabei stellte der streitbare Materialismus SETSCHENOWs im Hinblick auf Probleme der Psychologie i.e.S. eher ein Programm als ein vollentwikkeltes System dar. Seinem Appell folgend, mit der Erarbeitung einer materialistischen Psychologie zu beginnen, wurden dann die fortschrittlich eingestellten Psychiater BECHTEREW, KOWALEWSKI, KORSAKOW und TOKARSKI die Begründer der ersten russischen experimental-psychologischen Laboratorien (1908 gründete BECHTEREW sein berühmtes Psychoneurologische Institut). Als direkte Nachfolger der von SETSCHENOW begründeten Linie in der Physiologie sind dann UCHTOMSKI und PAWLOW anzusehen. Wie kam es, daß die materialistische Auffassung psychologischer Probleme in Rußland gerade von Physiologen (insbesondere Neurophysiologen) und Psychiatern, nicht aber von Psychologen propagiert wurde? Hierzu muß man wissen, daß im vorrevolutionären Rußland die idealistische Psychologie eine beherrschende Stellung innehatte und daß diese Psy* chologie seit jeher fest mit der idealistischen Philosophie und der griechischorthodoxen Kirche verbunden war. Genauer gesagt: Die Psychologen waren "von Haus aus" Philosophen; und die Philosophen, die m den Hoch- und Fachschulen Psychologie lehrten, bildeten die Psychologen auf der Grundlage der idealistischen Philosophie aus. Diese genoß aber im zaristischen Rußland nicht nur die volle Unterstützung des absolutistischen Regimes, sondern konnte sich auch des gesamten Propagandaappaiates der griechisch-orthodoxen Kirche bedienen, die zudem über zahlreiche geistliche Lehranstalten verfügte. Da sie somit einen direkten Einfluß auf die Inhalte und Problemstellungen der Psychologie nehmen konnte, man außerdem gegen die materialistische Richtung innerhalb der Psychologierigorosvorging und ihre Entwicklung mit allen Mitteln zu hindern suchte, konnte sich gewissermaßen zwangsläufig die 38

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholo

materialistische Auffassung der Psychologie nur außerhalb der institutionalisierten Psychologie entwickeln und erhalten. Damit wird die auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Tatsache verständlich, daß SETSCHENOW innerhalb der Psychologie keine eigene Schule begründet hat und in ihr keine unmittelbaren Nachfolger hinterließ, obwohl es gerade seine Lehre war, die den Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Idealismus in der Psychologie von den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zur Oktoberrevolution wesentlich bestimmte. SETSCHENOW durfte nur Physiologie lehren, d.h. keine Psychologen aus bilden, obschon er viele seiner öffentlichen Vorlesungen und zahlreichen Zeitschriftenaufsätze den Problemen der Psychologie widmete. Zudem sahen nach seinem Tode im Jahr 1905 die Gegner der materialistischen Psychologie eine ihrer Hauptaufgaben darin, die an den Konzeptionen SETSCHENOWs ausgerichtete Linie innerhalb der russischen Psychologie endgültig zu unterbinden - ein Vorhaben, das durch die allgemeine Atmosphäre der politischen und ideologischen Reaktion nach 1905 erleichtert wurde. So kam es, daß es die Physiologen waren, Psychiater und Neuropathologen, die die Verteidigung materialistischer Prinzipien in der Psychologie übernahmen. Diese Besonderheit war dann allerdings nach der Oktoberrevolution der Entwicklung einer einheitlichen Psychologie auf marxistischer Grundlage eher hinderlich, als daß sie sie förderte. Mit der Zurückdrängung der SETSCHENOWschen Prinzipien aus der russischen experimentellen Psychologie setzte sich mehr und mehr die Hinwendung zu den Prinzipien der experimentellen Psychologie WUNDTs, dem führenden Vertreter der klassischen Bewußtseinspsychologie, durch. Protagonist dieser Entwicklungslinie war TSCHELPANOW, der 1912 an der Philosophischen Fakultät der Moskauer Universität das Institut für experimentelle Psychologie gründete, das unter seiner Leitung zu einem bedeutenden wissenschaftlichen Zentrum wurde und wo man versuchte, die experimentelle Richtung in der Psychologie mit jenem Prinzip der idealistischen Philosophie in Einklang zu bringen, wonach dem Geist (bzw. dem Bewußtsein) eine selbständige, d.h. von der Materie unabhängige Existenz zukommt. Während des ersten Weltkrieges festigte sich dann die religiös-idezlistische Richtung in der russischen Psychologie. Einer ihrer Hauptvertreter war der damalige Leiter der Moskauer Psychologischen Gesellschaft, LOPATIN, der gegen Ende des Krieges die Unsterblichkeit der Seele als ein theoretisch und moralisch unerläßliches Postulat verkündete und dazu aufrief, die Wahrheit in der Religion zu suchen, deren Stärkung er als die vordringliche Aufgabe des zeitgenössischen Denkens ansah. Eine Auffassung, die auch von anderen

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Peter Keiler Vertretern des russischen Idealismus (so FRANK und LOSSKI) propagiert wurde. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Entwicklung der Psychologie im vorrevolutionären Rußland einerseits zu ihrer Herausbildung als einer selbständigen experimentellen Wissenschaft und zur Einrichtung experimenteller psychologischer Laboratorien und Institute führte. Andererseits vollzog sich in ihr, obwohl sie über erhebliche materielle und technische Mittel sowie zahlreiche ausgebildete Fachkräfte verfügte, ein tiefgreifender Verfall des theoretischen und methodologischen Denkens. (Vgl. zum vorangegangenen auch BUDILOWA a.a.O., S.13f.) 2.

Die Phase von 1918 bis 1923

Dies waren die psychologieimmanenten Voraussetzungen, als mit dem Sieg der sozialistischen Oktoberrevolution die Hinorientierung der Wissenschaften zur marxistischen Philosophie begann und sich mit der neuen Gesellschaftsordnung auch die Entwicklungsbedingungen aller Wissenschaftsbereiche von Grund auf änderten. Dabei wurde die Hauptaufgabe zunächst darin gesehen, in allen Bereichen die bürgerliche Ideologie und die idealistische Philosophie zurückzudrängen. Dazu bedurfte es nicht nur neuer wissenschaftlicher Kader, sondern es mußten auch schon vorhandene fortschrittliche Vertreter der Intelligenz einbezogen werden, die bereits aus ihrer früheren Arbeit bestimmte Voraussetzungen für den Kampf des Neuen gegen das Alte mitbrachten. So rief LENIN 1922 in einem programmatischen Artikel ("Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus") dazu auf, das Bündnis der Philosophie mit der Naturwissenschaft zu festigen und die Naturwissenschaft auf der Grundlage des dialektischen Materialismus umzugestalten. In der Resolution der XII. Gesamtrussischen Konferenz der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki), die im August 1922 stattfand, hieß es dann: "Die Arbeit des wissenschaftlich-kommunistischen Denkens ist zu verstärken, um die Möglichkeit zu haben, die Linie des Streitbaren Materialismus' und der gesamten Ideologie des revolutionären Marxismus organisiert verfolgen zu können." (Die KPdSU in Resolutionen und Beschlüssen... 1953, S.673, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S. 15) Dabei wurde die Frage der Anwendung des Marxismus in den verschiedenen Wissenschaften, darunter auch der Psychologie, sowohl in der Zeitschrift "Pod Snamenem Marxisma" (iUnter dem Banner des Marxismus', gegründet ebenfalls 1922 und seit 1925 mit Verlagsort Wien und Berlin auch in 40

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholo deutscher Sprache erscheinend) als auch in anderen theoretischen marxistischen Zeitschriften ausführlich diskutiert Da allerdings die Durchsetzung des Marxismus in den Einzelwissenschaften zunächst lediglich als Programm vorlag, aber noch keine genauen Kriterien dafür vorhanden waren, wie eine marxistisch fundierte Einzelwissenschaft beschaffen sein mußte, war die Förderung fortschrittlicher Kräfte zunächst unspezifisch, konnten sich die unterschiedlichsten Richtungen entwickeln, die sich dann in späterer Zeit als gegensätzliche Positionen gegenüberstanden. BUDILOWA charakterisiert die Situation folgendermaßen: "Unter den außerordentlich schwierigen Bedingungen der ersten Revolutionsjahre sicherte die Sowjetregierung durch einen von LENIN unterzeichneten Sondererlaß des Rates der Volkskommissare der RSFSR die besten Bedingungen für die wissenschaftliche Tätigkeit PAWLOWs. Für PAWLOW wurden große Laboratorien mit modernster Ausrüstung eingerichtet. Anfang der zwanziger Jahre wurden zahlreiche wissenschaftliche Forschungseinrichtungen geschaffen, die sich mit Problemen der Psychöneurologie befaßten (unter Psychoneurologie verstand man den Komplex von Wissenschaften, die die Tätigkeit des Hirns untersuchen - Neurologie, Psychiatrie, Reflexologie, Psychologie, Pädologie, Psychotechnik). Das von BECHTEREW 1908 gegründete Psychoneurologische Institut wurde in die Staatliche Psychoneurologische Akademie umgebildet, deren Präsident er wurde. 1918 wurde die Einrichtung eines Instituts für Hirnforschung beschlossen, dem gleichfalls BECHTEREW vorstand. (...) Die Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Psychologie wurde an der Akademie für kommunistische Erziehung in Angriff genommen, an der eine psychologische Sektion eröffnet wurde. Am Leningrader Institut für wissenschaftliche Pädagogik und an zahlreichen Hochschulen wurden ebenfalls psychologische Forschungen betrieben. (...) Das bedeutendste psychologische Zentrum im Lande blieb weiterhin das von TSCHELPANOW 1912 gegründete Institut für experimentelle Psychologie in Moskau, das er auch in den ersten Jahren nach der Revolution leitete." (BUDILOWA a.a.O.,S.15f.) Die allgemeine Lage der Psychologie unter den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen war nicht nur dadurch gekennzeichnet, daß sich die Psychologen mit der Philosophie des Marxismus vertraut machen und erstmals die methodologischen Grundlagen für den Aufbau des neuen Systems einer marxistischen materialistischen Psychologie erarbeiten mußten. Gleichzeitig mußte auch die Psychologie aus der bereits erwähnten theoretisch-methodologischen Krise herausgeführt werden, die dadurch noch verschärft wurde, daß

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Peter Keüer sich die russische Psychologie selbst als spezifisch russische gegenüber den Psychologien der westlichen Länder insgesamt als rückständig einschätzte. So entwickelte sich die junge sowjetische Psychologie über die gleichzeitige Auseinandersetzung mit zwei zunächst gänzlich voneinander unabhängigen Aufgäben: Auf der einen Seite: Kampf gegen die idealistische Weltanschauung, für den Materialismus in der Wissenschaft - eine Aufgabe, die dadurch erleichtert wurde, daß die von der Sowjetmacht vorgenommene Trennung von Kirche und Staat die psychologische Wissenschaft von der Vormundschaft der Kirche befreit hatte. Auf der anderen Seite: Die Notwendigkeit, den Stellenwert neuerer ausländischer psychologischer Theorien zu bestimmen, die sich auf einem dem Marxismus fremden ideologischen Boden entwickelt hatten. Dies galt sowohl für Konzeptionen eindeutig idealistischer Provenienz als auch für Theorien, die sich auf vormarxsche materialistische Anschauungen stützten. Verfolgen wir zunächst die Entwicklung auf der erstgenannte Seite: Der Kampf gegen die idealistische Psychologie theologischer Prägung, die von den Professoren der geistlichen Akademien gelehrt wurde, aber auch gegen die mystisch-religiösen Theorien eines LOPATTN erwies sich als relativ unproblematisch, obwohl die Vertreter des russischen Idealismus in den ersten Jahren nach der Revolution private Verlage für die Herausgabe philosophischpsychologischer Literatur benutzten, in der eine "religiös-mystische Wiedergeburt" proklamiert wurde. Diese Ansichten fanden unter den Psychologen keine neuen Anhänger mehr, und die meisten ihrer alten Verteidiger verließen nach und nach das Land. Schwieriger und langwieriger entwickelte sich die Auseinandersetzung mit der von TSCHELPANOW angeführten Richtung. TSCHELPANOW, der das Institut für experimentelle Psychologie an der Moskauer Universität weiterhin leitete, versuchte die theoretischen Grundpfeiler der introspektiven Psychologie zu erhalten, wobei er gleichzeitig als Verfechter der experimentellen Wissenschaft auftrat. Allerdings gehörten zu den ersten, die konsequent gegen die alte Psychologie und für die Errichtung einer neuen materialistischen Wissenschaft auftraten, gerade zwei Schüler und Mitarbeiter TSCHELPANOWs, nämlich BLONSKI und KORNILOW, die erstmals 1921 (BLONSKI) bzw. 1922 (KORNILOW) öffentlich die Position TSCHELPANOWs in Frage stellten und sich für die völlige Abtrennung der Psychologie von der idealistischen Philosophie und für den Aufbau einer Psychologie auf dem Boden des Marxismus einsetzten. Im Januar 1923 fand dann in Moskau der I. Gesamtrussische Kongreß für Psychoneurologie statt, an dem sich Vertreter zahlreicher Disziplinen wie 42

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholog Neurologen, Physiologen, Psychologen und Psychiater beteiligten. Die Veranstalter dieses Kongresses, zu denen u.a. auch TSCHELPANOW gehörte, machten in ihren Redebeiträgen deutlich, daß sie die alten Traditionen in der Psychologie fortzuführen beabsichtigten. Das von ihnen vorgeschlagene Programm fand jedoch nicht die Zustimmung der Mehrheit der Kongreßteilnehmer. Diese sahen nämlich ihre Aufgabe im wesentlichen darin, "die überall entstehenden Herde neuer wissenschaftlicher Bestrebungen und Entdeckungen zu klären, einzuschätzen und zu vereinigen" (Istwestja vom 11.1.1923). Und genau diesen Vorstellungen kam das Referat KORNILOWs "Die zeitgenössische Psychologie und der Marxismus" entgegen. Darinriefer zur Schaffung eines Systems der marxistischen Psychologie auf, stellte die Frage nach der Untersuchung der philosophischen Probleme der Psychologie von den Positionen des Marxismus aus und wies auf die Notwendigkeit hin, Gegenstand und Aufgabe der Psychologie neu zu bestimmen. Der Zuspruch, den KORNILOW auf dem Kongreß fand, zeigte, daß eine große Gruppe insbesondere jüngerer Psychologen konsequent die von TSCHELPANOW verteidigte idealistische Psychologie bekämpfte und den Aufbau einer marxistischen Psychologie anstrebte. Dies hatte noch im gleichen Jahr personelle Konsequenzen: TSCHELPANOW wurde der Leitung des Instituts für experimentelle Psychologie enthoben und KORNILOW zum neuen Direktor dieses Instituts ernannt, das von nun an jene Moskauer Psychologen vereinte, die die Schaffung einer neuen Psychologie in Angriff genommen hatten, unter ihnen auch WYGOTSKI und LURIA.

3. Die theoretisch-methodologischen Rahmenbedingungen der Entwic lung der sowjetischen Psychologie in den Jahren 1924 bis 1930 Auf dem n.Gesamtrussischen Kongreß für Psychoneurologie, der bereits im Januar 1924 in Petrograd, dem heutigen Leningrad, stattfand, zeigte sich allerdings nicht nur, daß die Vertreter der idealistischen Psychologie, die sich inzwischen auf den sogenannten "dritten Weg" eingeschworen hatten und als Losung "weder Idealismus noch Materialismus propagierten, weiterhin an Boden verloren hatten, sondern es machten sich auch bereits deutlich zwei Hauptrichtungen bemerkbar, die jede für sich den Anspruch erhob, der eigentliche Pepräsentant der neuen materialistischen Psychologie zu sein. Die eine Richtung unterstützte die von KORNILOW entwickelte und von ihm als nReaktologien bezeichnete Linie, die andere Richtung folgte BECHTEREW und schlug vor, die Psychologie gänzlich durch die Reflexologie zu ersetzen, wobei sie sich aber im weitergehenden Kampf gegen die 43

Peter Keiler idealistische Psychologie einig waren, die nach wie vor von TSCHELPANOW vertreten wurde. Dieser war zwar der Leitung des Instituts für experimentelle Psychologie enthoben, brachte aber weiterhin in privaten Verlagen Broschüren heraus, in denen er versuchte, die introspektive Psychologie mit dem Marxismus in "Übereinstimmung" zu bringen. Dabei polemisierte er offen gegen die materialistische Psychologie, indem er sich geschickt die Fehler und Irrtümer seiner Gegner zunutze machte. Ein Fehler der Reflexologie bestand beispielsweise darin, daß sie das Problem des Bewußtseins gänzlich beiseite geschoben hatte. Und so hatte TSCHELPANOW unbedingt recht, als er die Negierung des Bewußtseins als eine im Widerspruch zum Marxismus stehende Position des mechanistischen Materialismus qualifizierte. Und gerade dieser Fehler der von BECHTEREW angeführten Reflexologen diente ihm als Ansatzpunkt, um die Existenzberechtigung der introspektiven, d.h. an subjektiven Phänomenen orientierten Psychologie zu behaupten. Wörtlich heißt es bei ihm: "Die Unversöhnlichkeit beider gegensätzlicher Richtungen in der Psychologie ist darauf zurückzuführen, daß die Begriffe 'objektive* und 'subjektive' Methode der Psychologie ungeklärt sind. Ist die Klärung erreicht, wird es zu einer Versöhnung der beiden gegensätzlichen Richtungen kommen, ähnlich wie dies bereits in Amerika mit der Psychologie und dem Behaviorismus der Fall ist." (1924, zit.nach BUDILOWA a.a.O., S.36) Dieser Hinweis TSCHELPANOWS auf die neuesten Entwicklungen innerhalb der Psychologie außerhalb der Sowjetunion führt uns zu der Frage des Verhältnisses der jungen sowjetischen Psychologen zu den zeitgenössischen ausländischen psychologischen Richtungen. Als in den ersten Jahren nach der Revolution neue Bücher aus dem Ausland nach Sowjetrußland gelangten, wurden die Arbeiten zahlreicher Psychologen aus den westlichen Ländern übersetzt und herausgegeben, darunter Arbeiten von K.BÜHLER (Entwicklungspsychologie), KOFFKA (Gestaltpsychologie), FREUD (Psychoanalyse), WATSON (Behaviorismus). Den durch die genannten Autoren repräsentierten unterschiedlichen psychologischen Richtungen war gemeinsam, daß sie die traditionelle Bewußtseinspsychologie kritisierten. Außerdem hatten sie zahlreiche neue Ideen entwickelt und neue psychologische Fakten geschaffen. Diese Tatsache war für viele der jungen sowjetischen Psychologen sehr beeindruckend, es schien ihnen, als hätte die ausländische Psychologie in den neuen Theorien Wege zur Überwindung der methodologischen Krise gefunden. So beeindruckte der Behaviorismus nicht nur dadurch, daß er die subjektive Methode gänzlich ablehnte und versuchte, die objektive naturwissen44

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholog schaftliche Methode in die Psychologie einzuführen, sondern auch durch einen Reichtum an höchst interessanten experimentellen Fakten. Orientiert auf die Einführung objektiver Methoden in die Psychologie, hielten es manche sowjetische Psychologen für möglich, den Behaviorismus auf der philosophischen Grundlage des dialektischen Materialismus weiterzuentwickeln. Zu den Vertretern des Behaviorismus in der jungen sowjetischen Psychologie gehörten nicht nur BOROWSKI (1927,1929), der am Moskauer Institut für experimentelle Psychologie auf dem Gebiet der vergleichenden Psychologie arbeitete, und BLONSKI (1925), auch WYGOTSKI wurde in der frühen Periode seiner wissenschaftlichen Arbeit stark vom Behaviorismus beeinflußt (vgl. hierzu insbesondere WYGOTSKI 1925). Andererseits erweckte die Gestaltpsychologie (WERTHEIMER, KÖHLER, KOFFKA, LEWIN) dadurch Interesse, daß sie vom Prinzip der Ganzheit ausging und durch einen neuen Typ von Experimenten an das Problem der Struktur psychischer Prozesse heranzukommen suchte (man denke nur an die berühmten Schimpansenexperimente von KÖHLER). Dies veranlaßte nicht wenige sowjetische Psychologen, bei der Ausarbeitung ihrer eigenen Konzeptionen die Prinzipien der Gestaltpsychologie zu berücksichtigen. (Zum Einfluß der Gestaltpsychologie insbesondere auf die WYGOTSKI-Schule vgl. KEILER 1988). Die von FREUD begründete Psychoanalyse (als dritte einflußreiche Richtung) demonstrierte anhand zahlreicher Fakten die Existenz eines Bereichs des Psychischen außerhalb des Bewußtseins, die Existenz des Unbewußten. Dabei stellte die Psychoanalyse aber nicht nur die Frage nach dem Einfluß der unbewußten psychischen Erscheinungen auf das Bewußtsein und die Tätigkeit des einzelnen, sondern sie erhob auch Anspruch auf die Lösung sozialer Probleme. Zu den jungen sowjetischen Psychologen, die die Auffassung vertraten, die marxistische Psychologie müsse die Ideen der Psychoanalyse weiterentwickeln, gehörte damals u.a. LURIA (1923,1925). Die Bemühungen, die neuen Erkenntnisse zu nutzen, die die westeuropäische und US-amerikanische Psychologie im ersten Viertel dieses Jahrhunderts gewonnen hatten, waren indes nicht ohne Probleme, waren diese Erkennmisse doch in einem System von dem Marxismus fremden Anschauungen eingeschlossen. Tatsächlich verfügte aber die sowjetische Psychologie zu jener Zeit noch nicht über hinreichend ausgearbeitete theoretische Prinzipien einer marxistischen Psychologie, um die ausländischen psychologischen Theorien kritisch analysieren zu können. (Dies ist nicht weiter verwunderlich, wurden doch wichtige Schriften der Klassiker des Marxismus erst in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts überhaupt zum ersten Mal publiziert)

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Peter Keiler Die ungenügende Klärung der philosophischen Probleme der Psychologie hatte u.a. auch eine simplifizierte Auffassung des Verhältnisses von Theorie und Experiment zur Folge. So wurde von nicht wenigen die Auffassung vertreten, daß die experimentelle Praxis von der Lösung der philosophischen Probleme einer Theorie unabhängig sei, so daß es möglich sein sollte, die experimentellen Fakten von den theoretischen Lehrgebäuden zu trennen, die ersteren zu akzeptieren, obwohl man die letzteren verwirft. Häufig führte dies sogar dazu, daß die dialektisch-materialistischen philosophischen Thesen mechanisch mit psychologischen Theorien verbunden wurden, die sich auf die methodologischen Prinzipien der idealistischen Philosophie oder des Positivismus stützten. In anderen Fällen wurden psychologische Fakten, die verschiedenen psychologischen Theorien entlehnt worden waren, unter Beibehaltung der psychologischen Interpretation im Sinne dieser Theorien unmittelbar mit der marxistischen Philosophie vereinigt. Nicht minder kompliziert war auch die Frage nach dem Verhältnis der sowjetischen Psychologie zu den materialistischen Theorien der Physiologen, insbesondere der Neurophysiologen, die bereits vor der Revolution in Rußland entwickelt worden waren. Das betraf nicht nur die Frage nach dem Erbe SETSCHENOWs, sondern vor allem auch die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen der Psychologie und den aktuellen Lehren PAWLOWs und BECHTEREWS. In den ersten Jahren nach der Revolution wurde die Lehre PAWLOWs von den Psychologen mit großer Aufmerksamkeit rezipiert. 1923, erschien sein Buch "Zwanzigjährige Erfahrungen mit dem objektiven Studium der höheren Nerventätigkeit (des Verhaltens) der Tiere", 1926 folgten seine "Vorlesungen über die Arbeit der Großhirnhemisphären". Viele Psychologen bemühten sich, die Lehre PAWLOWs beim Aufbau einer materialistischen Psychologie einzubeziehen. Zu denen, die damals über die Bedeutung der bedingten Reflexe im Rahmen psychologischer Fragestellungen schrieben, gehörten u.a. auch KORNILOW, BLONSKI und WYGOTSKI. Andererseits erkannten alle, die danach strebten, ein Programm für die neue, d.h. marxistische Psychologie zu schaffen, die gesellschaftliche Determiniertheit des Psychischen beim Menschen an. Aber die damit zusammenhängenden Fragen wurden wiederum sehr unterschiedlich angegangen. Einige schlugen vor, das Problem der sozialen bzw. gesellschaftlichen Determination des Psychischen zum Gegenstand eines speziellen Zweiges der Psychologie, nämlich der Sozialpsychologie, zu machen; andere schlugen vor, die Psychologie gänzlich abzuschaffen und sie durch die Reflexologie oder durch die "Theorie der neuen Biologie" zu ersetzen. (BECHTEREW etwa nannte den

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Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholog Zweig der Reflexologie, dar die Probleme der Sozialpsychologie lösen sollte, "kollektive Reflexologies Eine sehr kritische und scharfsichtige Analyse der methodologischen Ursachen dieser letztlich fruchtlosen Auseinandersetzungen innerhalb der sowjetischen Psychologie findet sich in dem von WYGÖTSKI 1927 abgeschlossenen umfangreichen Essay "Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung" - ein Essay, das allerdings erst fast 50 Jahre nach WYGOTSKIs Tod, nämlich im Rahmen der Werkausgabe 1982-85, überhaupt das erste Mal publiziert worden ist und seit 1985 auch in deutscher Sprache vorliegt. Liest man es heute, dann versteht man sofort, warum WYGÖTSKI seinerzeit auf eine Veröffentlichung verzichtete: Weder vorher noch nachher sind je auf so radikale und rückhaltlose Weise von einem Psychologen die prinzipiellen Schwächen der Psychologie aufgedeckt worden. Und welche Konsequenzen es 1927 gehabt hätte, wenn diese aus der Psychologie selbst kommende die Wissenschaftlichkeit der Psychologie überhaupt in Frage stellende Kritik an die breite Öffentlichkeit gedrungen wäre, kann man sich leicht vorstellen, wenn man berücksichtigt, wie bereits KORNILOW im selben Jahr auf der Lpädologischen Beratung den allgemeinen Stand charakterisiert hatte: "Eine solche Fülle an die gesellschaftliche Praxis offerierter Ideen, oft widersprüchlicher, vielleicht auch fehlerhafter, ja sogar gar nicht nötiger, konnten wir in der Geschichte der russischen Psychologie noch nie beobachten." Im weiteren beschreibt er die Situation wie folgt: "BECHTEREW erkennt überhaupt keine Psychologie an und hält KORNILOW Subjektivismus vor; KORNILOW beschuldigt PAWLOW und BECHTEREW des mechanischen Materialismus; TSCHELPANOW hält KORNILOW Unkenntnis des Marxismus vor; FRANKFURT ertappt die Reflexologen beim Eklektizismus, TSCHELPANOW hingegen bei der Entstellung des Marxismus; TSCHELPANOW seinerseits bleibt nichts schuldig und bezichtigt FRANKFURT des Jentschmenismus; STRUMSKI wirft allen Moskauer marxistischen Psychologen Subjektivismus vor..." (KORNILOW 1927, S.209f., zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.20)

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Peter Keiler

4. Einige Hauptströmungen der sowjetischen Psychologie Mitte bis End der 20er Jahre (nach BUDILOWA a.a.O., S.37-63) Im folgenden soll etwas detaillierter auf einige Hauptrichtungen eingegangen werden, die Mitte bis Ende der 20er Jahre die Diskussion innerhalb der sowjetischen Psychologie bestimmten. 1) 4.1. Reaktologie (KORNILOW)

KORNILOW legte als Ausgangspunkt für das zu schaffende System einer marxistischen Psychologie die These zugrunde, daß das Psychische eine Eigenschaft der hochorganisierten Materie ist; zugleich betonte er, daß das Wesen des Psychischen in der Widerspiegelung der materiellen Welt besteht. Allerdings verstand er diese "Widerspiegelung" in einem ganz bestimmten Sinne: Für ihn war das Psychische der subjektive Ausdruck, das Nacherleben oder die Widerspiegelung der im Gehirn ablaufenden physiologischen Prozesse. Im Einklang mit dieser Interpretation war auch KORNILOWs Konzeption, die Reaktologie, aufgebaut, in deren Zentrum der Begriff der Reaktion stand. Dieser Begriff wurde von ihm als Grundbegriff für das neue System der Psychologie deshalb vorgeschlagen, weil seiner Auffassung nach in jeder Reaktion eines Organismus der objektive und subjektive Aspekt nicht voneinander zu trennen sind: "Eben diese zweiseitige, untrennbar zu einer Einheit verschmolzene Erforschung des Verhaltens des Menschens bezeichne ich als reaktologische Forschung, da der Begriff Reaktion an sich im Unterschied zum Reflex diese beiden Aspekte einschließe (KORNILOW 1924, S.19, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.39) Nach KORNILOWs Vorstellung faßt der Reaktionsakt sowohl die ihrem Wesen nach reflektorischen physiologischen Prozesse als auch die psychischen Erscheinungen zu einem einheitlichen Ganzen zusammen. Im Hinblick auf die empirischen Methoden der Erforschung des menschlichen Verhaltens (als dem Gegenstand der Reaktologie) hielt KORNILOW die Introspektion für obligatorisch; zugleich bestand er aber auch auf der Einführung von objektiven Methoden in die Psychologie, um die motorischen Reaktionen des Menschen erforschen zu können. In seinen Experimenten sah er vor, einerseits die Zeit der motorischen Reaktionen zu messen sowie ihre Intensität und Form zu bestimmen, was objektive Kennziffern ergab, andererseits aber auch die durch die Selbstbeobachtung der Versuchspersonen gewonnenen Angaben zu berücksichtigen. Die nach diesem Programm durchgeführten Forschungsarbeiten waren wenig erfolgreich. Insgesamt ist die Reaktologie gekennzeichnet durch einen 48

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholo eklatanten Widerspruch zwischen dem weitreichenden Anspruch, die Psychologie auf der Grundlage des Marxismus umzugestalten, und dem, wie TEPLOW es später formulierte, "kärglichsten Programm ihres konkreten Inhalts: der Untersuchung der Geschwindigkeit und der Stärke der Antwortbewegugen..." (TEPLOW 1947, S.13, zit nach BUDILOWA a.a.O., S.40). 4.2. Reflexologie (.BECHTEREW) BECHTEREW, der als Anhänger der Lehre SETSCHENOWs von den Reflexen des Gehirns zur Neurophysiologie gekommen war, befaßte sich mit der komplexen experimentellen Erforschung des Gehirns. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen über Struktur und Funktion des Gehirns sowie die Entdekkungen auf dem Gebiet der Neurologie wurden in den grundlegenden Arbeiten "Die Leitungsbahnen des Rückenmarks und des Großhirns" und "Grundlagen der Lehre von den Funktionen des Gehirns" zusammengefaßt. In der "Objektiven Psychologie", erschienen in einzelnen Heften von 1907 bis 1912, ging BECHTEREW zu theoretischen Verallgemeinerungen über, wobei er eine Lehre entwickelte, die er ursprünglich "objektive Psychologie", später aber "Reflexologie" nannte. Diese Theorie spiegelt beträchtliche Wandlungen in der Weltanschauung BECHTEREWS wider, ging er doch von den materialistischen Anschauungen, die er früher unter dem Einfluß revolutionär-demokratischer Ideen entwickelt hatte, am Ende zum Energetismus über, d.h. letztlich zur Negierung der materialistischen Grundthese, wonach das Psychische eine Eigenschaft der Materie ist Die Energie, die von BECHTEREW als das Ergebnis der "Entmaterialisierung" physischer Körper verstanden wird, ist nach seiner Vorstellung die Ursache sowohl psychischer Erscheinungen als auch materieller Prozesse: "Mit dem alten Begriff der ewigen Materie und ihren Eigenschaften, besonders mit dem Begriff der Kraft als einer Eigenschaft der Materie, kommt man in der heutigen Wissenschaft nicht weit, denn der Begriff Materie wird in Wirklichkeit durch den Begriff Energie absorbiert, und die Materie selbst wird als gebundene Energie aufgefaßt." (1925, S.41, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.41) Weiter: "Wenn aber eine solche Materie eine Funktion ist und die Energie allein Realität ist, dann besteht kein Anlaß mehr, das Psychische dem Materiellen gegenüberzustellen, und umgekehrt müssen wir uns fragen: Gibt es nicht die Möglichkeit, auch die psychische Tätigkeit auf die physikalische Energie zurückzuführen?" (1928, S.85f., zit. nach BUDILOWA a.a.O.) 49

Peter Keiler Als Resultat dieser Zurückführung des Psychischen auf "Energie" wurde die Charakterisierung der psychischen Tätigkeit als Widerspiegelung der objektiven Realität aufgegeben. Das Psychische wurde als Ausdruck der Bewegung der Energie auf den Nervenbahnen angesehen. Damit sind die psychischen Erscheinungen als Epiphänomene charakterisiert, d.h. als "Begleitprozesse" der reflektorischen Tätigkeit des Gehirns, die von keinerlei Einfluß auf die reflektorische Tätigkeit selbst sind. Das Paradoxe an der Reflexologie ebenso wie an der Reaktologie bestand darin, daß diese beiden Richtungen, die beide gleichermaßen programmatisch den Menschen in seiner Eigenschaft als Schöpfer zu ihrem Forschungsgegenstand erklärten, ihn in Wirklichkeit als ein passives Glied bei der Umschaltung der äußeren Reize auf die motorische Reaktion betrachteten. Die menschliche Tätigkeit wurde ihres Wesens beraubt, Bewußtheit auf motorische, reflektorische Reaktionen reduziert 43.

Behaviorismus (BOROWSKI, BLONSKI)

Für die Einbeziehung behavioristischer Konzeptionen in die marxistische psychologische Theorie waren die Ablehnung der Bewußtseinspsychologie, wie sie der Behaviorismus propagierte, sowie die Forderung nach objektiven Methoden für die Erforschung des menschlichen Verhaltens maßgebend. Hauptvertreter der vom Behaviorismus beeinflußten Richtung der sowjetischen Psychologie waren BOROWSKI und, Anfang der 20er Jahre, auch BLONSKI. Für BOROWSKI bestand kein qualitativer Unterschied im Verhalten von Mensch und Tier; er schlug deshalb vor, für die Untersuchung des Menschen und der Tiere ein und dieselbe Methode anzuwenden: "Ein Pädagoge, der sich mit der Tierpsychologie beschäftigt, übt sich unmittelbar in der Anwendung von Methoden, die ... bei der Erforschung der Kinder und der Tiere ... prinzipiell gleichgeartet sind." (1928, S.43, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.44f.) Nach BOROWSKI soll dann die zentrale Aufgabe der Psychologie in der Erforschung der Fertigkeiten bestehen, deren Herausbildung der behavioristischen Auffassung zufolge bei Mensch und Tier in gleicher Weise erfolgt BLONSKI hatte, im Bruch mit der idealistischen Bewußtseinskonzeption TSCHELPANOWs, zunächst das Bewußtsein überhaupt aus der Psychologie eliminiert. Einziger Gegenstand der Psychologie sollte das menschliche Verhalten sein. Da er in diesem Zusammenhang den Menschen als rein biologisches Wesen auffaßt, "ist die Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten eine biologische Wissenschaft, und die bisherige Kluft zwischen der Psychologie und der 50

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psychologi Naturwissenschaft wird beseitigt: Der Mensch ... steht nicht in Opposition zur Natur, sondern er ist mit ihr koordiniert." (1921, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.45). Andererseits war für BLONSKI das Bestreben charakteristisch, das Psychische des Menschen auch mit seinen sozialen Lebensbedingungen in Beziehung zu setzen, sah er in der Erforschung des sozialen Wesens des Menschen eine der wichtigsten Aufgaben der marxistischen Psychologie. Dabei wird der scheinbare Widerspruch innerhalb der Konzeption BLONSKIs durch eine spezifische Interpretation des Begriffes der Sozialität aufgehoben: Unter "Sozialität" subsumiert er jegliche Tätigkeit eines Individuums, die mit der Tätigkeit anderer Individuen zusammenhängt, was auch bei Tieren beobachtbar ist Auf diese Weise ist dann der Begriff des Sozialen in den biologischen Bereich, zumindest jedoch in die Interpretation der Lebensformen der höheren Tierarten eingeführt. Später nahm BLONSKI eine Erweiterung des Verhaltensbegriffes durch die Einbeziehung psychischer Prozesse vor, die er als Arten des Verhaltens charakterisierte: "Alles, was die alte Psychologie als seelische Fähigkeiten oder Erscheinungen erklärt hat, erklären wir als Arten des Verhaltens... Sehen, Hören, Sicherinnern, Denken, Wahrnehmen, Genießen - das alles sind verschiedene Arten des Verhaltens." (1925, zit. nach BUDILOWA a.a.O.) In späteren Forschungsarbeiten (nach 1927), in denen er Probleme des Gedächtnisses und des Denkens experimentell untersuchte, erfolgte dann endgültig die Abkehr vom behavioristischen Grundprinzip, die Bewußtseinserscheinungen aus der psychologischen Forschung auszuschließen 4.4. Neurobiologischer Monismus (IWANOW-SMOLENSKI) Im Ergebnis einer vulgarisierenden Gleichsetzung der Reflexologie BECHTEREWS und der Lehre PAWLOWs entstand eine Richtung, die diese beiden Theorien miteinander verschmolz und deren Hauptthese darin bestand, daß die Weiterentwicklung der physiologischen Erkenntnisse eine Zurückführung aller psychischen Erscheinungen auf physiologische Prozesse erlauben würde und daß mit der Durchsetzung des Materialismus die Psychologie als Wissenschaft verschwinden würde. Führender Repräsentant dieser Richtung war IWANOW-SMOLENSKI, der seine Konzeption als "neurobiologischen Monismus" bezeichnete und sie folgendermaßen charakterisierte: 51

Peter Keiler "Diese Strömung, die unmittelbar aus der physiologischen Verhaltenstheorie SETSCHENOWs und der von PAWLOW und seiner Schule geschaffenen Physiologie der Großhirnhemisphären der Tiere hervorgeht, konzentriert ihr Hauptaugenmerk noch viel stärker als der Behaviorismus auf die experimentelle Untersuchung von Kindern und Erwachsenen, gesunden und nervenkranken, wobei sie anstrebt, eine Physiologie und eine Pathologie der höheren Nerventätigkeit (des Verhaltens) des Menschen zu schaffen." (1929, S.108, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.51f.) Zwar wurde von IWANOW-SMOLENSKI das Problem der Übertragbarkeit der im Rahmen der Lehre von den bedingten Reflexen entwickelten biophysiologischen Methoden auf den Menschen durchaus gesehen; er vertrat jedoch die Auffassung, daß ein "schrittweises, ab» stetiges Vonlicken bei der physiologischen Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Nervensystem des Menschen" möglich ist, "mit den einfachsten und elementarsten 'zeitweiligen Verbindungen* beginnend und sich allmählich den kompliziertesten nähernd" (1929, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.52). Was bei PAWLOW lediglich Einschränkung der Aufgaben der Physiologie war, wurde von IWANOW-§MOLENSKI zu einem Prinzip »hoben, das das Psychische als Gegenstand der objektiven Forschung schlechthin beseitigte. Nach seiner Auffassung hatte lediglich das Fehlen eines experimcntalphysiologischen Zugangs zur Erforschung der Großhirnhemisphären des Menschen dieses Gebiet in den Händen der Psychologen belassen. Indem IWANOW-SMOLENSKI die Reflextheorie SETSCHENOWs behavioristisch interpretierte, wurde SETSCHENOW, der Zeit seines Lebens für eine materialistische Psychologie gekämpft hatte, jetzt zum theoretischen Vorreiter für all diejenigen zurechtgestutzt, die sich gegen die Psychologie als selbständige Wissenschaft wandten. Ausgehend von der Einschätzung, daß die Psychologie "keine Wissenschaft ist und allmählich verfällt, degeneriert" (1929, zit nach BUDILOWA a.a.O., S.52), polemisierte IWANOW-SMOLENSKI gegen die Anschauungen KORNILOWs als eines Psychologen und Mentalisten und qualifizierte dessen Hinweis darauf, daß das menschliche Verhalten kein rein biologischer Sachverhalt ist, als eine "zügellose psychologische Aggression" ab (zit. nach BUDILOWA a.a.O.). Zugleich polemisierte er aber auch gegen WYGOTSKIs Bemühungen, die Ergebnisse der Physiologie des Gehirns psychologisch auszuwerten und in die Psychologie zu integrieren, als "psychologische Entstellung" hirnphysiologischer Tatsachen (vgLBUDILOWA a.a.O., S.53). Und auch die Reflexologie BECHTEREWS, die ja immerhin die Existenz der sub-

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Die Anfangsetappe der sowjetischen Psycholog jektiven Erscheinungen anerkannte, wurde als psychologisierende "Abweichung" verunglimpft Die Auffassungen IWANOW-SMOLENSKIs sind dann vom I.Unionskongreß zur Erforschung des menschlichen Verhaltens (1930) als vulgarisierende Entstellung der Lehre PAWLOWs charakterisiert und verurteilt worden.

4.5. Psychoanalytische Konzeptionen (FRIDMAN, REISNER# LURIA, BYCHOWSKI) Die Ansätze, die Lehre FREUDs zum Ausgangspunkt zu nehmen und sie auf der Grundlage der dialektisch-materialistischen Methodologie weiterzuentwickeln, gingen von folgenden Vorstellungen aus: Wie der Behaviorismus trat die Psychoanalyse gegen die traditionelle Bewußtseinspsychologie auf. Der Behaviorismus verwarf aber nicht nur das Bewußtsein, sondern zugleich auch die gesamte Psychologie der Persönlichkeit, und, indem er die Reaktionen als unmittelbar abhängig von äußeren Reizen ansah, wurde auch das Problem der Motivation ausgeklammert Berücksichtigt man zudem, daß die Psychoanalyse ihr besonderes Augenmerk auf den Bereich des Unbewußten richtete, sich dazu noch die Aufgabe stellte, die ganze Persönlichkeit, ihre Bedürfnisse und Strebungen sowie die Motivation zu erforschen, wird verständlich, daß diejenigen sowjetischen Psychologen, die nicht bereit waren, auf die Erforschung des Psychischen zu verzichten, in der Psychoanalyse ein System von Anschauungen vorfanden, die die Psychologie der Persönlichkeit auf neue Weise erklärten. Hinzu kommt, daß sich die Lehre FREUDs als ein System der monistischen Psychologie darstellte, das die Determination des Psychischen auf einen einzigen Kausalzusammenhang zurückführt, der beide Aspekte des Lebens des Menschen verbindet: einerseits den organischen unter Einschluß der biologischen Bedürfnisse und Antriebe, andererseits den sozialen, gesellschaftlichen. Neben FRIDMAN, BYCHOWSKI und REISNER gehörte auch der junge LURIA zu den Anhängern der Auffassung, daß die von der Psychoanalyse realisierte Vorgehensweise der von der marxistischen Philosophie an die Psychologie gestellte Aufgabe entspreche, materialistisch an die Persönlichkeit und an die Triebkräfte der Psyche heranzugehen. Er schreibt 1925: "Im System der Psychoanalyse wird die Abhängigkeit der psychischen Funktionen von Reizen organischer Natur besonders hervorgehoben; die Psyche wird in das System des Organismus eingeführt, ihre Erforschung verliert ihre Isoliertheit, durch die sie sich in der alten Schulpsychologie auszeichnete, die bestrebt war, die Psyche als etwas nicht 53

Peter Keiler mit dem allgemeinen Leben des Organismus Verbundenes darzustellen und die das Gehirn außerhalb jeglicher Einflüsse der einzelnen Körperorgane (innersekretorische Drüsen u.a.) und außerhalb der allgemeinen Dynamik des ganzen Organismus erforscht. Dieser Versuch, die Psyche in das Gesamtsystem der Interrelation der Organe einzuführen, das Gehirn und seine Tätigkeit nicht losgelöst für sich, sondern im Zusammenhang mit anderen Organen zu untersuchen, der Psychologie eine stabile biologische Basis zu geben und damit endgültig mit dem metaphysischen Herangehen zu brechen - dieser Versuch stellt das bedeutendste Verdienst der Psychoanalyse dar." (zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.54f.) Von anderen Anhängern der Psychoanalyse innerhalb der sowjetischen Psychologie wurde die Verbindung der psychischen Erscheinungen mit dem biologischen Bedürfnissen als Ergänzung des historischen Materialismus interpretiert. So etwa von FRIDMAN: "Der historische Materialismus verbindet die Psychologie des Menschen mit der Soziologie, die Psychoanalyse verbindet sie mit der Biologie. Exakter ausgedrückt, der historische Materialismus zeigt, wie das Soziale das Psychologische bewirkt, während die Psychoanalyse zeigt, in welcher Weise sich das Biologische unter dem Einfluß des Sozialen in das Psychologische verwandelt." (1925, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.55) Im Zusammenhang der politischen und philosophischen Auseinandersetzungen um die Psychoanalyse in der zweiten Hälfte der 20er Jahre erfolgte zugleich mit der Kritik an der Psychoanalyse auch eine Kritik der Versuche, sie mit dem Marxismus zu vereinen. Hauptkritikpunkte waren die soziologischen Anschauungen FREUDs, die als reaktionär verurteilt wurden, sowie die These von der führenden Rolle des Unbewußten und der sexuellen Motive bei der Determination des menschlichen Verhaltens. Bereits gegen Ende der 20er Jahre hört die Psychoanalyse auf, einen merklichen Einfluß auf die Entwicklung der sowjetischen Psychologie zu nehmen. 4.6. Die frühen Auffassungen WYGOTSKIs Obwohl auch WYGOTSKI, der von der Linguistik und der Kunstwissenschaft über die Psychoanalyse zur Psychologie gekommen war (vgl. hierzu seine "Psychologie der Kunst"), zunächst stark unter dem Einfluß sowohl des Behaviorismus als auch der PAWLOWschen Theorie der höheren Nerventätigkeit stand, verteidigte er von Anfang an das Problem des Bewußtseins als das zen54

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholo trale Problem der Psychologie. Er war der Auffassung, daß "die Psychologie sich selbst den Zugang zur Erforschung einigermaßen komplizierter Probleme des menschlichen Verhaltens verschließt, wenn sie das Problem des Bewußtseins ignoriert" (1924 auf dem ILUnionskongreß für Psychoneurologie, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.56). Damit sah WYGOTSKI das Bewußtseinsproblem explizit als ein Problem der Verhaltenspsychologie an, bestand für ihn die Hauptaufgäbe der theoretischen Bemühungen darin, für das Bewußtsein "einen Platz und eine Erklärung in einer mit allen Reaktionen des Organismus gemeinsamen Reihe von Erscheinungen (zu) finden" (1925, zit. nach WYGOTSKI 1985, S.287). Wie löste nun WYGOTSKI dieses Problem? Das Verhalten des Menschen umfaßt, wie auch das Verhalten der Tiere, unbedingte und bedingte Reflexe. Wenn man nun das Bewußtsein als "Reflex der Reflexe" (a.a.O., S.307) in das System der Reflexe einbezieht, so kommt man zu der Auffassung, daß das Bewußtsein "die korrelative Tätigkeit innerhalb des Organismus selbst, innerhalb des Nervensystems, die korrelative Tätigkeit des menschlichen Körpers mit sich selbst" ist (1926, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.58). Indem WYGOTSKI aber das Bewußtsein lediglich als den subjektiven Ausdruck hirnphysiologischer Prozesse, "als einen besonderen Aspekt, als ein besonders qualitatives Charakteristikum der höheren Hirnfünktionen" ansah (1930, zit. nach BUDILOWA a.a.O., S.63), näherte er sich sowohl den Grundpositionen der Reaktologie als auch denen der Reflexologie, obwohl er gerade die letztere aufs schärfste bekämpfte. Die Formulierung des Bewußtseinsproblems als zentrales Problem für die Psychologie, ursprünglich noch im methodologischen Rahmen der Verhaltenspsychologie, führte WYGOTSKI in seinen weiteren Untersuchungen zu einer Oberwindung des Behaviorismus. Und so suchte er bei der Ausarbeitung der Lehre von der Entwicklung der höheren psychischen Funktionen, die seinen eigentlichen Beitrag zur Entwicklung der sowjetischen Psychologie auf marxistischer Grundlage darstellt, nach neuen Lösungsmöglichkeiten dieses Problems. 5.

Der kulturhistorische Ansatz der WYGOTSKI-Schule

Chrakteristisch für die von WYGOTSKI propagierte neue Zugangsweise zum Bewußtseinsproblem waren zwei Hauptfragen: 1. Worin besteht die "Vermenschlichung" der psychischen Prozesse, welches sind die Bedingungen ihrer gesellschaftlich-historischen Entwicklung? 55

Peter Keiler 2.

Welches sind die Bedingungen, unter denen die kulturellen Mechanismen zu individuellen und letztlich psychischen Mechanismen werden; wie kommt es im Verlauf der Individualgeschichte zur Umbildung der natürlichen Psychismen in kulturell determinierte, "höhere" psychische Funktionen? In der von ihm in den 20er Jahre entworfenen "kulturhistorischen" Konzeption identifizierte WYGÖTSKI dann den Knotenpunkt der psychischen Entwicklung (und zwar sowohl der Entwicklung der menschlichen Gattung als auch der Individualentwicklung) mit dem "Augenblick, wo das Werkzeug in Anwendung kommt" (LEONTJEW & LURIA 1958, S. 169). Dabei waren "Werkzeuge" für ihn nicht nur die im Verlauf der Menschheitsgeschichte entwickelten materiellen Mittel, die der Mensch in der Auseinandersetzung mit der äußeren Natur verwendet, sondern auch jene Hilfsmittel, die im Verkehr der Menschen untereinander eine Rolle spielen, also vor allem die Sprache, aber auch andere Zeichen- und Symbolsysteme. Als Bedeutungsträger sind diese nicht nur Mittel der Kommunikation (des gesellschaftlichen Umgangs), sondern sie können auch zu Mitteln der inneren, d.h. psychischen Tätigkeit werden. Kennzeichnend für die höheren, d.h. für den Menschen spezifischen psychischen Funktionen ist daher ihre Mittelbarkeit, ihre Abhängigkeit von der Verwendung von "Werkzeugen" i.w.S. 5.1. Die "psychischen Werkzeuge" und ihre "Aneignung" Wesentliches Merkmal der Zeichen und Symbole ist ihr gesellschaftlicher Charakter. Die spezifisch menschlichen Psychismen können daher nur im Zusammenhang der gesellschaftlichen Tätigkeit der Menschen, im Verlauf ihrer Zusammenarbeit und ihres Verkehrs untereinander entstehen und sich entwikkeln. Das Wort oder das mnemotechnische Zeichen hat primär die Funktion, die Tätigkeit von mindestens zwei Menschen miteinander zu vermitteln, sekundär und historisch nachgeordnet werden die Zeichen und Symbole zu Mitteln der Organisation der Tätigkeit eines Menschen. Schließlich wandelt sich der Prozeß, der zunächst "dialogisch", d.h. auf der äußeren Ebene zwischen zwei Menschen abgelaufen war, um in einen inneren Prozeß, eine psychische Funktion. (Vgl. WYGÖTSKI 1960, S.197ff., zit. bei BUDILOWA a.a.O., S.126) Dieser Grundidee, derzufolge sich Inhalt und Struktur der für den Menschen spezifischen psychischen Prozesse zuerst bei der durch "Werkzeuge" i.w.S. vermittelten äußeren Tätigkeit entwickeln müssen, bevor sie auf die "innere Ebene" übergehen können, entspricht auch das allgemeine Entwicklungskonzept WYGOTSKIs: 56

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholog Danach ist der Grundmechanismus der individuellen psychischen Entwicklung - WYGOTSKI bezeichnet ihn in der Übernahme einer seinerzeit in der deutschsprachigen Entwicklungspsychologie gängigen Vorstellung als "Aneignung" - ein Prozeß, der nacheinander auf zwei Ebenen abläuft: Zunächst macht sich das Individuum die sozialen, im gesellschaftlich-historischen Prozeß herausgebildeten, über "Werkzeuge" vermittelten Formen der Tätigkeit auf der äußeren Ebene "zu eigen", später wandeln sich die in äußerer Form "angeeigneten" Prozesse in innere, geistige Vorgänge um. Dabei ist die Entwicklung des individuellen Bewußtseins von Anfang an mit dem Erwerb der Umgangssprache verbunden, wobei die Notwendigkeit, sprechen zu lernen, beim Kind in seiner Unselbständigkeit, seiner Abhängigkeit von den Erwachsenen begründet ist Das erste Stadium der kindlichen Sprachentwicklung ist wesentlich durch den affektiven Bezug sprachlicher Äußerungen bestimmt. Die Entdekkung der Symbolfunktion der Sprache (STERN hat sie einmal als "die größte Entdeckung im Leben eines Itindes" bezeichnet) markiert dann den Übergang in die "intellektualistische" Phase ihrer Entwicklung. Er erfolgt gewöhnlich nicht vor Ende des 2Lebensjahres und objektiviert sich in zwei eng miteinander verbundenen Merkmalen: "Zunächst beginnt das Kind, bei dem dieser Umschwung erfolgt ist, seinen Wortschatz aktiv zu erweitern, indem es bei jedem neuen Ding fragt, wie es heiße. Das zweite Moment besteht in der außerordentlich schnellen, sprunghaften Vergrößerung des Wortschatzes." (WYGOTSKI 1929a I, S.468) Im "vorintellektualistischen" Stadium unterscheidet sich der Spracherwerb des Kindes nicht wesentlich von entsprechende Lernleistungen der Tiere. Auch diese können "einzelne Worte der menschlichen Sprache erlernen und in den entsprechenden Situationen anwenden. Ebenso eignet sich das Kind vor Eintritt des obenerwähnten Umschwungs einzelne Worte an, die für es bedingte Reize oder Stellvertreter einzelner Gegenstände, Leute, Handlungen, Zustände oder Wünsche sind ... In diesem Stadium kennt jedoch das Kind nur soviel Worte, wieviel ihm von den es umgebenden Menschen geliefert werden" (ebd.). Prinzipiell anders ist die Situation nach dem Eintritt in die "intellektualistische" Phase: "Das Kind fragt, wenn es einen neuen Gegenstand sieht, nach dessen Namen. Das Kind fühlt das Bedürfnis nach einem Wort und strebt aktiv nach der Aneignung eines zu dem betreffenden Gegenstand gehörigen

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FeterKeüer Zeichens, eines Zeichens, das zur Benennung und Verständigung dient.'1 (ebd.) Damit ist nicht der Sprächerwerb als solcher bereits Ausdruck einer "Vermenschlichung" der psychischen Prozesse, sondern erst der reflektierte, vom Kind aktiv betriebene Spracherwerb. WYGOTSKI beruft sich in diesem Zusammenhang explizit auf die von K.BÜHLER und KOFFKA vertretene Auffassung, derzufolge die sich von Generation zu Generation wiederholende Entdeckung des funktionellen Charakters der Sprache in psychologischer Hinsicht direkt vergleichbar sei mit den von KÖHLER beschriebenen "WerkzeugErfindungen der Schimpansen. Indem sich WYGOTSKI dieser Auffassung anschloß, übernahm er zugleich auch jene These BÜHLERs, wonach das "Werkzeugdenken" logisch-historisch der Ausbildung der Sprache im spezifisch menschlichen Sinne voraufgehe. (Vgl. hierzu BÜHLER 1922 sowie WYGOTSKI 1929a u. 1929b.) Der Gedanke, daß das Individuum sich beim Hineinwachsen in die Kultur nicht nur bestimmte kulturelle Inhalte (eine bestimmte Weltanschauung, bestimmte allgemeine und spezielle Kenntnisse, ein bestimmtes moralisches und ästhetisches Wertsystem usw.), semdern auch bestimmte Kulturtechniken bzw. -methoden (die Sprache, Lesen, Schreiben, Rechnen, logisches Denken usw.) "aneignet", war seinerzeit in mehr oder weniger systematisierter Förm bereits in den Konzeptionen verschiedener namhafter Entwicklungspsychologen enthalten, an die WYGOTSKI explizit anknüpfte, als er sich dem Problem der kulturellen Entwicklung des Kindes zuwandte (neben K.BÜHLER und KOFFKA ist hier vor allem CH.BÜHLER zu erwähnen). Das eigentlich Neue seines Ansatzes bestand deshalb darin, daß er den Entwicklungsprozeß, in dessen Verlauf "das Kind nicht nur das Wesentliche in der kulturellen Erfahrung, sondern auch die Art des gebildeten Denkens, sowie Methode und Formen des gebildeten Benehmens (lernt)" (1929b, S.433, deutsch im Original), nicht einfach als einen Prozeß der bloß quantitativen Anreicherung des "geistigen Besitztums" und des Verhaltensrepertoires des Kindes begriff, sondern vor allem als einen Prozeß der qualitativen Umwandlung seines äußeren und inneren Verhaltens. Möglich wird dieser Prozeß nach der Auffassung WYGOTSKIs dadurch, daß das Kind sich selbst gegenüber eine "psychologische" Haltung einnimmt und danach strebt, sein eigenes Verhalten zu beherrschen und z.B. seine Aufmerksamkeit?- und Gedächtnisleistungen durch die Verwendung von i.w.S. "technischen" Hilfsmitteln zu verbessern (vgl. a.a.O. sowie WYGOTSKI 1930a). Dabei ist der Gedanke, das Kind sei sein eigener Psychologe, durchaus wörtlich zu nehmen 2) und geht - wie aus dem Zusammenhang, in welchem WYGOTSKI ihn entwickelt, deutlich wird - auf eine eigentümliche Interpretation jenes bekannten Satzes aus dem "Kapital" zurück, 58

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholo

demzufolge der Mensch, indem er durch die Arbeit auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, zugleich auch seine eigene Natur verändert (MEW Bd.23, S.192). WYGÖTSKI wollte diese Bestimmung, sofern es sich bei der "eigenen Natur" um das Verhalten des Menschen handelt, so verstanden wissen, daß nicht die Arbeit selbst, sondern ein ihr in wesentlichen Punkten analoger Prozeß, dessen expliziter "Gegenstand" das menschliche Verhalten ist, die Veränderung desselben herbeiführt (vgl. 1929b, S.418 sowie 1930a). Daher sind nach seiner Auffassung auch die Werkzeuge der materiellen Produktion für die Lenkung, Beherrschung und Umgestaltung insbesondere des inneren Verhaltens (d.h. der psychischen Prozesse) nur von mittelbarer Relevanz, und zwar insofern, als einerseits das die Arbeitstätigkeit regulierende "Weikzeugdenken" notwendige Voraussetzung für die Entdeckung der "instrumentellen Funktion" der Sprache ist, andererseits die Arbeitsinstrumente selbst jedoch nicht in die Struktur der psychischen Prozesse miteinbezogen wer können (vgl. LEONTJEW & LURIA 1958,169). Dabei hat die Vorstellung von den Zeichen als "psychischen Werkzeugen" einen eigentümlichen Doppelsinn. Einerseits sind sie das "Instrument" zar Beherrschung des menschlichen Verhaltens, und zwar, wie mehrfach betont wird, sowohl desfremdenwie auch des eigenen Verhaltens (vgl.insbesondere WYGÖTSKI 1930a). Andererseits sind sie im Dienst bestimmter (vor allem der inneren) Verhaltensprozesse stehende "Arbeitsinstrumente". So spricht WYGÖTSKI speziell vom Wort als dem "Werkzeug des Denkens" (1934, zit nach WYGÖTSKI 1974, S.187), bezeichnen LEONTJEW und LURIA in ihrer Darstellung der Konzeption WYGOTSKIs die Zeichen allgemein als "Hilfsmittel der geistigen Produktion" (a.a.O., S.169). (Die Einsicht, daß für WYGÖTSKI Zeichen in diesem Doppelsinn "Produktionsmittel" sind, ist nun allerdings nicht nur die notwendige Voraussetzung für ein adäquates Verständnis der Konzeption WYGOTSKIs überhaupt, sondern auch der Ansatzpunkt für eine grundsätzliche Kritik dieser Konzeption, was hier allerdings nicht weiter ausgeführt werden kann.) Das erste und wichtigste der gesellschaftlich entwickelten "psychischen Werkzeuge" ist die (gesprochene!) Sprache, die gegenüber den anderen Zeichensystemen jene einzigartige Stellung einnimmt, die HEGEL der menschlichen Hand gegenüber den Werkzeugen zuweist, wenn er sie das "absolute Werkzeug" bzw. das"Werkzeug der Werkzeuge" nennt (HEGEL TWA Bd.10, S.192 u. 194). Nicht nur, daß die gesprochene Sprache die logisch-historische Voraussetzung aller übrigen gesellschaftlichen Zeichensysteme ist und diesen gegenüber die Funktion eines universellen und permanent verfügbaren MetaZeichensystems erfüllt - sie kann auch auf eine Weise "interiorisiert", d.h. verinnerlicht werden, die weit über die Möglichkeiten vor- und außersprach59

Peter Keiler liehen Formen der "Hereinnahme" hinausgeht, wobei "Interiorisation" nicht einfach nur die Übertragung der Sprachzeichen von der "äußeren" auf die "innere" Verhaltensebene, sondern zugleich ein 'Hineinwachsen" der Sprache "tief nach innen in das Verhalten" des Individuums meint (vgl. WYGOTSKI 1929a II, S.613). Dieser Prozeß, bei dem sich in drei Etappen der bereits erwähnte charakteristische Funktionswechsel der Sprachzeichen vollzieht (zunächst sind sie Mittel des sozialen Umgangs; dann werden sie zu Mitteln der Organisation des "äußeren" und "inneren" Verhaltens des Individuums; schließlich avancieren sie zu "Hilfsmitteln der geistigen Produktion"), ist dann für WYGOTSKI in "technischer" Hinsicht zugleich ein Modellfall für die Umwandlung der natürlichen Psychismen in gesellschaftlich determinierte psychische Funktionen überhaupt Von zentraler Bedeutung bei alledem ist also die Vorstellung, daß die "psychischen Werkzeuge" erst dann wirklich ihre Funktion als "Hilfsmittel der geistigen Produktion" erfüllen können, wenn sie auf der "inneren", d.h. "geistigen Ebene" funktional werden. Bereits WATSON (der Begründer des Behaviorismus) hatte die Auffassung eines genetischen Zusammenhangs zwischen Sprechen und Denken vertreten und im Flüstern das vermittelnde Glied zwischen der gewöhnlichen Sprache und dem Denken als innerer, lautloser Sprache gesehen. Zwar ging auch WYGOTSKI davon aus, daß der Vorgang der "Interiorisation" in drei Etappen erfolgen müsse, wählte für die Bestimmung dieser Etappen jedoch in Abweichung von WATSON kein physiologisches, sondern ein psychologisches Kriterium. Dabei stützte er sich im wesentlichen auf PIAGETs Analysen der egozentrischen Sprache des Kindes, in der er, hierin wiederum über PIAGET hinausgehend, die gesuchte Übergangsetappe zwischen Sprechen und Denken ausmachte: "Die egozentrische Sprache ist eine ihrer Funktion nach innere Sprache, eine Sprache für sich, eine Sprache, die sich auf dem Weg nach innen befindet, eine Sprache, die für die Umgebung schon zur Hälfte unverständlich, schon tief nach innen in das Verhalten des Kindes hineingewachsen ist - und doch ist es physiologisch noch eine äußere Sprache/die keine Tendenz zur Umwandlung in ein Flüstern oder eine andere Form der halblautlosen Sprache zeigt." (WYGOTSKI a.a.O.) Der Gedanke, daß alle höheren Psychismen des Kindes im Prozeß des sozialen Umgangs entstehen; die Vorstellung, daß eine Funktion, die sich zunächst als äußere Funktion zwischen zwei Menschen entwickelt, später zu einer "inneren", einer geistigen Funktion des Kindes wird; der Leitsatz schließlich, daß die über die Sprache vermittelte "Aneignung" der allgemeinschlichen Erfahrungen der wichtigste Faktor der individuellen psychischen Entwicklung ist - all dies ist charakteristisch für jene Modellvorstellung der 60

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psychol

psychischen Entwicklung des Kindes, wie sie Jahrzehnte über den Tod WYGOTSKIs (1934) hinaus für alle Vertreter der kulturhistorischen Richtung verbindlich ist. Mit aller Deutlichkeit dokumentiert sich die Kontinuität dieser Tradition in jenen drei von dem WYGOTSKI-Schüler Elkonin unter Mitarbeit von BOSHOWITSCH und SAPOROSHEZ verfaßten Kapiteln des 1956 von SMIRNOW, LEONTJEW, RUBINSTEIN und TEPLOW herausgegebenen Psychologie-Lehrbuches, die der psychischen Entwicklung des Kindes gewidmet sind und wo es u.a. heißt: "Das Kind wird von den Erwachsenen erzogen, die sein Leben gestalten bestimmte Voraussetzungen für seine Entwicklung schaffen und ihm die gesellschaftlichen Erfahrungen vermitteln, die die Menschheit im Laufe der Geschichte gesammelt hat. Die Erwachsenen sind die Träger dieser gesellschaftlichen Erfahrungen. Über sie erwirbt das Kind Umfassende Kenntnisse vieler Generationen und eignet sich gesellschaftlich entstandene Fertigkeiten an, und von ihnen übernimmt es die in der Gesellschaft gültigen Verhaltensformen... Das Kind übernimmt vom Erwachsenen den Gebrauch jedes einzelnen Gegenstandes. Schon als Säugling bewegt es seine Klapper so, wie ihm das die Erwachsenen vormachen... Unter ihrer Anleitung lernt es beispielsweise, selbständig mit dem Löffel zu essen, die Schuhe anzuziehen und sich mit dem Handtuch abzutrocknen. Es würde nie lernen, die Gegenstände auf menschliche Art und Weise zu gebrauchen, wäre es auf sich selbst gestellt." (zit nach ELKONIN 1962, S.488 f.) 5.2. LEONTJEW Aufs Ganze gesehen, sind dann auch die bis zum Ende der 50er Jahre von LEONTJEW publizierten Arbeiten weit eher eine empirische Konkretisierung und theoretische Ausweitung der WYGOTSKIschen Gedanken, als daß man in ihnen Ansätze zu einem neuen, eigenständigen Entwickungskonzept erblikken könnte. So findet sich etwa in seiner 1932 im Journal of Genetic Psychology veröffentlichten experimentellen Arbeit über die "Entwicklung der willkürlichen Aufmerksamkeit beim Kind" der explizite Hinweis darauf, daß diese Arbeit nur auf der Grundlage der von WYGOTSKI entwickelten kulturhistorischen Theorie Bedeutung gewinne (vgl. a.a.O., S.54). Die zentrale These seiner Untersuchung besteht denn auch in der Annahme, daß die Entwicklung der willkürlichen Aufmerksamkeit lediglich die Entwicklung anderer höherer psychischer Funktionen wiederhole: Unwillkürliche Aufmerksamkeit verwandelt sich in willkürliche Aufmerksamkeit durch den Einsatz "psychischer 61

Peter Keiler Werkzeuge", die zunächst als äußerlich sichtbare Merkzeichen im Umgang mit anderen Menschen angewendet werden und später in das Individuum "hineinwachsen", wobei sie einen Funktionswandel durchmachen und neue, eigentümliche Qualitäten annehmen. Ausfuhrlicher dargelegt und ebenfalls an empirischen Material verdeutlicht, findet sich der gleiche Gedanke in einer umfangreichen, 1931 publizierten Arbeit über die "Entwicklung des Gedächtnisses", aus der dann später ein längeres Kapitel in die inzwischen zum entwicklungspsychologischen Standardwerk avancierte Sammelpublikation "Probleme der Entwicklung des Psychischen" (1959 ff.) übernommen wird. Deutlicher allerdings als in den beiden Arbeiten WYGOTSKIs aus dem Jahr 1929 und einer thematisch ähnlich gelagerten Arbeit LURIAs von 1928 tritt in den Untersuchungen LEONTJEWs über die Entwicklung der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses die Dialektik jenes Prozesses zutage, in dem, noch auf der äußeren Verhaltensebene, der in die Situation eingeführte zusätzliche Außenreiz zum Hilfsmittel der betreffenden psychischen Funktion wird. WYGOTSKI hatte ja zwischen der "natürlichen" Phase in der Entwicklung einer psychischen Funktion und der Phase, wo diese Funktion bereits durch den Gebrauch (äußerer) Zeichen und Symbole vermittelt ist, eine Durchgangsphase angenommen, die er als "Stadium naiver Psychologie" bezeichnete (vgl. hierzu weiter oben). In der "Aneignung" der Sprache ist dieses Stadium dadurch charakterisiert, daß das Kind das Wort noch als eine Eigenschaft der Dinge neben ihren anderen Eigenschaften auffaßt, in der "Aneignung" anderer Zeichensysteme dadurch, daß die betreffenden Zeichen mehr oder weniger zufällig und mit wechselndem Erfolg verwendet werden, da die Kinder über ein Begreifen der "rein äußeren Struktur des Zeichens" nicht hinauskommen. Die theoretische Bedeutung dieses Stadiums bestand für WYGOTSKI vor allem darin, daß damit die "größte Entdeckung im Leben eines Kindes" vieles von jener Dramatik verlor, die STERN ihr zugeschrieben hatte. Gegen diesen vertrat er die Auffassung, "daß es eine solche 'Entdeckung', deren Zeitpunkt mit Genauigkeit festgestellt werden könnte, gar nicht gibt; was vorgeht, ist im Gegenteil eine Reihe 'molekularer' Veränderungen, die dazu führen" (1929a n, S.620). LEONTJEW nun weist in seinen beiden Untersuchungen darauf hin, daß bei Kindern im Vorschulalter bisweilen noch ein anderes Phänomen zu beobachten sei: Die in das Experiment eingeführten zusätzlichen Reize erweisen sich als Störelemente, die zu einer Verschlechterung der natürlichen Aufmerksamkeitsbzw. Gedächtnisleistung führen. Das, was für das Schulkind und den Erwachsenen eine instrumenteile Funktion annimmt, ist also für ein jüngeres Kind u.U. nicht nur keine Hilfe, sondern ein Hindernis bei der Aufgabenbewältigung. Die eigentliche Entwicklungsleistung besteht in diesem Falle daher nicht in der einfachen Umwandlung eines bedeutungslosen, neutralen 62

Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholo Außenreizes in ein "psychisches Werkzeug", sondern in einer regelrechten Umkehrung der Valenz dieses Außenreizes: Der aktuelle Störfaktor muß als potentielles Hilfsmittel begriffen werden. Zwei wesentliche Präzisierungen der von WYGOTSKI formulierten Konzeption der individuellen psychischen Entwicklung datieren aus den 40er Jahien. Die erste besteht in einer genaueren Bestimmung des kindlichen Spiels als der für das Vorschulalter charakteristischen Form der "Aneignung" der menschlichen Wirklichkeit, die zweite in der für die weitere Entwicklung der LEONTJEWschen Konzeption wichtigen Unterscheidung zwischen "formaler Aneignung" der in den konventionellen Zeichensystemen, insbesondere der Sprache, zu Bedeutungen "kristallisierten" allgemeinmenschlichen Erfahrungen und jener wirklichen "Aneignung", in der die erworbenen Kenntnisse für das Kind zu "lebendigen Kenntnissen", zu "echten 'Organen seiner Individualität'" werden (vgl. LEONTJEW 1979, S.280). Die in der Arbeit über "psychologische Grundlagen des Spiels im Vorschulalter" (1944) entwickelten Gedanken werden von LEONTJEW explizit als Weiterverfolgung der von WYGOTSKI über das kindliche Spiel entwikkelten Hypothese ausgewiesen (vgletwa WYGOTSKI 1980). Die zentrale Idee dieser Arbeit, in der sich LEONTJEW auf empirische Untersuchungen von FRADKINA, ELKONIN und LUKOW stützt, besteht in der Annahme, daß das Kind iiti Spiel einen für sein aktuelles Entwicklungsstadium charakteristischen Entwicklungswiderspruch löst. Bereits im Vorschulalter strebt das Kind danach, seinen Handlungsbereich ständig auszudehnen und dabei mit den Gegenständen seiner Umwelt "wie die Erwachsenen" umzugehen. Diesem Bedürfnis steht aber seine tatsächliche Unfähigkeit gegenüber, die für eine adäquate Handhabung der Gegenstände erforderliche Operation wirklich zu vollziehen - ein "Widerspruch", der seinen Ausdruck auch auf der sozialen Ebene, d.h. im Umgang zwischen Kind und Erwachsenenfindet,die dem klassischen "Selber machen!" des Kindes ihr nicht minder klassisches "Das darfst du nicht!" entgegensetzen. Im Spiel nun findet das Kind die Möglichkeit, diesen "Widerspruch" zu lösen. Da das Motiv des Spiels ja nicht im materiellen Resultat der Handlung liegt, sondern in ihrem Inhalt, ist es nicht notwendig, all jene Verfahren und Operationen zu "beherrschen", die im Ernstfall unerläßlich sind und durch die realen Bedingungen der Handlung bestimmt werden: "Beim Spiel werden die erforderlichen Operationen und gegenständlichen Bedingungen einfach durch andere Operationen und Bedingungen ersetzt, während der Inhalt der Handlung erhalten bleibt Das Kind kann sich auf diese Weise einen Bereich der Wirklichkeit aneignen, der ihm

63

Peter Keiler sonst nicht unmittelbar zugänglich ist." (zit. nach LEONTJEW 1973, S.379) Ein wesentliches Moment der Spieltätigkeit besteht demnach darin, daß sie die das Kind umgebende Wirklichkeit in modellhqfter Form widerspiegelt Das Kind ahmt also nicht die spezifische Art und Weise eines bestimmten Erwachsenen im Umgang mit einem Gegenstand nach, "es dramatisiert nicht, sondern reproduziert in seinen Spielhandlungen und Spieloperationen nur das Typische und Allgemeine" (a.a.O., S.387). Im Spiel werden daher bereits die Grundlagen für eine Form der theoretischen "Aneignung" der Wirklichkeit geschaffen, die später im Schulunterricht an Bedeutung gewinnen wird und die dann insbesondere in der wissenschaftlichen Arbeit von unschätzbarem Wert ist. Bei seiner Charakterisierung des Spiels als der vor allem dem Vorschulkind eigentümlichen "Methode", sich die gesellschaftliche Wirklichkeit "anzueignen", weist LEONTJEW noch auf einen anderen wichtigen Punkt hin, der von seinen Kritikern häufig übersehen wird: Im Spiel erwirbt das Kind nicht nur "instrumentelle", sondern auch soziale Kompetenz. Nur zu Beginn stehen nämlich die Beziehungen zu den Dingen im Vordergrund des Spiels, besteht das spezifisch Menschliche der Tätigkeit des Kindes darin, daß es den betreffenden Gegenstand "wie ein Mensch" gebraucht und so als "menschlichen Gegenstand" erfaßt (a.a.O., S.378). Schon auf einer relativ frühen Entwicklungsstufe der Spieltätigkeit aber "sieht das Kind in einem Gegenstand nicht nur die Beziehung des Menschen zu diesem Objekt, sondern auch Beziehungen von Menschen zueinander" (a.a.O., S.391). In kollektiven Spielen, bei denen die Kinder nicht mehr nebeneinander, sondern in wechselnder Übernahme der verschiedenartigsten "Rollen" miteinander spielen, reproduzieren sie das Typische und Allgemeine der verschiedensten für die jeweilige Gesellschaftsform charakteristischen sozialen Beziehungen. Hatte WYGOTSKI in der "Bedeutung", dem durch das Wort repräsentierten Begriff, den Schlüssel zur Struktur des Bewußtseins und in der Begriffsentwicklung das wichtigste Glied der psychischen Entwicklung gesehen (vgl. GALPERIN 1969, S.368), so weist LEONTJEW in seiner erstmals 1947 publizierten Untersuchung über Probleme des "bewußten" Lernens darauf hin, daß individuelle Entwicklung als "Aneignung" sich eben nicht in der bloßen Übernahme von Begriffen erschöpft "Es genügt nicht", schreibt er, "Worte zu vermitteln, es genügt nicht, Worte zu verstehen, es genügt sogar nicht einmal, die in ihnen enthaltenen Gedanken zu erfassen, diese Gedanken und Gefühle müssen die Persönlichkeit in ihrem Inneren bestimmen." (zit. nach 1979, S.224)

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Die Artfangsetappe der sowjetischen Psycholo

Es ist klar, daß diese These nicht einfach nur eine Umformulierung des Interiorisationskonzepts ist, sondern auf ein bisher nicht behandeltes Problem hinweist: Welchen persönlichen Sinn haben die "angeeigneten" Begriffe, Kenntnisse und Verfahren für das je konkrete Kind? Die in ihnen verallgemeinerten Menschheitserfahrungen existieren ja objektiv, d.h. unabhängig von den individuellen Beziehungen des einzelnen Menschen zu der ihn umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit. Inwieweit diese allgemeinen Erfahrungen nun nicht bloß als leere Formeln mechanisch "angelernt", sondern wirklich "angeeignet", als "inneres Eigentum11 zum organischen Bestandteil des Leben eines Menschen werden, das hängt, so LEONTJEW, wesentlich von den konkreten Motiven des jeweiligen Lernprozesses ab. Im Unterschied zur "Bedeutung" fungiert so der "Sinn" im menschlichen Bewußtsein als das, "was die eigentlichen Lebensbeziehungen des Menschen unmittelbar widerspiegelt und in sich trägt" (a.a.O., S.261). Nachbemerkung: Zur weiteren Entwicklung der LEONTJEWschen Konzeption vgl. insbesondere BUDILOWA a.a.O., Kap.VI und VIE sowie Keiler 1983.

Anmerkungen 1) Da im nachfolgenden Beitrag von V.SCHURIG Bedeutung und Einfluß der Lehre PAWLOWs ausführlich erörtert werden, wird hier auf eine gesonderte Darstellung verzichtet. 2) WYGOTSKI unterscheidet in der Qualifizierung des Kindes zum "Herrscher" über das eigene Verhalten vier Phasen, von denen die zweite explizit als Stadium der "naiven Psychologie" bezeichnet wird. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß das Kind eine bestimmte Methode, z.B. das Erinnern von Wörtern mit Hilfe von Bildkärtchen (Methode der "doppelten Stimulierung"), "auf gut Glück" praktiziert, d.h. ohne erfaßt zu haben, "auf welche Weise ihm die Bilder dabei helfen, sich an die Wörter zu erinnern" (1929b, S.425, Übersetz. P.K.). Der Übergang zum dritten Stadium besteht darin, daß das Kind die "naive Erfahrung hinsichtlich der eigenen Erinnerungsprozesse1' adäquat verarbeitet und herausfindet, "wie der Trick funktioniert", was jedoch voraussetzt, daß "seine psychologische Erfahrung reich genug ist" (vgl. a.a.O., S.425 f. sowie 1929a, S.614).

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Peter Keiler

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1863

1880

POLITISCHE EREIGNISSE

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

KONGRESSE, TAGUNGEN, DISKUSSIONEN

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A) THEORE. BEREICH PSYCHOLOGIE

1904

offizielle Philosophie idealistisch geprägt

PHILOSOPHIE

NEUROPHYSIOLOGIE

1900

i • i • russischer Absolutismus, Einheit von Kirche und Staat; denwkratisch-revolution8re Bewegung 1 1 1 1 f

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BECHTEREW PAWLOW UCHTOMSKI

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PAWLOW (1904) Nobelpreis

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empirisch-experimentell, charakterisiert durch Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Idealismus (starker Einfluß da- idealistischen Philosophie)

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» Aufkommen der Pädologie

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B) ANGEW. BEREICHE

1905

POLITISCHE EREIGNISSE

1912

1908

1917

bärgerlich-demokratische Revolution (Dezember 1905 bewaffnete Aktionen der Aibeiter Moskaus)

Oktoberrevolution 1

PHILOSOPHIE

1

>

| "Materialismus und Empiriokritizismus" (LENIN 1908) |

' .

1

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ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN 1

KONGRESSE, TAGUNGEN. DISKUSSIONEN

NEUROPHYSIOLOGIE

A) THEORE. BEREICH

1

Gründung des Psychoneurologischen Inst durch BECHTEREW (1908)

SETSCHENOW gest. (1905) 1

1

I

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1 PSYCHOLOGIE . 1 B) ANGEW. BEREICHE 1

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Gründung des Institutes für exp. 1 Psychologie (Moskau) durch i1 TSCHELPANOW (1912) Prinzip des Dualismus von Physischem und | Psychischem (Introspektion als .

1 .

Wahrend des Krieges Erstarken der religiös-idealistischen Linie (LOPATIN, LOSSKI, FRANK u.a.)

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1918 , POLITISCHE EREIGNISSE

Tarnung von S « , « * KM»

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1920

Bürgerkrieg • . KnegSKommuiusmus

1921 | . (

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. I BOGDANOW legt Programm für 1 "Tektolögie" vor (1920) 1 1 JENTSCHMEN (1920 u.1923) for- , | den Ersetzung der Philosophie dmch 1 | ( 1

PHILOSOPHIE

1

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

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ii KONGRESSE, TAGUNGEN, DISKUSSIONEN

NEUROPHYSIOLOGIE

1 1 11 Einrichtung eines Inst für Himforschung (1918) |

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MINTN "Für Materialismus und Marw«nus, aber gegen die Philosophie" S 192Z)

"Ober die Bedeutung des streitbaren MaterialismusH(LENIN) . ab 1922 MPod Snamenem Marxisma" ( (PSM) und aiutoe theoretische marxistische Zeitschrift» 11 I

1

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Resolution d-XILGesamtruss.Konferenz d.KPR(B) zur Stärkung des "streitbaren Materialismus" (1922)

1 BECHTEREWS Reflexologie ("objektive PsycboL") wendet sich dem Energeösmus zu

besondere Förderung der Arbeit PAWLOWs durch einen Beschluß des Rates der Volkskommissare (unterz.v.LENIN)

A) THEORE. BEREICH

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PSYCHOLOGIE

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B) ANGEW. BEREICHE

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1922

[ 1 ' | BLONSKI (Schüler TSCHELPANOWs)raftzum Aufbau einer Psychologie auf dem Boden des Marxismus auf (1921)

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| KORNILOW. Schüler und Mitarbeiter TSCHELPANOWs saßt sich von diesem

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1923

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POLITISCHE EREIGNISSE

PHILOSOPHIE

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

KONGRESSE, TAGUNGEN. DISKUSSIONEN

NEUROPHYSIOLOGIE

A) THEORE. BEREICH PSYCHOLOGIE

XlVParteitag der KPDSU (B), STA-' I1 | LINs These vom "Sozialismus in ei-1 LENIN gest. nein Land" setzt sich durch gegen , | TROTZKIs These von der "perma-11 1 1 nenten Revolution" f 1 "Mechanisten" (STEPANOW, SARABJANOW, BORITSCHEWSKI UA): Marxismus auf cLneuesten Ergebnissen der Naturwissenschaften weiterentwickeln | 1 "Zur Frage der Dialektik" (LENIN) | "Dialektik der Natur" (ENGELS) [1 "Dialektiker" (DEBORIN, LUPPOL, KARJOW u.a.): Philosophie als allgemeine 1 Theorie der Dialektik, losgelöst von den konkreten WissenschaftiuLPraxis d. , , Sozialist Aufbaus 1 1 1 KORNILOW propagiert in KM mar- , 1 p. • Amm h. „.« „. I xistische Auffassung des Psychischen, Verschiedenartige Programme zur Schaffung einer marxistischen Psychologie 1 Berichte in der Iswesüja Ober Psy- f o n I e f t a u t ^ Marxismus zu Studie- , 1 (u.a. in den "Wissenschaftl. Blättern des Moskauer staatlichen Institutes für choneurologie-Kongress (Referate) . Psychologie soU Aufbau der neuexperimentelle Psychologie "1925-30) en Gesellschaft dienen 1 1 1 1 1 LOesamtrussischer Kongress f.Psy- | II.Gesamtniss.Kongr.f.Psychoneun>- I i choneurologic (Moskau) logie (Petrograd) • 1 I 11

LwÄtÄS^SILlSwä" 1

S Ä (PAWLOW1923)

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TSCHELPANOW wild der Leitung

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I t n J S S i ^ S ' ^ i S f 1 ^ 1 K r i r i k TSCHELPANOWs an den i rektw Itoter ihm arbeitenT£wY-1 A u f f a s s u n 8 c n BECH-TEREWs J GOTSKI, LURIA.BOROWSKL , , 1

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B) ANGEW. BEREICHE

| 1I

11

1

"Vorlesungen Ober die Arbeit der Großhirnhemisphären» (PAWLOW iVZÖ)

'

WYGOTSKI "Psvcholo&ie der Kunst" ferstmals niibliztert 19651

WYGOTSKI "Das Bewußtsein als Problem dir Psychologie des Verhaltens", publiziert in dem 1925 von KORNILOW hrsg.Sammelband "Psychologie und MarxismusM

f

J

Psychotechnik, Kinderpsychol., pädagog.PsychoL (beides subsumiert der Pädologie), Militärpsychologie i

1929

1928

1927

1930

T | Übernahme der Hauptfunktionen in | der Partei- und StaatsfUhrung durch | STALIN |

POLITISCHE EREIGNISSE

PHILOSOPHIE

Die Kontroverse zwischen "Mechanisten" und "Dialektikern" dauert an (bis 1931) "Philosophische Hefte" (LENIN) in den LENIN-Sammelbänden IX und XII (1929/30)

I 1 LURIA "Psychologie in • Rußland"(J.genet.Psychology) I LURIA "Das Problem des kulturellen Verhaltens des Kindes" (J.genetPsyI chology) LURIA H W N M "Die •»"» moderne IUWVWIIV Psychologie L G/VIHAUGLV lr und der dialektische Materialismus" Banner ' (auch fauch in deutsch in "Unter "Unter dem Banner I des Marxismus")

1

WYGOTSKI "Das Problem der kultu| teilen Entwicklung des Kindes" (J. , genet. Psych.) ' 1 WYGOTSKI "Die genetischen Wurzeln des Denkens und der Sprache" j . (auch in deutsch in "Unter dem Banner 1r des Marxismus") I j LPädologische Beratung II. Unionskonferenz der marxistisch- LUnionskongress aber die Erforschung des menschlichen Verhaltens KONGRESSE, Diskussion Ober die Reaktologie TAGUNGEN, DISKUSSIONEN 1927-1931 Teilnahme von sowjetischen Psychotechnikem an internationalen I Diskussion und Konfeienz zur Refle- KORNILOWs (organisiert von der Konferenzen über Psychotechnik xoiapc | Zelle der KPDSU des Institutes für Psychologie,PädoLund Psychotechn.) ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

NEUROPHYSIOLOGIE

A) THEORE. BEREICH

BECHTEREW gest.

der Lehre BECHTEREWS (posthum)

WYGOTSKI "Die Krise der Psycho-

I

(erstmals publiziert im Rahmen der I WYGOTSKI-V -Werkausgabe 1982-85) 1 KORNILOWs Einschätzung der Lage der Psychologie (i. < L sowjet.PsychoBruch zwischen theoretischen und angewandten Bereichen der Psychologie PSYCHOLOGIE logie konkurrieren 7 unterschiedliche r -„.,,„_ drT r Jcan , m , mi ^h.., p... Richtungen mit materialistischem bzw. S ^ ^ f J ^ ^ Ä ^ P s y maixistischem Anspmch). dwiedmischmGesdlschaft, B) ANGEW. ru.ap.uwi,. Psychotechmk wird zum fühlenden BEREICHE forens.Psychoi., BibliotheksZweig der sowj. Psychologie psychologic.

WYGOTSKI Vortrag "Die instnunenI teile Methode in der Psychologie" ,1 WYGOTSKI Vortrag "Die psychischrn Systeme"

POLITISCHE EREIGNISSE

1931 1932 Maschinenbau nimmt in der Industrie den führenden Platz ein. I.Unionskonferenz > 2446 Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) mit mehr als 75.000 Traktoren, der Funktionäre del sozialistischen Industrie, Losung: "Die Bolschewiki müssen1i August "Gesetz über dm Schutz des ^»Kstirehm Eigentums" die Technik meistern!" Volksbewegung für die Überwindung des Analphabetentums, 1930-1932 lernen an den Schulen zur Beseitigung des Analphabetentums mehr als 30 Mio.Menschen. Beschluß der Industrieministerien, entgegen den Ausleseergebnissen der "Testologen" zu verfahren. Hunderttausende beim Bau der neuen Betriebe beschäftigte ungelernte Arbeiter erlernen einen qualifizierten Beruf (Dreher. Schlosser, Hochöfner, Stahlwerker usw.). Auf dem Land haben bis zum Frühjahr 1931 mehr als 20U.ÜÜ0 Kolchosbauern den Beruf eines Traktoristen erlernt. | |

PHILOSOPHIE

"ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844" (MARX)

| ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

! LEONTJEW "Untersuchungen über die kulturelle Entwicklung des Kindes: IIL Über PSM Abschluß der Diskussion zwischen "Mechanisten" und "Dialektikern" 1 Die Entwicklung der willkürlichen Aufmerksamkeit" (J.genetPsychology) auf Beschluß des ZK der KPDSU j

[

für LUnionskongreß f.Psychotechnik SPILREIN kritisiert die methodischen und ! choIo ie c i n c n Vwtra u b e r d i e **r KONGRESSE, theoretischen Mängel der Psychotechnik. Kongreß formuliert die Aufgabe, die ' S 8 egozentrische Sprache des Kindes TAGUNGEN, 1,1,1 ««»einsam an der Gestaltung der | Vortrag WYGOTSKIs über die Ergebnisse der Erforschung der höheren psychiDISKUSSIONEN polytechmschen Schule zu arbeiten. sehen Prozesse. Vortrag WYGOTSKIs an der Kommunistischen Akademie über | die "zeitgenössischen Strömungen in der Psychologie".

NEUROPHYSIOLOGY

A) THEORE. BEREICH

PAWLOW beginnt mit der Untersuchung der höheren Nerventätigkeit des Menschen, entwickelt die Konzeption vom "zweiten Signalsystem" (Sprache, Denken), das nur dem Menschen eigen ist, und klärt die Wechselbeziehung zwischen den beiden Signalsystemen auf. Erste Psychologische Expedition nach Mittelasien unter Leitung LURIAs. S S S Ä ^ Ä psychischen Funktionen" LEONTJEW Die Entwicklung des Gedächtnisses

11

Zweite Psychologische Expedition nach Mittelasien unter Leitung LURIAs (einzi• ger ausländischer Teilnehmer der Gestaltpsychologe KJCOFFKA) LEONTJEW geht als Leiter einer Gruppe junger Psychologen (BOSHOWITSCH, I GALPERIN, SAPOROSHEZ, SINTSCHENKO sr. u.a.) nach Charkow (Ukrai ne).

PSYCHOLOGIE B) ANGEW. BEREICHE

Methodologische Kritik der Psychotechnik entfaltet sich im Rahmen der Sichtung arbeitspsychologischer Probleme zwecks Weiterentwicklung der angewandten Psychologie im Interesse des sozialistischen Aufbaus. (Konkreter Anlaß war die Tatsache, daß sich das von der sowj.Psychotechnik verwendete, aus den westlichen Psychologien der 20er Jahre übernommene "klassische" methodische Material bei der Lösung konkreter Probleme von umfassender volkswirtschaftlicher Bedeutung als gänzlich unzulänglich erwiesen haue.)

1933

POLITISCHE EREIGNISSE

PHILOSOPHIE

Vorfristige Erfüllung des 1. Fünfjahresplanes (4 Jahre, 3 Monate) XVILParteitag der KPÖSU nimmt Resolution ü.2.Fünfjahresplan (1933-37) an, wirtschaftliche Hauptaufgabe: Vollendung der technischen Rekonstruktion dgesamt. Volkswirtschaft Novemberplenum des ZK 1934 beschließt Aufhebung dJCartensystems f. Brot und andere Nahrungsmittel (eingefühlt zu Beginn des LPlanjahrfUnfts). S.M.KIROW, Mitglied des PoUtböros und Sekr.des ZK, wird am l.Dez. 1934 in Leningrad ermordet; ZK reagiert mit Beschluß aber die Notwendigkeit der ' Überprüfung u.d. Umtauschs der Parteidokumente. "Gleichzeitig weiden nach dem Mord an S.MKirow eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt, die gegen die sozialistische Gesetzlichkeit verstoßen" (Gesch.cLKPDSU, Fassung 1971, S.536). "Die deutsche Ideologie" (MARX U.ENGELS) .„ ,

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

KONGRESSE, TAGUNGEN, DISKUSSIONEN

1934

| f| 1 "Psichotechnika", in seinem Aufsatz "Psychologische Probleme in den Arbeiten von Karl Manc" formuliert RUBINSTEIN zum ersten Mal den Gedanken von der ' stischen psychologischen Theorie.

I

Aufbau einer mana

' WYGÖTSKI "Die Psychologie und die Lehre von der Lokalisation" (Thesen des | l. Gesamtukrainischen Psychoneurologischen Kongresses, Charkow)

I NEUROPHYSIOLOGY

i ANOCH1N, ein Schüler PAWLÖWs, arbeitet in den Jahren 1932-35 das Reafferenz-Prinrip aus. 1

| 1 A) THEORE. BEREICH

WYGÖTSKI "Das Problem der Ausbildung und der geistigen Entwicklung im . Schulalter" WYGÖTSKI "Denken und Sprechen" | WYGÖTSKI gest (Mai oder Juni) 1

PSYCHOLOGIE B) ANGEW. BEREICHE

1 1 1

POLITISCHE EREIGNISSE

PHILOSOPHIE

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

KONGRESSE, TAGUNGEN, DISKUSSIONEN

1935 1936 "Die Überprüfung und der Umtausch der Parteidokumente wurden in den Jahren 1935/36 durchgeführt Insgesamt gesehen, hat sich diese Maßnahme bewährt Die Partei säuberte sich gründlich von feindlichen und zufällig in ihre Reiten geratenen Menschen, sie wurde stärker und erhöhte ihre Kampffähigkeit In die Registrierung der Mitglieder und Kandidaten, in die Aufbewahrung und Ausgabe der Parteidokumente wurde Ordnung gebracht Jedoch kam es bei der Überprüfung zu unbegründeten Ausschlössen sogenannter 'Passiver' aus der Partei... Ab 1 .November 1936 wurden wieder Neuaufnahmen in die Partei . zugelassen" (Gesch. d-KPdSU, Fassung 1971, S.536). ns. H . — ™flwAim Amr TWh-sir At» Ai ^ . ZK-Beschluß über die "pädagogischen Entstellungen im System des Volksgung* (nach dem Häuer A.STACHANOW, der in einer Schicht 102 to Kohle ab- 1i gebaut und damit die Übliche Nonn um das 14fache überboten hatte). November, Unionsberatung der Stachanowarbeiter der Industrie und d » Vcxkehrswesens. j r i i 1 Da das "Pädologendekret" in seiner Anwendung auch auf Gebiete der Psychologie ausgedehnt wird, die mit der Pädoiogie nichts oder nur sehr wenig zu tun haben, I kommt es praktisch zur Auflösung der gesamten instituationalisienen Psychologie: 1 Die sowjetische Gesellschaft für Psychologie, aber auch alle nationalen Gesell1 Schäften werden geschlossen; die Fachzeitschriften werden eingestellt; es finden j keim Kongresse und öffentliche Diskussionen mehr statt. 1

NEUROPHYSIOLOGY

l |

A) THEORE. BEREICH

N A.BERNSTEIN beginnt mit der Ausarbeitung der Lehre von dot Bewegungen 1 (unter Einbeziehung des Rückkoppelungsprümps) j BOROWSKI "Das Verhalten von Küken, die im Brutschrank ausgebrütet werden" LADYGINA-KOHTS "Das Kind des Schimpansen und das Kind des Menschen" |

PAWLOW gest

[

j PSYCHOLOGIE BI-ONSKF "Gedächtnis und Denken" Das f S J Ä ^ ^ J I S ' I S Ä L S ?Ä°l0giC ' "PMologendekret" führt in seinen Auswirkungen zur Liquidierung sowohl 1 Her Frfoncrhnna Her mrhfh^„Rt.n auch der Psychotechnik (Schließung der Labors, Einstellung der B) ANGEW. 1 Ausbildung, Umsetzung der Kader, Einstellung der Publikationsorgane, SchlicBEREICHE ^ m S S J S S ^ S S S Verbindung mit der Tätigkeit (Lehre von der | ß u n g der wissenschaftlichen Gesellschaften). Die "angewandte" Psychologie hört Einstellung ) begonnen. I auf zu existieren.

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1939 1940 XVIII. Parteitag der KPdSU, Angesichts der zunehmenden KriegsI STALINformuliertdie These von der gefahr Rückkehr vom 7- zum 8-StunMöglichkeit des Aufbaus des dentag und zur 7-tägigen ArbeitswoPOLITISCHE I Kommunismus in einem Land. Er- che. Verbot für alle Arbeiter und AnEREIGNISSE » örterung des 3. Fünfjahrplans gestellten, ihre Arbeitsplätze in den i (1938-42) zur zuruniwicKiung Entwicklung oer der vousVolks- • Betrieben und Institutionen eigenwirtschaft der UdSSR. Mängel in der—f mächtig zu wechseln. Maßnahmen Organisation der Kohle- — führen zum Anstieg der IndustrieproI Hüttenindustrie führen dazu, daß die duktion. Produktion von Roheisen und Stahl PHILOSOPHIE | nicht ansteigt, sondern zurückgeht STAUN "Über dialektiwhen und hi- "Grundrisse der Kritik der Politischen stonschen Materialismus (.Ökonomie" (MARX) l.Teü (2.Teil. 1 1941) ZEITUNGEN, Obwohl über die offizielle Auflösung der institutionalisierten Psychologie eine fast zehnjährige Unterbrechung der Ausbildflng von Psychologen eingeleitet wird, ZEITSCHRIFbesteht die Psychologie in der Sowjetunion in den folgenden Jahren de facto weiter. Die zum Zeitpunkt des "Pädologendekrets" bereits ausgebildeten und TEN etablierten Psychologen führen ihre Arbeit unter einem anderen "Firmenschild19 durch (die Arbeit USNADSEs bleibt vom "Pädoiogcndekitt" gänzlich unberührt). Psychologische Forschungen (teilweise auch Unterricht) werden durchgeführt "im Rahmen* da- Pädagogik (Lehrerbildung- Entwicklungspsychologie, Lernpsychologie, "Defektologie"), der Medizin (Psychophysiologic, Hirnforschung, Ophtalmologie), der Armee (Untersuchungen von Fähigkeiten). — i i : i Wissenschaft wn ritt/ D T nwcin\ LcmüEQii T /ot miM^'fgj^^ ^ -, ANANJEW), Charkow Zentren psychologischer bleiben weiterhin Moskau /cijfTDKYrvii/ (SM1RNOW,«rem TEPLOW, BLONSKI), (RUBINS' (LEONTJEW, SAPOROSHEZ, GALPERIN iuu). H ü (USNADSE). KONGRESSE, Die Regionalisierung der sowjetischen Psychologie führt zur Herausbildung von fflnf Schulen, die mit den Namen WYGOTSKI, RUBINSTEIN, TEPLOW, TAGUNGEN, >t ininden ' 40er Jahren gewinnen. DISKUSSIONEN ANANJEW, USNADSE verbunden sind und die ihre eigentliche Bedeutung erst 1937 Vorfristige Erfüllung des 2.FBnfjahtesplanes in 4 Jahren, 3 Monaten zum 1. April (Arbeitsproduktivität in der Industrie steigt in der Zeit des 2J>lanjahrfOnfts anstatt der geplanten 63% um 82%)« Kollektivierung auf dem Lande abgeschlossen (93% aller Bau** ernhöfe, 99% der Anbaufläche). 8 Mio. Schaler an den Grund-und Oberschulen, 500.000 Hochschulstu-

1938

1

NEUROPHYSIOLOGIE

4-

ANANJEW und seine Mitarbeiter beginnen mit der experimentellen Untersuchung SAPOROSHEZ "Die Bedeutung der RUBINSTEIN "Gedanken aber die der sinnlichen Erkenntnis (1937-42) Elemente der Praxis und der Sprache | Psychologie" (in der Schriftenreihe I LEONTJEW "Die psychische Ent- bei der Entwicklung des Denkens des , des Herzen-Instituts, Leningrad) ' Wicklung des Kindes und der Unter- I Kindes" > RUBINSTEIN "Grundlagen der all1rieht"(In: "Wissenschaftliche Tagung _L P.I.SINTSCHENKO "Das Problem _f_ gemeinen Psychologie" PSYCHOLOGIE des Charkower Pädagogischen Insti- des willkürlichen Einprägens. Ober 1 LEONTJEW "Die Entwicklung des [ tuts. Die Thesen der Referate") | das Vergessen und das Reproduzieren ( Psychischen" (Dissertation; überarbeivon Schulkenntnissen" töte Fassung publiziert 1947 unter dem B) ANGEW. I I I Titel "Abriß der Entwicklung des PsyBEREICHE I | chischen")

A) THEORE. BEREICH

1941 POLITISCHE EREIGNISSE

PHILOSOPHIE

1942

22Juni Überfall Hiderdeutschlands | auf die UdSSR

1

I

Oktober, Staatsgrenze der UdSSR in ganzer Ausdehnung von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer wiederhergestellt RUBINSTEIN wird als erster Vertreter der Psychologie Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR.

i

' 1

. 1 1 , | 1 April, Unionskonferenz d.pädagog.Wissenschaften. Referat RUBINSTEINs über die Zusammenarbeit von Psychologie und Pädagogik. i KONGRESSE, LEONTJEW "Veröffentlichungen der Konfeienz Ober Fragen der Psychologie" TAGUNGEN. J DISKUSSIONEN (Kiew) Im Rahmen der pädagogischen Psychologe öffentliche Kontroverse um RUBINSTEINs "Grundlagen der allgemeinen Psychologie". Obwohl einige Auffassungen » KUTTINA IBJLNS xnasien weiaen ^u.a. von una ICTLAJVY;, XSI seine • These von da* Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit unumstritten und wird zum . führenden Prinzip der sowjetischen Psychologie der 40er Jahre. I NEUROPHYSIOLOGY 1 1 f

1944

i

1 .

1 1 1 1 RUBINSTEIN erhält für die "Grund- 1i I lagen dar allgemeinen Psychologie" den Staatspreis für philosophische i [ Wissenschaften. I i

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

1943 i

I

' LEONTJEW "Psychologische GrundI lagen des Spiels im Vorschulalter" I LEOhl??E^ ^Ütoej^ge psycholoI gische Fragen des bewußten Lernens" , ("Sowjetskaja pedagogika") Konferenz von Psychologen, Physiologen und Neurologen zu Problemen der Rehabilitationspsychologie I

| 1 |

1 1 LEONTJEW "Pädagogik und Psychologie" SAPOROSHEZ und LUKOW "Uber die Entwicklung des Denkens beim jüngeren1 . [ Kinde" TEPLOW "Fähigkeiten und Begabung" ("Wissenschaftliche Schriften des Lf. { | i i PSYCHOLOGIE Psvchol.". Bd.2, Moskau) Während des Krieges treten in der Psychologie jene Probleme in den Vordergrund, die für die Verteidigung von Bedeutung sind (LEONTJEW z.B.beteiligt sich im Stab von KOSSYGIN an Evakuierungsmaßnahmen). Besondere Aufmerksamkeit wird der militärmedizinischen Rehabilitationspsychologie geschenkt Psychologische Untersuchungsmethoden finden Anwendung bei B) ANGEW. der Wiederherstellung der Sensibilität und anderer nerval-psychischer Funktionen (LURIA leitet ein Feldlazarett für Himchirurgie und führt auch selbst BEREICHE Operationen durch) sowie bei der Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit (LEONTJEW gründet ein Rehabilitationssanatorium).

A) THEORE. BEREICH

•»J

POLITISCHE EREIGNISSE

1945 "An den Fronten und in der faschistischen Sklaverei kamen mehr als 20 Millionen Sowjetmenschen ums Leben. Die Hiderfaschisten zerstörten und plünderten 1710 Städte und Ortschaften, brannten mehr als 70 000 Dörfer nieder, vernichteten - völlig oder teilweise - rund 32 000 Industriebetriebe, zerstörten 65 000 Kilometer Eisenbahnstrecke, plünderten 98 000 Kollektivwirtschaften, rund 5 000 Sowjetwirtschaften und Maschinen-Traktoren-Stationen und zerstörten viele Krankenhäuser, Schulen, technische Lehranstalten, Hochschulen und Bibliotheken. Insgesamt beliefen sich die materiellen Verluste des Sowjetvolkes auf rund 2600 Milliarden Rubel (nach Vorkriegspreisen berechnet)" ("Geschichte der KPdSU", S.651). Nach Ende des Krieges Hauptaufgabe: Wiederherstellung und allem, die Volkswirtschaft wiederherzustellen, ihren Vorkriegsstand bedeutend zu übertreffen, die Produktion zu steigern, die Macht des Landes zu stärken und es gegen alle Zufälligkeiten zu sichern. Auf längere Sicht war das Ziel gesetzt, die ökonomische Hauptaufgabe zu lösen, eine höhere Arbeitsproduktivität als im

PHILOSOPHIE

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

KONGRESSE, TAGUNGEN, DISKUSSIONEN

Verhältnisse bestand die Aufgabe darin, die sozialistische Produktionsverhältnisse gemäss dem Wachstum der' Produktivkräfte zu entwickeln und zu vervollkommnen. Das heisst, das Volkseigentum musste zu noch grösserer Geltung gelangen und das kollektive Eigentum an den Produktionsmitteln weitgehend gefestigt werden; es sollten alle Abweichungen vom sozialistischen Prinzip der Verteilung nach Quantität und Qualität der aufgewandten Arbeit in kürzester Zeit beseitigt. der Gleichmacherei und anderen negativen Erscheinungen in der Entlohnung sollte ein Ende gesetzt werden. Auf ideologischem und kulturellem Gebiet wurden die Aufgaben gestellt, die Überreste bürgerlicher Anschauungen, Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche entschlossen zu bekämpfen, den verderblichen Einfluss der reaktionären Kultur des imperialistischen Westens auszuschalten, alle Sowjetbürger zu bewussten Patrioten zu erziehen und das kulturelle Niveau der Werktätigen weiter zu erhöhen" ("Geschichte der KPdSU", S.653). Einrichtung des SektorsfflrPsychologie am InstitutfiirPhilosophie der Akademie da Wissenschaften der UdSSR unter Leitung von RUBINSTEIN LEONTJEW "Zur Theorie der psychischen Entwicklung des Kindes" ("Sowjetskaja pedagogika"). GRASTSCHENKOW und LURIA "Über die Systemlokalisation da Funktional in der Großhirnrinde" ("Newrologija i psichiatrija") ^

Rede RUBINSTEINS auf einer Physiologenkonferenz, in der er auf die Bedeutung da Reflextheorie SETSCHENOWs eingeht

NEUROPHYSIOLOGY

A) THEORE. BEREICH PSYCHOLOGIE B) ANGEW. BEREICHE

TEPLOW "Zur Frage des praktischen Denkens" LEONTJEW und SAPOROSHEZ "Die Wiederherstellung der Bewegung" (Moskau) ~

POLITISCHE EREIGNISSE

PHILOSOPHIE

1946 Umstellung der Wirtschaft auf Friedensproduktion im wesentlichen abgeschlossen. Oberster Sowjet der UdSSR verabschiedet den 4.Fünfjahrcsplan. dessen wirtschaftspolitische Hauptaufgabe darin besteht, "die durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Gebiete des Landes wiederherzustellen, den Vorkriegsstand in Industrie und Landwirtschaft wieder zu erreichen und danach im beträchtlichem Masse zu übertreffen". Vorrangig sind die Wiederherstellung und Weiterentwicklung der Schwerindustrie und des Eisenbahnverkehrs. "Gleichfalls wiederhergestellt und erweitert werden Milte das Netz der Schulen und Hochschulen. Der Wohnungsbau war zu entwickeln und das Gesundheitswesen zu verbessern" ("Geschichte der KPdSU". S.653f.) Auf Initiative der Hüttenwerker von Makejewka, der Arbeiter mehrerer Moskauer Werke und anderer Betriebe beginnt der sozialistische Unionswettbewerb um die Erfüllung und Übererfüllung des 4.Fünfjahresplans. Es entsteht die Bewegung zur Einführung von Schnellarbeitsmethoden. Im März 19*6 veral^Medet dg ObegeSwjet der UdSSR drnGtwettflbcr die Umbildung d e s R a i m J ^ t i l c t o UdSSR. N W S c t ^ S o I w b S S k I 1 1 1 1 K A U N I N V ° m VOrSltZ 0 6 8 Pr8SidlUmS *** 0 b e r S t C D S*m**St d e n "" 2 7 J a h r e ununterbrochen bekleidet hatte, zurück; sein

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

KONGRESSE, TAGUNGEN. DISKUSSIONEN

Rede RUBINSTEINs auf der dem lO.Todestag PAWLOWs gewidmeten wissenschaftlichen Tagung

NEUROPHYSIOLOGY

BERNSTEIN "Die Koordinierung der Bewegungen" In: "Die Physiologie des Menschen" (Sammelband)

A) THEORE. BEREICH PSYCHOLOGIE B) ANGEW. BEREICHE

2^ufl. von RUBINSTEINs "Grundlagen der allgemeinen Psychologie"

,

POLITISCHE EREIGNISSE

PHILOSOPHIE

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

1947 Ende 1947 Ersetzung der rationierten Veiteihing dar Produkte durch den umfassend betriebenen staatlichen und genossenschaftlichen Handel. Auf Initiative des Zk der KPdSU DiskussionfiberKragen der Philosophie. Kritik an Mangeln in der Ausarbeitung der marxistisch-leninistischen Philosophie. "Zu diesen Mängeln gehörten die Abkehr vom Prinzip dor Parteilichkeit, Versuche, die Widersprüche zwishcen dem Marxismus-Leninismus und den ihm fremden philosophischen Richtungen zu verkleistern, auch der Umstand, dass manche philosophische Arbeiten die aktuellen Probleme der Gegenwart nicht in Betracht zogen, schliesslich Erscheinungen scholastischer Betrachtungsweise" ("Geschichte der KPdSU", S.667f.). Institut der Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (an dem bereits der Sektor Psychologie besteht) und der Lehrstuhl für Logik und Psychologie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU organisieren eine gemeinsame Diskussion der 2_Aufl. von RUBINSTZINs "Grundlagen der allgemeinen Psychologie". Hauptangriff der Kritik gilt dem Prinzip der psychophyischen Einheit Meinungsverschiedenheiten darüber, wie Abhängigkeit des Psychischen erstens vom Gehirn und zweitens vom widergespiegelten Objekt aufzufassen sei und wie diese beiden Abhängigkeiten zu korrelieren sind.

LEONTJEW "Psychologische Fragen der Persönlichkeitsbildung des Kindes im Vorschulalter" ("Doschkolnoje wospitanije")

KONGRESSE, TAGUNGEN. DISKUSSIONEN

NEUROPHYSIOLOGY

A) THEORE. BEREICH PSYCHOLOGIE B) ANGEW. BEREICHE

SETSCHENOW "Ausgewählte philosophische und psychologische Arbeiten"

LEONTJEW "Psychologische Probleme des bewussten Lernens" ("Nachrichten der APW der RSFSR") TEPLOW "Psychologie der musikalischen Fähigkeit" ("Verlag der APW der RSFSR") LURIA Traumatische Aphasie" LEONTJEW "Abriss der Entwicklung des Psychischen"

1948

POLITISCHE EREIGNISSE

Die Industrie der UdSSR übertrifft den Produktionsumfang der Vorkriegszeit "In der Zeit von 1947 bis 1950 wurden die Preise für Massenbedarfsgüter dreimal herabgesetzt. Die Einkünfte der Arbeiter, Angestellten und Bauern erhöhten sich wesentlich. Die Konsumtion der Werktätigen in der UdSSR nahm zu. Ihre weitete Erhöhung wurde jedoch vornehmlich durch das Zurückbleiben der Landwirtschaft gehemmt" ("Geschichte der KPdSU", S.661).

PHILOSOPHIE

ZEITUNGEN, ZEITSCHRIFTEN

LEONTJEW "Probleme der Kinderpsychologie und der pädagogischen Psychologie" ("Sowjetskaja pedagogika")

KONGRESSE, TAGUNGEN, DISKUSSIONEN

NEUROPHYSIOLOGY

A) THEORE. BEREICH PSYCHOLOGIE B) ANGEW. BEREICHE

WAZURO "Die Untersuchung der höheren Nerventätigkeit der Anthropoiden (Schimpansen)"

LEONTJEW (Hgb.) "Fragen der Kinderpsychologie" ("Nachrichten der APW"); SMIRNOW "Psychologie des Einprägens ("Verlag der APW"); KORNILOW, LEONTJEW, RUBINSTEIN, SMIRNOW U.TEPLOW (Hgb.) "Psychologie" (3.Aufl.); LEONTJEW und SAPOROSHEZ (Hgb.) "Fingen der Psychologie des Vorschulkindes"

Volker Schurig

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzept. PAWLOWs Blockade eines Paradigmenwechsels in der sowjetischen Psychologie.

"Die der Widerspiegelungstheorie innewohnende Logik führt notwendigerw zur reflektorischen Auffassung von der psychischen Tätigkeit" (RUBINSTEI 1973) Zu den wenig schmeichelhaften Einschätzungen der Psychologie gehört KUHNs oft zitierte Bemerkung, diese Disziplin befinde sich lediglich in einem "praeparadigmatischen" Entwicklungszustand, d.h. es bestehe keine Klarheit über den Forschungsgegenstand, es fehle ein einheitliches Methodenverständnis und auch sonst zeichne sich diese Wissenschaft durch eine auffällige theoretische Beliebigkeit aus. Wenn diesen Bewertungen insgesamt auch nur schwierig widersprochen werden kann, bedeutet dies jedoch nicht, daß in einzelnen Teilbereichen wie der Psychologie in der SU gerade umgekehrt ein theoretisches und methodisches Paradigma herrscht, das Reflexkonzept, dem gewissermaßen als "Opponent" seit WYGOTSKIs "Das Bewußtsein als Problem der Psychologie des Verhaltens" (1925) die Anfänge eines neuen Paradigmas, des Tätigkeitskonzeptes, gegenüberstehen, so daß insgesamt in der sowjetischen Psychologie eine dichotome Paradigmenstruktur existiert, der eine Vielzahl von experimentellen Arbeiten, Publikationen und Autoren zugeordnet werden kann. Die Geschichte der Psychologie in Rußland und der SU ist allerdings 'wohl eher ein Spezialfall als die Norm der psychologischen Theorienbildung, da hier das sonst längst aufgegebene physiologische Reflexparadigma, mit dessen Postulaten mit SETSCHENOWs "Reflexe des Großhirns" (1863) auch eine neue psychologische Karriere begann, bis zur Gegenwart in seiner methodologischen Funktion ungebrochen ist und gegenwärtig überwiegend in der RUBINSTEINschen Zwittergestalt der "reflektorischen Tätigkeit" fortlebt. Selbst nach PAWLOW wird es von einer dritten Forschergeneration vor allem der RUBINSTEIN-Richtung unkritisch weiter auf Fragen des Denkens, der Persönlichkeitsentwicklung, des Bewußtseins angewendet, das immer jeweils nur eine besonders komplexe psychische Manifestation der Reflexfunktionen des Gehirns ist, ebenso wie die Geschichte der Psychologen in der SU primär eine Geschichte des Reflexdenkens wird (BUDILOWA 1975). 82

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzep Bisher hat der PAWLOWsche Reflexgedanke in der sowjetischen Psychologie jede theoretische Weiterentwicklung oder wirkliche Neuerung assimiliert und entstehende Kontrapositionen integriert und erscheint, favorisiert von "externen Faktoren" (vgl. 3), schließlich selbst in Gestalt der kritisierten Begriffe. Dies gilt auch für das Tätigkeitskonzept, das entweder in reflektorischen Termini auftritt oder direkt in den schwach besetzten "Überbau" des 2. Signalsystems der PAWLOWschen Terminologie als "Sonderfall" eingegliedert wird. Unbestritten ist, daß die Kulturhistorische Schule (WYGOTSKI, GALPERIN, LURIA, LEONTJEW u.a.) trotz im einzelnen divergierender Tätigkeitsbegriffe das insgesamt "produktivere" Forschungsparadigma entwickelte, das inhaltlich eine Reaktion der psychologischen Theorien und Ideenbildung auf die neuen Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse ist, merkwürdigerweise sich aber gerade gegen sie nicht durchsetzen konnte, sondern auf vielfältige Weise mit ihnen in Widerspruch geriet Das Reflexparadigma beruht, unbeschadet aller Ergänzungen z.B. durch die Reafferenzgesichtspunkte (ANOCHIN 1978) als Rückkopplung und der "dialektischen" Interpretation RUBINSTEINs (1973), auf einem passiven Reiz-Reaktions-Verständnis, durch das Verhalten von außen angestoßen wird. Die höheren kognitiven Leistungen (Sprache, Denken) existieren lediglich in Randbereichen der Theorienkonzepte und erscheinen wie die Bewußtseinsfunktion selbst - auch von WYGOTSKI 1925 noch als "Reflex der Reflexe" definiert - als ein besonders komplexer Spezialfall. Jede Art von "reflektorischer Tätigkeit", darüber können theoretische Arabesken unterschiedlicher Art nicht hinwegtäuschen, ist letztlich nur eine Kombination bedingter Reflexe, die in entsprechender Menge und Komplexität verbunden werden müssen, um "alles" zu erklären. Die Entstehung des Tätigkeitskonzeptes, die aktive Verhaltensalternative, setzt entsprechend bei den Schwachpunkten wie dem kausal-linearen Determinismus, der Negierung psychischer Eigengesetzlichkeit und der Entstehung der individuellen und gesellschaftlichen Subjektivität ein. Immerhin dürfte es aber auch ein interessanter Forschungsgegenstand sein, wie das Verhältnis zur Reflextheorie bei WYGOTSKI und LEONTJEW genauer aussah, da sie einer offensiven und öffentlichen Kritik aus dem Weg gingen und es ihrerseits in das Tätigkeitskonzept partiell als physiologische Grundlage zu integrieren suchten. Möglicherweise ist gerade diese reflextheoretische Verhaltensbasis auch der führenden Tätigkeitstheoretiker eine Ursache dafür, daß sich das Reflexprinzip selbst nach der Entstehung des neuen Paradigmas immer wieder kräftig regenerieren konnte. Davon unabhängig existiert aber die Gegensätzlichkeit von Reflex und Tätigkeitsparadigma als elementare Lernmechanismen und Bewußtseinsfunktionen, von tierexperimentellem Metho83

Volker Schurig denansatz und humanspezifischen Gegenstandsbereichen, von physiologischem Reduktionismus und psychologischer Eigengesetzlichkeit. Die Brisanz des Verhältnisses von organismischen Reflex und psychologischem Tätigkeitsparadigma liegt auch in dem mißlungenen Ablösungsversuch, der sich nicht nur über nun 5 Jahrzehnte hinzieht, sondern letztlich auch im günstigsten Fall bisher nur zu einem Status quo als Koexistenz geführt hat Tatsächlich hat ein marxistischer Begründungsversuch von Bewußtsein aus einem historischen Entwicklungszusammenhang von Arbeit, Vergegenständlichung und Aneignung, der das tätige Subjekt in seiner individuellen und historischen Spezifität untersucht, in der sowjetischen Psychologie und Philosophie, obwohl andererseits "offizielle" immer wieder gefordert, keine Begeisterung ausgelöst, sondern wurde in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit erstmals durch das Pädalogie-Dekret 1936 bekannt. Wenn die reflex- versus tätigkeitstheoretische Dichotomie sicher auch nur eine grobe Annäherung an die vielseitig strukturierte Psychologie in der SU ist, so läßt sie andererseits den wichtigsten Widerspruch Idar hervortreten. Das Tätigkeitskonzept - komplexer, produktiver, am Verhältnis von Arbeit und Bewußtseinsbildung auch unter direktem Zugriff auf MARX entwickelt besitzt trotz aller Neuartigkeit und "Prögressivität" bis in die siebziger Jahre eine Subdominante Stellung in der sowjetischen Psychologie. Herrschend bleibt, aller ökonomischen, gesellschaftlichen und politisch-theoretischen Revolutionierung zum Trotz, das mechanizistische, selbst von der Naturwissenschaft in seiner universellen Gültigkeit längst aufgegebene Reflexparadigma. Diese Affinität von dem konservativem Reflexparadigma, spekulativ zur "Psychologie" ausgebaut, zu einer gesellschaftlichen Umwälzung, die eigentlich aktive, bewußte, nichtreflektorisch agierende Persönlichkeiten braucht, kann hier nur hervorgehoben, aber nicht in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit vollständig erklärt werden. Ein erster Einstieg in dieses Dilemma bietet aber zweifellos speziell das wissenschaftssystematische und methodische Doppelgesicht PAWLOWs als Physiologe und "Psychologe".

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Reflextheorie versus Tätigkeitskonzep L Die Chimäre PAWLOW.

"Derartige Anwürfe steigerten seine Ungehaltenheit in einem Maße, das erklären nötigt, daß alles, was wir im folgenden von Pawlows Psycholo darstellten, nicht allein ein unbeabsichtigtes Nebenergebnis seiner physi gischen Forschung war, sondern noch dazu ein von seinem Autor rundhe abgelehntes, niemals als sein geistiges Eigentum anerkanntes Ergebnis (NEEL1974) Einen weitreichenden Vorschlag der Würdigung PAWLOWs, dem allerdings aus guten Gründen niemand gefolgt ist, unternahm der orthodoxe PAWLOWianer BYKOW auf der PAWLOW-Konferenz 1950 in Moskau, indem er vorschlug, die Geschichte der Physiologie in eine vorpawlowianische Phase und eine PAWLOW-Phase zu unterteilen, in der dann ASRATJAN, IWANOWSMOLENSKI, BYKOW u.a. heute außerhalb der SU weitgehend unbekannte Physiologen eine zentrale Rolle hätten beanspruchen können. Warum diesem Vorschlag niemand ernsthaft gefolgt ist hängt zwar auch von dem mysteriösen Status der Theorie der höheren Nerventätigkeit und den stalinistischen Vorzeichen des gesellschaftlichen Umfeldes ab, entscheidend und aufschlußreicher ist aber der experimentelle und theoretische Entwicklungsstand der Physiologie selbst zu diesem Zeitpunkt Das Reafferenzprinzip (v. HOLST & MITTELSTADT 1950) bedeuteten in der physiologischen Theorienbildung endgültig die Durchbrechung des kausal-linearen Reflexmodells, das auch in der sowjetischen Physiologie von BERNSTEIN (1975) kritisiert und von ANOCHIN (1969, 1978) zu einem zyklischen Regulationsmodell des Verhaltens erweitert worden war. Entscheidender aber noch ist die Verleihung des Nobelpreises für Physiologie 1949 an HESS für seine experimentellen Untersuchungen über die funktionelle Organisation des vegetativen Nervensystems, einem Gebiet, das auch PAWLOW im Bereich des Kreislaufes und der Verdauungsphysiologie experimentell bearbeitet hatte. An die Stelle des Reflexparadigmas, wie es noch PAWLOW generalisierte, gelang es HESS bei Katzen komplexe instinktive Verhaltensweisen der artspezifischen Nahrungsaufnahme, Flucht und Verteidigung durch elektrophysiologische Reizung des Stammhirns auszulösen. Was sich auf der Reflexebene und in der Postulierung der Theorie der höheren Nerventätigkeit seit 1923 bereits andeutete - die Entstehung einer eigenständigen "Verhaltensforschung" jenseits der Physiologie - vollzog sich endgültig erst auf der Basis der zoologischen Instinktforschung, die zur Grundlage der Ethologie als einer neuen Wissenschaftsdisziplin wurde. Mit den Verhaltensexperimenten von HESS war klar geworden, daß nicht die Reflexphysiologie 85

Volker Schurig sondern das Instinktparadigma die eigentliche Revolutionierung der experimentellen Tierfbrsehung darstellte. Die Bedeutung von LORENZ, TINBERGEN und K.V.FRISCH für diese Entwicklung führte zur Verleihung eines weiteren Nobelpreises (1973) gerade für diese Begründungsversuche. Trotzdem bleibt der unbestrittene Sachverhalt, daß PAWLOW auch gegenwärtig zu den meistzitierten, bekanntesten und am höchsten bewerteten Physiologen gehört, so daß eine ähnliche Cäsur für die Physiologie wie z.B. DARWINs für die Evolutionstheorie nicht von der Hand zu weisen ist. Neben den Attributierungen "groß", "größer", "am größten" (dazu FROLOW 1955, ASRATJAN 1982, PICKENHAIN 1986) ist dabei auch unter Nicht-PAWLOWianern kein Mangel, so daß dann der Schritt zu "genial" nicht mehr allzuweit ist. "Wir sehen also, daß PAWLOW, der größte materialistische Physiologe seiner Zeit, auf dem Boden des russischen, wissenschafüich-philosophsichen Gedankengutes aufwuchs und erstarkte und die vorpawlowsche Physiologie in Rußland den Boden vorbereitete für jenen gigantischen Beitrag, den dieser geniale Physiologe zur Wissenschaft lieferte (6, 6)." Dazu sind einige kritische Bemerkungen angebracht. Unter Wissenschaftshistorikern ist die Einschätzung PAWLOWs nicht nur wesentlich zurückhaltender, sondern es wird auch deutlich schärfer zwischen dem Experimentator und Physiologen PAWLOW und seinen spekulativen Theorien unterschieden. Auch in der physiologischen Fachliteratur wird, wenn es um PAWLOWs vermeintliche Physiologie geht, ein ironischer Unterton vorgezogen und mit Anführungszeichen gearbeitet: "Nach seiner Rückkehr nach Rußland befaßte er sich mit neuen Problemen, mit der - wie er sagte - "echten" Physiologie des Gehirns." (51,19) Die verbreitete Hochschätzung PAWLOWs, die nicht ohne Auswirkungen auf die Psychologie in der SU ist, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich häufig nur um eine übersteigerte formale Etikettierung handelt, die einmal entstand, fleißig tradiert wird. 1.1. Die physiologische Forschungsperiode 1877-1904. "Die Bedeutung Pawlows für die Entwicklung der psychologischen Wissenschaft kann nur dann richtig verstanden werden, wenn...man die Meinung überwindet, ihr Gegenstand seien allein die Prozesse bzw. Erscheinungen des Bewußtseins" (JAROSCHEWSKI1975). PAWLOW begann seine wissenschaftliche Laufbahn mit einer Publikation 1877 über die reflektorische Innervation der Blutgefäße, einem Themenbereich, dem er bis zu seiner Dissertation "Über die zentrifugalen Nerven des Herzens" 1883 treu blieb. Von diesem Zeitpunkt bis 1904 arbeitete er experimentell auf 86

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzep dem Gebiet der Verdauungsphysiologie. Diese physiologisch-experimentellen Leistungen, nicht die Entdeckung der bedingten Reflexe, führten 1904 zur Verleihung des ersten Nobelpreises für Physiologie überhaupt, vorbereitet durch die 1897 erschienene Publikation "Vorlesungen über die Funktion der Hauptverdauungsdrüsen". Zunächst interessierte sich PAWLOW dabei für die reflektorische Beeinflussung der Bauchspeicheldrüse, später für die sekretorische Innervation des Magens sowie schließlich für die Speichelsekretion. Die eigentliche Bedeutung PAWLOWs, der während dieser Zeit entsprechend seiner eigenen, später eingeführten Terminologie nur unbedingte Reflexe untersuchte, liegt dabei (im Gegensatz zu seinem Kontrahenten SHERRINGTON, der die Theorie der unbedingten Reflexe beherrschte) auf methodologischem Gebiet und hier in einer Perfektionierung des Tierexperimentes in der Physiologie. Die bei sowjetischen Autoren immer wieder kolportierte Aussage "Die Lehre von den Reflexen ist vor allem eine biologische Theorie", bleibt eine der schwer verständlichen, aber weit verbreiteten Attributierungen PAWLOWs (vgl. auch 32, 20), wird vor allem durch Methodenweiterentwicklung begründet Der wichtigste Physiologe in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts LUDWIG (1816-1895), in dessen Labors an der Universität Leipzig auch PAWLOW während eines Gastaufenthaltes 1884-1886 arbeitete, vertrat, imjGegensatz zu seinem Vorgänger J. MÜLLER (1801-1858), der vitalistischen Ideen nicht abgeneigt war, eine mechanisch-physikalistische Physiologie mit dem Kriterium der Meßbarkeit von Funktionsabläufen. Experimentell wurde entsprechend die isolierte Funktion einzelner Organe untersucht, während es PAWLOW gelang, seine Reflexuntersuchungen am lebenden Tier durchzuführen. PAWLOWs Methodenentwicklung - mit dem Experiment zur Scheinfütterung als Prototyp - bedeutet einen gewissen Endstand des Tierexperimentes in der Physiologie und ist für diese Disziplin "biologisch", da sie den ganzheitlichen Funktionszusammenhang berücksichtigt In der Untersuchung des Tierverhaltens selbst sind die PAWLOWschen Türme des Schweigens (vgl. SCHURIG 1987a), wo Vt in von der Außenwelt völlig isolierten Kammern gehalten werden, geradezu der Prototyp unbiologischer Tierexperimente, da hier die natürliche Umwelt zugunsten des standardisierten Labors vollständig ausgeschaltet wird. Für die weitere Entwicklung und die spätere Einschätzung PAWLOWs entscheidend ist außerdem seine Stellung in der Reflexphysiologie, die seit über 100 Jahren in voller Blüte stand. Auf den Wiener Physiologen PROHASKA (1749-1820), der die Bedeutung des zentralen Nervensystems für die Reflexfunktion »kannte, gehen zahlreiche Entdeckungen und Neubenennungen zurück. In der französischen Physiologie waren vor allem F. MAGENDIE 87

Volker Schurig (1783-1815) und J.D. FLOURENS (1794-1842) bedeutende Neuiophysiologen und Reflextheoretiker, während in England STUART (1774-1842) und M. HALL (1790-1857) die Reflexphysiologie voranbrachten, so daß die SETSCHENOW-PAWLOW-Linie insgesamt eine Spätentwicklung war, die auf ein bereits weitgehend erschlossenes, teilweise auf der physiologischen Untersuchungsebene bereits erschöpftes Forschungsgebiet traf. Die Frage der spekulativen Weiterentwicklung durch die Übertragung des Reflexprinzips auf die psychische Funktionsebene war deshalb naheliegend. Wissenschaftshistorisch ist die Sonderstellung der russischen Reflexphysiologie, die sich durch eine besondere psychologisch-spekulative Komponente auszeichnet, letztlich durch ihre Endstellung in der physiologischen Reflexforschung begründet, die speziell PAWLOW in seinem 50. Lebensjahr und bei voller Schaffenskraft erreichte. Damit war der Weg in eine zweite, für das PAWLOW-Bild entscheidene Schaffensperiode frei, so daß sich in PAWLOWs Wirken zwei unterschiedliche Wissenschaftsentwicklungen vereinigen, die ein konservativer Geist wie PAWLOW zu vereinheitlichen suchte, indem er sie unter dem Reflexbegriff zusammenfaßte. Daß diese reflextheoretische Synthese als "Verschmelzung" von Physiologie und Psychologie zu kurz greift, wird seitdem von allen PAWLOWianern bestritten. 12. Das wissenschaftliche Selbstverständnis PAWLOWs.

"Ich verneine entschieden undfühle eine starke Abneigung gegen jede Theor die auf alles Anspruch erhebt, was unsere subjektive Welt ausmacht" (PAWLOW 1932). In PAWLOWs wissenschaftlicher Entwicklung existieren zwei deutlich unterschiedene Schaffensperioden: eine physiologische Phase bis 1903 (vgl. 1.1.) und die Erforschung der bedingten Reflexe seit 1904, über deren wissenschaftssystematischen physiologischen oder psychologischen Status unterschiedliche Auffassungen herrschen, in der er aber letzten Endes doch - gegen seinen Willen - als Psychologe agierte. PAWLOW selbst war, wie bereits die Übertragung des physiologischen Terminus "Reflex" zeigt, überzeugt, daß er weiter in der Rolle eines Physiologen agiere und bezeichnete z.B. deshalb auch die entwickelte theoretische Konzeption als Physiologie der höheren Nerventätigkeit. Daß es mit dieser "Physiologie" aber doch etwas Besonderes auf sich haben müsse, zeigen zwei zusätzliche Charakterisierungen: einmal versah PAWLOW diese Physiologie noch mit dem Attribut "echt", was zumindest den kritischen Zeitgenossen zeigt, daß hier etwas zu überprüfen und eventuell zu korrigieren sei, zum anderen verbirgt sich hinter der Formel einer 88

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzep "echten Physiologie" PAWLOWs eine Erkenntnistheorie, die er mit dem Attribut "objektiv" versah. Ein wichtiges Strukturelement innerhalb dieser objektiven Verhaltensforschung betraf das Verhältnis von Physiologie - Psychologie, über das PAWLOW zeitlebens nachgedacht und es mit zunehmendem Dogmatismus zugunsten der Physiologie löste. Bevor PAWLOW sich selbst der Untersuchung bedingter Reflexe zuwandte und damit methodisch und theoretisch als Verdauungsphysiologe arbeitete, ließ er unter seinen Mitarbeitern auch tierpsychologische Verhaltensinterpretationen zu, diskutierte aber z.B. mit SNARSKI über die "Nutzlosigkeit" einer subjektiven Deutung tierischen Verhaltens. Vor allem die Bemerkungen in der Einleitung zur 1. Auflage der "Zwanzigjährigen Erfahrungen mit dem objektiven Studium der höheren Nerventätigkeit" (des Verhaltens) der Tiere" (1923), zeigt, daß diese Entscheidung zugunsten einer vermeintlich physiologischen Position PAWLOW nicht leicht gefallen ist. "Nach beharrlichem Nachdenken über das Problem, nach einem schweren geistigen Kampf habe ich endlich beschlossen, auch gegenüber der sogenannten psychischen Erregung in der Rolle des reinen Physiologen zu bleiben, d.h. in der Rolle des objektiven äußeren Beobachters und Experimentators, der es ausschließlich mit äußeren Erscheinungen und ihren Beziehungen zu tun hat." (7,18) Mit dem Übergang zur Untersuchung bedingter Reflexe gewann der Physiologiebegriff immer prinzipiellere Bedeutung "Wie unsere Arbeit von der Physiologie her begonnen hat, so wird sie auch strikt in dieser Richtung fortgesetzt. Sowohl die Methoden und die Verhältnisse unseres Experimentierens als auch die Planung der einzelnen Aufgäben, die Bearbeitung des Materials und schließlich seine Systematisierung, alles das bleibt im Bereich der Tatsachen, der Begriffe und der Terminologie da* Physiologie des Nervensystems". (7,20) Schließlich wurde er zu einer "unausrottbaren Überzeugung": die Position des physiologischen Reduktionismus und des Dogmatismus war erreicht "Zu Beginn unserer Arbeit gab sich noch lange Zeit die Macht der Gewohnheit über uns zu erkennen, unseren Gegenstand psychologisch zu deuten. Sobald die objektive Forschung auf Widerstände stieß und vor der Kompliziertheit der studierten Erscheinungen halt machte, entstanden unwillkürlich Zweifel an der Richtigkeit der gewählten Handlungsweise. Aber allmählich traten sie im Maße der Weiterentwicklung der Arbeit immer seltener auf, und jetzt bin ich der tiefen, unwiderruflichen und unausrottbaren Überzeugung, daß vor allem hier, gerade auf diesem Wege, der endgültige Triumph des menschlichen Geistes über seine letzte und höchste Aufgabe liegt, den Mechanismus und die Gesetze der menschlichen Natur zu erkennen." (7,21) Der - im einzelnen durchaus komplizierte - Mechanizismus PAWLOWs beruht letztlich darauf, daß er die Eigengesetzlichkeit des Psychischen mit der 89

Volker Schurig Annahme einer deterministischen Identität von Physischem und Psychischem negierte, die es ermöglichen sollte, die Erforschung des Physischen als Physiologie zu betreiben. Wie viele andere zeitgenössische Tierexperimentatoren lehnte PAWLOW deshalb die Existenzberechtigung einer selbständigen Tierpsychologie ab "Was aber die Zoppsychologie als Wissenschaft betrifft, so hat sie, ich wiederhole dies noch einmal, kein Recht zu bestehen, da wir ja nichts Zuverlässiges über die Innenwelt der Tiere wissen können. Dieses ganze Gebiet muß in die Kompetenz der Physiologie der höheren Teile des Nervensystems eingehen". (7, 32) Die Physiologie der höheren Nerventätigkeit ist historisch nur eine von mehreren Varianten einer "objektiven Verhaltensforschung", die um die Jahrhundertwende entstanden. Die Ablehnung der psychischen Funktionsebene ist auch der Standpunkt z.B. der Tropismenlehre LOEBs, des Behaviorismus, mit dessen Vertretern PAWLOW noch den engsten wissenschaftlichen Kontakt pflegte, und der 1911 entstandenen Ethologie. Was das Schicksal des PAWLOWschen Ansatzes jedoch bereits frühzeitig belastete war, daß er z.B. im Gegensatz zum Behaviorismus die Eigengesetzlichkeit des Verhaltens nicht anerkannte, sondern der Auffassung war, das bedingte Reflexe einen physiologischen Sachverhalt darstellten. Je intensiver PAWLOW das bedingt-reflektorische Verhalten untersuchte, desto spekulativer wurde entsprechend die Physiologie. Die einfache Fortschreibung der Reflexterminologie wurde zum Ersatz einer selbständigen Verhaltensforschung, die nun unter dem reduktionistischen Postulat einer Physiologie betrieben wurde. Die angeführten Zitate zeigen dabei, daß PAWLOW zwei Physiologiebegriffe verwendet. Der "zweite", nach 1904 allmählich entwickelte Terminus einer "echten" Physiologie ist in Wirklichkeit eine verkappte, in ihren Aussagen aber klar reduktionistische und mechanizistische Erkenntnistheorie, die ihrerseits aus mehreren methodologischen Forschungsprinzipien besteht Der "reine" Physiologe ist lediglich ein Synonym für eine objektive Verhaltensbeobachtung, die als solche damit nicht anerkannt wird. Die theoretischen und methodologischen Konsequenzen des Überganges 1903/1904 von der Verdauungsphysiologie zu einer experimentellen Untersuchung des Verhaltens hat PAWLOW nicht vollzogen, sondern vertrat zeitlebens die Auffassung, daß auch Denken und Bewußtsein vollständig (=reflextheoretisch) physiologisch analysiert werden können. Das wohl berühmteste Zitat dieser PAWLOWschen Erkenntnismetaphysik lautet "Es wird die Zeit kommen, wo sich die natürliche und unvermeidliche Annäherung und schließlich die Verschmelzung der Psychologie mit der Physiologie, des Subjektiven mit dem Objektiven verwirklicht. Endlich wird das Problem gelöst werden, das solange den menschlichen Geist beunruhigte. Jede nur möglich weitere Förderung dieser Verschmelzung ist die große Aufgabe der nächsten Zukunft der Wissenschaft". 90

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzep (7,45) In der Phase des Neopawlowismus (vgl. 3.2.) löste es zunächst selbst jedoch eine starke Beunruhigung vor allem von Psychologen aus, die um die Eigengesetzlichkeit der Psychologie gegenüber diesem Forschungsprogramm fürchteten.

2. Die Physiologie der höheren Nerventätigkeit - Forschungsprogramm o Fiktion ?

"Jetzt drängt sich der Physiologie dieses Abschnittes des Nervensystems s einer fast völligen Sackgasse ein unübersehbarer Horizont von Fragen u vollkommen bestimmten Aufgaben für weitere Experimente auf.... Desweg muß man das Todesurteil über die Reflextheorie als Mißverständnis, als thusiastische Entgleisung ansehen" (PAWLOW1932). Das Reflexparadigma tritt dem Tätigkeitskonzept nicht rein gegenüber (dazu ist es als physiologisches Forschungsparadigma bereits zu diskreditiert), sondern in einer fiktiven, durch PAWLOWs Wissenschafts- und Erkenntnisvorstellungen angereicherten Fassung: der Physiologie der höheren Nerventätigkeit, an der auch unter sowjetischen Autoren bis heute alles unklar ist Gegenstand, genaue Bezeichnung, wissenschaftssystematischer Status. RUBINSTEIN charakterisiert sie - was ihre wissenschaftslogische Position ungefähr trifft - als eine Disziplin im Grenzbereich Physiologie-Psychologie, die ihrer Methode nach physiologisch vorgehe, dabei jedoch die theoretische Aufgabe hat, psychische Erscheinungen zu erklären (1973, 206). In der russischsprachigen Physiologie und Psychologie vertritt sie etwa die Bereiche der physiologischen Psychologie, Psycho-Physiologie, Neuropsychologic und Verhaltensbiologie der internationalen Wissenschaftsentwicklung. Ihre Mißverständnisse beginnen, wie ASRATJAN (1982) bitter beklagt, bei der Suche nach ihrem geheimnisvollen Gegenstück, der Physiologie der niederen Nerventätigkeit, zu der sich PAWLOW niemals genauer geäußert hat. Die naheliegende Zuordnung von unbedingten und bedingten Reflexen zur niederen und höheren Nerventätigkeit ist jedoch falsch, da PAWLOW alle Reflexfunktionen zur höheren Nerventätigkeit rechnete. Wahrscheinlich geht diese einmalige Wissenschaftskonstruktion auf die von HAECKEL 1866 in der "Generellen Morphologie" entwickelten Biologie bzw. Physiologieklassifikation mit der Unterscheidung einer inneren (=niederen) und äußeren (=höheren) Physiologie als Organismus-Umwelt-Beziehung zurück, die sich um 1900 als objektive Verhaltensforschung in verschiedenen Varianten verselbständigte. Während seines ersten Aufenthaltes in Breslau bei HEIDENHAIN und bei LUDWIG in Leipzig hat PAWLOW zweifellos auch die HAECKELsche Biolo91

Volker Schurig gieklassifikation kennengelernt, die jedoch bereits vor der Jahrhundertwende überholt war und nur in der spezifisch russischen ieflextheoretischen Begründung der Verhaltensanalyse einen Ausläufer hat Die wissenschaftssystematische Position der "Physiologie" der niederen und höheren Nerventätigkeit ist damit genauso antiquiert wie die Bezeichnung "Nerventätigkeit" selbst, die einfach ein umganssprachlicher Begriff ist, der weder etwas mit Neurophysiologie noch mit dem Tätigkeitskonzept zu tun hat, sondern zu beiden im günstigsten Fall in ein vorwissenschaftliches Verhältnis gesetzt werden kann. Die physiologische Theorienbildung hat weder die subjetive Unterscheidung von niederen und höheren Nerventätigkeiten noch PAWLOWs Gegenüberstellung von Physiologie und "echter" Physiologie zur Kenntnis genommen, da letztere schnell als "unecht" erkannt wurde. Zu den feineren Wendungen RUBINSTEINs gegen PAWLOW gehört dann auch, daß er lediglich von einer "Lehre" der höheren Nerventätigkeit spricht, da der PAWLOWsche Physiologiebegriff II beim besten Willen nicht mehr im modernen Erkenntnisprozeß unterzubringen ist

2.1. Gehirnreflexe, bedingte Reflexe, reflektorische Tätigkeit: die Spekülat onsachse des psychologischen Reflexparadigmas

"Um zu vermeiden, daß dieses Verhalten als unabänderlich, mechanistisch von anderen Prozessen unbeeinflußbar istt haben wir den Ausdruck \Reaktio gewählt, der den Vorgang genauer beschreibt als das vielfach vorbelastete W 'Reflex'" (ANGERMEIER 1973). Der Schlüsselterminus, dessen theoretische Interpretation dann die daraus abgeleitete Theorie der höheren Nerventätigkeit definiert, ist der Reflexbegriff. Diese wiederum ist keineswegs eine besonders neue oder originelle Idee, sondern wird in ihren Grundsätzen bereits von SETSCHENOW in den "Reflexen des Gehirns (1863) fragmetnarisch formuliert und beruht in ihrem Kern auf der spekulativen Extrapolation des physiologischen Reflexprinzips auf geistige Leistungen wie Lernen, Denken und Bewußtsein. RUBINSTEINs Begründung der "reflektorischen Tätigkeit" ist der vorläufig letzte Ausläufer psychologischer Reflextheorien der Hirntätigkeit und in ihrer inneren tautologischen Begründung unübertroffen. "Die Anerkennung der psychischen Tätigkeit als einer reflektorischen Tätigkeit des Gehirns bedeutet nicht die Reduktion der psychischen auf die neurodynamische, physiologische Tätigkeit, sondern die Anwendung der reflektorischen Konzeption auf die psychische Tätigkeit" (50,192). Der Reflexbegriff wird, was außerhalb der russischsprachigen Verhaltensforschung häufig zu grundsätzlichen Mißverständnissen führt, häu92

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzept fig nicht im Sinne eines einzelwissenschaftlichen, an empirischen Sachverhalten definierten Fachterminus verstanden, sondern tritt bei RUBINSTEIN als allgemeines deterministisches Prinzip auf, das unter anderem auch die Aufgabe hat, Physiologie und Psychologie zu verbinden. "Die sich auf die methodologische Grundlage des dialektischen Materialismus stützende reflektorische Auffassung von der Hirntätigkeit ist ein konkreter Ausdruck jener allgemeinen Theorie, nach der jede Wirkung Wechselwirkung ist.... Ihr entstammt der Determinismus der reflektorischen Theorie in seiner wahren Gestalt" (50, 194). Die RUBINSTEINsche "reflektorische Tätigkeit" muß also nicht nur die höchsten kognitiven Leistungen und vor allem auch den Bewußtseinsbegriff in seinem Reflexkonzept unterbringen, sondern die reflektorische Theorie in ihren Grundlagen auch noch als Wechselwirkungstheorie interpretieren. Zwangsläufig entsteht hier eine der zahlreichen Sackgassen der "reflektorischen Tätigkeitskonzeption", die ihre innere Widersprüchlichkeit ausmacht "Die Tätigkeit des Gehirns, auch die psychische, wird durch äußere Einwirkungen verursacht.... Die Theorie von SETSCHENOW/PAWLOW ist jedoch in ihrem methodologischen Gehalt nach keine mechanistische Theorie des äußeren Anstoßes" (50,194). Es kann hier nicht im einzelnen analysiert werden, inwieweit RUBINSTEINs Determinismuskonzept, das mit dem Verhältnis von äußeren und inneren Wirkungsbedingungen wesentlich entwickelter als das etwa PAWLOWs ist, den linearen Ursache-Wirkungszusammenhang des mechanistischen Reflexkonzeptes überwindet, sondern die Unsinnigkeit, deterministische Fragen der Wechselwirkung ausgerechnet über den Reflexbegriff zu entwickeln, der historisch und theoretisch geradezu der Inbegriff mechanischer Kausalitätsvorstellungen ist und auch von PAWLOW in diesem Sinne verwendet wird. Aber auch dafür hat der "Dialektiker" RUBINSTEIN eine Erklärung "Der Determinus der Reflextheorie PAWLOWs ist, ungeachtet einzelner Formulierungen, die mechanistisch klingen, ein besonderer Ausdruck für das allgemeine philosophische Prinzip des Determinismus in einem dialektisch-materialistischen Sinne, und zwar angewendet auf die Auffassung von der Hirntätigkeit" (50,195). Man kann diese Aussage, nun angewendet auf die RUBINSTEINsche Theorie der "reflektorischen Tätigkeit" auch umdrehen: der Tätigkeitsbegriff klingt hier vielleicht nach einem aktiven von Subjekt und dessen Bewußtsein aktiv ausgehenden Handlungskonzept, tatsächlich ist er aber nur die Fortschreibung des mechanizistischen Reflexparadigmas. Die hohe Wertschätzung des Terminus "Reflex", der in der Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts äußerst produktiv war, beruht gerade darauf, daß er, nach dem Vorbild der Mechanik konzipiert und als Maschinentheorie des Lebens verallgemeinert, physiologische Funktionsabläufe einer bestimmten Klasse einem linearkausalen Verständnis zugänglich machte. Bereits auf der 93

Volker Schurig Ebene von Instinkthandlungen, die Fragen der Zielgerichtetheit und der Zweckmäßigkeit des Tierverhaltens in den Mittelpunkt stellten, versagte das Reflexkonstrukt jedoch, so daß eine ausgeprägte Refiex-Instinkt-Dichotomie durch unterschiedlich komplexe Determinusauffassungen entstand. Die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretende Sättigung des Reflexparadigmas führte zu zwei Spekulationsschüben über die Grenzen des empirisch definierten Reflexbegriffes hinaus. Einmal wurden sogenannte Kettenreflextheorien des Verhaltens aufgestellt mit dem Ziel, das Instinktparadigma zu subsummieren, was letztlich mit dem Nachweis endogener Spontanaktivität und automer Verhaltensgesetzmäßigkeiten bei der Flossenrhythmik durch v. HOLST 1935 widerlegt werden konnte. Zu den Kettenreflextheoretikern gehörte auch PAWLOW, der Instinkte lediglich als besonders komplizierte unbedingte Reflexe ansah und die eigenständige Handlungsbereitschaft z.B. als Hunger völlig übersah. Der zweite, bis heute in der sowjetischen Phyiologie und Psychologie tradierte Generalisations- und Spekulationsschub beruht auf der Übertragung des Reflexprinzips auf die psychische Funktionsebene - aus der Rtü&xphysiologie wurde eine Refiexpsychologie (KUSSMANN 1974, THIELEN 1984), Im Randbereich des Lernverhaltens wurde dies als "bedingter Reflex" noch toleriert, zumal auch hier experimentelle Analysen der Gesetzmäßigkeiten möglich waren. Der Physiologe Rüdiger bemerkt dazu "Den Reflexbegriff hat man sehrfruchtbringendauch als Analogie zur Erklärung des unter Einwirkung auf den Organismus entstehenden Verhaltens gebraucht" (51, 104). 2.2. Die Pseudo-Physiologie der Großhirnhemisphären

"Es soll... noch gesagt werden, das Pawlow selbst nie neurophysiologisch im Sinne des modernen Sprachgebrauchs - gearbeitet hat" (ANGERMEIER 1973). In modernen Physiologiebüchern wird - außer dem Terminus "bedingter Reflex" - kein Terminus der PAWLOWschen Terminologie verwendet, ja selbst das Konzept der höheren Nerventätigkeit ist außerhalb der SU kaum bekannt und wenn es doch erwähnt wird, so ist es eine ständige Quelle von Mißverständnissen (THIELEN 1987). Auch die Verwendung des Begriffs bedingter Reflex in der Physiologie (in der Psychologie ist er dagegen eher akzeptiert) vollzieht sich meist als Kritik: "Häufig stellte sich bei der Einübung bedingter Reflexe heraus, daß die Einübung möglicherweise stark von den individuellen Eigenschaften des Vt abhängt und daß emotionale Triebreaktionen mit der Anregung oder Hemmung bedingrer Reaktionen gekoppelt sind. Daß zeigt, daß 94

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzept man nur beschränkt von "Reflexen" sprechen sollte (51, 474). Die Physiologie ist der Generalisierung des Reflexbegriffs auf die psychologische Ebene mit guten Gründen nicht gefolgt, da genau dies der erste Schritt spekulativer Annahmen ist, die als Theorie der höheren Nerventätigkeit schließlich nur noch die Physiologie als Erkenntnistheorie zuläßt: "Hier wird die Psychologie mit der Physiologie zur Deckung gebracht, das Subjektive rein physiologisch, rein objektiv interpretiert. Damit gewinnt man sehr viel" (7, 151). Der Transformator einer Physiologierung der Psychologie und der Erkenntnistheorie bleibt aber der PAWLOWsche Reflexbegriff "Der bedingte Reflex ist heute ein eigener physiologischer Terminus, der eine bestimmte nervale Erscheinung bezeichnet. Ihrem eingehenden Studium ist es zu verdanken, daß ein neuer Abschnitt in der Physiologie der Tiere, nämlich die Physiologie der höheren Nerventätigkeit, entstanden ist, die das erste Kapitel einer Physiologie des höchsten Abschnittes des Zentralnervensystems bildet" (7, 65). Die Physiologisierung des lerntheoretischen Reflexbegriffs ist nur eine, wenn auch zentrale Komponente der PAWLOWschen Reflexphilosophie, die diesen Terminus für alle möglichen Arten von Letztbegründung verwendet "Die Theorie der Reflextätigkeit stützt sich auf die drei Grundprinzipien der exakten wissenschaftlichen Forschung: Es ist dies erstens das Prinzip des Determinismus, d.h. eines Anstosses, eines Anlasses, einer Ursache für jegliche gegebene Wirkung, jeden Effekt; zweitens das Prinzip der Analyse und Synthese, d.h. der primären Zerlegung des Ganzen in seine Teile, in Einheiten und danach erneut eines allmählichen Zusammenfügens des Ganzen aus den Einheiten, den Elementen; und schließlich drittens das Prinzip der Strukturiertheit, d.h. der Anordnung der Kraftwirkung im Raum, die Verbindung der Dynamik mit der Struktur." (7,207) Die Theorie der höheren Nerventätigkeit ist, dies zeigt die zitierte Definition, weder eine empirische physiologische Theorie noch eine physiologische Disziplin, sondern eine Methodentheorie, deren Prinzipien von PAWLOW als "Reflex" zusammengefaßt werden/Jedes dieser methodologischen Forschungsprinzipien bedarf seinerseits der kritischen Interpretation, wobei die "dialektischen" Interpretationen des Reflexbegriffs (PICKENHAIN 1959, RUBINSTEIN 1973, BUDILOWA 1975) besonders auffällige Verlegungen darstellen, wenn man sie mit PAWLOWs Kausalitätsauffassung vergleicht: "Die gesamte moderne Naturwissenschaft ist im ganzen nur eine lange Kette stufenweiser Annäherung an eine mechanische Erklärung, die in ihrer gesamten Ausdehnung durch das oberste Prinzip der Kausalität, des Determinismus vereinigt sind, d.h. es gibt keine Wirkung ohne Ursache" (7, 55). PAWLOW hat niemals realisiert, was seinen ersten Rezensenten sofort klar war: daß der Sachverhalt des bedingten Reflexes entgegen seiner physiologischen Bezeichnung eine eigenge95

Volker Schurig setzliche, nicht auf Physiologie reduzierbare Form des tierischen Lernens ist Trotz seiner experimentellen Verhaltensuntetsuchungen erhob PAWLOW weiterhin den Anspruch als Physiologe zu arbeiten und baute entsprechend seine "echte" Pseudo-Physiologie schrittweise zu einem immer komplexeren Begriffsapparat aus, indem nun die verschiedensten Phänomene der Gehirnfunktion auf ein System bedingter Reflexe projeziert wurden. Eine erste derartige Systematisierung bedeutet der Vortrag "Naturwissenschaft und Gehirn" 1912 in Moskau, einen bestimmten Abschluß stellt die 1926 publizierten Vorlesungen über die Arbeit der Gehirnhemisphären dar. Den Bereich der Sinnesphysiologie integrierte PAWLOW über das Analysator-Konzept, der Motivationsaspekt wurde als dynamisches Stereotyp erfaßt und die Sprache über den Begriff des 2. Signalsystems, ein Mechanismus, auf den sich bei PAWLOW selbst nur wenige Anmerkungen finden. Die Gesamtheit dieser und weiterer Teiltheorien bildet dann die Theorie der höheren Nerventätigkeit, deren "Gesetzmäßigkeiten" mit Allerweltsbegriffen wie Irradiation, Analyse, Synthese, Konzentration usw. bezeichnet wurden. Ebenso beliebig bzw. anthropomorph ist die Unterscheidung z.B. von "starken" und "schwachen" Nervensystemen und ihre Korrelation mit den Charaktertypen von HIPPOKRATES. PAWLOWs Persönlichkeitstypologie endet mit der Gegenüberstellung von dem Denkertyp und dem Künstlertyp. Warum letzterem und nicht dem Politikertyp der Vorzug gegeben wurde, ist vielleicht eine Reminiszenz an GORKI, den LENIN, offensichtlich ein ausgezeichneter Psychologe und Menschenkenner, den Vorsitz der PAWLOW-Kommission gegeben hatte und den PAWLOW als einfühlsamen Gesprächspartner schätzen lernte, vielleicht aber nur eine persönliche Marotte. PAWLOWs psychologische Ambitionen waren, im Gegensatz zu seinen psychologischen Nachfolgern, auch nie besonders hoch gesteckt "Ich bin ein empirischer Psychologe und kenne die psychologische Literatur nur nach einigen Handbüchern der Psychologie und nach einer im Vergleich zu dem überhaupt existierenden Material vollkommen unbedeutenden Anzahl von psychologischen Abhandlungen. Ich war und bleibe aber, seitdem ich mein Leben bewußt lebe, ein ständiger Beobachter und Analytiker meiner selbst und auch anderer innerhalb des mir zugänglichen Horizonts, wobei ich auch die Kunstliteratur mit der Genremalerei mit einbeziehe" (7,227). Der Übergang von der Physiologie zu einer Pseudo-Physiologie, die sich im Nachhinein in der Regel als eine Variante der Verhaltensforschung entpuppte, ist insofern "normal", da er vor und auch nach PAWLOW immer wieder gerade auch von erfolgreichen Entdeckern vollzogen wurde. Zu den bekanntesten Vorläufern PAWLOWs, die konsequent dem spekulativen Ausbau eines "Grundmechanismus" folgten, gehört z.B. LOEB (1869-1959), der 96

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzept den experimentellen Nachweis raumzeitlicher Orientierungsreaktionen ("Tröpismen") zu einer Lehre mit Universalitätsanspruch ausbaute. Tropismen und Reflexlehren sind historisch wichtige Wegbereiter einer eigengesetzlichen Verhaltensforschung, werden von dieser aber auf einen bestimmten spekulativen Entwicklungsstand z.B. als Kettenreflextheorie experimentell widerlegt.Tatsächlich scheitert die Theorie der höheren Nerventätigkeit in ihrem Universalitätsanspruch bereits auf der Ebene der unbedingten Reflexe, da PAWLOW seine spekulativen Reflexgeneralisationen sowohl "nach oben" wie "nach unten" vorantrieb. Es ist deshalb verständlich, wenn die experimentelle Physiologie und Tierforschung keinerlei Neuigung verspürte, reflextheoretischen Begründungen des Lernens, der Hysterie, des Schlaf- und Träum Verhaltens sowie der Persönlichkeitsbildung zu folgen, wenn selbst scheinbar infache angeborene Funktionskreise wie die Nahrungsaufnahme nicht vollständig reflextheoretisch befriedigend gelöst werden können.So hätte PAWLOW, wenn er die Frage gestellt hätte, warum ein Hund Hunger hat, niemals eine befriedigende Erklärung geben können, da der Antrieb für die Reflexphysiologie außerhalb der Reiz-Reaktions-Beziehung bleibt (SCHURIG 1987a). Trotzdem ist PAWLOWs Vorgehen, aus dem Ablauf einer äußeren Verhaltensreaktion auf die Funktionsmechanismen des ZNS zu schließen, völlig legitim wenn klar ist, 1. daß es sich nicht mehr um empirischinduktive Verallgemeinerung, sondern um hypothetisch-deduktive Ableitungen handelt und 2. daß derartige Formen der Theorienbildung lediglich zu Modellen führt, die heuristischen Anspruch erheben können, aber letztlich immer Projektionen von außen in das Gehirn sind. Ein empirisches Defizit zur Gehirnphysiologie ist dabei in Kauf zu nehmen, wenn die theoretische Innovation entsprechend hoch ist In der Ethologie hat z.B. TINBERGEN ein fiktives Modell der zentralnervösen Organisation des Instinktverhaltens formuliert und LORENZ ein psycho-hydraulisches Antriebsmodell, die aber beide auch als solche kenntlich gemacht werden. PAWLOW blieb dagegen zeitlebens der Auffassung, daß seine Projektion der Funktion bedingter Reflexe in die Gehirnfunktion "empirisch" sei, d.h. "echte" Physiologie. So machte er 1932 den Fehler, die verschiedenen Reflexfunktionen morphologisch zu lokalisieren, was selbst in dieser äußest groben Zuordnung der unbedingten Reflexe zu den Subcortex, die bedingt-reflektorischen Funktionen zu den Cortex und speziell des 2. Signalsystems des Menschen zu den Frontallappen scheiterte. Eine Grundthese der Physiologie der höheren Nerventätigkeit in der dogmatischen PAWLOWschen Version besagte nämlich seitdem, daß die Ausbildung bedingter Reflexe eine Funktion der Großhirnhemisphären ist, was experimentell schon bald widerlegt werden konnte, da Lernen über bedingte Reflexe auch subcortikal möglich ist. Für ein Verhaltensmodell sind derartige 97

Volker Schurig Korrekturen erwünschte Präzisierungen, für dogmatische Wissenschaftsprogramme mit "ewigem" Geltungsanspruch mußten experimentelle Publikationen zur subcortikalen Konditionierung, wie geschehen, mit einer Distanzierung der Zeitschriftenredaktion versehen werden, weil nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf. 3. Die externen Faktoren: die Fehleinschätzung PAWLOWs.

"Der Behaviorismus betrachtet Pawlow bis zum heutigen Tage einmütig a seinen Stammvater" (JAROSCHEWSKI1975). Die dichotome paradigmatische Struktur der sowjetischen Psychologie ist auch das Ergebnis, die bestehende Psychologie als Teil des "Herrschaftswissens" entweder zu korrigieren oder neuen gesellschaftlichen Interessen dienstbar zu machen. Jenseits der vergleichsweise autonomen experimentellen und empirischen Untersuchungen existiert deshalb auch eine komplexe "Metapsychologie", in der es um methodologische Prinzipien und ihre philosophischen Grundsätze geht, die in Fragen der Gegenstands- und Wissenschaftsdefinition letztlich auch über Existenz und Nichtexistenz der Einzelwissenschaft Psychologie entscheiden. Publikationsverbote, das Dekret zur Pädagologie 1936, Verleihung von Stalinpreisen (z.B. 1949 an IWANOW - SMOLENSKI) oder Leninpreisen (z.B. 1963 an LEONTJEW) sind externe Indikatoren, die partielle Verschiebungen im Verhältnis von Reflex- und Tätigkeitsparadigma anzeigen. Innerhalb dieser Metapsychologie existiert dabei selbst wieder eine äußerst delikate Struktur, die sich aus verschiedenen Faktoren zusammensetzt. So ist auffällig, daß auf den verschiedenen Wissenschaftskonferenzen, ebenfalls ein gesellschaftliches Steuerelement, häufig unbekannte und junge Autoren die sich bereits vor 1950 etablierenden psychologischen Kapazitäten wie RUBINSTEIN und LEONTJEW angriffen, für den weiteren Erkenntnisproßzeß in der Psychologie selbst aber ohne eigenständige Auswirkung blieben. Es existiert innerhalb der Metapsychologie deshalb eine besondere Kritikerkultur, die überwiegend im Programmatischen blieb und z.B. zu den aufschlußreichen Selbstkorrekturen RUBINSTEINs in den verschiedenen Auflagen seiner Publikationen führte, die immer auch mehr als persönliche Einsichten waren. Da RUBINSTEIN sich erkühnt hatte, den FREUD'schen Begriff des Unbewußten in seinen sowjetischen Erstwerken einzuführen und auch der Feldtheorie nicht interessenlos gegenüberstand, hatte er sich folgerichtig das Phänomen des "Intellektualismus" als Thema seiner Selbstkritik ausgesucht - und dies nicht ohne Grund. Sein Spätwerk "Sein und Bewußtsein" (1957, deutsch 1961) kann als Standardwerk der Metapsychologie 98

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzept angesehen werden, da es letztlich um eine - wie der Titel bereits zu erkennen gibt - ontologische Begründung der Psychologie geht, in der jede wirkliche Entwicklung in abstrakten Kategorien von Sein, Bewußtsein sowie dem Verhältnis von Physiologie und Psychologie bzw. des psycho-physischen Problems erstarrt. RUBINSTEIN (1905 - 1960) ist in vieler Hinsicht auch deshalb zur zentralen Gründungsfigur der sowjetischen Psychologie geworden, da sein Konzept eklektizistisch zwischen dem Reflex- und dem Tätigkeitsparadigma vermittelt. Es ist mehr als ein Zufall, daß zwischen den "Physiologen" und den "Psychologen" ein Philosoph als Kompromißkandidat auftritt, da sein Reflektionsniveau zugleich die Begründungsfunktion des dialektischen Materialismus gegenüber der Einzelwissenschaft klarstellen konnte/Seine Kompromißfunktion zeigte sich z.B. in den zahlreichen einheitsstiftenden Prinzipien wie der Einheit von Theorie und Praxis oder von Physiologischem und Psychologischem (einer Position, die auch ARMSTRONG in dem 1968 publizierten Buch "A Materialist Theory of Mind" vertrat) oder der Einheit von Tätigkeit und Bewußtsein. "Intellektuell" bleibt RUBINSTEIN auch in anderer Hinsicht, etwa indem er auf der PAWLOW-Konferenz heftige Kritik an seinen früheren Überlegungen übt, in der die Theorie der höheren Nerventätigkeit bei ihm keine Rolle gespielt hatte, während er sich später wiederum genau von dieser Wendung zu PAWLOW fein distanzierte. Diese ständigen Korrekturen, die letztlich zu einer Quadratur des Kreises in in Gestalt einer reflextheoretischen Begründung der Bewußtseinsfunktion führten, haben einen bis heute weiter wirkenden, aber äußerst problematischen Terminus RUBINSTEINs hinterlassen - den Begriff einer weder physiologisch noch psychologisch haltbaren "reflektorischen Tätigkeit", die zwischen beiden Paradigmen der sowjetischen Psychologie vermitteln soll, letztlich den MARX'schen Tätigkeitsbegriff aber behavioristisch auf Physiologie reduziert. Der Schulterschluß zwischen "Sein" und "Bewußtsein" durch die "reflektorische Tätigkeit" setzt seinerseits die Theorie der höheren Nerventätigkeit als gültig voraus und versucht deren universelle Gültigkeit wiederum als "dialektischen" Materialismus zu legitimieren. Tatsächlich hört jeder in marxistischen Kategorien denkender Theoretiker in der SETSCHENOW-PAWLOW-Linie aber nur den Mechanizismus trappsen, begleitet von der spekulativen Betrachtung der eben durch diesen Mechanismus hervorgebrachten unlösbaren Probleme. Ebenso wie das Verhältnis von der Theorie der höheren Nerventätigkeit dialektischer Materialismus gehört auch die kritische Analyse der Wirkung historischer ökonomischer und politischer Faktoren auf die einzelwissenschaftliche Begriffs- und Theorienbildung mit zu den in der sowjetischen Psychologie am 99

Volker Schurig meisten tabuisierten Themen. Warum dies so ist, zeigt die Struktur der folgenden Punkte. 3.1. LENINs PAWLOW-Dekret

"Der Staatsverlag wird beauftragt, das vom Akademiemitglied Pawlow b sorgte wissenschaftliche Werk, das die Ergebnisse seiner wissenschaftlich Arbeiten während der letzten 20 Jahr zusammenfaßt, in der besten Drucke der Republik in einer Luxusausgabe herauszubringen" (LENIN 1921). In dem Jahrzehnt zwischen 1920 -1930 fielen mehrere wichtige Entscheidungen, die die später uneingeschränkte Herrschaft des Reflexparadigmas günstig beeinflußten, die legalistische Entwicklung nach 1950 (vgl. 3.2.) aber keineswegs zwangsläufig determinieren. Aus diesem Zeitraum können hier nur zwei kritische Problemzonen herausgegriffen werden, die sich für eine ausführliche wissenschaftshistorische Untersuchung anbieten würden. Einmal kommt es in diesem Jahrzehnt bis 1930 in der sowjetischen Psychologie zu einer regelrechten Blüte der unterschiedlichsten reflextheoretischen Konzepte. Während PAWLOW sich auf tierexperimentelle Lernuntersuchungen spezialisiert hatte, entwickelte der Reflexphysiologie UCHTOMSKI das "Dominante Konzept", das in der sowjetischen Psychophysiologic bis heute den Motivationsbereich abdeckt, während die "Reflexologie" BECHTEREWS neurologisch und neuropsychologisch orientiert war und KORNILOWs und BLONSKIs "Reaktologie" die Verhaltensuntersuchungen auch für die Integration sozialer Fragestellungen eröffnet hatten. Unbestrittene reflextheoretische Fachautorität bis zu seinem Tod 1927 war BECHTEREW, die stärkste inhaltliche Annäherung innerhalb des Gesamtspektrums reflektorischer Forschungskonzeptionen an marxistisch orientierte Problemstellungen vollzog aber die Reaktologie, die daraufhin prompt das Interesse philosophischer und ideologischer Kritiker auf sich zog. Ungeklärt ist, warum ausgerecht PAWLOWs quasi behavioristische Positon sich innerhalb dieses Reflexspektrums durchsetzen konnte, da er zunächst keineswegs die besondere theoretische Faszination auf sich zog und seine Auseinandersetzungen mit anderen Psychologen immer unergiebiger wurden bis Ende der zwanziger Jahre schließlich selbst behavioristische Lerntheoretiker wie GUTHRIE und LASHLEY, die zunnächst Experimente der klassischen Konditionierung aufmeksam verfolgten, sich von dem PAWLOWschen Reflexreduktionismus der Hirnfunktion distanzierten. Der Reichtum an reflextheoretischen Verhaltenskonzeptionen im ersten Jahrzehnt der sowjetischen Psychologie, die zeitlich mit dem Durchbruch des 100

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzept Behaviorismus in Amerika zusammenfiel, ist auch eine Konsequenz der Armut der russischen Physiologie an verschiedenen Forschungsansätzen. Während in Deutschland, England und Frankreich konkurrierende physiologische Arbeitsrichtungen und Schulen nebeneinander existierten, so daß zu keiner Zeit eine Dominanz z.B. der Reflextheorie existierte, war die relativ geringe Zahl russischer Physiologen mit SETSCHENOW als Schlüsselfigur ausschließlich auf Reflexuntersuchungen festgelegt, was eine reflexphysiologische Fundierung der Psychologie zu "einem zwangsläufig eintretenden Ereignis machte und diese selbst zur "Reflexpsychologie" transformierte. Unter dem Zwang dieser Tradition und wissenschaftlichen Spezialisierung stand auch LENINs PAWLOW-Dekret vom 24.1.1921, das PAWLOW, - entsprechend den widrigen Zeitumständen eine Priveligierung - die weitere wissenschaftliche Arbeit sicherte und damit möglicherweise seine spätere Sonderrolle instutionell einleitete. PAWLOW hatte zu dieser Zeit ernsthaft eine Emigration erwogen und aus dem Ausland auch Angebote zur weiteren Arbeit erhalten. Als direkte Folge des von LENINs Anordnung, eine Kommission des Petrograder Sowjets zu gründen, die PAWLOW Papier und Druckmöglichkeiten in einem Staatsverlag sicherte/erschien 1923 sein theortisches Hauptwerk "Zwanzigjährige Erfahrungen mit dem objektiven Studium der höheren Nerventätigkeit (des Verhaltens) der Tiere", dem bis zu seinem Tode 1936 sechs Auflagen folgten. 1922 begann in der Nähe von Leningrad in Koltuschi (Pawlowo) außerdem der Aufbau eines eigenen Forschungszentrums für PAWLOW mit einem ständig steigenden Jahresetat und der Einrichtung neuer tierexperimenteller Abteilungen (z.B. für Menschenaffen). Daß diese Logik der Instutionalisierung nicht ohne Auswirkung auf die Theorienbildung blieb, ist unbestreitbar, andererseits reicht die platte Zunahme der Anzahl von "PAWLOWianern" zur Durchsetzung der Physiologie der höheren Nerventätigkeit allein sicher nicht, zumal viele Experimentatoren auch durchaus eigenständige Positionen einnahmen. Bedeutsamer scheint in diesem Zusammenhang der - fehlende - theoretische Zusammenhang zwischen PAWLOW und LENIN, der sich z.B. 1908 im "Materialismus und Empiriekritizismus" intensiv mit Fragen der Sinnesphysiologie, Psychologie, Erkenntnis- und Widerspiegelungstheorie auseinandergesetzt hatte. LENIN hatte bereits in den ersten Jahren seines Wirkens der neuen Richtung zur Erforschung psychischer Prozesse, in der man davon ausging, die Entwicklung der Psychologie müsse untrennbar mit der Naturwissenschaft, der Neurophysiologie verbunden sein, große Bedeutung beigemessen" (26, 112). Als Grundlage dienten neben DIETZGENs Buch "Kleinere philosophische Schriften" von 1903 auch DEBORINs wahrscheinlich 1909 verfaßter Artikel über den dialektischen Materialismus, der nach 1930 in der Entscheidung ge101

Volker Schurig gen die Reaktologie Korniolows eine wichtige Rolle spielte. Weder die von LENIN rezipierten Autoren (darunter auch Plechanow) noch LENIN selbst verlieren nur ein Wort oder Gedanken über ihre russischen Landsleute SETSCHENOW und PAWLOW. Dieses Defizit ist insofern bemerkenswert, da selbst in neueren Darstellungen zur Geschichte der sowjetischen Psychologie der Eindruck erweckt wird, als hätte seit SETSCHENOW sich alle Erkenntnislogik um sein Konstrukt der "Gehirnreflexe" (vgl. 2.1.) geändert: wahrscheinlich hat aber LENIN nicht einmal die 1903 erschienene Publikation SETSCHENOWs "Elemente des Denkens" gekannt Die Entscheidung LENINs zugunsten PAWLOWs Instutionalisierung, deren theoretische Produkte und ihre Konsequenzen nicht voraussehbar waren, ist zweifellos eher eine staatspolitische, an der internationalen Stellung PAWLOWs z.B. durch die Nobelpreisverteilung orientierte Entscheidung als eine erkenntnistheoretischphilosophische Zustimmung. Eine Möglichkeit, den Einfluß des Reflexdenkens auf das zeitgenössische Denken zu untersuchen, wäre z.B. eine Analyse G.W. Plechanows (1857-1918) "Beiträge zur Geschichte des Materialismus" in ihrem Bezug auf das Reflexprinzip oder LENINs - möglicherweise nicht existierendes inhaltliches Verhältnis - zu den Reflextheoretikern SETSCHENOW und PAWLOW. 3.2. Der Neopawlowianismus

"Die Psychologie vollzog die Hinwendung zur Pawlowschen Physiologie u verteidigte dabei ihre Selbständigkeit, ihren Gegenstand und ihre Method (BUDILOWA 1975). Diese in dem Zitat angesprochene Parodoxie bestimmte die Entwicklung der sowjetischen Psychologie etwa zwei Jahrzehnte nach 1945. "Das Problem der Beziehung der Psychologie zur Lehre PAWLOWs von der höheren Nerventätigkeit war in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre das aktuellste Problem der psychologischen Theorie, die sich abermals der Lehre SETSCHENOWs und PAWLOWs annäherte" (13, 179). Diese "abermalige" Annäherung, der BUDILOWA an anderer Stelle selbst widerspricht, wenn sierichtigbemerkt, daß in den zwanziger und dreißiger Jahren beide Autoren überwiegend als Repräsentanten eines physiologischen Mechanizismus angesehen winden, wird eine weitere Legende angefügt "Gleichzeitig wurde die Hinwendung zu der Lehre PAWLOWs, die die Physiologen fordeten, in der Psychologie durch deren eigene Entwicklung vorbereitet" (13,174). Diese "eigene" Entwicklung hatte nun aber gerade mit dem Themenkomplex der Entwicklung des Psychischen PAWLOWs ahistorischen Reflexdeterminismus hinter sich 102

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzep gelassen, stellte Sprachuntersuchungen in den Mittelpunkt und betonte das Bewußtsein als Gegenstand der Psychologie, alles Themenkomplexe, die in der Theorie der höheren Nerventätigkeit bestenfalls fragmentarische Randbereiche darstellten. Auch die Rolle der Physiologie als Antreiber in einem Hinwendungsprozeß, bei dem es um nicht mehr und nicht weniger als die Selbständigkeit der Psychologie ging, mutet kurios an, wenn man weiß, daß die PAWLOW-Renaissance vor allem in der Physiologie selbst auf energische Einwände stieß und hier auch die geringsten Erfolge hatte, da ORBELI, BERITASCHWILI u.a. bereit waren über Ämterhäufung zu reden, aber nicht über die Korrektur empirisch begründeter Theorien. Tatsächlich scheiden sowohl Physiologen als Psychologen als alleinige Akteure schon deshalb aus, da ihr Interesse am geringsten war, eine fragwürdige und überholte Forschungskonzeption zu restaurieren. Die Hinwendung vollzog sich für zahlreiche Psychologen tatsächlich, wie BUDILOWA beschreibt, als Verteidigung. Zu den weiteren Besonderheiten gehört zweifellos auch, daß sich die Wissenschaftskritik häufig in einer entwürdigenden Form von Selbstkritik vollzog. Wie wirkungsvoll die ahistorischen Mechanismen dieser Entwicklung in BUDILOWAs Analyse der sowjetischen Psychologie dieser Periode noch wirksam sind zeigt sich daran, daß es ihr gelingt, weder den Namen STALIN noch das Phänomen des Stalinismus überhaupt nur zu erwähnen. In zeitgenössischen Dokumenten zur Physiologie bzw. Psychologiegeschichte klang dies noch anders: "Wie das Leuchtfeuer einer gewaltigen Macht und eines wahrhaftigen Orientierungpunktes leuchteten die Namen der großen russischen Physiologen SETSCHENOW und PAWLOW an den Entwicklungspfaden der Wissenschaft* es sind Namen, die Genosse STALIN neben die Namen der hervorragendsten und für das russische Volk teuersten Männer aus der Geschichte und Kultur unseres Vaterlandes stellt" (32,12) Vom 28.6. - 4.7.1950 fand in Moskau eine "Wissenschaftliche Tagung über die Probleme der physiologischen Lehre I.P. PAWLOWs" statt, die trotz der Betonung von "Physiologie" auch auf die Problematik einer eigenständigen Psychologie und ihrer Gegenstandsbestimmung sowie der Stellung im System der Wissenschaften zielte, so daß es nicht verwundert, daß auch Psychologen (RUBINSTEIN, TEPLOW usw.) beteiligt waren. Aufmerksamkeit für RUBINSTEIN und Vertreter der Kulturhistorischen Schule war auch deshalb angesagt, da bereits vorher zur 2. Auflage von RUBINSTEINs "Grundlagen der allgemeinen Psychologie" und LEONTJEWs 1947 erschienenen "Abriß dei Entwicklung des Psychischen" kritische Stellungnahmen gegeben hatte und im Fall RUBINSTEINs sogar vom Lehrstuhl für Logik und Psychologie dei Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU eine Diskussionstagung organisiert worden war. Unbehagen hatte vor allen 103

Volker Schurig ausgelöst, daß bei RUBINSTEIN das Bewußtseinsproblem durch psychoanalytische Begriffe angereichert worden war und vor ihm LEWIN, der heute als einer der anregendsten und produktivsten Psychologen gilt, in die Diskussion eingeführt wurde. Auf einer psychologischen Folgekonferenz vom 30.6. 5.7.1952 wurde noch einmal nachgefaßt, bereits 1953 fand ebenfalls eine 2. Allunionskonferenz für Psychologie statt, bei der es um Aufgaben, Gegenstand und Methoden der Psychologie ging. Einen Abschluß fand diese Entwicklung 1962 auf einer Tagung über Fragen der Physiologie der höheren Nerventätigkeit und der Psychologie, bei der ein zentrales Thema die methodologische Bedeutung des PAWLOWschen Reflexbogens war. Danach veränderte sich die Situation sehr schnell zugunsten der Kulturhistorischen Schule. 1960 war RUBINSTEIN gestorben, der mehrere Einwände gegen das Tätigkeits und Aneignungskonzept LEONTJEWs vorbrachte, um vor allem von eigenen theoretischen Schwächen bei der Bestimmung des reflektorischen Tätigkeitsbegriffs abzulenken und schließlich war das Jahrzehnt des Neopawlowianismus überstanden. 1963 hatte LEONTJEW für "Probleme der Entwicklung des Psychischen" als höchste wissenschaftliche Auszeichnung den Leninpreis erhalten. 1966 wurde an der Moskauer Universität eine Psychologische Fakultät gegründet und im gleichen Jahr der 18. Internationale Kongreß für Psychologie in Moskau durchgeführt Die PAWLOWianisierung der Wissenschaften nach 1950 erstreckte sich nicht nur auf die Psychologie, sondern erfaßte die Physiologie, experimentelle Tierforschung und Medizin ebenso wie die Pädagogik. Zahlreiche neue Forschungsprogramme wurden seitdem eingeleitet, Institute gegründet, wobei aber keineswegs eine einheitliche Ausrichtung existierte und vor allem in der 1955 gegründeten Fachzeitschrift "Fragen der Psychologie" heftige Kontroversen ausgetragen wurden. Daß es sich bei den PAWLOW-Tagungen nicht nur um folgenlose wissenschaftliche Kongresse handelt geht schon aus der nach 1950 verstärkt einsetzenden Instutionalisierung hervor. So erscheint seit 1951 die neugegründete Zeitschrift "PAWLOW-Zeitschrift für höhere Nerventätigkeit" und an den Universitäten Moskau, Leningrad und Kiew werden Lehrstühle mit entsprechenden Labors für höhere Nerventätigkeit geschaffen. 1953 wird dann erstmals auch eine deutschsprachige Gesamtausgabe der Werke PAWLOWs publiziert und in Prag und Leipzig entstehen an PAWLOW orientierte Forschergruppen. Zu den großen neugegründeten Instituten gehört vor allem das Institut für höhere Nerventätigkeit und Neurophysiologie bei der Akademie der Wissenschaften in Moskau, dazu kommen aber noch zahlreiche Neugründungen an Akademieinstituten der Unionsrepubliken an der Akademie der Pädagogischen Wissenschsaft und in medizinischen Instituen. Damit waren 104

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzep die instutionellen Voraussetzungen geschaffen, daß auch in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die eigentlich vergessen geglaubte Theorie der höheren Nerventätigkeit die methodologische Grundlage zweier äußerst wichtiger Einzelwissenschaften blieb - der Physiologie und der Psychologie. Über die Interpretation der PAWLOW-Konferenzen sind bisher mehrere konkurrierende Erklärungen entwickelt worden (THIELEN 1984), von denen BUDILOWAs in dem Buch "Philosophische Probleme in der sowjetischen Psychologie" (russ. 1972, deutsch 1975) entwickelte Thesen besondere Bedeutung besitzen. Im Gegensatz zu den zahlreichen PAWLOW-Biographien (WINTER 1953, PICKENHAIN 1959, ASRATJAN 1982)tibergehtsie nicht einfach den Neqpawlowianismus, sondern versucht ihn "konstruktiv" aus dem Entwicklungsstand der sowjetischen Physiologie und Psychologie als notwendigen inneren Entwicklungsschritt zu begründen. "Das immer größere Interesse der sowjetischen Psychologie für methodologische Probleme führte sie zum Verzicht auf die bisherige Einschätzung der PAWLOWschen Physiologie und bestimmte das Streben, die Lehre PAWLOWs zu nutzen (13, 190). Mit dieser submissiven Haltung kann sie sich auch auf RUBINSTEIN beziehen: "Seinerzeit, sagte RUBINSTEIN, haben viele Psychologen bei der Zurückweisung der Ansprüche der Physiologie, Herrin auf dem von der Psychologie eingenommenen Gebiet zu sein, eine Position der Selbstverteidigung, anstatt die Lehre von der höheren Nerventätigkeit anzuwenden" (13, 187). Genau um diesen Prozeß der widerspenstigen Selbstverteidigung geht es, wobei nicht nur in der Psychologie, sondern auch vor allem in der Physiologie gerade unter den PAWLOWianern wie ORBELI, ANOCHIN u.a. ein verbreitetes Unbehagen an der Dogmatisierung da- PAWLOWschen Physiologie gab, da diese Forscher zu intelligent waren um nicht zu sehen, daß langfristig der Autorität und wissenschaftlichen Integrität PAWLOWs Schaden damit zugefügt wird. Unbestritten ist zu den zahlreichen - physiologischen und psychologischen - Facetten in der Bedeutung des Namens PAWLOW und der Therorie der höheren Nerventätigkeit nach 1950 noch die Nähe zu der stalinistischen Wissenschaftspolitik gekommen. RUBINSTEIN entwickelte erst unter dem Einfluß der PAWLOW-Konferenzen das äußerst fragwürdige Konzept einer "reflektorischen Tätigkeit als Wesen des Psychischen", das nun von BUDILOWA in seiner Entstehungsgeschichte als innere Logik der sowjetischen Psychologie ausgegeben wird. "Die philosophische Einschätzung der Lehre PAWLOWs als einer mechanistischen Lehre dominierte in der Psychologie der zwanziger und dreißiger Jahre. Nunmehr war es erforderlich, zur philosophischen Analyse der methodologischen Prinzipien der Reflextheorie zurückzukehren, sich von der bisherigen falschen Einschätzung frei zu machen und sich der Lösung des ge105

Volker Schurig samten Komplexes von Fragen zuzuwenden, die mit dem Verhältnis sowohl des Psychischen zum Gehirn als auch der Psychologie zur Physiologie der höheren Nerventätigkeit zusammenhängen" (13,198). Entscheidend war, wie in dem Zitat zweimal betont wird, daß es vor allem philosophische Interessen waren, die jene in dem Eingangszitat erwähnte merkwürdige Hinwendung zur PAWLOWschen Physiologie auslöste, bei der zugleich die Eigenständigkeit verteidigt werden mußte. Dies zeigt sich auch in der wichtigsten Folge der PAWLOW-Konferenzen "Vor den Psychologen erhob sich eine sehr wichtige Aufnahme, nämlich die reflektorische Konzeption des Psychischen in den experimentellen Forschungen zu realisieren" (13,202). Diese programmatische Unlogik, eine objektiv überwundene physiologische Spezialtheorie zur Forschungsgrundlage der gesamten Physiologie und Psychologie zu machen und sie nachträglich experimentell zu legitimieren, ist die eigentliche Logik des Neopawlowianismus, die bei mehreren Physiologen und Psychologen von Beginn an auf Reserve und Gegenkritik stieß, die aber an der philosophischpolitisch gewollten und gesteuerten Wissenschaftsentwicklung wenig ändern konnten. Eine kritische marxistische Analyse der PAWLOW-Restauration in der sowjetischen Psychologie, die vor allem Philosophen wie RUBINSTEIN erfaßte, bedarf ganz anderer Fragestellungen als BUDILOWAs Versuch, diese Sackgasse einer reflektorischen Auffassung des Psychischen als notwendig und logisch hinzustellen. Die jeweilige Beantwortung des psychophysischen Problems ist weitgehend unbedeutend gegenüber den Problemen, warum nicht der Tätigkeitsbegriff, der Arbeitsbegriff oder das Bewußtseinsproblem zum Ausgangspunkt einer materialistischen Psychologiebegründung genommen wurde. Dieser Problemlage wiederum übergeordnet ist das Verhältnis von einzelwissenschaftlicher Forschung und dialektischem Materialismus, dessen erkenntnisverhinderte Funktion in dieser Phase letztlich aus einer falschen Lösung des Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaft beruht, da zumindest in der Psychologie die Konturen des neuen, tätigkeitstheoretischen Forschungsparadigmas sichtbar waren, dessen Aufstieg gerade durch den weit verbreiteten Gebrauch der aber wohl meist unverstandenen Begriffe "Materie" und "Materialismus" verhindert wurden. Die Frage der gesellschaftlichen Faktoren, die den inneren Entwicklungsprozeß der Psychologen 1950 extern stoppten, ist deshalb der wirkliche Schlüssel zur Logik der sowjetischen Psychologiegeschichte. Völlig imaginär tauchen bei BUDILOWA plötzlich theoretische und philosophische Interessen auf, über deren Ursprung - etwa STALINs philosophische Schriften oder die Rolle der Ideologen MITIN und SHDANOW - der Leser nichts erfährt. Das reflektorische Defizit liegt genau dort, wo man den Ansatz einer marxistischen Psychologie-Konzeption eigentlich etwarten sollte: bei der Frage nach den politisch-ökonomischen und 106

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzept philosophisch - theoretischen Rahmenbedingungen psychologischer Theorienbildung. 3.3. Das Ende der "Meisterdenker"?

"Und so seltsam es klingen mag - die materialistische Psychologie SET SCHENOWs geriet in Vergessenheit" (BUDILOWA1975). Der Aufstieg der Theorie der höheren Nerventätigkeit und anderer Autoren nach 1950 aus der Vergessenheit wurde von zahlreichen Publikationen über philosophischen Aspekten der Lehre PAWLOWs begleitet, deren Verfasser1 in wenigen Fällen Physiologen (z.B. PICKENHAIN 1959), in der Regel jedoch Psychologen und vor allem Philosophen waren. Noch mit Gewinn zu lesen ist WAZUROs "Die Lehre PAWLOWs von der höheren Nerventätigkeit" (1975), da auf jede Art Metapsychologie, was die bedingten Reflexe nun wirklich sind, und weitreichende Bewertungen verzichtet wird, sondern die sachlichen, strikt im Geiste PAWLOWs vorgenommene Darstellung die empirische und theoretische Leistungsfähigkeit - aber auch ihre Grenzen - klarer hervortreten läßt. WAZURO hat sich besondere Verdiwiste bei Lernversuchen an Schimpansen erworben und hier die in der von PAWLOW gegründeten Primatenstation weitere Experimente durchgeführt. Von einem anderen Geist getragen sind dagegen etwa PETRUSCHEWSKTs "Die Lehre PAWLOWs und die philosophischen Fragen der Psychologie" (1955), KISSILINTSCHEWS "Die marxistisch-leninistische Widerspiegelungstheorie und die Lehre IP. PAWLOWs von der höheren Nerventätigkeit" (1957), oder die Publikation von KARDOS "Die Grundfragen der Psychologie und der Forschung PAWLOWs" (1962). Erwähnenswert ist, daß außer der Publikation von PAWLOWs sämtlichen Werken durch PICKENHAIN 1953 seit 1970 auch in der Bundesrepublik mehrere Reader mit den wichtigsten Aufsätzen und Kpngreßbereichen PAWLOWs erschienen sind. Versuche, PAWLOW und den Neopawlowianismus einer wissenschaftskritischen Analyse zu unterziehen, bilden dabei die Ausnahme (THIELEN 1984). Außerdem existieren zahlreiche PAWLOW-Biographien (BABKIN 1951, WINTER 1953, ASRATJAN1982), wobei BABKIN für den Wissenschaftshistoriker durch seine kritische Haltung von Interesse ist, während ASRATJAN nur an der weiteren Glorifizierung arbeitet In den Forschergenerationen nach PAWLOW unternehmen vor allem Vertreter der RUBINSTEIN-Richtung (z.B. BUDILOWA, SCHOROCHOWA) die Reflexkonzeption in Gestalt der "reflektorischen Tätigkeit" im Sinne ihres Meisters RUBINSTEIN in der sowjetischen Psychologie zu tradieren, so daß gute Aussichen bestehen«, daß die Theorie der höheren Nerventätigkeit gewissermaßen als letzter Dinosaurier aus der Reflexphysiologie des 19. 107

Volker Schurig Jahrhunderts auch das nächste Jahrtausend erreicht. Tatsächlich ist dank RUBINSTEINs Konzept vor allem von "Sein und Bewußtsein" (1973) das mechanistische Reflexkonzept so in der psychologischen Terminologie und Theorienbildung verankert, daß diese Linie der sowjetischen Psychologie sich auch 1950 gewissermaßen immer wieder selbst regeneriert. Höhepunkt der Wandlungsfähigkeit des PAWLOWschen Reflexkonzeptes ist dabei zweifellos seine Erscheinung in Gestalt von "Tätigkeit", durch deren Unterordnung das psychologische Reflexdenken erneut festgeschrieben werden kann. Die PAWLOW-Literatur nach 1950 existiert primär in der theoretischphilosophischen Achse der Lehre von der höheren Nerventätigkeit, die als Physiologie und Naturwissenschaft "an sich" rezipiert wird und ihrer Verknüpfung mit dem dialektischen Materialismus, der, wenn dieser Schulterschluß vollzogen ist, häufig keiner mehr ist, sondern eine mechanizistische Verflachung erfährt. Tatsächlich hatten die auf den Wissenschaftskonferenzen im Zeitalter des Stalinismus vollzogenen Bewertungen naturwissenschaftlicher Theorien wenig bzw. überhaupt kein Glück, Die Denunzierung der Quantenphysik, Relativitätstheorie und der MENDELschen Genetik als "bürgerlich" war ein Fiasko, der Aufbau einer "proletarischen Wissenschaft" (LECOUNT 1976) führte jedenfalls in der Biologie unmittelbar in die Katastrophe, da der Lyssenkismus direkte Auswirkungen auf die Landwirtschaft besaß. ANOCHINs Selbstkritik 1950, er habe die ausländische Physiologie überbewertet, signalisiert die gewollte Isolierung, um dem ideologischen Vorwurf des "Kosmopolitismus" zu entgehen. Wahrscheinlich konnte sich die PAWLOWsche Reflexkonzeption, die sich unter RUBINSTEINs Feder wie ein Chamäleon in das Prinzip der reflektorischen Tätigkeit wandelte, nicht zuletzt dadurch als einzige von den durch die stalinistische Wissenschaftspolitik geförderte Konzeption halten, da sie von Philosophen betrieben und derart abstrakt formuliert wurde, daß diese auch selbst damit überleben konnten und keine praktischen Konsequenzen zu befürchten waren. Die zunächst intensiv geforderten, vor allem von TEPLOW und NEBYLITSCHYN betriebene Persönlichkeitsforschung auf Grundlage der von PAWLOW postulierten Nerven- und Persönlichkeitstypen wurden z.B. nach ca. 10 Jahren einfach als "unergiebig" eingestellt. Allgemeine Übereinstimmung besteht deshalb z.B. auch darin, daß es bei "Sein und Bewußtsein" (1957) sich um eine "philosophisch-psychologische Arbeit" (HIEBSCH 1961) handelt Wenn die innere Logik der psychologischen Theorienbildung auch die "reflektorische Tätigkeit" als allgemeinsten Charakteristika des Psychischen noch einige Jahrzehnte zu transportieren vermag, so existieren gegenwärtig entscheidende Veränderungen in den externen Faktoren, die möglicherweise nachhaltige Auswirkungen auch auf die Rezeption der Psychologiegeschichte 108

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzep

in der SU haben können. Die von RUBINSTEIN in "Sein und Bewußtsein", das von einigen Autoren immerhin als Standardwerk der sowjetischen Psychologie angesehen wird, entwickelten Thesen über die Funktion der reflektorischen Tätigkeit im allgemeinen und der psychischen Reflexfunktion im besonderen, sind schon deshalb schwierig zu widerlegen; da die Menge der Fehler, die allein mit dem Begriff "Physiologie" verbunden sind, das kritikmögliche Ausmaß überschreitet. Ein Fehlermechanismus ist allerdings leicht durchschaubar: er besteht in der Gleichsetzung der Lehre der höheren Nerventätigkeit mit der Einzelwissenschaft Physiologie. Da diese wiederum allerdings PAWLOWs "echte Physiologie" überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, reduziert sich RUBINSTEINs Verständnis von Physiologie auf das Wissenschaftsverständnis. PAWLOWs Verhaltensphysiologie, Neurobiologie oder Neurophysiologie existieren nicht, wenn RUBINSTEIN von Physiologie spricht. Komplizierter als die Abwesenheit der wissenschaftlichen Physiologie ist die Scholastik der philosophischen Begründungsthesen der reflektorischen Tätigkeits- und Bewußtseinstheorie RUBINSTEINs nachzuweisen. Dies ist aber aus zwei Gründen von prinzipiellerer Bedeutung. Einmal ist die reflektorische Bewußtseinstheorie auch in zahlreichen Wörter- und Lehrbüchern aufgenommen worden, die ihrerseits mit dem Anspruch des dialektischen Materialismus (KOSING 1975) auftreten. Zum anderen führt die Verknüpfung Reflex-, Bewußtseins- und Tätigkeitsbegriff zu einem physiologischen Reduktionismus, der auch die Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule teilweise erfaßt und schließlich setzt mit RUBINSTEINs Verknüpfung von Reflex- und Widerspiegelungsbegriff ein theoretischer Abstieg der Widerspiegelungstheorie ein, die als Weiterentwicklung der Abbildvorstellung gerade mechanistischen Spiegelungsvorstellungen entgangen war. Zwei Zitate, die der gleichen Seite in "Sein und Bewußtsein" entstammen, können die fatale Begründungslogik, in der außer dem Reflexterminus alle Begriffe variieren, verdeutlichen: "Die Auffassung der psychischen Tätigkeit als eines reflektorischen Vorgangs ist das notwendige Bindeglied zwischen der These, daß die psychische Tätigkeit einerseits als Hirntätigkeit und andererseits als Widerspiegelung der Welt zu betrachten ist" (50,192) und "Die reflektorisch Konzeption ist damit letzten Endes nichts anderes als die Anwendungs des deterministischen Prinzips auf die Hirntätigkeit." (50,192) Die Zitatenfolge zeigt die reduktionistische Wirkung des Reflexkonzepts, das den Tätigkeitsbegriff in die PAWLOWschen Gesetzmäßigkeiten der Hirntätigkeit, die aber keine sind, untersetzt. Andererseits verwendet RUBINSTEIN auch einen von MARX abgeleiteten Tätigkeitsbegriff, ohne das Verhältnis zum Arbeitsvorgang allerdings überzeugend zu entwickeln. Ebenso 109

Volker Schurig wie der Reflexterminus - der als Träger einer bestimmten mechanischen, aber als "dialektisch" ausgegebenen Determinusauffassung philosophisch übersteuert ist - zu wesentlich komplexeren Prozesen in Beziehung gesetzt wird und diese zwangsläufig wie z.B. den Widerspiegelungsprozeß mechanisiert, wird umgekehrt der Tätigkeitsbegriff auch auf das physiologische Funktionsniveau heruntergeschraubt In dem Wortspiel der "reflektorischen Tätigkeit", erkauft mit einer neuen Metaphysik des Reflexbegriffs und einer Physiologisierung des Tätigkeitsbegriffs, gelingt es RUBINSTEIN scheinbar, beide Paradigmen der sowjetischen Psychologie zu vereinheitlichen. Tatsächlich hält aber weder der Tätigkeitsbegriff den pseudo-physiologischen Ballast des PAWLOWschen Reflexbegriff aus noch kann das Reflexparadigma als "Tätigkeit" ernsthaft umformuliert werden. Noch auffälliger ist der theoretische Substanzverlust des methodologisch«! Instrumentariums dieser Begriffsoperationen, des dialektischen Materialismus: "Ebenso wie die innere Logik der Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus gesetzmäßig zur reflektorischen Auffassung von der Hirntätigkeit führt, so führt diese natürlicherweise zu der Auffassung von der psychischen Tätigkeit als einer Widerspiegelungstätigkeit" (50,192). Interessant an diesem Zitat ist vor allem die kompakte Vernetzung von Kategorien durch Metapher wie "innere Logik", "gesetzmäßig" oder "natürlicherweise", die den Voluntarismus der RUBINSTEINschen Begriffsspiele nur notdürftig überdecken. Aufschlußreich für die tiefgreifende Wirkung des Neopawlowianismus der STALIN-Ära über diese Periode hinaus ist die Terminologie einer weiteren Forschergeneration (BURES 1974, BUDILOWA 1975), deren favorisiertes Kategorienpaar nun aber nicht mehr bloß Physiologisches und Psychisches, sondern bereits verallgemeinert Biologisches und Soziales heißt. Diese "biologische" Weiterentwicklung wirft aber nur ein Schlaglicht auf ein weiteres grundsätzliches Defizit der PAWLOWschen und RUBINSTEINsschen Reflexpsychologie: ihr Ausschließungsverhältnis zum Darwinismus und der Evolutionstheorie, was die vermeintliche naturwissenschaftliche Fundierung der "reflektorischen Tätigkeit" erneut als eine abstrakte Physiologie kennzeichnet. Die eher beiläufigen, in einem Analogievergleich der Theorienentwicklung hergestellten Beziehungen zu DARWIN und dem Neodarwinismus in "Sein und Bewußtsein" zeigen dann auch alle Merkmale der Unkenntnis und einen latenten Lyssenkismus: RUBINSTEIN polemisiert hier die Erklärung von Anpassungen als Folge der natürlichen Auslese und wendet sich gegen die Erklärung der Variabilität durch Mutationen. Das Fehlen der DARWINistischen Evolutionstheorie seit Beginn an ist vielleicht das auffälligste Merkmal des von RUBINSTEIN lautstark beklagten "Provinzialismus" der sowjetischen Psychologie. 110

Reflextheorie versus Tätigkeitskonzept Entscheidend für eine Aufhebung des bisherigen Paradigmengleichgewichtes in der sowjetischen Psychologie dürfte aber nicht die Aufdeckung dieser und weiterer theoretischer Defizite sein, sondern eine Umpolung der bisherigen Schrittmachenolle externer Faktoren von der Legalisierung zu Kritik PAWLOWs. Es ist keineswegs ein Naturgesetz, daß die PAWLOWianisierung der Physiologie und Psychologie nur gefördert wird, sondern dieser Prozeß kann durchaus auch selbst wieder Gegenstand einer "offiziell" geforderten Wissenschaftskritik werden.

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Peter Keiler

Von der Schwierigkeit, in der Psychologie Marxist zu sein 1.

Vorbemerkung

Die Einsicht, daß für den Aufbau einer materialistischen Psychologie die systematische Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Philosophie eine notwendige Bedingung ist, gehört innerhalb der Kritischen Psychologie zu den Erkenntnissen jüngeren Datums. Sie wurde gewonnen im Zusammenhang der Bemühungen, sich Klarheit über die inhaltlichen und methodischen Voraussetzungen einer Psychologie zu verschaffen, die mit dem Anspruch auftritt, einen Beitrag zum "inneren Ausbau" des historischen und dialektischen Materialismus zu leisten. Im vorliegenden Beitrag wird es allerdings nicht (wie in der Vorbereitung der Ringvorlesung ursprünglich geplant) darum gehen, bereits en detail die Konsequenzen und Perspektiven zu erläutern, die sich aus der Einsicht ergeben, daß die psychologische Dimension des Marxismus ohne Rückgriff auf die deutsche Klassik (d.h. jene philosophische Tradition, die bei I.KANT beginnt, in G.W.F.HEGEL ihren Höhepunkt hat und ihren Abschluß in L. FEUERBACH findet) weder richtig erfaßt noch weiterentwickelt werden kann. Vielmehr soll versucht werden, in Reflexion auf den umfassenderen wissenschaftshistorischen Zusammenhang, in den die Kritische Psychologie ihrem eigenen Selbstverständnis nach einzuordnen ist, verständlich zu machen, warum diese Einsicht eben nicht schon von vornherein zu den Voraussetzungen der Kritischen Psychologie gehörte, sondern eines ihrer Resultate ist - und zwar ein Resultat, das nicht in direktem Zugriff, sondern gewissermaßen erst auf Umwegen erreicht werden konnte.

2. Das Verhältnis von Psychologie und Marxismus als methodologisch Grundproblem

2.1 Bekanntlich ist die Frage nach dem Stellenwert der Psychologie im Rahmen des "inneren Ausbaus" des historischen und dialektischen Materialismus bzw., allgemeiner gefaßt, die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Marxismus für die Kritische Psychologie kein randständiges, sondern ein zentrales methodologisches Problem* darüberhinaus ein Problem, das uns von Anfang an beschäftigt hat 115

Peter Keiler Allerdings: Als wir zu Beginn der 70er Jahre diese Frage aufgriffen, taten wir dies relativ unbefangen. Zum einen waren wir in unserer Kenntnis des Marxismus noch nicht sehr weit fortgeschritten und wußten zudem sehr wenig von den Auseinandersetzungen, die es bereits früher, insbesondere in der Anfangsetappe der sowjetischen Psychologie, zu diesem Thema gegeben hatte; zum anderen schien uns mit der Rezeption bestimmter neuerer Konzeptionen, die so gar nicht in das Schema passen mochten, das man gemeinhin mit dem Etikett "sowjetische Psychologie" in Verbindung brachte, die uns beschäftigende Frage bereits hinreichend beantwortet. War denn nicht der von A.N. LEONTJEW in seinen "Problemen der Entwicklung des Psychischen" vorgelegte Ansatz der augenscheinliche Beweis dafür, daß Marxismus und Psychologie nicht nur sehr wohl miteinander vereinbar, sondern die Grundzüge ihres Verhältnisses zueinander sogar unmittelbar und in eindeutiger Weise aus den psychologisch relevanten Aussagen im MARXschen Werk selbst abzuleiten sind? Und ließ sich dasselbe nicht auch für den französischen Marxisten L.SEVE und sein Buch "Marxismus und Theorie der Persönlichkeit" (1972) sagen? Charakteristisch für diese Einschätzung ist denn auch die These, die K.HÖLZKAMP und V.SCHURIG 1973 in ihrer Einführung in das bereits erwähnte Werk LEONTJEWs formulierten, daß nämlich MARX, wenngleich er auch zu keiner systematischen Ausführung psychologischer Fragestellungen i.e.S. gekommen sei, "dennoch so häufig und an so wichtigen Stellen psychologisch relevante Erkenntnisse zum Ausdruck gebracht" habe, daß dadurch "die Eigenart und Funktion einer zu schaffenden marxistisch fundierten Psychologie eindeutig vorgegeben" seien (vgl. HOLZKAMP & SCHURIG 1973, S.XII). An dieser These ist nun zweierlei bemerkenswert: Erstens ist sie sehr rigoros formuliert, und zweitens stellt sie, ohne daß HOLZKAMP und SCHURIG sich dessen bewußt waren oder dies auch nur im mindestens ahnen konnten, eine nahezu wörtliche Re-Produktion jener These dar, mit welcher ein anderer bekannter sowjetischer Psychologe, nämlich S.L. RUBINSTEIN, genau 40 Jahre vor ihnen seinen berühmten Aufsatz "Probleme der Psychologie in den Arbeiten von KARL MARX" eingeleitet hatte (ein Aufsatz, der Ironie der Wissenschaftsgeschichte - im Jahr 1973 im Rahmen einer RUBINSTEIN-Sammelpublikation erneut veröffentlicht wurde, allerdings in deutscher Sprache erst seit 1979 vorliegt1}. Bei RUBINSTEIN heißt es: "In den Werken von K. MARXfindenwir bekanntlich keine Abhandlungen, die sich speziell mit der Psychologie befassen. In verschiedenen seiner Arbeiten aber hat dieser geniale Geist, sozusagen nebenbei, eine Reihe von Bemerkungen zu verschiedenen Fragen der Psychologie eingestreut. Vertieft man sich in diese vereinzelten Bemerkungen, wird 116

Von der Schwierigkeit,. klar, daß sie - äußerlich nicht systematisiert - doch ein innerlich einheitliches System von Ideen darstellen. In dem Maße, wie ihr Inhalt erschlossen wird, fügen sich diese Bemerkungen zusammen und erweisen sich als geschlossenes Ganzes, das von der Einheit der MARXschen Weltanschauung durchdrungen ist und von ihren Grundlagen ausgeht." Deshalb, so RUBINSTEIN weiter, dürfe man MARX "auch auf dem Gebiet der Psychologie heute nicht als einen großen Repräsentanten der Vergangenheit ansehen, der historisch zu untersuchen und philosophisch zu kommentieren wäre". Vielmehr müsse man ihn "als den gegenwärtigsten unserer Zeitgenossen betrachten" und "vor ihm die aktuellsten Probleme aufwerfen, mit denen sich das zeitgenössische psychologische Denken beschäftigt, um vor allem zu klären, welche Antworten...auf die Kernfragen der Psychologie in den Aussagen von MARX enthalten sind und welche Wege er für den Aufbau der Psychologie vorzeichnet" (zit.n. RUBINSTEIN 1979a, S.ll). Würden die tatsächlichen historischen Umstände nicht eindeutig dagegen sprechen, so könnte man leicht auf den Gedanken verfallen, HOLZKAMP und SCHURIG hätten ihre programmatische These einfach bei RUBINSTEIN abgeschrieben - eine These, die dann nicht nur für die erste Phase der LEONTJEW-Rezeption durch die Kritische Psychologie bestimmend war, sondern auch, zumindest in ihrer Konstituierungsphase, einen wesentlichen Teil ihres eigenen Selbstverständnisses ausmachte 2 . Je mehr sich allerdings Umriß und Binnenstruktur der Kritischen Psychologie als eines eigenständigen Ansatzes herauszubilden begannen, als desto problematischer mußte sich die von HOLZKAMP und SCHÜRIG aufgestellte These erweisen. Zeigte sich doch nicht nur in der Abgrenzung der Kritischen Psychologie von einigen ihr suspekt erscheinenden Auffassungen gerade LEONTJEWs, RUBINSTEINs und SEVEs (vgl. hierzu insbes. H.-OSTERKAMP 1976) sowie in den kontroversen Diskussionen um verschiedene Detailkonzeptionen der Kritischen Psychologie selbst, sondern vor allem auch im Zusammenhang einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Psychologie in der Sowjetunion, daß unter Berufung auf MARX offensichtlich eben nicht nur eine, sondern durchaus unterschiedliche, teilweise sogar einander widersprechende psychologische Konzeptionen möglich sind. Zwar ist damit die Gültigkeit der allgemeinen These, daß psychologische Forschung sehr wohl innerhalb des wissenschaftlichen Sozialismus möglich ist, ihr darüberhinaus sogar eine wichtige Funktion beim "inneren Ausbau" des historischen und dialektischen Materialismus zukomme, nicht im minde117

Peter Keiler sten in Frage gestellt, aber die weitergehende Annahme, daß Eigenart und Funktion einer marxistische fundierten Psychologie bereits im Werk von MARX selbst "eindeutig vorgezeichnet" seien, beruht offensichtlich auf einer Fehleinschätzung. Denn tatsächlich hat sich ja innerhalb der Psychologie eine Reihe unterschiedlicher Traditionen der MARX-Rezeption herausgebildet, von denen jede für sich beansprucht, besser als die anderen den psychologischen Gehalt des Marxismus auszuschöpfen. Daß dabei die bei uns in den letzten 10 bis 12 Jahren stattgehabte Entwicklung eine frappierende Ähnlichkeit mit der Entwicklung innerhalb der sowjetischen Psychologie Mitte der 20er bis Mitte der 30er Jahre aufweist, ist dann im übrigen nur ein weiterer Beweis für die tiefe Wahrheit des alten Historiker-Sprichwortes, daß derjenige, der die Geschichte nicht kennt, dazu verurteilt sei, ihre Fehler zu wiederholen. 2.2 Wahrscheinlich wäre die Entwicklung bei uns anders verlaufen, wenn ursprünglich nicht LEONTJEWs "Probleme des Entwicklung des Psychischen" und SEVEs "Marxismus und Theorie der Persönlichkeit" die Orientierungsgrundlage gebildet hätten, sondern L.S.WYGOTSKIs bereits 1926/27 verfaßtes umfangreiches Essay über die Krise der Psychologie - ein Essay, in welchem er sich auch ausführlich mit den methodologischen Problemen einer sich selbst als "marxistisch" verstehenden Psychologie auseinandersetzt. Leider ist dieses Essay, wie bekannt (vgl. meinen Beitrag über die Anfangsetappe der sowjetischen Psychologie), erst ein knappes Halbjahrhundert nach dem Tode WYGOTSKIs im Rahmen einer WYGOTSKI-Werkausgabe dem breiten Publikum zugänglich gemacht worden und liegt in deutscher Sprache erst seit 1985 vor. So kommt es, daß WYGOTSKIs Erörterung der für seine Zeit und die damaligen Verhältnisse charakteristischen Irrtümer und Mißgriffe heute eben nicht von bloß wissenschaftshistorischem, sondern höchst aktuellem Interesse ist, wir darin einen Katalog von Fehlern vor uns haben, wie sie sich in einem großen Teil von Arbeiten finden, die in den letzten 15 Jahren bei uns von Protagonisten einer sich auf MARX berufenden Psychologie (Vertreter der Kritischen Psychologie nicht ausgenommen) verfaßt worden sind. Gerade wegen dieser erstaunlichen (um nicht zu sagen: erschreckenden) Aktualität der Kritik WYGOTSKIs an dem seinerzeit in der Sowjetunion sich herausbildenden "System der marxistischen Psychologie" halte ich es für angebracht, diese Kritik im folgenden etwas ausführlicher und im Wortlaut zur Kenntnis zu geben. WYGOTSKI beginnt mit der Feststellung, daß es schwer sei, "das vor unseren Augen entstehende System da* marxistischen Psychologie" zu analysieren, da es "noch keine eigene Methodologie" besitze, sondern versuche, "sie 118

Von der Schwierigkeit,... als etwas Fertiges zufälligen psychologischen Äußerungen der Begründer des Marxismus zu entnehmen", und fährt fort: "Eine fertige Formel des Psychischen in fremden Werkenfindenzu wollen hieße jedoch, eine Wissenschaft vor der eigentlichen Wissenschaft zu fordern. Hinweisen muß man auf die Verschiedenartigkeit des Materials, das Fragmentarische daran, den Bedeutungswandel eines Satzes außerhalb seines ursprünglichen Kontextes, den polemischen Charakter der meisten Äußerungen, die als Widerlegung eines falschen Gedankens richtig sind, aber leere Allgemeinplätze bleiben, wenn es um die positive Definition einer Aufgabe geht. Von einer solchen Arbeit ist keinesfalls mehr zu erwarten als eine Anhäufung mehr oder minder zufälliger Zitate und deren talmudistische Deutung. Zitate, auch in die beste Ordnung gebracht, ergeben niemals ein System." (zit.n. WYGOTSKI 1985, S.216) Ein weitere formaler Mangel, so WYGOTSKI, bestehe darin, "daß bei solchen Untersuchungen zwei Ziele vermengt werden" (a.a.O., S.216 f.). Eine Sache sei es, "die marxistische Lehre vom historisch-philosophischen Standpunkt aus zu betrachten", eine völlig andere, "bestimmte Probleme, die von dem jeweiligen Denker aufgeworfen wurden, an sich zu untersuchen". Verflechte man das eine mit dem anderen, so verdoppele sich das Übel: Zum einen wird das betreffende Problem nicht grundsätzlich angegangen, sondern nur in dem Umfang und den Ausschnitten, wie es der jeweilige Autor "beiläufig und in ganz anderem Zusammenhang erwähnt hat; die auf diese Weise verzerrte Fragestellung berührt nur zufällige Seiten, trifft nicht ins Schwarze, erschließt das Problem nicht so, wie es notwendig wäre. Die Angst vor verbalem Widerspruch führt zu einem Wirrwar von erkenntnistheoretischen und methodologischen Gesichtspunkten usf. Aber auch das zweite Ziel, das Ziel, den Autor zu studieren, wird auf diese Weise nicht erreicht, weil man ihn, ohne dessen gewahr zu werden, modernisiert, in die heutige Diskussion einbezieht und, was das Schlimmste ist, ihn aufs gröbste entstellt, indem man Zitate aus verschiedenen Stellen willkürlich zu einem System zusammenfügt Wir können dazu sagen: Man sucht erstens nicht dort, wo man sollte, zweitens nicht das, was nottut, drittens nicht so, wie man sollte." (a.a.O., S.217)

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Peter Keiler 2.3 Ob diese Kritik innerhalb der sowjetischen Psychologie etwas bewirkt hätte, wäre sie bereits unmittelbar nach ihrer Abfassung, also Ende der 20er Jahre, publiziert worden, kann natürlich im nachhinein nicht mehr geklärt werden jedenfalls verlief die weitere Entwicklung so, als wäre sie nie geschrieben worden.3) Dabei darf jedoch auch der Umstand nicht unterschätzt werden, daß in den 30er Jahren weitere Arbeiten von MARX bzw. MARX und ENGELS veröffentlicht wurden, die WYGOTSKI seinerzeit noch nicht bekainnt waren, wie die erstmals 1932 publizierten "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte", die im gleichen Jahr in deutscher und ein Jahr später in russischer Sprache herausgegebene "Deutsche Ideologie" sowie die in zwei Abteilungen (1939 und 1941) veröffentlichten "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie". Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang dann natürlich die auch unter dem Kurztitel "Pariser Manuskripte" bekanntgewordenen "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844". Ihnen weist RUBINSTEIN in seinem schon erwähnten Aufsatz über psychologische Probleme in den Arbeiten von K.MARX so etwas wie eine Schlüsselfunktion zu. Und noch 25 Jahre später, als er sich ihnen erneut zuwendet, wird er von ihnen sagen, sie seien unter den Werken von MARX die einzige "Arbeit, in der ein ganzes System von Äußerungen enthalten ist, die sich unmittelbar auf die Psychologie beziehen" (zit. nach RUBINSTEIN 1979b, S.33). In der Tat: Nicht nur, daß die "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" eine ganze Reihe von Passagen enthalten, die unbestreitbar etwas mit Psychologie zu tun haben - man denke nur an die häufig zitierte Passage, in welcher MARX den Gedanken entwickelt, daß die menschliche Sinnlichkeit eine Geschichte habe, die Menschlichkeit der Sinne direkt dem Dasein von für den Menschen spezifischen Gegenständen korrespondiere, daher die "Bildung der 5 Sinne ... eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte" sei (MEW EB I, S.541 f.) - es gibt darüberhinaus in ihnen auch einen längeren Passus, in welchem sogar zweimal kurz hintereinander express is verbis von "Psychologie" die Rede ist. Da er einen wichtigen Bezugspunkt für unsere weiteren Erörterungen bildet, soll auch er hier etwas ausführlicher und wörtlich wiedergegeben werden. MARX schreibt "Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das auf geschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer äußern Nützlichkeitsbezie120

Von der Schwierigkeit,...

hung gefaßt wurde, weil man - innerhalb der Entfremdung sich bewegend - nur das allgemeine Dasein des Menschen, die Religion, oder die Geschichte in ihrem abstrakt-allgemeinen Wesen, als Politik, Kunst, Literatur etc., als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte und als menschliche Gattungsakte zu fassen wußte. In der gewöhnlichen, materiellen Industrie (...) haben wir unter der Form sinnlicher, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Entfremdung, die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns. Eine Psychologie für welche dies Buch, also grade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, kann nicht zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden. Was soll man überhaupt von einer Wissenschaft denken, die von diesem großen Teil der menschlichen Arbeit vornehm abstrahiert und nicht in sich selbst ihre Unvollständigkeit fühlt, solange ein so ausgebreiteter Reichtum des menschlichen Wirkens ihr nichts sagt, als etwa, was man in einem Wort sagen kann: 'Bedürfnis', 'gemeines Bedürfmsi'? - (...) bis Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhältnis der Natur und daher der Naturwissenschaft zum Menschen; wird sie daher als exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte gefaßt, so wird auch das menschliche Wesen der Natur oder das natürliche Wesen des Menschen verslanden..." (MEW EB I, S.242 f.) Kein Zweifel: MARX formuliert in diesem Passus eine Anzahl von Thesen, die für die Psychologie von unmittelbarem Interesse sind. Allerdings handelt es sich dabei um Thesen, die weit eher einen formal-methodischen Charakter haben, als daß man aus ihnen kovkxoi-inhaltliche Aussagen etwa über das "menschliche Wesen" oder die "menschliche Natur" oder die Bedeutung der Arbeit für die Persönlichkeitsentwicklung ableiten könnte. Andererseits eignen sie sich, wie wir in der Folge sehen werden, recht gut dafür, eine Reihe konkret-inhaltlicher psychologischer Aussagen in sie hineinzulesen und so die unterschiedlichsten psychologischen Detailkonzeptionen zu rechtfertigen. Und dies um so mehr, je weniger man den tatsächlichen Diskussionszusammenhang berücksichtigt, in welchem die "Pariser Manuskripte" entstanden sind, man sie stattdessen, um die Worte WYGOTSKIs zu gebrauchen, "modernisiert, in die heutige Diskussion einbezieht" bzw., wie RUBINSTEIN es ausdrückt, MARX "als den gegenwärtigsten unserer Zeitgenossen betrachtet" und bei ihm die Lösung für die "aktuellsten Probleme, mit denen sich das zeitgenössische psychologische Denken beschäftigt", sucht Und unter eben dieser Perspektive geht RUBINSTEIN an die "Pariser Manuskripte" heran. In ihnen scheint ihm der Weg vorgezeichnet zu sein, um jene "Krise der Psychologie" zu bewältigen, mit der sich auch bereits WY121

Peter Keiler GOTSKI in seinem Essay von 1926/27 auseinandergesetzt hatte. Bestand für WYGOTSKI die Ursache dieser Krise darin, daß die Psychologie ständig zwischen Idealismus und Materialismus lavierte, und sah er die Überwindung dieser Krise als direkt abhängig von der konsequenten Durchsetzung einer materialistischen Orientierung, so ging sie für RUBINSTEIN darauf zurück, daß sich innerhalb der modernen Psychologie drei methodische Grundsätze unversöhnlich gegenüberstanden, von denen der erste, der introspektionistische Ansatz, eine Psychologie aufzubauen versuchte, "ohne die Tätigkeit des Menschen zu berücksichtigen", während der zweite, der Behaviorismus, versuchte, "eine Psychologie ohne Psychisches aufzubauen", und der dritte schließlich, die sogenannte "geisteswissenschaftliche Psychologie", zwar die durch seine "Beziehung zur Kultur, zur Ideologie" vermittelte Existenz des Bewußtseins anerkannte, dabei jedoch eine "falsche Auffassung der Tätigkeit des Menschen" zugrundelegte, so daß, dies die Schlußfolgerung RUBINSTEINs, die Überwindung der Krise nur in einer "radikale(n) Änderung der Auffassung des Bewußtseins und der Tätigkeit des Menschen selbst, untrennbar verknüpft mit einer neuen Auffassung ihrer Wechselbeziehung", liegen konnte. Und eben dieser Weg, so seine Hauptthese, werde "in den Aussagen von K.MARX zur Psychologie mit absoluter Bestimmtheit gewiesen", deuteten sie doch "klar eine Auffassung sowohl des Bewußtseins als auch der Tätigkeit des Menschen an, die deren Trennung vom Grunde her überwindet und die Basis für den Aufbau einer marxistisch-leninistischen Psychologie als einer 'wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft' herbeiführt" (RUBINSTEIN 1979a, S.15). Der Ausgangspunkt bei alledem sei "die MARXsche Konzeption der menschlichen Tätigkeit". Diese bestimme er in den "Pariser Manuskripten" "unter Verwendung der Terminologie HEGELs ... als Vergegenständlichung des Subjekts, die zugleich auch Entgegenständlichung des Objekts" sei. "Für K.MARX", so RUBINSTEIN weiter, "ist die gesamte Tätigkeit des Menschen die Vergegenständlichung selbst oder, anders gesagt, der Prozeß der objektiven Äußerung seiner Wesenskräfte'. Bei der Analyse der Arbeit im 'Kapital' sagte MARX einfach, daß in der Arbeit 'das Subjekt in das Objekt übergeht'. Die Tätigkeit des Menschen ist also keine Reaktion auf einen äußeren Reiz, sie ist nicht das Tun, wie es die äußere Operation des Subjekts an einem Objekt ist, - sie ist 'der Übergang des Subjekts in das Objekt'. Damit aber schließt sich die Verbindung nicht nur zwischen dem Subjekt und seiner Tätigkeit, sondern auch die Verbindung zwischen der Tätigkeit und ihren Produkten. (...) Sofern die Tätigkeit des Menschen seine Vergegenständlichung, Objektivierung oder der Übergang des Subjekts in das Objekt, 122

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die Offenbarung seiner Fähigkeiten, seiner Wesenskräfte, darunter seiner Sinne, seines Bewußtseins in den Objekten ist, ist das gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende Psychologie (...). daher kann 'eine Psychologie, für welche dies Buch, also grade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, ... nicht zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden* (...)." (RUBINSTEIN 1979a, S.15 f.) Zu alledem ist nun dreierlei zu bemerken: RUBINSTEIN realisiert bereits hier eine Methode der MARX-Exegese, die er dann 25 Jahre später als die einzig legitime postulieren wird, nämlich die "Pariser Manuskripte" "im Lichte" späterer Arbeiten von MARX, insbesondere des "Kapital" zu interpretieren (vgl. hierzu 1979b, S.33, Fußn. 1). Auf der Grundlage dieser "Kollage" aus "Kapital" und "Pariser Manuskripten" führt RUBINSTEIN nicht nur das für die sowjetische Psychologie bis in die Gegenwart verbindliche "Prinzip der Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit" ein (vgl. hierzu BRUSCHLINSKI a.a.O., S.202 f.), sondern er steckt hier auch bereits die wesentlichen Parameter einer Konzeption der menschlichen Tätigkeit ab, die seit Mitte der 70er Jahre auch bei uns viele Anhänger gefunden hat, dabei allerdings weniger mit seinem Namen als vielmehr gewöhnlich mit dem Namen LEONTJEWs verknüpft wird. Das von RUBINSTEIN praktizierte Verfahren, einen Ausweg aus der "Krise der Psychologie" im direkten Rückgriff auf MARX zu suchen, stellt nicht etwa eine glänzende Widerlegung der von WYGOTSKI formulierten Kritik dar, sondern im Gegenteil: Es läßt, wie gleich zu zeigen sein wird, die Berechtigung der Kritik WYGOTSKIs nur noch deutlicher werden. Ein Mißverständnis und seine Folgen

3.1 Der springende Punkt der RUBINSTEINschen Konstruktion ist ja die konzeptionelle Gleichsetzung von "Vergegenständlichung" und "Übergang des Subjekts in das Objekt". Und so ist zu fragen, wie RUBINSTEIN überhaupt auf diese Gleichsetzung kommt, umso mehr, als sich seine Behauptung , daß MARX im "Kapital" die Arbeit als "Übergang des Subjekts in das Objekt" charakterisiere, nicht verifizieren läßt und eine entsprechende Formulierung sich auch in den "Pariser Manuskripten" nichtfindet.Darüberhinaus gibt es 123

Peter Keiler nirgendwo Anzeichen dafür, daß RUBINSTEIN ernsthaft versucht hätte, die genaue Herkunft des Terminus "Vergegenständlichung" aufzuklären und die spezifische Bedeutung, die er bei MARX hat, zu untersuchen. Stattdessen scheint er ihm eine Bedeutung beizulegen, die dem Konzept der "Objektivierung" entlehnt ist, wie es innerhalb der von ihm erwähnten "geisteswissenschaftlichen Psychologie", die ja nicht nur im deutschsprachigen Raum von erheblichem Einfluß war, sondern auch in der jungen sowjetischen Psychologie eingehend diskutiert wurde, an zentraler Stelle verwendet wird. Begründer dieser Richtung war W.DILTHEY, der unter Berufung auf HEGEL bei gleichzeitiger Abhebung von ihm und Vermischung der HEGELschen Philosophie mit Elementen der Philosophie F.E.D.SCHLEIERMACHERs konsequent das Prinzip der Geschichtlichkeit der menschlichen Psyche verfocht. Mit seinen Auffassungen hatte sich auch WYGOTSKI in seinem Essay über die "Krise der Psychologie" ausführlich beschäftigt und daraufhingewiesen, daß für die "russischen Idealisten" DILTHEYs "These von der Psychologie" eine These war, "die der mechanistischen Auffassung des historischen Prozesses entgegensteht" (WYGOTSKI a.a.O., S.224). Und in MJAROSCHEWSKIs Rezension der 1983 erschienenen "Ausgewählten psychologischen Werke" A.N.LEONTJEWS findet sich der interessante Hinweis, daß "die historische Betrachtungsweise der Psyche in der sowjetischen Wissenschaft" nicht zuletzt aus der "Überwindung des idealistischen Ansatzes" von W.DILTHEY hervorgegangen sei, der "seiner Verstehenden Psychologie' einen eigenwillig interpretierten Hegeischen Historismus zugrunde gelegt" habe, "indem er das Erleben des Menschen mit dem in den Werken der Kultur verkörperten Leben des Geistes in Verbindung brachte" (JAROSCHEWSKI 1985, S.550). Nachfolgend ein paar Auszüge aus verschiedenen Arbeiten DILTHEYs, beginnend mit jenem Aufsatz, aus dem auch WYGOTSKI in seinem Essay mehrfach zitiert. Er stammt aus dem Jahr 1894 und trägt den Titel "Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie". Hier lesen wir über die Methoden der Psychologie folgendes: "Die Psychologie ist aber darauf angewiesen, die Mängel der einzelnen Hilfsmittel gegeneinander zu kompensieren. So verbindet sie Wahrnehmung und Beobachtung unserer selbst, Auffassung anderer Personen, vergleichendes Verfahren, Experiment, Studium der anomalen Erscheinungen. Durch viele Tore sucht sie den Eingang in das Seelenleben. Eine sehr wichtige Ergänzung aller dieser Methoden, sofern sie mit Vorgängen sich beschäftigen, ist die Benutzung der gegenständlichen Produkte des psychischen Lebens. In der Sprache, in dem Mythos, der Literatur und Kunst, überhaupt in allen geschichtlichen Leistungen 124

Von der Schwierigkeit,... haben wir gleichsam gegenständlich gewordenes psychisches Leben vor uns: Produkte der wirkenden Kräfte, welche psychischer Natur sind: feste Gestalten, welche sich aus psychischen Bestandteilen und nach deren Gesetzen aufbauten." (ziL nach DILTHEY1924, S.199 f.) In einer Arbeit aus dem Jahr 1895/96 ("Über vergleichende Psychologie. Beiträge zum Studium der Individualität") heißt es dann, die spezifische Methode der Geisteswissenschaften bestehe "allererst und hauptsächlich" darin, "die sich unermeßlich ausbreitende geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie nur in ihrem äußeren Erscheinen oder in Wirkungen oder als bloßes Produkt, als objektivierter Niederschlag von Leben uns gegeben ist", zurückzuübersetzen "in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen ist" (zit. nach DILTHEY 1924, S.265). Im "Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" (erstmals publiziert 1910) ist dann die Rede von den "beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden" (zit. nach DILTHEY 1927a, S.86), wird davon gesprochen, daß "die Werke, in welche Leben und Geist sich hineinverlegt haben, das äußere Reich des Geistes (bilden)" (a.a.O., S.146). Denn: "Der Geist hat sich in ihnen objektiviert, Zwecke haben sich in ihnen gebildet, Werte sind in ihnen verwirklicht, und eben dies Geistige, daß in sie hineingebildet ist, erfaßt das Verstehen." (S.118) Weiter: "Durch die Idee der Objektivation des Lebens erst gewinnen wir einen Einblick in das Wesen des Geschichtlichen. Alles ist hier durch geistiges Tun entstanden und trägt daher den Charakter der Historizität (...) Von der Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße, dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Gerichtsgebäude ist um uns stündlich geschichtlich Gewordenes. Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seihe Lebensäußerung, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte." (S.147) So ist denn, wie es in dem erstmals 1927 aus dem Nachlaß DILTHEYs publizierten "Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" heißt, "in diesem objektiven Geist die Vergangenheit dauernde beständige Gegenwart für uns", und es ist "diese Welt des objektiven Geistes", aus der "von der ersten Kindheit ab unser Selbst seine Nahrung (empfängt)*: (zit. nach DILTHEY 1927b, S.208). So weit DILTHEY. Wenn sich nun bei RUBINSTEIN die Einschätzung findet, daß "die Verirrung der geisteswissenschaftlichen Psychologie ...nicht in der Anerkennung der Mittelbarkeit des Bewußtseins durch seine Beziehung zur Kultur, zur 125

Peter Keiler Ideologie" bestehe, "sondern darin, wie sie diese Beziehung auslegt", indem sie von einer "falschen Auffassung der Tätigkeit des Menschen" ausgeht (vgl.RUBINSTEIN 1979a, S. 15), so fragt sich doch, worin denn wohl der wesentliche Unterschied zwischen der als "falsch" klassifizierten Auffassung DILTHEYs und der als "richtig" unterstellten, sich auf MARX berufenden Auffassung RUBINSTEINs von der menschlichen Tätigkeit liege, da sie ja offensichtlich entscheidende Gemeinsamkeiten aufweisen, bei RUBINSTEIN ebenso wie bei DILTHEY das Konzept der "Objektivierung" im Mittelpunkt steht, dazu bei beiden "Objektivierung" konzeptionell gleichbedeutend mit "Übergang des Subjekts in das Objekt" ist Gewiß, DILTHEY hatte aus methodischen Erwägungen heraus bestimmte Einschränkungen gemacht und darauf hingewiesen, daß das "was aus dem Leben des Tages entspringt,... unter der Macht seiner Interessen" stehe, so daß auch die "Deutung" dessen, "was beständig der Vergänglichkeit anheimfällt, ... von der Stunde bestimmt", d.h. der Möglichkeit der Täuschung unterworfen sei, wohingegen "in großen Werken ein Geistiges sich loslöst von seinem Schöpfer, dem Dichter, Künstler, Schriftsteller", so daß es hier keine Täuschung geben könne (vgl. DILTHEY 1927b, S.206 f.). Aber es kann doch nicht im Ernst von einer "Überwindung des idealistischen Ansatzes" DILTHEYs die Rede sein, wenn man ihm, unter Berufung auf MARX, entgegenhält, ein "Übergang des Subjekts in das Objekt" finde eben nicht nur in der "höheren Arbeit" (DILTHEY), sondern in der"gesamten Tätigkeit des Menschen" statt, so daß auch in der "gewöhnlichen, materiellen Industrie" und nicht bloß in der "Kunst, Literatur etc." ein "Geistiges sich loslöst von seinem Schöpfer" und sich "in die Werke hineinverlegt". Das eine ist doch Idealismus genausogut wie das andere. 3.2 Dabei ist es gar nicht so schwierig, herauszufinden, worum es MARX tatsächlich geht, wenn er die "gewöhnliche, materielle Industrie" als das "aufgeschlagene Buch" bzw. die "exoterisehe Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte", die "sinnlich vorliegende menschliche Psychologie" bezeichnet und dabei von "vergegenständlichten Wesenskräften des Menschen" spricht Man braucht dazu nämlich nur jenen Diskussionszusammenhang zu rekonstruieren, in welchem die "Pariser Manuskripte" real-historisch entstanden sind und den Autor zu identifizieren, mit dem MARX sich in der betreffenden Passage kritisch auseinandersetzt Dieser Autor, das geht aus dem Gesamtzusammenhang hervor, ist niemand anderer, als L.FEUERBACH, von dem im übrigen auch der Terminus "Vergegenständlichung" stammt In seinen theologie- und religionskritischen 126

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Schriften (vgl. insbes. sein erstmals 1841 veröffentlichtes Hauptwerk "Das Wesen des Christentums", GW 5) hatte er die Vorstellungen, die sich die Menschen von Gott machen, als "Vergegenständlichung" des menschlichen Wesens, d.h. des Wesens der menschlichen Gattung dechiffriert bzw. er hatte, wie FJjNGELS es später formulieren wird, erkannt, daß "die höhern Wesen, die unsere religiöse Phantasie erschuf, nur die phantastische RückSpiegelung unseres eigenen Wesens (sind)" (vgl. MEW Bd.21, S.272). Wenn daher» wie es in seiner 1843 publizierten Schrift "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" heißt, "das Objekt der Theologie nichts andres ist als das vergegenständlichte Wesen des Subjektes, des Menschen" (vgl. GW 9, S. 312), kann folgerichtig eine kritisch betriebene Religionsphilosophie "in ihren niedern Teilen" als "esoterische Anthropologie" und "in ihren höhern Teilen" als "esoterische Psychologie" aufgefaßt werden (vgl. GW 9, S.240). Dies zugfun delegend, hatte FEUERBACH gefordert, "den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie", mithin "die Anthropologie ..., mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft" zu machen (GW 9, S.337), wa dann aber hinter den mit diesem Postulat gegebenen Möglichkeiten zurückgeblieben, als er direkt anschließend erklärte: "Kunst, Religion, Philosophie oder Wissenschaft sind nur die Erscheinungen oder Offenbarungen des wahren menschlichen Wesens" (ebd.) Und an eben dieser Inkonsequenz FEUERBACHs setzt MARX, an und moniert, daß auch FEUERBACH, obwohl bereits einen entscheidenden Schritt weiter als die übrigen Junghegelianer, nach wie vor in Vorstellungen befangen ist, die theoretischer Ausdruck der Entfremdung des Menschen von seinem "wahren" Wesen sind - einer Entfremdung, die, wie MARX inzwischen bereits erkannt hat, notwendige Konsequenz bestimmter, sich auf das Privateigentum gründender Produktionsverhältnisse ist Der Grundgedanke - MARX entwickelt ihn en detail in seinen ungefähr zeitgleich mit den "Pariser Manuskripten" verfaßten "Glossen zu James Mill" - besteht darin, daß unter der Voraussetzung des zur Warengesellschaft entwickelten Privateigentums die Arbeit mehr und mehr "in die Kategorie einer Erwerbsarbeit" fällt, "bis sie endlich nur mehr diese Bedeutung" hat und es "ganz zufällig und unwesentlich wird, sowohl ob der Produzent in dem Verhältnis des unmittelbaren Genusses und des persönlichen Bedürfnisses zu seinem Produkt steht, als auch ob die Tätigkeit, die Aktion der Arbeit selbst ihm Selbstgenuß seiner Persönlichkeit, die Verwirklichung seiner Naturanlagen und geistigen Zwecke ist" (MEW EB I, S.454). Somit liegt in der Erwerbsarbeit: 127

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"1. Die Entfremdung und Zufälligkeit der Arbeit vom arbeitenden Subjekt; 2. die Entfremdung und Zufälligkeit der Arbeit vom Gegenstand derselben; 3. die Bestimmung des Arbeiters durch die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die ihm aberfremdund ein Zwang sind, dem er sich aus egoistischem Bedürfnis, aus Not unterwirft und die für ihn nur die Bedeutung einer Quelle der Befriedigung für seine Notdurft, wie er für sie nur als Sklave ihrer Bedürfinisse vorhanden ist; 4. daß dem Arbeiter die Erhaltung seiner individuellen Existenz als Zweck seiner Tätigkeit erscheint und sein wirkliches Tun ihm nur als Mittel gilt; daß er sein Leben betätigt, um Lebensmittel zu erwerben." (ebd.) Nun kann aber, wie es weiter heißt, meine Aibeit in meinem Gegenstand nur als das erscheinen, was sie ist, und nicht als das, was sie ihrem Wesen nach nicht ist: "Daher erscheint sie" unter den gegebenen Voraussetzungen (wo sie "mir verhaßt, eine Qual,... darum auch eine nur erzwungene und nur durch eine äußerliche zufällige Not, nicht durch eine innere notwendige Not mir auferlegt(e) (Tätigkeit) ist") auch "nur noch als der gegenständliche, sinnliche, angeschaute und darum über allen Zweifel erhabene Ausdruck meines Selbstverlustes und meiner Ohnmacht." (a.a.O., S.463) Und bei einer solchen Ausgangslage dennoch im "gewordne(n) gegenständliche(n) Dasein der Industrie des aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie" zu sehen, dazu gehört in der Tat viel, nämlich die perspektivische Vorwegnahme einer Gesellschaft, in der, unter Beibehaltung der Arbeitsteilung, sich die arbeitenden Menschen nicht mehr wesentlich als Produzenten von Tauschwerten, sondern wesentlich als Produzenten von Gebrauchswerten aufeinander bezidien, d.h. als Menschen fur Menschen arbeiten: "Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt bejaht. Ich hätte 1. in meiner Produktion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Tätigkeit eine individuelle Lebensäußerung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über allen Zweifel erhabene Macht zu wissen. 2. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu ha128

Von der Schwierigkeit,...

ben, 3. für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen, 4. in meiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar deine Lebensäußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Tätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben. Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete." (a.a.O., S.462 f.) Damit dürfte nun für unser Problem dreierlei klar sein: 1. Soll die Proklamation der "gewöhnlichen materiellen Industrie" zum "auf geschlagnen Buch der menschlichen Wesenskräfte" mehr sein als e polemische Wendung gegen den Standpunkt einer "esoterischen1' (will heißen: lebensfremden) Psychologie, so sind erhebliche Präsizierungen und Differenzierungen notwendig. (Außerdem genügt es nicht einmal bei einem gewöhnlichen Buch, es bloß aufzuschlagen - man muß es auch lesen können.) 2. Für MARX steht die Forderung nach einer Psychologie, die nicht nur in der "Religion, Politik, Kunst, Literatur etc.", sondern auch in der "gewöhnlichen, materiellen Industrie" eine Verwirklichung der menschlichen Wesenskräfte zu sehen vermag, in einem direkten Zusammenhang mit den Bemühungen, die Entfremdung aufzuheben, d.h. neue, humanere gesellschaftliche Verhältnisse durchzusetzen.4* 3. Wenn in diesem Zusammenhang von "Vergegenständlichung" die Rede ist, dann ist damit offensichtlich nicht ein"Übergang des Subjekts in das Objekt" bzw. ein "Sich-hinein-Verlegen des Geistes in die Materie", sondern die Herstellung einer Widerspiegelungsbeziehung zwischen e nem Subjekt und seinem Gegenstand gemeint (wobei, wie deutlich geworden sein dürfte, zu unterscheiden ist zwischen einer Widerspiegelungsbeziehung zum Gegenstand, insofern er Produkt der eigenen Tätigkeit, und einer Widerspiegelungsbeziehung zum Gegenstand, insofern er Gegenstand eines Bedürfnisses bzw. des Genusses ist). 3.3 Daß wir auch nach erfolgter Aufklärung der Irrtümer RUBINSTEINs den Fall nicht einfach zu den Akten legen können, mit dem Vermerk, man habe es hier mit einem besonders eindrucksvollen Beispiel jener Mißgriffe zu tun, die WYGOTSKI in seinem Essay so treffend charakterisiert hat, hängt damit zusammen, daß eben diese Irrtümer 25 Jahre später den Dreh- und Angelpunkt 129

Peter Keiler einer Konzeption bilden, auf die sich dann, wiederum mit einer Zeitverzögerung von 14 Jahren, explizit auch die Kritische Psychologie stützen wird. Gemeint ist die von LEONTJEW erstmals in seinem Aufsatz über die historische Methode in der Psychologie vorgestellte Konzeption, derzufolge die psychische Individualentwicklung des Menschen im wesentlichen in der "Aneignung" der in den Arbeitsprodukten "vergegenständlichten" allgemeinmenschlichen Erfahrungen und Fähigkeiten bestehe. Zwar gibt es Anzeichen, daß LEONTJEW den RUBINSTEIN-Aufsatz über psychologische Probleme in den Arbeiten von K. MARX bereits unmittelbar nach seinem Erscheinen rezipiert hat (vgl. hierzu JAROSCHEWSKI 1985, S.552); direkt erwähnt wird er jedoch von ihm erst 1959, und zwar mit dem Hinweis, daß ihm innerhalb der sowjetischen Psychologie "leider nicht die Beachtung geschenkt (wurde), die ihm gebührte", seines Wissens "die prinzipielle Bedeutung dieser Arbeit nur in einem historischen Oberblick" (gemeint ist B.M.TEPLOWs Aufsatz von 1947 "30 Jahre sowjetische Psychologie") "gewürdigt" worden sei (LEONTJEW 1973, S.271). Und dies scheint denn auch für LEONTJEW ein hinreichender Grund zu sein, bei der Darstellung seiner eigenen Konzeption den Namen RUBINSTEINs unerwähnt zu lassen, obwohl sie inhaltlich, wie wir gleich sehen werden, eine direkte Weiterführung der Gedanken RUBINSTEINs von 1933/34 und eine strikte Anwendung der seinerzeit von ihm propagierten Prinzipien einer psychologisierenden MARX-Exegese ist LEONTJEW schreibt: "Die Arbeit, mit deren Hilfe die Produktion (in ihren beiden Formen in der materiellen und geistigen) vollzogen wird,fixiertsich in ihrem Produkt" (a.a.O., S.279), und fährt fort: "KARL MARX schreibt in diesem Zusammenhang: Was auf Seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf Seiten des Produkts'." (ebd.; zum Zitat im Zitat vgl. MEW Bd.23, S.195) Diese "Umwandlung der Arbeit aus einer Tätigkeitsform in eine Form des Seins" (eine "gegenständliche Form", wie LEONTJEW in Parenthese hinzufügt) lasse sich "von verschiedenen Seiten her und in verschiedener Hinsicht betrachten" (LEONTJEW a.a.O., S.279 f.). Unter psychologischer Perspektive "offenbare" sie sich als "Verkörperung und Vergegenständlichung geistiger Kräfte und Fähigkeiten in den Arbeitsprodukten". Auf diese Weise erschließe "(sich dann) die Geschichte der geistigen und materiellen Kultur als ein Prozeß, der in äußerer, materialisierter Form die Entwicklungsgeschichte menschlicher Fähigkeiten ausdrückt" (S.280). Unter diesem Gesichtspunkt könne dann jeder Schritt, der beispielsweise in der Vervollkommnung und Präzisierung der Werkzeuge getan wurde, als 130

Von der Schwierigkeit, "Ausdruck eines bestimmten Entwicklungsniveaus psychomotorischer Funktionen der Menschenhand" betrachten werden, erscheine die komplizierte Phonetik der Sprachen als "Ausdruck für höher entwikkelte Artikulation und besseres phonematisches Gehör", zeuge die Vervollkommnung des künstlerischen Schaffens "von der ästhetischen Entwicklung der Menschheit". Und so hätten wir "selbst in den einfachsten produzierten Dingen ...vergegenständlichte menschliche Fähigkeiten, ...die Wesenskräfte des Menschen1" vor uns (ebd.). Bei alledem gehe es, wie LEONTJEW unterstreicht, "um psychische Fähigkeiten des Menschen"; denn zwar müsse "der Komplex von Fähigkeiten, die das Individuum bei der Arbeit einsetzt und die im Arbeitsproduktfixiertwerden, ...natürlich auch körperliche Kräfte und Fähigkeiten umfassen", aber diese würden "lediglich" die "spezifische Seite menschlicher Arbeit, die ihren psychologischen Inhalt ausdrückt, ...praktisch realisieren", und eben deshalb, so das Resümee LEONTJEWs, "bezeichnet KARL MARX das gegenständliche Sein der Produktion als Psychologie, die sich unseren Sinnen darbietet" (ebd.). s 3.4 Für uns ist nun nicht nur wichtig, festzuhalten, daß LEONTJEW hier mit einer Zeitverzögerung von 25 Jahren einen "verschollenen" Gedanken RUBINSTEINs wieder aufgreift und ihn konsequent ausbaut (und zwar, wie die diesbezüglichen Textvergleiche zeigen, in direkter Übereinstimmung mit den ursprünglichen Intentionen DILTHEYs 5) ), sondern darüberhinaus auch, gewissermaßen als überfälligen Nachtrag, ein Zitat einbringt, das die Behauptung RUBINSTEINs zu belegen scheint^ im "Kapital" spreche MARX davon, "daß in der Arbeit 'das Subjekt in das Objekt übergeht'". Allerdings erfüllt dieses Zitat bei LEONTJEW nicht etwa die Funktion, RUBINSTEIN in einem problematischen Punkt seiner Konstruktion auszuhelfen, sondern es bildet die Ableitungsgrundlage für eine weiterreichende Konstruktion, und zwar dadurch, daß es auf eine ganz eigentümlicheWeise interpretiert wird. LEONTJEW will den betreffenden Satz nämlich so verstanden wissen, daß der Arbeiter seine psychischen Fähigkeiten buchstäblich in das Arbeitsprodukt überträgt, wo sie - als "ruhende Eigenschaft" - darauf warten, "wiedererweckt" zu werden, und zwar durch einen Prozeß, der dem Prozeß der "Vergegenständlichung" genau entgegengesetzt ist ® Anknüpfungspunkt für diese weitergehende Konstruktion ist jener Satz aus den "Pariser Manuskripten", den auch RUBINSTEIN seinerzeit in voller Länge zitiert hatte: I 131

Peter Keiler "Eine Psychologie, für welche dies Buch, also grade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, kann nicht zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden." "Dieser Gedanke von KARL MARX", so LEONTJEW, sei "in der psychologischen Literatur wiederholt zitiert", allerdings "gewöhnlich nur in engerem, vor allem historischem, genetischem Sinne aufgefaßt" worden. "In Wirklichkeit" sei er jedoch "für die wissenschaftliche Psychologie von allgemeinerer, ja entscheidender Bedeutung"; um diese "völlig zu erschließen", müsse man "allerdings nicht nur die Vergegenständlichung, sondern auch die Aneignung menschlicher Fähigkeiten durch das Individuum betrachten" (LEONTJEW a.a.O.). Im Laufe seiner Individualentwicklung trete nämlich der Mensch "in besondere Beziehungen zu der Welt der Dinge und Erscheinungen, die von den früheren Generationen geschaffen worden sind". Denn: "Die tatsächliche Umwelt, die das menschliche Leben am meisten bestimmt, ist die Welt, die durch die menschliche Tätigkeit umgewandelt wurde. Als eine Welt gesellschaftlicher Gegenstände, die die im Laufe der gesellschaftlich-historischen Praxis gebildeten menschlichen Fähigkeiten verkörpern, wird sie dem Individuum nicht unmittelbar gegeben; in diesen Eigenschaften offenbart sie sich jedem einzelnen Menschen als Aufgabe. Selbst die einfachsten Werkzeuge und Gegenstände des täglichen Bedarfs, denen das Kind begegnet, müssen von ihm in ihrer spezifischen Qualität erschlossen werden. Mit anderen Worten: Das Kind muß an diesen Dingen eine praktische oder kognitive Tätigkeit vollziehen, die der in ihnen verkörperten menschlichen Tätigkeit adäquat (obwohl natürlich mit ihr nicht identisch) ist. In welchem Maße das gelingt und wie weit sich dem Kinde dabei die Bedeutung des gegebenen Gegenstandes oder der gegebenen Erscheinung erschließt, ist ein anderes Problem; es muß jedoch stets diese Tätigkeit vollziehen." (a.a.O., S.281) So ist "die geistige, die psychische Entwicklung einzelner Menschen ...das Produkt eines besonderen Prozesses - der Aneignung -, den es beim Tier nicht gibt, ebenso wie bei diesem auch der entgegengesetzte Vorgang - die Vergegenständlichung von Fähigkeiten in den Produkten der Tätigkeit - nicht existiert" (a.a.O., S.282). Wie man sieht, schöpft LEONTJEW die von RUBINSTEIN eröffnete Möglichkeit voll aus, die "ökonomisch-philosophischen Manuskripte" reflektiert über das "Kapital" und das "Kapital" wiederum reflektiert über die "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" direkt als Ableitungsgrundlage einer i.e.S. psychologischen Konzeption zu instrumentalisieren. Was umso 132

Von der Schwierigkeit,... mehr gerechtfertigt erscheint, als der Ausdruck "Aneignung" in den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" etwa in der gleichen Häufigkeit auftaucht wie der Ausdruck "Vergegenständlichung" und sich an zentraler Stelle auch mehrfach im "Kapital" findet. Allerdings geht LEONTJEW nun noch über RUBINSTEIN hinaus, und zwar dadurch, daß er in seine Konzeption noch einen Passus, genauer gesagt: einen einzelnen, aus dem Zusammenhang herausgelösten Satz aus der "Deutschen Ideologie" einbezieht. Er schreibt nämlich: "Die adäquate Beziehung des Individuums zum Werkzeug äußert sich darin, daß es sich (praktisch oder theoretisch) die in ihmfixiertenOperationen aneignet und seine menschlichen Fähigkeiten daran entwikkelt." (a.a.O., S.283) Und unmittelbar anschließend folgt der Satz aus der "Deutschen Ideologie": "Die Aneignung einer bestimmten Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst." (MEW Bd.3, S.68) Auf diese Weise präsentiert, scheinen sich in der Tat - ganz wie RUBINSTEIN es seinerzeit propagiert hatte - die von MARX "in verschiedenen seiner Arbeiten zu verschiedenen Fragen der Psychologie sozusagen nebenbei eingestreuten Bemerkungen" zu einem "geschlossenen Ganzen" zusammenzufügen, "das von der Einheit der MARXschen Weltanschauung durchdrungen ist und von ihren Grundlagen ausgeht"; und so hat denn die LEONTJEWsche, in der geschilderten Weise mit dem Begriffspaar Vergegenständlichung/ Aneignung operierende Konstruktion ohne nähere kritische Überprüfung auch Eingang in die Kritische Psychologie gefunden (vgl.etwa HOLZKAMP 1973, S.188 ff.). 3.5 Allerdings gab es auch niemanden, der uns auf den bemerkenswerten Sachverhalt hingewiesen hätte, daß diese Konstruktion, bereits kurz nachdem sie LEONTJEW erstmals öffentlich vorgestellt hatte, von keinem Geringeren als RUBINSTEIN selbst aufs heftigste kritisiert worden ist, und zwar mit dem Argument, daß LEONTJEW auf unzulässige Weise zwei gänzlich voneinander verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks "Aneignung" miteinander verquicke. In den "Pariser Manuskripten", auf die LEONTJEW sich bei der Auslegung des MARXschen Aneignungsbegriffs vor allem stütze, sei dieser Begriff noch stark von den "Vorstellungen FEUERBACHs von der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur" geprägt, so daß MARX "'jedes ...der menschlichen Verhältnisse zur Welt - Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben'" als "Aneignung" des Gegenstandes auffasse (vgl. RUBINSTEIN 1979c, S.178 f.; 133

Peter Keiler

zum Zitat im Zitat vgl. MEW EB I, S.539). In dem Maße aber, wie MARX den "abstrakten Naturmenschen FEUERBACHs" überwinde und "den Menschen als 'Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse' zu betrachten" beginne, verknüpfe er den Terminus "Aneignung" thematisch mit der "Beseitigung des Privateigentums, mit der Errichtung des Kommunismus und des gesellschaftlichen Eigentums" (RUBINSTEIN a.a.O., S.179). Bereits in der "Deutschen Ideologie" gewinne so der Aneignungsbegriff einen eindeutig ökonomischen sowie politischen Inhalt Daher habe auch der von LEONTJEW aus dieser Schrift zitierte Satz, wonach die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst sei, in seinem ursprünglichen Zusammenhang einen ganz anderen Sinn als den, welchen LEONTJEW in ihn hineinlese: "Nur durch die proletarische Revolution, durch die Beseitigung des Privateigentums und die Schaffung des gesellschaftlichen Eigentums a den Produktionsinstrumenten kann jene Aneignung' der Produktionsinstrumente vor sich gehen, die gleichbedeutend ist mit der 'Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst'." (RUBINSTEIN a.a.O., S.179) Deshalb, so RUBINSTEIN abschließend, könne man sich auch "nicht auf den von MARX gebrauchten Begriff der 'Aneignung' berufen, um zu begründen, die Bildung von Fähigkeiten bestehe in der Aneignung von Operationen", die in den Werkzeugen "vergegenständlicht" sind; vielmehr müsse man die letztgenannte Konzeption "auf eigene Rechnung und Gefahr vertreten und nach eigenem Ermessen erproben" (ebd.). 4. Neue Perspektiven Auf diese Kritik RUBINSTEINs an LEONTJEW und die sich daraus zwischen LEONTJEW und den Nachfolgern RUBINSTEINs (RUBINSTEIN verstarb, 70jährig, im Januar 1960) entwickelnde Kontroverse zu stoßen, war allerdings nur eine Frage der Zeit, zumal beides in A.BUDILOWAs Buch über philosophische Probleme in der sowjetischen Psychologie recht ausführlich abgehandelt wird und innerhalb der Kritischen Psychologie gegen Ende der 70er Jahre eine intensivere Beschäftigung mit der Geschichte der sowjetischen Psychologie einsetzte (ich selbst hielt mein erstes Seminar über ausgewählte Aspekte der Geschichte der sowjetischen Psychologie im SS 1979 in Bremen ab). Dabei war von vornherein klar, daß die innersowjetische Diskussion um das Aneignungskonzept, wie es LEONTJEW präsentiert hatte, für die Kritische Psychologie unmittelbare Relevanz besaß. Immerhin hatten ja HOLZKAMP und SCHURIG in ihrer Einführung in LEONTJEWs "Probleme der 134

Von der Schwierigkeit,...

Entwicklung des Psychischen" die in der Folge auch den Forschungsansatz der Kritischen Psychologie wesentlich mitbestimmende Auffassung vertreten, daß im "Aneignungs-Begriff", wie LEONTJEW ihn verstehe, "die isoliert-unhistorische Betrachtung der individuellen menschlichen Entwicklung überwunden", das "Aneignungskonzept konstituierendes Merkmal des 'historischen Herangehens an die menschliche Psyche"' sei und es sich deswegen beim Aneignungsbegriff um einen "Grundbegriff marxistisch fundierter Psychologi überhaupt" handele (vgl. a.a.O., S.XXXVm). Da eben dies von RUBINSTEIN in Frage gestellt worden war, und zwar mit Argumenten, die nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden konnten, erwies es sich als notwendig, nicht nur seiner spezifischen Kritik an LEONTJEW genau nachzugehen, sondern auch die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Marxismus noch einmal grundsätzlich neu zu stellen. Dabei setzte sich dann (nicht zuletzt unter dem Eindruck, daß zwar RUBINSTEINs Kritik an LEONTJEW durchaus zutreffend war, andererseits aber auch seine eigene MARX-Rezeption erhebliche Mängel aufwies 7>) mehr und mehr die Einsicht durch, daß die psychologische Dimension des Marxismus nur dann richtig erfaßt und weiterentwickelt werden kann, wenn man den ideengeschichtlichen Zusammenhang des Marxismus mit der klassischen deutschen Philosophie in Rechnung stellt, d.h. auch die von MARX um Ausdruck gebrachten psychologisch relevanten Erkenntnisse als Resultat der, um eine Formulierung von P.RUBEN zu gebrauchen, "konstruktiven Verarbeitung des philosophischen Erbes der deutschen Klassik" (vgl. RUBEN 1976, S.18) begreift. Dies läuft aber, wie sich sehr bald zeigte (vgl. KEILER 1985), darauf hinaus, die prinzipielle Bedeutung der klassischen deutschen Philosophie für eine Begründung der materialistischen Psychologie anzuerkennen, umso mehr als das, was bei MARX nicht selten nur in sehr komprimierter Form erscheint, bei den früheren Autoren gewöhnlich sehr detailliert und präzise (daher auch weit weniger Anlaß zu Mißverständnissen gebend) abgehandelt ist

Anmerkungen 1) 2)

Der Aufsatz war bereits 1933 fertiggestellt, wurde allerdings erst 1934 publiziert, und zwar in der Zeitschrift "Sowjetskaja psichotechnika" (Sowjetpsychotechnik). Exemplarisch verdeutlicht wird dies etwa in meiner Auseinandersetzung mit der seitens einiger Vertreter des "Projektes Klassenanalyse" in Form einer Broschüre publizierten LEONTJEW-Rezension sowie in dem Einführung sVortrag von K. HOLZKAMP zum 1.Internationalen Kongreß Kritische Psychologie "Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben?" (vgl. KEILER 1976, HOLZKAMP 1977).

135

Peter Keiler 3)

4)

5)

Nicht verschwiegen werden soll hier eine von A.W. BRUSCHLINSKI kolportierte "Rüge", die den sowjetischen Psychologen seitens eines "der führenden Philosophen dieser Zeit - DEBORIN" zuteil wurde. In dessen Aufsatz "Ergebnisse und Aufgaben der philosophischen Front" (1930) heißt es: "Höchst merkwürdig und unverständlich ist beispielsweise der Umstand, daß sich die marxistischen Psychologen noch nicht einmal Gedanken über das von MARX auf dem Gebiet der Psychologie empfohlene Vorgehen gemacht haben." (zit. nach BRUSCHLINSKI 1979, S.204). Um dies herauszufinden, ist es im übrigen gar nicht nötig, die "Glossen zu James Mill" heranzuziehen. Tatsächlich genügt es schon, die betreffende Passage der "Pariser Manuskripte" nicht aus dem Textzusammenhang herausgelöst, sondern im Kontext der ihr voraufgehenden Passagen (vgl MEW EB I, S.539 - 542) zu lesen. Es ist daher auch nur folgerichtig, wenn LEONTJEW in einer anderen Arbeit aus dem gleichen Jahr schreibt: "In jedem von Menschen geschaffenen Gegenstand, sei es ein einfaches Werkzeug oder eine moderne elektronische Rechenmaschine, ist die historische Erfahrung der Menschheit enthalten. Zugleich sind in ihm die im Laufe dieser Erfahrung erworbenen geistigen Fähigkeiten verköipert. Das gleiche gilt,

vielleicht noch offensichtlicher, ßr die Sprache, für die Wissenschaf fiir die Kunst." (1973, S.451, Hervorh. P.K.) 6)

7)

136

Daß MARX wiederum etwas ganz anderes meint, nämlich den einfachen Tatbestand, daß jede konkret-nüt2liche Arbeit ein für sie spezifisches Produkt hat, wird sofort deutlich, wenn man den Satz, um den es geht, in seinen Kontext eingliedert: "Im Arbeitsprozeß bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeits gegenständes. Der Prozeß erlischt im Produkt. Sein Produkt ist ein Gebrauchswert, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff. Die Arbeit hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden. Sie ist vergegenständlicht, und der Gegenstand ist veraibeitet. Was auf Seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf Seiten des Produkts. Er hat gesponnen, und das Produkt ist ein Gespinst." (MEW Bd.23, S.195) M.a.W.: Die Spezifik der Tätigkeit spiegelt sich wider in der Spezifik des Produkts. So wird bereits angesichts der falschen Wiedergabe des "Kernsatzes" der 6.Feuerbachthese ("den Menschen als 'Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse' betrachten") der gegen LEONTJEW erhobene Vorwurf einer inadäquaten MARX-Interpretation zum "Bumerang".

Von der Schwierigkeit,...

Literatur: BRUSCHLINSKI, A.W. (1979): Kommentar zu dem Aufsatz S.L. RUBINSTEINs "Probleme der Psychologie in den Arbeiten von Karl Marx". In: RUBINSTEIN, S.L. (1979): Probleme der Allgemeinen Psychologie. Berlin (DDR). DILTHEY, W. (1894): Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. In: Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, V.Band (1924). Leipzig/Berlin. DILTHEY, W. (1895/96): Über vergleichende Psychologie. Beitrage zum Studium der Individualität. In: Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, V.Band (1924). Leipzig/Berlin. DILTHEY, W. (1910): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, VHBand (1927). Leipzig/Berlin. DILTHEY, W. (aus dem handschriftl. Nachl.): Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, VHBand (1927). Leipzig/Berlin. ENGELS, F. ( 1886, 1888): Ludwig Feueibach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: MEW Bd.21 (1973). Berlin (DDR). FEUERBACH, L. (1841): Das Wesen des Christentums. Gesammelte Weike Bd.5 (1984), Berlin (DDR). FEUERBACH, L. (1842): Zur Beurteilung der Schrift "Das Wesen des Christentums". In: Gesammelte Werke Bd.9 (1982). FEUERBACH, L. (1843): Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: Gesammelte Werke Bd.9 (1982). HOLZKÄMP, K. (1973): Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. Frankfurt a.M. HOLZKAMP, K. (1977): Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben? In: HOLZKAMP, K., K.-H. Braun (Hg.) (1977): Bericht über den LKongreß Kritische Psychologie in Marburg, Bd.I: Einführende Referate. Köln. HOLZKAMP, K. , V. SCHURIG (1973): Zur Einführung in A.N.Leontjews "Probleme der Entwicklung des Psychischen". In: LEONTJEW, A.N. (1973): Probleme der Entwicklung des Psychischen. Frankfurt a.M. HOLZKAMP-OSTERKAMP, U. (1976): Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung2. Die Besonderheit menschlicher Bedürfnisse - Problematik und Erkenntnisgehalt der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. JAROSCHEWSKI, M.G. (1985): Rezension von "A.N.Leontjew: Ausgewählte psychologische Arbeiten in zwei Bänden, Moskau 1983". Sowjetwissenschaft, gesellschaftswissenschaftLBeitr. 38, 550 - 554.

137

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138

TEIL II: KATEGORIALE KRITIK WEITERENTWICKLUNG UND ANWENDUNGSGEBIETE

Jens Brockmeier

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? Fragen einer psychologischen Semantik

1. Die Liebe Florentino Arizas oder eine erste Vorstellung vom Phän men und vom Problem psychologischer Bedeutungen Wenn wir nicht wissen, was ein bestimmter Begriff bedeutet, sehen wir im Lexikon nach. Wollen wir die Bedeutung eines Wortes erfahren oder die Geschichte dieser Bedeutung, so können wir uns an ein etymologisches Wörterbuch halten. Und wollen wir schließlich wissen, was das Wort "Bedeutung" bedeutet, so werden wir auf linguistische Handbücher zur Semantik - der Lehre oder Theorie der Bedeutung - und auf die sprachanalytische Philosophie und Logik verwiesen. Das Problem, das ich im folgenden ansprechen möchte, beginnt dort, wo die Auskünfte, die wir hier erwarten können, enden. Es geht um Bedeutung als ein psychologisches Phänomen, genauer gesagt, um Bedeutungen als Gegenstand einer psychologischen Wissenschaft menschlicher Subjektivität. Thematischer und erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt ist dabei nicht die Sprache, das Denken oder die Logik als ein selbständiges und aus sich heraus zu erklärendes System. Er ist vielmehr vorgegeben durch die empirische Subjektivität der menschlichen Individuen, durch ihr Handeln und durch ihre Entwicklung in der Welt. Es geht also um etwas, was es eigentlich noch gar nicht so recht gibt, wie selbst führende Repräsentanten der Sprachpsychologie, die sich des Bedeutungsproblems von Seiten der Psychologie insbesondere annimmt, einräumen, die aus ihrer Sicht der Dinge etwa hinsichtlich der "Analyse der kognitiven Repräsentation von Handlungen" von einem "Defizit der bisherigen Bedeutungsforschung" sprechen (GRIMM & ENGELKAMP, 51). Im Zentrum der Sprachpsychologie, und zwar sowohl deijenigen, die sich an den Modellen der Linguistik orientiert, wie derjenigen, die diese enge Orientierung zu überwinden sucht, steht nämlich fast ausschließlich die Untersuchung der kognitiven bzw. mentalen Prozesse der "Verarbeitung von Grammatikalität" und der in diesem innergrammatfkalischen Zusammenhang als Bedeutung verstandenen Einheiten. Fast kann man sogar meinen, jener Haltung, die Hans HÖRMANN einmal für die klassisch strukturaliätische Sprachwissenschaft als "Abscheu vor allem, was mit Bedeutung (als dem Verhältnis zwischen Sprache und außersprachlichen Wirklichkeit) zu tun hat", charakterisierte, und die später dazu führte, die Semantik in die Rolle einer weit entfernten "armen Ver141

Jens Brockmeier wandten" der Syntax abzuschieben (HÖRMANN 1976, 60/61), auch in der Psychologie wiederzubegegnen. Dies wird besonders deutlich, wenn Bedeutung als ein Problemfeld begriffen werden soll, das sich über linguistische und kognitive Strukturen hinaus auf ein Weiteres erstreckt: auf die psychischen Aspekte jener Prozesse, in denen sich die Individuen durch ihr konkretes, praktisches wie geistiges Handeln mit der Welt und mit sich selbst auseinandersetzen; es ist dies ein Vermitdungsprozeß, in dem sie sich unter anderem auch der Mittel der Sprache bedienen. Doch damit haben wir schon vorgegriffen und sind bereits im Zentrum der begrifflichen Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, dem wir uns vielleicht erst einmal anschaulicher nähern sollten. Um uns zunächst eine Vorstellung davon zu machen, wie das Problemfeld, um das es hier geht, abzustecken ist und was wir darin als den besonderen Gegenstand einer psychologischen Semantik - als der Theorie psychologischer Bedeutungen - betrachten können, möchte ich, wie es in der Wissenschaft üblich ist, mit einem Problem beginnen. Allerdings ist das Problem, das ich zur Sprache bringen will, kein wissenschaftliches, sondern ein Problem der Liebe, und zwar der Liebe Florentino Arizas. Florentino Ariza ist der Held in dem Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera von Gabriel Garcia MARQUEZ, eine Figur, die durch ein außergewöhnlich intensives und intimes Verhältnis zur Sprache charakterisiert ist. Ja, man kann sagen, dieses Verhältnis erscheint geradezu als ein erotisches. Schon als junger Mann war Florentino Ariza der Sprache verfallen wie wohl nur ein junger Mann einer Frau verfallen kann, und das nicht allein in der heißen und drückenden Luft der karibischen Hafenstadt, in der Florentino Ariza lebte und liebte. Daß er dabei in seinem sprachlichen Ausdruck, in den Wendungen, Bildern und Metaphern seiner Sprache nicht besonders orginell war, sondern sich eher in den mehr oder weniger romantischen Mustern und Geschmacksschablonen der unzähligen Romanhefte und bebilderten Broschüren bewegte, die er von klein auf an wie ein Süchtiger verschlungen hatte, tat seiner tiefen Sprachleidenschaft keinen Abbruch. Aber wie alle großen Leidenschaften sich zumeist nur so lange ihrer selbst unbekümmert erfreuen können, wie sie im Verborgenen oder zumindest im Privaten gedeihen, ihr schließliches Schicksal sich aber erst entscheidet, wenn sie sich dem offenen Leben und seinen oft sehr profanen Reibungen stellen, so traten auch für Florentino Ariza unerwartete Schwierigkeilen auf, als sein sinnliches Verhältnis zur Sprache auf einmal nicht mehr nur dazu dienen sollte, sein erotisches Verlangen gleichermaßen zu beruhigen wie zu erregen, sondern einem noch handfesteren Zweck: dem Erwerb seines Lebensunterhaltes. Als er als Schreiber in den Dienst der Generaldirektion der Karibi142

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? sehen Rußschiffahrtsgesellschaft trat, eine Aufgabe, für die ihn seine literale Neigung besonders zu empfehlen schien, begann für seine Leidenschaft für die erotisch empfundene Sprache eine harte Zeit der Bewährung. Florentino Ariza schrieb nämlich alles und jedes mit einer solchen Hingabe, daß selbst seine geschäftlichen Schriftstücke Liebesbotschaften zu sein schienen. Seine Frachtbriefe reimten sich sogar, so sehr er sich auch bemühte, das zu verhindern, "und seine Geschäftsbriefe hatte einen lyrischen Unterton, der ihre Autorität in Frage stellte". Sein Onkel, der Generaldirektor der Karibischen Schiffahrtsgesellschaft und sein Gönner, erschien eines Tages persönlich mit einem Packen Briefe bei ihm, die er als seine eigenen zu unterzeichnen sich außerstande sah. Er gab ihm eine letzte Gelegenheit, seine Haut zu retten. "Wenn Du nicht in der Lage bist, einen Geschäftsbrief zu schreiben, kommst Du zum Müllsammeln auf die Mole", sagte er. Florentino Ariza nahm die Herausforderung an und begann gegen seine offenbar irgendwie verselbständigte Leidenschalt anzukämpfen. Er unternahm die größten Anstrengungen, um sich die "irdische Schlichtheit der Handelsprosa" anzueignen, indem er die Texte von Akten aus Notariatsarchiven mit ebensoviel Eifer nachahmte wie früher die Modedichter. Seine freien Stunden verbrachte er in dieser Zeit am Portal de los Escribanos, einem Platz der Stadt, wo jede Art von Schreibarbeit in Auftrag gegeben und sofort ausgeführt wurde. Florentino Ariza schrieb hier jedoch nicht etwa aus Geldbedarf, sondern aus Leidenschaft. Er half schreibunkundigen Verliebten dabei, ihre parfümierten Liebesbriefe nicht nur niederzuschreiben» sondern auch zu verfassen, um sich "die vielen Worte der Liebe, die in den Zöllberichten keine Verwendung fanden, von der Seele zu schreiben". So gelang es ihm trotz alles Einsatzes und der Drohung seines Onkels nicht, "seinem hartnäckig singenden Schwan den Hals umzudrehen". Als der Onkel ihn nach einem halben Jahr erneut zurechtwies, gab er sich geschlagen, allerdings nicht ohne Hochmut. "Das einzige, was mich interessiert, ist die Liebe", sagte er. Wie immer, hat die Liebe einen Namen. Sie heißt Fermina Daza. Fermina Daza trat als junges Mädchen in das Leben des jungen Florenino Ariza und verließ es nicht mehr. Auch nicht, als sie nach den ersten zwei Jahren, die für Florentino Ariza vor allem im Schreiben unzähliger Liebesbriefe bestanden, den renommierten Arzt Doktor Juvenal Urbino heiratete. Erst nach dessen Tod, nach genau 51 Jahren, neun Monaten und vier Tagen, kann Florentino Ariza erneut um sie werben und schließlich ihre Liebe gewinnen, wobei sich das Altar, das zunächst als der schlimmste Feind der Liebe erschien, als ihr wichtigster Bundesgenosse erwies. Während dieser ganzen zweiundfünfzig Jahre hatte Florentino Ariza nicht einen Augenblick aufgehört, an Fermina Daza zu 143

Jens Brockmeier denken, und dies ohne etwa "täglich eine Kerbe in die Kerkermauerritzenzu müssen, um über das Vergessen Buch zu führen, denn kein Tag verging, an dem nicht irgendetwas geschah, was ihn an sie erinnert hätte". Und so können wir den Roman von Gabriel Garcfa MARQUEZ auch lesen als den Versuch, das Drama Florentino Arizas und seiner Sprachverfallenheit während seiner Zeit als Schreiber der Karibischen Rußschiffahrtskompanie zu erhellen. Es bestand darin, daß er seine Leidenschaft für die lyrischsinnliche Sprache nicht überwinden konnte, da er nicht aufhörte, an Fermina Daza zu denken. Trotz aller Bemühungen lernte er es nie, etwas zu schreiben, ohne an sie zu denken. Ja, Schreiben war ihm nichts anderes als an sie zu denken; zunächst als ein äußeres Mittel, um einen ersten Kontakt und daraus eine so schüchterne wie aufwühlende Bekanntschaft zu erwirken, dann als eine rein symbolische Instanz, die es ihm allerdings ermöglichte, diese Beziehung als imaginiertes Liebesverhältnis fast ein ganzes Leben lang fortzusetzen. War doch jahrelang die Sprache seiner Liebestexte für Florentinö Ariza zunächst das einzige Mittel, um mit Fermina Daza Verbindung aufzunehmen; und die Sprache wurde danach, als diese ersehnte Verbindung als reale für viele Jahre nicht mehr existierte, zum Medium, in dem sich seine unbändigen Empfindungen für Fermina Daza fast übergangslos in das Flußbett seiner ebenso unbändigen Sprachliebe umlenken ließen. Und wir verstehen nur zu gut, daß diesem jungen Mann, als er dann später seiner Aufgabe als Schreiber enthoben wurde und auf andere Posten der Schiffahrtskompanie abgeschoben wurde, innerlich noch so viel Liebe übrig blieb, daß er nicht wußte, was er damit anfangen sollte, und sie so um so stärker den schreibunkundigen Verliebten schenkte, denen er am Portal de los Escribanos kostenlos ihre duftenden Briefe verfaßte. Zwar würde ich die Geschichte der Liebe von Florentino Ariza zu Fermina Daza jetzt gerne weiter erzählen und weitere Überlegungen darüber anstellen, wie sehr sich die Bänder der sinnlich-symbolischen Begierde ineinander verwickeln und verweben können, ohne dabei jedoch offensichtlich ihre eigenständige Faserung vollends aufzulösen. Aber erinnern wir uns des hanseatisch seriösen Ortes und wissenschaftlichen Anlasses unseres Zusammentreffens. Verlassen wir die Sprachen und Begierden der Karibik, undfragenwir uns, wie wir eine solche Art von erotischer Leidenschaft für die Sprache, wie sie uns Gabriel Garcfa MARQUEZ mit ästhetischen Mitteln aus der Lebensgeschichte Florentino Arizas heraus verständlich zu machen sucht, als ein psychologisches Phänomen mit wissenschaftlichen Mitteln nachzeichnen können und welche begrifflichen Mittel wir dazu benötigen. Mir scheint, es ist offensichtlich, daß es sich bei dieser merkwürdigen Sprachleidenschaft von Florentino Ariza nicht nur um eine Frage der Liebe 144

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? und ihrer Bedeutung für das Leben handelt, sondern auch um ein Problem der Bedeutung der Sprache. Aber um ein solches Bedeutungsproblem, wie es in der Disziplin, die gemeinhin für das System Sprache in seiner syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimension als zuständig gilt, nämlich der Linguistik, nur am äußeren Rande faßbar ist. So wie die besondere Bedeutung, die Fermina Daza für Florentino Ariza gewinnt, so ist auch die besondere Bedeutung, die die Sprache für Florentino Ariza erlangt, nicht linguistisch sondern nur psychologisch zu verstehen. Zwar stellt sie sich auch als ein sprachliches Phänomen dar. Begreifbar wird sie jedoch erst, wenn sie als ein sprachlicher Aspekt des konkreten psychischen Welt- und Selbstverhältnisses von Florentino Ariza betrachtet wird; also nicht als eine Frage, die die linguistische Bedeutung berührt, sondern die Bedeutung, die die Welt, das Leben und in diesem Fall insbesondere die Liebe für den Protagonisten des Geschehens besitzen. Allein aus seiner besonderen lebensgeschichtlichen Entwicklung heraus wird diese Art von Bedeutung verständlich. Zu diesem Verständnis will uns der Roman von Gabriel Garcia MARQUEZ verhelfen, und zu einem Verständnis menschlicher Eigenarten als psychischer Aspekte mikrohistorischer MenschWelt-Zusammenhänge sollte bekanntlich ja auch die Psychologie beitragen. Fragen wir uns also, wie sich ein solches Problem der Bedeutung, wie es uns diese karibische Geschichte vor Augen führt, als Gegenstand einer psychologischen Bedeutungskonzeption darstellt. Auch wenn wir uns dabei durchaus bewußt sind, daß die Psychologie jene Verständnistiefe, mit der die Literatur die menschliche Wirklichkeit und ihre psychologischen Bedeutungsverhältnisse oft zu erfassen vermochte, bislang wohl nur in seltenen Ausnahmefällen erreicht hat

2. Der "galileische Stil" in der (Sprach-)Psychologie und das Problem de Subjektivität Damit soll nicht gesagt sein, daß die akademische Psychologie sich nicht etwa solch komplexer psychischer Phänomene wie der Sprache mit ebenfalls komplexem Aufwand angenommen hätte. Im Gegenteil, der Umfang der Forschungen, die beispielsweise von dem großen Sprachwissenschaftler Naom CHOMSKY durchgeführt, initiiert und inspiriert worden sind - und dies insbesondere auch im psychologischen und psycholinguistischen Bereich -, ist immens. Mehrere Jahrzehnte Forschungs- und Veröffentlichungsarbeit einer paradigmatisch gefestigten Tradition, die mit der strukturlinguistischen Revolution CHOMSKYs (1957) und ihrer semantischen Erweiterung durch KATZ und FODOR (1963) beginnt, haben ein wissenschaftliches System von Erklärungen der menschlichen Sprache entstehen lassen, das wenig Vergleichbares 145

Jens Brockmeier kennt. Die Generative Grammatik CHOMSKYscher Provenienz erscheint heute als das vielleicht entwickelteste Modell eines Bemühens, das den menschlichen "Geist" und seine Eigenschaften und Produkte auf "naturwissenschaftliche Weise untersuchen will, und zwar gemäß einem "galileischen Stil", demzufolge formalisierte Modelle der (sprachlichen) Wirklichkeit einen höheren Realitätsgrad und Wahrheitsgehalt besitzen sollen als die alltägliche Welt der (sprachlichen) Erscheinungen. Dieser "galileische Stil" vollzieht also an seinem Gegenstand eine bestimmte Abstraktion. Das ist an sich nicht weiter verwunderlich, denn jede Wissenschaft, jedes Erkennen erfaßt immer nur gewisse Seiten, Aspekte, Ausschnitte, eben "Abstraktionen" des Ganzen der konkreten Wirklichkeit und ihres unerschöpflichen Reichtums an Einzelbestimmungen. Der Generativen Grammatik gilt allerdings die Abstraktion "grammatikalische Kompetenz" des linguistischen Subjekts nicht als irgendein Aspekt, sondern als die fundamentale Struktur des menschlichen Geistes, und sie beansprucht, ihn anhand dieser Abstraktion genauer und gründlicher, eben naturwissenschaftlich "exakter", untersuchen zu können als in seiner diffusen und hyperkomplexen Wirklichkeit. Die Grammatik einer Sprache, verstanden als ein mathematisierbares Regelsystem, das alle Sätze der Sprache mitsamt ihren (phonologischen, syntaktischen und sogar auch semantischen) Strukturen zu generieren vermag, gilt als Repräsentationsform einer mentalen Struktur, in der sich die für die menschliche Gattung spezifische psychische Kompetenz einem präzisen wissenschaftlichen Zugriff daibietet Für all dieses wird jedoch ein nicht unerheblicher Preis gezahlt. Er besteht zum einen in dem Verzicht auf die Erkenntnis von Historizität: der Historizität der Sprache und der des linguistischen Subjekts, der Historizität des kognitiven Subjekts (das die Ungereimtheiten des linguistischen Subjekts erklären soll) und der Historizität des psychologischen Subjekts (das für das kognitive wie das linguistische Subjekt letztlich einsteht). Kurz: Die linguistische Abstraktion unterstellt Geschichte, sowohl die Geschichte der Sprache als eines gesellschaftlichen Symbolsystems wie auch die individuelle Lebensgeschichte der sprachlichen Subjekte, als eine für ihre wissenschaftliche Erkenntnis unwesentliche Dimension. Zum anderen besteht der Preis, der hier zu zahlen ist, in einer Bekräftigung dessen, was Alexej N. LEONTJEW als das "Unmittelbarkeitspostulat" der traditionellen Psychologie hervorgehoben hat. Damit ist eine bestimmte Vorstellung über das allgemeine Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt, oder besser, der Umwelt zum Individuum, gemeint. Dieses gilt als ein Verhältnis der unmittelbaren Einwirkung, der unmittelbaren Abhängigkeit des Verhaltens der Individuen von ihren Umweltbedingungen. Ihren begrifflichen 146

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? Ausdruck findet diese Vorstellung in den klassischen Termini der akademischen Psychologie wie Reiz, Reizumwelt, Stimulifolge oder Informationsmuster, die allein das zu fassen vermögen, was als direkte sensorische Wirkung der Umwelt oder auch anderer Organismen auf einen Einzelorganismus trifft und dann bestimmte "Reaktionen" hervorruft. Das trifft aber auch für neuere psychophysikalische, informationsverarbeitungstheoretische und andere kognitionspsychologische Ansätze zu, in denen die behavioristische "Blackbox" insoweit geöffnet ist, als nun der Blick auf Vernetzungen, Module, Regelkreise und Bit-Kapazitäten freigegeben wird, die wundersamerweise nicht mehr nach den Gesetzen der Descarteschen Mechanik, der Naturwissenschaften des neunzehnten Jahrhunderts oder der Kybernetik der Fünfzigerjahre funktionieren, sondern nach den Regeln der neueren Computertheorien und systemtheoretischen Selbstorganisationsmodelle. Auch wenn sich der "Mentalismus" der CHOMSKYschen Psycholinguistik historisch in direkter Abgrenzung vom behavioristischen S-R-Schema entwickelt und die sog. klassischen Lerntheorien aus der Sprachpsychologie verwiesen hat (CHOMSKY 1959), so teilt er doch mit diesen bestimmte unveränderte Grundannahmen, die ebenso wie schon die Prämissen der introspektiven Bewußtseinspsychologie auf die Tradition eines cartesianischen Bewußtseins- und Sprachbegriffs zurückverweisen (vgl. GEIER 1977). Dies zeigt sich insbesondere an der gemeinsamen Vorstellung eines historisch und sozial isolierten und autonomen Bewußtseins-, Verhaltens- oder Sprachsubjekts. Eine der zentralen psycholinguistischen Fragen ist so etwa die nach den Mechanismen, die es dem Sprachsubjekt ermöglichen, die vorgegebenen und grammatikalisch genaufixiertenobjektiven Sprachsysteme aus sich selbst heraus zu generieren, ausgestattet mit keinen anderen Mitteln als seinen angeborenen mentalen "linguistic universalst Gefragt wird danach, wie sich das Individuum einem tendenziell eindeutig regulierten System sprachlicher Lebensbedingungen so anpassen kann, daß es sich in der Konstruktion des "idealen" Sprechers/Hörers, "der seine Sprache ausgezeichnet kennt und...von grammatisch irrelevanten Bedingungen ... nicht affiziert wird" (CHOMSKY 1965, 13), empirisch abbilden läßt. Als "Empirie" gilt dabei in der Sprachpsychologie, und zwar gleichermaßen in ihrer behavioristischen Ausprägung, in ihrer CHOMSKY-Periode und in ihrer gegenwärtigen Phase, dasjenige, was auf der Basis experimenteller Designs und meßtheoretischer Konzepte "objektiv" und "reliabel" an menschlichen Individuen beobachtbar erscheint. "Die Empirie ist somit datenförmig und auf Individuenmerkmale bezogen...Die Grundfrage besteht darin, wie der individuelle Sprachbenutzer dasjenige versteht, behält, nützt und erzeugt, was linguistisch oder in anderer Weise mit Hilfe der Angaben von Struk147

Jens Brockmeier turmerkmalen als spezifisch sprachlich beschrieben wird." (HERRMANN, 2o). Allein schon aufgrund dieses Empiriekonstrukts müssen der sprachpsychologischen Reflexion jedoch wesentliche Einsichten in die Natur ihres Gegenstandes verwehrt bleiben. So etwa die Erkenntnis der eigenartige Widersprüchlichkeit des menschlichen Daseins. Diese tritt darin zu Tage, daß das Individuum sich seinen Lebensverhältnissen, und zwar den nichtsprachlichen wie den sprachlichen, nicht nur einfach "anpaßt", sondern sie auch beeinflußt, verändert und sie si ch anpaßt, ja, daß es sie in historischer Größenordnung sogar produziert. Genau dieser dialektischen Tatbestand, daß das Individuum sich also gerade dadurch auszeichnet, daß es Bedingungen unterliegt, die es in seinem Handeln modifikativ wie innovativ auch mitkonstituiert - und das auf der Ebene gesellschaftlicher Prozesse wie mutatis mutandis auf der Ebene individueller Lebensbewältigung -, diese Sichtweise des Individuums, die es gerade in seiner besonderen menschlichen Subjektivität erfaßt, ist für die meisten Psychplinguisten genau so wenig vorstellbar wie sie es in den verschiedenen behavioristischen Konzeptionen war oder wie sie es heute in den Kognitionstheorien ist. Ulrich NEISSERs Standardwerk Kognition und Wirklichkeit kann hier immer noch als exemlarisch gelten. Und dies gerade, weil es sich selbst schon "kritisch" von bestimmten Tendenzen seines Faches abzusetzen sucht und Kognition als "Aktivität des Wissens", als Erwerb, Organisation und Gebrauch von Wissen und Sprache, als "etwas, was Organismen tun, und insbesondere, was Menschen tun" (13), versteht und von daher für größere "ökologische Validität" kognitionspsychologischer Untersuchungen plädiert: "Eine Person, die Sprache wahrnimmt, nimmt...Informationen über eine bestimmte Klasse wirklicher, physikalischer, berührbarer...Ereignisse auf, die in jemandes Mund geschehen. Natürlich sind das nicht Zufallsereignisse: sie haben Bedeutung. Der Sprecher bewegt seine Artikulatoren, wenn er Wörter oder, auf einer anderen Ebene, Ideen ausspricht, und erst in diesem weiteren Kontext werden ihre Bewegungen vorhersagbar oder kohärent. Nur diese Ebene der Kohärenz kann dann erklären, warum der Zuhörer Wörter und Bedeutungen zu hören scheint und nicht die Artikulationsereignisse selbst" (124). Wichtiger jedoch noch als der Umstand, daß NEISSER wie fast alle am Paradigma der elektronischen Informationsverarbeitung orientierten Kognitionstheoretiker - und das sind fast alle - diese bedeutungskonstitutive "Ebene der Kohärenz" jenseits des eigenen "eigentlichen" kognitionspsychologischen Arbeitsgebietes lokalisieren, erscheint uns hier etwas anderes. Dies ist die dieser Sicht implizite, den Main-stream der Allgemeinen Psychologie generell kennzeichnende geheime 'organismische Anthropologie* eines homunkulus148

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? haften Homo psychologies (vgl. HOLZKAMP 1972,56; 1977,172), der um genau jene Dimension menschlicher Subjektivität verkürzt erscheint, die wir gerade angesprochen haben. So wie etwa auf der einen Seite die Sozialpsychologie die Sprache als soziales Phänomen par excellence aus ihrem "galileischen" Untersuchungsbereich ausgeblendet hat (vgl. GRAUMANN 1987), so haben auf der anderen Seite Psycholinguistik und Kognitionspsychologie in der Regel die "sozialpsychologische" Frage nach der spezifisch gesellschaftlichen Subjektivität des Individuums - des sprechenden und handelnden Subjekts - aus ihrem "galileischen" Untersuchungsbereich ausgeklammert Zwar gibt es auch in der Kognitionspsychologie seit Anfang der siebziger Jahre wichtige Entwicklungstendenzen (zu einem ihrer Vertreter können wir NEISSER zählen), die durch das Bestreben gekennzeichnet sind, sich von den Problemkonsequenzen des naturwissenschaftlichen Paradigmas abzugrenzen oder sie zumindest zu "mildern". Dies betrifft in der Sprachpsychologie etwa das Bemühen, die Dominanz linguistischer Modelle zugunsten (kognitions-) psychologischer Modelle zu überwinden. Darüberhinaus betrifft es aber generell die Versuche, sich von einem bestimmten Theorie- und Methodologietyp bzw. von dessen Konsequenzen zu distanzieren, eben von jenem "galileischen Stil", in dem Kurt LEWIN einst das Wesen der "modernen Psychologie" ausfindig gemacht zu haben glaubte - schon zu seiner Zeit übrigens in kritischem Sinn - (vgl. etwa den Eröffnungsvortrag von N. BISCHOF Aristoteles, Galilei, Kurt Lewin - und die Folgen auf dem 32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1981), und der in der Psycholinguistik CHOMSKYscher Prägung vielleicht seinen entfaltetsten Ausdruck findet Immerhin sind es nicht wenige Vertreter auch der Kognitionspsychologie, die heute feststellen müssen, daß "die unreflektierte Übernahme des 'galileischen1 Prinzips in der Psychologie... zu einer Wissenschaft (führte), die sich um die komplexen Erscheinungsformen psychischer Probleme im Alltag nicht mehr kümmerte, weil sie glaubte, sich darum nicht mehr kümmern zu brauchen" (DÖRNER, 23). Dennoch - zumindest in der Sprachpsychologie bleiben selbst die Bemühungen, das CHOMSKY-Modell zu überwinden, immer noch an CHOMSKY gebunden. Um die Identität des wissenschaftstheoretischen Paradimas, das mindestens seit den Sechzigerjahren die Sprachpsychologie beherrscht, auch über die Phase der uneingeschränkten Akzeptanz der Generativen Transformationsgrammatik hinaus zum Ausdruck zu bringen, spricht HERRMANN daher von dem aktuell dominanten "Nach-CHOMSKY-Paradigma". Welche Entwicklung verbirgt sich hinter diesem merkwürdigen Sprachgebrauch? Wissenschaftshistorisch ging es für die Psychologie der CHOMSKY-Ära zunächst darum, die vermeintliche "psychische Realität" der strukturlinguistischen 149

Jens Brockmeier Konzeption nachzuweisen. Die dabei entstandenen Schwierigkeiten eröffneten dann ein großes Spektrum von neuen Fragestellungen, die dazu führten, auf der Grundlage der inzwischen vorliegenden empirischen Untersuchungsergebnisse die Schwächen und Grenzen der Generativen Grammatik samt ihrer KATZFODOR-Semantikkomponente aufzuzeigen und sie als Gerüst für die Sprachpsychologie letztlich als unbrauchbar zu erweisen. Theoretische und methodische Bezugsinstanz blieb dabei jedoch immer das CHOMSKYsche Modell. Und dies auch in der seit Mitte der Siebzigerjahre geführten Diskussion um den Nachweis der "psychischen Realität" einer CHOMSKYanischen Grammatik nunmehr für Texte. Hier hat sich ein neuer Schauplatz für ein altes Geschehen aufgetan. Seit KINTSCH (1974) wird der sprachliche Text im Unterschied zu Wort und Satz als eigene semantische Einheit diskutiert, dem in einer "Textbasis" bzw. einer "Texttiefenstruktur" eine besondere Bedeutungsstruktur zugrunde liegt. Dabei erweist sich als ein "forschungsstrategischer" Vorteil, daß die als psychologische Bedeutungseinheiten von Texten angenommenen "Propositionen" nicht nur in traditionellen Experimenten zur Informations- und Textverarbeitung untersucht werden können, sondern insbesondere auch für Computersimulationen geeignet sind (vgl. KINTSCH 1986). Wenn man einen Text verstehen will, so wird heute allgemein angenommen, dann muß das Gehirn anschauliche Informationen von geringer Abstraktionsstufe - die literalen Zeichen der gedruckten Buchstaben aufnehmen, kurzfristig speichern und in abstrakte Informationen umsetzen: die geschriebe Sprache wird'decodiert1. RUMELHART, der zweite wichtige Protagonist, mit dessen Konzeption des kognitiven Umgangs mit Texten (1975) dieses neue Arbeitsgebiet eröffnet worden ist, sucht in diesem Sinne etwa zu erklären, wie die Komponenten einer Geschichte beim Zusammenfassen von Texten nach Regeln transformiert werden, die die kausale Verknüpfung von Strukturen und die Verkettung von Aussagen gewährleisten sollen. Nicht gerade überraschend entstehen bei diesen Untersuchungen jedoch neue Schwierigkeiten, die in in der nächsten Runde nun wiederum zum Gegenstand neuer CHOMSKYana-Kontroversen werden usw... Ohne Frage haben sich im Hauptstrom der Sprachpsychologie wichtige theoretische Orientierungen und Modelle neu entwickelt, und ältere haben sich verändert. Wie immer man sie bewertet, sogar am Homo psychologies haben sich Veränderungen vollzogen. GRIMM & ENGELKAMP diagnostizieren den aktuellen Zustand: "Das behavioristische Menschenbild wich der Vorstellung vom Menschen als einem informationsverarbeitendem System, und dieses Konzept wurde zum entscheidenden Motor der sprachpsychologischen Forschung" (12/13). Trotzdem - und gerade deshalb - fällt es nicht schwer, 150

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? HERRMANN zuzustimmen, wenn er urteilt: "Im dialektischen Sinne blieb CHOMSKYs Konzeption bis heute im Hauptstrom der Sprachpsychologie 'aufgehoben'". (19)

3. Zur subjektiven Funktionalität sprachliche Äußerungen. HÖRMAN Konzept der "Sinnkonstanz" Schon einige Jahre früher hatte Hans HÖRMANN sein generelles Unbehagen an dieser Art Sprachwissenschaften zum Ausdruck gebracht HÖRMANN, der sicherlich nicht dem angelsächsisch orientierten Hauptstrom der sprachpsychologischen Forschung zuzurechnen ist, sondern eher der Tradition der mitteleuropäischen Außenseiterlinie von WUNDT und BÜHLER (vgl. HERRMANN, 26; UNGEHEUER) - einer Tradition, auf die wohl auch George H. MEAD bezogen werden kann (vgl. GRAUMANN 1984) sowie phänomenologischen und gestaltpsychologischen Denklinien, sah sich als ein zunehmend skeptischer Beobachter der Entwicklung der Sprachwissenschaften. Ihre Modelle und Theorien schienen ihm ein Niveau der Kompliziertheit angenommen zu haben, "auf welchem das Bewunderungswürdige nur noch durch einen schmalen Grat vom Lächerlichen getrennt ist", und dem zugleich "eine gewisse Beliebigkeit des Theoretisierens" nicht abzusprechen ist: ein Prozeß, in dem sich auf jeden Fall die Kluft zwischen linguistischer Theorie und sprachlicher Realität immer weiter vertieft (1976,8). Als geradezu verhängnisvoll beurteilte er die anwachsende Dominanz der an den Naturwissenschaften orientierten Modelle und Methodologien der Sprachwissenschaften im Fall ihres zentralen Forschungsgegenstands: der Bedeutung (vgl. ENGELKAMP 1983,22o). In seiner Bestandsaufnahme der modernen Linguistik und der mit ihr zusammenhängenden Psycholinguistik bzw. Sprachpsychologie kommt HÖRMANN zu einem illusionslosen Resümee: "Wenn man früher sagte, ein Mensch versteht einen gehörten Satz, und jetzt formuliert, er versähe einen Input mit syntaktischen Beschreibungen, die dann semantisch interpretiert würden - bedarf es da denn außer einer intellektuellen Anstrengung nicht auch einer des guten Willens, um derartige Veränderungen als Zeichen des Fortschritts erkennen und anerkennen zu können?" (1976,9) Ob HÖRMANN, der 1983 starb, dieses Unbehagen heute nicht mehr verspüren würde, weil in der jüngsten Entwicklung der Sprachpsychologie nun, wie häufig konstatiert wird (vgl. etwa FLORES d'ARCAIS & SCHREUDER), ein Orientierungswechsel von linguistischen Modellen zu solchen, die auf psychologischen Prinzipien basieren, stattfindet, ein Wechsel, zu dem gar HÖRMANNs Kritik an der traditionellen linguistischen und psychologischen Semantik beigetragen habe (BOSSHARDT, 7), können wir 151

Jens Brockmeier hier nicht diskutieren. Und auch nicht, ob nicht HÖRMANNs Kritik weniger auf die Gegenüberstellung Psychologie - Linguistik abzielt als überhaupt auf den "galileischen Stil" der Forschung gleichermaßen in Linguistik und Psychologie (vgl. etwa HÖRMANN 1976,64). Ebenfalls bleibt unerörtert, ob ausgerechnet das gegenwärtig in der sprachpsychologischen Semantikforschung wie in der kognitiven Linguistik dominante Konzept der auf die neueren Computertechnologien orientierten Informationsverarbeitung (information processing) (vgl. SCHOPMAN; WALTZ; DFG) nun jenem Fortschritt in der sprachpsychologischen Forschung die Tore öffnet, den HÖRMANN in ihr nicht mehr erkennen konnte. Aber ich hoffe, zumindest die übergroßen Fragezeichen, die ich hier anbringen würde, sind hörbar geworden. Angesichts der Komplexität von Problemen der Art, mit denen sich etwa Florentino Ariza herumzuschlagen hat, erscheint es uns auf jeden Fall, unabweisbar, die Bedeutungen, mit denen sich ein Individuum in seinem Handeln und in seiner Sprache auf die Welt bezieht, auch in einem umfassenderen psychologischen Sinne als dem, den die "galileischen" Kognitions- und Sprachforscher gegebenenfalls einräumen mögen, zu begreifen. Doch wie ist dieser Weltbezug des Individuums, betrachtet als Sprecher wie als Handlungssubjekt, zu konzeptualisieren? In welchen Begriffen ist er abzubilden, mit welchen Methoden zu untersuchen? Das ist die große Frage, die auch HÖRMANNs Buch Meinen und Verstehen, welches den programmatischen Untertitel Grundzüge einer psychologischen Semantik trägt, in seinen scharfsinnigen Erörterungen durchzieht Die Vorgaben dieses Werks sind gerade in seinen umfangreichen kritischen Analysen der Entwicklungen in der Semiotik, der Linguistik, der Sprachphilosophie und der Sprachpsychologie beeindruckend. Seine wissenschaftliche Leistung besteht, wie mir scheint, insbesondere darin, dabei das Dilemma aller Versuche aufgedeckt zu haben, Sprache mit einem von der Dynamik des wirklichen Sprachgebrauchs abstrahierenden und damit notwendigerweise substantialisierten Zeichenbegriff zu erklären. Doch worin besteht nun die Antwort HÖRMANNs auf die Frage nach dem semantischen Gehalt des Weltbezugs der gesellschaftlichen Individuen? Für HÖRMANN ergibt sich dieser Bezug durch die Wahrnehmungs- und Erkenntnisdimension der "Sinnkonstanz". Wie wir bestrebt sind, unsere Welt als einen sinnvoll gegliederten Zusammenhang wahrzunehmen, so suchen wir auch als Sprachbenutzer bei der Kommunikation nach dem sinnvollen Gehalt von Sätzen und damit nach der grammatikalisch sinnvollen Form. Und so bemühen wir uns auch bei nicht-sprachlichen Phänomenen, wie etwa uneindeutigen Handlungen anderer, darum, sie zu verstehen, indem wir ihren "Sinn", also ihre Bedeutung zu begreifen suchen. Hans AEBLI (1984) hat ähnliche Phänomene in handlungstheoretisch-pragmatischer Perspektive thematisiert 152

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? und stellt im Sinne HÖRMANNs fest, daß wir die Bedeutung einer uneindeutigen Handlung eines anderen genauso als sinnvoll rekonstruieren müssen wie die Bedeutung sprachlicher Zeichen: "Deuten heißt integrieren" (AEBLI 198o, 192), heißt, einen sinnvollen Zusammenhang von Bedeutungen zu stiften. Oder mit HÖRMANN gesprochen, Deuten als das Verstehen von Bedeutungen heißt: "Sinn-Verleihen durch Hineinstellen in einen Zusammenhang" (HÖRMANN 1981,137). Allerdings versteht HÖRMANN das, was beim "sinnvollen" Verstehen von Bedeutungszusammenhängen stattfinden, noch in einer anderen Weise als AEBLI. AEBLI führt zwar aus, daß Verstehen wie überhaupt das Denken "jenes besondere Tun ist, das die gute Ordnung des Handelns anstrebt". Aber diese gute Ordnung ist für ihn wie, wir sagten es schon, für fast alle Kognitionspsychologen allemal die Ordnung der Informationsverarbeitung (vgl. etwa ebd. 25). Für HÖRMANN hingegen ist dies keinesfalls ausgemacht. Für ihn lassen sich etwa Bedeutungen erst dann verstehen, wenn, um wieder auf die Sprache zurückzukehren, auch Größen wie außersprachliche und außerkognitive "Intentionen" erfaßt werden. Wir nehmen nämlich Sprachbedeutungen nicht wie informationstheoretische In-puts wahr, wir bauen sie auch nicht in unserem Kopf zusammen. "Sinnvolles, Verstehbares konstituiert sich ... nicht mühsam - etwa durch ständiges Übersetzen von Zeichen nach einem Code sondern es ist als Intendiertes immer schon da, bevor wir es durch eine semiotische Analyse zu konkretisieren beginnen." (HÖRMANN 1976,196) Bedeutungen sind also dasjenige, was wir durch die Sprache erfassen. Oder anders gesagt: eine wesentliche Eigenschaft der Sprache ist ihre "Bedeutungstransparenz" (ebd., 18). Weil aber die Sprache transparent ist, "können wir nicht genau feststellen, wo Bedeutung lokalisiert ist und wo sie herkommt" (ebd., 406). Wir begegnen hier dem Phänomen einer eigenartigen Abstraktheit der Sprachzeichen, das sich zeigt, wenn man sie in ihrer semiotischen Darstellungsfunktion betrachtet Karl BÜHLER nannte dies das "Prinzip der abstrakten Relevanz" und sah darin etwas für alles Zeichenhafte Gültiges (BÜHLER, 42). Wie verhalten wir uns nun angesichts dieser abstrakten Unbestimmtheit des Zeichens, welches gerade dadurch ist, daß es nicht nur es selbst ist Wie können wir die Bedeutung des Zeichens für uns konkret werden lassen? Wir sind in jedem Fall auf weiteres verwiesen, das Zeichen an sich gibt weder seine Identität noch seine Relevanz preis. Die Frage, worin dieses Weitere besteht, ist die Frage nach dem, was das semantische Milieu des Zeichens ausmacht Damit aber sind wir auf eine in Philosophie, Psychologie und Sprachwissenschaft äußerst umstrittene Frage gestoßen, auf die eine Vielzahl von Antworten angeboten wird.

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Jens Brockmeier

Für HÖRMANN ist es die schon erwähnte Intentionalitätsannahme, die hier weiterhilft: Nur wenn der Sprecher dem Hörer Intentionalität unterstellt, sich bemüht, sie zu ergründen, und wenn auch er sich selbst als ein Intentionalitätszentrum wahrnimmt, das ein "sinnvolles" Verstehen von Bedeutungen in einem bestimmten Kontext anstrebt, vermag er Bedeutungen, sprachliche wie nichtsprachliche, zu verstehen. Erst der intentionale Akt als das "Grundprinzip von Bedeutung" (HÖRMANN 1987,197) ermöglicht das, was HUSSERL den 'psychologischen Akt des Urteilens' nannte. So wird Verstehen, und zwar auch das von Sprache, von der alleinigen Bindung an sprachlich-symbolische Bedeutungen gelöst (vgl. ENGELKAMP 1984, 4/5) und auf etwas anderes verwiesen, das für unser Verstehen von Bedeutungen grundlegender ist Es ist das "Streben nach Intelligibilität" (was wir aus der phänomenologischen Begrifflichkeit als das subjektive Bemühen um Bedeutungskohärenz übersetzen wollen), das nach HÖRMANN für die dem "Meinen und Verstehen zugrunde liegende Dynamik" verantwortlich ist und welches im Phänomen der Sinnkonstanz zu Tage tritt (HÖRMANN 1976,505). Kehren wir an diesem Punkt unserer Darstellung zu unserer Ausgangsfrage zurück. Welche Erkenntnismöglichkeiten bietet uns eine solches Konzept der Sinnkonstanz? Im Fall der Liebesleiden unseres Romanhelden Florentino Ariza ist uns zunächst wenig damit geholfen. Zwar ist auch Florentino Ariza sein ganzes sprachbesessenes Leben lang auf der Suche, aber er ist nicht auf der Suche nach Sinnkonstanz, noch auf der Suche nach anderen sprachlichen Kohärenzformen, seine Suche hat nur ein Ziel: die Liebe von Fermina Daza. Zwar könnten wir nun sagen, gerade dadurch wird auch seinem Bedeutungsverstehen eine Intentionalitätsstruktur verliehen, Liebe stiftet bekanntlich Sinn, auch wenn dieser zu - scheinbar - sinnlosen Handlungen führen kann. Aber kann uns diese Erklärung befriedigen? Und verbietet es nicht der Respekt vor einem Wissenschaftler wie HÖRMANN, seine Vorschläge allein auf diesem, zugegebenermaßen recht prosaischem Niveau zu diskutieren? Zudem spiegelt diese Lesart eine Lösung gerade dort vor, wo wir eigentlich eine offene Frage sehen, und wo, wie uns scheint, auch HÖRMANN ein Problem gar nicht abstreiten würde. Denn das Sinnkonstanz-Kriterium mag zwar einen wichtigen Aspekt unserer Organisation sprachliche Äußerungen durch den sie überhaupt erst als Kommunikationsmittel wirksam und erkennbar werden - bezeichnen. Und es mag darin auch ein in den keineswegs nur sprachlichen Prozessen des Sprachverstehens und der Sprachverwendung relevanter funktionaler Zug des Verhältnisses Sprache-Wirklichkeit benannt sein. Gleichwohl ist damit erst wenig gesagt über die Semantik der wirklichen Beziehungen, in denen sich die Individuuen zu ihrer Welt handelnd verhalten. Genau auf diese aber kommt es uns an. Denn es sind gerade diese lebenswelt154

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? lieh wirklichen Beziehungen, die den Gehalten und - wofür vor allem auch die Ergebnisse der neueren Spracherwerbsforschung sprechen (etwa BRUNER 1979, 1987; HILDEBRAND-NILSHON 198o, 3. Teil; vgl. auch GRIMM, S6S/6) - auch den sytaktischen Formen sprachlicher Äußerungen erst ihre funktionale Struktur und Dynamik verleihen. Erst sie legen eine Deutung des sprachlichen Geschehens als Tortsetzung des Handelns mit anderen Mitteln" nahe, wie sie HÖRMANN (1967,288) selbst einmal entwickelt hat. Überzeugender als die gestaltpsychologisch und phänomenologisch angeregte Antwort HÖRMANNs erscheint seine Fragesstellung. Denn sie zielt, weit umfassender noch als es etwa in der Linguistik seit AUSHNs "How to do things with words" möglich ist, darauf ab, die Funktion der Sprache in ihrem wirklichen Verwendungszusammenhang zu erkunden. Sie orientiert auf das Welthandeln und das Weltwissen der Sprecher und Hörer und ihrer realen Lebensprozesse. Nolens volens tritt damit das psychologische Subjekt in den Vordergrund. Denn schon in der Konsequenz dieser Fragestellung wird deutlich, daß sich die lebensweltliche Funktion der Sprache vor allem als "Hilfe bei der verhaltensmäßigen und kognitiven Bewältigung der Welt" (HÖRMANN 1976, 504/5) realisiert, daß sich ihre allgemeinste Funktion also zunächst einmal daraus bestimmt, daß sie zur subjektiven Daseinsbewältigung des Einzelnen beiträgt. Sprachliche Äußerungen, so HÖRMANN, sind "fast immer in einem Bezugssystem verankert, in welchem das Ich des Sprechers einen eikennbaren und wichtigen Schwerpunkt bildet" (505). Das heißt jedoch nichts anderes, als daß sprachliches wie nichtsprachliches Agieren stets auf die empirische Subjektivität des Individuums zentriert ist. Betrachtet man Sprache jedoch so im Bezugskontext ihrer subjektiven Funktionalität, also in ihrer Mittelbedeutung für die Lebensbewältigung des Subjekts, wird nun eine weitere Konsequenz nahegelegt: Sprache verwenden läßt sich nicht einem einzigen Zweck und einem einzigen Funktionszusammenhang unterordnen. Sie muß vielmehr eingegliedert werden in die Vielfältigkeit dar Lebensfunktionen, die der Sprecher realisieren muß und in die Vielfältigkeit dar Absichten, die er davon realisieren will. Und zwar will er dies als jemand, der, wie wir sagen würden, in Abhängigkeit von der Semantik seiner objektiven Handlungsmöglichkeiten und der Semantik seiner subjektiven Handlungsgründe agiert. Doch damit greifen wir wieder vor. Hier soll es zunächst nur darum gehen, auf einen Gesichtspunkt aufmerksam zu machen, den HÖRMANN anspricht, indem er mit einem Begriff der alten deutschen Psychologie Sprache verwenden als eine "Mehrfachhandlung" (1976, 504) charakterisiert. Die damit aufgezeigte Perspektive bleibt nämlich nicht ohne Auswirkungen für die sprachwissenschaftliche Forschungsstrategie. Weil etwa die verschiedenen sprachlichen (und nichtsprachlichen) Mittel zum Erreichen 155

Jens Brockmeier eines Zwecks variabel eingesetzt werden - man kann eine Verneinung durch ganz verschiedene syntaktische, lexikalische, intonatorische, gestische Mittel dem Hörer zu verstehen geben "kann man nicht hoffen, zwischen Mittel und Zweck dann ganz eindeutige und stets nachweisbare Beziehungen aufzeigen zu können, wenn man das Raster der Analyse zu klein macht" (ebd.). Sprachverwendung unterliegt offenbar den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Verwendung von menschlichen Handlungsmitteln und damit auch ihrer allgemeinen Zweck-Mittel-Dialektik. Auf diesen, wie wir vermuten, auch für die Sprachpsychologie wesentlichen Umstand, den HÖRMANN jedoch nur am Rande berührt, werden wir noch näher eingehen. Auf jeden Fall, so können wir jedoch schon jetzt hervorheben, strukturieren das reale Handlungsgeschehen und die dabei eingesetzten Handlungsmittel eine grundlegende semantische Ebene auch für solche kognitiven und sprachlichen Phänomene, die HÖRMANN unter Meinen (als der individuellen Zuordnung von Bedeutungen) undVerstehen (als dem kognitiven Realisieren von Bedeutungen) diskutiert: "Primär ist die Handlung zwischen zwei Menschen, aus deren Duktus sprachliches Meinen und sprachliches Verstehen sich entwickeln." (503) Damit haben wir nun das Bedeutungsproblem dahingehend differenziert, daß wir es auf (mindestens) zwei verschiedenen Untersuchungsebenen betrachten müssen: einer semiotischen oder symboltheoretischen und einer psychologischen. Beleuchten wir zunächst die Ebene der Zeichen. - (In dem hier diskutierten Zusammenhang scheint es unnötig, zwischen "Zeichen" und "Symbolen" sachlich zu unterscheiden. Möglicherweise sinnvolle Abgrenzungen, wie sie in Semiotik und Linguistik oder in der Entwicklungspsychologie etwa von PIAGET (1959,9o f; 1966,61 f.) eingeführt worden sind, berühren eine andere Problemebene. Hier soll es vor allem um die Vermittlungsfunktion gehen, die Zeichen und Symbolen in bestimmten psychischen Prozessen zukommt. Im Hinblick auf diese Funktion sieht auch PIAGET die Differenzierung von Symbol (das vom Individuum konstruiert wird, um nicht gegenwärtige Sachverhalte kognitiv zu repräsentieren) und Zeichen (das sozial konventionalisiert ist) als eine abgeleitete, und er spricht allgemein von der psychischen "Symbolfunktion" (1959) bzw. von der "semiotischen oder symbolischen Funktion" (1966), um die psychische Fähigkeit zur Symbolbildung zu bezeichnen. In demselben psychogenetischen Sinne - an den ich hier terminologisch anschließe - sprechen C. & W. STERN (1928) vom "Symbolbewußtsein", und auch WYGÖTSKI (1934) benutzt die Begriffe "Zeichenfunktion", "signifikative Funktion" und "symbolische Funktion" synonym, um die Fähigkeit zur zeichenvermittelten psychischen Repräsentation und Kommunikation zu benennen.)

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Was bedeutet dem Subjekt die Welt? 4.

Die Zeichen der Bedeutung

HÖRMANN schließt mit seinem funktionalistischen Verständnis der Sprache an die vom psycholinguistischen Hauptstrom weitgehend ignorierten Traditionen der Sprachpsychologie an, in denen sprachliche Symbole im Zusammenhang allgemeinerer semiotischer Konzepte als Mittel und Werkzeuge des kommunikativen und kognitiv-repräsentationalen Welt- und Selbstverhältnisses des Menschen verstanden werden. In gewissem Sinne kann zu diesen Traditionen auch die kognitive Entwicklungspsychologie PIAGETs gerechnet werden, in der Symbole und verbale Zeichen wie überhaupt kognitive Strukturen als intellektuelle Werkzeuge vorstanden werden, deren sich das Kind beim Aufbau seiner geistigen Konstruktionen bedient. Vor allem aber stehen das "Organon"-Konzept BÜHLERs (1934) und der Zeichenbegriff WYGOTSKIs (1934) für diese Traditionen. In den Untersuchungen BÜHLERs und Wittgensteins (der BÜHLER sprachphilosophisch nahestand; vgl. KAPLAN), aber auch bei WYGOTSKI sieht HÖRMANN eine geistesverwandte "funktionalistische" Grundauffassung, in der er eine Alternative zu der "Gedankengruppe Zeichen-Code-Information" erkennt (1976, 29o). HÖRMANNs Bezug auf BÜHLER ist oft, nicht zuletzt von ihm selbst, hervorgehoben worden. Aber nicht nur deshalb wollen wir hier einen Blick auf das Verhältnis seiner Überlegungen zu denen WYGOTSKIs werfen, sondern auch, weil sich damit unsere Aufmerksamkeit zwangläufig auf das Problem der Zeichenhaftigkeit der Sprache richten muß. Die Aussicht, Sprache als ein Handlungsmittel zu begreifen, geht nämlich für WYGOTSKI mit einem ganz bestimmten Verständnis des Mittelcharakters des Zeichens einher. Eine unmittelbare Kommunikation der Seelen, so WYGOTSKIs Ausgangsüberlegung, ist für eine wissenschaftliche Psychologie nicht denkbar. Von daher muß sie nach den Vermittlungen fragen, d. h. nach jenem "System von Mitteln, dessen Prototyp die Sprache ist" (12). Während WYGOTSKI jedoch seinen Begriff des Zeichens als eines Werkzeugs des sozialen Verkehrs und des Denkens vor allem in einen sozialgeschichtlichen und kulturhistorischen Entwicklungskontext mit dem Werkzeug der materiellen Produktion stellt (vgl. RISSOM, 97 f.; LEONTJEW & LURIJA, 17o; BROCKMEIER 1983, 72 f.), er insofern in der Perspektive eines, wenngleich nur impliziten, kulturhistorischen Konzepts psychologischer Semantik zu seinem semiotischen Konzept sprachlicher Mittel gelangt, argumentiert HÖRMANN in entgegengesetzter Richtung, gelangt aber zu z.T. durchaus vergleichbaren Schlußfolgerungen. Stellt WYGOTSKI fest, "daß ein Verkehr ohne Zeichen ebenso unmöglich ist wie ein Verkehr ohne Bedeutungen" (13), so argumentiert HÖRMANN, daß ein Zeichen ohne 157

Jens Brockmeier kommunikativen Gebrauch ebenso unmöglich ist wie eine Bedeutung ohne kommunikativen Gebrauch. Für HÖRMANN erzwingt der Begriff eines semiotischen Mittels, der den funktionalen Verwendungskontext des Zeichens reflektiert - er nennt ihn einen "dynamischen*1 Begriff - eine Konzeption psychologischer Semantik, die eine zentrale Dichotomie der Sprachwissenschaften unterlaufen muß: die Dichotomie zwischen der Sprache einerseits und der Verwendung von Sprache andererseits. Eine solche Zweiteilung liegt sowohl der de SAUSSUREsche Gegenüberstellung von langue (dem Sprachsystem und seinen allgemeinen Regeln) und parole (der angewandten, aktalisierten Rede) zugrunde als auch der CHOMSKYschen Trennung von Kompetenz (dem idealisierten System von Regeln, die die Erzeugung aller grammatischen Sätze einer Sprache ermöglichen) und Performanz (dem Modus des - immer defizienten - aktuellen Gebrauchs der Kompetenz in einer konkreten Situation), - um nur die beiden wichtigsten linguistischen Großtheorien dieses Jahrhunderts zu erwähnen. Zwar unterstellt HÖRMANN mit seinem Begriff des semiotischen Mittels Sprache natürlich nur in einem arialogischen Sinn als Werkzeug. Er unterscheidet sich darin von WYGOTSKI, aber auch von neueren linguistischen Präzisierungen des Werkzeugcharakters der Sprache (etwa KESELING, 88 f.) oder psychologisch-phylogenetischen Analysen, die von einem engen genetischen Entwicklungszusammenhang (etwa HOLZKAMP 1973,147 f.) oder zumindest von einer Korrelation von Werkzeugherstellung und Zeichenverwendung (etwa HILDEBRAND-NILSHON 198o, 233 f.) ausgehen. Dennoch resultiert aus seinem am Werkzeuggebrauch orientierten Verständnis des Sprachgebrauchs ein wichtiges Argument für die Auffassung, daß die Struktur der sprachlichen Zeichen nicht von ihrer funktionalen Semantik zu trennen ist: "Während syntaktische Beziehungen zwischen den in Erscheinung tretenden, d.h. ausgesprochenen oder noch auszusprechenden Teilen einer sprachlichen Äußerung sich aufspannen und so ganz dem System Sprache zugerechnet werden können, haben die...semantischen Strukturen eine andere Stellung: sie erstrecken sich zwischen der sprachlichen Äußerung ... und nicht ausgesprochenen Tatbeständen: Handlungen, Ereignissen, Bewußtseinszuständen, Kenntnissen, Gegenständen. Die Linguistik, die ja immer für ein in sich abgeschlossenes System Sprache plädiert, hat ganz konsequent der Semantik bisher sehr viel weniger Aufmerksamkeit gewidmet als der Syntax oder der Morphologie. Die Sprachpsychologie, welche Sprache als ein Werkzeug ansieht, das der Mensch ansetzt zur Bewältigung dar Welt, muß dagegen der Semantik größeres Gewicht beimessen, weil hier die Beziehung der Sprache zur Welt im Mittelpunkt steht, jene Beziehung, die den

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Was bedeutet dem Subjekt die Welt? Werkzeugcharakter der Sprache überhaupt ermöglicht." (HÖRMANN 1981, 64/64) Indem er auf den funktionalen Werkzeugcharakter der sprachlichen Zeichen orientiert, fordert HÖRMANN jedoch, genau genommen, nicht nur, der Semantik in der Sprachpsychologie ein größeres Gewicht beizumessen. Er fordert damit implizit auch eine andere Art von Semantik als diejenige, die vom Standpunkt eines statischen und gegenüber seinem gesellschaftlichen Anwendungszusammenhang substantialisierten Zeichenbegriffs überhaupt konzipiert werden kann. Das Zeichen als ein Handlungsmittel zu denken, und darauf läuft HÖRMANNs Argumentation hinaus, eröffnet nämlich einer psychologischen Semantik gänzlich andere Perspektiven, als wenn man es als eine selbständige Entität unterstellt. Fungiert das Zeichen erst einmal als ein substantielles Ding oder als eine subjektivierte Größe (was sich nicht ausschließen muß), so gibt es zwei prinzipielle Möglichkeiten, wie es sich auf das Bezeichnete beziehen kann: die referentielle und die strukturalistische Option. Die referentielle Option wird gemeinhin durch das scholastische Diktum Stat aliquid pro aliquo charakterisiert: Eines steht für ein Anderes. Eine für die Psychologie und die Semiotik des zwanzigsten Jahrhunderts einflußreiche Fassung findet das Referenz-Paradigma im dem "Bedeutungsdreieck" von OGDEN & RICHARDS (1923), in dem zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten der Begriff vermittelt; indem das Zeichen für einen Begriff, bzw. für ein begriffliches Wissen steht, welches sich auf einen Sachverhalt bezieht, erlangt es Bedeutung. Es ist die Relation, das Für-etwas-anderes-Stehen, das in diesem Sinn zumeist als 'Bedeutung' verstanden wind. Doch schon hinter der referenzanzeigenden Redeweise "ein Zeichen hat eine Bedeutung" verbirgt sich ein Problem. Indem HÖRMANN es aufdeckt, legt er den Finger auf eine ewige Wunde des semiotischen Denkens: Durch den "psychologische Vorgang der Verdinglichung" einer funktionalen Beziehung 'hat' 'das Zeichen' jetzt sozusagen noch etwas 'Zusätzliches', nämlich 'Bedeutung' (1976,17). Schon in dar prekären Tautologie des Sprachgebrauchs 'ein Zeichen hat Bedeutung' wird die Annahme, es gebe das Zeichen an sich, das nun auf vielfältig vorstellbare und theoretisch konzipierbare Weise (vgl. GRIMM & ENGELKAMP, 45 f.; LYONS, 108 f.) auf das Bezeichnete referiere, sinnfällig. Auch in der strukturalischen Semiotik, die (einschließlich des CHOMSKYschen Ansatzes) die Untersuchung der die Sprache konstituierenden Strukturen auf die Differenz der Sprachzeichen untereinander gründet, steht die Konzeption des substantialisierten Zeichen-Dings am Anfang. Machen wir uns klar, daß auch de SAUSSUREs Vorschlag, ein Zeichen durch das zu definie159

Jens Brockmeier ren, was es von anderen unterscheidet, als ein bestimmter Versuch verstanden werden kann, die mit jedem Zeichenbegriff per defmitionem aufgeworfenen Referenzprobleme zu lösen. Die hier prinzipiell denkbaren Lösungsstrategien hat BÜHLER einmal in einer relationstheoretischen Skizze des "allgemeinen Modells der Stellvertretung" auf zwei Varianten eingeengt: "Wo immer eine Stellvertretung vorliegt, da gibt es wie an jeder Relation zwei Fundamente, ein etwas und noch etwas, was die Betrachtung auseinander halten muß. Wenn nun hic et nunc ein Konkretem als Vertreter fungiert, so kann stets die Frage erhoben werden, kraft welcher Eigenschaften es die Vertretung erhielt... Es muß also stets eine zwiefache Bestimmung dieses Konkretums möglich sein, von denen die eine absieht von der Funktion des Vertretenden, Vertreter zu sein, um es... als das zu bestimmen, was es für sich ist oder wäre. Die zweite Auffassung dagegen sucht und findet an ihm diejenigen Eigenschaften, an welche die Vertretung gebunden ist. Im Falle des Zeichenseins sind es immer nur abstrakte Momente, kraft derer und mit denen das Konkretum 'als' Zeichen fungiert" (4o) In der strukturalistische Differenz, als dem Fokus, in dem das Zeichen Gestalt und Bedeutung gewinnt, können wir eines dieser von BÜHLER angesprochenen "abstrakten Momente" erkennen. Doch trotz und gerade wegen dieser Abstraktheit handelt es sich hier um ein im Sinne HÖRMANNs substantialisiertes Zeichengebilde, mit dessen Entwurf zugleich ein perennierender Widerspruchs entsteht, der die Geschichte der strukturalistischen Linguistik durchzieht. Denn, so HÖRMANN, gerade die Differenzbestimmung des Zeichens, "nämlich die Unterschiedenheit von anderen Zeichen, kann eigentlich nicht ohne Rekurs auf die Gelegenheit der Verwendung des Zeichens festgestellt werden" (1976,27). Der Verwendungszusammenhang der sprachlichen Zeichen ist aber in dem gleichen Ansatz, der von der Differenzdefinition ausgeht, durch die Trennng der Parole von der Langue, bzw. bei CHOMSKY durch die Trennung der Performanz von der Kompetenz ausgeschlossen. Einen Ausschluß, dem die Sprachwissenschaften, wie wir schon sahen, nicht zuletzt einen Gegenstand für ihren "galileischen Stil" verdanken. Wenn HÖRMANN in Abgrenzung von der sowohl für die referentielle wie für die strukturalistische Traditon grundlegenden statischen Substanz-Semiotik nun dafür plädiert, sprachliche Zeichen in Analogie zu Werkzeugen zu begreifen, so vor allem um deutlich zu machen: Sprache ist etwas, das der Mensch benutzt Zeichen sind Mittel, die ihr Leben nur dadurch gewinnen, daß sie durch Zeichenbenutzer, durch menschliche Subjekte eingesetzt werden, daß ihnen "Intentionalität" und damit, wie wir sagen würden, empirische Subjektivität zugrunde liegt. Der Mensch ist für HÖRMANN also nicht nur "bloße Bühne, auf der Sprachliches und Gedankliches ihr Wesen treiben" (HERR160

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? MANN, 29), er ist nicht nur physischer Träger eines informationsverarbeitenden Systems, Sender-Empfänger von semiotischen Signalen, die ihn wie physikalische Umweltreize treffen. Das, was ihn vielmehr angeht, sind die gemeinten Bedeutungen der Welt, die er mit Hilfe von Zeichen anderen vermittelt und die er als inhaltlich sinnvoll und kohärent verstehen will. Der funktionale ZeichenbegrifF, den HÖRMANN unter dem Namen eines "dynamischen" Begriffs fordert, hängt selbst also wesentlich ab von dem Begriff der Bedeutung. Zeichen, das können wir HÖRMANNs Ausführungen entnehmen, sind immer und von vornherein semantische Zeichen. Das Zeichen, gerade weil es bedeutungstransparent ist, wird erst zu dem, was es ist, durch das, was es bedeutet, und es bedeutet nur im Modus seiner Verwendung. Das Zeichen ist die Bedeutung. 5.

Zum Verhältnis von linguistischer und psychologischer Semantik

Wir haben unsere Bedenken gegenüber HÖRMANNs "Grundzügen" einer psychologischer Bedeutungstheorie schon angedeutet. Sie betreffen nicht die Programmatik dieses Konzepts und schon gar nicht die Begründung seiner Notwendigkeit, die sich wie ein roter Faden durch HÖRMANNs Kritik der traditionellen Linguistik und Sprachpsychologie hindurchzieht Sie betreffen die inkonsequente Durchführung dieser Programmatik. Mit dem Entwurf des Sinnkonstanz-Theorems spricht sie einen wichtigen Aspekt der psychologischen Semantik an. Dieser Aspekt kommt vor allem dann zum Tragen, wenn man das Bedeutungsproblem in der klassisch-referentiellen Tradition als Relation zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Sachverhalten betrachtet. In diesem Fall tritt in den Vordergrund der Frage, wie Bedeutungen subjektiv realisiert werden, auch ein wahrnehmungspsychologisches Problem: der Zusammenhang zwischen der kognitiven Wahrnehmung einerseits und der qualitativ-figurativen "Organisation" des Wahrgenommenen und seiner Bedeutungen andererseits. Dies ist vor allem das Thema der Gestaltpsychologie gewesen, die damit eine bestimmte Dimension der menschlichen Bedeutungswahrnehmung in den Mittelpunkt gestellt hat, oft allerdings auf problematische Weise verallgemeinert (vgl. zur Kritik der bedeutungstheoretischen Verabsolutierung dieser Dimension HOLZKAMP 1973,296 f.). Die gleiche Frage nach den Strukturen und Modi der Bedeutungswahrnehmung hat später in den Untersuchungen J. J. GIBSONs (1979) zu einer "ökologischen" Konzeption sinnlicher Bedeutungsrealisierung geführt: Wir nehmen nicht über sensorische Informationen vermittelte wertfreie physikalische Objekte wahr, denen wir dann "kognitiv" eine Bedeutung hinzufügen, bzw. deren Bedeutung wir im Sinne der Informationsverarbeitungstheorien "dekodieren", sondern es han161

Jens Brockmeier delt sich hier um die Wahrnehmung einer von vornherein (>wertehaltigen ökologischen Struktur". Sie steht in einer bestimmten funktionalen Beziehung zum Subjekt, welches in dieser Bezogenheit auf seine Welt nicht sensorische Reize, Informationseinheiten oder die physikalischen Dinge an sich wahrnimmt, sondern ihre objective gegenständliche Bedeutung. Jedes Ding sagt "unmittelbar", was es ist, - so hatte KOFFKA (1935) in den Principles of Gestalt Psychology behauptet. Und er hatte exemplarisch auf den Briefkasten verwiesen, der denjenigen, der einen Brief verschicken will, zum Einwerfen des Briefes "einläd" und mithin seine Bedeutung in Form seines "Aufforderungscharakters" - ein Begriff, der von Kurt LEWIN geprägt wurde - direkt mitteilt. GIBSONs funktionalistisch-ökologische Angebotstheorie knüpft hier an (vgl. GIBSON, 149 f.). Ihre These, daß die Dinge dem Menschen aufgrund seines natürlichen und alltäglichen Umgangs mit ihnen Angebote ("affordances") machen und ihre Bedeutungen so von selbst - und nicht über den Umweg über eine mentale Konstruktion der Bedeutungs-"Verleihung" - mitteilen, konzeptionalisiert zwar letztlich nur ein organismisches Spezifizitätsniveau der Bedeutungsrealisierung. Sie entspricht jedoch, wir mir scheint, auf wahrnehmungspsychologischer Ebene jener sprachpsychologischen Semantikkonzeption, die HÖRMANN mit seinem Sinnkonstanz-Theorem vertritt. So wie GIBSON die Relation zwischen sinnlicher Wahrnehmung und der wahrgenommenen objektiven Bedeutung eines Sachverhalts untersucht, so reflektiert HÖRMANN die Relation zwischen sprachlichen Zeichen und den außersprachlichen (phänomenologisch-) objektiven Bedeutungen. Begreift man jedoch diese referentielle Bedeutungsrelation zwischen Zeichen und Bezeichnetem als einen - trotz seiner enormen Komplexität - selbst wiederum nur semiotischen oder symboltheoretischen Aspekt derjenigen semantischen Relation, die durch das Bedeutungs- und Handlungsverhältnis zwischen dem Subjekt und seiner Welt konstituiert wird, dann gibt uns das Sinnkonstanz-Konzept hier keine neue Antwort. Es unterstreicht hingegen eine alte Frage. Dies ist die Frage nach dem Inhalt des S i n n s , den nach HÖRMANN das Individuum seiner Welt "verleiht" und gemäß dem es ihre Bedeutungen "versteht". Denn wir können mit dem Begriff des Sinns nicht operieren, ohne nach seinem Wozu und nach seinem Woher zu fragen. Der Sinn ist immer ein bestimmter Sinn. Was aber verleiht ihm seine Bestimmung? Was macht ihn für das Individuum zu einem konkreten Sinn, der, ähnlich dem, was LEONTJEW den "persönlichen Sinn" nennt (1982,144 f.; vgl. dazu HOLZKAMP-OSTERKAMP, 135 f.; BROCKMEIER 1986, 299 f.), seine Wirklichkeit zu einer auch subjektiv bedeutungsvollen Welt werden läßt? Um es noch einmal deutlich hervorzuheben: In dem Bedeutungsverhältnis zwischen dem Subjekt und seiner konkreten Lebens- und Handlungswelt geht 162

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? es um die psychischen Aspekte der Weltauseinandersetzung des Individuums, einer Auseinandersetzung, von der wir sehr wohl wissen, daß sie ja nicht nur auf psychologischer Ebene stattfindet In ihr fungiert das Mittel der sprachlichen-symbolischen Repräsentation als ein überaus wichtiges Handlungs- und Vermittlungsmittel. Aber diese Auseinandersetzung selbst reicht allemal über den Rahmen der Bedeutungsrelation von (sprachlichen) Zeichen und (außersprachlichen) Bedeutungen hinaus. Damit aber reicht sie ebenfalls über den Rahmen von HÖRMANNs Konzeption hinaus. Denn auch die Sinnkonstanz-Relation bewegt sich allein auf der erkenntnistheoretischen Bühne des klassisch-referentiellen Bedeutungsgeschehens, auch wenn HÖRMANN den plot " funktionalistisch" und "dynamisch" umgeschrieben hat Die für eine psychologische Semantik genetisch grundlegende Erkenntnisebene ist hingegen dort zu lokalisieren, wo die Protagonisten auf der Bühne des wirklichen Lebens auftreten, die, so SHAKESPEARE, jede künstliche Bühne vergessen macht Um die Bedeutungsverhältnisse auf dieser Ebene zu erschließen, müssen wir uns ^offensichtlich an anderen Bezugsgrößen orientieren als denjenigen, über die referentielle oder strukturalistische Semantiken ihren Gegenstand festlegen. So brauchen wir Begriffe, die es uns u. a. ermöglichen, über den nur situativ-biographischen Rahmen semantischer Koordinaten hinauszugehen, denn auch dieser kann nicht nur aus sich selbst heraus begriffen werden. Die dazu nötigen Begriffe verweisen vielmehr auf noch andere, übergreifendere subjektwissenschaftliche Dimensionen von Historizität. Eine der zentralen Bezugsgrößen für die Bedeutungsverhältnisse, mit denen wir es hier zu tun haben, haben wir z. T. über HÖRMANNs Argumentation schon angesprochen: das lebensweltliche Handlungssubjekt und das, wodurch es sich psychologisch manifestiert, seine empirische Subjektivität. Unter der Subjektivität des menschlichen Individuums, die in der traditionellen Kognitions- und Sprachpsychologie weitgehend ausgeschlossen ist und die auch bei HÖRMÄNN nur am Rande figuriert, wollen wir eine besondere "artspezifische" - phylogenetisch-historisch gewordene - anthropologische Potenz verstehen: seine Fähigkeit, durch sein Handeln und unter Einsatz für ihn spezifischer Mittel auf seine Lebensbedingungen aktiv einzuwirken und so seine, mit Klaus HOLZKAMP gesprochen, "subjekthaft-aktive Verfügung über seine eigenen Lebensverhältnisse" (1986,395) erweitern zu können. Eine Erweiterung, die der Mensch als gesellschaftliches Wesen immer nur in dem Maße seiner "Verfügung über individuell relevante gesellschaftliche Lebensverhältnisse" (ebd.) erlangen kann. Von diesem Zugang zum Bedeutungsproblem über einen psychologischen Begriff des Subjekts und der Subjektivität - als der besonderen Hand163

Jens Brockmeier lungsfähigkeit des menschlichen Subjekts, zumindest der Möglichkeit nach aktiv in seine gesellschaftlichen Weltbelange eingreifen zu können - versprechen wir uns zweierlei. Zum einen, daß er unsere mit HÖRMANN (und, hier nur am Rande erwähnt, auch von LEONTJEW) aufgeworfene Frage nach der funktionalen "SimT-Struktur der semantischen Organisation des zeichenvermittelten Umgangs mit den Bedeutungen verbindet mit der Frage nach der jeweiligen konkreten semantischen Dynamik, also der Frage nach den subjektiven Handlungsgründen der Zeichenbenutzer. Damit ist auch ein anderer wichtiger Unterschied zur sprachwissenschaftlichen Semantik bezeichnet. Denn es liegt auf der Hand, daß es für eine psychologische Semantik unabdingbar ist, auch die emotionale und motivationale Dimension der Zeichenbenutzer zu begreifen, welche doch, wie wir sahen, "durch" die Zeichen immer (auch) die nichtsemiotischen Bedeutungen ihrer Welt "meinen" und "verstehen". Charakterisiert es doch menschliche Symbolwahrnehmung überhaupt, daß sich das Erkennen des Allgemeinen (der Bedeutung) im Besonderen (des Zeichens) vollzieht (vgl. HOLZKAMP 1973, 152; BROCKMEIER 1986,292 f.). Wollen wir die Dynamik des Zeichengeschehens verstehen, müssen wir seine Akteure in ihrer umfassenden psychologischen Subjekthaftigkeit als Handelnde verstehen, die sich symbolischer Handlungsmittel bedienen, um "Intentionen" zu verfolgen, die jedoch letztlich nichtsymbolischen Ursprungs sind. Es möge hier reichen, allein an die komplexen Bedeutungsstrukturen der ersten verbalen Äußerungen von Kindern zu denken, um sich zu vergegenwärtigen, wie untrennbar in den sozialen "Formaten" der wirklichen Kommunikation nicht nur Syntax, Semantik und Pragmatik (vgl. BRUNER, 14) sondern eben auch Kognition und Emotion, Wissen und Fühlen verflochen sind (vgl. HILDEBRAND-NILSHON 1987, 54). Struktur, Funktion und Dynamik des Meinens sind von Struktur, Funktion und Dynamik des Wollens durch keine "galileische" Abstraktion abzulösen. Und auch diese Erkenntnis ist nicht ganz neu, wenngleich in der akademischen Psychologie kaum beachtet. Erinnern wir nur an WYGOTSKI, der seinen Untersuchungen zur Sprachentwicklung die Warnung voranstellte, daß eine Isolierung des Denkens und Sprechens vom Affekt "für immer die Erklärung der Grundlagen des Denkens selbst verschließt, weil die Analyse der das Denken determinierenden Faktoren notwendig die Aufdeckung der Motive des Denkens, die Bedürfnisse und Interessen, die Impulse und Tendenzen voraussetzt, die die Richtung der Gedankenfolge bestimmen" (15). WYGOTSKI schien die Annahme unabweisbar, daß ein "dynamisches Bedeutungssystem" existiert, welches eine "Einheit der affektiven und der intellektuellen Prozesse " darstellt, und zwar derart, daß in jeder sprachlichen Äußerung und in je164

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? dem Gedanken zugleich das emotive Verhältnis des Menschen zu der jeweils erfaßten und gemeinten Wirklichkeit verarbeitet ist (ebd). Zum anderen versprechen wir uns, über diesen Zugang auch einen Begriff der spezifischen Geschichtlichkeit der psychologischen und linguistischen Semantik des menschlichen Weltbezugs zu entwickeln. Ist die dynamische "Wirklichkeit" der Bedeutung doch gerade in ihrer besonderen Geschichtlichkeit begründet 6. Der sprechakttheoretische "Kontext", die logische "Wahrheit" und psychologisch "Wirklichkeit" der Bedeutung Bei diesem Zugang führen die ersten Schritte auf ein mittlerweile vielfach gesichertes Terrain. Daß die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung außerhalb des Kontextes, in dem sie artikuliert wird und außerhalb des Kontextes, auf den sie verweist - also außerhalb des Zusammenhangs, in dem die Sprecher und Hörer handeln und in dem sie durch ihre sprachlichen wie nichtsprachlichen Handlungen etwas erreichen wollen - kaum "sinnvoll" nachzuvollziehen ist, hat spätestens seit der handlungstheoretischen Wende in den Sprachwissenschaften - in ihrem Ausgang von AUSTIN und SEARLE einerseits und der Spätphilosophie WITTGENSTEINS andererseits (vgl. HARRAS, 95 f.) - auch die Psycholinguistik zur Kenntnis nehmen müssen. Die "Ordinary Language Philosophy" begründet als Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Analyse immer die konkrete Situation, in der jemand spricht und ein anderer zuhört (oder mehrere zuhören). Es zeigt sich zum Beispiel in semantischer Perspektive, daß selbst (und gerade) Einwort-Äußerungen ohne Berücksichtigung des situativen Handlungskontextes, in dem sie geäußert werden und auf den sie referieren, nur schwer zu interpretieren sind. Wie will man etwa ausmachen, ob es sich bei der Äußerung Du um eine Aufforderung, eine Aufmerksamkeit, eine Frage, den Ausdruck einer Überraschung, einen Todesbefehl oder eine Liebesaklärung handelt? Indem sie den Kontext der Sprechhandlung für das Verständnis der in ihm thematisierten Bedeutungen als konstitutiv erachtet, unterscheidet sich die Sprachphilosophie seit AUSTIN nicht nur von der rein grammatikbeschreibenden Linguistik, sondern auch von der logischen Semantik. Um uns diesen wichtigen Unterschied in seinen erkenntnistheoretischen Konsequenzen zu verdeutlichen, vergegenwärtigen wir uns kurz, was in dar philosophischen Logik unter Semantik verstanden wird. In der Logik und z. T. auch in der sprachanalytischen Philosophie spricht man von der Bedeutung einer sprachlichen Äußerung in dem Sinn, in dem von ihrer Wahrheit die Rede ist "Wie das Wort 'schön* der Ästhetik und 'gut1 der Ethik, so weist 'wahr* der Logik die 165

Jens Brockmeier Richtung", beginnt FREGEs Studie Der Gedanke (3o), eine Art Geburtsurkunde der modernen Logik. Gemäß dieser Richtungsangabe hat die Logik des zwanzigsten Jahrhunderts Bedeutung als ein Problem sprachlicher "Gesetze des Wahrseins" behandelt. Während etwa die klassische bürgerliche Philosophie die Strukturen und Regeln der Erfahrung und des "reinen Denkens" reflektiert, bezieht sich die neuere Logik ausschließlich auf sprachliche Aussagen und ihre Eigenschaften wahr oder unwahr: "Was wahr ist, sind gewisse Sätze; und der Wahrheit nachjagen heißt sich bemühen, die wahren Sätze von den anderen, die falsch sind, zu sondern." (QUINE, 17). Unter wahrheits- und bedeutungstheoretischem Gesichtspunkt kann damit allerdings nur eine kleine Teilmenge aller sprachlichen Äußerungen betrachtet werden. Der größte Teil etwa unserer Alltagssprache und unseres "Alltagswissens", also "das für alle Kommunikation nötige Betriebswissen" (HANNAPPEL & MELENK, 27), fällt von vornherein der logischen Abstraktion zum Opfer. "Um jedes Mißverständnis auszuschließen", so FREGEs definitorische Festlegung, "und die Grenze zwischen Psychologie und Logik nicht verwischen zu lassen, weise ich der Logik die Aufgabe zu, die Gesetze des Wahrseins zu finden, nicht die des Führwahrhaltens oder Denkens." (ebd., 31) Wie aber verstehen wir die "reine" logische Semantik eines Satzes und wie erkennen wir den "Wahrheitswert" seines Inhalts, des "Gedankens"? Dann, wenn wir wissen, unter welchen Bedingungen der Satz wahr ist Beispielsweise hängt die logisch-semantische Form des Aussagesatzes "Alle Schwäne sind weiß" von der Bedeutung der Satzform ("Alle ... sind ...") und der im Rahmen dieser Satzform erscheinenden Bedeutung der inhaltlichen Wörter ("Alle", "Schwäne", "sind") ab. Welche Bedingungen werden aber nun zur Überprüfung der Wahrheit eines Satzes berücksichtigt? Es sind traditioneller Weise logisch-grammatikalische; d.h. über den semantischen Wahrheitsgehalt eines Satzes entscheidet seine Form. Die semantische Form eines Satzes ist seine logische Form, sie "betrifft die Art und Weise, wie der Satz in 'wahrheitsreievanter' Weise zusammengesetzt i s t " (TUGENDHAT/WOLF, loo). Semantische-inhaltliche Komponenten (etwa im oben definierten referentiellen oder pragmatischen Sinne) kommen mithin nur soweit in Betracht, wie sie logisch-grammatikalisch verifizierbar, und das heißt in der Regel, formalisierbar sind. FREGE geht sogar so weit, daß er alle Sätze, die sogenannte deiktische Ausdrücke ("ich", "jetzt", "dort") enthalten und deren Wahrheit daher nicht nur von ihrer logisch-grammatikalischen Bedeutung, sondern auch von der Situation, in der sie geäußert werden, abhängt, aus der Logik ausschließt Im Unterschied zur Frage nach der (logisch-semantischen) Wahrheit, die der Bedeutungsforschung in der modernen Logik die Richtung weist, ist es die 166

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? Frage nach der lebensweltlichen Wirklichkeit der Bedeutung, die die psychologische Semantik zu verfolgen hat. Als zentrale Bezugsinstanz dieser Wirklichkeit erscheint, wie schon erwähnt, das psychologische Subjekt und die empirische Realität seiner Lebensbewältigung. Sie bildet den unhinteigehbaren Ausgangspunkt jeder psychologischen Subjektwissenschaft Im Unterschied zu den analytischen Theorieansprachen, die die Linguistik und die Logik gegenüber ihrem Gegenstand, der Abstraktion des linguistischen bzw. des logischen Subjekts, erheben, kann die Psychologie zudem nicht beanspruchen, ihren Gegenstand, das Psychische bzw. die empirische Subjektivität des menschlichen Individuums, beschreiben oder gar analysieren zu können, ohne ihn in seiner historischen Dimension zu begreifen. Gäbe es für sie allein die Alternative: Logik oder Literatur, müßte sie sich - wohl oder übel - für die letztere entscheiden. Schon bei der kategorialen Spezifizierung des Mensch-Welt-Zusammenhangs als dar bedeutungstheoretisch grundlegenden Untersuchungseinheit tritt die Frage in den Vordergrund, wie dieser Zusammenhang in den verschiedenen Ebenen und Aspekten seiner Historizität entwicklungstheoretisch zu differenzieren ist und so etwa empirischen Einzelanalysen zugewiesen werden kann. Wir können die historische Dimension psychologischer Bedeutungen im allgemeinen wie die sprachlich-symbolischer Bedeutungen im besonderen dabei auf drei (erkenntnisgenetisch) aufeinander aufbauenden Ebenen betrachten: als zeitliche Entwicklung in der Naturgeschichte, in der menschlichen Gattungs-, also der Gesellschaftsgeschichte und in der Individualgeschichte. Um die Notwendigkeit hervorzuheben, die letztere, die jeweils individuelle Lebensgeschichte, zur Grundlage dafür zu machen, die persönlichen Bedeutungsbezüge eines Individuums zu seiner Welt zu begreifen und damit auch die sprachlich-symbolischen Bedeutungen, über die sich die individuellen Wirklichkeitsbezüge jeweils konkret vermitteln, nachzuvollziehen, soll an dieser Stelle allein auf das Schicksal Florentino Arizas und seiner Sprach-Liebe zu Fermina Daza verwiesen sein. Auch die sprechakttheoretische Bedeutungskonzeption kann als ein erster Argumentationsschritt in diese Richtung verstanden werden, denn jeder situative pragmatische Kontext verweist letztlich auch auf den biographischen Verständnishintergrund der Sprecher und Hörer. Eine These, für deren empirische Begründung in einem ganz andersartigen kulturgeschichtlichen Zusammenhang, dem der Psychoanalyse, viele Argumente erarbeitet worden sind. Ungleich umstrittener als die bedeutungstheoretische Funktion des biographischen Kontextes ist hingegen, daß die für das Subjekt psychisch relevanten Bedeutungen seiner Wirklichkeit weder in seinem lebensweltlich-situativen noch in seinem lebenshistorischen Kontext allein zu begreifen sind, 167

Jens Brockmeier sondern in die schon erwähnten übergreifenden historischen Koordinaten des Psychischen eingebunden sind. Hier scheiden sich die Geister. Und was überhaupt heißt "Historizität" des Psychischen? Wenn sie, wie in jüngster Zeit gelegentlich geschehen, als psychologischer Gegenstand "entdeckt" wird, dann finden sich hier zumeist die unterschiedlichsten Meinungen und Sichtweisen (vgl. etwa die Beiträge in JÜTTEMANN). Der historische Zugang, auf den sich, wie wir glauben, die Fragestellungen einer psychologischen Semantik beziehen müssen, verweist hingegen auf eine Tradition mit einer durchaus bestimmten Kontur. Sie zeichnet sich durch die Annahme aus, daß die Psychologie überhaupt erst dadurch wissenschaftlich wird, daß sie ihre aktualempirischen, auf hier und jetzt ablaufende Prozesse bezogenen Studien durch einen historisch-genetischen Begriff nicht nur der Individualgeschichte, sondern auch der Naturgeschichte und der Gesellschaftsgeschickte ihres Gegenstandes kategorial begründet; ja, daß sie ohne ein solches historisches Fundament ihren "eigentlichen" Gegenstand, die empirische Subjektivität gesellschaftlicher Individuen, gar nicht zu begreifen vermag. Dieser historischen Ansatz kann sich auf theoretische Voraussetzungen stützen, die auf die dialektische Philosophie des deutschen Idealismus und des historischen Materialismus zurückgehen (BROCKMEIER 1988 a); psychologisch ist er zum ersten Mal von der "Kulturhistorischen Schule", insbesondere von Alexej N. LEONTJEW (1973; 1982), ausführlicher dargelegt und in seinen bedeutungstheoretischen Konsequenzen (vgl. BROCKMEIER 1987) aufgezeigt worden. Daran anschließend haben vor allem Klaus HOLZKAMP (1973; 1983) und die "Kritischen Psychologie" in systematischer Absicht versucht, ausgehend von der allgemeinsten Grundkategorie des "Psychischen" einen individualwissenschaftlichen Ansatz zu begründen, der schon in den Kategorien, mit denen er seinen Gegenstand entwickelt, durch die "Historizität" dieses Gegenstands geprägt ist und seinen, auf den drei genannten Ebenen jeweils spezifischen historische Zugang zum Problem der menschlichen Subjektivität auch explizit als solchen reflektiert (vgl. etwa HOLZKAMP 1983, 41 f.; MARKARD; MAIERS & MARKARD, 18 f.) Ich möchte die Tragweite eines solchen subjektwissenschaftlich-historische Ansatzes hier nur in einem, für unser Problem einer psychologischen Semantik allerdings zentralen Punkt diskutieren und mich dabei insbesondere auf HOLZKAMPs Grundlegung der Psychologie beziehen.

168

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? 7.

Objektive und subjektiv "abweichende" Bedeutungen

Dieser Punkt betrifft die Frage, wie überhaupt derartig persönliche Spezifizierungen in den individuellen Bedeutungsbezügen wie denjenigen, die wir im "Fair' Florentino Ariza kennengelernt haben, entstehen können. Wie kann es dazu kommen, daß sie in relativer Eigenständigkeit als subjektive oder persönliche Bedeutungen gegenüber den objektiven gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen existieren können? Da Linguistik, Logik, Sprachphilosophie und Sprachpsychologie Bedeutungen gemeinhin nur als komponentieUe Elemente objektiver Systemstrukturen unterstellen, ist es nicht verwunderlich', wenn wir uns von dieser Seite keine großen Auskünfte erhoffen dürfen. Und auch HÖRMANNs Vorstellung von der Suche nach einer subjektiv sinnvollen Welt, die das Verstehen von Bedeutungen sprachlicher Äußerungen orientiert, hilft uns hier nicht viel weiter. Sie verweist vielmehr auf eine andere Frage, die, wie schon dargelegt, erst wirklich überleitet von einer sprachwissenschaftlichen Semantik zu einer psychologischen Semantik: Welche subjektiven Handlungsgründe, Wahrnehmungsschemata und emotionalen Bewertungskriterien lassen bestimmte Aspekte der Welt als individuell bedeutend, andere hingegen als unbedeutend erscheinen? Wie entsteht zum Beispiel jener Sinn-Zusammenhang, in dem Florentino Ariza die Welt und seine Geschäftsbriefe als bedeutungsvoll versteht, über den der Direktor der Karibischen Schiffahrtsgesellschaft aber nur den Kopf schütteln kann? Die Psychologie hat diese Phänomene häufig als solche der individuellen "Abweichung1* verstanden, bzw. - da sie sie vom Standpunkt eines statistischen Häufigkeitsdenkens als zumeist nicht signifikativ ausgeklammert hat nicht verstanden. Bezeichnenderweise sind die umfangreichsten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Problem der individuell "abweichenden" Realisierung objektiver Bedeutungen in der Psychiatrie, Neurologie und Psychoanalyse erfolgt Und besonders dort, wo etwa die "Krankengeschichte" eines Individuums nicht nur als Naturgeschichte einer Pathographie, also als Geschichte von psychotischen oder neurologischen "Ausfällen" der individuellen Fähigkeit zur Realisierung sozial verallgemeinerter und als "normal" verstandener Bedeutungszusammenhänge aufgefaßt wird, sondern - wie es etwa der Neuropsychologe Oliver SACKS im Anschluß an Alexander R. LURUA versucht - wo sie als besondere Geschichte eines Subjekts und seiner Geschichte, seiner spezifischen lebensgeschichtlichen Welt- und Selbstauseinandersetzung verstanden wird, also als eine Art historischer "Neurologie der Identität" (SACKS, 9), die das Individum nicht als klinisches Objekt sondern als ein Subjekt der realen Welt sieht, - dort sind auch für die psychologische 169

Jens Brockmeier Bedeutungsforschung wichtige Einsichten zu gewinnen. Und zwar auch in die "normale" Natur ihres Gegenstandes. Gerade hier läßt sich erkennen, daß die persönliche Realisierung von Bedeutungen immer auch ein Versuch ist, die Welt selbst (und gerade) unter extren|en objektiven und subjektiven Bedingungen nicht als bizarr oder chaotisch, sondern als "sinnvoll" und bedeutungskohärent zu verstehen. Denn nur eine als bedeutungskohärent wahrgenommene und akzeptierte Welt ist eine Welt, die "sinnvolle" Handlungsorientierungen erlaubt. Doch wir wollen unsere Frage nach der relativen Verselbständigung individueller Bedeutungsbezüge der Art, die das Weltverhältnis Florentino Arizas und insbesondere sein Sprachverhalten charakterisieren, zunächst noch allgemeiner stellen. Vergegenwärtigen wjr uns dazu noch einmal, daß das Verständnis der Sprache der Geschäftsbriefe, an denen sich der Protagonist von Garcia MARQUEZ' Roman so vergeblich abmüht, seit der Entstehung von Handel und Veikehr durch ziemlich eindeutig konventionalisierte Bedeutungen geregelt ist. Diese sind wie die Bedeutung eines Arbeitsmittels durch ihre soziale Funktion, durch ihren Stellenwert im arbeitsteiligen Prozeß der gesellschaftlichen Reproduktion objektiv definiert So wie das, was man unter einem bestimmten Ausdruck versteht, seine "extensionale Bedeutung", nicht durch den Begriff festgelegt ist, den der einzelne Sprecher im Kopf hat, sondern, wie Hilary PUTNAM in seiner Konzeption der "soziolinguistischen Arbeitsteilung" argumentiert (227 f.), im allgemeinen sozial festgelegt ist - denn sprachliche Arbeit wird genau so geteilt wie "wirkliche" Arbeit (245) so ist auch die "Extension" von Geschäftsbriefen etwas Soziales und Historisches. Was also erlaubt es, sich von dieser objektiv determinierten und sozial institutionalisierten Bedeutungsfestlegung zu lösen, ein Logiker würde vielleicht sogar sagen: was erlaubt es, die "Wahrheit" dieser Bedeutung zu mißachten? Vor der Frage, wie kommt es zu jenem merkwürdigen Sprach-Welt-Verhältnis Florentino Arizas, was führt ihn im Kontext seiner Lebensgeschichte dazu und was verleiht diesem Verhältnis eine, wie wir gesehen haben, gewisse persönliche Kohärenz, subjektive Begründetheit und Sinnhaftigkeit (die alles andere vermuten läßt als einen neurologischen "Ausfall"), steht also zunächst noch eine andere Frage: Was macht eine solche relative Verselbständigung gesellschaftlicher Bedeutungen zu persönlichen Bedeutungen im Kontext individueller Handlungsstragien überhaupt möglich?

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Was bedeutet dem Subjekt die Welt?

8. Bedeutungen als Handlungsdeterminanten und als Handlungsmögli keiten Diese Frage stellt sich um so nachdrücklicher, wenn man die Entwicklung der Bedeutungen in der Phylogenese des Psychischen betrachtet. Denn für einen bestimmten Organismus sind die Bedeutungen der Umwelt zunächst eindeutige artspezifische Aktivitätsdeterminanten, das heißt, sie gelten für alle Angehörige einer bestimmten Art gleichermaßen eindeutig. Die Tiere orientieren sich, indem sie aus ihrer biologischen Welt ständig Zusammenhänge von aktivitätsrelevanten Merkmale abstrahieren. Alle diese Realäbstraktionen zusammen machen die bedeutungsvolle Umwelt einer bestimmten Art aus. Die Umwelt der Tiere besteht also nicht aus einem physisch konturiertem Etwas, sondern aus bedeutungsvollen Signalen, nach denen die Tiere jeweils ihre Aktivitäten ausrichten. Wir haben es daher hier mit Bedeutungen zu tun, welche "immer die Beziehung von Organismen einer gewissen Ausprägungsart und Entwicklungshöhe zu den biologisch relevanten Merkmalskomplexen ihrer historisch konkreten artspezifischen Umwelt" ausdrücken (HOLZKAMP 1983,92). Bei den höheren Tieren verselbständigen sich dann die Orientierungsaktivitäten, und es lösen sich etwa Beobachtungsphasen von Phasen eingreifender Aktivitäten ab. Dennoch gilt in der Regel, daß die Bedeutungen, einmal realisiert, fast völlig mit den ihnen entsprechenden Aktiyitätsdeterminationen identisch sind. Der Gepard, eine bestimmte physiologische Bedürfnislage wie Hunger gegeben, realisiert die Bedeutung einer Gazelle ohne eine irgendwie geartete "bewußte" Distanz. Die Gazelle in ihrer Bedeutung als Freßfeind /Beute wahrzunehmen, heißt, es darauf anzulegen, sie zur Strecke zu bringen, heißt sich anschleichen, Entfernung abschätzen, rennen, springen usw. Je größer der Hunger, desto eindeutiger und zwingender wird diese Bedeutungs- und Aktivitätsverbindung. Unabhängig von diesem Kontext (und jenseits einer bestimmten immateriellen Aktionsgrenze, die auch die Grenze der Wahrscheinlichkeit darstellt, daß die auf längere Strecken ausdauerndere Gazelle überhaupt erreicht werden kann) ist die Gazelle für den Gepard bedeutungslos. Kein Gepard würde jemals die Gazelle nur um ihrer selbst wegen wahrnehmen und womöglich die Schönheit ihrer grazilen Erscheinung bewundern. In seiner Untersuchung der natur- und sozialgeschichtlichen Entwicklung des Psychischen hat HOLZKAMP (1983) verfolgt, wie sich in der Evolution allmählich "primäre Bedeutungen" als Ausführungsbedeutungen von bloßen "Orientierungsbedeutungen" unterscheiden lassen. So differenzieren sich schon auf tierischem Niveau individuelle Lernfähigkeit und in diesem Zusammenhang auch eine Art von gelernter Individualisierung artspezifischer Bedeutungsstrukturen heraus. In der Anthropogenese, der evolutions- und sozi171

Jens Brockmeier alhistorischen Entwicklung des Menschen und seiner "gesellschaftlichen Natur", spezifizieren sich die "Orientierungsbedeutungen" zu "Arbeitsmittelbedeutungen" oder "Mittelbedeutungen", deren entscheidende und die ganze weitere menschliche Geschichte bestimmende Qualität darin besteht, daß in ihnen auf gegenständliche Weise verallgemeinerte Zwecke verkörpert und tradiert werden können. Allgemeine Zwecke sowie gesellschaftliches Können und Wissen überdauern darin den partikulären Gebrauch des Hilfsmittels eines Einzelnen sowie seiner individuellen Erfahrungen. Arbeitsmittelbedeutungen entstehen in kooperativen Lebenszusammenhängen. In diesen erlangen zusammen mit den Arbeitsmitteln auch andere soziale Tatbestände den Charakter verallgemeinerter Bedeutungen, die sich die Mitglieder der sozialen Gesellungseinheit zunehmend symbolisch repräsentieren und kommunizieren, bis sich allmählich ein genereller gesellschaftlicher Vermittlungs- und Verweisungszusammenhang von Gegenstandsbedeutungen und sich verselbständigenden Symbolbedeutungen entfaltet. Da sie in ihn integriert sind, ja, da sie ihn 'tragen', beziehen sich die einzelnen Individuen (mit weiter zunehmender Arbeitsteilung und sozialer Funktionsdifferenzierung) somit immer mehr auf das Ganze ihrer Gesellungseinheit Hat sich der Übergang von der Dominanz natuigeschichtlicher zu der Dominanz gesellschaftlicher Entwicklungsfaktoren einmal vollzogen, ergibt sich damit einhergehend nun ein Umstand, der für das Bedeutungsproblem von großer Tragweite ist Es löst sich nämlich der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Erzeugung von Lebensmitteln bzw. produktiven und konsumtiven Lebensbedingungen einerseits, und deren Nutzung und Verbrauch durch ein und dasselbe Individuum andererseits auf. Der Einzelne ist an der Herstellung von Lebensmitteln und -bedingungen, an der Reproduktion der Gesellungseinheit und damit seiner eigenen Existenz nur noch im gesellschaftlichen Maßstab beteiligt. Das Individuum erhält, wenn die gesellschaftliche Entwicklung als solche einmal begonnen hat, sein Leben jetzt nicht mehr unmittelbar, verzehrt also z. B. nicht mehr direkt, was es allein oder in einem überschaubaren Lebenskollektiv kooperativ erzeugt oder gesammelt hat Die Lebensbewältigung erfolgt jetzt nur noch über die Beteiligung des Einzelnen an der Reproduktion des sozialen Gesamtsystems; wobei der natürlich nach wie vor bestehende Zusammenhang zwischen dem individuellen Beitrag und der allgemeinen Systemerhaltung für das Individuum prima facie keineswegs mehr erkennbar ist HOLZKAMP spricht daher von der "gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz", die er als "objektives gesamtgesellschaftliches Grundverhältnis des Individuums im gesellschaftlichen Mensch-Welt-Zusammenhang" bezeichnet (1983,193). In dieser umfassenden sozialen Vermittelt172

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? heit des Einzelnen besteht die Spezifik menschlich-gesellschaftlicher Lebensgewinnung. Geht man allerdings nicht in der (hier nur verkürzt) angedeuteten Weise historisch vor, sondern betrachtet man allein einzelne Individuen (sei es in laborexperimenteller Isolation, sei es in ihrem situativen oder biographischen Kontext), so kann diese Spezifik natürlich nicht in den Blick kommen. Es ist ein sozial-ökonomischer Prozeß der Naturauseinandersetzung, der allgemeine "Stoffwechselprozeß" Gesellschaft-Natur, der zu dieser Art der gesellschaftlichen Vermitteltheit des Einzelnen führt. Aber von ihm aus sind nun auch die Spezifizierungen der psychischen Aspekte menschlicher Lebensgewinnung zu begreifen. Und von hier aus entwickelt HOLZKAMP daher auch sein Konzept psychologischer Bedeutungsverhältnisse. Seine zentrale Aussage ist: Auf menschlich-gesellschaftlicher Ebene sind Bedeutungen nicht mehr eindeutige Hmälmgsdeterminanten, sondern sie stellen sich für das Individuum dar als gesellschaftliche Bandimgsmöglichkeiten. Die Bedeutungsbeziehung des Menschen zur Welt ist demnach wesentlich eine Möglichkeitsbeziehung. Sie impliziert für jedes Individuum einen materiellen oder ideellen Handlungsspielraum, in dem es sich zu den Möglichkeiten, die ihm durch die objektiven Bedeutungsstrukturen angeboten werden, in einem gewissen Spektrum von Alternativen verhalten kann und verhalten muß. Seine Bedeutungswelt ist eine Welt von Mehrdeutigkeiten. Ihr entsprechen Komplementärentwicklungen auf der subjektiven Seite, und es entstehen - gewissermaßen als psychische Aspekte des materiellen Lebensprozesses selbst - zentrale anthropologischen Qualitäten wie sie etwa in der mit dem cartesianischen Zweifel anhebenden Philosophie der Neuzeit unter den Titeln von Reflexivität, Moralität oder Urteilskraft erörtert worden sind. Psychologisch gesehen, gründet in dieser Notwendigkeit des reflexiven Welt- und Selbstverhältnisses, in dieser kognitiven Distanz zum eigenen Handeln und Denken, jenes "Freiheitsmoment*' der menschlichen Existenz, das in einer langen Tradition des philosophischen und politischen Denkens thematisiert und, man denke etwa an den Existentialismus, gar als zentrale ontologische Bestimmung des menschlichen Seins hypostasiert worden ist. Und hier ist auch das begründet, was man mit einem Wort des Evolutionsbiologen Francois JACOB das "Spiel der Möglichkeiten" des menschlichen Bewußtseins nennen könnte. Ein Spiel, in dem wir mit Florentino Ariza eine, vielleicht nicht gerade alltägliche Variante kennengelernt haben. Genaugenommen lassen sich in HOLZKAMPs Analyse zwei, wenn-? gleich eng verflochtene Aspekte des Bedeutungsbegriffs unterscheiden. Zum einen bilden die Bedeutungen einen relativ stabilen und selbständigen gesellschaftlichen Zusammenhang, eine "gesamtgesellschaftliche Synthese" (1983, 233) von Bedeutungszusammenhängen oder -strukturen. Diese bildet sich hi173

Jens Brockmeier storisch vor allem mit den eigenständigen Systemen der symbolischen Repräsentation heraus. Mit der gesprochenen und dann vor allem mit der geschriebenen Sprache entstehen die gegenständlichen Mittel der symbolischen Repräsentation und Kommunikation, in denen sich raumzeitlich übergreifende Bedeutungsstrukturen verdichten und materiell verselbständigen. (Vgl. BROCKMEIER 1987 a, 198 f.) Trotz aller Besonderheiten hat sich die Entwicklung der Symbolbedeutungen dabei nach ähnlichen Gesetzen vollzogen wie die anderer gegenständlicher Mittelbedeutungen. Die mit der systemischen Verselbständigung der Mittel der symbolischen Repräsentation sich vollendende neue gesellschaftliche Synthese des Weltbezugs der Individuen steht dabei für einen objektiven Zusammenhang, in dem sich die Notwendigkeiten arbeitsteiliger gesamtgesellschaftlicher Reproduktion ausdrücken. Jene gesellschaftlichen Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten, die in den Bedeutungsstrukturen auf der Ebene dieser Synthese repräsentiert sind, verkörpern die allgemeinen Handlungsnotwendigkeiten, die von der Gesellschaft insgesamt ausgeführt und berücksichtigt werden müssen, wenn sie als Gesamtsystem auf einer bestimmten historischen Stufe ihrer Reproduktion existieren soll. Das bedeutet etwa für die ökonomischen und ökologischen Grundlagen, daß das System in der Lage sein muß, zumindest seine Ausgangsbedingungen immer wieder zu reproduzieren. Diese Reproduktionsnotwendigkeiten sind gewissermaßen die Bedingungen der Möglichkeit entwickelter (gesamtgesellschaftlicher Systeme. Im gesellschaftlichen Durchschnitt, "modal", muß sich also jedes einzelne Indiviuum diese allgemeinen Bedeutungen aneignen. Um dies zu gewährleisten haben sich u. a. bestimmte soziale Institutionen "spezialisiert", wie Familie, Erziehungs- und Ausbildungsstätten, Informationsund Archivierungseinrichtungen usw. Dieser Funktion entsprechen natürlich auch die institutionalisierten Welten der gesellschaftlichen Symbolbedeutungen. Dazu rechnen wir insbesondere die Sprache, aber auch-andere sozialkulturelle Umgangsformen und Interaktionsmuster, weiche Aleksej Alekseevic LEONTJEW etwa als "Rollenbedeutungen" bezeichnet und von den "Wortbedeutungen" und den "gegenständlichen Bedeutungen" als eine dritte Grundform der Bedeutung unterscheidet (134 f.). Sie sind vor allem in der Soziologie untersucht worden. Pierre BOURDIEU z. B. hat sie in seinem Konzept des "Habitus" als "inkorporierte Notwendigkeiten" (278) bezeichnet. Sie erlauben es den Individuen u. a., neuartige Handlungsstrategien gegenüber neuartigen Situationen zu entwickeln und dabei zugleich sozial normierte Bedeutungszusammenhänge zu tradieren. So schreiben sich beispielsweise in ein- und derselben Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsmatrix, die dazu dient, das Neue zu bewältigen, auch die dazu 174

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? notwendigen Voraussetzungen des Alten fort, da sich in ihnen, so BOURDIEU, eine "Einverleibung der Objektivität" vollzogen hat, in der sich die Zwänge der materiellen Reproduktion auch habituell realisieren. - Diese Vermittlungsdialektik tritt schon in derfrükindlichenBedeutungs- und Sprachaneignung zu Tage. Wie BRUNER ausgeführt hat, zeichnen sich z. B. die sozialen "Formate", die standardisierten Interaktionsmuster zwischen Erwachsenen und Kleinkindern, in denen die grundlegenden sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungstrukturen angeeignet werden, durch große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gegenüber neuen Situationen und Bedeutungen aus (33). Die relative Abgeschlossenheit und gleichzeitige Offenheit dei Interaktionszusammenhänge, in denen Kinder und Erwachsene ihre Handlungen koordinieren, zeigen sich besonders, wenn das Kind sich in ihnen über den Umgang mit "Benennungen" erste Wortbedeutungen aneignet So können eine Mutter und ihr Kind manchmal über ein Jahr hinweg Übereinstimmung darüber zu erreichen versuchen, wie ein Ding genannt werden soll. (Vgl. BRUNER, 56; BROCKMEIER 1988). Gisela SZAGUN hat ähnliche Phänomene der Entwicklung von Wortbedeutungen daher mit den PIAGETschen Begriffen Assimilation und Akkommodation zu erfassen versucht (222 f.). , Abweichend von der auf dieser Ebene angesprochenen Bedeutung von "Bedeutung" versteht HOLZKAMP auf einer zweiten Ebene darunter aber aucli noch etwas anderes. Dies ist der "Bezug jedes einzelnen Menschen zum gesamtgesellschaftlichen Handlungszusammenhang" (1983, 234), wie er sich dem Individuum in den übergreifenden Bedeutungsstruktuien der ersten Ebene anbietet. Mit Bedeutung wird hier also die individuelle Beziehung auf die objektiven Bedeutungsstrukturen bezeichnet. Eine solche Beziehung geht jedei Mensch ein. Erst durch sie gewinnt er seine unverwechselbaren individueller Besonderheiten, seine Persönlichkeit, seine Identität. Indem er die gesellschaftlich produzierten Bedeutungen als Handlungsmöglichkeiten und Hand lungsangebote auf seine besondere Existenz bezieht und sie in dieser Beziehung realisiert, sie zugleich aber auch neu interpretiert und modifiziert, entwickelt er das, was der junge MARX sein "menschliches Wesen" nannte: "In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse." (6) - Auch wenn wir uns vorstellen können, daß ein Einzelner in völliger Abgeschiedenheit von aller menschlichen Zivilisation lebt, so sieht, fühlt, denkt und monologisiert er - wie wir von Robinson Crusoe wissen - gleichwohl immer inmitten gesellschaftlicher Bedeutungen. Jenseits der Welt der gesellschaftlichen Bedeutungen gibt es für das Individuum kein Dasein, oder, sagen wir vorsichtiger - wenn wir etwa an Kaspar HAUSER oder die von LURUA oder SACKS analysierten neuropathologischen Menschen denken, bei denen sich ein bedeutungshaft strukturiertes Welt- und Selbstverhältnis "auf 174

Jens Brockmeier gelöst" hat -/jenseits gesellschaftlicher Bedeutungskohärenz gibt es kein wahrhaft menschliches Leben. Aber wenn wir von den objektiven Bedeutungsstrukturen sagen können, daß sie für den gesamtgesellschaftlichen Prozeß objektiv notwendige Reproduktionserfordernisse darstellen, so kann man von einer derart notwendigen Bedeutungsbeziehung des Individuums zu seiner Welt gerade nicht sprechen. Das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Bedeutungen und den individuellen Handlungen ist kein lineares Kausalverhältnis. LEONTJEW, der sich ebenfalls mit diesem Problem auseinandergesetzt hat, betont die Schwierigkeiten, die der Psychologie oft dadurch entstanden sind, daß sie die Bedeutungen im individuellen Bewußtsein als mehr oder weniger vollständige Projektionen der gesellschaftlichen Bedeutungen verstanden hat und damit gerade das Problem der Doppelexistenz der Bedeutungen im gesellschaftlichen wie im individuellen Bewußtsein, auf den psychologisch und erkenntnistheoretisch zu unterscheidenden Ebenen des individuellen und des kollektiven Subjekts, von vornherein ausgeschlossen hat. (LEONTJEW 1982,142; vgl. dazu BROCKMEIER 1983, 70/71; zum "individuellen" und "kollektiven Subjekt" vgl. auch LEKTORSKI, 138 f.; HOLZKAMP 1984, 21 f.; HILDEBRAND-NILSHON 1987,53) HOLZKAMP hat in seiner Untersuchung des Verhältnisses zwischen der Ebene der individuellen Bedeutungsbezüge und der der objektiven Bedeutungsstrukturen daher herausgestellt, daß es der materielle Reproduktionsprozeß selbst ist, der das Bedeutungsverhältnis als "Möglichkeitsverhältnis" zwischen dem einzelnen Subjekt und dem Sozialzusammenhang aus sich hervorbringt: "Der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang bietet sich dem Individuum durch das verselbständigte Verweisungsgesamt der Bedeutungsstrukturen als ein 'in sich' lebensfähiges Erhaltungssystem dar, in dem in verallgemeinertvorsorgender Weise menschliche Lebensmittel/-bedingungen produziert werden, unto* denen der Einzelne prinzipiell auch dann seine Existenz erhalten kann, wenn er sich nicht an der Erhaltung dieses 'Systems* beteiligt" (1983, 235). Zwar ist ein gewisses Minimum an individuellem Handeln entsprechend den "inkorporierten Notwendigkeiten" der gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen unabdingbar. Aber ebenso unabdingbar für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion auf dem einmal erreichten Komplexitätsniveau ist der Entscheidungs- und Reflexionsraum, der Freiheits- und Spielraum des Individuums. Es ist dies auch jener Raum, in dem die Bedeutungen, je nach subjektiven Gründen, Strategien und Kontexten dar Handlungen, in denen sie realisiert worden, eine neue kognitive und emotionale Bewertung erfahren können. So wird der individuelle Erfahrungshorizont jedes Einzelnen und seine

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Was bedeutet dem Subjekt die Welt? spezifisch menschliche Existenzweise als "Intentionalitätszentrum" zu einer unhintergehbaren Untersuchungsebene der psychologischen Semantik. 9.

Handlungsmöglichkeiten und kognitive Distanz

Zwar muß Florentino Ariza irgendwann in seinem Leben einmal Lesen und Schreiben gelernt haben, aber welchen Gebrauch er dann von den erworbenen symbolischen Mitteln macht, was er liest und was er schreibt, ist, wie wir gesehen haben, durch die objektiv-gesellschaftliche Semantik der sprachlichen Symbolbedeutungen keineswegs "ausdeterminiert". Denn der entscheidende Determinationsfaktor ist er selbst. Den Bedeutungen als Inbegriff objektiver Bedingungen und Möglichkeiten des Handelns entspricht psychologisch daher ein Begriff der subjektiven Handlungsgründe. Denn es ist letztlich immer die subjektive Bedeutung, die die objektiven Bedingungen und Möglichkeiten jeweils für das Individuum gewinnen, welche die praktischen, kognitiven und affektiven Strategien seines Handelns verständlich werden läßt Erst durch sie erscheint das Tun des Einzelnen als psychologisch begründet. Wir können sicher sein: Was es auch tut, das Subjekt hat dafür seine Gründe; selbst wenn sie für die anderen oder gar für das Subjekt selbst nicht offenkundig zu Tage treten mögen. Die Grenzen des Handlungs- und Reflexionsraums, der durch diese individuellen Strategien erschlossen wird, können enger oder weiter gezogen sein, abhängig von den jeweiligen historischen, gesellschafts-, klassen- und situationsspezifischen Umständen und damit wiederum auch abhängig vom Subjekt selbst Aber dieser Handlungsraum selbst, die Möglichkeit des Menschen, in Alternativen zu agieren, zu denken, zu empfinden, sein Tun individuell zu "begründen" und in diesem psychologisch-anthropologischen Sinne 'frei* zu sein - auch wenn diese Freiheit nie "rein" sondern immer konkret ist, also eingeschränkt, unterdrückt oder gar "freiwillig" unterboten wird - ist nur zu zerstören, wenn das Individuum in seiner menschlichen Subjektivität selbst zerstört wird. Der kognitive Möglichkeitsraum ist der Schauplatz jener Prozesse, in denen sich die Strategien des Handelns und Denkens, der Erkenntnis und der symbolischen Repräsentation entwickeln. In diesen Strategien verbinden sich Reflexion und Aktion, und sie werden dabei angeleitet durch die kognitive wie emotionale Wertung der objektiven Bedeutungen, die jedes Individuum fortwährend vollzieht Einen Aspekt dieses psychologischen Möglichkeitsraums wollen wir im Zusammenhang unserer Ausgangsfrage besonders hervorheben. Es ist dies die hier erwachsende Möglichkeit des Subjekts, sich gegenüber der sinnlichen Unmittelbarkeit seines Daseins und seines eigenen Tuns selbst zu distanzieren. 177

Jens Brockmeier Diese Fähigkeit zur kognitiven Distanz hat auch eine semiotische Genese, die auf die der kognitiven Mittel der Zeichen, der Symbolbedeutungen zurückweist. Aus ihrer Genese ergibt sich, daß die Individuuen sich zu den Vorgaben der objektiven Bedeutungsstrukturen in einem mehrfachen Sinne reflexiv verhalten können, da sie nun auch zu sich selbst in einem reflexiven Verhältnis stehen und sich ebenfalls zu diesem Verhältnis wiederum in kognitiver Distanz verhalten können. Auch wenn die Menschen dies können, heißt das nicht, daß sie es in jedem einzelnen Fall auch tun. Viele dieser selbstieflexiven kognitiven Prozesse verlaufen beinahe selbstregulativ, ohne unsere "bewußte" Kontrolle. Öder sie haben ihren Ort dort, wo wir vom Unbewußten sprechen. Oder aber sie verlaufen domaßen verkürzt, daß von einem kognitiven Abstand zu ihnen kaum noch die Rede sein kann: Hätte etwa Doktor Juvenal Urbino, für über ein halbes Jahrhundert der Ehemann von Fermina Daza, von der geheimen Bedeutung, die seine Frau für Florentino Ariza besaß, und damit von dessen versteckten Empfindungen, Phantasien und Plänen erfahren, so hätte er ihn zweifellos auf der Stelle erschossen, - ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde in kognitiver Distanz zu verharren. Hier geht es uns jedoch um eine allgemeine kognitive Möglichkeit des Menschen, nämlich derjenigen, die sich aus der Existenz der Mittel der symbolischen Repräsentation ergibt Indem in der Folge der Herausbildung dieser Mittel eine eigenständige gesamtgesellschaftliche Synthese von Bedeutungsstrukturen entsteht, kann sich sich im gleichen Maße die direkte psychische Verhaftung auflösen, die den Einzelnen auf die unmittelbar gegebenen Bedeutungen seiner jeweilig individuellen, bzw. nur in einem engen Kooperatioriszusammenhang konstituierten sozialen Lebenswelt fixiert Während etwa auf diesem rein kooperativen* Niveau ein Ereignis in seiner Bedeutung allein auf die jeweils aktuelle individuell-kooperative Existenz bezogen werden kann, kann es nun in einem durch die symbolischen Mittel repräsentierten überindividuell-gesellschaftlichen Kontext eingeordnet werden. Die psychische Verhaftetheit im Hier und Jetzt, in der zeiträumlichen Unmittelbarkeit wird gesprengt. Die Welt- und Selbstvergegenwärtigung wird, um ein Wort PIAGETs zu verwenden, "dezentriert"; und sie wird so, wir wir noch sehen werden, zugleich potenziert Damit sind weitreichende Konsequenzen für eine Konzeption des Bewußtseins angedeutet Während für die Individuen in der anthropogenetischen Phase, die noch vor der dominant gesellschaftshistorischen Entwicklung verläuft, solche gerade angesprochenen kognitiven Prozesse charakteristisch sind, in denen die Bedeutungen unmittelbar auf den eigenen Lebenszusammenhang und die direkte Existenzsicherung bezogen werden, entsteht das, wie HOLZ178

Was bedeutet dem Subjekt die Welt? KAMP betont, psychologisch wesentliche Moment des Bewußtseins erst mit dem sozialhistorischen Phänomen der kognitiven Distanz. Es ist von daher nicht hinreichend, das Bewußtsein als besondere menschliche Weise des Weltund Selbstbezugs allein als individuelle Fähigkeit zur ideellen Antizipation von Arbeitsresultaten, oder allgemein zur geistigen Planung von Handlungsverläufen zu bestimmen. Ebenfalls reicht es nicht, allein die Existenz sprachlich-symbolisch repräsentierter Bedeutungen schon mit 'Bewußtsein* gleichzusetzen. Die entscheidende Qualität des Bewußtseins als der spezifsch menschlichen Entwicklungsform des Psychischen entsteht vielmehr, indem sich die psychologische Unmittelbarkeit' der menschlichen Existenz auflöst (ein Prozeß, in dem ideelle Antizipationsfähigkeit und Sprache wichtige funktionale Momente darstellen). Sie entwickelt sich auf der Grundlage der gegenständlichen und symbolischen Vermitteltheit der individuellen Existenz mit dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, und zwar als die Möglichkeit zu einer umfassenden "gnostischen Welt- und Selbstbeziehung" (HOLZKAMP 1983,237). Dieser Umstand ist auch für das psychologische Bedeutungsproblem aufschlußreich. Die "bewußte" Möglichkeitsbeziehung kann nämlich auch auf der Ebene der symbolischen Bedeutungsstrukturen selbst referieren. Sprachlichsymbolische Repräsentation, mit deren Herausbildung als selbständiger Symbolwelt die gesamtgesellschaftliche Synthese sich erst vollendet (und die damit, wie wir sahen, eine entscheidende Bedingung der Möglichkeit kognitiver Distanz und der Entstehung individuell spezifischer Bedeutungsbezüge darstellt), wird so selbst zu einer Instanz, der gegenüber subjektive Möglichkeitsbezüge realisiert werden können. Auch zu den Symbolzusammenhängen, die kraft konventionalisierter Verbindlichkeit existieren, kann man sich in einem gewissen Rahmen individuell 'unverbindlich' verhalten. Man kann von ihnen 'freien' Gebrauch machen kann, etwa bewußt falschen, täuschenden oder irreführenden, oder aber ironischen oder ästhetischen Gebrauch, aber auch - wie Florentino Ariza - erotischen Gebrauch. Bezogen auf die Besonderheiten der Sprache öffnet sich die allgemeine Möglichkeitsbeziehung der Individuen zur Welt daher noch weiter. Sie ermöglicht noch komplexere Differenzierungen, wird dadurch aber zugleich mehrdeutiger und widersprüchlicher. Die unendlichen Möglichkeiten der sprachlichen Mittel symbolischer Repräsentation und Kommunikation sind auch aus diesem Grund nicht aus sich selbst heraus erschöpfend erklärbar. Denn sie resultieren vor allem daraus, daß sich in der Welt der sprachlichen Zeichen die psychologischen Bedeutungs- und Möglichkeitsverhältnisse noch einmal brechen und vervielfältigen. Die Wirkung der Semiose ist eine enorme Po-

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Jens Brockmeier tenzierung, und zwar nicht nur eine Potenzierung der Zeichenverhältnisse sondern auch der Bedeutungsverhältnisse. Wie diese mehrschichtige Vervielfältigung funktioniert, wird deutlicher, wenn wir die Potenzen der sprachlichen Zeichen zerlegen. Zum einen gehorchen die Sprachzeichen der gleichen Entwicklungslogik, die allen Arbeits- wie psychologischen Handlungsmitteln aufgrund der Mittel-Zweck-Dialektik ihres Anwendungszusammenhangs eigen ist: Das Mittel setzt in seiner Anwendung mehr Zwecke frei, als sich in ihm in seiner Herstellung vergegenständlicht haben. Das Mittel ist in seinen funktionalen Möglichkeiten immer reicher als in seiner statischen Wirklichkeit, die ihm als bloßes Resultat eines Herstellungssprozesse eigen ist. (Vgl. BROCKMEIER 1983 a, 184 f.) - Dieser Möglichkeitshorizont erweitert sich nun noch einmal, wenn wir die symbolischen Handlungsmittel als Momente des durch die kognitive Distanz charakterisierten Selbst- und Weltverhältnisses des "bewußten" Subjekts begreifen. Und schließlich gewinnt der so entstehende Möglichkeitshorizont der kognitiven Mittel noch eine zusätzliche Dimension, wenn wir die besondere Eigenart der sprachlichen Zeichen: ihre materiale Literalität, beleuchten. So erkennen wir nämlich, daß die in der Materiatur der Zeichen geronnenen Symbolbedeutungen sich als Momente bewegen, denen im "unendlichen Text" der Sprache ein überraschendes Eigenleben eingehaucht ist. Es verschränken sich hier gewissermaßen mehrere Möglichkeitsdimensionen - die der allgemeinen Entwicklungsdialektik der Mittelbedeutungen, die der kognitiven Welt- und Selbstdistanz des Subjekts und die der materialen Eigenlogik der Sprache - und eröffnen eine neue Welt menschlicher Vielschichtigkeit und Komplexität. Es ist dies die Welt, in der uns Florentino Ariza begegnet. Und es ist dies auch die Welt, in der die psychologische Semantik ihre Fragen zu verfolgen hat

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Ole Dreier Der Psychologe als Subjekt therapeutischer Praxis * 1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7.

Fragestellung Typische Problematiken für den Psychologen in therapeutischen Handlungsräumen Bewältigungsweisen therapeutischer Praxis Der individualisierte Macher Die therapeutische Beziehung Die alltägliche Lebenswelt des Klienten Die eigene Institution Die konkreten gesellschaftlichen Veibindungen der Parteien Schlußfolgerungen Die Vermitteltheit therapeutischen Handelns Die Begreifbarkeit der unmittelbaren Problematiken des Psychologen in seiner Praxis Die Aufhebung der Abstraktion therapeutischen Denkens Der aktuelle Stand therapeutischer Handlungsfoimen Die Funktionalität individualisierter Handlungsfoimen Die Bedeutung therapeutischer Gespräche Die therapeutische Handlungsfähigkeit

1.

Fragestellung

In Therapiekonzepten und in alltäglichen Vorstellungen über Therapie ("Alltagstheorien") stehen die Klienten im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ihre Probleme und deren Lösung werden abgehandelt Kommen Therapeuten überhaupt darin vor, werden sie eher am Rande, also weniger intensiv und umfassend betrachtet. Meistens erscheinen sie nur als die, woran bestimmte Forderungen nach bestimmten Verhaltensweisen gerichtet sind, und die diese zum Wohle ihres Klienten realisieren sollen. Es sieht so aus, als ob sie einerseits diesen äußeren Forderungen unterworfen sind, andererseits dennoch in der Lage sind, die Veränderung des Klienten zu bewirken. Ferner erscheinen sie in ihrer Betroffenheit und Belastung durch das Leiden und die Forderungen seiner Überwindung - sozusagen als Opfer des Leidens ihrer Klienten und zugleich Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in: Joseph Dehler/ Konstanze Wetzel (Hg.): Zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der Psychologie, va&g- Verlag Marburg 1988. 185

Ole Dreier

Macher ihrer Therapie. Wird der Therapeut explizit thematisiert, resultiert also eine eingeengte Sicht auf ihn als Subjekt. Schließlich bleibt der Therapeut jedoch als berufliches Subjekt ganz zentraler Bestandteil therapeutischer Praxis. Wie sollte man denn seine beruflichen Handlungsmöglichkeiten, Kompetenzen, Befindlichkeiten in der skizzierten Weise begreifen können? Wir haben es hier mit einem konzeptionellen Rückstand zu tun, der aufgearbeitet werden muß, bevor wir über eine Theorie des Psychologen als berufliches Subjekt dieser Praxis verfügen, als Teil einer umfassenden und adäquateren Theorie therapeutischer Praxis. Dieser Rückstand ist ein wesentlicher Grund der gegenwärtigen Professionalitätskrise, sowohl in den Augen der Bevölkerung, der Klienten wie der Therapeuten. Bis wir ihn aufgearbeitet haben, bleiben die Therapiekonzepte Konzepte einer beruflichen Praxis ohne konzipiertes berufliches Subjekt. Eine Theoretisierung der Psychologen als berufliche Subjekte ist auch schon deswegen unerläßlich, weil sie es doch sind, die diese Praxis entwickelten bzw. entwickeln sollen. Unser Interesse an einer solchen Theorie gilt mit anderen Worten, der Erarbeitung eines Konzepts, das der Erweiterung therapeutischer Handlungsfähigkeit dienen kann. Es gibt einen weiteren eigentümlichen Widerspruch in den üblichen Konzepten und Vorstellungen ber therapeutische Praxis, da nämlich die Handlungen der einen Partei, hier des Therapeuten, völlig aus den Bedürfnissen und der Perspektive der anderen Partei, hier des Klienten, abgeleitet werden können und sollen (vgl. z.B. Forderungen nach "emphatischen" Prämissen therapeutischen Handelns). Als ob es faktisch nur eine Partei mit ihren Bedürfnissen und Perspektiven gäbe! Wie kann aber ein Subjekt seine Handlungen völlig von außen her sehen, begründen und bewerten, ohne dabei selbst als Subjekt in Auflösung zu geraten oder an Perspektiven- und Prämissenverwicklung und -Verwirrung zu leiden? Wo bleibt dann die Eigenperspektive? Kann sich ein Subjekt faktisch dermaßen fremdbestimmt durch eine andere Person verhalten - in völliger dienstbereiter Selbstaufopferung und Bescheidenheit? Als ob es sich alles gefallen ließe, wenn es nur zum Wohle seines Gegenübers, hier seines Klienten geschehe. Das ist doch unglaubwürdig! Bekanntlich treten dann auch "Störungen" einer derartigen Ausrichtung von Aufmerksamkeit und Handlungen auf, wo es eben nicht passiert bzw. "gelingt". Das wird aber dann meistens als "Störung" eingestuft und bewertet; d.h. es wird am "Ideal" festgehalten. Wir brauchen übrigens nur die Klienten über ihre Auffassung ihres Therapeuten zu befragen, um ein anderes Bild zu erhalten! Die Therapeuten richten sich also nicht nach der faktischen Sicht des Klienten, sondern nach einer von 186

Der Psychologe als Subjekt ihnen konstruierten Klientenperspektive. Das macht die Perspektivenfrage noch komplizierter und verwickelter (s. DREIER 1987a, 1987c). Aus dem bisherigen folgt eine Aufgabe bei der Aufarbeitung eines tragfähigen Konzepts therapeutischer Praxis. Diese Aufgabe beinhaltet Fragestellungen, die sonst vernachlässigt werden. Wir müssen den Therapeuten als Subjekt erforschen: seine Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen in der therapeutischen Praxis, seine Befindlichkeiten und sein Denken, Kompetenzen und Handlungsgründe, vorhandene Probleme, Widersprüche und Entwicklungsmöglichkeiten als Aspekte seiner Handlungsräume. Damit ist natürlich nicht gemeint, die therapeutische Praxis auf das Therapeutensubjekt zu reduzieren, sondern ihn vollständiger in die Konzeption darüber einzubeziehen.

2. Typische Problematiken für den Psychologen in therapeutischen Hand lungsräumen Wir versuchen nun aus dem Standpunkt des Psychologen in der therapeutic sehen Praxis typische gegenwärtige Problemschwerpunkte bei der Behinderung/Erweiterung seiner Handlungsmöglichkeiten zu analysieren, ausgehend von der Art und Weise, wie sie in seiner subjektiven Befindlichkeit erscheinen. Wir wollen die Widersprüche und Belastungen darin verdeutlichen, im Interesse ihrer Oberwindung, d.h. die Fragen verfolgen: Was behindert mich in dieser Praxis; welches sind meine Möglichkeiten; woran liegen diese Behinderungen und Möglichkeiten; wie kann ich sie bestimmen und meine Einflußmöglichkeiten darauf nutzen Unser Ausgangspunkt ist die "Kernfrage" in der subjektiven Befindlichkeit des Therapeuten: Anderen Menschen helfen zu wollen nimmt als Motiv einen ganz zentralen Stellenwert ein, deswegen auch die Frage nach meinen Möglichkeiten und Behinderungen, diese Hilfestellung zu leisten. In der subjektiven Befindlichkeit spiegelt sich meine Bewertung meiner erfahrenen, gegenwärtigen-künftigen Möglichkeiten zu helfen wider. Diese Befindlichkeit ist typisch schwankend, je nachdem wie gut es mir vorkommt, daß es mir gelungen ist bzw. künftig wird gelingen können. Ich bewate es also erstens typisch so, daß es mir nicht immer gleich gut gelingt Die Schwankung spiegelt zweitens wider, daß es mir unabgesichert vorkommt, was ich leisten kann bzw. geleistet habe, weswegen meine Bewertung davon sich nicht recht stabilisiert Fragen wir nach, um diese schwankenden Bewertungen genauer zu klären, stoßen wir zunächst auf die Tatsache, daß Klientenprobleme und Veränderungsprozesse komplex, unabgeschlossen bzw. -schließbar,' relativ unbestimmt und individuell, mehrdeutig und widersprüchlich sind. Das erschwert 187

Ole Dreier natürlich meine Bestimmung meiner Möglichkeiten, deswegen auch meine Nutzung und Bewertung davon. Es besteht zudem die Tendenz, diese Unbestimmtheiten zu personalisieren (DREIER 1987b), d.h. sie als Ausdruck meiner persönlichen beruflichen Unsicherheit und Unzulänglichkeit zu deuten, wo doch umgekehrt die Unbestimmtheit meine Unsicherheit bedingt. Die Bewertungsdilemmata schlagen deswegen oft in Bewertungswidersprüche um, worin Elemente meiner Bewertungen sich widersprechen, ohne daß ich die Widersprüche aufheben kann. Hinzu kommt, daß ich die vorgeführten bzw. von mir vorgestellten Bewertungen der anderen Parteien (Klienten, Mitbetroffenen, Kollegen, Auftraggeber) einbeziehen muß, die sich ebenso gegenseitig widersprechen und im Widerspruch zu meinen stehen (s. DREIER 1987a). Die Bewertungswidersprüche in meiner schwankenden Befindlichkeit werden zusätzlich genährt von meinem subjektiven Erfolgsdruck. Dieser Druck wird einerseits von Klienten, deren Bekanntenkreis, Kollegen, Institutionen, Auftraggebern an mich vermittelt oder explizit übeigeben. Andererseits wird er von mir selbst als Fordeurng und Druck gestellt, nicht nur um den Erwartungen der anderen Parteien zu genügen, doch aber schon von diesen in meiner Leistung anerkannt zu werden. Diesem Druck zufolge liegt es an mir, ob ein Fall zum Erfolg führt oder nicht: Ich muß einen Erfolg herbeiführen können, obwohl ich schon einsehe, daß er natürlich auch von der Art und Weise abhängt, wie der Klient und die anderen Parteien sich zu seinen Problemen und zur Therapie verhalten. Denn - und hier stellt sich das Beeinflussungsdenken wieder ein - ich muß den Klient dazu bringen, sich so zu verhalten, daß der Erfolg, den ich mir vorstelle (bzw. die anderen sich vorstellen) sich faktisch einstellt. Letzten Endes muß ich also alles für den Klienten tun können: das Wohl des Klienten ist mein Erfolgskriterium. Da es nicht immer gelingt, habe ich das Gefühl von Druck und Unzulänglichkeit wenn ich den Mißerfolg nicht geradezu personalisierend dem "unmöglichen" Klienten überstülpe. Anders ausgedrückt: jedesmal, wenn es nicht gelingt, kommt es mir vor, daß es mir hätte gelingen sollen, wenn ich nur dies oder jenes gesehen und getan hätte. Gelingt es, fühle ich mich jedoch oft nicht entsprechend siehe, ob es an mir lag (die Gründe sind ja relativ unbestimmt, s.o.). Es ist eben ein Erfolgsdruck, der sich folglich besonders dann einstellt, wenn es nicht gelingt und nicht gesichert vorkommt. In ihrer Berufslaufbahn ziehen viele Therapeuten daraus subjektiv den Schluß, ihre Forderungen zu senken. Sie können auch versuchen, ihr Selbstwertgefühl durch Vorstellung "gelungener" Beispiele zu retten, bzw. mit Kollegen darüber zu konkurrieren, wer die besten Beispiele vorstellen kann. Ferner können sie bei Kollegen und/oder in einer Supervision Trost oder Unterstützung finden, usw. 188

Der Psychologe als Subjekt Diese Verhaltensweisen bringen aber nicht das subjektive Unbehagen völlig zum Verschwinden. Bestehen bleibt die selbstkritische Forderung: "Ich hätte vorhersehen können/sollen"; "ich müßte sichern können, daß es so und nicht so geht/endet". Besonders wenn es nicht gelingt oder unvorhergesehene Schwierigkeiten im Verlauf auftauchen, besteht die Tendenz, den Grund dafür in persönlichen "Kunstfehlern" zu sehen. Das ist besonders ausgeprägt im Nachdenken, d.h. erst nachdem bestimmte unerwünschte und unvorhergesehene Handlungen, Ereignisse sich eingestellt haben. Es werden dann Rückschlüsse gezogen: "Ich hätte damals sehen sollen,... das tun müssen." Hinter diesen Gedanken und Bewertungen steckt die Logik des Hauptstroms der Psychologie: die bedingungsanalytische Kontrollwissenschaft und ihre Methodologie (s. HOLZKAMP 1983a, Kap.9). Sie spiegeln mit anderen Worten eine Praxis wider, die man über den Kopf des Klienten durchsetzen soll, indem man ihn der Therapie als seiner Bedingung unterwirft. Solche verurteilenden Bewertungsprozesse beruhen in Wirklichkeit auf der Übergabe von Verantwortung und Kontrolle über die Therapie durch Klienten, Bekannten, Institution, Auftraggeber und meine mehr oder weniger ungebrochene Übernahme davon. Demgemäß bin ich für die Lösung der Klientenprobleme verantwortlich. Das ist besonders ausgeprägt, wenn der Klient keine Kontrolle über sein Leben hat, und wenn kein anderer ihm hilft, also bei Ohnmacht, Isolation, abnehmender Solidarität und entsprechender Individualisierung von Verantwortlichkeit. Aus dem bisherigen geht hervor, daß der Psychologe die Bedingungen erfolgreichen therapeutischen Handelns offensichtlich nicht voll im Griff hat. Er kann sich ihnen nicht sicher sein. Die an ihn bzw. von ihm gestellten Forderungen und Hoffnungen sind nicht immer und vollständig bei den vorhandenen Bedingungen einlösbar. Die Widersprüchlichkeit seiner Bedingungen und Aufgaben und des Verhältnisses der involvierten Parteien zur Therapie betreffen unmittelbar seine Handlungsmöglichkeiten und Befindlichkeiten. Die verbreiteten Widersprüche der skizzierten subjektiven Problematiken können deswegen nicht schlicht personalisiert weiden. 3.

Bewältigungsweisen therapeutischer Praxis

Der Psychologe hat zum alltäglichen Überleben innerhalb seiner vorhandenen Handlungsräume eine Bewältigungsstrategie nötig. Ebenso hat er ein Bedürfnis, seine Betroffenheit von den Widersprüchen zu verarbeiten. Nur reichen die angedeuteten Bewältigungsweisen dafür nicht aus (s. DREIER 1987b), obwohl sie offensichtlich naheliegend und unmittelbar funktional sind, was man an ihrer Verbreitung sieht. Sie führen nämlich nicht perspektivisch über die 189

Ole Dreier skizzierten Widersprüche hinaus, sondern bleiben innerhalb und können deswegen auch nicht dazu beitragen, die subjektiv problematische Betroffenheit davon aufzuheben. Jetzt wollen wir nach Bewältigungsweisen fragen, die einen besseren Griff über die therapeutische Praxis erlauben und in Richtung der Oberwindung einiger ihrer Widersprüche in unserer Gesellschaft führen. Uns interessiert ja die Erweiterung therapeutischer Handlungsmöglichkeiten, also die Entwicklung therapeutischer Praxis in Richtung umfassenderer, erweiterter Praxisformen. Wir werden uns an die real benutzten Bewältigungsweisen halten, mit den relativ engeren davon anfangen und aus der Bestimmung ihrer Beschränkungen und Widersprüchlichkeiten heraus die Notwendigkeiten erweiterter Bewältigungsweisen begründen. Die verwendete Einteilung der Bewältigungsweisen entspricht einer Unterscheidung verschiedener realer Ebenen therapeutischer Praxis. Wir werden in der folgenden Analyse den Bezug zwischen den konkreten Bewältigungsweisen des Therapeuten und den vorhandenen Therapiekonzepten weglassen (s. DREIER 1987c). 31.

Der individualisierte Macher

Damit ist eine Bewältigungsweise gemeint, womit ich alle therapeutischen Veränderungen auf meine Beeinflussungen zurückführen will: Ich bin es, dar in der Therapie etwas macht. Analysiert man den Prozeß, kritisch wie vorantreibend, muß man also fragen: "Was habe ich gemacht?" Oder aus der Sicht der anderen: "Hast Du schon dies oder jenes gemacht?" Ich bin mit anderen Worten letztendlich alleinverantwortlich dafür, was passiert oder nicht in der Therapie. Ich bin der individualisierte Agent - meistens in Gestalt eines außenstehenden, neutralen, effektiven Experten. Allgemein formuliert ist diese Bewältigungsweise dem Gegenstand sowie der Aufgabe therapeutischer Praxis inadäquat (s. ausführlicher DREIER 1987g): Da sind ja immer nicht nur ich, sondern mehrere Subjekte beteiligt, die alle unterschiedliche Erfahrungen, Gedanken, emotionale Bewertungen über das vorhandene Problem beisteuern, und die dementsprechend in ihren Handlungen unterschiedliche Beiträge zu seiner Lösung und unterschiedlichen Einfluß auf den Verlauf und das Eigebnis der Therapie haben (s.u.). Wie sollte ich denn alles alleine machen können? Das müßte zudem auf der Voraussetzung beruhen, ich könnte die Bedeutung der Lebensverhältnisse des Klienten für ihn kontrollieren, die er nicht selbst kontrollieren kann. Wie könnte ich sonst sein Leben, seine Verhaltensweisen, Befindlichkeiten etc. kontrollieren? Wie soll ich also eine Kontrolle ausüben, über deren Bedin190

Der Psychologe als Subjekt gungen ich nicht verfüge? Wie kann ich für Verhältnisse alleinverantwortlich sein, worauf ich keinen entsprechenden Einfluß habe? Versuche ich es trotzdem, muß jetzt deutlich geworden sein, daß es Kosten hat und subjektive Problematiken für mich auslöst, z.B. subjektiven Erfolgsdruck und unmotivierte Klienten. Es sei denn, ich glaube, die Lebensverhältnisse des Klienten haben keine Bedeutung für seine Befindlichkeiten, so daß ich einfach seine mir zugängliche problematische Befindlichkeit beeinflussen kann, oder daß bestimmte therapeutische Techniken mich dazu in die Lage versetzen, Wohlbefinden beim Klienten trotz seiner schlechten Bedingungen zu bewirken. Mit dieser Bewältigungsweise versucht der Psychologe eine individuelle Umwelt- und Selbstkontrolle über seine Praxis auszuüben und entsprechend beim Klienten zu installieren. Er affirmiert die individualisierte Alleinverantwortlichkeit und versucht seine Unabgesichertheit durch individuelle Kontrollformen zu kompensieren. Es ist mit anderen Worten eine defensive Bewältigungsweise therapeutischer Praxis (s. die entsprechende Einschätzung "technizistischer" Praxen in der "demokratischen Psychiatrie" Italiens bei BASAGLIA 1987). Sie läuft einer Demokratisierung, d.h. gemeinsamer Verantwortung über die therapeutischen Belange zuwider. Dies auch dann, wenn die Kontrolle darüber mit dem Argument legitimiert bzw. geleugnet werden soll, es geschehe, um dem Klienten zu helfen. Die angeführten Problematiken individualisierten Machens treffen auch bei der besonderen Form davon zu, wo ich meine Praxis so bewältigen will, daß ich mich als Modell, also persönliches Vorbild meiner Klienten aufstelle. Dabei setze ich ja voraus, daß ich bestimmte Eigenschaften, Fertigkeiten, Verhaltenweisen besitze, die ich als Lösungsmittel für die Probleme der Klienten bestimme, und daß ich dafür sorgen muß, daß sie diese durch Beobachtung und Imitation von mir übernehmen. Auf diese Weise fällt alles wieder letztendlich auf mich zurück, diesmal noch direkter auf meine persönlichen Eigenschaften. Gewißfindenreal Beobachtung, Identifikation und Imitation statt; es bleibt aber fragwürdig, ob meine Verhaltensweisen die richtigen waren für den Klienten. Also setzt sich eine "Erziehungsförmigkeit" (s. HOLZKAMP 1983b) und eine Überhöhung der Bedeutung meiner Persönlichkeit durch, die ebenfalls im Widerspruch zur (eingangs erwähnten) erklärten "Klientenzentriertheit" therapeutischer Dienstleistungen und deren affirmierten Abhängigkeit von den Bedürfnissen des Klienten stehen. Eine letzte besondere Gestalt therapeutischen Machertums soll benannt werden, nämlich die Vorstellung, daß die therapeutische Praxis auf die Wirkung meiner Persönlichkeit, der vielbesprochenen "Therapeutenpersönlichkeit", zurückgeführt werden kann. Das mag durchaus ähnlich "direktive" 191

Ole Dreier Formen annehmen wie die des expliziten Kontrollierens, bleibt aber im Prinzip individualisierte Kontrolle, obwohl sie in verborgeneren, subtileren, und deswegen oft effektiveren Formen geübt wird. Zum Beispiel wenn der Therapeut, wie es heißt, sich mehr "auf den Klienten einläßt", um ihn besser beeinflussen und besser über seine Therapie bestimmen zu können. Sein Zugeständnis, daß auch er von dem Verhalten des Klienten betroffen wird, kann er ja verbinden mit der Forderung, daß er mit dieser Betroffenheit selbst fertig werden können muß, d.h. auch diesen Einfluß wie jeden anderen der Therapie kontrollieren können muß. Jedenfalls muß er, wenn er die Kontrolle über den Verlauf aufrechterhalten will, vorsichtig mit der Offenbarung seiner Gedanken umgehen. Er muß sie tendenziell für sich behalten und über den Kopf des Klienten hinweg denken. Er muß einen Deutungsvorschub und -Überschuß, bis zum praktizierten Deutungsmonopol als Absicherungsstrategie seiner Kontrolle über die Therapie funktionalisieren. Führt die Therapie, wie es oft der Fall ist, trotzdem nicht zum Erfolg, trifft es unmittelbarer die eigene Persönlichkeit, die doch als wesentlichstes therapeutisches Arbeitsmittel erfaßt wurde. Eine Personalisierung von Ohnmacht, Verantwortung und Schuld, und eine Vereigenschaftung von den Problemen beruflicher Kompetenz und Ungewißheit stellt sich umso leichter ein. Den unterschiedlichen Formen individualisierten therapeutischen Machertums sind gemeinsam, daß sie nicht die Probleme lösen, die sie bewältigen sollten: Der Therapeut bleibt ja den Konflikten, Widerständen, Bündnissen, Übertragungen, Abbrächen und dergleichen seiner Klienten ausgesetzt Er erreicht weder volle Kontrolle über den Verlauf noch über die Bedingungen eines Therapieerfolgs. Er übernimmt aber Verantwortung, Erfolgsdruck und gesellschaftliche Kontrollinteressen bezogen auf die Fallarbeit. Er praktiziert, oft im angeblichen Interesse des Klienten, eine "kontrollförmige Hilfe". Beim Versuch, in der Weise einen Therapieerfolg durchzusetzen, muß er mit dem Klientenverhalten und den -befindlichkeiten taktisch instrumentalisierend umgehen. Gegenstand und Aufgäbe seiner Praxis bleibt ja seine Beeinflussung davon. Will er sie kontrollieren, muß er gleichzeitig seine Bestrebungen nach ihrem aktuellen Zustand einrichten. Darin taucht seine reale Abhängigkeit vom Klienten auf, die er durch seine Kontrollversuche leugnen und aufheben will. Er ist gezwungen, die Klientensicht zu berücksichtigen, um sie beeinflussen zu können. Dazu gehört seine Berücksichtigung der Sicht des Klienten auf ihn und auf die Verhaltensweisen, die der Therapeut sich überlegt, usw. Die eingangs erwähnte PerspektivenVerwicklung setzt ein und bewirkt Beschreibungs-, Deutungs- und Bewertungspioblematiken.

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Der Psychologe als Subjekt 3.2. Die therapeutische Beziehung In die Vorstellungen individualisierter Bewältigungsweisen, die in der therapeutischen Praxis am häufigsten verwendet werden, geht die Beziehung zwischen Therapeut und Klient insofern ein, als der therapeutische Macher darin geortet ist und seine Beeinflussung des Klienten darin stattfindet. Man könnte es so formulieren, daß in erster Linie über Individuen gedacht wird, und erst in zweiter Linie über die Beziehung als bloßes Mittel dieser Individuen. Die Betrachtung der Beziehung tendiert dazu, sich in eine Betrachtung über die teilnehmenden Individuen aufzulösen. Beziehungsphänomene werden in Termini individueller Prozesse erfaßt (wie Beeinflussung, Beobachtung, Identifikation, Imitation, Übertragung, Gegenübertragung, usw.). Im Gegensatz hierzu gibt es Versuche, therapeutische Praxis in erster Linie als Beziehung zu erfassen und zu bewältigen. Sie wird dann als Interaktion, Kommunikation, Gespräch erfaßt. Demgemäß sind die für die Lösung des Problems relevanten Erfahrungen, Wissen, Aufgaben, Möglichkeiten, Beiträge, Ziele und Stoßrichtung überindividuell distribuiert Sie werden in verschiedenen, mehr oder weniger widersprüchlichen Formen intersubjektiv bestimmt, verarbeitet und realisiert. Deswegen muß ich diesen Gesamtprozeß erfassen und beeinflussen. Ich muß meine Aufgaben, Möglichkeiten, Behinderungen, die Bedeutung meiner Beiträge, meine Handlungsgründe, Befindlichkeiten etc. als Teile davon bestimmen und realisieren. Dazu gehört meine Anerkennung, daß nicht nur ich "etwas mache", sondern auch die anderen, d.h. "wir". Es gibt zudem unter uns darüber Widerspruch sowie Koordinationsaufgaben. All dies muß ich bei meiner Analyse und Beeinflussung des Falles berücksichtigen. In den therapeutischen Bewältigungsweisen von Beziehungen gibt es eine verbreitete Tendenz dazu, daß der Therapeut innerhalb der Beziehung versucht, alle Fäden in der Hand zu behalten. Damit weicht er zunächst einer Offenlegung der interpersonalen Widersprüche aus, in der Hoffnung, daß dies seinen Einfluß darauf erhöhen und seine Belastung dadurch vermindern würde (s. ESSER 1987). Er muß es zudem tun, weil bloß ein Griff über die unmittelbare Beziehung nicht die Verfügung über die für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Lösung der vorhandenen Probleme entscheidenden Bedingungen beinhaltet (s.u.). Deshalb wird er beruflich versucht sein, auf individualisierte Kontrollformen über die Beziehung zurückzugreifen. Das hat die geschilderten Verwicklungen in der Auffassung und Handhabung der so instrumentalisierten Beziehung zur Folge und stellt eine Behinderung dar, dem grundlegenden intersubjektiven Charakter der Beziehung gerecht zu werden. Diese Verhaltensweise widerspricht mit anderen Worten der Aufgabe, einen 193

Ole Dreier intersubjektiven Veraibeitungsprozeß zu ermöglichen, worin eine gemeinsame Bestimmung über und Verantwortung für den Prozeß geradezu Verarbeitungsbedingung geworden ist, und wo die professionelle Verantwortlichkeit eine Mitverantwortung dafür ist, die auf dem Hintergrund damit gemachter beruflicher Erfahrungen realisiert wird. Faktisch bestehen immer sich widersprechende Interessen in einem Fall und in meinem Handeln. Das folgt aus der besonderen Art der Klientenprobleme, die Gegenstand therapeutischer Praxis werden. Deswegen sind immer Widerspruchsanalysen von mir verlangt, sowie daß gerade in der Therapie die Klientenkonflikte ausgedrückt und verarbeitet werden können. Die Interessen der Klienten an ihrer Therapie werden mit anderen Worten vernachlässigt, wenn ihre Konflikte nicht ausdrücklich thematisiert und verarbeitet werden. Das spricht gegen konfliktvermeidende Schonungstendenzen beider Parteien, z.B. indem der Therapeut die Kontrolle übernimmt, nicht zuhört, über das "gefährliche" Thema hinwegeilt und dergleichen. Es bleibt eine Aufgabe des Therapeuten, solche intersubjektiven Beziehungen herzustellen, daß sie von den Klienten zur Klärung und Wahrnehmung der hinter den Konflikten stekkenden Interessenwidersprüche als geeignet erkannt und ergriffen werden können. Dazu gehört die Bestimmung, Stärkung und Eröffnung allgemeiner Interessen, was vielen Menschen bei unseren Verhältnissen und dazugehörigen Erfahrungen besonders schwer fällt (vgl. zu diesem Abschnitt ausführlicher DREIER 1987a). In der Therapie eine Subjektbeziehung herzustellen ist mit anderen Worten keine reine Beziehungsangelegenheit. Es ist nicht identisch mit dem unmittelbaren "Aufeinander-eingehen", mit der bloßen Innerlichkeit und Emphathie. Entscheidend ist im Gegenteil, ob die Parteien darin ihre eigenen Interessen wahrnehmen können. Wir wissen, daß in der therapeutischen Praxis in dieser Hinsicht oft große Schwierigkeiten bestehen. Um diese zu klären, muß der Therapeut über die Grenzen der unmittelbaren Beziehung hinausdenken in die widersprüchlichen alltäglichen Lebensverhältnisse seiner Klienten hinein, worin ihre Probleme entstanden sind und geändert werden sollen. 3.3. Die alltägliche Lebenswelt des Klienten Dieser Aspekt wird hier nur kurz behandelt, weil wir ihn anderswo ausführlicher analysieren (vgl. DREIER 1987a, 1987c). In den unmittelbaren therapeutischen Beziehungen werden schwerpunktmäßig Probleme verarbeitet, die außerhalb dieser Beziehung in den alltäglichen Lebensverhältnissen der Klienten vorkommen. Diese Probleme erscheinen vermittelt in den unmittelbaren Gesprächen. Das Gespräch ist damit nicht nur ein besonderes Mittel der Ver194

Der Psychologe als Subjekt arbeitung derartiger Probleme, sondern ein Medium, wodurch sie vermittelt erscheinen und verarbeitet werden können. Durch das Gespräch wird ein besonders vermittelter Zugang zur alltäglichen Lebenswelt der Klienten eröffnet und für die Verarbeitung der alltäglichen Probleme benutzt. Gleichzeitig ist der Zugang des Therapeuten, seine Verbindung zur alltäglichen Lebenswelt der Klienten durch seine unmittelbare Beziehung mit ihnen, seine direkte Erfahrung damit und sein Wissen darüber immer ein besonderer und beschränkter. Will der Therapeut also die Probleme in den alltäglichen Lebensverhältnissen seiner Klienten adäquat begreifen und zu ihrer adäquaten Veränderung beitragen, muß er das Verhältnis zwischen Gespräch und Alltag erfassen können. Daraus bestimmt sich nämlich die konkrete Bedeutung der therapeutischen Beziehung für die Verarbeitung der Probleme der Klienten. Daraus erhalten die Therapie und der Therapeut ihren Stellenwert für die Klienten. Wie und was Klienten aus den therapeutischen Gesprächen gebrauchen können und tatsächlich gebrauchen, und welche Art therapeutische Unterstützung damit ggf. für die Veränderung ihrer Probleme funktional ist, muß aus diesem Zusammenhang heraus begriffen werden. Die konkreten Inhalte und Dynamiken sowie wesentliche Determinanten des Verlaufs und der Form der unmittelbaren therapeutischen Beziehung werden also entscheidend durch diese umfassenderen Zusammenhänge bestimmt. Ihre konkreten Erscheinungen müssen aus diesem Zusammenhang heraus begriffen werden. Deshalb kann die therapeutische Beziehung nicht mit den formalen Begriffen der traditionellen Gruppen-, Interaktions- und Kommunikationspsychologie erfaßt werden, die bloß Regelmäßigkeiten des unmittelbaren Aufeinander-bezogenseins innerhalb der Beziehung widerspiegeln. Ebenso kann die konkrete Wirkung therapeutischer Gespräche nur aus ihren Wechselwirkungen mit den alltäglichen Verhältnissen und Geschehnissen bestimmt werden. Sie läßt sich nicht aus dem Gespräch für sich erfassen, z.B. nicht unmittelbar an der Verwendung bestimmter "Techniken" darin eindeutig festnageln. Die Bedeutung des Gesprächs liegt nicht wie ein Geheimnis in seinen verborgenen Details begraben, sondern im realen alltäglichen Funktionszusammenhang. Es wäre also in der Praxis illusorisch, einfach und abstrakt auf die Durchführung von Gesprächen als "dierichtigetherapeutische Praxis" zu setzen und dabei nicht nur die realen Funktionszusammenhänge, sondern auch die darin gegebenen anderen relevanten Handlungsmöglichkeiten zu übersehen (s.u.). Die implizite Vorstellung vieler Therapeuten über die Wirkungsweise therapeutischer Beziehungen, daß sie in einem "Transfer" von Inhalten und Ergebnissen der therapeutischen Gespräche in den Alltag hinein bestünde, greift deshalb viel zu kurz. Sie ist in Wirklichkeit eine Ideologie über die Be195

Ole Dreier deutung, oder besser über die Bedeutsamkeit therapeutischer Handlungen, die für deren unmittelbare berufliche Absicherung funktionalisiert werden kann. Darüber hinaus beinhaltet sie eine angestrebte Normierung des Verhältnisses zwischen Gespräch und Alltag, oder genauer zwischen therapeutischer Institution und alltäglicher Lebenswelt der Klienten: Die Klienten sollen das, was sie darin erfahren - wie gehorsame Schüler dem schulischen Lernstoff gegenüber -, getreu in ihren Alltag hinübertransportieren und dort entsprechend den "Vorgaben" ihrer Therapeuten verwenden (vgl. LAVE, im Druck). Tun bzw. schaffen sie dies nicht, sind sie selber schuld bzw. müssen mehr hinzulernen. 3.4. Die eigene Institution Die Vermitteltheit unmittelbarer therapeutischer Praxis durch den Lebenszusammenhang der Klienten ist nur die eine Seite ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit. Die andere ist ihre Vermitteltheit durch die institutionalisierten Handlungszusammenhänge der Therapeuten. Die eingangs erwähnte Tendenz, daß der Therapeut sich selbst für die Beschäftigung mit seinen Klienten vergißt, umfaßt aber ebenso das Ausblenden dieser Bedingungen seines Handelns. Schließlich werden doch seine Handlungsmöglichkeiten wie -behinderungen durch seine Position im institutionellen Handlungsraum vermittelt; er wird also unmittelbar davon betroffen. Seine eigenen Möglichkeiten und Interessen muß er im Verhältnis zum institutionalisierten Handlungsraum seiner Praxis klären. Die Institution muß als Möglichkeitsraum seiner Praxis erfaßt werden. Sie kann nicht höchstens als irgendeine ärgerliche, beschwerliche Behinderung eingestuft werden, aus der Annnahme heraus, daß, wenn er nur davon befreit wäre, würden sich seine Handlungsmöglichkeiten wirklich entfalten - ganz privat Eine entsprechend erweiterte Perspektive auf Handlungsmöglichkeiten und Gründe des Therapeuten (wie des Klienten, s.u.) ist nötig. Therapeutische Arbeit findet nicht in einem losgelösten geistigen Raum statt Die Bedeutung je meiner Handlungen wird im Gegenteil objektiv bestimmt in dem Handlungszusammenhang verschiedener Institutionsformen in einer therapeutischen Versorgungsstruktur (s. HELBIG 1986). Ich bestimme nicht total nach eigenem Gutdünken über deren reale Bedeutung. Meine individuellen Handlungen gehen in einen gesellschaftlich vermittelten, institutionalisierten Handlungszusammenhang ein und erhalten darin ihre konkrete Bedeutung. Diese Bedeutung ist mir nicht unmittelbar gegeben. Es ist meine Aufgabe, sie erst zu bestimmen, indem ich mich in die objektiven Bedeutungsstrukturen meiner Arbeit einarbeite und dabei zugleich kläre, welchen Einfluß auf ihre Bedeutung und welche Spielräume ihrer Nutzung und Erweiterung ich habe bzw. ich erwerben kann. 196

Der Psychologe als Subjekt An Beispielen kann man nicht nur verdeutlichen, daß man sich einarbeiten muß, um die Bedeutung der eigenen Arbeit allmählich für sich zu bestimmen und real zu erweitern. Es wird ferner klar, daß die Einaibeitung sowie die Art und Weise ihrer Realisierung oft dem Psychologen selbst als seine individuelle Aufgäbe überlassen bleibt Außerdem wurde deutlich, daß in den Institutionen oft keine klare Bestimmung von Funktionen, Aufgaben wie Position des Psychologen besteht, Im Gegenteil können bedeutsame Unterschiede und Interessengegensätze bezüglich meiner Arbeit vorherrschen. Dies muß mein Interesse an der Klärung, Abgrenzung und Bestimmung darüber erhöhen und zu eine für mich wichtige Aufgabe machen. Es steht also nicht fest, worin meine Arbeit besteht. Sie verändert sich geschichtlich durch die Veränderung der Widersprüche, worin sie verwickelt ist Meine Einaibeitung in die Bedeutungsstrukturen meiner Arbeit beinhaltet erstens, die Position meiner Institution in der Versorgungsstruktur zu bestimmen. Das umfaßt u.a. meine Bestimmung der interinstitutionellen Kooperationsstrukturen (Finanzierung, gesetzliche Grundlagen, Aufgabenverteilung, Verweise etc.) und deren Konflikte (Einmischungen anderer Institutionen, Interessenverhältnisse, bestehende Bündnismöglichkeiten durch institutionelle Überschneidungen etc.). Zweitens beinhaltet sie, die Bedeutungsstrukturen der eigenen Institution zu bestimmen (ihre Funktionen, die Zusammensetzung des Teams, formelle wie informelle Macht- und Kompetenzverhältnisse, die arbeitsteilige Kooperationsstruktur, Unterschiede in den Bedingungen, Aufgaben und Verantwortungen der Berufsgruppen und Mitarbeiter sowie daraus entspringende Interessengegensätze und Konflikte etc.). Zur Bestimmung meiner Handlungsspielräume und -möglichkeiten gehört also die Bestimmung darüber, welche Bedeutung meine Arbeit für die Institution und für die Kollegen haben kann, damit sie bewußt von allen Parteien benutzt, die Kooperation darüber geklärt und die Interessen an der Erweiterung meiner Möglichkeiten gestärkt werden können. In dieser Hinsicht befindet sich der Psychologe oft in besonderen Interessenwidersprüchen im Verhältnis zwischen der Leitung und dem übrigen Personal, die verarbeitet werden müssen, damit die obengenannten Kooperationsformen erweitert werden können. Er befindet sich häufig in einer besonderen, ungeklärten, noch nicht tradierten, isolierten Position in der Institution. Ihre Klärung und Erweiterung vernachlässigt er leider oft. Deshalb bleibt seine Arbeit hauptsächlich von den widersprüchlichen Anforderungen der anderen Parteien bestimmt und damit für ihn nicht deutlich abgrenzbar, planbar und verfügbar. Zum Beispiel besitzt er eine besondere Fachkompetenz, üblicherweise ohne entsprechende Leitungskompetenz, wovon er sich jedoch wegen der Besonderheit die197

Ole Dreier ser Fachkompetenz nicht völlig freihalten kann. Andererseits wird er als Spielball in Konflikten zwischen der Leitung und dem Personal "auf dem Boden" funktionalisiert. Deswegen bleiben seine Kompetenz, Aufgäben, Spielräume und Methoden konkreter therapeutischer Praxis ungeklärt und umstritten. Bleiben solche Widersprüche der objektiven Kooperationsstruktur mit dazugehörigen Konflikten und konfliktvermeidenden Verhaltensweisen dominant, breiten sich Personalisierungen über Kollegen, die Leitung, andere Institutionen und Klienten aus. Im Gegenteil dazu sind derartige Analysen von Institutionsstrukturen nötig, daß ich die Konflikte besser aufgreifen kann, weil ich die Struktur und Interessen der Parteien besser begreife und damit Zugangsweisen und Bündnisse besser bestimmen kann. Widerspruchanalysen über mich in meinen Handlungsräumen sind nötig. Wozu und wie andere in der arbeitsteiligen Praxis mich gebrauchen wollen, beinhaltet mit anderen Worten bestimmte Möglichkeiten und Behinderungen meiner therapeutischen Praxis. Ich kann diese Möglichkeiten nicht rein individuel abgrenzen und alleine darüber verfügen. Zum Beispiel kann die Definition von Behandlungsbedürfnissen konkreter Klienten und deren Überantwortung an mich von Interessenkonflikten beim Personal und zwischen Personal und dem betreffenden Klienten entscheidend beeinflußt sein, und zwar so, daß sein Behandlungsbedürfnis einen an ihm personalisierten Konflikt zwischen ihm und dem Personal widerspiegelt. Die Verantwortungsproblematik verweist hier auf Probleme der arbeitsteiligen Kooperation und ist nur dadurch veränderbar. Damit sind die Bedingungen, die Kooperation und die Qualifizierung der Kollegen eine entscheidende Bedingung der Entwicklung meiner Aufgaben, d.h. des Möglichkeitsraums meiner therapeutischen Praxis. Welche Fälle die Institution mit welchem Ergebnis bewältigen kann, wird dadurch erheblich beeinflußt. Das hat entscheidende Konsequenzen für die Bedeutung und die Perspektive traditioneller Psychologenaufgaben wie Supervision und Behandlungsplanung. Schließlich müssen wir nicht nur damit aufhören, über Klienten in der Einzahl zu sprechen, weil keiner von ihnen ganz alleine lebt, sondern ebenso über die Therapeuten: Auch in der Arbeit an den einzelnen Fällen gehen meistens mehrere Professionelle ein, teilweise und zu bestimmten Zwecken unmittelbar, aber immer auch vermittelt. Es ist zudem beschränkt, was ich außerhalb solcher Kooperationsstrukturen alleine leisten kann. Die Entwicklung therapeutischer Praxis ist mit anderen Worten an die Entwicklung ihrer Kooperationsstrukturen und nicht an die bloße Aneignung von "Techniken" 198

Der Psychologe als Subjekt gebunden. Uns muß deshalb die Frage interessieren, bei welchen Strukturen welche Interessen wahrgenommen weiden können. Gegenüber solchen Entwicklungsaufgaben gibt es bei vielen Psychologen die implizite emotionale Bewertung, daß sie mit so erheblichen Anstrengungen, Kompromissen und Abstrichen verbunden sind, daß es sich nicht lohnt sie aufzugreifen. Dahinter steckt der Glaube, daß meine Bedürfnisse und Interessen fundamental andere sind als die da* anderen, so daß keine eigentliche Verbundenheit zwischen uns möglich ist. Diese Einschätzung beruht auf Erfahrungen mit unüberwundenen Konflikten widersprüchlicher Verhältnisse. Es ist die Prämisse davon geprägter konfliktvermeidender Verhaltensweisen, daß es nicht geht, im Verhältnis zu anderen an den eigenen Interessen festzuhalten, ohne sich dabei nur einen unüberwindbaren, zugespitzten Konflikt einzuhandeln. Kämpfen sie trotzdem und stattdessen alleine weiter, entstehen die bekannten "Burnout"-Symptome: Es wird mir zu viel, ich kriege es satt, mit anderen Menschen zu arbeiten. Ich fange als meine subjektive "Lösung" ggf. an, die Verantwortung und Kontrolle zu übernehmen, d.h. nicht mit, sondern über die Köpfe von Klienten und Kollegen zu arbeiten. Periodisch schwanke ich zwischen der .Tendenz, alles übernehmen zu wollen, und der Tendenz, mich völlig zurückzuziehen. Meine Befindlichkeiten darüber bleiben ambivalent: mein Verhältnis zu meinen Mitmenschen wird ja dadurch gestört Ich verlerne, wie ich mit anderen Bündnisse aufbauen und über meine isolierte Situation hinauskommen kann. Und dann muß ich ja individuelle Bewältigungsweisen innerhalb dieser Verhältnisse benutzen, mich neben, außerhalb, über andere zu behaupten. Bei einigen setzt sich dabei die Tendenz durch, eine "richtige Therapie" und Klarheit über die eigene Arbeit hinter geschlossenen Türen mit den "eigenen" Klienten suchen zu wollen. Sie entdekken dann die vorhandenen Möglichkeiten nicht mehr, die nur im Zusammenhang bestimmbar sind. Andere Möglichkeiten als die "privat" geübter Therapie werden versäumt 3.5. Die konkreten gesellschaftlichen Verbindungen der Parteien In den beiden letzten Abschnitten haben wir zwei Ebenen der gesellschaftlicheil Vermitteltheit unmittelbarer therapeutischer Praxis behandelt: den alltäglichen Handlungsraum der Klienten und den institutionalisierten Handlungsraum dei Therapeuten. Diese beiden Ebenen treten natürlich immer real in bestimmten Verbindungen auf. In der therapeutischen Praxis gehen sie bestimmte gesellschaftliche Verbindungen miteinander ein. Um die Bedeutung der therapeutischen Praxis und ihre Handlungsmöglichkeiten konkret zu bestimmen, müssen wir also den Zusammenhang zwi19

Ole Dreier sehen den Möglichkeitsräumen, Interessen und Perspektiven der beiden Parteien bestimmen. Dieser vermittelte Zusammenhang wird unmittelbar über die Beziehung, das Gespräch als Medium gestiftet, worin sich mindestens, aber häufig mehr als zwei konfliktvolle Parteien treffen. Meistens sind ja nicht nur mehrere Klienten wie Nicht-Klienten mit je ihren und miteinander bestehenden Konflikten von der therapeutischen Praxis in verschiedener Weise betroffen (vgl. DREIER 1987a), sondern mehrere Kollegen, Institutionen usw., die oft miteinander in Konflikten auf verschiedenen Ebenen stehen. Als einfaches Beispiel dafür, bezogen auf die unmittelbare Fallarbeit, können Konflikte über die Aufgäben und Bedeutung der Therapie eines Schulkindes gelten, die in und zwischen seiner Familie, seiner Schule (den Lehrern, dem Schulpsychologen, den übrigen Kindern und deren Eltern usw.) und z.B. einer externen Beratungstelle, kinderpsychiatrischen Abteilung oder dergleichen bestehen, woran die Behandlung des Falles verwiesen wird. Aus derartigen widersprüchlichen Zusammenhängen heraus muß dann die Position und der Standpunkt, die Ebene, die Art und der Ort therapeutischen Eingreifens und die Bündnisse, die Möglichkeiten und die Bedeutung therapeutischer Praxis bestimmt werden. Meine Analyse derartiger widersprüchlicher Bedingungsstrukturen ist also die Analyse meiner objektiven Händlungsmöglichkeiten. Sie ist zugleich die Analyse der Formen von Widerstand, Stagnation bis hin zu Abbrüchen, Druck, Funktionalisierungen, Überantwortungen, Befindlichkeiten usw., worauf ich in meiner unmittelbaren Praxis stoße. Aus dem obigen geht hervor, daß diese Verbindungen unterschiedlicher Art sein können. Damit kann zunächst gedacht werden an den Unterschied zwischen verschiedenen Formen ambulanter und stationärer Behandlung. Im letztgenannten Fall ist die institutionelle Bedingungsstruktur, mit deren Personal, periodisch sowohl unmittelbare Behandlungsbedingung als auch Lebenszusammenhang des Klienten. Es bestehen also bedeutende Unterschiede bezüglich dessen, was unmittelbar und vermittelt verbunden wird. Gegenwärtig gibt es Tendenzen in der ambulanten Arbeit, die unmittelbaren Verbindungen über gelegentliche Gespräche hinaus auszudehnen in Richtung eines höheren Grades an unmittelbarer Verbindung zwischen dem Handlungsraum des Therapeuten und der alltäglichen Lebenswelt der Klienten, ohne daß sie jedoch je völlig zusammenfallen können und die Bechränktheit und Besonderheit des therapeutischen Zugangs dazu damit aufgehoben wäre. Außerdem ist es bei vielen dieser Initiativen ungeklärt und fragwürdig, welches Verhältnis zwischen "Therapeutisierung" des Alltags und erweitertem Realitätsbezug der Therapie hergestellt wird. Hinter derartigen Tendenzen stecken bestimmte Erfahrungen mit den überlieferten institutionellen Formen therapeutischer Praxis, die insbesondere 200

Der Psychologe als Subjekt zum Hinterfragen der darin und damit gestifteten und möglichen Verbindungen zwischen Klienten und Therapeuten geführt haben. Dies betrifft sowohl die damit verbundenen Interessenverhältnisse, die durch die Formen bedingte Behinderung therapeutischer Handlungsmöglichkeiten wie die Kritik an der Art des dadurch bedingten Verhältnisses der Klienten zu ihrer Therapie. Auf diesen Hintergründen wird mit den Formen therapeutischer Praxis experimentiert. Dazu gehören sogenannte Tendenzen der Demokratisierung, Deinstitutionalisierung, Deprofessionalisierung, Dezentralisierung und Reprivatisierung, Diese Tendenzen sind jedoch nicht eindeutig, sondern widersprüchlich bestimmt. Bestimmte Kontrollinteressen und ökonomische Interessen sind darin involviert (s. CASTEL, CASTEL und LOVELL 1982; HELBIG 1986). Sie haben auch deshalb widersprüchliche und ungleichmäßige Formen und "Lösungen" angenommen. Zum Beispiel wird in der Traditionslinie systemischer Therapie ein erweitertes Modell therapeutischen Macher- und Expertentums praktiziert. In der Traditionslinie der Gemeindepsychologie (aber auch anderswo) gibt es im Gegensatz dazu Hoffnungen, daß man durch den engeren Bezug zur unmittelbaren alltäglichen Lebenswelt der Klienten aus Widersprüchen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse loskommen und damit eine "reine Hilfe" leisten könne. Als ob die gesellschaftlichen Interessengegensätze unmittelbar und ausschließlich an die vorfindlichen institutionellen Räumlichkeiten gebunden wären, und man also davon frei kommen würde, wenn man diese Räume verläßt und die Widersprüche innerhalb der "Räume des Alltags" aufhebt bzw. kompensiert. Dies hat Ähnlichkeiten mit alten wie neuen Tendenzen privater Einzelpraxis. Schließlich sind einige Formen von Deinstitutionalisierung und Errichtung von alternativen und privaten Praxen nicht nur mit schlechteren Arbeitsbedingungen verbunden, sondern zugleich mit dem Aufgeben institutionalisierter Einflußmöglichkeiten auf die Versorgung der Klienten . 4.

Schlußfolgerungen

Abschließend werden wir einige allgemeinere Konsequenzen aus den voranstehenden Analysen ziehen, in der Gestalt von Schlußfolgerungen über, sowie Aufgaben und Fragestellungen für Psychologen als Subjekte therapeutischer Praxis. 4.1. Die Verrmtteltheit therapeutischen Handelns Es ist erstaunlich, in welchem Maße die unmittelbaren Vorstellungen über therapeutische Praxis von der Subjektivität der Psychologen, ihren gesell201

Ole Dreier schaftlichen Handlungsräumen und der gesamten gesellschaftlichen Vermitteltheit ihrer Praxis abstrahieren. In diesen Vorstellungen erscheint sie als ein besonders privatisiertes Berufsfeld, als ein Kernbereich priVatförmigen Denkens. Die Aufarbeitung eines erweiterten Konzepts vermittelten therapeutischen Handelns ist deshalb nötig, worin dieser gesellschaftliche Praxisbereidi in seiner Eigenart begriffen wird. Solche Analysen müssen von einem Interesse an der Erweiterung therapeutischer Handlungsfähigkeit getrieben sein, als ein Mittel für die Therapeutensubjekte Fragen folgender Art zu beantworten: Was behindert mich, welche Möglichkeiten habe ich? Was liegt an mir, was an den äußeren Umständen? Was kann ich also wo und wie daran ändern? Dies alles ist nicht unmittelbar gegeben, sondern muß erst aus dem problematischen Verhältnis des Therapeuten zu seinen gesamtgesellschaftlich vermittelten widersprüchlichen Handlungsräumen bestimmt werden. Wir wollten in den voranstehenden Analysen typische Problematiken und Konflikte der gegenwärtigen Handlungsräume therapeutischer Praxis vorstellen. Die skizzierten Bewältigungsweisen fixieren je ihre unterschiedlichen, miteinander verbundenen realen Ebenen therapeutischer Praxis und sind von deren Widersprüchlichkeiten geprägt.

4.2. Die Begreifbarkeit der unmittelbaren Problematiken des Psychologen seiner Praxis Die eingangs geschilderten typischen, unmittelbar erscheinenden Problematiken des Psychologen in der therapeutischen Praxis sind jetzt auf anderer Grundlage begreifbar, und alternative Richtungen ihrer Verarbeitung und Veränderung sind nachgezeichnet worden. Die reale Vermitteltheit der subjektiven Unsicherheit des Psychologen aus seinen unabgesicherten Möglichkeiten bei unbestimmten, mehrdeutigen, widersprüchlichen Problemen ist deutlich geworden. Die Ungeklärtheit seiner Kompetenz und Qualifikation, ihre Unbeschreibbarkeit und mangelnde gesellschaftliche Anerkennung fügt sich dazu. Seine subjektive Leugnung der Bedeutung dieser objektiven Widersprüche bringt zwar eine kurzfristige Entlastung vor seine Mitverantwortlichkeit für die Überwindung dieser Probleme, personalisiert andererseits die unmittelbare Betroffenheit darüber und Verantwortung für die therapeutische Kompensation des Leidens darunter. Es wird ja dann nicht versucht, die Widersprüche zu überwinden, sondern sie worden subjektiv übernommen, d.h. sie prägen meine Befindlichkeit usw., und ich werde selbst von subjektiven Widersprüchen durchkreuzt 202

Der Psychologe als Subjekt Die Personalisierungen der Widersprüche befestigen die symptomatischen Belastungen darüber. Der Therapeut wird subjektiv zerrissen in den expliziten und impliziten Widersprüchen zwischen den Parteien therapeutischer Praxis. Es ist nun einmal die Aufgabe des Therapeuten, es mit besonderen Formen subjektiver Widersprüche zu tun zu haben. Die unzureichende Klärung der Ziele, Funktionen und Aufgaben von Therapie und die ganze Planlosigkeit des Bereichs bedingen ebenfalls eine Individualisierung der Ausrichtung, Bewertung und Bewältigungsweisen dieser Berufspraxis. Beschränkt er sich aber auf Bewältigungsweisen innerhalb der Unmittelbarkeit, gibt er den Einfluß auf seine Bedingungen, Aufgaben, den dahinterstehenden Interessen usw. auf und überläßt sie einfach anderen. 4.3. Die Aufhebung der Abstraktion therapeutischen Denkens Wir haben gegen die Ausblendung konkreter Vermittlungen und Zusammenhänge argumentiert. Wird in Abstraktion davon über die eigene Praxis nachgedacht, müßte man annehmen, daß Therapie überall gleich geübt werden könnte und sollte. Eine Normierung abstrakt-überhistorischer Konzepte könnte stattfinden. Wir haben zugleich gegen eine Auffassung von Therapie in bloßen unmittelbaren Verfahrens- oder Beziehungsbegriffen argumentiert, als ob sie unbeeinflußt von ihrem "äußeren Rahmen" und als ob sie in dem Sinne ein "Handwerk" und die "Techniken" und/oder die Persönlichkeit ihr Werkzeug sei. Die Bedeutung und Wirkung der Verwendung bestimmter Mittel muß im Gegenteil aus dem Handlungszusammenhang bestimmt werden, genau wie die Probleme, die damit verarbeitet werden sollen, durch den Zusammenhang charakterisiert sind, worin sie entstanden sind und wovon sie ein problematischer Aspekt sind. Daraus folgt, daß man nicht einfach Vorstellungen über Therapie aus bestimmten, ggf. überholten Zusammenhängen auf neue veränderte Handlungszusammenhänge übertragen und dort unverändert verwenden kann (s. DREIER 1987c). Tut man es trotzdem, werden neuentstandene Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten übersehen und mit den alten Vorstellungen falsch interpretiert. Das therapeutische Denken muß ein Denken konkreter Zusammenhänge sein. 4.4. Der aktuelle Stand therapeutischer Handlungsformen Geschichtlich haben sich Tendenzen erweiterter therapeutischer Handlungsformen entwickelt. Gegenwärtig ist der Psychologe typisch nicht alleine bei der Betreuung eines Falles, und es werden Mitbetroffene einbezogen, die nicht 203

Ole Dreier einmal alle Klienten oder gar "psychisch krank" sind. Eine historische Analyse dieser Entwicklungsprozesse macht sowohl Fortschritte wie Beschränkungen und innere Brüche der Praxis deutlich. Die Entwicklung ist von Widersprüchen und Partialinteressen geprägt. Deswegen ist sie uneinheitlich und ungleichzeitig verlaufen. Die Praxis wird denn auch jetzt in unterschiedlichen Formen geübt, die alle, trotz ihrer bedeutenden Unterschiede und egal wie privat sie auch immer geübt wird, eine gesellschaftlich vermittelte Funktion und Bedeutung haben. Die gegenwärtige therapeutische Praxis in diesen überindividuellen, institutionalisierten, objektiv kooperativen Formen ist also stets voller Widersprüche und Personalisierungen. Es folgt daraus, daß wir heute diese Praxisformen in der Aufarbeitung eines Therapiekonzepts zu verarbeiten haben und nicht die alten, teilweise überholten Formen. Dies stellt uns praktisch wie in der Forschung darüber vor andere Aufgaben, Forderungen und Möglichkeiten, einschließlich der Kritik an den bisherigen unzureichenden "Lösungen" und Realisierungen hiervon. Zu diesen Aufgaben gehört u.a. die Aufarbeitung einer Theorie über die Therapeutensubjekte in ihrer Praxis, sowie die Klärung, welche Bedingungen nötig sind, damit erweiterte Handlungsformen praktisch funktional und realisierbar werden. 4.5. Die Funktionalität individualisierter Handlungsformen Besonders wenn man sich die kurze und real uneinheitliche Geschichte therapeutischer Praxis und die hierin nahegelegte "Traditionslosigkeit" vergegenwärtigt, muß es verwundern, daß eine ideologische Selbstverständlichkeit darüber vorherrscht, worin "dierichtigeTherapie" bestehe. Der gegenwärtige Psychologe ist zudem in vielen Stellen der erste, den es jemals dort gegeben hat, so daß von Seiten der Kollegen und der Leitung relative Unkenntnis über seine Qualifikationen, Funktionen, Methoden, Kompetenzen, die Kooperation mit ihm usw. herrscht Diese ideologische "Vorbildfunktion" privatförmiger Therapiepraxis könnte u.a. darin begründet sein, daß Auftraggeber wie Klienten von der therapeutischen Leistung als Erlösungsstrategie für Probleme unter unveränderten Verhältnissen ein problemloses individuelles Zurechtkommen erwarten bzw. fordern, und daß die Therapeuten solche Vorstellungen und Perspektiven übernommen haben, obwohl sie eigentlich praktisch merken müßten, daß sie diese nicht einlösen können (z.B. die vielen Alkoholiker, die eine Therapie nicht zu Ende führen). Solche Vorstellungen und Forderungen machen, wie erwähnt, die Bewältigungsweise therapeutischer Praxis als individualisierter Experte und Macher unmittelbar funktional. Schon mit der Forderung individueller Verantwortlichkeit für und Vorhersagbarkeit über die 204

Der Psychologe als Subjekt therapeutische Fallarbeit zu brechen erscheint dann, wie erwähnt, vielen Therapeuten als eine Übelforderung. Es stellt sich ferner allen Therapeuten die Frage, was sie dagegen tun können, in die gesellschaftlichen Widersprüche ihrer Aibeitsaufgaben und zusammenhänge zu belastend verwickelt zu werden. Eine individualisierte Verarbeitung hiervon und ein Rückzug daraus bieten sich an als eine besondere Verhaltensweise solchen Widersprüchen gegenüber, die das Versprechen in sich birgt, kurzfristig davon loszukommen, damit weniger subjektiv belastet zu werden und zudem, so die Hoffnung, aus dem Griff der gesellschaftlichen Kontrollinteressen herauszukommen. Vielen Psychologen erscheint die private Praxis als Ausweg in die "Freiheit". In Wirklichkeit geben sie dabei Einflußmöglichkeiten auf, und sie kommen auch nicht aus den gesellschaftlichen Interessenwidersprüchen heraus, die nicht nur in den Institutionen vermittelt werden, sondern auch in der privaten Praxis. Wenn vorfindliche Therapiekonzepte und -ideojogien auch noch zu solchen privaten Praxisformen passen, und selbst in und für solche Formen entwickelt wurden, dienen sie den Therapeuten als ideologische Anleitung dazu und erhalten zugleich eine Scheinbestätigung dadurch (vgl. DREIER 1987c). Wenn ich privat und vereinzelt arbeite, hängt das, was im Fall passiert, ja anscheinend nur von mir und von meinem Klienten ab. Damit ist die die Individualisierung der Gesundheitsversorgung (s. HELBIG 1986) in der Individualisierung ihrer Berufspraktiker reproduziert. Individualisierte Handlungs- und Denkformen können außerdem in institutionalisierten Praxisformen bestehen bleiben, wenn die Psychologen als Reaktion auf die gegebenen Widersprüche auch darin als isolierte Macher handeln. 4.6. Die Bedeutung therapeutischer Gespräche Einer der Hauptfehler gegenwärtiger Therapievorstellungen ist der Glaube, daß die unmittelbare Beziehung, das Gespräch mit dem Klienten, eine abstrakte Größe sei, die überall gleich verwendet wird und gleiche Bedeutung und Formen habe. Es gilt im Gegenteil dazu anzuerkennen, daß die Arbeit mit Klienten natürlich immer über konkrete Beziehungen zu ihnen läuft, und daß diese Beziehungen in ihren Funktionen, Inhalten und Formen von den Zusammenhängen vermittelt sind, worin sie stattfinden und einwirken sollten. Es gilt, sie als Medium zu erfassen und die Handlungsmöglichkeiten, die damit gegeben sind, in ihrer vermittelten Besonderheit zu erkennen. Erst dann können diese konkreten Handlungsmöglichkeiten optimal genutzt werden.

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Ole Dreier 4.7. Die therapeutische Handlungsfähigkeit Es ist eine aktuell wichtige Aufgabe, mit den Personalisierungen und Vereigenschaftungen zu brechen, die bei und über Therapeuten wie Klienten herrschen und die die Auffassungen über die therapeutische Kompetenz und über die Klientenprobleme prägen. Die Vermitteltheit dieser Kompetenzen und Probleme muß erkannt werden. Zu ihnen gehören natürlich persönliche Aspekte als subjektive funktionale Aspekte des konkreten Zusammenhangs zwischen diesen Individuen und ihren gesellschaftlichen Bedingungsstrukturen. Die subjekthafte Handlungsfähigkeit des Therapeuten muß demnach in dem Zusammenhang bestimmt werden, worin sie zum Handeln befähigen soll. Ihre Bestimmung setzt voraus, daß der Therapeut diesen Zusammenhang erst erkennt, der ihm ja nicht unmittelbar gegeben ist. Seine Einarbeitung in den konkreten widersprüchlichen Möglichkeitsraum seiner Praxis ist also eine Voraussetzung dafür, daß er bestimmen kann, wozu er fähig ist und sein muß. Erst damit wird er konkret fähig. Die konkrete therapeutische Handlungsfähigkeit ist vom Standpunkt des Therapeutensubjekts aus seine Fähigkeit, in seinem konkreten Handlungsraum mit seinen verschiedenen Ebenen der eigenen Institution, der Lebenswelt seines Klienten, der gestifteten Beziehungen zu seinen Klienten usw. zu handeln. Sie wird in und mit seiner Einarbeitung in deren Bedingungsstrukturen und Möglichkeiten gewonnen. Sie wird nicht abstrakt herumgetragen wie irgendeine innere Eigenschaft, die ohne weiteres abrufbar ist, sondern konkret erarbeitet, bestimmt und realisiert. Zentraler Bestandteil dieser Fähigkeit ist es mithin zu lernen, seine Möglichkeiten und deren Realisierungsweisen zu bestimmen, sich einen Ein- und Überlick und eine Sicherheit über die eigenen Möglichkeiten auf den verschiedenen Ebenen des eigenen Möglichkeitsraums zu erarbeiten. In dem Sinne haben wir typische Probleme therapeutischer Handlungsfähigkeit und ihrer Entwicklung für Therapeuten in und mit ihrer Praxis in deren gesellschaftlichen Möglichkeitsräumea erörtert.

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Der Psychologe als Subjekt Literatur BASAGLIA, F. O.: Die psychiatrische Verwahrlosung, in: HAXJG, W. F. und PFEFFERER-WOLF, H. (Hg.): Fremde Nähe: Zur Reorientierung des psychosozialen Projekts. Festschrift für Erich Wulff, Berlin, Hamburg 1987.

CASTEL, F., CASTEL, R. und LOVELL A.: Psychiatrisierung des Alltags, Frankfurt/M. 1982. O.: Klienteninteressen in der Psychotherapie, in: Forum Kritische Psychologie, Bd. 20, Hamburg, Berlin 1987a. DREIER, O. Zur Funktionsbestimmung von Supervision in der therapeutischen Arbeit, in: MAIERS, W. und MARK ARD, M. (Hg.): Kritische Psychologie als Subjektwissenschaft. Klaus Holzkamp zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1987b. DREIER, O.: Therapeutisches Denken und Handlungszusammenhang, in: Forum Kritische Psychologie, Bd. 21, Hamburg, Berlin 1987c. ESSER, A.: Familie - ein kybernetisches Problem?, in: Forum Kritische Psychologie, Bd. 19, Hamburg, Berlin 1987. HELBIG, N.: Psychiatriereform und politisch-ökonomische Strukturkrise in der Bundesrepublik Deutschland, Marburg 1986. HOLZKAMP, K.: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M. 1983a. HOLZKAMP, K.: "We don't need no education...", in: Forum Kritische Psychologie, Bd. 11, Berlin 1983b. LAVE, J.: Cognition in Practice, (im Drude).

DREIER,

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Frigga Haug Subjekt Frau: Kritische Psychologie der Frauen Ich freue mich, daß Ihr so massenhaft zu diesem Thema gekommen seid, obwohl es dadurch mächtig unruhig ist Ich hoffe, daß das nicht ganz so bleibt Ich habe mir das Plenum so ungefähr so vorgestellt, wie es ist: daß nämlich hauptsächlich Frauen kämen, von denen viele wahrscheinlich vollständige Neulinge in der Kritischen Psychologie sind, so daß ein Vortrag, der sozusagen in der Mitte anfängt, und sich mit kategorialen Fragen auseinandersetzt, problematisch wäre. So habe ich mir für das Problem des Anfangs folgendes vorgestellt: Ich mache den Vortrag wie eine Sauna, also wechselnd kalt und heiß, schwierig und einfach, Erzählung und Begriffsdiskussion. Dabei muß ich noch ein zweites Problem lösen: einerseits möchte ich Euch vorführen, was wir zu dem Feld "Kritische Psychologie und Frauen" gemacht haben, andererseits könnt Ihr das auch in den Büchern, die wir dazu geschrieben haben, nachlesen.1 So dachte ich, es wird vielleicht am lebhaftesten und für euch am verständlichsten, wenn ich versuche, an zwei Kampffronten entlang unser Vorgehen vorzustellen. Da ist zum einen die Auseinandersetzung mit der durch einen männlichen Autor vertretenen Richtung des heute so modernen Lacanismus, an dessen Vorgehensweise wir mit unserer Erinnerungs-Arbeit angrenzen; zum anderen ist da die Auseinandersetzung innerhalb der Kritischen Psychologie selber. Wir können sie zuspitzen zu der Frage, in welchem Verhältnis sich unsere Frauenforschungen zu den allgemeinen Kategorien befinden, wie sie bei HOLZKAMP in der Grundlegung entwickelt sind. Das bedeutet, daß ich für alle, die Neulinge in der Kritischen Psychologie sind, etwas weit ausholen muß. Ich hoffe, daß ein solches Vorgehen unsere Zeit nicht übermäßig beansprucht und ich hoffe außerdem, daß uns ein solchen Vorgehen möglich macht, oder Euch möglich macht, uns gemeinsam innerhalb der Kritischen Psychologie weiterzudenken und weiterzuentwickeln, weil ich nicht sehe, welche andere Möglichkeit es gibt, sich die Sache überhaupt anzueignen, als die der Kritik. 1.

Der Anfang mit MARX

Als wir mit unserer Frauenforschung zur weiblichen Vergesellschaftung anfingen, war auch die heutige Kritische Psychologie erst an ihrem Anfang. Ich selber war zu dieser Zeit Assistentin am Psychologischen Institut an der Freien Universität Berlin, und wir haben mehr oder minder alle zusammen 208

Subjekt Frau angefangen uns den Marxismus anzueignen. Wenig später habe ich die wissenschaftliche Frauenforschung aufgenommen. Wenn ich in der Folge "wir" sage, meine ich eine wechselnde Gruppe von Frauen, Frauenkollektive, die in dieser Weise gearbeitet haben. Unser Beitrag innerhalb der Kritischen Psychologie, unser spezifischer Beitrag, und unser Eingriff in die allgemeine Frauenforschung ist wohl das, was einigen von euch als Erinnerungsarbeit vielleicht bekannt ist Unser Ausgangspunkt waren vier MARX'sche Sätze (vgl. MEW/Bd. 3, 5ff.), die ich vorweg zitieren möchte, weil sie im Text immer wieder vorkommen: - der eine (aus den Feuerbachthesen) lautet: "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv." (Ebd., 5) - der zweite: "Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden." (Ebd., 6) - der dritte: "Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse." (Ebd.) - den vierten bringe ich - der ist ganz kurz - in der Version, wie sie Rosa LUXEMBURG nach LASSALLE, in kleiner Umstellung von MARX, formuliert hat: "Die Mensch machen ihre Geschichte nicht ausfreienStücken, aber sie machen sie selbst" 2.

SozialisationfVergesellschqftung von Mädchen

In einem Kollektiv, das sich nicht weniger als die Befreiung der Frau zum Ziel gesetzt hatte, stellten wir uns vor etwa 10 Jahren die ungewöhnlich einfache Frage: was sind eigentlich Frauen? Die Frage stellte sich als zu schwierig heraus und stürzte uns bis heute in nicht enden wollende Forschungsaktivitäten. Wenn wir wissen wollen, wer wir sind, müssen wir erforschen, wie wir geworden sind. Immer noch sind die Sozialisationstheorien so fern jeder Erfahrung, daß der Mangel, den die Frauenbewegung vor fast 20 Jahren an ihnen feststellte, sich nur als halbes Versäumnis erwies: Sozialisationstheorien handeln nicht nur nicht von Mädchen, sie handeln auch nicht von Jungen, sondern beginnen - mit Ausnahmen - sogleich auf einer Abstraktionsstufe des Allgemein-Menschlichen, daß wir es schwer haben, uns so darin wiederzufinden, daß Eingriffe, veränderndes Handeln möglich werden. Die ersten Versuche in der neuen Frauenbewegung das Schweigen über die weibliche Verge209

Frigga Haug - sellschaftung mit Fragen zu umstellen (BELOTTI3, SCHEU4) endeten mit der Suche nach den Schuldigen weiblicher Formierung. Herausgearbeitet wurde die Verantwortung der Mütter für die Unterordnung der Töchter. Da blieb wenig Bewegung für die kleinen Mädchen selber, als ob die Beschränkung des Bewegungsraumes in der Wirklichkeit, den Zuschnitt der Theorie bestimmt hätte. Gegen solche Aufarbeitung weiblicher Vergesellschaftung setzten wir den Versuch, Praxen, Erfahrungen, Anstrengungen der Frauen sich widerständig in Gesellschaft einzurichten, in den Mittelpunkt unserer Forschung zu stellen. Unsere Methode ist die Erinnerungsarbeit9. Damit knüpfen wir an der Praxis von Selbsterfahrungsgruppen an. Jedoch lassen wir die Erfahrungen nicht, wie sie sind, sondern arbeiten mit ihnen, wir theoretisieren sie. Gemeinsam suchen wir nach den Mechanismen individueller Vergesellschaftung und Formierung, danach, wie die einzelnen Persönlichkeit, Identität ausbilden. Unser erster Vorschlag, die eigenen Aktivitäten bei der Unterwerfung in die Untersuchung einzubeziehen, um so wirkungsvollere Alternativen zu entwickeln, erregte eine heftige Diskussion, die einige Jahre andauerte. Im Titel Opfer-Täter6 scheinen die Dimensionen des Streites auf: moralisch - ging es um Schuld und Verantwortung politisch - um individuelle Politisierung, um Basisdemokratie. Uns ging es um das Verhältnis von Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung. Unsere Annahme war kurzgefaßt: langanhaltende Unterdrückung formiert die Unterdrückten - Widerstand und Veränderung worden schwierig, denn die Unterdrückten sind auch eingelassen in die Verhältnisse. Das Verändern der Umstände braucht veränderte und sich verändernde Menschen. Wir haben unsere ersten Forschungen in diesem Zusammenhang in einer materialreichen Studie ausgearbeitet7 Hier untersuchten wir im wesentlichen den Prozeß, eine Frau zu werden, als Arrangement mit den Strukturen. Wir schrieben Geschichten zu Weiten wie Liebe, Ehe, Glück - die sich schon in den alltäglichen Erfahrungen als brüchig zeigten; die umkippten in Geschichten von Schmerz und Macht. Das Buch wurde stark rezipiert. Ein Hauptkritikpunkt war zu unserer Überraschung, daß wir uns bemüht hatten, "fertige", vielfach überarbeitete Geschichten zu veröffentlichen und damit nicht das eigentlich Wichtige und Neuartige gezeigt hatten: den Prozeß der Arbeit selber. Da wir zudem das Auffälligste wenig bearbeitet hatten - Sexualität - begannen wir sogleich ein neues Projekt Dies war der Beginn der methodischen Ausarbeitung.

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Subjekt Frau 3. Sexualisierung Im Bereich Sexualität und Herrschaft, wie unser neues Forschungsprojekt zunächst hieß, haben wir u.a. gelernt von FOUCAULT8 und IRIGARAY9. Wir übertrugen die Auffassung, daß nicht Sexualität unterdrückt werde, sondern die Herausbildung des Bereiches des Sexuellen auch der Prozeß der Machtausübung sei, auf die Frage nach der Frauenunterdrückung. Unser Resultat war aufs Kürzeste zusammengezogen: Nicht die Sexualität der Frauen wird unterdrückt, sondern Sexualität wird als Unterdrückung gelebt. Die Herstellung des sexuellen Wesens Frau ist ihre Unterordnung unter Männer und die Einordnung in die Gesellschaft. Diesen Prozeß haben wir Sexualisierung genannt.Wir schrieben Geschichten zu einzelnen Körperteilen, die mit sexueller Ahnung und Bedeutung belegt und angeordnet werden. - Da ist zum Beispiel die Beinhaltung. Die Anordnung, wie man als Mädchen zu sitzen hat, mit aneinandergepreßten Knien, geschlossenen Beinen, als ob man etwas zu verbergen hätte, setzt ein, sobald die Beine beim Sitzen auf unseren durchschnittlichen Stühlen nicht mehr baumeln, d.h. den Boden erreichen. Das ist etwa im Alter von fünf Jahren der Fall. Jede kann dies in ihrer eignen Geschichte nachvollziehen. Wir fanden insgesamt ein Netzwerk von Einstellungen, Haltungen, Verhältnissen, Empfindungen, von dem, was schicklich ist und was nicht. Ein Hauptergebnis war die Entdeckung der ungeheuren ideologischen Kraft der Normalität. Das gesellschaftlich Erwünschte, soziale Herrschaft gerinnt in das Bild der Normalität. Wir tragen dieses Bild in uns und versuchen ihm nachzueifern. Es bezieht sich bei Frauen zu einem großen Teil auf ihren Körper. Um seine Normalität kämpfen sie ein Leben lang vergeblich. Sie sind immer abweichend und daher immer unvollkommen und also schuldig. Im Laufe ihrer Vergesellschaftung Ionen sie die Maße kennen. Diese erlangen Macht über sie, weil sie mit sozialen Beziehungen verknüpft sind. Wir erwerben Kompetenzen, wie den Maßstäben zu gehorchen ist - wir kennen die richtige Kleidung, verdeckende Farben, Muster, Haltungen: Bauch rein, schräg von der Seite stehen, überhaupt eine Schokoladenseite haben. Wir wissen um die richtige Länge, die angemessenen Schuhe, die die Fehler der Beine ausgleichen sollen, bis hin zu Kuren. Wir täuschen über uns und haben in jedem Fall Schuldgefühle, welche sich schon auf unser schlichtes Sein in Gesellschaft beziehen. Dies, weil wir ertappt werden können beim Täuschen oder dabei, nicht zu täuschen, z.B. wenn eine von uns einen Minirock trägt, obwöhl ihre Schenkel zu dick sind. So sitzen wir in der Falle. Das Verhältnis zum Körper bestimmt einen großen Teil unserer Lebenspraxis. Wir beziehen uns mit unserer Körpermaßstäben nicht auf einen konkreten Mann, sondern auf eine 211

Frigga Haug irgendwie antizipierte Männerwelt, der wir uns unterstellen. Mit solchem Verhalten besiegeln wir zugleich unsere Unterordnung in Gesellschaft, da hier nicht unsere Taten zählen, sondern der richtige Körper. Wirfindenalso in Gesellschaft Eingang durch Körperarbeit - dies in doppelter Weise. Zum einen wird die Reproduktion der Menschen als körperliche Arbeit von Frauen geleistet, zum anderen arbeiten sie an ihrem gesellschaftlich richtigen d.h. normalen Körper. Da Körperarbeit in unseren Verhältnissen der geistigen unterstellt ist, wird auf diese Weise die Unterordnung befestigt. Ist so der Körper einerseits ein unglückliches Zentrum von Frauenleben, so ist er andererseits auch ein Mittel zur Entwicklung von Selbstbewußtsein, wenn die Maßstäbe annähernd eingehalten werden. Zugleich wird so eine resignative Haltung eingeübt, da es vergeblich ist, den Maßstäben wirklich gehorchen zu wollen. Es entsteht resignatives Selbstbewußtsein. Es ist unerreichbar, wirklich in Ordnung zu sein. Ordnung ist immer zugleich auch gesellschaftlich zu verstehen, da das Verhältnis zu jedem Körperteil mit sozialen Haltungen verknüpft eingeübt wird. Naheliegende Beispiele sind: die Körpergröße; welche Größe angemessen ist* bestimmt sich keineswegs "objektiv", sondern im Verhältnis zum anderen Geschlecht. Selbst die Haare sind kein bloß harmloser Bewuchs. Sie sind verknüpft mit Gesundheit, mit sexueller "Normalität", mit Ordnung Terroristen erkannte "man" früh schon an den abweichenden Haartrachten - ; und sie sind ganz allgemein ein Brennpunkt des subjektiven Widerstands. Wir halten diese Körperzentrierung für eine wesentliche Aktivität, die die gesellschaftlich untergeordnete Position von Frauen festigt. Frauen scheinen so inniger mit der Natur verbunden, die kultiviert und unterworfen wird. Der Körper ist auch gut für eine Kontrolle geeignet, da seine Unordnung sichtbar ist1 Bevor ich diese Thesen an einem Beispiel aus unserer Forschungsarbeit zur Sexualisierung veranschauliche, einige Bemerkungen zur Methode von Erinnerungsarbeit 4. Methodisches Vorgehen Kollektive Erinnerungsarbeit verstehen wir zunächst einmal als sozialwissenschaftliche Methode, mit der wir das Wissen über die weibliche Vergesellschaftung vergrößern wollen. Die Empirie geschieht unter Einschluß der Erforschten in den Forschungsprozeß. Auch für die einzelnen soll damit Begreifen an die Stelle von Bewußtlosigkeit gesetzt werden, um eine größere Handlungsfähigkeit zu erreichen. Freilich ist damit auch eine größere Verunsicherung verbunden. Erinnerungsarbeit geschieht unter der Annahme, daß die "Persönlichkeit" ein Gedächtnis hat. Darunter verstehen wir, daß im Prozeß 212

Subjekt Frau des Heranwachsens aus der Fülle des Lebens bestimmte Situationen, Aspekte, Dimensionen als bedeutungsvoll gespeichert werden; daß Handlungen, Wege, die gewählt wurden, als die richtigen interpretiert und mit Bedeutung belegt werden. Eine Selektion findet statt. Die Erinnerung baut oder konstruiert eine Person ohne Widersprüche, eine stimmige Person aus der Gegenwart ins Rückwärts. Es entsteht so eine "Persönlichkeit" in den Verhältnissen mit Behinderungen, mit Unmöglichkeiten, mit Fesseln und Leid. Soweit dies so ist, kann eine Veränderung des Persönlichkeitsgedächtnisses, eine Erschütterung der Person die Möglichkeit von Neukonstruktion eröffnen. Die Erinnerung macht mit uns Politik, entwerfen wir Gegenstrategien. Die Erinnerung erweist sich als viel umfangreicher als die Bestandteile, die wir als passend alltäglich fürrichtighalten. Haben wir erst einmal begonnen uns detailliert zu erinnern, ensteht ein Reichtum an Bildern, Verknüpfungen, Alternativen. Gewordenens wird erkennbar. Wir sehen auch, wie wir es konstruierten. Die Macht der Bilder in uns wird veränderbar, Brüche und Unstimmigkeiten, Alternativen werden sichtbar. Positives Wissen wird erzielbar über solche Verknüpfungen. Gleichzeitig lassen sich im Kollektiv Angebote entwickeln, sich anders, z.B. kraftvoller wahrzunehmen. Die Methode entwickelten wir im wesentlichen aus der Arbeit mit den Geschichten selber, also im Laufe des Arbeitsprozesses. Ich skizziere einige uns wesentliche Aspekte: 1. Im Unterschied zur Biographieforschung, der unsere Methode am ähnlichsten scheint, fordern wir die einzelnen im Kollektiv auf, keine Biographie oder Längsschnittgeschichte zu schreiben, da diese die Konstruktion, die die einzelnen von sich haben, nur bestätigen, die Ideologie sozusagen in ihrer Wirkung zeigen und nicht, wie sie gemacht wurde. Stattdessen schreiben wir Einzelszenen zu Themen, die uns wichtig sind. 2. Wir bearbeiten die Szenen im Kollektiv - sowohl wegen der gemeinsamen Phantasie, wegen der Vergleichbarkeit, der Wiedererkennung und damit Verallgemeinerbarkeit als auch, um das Erstaunen produktiv zu nutzen, daß die Einheit von Gleichheit und Fremdheit in den individuellen Szenen hervorruft 3. Wir bearbeiten die Sprache und ihren Floskelcharakter und begreifen, wie sehr Klischees und metaphorische Wendungen, aber auch alltagssprachliche lange gekannte Sätze uns sprechen, statt daß wir uns ihrer bedienen. 4. Wir suchen nach den Interessen, den Motiven der geschilderten handelnden Personen. Sie fehlen zumeist zugunsten von Schwarz-Weiß-Konstruktionen, die dazu dienen, die eigne Person in den Fängen dunkler Mächte aufzuzeigen; sich als die eigene Geschichte erleidend darzustellen 213

Frigga Haug und Befreiung nur durch andere zu denken (Prinzen z.B., jedenfalls der "Richtige", auf den gewartet werden muß). 5. Wir suchen nach Leerstellen, nach Brüchen und Widersprüchen und bitten die Autorin jeweils an den strategischen Punkten auf unsere Fragen in einer zweiten Fassung da* Szene zu antworten. 6. Wirfrageninsbesondere nach der Rolle der Gefühle bei den einzelnen Handlungen, weil sie sich als ein starker Anker, der die Handlungen begründet und hält, erweisen. 7. Aus den gleichen Motiven wie die Frauenbewegung, die die einzelnen Frauen aufforderte in der ersten Person zu sprechen und zu schreiben, und so sich selbst ernster zu nehmen, schreiben wir in der dritten Person, weil wir die Erfahrung gemacht haben, daß die einzelnen - solange sie in der ersten Person schreiben, nicht sorgfältig mit sich umgehen. Zum genauen Schreiben brauchen wir die Distanz, uns als historische Personen zu sehen, historisch zu leben. 8. Schließlich erzählen wir nicht, sondern schreiben die Szenen auf, da nicht die Personen, sondern die Konstruktion Gegenstand der Bearbeitung ist Von daher arbeiten wir immer auch gegen eine Psychologisierung und Therapeutisierung der einzelnen Personen im Kollektiv. 9. Wir beziehen den Zustand unseres Alltagsverstandes in die Bearbeitung ein; d.h. wir gehen davon aus, dass unsere Köpfe eine chaotische Sammlung von Erfahrungen, Meinungen aus der herrschenden Kultur, Theorien und Ratgeberliteratur beherbergen. Es ist uns wichtig, bei der Arbeit mit unseren Erinnerungen, unsere Köpfe mitzubearbeiten. Insofern schließt Erinnerungsarbeit die Kritik der herrschenden Theorien im Untersuchungsfeld ebenso ein, wie die der herrschenden Kultur, die Analyse von Alltagsmeinungen, Sprichwörtern und Moral. Zusätzliche Mittel zur eigenen Erinnerung sind Märchen, Bilder, Massenmedien. Wir begreifen kollektive Erinnerungsarbeit als Kulturarbeit, als Politik der Erinnerung, urn die Gegenwart und die Zukunft zu gewinnen. 5. Der dicke Bauch Ich komme jetzt zu den Szenen, die den Ausgangspunkt einer Diskussion um unsere Arbeit bildeten.11 Ich skizziere zunächst die spontane "Geschichte", die eine Frau beim Durchsehen von Fotoalben zu dem folgenden Bild, auf dem sie ausgesprochen uneinverstanden mit sich und der Welt wiederzufinden war, aufschreibt:

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Subjekt Frau

Mein Vater war Hobbyfotograph und machte immer Bilder von mir, und eines Tages sagten seine Freunde zu ihm: du, deine Tochter wird aber zu dick, du mußt aufpassen, daß ihr rechtzeitig eingreift. Und sie kommentiert dann etwa folgendermaßen: ich habe das aufgefaßt als eine der vielen Gemeinheiten meines Vaters gegen mich. Und dann geht die Geschichte über einen völlig anderen Gegenstand weiter, nämlich wie toll und wie stark sie in der Schule ist, viel besser als all die anderen Mädchen und Knaben, und wie sie die anderen tyrannisiert habe usw. usw. Die Geschichte endet mit ihrer Niederlage, weil sie eine Frau wird. Was in dem Aufgeschriebenen nicht enthalten ist: es gibt keine Gefühle des Mädchens zu ihrer eigenen Gestalt, sondern der Bericht handelt eben über die Beliebtheit bei den Mitschülern, über den Besitz einer eigenen Freundin, das ist das andere Mädchen (s. Foto). Wir fanden, daß die beschriebene Gleichgültigkeit in einem großen Mißverhältnis zu Körperhaltung und Gesichtsausdruck steht Wir wollten wissen, wie Maßstäbe verinnerlicht werden - wie 215

Frigga Haug sie "von außen nach innen" kommen. Wir sind nach der Geschichte und ihrer Bearbeitung in dieser Frage noch kein Stück weitergekommen. Die Leerstelle in der Geschichte sind die Gefühle und Bewertungen der Schreiberin angesichts elterlicher undfreundschaftlicherHinweise auf die Gefahr, "sich anders" zu entwickeln. Da unser Foto uns nicht glauben ließ, daß der Bauch nur ein Problem des Vaters und nicht auch eines des Mädchens selber war, wollten wir von der Schreiberin weitere Auskünfte. Ihre kühle Schreibweise ließ uns annehmen, daß keine Katastrophen, Erschütterungen ins Haus stünden. Wir wollten die Bilder als weitere Erinnerungshilfe fruchtbar machen und baten die Schreiberin, eine genaue Bildbeschreibung vorzunehmen. Die Betrachtung beider Mädchen, das Ins-Verhältnis-setzen zur zierlich-mädchenhaften Freundin schien uns eine gute Grundlage, um den Gefühlen, Tätigkeiten, Selbsteinschätzungen auf die Spur zu kommen. Wir haben von ihr eine Bildbeschreibung zu diesem Bild gefordert, als handele es sich um fremde Personen. Jetzt kommt die Bildbeschreibung: "Auf dem Bild sind zwei Mädchen, etwa 8 Jahre alt Die eine: ein rundes Pausbackengesicht, Haare kurz, Jungenschnitt. Sie blinzelt in die Sonne, der Mund ist seitlich hochgezogen. Der Gesichtsausdruck ähnelt dem eines Cowboys in einem Wildwestfilm, der seinen Gegner erwartet Sie zeigt dem Gegner ihrer Verachtung: Trotzige Furchtlosigkeit soll das schräge Grinsen ausdrücken, aber es ist ihr nicht gelungen, die Angst gänzlich daraus zu vertreiben. Die Schultern hängen nach vorne, die Arme umrahmen einen runden Bauch, dessen Rundung noch durch einen Kräuselrock hervorgehoben wird. Der Rock staucht sich zudem auf dem Terassengeländer, so daß der Eindruck des Kunden noch verstärkt wird. Die Beine stehen beziehungslos nebeneinander, zwischen ihnen klafft eine Lücke. Jedoch kann das Mädchen erst vollständig beschrieben werden, wenn man sie vergleicht mit der Freundin auf dem Bild. Deren Beine zum Beispiel stehen ballettartig. Das Standbein gerade, etwas nach hinten versetzt, das andere Bein darüber, leicht gebeugt, so daß nur die Fußspitze auf den Boden aufsetzt Ihre Arme über einer Taille verschränkt, die man dennoch ahnt, und ihr Faltenrock ist lässig auf dem Geländer drapiert, er staucht sich nicht etwa um ihren Körper. Der Kopf ist etwas gesenkt, so schaut sie nicht in die Sonne. Ihr freundliches Lächeln läßt Grübchen erscheinen und rundet ihre Wangen - ganz im Gegensatz zu dem Gesicht des ersten Mädchens; es ist so rund, daß keine Grübchen sich bilden können. Meine Vorliebe gilt diesem ersten häßlich Mädchen. Ihr ganzer Körper drückt Widerstand aus. Die irgendwie herumstehenden Beine, die vorgeschobenen Schultern, der mürrisch-trotzig-ängstliche Gesichtsausdruck. 216

Subjekt Frau Sie weiß, daß sie nicht schön ist, aber sie versucht es auch nicht zu sein. Sie ist beileibe nicht glücklich in dieser Trotzhaltung, so sieht sie nicht aus. Sie gefällt nicht, aber sie ist auch nicht gefällig. Sie versucht, sich die Welt vom Leibe zu halten." (F. HAUG 1983,75f.) Wir waren überrascht über die Worte von Haß, Ekel und Wut in dieser Beschreibung: das schräge Grinsen, die hängenden Schultern, der runde Bauch, der stauchende Rock, die klaffende Lücke zwischen den Beinen. Überrascht auch über die Offenbarung der Liebe zu diesem Mädchen und über den Trotz in diesem Text. Er tritt gleich dreifach auf: im Dennoch - der Zustimmung zu sich selbst, dem fremden Kind von damals; in der Verachtung der gekannten Maßstäbe, wie man aussehen, wie man sich halten soll und schließlich gegenüber dem Forschungskollektiv, die wir sie über das Kind schreiben lassen. Die Geschichte ist ganz offensichtlich eine über die Schreiberin heute; über ihre Versuche, sich häßlich und gering zu sehen, dazu zu stehen und dies als Politik zu betreiben. Lesbar sind heutige Umgangsformen, aber nicht die Aneignung dieses Umgangs mit sich und damit der Einbau in die Welt, der auch heute ihr politisches Handeln bestimmt. Wir haben daraus methodische Lehren gezogen und folgende Erkenntnis gewonnen: Die Autorin akzeptierte offenbar nicht den Grundkonsens der Gruppe, daß Frauenunterdrückung als strukturelles Problem existiert. Ja im Grunde interessierte es sie eigentlich überhaupt nicht, daß es in der Gesellschaft Frauenunterdrückung als allgemeines Problem gab; damit teilte sie auch nicht unsere Annahme, daß der Körper und das Verhältnis zu ihm in der Frage der weiblichen Einordnung in Gesellschaft eine entscheidende Stelle einnehmen und daß Frauenbefreiung auch an diesem Verhältnis anzusetzen habe. Indem sie ihre Probleme mit ihrem Körper als höchst individuelle und private Sache betrachtete, gab es im Grunde kein gemeinsames Projekt, in dem wir auch gemeinsam arbeiteten und die Politik unserer Erinnerungen in Frage stellten. Das wirft allgemeine Fragen an die Methode der Erinnerungsarbeit auf. Forschung in dieser Weise braucht nicht nur ein Kollektiv, sondern zudem eines, das in gemeinsamer Befreiungsperspektive verbunden ist - Forschung mit Erinnerungspolitik braucht zudem die Bewegung als eine Kraft, die die notwendigen Veränderungen in den Rahmenbedingungen des Handelns zu erstreiten bereit ist/Dies ist in gewisser Weise eine Einschränkung der Anwendbarkeit und Nützlichkeit von Erinnerungsarbeit. Auf der anderen Seite habe ich aber auch Zweifel, ob radikale Forschung und ob Eingriffe in die Handlungsfähigkeit der einzelnen und des Kollektivs nicht tatsächlich immer auf eine Aktivität der Individuen setzen müssen, die die Befreiungsperspektive 217

Frigga Haug bejaht und von daher auch zu Recht diese Perspektive in die Grundlagen ihrer Methode einbaut Unsere Strategie im konkreten Fall war, das Kollektiv dort weiterarbeiten zu lassen, wo einzelne sich entziehen. Alle übrigen schrieben eine Szene zum Bauch. Wir erhielten das markwürdige Ergebnis, daß ein Bauch nicht so sehr eine unziemliche Ansammlung von Fett ist, sondern in erster Linie eine Haltungsfrage. Verblüffend sind die Verbindungen, die gezogen werden: Bauchhaben ist also eine schlechte Tat. Es gehört zum Körper wie zur Persönlichkeit. Bauchhaben zeugt von schlechtem Charakter. Bauchhaben heißt sich gehen lassen. Man muß sich disziplinieren. Wer den Bauch nicht einzieht, macht womöglich auch keine Schularbeiten. Indem Bauchhaben eine negative Tätigkeit ist, können wir zur Verantwortung gezogen werden. Wir müssen unser Haltungsproblem angehen. Durch das Umgehen mit Abweichungen von den Maßstäben, eignen wir uns zugleich die Maßstäbe und die Kompetenz an, mit ihnen umzugehen. Das schlechte Gewissen erstreckt sich auf das bloße Sein in der Welt - weil wir als Lebensaufgabe akzeptiert haben, mit unseren Unzulänglichkeiten umzugehen. Es entsteht dabei das besondere Problem, daß die einzelnen die Verantwortung für eine Aspekt übernehmen, für den sie gar keine Verantwortung haben können, da sie die gesellschaftliche Macht, die die Körper tatsächlich bestimmt, nicht besitzen. Sie haben keine Verfügung über die Lebensressourcen, sie können der Vergiftung der Nahrung, der Verseuchung der Luft und der Zerstörung der Erde kein Einhalt gebieten. Statt sich zu empören, entwikkeln sie Schuldbewußtsein und bescheiden sich mit einem Teil als Lebensaufgabe, der sich dennoch als zu groß erweist, statt den Anspruch auf die ganze Welt auszudehnen. 6. Exhaustion versus kollektive Kulturzerstörung Diese Erinnerungsarbeit, die wir gemacht haben, ist vielfältig aufgegriffen worden von Frauengruppen. Sie haben Schwierigkeiten beim Machen, aber keine Schwierigkeiten, die Erinnerungsarbeit für sich fruchtbar zu finden. Umgekehrt sind unsere Erfahrungen mit Männern: sie haben große Schwierigkeiten sich Erinnerungsarbeit überhaupt als Forschungsmittel vorzustellen. (Wir können ja vielleicht mit den anwesenden Männern nachher darüber sprechen, warum das so ist.) Jetzt aber kam ein Angriff von einem Mann namens Gerhard HERRGOTT, mit dem ich mich im Folgenden vom "Kritisch-psychologischen Standpunkt" auseinandersetzen will. Ich denke, das ist an dieser Stelle günstig, 218

Subjekt Frau weil die Auseinandersetzung mit seinem Angriff die Spezifik unserer Methode klarer verdeutlicht, als ich das wahrscheinlich eben konnte. Er benutzt diese Geschichte, die ich euch eben vorgestellt habe, um ein anderes bzw. sein Vorgehen vorzustellen. Er findet, daß wir unsere Arbeit schlecht gemacht haben. Er setzt ein an der Stelle, daß er diesen Wechsel von uns, die Weiterarbeit von der einzelnen Frau ins Kollektiv der Frauen zu verlegen, falsch findet Er fragt: "Aber ist es derselbe Faden, den die anderen da aufnehmen? Die Frage des Bauches*, bearbeitet von denen, die nicht so schrecklich am Bauch leiden, ist eine andere, als die, die sich der ersten Schreiberin stellte. Ihre Frage hatte eine Richtung, sie kann Ausgangspunkt einer Suche sein, in der allmählich ein Herrschaftsmechanismus entziffert wird: Schmerzen und Widerstand führen uns dorthin, wo wir beherrscht werden - nichts anderes besagt die Methode der Exhaustion. Die Methode der kollektiven Erinnerungsarbeit nutzt das Kollektiv, um die Exhaustion, die Lokalisierung der Schmerzpunkte, i n manchen Fällen zu umgehen. Dadurch wird *forschende Bearbeitung... ungefährdet möglich*, was sich das Kollektiv bei der Bauchgeschichte auch von Anfang an, aufgrund der *kühlen Beschreibung*, erhofft hatte (vgl. F. HAUG 1983,75). Was bei der ungefährdeten Bearbeitung dann herauskommt, sind einige harmlose Allgemeinheiten (vgl. ebd. 80ff.). In welchen Fällen wird das Ziel der Selbstveränderung, das doch ohne Destabilisierung, ohne Gefährdung gar nicht zu erreichen ist, aufgegeben? Die Autorinnen verharren an diesem Punkt, der ihr eigenes Ziel und ihre eigene Einsicht in Frage stellt, in unentschiedenem Schweigen. Oder ist es ein entschiedenes Schweigen? Hängt es zusammen mit einem anderen Schweigen in diesem Buch? ... Worüber hätte geredet werden müssen wenn in der *Frage des Bauches*nicht die *einfache* Lösung gewählt worden wäre? Über die klaffende Lücke zwischen den Beinen*? Warum darf davon nicht gesprochen werden? Käme dabei etwas ähnliches zur Sprache wie bei mir, Phantasien von Reinheit und Schmutz, von Gewalt und Unterwerfung?** (G. HERRGOTT in: Das Argument 161,94) So, das ist sein Eingriff. In seinem Zentrum steht die Frage der Selbstveränderung. Das war unsere Ausgangsfrage: Selbstveränderung im Verhältnis zur Gesellschaftsveränderung. Sein Zeigefinger: Wenn ihr nicht bis ans Ende geht, findet ihr nichts! Im Innersten liegt das Geheimnis, das es auszugraben und zu enthaupten gilt, dann erst ist die Person verändert. Ich möchte behaupten: „ daß das ein Mythos ist: das innere Geheimnis, die Ausgrabung, die Veränderung, daß das eine religiöse Struktur ist, 219

Frigga Haug -

und daß unsere Methode nicht so geartet ist, nicht so religiös, daß sie eine "Wahrheit" ans Licht hebt, die uns durchleuchtet wie ein Blitz. Wir sind weit unbescheidener!

Ich erinnere an den zweiten MARX-Satz: das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen innewohnendes Abstraktum, sondern das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Wir nehmen nicht an, daß die Konstruktion der Person einen einzigen Knoten hervorbringt, der entwirrt werden muß, sondern daß wir vielmehr erwarten müssen, daß die einzelnen mit unzähligen Fäden in eine Gesellschaft gebunden sind. Darin sind die Frauen in Subalternität festgehalten, in einer Kultur, in der sie leben, in der sie sich selbst jener Subalternität aktiv unterstellen, mit jeder Faser ihres Körpers. Wir nehmen also an, daß es sich um eine aktive Vergesellschaftung in die Unterdrückung handelt. HOLZKAMP würde das eine besondere Form "restriktiver Handlungsfähigkeit" nennen. Hier haben wir Erinnerungsarbeit als Befreiungsstrategie und Politik eingesetzt, als massenhafte Kulturarbeit. Im Kollektiv erst würde es uns gelingen, das kulturelle Netz zu zerstören, das alle hält und das von allen gehalten wird. Der Versuch, der damit gemacht werden muß ist Kulturzerstörung und Neuschöpfung im gleichen Prozeß. "Die Menschen verändern sich, indem sie die Umstände verändern, oder beim Verändern der Umstände." Dies scheint auch uns die einzige Möglichkeit der Selbstveränderung zu sein, so daß wir uns unsere Erinnerungsarbeit nur vorstellen können in Bewegung, also in der Frauenbewegung und durch sie. Und uns interessiert das Massenhafte, und die Wirksamkeit der kulturellen Einbindung. Indem sie für alle gilt, nicht bloß für eine. Und nur, indem sie dies tut, nämlich für alle zu gelten, kann sie auch für die einzelnen wirksam werden, und nur darum kann sie von vielen veränderbar sein. Wir halten diese Idee, daß ein einsames Gesetz, das von "Reinheit und Schmutz" bei HERRGOTT, die einzelnen bestimmt, für eine Illusion, ebenso wie die einsame Veränderung, selbst wenn dazu die Öffentlichkeit in Dienst genommen wird, indem man ausspricht, was man denkt. Denn es geht ja darum, eine andere Kultur zu schaffen, nicht nur einen anderen Menschen. Die einzelnen verändern sich also, indem sie sich an dieser Veränderung beteiligen. Ich denke, daß HERRGOTTS Problem ist, daß er das Kulturelle von Herrschaft nicht denken kann, weil das Männliche zur Herrschaftskultur gehört. Und daß er das Kollektive an Befreiung nicht denken kann, weil zur männlichen Herrschaftskultur der Sieg des Einzelnen gehört, selbst dann, wenn er darunter leidet. So scheint ihm "harmlos allgemein", soll sagen, platt und unwichtig, daß in der Haltung der Frauen zu ihren Körpern Schuldbewußtsein so eingebunden ist, daß sie verzichten auf einen eigenen Eingriff in Gesellschaft, in Naturzerstörung und 220

Subjekt Frau Ausbeutung, und er glaubt nicht, daß Eifersucht so allgemein sein kann, und so umfassend, daß die Veränderung der gesamten Gesellschaft in diesen Gefühlen hängt. Er behauptet statt dessen selbstbewußt, es hätte nicht über so etwas Einfaches, sondern über die Sexualisierung der Geschlechtsorgane, über die klaffende Lücke zwischen den Beinen, über der Autorin Phantasie von Reinheit und Schmutz gesprochen werden müssen, damit offenbar geworden wäre: daß sie so ist wie er! Wo wir also hinausziehen, in unsere Vermitdung durch Gesellschaft, Herrschaft und Unterordnung und sie erfahren als körperlich und unmittelbar, möchte er uns zurückpfeifen, in die Schwüle seiner Phantasieentzifferung, die herrschaftlich bleibt, trotz aller Offenbarungssätze, weil er die Verbindung zur Gesellschaft im Großen aufgekündigt hat. Wir denken aber, daß der Zusammenhang von Selbstwahrnehmung und Weltsicht für die Frauenbewegung elementar ist. 7. Frauenforschung und die Kategorien der Kritischen Psychologie Jetzt setze ich das Ganze kritisch in den Kontext der Begriffe der Kritischen Psychologie, fch denke, daß die Kategorien in der Kritischen Psychologie im Unterschied zu diesen Entwürfen von Gerhard HERRGOTT allesamt so gebaut sind, daß sie die Veränderung zum Ensemble der Gesellschaft herstellen, und von daher Subjektivität immer an eine Befreiungsperspektive binden. Immer geht es um die Bedingungen des Handelns und das Verhältnis der einzelnen zu ihnen. Die Menschen finden Gesellschaft vor, aber sie arbeiten sich in sie hinein, eignen sie sich an, werden handlungsfähig, restriktiv oder ausgreifend. Die wesentlichen forschungsleitenden Begriffe sind zugleich in Gegensätzen formuliert, z.B. restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, interaktive/kooperative Beziehungen, Fremdbestimmung/Selbstbestimmung. Die Gegensätze geben dabei eine Spannungsrahmen an, in dem menschliche Entwicklung denkbar ist. In dieser Weise ist der Versuchung vorgebaut, Individuen etwa statisch zu denken, Haltungen als Eigenschaften wahrzunehmen, sondern es ist statt dessen möglich die einzelnen in ständiger Bewegung zu sehen. Die Anordnung des Forschungsfeldes zwischen zwei analytischen bestimmten Polen des Handelns macht also auf der Ebene der Kategorien mit der Vorstellung ernst, daß die Menschen die Verhältnisse, in denen sie leben, selbst mitproduzieren und verändern müssen. Insofern sind die einzelnen niemals als bloße Opfer ihrer Verhältnisse gedacht, sondern stets als Menschen mit alternativen Handlungsmöglichkeiten. Die Begriffe sind also orientierend und beugen einer bloßen Willkür der Interpretation, die sich vom Material hin und her treiben läßt, vor. Tatsächlich kann man in unserer Bearbeitung in den 221

Frigga Haug beiden Bänden Kritische Psychologie der Frauen AS 117 (1985)/AS 130 (1986)13 feststellen, daß der Grad beliebiger Interpretation zunimmt, je weiter sich die einzelnen Autorinnen von dem disziplinierenden Zugriff Kritischpsychologischer Begriffe entfernten. Selbstverständlich ist ein solcher Zugriff mit Kategorien aufs Material auch eine Einschränkung. Die Kategorien schärfen den Blick in eine Fragerichtung, aber sie erlauben darum auch nicht, außerhalb der Fragen liegende mögliche Antworten zu erkennen. Ich denke, das Recht, mit dem sie dies tun, ist das Interesse an der Handlungsfähigkeit der Menschen. In dieser Weise haben wir positiv mit den Begriffen der Kritischen Psychologie gearbeitet. Auf der anderen Seite sperrten sich unsere Materialien auf eigentümliche Weise gegen den kategorialen Zugriff. Sie antworteten gewissermaßen spiegelveikehrt. Ich möchte das im Folgenden an einem Begriffspaar verdeutlichen. HOLZKAMP hat in der Grundlegung der Psychologie die Kategorie: "restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit" ausgearbeitet (1983, 459, 461 ff., 467,471 f., 491 ff, 5oo ff, 506 f.). Er versucht mit diesem Begriffspaar individualhistorisch zu fassen, wie etwa ein Kind sich einerseits unter bestimmten Bedingungen in Unterdrückungszusammenhängen einrichtet (restriktive Handlungsfähigkeit erwirbt) bzw. andererseits Verfügungserweiterung durch subjektiven Widerstand vornimmt. (Er arbeitet das zur Zeit aus als Theorie des Lernens, Lernen als/von Widerstand14). Er schlägt vor, sich die kindlichen Versuche, eine der beiden Handlungsfähigkeiten anzustreben, in einem "Unterstützungsrahmen" zu denken, der gewöhnlich durch die Erwachsenen gebildet wird(461 f.). Für das Kind stehen seine Handlungen in einem "Verfügungsrahmen", in den es sich "einpassen", bzw. den es zu überwinden trachtet. Es "paßt sich an", "arrangiert sich", "verzichtet", oder es leistet "Widerstand" (462). HOLZKAMP führt schließlich vor, wie der restriktive Typus, auf Bedrohungen zu reagieren, sich zu einer Methode verfestigt, ein Umstand, der die Aufarbeitung der eigenen Kindheit zur notwendigen Voraussetzung für eine begriffene bewußte Zukunft macht. Wenn verschiedene Anpassungs-, Arrangement-, Verzichtsleistungen erfolgreich durchprobiert worden sind, also immer mit Erfolg gehandhabt worden sind, dann, so seine Auffassung, entwickeln die Kleinen ein Methode dafür, mit der sie so verwachsen, daß sie sie auch als Erwachsene nicht lassen können, selbst wenn die elterlichen Unterstützungsrahmen gar nicht mehr notwendig sind. In dieser Weise entwikkeln sie sozusagen habitualisierte Formen der Konfliktlösungen, in denen sie sich anpassen an übermächtig gedachte Erwachsene, die gar nicht mehr da sind. Und infolgedessen muß man nach HOLZKAMP an dieser Stelle mit seiner Vergangenheit arbeiten, so wie wir das mit Erinnerungsarbeit versuchen. Vergangenheit aufzuarbeiten kann dann auch heißen, daß man weniger ange222

Subjekt Frau paßt, selbstbewußter in eine begriffene Zukunft schreiten kann. Ich möchte das jetzt an dieser Stelle nicht weiter diskutieren, sondern wende mich den Frauen zu. Problematisch ist mir die klare Alternative, die diesen beiden Formen von Handlungsfähigkeit in unserer Gesellschaft auch praktisch zukommen soll. HOLZKAMP unterstützt seine Argumentation mit einer Fülle von Alltagsmaterialien, die alle einleuchtend scheinen. Aber in unseren eigenen Frauen- und Mädchengeschichten waren solche Zuordnungen eher hinderlich. Zum Beispiel trafen wir auf eine Menge Widerstand bei den heranwachsenden Mädchen. Errichtetesich gegen den "Verfügungsrahmen". Sich anpassen, sich einrichten usw. waren kaum je Verfahrensweisen des Umgangs mit der eigenen Entwicklung. Allgemein z.B. in der Frage der Familie, fanden wir weniger, daß die Frauen deswegei^eine Familie wählen, weil sie nach und nach sich in die Familie eingepaßt hätten. Sie wollten nicht werden wie ihre Mütter, sondern ganz im Gegenteil: Familiengründung geschah aus Widerstand gegen die Elternfamilie, aus dem Motiv, selbst eine neue viel bessere Familie herstellen zu können. Allgemein können wir formulieren, daß gerade bestimmte Formen von Widerstand sich schließlich als Handlungsweisen erwiesen, in denen die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen reproduziert, und in der - um mit HOLZKAMP zu sprechen - "restriktive Handlungsfähigkeit" erreicht wurde. Also mit Widerstand in die Gesellschaft. HOLZKAMP argumentiert zu recht, daß historisch erarbeitete Kategorien > nicht auf der Grundlage von Empirie geändert werden können. Also wir können nicht hergehen und sagen: aber in meiner Familie war das anders, infolgedessen stimmen deine Kategorien nicht, sondern ein Zweifel oder eine Frage müssen auf der Ebene formuliert werden, in der die Kategorien gebildet wurden. Dort, auf der Kategorienebene geht es um den Prozeß des Erwerbs von "erweiterter Handlungsfähigkeit" und die Behinderungen, die speziell in der bürgerlichen Gesellschaft der/dem einzelnen dabei in den Weg gelegt werden, daß sie in "Selbstfeindschaft", auf "volle Menschlichkeit" (vgl. HOLZKAMP 1983, 379ff.) verzichten. HOLZKAMP besteht auf den mögliche Alternativen der widerständigen "Rahmenerweiterung". MARX benutzte an den meisten Stellen, an denen HOLZKAMP von Rahmen spricht den Begriff der Form. Diese Kategorie ist für MARXens Vorstellung von Widersprüchen und von Entwicklung ganz zentral. Die Menschen, denkt er, handeln widersprüchlich in bestimmten Formen, z.B. in der Familie, solange bis die Widersprüche unerträglich werden und die Form gesprengt wird. Eine neue Bewegungsform für die Widersprüche muß gefunden werden. Eine häufig auftauchende Figur bei MARX ist, daß unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen etwas in der Form seines Gegenteils auftritt 222

Frigga Haug Wir könnten z.B. formulieren: in der Privatform der Familie erscheint der widerständige Versuch der Frauen "verallgemeinerte Handlungsfähigkeit" zu erreichen, in der Form ihres Gegenteils als "restriktive Handlungsfähigkeit". Dieser unerträgliche Zustand kann von den Frauen begriffen werden, seine Änderung aber setzt die Sprengung der Privatform voraus. Dies kann nur kollektiv geschehen, aber es muß geschehen. (Zwar finden sich in der börgerlichen Gesellschaft alle Individuen zunächst in der Privatform vergesellschaftet, aber nur den Frauen ist es eigentümlich, daß sie sich auch in ihr reproduzieren (können). Auch HOLZKAMP geht davon aus, daß "verallgemeinerte Handlungsfähigkeit" kollektiv, also "die Erweiterung der Verfügung über die Lebensbedingungen" (vgl. HOLZKAMP 1983) ein Werk vieler sein muß. Aber die Art wie die Begriffe gegensätzlich unangefochten alternativ stehen, macht, daß es so aussieht, als ob die einzelnen in den vorhandenen Formen so oder so leben könnten. Entweder arrangieren sie sich mit den "Herrschenden" oder sie erweitern ihre Handlungsfähigkeit, indem sie "gegen den Strom der Selbstverständlichkeiten unmittelbaren Welt- und Selbstbezugs anschwimmmen" (vgl. HOLZKAMP, 501). Die Schreibweise, die ich als konkretistische Abstraktion kennzeichnen möchte, weil hier sehr theoretische Zusammenhänge durch sehr alltägliche praktische Wendungen eine Veranschaulichung erhalten, die ihnen auf dieser Ebene der Darstellung nicht zukommt, macht, daß sich die Alternativen moralisch lesen: entweder ist man ein Opportunist oder ein Widerständler! Aber der Reim, den wir uns als Leserinnen von HOLZKAMP machen, gehört nicht in die Prosa der Kategorialanalyse. Diese erlaubt eigentlich solche Typisierungen auf der empirischen Ebene nicht. Ich möchte daher für die Weiterarbeit mit und in der Kritischen Psychologie vorschlagen, das Verfahren, für die Empirie gegensätzliche BegrifFspaare auf der Kategorialebene zu bilden, zunächst beizubehalten. Ihre Entgegengesetztheit sollte das analytische Werkzeug schärfen. Bevor jedoch das empirische Material selbst in diesem theoretischen Rahmen aufgearbeitet wird, bevor wir also 'ran gehen und sagen, das ist ein Opportunist und das ist ein Widerständler, scheint mir eine Analyse der Formen, in denen die Menschen ihr Leben konkret historisch produzieren, unumgänglich. Von daher könnte man in unserem Beispiel - verkürzt gesprochen - untersuchen, wie die Anstrengungen der Frauen, die Handlungsfähigkeit zu erweitern, in den Formen der bürgerlichen Gesellschaft sich zugleich in ihr Gegenteil verkehren, und wie die praktischen Alternativen, die Handlungsfähigkeiten zu erweitern, ohne die Restriktionen zu bedienen, mit Notwendigkeit zur kollektiven Veränderung der Formen führen muß. Ich sag1 noch einen Satz dazu, wie das bei HOLZKAMP geht Die Begriffe "restriktiv/verallgemeinert" stünden so nicht 224

Subjekt Frau in einem einfachen Gegensatz, sondern in einem Entwicklungswiderspruch, in dialektischer Verschränkung. Ihre Alternative wäre zunächst nur eine im Denken, praktisch geworden, stünden dagegen jeweils die Formen zur Veränderung an, in denen Handlungsfähigkeit erworben wird. Ein solches Verständnis der gegensätzlichen Begriffe scheint mir notwendig für alle Kategorien, die ich genannt habe, Selbstbestimmung/Fremdbestimmung, interaktiv /kooperativ usw. Und was bedeutet das praktisch: zumindest für die Frauenforschung denke ich, daß auf diese Weise das in der Kategorie der "Erweiterung der Handlungsfähigkeit" nahegelegte Verständnis, dies sei ein Prozeß allmählichen, kontinuierlichen Wachstums ersetzt werden muß durch die Vorstellung von Brüchen. Dann wäre die begreifende kollektive Kraft auf die Bewältigung des Bruchs mit den alten Formen und die womöglich bewußte Herstellung alternativer Formen des Lebens gerichtet. Man könnte an dieser Stelle einwenden, solche Überlegungen gehörten doch in eine Befreiungstheorie, HOLZKAMP dagegen gehe es um individuelle Vergesellschaftung, nämlich um den Prozeß des Erwachsenwerdens in unserer Gesellschaft. Ich denke, daß es ein Verdienst HOLZKAMPs ist, diesen Unterschied in seiner Theorie nicht zu machen, etwa zu behaupten die Psychoanalyse sei gut für die Kindheit und der Marxismus für die Erwachsenen, sondern, daß er Vergesellschaftung als umfassenden Prozeß begreifbar machen wollte. Von daher scheint es mir umgekehrtrichtig,jene dramatischen Widersprüche und Brüche, die wir in der Befreiung für unumgänglich erachten, auch im Vergesellschaftungsprozeß der Kinder für wirklich zu halten. Kindliche Entwicklung also auch nicht als Prozeß kontinuierlich wachsender Verfügung über die Lebensbedingungen anzunehmen, sondern als Diskontinuität, als Übergang mit Sprüngen und Brüchen. Und von daher - dies eine letzte Sprachkritik - scheint es mir auch nicht klug, mit Herrschaftsbegriffen zu arbeiten wie Verfügen, Kontrollieren usw., sondern mit Produktionsbegriffen wie Tätigkeit, Eingreifen usw.; denn schließlich geht es uns ja nicht einfach um die Aneignung von Vorhandenem, wie das bei HOLZKAMP zuweilen durchscheint, auch nicht um "kollektive Inbesitznahme", wie er schreibt, sondern um die Zerstörung alter Formen und um Neuschöpfung. Wo die Kultur, das herrschende Milieu, uns gefangen hält, müssen wir ja etwas Neues gemeinsam produzieren und damit zu neuen Menschen werden.

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Frigga Haug

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Frigga HAUG und Kornelia HAUSER (Hrsg.): Subjekt Frau. Kritische Psychologie der Frauen 1; und dieselben: Der Widerspenstigen Lahmung. Kritische Psychologie der Frauen 2. Berlin 1986 und 1987. Eine solche Ausnahme ist z.B. PLAGET, der allerdings in seiner Untersuchung ''Das moralische Urteil beim Kinde" explizit nur von Jungen handelt (Frankfurt/M, 4. Aufl. 1981). BELOTTI, E.G.: Was geschieht mit kleinen Mädchen? München 1975. SCHEU, U.: Wir weiden nicht als Mädchen geboren, wir weiden dazu gemacht. Zur frühkindlichen Erziehung in'unserer Gesellschaft. Frankfurt/M 1977, 6. Aufl. 1980. Eine ausführliche Erläuterung zur Methode ist das erste Kapitel in unserem Buch, HAUG, F. (Hrsg.), "Sexualisierung der Körper" Argument-Sonderband 90, Berlin/W 1983. HAUG, Frigga: Frauen: Opfer oder Täter. Über das Verhalten von Frauen. Zunächst abgedruckt in: Argument 123, 1980; zusammen mit einem Teil der Diskussion veröffentlicht in den Argument-Studienheften 46 und 56 (1981, 1982) "OpferTäter-Diskussion". HAUG, F.(Hrsg.): Frauenformen. Alltagsgeschichten und Entwurf einer Theorie weiblicher Sözialisation. Argument-Sonderband 45. Berlin 1980. FOUCAULT, M.: Sexualität und Wahrheit Frankfurt/M., 1977; ders.: Dispositive der Macht Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin/W 1978. IRIGARAY, L.: Speculum. Frankfurt/M. 1980. Vgl dazu den utopischen Roman "Der Repoit der Magd" von Margarate ATWOOD, Düsseldorf 1987. Vgl. hierzu zunächst Gerhard HERRGOTT, Das Innerste ist das Äußerste, in Das Argument 157, 1986; darauf die Antworten von Kornelia HAUSER in Argument 158; Jan REHMANN, Heft 159; R. RÖVER, Heft 161 und Gerhard HERRGOTT, ebenfalls Heft 161, 1987. Vgl. ausführlich dazu meinen Beitrag "Frauenbefreiung als Männerweik", in Das Argument 164, 1987. Ein dritter Band ist in Vorbereitung: Die Politik der Frauen, 1988. Vgl. in diesem Band (ebenfalls in: Forum Kritische Psychologie 20, 1987). Zur Formanalyse vgl. u.a. HAUG, W.F. Vorlesungen zur Einführung ins "Kapital", 1987.

Klaus Holzkamp Lernen und Lernwiderstand * Skizzen zu einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie Inhalt 1.

Das Phänomen des "widerständigen Lernens" als lemtheoretisches Ansatzproblem

2. a. b.

Die "Undenkbaikeit" des Lemwiderstandes in traditionellen Lerntheorien "Verstärkungstheoretische" Trennung von Leminhalt und Lernagens Pädagogisch-psychologische Hypostasierang des "Lehrers" als primäres Subjekt des Lernens der "Schüler" Realität und Mystifizierung des Lemwiderstandes

c. 3. a. b.

c.

d.

e.

4.

Begriffliche Aufsdilüsselung des Zusammenhangs von Lernen und Lernwiderstand unter den subjektwissenschaftlichen Vorzeichen der Kritischen Psychologie Vorgeordnete kategoriale Voraussetzungen subjektwissenschaftlicher Theorienbildung über Lemen/Lemwiderstand "Lernproblematiken" vom Standpunkt des Lernenden als Ansatzstellen subjektwissenschaftlicher Lemtheorien: Ausgliederung von Lerngegenständen/dimensionen innerhalb sozialgesellschaftlicher Bedeutungsbezüge Individuelles Lemhandeln: Spezifische Modi der Realisierung objektiver Bedeutungen /Handlungsmöglichkeiten des Lerngegenstandes als deren Transformation in subjektive "Funktionsformen" Die "Subjektseite" einer Lernproblematik: In den "Lemprinzipien" der Funktionsform beschlossene "strukturelle" Schranken bzw. "dynamische" Selbstbehinderungen des nächsten "fundamentalen Lemschritts" Überwindung von Lernproblematiken in fundamentalem Lernen als Realisierung neuer Bedeutungsebenen und -bezüge des Lerngegenstands (24) Schlußbemeikung

Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in: Forum Kritische Psychologie Bd.20, Argument-Verlag Berlin 1988. 227

Klaus Holzkamp

1. Das Phänomen des "widerständigen Lernens" als lerntheoretisches An satzproblem. "Lernen" ist - wer wollte dies bestreiten? - allgemein gesehen der wesentliche Motor menschlicher Entwicklung und Lebensentfaltung. So scheint es evident, daß das Lernen, da Schlüssel zur subjektiven Lebensqualität, auch genuines Lebensinteresse der Individuen sein müßte. Dem steht nun aber der ebenfalls kaum bestreitbare Tatbestand gegenüber, daß - etwa angefangen von der Schulpflicht über vielfältige informelle und formelle Disziplinierungsmittel bis hin zu dem ausgeklügelten Repressionsapparat des schulischen und universitären Prüfungsweseiis - mannigfache rechtliche und institutionelle Vorkehrungen exsistieren, mit welchen die Menschen zu lernen gezwungen werden sollen. Ebenso erscheint Lernen im öffentlichen Bewußtsein unserer Gesellschaft oft weniger als Chance oder Entfaltungsmöglichkeit denn als Last oder Zumutung. Auch in der unmittelbaren Selbsterfahrung ist "Lernen" meist zum mindesten ambivalent, wird auch als Druck, Mühsal, Oberforderung, Fremdbestimmung erlebt. Selbst da, wo das Lernen glatt geht, leicht fällt, sogar "Spaß macht", ist es nicht von widersprüchlichen Konnotationen befreit, gerät leicht in Bedeutungshöfe von Folgsamkeit, Anpasserei, "Musterschüler", Strebertum - so als ob man dem Lernen und dem Lernenden seine lustvolle Mühelosigkeit nicht abnehmen mag, persönliche Vorteilsnahme auf Kosten anderer dahinter vermutet Der Widerspruch zwischen dem allgemeinen Lebenswert des Lernens und dem ambivalenten Zwangscharakter vieler seiner konkreten Erscheinungsformen und Erfahrungsweisen versteht sich global aus dem Umstand, daß "Lernen" nicht nur subjektiv notwendig, sondern auch zur gesellschaftlichen Reproduktion erfordert ist, d.h. gefordert wird. Dabei ist der Zusammenhang zwischen den gesellschafltichen Interessen, aus denen die Lernanforderungen erwachsen, und dem individuellen Interesse an "lernender" Daseinsbereicherung selbst, wenn man ihn als bestehend setzt zum mindesten nicht offensichtlich: Aus der unmittelbaren Lebenswelt der einzelnen ist keineswegs einfach ablesbar, ob bzw. in welcher Hinsicht das gesamtgesellschaftlich Geforderte auch in meinem Interesse ist. Nimmt man den in unserer Gesellschaft vorgefundenen (wie immer näher zu fassenden) Gegensatz zwischen herrschenden Interessen (als "Interessen der Herrschenden") und allgemeinen Interessen hinzu, so verdeutlicht sich, daß der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Lernanforderungen und subjektivem Lerninteresse nicht nur zunächst verborgen ist und der Klärung bedarf, sondern daß hier darüberhinaus immer wieder neu zu problematisieren ist, wieweit dieser Zusammenhang tatsächlich besteht. 228

Lernen und Lernwiderstand Der Einzelne sieht sich mithin angesichts jeder - ob nun fremdgesetzten oder selbstgewählten - Lernanforderung einer Situation gegenüber, in welcher sein Interesse am Lerngegenstand auf komplexe, widersprüchliche und mystifizierte Weise mit herrschenden Interessen verflochten ist. Die eingangs geschilderten "negativen" Aspekte bzw. Konnotationen des "Lernens" in der Erfahrung des lernenden Subjekts können so gesehen - soweit (noch) nicht bewußt reflektiert und explizit auf die genannten Interessenwidersprüche bezogen - als "spontaner", unartikulierter Widerstand gegen die "Ungeklärtheit" der im Lernprozess realisierten Interessen und der daraus sich ergebenden Konsequenzen für meine eigene Lebensführung etc. verstanden werden: Dabei würde also - da angesichts dieser Ungeklärtheit die möglichen Nachteile des "Nichtlernens" für mich meist nicht absehbar sind - das Lernen nur in Extremoder Sonderfällen einfach verweigert, im übrigen aber - da ebenso der Nutzen, ja sogar der mögliche Schaden des Zu-Lernenden für mich im Dunkeln liegt der Lernprozess zwar einerseits realisiert, aber andererseits in seinem Vollzug gleichzeitig quasi partiell wieder zurückgenommen. Der unerkannte objektive Interessenbezug der Lernanforderung würde sich hier also als widersprüchliche Gebrochenheit des Lernprozesses selbst - also quasi als "widerständiges Lernen" - niederschlagen. Zur vorläufigen mehr phänographischen Umschreibung der verschiedenen Erscheinungsformen solcher "Lernwiderständigkeiten" könnte man global die "Enteigentlichung", Zurückgenommenheit, Unengagiertheit, "Halbherzigkeit" bei der Aneignung des jeweiligen Lerninhalts hervorheben: In manchen Formen wird dabei offensichtlich der Aufwand für die Erfüllung von fremd- oder selbstgestellten Lernanforderungen soweit reduziert, daß unter Ausklammerung sachlicher Notwendigkeiten lediglich der äußere Eindruck von Lerneffekten erreicht ist, wobei sich ja (je nach dem institutionellen Zusammenhang des Lernprozesses) die verschiedensten Techniken der Vorspiegelung bzw. Vortäuschung von Können oder Leistung eingebürgert haben und tradiert werden. In anderen Formen widerständigen Lernens scheint sich die Widerständigkeit für jeweils mich selbst hinter vielfältigen Scheinbegründungen und Rationalisierungen zu verbergen, die es mir vordergründig plausibel machen, warum es sich in einem bestimmmten Falle "nicht lohnt", sich im Lernen wirklich zu engagieren, warum man durch vollen Lerneinsatz eher "Nachteile", etwa Mißgunst der anderen, soziale Isolierung etc. zu erwarten hätte. Auch gegenüber einer bestimmten Art von präventiver "Kritik", die nicht nach der Rezeption erfolgt, sondern den Lerngegenstand schon vorher abwertet, also bereits die Aneignung selbst "kritisch" vereinseitigt und verwässert, ist der Verdacht des Lernwiderstandes zu erheben. Selbst, wo der Lernende den jeweiligen Aufgabenstellungen in optimaler Weise nachzukommen scheint, ist 229

Klaus Holzkamp "widerständiges" Lernen nicht auszuschließen: Vielmehr können bestimmte Formen dar "Folgsamkeit" und Gefügigkeit, indem man sich dabei nur durch die erstrebte Anerkennung leiten läßt, aber jedes hierfür nicht unbedingt gebotene Eindringen in den Lerninhalt vermeidet, eine besondere 'Technik" der Lernwiderständigkeit darstellen, in welcher man den Druck der fremdbestimmten Lernanforderung sozusagen "leerlaufen" läßt, damit aber gleichzeitig auch engagiertes Lernen im Eigeninteresse nicht vollziehen kann. Dabei ist "widerständiges Lernen" keineswegs nur in diskursiven, sondern auch in "praktischen" Lerndimensionen aufweisbar und hier überall da zu vermuten, wo man sich bei der lernenden Aneignung von Fertigkeiten bzw. Handlungskompetenzen in gebrochener Weise "selbst im Wege steht", permanent durch irrelevante Nebengedanken oder Nebenimpulse "abgelenkt" ist, den eigenen Leistungsanspruch einerseits erhebt, andererseits aber immer wieder vor sich selbst und anderen zurücknimmt, in der sachgegründeten Überzeugung von der Möglichkeit des eigenen Lernfortschritts immer auch das mißgünstige, verwerfende Urteil des konkurrenten Anderen antizipiert, sich angesichts des möglichen Erfolges immer mehr verkrampft oder verspannt, also Angst vor der eigenen Courage" hat, "über die eigenen Füße stolpert", etc.. Da offenbar die so umschriebenen Widerständigkeiten in mehr oder weniger ausgeprägter Form als allgemeine Charakteristika von Lernprozessen (unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen) zu betrachten sind, dürften naturgemäß auch die psychologischen Lerntheorien, die die Bestimmungen und Gesetze des Lernens wissenschaftlich zu analysieren haben, nicht daran vorbeigehen. Da es sich im Lernwiderstand um "Lernbehinderungen" i.w.S. handelt, müßte dies auch die Herausarbeitung der Möglichkeiten einer Überwindung des "widerständigen Lernens" durch "entwickeltere" Lernformen einschließen, in welchen widersprüchliche Lerninteressen so reflektiert und verarbeitet werden, daß sie nicht mehr den Lernprozess selbst beeinträchtigen. So haben wir also im weiteten zufragen,ob und ggf. wie der Widerständigkeitsaspekt des Lernens samt seiner Überwindbarkeit in lerntheoretischen Grundkonzepten abbildbar ist, bzw. welche Grundbestimmungen "Lerntheorien" erfüllen müssen, mit denen dies möglich sein kann. 2. a.

Die "Undenkbarkeit" des Lernwiderstandes in traditionellen Lerntheo ''Verstärkungstheoretische " Trennung von Lerninhalt und Lernagens

Wenn von "Lerntheorien" die Rede ist, so denkt man in der Psychologie vermutlich bevorzugt an die (bis zur "kognitiven Wende" herrschenden) SR-theoretischen Reinforcement-Konzeptionen, besonders in der SKINNERschen Prä230

Lernen und Lernwiderstand gung des "operanten Konditionierens": Derartige Ansätze sind besonders' prägnante Erscheinungsformen des der traditionellen Psychologie generell inhärenten "Bedingtheitsmodells", mit welchem der Mensch nur als "unter" Bedingungen stehend, nicht aber als möglicher Produzent seiner Lebensbedingungen theoretisch abbildbar ist (vgl. HOLZKAMP 1983, GdP, Kap. 9.3). Innerhalb der Reinforcement-Theorien ergibt sich daraus eine unreflektierte, durchgehende Trennung zwischen Lerninhalt und Lernagens: Die Art der Verstärkung - bei Tieren etwa Futterkugelii, das Beginnen oder Aufhören elektrischer Schläge durch einen Fußbodengrill, bei Menschen z.B. Süßigkeiten, Kopfnicken, "Good"-Sagen, darüberhinaus alles, was das Individuum "gern hat", weiterhin Spielmarken, sog. "Tokens", die man sammeln und dann gegen Süßigkeiten oder andere "Güter" eintauschen kann - ist prinzipiell gegenüber der Art der angestrebten Verhaltensänderung gleichgültig und äußerlich; jede Verhaltensmodifikation soll (dem Anspruch nach) durch jeden Verstärkerreiz hervorrufbar sein. "Lernen" ist hier also gleichgesetzt mit der Fremdsteuerung des Organismus/Individuums durch von außen vorgegebene - Ziele, die aufgrund der Kenntnis des Effektes jeweils einschlägiger Verstärkungskontingenzen im Verhalten durchgesetzt werden. Damit ist also von vornherein nur das "fremde" Interesse an der Verhaltensänderung von Individuen "zugelassen", ein irgendwie geartetes "Eigeninteresse" des Subjekts am Vollzug eines bestimmten inhaltlichen Lernprozesses dagegen nicht einmal denkbar. Daraus folgt, daß auch der mögliche Widerspruch zwischen eigenen und aufgeherrschten Lerninteressen in seiner spontanen Reproduktion als "widerständiges Lernen" in diesem theoretischen Kontext grundsätzlich nicht abbildbar ist Während der weiteren Entwicklung der traditionellen Psychologie von der Hegemonie der SR-Theorie zur Dominanz der "kognitiven Psychologie", also des Grundansatzes der "Informationsverarbeitung" in Termini der Informatik bzw. Computerwissenschaft (seit den späten 50iger und frühen 60ger Jahren), wurden allmählich auch innerhalb der "lerntheoretischen" Tradition, "kognitive" bzw. zentrale Faktoren in höherem Maße berücksichtigt. Dabei blieb (wie sich insbesondere auch aus der entsprechenden methodologischen Kontinuität ablesen läßt) das implizite "Bedingtheitsmodell" aber sowohl in der eigentlichen "Kognitiven Psychologie" wie den unter ihrem Einfluß "liberalisierten" Lerntheorien weitgehend unangetastet, womit also nach wie vor das inhaltlich eigeninteressierte Lernen, somit dessen mögliche Widersprüche mit dem Lernen im herrschenden Interesse, mithin auch das Phänomen des "widerständigen Lernens", theoretisch nicht fassbar wären. Dies gilt, wider den ersten Augenschein, auch da, wo in neuerer Zeit, besonders im Bereich der Verhaltensmddifikation (wohl zuerst von KANFER 231

Klaus Holzkamp und Mitarbeitern, neuerdings aber besonders von BANDURA propagiert) Konzepte der "Selbstverstärkung" bzw. (neuerdings) "Selbstwirksamkeit" ("seif effiacy") bzw. (allgemeiner) "Selbstkontroll-Techniken" eingeführt worden sind: Mit der Vorsilbe "Selbst" ist hier nämlich keineswegs das subjektive Eigeninteresse an bestimmten inhaltlichen Lernvollzügen, sondern lediglich das an äußeren Maßstäben, wie "sozialen Normen" o. ä. orientierte Interesse des Individuums an der Änderung seines Verhaltens angesprochen. Der "Motor" der Verhaltensänderungen sind mithin in dieser Sicht nach wie vor die dem Inhalt des Lernprozesses gegenüber "gleichgültigen" Verstärkungskontingenzen - nur, daß das Subjekt nunmehr die "Verstärkungen", durch die die gewünschte Verhaltensmodifikation hervorrufbar sein soll, selbst einführt (Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein Beispiel, das WATSON & THARP in ihrem verbreiteten Lehrbuch zur "Einübung in Selbstkontrolle", 1975, S. 20ff, bringen: Hier wird ein nach Meinung der Verfasser mustergültiges "Selbstveränderungsprojekt" geschildert, mit welchem ein Student sich zum Zwecke der Verbesserung der Beziehungen zu seinen Eltern sukzessiv dazu bringt,freundlicherzu diesen zu sein, indem er sich für jede freundliche Äußerung ihnen gegenüber mit "Poolbillard"-Spielen-Dürfen" einer von ihm sehr geliebten Beschäftigung - positiv verstärkt Es ist fast grotesk, wenn auch typisch, wie hier mehr Freundlichkeit zu den Eltern als mögliches Eingeninteresse des Lernenden ausgeklammert wird, so die Erhöhung der Freundlichkeit nur auf dem Wege der Täuschung der Betroffenen über die dahinterstehenden wirklichen Beweggründe: Poolbillard, erreichbar scheint und psychologisch angeleitete Beziehungsverbesserung dergestalt mit "Einübung in Unaufrichtigkeit" gleichgesetzt ist)

b. "Pädagogisch-psychologische" Hypostasierung des "Lehrers" als pr märes Subjekt des Lernens der "Schüler" Eine historische Entwicklungslinie, die gegenüber der bisher diskutierten Entwicklung der traditionellen Lerntheorien in gewissem Maße selbständig verläuft, bezieht sich auf das Konzept des "Lernens" im pädagogischen Kontext, insbesondere im institutionellen Rahmen der Schule und des Schulunterrichts: Hier finden sich in spezifischer Integration neben Einflüssen aus der traditionellen Lernpsychologie solche aus der Entwicklungspsychologie, der Sozialisationsforschung, sowie aus der erziehungswissenschaftlichen "Didaktik", die als vormals unabhängiger Entwicklungszweig hier einmündete. Dabei sind unter theoretischen Gesichtspunkten die Lernkonzepte der materialistischen Psychologie bzw. Persönlichkeitstheorie, insbesondere der sowjetischen "kul232

Lernen und Lernwiderstand turhistorischen Schule" und daran anschließenden Konzeptionen in der DDR und der Bundesrepublik/Berlin(W) hervorzuheben, die - da so gut wie ausschließlich mit schulischem Lernen i.w.S. befasst - historisch hier zu orten sind. Die in der "pädagogisch-psychologischen" Lernforschung vorfindlichen vielfältigen theoretischen Ansätze und empirischen Resultate sind mit denen der geschilderten "Reinforcement"-Theorie samt ihrer "kognitiven" Spielarten in vielerlei Hinsicht sicherlich nicht in einen Topf zu werfen. Dennoch haben sie untereinander und mit der Reinforcement-Theorie (soweit ich sehen konnte) den generellen Zug gemeinsam, daß auch hier die Dimension des inhaltlich selbstinteressierten Lernens, damit das Phänomen der "Lernwiderständigkeit" theoretisch und forschungspraktisch nicht repräsentierbar sind. Die besondere Erscheinungsform dieser grundlegenden theoretischen Verkürzung im "pädagogischen" Kontext ergibt sich dabei aus dem Umstand, daß hier - ungeachtet aller sonstigen theoretischen und politischen Differenzen - als primäres "Subjekt" des Lernvorgangs nicht der Lernende, sondern die Institution Schule, repräsentiert durch den "Lehrer" als deren Funktionär, unterstellt ist. "Lernen" findet dieser Vorannahme gemäß in einem irgendwie relevanten Sinne nur soweit statt, wie die Voraussetzungen dazu vom "Lehrer" im "Unterricht" organisiert worden sind. Die darin liegende merkwürdige Gleichsetzung des Lernens als einer allgemeinen Dimension individueller Vergesellschaftung des Menschen mit deren spezieller, "unterrichtlicher" bzw. "schulischer" Ausprägung ist von GALPERIN (dem führenden Vertreter lerntheoretischer Ansätze innerhalb der sowjetischen "kulturhistorischen Schule") in folgendem Ableitungszusammenhang besonders eindrücklich auf den Begriff gebracht: GALPERIN faßt zunächst (im Einklang mit entsprechenden Auffassungen LEONTJEWs) das Lernen als allgemeine Funktion der - über die Unterstützungstätigkeit der Erwachsenen vermittelten Aneignung gesellschaftlich-historisch gewordener Erfahrung durch das Kind/den Heranwachsenden. Dann zieht er aber daraus die folgende eigentümlich "kurzschlüssige" Konsequenz: "Daher ist der Unterricht, ob er nun organisiert oder unorganisiert ist, die allgemeine Aktivitätsform, in der sich die psychische Entwicklung vollzieht" (1976, S. 41). Die Aufgabe eines solchen "Unterrichts" bestehe darin, "Handlungsformen mit bestimmten vorher festgelegten Eigenschaften anzuerziehen" (1969, S. 1271). In der Folge wird von G. sodann der "Unterricht" in nochmaliger Verkürzung umstandslos mit "Schulunterricht" gleichgesetzt, woraus sich für ihn ergibt, daß das Lernen als allgemeines menschlich-gesellschaftliches Entwicklungsagens mehr oder weniger ausschließlich im Schulunterricht stattfindet und deswegen auch allein in dessen institutionellem Kontext (noch dazu in der gerade historisch gegebenen Ausprägungsform) als "schulisches Lernen" wissenschaftlich untersucht werden 233

Klaus Holzkamp kann. Dies schlägt sich bei G. auch terminologisch nieder, indem er mit Bezug auf das "Lernen" den "Menschen" relativ umstandslos mit dem "Schüler" gleichsetzt und demzufolge - bei der Auseinanderlegung seiner "Theorie der etappenweisen Bildung geistiger Operationen" (vgl. etwa 1967) - trotz des allgemein-anthropologischen Anspruchs dieses Konzeptes schließlich nur noch von "Schülern" als Lernenden redet (Diese "pädagogistische" Ableitungsfigur GALPERINs ist von Ralph BALLER, 1987, etwa S. 17ff, ausführlich dokumentiert worden.) Aus der "selbstverständlichen" Hypostasierung des "Lehrers" im "Unterricht" als primäres Subjekt des Lernprozesses ergibt sich, daß die Persönlichkeit des Schülers hier unter Ausklammerung seines genuinen Eigeninteresses am Lernen letztlich nur als mehr oder weniger geeignetes "Rohmaterial" für die Inaugurierung von Lernprozessen durch den Lehrer angesehen wird, dessen Beschaffenheit in angemessenen Theorien und Techniken des schulischen Lehrens/Lernens zu berücksichtigen ist. Dies sind etwa (in bunter Reihenfolge) der "Entwicklungsstand" des Schülers, die bei ihm gegebenen "kognitiven" Voraussetzungen, eine diesen angemessene "sachlogische" Staffelung des Unterrichtsstoffes, seine (des Schülers) Lernbereitschaft bzw. Lernmotivation, seine "Zone nächster Entwicklung", seine Vorgängigen, etwa "familialen" Sozialisationsbedingungen, seine "Schichtzugehörigkeit", seine Position in der Schulklasse als "Gruppenstruktur", seine "emotionale" Beziehung zum Lehrer, seine schulischen oder beruflichen Zukunftsperspektiven: Wenn all diese (und weitere) Dimensionen der "Schülerpersönlichkeit" in der dem Lehrer an die Hand gegebenen "Theorie" und deren kompetenter unterrichtspraktischer Umsetzung hinreichend in ihrem Zusammenhang berücksichtigt werden, so resultiert demnach daraus zwangsläufig der "Lehrerfolg", d.h. ein Lernprozeß des Schülers in Realisierung der jeweiligen institutionell vorgegebenen Zielsetzungen. Die "Verantwortung" für den Lernfortschritt liegt also (mindestens primär, s.u.) allein bei dem "Lehrer" bzw. seiner "Theorie" und praktischen Erfahrung. Der Schüler "kann", wenn dies alles "stimmt", letztlich nicht anders, als eben in der gewünschten Weise zu "lernen". - Die Art, in der sich diese "Subjekt-Objekt-Verkehrung" innerhalb der "gefrorenen" Theorie der Institution "Schule" bis in die individuellen Bewußtseinsformen der Lehrer fortsetzen kann, erhellt überzeugend aus folgender Beobachtung von Gerhard ZIMMER (in der wohl ersten ausgearbeiteten Monographie über Lernen "vom Standpunkt des Subjekts" auf Kritisch-psychologischer Grundlage, 1987): "Die Tatsache, daß Lehrer das Lernen organisieren, verleitet dazu, das Lernen nicht als eine Bewegung der Schüler zu begreifen, sondern als ein Resultat der Bewegung des Lehrers. In charakteristischer Weise wurde dies im Interview eines Fach- und Seminarleiters der zweiten Phase der Lehrerausbil234

Lernen und Lernwiderstand dung deutlich: Meine Frage, ob Schüler mit bestimmten Lernmaterialien Schwierigkeiten haben, wurde von ihm nicht verstanden. Es entspann sich eine Diskussion über den Begriff des Lernens und des Lernprozesses. Anschließend sagte er: 'Ich bin der Meinung, wenn wir den Unterricht projektorientiert machen mit Referaten, Medien usw., dann bin ich als Lehrer, der praktisch beratend dieses Projekt betreut, derjenige, der also jetzt dem Schüler den Weg zeigen muß...Wenn ich Probleme oder Schwierigkeiten bei den Medien feststelle, dann muß ich meine Medien auf die Lerngruppe abstimmen..."1. "Schwierigkeiten des Lernens" werden hier also umgedeutet in "Schwierigkeiten des Lehrens" (S. 292f). Die "Frage nach den Lernschwierigkeiten von Schülern gilt als subjektiv, auf sie können sie (die Lehrer/K.H.) nur mit ihrer persönlichen Meinung antworten. Daraus läßt sich schlußfolgern, daß bei der Untersuchung der Frage des Lernens von den Subjekten auszugehen, als unwissenschaftlich gilt, weil dabei keine 'harten' Fakten anfallen" (S. 294). c.

Realität und Mystifizierung des Lernwiderstandes

Wenn also, wie dargelegt, das Lernen als inhaltlich interessierte Eigenbewegung des lernenden Subjekts, damit das Phänomen des "widerständigen Lernens", sowohl in traditionellen psychologischen "Lerntheorien" wie im geschilderten Entwicklungszug der schulischen Lernkonzepte begrifflich nicht abbildbar, also auch nicht als solche erforschbar sind, so ist damit der "Lernwiderstand" als reales Phänomen natürlich nicht ebenfalls eliminiert Vielmehr ist damit zu rechnen, daß es sich, wenn auch unbegriffen, auf irgendeine Weise in den traditionellen Theorien, Forschungsstrategien, Praxisformen etc. niederschlagen, d.h. "hinter" scheinbar in dieser Hinsicht "unthematischen" Denkund Handlungsweisen der Lernforschung identifizierbar sein müßte. Mit Bezug auf die dargestellte Reinforcement-Theorie (in ihren verschiedenen Spielarten) muß sich der "widerständige" Aspekt des Lernens in mangelnder empirischer Bewährung der jeweiligen theoretischen Annahmen niederschlagen. Das genuine Leminteresse der Subjekte erscheint hier also als "Störfaktor", den es im Interesse der "Durchsetzung" der lerntheoretischen Annahmen in der Realität zu eliminieren gilt. Dementsprechend wird man (abgesehen von i.e.S. methodischen Verbesserungen) forschungsstrategisch eine immer weitergehende perfektionierende Differenzierung der Verstärkungskontingenzen einschließlich der "kognitiven" Vermittlungsvariablen anstreben müssen: Der "Widerstand" des lernenden Subjekts wäre demnach durch immer ausgeklügeltere Kanalisierungen, Barrieren, Bestechungen, Täuschungen in die "gewünschte" Richtung zu lenken. Das damit erreichte tatsächliche Ergebnis ist natürlich nicht das Verschwinden des Lernwiderstandes, sondern lediglich 235

Klaus Holzkamp ein Wechsel seiner Erscheinungsweise in Anmessung an die Art der nun "aufgeherrschten" neuen Lembedingungen. Der so entstehende infinite Regress entspricht in der Struktur jenem Regress, der - im Rahmen der "Sozialpsychologie des Experiments" - bei dem Versuch entstehen muß, die impliziten Hypothesen der Vpn. durch immer weitere methodische Vorkehrungen einzudämmen, was notwendig nur zu einem Wechsel der Hypothesen, nicht aber zu deren Eliminierung führt (vgl. dazu etwa MARKARD 1984, S. 142ff). Im Kontext der "pädagogischen" Lernforschung müssen die Lernwiderständigkeiten der Schüler sich auf irgendeine Weise als mangelnde "Lehrerfolge" im Unterricht wiederfinden. Auf einer unmittelbaren Ebene pflegt man die "Schuld" dafür (quasi systemexklusiv) den Schülern in die Schuhe zu schieben: Im "Unterricht" gängige Verbalisierungen wie "Faulheit", "Unmotiviertheit" , "ungünstiges" Elternhaus, "schlechte Gesellschaft" etc. der Schüler sind ein Indiz dafür. Disziplinierungsmaßnahmen, "Bestrafungen", "Sitzenlassen" usw. sind die organisatorische Folge. Eine "wissenschaftliche" Stilisierung solcher unmittelbaren "Schuldzuschreibungen" ist die "auslesende" psychologische Diagnostik, in der mittels "Leistungstests" der Eliminierung der "ungeeigneten" Schüler eine pseudowissenschaftliche Rechtfertigung gegeben wird. Auf einer theoretisch reflektierteien Ebene wird man die Gründe für die Lehrmißerfolge etwa in Mängeln des theoretischen Handwerkzeugs oder der praktischen Unterrichtstätigkeit, der unzureichenden Berücksichtigung der (aufgezählten) kognitiven und sozialen Voraussetzungen bei den Schülern etc. suchen. Indessen: Selbst wo daraus in fortschrittlicher Absicht immer differenziertere und individualisierte "Fördermaßnahmen" für die Schüler abgeleitet werden, kommt man damit im Prinzip über die (hinsichtlich der allgemeinen Verstärkungstheorien schon geschilderte) Perfektionierung der fremdgesetzten Lernbedingungen nicht hinaus. Man versucht hier nach wie vor, Verbesserungen der Lernerfolge der Schüler zwar in deren "für sie" wahrgenommenem Interesse, aber unter Ausklammerung der genuinen Lerninteressen der Schüler von ihrem Standpunkt als "Subjekten" zu erreichen. Durch den darin liegenden Verzicht auf die Mithilfe der Betroffenen bei der Gestaltung ihrer Lernbedingungen kann auch hier aus allen versuchten "Optimierungen" von Lernprozessen nichts anderes als ein Wandel der Erscheinungsformen des "Lernwiderstandes" resultieren. So kommt es zu jener "Doppelbödigkeit" der Schulrealität aus der Sicht der Institution und der Sicht der Betroffenen, die eigentlich "jeder kennt" und die auch literarisch immer wieder verdichtet worden ist: Den "offiziellen" Vorstellungen über das, was in der Schule geschieht und den dies stilisierenden pädagogisch-psychologischen Theorien auf der einen Seite und dem wirklichen Schulalltag mit seinen mannigfachen Täuschungen, 236

Lernen und Lernwiderstand Tricks, Zusammenschlüssen, Bewältigungs- und Abwehrformen, durch welche die Schüler der Zumutung institutionell fremdgesteuerten Lernens ohne allzugroße Nachteile für ihre Schulkarriere immer wieder neu zu entgehen versuchen (samt den daraus entstehenden Kommunikationsformen der "gegenseitigen Hilfe" unter den Schülern, des "Mitmischens" der Eltern, ja des verschwiegenen "Einverständnisses" mit dem Lehrer, der mit "ehrlichen" Schülern seinen Stoff nie schaffen würde) etc. auf der anderen Seite. Dieses "offiziell" verdrängte und theoretisch unbegriffene implizite Chaos der Schulrealität - das immer größer und "undurchsichtiger" wird, je mehr man ihm durch organisatorische Maßnahmen beikommen will - stellt nicht nur einen ungeheueren Verschleiß an menschlicher, d.h. gesellschaftlicher Produktivität dar, sondern ist darüberhinaus ein permanenter Verrat an den legitimen Lerninteressen, also Lebensinteressen der Schüler - was, wie mir scheint, im Motto eines Buches von Hans-Christof BERG, in dem ein bestimmter Ausschnitt des beschriebenen "Schulalltags" dokumentiert wird, treffend zum Ausdruck kommt: "Unerhört schulsatt und bildungshungrig?" (1976, S. 17).

3. Begriffliche Aufschlüsselung des Zusammenhangs von Lernen und Lernwiderstand unter den subjektwissenschqftlichen Vorzeichen der Kritisc Psychologie

a. Vorgeordnete kategoriale Voraussetzungen subjektwissenschaftlich Theorienbildung über Lernen!Lernwider stand Nach Diagnose der einschlägigen Insuffizienzen traditioneller Lernkonzeptionen verschiedener Spielart diskutieren wir nun die Frage, wieweit bzw. auf welche Weise das Phänomen des widerständigen Lernens vom "subjektwissenschaftlichen" Ansatz der Kritischen Psychologie, bzw. den in diesem Kontext zu "generierenden" Lerntheorien, begrifflich aufgeschlüsselt und auf seine Oberwindbarkeit hin entwickelt werden könnte. Dabei sind vor allem weiteren die Eigenart und Funktion zu berücksichtigen, die hier dem "Lernen" bereits auf übergeordneter "kategorialer" Ebene zugeschrieben ist (vgl. H.-OSTERKAMP 1975, Kap. 2.5 und GdP, Kap. 4): Im Rahmen der "funktional-historischen" Analyse des phylogenetischen Prozesses zur Menschwerdung ist von uns die "individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit" als zweiter noch "vormenschlicher" Entwicklungssprung (nach der Herausbildung des Psychischen aus den "vorpsychischen" Lebenserscheinungen) herausgehoben worden, wobei "Lernen" in diesem Zusammenhang als Veränderung der psychischen Funktionsgrundlage durch indiduelle 237

Klaus Holzkamp Umwelterfahrung im Rahmen je "artspezifischer" Entwicklungsdimensionen/grenzen gekennzeichnet wurde. - Der Umschlag von der vormenschlichen zur spezifisch "menschlichen" Lern- und Entwicklungsfähigkeit wurde sodann aus dem Zusammenhang der neuen Qualität gesellschaftlicher Lebensgewinnung als Potenz zur "individuellen Vergesellschaftung" charakterisiert: Entwicklung/Lernen sind nun spezifiziert als Realisierung gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten ("Bedeutungsstrukturen") in immer wachsender personaler "Handlungsfähigkeit", d.h. Teilhabe an der Verfügung über individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen als Erhöhung der subjektiven Lebensqualität. Die so gefaßten menschlichen Handlungen bzw. die "Handlungsfähigkeit" als deren "Funktionsgrundlage", sind - da Realisierungen gesellschaftlicher Möglichkeiten - nicht einfach durch die Umwelteinflüsse "bedingt", sondern aus dem subjektiven "Verfügungsinteresse" der Individuen mit den gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten als "Prämissen"- "begründet". Da derartige Handlungsgründe notwendig "je meine" Gründe, also in ihrem Gegebenheitsmodus "erster Person" sind, kann Entwicklung /Lernen in seiner menschlichen Spezifik nur vom "Standpunkt des (sich entwickelnden bzw. lernenden) Subjekts" erfahren und wissenschaftlich erforscht werden. Dabei wird von uns in historischer Konkretisierung die aus den antagonistischen Klassenverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft resultierende Behinderung/Mystifizierung der individuellen Entwicklungs/Lernmöglichkeiten samt ihren subjektiven Erscheinungsformen reduzierter und "gebrochener" Lebensqualität von vornherein miterfaßt: Die Handlungen des Individuums in Richtung auf erweiterte Teilhabe an der Verfügung über gesellschaftliche Lebensbedingungen, also Entfaltung seiner subjektiven Lebensqualität, bedeuten immer auch eine Erhöhung des Risikos von Konflikten mit den an ihrer Herrschaftssicherung interessierten gesellschaftlichen Kräften (bzw. den damit vermittelten Instanzen), also Bedrohung des jeweils schon erreichten Niveaus der Handlungsfähigkeit. Mithin gehen in die "Prämissen" der subjektiven Handlungsgründe für Lernvollzüge in Richtung auf Verfügungserweiterung /Lebensqualität nicht nur erfahrene gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten, sondern auch deren antizipierte Behinderungen/Bedrohungen durch Konflikte mit herrschenden Kräften ein. Die subjektiven Begründungen für personale Entwicklungs/Lernvollzüge stehen so betrachtet also - wie subjektive Handlungsgründe überhaupt - (qua "doppelte Möglichkeit") immer im Spannungsfeld zwischen dem auf Bedrohungsabwendung gerichteten Sich-Einrichten mit den gegebenen Handlungsmöglichkeiten und der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten über das "zugestandene" Maß hinaus mit dem Risiko von Auseinandersetzungen mit den Herrschenden (bzw. deren Repräsentanzen) und dem damit drohenden Verlust der Handlungsfähigkeit/Lebensqualität auf dem 238

Lernen und Lernwiderstand verbliebenen Niveau: Dies ist von uns unter dem Stichwort "restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit" genauer analysiert worden. Dabei stand die in der "restriktiven" Variante "spontan" und defensiv vollzogene "Verinnerlichung" der "äußeren" Handlungseinschränkungen in "freiwillige" Selbstbeschränkungen zur "Abwehr" von "risikobehafteten" Handlungsimpulsen - also die aus unmittelbarer existentieller Verunsicherung begründete objektive Verletzung der eigenen Lebensinteressen - in ihren kognitiven und emotionalen Implikationen als psychologisch besonders relevant im Mittelpunkt, etc. (vgl. zum Vorstehenden etwa H.-OSTERKAMP 1976, Kap. 4.3 und GdP, Kap. 7.3 bis 7.5). Damit haben wir die von uns erarbeiteten kategorialen Bestimmungen der individuellen "Lern- und Entwicklungsfähigkeit" auf "menschlicher" Ebene soweit skizziert, daß die Einbeziehbarkeit des eingangs geschilderten Phänomens der Lernwiderständigkeit in unseren subjektwissenschaftlichen Forschungsansatz deutlich wird: Das dort benannte inhaltliche Lebensinteresse des Lernenden am Lernvollzug läßt sich in diesem Rahmen spezifizieren als "Begründung" individueller Lernvollzüge aus der so erreichbaren Erweiterung der "Handlungsfähigkeit" in Teilhabe an gesellschaftlicher Bedingungsverfügung, d.h. Erhöhung subjektiver Lebensqualität. Die Erfahrung der damit potentiell widersprüchlichen "herrschenden" Lerninteressen kann jetzt näher bestimmt werden als das mit dem "verfügungserweiternden" Lernvollzug antizipierte Risiko der Einschränkung/Bedrohung des gegebenen HandlungsfähigkeitsNiveaus durch Konflikte mit herrschenden Instanzen (bzw. deren Repräsentanzen). Das "widerständige Lernen" selbst wäre von da aus zu charakterisieren als in unmittelbarer Bedrohungsabwendung begründeter "blinder" Versuch der Risikoverminderung durch "spontane" Selbstbehinderung des Lernfortschritts, also Erscheinungsform der "restriktiven" Verinnerlichung der "äußeren" Bedrohungen in selbstschädigendem "freiwilligem" Verzicht auf mit dem Lernen zu erreichende Verfügungserweiterung/Lebensqualität über das von den Herrschenden "zugestandene" Maß hinaus. Die Oberwindung der Lernwiderständigkeit wäre demgemäß als Durchdringung der "Unmittelbarkeitsverhaftetheit" in Richtung auf "verallgemeinerte", d.h. mit den allgemeinen auch "je meine" Verfügungsinteressen realisierende Lernvollzüge (samt den in diesem Zusammenhang von uns herausgearbeiteten kognitiven, emotionalmotivationalen und sozialen Entwicklungssprüngen) zu fassen. Mit dieser kategorialen Aufschlüsselung wird die subjektwissenschaftliche Überwindbarkeit der dargestellten "traditionellen" Ausklammerung des subjektiven Eigeninteresses am Lernen und der daraus sich ergebenden Ignorierung der "widerständigen" Lernaspekte auf allgemeinster Ebene deutlich. Gleichzeitig sind damit die Vorzeichen gesetzt, unter denen die dargestellten 239

Klaus Holzkamp kategorialen Klärungen "theoretisch" konkretisiert und damit empirische Analysen der "Lernwiderständigkeit" in ihren verschiedenen Erscheinungsformen vorbereitet werden können. Dabei ist allerdings auch klar, daß dies nur als Teilaspekt der Entwicklung von Leitlinien einer subjektwissenschaftlichen "Lerntheorie" überhaupt (aus deren Zusammenhang sich allein der theoretische Stellenwert "widerständigen" Lernens bestimmen läßt) in Angriff genommen weiden könnte.

b. "Lernproblematiken" vom Standpunkt der Lernenden als Ansatzstelle subjektwissenschaftlicher Lernforschung: Ausgliederung von Lerngegenstä den /-dimensionen innerhalb sozialgesellschaftlicher Bedeutungsbezüge "Theoretische" Konzepte (mit den erwähnten Kategorialbestimmungen als "Grundbegriffen") und zu ihrer "aktualempirischen" Realisierung durchgeführte subjektwissenschaftliche Forschungsvorhaben werden - wie von uns dargelegt (vgl. etwa GdP, Kap. 9.4 und MARKARD 1985) - stets dann möglich und notwendig, wenn eine bestimmte Situation mangelnder Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen zu einem "vom Standpunkt der Betroffenen" existentiell bedeutsamen "Problem" geworden ist, dessen Überwindung über wissenschaftliche Klärungen und damit zu erreichende Verallgemeinerungen angestrebt wird. Demgemäß ist auch jede Ansatzstelle für subjektwissenschaftliche Lerntheorien/-forschungen global gesehen als "Lernproblematik", d.h. Behinderung/Einschränkung "lernender" Verfügungserweiterung vom Standpunkt der Lernenden zu kennzeichnen, wobei (auf der erarbeiteten kategorialen Grundlage) mit dem Gewinn verallgemeinerbarer Erkenntnis über die Eigenart der jeweiligen Lernbehinderungen und Möglichkeiten ihrer praktischen Aufhebbarkeit gleichzeitig die subjektive Lernproblematik der Betroffenen überwindbar wäre, worin die Klärung des Verhältnisses zwischen meinen Interessen und gesellschaftlichen Lernanforderungen, d.h. die Beurteilbarkeit von deren Berechtigung im verallgemeinerbaren Eigeninteresse, eingeschlossen ist Jede der (im Prinzip unbegrenzt vielfältigen) "Lernproblematiken", die in diesem Sinne entstehen können, ist zuvörderst dadurch in ihrer Besonderheit charakterisiert, daß dabei aus dem Gesamt gesellschaftlicher Bedeutungszusammenhänge (als objektiven Handlungsmöglichkeiten) bestimmte Bedeutungseinheiten als "Lerngegenstände", d.h. Handlungsmöglichkeiten, die durch "Lernen" zu realisieren sind, unter Heraushebung einer bestimmten "Dimension" des angestrebten Lernfortschritts ausgegliedert werden (etwa ein "Klavier" als Bedeutungseinheit, d.h. Inbegriff bestimmter objektiver Handlungsmöglichkeiten mit der Lerndimension "Klavierspielen-Können", aber auch 240

Lernen und Lernwiderstand "Klavierstimmen-Können", "Klaviere-Transportieren-Können" etc.). Die "Lerndimensionen" sind quasi die an den Bedeutungsaspekten des Lemgegenstandes heraushebbaren, in ihrer Eigenart und Variabilität durch diese determinierten, Möglichkeiten "lernender" Verfügungserweiterung in Abhängigkeit von den konkreten Lebenszusammenhängen der Individuen. Mit der Bestimmung, daß die jeweils explizit herausgehobenen "Lernproblematik" inhaltlich durch die Ausgliederung eines speziellen "Lerngegenstandes" als umschriebene Bedeutungseinheit gekennzeichnet ist, wird der Lerngegenstand gleichzeitig als Teilaspekt umfassenderer gesellschaftlicher Bedeutungsbezüge, denen das Individuum handelnd/lernend gegenübersteht, verstanden: Somit gehört zu jedem Lerngegenstand notwendig ein raumzeitliches Bedeutungsumfeld bzw. -vorfeld, in welchem "immer schon" gehandelt und damit auch "gelernt" wird/wurde, ohne daß dies im gegebenen Falle für das Subjekt "problematisch" geworden ist. Dies heißt, daß man die in einem Lerngegenstand beschlossenen Möglichkeiten/Grenzen "lernender" Verfügungserweiterung nur dann adäquat inhaltlich charakterisieren kann, wenn man sie als Spezifizierungen des (damit notwendig mit zu erfassenden) jeweiligen Lernvorfeldes bzw. Lernumfeldes und des darin bereits "Vorgelernten" bzw. "Mitgelernten" kennzeichnet So ist z.B. in der Schule etwa eine auf "Addieren-Subtrahieren-Können" bezogene kindliche Lernproblematik nur dann in ihrem Lerngegenstand vom Standort des Kindes hinreichend bestimmbar, wenn man sie als Spezifizierung des bisherigen Umgangs des Kindes mit Zahlen, "Quantitäten", etc. und dem (vom frühesten Lebensalter an) dabei "vorgelernten" Wissen über "Zahlverhalte" sowohl hinsichtlich der Kontinuität wie der möglichen Widersprüche, "Brüche", Komplikationen etc. verdeutlichen kann (s.u.). Ebenso ist jeder beliebige in der Schule vom Lehrer gesetzte und vom Kind als sein Problem übernommene Lerngegenstand total unterbestimmt, wenn man ihn nicht als bloßen Teilaspekt des gesamten "Lernumfeldes", mindestens der "Schule", als vom Kind zu bewältigendes vielbezügliches Lebensproblem auffaßt: Potentielle oder (vom Lehrer unerkannt) manifeste Lernproblematiken als Widersprüche und Spannungen beim Umgang mit den Mitschülern, bei der Bewältigung der Klassensituation als kindliche Lebenssituation, bei der Bewältigung eines "Tageslaufs", in den die "Schule" als erratischer Block eingebettet ist, bei der "Abstimmung" des Verhältnisses zwischen schulischem und familialem Leben, u.v.a.m. Die jeweils "intentional" von der Schule induzierte Lernproblematik steht mit all diesen umfassenderen schulischen Bewältigungsproblemen dergestalt in einem Bedeutungszusammenhang, daß diese nicht für sich, sondern in ihrem Stellenwert innerhalb einer solchen schulischen Gesamtproblematik handlungsrelevant wird, wobei "Prämissen", unter denen das Kind die ihm auferlegte Lernan241

Klaus Holzkamp

forderung (von seiner Sicht aus) begründetermaßen verweigern, beiseiteschieben, oder auch in "widerständiger" Weise erledigen wird, leicht denkbar sind (s.u.). Wer also - wie in der geschilderten "pädagogistischen" Argumentationsfigur - Lernprozesse des "Schülers" nur da in Rechnung stellt, wo sie vom Lehrer initiiert und reguliert werden, der wird schon deswegen auch über bloß lehrerinduziertes Lernen kaum etwas Wesentliches in Erfahrung bringen können. Aus der Explikation von Lerngegenständen als Teilaspekten gesellschaftlicher Bedeutungsstrukturen erhellt bereits auf dieser Ebene der genuin soziale Charakter jedes Lernvollzuges: Da die "lernende" Verfügungserweiterung durch Realisierung gesellschaflticher Bedeutungen nur als Teilhabe an individuell relevanten gesellschaftlichen Verfügungsmöglichkeiten adäquat erfassbar ist (schon jeder erlernte "Löffelgebrauch" o.ä. ist tatsächlich eine Realisierung der im Löffel gesellschaftlich "vergegenständlichten" verallgemeinerten Gebrauchszwecke, s.u.), stehe ich angesichts meiner Lernproblematik in der Art des dabei ausgegliederten Lerngegenstandes notwendig in einem "kooperativen" Ergänzungs- oder Konkurrenzverhältnis mit anderen Individuen. Ich habe mich, indem ich einen bestimmten Lerngegenstand "gewählt" habe, faktisch gegen unbestimmt viele andere Lerngegenstände "entschieden" und deren Realisierung (zunächst) anderen überlassen. So verdeutlicht sich jede aus einer bestimmten Lemproblematik heraus erfolgende - Ausgliederung eines Lerngegenstandes als mindestens implizite Stellenwertbestimmung meines Lernbeitrages zu anderen möglichen Lernbeiträgen. Mithin erweist sich schon im Blick auf den Bedeutungscharakter und -Zusammenhang der Lerngegenstände, daß der Inhalt des von mir Zu-Lernenden - ob ich dies nun sehe oder nicht - nicht nur für mich, sondern immer auch für andere, und darüber gesellschaftlich vermittelt wiederum für mich, mit Bezug auf subjektive Verfügungs-/Lebensmöglichkeiten relevant ist - sei es, daß ich dadurch mit anderen in einem sinnvollen Arbeitszusammenhang stehe, "eine Lücke fülle", so meine eigenen Verfügungsmöglichkeiten mit denen der anderen potenziere, oder auch, daß ich anderen ihren Platz streitig mache, mich ihnen gegenüber heraushebe und privilegiere, bzw. unterlegen, "zurückgesetzt" sein kann, so, indem ich mir Konkurrenten, Gegner o.ä. schaffe, potentiell meine eigene Verfügungsbasis reduziere, etc.: Dies alles als allein aus der Wahl des Lerngegenstandes erwachsende soziale Bestimmungen meiner Lernproblematik.

c. . Individuelles Lernhandeln: Spezifische Modi der Realisierung objekt BedeutungenIHandlungsmöglichkeiten des Lerngenstandes als deren Tran formation in subjektive "Funktionsformen" 242

Lernen und Lern widerstand

Wie ist nun die Realisierung der Lerngegenstände als im Rahmen einer "Lernproblematik" ausgegliederten Bedeutungseinheiten und der daraus sich ergebende Lernprozeß näher "theoretisch" zu bestimmen? - Menschliche Handlungen haben - wie dargestellt - unserer Konzeption nach, indem sie auf die "Handlungsfähigkeit" als ihrer individuellen Funktionsgrundlage wiederum verändernd zurückwirken, schon allgemein gesehen mit der darin vollzogenen Realisierung/Entwicklung objektiver Handlungsmöglichkeiten gleichzeitig immer auch einen subjektiven "Lernaspekt". Wenn man diesen nun im Blick auf eine "Lernproblematik" selbständig thematisiert, so verdeutlicht sich ein spezielles Verhältnis zwischen "Bedeutungen", deren "Realisierung" und den daraus resultierenden Veränderungen dar subjektiven Funktionsgrundlage: In Handlungen, sofern sie als "Lernhandlungen" bestimmt sind, ist immer eine irgendwie geartete Diskrepanz zwischen den im Lerngegenstand beschlossenen und den "schon" vom Individuum realisierbaren Handlungsmöglichkeiten - die das Lernen nötig/möglich macht und im Lernprozess aufzuheben ist - mitgemeint Wenn man mithin den konkreten Handlungsvollzug (wie dies von uns geschehen, vgl. etwa GdP, S. 269ff) generell als an den "Bedeutungen" orientierte "individuell antizipatorische Aktivitätsregulation" auffaßt, so wäre dies im Blick auf die Lernhandlungen zu spezifizieren als an der Antizipation der Handlungsmöglichkeiten des Lerngegenstandes orientierte individuelle Aktivitätsregulation in Richtung auf die Verminderung/Aufhebung der so gefaßten "Lerndiskrepanz". Dies ist gleichbedeutend mit der Entwicklung der Handlungsfähigkeit in den durch die Besonderheit der im Lerngegenstand beschlossenen Bedeutungseinheiten/Handlungsmöglichkeiten gesetzten Funktionsaspekten bzw. - wie wir uns ausdrücken wollen - "Funktionsformen". Unter "Funktionsformen" verstehen wir also diejenigen umschriebenen Momente der individuellen Funktionsgrundlage der Handlungsfähigkeit, die zur Realisierung der in einem bestimmten Lerngegenstand gegebenen Bedeutungseinheiten auf der "Subjektseite" erfordert sind (je nach Lerngegenstand "Fähigkeiten", "Fertigkeiten", "Wissen", "Begriffe", "Haltungen", etc., s.u.). Aufgrund dieser Überlegungen muß sich das besondere Augenmerk "lerntheoretischer" Vorklärungsversuche auf die speziellen Charakteristika der als "Lernen" hervortretenden Vollzüge der Bedeutungsrealisierungrichten:Diese sind es offensichtlich, durch welche die im Lerngegenstand beschlossenen Bedeutungseinheiten/Handlungsmöglichkeiten dergestalt in die "Funktionsformen" (bzw., besser, in Veränderungen der "immer schon" vorhandenen Funktionsformen) "transformiert" werden, daß im Lernprozeß der diesbezügliche Aspekt der "Handlungsfähigkeit" des Subjekts sich immer mehr den Handlungsmöglichkeiten des Lerngegenstandes annähert und schließlich 243

Klaus Holzkamp damit zusammenfällt. Im simpelsten Falle - etwa eines Lerngegenstandes "Fahrrad" mit der Dimension "Radfahren-Können" - mag es als hinreichend erscheinen, die in den ersten Phasen des Lernprozesses vollzogenen Realisationsversuche lediglich in ihrer "Zurückgebliebenheit" und "Unvollkommenheit" gegenüber den Handlungsmöglichkeiten des Lemgegenstands und die sukzessive Aufhebung der "Lemdiskrepanz" als Resultat bloßer (in irgendeiner Weise an der antizipierten Handlungsmöglichkeit regulierter) "Wiederholungen" zu fassen. Mit genauerem Hinsehen zeigt sich indessen schon hier, und viel mehr noch bei "komplexeren", symbolischen etc. Lerngegenständen/-dimensionen, daß sich in der gesellschaftlich-historischen Entwicklung mannigfaches praktisches und diskursives Wissen über den Zusammenhang der Eigenart bestimmter Lemgegenstände und den Besonderheiten der bei ihrer Transformation erforderten bzw. effektiven Modi "lernender" Bedeutungsrealisierung herausgebildet hat, und so bei verschiedenen Lerngegenständen ganz unterschiedliche Realisierungsmodi (etwa einmalige oder repetitive, vollständige oder - nach unterschiedlichen Prinzipien - selektive, direkte oder symbolische, analysierende oder synthetisierende, weiterhin "abstrahierende", an "fruchtbaren Punkten" orientierte, idealisierende etc. etc. Realisation) angewendet werden. - Dabei ist an dieser Stelle abermals auf einer weiteren Ebene der "soziale" Aspekt des Lernens in Rechnung zu stellen, da bei der "lernenden" Bedeutungsrealisierung "soziale Hilfen" verschiedener Art benutzt, angeboten oder aufgezwungen werden: Von der (scheinbar) bloßen "Nachahmung" über das "beobachtende Lernen", der "Unterstützungstätigkeit" bis zu einem bestimmten Aspekt intendierten bzw. institutionalisierten "Lehrens" in seinen verschiedenen Spielarten, etc. Dies alles schließt ein, daß bei der konzeptionellen Herausarbeitung der "Vermittlungen" zwischen Lerngegenstand und Lernsubjekt - über die dem Lerngegenstand angemessenen Modi der "lernenden" Bedeutungsrealisierung hinaus - auch das "letzte Glied", nämlich die mit der Realisierungsweise zu erreichende Änderung dar jeweiligen subjektiven Funktionsform begrifflich differenziert zu explizieren ist Dabei muß verständlich werden, auf welche Weise es angesichts der extrem unterschiedlichen Lerngegenstände/-dimensionen und diesen adäquaten Realisierungsmodi zu jeweils solche» "Strukturierungen" bzw. selbstreproduktiven "Systembildungen" innerhalb der Funktionsformen kommen kann, durch welche die auf dieser Grundlage vollzogenen Handlungen schließlich "von vornherein" den Anforderungen des Lerngegenstandes entsprechen (und so mit Oberwindung der "Lerndiskrepanz" der Unterschied zwischen "Lernhandlungen" und "Handlungen" im allgemeineren Sinne mindestens temporär - wieder aufgehoben ist). 244

Lernen und Lernwiderstand Es wird deutlich geworden sein, daß wir uns mit all solchen Problemstellungen quasi im "Weichbild" der zu entwickelnden subjektwissenschaftlichen Lerntheorie befinden: Besonders hier sind weitere Klärungen und Präzisierungen sicherlich nur in dem Maße zu erreichen, wie u.a. auch die Konzepte der schon vorfindlichen Lerntheorien, insbesondere auch in ihren kognitiven, genetischen etc. Ausprägungsformen, von der skizzierten subjektwissenschaftlichen Rahmenkonzeption menschlichen Lernens her kritisch reinterpretiert und ggf. in ihrem Erkenntnisgehalt "aufgehoben" werden.

d. Die "Subjektseite" einer Lernproblematik: In den "Lernprinzipien" d Funktionsform beschlossene "strukturelle" Schranken bzw. "dynamische Selbstbehinderungen des nächsten "fundamentalen Lernschritts" Nach unseren bisherigen Darlegungen über den Zusammenhang zwischen der Ausgliederung des Lerngegenstandes (samt den damit vollzogenen "sozialen" Verhältnisbestimmungen), den jeweiligen Realisationsmodi und den dadurch modifizierten "Funktionsformen" können wir nunmehr auch die "Subjektseite" der "Lernproblematik" ansatzweise "theoretisch" aufzuschlüsseln versuchen: Ich stehe jeweils dann vor einer "Lernproblematik", wenn mir einerseits (mit Bezug auf den ausgegliederten Lerngegenstand) der Vollzug von (weiteren) Lernhandlungen in Annäherung an die Realisation der im Gegenstand enthaltenen Handlungsmöglichkeiten als (angesichts der mir zugänglichen "Prämissen") subjektiv "begründet", d.h. am Maßstab meiner Verfügungs/Lebensinteressen "vernünftig" erscheinen muß, wenn ich mich aber andererseits zum Vollzug weiterer Lernschritte (d.h. zuvörderst des "nächsten Lernschrittes") über das bereits "Vorgelernte" hinaus nicht in der Lage sehe. In den (je nach Lerngegenstand spezifizierten) Fertigkeiten, Fähigkeiten, Wissensbeständen, "Begriffen", "Haltungen", wie wir sie in dem "subjektiven Konstrukt" der "Funktionsform" verallgemeinert haben, müssen also solche Beschränkungen des weiteren Lernens beschlossen liegen, die mir unter den gegebenen Umständen Lernfortschritte unmöglich machen. Diese subjektiven Bestimmungen der "Lernproblematik" sind weiterhin präzisierend zu ergänzen mit dem Hinweis, daß die benannten Lernbeschränkungen stets dann nicht auftreten können, wenn es nur darum geht, mit bereits verfügbaren Lernmitteln oder Lernprinzipien "mehr" zu lernen, weitere Verbesserungen oder Veränderungen von Handlungsmöglichkeiten von der Art der schon erreichten zu erlangen. Vielmehr ist dabei vorausgesetzt, daß ich mit meinen bisherigen "Lernprinzipien" - d.h. in der Funktionsform transformierten und von da aus wieder aktualisierten Realisationsmodi der Lernhandlungen 245

Klaus Holzkamp - nicht (mehr) weiterkomme, die Lanbeschränkungen also aus meiner "Unfähigkeit" erwachsen sind, qualitativ neue Modi de* Realisation von (den Lerngegenstand charakterisierenden) Handlungsmöglichkeiten zu finden, durch deren Transformation diese Beschränkungen der Funktionsform überwindbar wären. Es geht beim Versuch, eine Lernproblematik aufzuheben, also nicht einfach um das irgendwie geartete Weiterlernen "wie gehabt", sondern um die Frage, "wie", d.h. nach welchen Prinzipien ich begründetermaßen, d.h. "vernünftigerweise", künftighin "lernen" muß, um die Stagnation zu überwinden und in meinem eigenen Lerninteresse wieder "weiterzukommen". Um diese zentrale Differenzierung terminologisch zu markieren, übernehme ich die von Max MILLER (in seinem Buch über "kollektive Lernprozesse", 1986, vorgeschlagene) Unterscheidung zwischen "relativem" und "fundamentalem Lernen". MILLER expliziert diese Unterscheidung im Rahmen seiner "argumentationslogischen" Analysen: Seiner Auffassung nach ist das Weiterlernen auf einem jeweils gegebenen Argumentationsniveau, also das "relative Lernen", stets dann grundsätzlich nicht mehr möglich, wenn die Lernenden dabei in einen "Selbstwiderspruch" involviert sind. Ein solcher "Selbstwiderspruch" entsteht nach MILLER (etwa S. 236ff) dadurch, daß auf der einen Seite im Lernprozeß neue Aussagen aufscheinen, die von mir wegen ihrer offensichtlichen argumentativen Triftigkeit, empirischen Wahrheit oder "praktischen" Richtigkeit nicht bestritten werden können (also zum "kollektiv Geltenden" gerechnet werden müssen), daß aber auf der anderen Seite diese Aussagen mit anderen Aussagen, die für die Argumentationsweise auf dem gegebenen Niveau konstitutiv sind, in einem kontradiktorischen Widerspruch stehen. Da gemäß diesem Widerspruch eine bestimmte Aussage sowohl gilt als auch nicht gilt, bricht hier notwendig die Argumentation auf diesem Niveau zusammen, es ist also ein "fundamentaler" Lernschritt in Richtung auf ein logisch bzw. strukturgenetisch "höheres" Argumentationsniveau unausweichlich, durch welchen der kontradiktorische Widerspruch aufgehoben ist Wir fassen, wie schon deutlich geworden sein wird, im Rahmen unseres Konzeptes der "Handlungsbegründungen" die Unterscheidung zwischen "relativem" und "fundamentalem Lernen" allgemeiner: Der "Lernwiderspruch", der zum Übergang von "relativem" zu "fundamentalem Lernen" zwingt, ist dabei global charakterisiert als Blockierung von "Handlungsfähigkeit" aufgrund der Unvereinbarkeit zwischen der subjektiv "begründeten" Notwendigkeit "lernender" Erweiterung der Bedingungsverfügung/Lebensqualität und den dabei auf dem bestehenden Niveau angewandten "Lemprinzipien". Solche Unvereinbarkeiten müssen nicht die diskursive Form von Widersprüchen zwischen Aussagen haben, sondern können etwa auch in den Funktionsformen 246

Lernen undLernwiderstand "praktischer", "motorischer" etc. Lernprozesse enthalten sein (wobei deren Überwindbarkeit indessen die "Bewußtmachung" voraussetzt, s.u.). MILLERs "Selbstwiderspruch" erscheint somit als ein Sonderfall derartiger Unvereinbarkeiten bei Lerngegenständeri/-dimensionen argumentativen Konfliktlösens und damit Erkenntnisgewinns - wobei die dadurch bestimmte Handlungsunfähigkeit als Verwickeltheit in einen kontradiktorischen Widerspruch allerdings ihre quasi dramatischste Erscheinungsform annimmt Die Frage nach der subjektiven Eigenart/Überwindbarkeit von Lernproblematiken läßt sich also jetzt so präzisieren: Wie ist angesichts einer gegebenen Lernproblematik der fundamentale Lernschritt zu bestimmen und vollziehbar zu machen, durch welchen die Lernbeschränkungen innerhalb der jeweiligen subjektiven "Funktionsform" aufhebbar werden? Zur Klärung dieser Frage wären mithin zuvörderst jene in der Funktionsform beschlossenen Lernprinzipien auf den Begriff zu bringen, durch welche das gegebene Handlungsfähigkeits-Niveau durch begründete/vernünftige Lernvollzüge erreichbar war. Dazu gehört sowohl die Erfassung derjenigen Prinzipien, die das "relative Lernen" auf diesem Niveau bisher ermöglichten, wie auch jener vorgängigen "fundamentalen Lernschritte", mit denen derartige Prinzipien aus "unentwickelteren" Prinzipien gewinnbar wurden. Durch eine solche genetische Analyse der verfügbaren Funktionsform sollen bzw. müßten nun die in ihr liegenden Beschränkungen des nächsten fundamentalen Lernschritts (durch welche die "Lernproblematik" entstanden ist) als "Lernwidersprüche", d.h. Unvereinbarkeiten zwischen den bisher "bewährten" Lernprinzipien und den zur (weiteren) Annäherung an den Lerngegenstand erforderten Lernhandlungen faßbar werden. Dies wiederum könnte nur auf dem Wege der Explikation der "neuen" Lernprinzipien erfolgen, mit denen in der Aufhebung des Lernwiderspruchs der vorigen Stufe (also quasi dessen "bestimmter Negation") der nächste fundamentale Leinschritt nunmehr vollziehbar (und auf der damit »reichten neuen Ebene wiederum "relatives Lernen" möglich) wird. Bei der näheren Bestimmung der so gefaßten (für eine Lernproblematik charakteristischen) Beschränkungen der Lernprinzipien innerhalb der korrespondierenden Funktionsform soll (aus begriffsmethodischen Gründen) zunächst von den Lerngründen (und etwa in diesen liegenden Beschränkungen) abstrahiert, also unterstellt werden, daß der nächste fundamentale Lernschritt widerspruchsfrei in meinen Verfügungs-/Lebensinteressen "begründet" wäre, und nur mangels "Fähigkeiten", "Fertigkeiten", Wissen, Begreifen etc. von mir nicht vollziehbar ist, daß ich also - platt gesagt - zwar "will" aber nicht "kann". Die Beschränkungen der gegebenen Lernprinzipien, die bei einer solchen Abstraktion von den Lerngründen übrigbleiben, könnte man (in Anlehnung an gängige Redeweisen) als "strukturelle Lernschranken" innerhalb der Funk247

Klaus Holzkamp tionsform bezeichnen (und so den in den Lerngründen selbst liegenden "dynamischen" Beschränkungen gegenüberstellen, s.u.). Als begriffliche Grundlage für eine Analyse solcher "struktureller Schranken" innerhalb der Funktionsform könnte man (in Abhängigkeit von der Eigenart des Lerngegenstands) unter den verfügbaren kategorialen Bestimmungen, in denen "qualitative Entwicklungssprünge" verschiedener Art angesprochen sind, diejenigen thematisieren, die zur Aufschlüsselung der zur Frage stehenden strukturellen Schranken und deren "fundamentaler" Überwindbaikeit taugen könnten, d.h. auf deren Grundlage jeweils einschlägige weitergehende "theoretische" Konkretisierungen zur Durchdringung der vorliegenden Lemproblematik formuliert und empirisch erprobt werden könnten, etc. Setzen wir (in Annäherung an ein "klassisches Beispiel") eine Lernproblematik, die für ein Kind daraus entsteht, daß es "nicht selbständig essen" kann und nehmen wir weiterhin an, daß das Kind von seinem Standpunkt aus widerspruchsfrei "Gründe" hat, diese Selbständigkeit im Interesse erweiterter Bedingungsverfügung etc. zu erlangen: Für diesen Fall mag man zur Aufschlüsselung der damit in den gegebenen Lernprinzipien des Kindes verbleibenden "strukturellen Schranken" versuchsweise den von uns "kategorial" herausgearbeiteten ontogenetischen Entwicklungszug von der "individuellen Verwendbarkeit zur Erfassung verallgemeinerter Brauchbarkeiten" also der "Bedeutungsverallgemeinerung" (vgl. GdP, S. 446ff, darüberhinaus Kap. 8.2 im Ganzen) in Anschlag bringen. Aufgrund dieses "Kategorialbezugs" wäre dann die Hypothese zu formulieren, daß das Kind aufgrund der "Strukturgenese" der in seiner einschlägigen "Funktionsform" beschlossenen Lernprinzipien die jeweiligen Eßgeräte, stellvertretend den LEONTJEWschen "Löffel", nicht in seinem " VerallgemeinertenGemachtsein-Zu" praktisch erfassen, also ihre vergegenständlichte "Sachlogik" (LEONTJEW) nicht nutzen kann, sondern wie mit vorgefundenen natürlichen Dingen mit ihnen umgeht, d.h. unfähig ist praktisch zu begreifen, wozu "Mit-dem-Löffel-Essen", d.h. ihn mit der Öffnung nach oben vorsichtig zum Munde führen, eigentlich "gut sein soll". Von da aus wären dann in weiterer theoretisch-aktualempirischer Analyse die Schranken der bisherigen beim versuchsweisen Essenlernen angesetzten Realisierungsmodi (einschließlich der Schranken der Unterstützungstätigkeit der Erwachsenen) aufzuweisen, durch welche es für das Kind unmöglich ist, über den Umgang mit "Löffeln" als Naturdingen hinauszukommen, d.h. gleichzeitig: im Aufweis der hier einschlägigen "Unvereinbarkeiten" zwischen Lernen nach dem Prinzip des Umgangs mit "Naturdingen" und den Anforderungen des "sozialen Löffelgebrauchs" etc. diejenigen neuen Realisierungsmodi (Unterstützungsweisen) herauszuarbeiten, mit denen der faktische gesellschaftliche Bedeutungsgehalt des 248

Lernen und Lernwiderstand "Löffels" als Lerngegenstand vom Kind "im Prinzip" praktisch begriffen und umgesetzt werden kann. Indem so (günstigenfalls) die eingangs gesetzte Lernproblematik des Kindes durch einen "fundamentalen Lernschritt" zur praktischen Erfassung des "Verallgemeinerten-Gemachtseins-Zu" von Gebrauchsdingen, damit zu einem neuen Niveau des "sachgemäßen" Umgangs mit ihnen in gesellschaftlichkooperativem Lebenszusammenhang überwindbar würde, hätten sich gleichzeitig die benannten theoretischen Annahmen über "strukturelle Schranken" von Realisierungsmodi und die Eigenart derjenigen Modi, durch deren Transformation in die Funktionsform derartige Schranken überwindbar sind, ein Stück weit empirisch bewährt' So hätte man einen kleinen Baustein subjektwissenschaftlicher Lerntheorie zur weiteren Verwendung "an Land gezogen", etc. (s.u.) Aus dem genannten Umstand, daß die "strukturellen Schranken" innerhalb einer Funktionsform etc. nur in Abstraktion von möglichen Beschränkungen auf der Ebene der Handlungsgründe für sich analysierbar sind, folgt, daß diese Abstraktion in einem nächsten Schritt unserer Überlegungen wieder "aufgehoben" werden muß. Es ist also nunmehr das Augenmerk auf solche Aspekte der Beschränkungen der Lernprinzipien einer gegebenen Funktionsform zu richten, die als Transformationen von Widersprüchlichkeiten der Lerngründe/Verfügungsinteressen bei der Realisierung der Handlungsmöglichkeiten des Lerngegenstands zu fassen sind. Also (wiederum platt gesprochen) nicht lediglich Beschränkungen, die daraus entstehen, daß das Individuum "will, aber nicht kann", sondern daraus, daß es gleichzeitig "will und nicht will" bzw. (besser ausgedrückt), daß es seinen eigenen Lernfortschritt in Richtung auf die Anforderungen des Lemgegenstands nicht widerspruchsfrei "selbst wollen kann". Somit wäre der Aspekt der "strukturellen Lernschranken" zu ergänzen und "aufzuheben" durch einen Aspekt, den wir als "dynamische Selbstbehinderungen" des, Lernens bezeichnen wollen. Wenn wir uns auf die dargelegten kategorialen Voraussetzungen subjektwissenschaftlicher Lerntheorie besinnen, so verdeutlichen sich diese "Selbstbehinderungen" als blindunreflektierte "Funktionalisierungen" des Widerspruchs zwischen "begründetem" Interesse an lernender Verfügungserweiterung einerseits und ebenfalls "begründeter" Antizipation von damit verbundenen Risiken der (wie immer "vermittelten") Bedrohung gegebener Handlungsmöglichkeiten andererseits also "Lernwiderstände" im früher dargelegten Sinne - womit wir dieses Phänomen in erster Annäherung "theoretisch" eingeordnet und auf dieser Ebene weiter präzisier- und erforschbar gemacht hätten. Aus der Einbeziehung der "dynamischen Selbstbehinderungen" verdeutlicht sich die grundsätzliche Unzulänglichkeit einer bloß "strukturellen" Ana249

Klaus Holzkamp lyse von Lernbehinderungen etc., indem klar wird, daß mit der Unterstellung eines widerspruchsfrei begründeten "Lernwillens", dessen Umsetzung nur das "Nicht-Können" entgegensteht, der "Standpunkt des Subjekts" wiederum eliminiert ist* Der aus dieser Hypostase gerechtfertigte Versuch einer bloßen "Förderung" der jeweils unentwickelten "Fähigkeiten" etc. des Subjekts wäre gleichbedeutend mit der "kontrollwissenschaftlichen" Negierung der Möglichkeit, daß das Individuum (wenn auch noch spontan und unartikuliert) auch "Gründe" haben könnte, die ihm angediente Entwicklung seiner Fähigkeiten in seinem Verfügungsinteresse gerade nicht zu wollen, bzw. wollen zu können. Das in den "dynamischen Selbstbeschränkungen" liegende Widerstandspotential gegen die "Vereinnahmung" durch fremde Kontrollinteressen o.ä. würde mithin hier mit der "Lernföiderung" - statt ihm zur Artikulation zu verhelfen im "wohlverstandenen Interesse" des Betroffenen über dessen Kopf hinweg unterdrückt. Dabei ist die Analyse der in den Prinzipien der gegebenen Funktionsform beschlossenen "dynamischen Selbstbehinderungen" - wie aus dem Gesagten ableitbar ist - keinesfalls als eine Alternative zur Analyse der "strukturellen" Lernschranken zu betrachten. Vielmehr sind die Selbstbehinderungen als solche Aspekte der Realisierungsmodi bzw. deren Transformation in die jeweilige Funktionsform zu explizieren, durch welche die Überwindung der "strukturellen Schranken" ihrerseits behindert wird. Es sind hier mithin jene "gebrochenen", sich selbst zurücknehmenden bzw. "im Wege stehenden", ambivalenten, "einseitigen" etc. Modalitäten von Lernhandlungen auf den Punkt zu bringen, durch welche das Individuum im Vollzug des Lernprozesses selbst seinen eigenen Lernfortschritt in Antizipation der mit dem Lernerfolg verbundenen Risiken und Bedrohungen immer wieder partiell rückgängig macht. Insbesondere ist dabei an Selbstbehinderungen solcher "Lernerfolge" zu denken, aus denen direkt hervorgehen würde, daß man mit der "Strategie" der Konfliktvermeidung gegen seine eigenen allgemeineren Verfügungs-/Lebensinteressen verstößt, also permanent "freiwillig" sich selbst schadet Aber auch vermitteitere Formen konflikthafter Konsequenzen wie die Antizipation der Isolation von anderen, deren Mißgunst, Ausgrenzungstendenzen etc. als "konkurrente" Reaktion auf den eigenen "Lernerfolg", ja selbst die "Angst", zuzugeben, daß man noch "lernen" muß, und so als "dumm" eingeschätzt und verspottet werden könnte, sind hier in Rechnung zu stellen. Dies schließt ein die "theoretische" Erfassung und Erforschung derjenigen "Mechanismen", durch welche die benannten "selbstschädigenden" Modalitäten der Lernhandlungen dergestalt in die "Funktionsform" transformiert werden, daß mir durch die Art der "Funktionalisierung" die Tatsache der Selbstschädigung unsichtbar bleibt, d.h. der sich mir aus meiner unmittelbaren Verunsicherung aufdrängende 250

Lernen und Lernwiderstand Lernwiderstand für mich den Charakter der "Freiwilligkeit" annimmt Die in diesem Zusammenhang herauszuarbeitenden neuen Lemprinzipien zur "fundamentalen" Überwindung der Lernbehinderung verdeutlichen sich dabei in ihrem "dynamischen" Aspekt als solche Prinzipien, aufgrund derer die mit dem "Lernerfolg" antizipierten Bedrohungen, insbesondere als Konsequenz der dann unausweichlichen eigenen Handlungen, nicht mehr blind und behindernd auf den Lernprozess zurückwirken, sondern als im Lerngegenstand selbst liegende objektive Lernbehinderungen im "herrschenden Interesse" erkannt werden: Damit wäre die Bedrohung nicht mehr durch reduzierte Lernprozesse "verinnerlicht", sondern gerade durch die lernende Realisierung neu» Aspekte des Lerngegenstands in ihrem "objektiven" Charakter dingfest gemacht So wären die Interessenwidersprüche durch ihre "Vergegenständlichung" aus dem Lernprozeß selbst eliminiert, könnten sich also nicht mehr blind als behindernde Momente in diesem durchsetzen, sodaß nunmehr ein "ungebrochener" Lernvollzug im Einklang mit den Lerngründen /Verfügungsinteressen des Individuums ermöglicht, d.h. die "dynamische" Behinderung der Überwindung "struktureller Lernschranken" aufgehoben wäre (ich kommt im letzten Teil noch darauf zurück). Wie bei der Analyse des "strukturellen" Aspekts der Lernbehinderungen (in der dargestellten Weise) auf kategoriale Bestimmungen qualitativer Entwicklungssprünge etc. zurückzugreifen ist, so sind bei der Herausarbeitung der "dynamischen" Selbstbehinderungen des Lernens - was wir bei der "kategorialen" Reformulierung des "Lernwiderstandes" bereits dargelegt haben - die kategorialen Bestimmungen der Alternative "restriktive-verallgemeinerte Handlungsfähigkeit" als Basis für theoretische Konkretisierungen heranzuziehen: Sowohl die "funktionalen" Spezifizierungen "Deuten vs.Begreifen", "Verallgemeinerbare vs. 'restriktive' Emotionalität/Motivation: Innerlichkeit* und 'innerer Zwang'", etc. (vgl. GdP, S. 383ff) wie auch die aufgewiesenen "ontogenedschen Vorformen" dieser Alternative im Entwicklungszug der "Bedeutungsverallgemeinerung" bzw. der "Unmittelbarkeitsüberschreitung" (GdP, S. 457 bzw. S. 490), etc. Wenn man unter diesen Gesichtspunkten unser früheres, um den LEONTJEW'schen Löffel angeordnetes Beispiel weiter ausführen wollte, so hätte man zunächst auf die Möglichkeit zu verweisen, daß die benannte, für das Kind aus dem "Nicht-selbständig-essen-Können" entstehende Lernproblematik nicht primär "strukturell" bedingt ist, sondern eine "dynamische Selbstbehinderung" darstellt, daß also das Kind neben und "in" den Gründen, das selbständige Essen im Interesse seiner Verfügungserweiterung zu "erlernen", auch Gründe hat, dies - ebenfalls in seinem Verfügungsinteresse - nicht zu tun, womit also der Übergang vom Hantieren mit dem "Löffel" als Naturding zum 251

Klaus Holzkamp Sozialen Löffelgebrauch" unter praktischer Berücksichtigung von dessen gesellschaftlich vergegenständlichter "Brauchbarkeit" deswegen nicht in seinen strukturellen Aspekten vollziehbar ist, weil das Kind sich selbst per "Lernwiderständigkeit" daran hindert: Etwa, indem das Kind mit der Antizipation der Verfügungserweiterung durch adäquaten Löffelgebrauch gleichzeitig einen durch die Selbständigkeit des Essen-Könnens eingehandelten speziellen Verlust der mütterlichen Zuwendung antizipiert, wodurch der Sonderstatus des noch total hilfsbedürftigen "Kleinkindes", dessen Aufrechterhaltung und "Pflege" möglicherweise bestimmten (vom Kind erahnten) regressiv-überprotektiven Interessen der Mutter entgegenkommt, durch diese neue Selbständigkeit gefährdet sein könnte, etc. Zur genaueren theoretischen Fassung des so umschriebenen "dynamischen" Aspekts der Lernproblematik könnte man sich nun auf die schon erwähnte Vorform der Alternative "restriktive ys. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit" im ontogenetischen Entwicklungszug der "Bedeutungsverallgemeinerung" rückbeziehen (vgl. GdP, etwa S. 470 ff). Die geschilderte "Lernwiderständigkeit" als zentrales Bestimmungsmoment des "Auftauchens" der Lernproblematik des "Nicht-selbständig-essen-Könnens" wäre so als Erscheinungsform der "restriktiven" Alternative zu verdeutlichen, da hier das Kind aus unmittelbarer Verunsicherung über den möglichen Verlust der in seiner Hilflosigkeit begründeten mütterlichen Zuwendung sich beim Vollzug des "fundamentalen Lernschritts" in Richtung auf ein "kooperatives" Niveau der "KindErwachsenen-Koordination" selbst behindert, also - "indem es seine Unselbständigkeit und Ausgeliefertheit, denen es einerseits zu entkommen trachtet, andererseits durch das eigene Benehmen selbst bestätigt und befestigt" - im "Verzicht auf begründbare Verfügungserweiterung seine eigenen 'menschlichen1 Interessen verletzt" (GdP, S. 471). So gesehen würde dann die Unvollständigkeit, mehr noch: Inadäquatheit der erwähnten theoretisch-aktualempirischen Analyse der hier in den Realisierungsmodi/Unterstützungsweisen liegenden bloß strukturellen Schranken samt ihrer "fundamentalen" Überwindbarkeit in "strukturell" entwickelteren Lernprinzipien hervortreten: Deren Überprüfung via praktische Umsetzung im Lernhandeln des Kindes wäre nämlich nicht nur - da an den "primären" Gründen der Lernproblematik vorbeigehend - weitgehend erfolglos, sondern darüberhinaus als Ignorierung der im Lernwiderstand unartikuliert enthaltenen Verunsicherungen und Ängste des Kindes vor seiner "Unabhängigkeit" ein "blinder" Versuch der "Brechung" des kindlichen Widerstandes gegen den angestrebten "Lernfortschritt": Dies als (fingiertes) Beispiel für diefrüherbenannte Eliminierung der Ebene der Handlungsgründe, damit des Subjektstand252

Lernen und Lernwiderstand punkts, durch eine isolierte Behandlung allein der "strukturellen" Lernschranken und ihrer Überwindbarkeit Die kategorial angeleiteten theoretisch-aktualempirischen Analysen - die wir aus darstellungstechnischen Gründen in einen "strukturellen" und einen "dynamischen" Anteil auseinanderdividiert haben - hätten also von vornherein das jeweilige Zu- und Ineinander von strukturellen Lernschranken und dynamischen Selbstbehinderungen auf der Ebene der Realisierungsmodi/Unterstützungsweisen herauszuarbeiten, also etwas zu klären, auf welche Weise sich das Kind innerhalb der hier angesprochenen konkreten Lernproblematik auf den Umgang mit dem Löffel als "Naturding" fixiert, und wie es dabei das Unterstützungsangebot der Erwachsenen dergestalt lediglich selektiv verwertet bzw. u.U. sogar in einer Art selbst "steuert" und beeinflußt, daß alle Hinweise auf das Niveau "kooperativen" Löffelgebrauchs ins Leere laufen müssen. Dazu gehört auch die einschlägige "dynamische" Analyse der "anderen Seite" der "Kind-Erwachsenen-Koordination", d.h. z.B. quasi der "Lehrwiderständigkeiten" auf Seiten der Mutter, durch welche sie - um das Kind "klein" und abhängig zu halten - die Spezifika der Unterstützungstätigkeit, aus denen die Unvereinbarkeit des Hantierens mit dem Löffel als "vorgefundenem" Naturding mit der "Sachlogik" selbständigen Essens etc. hervorginge, nicht oder nur "halbherzig" realisiert, sich von dem Kind immer wieder "aus der Hand schlagen" läßt, etc. Dabei wären auch die ideologischen Mechanismen zu explizieren, durch welche aus gesellschaftlich bedingten Zwangslagen der Mutter gleichzeitig Tendenzen zur "Brechung" der Handlungsfähigkeitsentwicklung des Kindes als Beitrag zu dessen "Vorbereitung auf seine fremdbestimmte Erwachsenenexistenz", also "Weitergabe" herrschender Interessen in der "Zurichtung" des Kindes, entstehen, etc. (vgl. etwa GdP, S. 467ff). Dies alles würde einschließen die theoretisch/aktualempirische Analyse der Eigenart jener Realisierungsmodi/Unterstützungsformen und darüberhinaus allgemeineren Charakteristika des sozialem Umgangs mit dem Kinde, durch welche für das Kind eine Lebenssituation gefördert wird, in welcher es sich nicht mehr hilflos auf die "sachentbundene" Zuwendung der Mutter o.ä. angewiesen sieht Anders gewendet: In welcher es (innerhalb des allgemeinen "Unterstützungsrahmens") die Verfügungserweiterung/Lebensqualität (über die "Bedeutungsverallgemeinerungen" erreichbarer) "kooperativer" Beziehungen "ungebrochen" antizipieren kann, und so keinen "Grund" mehr hat, der Aneignung der "strukturellen" Prinzipien des "kooperativen Löffelgebrauchs" als Voraussetzung (bzw. Symbol) selbständigen Essens unartikuliert Widerstand entgegenzusetzen, etc. (Näheres über das mit dem damit vollzogenen "fundamentalen Lernschritt" erreichte neue "kooperative" Beziehungsniveau als Vorform "verallgemeinerter Handlungsfähigkeit" findet sich in GdP, bes. S. 471f). 253

Klaus Holzkamp e. Uberwindung von Lernproblematiken in fundamentalem Lernen als Realisierung neuer Bedeutungsebenen und -bezüge des Lerngegenstands Um zu versuchen, aufgrund der bisher dargelegten Gesichtspunkte die Besonderheiten "fundamentalen" Lernens in Abhebung von bloß "relativem" Lernen nunmehr in verallgemeinerter Weise herauszuheben, schlagen wir den Bogen zurück zum Ausgangspunkt unserer Diskussion der "Lernproblematiken", der Ausgliederung jener Lemgegenstände/-dimensionen, durch welche die jeweilige Lernproblemaük zu allererst ihre inhaltliche Spezifik erhält, und von denen mithin die geschilderten weiteren Analyseschritte abhängig sind: Da "Lernen" unserem Verständnis nach grundsätzlich als Erweiterung der individuellen Handlungsfähigkeit in Realisierung gesellschaftlicher Bedeutungen /Handlungsmöglichkeiten einzuordnen ist, müssen auch die Eigenarten des "fundamentalen" gegenüber dem "relativen" Lernen als unterschiedliche Weisen bzw. Niveaus der Realisierung der im gegebenen Lerngegenstand enthaltenen Bedeutungen/Handlungsmöglichkeiten generalisierbar sein. Wenn man dies unter Berücksichtigung der früher herausgehobenen Charakteristik des "fundamentalen Lernens" als Überwindung der Beschränkungen schon "erworbener" durch Gewinnung "neuer", diese Beschränkungen "aufhebender" Lernprinzipien weiterdenkt, so ergibt sich von da aus die Konsequenz, diese neuen Prinzipien als Möglichkeiten der Realisierung neuer Bedeutungsebenen und -bezüge des Lerngegenstandes über die bisher aufgrund der bestehenden Lernproblematik erfaßten hinaus zu charakterisieren. "Relatives" Lernen wäre so gesehen ein Lernfortschritt im Rahmen des durch die Lernproblematik ausgegliederten Lerngegenstands, wobei diese Ausgliederung selbst also "unproblematisch" bleibt In "fundamentalem" Lernen hingegen würden im Zuge des Lernprozesses selbst neue Ebenen/Bezüge des Lerngegenstandes "problematisch", d.h. die Problematisierung der ursprünglich im Lernen involvierten Gegenstandsauffassung wäre selbst das wesentliche Bestimmungsmoment des "fundamentalen" Lernschrittes. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß - wie früher ausgeführt - in der Ausgliederung eines Lerngegenstandes stets lediglich bestimmte Bedeutungseinheiten innerhalb eines umfassenderen gesellschaftlich-sozialen Bedeutungszusammenhangs akzentuiert werden, womit jeder "problematisierte" Lerngegenstand notwendig lediglich ein Aspekt des gegebenen umgreifenden "Bedeutungsvor-" bzw. "Umfeldes" ist, so läßt sich dies noch weiter konkretisieren: In "fundamentalem" Lernen worden aufgrund der erfahrenen Widersprüche bzw. Unvereinbarkeiten zwischen den bisher zuhandenen Lernprinzipien und dem nächsten notwendigen Lernschritt - also quasi der "Lernkrise", durch welche die jeweilige Lernproblematik virulent wurde - dergestalt weitere Bedeutungsebe254

Lernen und Lernwiderstand

nen/-bezüge des bisherigen Lernvor- bzw. Umfeldes als "neue" Aspekte des Lerngegenstandes problematisiert, daß durch die damit ermöglichte umfassendere Aufschlüsselung von gesellschaftlich-sozialen Bedeutungszusammenhängen diese Widersprüche/Unvereinbarkeiten nunmehr "aufhebbar" sind. "Fundamentales" Lernen ist mithin - in anderer Wendung - eine aus den inhaltlichen Notwendigkeiten des (weiteren) Lernfortschritts begründete qualitative Selbstveränderung der initialen Lernproblematik: Dem Lernenden wird dabei also im Lernvollzug am Lemgegenstand mit dessen Durchdringung bzw. Erweiterung nicht weniger, sondern mehr "problematisch", und er gewinnt mit dem fundamentalen Lernschritt somit quasi ein neues "Problembewußtsein" als Basis weiteren "relativen Lernens" (bis zur nächsten "Lernkrise"). Wie man sich dies zunächst im Hinblick auf den "strukturellen" Aspekt fundamentaler Lernschritte genauer vorzustellen hat, läßt sich wiederum an unseremfrüherangeführten elaborierten "Löffel-Beispiel" verdeutlichen: Wenn das Kind (in der geschilderten Weise) "gelernt" hat, den "Löffel" nicht mehr wie ein bloßes "Naturding" zu behandeln, sondern gemäß dem in ihm vergegenständlichten Gebrauchszweck "sachlogischrichtig"zu verwenden, so ist damit auch gesagt, daß dem Kind qualitativ neue Aspekte des Lerngegenstand "problematisch" geworden sind. Während es nämlich vorher beim "Hantieren" mit dem Löffel quasi von dessen spezifischer Bedeutung als gesellschaftlich produziertem Gebrauchsgegenstand "abstrahiert", d.h. die im Löffel liegenden Handlungsmöglichkeiten nur auf der unspezifischen Ebene realisiert hat, die diesem mit anderen "Naturdingen", wie Stöcken, Steinen etc. gemeinsam zukommen, wird von ihm nunmehr der Lerngegenstand "Löffel" in seiner besonderen Qualität als "Verallgemeinertes-Gemachtsein-Zu" (einer Qualität, die er immer schon "hatte", die aber vom Kind bisher nicht "gesehen" wurde) praktisch erfasst. Mit dieser "fundamentalen" Erweiterung des Lerngegenstands (d.h. der Aspekte, die aufgrund der ursprünglichen Lernproblematik aus dem gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhang "ausgegliedert" wurden) hat sich nun auch die "Lernproblematik" selbst - quasi "aus sich heraus" - verändert: Während vorher für das Kind die "Problematik" lediglich darin bestand, seinen Umgang mit dem Löffel in der Art zu "verbessern", daß man damit die Speisen "irgendwie" in den Mund befördern kann, wird ihm nunmehr das Lernen des "richtigen" Löffelgebrauchs, d.h. seine Verwendung im Sinne dessen, "wozu er gemacht ist", problematisch. Ist diese erweiterte "Problematik" erst einmal erfaßt, so ergeben sich daraus wiederum neue Möglichkeiten bzw. Notwendigkeiten "relativen Lernens", etwa der "Formung" des Bewegungsablaufs gemäß der vergegenständlichten "Sachlogik" des Löffels (d.h. ihn waagerecht mit der Öffnung nach oben ohne etwas zu verschütten oder zu verkleckern zum 255

Klaus Holzkamp Munde führen zu können): Ein solcher relativer Lernvollzug wäre auf der Ebene der Realisierung bloß unspezifisch "natürlicher" Bedeutungsaspekte des Löffels grundsätzlich nicht möglich gewesen. Selbst ein entsprechendes "Zufallsergebnis" hätte das Kind, da es ja nicht wußte, "worauf es ankommt", niemals "festhalten", reproduzieren und lernend verbessern können: Die Bewegungsgestalt des "Einen-Löffel-Führens" hat quasi eine Art von "Künstlichkeit", die dem Umgang mit Naturdingen total "unangemessen" ist und nur aus der Gegenstandsbedeutung des Löffels als "hergestelltem" Gebrauchsgegenstand begründbar, mithin auch nur auf dieser Ebene (unter adäquater Assimilation entsprechender Unterstützungstätigkeit der Erwachsenen) "lernbar" ist, etc. In einem fundamentalen Lernschritt, soweit man ihn lediglich in seinen "strukturellen" Aspekten betrachtet, werden also (wie damit gezeigt) mit der Erweiterung des Lerngegenstandes "entwickeltere", spezifischere, etc. Bewältigungsformen der jeweiligen "praktischen", "kognitiven", etc. Lernproblematik, wie sie als gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten in Bedeutungszusammenhängen "jenseits" der ursprünglichen Ausgliederung des Lerngegenstandes "vergegenständlicht" sind, nun auch für den Lernenden in seinem Verfügungsinteresse realisierbar. Wenn man nun wiederum den "dynamischen" Aspekt fundamentaler Lernschritte in die Überlegungen einbezieht, verdeutlicht sich, daß in den Bedeutungsebenen/-bezügen, um die hier der Lerngegenstand erweitert wird, bisher nicht erfaßte objektive Widersprüche zwischen den eigenen Verfügungsinteressen und "herrschenden" Kontrollinteressen enthalten sein müssen. In der gegebenen Lernproblematik wurde mithin der jeweilige Lerngegenstand - entweder "spontan" durch den Lernenden oder durch die Art und Weise, in der die Lernproblematik unter institutioneller Kontrolle fixiert wurde - in einer Weise "verkürzt" und "vereinseitigt" ausgegliedert, daß die in ihm liegenden "Unvereinbarkeiten" zwischen Lernanforderungen und subjektiven Verfügungsinteressen nicht als Teilaspekte übergreifender gesellschaftlicher Interessenwidersprüche erkennbar waren. Im "widerständigen" Lernen wurde diese beschränkte und beschränkende Gegenstandsausgliederung quasi als "bare Münze" genommen, d.h. mit der "Sache selbst" um die es hier geht, gleichgesetzt: So konnten die dergestalt parzellierten und "bruchstückhaften" Hinweise auf Unvereinbarkeiten der Lernziele mit meinen Lerninteressen nur in unmittelbar "spontaner" Weise, personalisiert und auf bloß "soziale" Konflikte reduziert, d.h. als Lernwiderstand, sich in meinem Lernvollzug niederschlagen. Wenn nun mit der "fundamentalen" Überwindung des Lemwiderstandes die objektiven gesellschaftlichen Verflochtenheiten des Lerngegenstandes faßbar werden, so impliziert dies gleichzeitig die praktische Erkenntnis der geschilderten realen gesellschaftlich-sozialen Widersprüche, 256

Lernen und Lernwiderstand durch welche ich mich in meinem Lernbeitrag und dem darin liegenden subjektiven Verfügungsinteresse mit fremden Verfügungsinteressen (seien es "herrschende", seien es gleichgerichtete) antagonistisch bzw. kooperativ ins Verhältnis setze. Daraus erhellt eine zentrale Eigenart des "dynamischen" Aspekts fundamentaler Lernschritte: Da mit der Aufhebung der spontan-personalisierenden "Veikapselung" der genannten Interessenwidersprüche die mit dem Vollzug des Lernprozesses antizipierbare Bedrohung meiner bestehenden Handlungsfähigkeit durch herrschende Kräfte etc. nun nicht mehr in unmittelbarer Selbstbehinderung mystifiziert ist, sondern - quasi auf der Gegenstandsseite - in ihrer vollen Realität bewußt wird, impliziert der fundamentale Lernschritt hier notwendig auch das "Lernen" der realen Bewältigung solcher Bedrohung, d.h. den Erwerb der gedanklichen und praktischen Mittel, mit denen ich die in meinem Lebensinteresse notwendige Erweiterung des Lerngegenstandes bis zur Erkennbarkeit seiner objektiven sozial- gesellschaftlichen Verflochtenheiten etc. gegen die "herrschenden Interessen" an der Verhinderung solcher Erweiterung durchsetzen kann. Erst in einer solchen Perspektive der Überwindbarkeit wird die selbstschädigende "Restriktivität" des Lernwiderstandes vollends "bewußtseinsfähig", was ggf. auch die Erkenntnis einschließt, daß man sich mit einer Lernverweigerung (als Extremform des Lernwiderstandes) keineswegs einfach im Gegensatz zu den herrschenden Interessen, sondern - indem man sich selbst die Voraussetzungen für den bewußten Widerstand gegen die Beschränkung der eigenen Verfügungsmöglichkeiten vorenthält - letztlich (wenn auch widersprüchlich) im Einklang mit ihnen befindet - Das Lernen "als" Widerstand wird hier also in gewissem Sinne durch das Lernen "von" Widerstand aufgehoben. Die jeweiligen Besonderheiten der für ein solches "Widerstandslernen" erforderten Realisierungsmodi - von "hinweisenden" Aktivitäten, "argumentativen" Einlassungen, über individuell geplante Durchsetzungsstrategien bis zu den verschiedenen Formen und Graden des Zusammenschlusses mit Gleichinteressierten: Nutzung oder Schaffung demokratischer Möglichkeiten der Willensbildung, "demonstrative" Willensbekundungen, Initiierung/Beteiligung von/an Massenbewegungen etc. - ergeben sich wiederum aus der Eigenart der jeweiligen Lernproblematik, können mithin nur in theoretisch-aktualempirischen Analysen weiter abgeklärt und verallgemeinert worden. Dabei ist (um diesem wohlfeilen Mißverständnis zu begegnen) nicht etwa lediglich an explizit politischen Kampf gedacht: Die Formen und Strategien des Widerstandslernens müssen vielmehr genau so vielfältig und vermittelt sein, wie dies die Erscheinungsformen "herrschender" Behinderungen/Bedrohungen subjektiver Verfügungserweiterung in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Facetten der alltäglichen Lebenspraxis selbst 257

Klaus Holzkamp sind - was nun nochmals und das letzte Mal mit dem Ausbau unserer Version des LEONTJEWschen "Löffelbeispiels" veranschaulicht worden soll: Der geschilderte fundamentale Lernschritt des Kindes in Richtung auf die Fähigkeit zum "sachadäquaten" Löffelgebrauch (als Symbol für seine neue "kooperative" Selbständigkeit) impliziert - "dynamisch" gesehen - in der Weise eine Erweiterung des Lerngegenstandes, daß das Kind nunmehr den Stellenwert, den seine "Selbständigkeit" für andere hat samt der daraus sich ergebenden Rückwirkungen auf das eigene Handeln praktisch berücksichtigen kann: Es muß seine als blinder "Niederschlag" des drohenden Zuwendungsverlustes der Mutter entstandenen Lernwiderständigkeiten auf irgendeine Art so als reale Interessenwidersprüche zwischen Mutter und Kind "vergegenständlicht" haben, daß sie nunmehr das "verfügungserweiternde" Lernen nicht mehr behindern können. Anders: Das Kind muß "eingesehen" haben, daß die Interessen der Mutter an der Erhaltung seiner "Unselbständigkeit" seinem eigenen Selbständigkeitsstreben objektiv entgegenstehen, und daß es nur im Widerstand gegen diese mütterlichen Interessen über die bisherigen bloß sozialen Abhängigkeiten in Richtung auf das neue "kooperative" Beziehungsniveau hinausgelangen kann. Bei einem solchen zum Vollzug des fundamentalen Lernschrittes (auch in seinen "strukturellen" Aspekten) unerläßlichen "Widerstandslernen" mag das Kind z.B. "gelernt" haben, auf welche Weise es an die bei der Mutter ja auch vorhandenen Interessen an der Förderung der Selbständigkeit des Kindes dergestalt appellieren kann, daß sie ihre eigenen, dem entgegenstehenden "regressiven" Tendenzen zu überwinden vermag, womit das Kind sich quasi mit den "progressiven" Neigungen der Mutter verbündet hätte (vgl. HOLZKAMP 1979, S. 35ff). Und/oder das Kind mag allmählich herausgefunden haben, auf welche Weise es andere Individuen in der familialen Situation, Erwachsene odor Kinder, so um Unterstützung seiner einschlägigen selbständigkeitsgerichteten Lernvollzüge angehen kann, daß die Behinderungsvorsuche der Mutter dadurch neutralisiert werden (etwa als die bekannte kindliche "Technik", durch Gegeneinander-Ausspielen der Erwachsenen deren Restriktionen partiell zu entkommen und sich so etwas "Luft" zu schaffen). Falls all dies nicht zum "Erfolg" führt, bleibt (entsprechende vorgängige Lernschritte vorausgesetzt) für das Kind immer noch die Möglichkeit, die "blinde" Lernwiderständigkeit in einen zwar "inneren", aber dennoch bewußten Widerstand gegen die ihm zugemuteten Restriktionen zu transformieren, d.h. "die Wut" zu kriegen, sich zu verschließen und künftighin immer besser zu lernen, Schwächen der Erwachsenen, Lücken in ihren Kontrollmaßnahmen, Inkonsequenzen und Widersprüche ihrer "Erziehungsaktivitäten" jeweils rigoros zu seiner (wie immer punktuellen) Verfügungserweiterung auszunutzen - im übrigen "geduldig" auf 258

Lernen und Lernwiderstand die Gelegenheit bzw. den Zeitpunkt zu warten, wo es ihnen dies alles "heimzahlen" kann - wobei solche lebenswichtigen Lernprozesse des "Hinüberrettens" der eigenen Selbstachtung und Integrität über die Zeit da* Ausgeliefertheit an die Willkür der Erwachsenen dann für Eltern, Lehrer etc. als eben jene "Bockigkeit", "Verstocktheit" o.ä. des Kindes in Erscheinung treten, die man auf vielfältige Weise "erzieherisch" zu "brechen" versucht und damit ungewollt dem Kind immer neue Gründe für die Verfestigung und den Ausbau seines "inneren Widerstandes" liefert In unseren bisherigen Auslegungen haben wir allerdings (darin verdeutlicht sich die allgemeine Problematik von "Beispielen" dieser Art), auf relativ "einseitige" Weise die widerspruchsfreie "Nützlichkeit" des Löffelgebrauchs unterstellt und die Lernproblematik allein als Behinderung der Realisierung dieser Nützlichkeit durch das Kind expliziert. Ausgeklammert wurde dabei die mögliche Disziplinierungsfunktion des Bestehens der Erwachsenen auf "ordentlichem Essen" mit dem Löffel, "so wie es sich gehört" o.ä. Wenn man diesen Gesichtspunkt mit einbezieht, so wäre die bisherige Charakterisierung des genannten "fundamentalen Lernschritts" in einer wesentlichen Hinsicht zu ergänzen: Dadurch wird für das Kind auch beurteilbar, inwieweit die quasi im Löffel verkörperte Möglichkeit "vernünftiger", d.h. effektiver, sauberer etc. zu essen, dem Kind durch die Erwachsenen nicht nur (in der geschilderten Weise) tendenziös vorenthalten, sondern u.U. auch zu Diziplinierungszwecken "übertrieben", d.h. von entsprechenden gesellschaftlichen "Normen" kindlichen Wohlverhaltens her "zweckentfremdet" wird: Diese Möglichkeit gewinnt das Kind mit den "kooperativen" Maßstäben, durch welche es aufgrund "sachlogischer" Kriterien die jeweilige Lemanforderung jenseits der Alternative der blinden Übernahme oder Verweigerung/Widerständigkeit auf ihre inhaltliche Berechtigung hin einschätzen kann, etc. (Zum Erfahrungshintergrund der hier vorgetragenen Ausweitung des LEONTJEWschen "Löffelbeispiels" vgl. unser "Projekt Subjektentwicklung in der frühen Kindheit", etwa 1985.) Ein übergreifendes Problem hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen "fundamentale Lernschritte" als Erweiterungen der Ebenen/Bezüge des Lerngegenstandes möglich sind, verdeutlicht sich aus der Frage, weiche Gründe ein Individuum angesichts eines erreichten Niveaus der Handlungsfähigkeit haben kann, die Lernwidersprüche, durch welche der jeweilige fundamentale Lernschritt "erzwungen" wird, überhaupt subjektiv zuzulassen. Max MILLER hat - im Rahmen seiner "argumentationslogischen" Analysen - überzeugend auf die konstituierende Bedeutung kollektiver Lernprozesse für das Zustandekommen der "Selbstwidersprüche" verwiesen: Der Umstand, daß ich neue Tatsachen bzw. Argumente anerkennen muß, die mit meinem je "Vorgelernten" in Widerspruch stehen ist demnach nur daraus begreiflich, daß diese in 259

Klaus Holzkamp einem gemeinsamen Argumentationsprozess vom jeweils anderen, der meine Position nicht teilt, vorgebracht werden. Indem dabei gleichzeitig die Freiheit von kontradiktorischen Widersprüchen als Basis jeglichen Argumentierens von mir anerkannt wird, also eine grundsätzliche Gemeinsamkeit zwischen mir und dem argumentativen Gegner bildet, ist der fundamentale Lernfortschritt trotz bzw. gerade wegen widersprechender Auffassungen hier ein Ergebnis kollektiven Lernens (vgl. MILLER 1986, etwa S. 236ff). Auch in unserem "tätigkeitstheoretischen" Ansatz jenseits der interaktionistischen Position MDLLERs dürfte man nur durch die Ausweitung des Blicks über bloß individuelle Lern- und Entwicklungsprozesse hinaus - also unter Einbeziehung der allein in kollektiver Erfahrungsbildung faßbaren, auf jeweils bestimmten Verarbeitungsniveaus aufscheinenden Unvereinbarkeiten unterschiedlicher gesellschaftlicher Perspektiven auf das gleiche Problem - die subjektive Realität von Lernwidersprüchen, d.h. die Möglichkeit/Notwendigkeit fundamentaler Lernschritte verständlich machen können. Die Unausweichlichkeit der Überwindung derartiger Unvereinbarkeiten durch "lernendes" Erreichen eines neuen Verarbeitungsniveaus wäre mithin zu begreifen als die aus gemeinsamen (und nur gemeinsam durchzusetzenden) Lebensinteressen begründete subjektive Notwendigkeit, angesichts der "zwischen uns" bestehenden Widersprüche dennoch wieder handlungsfähig werden zu müssen. Mit einem solchen Denkansatz wäre dann auch die Möglichkeit eröffnet, der Hypostase des einsam in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt immer neue Entwicklungsstadien erklimmenden Kindes, also der Vorstellung von Entwicklung als "Sich-selbst-an-den-Haaren-aus-dem Sumpf-Ziehen", und den dadurch bedingten "reifungstheoretischen" Relikten, die selbst einer elaborierten genetischen Konzeption wie der von PIAGET eigen ist, zu entkommen. - Eine Bestätigung dieser Überlegungen aus dem Negativen mag man dabei etwa in der rigorosen "Individualisierung" von Lernprozessen, d.h. Unterdrückung kollektiven Lernens, in gesellschaftlichen Institutionen wie der Schule und der Universität sehen: Indem hier jeder unter der Ideologie der persönlichen Selbstvervollkommnung auf sich selbst zurückgeworfen ist, wird systematisch die Möglichkeit behindert, in fundamentalem Lernen sich neue, über die institutionell definierten hinausgehende, Ebenen und Bezüge des Lemgegenstandes zu eröffnen und damit den eigenen Standort innerhalb widersprüchlicher gesellschaftlicher Interessen praktisch zu begreifen: Wenn jeder nur "für sich" lernen darf, bzw. sein Beitrag nur in seinen individuell zurechenbaren Aspekten bewertet wird, so steht der Zusammensetzung der so angeeigneten verschiedenen Teilaspekte durch das Interpretationsmonopol der Institution im herrschenden Interesse nichts im Wege. 260

Lernen und Lernwiderstand Darin verdeutlicht sich unter einem weiteren Aspekt die umfassendere ideologische Funktion der "offiziellen" bzw. "theoretischen" Ignorierung der subjektiven Begründungszusammenhänge des Lernwiderstandes: Indem hier vorausgesetzt ist, daß man prinzipiell auch zu Lernprozessen, die (tatsächlich oder vorgeblich) im eigenen Interesse sind, institutionell gepreßt werden muß, geht man implizit davon aus, daß die Individuen in ihrer genuinen Unmündigkeit selbst nicht wissen können, was für sie gut ist - und erzeugt durch die darin begründeten Zwangsmaßnahmen genau jene Lernwiderständigkeiten, die dann wiederum zur Rechtfertigung des Zwangs dienen können. Die "Vernunft" der in dieser Weise laufend institutionell erzeugten Lernbehinderung liegt in der Absicherung des harschenden Erziehungsmonopols durch Vereinzelung der Individuen in unartikulierter blinder Widerständigkeit, die sich laufend selbst ins Unrecht setzt und so die "Rationalität" der "erzieherischen" Eingriffe und der dazu geschaffenen institutionellen Arrangements und "wissenschaftlichen" Theorien bestätigt: Der damit einhergehende ungeheuere Verschleiß an menschlicher Produktivität und Lebensfreude wird gemäß der "Logik" des Kapitals - wie generell so auch hier - als Preis für die Vereinzelung und Isolierung der Betroffenen, also Verhinderung der Entfaltung von bewußtem Widerstand gegen die Unterdrückung der allgemeinen durch die herrschenden Interessen, in Kauf genommen. 4.

Schlußbemerkung

Aus dem geschilderten Konzept der "Lernproblematiken" als theoretisch-aktualempirischer Ansatzstelle subjektwissenschaftlicher Lernforschung ergibt sich die Möglichkeit/Notwendigkeit, die bisher skizzierten begrifflichen Aufschlüsselungen des Lernens/Lernwiderstandes an jeder denkbaren Erscheinungsform einer Lernproblematik zu konkretisieren, zu spezifizieren und u.U. auch zu korrigieren und von da aus die Art und Reichweite von Verallgemeinerungen zu erkunden. Die Voraussetzungen dazu liegen in der (durch unsere Begrifflichkeit vorprogrammierten) Fassung der Lernproblematiken als mögliche "typische Lernpröblematiken" und deren Überprüfung durch ihre methodische Wendung als Spielarten "typischer Möglichkeitsräume", womit die subjektwissenschaftlichen Verfahrensweisen, wie sie im 9. Kapitel von GdP dargelegt sind, für die Lernforschungfruchtbarzu machen wären. D. h.: Verallgemeinerungen werden hier nicht in abstrakten Wenn-Danh-Aussagen hypostasiert und sodann durch Herstellung/Auswahl einer entsprechenden (experimentellen oder quasiexperimentellen) Realität "durchgesetzt" sondern "durch" die unreduzierte Vielfalt der "auftauchenden" Lernproblematiken hindurch gewonnen und (auf die in GdP dargestellte "asymptotische" Weise) laufend 261

Klaus Holzkamp korrigiert. Das Kriterium für die "Betroffenheit" von einer typischen Lernproblematik als "Möglichkeitstyp" ist sodann der Versuch einer - informellen (etwa durch den Leser vollzogenen) oder formellen, d.h. innerhalb von Forschungsprojekten methodisch auszuweisenden - "Selbstsubsumtion", womit jeweils vom Subjektstandpunkt aus entschieden werden muß, wieweit meine individuelle Lernproblematik als Erscheinungsform der wissenschaftlich erarbeiteten "typischen Lernproblematik" akzeptiert werden kann, bzw. wieweit diese durch meinen Beitrag um weitere Vermittlungsebenen zu bereichern odor auch total als für mich "unthematisch" einzustufen ist, etc. Aus diesen methodischen Hinweisen läßt sich nun auch andeuten, wie die Eigenart und Funktion des "Lehrens" bzw. (allgemeiner) der praktischen Umsetzung von Resultaten subjektwissenschaftlicher Lernforschung zu bestimmen ist: Es sind eben die jeweils erarbeiteten "typischen Lernproblematiken", die den Lernenden im Kontext der jeweiligen inhaltlichen Lernanforderungen anzubieten sind, damit sie (gemäß dem Stand der Forschung) ihre Lernwiderständigkeiten bzw. tendenzielle Lernverweigerung so auf den Begriff bringen können, daß der angesagte fundamentale Lernschritt (in seinen strukturellen und dynamischen Aspekten) von ihnen vollziehbar wird. Dies schließt allerdings ein, daß man als "Lehrender" o.ä. die Entscheidung, wieweit eine Lernproblematik für sie einschlägigen ist, zwar begrifflich und praktisch zu unterstützen hat, aber in ihrem Vollzug notwendig den Lernenden selbst überlassen muß - und daß man grundsätzlich keine Garantie dafür besitzt, daß der (günstigenfalls) vollzogene fundamentale Lernschritt auch die "geplanten" Resultate erbringt, d.h. immer in Rechnung stellen muß, daß dor Lernende mit überzeugenden Gründen in Erweiterung der Bedeutungsebenen und -bezüge des Lerngegenstands gegen die jeweilige Definition und Beschränkung der vorgegebenen Lernanforderung - damit u.U. auch gegen den diese vertretenden Funktionär der jeweiligen Erziehungsinstitution - Widerstand leisten wird: Die Lösung der auf diese Weise aufscheinenden Konflikte mag dann (soweit sie verallgemeinerbar sind) den Vollzug eines fundamentalen Lernschritts nun auch auf der Seite des Lehrenden erfordern.

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262

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263

Gabriele Minz Leiden an der Unerfüllbarkeit Maßstäbe von Mütterlichkeit.

psychoanalytischer

Frauen werden wichtiger. Ihre Bedeutung nimmt wieder zu - als Mütter, als Reproduktionsorganisatoren für die Familie, die in dieser Funktion die Gesellschaft in wesentlicher Hinsicht entlasten. Denn je mehr Frauen sich ganz auf ihre mütterlichen Pflichten und Freuden konzentrieren, desto weniger beanspruchen sie die knappen Arbeitsplätze, die dann dem männlichen Teil der Bevölkerung vorbehalten bleiben können. Und es werden gesellschaftliche Aufwendungen und Kosten vermieden bzw. 'gespart' (wie bspw. die Schaffung von Infrastrukturen, die den Kindern systematisch ein Aufwachsen mit Erlebnismöglichkeiten über den engen Kleinfamilienrahmen hinaus gestatten), indem die Mütter im wesentlichen die Verantwortung mit der damit verbundenen Arbeit für das Erwachsenwerden ihrer Kinder tragen. Der Bedeutungszuwachs von Müttern wird aber nun kaum mit diesen Funktionen, sondern vor allem aus den Entwicklungsnotwendigkeiten des heranwachsenden Kindes begründet, das einen, zumindest in den ersten Lebensjahren, ganz für es verfügbaren Menschen brauche. Dies ist inzwischen, soweit man sich in dieser Frage auf wissenschaftliche Argumente stützt, allerdings nicht mehr gänzlich unumstritten (vgl. z.B.: ERNST/LUCKNER, 1985; LEHR, 1978). Dennoch dominieren als wissenschaftliche Begründung für die o.a. mütterlichen Funktionen mit anhaltender und großer Massenwirksamkeit psychoanalytische Theorien zur Mutter-Kind-Beziehung. Im Rahmen dieses Vortrages werde ich mich mit psychoanalytischen Autoren auseinandersetzen, die in der (zeitlich) unmittelbaren Nachfolge FREUDs versuchten, auf der Basis seiner Überlegungen Theorien zur ersten Beziehung des Kindes, der zur Mutter, zu entwickeln. Da sich nach meiner Kenntnis in der einschlägigen psychoanalytisch orientierten Theorieentwicklung keine grundlegende Änderung bezüglich ihrer Frage* und Antwortrichtung ergeben hat, können die im folgenden darzustellenden Auffassungen der von mir angeführten Autoren nach wie vor als typisch gelten.1* Bevor ich in diese Auseinandersetzung einsteige, möchte ich zunächst eine aus meiner Sicht zentrale Überlegung einführen: Jedes Kind wird in ganz konkrete Lebensverhältnisse hineingeboren, in denen es sich zum erwachsenen Menschen entwickeln wird. Diese sind in der Regel bei uns durch die Familie 264

Leiden an der Unerfüllbarkeit... und deren mehr oder weniger unmittelbare Umgebung, d.h. durch Aspekte von Weltbezügen repräsentiert, die für das Kind zunächst durch unmittelbare personale Beziehungen erfahrbar werden. Gleichwohl sind diese Lebensumstände bestimmt durch jene historische Besonderheit gesellschaftlicher Verhältnisse, die bei uns als bürgerlich zu charakterisieren ist So einsichtig diese Überlegung, daß jedes Kind in konkrete Lebensverhältnisse hineingeboren wird, ist - es ist damit aber noch nichts darüber gesagt, in welcher Weise der Zusammenhang von gesellschaftlichen Verhältnissen und individuellem Dasein vermittelt ist Die Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft ergibt sich nicht auf den ersten Blick; sie ist ein wesentliches Problem u.a. der Psychologie, und es bedarf analytischer Anstrengungen dieses zu klären. Unabhängig davon, ob und auf welche Weise diese Untersuchung durchgeführt wird, gehen - explizit oder implizit - in jede Entwicklungstheorie, in jede Aussage über das, was für kindliche Entwicklung notwendig ist, Vorstellungen über den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft mit ein. Das Werk von Sigmund FREUD, dem Begründer der Psychoanalyse, war genau der Aufklärung dieses Zusammenhangs gewidmet. Er hat das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als unvereinbaren Gegensatz bestimmt, indem er die individuelle Entwicklung der Triebe und ihre Befriedigung innerhalb dieser gesellschaftlichen Verhältnisse als unerreichbar herausgearbeitet hat. Der Gegensatz zwischen menschlicher Triebstruktur und menschlicher Gesellschaft ist nach seiner Auffassung allgemein antagonistisch und auch für den einzelnen Menschen nicht aufhebbar. Es ist aber, dafür gibt es die unterschiedlichsten Bewältigungsformen, jedem Menschen gegeben, sich in seiner individuellen Biografie seinen Lebensbedingungen anzupassen, indem er seine originären sexuellen Bedürfnisse bspw. sublimiert, versucht, sie auf andere Befriedigungsformen wie etwa kulturelle und intellektuelle Leistungen zu verschieben, oder indem er sie verdrängt, abwehrt o.ä.m. Der zentrale Vergesellschaftungsmechanismus, durch den hindurch sich jedes Kind, jeder Mensch entwickelt, ist gemäß der FREUDschen Konzeption der ödipale Konflikt, von dessen Bewältigung weitgehend die weitere Lebensgeschichte des Individuums abhängt Der Ödipuskomplex - dies ist sicherlich weitgehend bekannt - typisiert das libidinöse Dreiecksverhältnis zwischen Vater, Mutter und Kind, bei dem - in seiner einfachen Form - der kleine Junge seinen Vater töten will, um die Mutter sexuell besitzen zu können. Das Kind erkennt im Laufe seiner "psychosexuellen" Entwicklung den Vater als Rivalen um die Liebe der Mutter, der ihn an der Erfüllung seiner Triebwünsche hindert. Seine Wirksamkeit bezieht der Ödipuskomplex aus der Einführung einer verbietenden Instanz, die mit der Kastration des Phallus droht, um die inzestuösen 265

Gabriele Minz Triebstiebungen zu verhindern. Man darf sich diesen Konflikt nun aber nicht so vorstellen, daß es zwingend der empirischen Vater-Mutter-KindKonstellation bedarf. Der von FREUD gewählte Mythos vom ödipus steht vielmehr für eine vorstellbare Form der gewaltsamen Unterwerfung (Anpassung) eines jeden Menschen unter die jeweils herrschende Kultur. In der konkreten Analyse des Individuums ist herauszufinden, in welchen realen Personen oder Institutionen sich die verbietende Instanz verkörpert Der Ödipuskomplex ist dann überwunden, wenn die Auflehnung gegen die väterliche Autorität der Unterwerfung unter diese gewichen ist (vgl. z.B.: FGW II/III, 267ff.). Zusammenfassend möchte ich hier zunächst festhalten: Der Widerspruch zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Befriedigungsmöglichkeiten, wodurch in der Psychoanalyse das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft wesentlich charakterisiert ist, kann aus eben dieser Sicht vom Individuum nicht versöhnt werden. Der Einzelne kann sich nur mehr oder weniger gut mit diesem Gegensatz abfinden, ihn kompensieren, sublimieren, verdrängen etc. In der Verarbeitung des ödipalen Konflikts wird ein junger Mensch erst durch die Unterwerfung unter die väterliche Autorität gesellschafts- und kulturfähig. Die Art und Weise der Bewältigung des ödipalen Konflikts ist entscheidend für die weiteren Lebensmöglichkeiten des Menschen in der Gesellschaft. Wie wird nun das Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, von, dem ich ja eingangs sagte, daß es für jede Entwicklungstheorie von zentraler Bedeutung ist, bei den FREUDnachfolgern gefaßt, die sich mit der ersten Objektbeziehung9 des Kindes, also in unseren Verhältnissen mit der Beziehung zu seiner Mutter beschäftigt haben? (FREUD selbst hat der "Mutterfigur" keinen systematischen Platz in seinem theoretischen Begriffssystem eingeräumt. Man muß darüberhinaus feststellen, daß er in seinen Schriften auch kaum Interesse für die empirische, konkrete Mutter in ihrer alltäglichen Bedeutung für das Kind formuliert hat. Auf die damit verbundenen Probleme für die Theorienbildung der FREUDnachfolger kann ich aber hier nicht eingehen.) FREUDs Tochter Anna war eine der ersten, die sich in der Ausformulierung psychoanalytischen Denkens den Beziehungen derfrühenKindheit in ihrer alltäglichen Wirklichkeit zugewandt hat. Ihre Intention war dabei, beginnenden Neurosen, die später in der Analyse Erwachsener so mühsam aufgedeckt werden müssen, schon in ihrer Entstehung entgegenzuwirken. Dieses Interesse verbreitete sich unter den FREUDnachfolgern sehr rasch, die Theorienbildung zum Mutter-Kind-Verhältnis nahm innerhalb der psychoanalytischen Bewegung ein zunehmend größeren Raum ein. Anders ausgedrückt: Das Anwendungsgebiet der Psychoanalyse erweiterte sich von der Therapie er266

Leiden an der Unerfüllbarkeit... wachsener Menschen auf die Therapie von Kindern und auf die aus therapeutischer Sicht eben prophylaktische Pädagogik. Mit der Hinwendung der Psychoanalyse zu pädagogischen Fragestellungen bzw. zu den empirischen Familienverhältnissen ergab sich auch eine Veränderung des psychoanalytischen Untersuchungsgegenstandes. In der Theorienbildung zum Mutter-Kind-Verhältnis geht das Hauptaugenmeik weg von der direkten therapeutischen Auseinandersetzung mit dem Subjekt, in unserem Zusammenhang also weg vom (ehemaligen) Kind und hin zur Mutter. Diese ist es nun, die für die Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse zuständig ist Man kann es auch noch anders ausdrücken: Der kindliche Entwicklungsprozeß ist nicht mehr als solcher Thema, sondern die kindliche Entwicklung wird von den FREUDnachfolgern im Hinblick auf die in der Person der Mutter sich konzentrierenden Möglichkeiten und Behinderungen untersucht: Nicht mehr das Kind vergesellschaftet sich innerhalb des ödipalen Konflikts, sondern die Mutter hat die (gesellschaftliche) Funktion und Aufgabe, ihr Kind zu vergesellschaften. Daß der Entwicklungsprozeß des Kindes sozusagen durch die Gefühle und Handlungen der Mutter hindurch betrachtet wird, möchte ich nun an Arbeiten einige psychoanalytischer Autoren verdeutlichen. Anna FREUD etwa beschreibt die Bedeutung und die Funktion der Mutter in den ersten Lebensjahren für das Kind so: In der frühen Kindheit macht das "Kind ... an der Mutter sein erstes Liebeserlebnis durch" (FREUD, A. 1982,103), es macht die "frühen Liebeserfahrungen", "die für alle späteren Liebeserlebnisse als Vorbild dienen und im positiven und negativen Sinn ihre Spuren hinterlassen. Es macht auch seine ersten wichtigen Erfahrungen in der Bewältigung und Verarbeitung unerfüllbarer Triebwünsche und legt damit den Grund für seine spätere Charakterbildung." (a.a.O., 106). Anna FREUD geht davon aus, daß das Kind ein natürliches Bedürfnis nach einer Beziehung zur Mutter hat, welches sich in dem kindlichen Gefühl ausdrückt, daß der mütterliche Körper ihm gehört. Das "Gegenstück" dazu, so behauptet sie, ist normalerweise, daß die Mutter sich so benimmt, als ob der Körper des Kindes ein Stück ihres eigenen wäre (vgl. a.a.O., 112f.). Diese Auffassung wird auch von weiteren psychoanalytisch orientierten Mutter-Kind-Theoretikern geteilt, Meinungsverschiedenheiten bestehen lediglich darüber, wie und wann sich diese Bindung realisiert Die theoretischen Konstrukte, mit denen die Konzentration der Mutter auf das Kind und die des Kindes auf die Mutter gefaßt werden soll, werden von einem anderen psychoanalytischen Autor, Ren6 SPITZ, besonders prägnant formuliert: Er definiert die für die Mutter-Kind-Theorie zentrale Kategorie des "Dialogs" als einen fortlaufenden Aktions- und Reaktionszyklus zwischen 267

Gabriele Minz Mutter und Kind, in welchem durch den Mechanismus der "Einfühlung" ein "affektives Klima" entsteht, das dem Kind erst die Entwicklung seines Trieblebens ermöglicht So vorstellbar wie dieses "Klima" nach der Beschreibung von SPITZ einerseits zu sein scheint, so unfaßbar wird es, wenn man versucht, diesen Sachverhalt zu konkretisieren. So finden wir in seiner Darstellung Äußerungen wie die "hellsichtige Art", mit der eine "gute Mutter" die kindlichen Bedürfnisse errät, er spricht von der "mütterlichen Intuition, Intelligenz und Erfahrung" und gesteht dann ein, doch wenig darüber zu wissen, "was in dieser Hinsicht in der Mutter vorgeht" (SPITZ, 1972,145,157). Die Gründe für diese besondere mütterliche Befindlichkeit sind ausgeklammert: Mütterlichkeit ist irgendwie da oder sie fehlt im Umgang mit dem Kind. SPITZ geht weiterhin davon aus, daß eine Mutter über ihre Mütterlichkeit nichts weiß, sie ist eben so - sozusagen als eine Art von Seinsqualität mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Entwicklung des Kindes (vgl.a.a.0., 141). Den gleichen Sachverhalt spricht Magret MAHLER (1975) mit der Kategorie der "Entwicklung zur Mütterlichkeit" an, bei Alice BALINT heißt es "triebhafte Mütterlichkeit" (1939,44), und WINNICOTT (z.B.: 1983,157ff.) bezeichnet ihn als "primäre Mütterlichkeit". Diese "primäre Mütterlichkeit" ist als besondere "seelische Einstellung" definiert, die zu "einem Zustand erhöhter Sensibilität während und besonders gegen Ende der Schwangerschaft" führt Dieser Zustand "hält nach der Geburt des Kindes noch mehrere Wochen an." Er ist einem "Zustand des Entrücktseins oder Dissoziiertseins vergleichbar". "Wenn sich die Mütter davon erholt haben, können sie sich kaum noch daran erinnern." (a.a.O., 1983,157). Die der Mutter auf dieser theoretischen Grundlage zugewiesene Bedeutung für einen gelungenen Entwicklungsprozeß des Kindes ist verbunden mit ganz erheblichen lebenspraktischen Anforderungen: "Sie (die Mütter, G.M.) müssen sauber, ordendich, pünktlich, ruhig und genau sein", flexibel und geduldig auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, "ihre Pflichten mit Hingabe erfüllen,... ein warmes Herz in Erwiderung der Affekte des Kindes und einen kühlen Kopf in den ständigen Notsituationen des kindlichen Alltags bewahren".(A.FREUD, GW, V, 1501). Oder, wie Magret MAHLER es ausdrückt, sind Indikatoren optimaler Mütterlichkeit das "ständige Eingestelltsein auf die Bedürfnisse des Kindes" (MAHLER, 1975,92), die "kontinuierliche emotionale Verfügbarkeit" (ebda., 104) u.a.m. Nun wird sicherlich niemand gegen eine möglichst optimale Betreuung oder auch Bemutterung von Kindern etwas einwenden wollen. Dennoch beschleicht einen eine geradezu beängstigende Beklemmung bei einer in dieser Dichte aus den psychoanalytischen Theorien zusammengestellten Kennzeich268

Leiden an der Unerfüllbarkeit... nung von Mütterlichkeit Dies läßt sich n.u.A. auf zwei miteinander zusammenhängende Aspekte zurückführen: Wesentlich ist die in der theoretischen Formulierung der Fragestellung vollzogene grundsätzliche Herauslösung der Mutter-Kind-Beziehung aus ihren sonstigen personalen und materiellen Lebensbezügen. Die damit einhergehende Reduzierung und Verschiebung von kindlichen Entwicklungsnotwendigkeiten auf die Person der Mutter führt sozusagen zwangsläufig zur Formulierung von - noch besonders zu charakterisierenden - Normen, an denen die "Optimalität" einer "guten Mutter" bzw. die Mängel einer "schlechten Mutter" beurteilbar werden. Das diesen Normen implizite unterdrückerische Moment liegt in der Unerreichbarkeit und Unerfüllbarkeit der darin zum Ausdruck kommenden Ideale durch die Mutter, weil 1. durch die Personalisierung der kindlichen Entwicklungsbedingungen in der Mutter dieser die Verantwortung für alle Lebensbedingungen, die eine gelungene kindliche Entwicklung ermöglichen, angelastet wird. Der springende Punkt dabei ist, daß 2. die - theoretisch isolierte - Mutter weder diese Bedingungen kontrollieren noch über sie verfügen kann. Die Maßstäbe für die (eigene undfremde)Beurteilung ihrer Mütterlichkeit werden durch ihre Abkopplung von den realen Lebensverhältnissen hinsichtlich ihrer konkreten Existenzweise abstrakt Ihnen soll in der bloßen Interaktion mit dem Kind durch die Mutter Geltung verschafft werden. Das Scheitem-müssen an diesen Allmachtszumutungen erahnt auch Anna FREUD, wenn sie bemerkt, daß von Müttern "eine Fülle von Fertigkeiten und Tugenden verlangt" werde, "wie sie nicht oft in einem menschlichen Individuum zusammentreffen" (ebd., 1501). Dennoch folgt daraus keine Relativierung der psychoanalytisch begründeten - Funktions- und Aufgabenzuweisung des Mutterdaseins, was sich zuspitzt (aber durchaus repräsentativ für die einschlägige Theorienbildung) an einem Zitat von Anna FREUD verdeutlichen läßt, die in ihrem Aufsatz mit dem Titel "Mütterliches Wissen und Wissenschaft für die Mütter" warnte: "Wenn eine Mutter zuviel an ihr eigenes Leben denkt, an ihren Beruf, ihre Zukunftspläne und selbst ihre Ehe, dann fühlt sich das Kind verkürzt und vernachlässigt und (sie!) reagiert mit psychischen Störungen." (FREUD, A., GW,Bd.V,1502). Den Spiegel für die erfolgreiche Realisierung der an die Mutter gerichteten Anforderungen stellt also das Kind selbst dan Seine Entwicklung und Befindlichkeit sind der Indikator und Beweis, der Aufschluß über den Mütterlichkeitsaufwand gibt (Man kann sagen, daß als dieser Spiegel das in den psychoanalytischen Mutter-Kind-Theorien verdrängte Subjekt Kind nun wieder in die Forschung zurückkehrt.) Der "optimalen", "guten" Mutter entspricht eine "gelungene" bzw. wie allenthalben formuliert wird, eine "normale" Entwicklung des Kindes (vgl. z.B.: FREUD, A.,ebda.,1503; MAHLER, a.a.O.,13, 269

Gabriele Minz 20, etc.)» wobei auch hier - ebenso wie bei der Klassifizierung der "guten Mutter" - die Bestimmung von "Normalität" sehr schwammig ist Die begriffliche Schwammigkeit und die Unerreichbarkeit der von der Mutter zu realisierenden Ideale im Verhältnis zu ihrem Kind sind - im Verein damit, daß ja die Notwendigkeit emotionaler Absicherung von Kindern unstreitig ist (s.u.) eben Aspekte ihrer normativen Wirklichkeit Und unabhängig davon, daß in der Fokussierung auf die Dyadenstruktur gedanklich von der "restlichen" Umwelt abstrahiert wird, schlägt in der theoretischen Fixierung auf die MutterKind-Einheit als zunächst einzigem Weltbezug des Kindes die Normativität der Mutterbeurteilung auch auf das Kind durch. Auch es hat in der o.a. Weise bestimmten Erwartungen, Zielsetzungen, die an es herangetragen werden, zu genfigen (vgl. MARKARD/MINZ, 1985,80ff.; ich komme darauf zurück). Die Unmöglichkeit, diesen sozusagen Vom Leben losgelösten' Erwartungen zu entsprechen und zu entkommen, ist auch eine Voraussetzung für das latente schlechte Gewissen, für die Schuldgefühle, die jede Mutter kennt Diese sind die subjective 'Antwort* auf die in unseren Verhältnissen einer einzelnen Person zugewiesenen typischen mütterlichen Anforderungsstruktur. Die Alternative "gute" oder "schlechte" Mutter, welche an dem Kind sozusagen "sichtbar" wird, paßt sich in die interaktive Konstruktion der Mutter-KindDyade zwanglos ein. Sie verkommt zu einer 'Schwarz-Weiß-Schablone', weil sie das Wesentliche nicht enthält: Weder die Mutter noch das Kind lassen sich auf bloße Interaktion beschränken. Sie leben und entwickeln sich in Verhältnissen, durch die sie zwar bestimmt werden, auf die sie aber auch in einem bestimmten Ausmaß Einfluß gewinnen können (wollen). In dem Maße, wie sie sich selber in ihre Lebensverhältnisse einmischen, können sich ihre jeweilige Abhängigkeit und Ausgeliefertheit vermindern. Wird diese Möglichkeit des Menschen theoretisch und praktisch negiert, bleibt, bezogen auf unseren Zusammenhang, von dem Bewertungsrahmen "gute/schlechte" Mutter nichts weiter übrig als eine erdrückende Etikettierung: Fällt nämlich das Kind aus dem 'Rahmen' "normaler" Entwicklung hat die Mutter in der Interaktion mit ihrem Kind versagt, sie ist dann keine "gute" Mutter mehr, sondern das Gegenteil: eine "schlechte". Es kommt demnach jeder Frau, die ihre Möglichkeit Mutter zu werden realisiert, eine Aufgabe zu, die man nur als sisyphosartig bezeichnen kann: ein nie beendbares Ringen um Bestleistungen am Kind! Dies mag zunächst zur Darstellung psychoanalytischer Theorien zum Mutter-Kind-Verhältnis genügen. Ich wollte mit charakteristischen Aussagen psychoanalytischer Mutter-Kind-Theorien aufweisen, daß - unter Berufung auf wissenschaftliche Publikationen -, die Auffassung vertreten werden kann, daß tatsächlich fast alles, was aus jedem von uns wird, von dem Tun und Lassen der Mutter abhängt: Der Charakter des späteren Erwachsenen, seine Bezie270

Leiden an der Unerfüllbarkeit... hungs- und Liebes-, kurz seine gesamte psychische Lebensfähigkeit (Bei dieser riesigen Verantwortung erscheint es geradezu tröstlich, daß nach diesen Theorien jeder ("normalen") Frau, sobald sie Mutter wird, die Fähigkeit gegeben ist, ein Kind großzuziehen, wenn sie sich einfach dem hingibt, was in ihr ist.) Wenn ich die Ausführungen der FREUDnachfolger zum Mutter-KindVerhältnis nun unter dem Aspekt analysiere, der meine Ausgangsfragestellung bestimmte und die von FREUD als Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft gefaßt wurde, so möchte ich zusammenfassend folgendes festhalten: Nach Auffassung der psychoanalytisch orientierten Mutter-Kind-Theoietiker wird die Welt, in der sich "normales" Gedeihen, "normale" Entwicklung des Kindes vollzieht, auf die Person der Mutter verkürzt D.h. gleichzeitig, daß auch die Frau auf ihre Mutterrolle beschränkt wird. Damit reduziert sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf die bloße Interaktion von Mutter und Kind. Der Mutter fällt dabei die Aufgabe zu, den von FREUD herausgearbeiteten nicht überwindbaren Widerspruch zwischen menschlicher Bedürfnisbefriedigung und versagender Gesellschaft abzumildern, wenn nicht gar aufzuheben: Das Kind wird durch die Mütter mit den Ansprüchen der Gesellschaft versöhnt und damit gesellschaftlichen Forderungen angepaßt. Die Fragestellung FREUDs, die subjektiven Lebensmöglichkeiten und -behinderungen in seinem Lebenszusammenhang zu analysieren, erfährt eine pädagogische Wendung, eine Folge der o.a. (vgl. S.5) Veränderung des Untersuchungsgegenstandes vom "Kind im Erwachsenen" zum sich in direkter Abhängigkeit von mütterlichen Leistungen sich vollziehenden Entwicklungsprozeß des Kindes. Darin kommt nach meiner Auffassung eine einschneidende Zurücknahme des emanzipatorischen Impetus psychoanalytischer Erkenntnismöglickeiten zum Ausdruck. Die auch von FREUD erfahrene und theoretisch gefaßte, wenn auch formbestimmt als bürgerliche - Unterdrückung der Ansprüche des Individuums an die Gesellschaft wird von seinen Nachfolgern versöhnlerisch zurückgenommen. Diese Entschärfung der Psychoanalyse läßt sich besonders an der erheblich reduzierten Bedeutung des Ödipuskomplexes für die kindliche Entwicklung verdeutlichen. Die ödipale Konfliktbewältigung wird praktisch ersetzt durch die mütterlichen Leistungen. Es ist nun nicht mehr das Kind, welches die Anpassungsleistung an die gesellschaftlichen Verhältnisse in dem mit radikaler Unterdrückung verbundenen ödipalen Konflikt meistert, sondern es ist die Mutter, die diese Anpassung mehr oder weniger harmonisch an dem Kind vollzieht. Ich hatte vorhin darauf verwiesen, daß zentrale Dimensionen der MutterKind-Theorien wie "optimales Stillen", "liebevolle Fürsorge", "ständige emo271

Gabriele Minz tionale Verfügbarkeit", "ständiges Eingestelltsein auf die Bedürfnisse des Kindes" wegen ihrer Loslösung aus den realen Lebensbezügen normativen Charakter bekommen müssen. Ein zentraler Aispekt der normativen Wirksamkeit besteht darin, daß mit ihnen sebstverständliche Erwartungen an den alltäglichen Umgang mit Kindern (innerhalb unseres Kulturkreises) aufgegriffen werden: natürlich sollen Kinder ausreichend gewickelt, gefüttert werden, und das auch noch liebevoll, es soll mit ihnen gespielt werden, sie sollen die Zuneigung ihrer Eltern, ihrer Großeltern etc erfahren u.v.a.m. Die Fassung dieser - wenn man so will - 'alltäglichen Banalitäten* als bloße Eigenschaften von "guten" Müttern lassen diese zu Kriterien werden, nach denen Mütter von anderen, sozusagen von außen, be-und verurteilbar werden. Die ideologische Funktionalität dieser Dimensionen zeigt sich u.a. daran, daß sie je nach politischer Zweckmäßigkeit beliebig aufgegriffen werden können, und auch aufgegriffen werden, wie sich an verschiedenen politischen Maßnahmen und Gesetzen, öffentlichen Diskussionen auf Parteitagen u.ä. zeigen läßt (vgl. bspw. das sogen. BLÜMpapier). Mit dieser Begrifflichkeit wird nicht nur die Frau auf die Mutterrolle zurechtgestutzt, sondern darüberhinaus auch noch ein wenn auch diffuses - Bild gezeichnet, wie eine "gute" Mutter zu sein hätte, durch deren Aktivitäten eine "normale" Entwicklung des Kindes gelingt Die Bestimmungen von "guten" oder "schlechten" Müttern sind auch offensichtlich älter als ihre psychoanalytische Fassung und verdanken ihre Herkunft und Wirksamkeit ihrer Verbreitung im Alltag und erfahren, wenn man so will, ihre wissenschaftlichen Weihen durch ihre Inanspruchnahme innerhalb der psychoanalytischen Mutter-Kind-Theorien. Diesen Gedanken möchte ich nun weiter ausführen. Die These, daß zentrale begriffliche Dimensionen psychoanalytischer Mutter-Kind-Theorien dem Alltag entnommen und in diesen Theorien lediglich wissenschaftsförmig verdoppelt sind, verweist auf einen weiteren Aspekt, der als implizite Voraussetzung dort eingeht: Das Konstrukt der Mutter-KindDyade kann empirisch nur dann existieren, die Mutter nur dann ihre "Hingabe", ihr "ständiges Eingestelltsein" etc auf ihr Kind entfalten, wenn für ihre materielle Abgesicherheit gesorgt ist Soweit dieser Umstand überhaupt explizit berücksichtigt wird, wird diese Absicherung von Mutter und Kind innerhalb einer "normalen Familie" (vgl. bspw. MAHLER, 1975,44f.) durchgängig mindestens implizit - durch den Vater vorausgesetzt Damit wird deutlich, daß für eine gelungene bzw. "normale" Entwicklung des Kindes nicht nur die "gute Mutter" eine zentrale Bedingung, sondern für die Mutter-Kind-Einheit selbst die uns bekannte Kleinfamilie vorausgesetzt ist. Mit "normaler Familie*' ist gemeint, daß die Mutter für die Reproduktionsleistungen im 'Innenverhältnis' 272

Leiden an der Unerfüllbarkeit... verantwortlich ist und der Vater diese durch seine Arbeitstätigkeit außerhalb der Familie gewährleistet. Die vorherrschende Argumentationsfigur, in der diese Auffassung innerhalb psychoanalytischer Mutter-Kind-Theorien zum Ausdruck kommt, begründet dies *ex negativo': Entwicklungsstörungen von Kindern werden auf das Fehlen einer "intakten" Familie (MAHLER, a.a.O., 45) und in dieser auf eine fehlende bzw. "pathologische" Mutter-Kind-Beziehung zurückgeführt (vgl. z.B.: SPITZ, 1972, 310). Ich möchte nun diese Ex-negativo-Argumentation' an einer Arbeit von Anna FREUD verdeutlichen, in der sie sich mit den Folgen besonders extremer Lebensbedingungen von Kindern auseinandergesetzt hat. In unserem Zusammenhang werde ich mich dabei vor allem auf die o.a. Argumentationsfigur als methodischem Weg konzentrieren, durch den die im Alltag vorfindlichen Organisationsformen von Familie in die Theorien eingehen. (Die inhaltliche Kritik kann hier nur angedeutet werden.) Anna FREUD hat, wie sie es selbst formulierte, an einem "Experiment" teilgenommen, das sie als "Ergebnis verhängnisvoller, schicksalshafter äußerer Umstände" (FREUD,A., 1982, 165) bezeichnete, das ihr aber ermöglichte, besonders pointiert "normale" Entwicklungsbedingungen und Verhaltensweisen von Kindern gegenüber den Auswirkungen nicht-normaler Entwicklungsbedingungen herauszuarbeiten. Sie beteiligte sich an der Betreuung von sechs etwa dreijährigen deutsch-jüdischen Waisen, die nach dem Krieg aus dem KZ Theresienstadt in einem Waisenheim der "Hampstead Nurseries" gemeinsam untergebracht werden konnten. Die Kinder hatten ihre Mütter durch die Nazis verloren, sie wußten nicht, was eine Tamilie1 bedeutete. Sie kannten nur das Leben in einer Gruppe innerhalb eines Lagers bzw. einer großen Institution und waren vor ihrer Ankunft in Theresienstadt an verschiedenen anderen Orten gewesen. Erst dort trafen die sechs zusammen. In dem neuen Heim wurde versucht, für die Kinder eine familienähnliche Situation zu schaffen, mit den Erziehern als Mutterersatz. Als besonders bemerkenswert hebt Anna FREUD die "ungewöhnliche emotionale Abhängigkeit der Kinder voneinander" und "das fast vollständige Fehlen von Eifersucht und Rivalität" hervor, Eigenschaften, "die sich normalerweise zwischen Brüdern und Schwestern oder in einer Gruppe von Gleichaltrigen aus normalen Familien entwickeln" (FREUD, A., 1982, 173). Sie erklärt die warme und spontane Beziehung der Kinder untereinander, das Fehlen von Neid etc. durch das Fehlen einer Mutterfigur bzw. eines unbewußten frühen Mutter- oder Vaterbildes. Normalerweise, und dabei bezieht sie sich auch auf Ergebnisse der Kinderanalyse und der Rekonstruktion aus Erwachsenenanalysen, seien Geschwisterbeziehungen denen zu den Eltern untergeordnet und beherrscht von der Rivalität um die Liebe der Eltern (vgl. a.a.O., 214f.). 273

Gabriele Minz In dem hier wiedergegebenen Bericht stecken einige Voraussetzungen: Obwohl die in unserem Gesellschaftssystem typische Lebensform, in der Kinder aufwachsen, die bürgerliche Kleinfamilie, als massenhaft verbreitete Form noch nicht einmal 100 Jahre alt ist, gilt sie als das einzige Lebensumfeld, in dem ein Kind sich "normal" entwickeln kann. Die im Alltag vorfindliche Realität einer Familie mit Kind(ern) und einer Mutter- und Vaterfigur wird so in der psychoanalytischen Theorienbildung als universale Voraussetzung verkannt. Ich hatte schon weiter oben ausgeführt, daß durch die Ausklammerung anderer Lebensbezüge des Kindes sein Verhältnis zur Welt nur personal und die Beziehung zu Erwachsenen bloß interaktiv gefaßt wird. Demzufolge können alle Aktivitäten, Gefühle des Kindes sich nur auf die Personen der Eltern bzw. in der frühen Kindheit nur auf die Person der Mutter beziehen. Jede weitere Person, etwa ein Geschwister beeinträchtigt diese Beziehung, da nun die (als notwendig angenommene ungeteilte) Zuwendung der Mutter auf mehrere Kinder aufgeteilt werden muß. Die emotionale Reaktion des Kindes ist wie o.a. Neid, Rivalität etc. Die theoretische Nichtberücksichtigung anderer Weltbezüge hat auch zur Folge, daß emotionale Reaktionen des Kindes (wie die der Eltern) nicht als Bewertungen realer (historischer) Situationen gefaßt werden, sondern als "normale" - im Sinne von überhistorisch vorkommenden - Eigenschaften, die mühsam mit Hilfe der Erziehung den Kindern ausgetrieben werden müssen. Gegenüber den wirklichen Lebenverhältnissen kommen hier Gefühle und Eigenschaften des Kindes (eines bestimmten Alters) nur abstrakt vor. Berücksichtigt man aber systematisch die Lebensverhältnisse, so werden etwa die Verhaltensweisen der von Anna FREUD so eindringlich beschriebenen "KZKinder" sehr verständlich. Sie haben sich, bezogen auf ihre Lebensumstände, wenn man so will, völlig 'normal* verhalten. Das Mißtrauen, das sie den Erwachsenen entgegenbrachten, war offenbar aus ihren Erfahrungen heraus begründet und der starke emotionale Zusammenhalt mit ihren gleichaltrigen Leidensgefährten, die solidarischen Beziehungs'muster1 erwiesen sich für ihre Lebenssituation als adäquate, funktionale Antwort. Eigenschäften wie Neid, Eifersucht und Konkurrenz als "normale" Marksteine kindlicher Entwicklung bzw. deren Fehlen als Hinweis auf problematische Lebensbedingungen mit der Folge schwerwiegender Schäden für die kindliche Entwicklung darzustellen, ist eben um die realen Lebensverhältnisse und deren gesellschaftliche Form verkürzt Unbestritten ist, daß Menschen, die eine entsetzliche Kindheit hatten, darunter zu leiden haben. Diese Erkenntnis schließt aber nicht ein, daß die "herrschende Vorfindlichkeit" mit den positiven Bestimmungen darüber gleichzusetzen wäre, wie denn nun konkret Ver274

Leiden an der Unerfüllbarkeit... hältnisse auszusehen hätten, die als Maßstäbe dienen könnten. Die postulierte Normalität der dargestellten Beziehungsmodi von Neid etc. erscheint somit als ein grundsätzliches und eigentlich nicht wirklich aufhebbares Gegeneinander in Beziehungen, das nur durch erzieherische Aktivitäten gemildert werden kann. Wir hatten dies weiter oben als allgemeine, in den psychoanalytischen MutterKind-Theorien enthaltene Funktion der Mutter herausgearbeitet. Charakteristika wie Neid, Konkurrenz u.ä. stellen aber n.u.A. (vgl. bspw. HOLZKAMP, 1983, 372ff.) keineswegs normale - im Sinne von anthropologischen Konstanten - Eigenschaften bzw. Beziehungsverhältnisse dar, sondern stehen für jene emotionalen Qualitäten, durch die in der Kritischen Psychologie Instrumentalverhältisse in ihrem emotionalen Aspekt gefaßt werden: Beziehungen, in denen sich die Beteiligten darauf zurückgeworfen sehen, kurzfristige Glücksmöglichkeiten, ein bißchen Bedingungsverfügung auf Kosten von anderen für sich einzuheimsen. Ebenso wie die historisch konkreten Familienverhältnisse werden in den kritisierten theoretischen Vorstellungen auch Verhaltensweisen zwischen Menschen, wie wir sie alltäglich vorfinden, nicht als prinzipiell überwindbare subjektive Erscheinungsformen bestimmter historischer Verhältnisse analysiert, son4ern als solche einfach in die Theorien über das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern übernommen. Der von FREUD abgebildete Widerspruch zwischen der Realisierung individueller Glücksmöglichkeiten und der Versagung in unserer bürgerliche Gesellschaft ist, wie anfangs gesagt, durchaus angemessen. Er hat das Leiden des einzelnen Individuums an diesem Zustand radikal herausgestellt Seine Nachfolger hingegen haben in ihren Theorien den Versuch unternommen, den Menschen mit diesem Widerspruch zu versöhnen, indem sie in der Mutterfigur eine Instanz konstruiert haben, die in der Lage sei, Glücks- und Lebenserfüllung auch unter den herrschenden Verhältnissen zu gewährleisten. Die ideologische Funktionalität der Akzeptanz dieser Allmachtszumutung ist offensichtlich: Solange die Illusion aufrecht erhalten werden kann, daß persönliche befriedigende Lebensverhältnisse unabhängig von den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen verwirklichbar sind, werden diese nicht angetastet Übrig bleiben die oben schon erwähnten sisyphosähnlichen Anstrengungen im kleinen privaten Lebensbereich mit den dargestellten Folgen für die zwischenmenschlichen Beziehungen und Erziehungsverhältnisse. Diese Sichtweise enthält auch die 'Garantie' für Mißerfolge und Unbefriedigtsein, die dann - mit den entsprechenden Schuldzuschreibungen, dem schlechten Gewissen etc. - nur als persönliches Unvermögen erklärt werden können, was systematisch (jede) zwischenmenschliche Beziehung zersetzt. In dem Maße, wie dies durchschaut wird, kann man jedoch begreifen, daß man zwar diesen 275

Gabriele Minz Verhältnissen nicht entkommen, aber für andere Verhältnisse kämpfen kann. Für Verhältnisse, unter denen Fremd- und Selbstunterdrückung, Konkurrenz usw. nicht mehr zur Erlangung eines Restes von BedingungsVerfügung subjektiv funktional sind, unter denen man es sich also "leisten" kann, nicht mehr auf Kosten anderer zu leben. Damit habe ich meine eigene Position in der Kritik an den dargestellten Positionen herausgearbeitet. Nach der Alternative befragt, wie man es denn besser machen könne, wie man vermeiden könne, daß solche restriktive Beziehungsformen auch die eigenen, persönlichen Verhältnisse dominieren, können n.u.A. keine "richtigen", die jeweils konkreten Lebensverhältnisse nicht berücksichtigenden (und letztlich wieder normativen) Konzepte angegeben werden. Nicht die platte Umkehrung bzw. Negierung von die Beziehungen belastenden Eigenschaften sind das Gegenteil zu den geschilderten instrumenteilen Formen, sondern sich selber immer wieder klar zu machen, daß jeder Mensch, also auch "ich", sich sowohl zu seinen Lebensumständen als auch zu sich selbst bewußt verhalten kann. Dies ermöglicht den mitunter auch einmal erfolgreichen Versuch, den Teufelskreis instrumenteller Verhaltensmuster aufzubrechen und im gemeinsamen Bemühen ein Mehr an Verfügung über die Bedingungen zu erlangen, die eine Lösung von den die Beziehung bedrängenden Problemen ermöglichen könnten. Das heißt in unserem Zusammenhang, Eigenschaften und Verhaltensmuster nicht als gegeben, als normal hinzunehmen, sondern diese als Antwort, als emotionale Bewertungen bedrohlicher Situationen zu begreifen zu versuchen und damit die Basis für eine wirkliche Unterstützung des Kindes zu schaffen, (vgl. hierzu insbes. ULMANN, G., 1987, Über den Umgang mit Kindern). Damit ist die Richtung von dem angedeutet, was wir in der Kritischen Psychologie im Widerpart zu Instrumentalverhältnissen Subjektbeziehungen nennen. Die Anerkenntnis des Motors subjektiver Entwicklung, nämlich die Not subjektiver Widersprüche und Abhängigkeiten zu wenden, was für alle involvierten Beteiligten sozusagen lebenslänglich gilt, ermöglicht die im Alltag nahegelegte und in der Psychoanalyse wissenschaftlich gefaßte bloß interaktive Eingeschränktheit menschlicher Beziehungsverhältnisse systematisch zu überwinden.

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Leiden an der Unerfüllbarkeit...

Anmerkungen 1) Sofern in der jüngeren psychoanalytischen Literatur auf Probleme der auf KinderbetreuungreduziertenFrauen eingegangen wird (vgl.z.B.: CHODOROW, 1985), werden die dort erhobenen Forderungen nach Mitarbeit der Männer in Haushalt und Kindererziehung u.a.m. nicht mit den vertretenen theoretischen Auffassungen vermittelt, sondern sind diesen als - zwar richtige - Forderungen lediglich hinzugefügt. 2) Der psychoanalytische Terminus Objekt bezeichnet ganz allgemein Personen und Dinge, auf die die Libido des Subjekts (in unserem Zusammenhang: die Libido des Kindes) gerichtet ist.

Literatur: BALINT,A., 1939, Liebe zur Mutter und Mutterliebe. In: Intern. Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago, 24, 33-48. BLÜMpapier: Familie, Freiheit, Zukunft. Leitsätze und Entschließungen der 19.CDABundestagung 9.-11.10.1981, Mannheim. CHODOROW^., 1985, Das Erbe der Mütter. München. ERNST/LUCKNER, 1985, Stellt die Frühkindlichkeit die Weichen? Eine Kritik an der Lehre von der schicksalhaften Bedeutung erster Erlebnisse. Stuttgart. FREUD,A., 1980, GW Bd.V. München. FREUD,A., BURLINGHAM.D., 1982, Heimatlose Kinder. Fankfuit/M. FREUD,S., 1942, FGW, n/Ol. London. HOLZKAMP,K., 1983, Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M. LEHR.U., 1978 (2.Aufl.), Die Rolle der Mutter in der Sozialisation des Kindes. Darmstadt. MAHLER,M.S., 1980 (1975), Die psychische Geburt des Menschen. Frankfurt/M. MARKARD/MINZ, 1985, Variablenpsychologische und subjektwissenschaftliche Erforschung der Mutter-Kind-Beziehung. In: BRAUN u.a., 1985, Geschichte und Kritik der Psychoanalyse, 70-96. Marburg. SPITZ.R.A., 1972, Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-KindBeziehung. Stuttgart. ULMANN,G., 1987, Über den Umgang mit Kindern. Frankfurt/M. WINNICOTTJD.W., 1983, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. München.

277

Morus Markard Probleme und Konzepte Aktualempirie 1.

subjektwissenschaftlicher

Vorbemerkung

Wenn es um methodische Konzepte der Kritischen Psychologie geht, ist dabei eine Kritik an den Methodenvorstellungen und der Forschungspraxis der im weitesten Sinne traditionellen Psychologie mitgedacht; denn die Kritik an der traditionellen Psychologie (aus der heraus sich die Kritische Psychologie entwickelte) betraf ja immer auch deren Methodologie. Aber nicht nur aus diesem Grunde ist es sinnvoll, daß ich die Überlegungen der Kritischen Psychologie zu angemessenen psychologischen Methoden (es geht also nicht um irgendwelche Sondermethoden der Kritischen Psychologie, sondern um Methoden der Psychologie) mit einer Bilanz der Kritik der herkömmlichen und dominierenden methodischen Vorgehensweisen verbinde. Vielmehr enthalten diese Vorgehensweisen sowohl Erkenntnisansprache, an denen sich auch den herkömmlichen gegenüber alternative Methoden messen lassen müssen, als auch jene Verkürzungen, die durch alternative Methoden überwunden werden sollen. Die vorfindlichen Methoden sind also, wenn zwar nicht das Maß, so doch Bestandteil des historischen Maßstabes, an dem methodische Fortschritte in der Psychologie auszuweisen sind. Dies wiederum macht deutlich, daß es weiterhin erforderlich ist, in unsere Überlegungen auch jene methodischen Kritiken einzubeziehen, die sowohl innerhalb der traditionellen Psychologie an dem diese beherrschenden "mainstream" als auch von anderen Positionen aus geübt wurden. Angesichts dar Begrenzung eines mündlichen Vortrags kann das natürlich nur bedeuten, jeweils bloß die Hauptlinien der erwähnten Positionen nachzuzeichnen und so nur in groben Strichen den Hintergrund zu skizzieren, vor dem die methodischen Vorstellungen der Kritischen Psychologie verdeutlicht werden sollen.

Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in: Forum Kritische Psychologie Bd.20, Argument-Verlag Berlin 1988. 278

Probleme und Konzepte ... 2.

Kritiken am Primat der Methode vor dem Gegenstand

Wenn jemand die Raumtemperatur messen will, so ist zu erwarten, daß er zu diesem Zweck kein Lineal benutzt; ebenso wird sich kaum jemand ein Thermometer ins Auto hängen, in der Hoffnung, daran die Fahrtgeschwindigkeit ablesen zu können. Offenkundig setzt methodische Erfassung von Sachverhalten ein bestimmtes Vorwissen über bestimmte Charakteristika dieser Sachverhalte voraus, das Methoden bzw. methodische Instrumente überhaupt erst anwendbar macht. Andererseits kann man bestimmte Charakteristika von Sachverhalten mit dafür angemessenen Methoden feststellen, ohne daß man damit wesentliche Dimensionen erfaßt hätte. Was ist zum Beispiel an Einsicht über Kunstwerke gewonnen, wenn ich weiß, daß der "Denker" von RODIN weniger hoch, leichter und leitfähiger ist als der "David" von MICHELANGELO? Diese einfachen Beispiele sollten nur darauf aufmerksam machen, daß es eigentlich doch ziemlich erstaunlich ist, wenn der sog. mainstream, also die materiell, institutionell und ideologisch dominierende Strömung der akademischen Psychologie, sich nicht um eine Bestimmung seines Forschungsgegenstandes schert, zumindest aber nicht Methodenfragen von Gegenstands£ragen abhängig macht Besonders deutlich hat dies am Beispiel der Sozialpsychologie unter der Überschrift "Verweigerung ein» Definition der Sozialpsychologie" Martin IRLE (1975,13) in seinem Lehrbuch kundgetan: Ihr "Gegenstand" sei nicht bestimmbar. "Was in der Sozialpsychologie betrieben wird, ist durch Theorien definierbar, die derzeit als sozialpsychologische Theorien bezeichnet werden." (ebd. 16, im Original z.T. herv.) Danach gibt es also keine verbindliche, d.h. am Anspruch auf Wahrheit orientierte begriffliche Bestimmung des Gegenstands der Psychologie; wohl aber gibt es für das psychologische Treiben ein mehr oder weniger verbindliches Corpus methodischer Vorstellungen, der - mit CP. GRAUMANN - im "Primat der experimentellen Methodik" (1979,285f.) am prägnantesten zum Ausdruck kommt: Damit soll der Konzeption nach unter Ausschluß oder Kontrolle von störenden Faktoren das Wirken von Bedingungen (unabhängige Variablen) auf Erleben und Verhalten (abhängige Variablen) mit standardisierten, quantitativen Verfahren faßbar gemacht werden. In Anlehnung an den Symbolischen Interaktionisten Herbert BLUMER nennen wir diese Herangehensweise "variablenpsychologisch". Der genannte Primat der experimentellen Methode in der Psychologie ist, wie nun leicht ersichtlich, gleichzeitig Primat der Methode vor dem Gegenstand. Anders formuliert: Was immer es ist, was methodisch »faßt wird die Wissenschaftlichkeit des Unternehmens Psychologie erweist sich gemäß dieser Auffassung daran, daß es - vor allem experimentell - methodisch exakt erfaßt ist Wieweit dieses Selbstverständnis der Psychologie nun selber in eine 279

Morus Markard Krise geraten ist, kann ich hier nicht diskutieren; vielmehr will ich hier nur drei Stränge der Kritik daran skizzieren. Der erste ist der unter dem Namen "Sozialpsychologie des Experiments" bekannt geworden; er wendet die dem Alltag entlehnte Auffassung, daß der Mensch ein bedeutungssuchendes Wesen sei, auf den Spezialfall menschlicher Interaktion an, bei dem dieses Wesen nicht unkontrolliert sein Unwesen treiben darf, auf das Experiment nämlich. Es sei keineswegs ausgemacht, sogar eher unwahrscheinlich, daß Versuchspersonen nur instruktionsgemäß denken und fühlen, so daß die Prüfung von Hypothesen strukturell mit de* Gefahr nur scheinbarer Bestätigungen und Widerlegungen belastet sei. Ein einfaches Beispiel: Der Hypothese nach soll eine angsterzeugende und reich bebilderte Botschaft (über grauenvolle Kariesauswüchse) eine Einstellung (zum - häufigen Zähneputzen) positiv verändern. Kann aber eine Bestätigung dieser Hypothese nicht auch auf die Kooperativität der Vp zurückgehen und eine Widerlegung darauf, daß die Vp nicht als suggestibel erscheinen will? Man kann aus dieser Art Problemstellung auf der einen Seite die Konsequenz ziehen, daß die experimentelle Methode - jedenfalls für viele Bereiche - in der Psychologie gegenstandsunangemessen ist, oder daß die Erwartung einer ausreichenden Kontrolle solcher Störprozesse zumindest unrealistisch ist; auf der anderen Seite kann man die Konsequenz ziehen, daß man weitere, besonders raffinierte experimentelle Kontroll-Arrangements braucht, um die Bedeutungssuche der Vp ins Leere laufen zu lassen, sie als Störvariäble kontrollieren zu können. Der zweite - in seinen theoretischen Ausprägungen vielfältige - Strang ist der, den man unter dem Kennwort "qualitative Methodendiskussion" fassen könnte. In unserem Argumentationszusammenhang interessiert hieran die Kritik, daß gegenüber der Komplexität, Vieldeutigkeit und Sinnhaftigkeit menschlichen Erlebens und Verhaltens die mainstream-Methoden reduktionistisch seien, an diesen Qualitäten des Psychischen also vorbeigehen müßten. So kann man ja leicht nachvollziehen, daß von alltäglichen Gesprächen über zunehmend strukturierte Interviews bis hin zu standardisierten Fragebogen die eigentümliche Qualität intersubjektiver Verständigung "reduziert" wird, also dafür ggf. wesentliche Aspekte verlorengehen. Die dritte Forschungstradition, die ich nennen will, ist die der Handlungsforschung, die, im Zuge der Studentenbewegung entstanden, vor allem über soziologische und pädagogische Institutionsanalysen das Prinzip der Einheit von Erkennen und Verändern methodisch auf subjektive und gesellschaftliche Praxis beziehen wollte und einer nur scheinbar gesellschaftlich neutralen Forschung im Elfenbeinturm praktische Parteinahme gegen etwa das bürgerliche Bildungsprivileg entgegensetzen wollte. Der forschungspraktische Prozeß zielt diesem Verständnis gemäß nicht darauf ab, die Wirkung von Bedingungen 280

Probleme und Konzepte ... auf Versuchspersonen zu registrieren oder nur deren Sichtweise "qualitativ" zu eruieren, sondern zu untersuchen, wie die betroffenen Personen gegenüber dem blinden Wirken von Bedingungen zu deren Veränderungen in ihrem eigenen Interesse beitragen und so ein Stück "Selbstbestimmung" realisieren können. 3. Begriffliche Klärung menschlicher Subjektivität als Voraussetzung genstandsangemessener psychologischer Methoden Entscheidend für unsere weitere Argumentation ist nun, daß all den gegenüber dem mainstream kritischen methodischen Vorstellungen auch Vorstellungen über menschliche Subjektivität zugrundeliegen (müssen), von denen aus die Kritik geführt wird, und an denen aufweisbar sein soll, was notwendig verfehlt wird, wenn Menschen der variablenpsychologischen Methodenpraxis unterworfen weiden. Wenn wir allerdings versuchen festzustellen, welche psychologischen Auffassungen genau es sind, aus denen heraus alternative Methodenvorstellungen gewonnen werden sollen, stellen wir fest, daß sie im wesentlichen in der Negation der reduktionistischen variablenpsychologischen Vorstellungen bestehen und sich eher allgemeinen Erwägungen verdanken: Die Sozialpsychologie des Experiments ist, wie schon angedeutet, durchaus mit sozialpsychologischen Kontrollvorstellungen vereinbar. Qualitative Methodendiskussionen führen mit der Aufhebung der Reduktion dorthin zurück, von wo diese ihren Ausgang nimmt - zur Alltagsvorstellung von Subjektivität nämlich, die mir so lange nicht grundsätzlich und systematisch überwunden zu sein scheint, wie an ihre Stelle theoretisch gefaßte allgemeine Subjektivitätspostulate (die allerdings in ihren jeweiligen theoretischen Kontexten zu diskutieren wären) treten. Die Handlungsforschung dagegen ist m.E. mit dem Problem belastet, daß sie eher sozialwissenschaftlich-pädagogisch und institutionsanalytisch orientiert war, daß sie damit ihre Subjektivitätsvorstellungen aus gesellschaftsund bildungspolitischen Kategorien bezog, die nicht zu einer systematischen Konstitution subjektwissenschaftlicher Methoden führen konnten. Solange aber die der geschilderten Methodenkritik zugrundeliegenden Auffassungen die allgemeine und in dieser Allgemeinheit auch alltägliche Vorstellung von Subjektivität als komplex, mehrdeutig, innerlich, nicht systematisch überschreiten, teilen sie faktisch auch die damit verbundene Vorstellung, daß sich Subjektivität und - im Sinne objektiver Erkenntnis Objektivität eigentlich ausschließen, daß also eine wissenschaftlich-objektive Erfassung unreduzierter menschlicher Subjektivität nicht möglich ist. Das bedeutet gleichzeitig, daß methodische Exaktheit als ein Monopol der traditionellen Psychologie letztlich unangetastet bleibt. Vor allem aber ist in 281

Morus Markard dieser negativen Fixierung an den Methodenkanon der Variäblenpsycholpgie eine demgegenüber alternative Methodenentwicklung immer mit dem Problem konfrontiert, daß ihre Vorstellungen letzten Endes defizitär sind, "weicher" gegenüber den "harten" Methoden der Variablenpsychologie. Ich meine nun, daß diese latenten Selbstzweifel der Kritiken des mainstream so lange nicht unberechtigt bzw. nicht aus der Welt zu schaffen sind, wie nicht über eine positive (und über globale Subjektivitätspostulate hinausgehende) Bestimmung des Gegenstands der Psychologie psychologische Forschungsmethoden begründet werden und damit auch nicht nur begründbar wird, daß die "harten" Methoden als eben gegenstands-los nicht erkenntnismächtig sind, sondern auch, daß auf neuer Grundlage objektive Erkenntnisse möglich sind. Anders formuliert: Wir gehen davon aus, daß das Methodenproblem in der Psychologie im Kern das ihrer mangelnden begrifflichen Grundlegung und nur in diesem Zusammenhang zu lösen ist.- Fragen wir nun vom Standpunkt der geschilderten Methodenkritik aus nach Konsequenzen unserer bisherigen Darlegungen, so ist an psychologische Methoden der Anspruch zu stellen, daß sie - allgemein gesprochen - unreduzierter menschlicher Subjektivität angemessen sind, die Mehrdeutigkeit psychischer Erscheinungen aufschlüsseln können und, ohne eben die Betroffenen zu Objekten blinder Wirkungszusammenhänge zu machen, zur Klärung (individueller) emanzipatorischer Praxis geeignet sind. Nur - und das ist die zentrale Frage: Ermöglichen derartigen Ansprüchen genügende Methoden wirklich objektivierbare Erkenntnisse? Immerhin ist der kritisierte Reduktionismus der variablenpsychologischen Bedingungsanalyse ja methodologischer Aspekt der Auffassung, daß sich unreduzierte menschliche Subjektivität und wissenschaftliche Objektivität ausschließen, zu deren Sicherung eben die genannten methodischen Restriktionen notwendig seien, weil eben die "Innerlichkeit", in der unmittelbares Erleben gegeben ist, objektiven methodischen Zugriffen entzogen sei. Wenn also psychologische Methoden sich erstens aus vorgeordneten Bestimmungen zur Beschaffenheit des Gegenstands der Psychologie, eben menschlicher Subjektivität, ergeben sollen und zweitens zur Gewinnung objektiver Erkenntnis dienen sollen, so ist vor dem Hintergrund unserer bisherigen Überlegungen dafür zunächst einmal eine wissenschaftlich tragfähige begriffliche Bestimmung menschlicher Subjektivität vorausgesetzt, die wissenschaftliche Objektivierbarkeit nicht ausschließt. Bekanntlich waren die Forschungen der Kritischen Psychologie in den letzten 15 Jahren in erster Linie darauf gerichtet, eine begriffliche Grundlegung der Psychologie zu schaffen. Da ich hier weder die Resultate dieser Arbeit nachvollziehen noch ihr methodisches Zustandekommen im einzelnen erläutern kann, muß ich mich darauf beschränken, nur die Grundidee des damit 282

Probleme und Konzepte ... verbundenen Herangehens vorzustellen (im folgenden beziehe ich mich z.T. auf einschlägige Ausführungen in MAIERS & MARKARD 1986).

4. "Historische Empirie" als Versuch der Methodisierung psychologisc Begriffsbüdung Ein Ausgangspunkt hierbei war, daß es erstens zwar viele psychologische Begriffe gibt, deren Erkenntnisgehalt und Verhältnis zueinander aber ungeklärt ist, und daß es zweitens nicht möglich ist, dieses Problem über bloßes Definieren zu lösen (vgl. dazu z.B. MARKARD 1984, 50 ff.); ein weiteres Problem bestand in der Unentscheidbarkeit der Frage, was eigentlich an psychischen Erscheinungen biologisch-natürlich ist, was gesellschaftlich und was Ausdruck der jeweiligen historischen Form der Gesellschaft, denn in der Wirklichkeit treten die psychischen Erscheinungen ja immer schon "vermischt" auf. Schließlich kann eine Entscheidung über den Erkenntnisgehalt von Begriffen auch nicht über die gängigen empirischen Prüfungen erfolgen: denn wenn ich z.B. eine lerntheoretische Zusammenhangsannahme überprüfe, habe ich damit Erkenntniswert und Relevanz der Begriffe, in denen die Zusammenhangsannahme formuliert ist, wie etwa "Reiz", "Reaktion" und "Verstärkung", nicht mitüberprüft (vgl. hierzu HOLZKAMP [1977] und die Ausführungen von Wolfgang MAIERS in diesem Band). Wie also hier weiterkommen? Mithilfe einer neuen Art der Begriffsbildung. Um unsere Grundvorstellung davon zu verdeutlichen, will ich mich auf die auch im Alltag vertraute Überlegung beziehen, daß man über gegenwärtig Vorfindliches mehr erfährt, wenn man seine Entstehung und Geschichte untersucht; diese Überlegung ist natürlich auch in der Psychologie, etwa der Entwicklungs- oder Persönlichkeitspsychologie nicht unbekannt. Hier bilden jedoch in der Regel die Grenzen der individuellen Biographie auch die Grenze der Rekonstruktion. Unser historisches Herangehen will nun die allgemein in der Rekonstruktion des Vergangenen beschlossene Erkenntnismöglichkeit des Gegenwärtigen dadurch nutzen, daß man sie nicht nur auf das Verhalten und Erleben im Rahmen der Biographie anwendet, sondern auf dessen Dimensionen, also eben auch auf die Begriffe, mit denen man Verhalten und Erleben erfaßtDabei hat man dann zu berücksichtigen, daß die individuelle Lebensgeschichte, die Ontogenese, selber umfaßt ist von einem historischen Prozeß anderer Größenordnung, der gesellschaftlichen Entwicklung nämlich, die sich ihrerseits wiederum aus der Naturgeschichte heraus entwickelt hat. Dies alles wurde nun unter dem Gesichtspunkt der Entstehung und Entwicklung des Psychischen analysiert - unter Zuhilfenahme biologischen, anthropologischen, 283

Morus Markard ethologischen etc. Wissens. Dabei geht es nicht darum, die gesamte Naturund Gesellschaftsgeschichte "nachzuerzählen", sondern jene Schaltstellen herauszuarbeiten, an denen neue Niveaus des Psychischen entstanden sind. Auf diese Weise wurde dann versucht, psychologische Begriffe so aufeinander zu beziehen, daß dem auf die Entwicklung bezogen Früheren das begrifflich Allgemeinere entspricht (vgl. hierzu die komprimierte Darstellung von HOLZKAMP 1984). Entscheidend ist daran in unserem Zusammenhang, daß auf diese Weise der Versuch gemacht wurde, die psychologische Begriffsbildung selber empirisch zu fundieren und so auch einer neuen Art der Diskutierbarkeit zugänglich zu machen. Wir nennen diese Art der Empirie historische Empirie, um sie terminologisch von der auf "jetzt-und-hier" ablaufende Prozesse bezogenen Empirie ("Aktualempirie") abzugrenzen, der in der traditionellen Psychologie ein privilegierter Status zukommt, und von der auch im folgenden die Rede sein soll. Was die inhaltlichen Resultate der empirisch-historischen Analyse, die Grundbegriffe oder eben "Kategorien" der Kritischen Psychologie, angeht, so kann ich diese, wie gesagt, hier nicht darstellen. Ich werde aber versuchen, in meine weiteren Darlegungen jene grundbegrifflichen oder kategorialen Aspekte, menschlicher Subjektivität mit einzubeziehen, aus denen sich die Gegenstandsangemessenheit einer subjektwissenschaftlichen Aktualempirie verdeutlicht

5. Begründung der Objektivierbarkeit unreduzierter menschlicher Sub jektivität als kategoriales Problem Ansatzpunkt ist hierbei, daß der als bloße "Innerlichkeit" erscheinende Standpunkt des Subjekts - der Umstand also, daß je ich mich in meiner Weise zu den für mich vorfindlichen Weltgegebenheiten und zu mir wie auch zu den anderen Menschen verhalten kann und muß, daß ich immer "so und auch anders" handeln kann, daß ich also in einer prinzipiellen Möglichkeitsbeziehung zu mir und der Welt stehe, daß ich weiterhin wissen kann und weiß, daß dies prinzipiell so auch bei meinesgleichen ist, daß also dies alles verständigungsfähig ist - daß also der so verstanden: verallgemeinerte Standpunkt des Subjekts selber als eine historisch gewordene Notwendigkeit und Möglichkeit aus dem materiellen Lebenszusammenhang entstanden und herausanalysiert wenden ist. Er ist nämlich Aspekt des Prozesses, in dem sich historisch die gesellschaftlich-menschliche Lebensweise herausbildete; deren Besonderheit hat Klaus HOLZKAMP (1983) als "gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz" charakterisiert. 284

Probleme und Konzepte ... Damit ist folgendes, für das gesellschaftliche Leben da- Menschen eigenartige Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und individueller Reproduktion gemeint: In dem Maße, wie sich über bloße unmittelbare Kooperationsformen hinaus arbeitsteilige Strukturen entwickeln und sich der gesellschaftliche Prozeß verselbständigt, ist zwar im ganzen gesehen die Erhaltung dieses Prozesses noch von den Beiträgen der Gesellschaftsmitglieder abhängig; was aber den einzelnen angeht, so ist seine Existenz nicht mehr unmittelbar Ergebnis seines eigenen Beitrags, sondern eben über das gesellschaftliche System vermittelt. Daran ist psychisch zentral, daß die Bedeutungen von Weltgegebenheiten menschliche Handlungen nicht mehr im direkten Sinne determinieren, sondern Handlungsmöglichkeiten eröffnen: der einzelne kann "so", aber auch "anders" handeln, er kann und muß sich zu sich und der Welt ins Verhältnis setzen, statt bloß auf fremdgesetzte Bedingungen blind reagieren zu können. Wenn im folgenden von "Bedeutungen" die Rede ist, sind in diesem Sinne immer Handlungsmöglichkeiten gemeint.- Indem nun der Standpunkt des Subjekts als Aspekt materialer gesellschaftlicher Lebensverhältnisse herausgearbeitet werden konnte, steht Subjektivität auch nicht mehr im Gegensatz zu den objektiven Charakteristika des gesellschaftlichen Prozesses. Mein subjektiver Standpunkt, heißt es bei Klaus HOLZKAMP, ist dann "zwar der Ausgangspunkt meiner Welt- und Selbsterfahrung, aber damit keine unhintergehbare bzw. 'in sich' selbstgenügsame Letztheit (...) Der 'Standpunkt des Subjekts' schließt also die Berücksichtigung objektiver Bedingungen keineswegs aus, sondern ein: Ausgeschlossen ist damit lediglich die Verkürzung meines Realitätsbezugs auf meine 'Bedingtheit' unter Absehung von meiner Verfügungsmöglichkeit. Aus dem Umstand, daß meine subjektive Erfahrung nicht wie eine Wand zwischen mir und der objektiven Realität steht, sondern daß ich meine Subjektivität selbst als einen Aspekt des materiellen Lebensgewinnungsprozesses ... zu durchdringen vermag, ergibt sich, daß ich über meine Erfahrung viel mehr 'wissen' kann als sich aus ihrer unmittelbaren Beschreibung ergeben würde" (1983, 538 f.) - unter Bezug auf inhaltliche Bestimmungen des Psychischen nämlich, die ich bislang noch nicht behandelt habe, von denen ich aber im weiteren Verlauf meiner Überlegungen zumindest einige einführen werde. In mehrfacher Hinsicht bin ich nun, mit der Thematisierung der Beziehung von Subjektivität und objektivem Lebensprozeß und damit der Voraussetzung objektiver Erkennbarkeit von Subjektivität an einer Schaltstelle meines Vortrags angekommen. Erstens ist hiermit das Problem des Verhältnisses von Determination und Freiheit angesprochen, das ja bislang psychologisch unzureichend geklärt ist und sich etwa in der ungelösten Dichotomie von 'erklärender' und 'verstehender' 285

Morus Markard Psychologie niederschlägt. In den variablenpsychologisch orientierten Ansätzen wird die Bedingtheit des Verhaltens verabsolutiert; die klassische Fragestellung lautet: 'Verhalten sich Menschen unter den und den Bedingungen so oder so?'. In eher verstehend oder deutend orientierten Ansätzen hingegen werden die objektiven Bedingungen verfehlt; die klassische Fragestellung ist die, welche Bedeutungen das quasi freischwebende Individuum seiner sachlichen und personalen Umgebung verleiht. In beiden Fällen kann es aber nicht gelingen, die Vielfalt und Vieldeutigkeit der Erscheinungsformen des Psychischen aufzuklären - diese worden unter Rückgriff allein auf Bedingungen eingeebnet, bei deren Vernachlässigung aber hängen sie gleichsam in der Luft. Zweitens: Ein Ansatz, aus dessen Grundbestimmungen des Psychischen sich die Zurückweisung bloßer Bedingtheit des Handelns und die Objektivierbarkeit unreduzierter menschlicher Subjektivität argeben sollen, kann am Forschungsprozeß Beteiligte weder auf Versuchspersonen-unter-Bedingungen reduzieren noch sich mit do* bloßen Deutung ihrer Lebensäußerungen begnügen; vielmehr ist es unumgänglich, daß die Betroffenen aktiv als Mitforscher am Forschungsprozeß teilnehmen, der selber mit praktischen Veränderungen in ihrem Lebenszusammenhang vermittelt sein muß. Da nun eine aktive Beteiligung an einem Forschungsprozeß keine im Alltag einfach gegebene Befähigung ist, ist es erforderlich, daß sich die Betroffenen - bezogen auf das thematisierte Forschungsproblem - zu Mitforschern qualifizieren. Drittens sind wir mit diesen Ausführungen wieder zu unserem Ausgangsproblem zurückgekommen, wie denn nun ein dem psychologischen Gegenstand angemessener methodischer Ansatz aussehen kann, der Objektivität mit unreduzierter Subjektivität unter Einschluß von deren Emanzipation von fremdgesetzten Zwängen verbindet

6. Methodologische Rahmenbestimmungen des subjektwissenschaftlich Forschungsprozesses:"Bedingungs-Bedeutungs- und Begründungs-Analyse Dabei gehe ich vom oben schon dargelegten Konzept der "Bedeutung" aus. In psychologischer Perspektive fassen wir gesellschaftliche Verhältnisse als Bedeutungskonstellationen auf, und diese als (Strukturen von) Handlungsmöglichkeiten. Der logisch erste Schritt eines psychologischen Forschungsprozesses (dessen methodologische Entwicklung im 9. Kapitel von HOLZKAMPs "Grundlegung dor Psychologie" [1983] dargelegt ist) besteht unter den oben genannten Voraussetzungen also darin, die den Beteiligten gegebenen Handlungsmöglichkeiten, und das heißt natürlich auch: Handlungsbehinderungen, in ihrem widersprüchlichen Verhältnis und gemäß der Lebenslage der Betroffenen in der Klassenschichtung der Gesellschaft herauszuarbeiten; dazu ist man 286

Probleme und Konzepte ... auf vorgängige gesellschaftstheoretische Analysen angewiesen; es geht bei diesem Schritt, kurz gesagt, darum, gesellschaftsbezogene Sachverhalte psychologisch zu konkretisieren. Wir nennen diesen ersten Schritt "Bedingungs-Bedeutungs-Analyse". Schon mit der Skizze dieses ersten Schritts, denke ich, wird klar, daß, wie eben schon angedeutet, ein derartiger Forschungsprozeß nicht gleichsam über die Köpfe der Betroffenen hinweg organisiert werden, sondern nur mit ihrer aktiven Beteiligung erfolgen kann. Diese Partizipation der Betroffenen ist ein zentraler Unterschied zwischen subjektwissenschaftlichem und, wie Klaus HOLZKAMP es formuliert, "kontrollwissenschaftlichem" Vorgehen, das ja gerade von der Ausschließung der Betroffenen vom Forschungsprozeß und damit von deren Fremdsteuerung lebt und somit strukturell gesellschaftlichen Verhältnissen gleicht, in denen die Masse der Gesellschaftsmitglieder von relevanter Verfügung über ihre Lebensverhältnisse ausgeschlossen ist Die wissenschaftliche Notwendigkeit der Beteiligung der Betroffenen am Forschungsprozeß wird noch deutlicher, wenn wir zum zweiten heraushebbaren Schritt eines subjektwissenschaftlichen Forschungsprozesses kommen, der Begründungsanalyse. Hierbei geht es darum zu analysieren, aus welchen Gründen die Betroffenen bestimmte Handlungsalternativen wahrnehmen, andere verwerfen oder ausklammern - wobei die unverzichtbare Voraussetzung für eine derartige Analyse bzw. überhaupt für einen solchen Forschungsprozeß darin besteht, daß die Betroffenen in existentiellen Problemsituationen derart stecken, daß sie mit ihren Problemlösungsstrategien immer wieder scheitern, das Problem nicht lösen können, aber einen Weg zur Lösung finden müssen. Das existentielle Interesse der Betroffenen an der Lösung ihrer Probleme ist also unserer Konzeption nach ebenfalls unverzichtbares Moment der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis in einem derartigen Forschungsprozeß - womit im übrigen auch das Problem der Kontrolle, ob die "Vp" die Unwahrheit sagt, jedenfalls in seiner traditionellen Form, aufgelöst ist; andererseits wird an der Voraussetzung der Interessiertheit der Betroffenen klar, daß nicht alles und jedes zu jeder Zeit untersuchbar ist - sofern man nicht doch wieder von der Subjektivität der Betroffenen absehen will. Schließlich ergibt sich in diesem Zusammenhang, daß auch das Interesse des psychologischen Forschers selber Bestandteil der Verständigungsprozesse im Verlauf der Forschung sein muß. Die Begründungsanalyse - bei deren Diskussion waren wir ja zuletzt meint nun kein voraussetzungsloses Herumstochern im Nebel von allerlei Handlungsmöglichkeiten und Gründen, sondern sie wird von kategorialen Grundannahmen geleitet, die ich im folgenden global darstellen möchte. Dabei gehe ich von dem oben angedeuteten Umstand aus, daß Handlungsmöglich287

Morus Markard keiten dem Individuum nicht ungebrochen, sondern immer in einem widersprüchlichen Verhältnis von Möglichkeiten und Behinderungen gegeben sind. Hierbei besteht grundsätzlich die Alternative, bloß zugestandene Möglichkeiten zu nutzen oder diese Möglichkeiten selber zu erweitern; diese zweite Möglichkeit birgt aber das Risiko in sich, zu scheitern bzw. sich Konflikte mit Mächtigeren einzuhandeln. Die genannte Alternative ist also mit dem Widerspruch belastet, daß das Arrangement mit der gegebenen Situation für das Individuum existentiell belastend ist (diese Lage ist ja, wie gesagt, für den Forschungsprozeß vorausgesetzt), andererseits für es Bedeutungsbezüge im Vordergrund stehen (können), aufgrund derer ihm die Aufrechterhaltung dieser Situation sicherer erscheint als ihre ja auch risikoreiche Veränderung. Unter der (apriorischen, vgl. HOLZKAMP 1983,350) Voraussetzung, daß sich niemand bewußt schadet, besteht die zentrale Widersprüchlichkeit dieser Situation also darin, daß das Individuum, indem es sich auf die Bedingungen, unter denen es leidet, einläßt, gleichzeitig dazu beträgt, diese Bedingungen und damit sein Leiden zu festigen - ein Umstand, der beispielhaft an einer sog. Beziehungskiste verdeutlicht werden kann: Man geht aus Angst, die Beziehung zu gefährden, (der Thematisierung von) Konflikten aus dem Wege, entzieht sich so aber langfristig die Basis, die auf diese Weise ja nicht abstellbaren Konflikte überhaupt noch austragen zu können; man erhöht damit die Wahrscheinlichkeit des vollständigen Zusammenbrechens der ja nur scheinhaften Harmonie. Daß eine derartige Konfliktscheu selber wieder mit gesellschaftlichen Lebensverhältnissen vermittelt ist, will ich hier nicht weiter ausführen, weil dieses Beispiel sich nur darauf bezieht zu zeigen, wie der Versuch, kurzfristige Vorteile zu erzielen, langfristigen Lebensinteressen im Wege steht. Wenn man sich aber allgemein die Frage stellt, warum solche belastenden und ineffektiven, von uns als t>restriktiv,, charakterisierten Problembewältigungsstrategien gleichwohl für das Individuum subjektiv funktional sind, stößt man u.a. darauf, daß derartige Strategien auch gesellschaftlich nahegelegt sind, sei es direkt, durch ideologische Systeme, sei es indirekt, durch die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft. Danach wird nämlich die geschilderte gesellschaftliche Vermitteltheit meiner Existenz, zu der ja auch deren "problematische" Seiten gehören, praktisch und gedanklich ausgeklammert (ein Umstand, der gar nicht verwunderlich ist, ist doch der Zusammenhang der gesellschaftlichen mit der individuellen Reproduktion so lose, daß er in der traditionellen Psychologie erst gar nicht vorkommt). Jedes Individuum steht in einer unmittelbaren Realität, einer Alltagspraxis, der ihre Vermitteltheit nicht ohne weiteres anzusehen ist. Es erscheint mir so, daß Konflikte, die in meiner unmittelbaren Lebenswelt auftreten, auch dort entstanden und unter alleinigem Bezug auf 288

Probleme und Konzepte ... diesen kleinen Zusammenhang lösbar sind. Ich bin dann sisyphosartig mit dem Versuch befaßt, meine Lebensqualität durch Arbeit an mir selber, an meinen unmittelbaren Beziehungen etc. zu erhöhen. Grundsätzlich, so eben unsere Annahme, sind spontane Bewältigungstrategien derartig auf unmittelbare Gegebenheiten, vordergründig erscheinende Zusammenhänge fixiert - was auch einschließt, daß man, bezogen auf andere Menschen, deren "Subjektivität", Gründe etc. ausklammert, aus dem Versuch einer vernünftigen Verständigung aussteigt, Leute mit Eigenschaften etikettiert etc. (vgl. dazu auch HOLZKAMP 1985). Zentral an all diesen Überlegungen ist, daß die Begründungsanalyse immer darauf zielt, die subjektive Funktionalität restriktiver Bewältigungstrategien im Verhältnis von Vermitteltheit individueller Existenz und der Unmittelbarkeitsfixiertheit alltäglicher Praxis zu begreifen.

7. Ansätze zur Geltungssicherung und Verallgemeinerung: "kontrollier exemplarische Praxis" und "Möglichkeitstypen". Dieses Begreifen muß nun seine Richtigkeit in einer veränderten Praxis erweisen. Wir nennen eine solche als Wahrheitskriterium dienende Praxis im Forschungszusammenhang kontrolliert-exemplarische Praxis. (Ich komme darauf zurück.) Die Resultate derartiger Analysen wären also dann und in dem Maße objektiviert, wie es gelingt, Handlungsgründe von Leuten mit ihrer Sichtweise von den auch objektiv aufzuklärenden Bedingungen zu vermitteln, mit denen sie es zu tun haben, und durch deren Änderung sie zumindest in gewissem Grade ihre Probleme lösen können. Die Einschränkung "bis zu einem gewissen Grade" gilt deshalb, weil die Veränderbarkeit vieler Bedingungen und Bedingungskonstellationen die Möglichkeiten bloß individueller Handlungen übersteigt und eine andere, nämlich gesellschaftliche Größenordnung erfordert Grundsätzlich ist aber mit der Bedingungs-Bedeutungs- und Begründungsanalyse je meine subjektive Befindlichkeit als mit meinen Lebensbedingungen vermittelt zu begreifen; diese Analyse soll also den eben allgemein skizzierten Zusammenhang je meines Standpunktes mit den mir gegebenen objektiven Lebensverhältnissen aufschlüsseln. Daraus ergibt sich auch ein Ansatz, in Heraushebung der hier wesentlichen Dimensionen das zu kennzeichnen, was auch für andere in vergleichbarer Lage gelten kann, also faktisch Handlungsmöglichkeiten in sog. "Möglichkeitstypen" verallgemeinert zu fassen zu versuchen. Solche Typisierungen beziehen sich hier also nicht auf Menschen und ihnen zugeschriebene Eigenschaften o.ä., sondern auf Handlungsmöglichkeiten bei gegebenen Bedeutungs- und Begründungsverhältnissen. 289

Morus Markard Damit ist unser als Möglichkeitsverallgemeinerung gekennzeichneter Verallgemeinerungsansatz im Prinzip umrissen: Ich hatte ja eben schon erwähnt, daß zwischen objektiv-allgemeinen Lebensbedingungen und subjektiver Lebensführung keine Wand besteht, vielmehr der einzelne in seinen Denk- und Handlungsweisen allgemeine Momente seiner objektiven Lebensverhältnisse realisiert Je meine Probleme, Befindlichkeiten und Lebensmöglichkeiten sind notwendig mit den allgemeinen Prozessen der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse vermittelt. Indem ich nun in den genannten analytischen Schritten die konkreten Ebenen dieser Vermittlung herausarbeite, arbeite ich eben auch die allgemeinen Aspekte meiner eigenen Existenz heraus, und zwar so, daß diese damit selber in ihrer Besonderheit erst klar wird; daß die Herausarbeitung der allgemeinen und besonderen Aspekte zwei Seiten einer Medaille sind, ist dabei der Witz der Sache, die wir, wie gesagt, Möglichkeitstyp nennen. Die in dieser Analyse angelegte Möglichkeit zur Verallgemeinerung wird praktisch dadurch realisierbar, daß andere in gleicher Lage sich unter diesen Möglichkeitstyp subsumieren, wobei von theoretischem Interesse im Rahmen dieser Selbstsubsumptionen sich ergebende Differenzierungen des Möglichkeitstyps sind.

8. Die "Entwicklungsfigur" als prozessuale und operational Fassung d Bedingungs-Bedeutungs- und Begründungs-Analyse Man darf sich nun eine Begründungsanalyse, wie ich sie eben skizzierte, nicht als einen frage-/antwortartig prozessierenden interviewförmigen Vorgang, der sich nahtlos an die Bedingungs-Bedeutungs-Analyse anschlösse, vorstellen. Denn erstens werden zwischen diesen beiden Schritten, die ja nur im Sinne einer inneren Logik der wesentlichen Aspekte des empirischen Forschungsprozesses zu verstehen sind, empirisch ineinander übergehen. Zweitens aber sind derartige Analysen wegen der praktische Dynamik der involvierten Lebensprobleme längerfristige praktische Prozesse, die ich noch beispielhaft am Konzept der sog. Entwicklungsfigur verdeutlichen will. Die Entwicklungsfigur ist ein Konzept, das sich in unserem Projekt "Subjektentwicklung in derfrühenKindheit" gleichsam als eine auf dieses Projekt bezogene operationale Fassung der Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse ergeben hat. In diesem Projekt ging es um die Untersuchung der problembezogenen Aspekte der Eltern- oder allgemeiner: ErwachsenenKind-Koordination: Unmittelbare Daten waren kontinuierlich geführte Tagebücher bzw. mündliche Berichte von Eltern über das Leben mit ihren Kindern im Vorschulalter. Auf regelmäßigen gemeinsamen Sitzungen von Forschern und Eltern, dem sog. Projektplenum, wurden die Tagebücher und Berichte in 290

Probleme und Konzepte ... ihren für die Eltern problematischen Aspekten diskutiert In diesen Diskussionen erfolgte auch das, was ich oben die Qualifikation zum Mitforscher nannte: es mußte ja z.B. geklärt werden, was eigentlich tagebuchrelevante Ereignisse waren, es ist nicht von vorneherein anzunehmen, daß Leute in solch einem Plenum ihre Probleme diskutieren wollen oder können, daß sie sich auf eine Problematisierung ihrer Alltagspraxis einlassen, etc. Wenn ich im folgenden die Struktur einer Entwicklungsfigur schildere, so hebe ich im besonderen begründungsanalytische Aspekte hervor, lasse also etwa auf die Institution "Kleinfamilie" bezogene bedingungs- und bedeutungsanalytische Überlegungen weg. Die Entwicklungsfigur enthält idealtypisch den Klärungsprozeß eines Problems, den wir in vier Instanzen gegliedert haben: 1.Instanz: Deutung eines in das Projekt eingebrachten problematischen Sachverhalts: Ansatzpunkt ist ja, wie gesagt ein praktisches Problem des Betroffenen, dessen Schilderung nunmehr selber problematisiert wird - eben aufgrund der allgemeinen Annahme, daß alle Beteiligten dadurch zur Aufrechterhaltung der problematischen Situation beitragen, daß sie in Reproduktion alltäglicher Denkformen in unmittelbarkeitsfixierten restriktiven Bewältigungsstrategien befangen sind. Es ist klar, daß derartige Problematisierungen die Kenntnis des Lebenszusammenhangs des Betroffenen voraussetzen, nicht aber sich kurzen situativen Draufsichten außenstehender Forscher verdanken können. Da, wie gesagt, die Problemsicht des Betroffenen für ihn funktional ist, wird kaum jemand solche Problematisierungen durch andere sofort begeistert zustimmend hinnehmen, sondern ihnen Widerstand entgegensetzen. Dies eröffnet sozusagen die zweite Instanz, die der Widerstandsanalyse und ggf. kategorialen Reformulierung des Problems. Forschungsmethodisch bedeuten die nun vorhandenen konkurrierenden Sichtweisen in aller Schärfe das Problem der Mehrdeutigkeit von Daten. Der Ansatz zur Klärung ergibt sich daraus, daß man versucht, die Vorstellungen des Betroffenen herauszuarbeiten, die seiner Sichtweise zugrundeliegen, um dann mithilfe der Kategorien der Kritischen Psychologie versuchsweise eine neue Sicht auf das Problem zu formulieren. Auf dieser Grundlage werden hypothetisch theoretische Aussagen über die Begründungszusammenhänge von Handlungen und sich daraus für die Betroffenen ergebende Konsequenzen formuliert In diesen theoretischen Annahmen werden vor allem Aussagen über die Zusammenhänge formuliert, deren blindes Wirken als die Ursache des Problems angesehen wird, so daß die Bestätigung dieser Annahmen darin besteht, dieses Wirken durch eine veränderte und verändernde Praxis außer Kraft zu setzen. 291

Morus Markard Die dritte Instanz meint nun die wirkliche Umstrukturierung der Praxis durch die Betroffenen und die daraus sich ergebenden Folgen. Die vierte Instanz schließlich umfaßt die Rückmeldung dieser Prozesse in den Forschungszusammenhang und die dort erfolgende Auswertung. Selbstverständlich kann die Entwicklungsfigur in jeder Instanz scheitern so kann der Betroffene so "mauern", daß keine alternative Praxis formulierbar ist, ebenso können sich die Deutungen des Projekts gegenüber den Lebensverhältnissen des Betroffenen als abstrakt und unbrauchbar erweisen, es kann sich zeigen, daß die alternative Praxis nicht die erwünschten Resultate zeitigt, etc. Wir haben im Rahmen unseres Projekts versucht auszuarbeiten, welche Fehlermöglichkeiten die einzelnen Instanzen enthalten, um so ein methodisches Regulativ gegen Fehlinterpretationen zu haben; dies kann ich hier nicht mehr im einzelnen darstellen; weiterhin haben wir Konzepte ausgearbeitet, mit Hilfe derer die Daten, die ja bei ihrer Gewinnung methodischen Restriktionen nicht unterliegen, bewertet werden können. Auch dies kann ich hier im einzelnen nicht darstellen, sondern nur auf die entsprechende Literatur (MARKARD 1985) verweisen; vielleicht können wir aber auch in der Diskussion auf diese Punkte zurückkommen. Zentral ist, daß das entscheidende Eikenntniskriterium die lebensweltliche Praxis der Betroffenen ist, die ihrerseits allerdings mit derselben methodischen Sorgfalt zu erfassen ist, die auf die ursprüngliche Problemschilderung verwandt wurde. Denn auch hier ist es ja durchaus möglich, daß die Erfolgsmeldungen Rationalisierungen und Mystifikationen unterliegen. In dem Maße aber, in dem es im Forschungsprozeß gelingt, deutlich werden zu lassen, daß die Klärung der eigenen Probleme und die Mitarbeit im Forschungsprozeß zwei Seiten derselben Medaille sind, werden sich diese Probleme im Forschungsprozeß selber aufheben können.

Literatur GRAUMANN, C.F. 1979. Die Scheu des Psychologen vor der Interaktion. Ein Schisma und seine Geschichte. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 10, 284 - 304. HOLZKAMP, K. 1977. Die Überwindung der wissenschaftlichen Beliebigkeit psychologischer Theorien durch die Kritische Psychologie. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 8^ 22ff. und 78ff. HOLZKAMP, K. 1983, 1985 . Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M.: Campus. HOLZKAMP, K. 1984. Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie. Der Weg der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft. Forum Kritische Psychologie 14, 5ff.

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Probleme und Konzepte ... HOLZKAMP, K. 1985. "Persönlichkeit" - Zur Funktionskritik eines Begriffs. In: HERRMANN, Th. & LANTERMANN, E.-D. (Hg.), Persönlichkeit - ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München: Urban & Schwarzenberg, 92-101. IRLE, M. 1975. Lehrbuch der Sozialpsychologie. Göttingen: Hogrefe. MAIERS, W. & MARKARD, M.-1986. Kritische Psychologie. In: REXILIUS, G. & GRUBITZSCH, S. (Hg.), Psychologie: Theorien - Methoden - Arbeitsfelder. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt, 661 - 680. MARKARD, M. 1984. Einstellung - Kritik eines sozialpsychologischen Grundkonzepts. Frankfurt/M.: Campus. MARKARD, M. 1985. Konzepte der methodischen Entwicklung des Projekts Subjektentwicklung in der frühen Kindheit, in: Projekt Subjektentwicklung in der frühen Kindheit (SUFKI): "Subjektentwicklung in der frühen Kindheit": Der Weg eines Forschungsprojekts in die Förderungsunwürdigkeit. Forum Kritische Psychologie 17, 101 - 120.

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Ute Osterkamp Personalisierung gesellschaftlicher Widersprüche als Entwicklungsbehinderung.

Die Auffassung, daß die Lebenstätigkeit und Entwicklung der Individuen nicht ohne Berücksichtigung von deren jeweils historisch bestimmten gesellschaftlichen Lebensbedingungen angemessen begriffen werden kann, ist in der gesellschaftskritischen bzw. "progressiven" Sozialwissenschaft und Psychologie heute weitgehend Allgemeingut. Ebenso einig ist man sich darüber, daß dies keine einfache, "mechanische" o.ä. Determination des einzelnen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedeuten kann, sondern daß die Subjektivität, Spontaneität etc. der Individuen dabei angemessen zu berücksichtigen ist. Weniger einig ist man sich jedoch darüber, wie die Bedingtheit der Individuen durch die Verhältnisse und ihre Subjektivität/Spontaneität denn nun miteinander zu vereinen, quasi "unter einen Hut zu bringen" seien. Die einschlägige Diskussion ist hier vielmehr wesentlich durch Verwirrung und Widersprüche gekennzeichnet. Dabei bilden zwei prinzipielle Positionen aufgrund ihrer Plausibilität wie Unvereinbarkeit eine Art von permantem Leitmotiv für immer neue Kontroversen: 1. Wenn die Menschen sich ändern, ihre Beschränkungen, Ängste etc. überwinden sollen, so müssen zunächst die gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen sie bestimmt sind, geändert werden. Aber: von wem sollen diese Veränderungen dann eigentlich ausgehen? 2. Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse in irgendeinem Sinne zum besseren veränderbar sein sollen, so müssen sich zunächst die Menschen ändern, muß jeder also mit der Veränderung quasi "bei sich" anfangen. Aber: wenn die Menschen sich bereits beliebig verändern, entwickeln, vervollkommnen können, ehe die gesellschaftlichen Verhältnisse andere geworden sind, warum müssen diese dann überhaupt noch geändert werden? Eine dritte Lesart, die auch in marxistischen Analyseansätzen (z.B. HERKOMMER, BISCHOFF und MALDANER 1984 und PIT 1979; vgl. OSTERKAMP 1982 u. 1986) enthalten ist, und die generell für das "allgemeine Bewußtsein" einen erheblichen Grad an Überzeugungskraft zu haben Dieser Aufsatz ist zuerst erschien in: Forum Kritische Psychologie Bd.20, Argument-Verlag, Berlin 1988. 294

Personalisierung gesellschctftlicher

Widerspr

scheint, schlägt quasi einen "Mittelweg" zwischen diesen beiden Standpunkten von man geht hier - in unterschiedlicher Konkretisierung und Terminologie davon aus, daß es sowohl objective Beschränkungen wie auch subjektive Beschränktheiten gibt, wobei die subjektiven Beschränktheiten sich darin äußern sollen, daß die Menschen die an sich gegebenen gesellschaftlichen Möglichkeiten nicht für ihre Entwicklung realisieren. Als Ursache für das individuelle Zurückbleiben hinter den gesellschaftlich zugestandenen Lebensmöglichkeiten werden persönliche "Haltungen" bzw. "Fehlhaltungen", etwa eine allgemeine Unterwerfungsbereitschaft oder mangelnde Risiko- und Anstrengungsbereitschaft o.ä. benannt, die i.d.R. Wiederum auf ungelöste Konflikte in der frühen Kindheit, elterliche bzw. insbesondere mütterliche Erziehungsfehler oder auf ideologische Mächte zurückgeführt werden, die die Menschen unabhängig von den jeweils aktuellen Anforderungen bzw. herrschenden Interessen in ihrem Handeln festlegen sollen. Damit fällt auch gleich eine Aufgabenstellung für die Psychologie ab: sie habe solche subjektiven Entwicklungsbarrieren zu überwinden und die individuellen Potenzen freizusetzen, damit die einzelnen Menschen die gesellschaftlichen Möglichkeiten besser für ihre Tersönlickeitsentwicklung" nutzen können. Die allgemeine Schlußfolgerung lautet hier demgemäß: Gesellschaftliche Veränderung werden erst in dem Maße notwendig, wie die Individuen die an sich gegebenen Freiräume für ihre Entwicklung genutzt haben. Mit diesen Freiraumtheorien ist im allgemeinen eine Relativierung der marxistischen Theorie verbunden, indem man deren Geltung auf den Produktionsbereich und somit auf einen Teil menschlicher Tätigkeit - nämlich die (fremdbestimmte) Arbeit - beschränkt Demgegenüber wird das "eigenständige" oder auch "kulturelle Handeln" der Menschen in den Bereichen jenseits der unmittelbaren Produktionssphäre hervorgehoben, in denen die kapitalistischen Klasseninteressen scheinbar nicht mehr gelten, sondern kapitalismusübergreifende Traditionen und Normen wirken, an denen sich die Menschen in ihrem Handeln unabhängig von ihrer konkreten Lebenssituation - mehr oder weniger eng orientieren. Solche Theorien, die die Geltung der MARXschen Theorie auf den Produktionsbereich beschränkt wissen wollen, fassen das Handeln der Menschen als "Schnittpunkt" äußerer und innerer Einwirkungen bzw. als Kompromiß zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen, der je nach persönlicher Potenz einmal mehr zugunsten der individuellen oder der gesellschaftlichen Interessen ausfällt, wobei die gesellschaftlichen Interessen mit den individuellen nichts gemein zu haber scheinen. Solche Auffassungen verfehlen die Gesellschaftlichkeit der Menschen ir zweierlei Hinsicht: Indem sie zum einen übersehen, daß die Bedürftigkeiter 295

Ute Osterkamp und Haltungen der Menschen nicht unabhängig von den aktuellen Lebensbedingungen, sondern durch diese bedingt sind, und indem sie zum anderen die Menschen nicht als Subjekte der gesellschaftlichen Geschichte, sondern bestenfalls als "Subjekte" ihrer je individuellen Entwicklung fassen, womit sie die Unterworfenheit unter die Partialinteressen der Herrschenden als allgemeinmenschlich verabsolutieren und so die spezifische Potenz menschlicher Existenz, nämlich die bewußte Bestimmung der gesellschaftlichen Realität gemäß den verallgemeinerten Interessen der Individuen (und damit zugleich deren systematische Behinderung unter den gegebenen Verhältnissen) von vornherein verstellen. Die Bedürfnisse werden nicht in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit und Funktion gesehen, sondern als autonome Selbstäußerung interpretiert, und alle gesellschaftlichen Anforderungen erscheinen als Fremdbestimmung, die in dem Maße durchbrochen werden soll, wie die einzelnen ihre persönlichen Interessen nachträglich in diese "einbauen" können. Die "Freiraumtheorien" bergen - obwohl als "dritter Weg" eingeführt ebenfalls vielfältige Widersprüche und Ungereimtheiten. Sie stellen genau besehen lediglich eine Variante der genannten 2. Position dar, da hier die Änderung wiederum den einzelnen Menschen als vorgängige Aufgabe gestellt wird, also das Individuum mit seinen Fehlentwicklungen zirkulär zur Ursache seiner Fehlhaltungen gemacht wird. Wer die Freiräume setzt und diese zugleich begrenzt, bleibt im allgemeinen unklar. Es wird auch nicht diskutiert, wieweit sowohl die "Definition" der Freiräume als auch deren Nutzung ein ideologischer Aspekt der Herrschaftsicherung und in diesem Sinne "gesellschaftlich determiniert" sein könnte. Es stellt sich somit also die Frage, was die "Freiraum"-These so attraktiv macht, d.h. welche Interessen, Widersprüche, Abwehrformen etc. bei denen, die sie vertreten oder übernehmen, im Spiel sein könnten. Damit wäre gleichzeitig allgemeiner unter einem bestimmten Aspekt nach den Bedingungen gefragt, unter denen das Sich-Einrichten unter den gegebenen Abhängigkeitsverhältnissen, also letztlich unser eigenes Einverständnis mit unserer gesellschaftlichen Entwicklungsbehinderung, sich immer wieder im individuellen Bewußtsein reproduziert bzw. durchbrechbar und überwindbar sein könnte.

Einen Schlüssel zu diesen Fragen, zunächst auf genereller gesellschaftstheoretischer Ebene, findet man, wenn man sich den Zusammenhang zwischen der Annahme persönlicher "Freiräume" und der bürgerlichen Ideologie der "Freiheit und Gleichheit" vergegenwärtigt, die für die Absicherung kapitalistischer Machtverhältnisse unentbehrlich ist MARX hat ja die Doppelbödigkeit kapi296

Personalisierung gesellschctftlicher Widersprüch talistischer Klassenrealität herausgearbeitet, die gerade darin besteht, daß die Menschen sich "freiwillig", d.h. unter dem Druck ihrer Bedürftigkeit, den Interessen jener beugen, die über Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügen. Niemand zwingt die Lohnarbeiter, ihre Arbeitskraft zu veikaufen und sich ausbeuten zu lassen; diese begeben sich vielmehr scheinbar "freiwillig" bzw. auf Grund ihres individuellen Unvermögens, in anderer Weise ihr Leben zu erhalten, in diese Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse. Angesichts der drohenden Arbeitslosigkeit erscheint der Anwender ihrer Arbeitskraft dabei nicht selten sogar als Wohltäter, von dessen Einfallsreichtum und Tatkraft sie leben. Darüber hinaus haben die sog. Arbeitnehmer in gewissen Grenzen durchaus die Freiheit, sich ihr individuelles Ausbeutungsverhältnis persönlich auszuwählen und zu gestalten. Die von MARX herausgestellte Doppelbödigkeit kapitalistischer Klassenrealität, der gemäß sich die Menschen nicht per unmittelbare1 Gewalt, sondern "freiwillig", d.h. unter dem Druck ihrer Bedürftigkeit den Interessen jener beugen, die über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügen, bleibt in den Freiraumtheorien völlig außer Acht, ebenso die Tatsache, daß die Freiräume nur in dem Maße zugestanden werden, wie sie sich mit den herrschenden Interessen vereinbaren lassen. Es ist der große Verdienst der FREUDschen Theorie, daß sich aus ihr wenn auch quasi gegen den Strich - herauslesen läßt, daß die Verhältnisse der realen Gewalt hinter dem Schein der Freiheit keineswegs nur für den Produktionsbereich, sondern auch für alle übrigen Lebensbereiche innerhalb kapitalistischer Klassenverhältnisse gelten. Die gesellschaftliche Unterdrückung der Individuen, die FREUD durchaus rechtfertigt, kann, wie er aufweist, nur in dem Maße in den Hintergrund treten und damit unangreifbar bleiben, wie die Menschen sie verinnerlicht haben und ihr durch ihr Wohlverhalten zuvorkommen. Hinter einem solchen Wohlverhalten steht die Angst, die Zuwendung(ei) jener zu verlieren, von denen man existentiell abhängig ist. Während sich diese Angst nach FREUD beim Kind im wesentlichen auf die Mutter bezieht, gilt sie im Laufe der Entwicklung im zunehmenden Maße dem Ausschluß aus der Gemeinschaft bzw. den eigenen Bedürfnissen und der Artikulation nichtkonformer = abwegiger Interessen, die diesen Ausschluß bedingen könnten. Die eigenen Bedürfnisse und Erkenntnisse und die entsprechenden Handlungsimpulse werden damit zur Bedingung der Gefahr der gesellschaftlichen Ausgrenzung, und der einzelne kann dieser Gefahr nur dadurch begegnen, daß er "freiwillig" alle anstößigen Regungen und Impulse unterdrückt. Die persönliche "Tragik" besteht dann darin, daß, wie FREUD aufgewiesen hat, gerade die Verdrängung der nichtkonformen Lebensansprüche dazu fuhren kann, daß sich diese der Kontrolle des einzelnen entziehen und damit den Trieb- bzw. Zwangscharakter annehmen, der die Anpassung, um derentwillen die Unter297

Ute Osterkamp drückung überhaupt erst ausgeübt wurde, unmöglich macht und damit die allgemeine Fremdbestimmung zugleich nachträglich gerechtfertigt erscheinen läßt. Die Unterdrückung elementarer Bedürfnisse der Menschen ist dabei kein bloßes Abfallprodukt der Ausrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung an den herrschenden Interessen und somit auch kein nur persönliches Mißgeschick, das durch Therapie oder ähnliche Veranstaltungen beliebig behoben werden könnte, sondern Bedingung für die Unterwerfungsbereitschaft der einzelnen und damit Bedingung für den Erhalt der gegebenen Herrschaftsverhältnisse. Die gesellschaftliche Ordnung läßt sich, wie sich aus der FREUDschen Theorie entnehmen läßt, nur dadurch aufrechterhalten, daß die Menschen klein und gefügig gehalten und daran gehindert werden, sich gegen ihre Abhängigkeit und Unterdrückung zu wehren. Das geschieht zu einem großen Teil über die Vermittlung von Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen. Diese bedeuten, daß die Menschen durch die öffentliche Diskriminierung ihrer Bedürfnisse und ihrer mangelnden Fähigkeit, den gesellschaftlichen Forderungen zu entsprechen, in ihrer persönlichen Integrität verunsichert werden, d.h. daß man ihnen praktisch das Kreuz bricht. An die Stelle des Kampfes gegen die äußeren Entwicklungsbehinderungen tritt dann das Leiden an der eigenen Unzulänglichkeit und das Bemühen, die eigene Wohlanständigkeit und Tüchtigkeit, in Anpassung an die jeweiligen Erfordernisse, immer wieder erneut zu demonstrieren. Für die Verinnerlichung der äußeren Gewalt spielt die Unterdrückung der Sexualität, wie FREUD herausstellt, eine zentrale Rolle, worauf ich in diesem Zusammenhang jedoch nicht weiter eingehen kann. Die mangelnde Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und die dadurch bedingte Triebhaftigkeit ihres Ausdrucks ist also für die Herrschaftsicherung funktional. Und das nicht nur in dem Sinne, daß sie die allgemeine Fremdbestimmtheit gerechtfertigt erscheinen läßt und damit den Widerstandswillen der einzelnen gegen die unterdrückende Realität bricht, sondern auch dadurch, daß sie zu einem Verhalten führt, das genau die Verhältnisse festigt, die die Menschen unter Druck setzen und in Abhängigkeit halten. So ist zum Beispiel mein Bedürfnis nach Sicherheit und Anerkennung primär durch die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit und Ungesichertheit meiner Existenz bedingt (und bestenfalls sekundär durch das Verhalten meiner Eltern, die mir die Anpassung an die gegebenen Verhältnisse vorlebten und mich mehr oder weniger gewaltsam auf ihre Vorstellungen zu verpflichten suchten). Zugleich läßt mich aber diese subjektive Verunsicherung von vornherein nichts tun, was gegen die herrschenden Interessen verstoßen könnte. Oder ein anderes Beispiel: Der Rechtfertigungszwang bzw. das Bedürfnis nach Untadeligkeit und Unangreifbarkeit beruht auf der Erfahrung, daß es in dieser Gesellschaft in der Tat 298

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gefährlich ist, sich eine Blöße zu geben; aber indem ich mich bemühe, mein Verhalten auf Biegen und Brechen zu rechtfertigen, rechtfertige ich zugleich die Verhältnisse, die mir dieses Verhalten aufzwingen und mich unter Rechtfertigungszwang setzen. Dabei werde ich mein Verhalten im allgemeinen umso intensiver verteidigende weniger ich eine Alternative dazu hatte* Je größer also der Druck der Situation bzw. der eigenen Bedürftigkeit war und je weniger ich die Möglichkeit hatte, die Richtigkeit meines jeweiligen Handelns zu überprüfen. Weitere Beispiele: Das zwanghafte Bedürfnis, alles unter Kontrolle und Nim Griff" zu haben, entsteht gerade unter Bedingungen allgemeiner Einflußlosigkeit und Ohnmacht. Und zugleich impliziert es eine generelle Entwicklungsfeindlichkeit und läßt mich gerade die Bedingungen verteidigen, die mir dieses absurde, gegen meine Interessen gerichtete Verhalten aufzwingen. Die Angst vor der allgemeinen Isolation und Diskriminierung, sobald ich aus dem herrschenden Konsens ausschere, läßt mich spontan bemüht sein, meine "Dazugehörigkeit" und "Brauchbarkeit" - in Abgrenzung von anderen - zu betonen, womit ich zugleich die Bedrohung, die mich diszipliniert, selbsttätig aufrechterhalten helfe etc. Freiräume werden also - so die Quintessenz der obigen Ausführungen nur dann zugestanden, wenn die äußere Disziplinierung infolge der Selbstdisziplinierung überflüssig geworden ist, der einzelne, wie es FREUD klar herausstellt, zum "Kulturträger" geworden ist, d.h. die herrschenden Interessen zu seinen eigenen gemacht hat. Dieser Prozeß der "Zivilisierung", bei dem die Aufgehobenheit der individuellen Existenz in der gesellschaftlichen Entwicklung nicht Voraussetzung, sondern Ziel persönlicher Anstrengungen ist, beginnt infrühesterJugend, zielt aba* im wesentlichen auf die Erwachsenenexistenz ab. Das zeigt sich unmittelbar dann, wenn der vorauseilende Gehorsam unterbleibt, die Berücksichtigung der herrschenden Interessen nicht mehr als unhinterftagbarei Bedingung der individuellen Daseinsbewältigung gesehen wird. Heraussagendes Beispiel hierfür sind die Berufsverbote, deren Wirkung im wesentlichen über die direkt Betroffenen hinaus auf die allgemeine Einschüchterung der Bevölkerung berechnet ist, der auf diese Weise klar gemacht wird, was denen geschehen kann, die sich aus dem herrschenden Konsens heraus bewegen. Dabei geraten nicht nur diejenigen, die den blinden Gehorsam versagen, in die Gefahr, aus der menschlichen Gemeinschaft, d.h. aus der Gemeinschaft derer, die Anspruch auf Unterstützung haben, ausgegrenzt zu werden, sondern auch all jene, die diese Ausgrenzung nicht mitmachen und sich um Verständnis für die Sicht- und Handlungsweise der "Abweichler" bemühen. Die Auffassung, die in unterschiedlichen Varianten immer wieder vertreten wird, nämlich daß die einzelnen Menschen für ihre relative Entwicklungs299

Ute Osterkamp losigkeit - zumindest partiell - selbst verantwortlich sind, kann sich nur dadurch halten, daß sie einen rationalen Kern hat Dieser besteht darin, daß die gesellschaftlichen Möglichkeiten in der Tat niemals durch die einzelnen Menschen, sondern immer nur durch die gesellschaftliche Kooperation zu realisieren sind, d.h. daß die Möglichkeiten des einzelnen von seinen Beziehungen zu den Mitmenschen abhängen. Das menschliche Wesen ist, wie MARX feststellt, eben nicht ein im Individuum hockendes Abstraktum, sondern das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Nicht in dem bloßen Zurückbleiben des einzelnen hinter den gesellschaftlichen Möglichkeiten liegt also die Quelle menschlichen Elends, sondern in der Trennung der individuellen von der gesellschaftlichen Existenz, d.h. darin, daß viele Menschen um der unmittelbaren Existenzsicherung willen gezwungen sind, sich zum bloßen Instrument des Willens anderer zu machen und gegen ihre eigenen Erkenntnisse und Interessen zu handeln bzw. von frühester Jugend an auf die mannigfaltigste Weise daran gehindert werden, diese überhaupt auf den Begriff zu bringen. Die Auffassung, daß die Menschen immer auch für ihre Entwicklungslosigkeit selbst verantwortlich sind, hat aber auch insofern einen rationalen Kern, als subjektive Momente wie etwa Risikofreude und Anstrengungsbereitschaft in der Tat bei einigen Menschen offensichtlich größer als bei anderen sind und daß sich im allgemeinen der persönliche Einsatz positiv auf die individuelle Karriere und Leistung auswirkt Obersehen wird dabei jedoch, daß die Bedürfnisse und Haltungen der Menschen keineswegs Naturtatbestände bzw. Privatsache des jeweils einzelnen, sondern selbst wiederum gesellschaftlich produziert und damit auch gesellschaftlich zu verantworten sind. So hängt z.B. die Risiko- und Anstrengungsbereitschaft des einzelnen von der realen Erfolgswahrscheinlichkeit und seiner begründeten Überzeugung ab, daß er eventuelle Mißerfolge ohne allzu großen Schaden an Leib und Seele überstehen wird etc. Sicherheit gerät nur dann im Widerspruch zur individuellen Entwicklung, wenn die "Geborgenheit" von der Unterwerfung unter die herrschenden Interessen abhängt und nicht mehr gegeben ist, sobald der einzelne nicht mehr zu dieser Unterwerfung bereit ist. Das vielbeklagte Sicherheitsstreben der Menschen, das sie angeblich in ihrer Entwicklung behindern soll, läßt sich also allein dadurch überwinden, daß wir uns über die realen Gefahren verständigen und die Sicherheit schaffen helfen, nach der wir uns sehnen bzw. die Voraussetzung jeder Entwicklung ist Statt also, wie es allgemein üblich ist, die Menschen und ihre - falschen oder unterentwickelten - Bedürfnisse unmittelbar für ihre Entwicklungslosigkeit verantwortlich zu machen, gilt es vielmehr aufzuweisen, daß nicht die Bedürfhisse, sondern bestenfalls die Wege ihrer Befriedigung fragwürdig sind, indem sie eben nicht zum Ziel führen, sondern im Gegenteil genau die 300

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Bedingungen festigen, die die Menschen in Abhängigkeit und damit zugleich manipulierbar halten. III. Die "Freiräume" und Entwicklungsmöglichkeiten, die man im allgemeinen in unserer Gesellschaft zu erwarten hat, solange man "freiwillig" nicht gegen die herrschenden Interessen verstößt, bestehen nicht nur für die einzelnen Individuen, sondern auch für die Wissenschaften (sodaß die sozial wissenschaftlichen bzw. psychologischen 'TreiraunT-Theorien in gewisser Weise auch der Absicherung der eigenen wissenschaftlichen Existenz dienen): Alle Theorien, die die subjektive Situation der Menschen nicht im Zusammenhang mit ihren konkreten Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten sehen, zeigen das verlangte Wohlverhalten: Indem sie nämlich die Kritik nicht gegen die Verhältnisse richten, in denen wesentlichen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, sondern personalisierend gegen die bedürftigen Menschen selbst bzw. gegen deren Anspruchsmentalität oder auch mangelnde Initiative etc. Sie beklagen die Folgen statt die Ursachen der Unterwerfung und festigen damit - trotz ihrer äußerlich häufig radikal gesellschaftskritischen Haltung - eben die Verhältnisse, die das angeprangerte Verhalten bedingen. Das garantiert ihnen auch die Förderung und Tolerierung bzw. die allgemeine Anerkennung, die sie bei uns erfahren. Typisch hierfür sind die vielen Theorien der Selbstverwirklichung. Emanzipation wird in ihnen nicht als Kampf für Verhältnisse gesehen, unter denen die Menschen nicht mehr gezwungen sind, um der unmittelbaren Existenzerhaltung willen gegen ihre Entwicklungsinteressen zu verstoßen, sondern als bestmögliche Nutzung der zugestandenen Freiräume und als unmittelbare "Arbeit" an der eigenen Person und ihren "falschen" Bedürfnissen und Gefühlen, was dann als Entwicklung der Persönlichkeit ausgegeben wird, über die sich die gesellschaftliche Entwicklung vollziehen soll. Diese Theorien unterscheiden sich untereinander nur dadurch, daß die älteren Fassungen - z.B. die von REICH - in der Regel die autoritäre Erziehung herausstellen und damit die Herrschaftsverhältnisse wenigstens noch in dieser verkürzten Form berücksichtigen, während die "moderneren" Fassungen - in voller Übereinstimmung mit den "herrschenden Gedanken" - die Verwöhnung als Ursache individueller Selbstbehinderung herausstellen. Typische Vertreter hierfür sind z.B. PERLS, der "Vater" der Gestalttherapie (z.B. 1976) oder auch DOWLING mit ihrem Cinderella-Komplex (1984). Entwicklungsförderung besteht in der Vorstellung solcher Autor/inn/en dann im wesentlichen in der Mobilisierung der Selbsthilfekräfte, und die erreicht man hauptsächlich dadurch, daß man den anderen die Unterstützung versagt, die sie verlangen. Die301

Ute Osterkamp ses Konzept der Selbstverwirklichung als Selbstverantwortung für das eigene Schicksal und der "Selbsthilfe" paßt sich geschmeidig in die gegenwärtigen Politik des Abbaus sozialer Rechte ein, die ebenfalls als Entwicklungsförderung und Anreiz zur Entfaltung persönlicher Initiativen gepriesen wird. Die Theorien der Selbstverwirklichung entsprechen aber nicht nur der herrschenden Politik, sondern, wie jede bürgerliche Ideologie, scheinbar auch den Interessen aller Menschen: Sie artikulieren zentrale Bedürfnisse und versprechen ihre Befriedigung bereits hier und jetzt - was nur dadurch möglich ist, daß man das Leben nimmt wie es ist und alle "kritischen" Bedürfnisse und Gefühle zurückhält Die Vorstellung, daß es die einzelnen Menschen durch die eine oder andere Form der Selbstvertiefung schaffen könnten, ihre persönlichen Potenzen freizusetzen und nicht mehr durch die gesellschaftlichen Widersprüche absorbiert und überfordert zu sein, ist im allgemeinen umso attraktiver, je größer die uns aufgezwungene Selbstverleugnung, Widersprüchlichkeit und Belastetheit der sozialen Beziehungen sind. Die Theorie der Selbstverwirklichung schließt die Auffassung ein, daß die einzelnen nur für sich und für niemand anderes verantwortlich sind; sie hilft damit zugleich, unsere Verantwortung für die Verhältnisse und die Situation der Mitmenschen zu verdrängen, die unter den gegebenen Bedingungen, wo wir nicht einmal mit unseren eigenen Problemen fertig werden, immer als Überforderung erscheint; sie beruhigt damit das schlechte Gewissen über die Asozialität des eigenen Verhaltens, die mit der defensiven Lebensweise verbundea ist,, in der sich das eigene Glück im wesentlichen in Abhebung von dem Unglück der anderen definiert Übersehen wird, daß die Selbstverwirklichung keineswegs unabhängig von der kapitalistischen Klassemealität, sondern mindestes in dreifacher Weise von dieser abhängig ist: indem sie zum einen zur insoweit zugestanden wird, wie es für die Stabilisierung herrschender Verhältnisse erforderlich ist; und indem sie weiterhin den Schein der Freiheit individueller Entwicklung aufrechterhalten hilft, der ein konstitutives Moment der ideologischen Absicherung kapitalistischer Klassenverhältnisse ist; und indem sie zum dritten eine unmittelbare Reaktion auf diese Klassenrealität ist: als eine wissenschaftliche Stilisierung des Versuchs der Selbstvergewisserung und Selbstperfektionierung für den alltäglichen Konkurrenzkampf, der gerade unter Bedingungen allgemeiner Bedeutungslosigkeit und Austauschbarkeit der Menschen unmittelbar subjektiv notwendig wird und zugleich die Bedingungen, die das defensive Veihalten nahelegen, durch das eigene scheinbar freie Handeln bestätigt. Die Entlastung von der Verantwortung für die Verhältnisse und damit für die Situation der Mitmenschen geschieht in einigen Theorien - so vor allem wieder bei PERLS - explizit, in anderen eher implizit, nämlich durch den 302

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Rückzug auf die individuelle Vergangenheit, durch den dann sekundär die gegenwärtigen sozialen Beziehungen und damit die Verhältnisse mehr und mehr aus dem Blickfeld geraten. Der Rekurs auf die Vergangenheit, der angeblich zum Verständnis der gegenwärtigen Haltung notwendig ist, bedeutet, daß die einzelnen für ihr jeweiliges Verhalten unmittelbar verantwortlich gemacht und im gleichen Atemzug von dieser Verantwortung wiederum "befreit" werden: indem nämlich die Ursachen der "Fehlhaltungen" in eine Frühzeit der Entwicklung vorlegt werden, in der man iiwier Tat weitgehend machdos war und somit auch für nichts verantwortlich gemacht werden kann. Zugleich geraten bei dieser Zentrierung auf die Vergangenheit die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungsbehinderungen in den Hintergrund. Sie werden bestenfalls nur noch als allgemeine Rahmenbedingungen individueller Entwicklung gehandelt, nicht aber in ihrer konkreten Auswirkung auf die subjektive Situation analysiert Das hat den "Vorteil", daß auf diese Weise der gegenwärtige Konsens und damit der inneren Frieden bewahrt bleibt, an dem allen umso mehr gelegen ist, je gefährlicher die Folgen möglicher Kritik für die herrschenden Verhältnisse und damit auch für den jeweils einzelnen Kritiker sein könnten. Zugleich impliziert der Rekurs auf die Vergangenheit eine bestimmte Form scheinbarer Selbstbestimmung und Autonomie: Wenn ich Selbstbefreiung als Akt der Befreiung von den Zwängen der Vergangenheit verstehe, bleibe ich die Instanz, die letztlich darüber entscheidet, was vorgefallen ist und was nicht. Es ist mein Schicksal, über das nur ich Bescheid weiß, wo andere zwar Anregungen geben können, aber es mir überlassen bleibt, welche ich davon aufgreife und welche nicht. Wenn ich dagegen mein Verhalten nicht nur in seiner Gewordenheit, sondern in seinen Auswirkungen auf die Situation der Mitmenschen analysiere, dann komme ich kaum umhin, diesen Einflußmöglichkeiten auf mich zuzugestehen - eine Vorstellung, die mir im allgemeinen um so mehr zuwider ist, je mehr ich bereits an der allgegenwärtigen Fremdbestimmtheit leide bzw. je weniger ich mich ihr gegenüber zur Wehr zu setzen verstehe. Die Erst-Dann-Beziehung, der gemäß die Kenntnis der Vergangenheit die Voraussetzung für das Begreifen des gegenwärtigen Verhaltens ist, ist nur dann stimmig, wenn man die Menschen als bloßes Produkt der verschiedenen ökonomischen, kulturellen, sozialen etc. - Einwirkungen faßt. Berücksichtigt man hingegen die menschliche Möglichkeit, sich bewußt zu den Lebensbedingungen und auch zu der eigenen Geschichte zu verhalten, dann folgt daraus, daß die Menschen zwar eine bestimmte Vergangenheit haben, aber daß sich deren Bedeutung für das persönliche Leben im wesentlichen aus der aktuellen Situation ergibt Der Rekurs auf die Vergangenheit drängt sich im allgemeinen nur dann auf oder wird mir vielmehr - nicht zuletzt auch durch entsprechende 303

Ute Osterkamp Theorien und Ideologien - aufgedrängt, wenn ich in der aktuellen Situation auf mich selbst gestellt und entsprechend hilflos bin bzw. mich in die Defensive gedrängt fühle. Und dieser Rekurs auf die Vergangenheit festigt zugleich die Selbstbezogenheit, die mich ohnmächtig hält - wobei das Ohnmachtsempfinden durchaus ambivalent, einerseits schmerzhaft, andererseits entlastend sein kann, indem es mich scheinbar von der Verantwortung für mein Handeln freispricht. Und daran liegt mir im allgemeinen umso mehr, je mehr ich - wie vage auch immer - um dessen Fragwürdigkeit weiß. Andererseits kann ich mir die Probleme der Vergangenheit nur in dem Maße eingestehen, wie sie prinzipiell überwindbar erscheinen und ich durch sie nicht mehr überfordert werde. Auch hier kann FREUD als Kronzeuge herangezogen werden, der sein Therapieversprechen ja darauf begründete, daß die Konflikte, die zur Neurose geführt haben, verjährt sind, d.h. nur noch in der Phantasie des einzelnen und nicht mehr aktuell bestehen. IV. Die geschilderte Problematik der "FreiraunT-Theorie und des damit zusammenhängenden Konzeptes der Selbstverwirklichung wird besonders deutlich, wenn man die Situation der Berufstätigkeit, in die Überlegungen einbezieht, in welcher die realen Begrenzungen nicht so einfach wegzuleugnen sind. Ich will das am Beispiel der Sozialarbeit in Flüchtlingswohnheimen verdeutlichen. Das zum einen deswegen, weil wir zur Zeit ein Projekt zu den Problemen der Asylbewerber aufbauen, sodaß ich hier über konkrete Erfahrungen verfüge, und das zum anderen auch deswegen, weil sich in einem solchen Komplex wie einem Wohnheim die Zusammenhänge zwischen Herrschaftsverhältnissen, institutionellen Bedingungen, sozialen Beziehungen und subjektiven Verarbeitungsformen in relativ überschaubarer Form darstellen. So läßt sich die dargelegte Funktion der Freiraum- bzw. Selbstverwirklichungsideologie bei der Personalisierung, d.h. der Umdeutung gesellschaftlichen Beschränkungen in individuelle Beschränktheiten und gesellschaftlicher Widersprüche in personale Konflikte, aus denen man auch nur individuell einen Auswege finden kann, in diesem Kontext besonders gut veranschaulichen. Damit wird dann auch klarer, daß es bei den hier diskutierten Problemen nicht lediglich um allgemeine gesellschaftstheoretische Fragen, sondern um Fragen unser aller konkreter Lebenspraxis geht. In den Flüchtlingswohnheimen, wie sie z.B. in Berlin (West) bestehen, sind die Flüchtlinge auf engstem Raum zusammengepfercht und vielfältigen Reglementierungen unterworfen; solche Heime haben, wie selbst die hierfür verantwortlichen Politiker offen zugeben, eindeutig Abschreckungsfunktion. 304

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Sie werden im wesentlichen von Wohlfahrtsorganisationen geleitet, die für die Aufgabe der Verwaltung und Betreuung der Flüchtlinge entsprechende Mitarbeiter einstellen. Diese kommen aus allen möglichen Bereichen: Einige direkt von der Hochschule, andere aus der Verwaltung, aus dem Handel etc. Dabei kann es durchaus geschehen, daß formal weniger qualifizierte "Praktiker" zu Vorgesetzten von Hochschulabgängern werden. Während die formalen Qualifikationsunterschiede und die sich daraus ergebenden Probleme gewöhnlich dadurch ausgeglichen werden, daß die sog. Praktiker gegenüber den Hochschulabsolventen die größere Erfahrung und das umfangreichere Wissen in dem spezifischen Arbeitsbereich haben, kommt es in der Flüchtlingsarbeit durchaus vor, daß sowohl die "Praktiker" als auch die Hochschulabsolventen aus Bereichen kommen, die auf die Flüchtlingsarbeit nicht im geringsten vorbereiten, sodaß sich die allgemeinen Verständigungs- und Kooperationsschwierigkeiten zwischen unterschiedlich qualifizierten Kollegen zusätzlich verschärfen. Das Verhältnis wird weiterhin dadurch kompliziert, daß die Kollegen mit dem höheren Status gewöhnlich Einheimische, viele der Hochschulabsolventen, die auf unteren Positionen eingestellt werden, jedoch NichtDeutsche sind, die darüberhinaus in ihrem Heimatland der sog. Elite angehörten. Daraus, daß die ausländischen Kollegen in der Regel in den untergeordneten Positionen beschäftigt sind, wird von manchen einheimischen Kollegen wiederum die geistige Überlegenheit der Deutschen gefolgert (so z.B. auf einem Ausbildungsseminar für Betreuer) - eine Unterstellung, auf die die ausländischen Kollegen dann nicht selten wiederum mit der Arroganz ihrer "höheren Bildung" reagieren etc. Die Beziehungen zwischen den Mitarbeitern sind nicht zuletzt auch dadurch belastet, daß viele von ihnen nur befristete Verträge, einige nur für einen Zeitraum von 3 Monaten, haben, die von Mal zu Mal verlängert oder auch nicht verlängert werden. Die Aufgabe der Mitarbeiter besteht darin, den Flüchtlinge unter den vom Senat gesetzten Abschreckungsprämissen Hilfe zu leisten, also Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen zu üben. Sie sollen helfen, obwohl die Möglichkeiten, wirkliche Hilfe zu leisten, gleich Null sind. Darüber, wie sie diese Aufgabe bewältigen können, erhalten sie - verstähdlicherweise - keinen Aufschluß. Zugleich müssen sie aber ständig um ihren Job zittern sofern sie den Anforderungen, die nirgends klar formuliert sind, nicht entsprechen. Die mangelnde Anleitung und allgemeine Konzeptionslosigkeit, die in der Flüchtlingsarbeit generell bestehen, erscheinen zunächst durchaus als Freiraum, in dem die einzelnen tun und lassen können, was sie für richtig halten. Dieser Freiraum erweist sich jedoch alsbald, wie es ein Mitarbeiter auf den Begriff bringt, als Gummizelle, d.h. als Raum mit dehnbaren Grenzen, in dem es keine festen Regelungen oder Setzungen gibt, sondern in dem der einzelne 305

Ute Osterkamp selbsttätig herausfinden muß, was gerade opportun oder nicht opportun ist und damit zu rechnen hat, für etwaige Fehlentscheidungen und Mißerfolge voll verantwortlich gemacht zu werden und entsprechende Konsequenzen tragen zu müssen. Die individuellen Freiräume stellen somit unter der Hand ein sublimes, aber sehr effektives Mittel der Disziplinierung der Mitarbeiter, d.h. eine Form der Verunsicherung dar, die zur Anpassung treibt. Die Entscheidungsfreiheit der Mitarbeiter bezieht sich im wesentlichen darauf, selbsttätig herauszufinden, wie die abstrakt vorgegebenen Ziele, nämlich möglichst billig und reibungslos zu wirtschaften, unter Berücksichtigung der konkreten Bedingungen zu realisieren sind. Das läßt sich z.B. an den Aufwendungen für das Essen besonders deutlich aufweisen. Es gibt hier keine festen Vorgaben darüber, wie viel der einzelne Heimleiter für das Essen ausgeben kann. Diese Unbestimmtheit der Anforderungen ist - vom Standpunkt der "Geldgeber" - durchaus zweckmäßig, da die Frustrationstoleranz und Konfliktbereitschaft der Heimbewohner - in Abhängigkeit von den objektiven und subjektiven Bedingungen - unterschiedlich groß sind und es somit reine Verschwendung wäre, wenn man für alle die gleiche Summe veranschlagen würde. So kommt es, daß die Ausgaben für das Essen von Heim zu Heim zwischen 5.00 und 10.00 DM pro Tag und Flüchtling schwanken. Die Gefahren, die der einzelne Heimleiter irgendwie umschiffen muß, bestehen darin, daß er einerseits durch eine zu rigorose Sparpolitik Unruhe unter den Heimbewohnern riskiert und damit das öffentliche Ansehen der Institution, innerhalb derer er arbeitet, gefährdet, oder aber daß er zu teuer wirtschaftet und durch jemanden ersetzt wird, der "rationeller" aibeitet Bei der Bewältigung der widersprüchlichen Anforderungen spielen individuelle Differenzen durchaus eine Rolle. So neigen manche Heimleiter zu einer besonders rigorosen und autoritären Spar- und Disziplinierungspolitik, während sich andere weit lockere* verhalten und gerade damit im allgemeinen den Interessen ihres Arbeitgebers im höheren Maße gerecht werden. Solche subjektiven Unterschiede zwischen den Mitarbeitern sind jedoch wiederum weniger durch die individuelle Vergangenheit, als vielmehr objektiv begründet. So gehören z.B. die "großzügigen" Mitarbeiter in der Regel zu jenen, deren Stellen relativ siehe* sind, die Hochschulabschluß haben, die jedoch zugleich entsprechend ihrer Qualifikation unterbezahlt und somit immer auf dem Sprung sind, um auf eine ihnen gemäßere Position umzusteigen. Die "autoritären" Kollegen sind dagegen häufig solche, die sich aus unteren Positionen "hochgearbeitet" haben und für die die Position des Heimleiters dine unerwartete Karriere bedeutet, die sie unter allen Umständen zu halten suchen, und das umso mehr, je stäiker sie sich durch die Konkurrenz der höherqualifizierten 306

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Kollegen bedroht fühlen, die es nicht nur auf der Ebene der Heimleiter, sondern auch auf der Ebene der Betreuer gibt, die ihnen formal unterstellt sind Je mehr jedoch die einzelne Kollegen - nicht zuletzt auf Grund der höheren Gefährdung ihrer Position - bemüht sind, ihre allgemeine Tüchtigkeit zu demonstrieren, umso mehr besteht die Gefahr, daß jede individuelle Opposition gegen die objektiven Überforderungen in der Tat als persönliche Unfähigkeit und mangelnde Belastbarkeit erscheint, ein Vorwurf, gegenüber dem man sich umso weniger verwehren kann, je vager die Kriterien für gute Arbeit sind, wie das allgemein in der Sozialarbeit und speziell in der Flüchtlingsarbeit der Fall ist Die Hinnahme der Überforderung, auf Grund welcher Zwangslage sie auch immer geschehen mag, bedeutet aber, daß man einen Zustand akzeptiert, in dem man sich immer weniger auf die Sorgen und Schwierigkeiten der Flüchtlinge einlassen kann und in dem gerade infolge der Anhäufung unbearbeiteter Probleme die Flüchtlinge selbst dann zunehmend als Problem und Gefahr erscheinen, die es kleinzuhalten und daran zu hindern gilt, daß sie einem über den Kopf wächst Damit hat man aber automatisch die herrschende Politik verinnerlicht. Das schlechte Gewissen, das aus der unmittelbaren Erfahrung resultiert, daß die eigene Anpassung immer auch zu Lasten derer geht, für deren Wohlergehen man in gewisser Weise mit verantwortlich ist, wird dann nicht selten dadurch bewältigt, daß man die eigene Vernachlässigung der Interessen der Flüchtlinge, die durch die objektive Überforderung bedingt ist, wiederum durch deren Verhalten rechtfertigt Das geschieht umso eher, als sich die Mitarbeiter wiederum von den Asylsuchenden in ihren Bemühungen häufig mißachtet und für die allgemeinen Einschränkungen, denen sie selbst unterliegen, verantwortlich gemacht sehen, worauf sie dann nicht selten wieder in einer Weise reagieren, die jene als feindlich erleben und entsprechend beantworten. Indem sich aber die Mitarbeiter und Heimbewohner von den realen Belastungen nur dadurch zu befreien wissen, daß sie die jeweils anderen belasten, festigen sie genau die Situation, unter der alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise, leiden. "Ausländerfeindliche" Reaktionen der Mitarbeiter gewinnen z.B. oberflächlich gesehen häufig dadurch einen Schein der Berechtigung, daß die Asylsuchenden unter den Bedingungen ihrer allgemeinen Ohnmacht und Perspektivlosigkeit tatsächlich durchaus problematische Verhaltensweisen zeigen. So entwickeln z.B. viele Heimbewohner gerade infolge ihrer restriktiven Lebensbedingungen und ungesicherten Zukunft eine "Raff-" oder "Lagermentalität", aus der heraus sie alles mitnehmen, was sie kriegen können, unabhängig davon, ob sie es brauchen oder nicht. Sie beschweren sich z.B., so die Mitarbeiter, einerseits ständig über das schlechte Essen und stapeln es gleichzeitig 307

Ute Osterkamp "für den Notfall" in ihren Zimmern, wo es dann nicht selten verkommt und anschließend weggeworfen werden muß. Ähnlich ist es bei der Vergabe von Bekleidung: obwohl diese nur für die unmittelbar Bedürftigen gedacht sei, würden auch solche Flüchtlinge, die es keineswegs nötig haben, Anspruch auf Bekleidung erheben, um diese anschließend unter der Hand zu verkaufen, oder, wenn das nicht klappt, in die Mülltonne zu werfen. Solche "Rafftendenzen" werden in der Regel nicht als ein Bemühen um einen letzten Rest von Selbstbestimmung, sondern als "orientalische Mentalität" gesehen, die die offizielle Kurzhaltepolitik im Nachhinein zu rechtfertigen scheint. Einige Heimleiter sehen sich dann unter Umständen darüberhinaus zu zusätzlich "erzieherischen" Maßnahmen, d.h. weiteren Einschränkungen der Asylsuchenden veranlaßt, die genau die "Rafftendenzen" stärken, die sie vorgeblich bekämpfen etc. Die Asylsuchenden wiederum sehen in den Sparmaßnahmen, zu denen sich die Mitarbeiter auch durch ihr eigenes Raff-Verhalten veranlaßt sehen, nicht selten als persönliche Schikane ihnen gegenüber an, auf die sie entsprechend hilflosaggressiv reagieren. Das Schlimmste an der Situation im FlüchtlingsWohnheim ist, wie es ein 23-jähriger Asylbewerber auf den Begriff bringt, daß man ihr wehrlos ausgeliefert ist und sich über das, was einem geschieht, kaum mit Außenstehenden verständigen kann. Jede einzelne Maßnahme sei relativ geringfügig, sodaß andere gar nicht verstehen könnten, daß man sich überhaupt darüber aufregt Insgesamt würden sich die mannigfaltigen Verordnungen und Reglementierungen jedoch zu einem dichten Netz von Nadelstichen verknüpfen, das ihnen - so die wiederkehrende Aussage - das Mark aus den Knochen zieht und immer wieder signalisiert, daß sie unerwünscht sind und froh sein können, wenn sie überhaupt geduldet werden. Wer sich über die erniedrigenden Lebensbedingungen bei uns beschwert, beweist gemäß der herrschenden Logik nur, daß er nicht aus Not, sondern wegen der erhofften Teilhabe an unserem Wohlfahrtsstaat gekommen ist. Die allgemeine Polemik gegen die "Wirtschaftsflüchtlinge" macht somit viele Flüchtlinge mundtot, indem sie ihnen den Mut nimmt, über ihre Lebensbedingungen zu sprechen, da sie Angst haben müssen, daß es beim Gegenüber entsprechend einrastet: "Die wollen was haben", sodaß sie eigentätig die Ideologie der Wirtschaftsflüchtlinge stärken würden. Die Formen, in denen die Mitarbeiter die widersprüchliche Situation zu bewältigen suchen, in der sie helfen sollen ohne wirklich helfen zu können und in der sie sich zugleich für ihre mangelnde Effektivität von allen Seiten persönlich verantwortlich gemacht sehen und sich selbst in gewisser Weise auch verantwortlich fühlen, sind oberflächlich gesehen durchaus unterschiedlich: Die einen neigen eher dazu, die objektiven Beschränkungen ihrer Arbeit zu negieren oder sie durch ihren persönlichen Einsatz zu unterlaufen, indem sie 308

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sich für Asylsuchenden bzw. für einzelne von ihnen verausgaben. Das führt in der Regel jedoch nur dazu, daß sie eines Tages ausgepowert sind und sich von ihrem Klientel mißbraucht fühlen, das ihre Anstrengungen nicht hinreichend anerkennt oder sich für diese nicht genügend "dankbar" erweist. Die Folge solcher Enttäuschung ist in der Regel Resignation, die Zurücknahme der Ansprüche an die Arbeit, was gleichbedeutend damit ist, daß man sich nur noch auf das eigene Oberleben konzentriert, d.h. sich irgendeine Nische zu schaffen sucht, in der man das allgemeine Chaos einigermaßen überstehen kann. Andere nehmen die einschränkenden Rahmenbedingungen von vornherein zum Anlaß, um sich - nicht selten mit der fortschrittlich klingenden Parole, daß unter den gegebenen Bedingungen ohnehin keine vernünftige Arbeit möglich ist - auf die Lebensmöglichkeiten oder auch auf den "politischen" Kampf außerhalb ihrer konkreten Arbeit zu konzentrieren. Letztlich bedeuten beide Arten der Situationsbewältigung eine Form der Konfliktkvermeidung und damit die Stabilisierung der gegenwärtigen schlechten Realität, die sich nur in dem Maße halten kann, wie wir unsere Bemühungen aufstecken, sie zu verbessern. Die Arbeit wird dann nur noch negativ definiert. Man ist im wesentlichen darauf bedacht, allen Belastungen und allem Ärger nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen. Die Qualität der Kollegen bemißt sich dann vor allem daran, wieweit diese einem keine Schwierigkeiten machen und mit ihren Ansprüchen, die das eigene Ungenügen verdeutlichen würden, verschonen. Der allgemeine Tenor ist, so ein Mitarbeiter: "Es geht uns allen schlecht". Sowie aber jemand versucht, dieses Gefühl zu konkretisieren und über die Arbeitsbedingungen und ihre Auswirkungen auf die subjektive Situation zu sprechen, würde abgewehrt und die abstrakte Klage sofort abgeschwächt. Wenn man aber aufgibt, die Bedingungen, unter denen man leidet, zu ändern, verlegt man sich automatisch darauf, sich auf die eine oder andere Weise zu trösten - und zugleich die eigene Empfindsamkeit gegenüber der konkreten Realität abzustumpfen. Gemütlichkeit wird großgeschrieben - so ein Mitarbeiter - und diese läßt sich nur dadurch aufrechterhalten, daß man alle Konfliktstoffe umgeht und sich von vornherein auf unverbindliche "private" Gespräche beschränkt Diese Art der Konfliktbewältigung führt aber offensichtlich nicht zu dem gewünschten Effekt, sodaß immer wieder andere Formen der Entlastung notwendig werden. Viele Mitarbeiter - so die Aussage - trinken, andere nehmen Tabletten, wiederum andere gehen in die Therapie. Welche konkrete Form der Bewältigung gewählt wird, mag dann in der Tat von der individuellen Geschichte und dem jeweils persönlichen Kontext abhängen; diese schlagen aber offensichtlich nur in dem Maße durch und bestimmen unser Verhalten, wie wir den Rückzug angetreten und den Anspruch zurückgenommen haben, unsere konkreten Arbeits- und Lebens309

Ute Osterkamp bedingungen zu verändern. Zu einem solchen Rückzug werden wir uns wahrscheinlich immer wieder einmal genötigt fühlen, wenn wir uns mit unseren Problemen alleingelassen und durch die gegenwärtige Situation überfordert sehen. Überwinden werden wir die Probleme, an denen wir leiden, jedoch nur dann, wenn wir diese in ihren konkreten Zusammenhängen begreifen, d.h. wenn wir uns zu den objektiven Bedingungen, die uns die Flucht nahelegen, und zu deren Folgen bewußt verhallen und uns für die Lösung der Schwierigkeiten mitverantwortlich fühlen. Statt also die realen Belastungen und Behinderungen um der allgemeinen Harmonie willen und um sie unter der Hand umso besser dem jeweils anderen aufbürden zu können, herunterzuspielen, gilt es vielmehr, den lähmenden Zirkel der gegenseitigen Schuldzuweisung zu durchbrechen und die Auswirkungen der gegenwärtigen Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die subjektive Situation und auf die Beziehungen untereinander, d.h. auf die gemeinsame Handlungs- und Widerstandsfähigkeit, in aller Schärfe auf den Begriff zu bringen. Diese Aufgabe kann jedoch keineswegs allein von den einzelnen Mitarbeitern geleistet werden, da diese - bei aller Freiheit - unendlich vielen Kontrollen und Reglementierungen unterstellt sind, die unmittelbar spürbar werden, sobald sie sich nicht mehr damit begnügen, ihre Kreativität auf die Umsetzung vorgegebener Ziele zu beschränken, sondern beginnen, die an sie gestellten Anforderungen selbst auf ihre objektive Interessengebundenheit zu hinterfragen. Vielmehr wäre es Aufgabe der Wissenschaft, u.a. eben auch der Psychologie, die - exemplarisch an der Situation in den Flüchtlingswohnheimen verdeutlichten - Mechanismen und realen Sanktionen zu untersuchen und zu veröffentlichen, die die Menschen kleinhalten und entgegen ihren Interessen und Absichten immer wieder in das bestehende System einbinden. Stattdessen wiederholt die Psychologie aber genau die Bucht in die Unverbindlichkeit der Privätheit, die sich unter dem Druck der Praxis spontan herstellt Sie läßt damit nicht nur die konkreten Bedingungen und Widersprüche unserer alltäglichen Praxis unberührt, sondern zugleich auch all jene im Stich, die tagtäglich damit konfrontiert sind. In dem Maße, wie die Wissenschaft mit Hilfe der sog. Praktiker die realen Konflikte und Widersprüche in ihrer Auswirkung auf die subjektive Situation der im Sozialbereich Tätigen und "Betreuten" auf den Begriff bringt, Theorie und Praxis also real zusammenkommt, wird die allgemeine "Hannos nie", d.h. die Aussöhnung mit den unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen unter den gegebenen Verhältnissen, auch für die unmittelbare Absi310

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cherung mehr und mehr entbehrlich werden und der gezielte Kampf um ihre Überwindung an ihre Stelle treten. V. Um zum Schluß noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, auf die die "Freiraun^-Tlieorie ja eine Art von Antwort oder besser, Reaktion darstellt, nämlich ob sich die Menschen oder die Verhältnisse zuerst ändern müssen: Die Frage als solche ist schon eine Falle, indem sie auseinanderreißt, was eine Einheit ist, aber - jedenfalls vom Standpunkt der Herrschenden aus - auf keinen Fall als Einheit begriffen werden darf. Die Menschen sind nicht unmittelbar für ihr Verhalten, aber sie sind für die Verhältnisse verantwortlich, die ihnen das Verhalten "nahelegen" oder aufzwingen. Das heißt, die Mensch«! können sich nicht per individuellem Höhenflug über die objektiven Lebensbedingungen hinwegsetzen, aber sie können im Wissen um deren Auswirkungen auf die subjektive Situation gemeinsam mit anderen die Bedingungen schaffen, die in ihrem allgemeinen Interesse sind. Und das heißt wiederum: die Menschen können sich nur selbst bestimmen, indem sie die Verhältnisse bestimmen, durch sie bestimmt sind. Wenn ich in der Defensive bin, werde ich im allgemeinen eng, ich-bezogen und verfestige gerade damit die Bedingungen, die mich kleinhalten (und damit das Bedürfnis nach "persönlichem Wachstum" entstehen lassen, das sich in dieser individuellen Form niemals erfüllen wird). Zur Selbstbestimmung gehört somit, daß ich - nicht erst "im Ganzen", sondern in jeder konkreten Situation - die Verhältnisse ändere, die mich defensiv machen, mich in Konkurrenz zu meinen Mitmenschen setzen und damit kleinhalten und mich immer wieder gegen meine wirklichen Interessen und Erkenntnissen handeln lassen. Verantwortung für die Verhältnisse heißt aber immer auch Verantwortung für das Verhalten meiner Mitmenschen: Nicht in dem Sinne, daß ich sie mit irgendwelchen Normen traktiere und ihnen erzähle, wie sie sich verhalten sollten, sondern indem ich die Bedingungen herbeiführen helfe, unter denen es für uns alle keine "Funktion" mehr hat, defensiv und asozial zu sein. Die sog. "Ausländerfeindlichkeit" in der Bevölkerung läßt sich z.B. nicht dadurch bekämpfen, daß wir den Menschen vorhalten, wie häßlich ihr Verhalten oder wiefreundlichdie Ausländer sind, sondern allein dadurch, daß wir die realen Ursachen der Ängste, die hinter dem feindseligen Verhalten gegenüber anderen stehen, und die Mechanismen des gesellschaftlichen und individuellen Umgangs mit ihnen auf den Begriff bringen und unsere eigenen spontanen Tendenzen hinterfragen, "unmittelbar" auf die Situation zu reagieren und uns 311

Ute Osterkamp in der einen oder anderen Weise auf Kosten anderer herauszustreichen oder abzusichern. Der Terminus, "die Bestimmung der Verhältnisse durch die Menschen" wird immer wieder auch in die Richtung mißverstanden, daß der einzelne quasi from the view of the top politisch wird und Menschheitsgeschichte betreibt. Das ist m.E. bereits schon wieder eine interessierte Fehlauffassung, die von unserer alltäglichen Verantwortung für die Verhältnisse ablenkt. Diese gründet sich aber gerade in der Erkenntnis, daß jedes Handeln und Nichthandeln in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen steht und damit auch gesellschaftliche Konsequenzen hat, die wir mit zu verantworten haben. Die Menschen nehmen, was immer sie tun oder auch lassen, Einfluß auf die Verhältnisse und die Frage, mit der man sich im Interesse eines selbstbestimmten Lebens auseinandersetzen muß, ist einzig und allein, in welcher Weise das geschieht.

Literatur: DOWUNG, Colette, 1984: Der Cinderella Komplex. Die heimliche Angst der Frauen vor der Unabhängigkeit Frankfurt a.M. HERKOMMER, Sebastian, BISCHOFF, Joachim, und MALDANER, Karlheinz, 1984: Alltag, Bewußtsein, Klassen. Hambuig OSTERKAMP, Ute, 1982: Ideologismus als Konsequenz des Ökonomismus. Zur Kritik am Projekt Ideologietheorie (PH). Forum Kritische Psychologie 11, 7-23 OSTERKAMP, Ute, 1986: "Persönlichkeit" - Selbstverwirklichung in geseüschaftlichen Freiräumen oder gesamtgesellschaftliche Verantwortungsübernahme des Subjekts? Marxistische Studien. Jahrbuch des IMSF 10, 69-92 PERLS, Frederick S., 1976: Gestalt-Therapie in Aktion. Stuttgart

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Über die Verfasser und Verfasserinnen Brockmeier, Jens, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie der FU Berlin und Lehrbeauftragter am Institut für Psychologie der Universität Innsbruck. Dreier, Ole, Dr. phil., Dipl. Psych., wiss. Angestellter am Psychologischen Laboratorium der Universität Kopenhagen. Hang, Frigga, Dr. phil. habil., Dozentin an der Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg. Holzkamp, Klaus, Prof. Dr. phil., Hochschullehrer am Psychologischen Insitut der FU Berlin. Keiler, Peter, Dr. phil., Priv.-Doz. am Psychologischen Institut der FU Berlin. Maiers, Wolf gang, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter am Psychologischen Institut der FU Berlin. Minz, Gabi, Dipl. Volkswirtin, Dipl. Psych., Berlin/West. Markard, Morus, Dr. phil., Dipl. Psych., Berlin/West. Osterkamp, Ute, Dr. phil. habil., wiss. Angestellte am Psychologischen Institut der FU Berlin. Schurig, Volker, Prof. Dr., Biologe, Hochschullehrer am Interdisziplinären Zentrum für Hochschuldidaktik (IZHD) der Universität Hamburg, Privatdozent am Psychologischen Institut der FU Berlin.

Wolfgang Martin Stroh

Forum Kritische Psychologie

Leben Ja!

Zur Psychologie musikalischer Tätigkeit Musik in Kellern, auf Plätzen und vor Natodraht 272 S., geb., DM20,-

Der erste Band mit dem Titel »Forum Kritische Psychologie« erschien vor nunmehr 10 Jahren im Argument-Verlag, herausgegeben von Klaus Holzkamp. Das Ziel der mittlerweile auf 20 Bände angewachsenen Reihe war, die wissenschaftliche Entwicklung der Kritischen Psychologie zu dokumentieren und zu fördern, d.h. Beiträge zur materialistisch fundierten Psychologie zu veröffentlichen, Raum zu geben für Diskussion und Kritik, hinzuweisen auf theoretische und praktische Zusammenhänge von Psychologie und Politik. Das aber hieB, den Rahmen nicht auf psychologische Forschung im engeren Sinne zu beschränken, sondern auch soziologische, philosophische und politologische Beiträge aufzunehmen. So entstand mit den Jahren ein wahres interdisziplinäres Diskussions- und Forschungsforum, an dem der Stand gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen abgelesen werden konnte. Mit dem 20. Heft tritt das FKP - jedenfalls äußerlich - in eine neue Phase: Größeres Format und vereindeutigtes Zeltschriftenimage markieren nun sichtbar den eigenen Stellenwert im Argument-Verlag. Das FKP erscheint zweimal im Jahr zum Preis von DM 1ß,50 pro Band. Jahrespreis im Abo: DM 33,-(Stud. DM 27,-)

Wolfgang Martin Stroh, Musikprofessor und in sozialen Bewegungen engagierter Musiker, untersucht anhand von ausgewählten Fallbeispielen, welche psychischen Ereignisse'sich beim Hören und Ausüben von Musik abspielen. Von der Kritischen Pschoiogie ausgehend entwickelt er Kategorien einer Psychologie musikalischer Tätigkeit, mit deren Hilfe sich die Praxis des Musik-Machens und -Hörens besser verstehen läßt. Armando Bauleo

Ideologie, Familie und Gruppe Das FKP 20 enthält u.a. zwei Beiträge aus der »Hamburger Ringvorlesung Kritische Psychologie« von Klaus Holzkamp (»Lernen und Lernwiderstand. Skizzen zu einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie«) und Morus Markard (»Probleme und Konzepte subjektwissenschaftlicher Aktualempirie«), einen Beitrag von Frigga Haug zur »Arbeitsforschung im Zeitalter der Mikroelektronik«, eine Auseinandersetzung um die Begriffe von Subjekt und Alltagstheorie im Marxismus sowie aktuelle Analysen zur Rolle der Psychologen in Katastrophenfällen und zur amerikanischen Reaktion auf die Gorbatschow-Initiative.

30 Jahre Argument

Texte zur Theorie und Praxis der operativen Gruppentechnik Vorwort von Erich Wulff ca. 200 S., br., DM26,Armando Bauleos Buch ist eine Zusammenfassung von Vorlesungen, Vorträgen und Aufsätzen aus den Jahren 1969 bis 1976. Der politisch engagierte Psychoanalytiker reflektiert u.a. über den Zusammenhang von Marxismus und Psychoanalyse und über theoretische Probleme von gruppen-psychologischen Prozessen.

Argument Rentzelstraße 1 2000 Hamburg 13

Bürgerliches Subjekt und Faschismus Jan Rehmann

Die Kirchen im NS-Staat Untersuchung zur Interaktion ideologischer Mächte Mit einem Vorwort von W.F. Haug Argument-Sonderband AS 160 157 S., br., DM 18,50 Eine grundlegende Auseinandersetzung mit Rolle und Funktion der beiden Kirchen im deutschen Faschismus. Jan Rehmann läßt ein Stück Feinstruktur ideologischer' Macht hervortreten, mit ihren Artikulations- und Praxisformen, ihren Effekten der Subjektion, die zugleich die Bedeutung von WiderWolfgang Fritz Haug standspositionen bekommen kön- Wolfgang Fritz Haug nen. Rehmann »wendet... marxiVom hilflosen Antifa- stische Kategorien derartig diffe- Die Faschisierung des renziert ... an, daß diese Arbeit eischismus zur Gnade bürgerlichen Subjekts ne grundsätzlich neue Sicht auf der späten Geburt den Kirchenkampf bietet...« (Lut- Die Ideologie der gesunden Normalität und die Ausrottungspoliti330 S., br. DM28,-, Ln. DM38- herische Monatshefte) ken im deutschen Faschismus Argument-Sonderband AS 80 Eine Untersuchung zur Verganbr., DM 18,50,218 S. genheitsbewältigung im doppel-

W.F HAUG: FASCHISIERUNG DES SUBJEKTS

ten Sinne: die Neuauflage der Analysen zum »hilflosen Antifaschismus« ist gekoppelt mit Essays über den Historikerstreit. W.F. Haug läßt in seiner umfassenden Analyse mehr als 300 Beteiligte am Streit um die Identität der Westdeutschen zu Wort kommen. Im Zusammenhang mit der auseinandersetzung um den Stellenwert von Auschwitz und Faschismus gewinnt der Versuch der »Vergangenheitsbewältigung« nach 1945 erneute Brisanz. »... die wohl gründlichste Analyse des >Historikerstreits< und seiner Vorgeschichte.« (die tageszeitung)

JAN REHMANN: KIRCHEN IM NS-STAAT

Normalität, Gesundheit, Schönheit, Leistungsfähigkeit, Fitness: Was haben diese auch heute gängigen Begriffe mit der Ausrottungspolitik der Nazis zu tun? W.F. Haug untersucht anhand sehr verschiedener Bereiche (u.a. Rassentheorien, Brokers Plastiken, Medizin und Herrschaft) das Zusammenwirken sich überschneidender Diskurse, die die Unterwerfung der Individuen unter die Nazi-Herrschaft ermöglichten.

Argument Rentzelstraße 1 2000 Hamburg 13

30 Jahre Argument

"Welches sind die Krankheiten des Systems, unter denen wir alle leiden?" Diese Rage stand am Anfang der Tagung "Gesundheit ist mehr! Soziale Netzwerke fQr eine lebenswerte Zukunft" in Hamburg. Fast 500 Vereine und Initiativen waren unier dem Aspekt ihrer Bedeutung für Gesundheit befragt worden. Die asten Auswertungsergebnisse sind hier dokumentiert Das Kemstflck des Buches liefert praktische Ans&tze, Modelle und Ideen für eine Verbesserung grtmdlegeiider Lebens- und Artttflflhcdinpifl^Wi "Sociale NetzwerfDe" werden dabei als Motor und Trityer einer

Volker Enketu/ loa Schweifen (Ufr)

Gesundheit ist mehr!

Sociale Netzwerke für eine

fni(»hfji ^ i ^ ^ m n g ifijd WgaorifiiifiCTm^g

für soziale und politische Vefändenmgen vorgestellt NtoderMtotttticioCQtfKoDzqMs

bietet das Buch auch kritische Analysen. In kontroversen Diskussionen werden die "Alternativen" hinterfragt und daraufhin abgeklopft, ob sie uns wiridich einer lebenswerteren Zukunft n&her bringen können. Aufbauend auf den Ergebnissen der Tagung und der Forschungsarbeit werden Vorschlage unterbreitet, wie dio gemeinsame Arbeit zugunsten eines Modells der "ge^ t t n ^ ^ ^ U k t und ausgebaut werden Erstmalig werden dabei neuere EntwickIgnpn der Wf^gfaH^lyiifpiriiffltiwi in Richtung 4